Hessisches Ministerium des Innern und für Sport \ VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Bericht 2019 Hessisches Ministerium des Innern und für Sport VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Bericht 2019 INHALTSVERZEICHNIS ZU DIESEM BERICHT 5 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN 13 Freiheitliche demokratische Grundordnung 14 Aufgaben, Befugnisse, Mitwirkungsaufgaben 15 Methoden 17 Kontrolle 18 Strukturen, Organisation, Haushalt 20 Wesentliche institutionelle Elemente der Sicherheitsarchitektur auf Bundesebene und in Hessen 23 Öffentlichkeitsund Präventionsarbeit 28 Kontakt und Internetpräsenz 36 EXTREMISMUS IN HESSEN - EIN ÜBERBLICK 37 Wesentliche Eckpunkte 38 Rechtsextremismus 40 Reichsbürger und Selbstverwalter 48 Linksextremismus 49 Islamismus 52 Extremismus mit Auslandsbezug 55 Organisierte Kriminalität (OK) 57 Spionageund Cyberabwehr 58 RECHTSEXTREMISMUS 59 Merkmale 60 Rechtsextremistisches Personenpotenzial 61 Rechtsterrorismus und schwere Gewaltstraftaten 62 Parteiunabhängige bzw. parteiungebundene Strukturen 66 Lose strukturierter Rechtsextremismus 77 Parteigebundene Strukturen bzw. Parteien 86 Kommunikationsstrategien von Rechtsextremisten 120 Flüchtlinge im Visier von Rechtsextremisten 121 Rechtsextremistische Strafund Gewalttaten 124 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER 125 ZEITFÜRGESCHICHTE - 133 Vor 75 Jahren befreit: Doch es war nicht nur Auschwitz ... 2- Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 INHALTSVERZEICHNIS LINKSEXTREMISMUS 171 Merkmale 172 Linksextremistisches Personenpotenzial 174 Autonome 174 Sonstige Beobachtungsobjekte 198 Linksextremistische Strafund Gewalttaten 207 ISLAMISMUS 209 Merkmale 210 Islamistisches Personenpotenzial 213 Salafismus 213 Hizb ut-Tahrir (HuT, Partei der Befreiung) 230 Muslimbruderschaft (MB)/ Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG) 237 Milli-Görüs-Bewegung 248 Türkische Hizbullah (TH) 257 Sonstige Beobachtungsobjekte 261 Islamistische Strafund Gewalttaten 262 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG 263 Merkmale 264 Extremistisches Personenpotenzial mit Auslandsbezug 265 Partiya Karkeren Kurdistan (PKK, Arbeiterpartei Kurdistans) 265 Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi (DHKP-C, Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) 281 Extremistische Strafund Gewalttaten mit Auslandsbezug 286 ORGANISIERTE KRIMINALITÄT 289 SPIONAGEABWEHR 293 GEHEIMUND WIRTSCHAFTSSCHUTZ 299 Aufgaben/Ziele 300 Geheimschutz 300 Wirtschaftsschutz 302 MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV 309 ANHANG 315 Abkürzungsverzeichnis 316 Glossar 324 Extremistische Organisationen und Gruppierungen 350 Register 352 Gesetz zur Neuausrichtung des Verfassungsschutzes in Hessen 361 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 -3 ZU DIESEM BERICHT 4- Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZU DIESEM BERICHT Liebe Bürgerinnen und Bürger, der Rechtsextremismus ist zurzeit die größte Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung unseres Landes. Die feige Ermordung von Dr. Walter Lübcke, die extremistisch motivierten Morde von Halle und der fürchterliche rassistische Anschlag von Hanau haben die Menschen in der Bundesrepublik und vor allem in Hessen schwer getroffen. Zurückgeblieben sind traumatisierte Hinterbliebene, die geliebte Menschen verloren haben, und weitere zum Teil schwer verletzte Opfer, die an den Folgen dieser fürchterlichen Taten womöglich noch Jahre leiden werden. Hilfe zur Trauerbewältigung ist ein erster wichtiger Schritt auf dem langen Weg zurück ins Leben, wenngleich der Verlust durch nichts aufgewogen werden kann. / Das Vertrauen in den Staat und vor allem in die Sicherheitsbehörden als Garanten von Schutz für den Einzelnen sowie als verlässliche Verteidiger unserer gemeinsamen demokratischen Werte darf in Zeiten eines erstarkenden Extremismus niemals zur Disposition stehen. Die unsäglichen Drohschreiben des sogenannten NSU 2.0 an vornehmlich Frauen des öffentlichen Lebens haben dieses Vertrauen aber erschüttert. Alleine der Verdacht, hessische Polizisten könnten Absender oder zumindest Unterstützer rechtsextremistischer und hasserfüllter Schreiben sein, lastet schwer auf unseren Schutzleuten. Politik und Sicherheitsbehörden sind gemeinsam in der Pflicht, nichts unversucht zu lassen, die Täter aus der Anonymität zu reißen, hart zu bestrafen und die Betroffenen bestmöglich zu schützen. Die Bedrohung durch Rechtsextremismus und -terrorismus ist 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine andere als zu Zeiten des Nationalsozialismus. Die überwältigende Mehrheit der Menschen in unserem Land steht mit beiden Beinen auf dem Boden unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Angesichts steigender rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten in Hessen und Deutschland und eines gesellschaftlichen Diskurses in den sozialen Medien, der in Sprache und Stil immer weiter an die extremen Ränder verschoben wird, gilt es aufgrund unserer Vergangenheit umso mehr, unsere gemeinsamen Werte zu verteidigen. Unseren Sicherheitsbehörden obliegt es, die Feinde unseres über Jahrzehnte errungenen, friedliebenden und toleranten Gemeinwesens mit allen Mitteln des Rechtsstaats zu bekämpfen. Mit der polizeilichen BAO Rechts gehen unsere Ermittler mit aller Konsequenz gegen das extremistische rechte Spektrum vor. Ob im Netz oder in der Realität: Rechtsextremisten, Reichsbürger und illegale Waffenbesitzer sollen schlagartig eine Reaktion des Staates erfahren und damit zugleich die gesamte Szene verunsichert werden. Das LandesHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 -5 ZU DIESEM BERICHT amt für Verfassungsschutz hat nach dem Mord an Walter Lübcke mit der neuen Einheit BIAREX vermeintlich abgekühlte Rechtsextremisten erneut unter die Lupe genommen und inzwischen fast drei Dutzend Personen wieder in die aktive Bearbeitung übernommen. Polizei, Staatsanwaltschaften und das Landesamt arbeiten bei der Meldestelle "hessengegenhetze" Hand in Hand, um Hass im Netz gemeinsam zu bekämpfen und rassistischen Parolen Einhalt zu gebieten. In einem uferlosen virtuellen Meer extremistische Strömungen auszumachen, gehört zu den größten Herausforderungen, denen sich auch das Landesamt für Verfassungsschutz täglich aufs Neue stellen muss. Zuletzt haben die Corona-Demonstrationen gezeigt, dass Extremisten verschiedener Couleur versucht haben, die Angst vor dem Virus für ihre Zwecke zu missbrauchen. Das Internet bietet auch den Feinden unserer Verfassung grenzenlose Möglichkeiten und ist leider reale Bühne für Worte, denen Taten folgen können. Ohne Zweifel kann das Internet auch die Straße radikalisieren: Gewalttätige Personen können aus Kommentaren im Netz ein Gefühl der Legitimation für ihr Handeln ziehen - vielleicht sogar das Gefühl, bei der Begehung einer Gewalttat "Vollstrecker" des vermeintlichen "Volkswillens" zu sein. Das Wort "Einzeltäter" ist vor diesem Hintergrund zu Recht in die Kritik geraten. Ob es nun ein Rechtsextremist oder Rassist ist, der bei der Tatbegehung allein handelt, kann er sich in seiner individuellen virtuellen Blase in eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten eingebettet fühlen. Diese Gleichgesinnten müssen sich nicht persönlich kennen; es genügt, wenn sie sich gegenseitig in ihren Auffassungen bestärken. Deshalb sind die wachsamen Augen der Bevölkerung für unsere Sicherheitsbehörden von unschätzbaren Wert, um mögliche Gefahren für den Einzelnen frühzeitig zu erkennen und möglichen Tatplanungen schon im Entstehungsstadium Einhalt zu gebieten. Wir werden daher in Zusammenarbeit mit hessischen Modellkommunen ein eigenes Frühwarnsystem aufbauen, das genau dort ansetzt: bei der Mithilfe durch couragierte Bürgerinnen und Bürger. Der schreckliche Terror von Hanau, der Anschlag von Volkmarsen, aber auch die Morde von Halle haben gezeigt, dass schlimmste Verbrechen von Männern geplant und in die Tat umgesetzt werden, die den Sicherheitsbehörden zuvor nahezu unbekannt waren und schon gar nicht zum gewaltbereiten Personenpotenzial gezählt haben. Das Landesamt für Verfassungsschutz hat einen umfassenden Auftrag in der Extremismusund Terrorismusabwehr. Trotz der gegenwärtigen Gefahr, die vom Rechtsextremismus ausgeht, dürfen die Bedrohungen durch den islamistischen Terrorismus, die gezielte 6- Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZU DIESEM BERICHT Unterwanderung unserer Gesellschaft durch den legalistischen Islamismus, der zunehmend gewalttätigere Linksextremismus sowie der Extremismus mit Auslandsbezug nicht vernachlässigt werden. Hinzu kommen weitere essentielle Aufgaben, wie die Herausforderungen der Cyberabwehr. Nicht zuletzt macht die Prävention als Wissensvermittlung und Beratung viele Erkenntnisse, die durch nachrichtendienstliche Recherche generiert wurden, erst produktiv. Sie gibt all den Bedarfsträgern in Kommunen, Schulen, Vereinen das nötige Rüstzeug über Extremismus und Radikalisierungsgefahren an die Hand, mit dem sie Gefahren frühzeitig erkennen können. Ich danke dem Landesamt für Verfassungsschutz und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dafür, dass sie sich all diesen hochkomplexen Aufgaben mit großem Engagement widmen. Hessen kann sich auf Robert Schäfer und die Frauen und Männer des LfV in ihrem Bestreben, unser Land sicherer zu machen, immer verlassen. Für ihr unermüdliches Engagement, die Ziele der inneren Sicherheit und die damit verbundenen Herausforderungen im Landesamt umzusetzen, danke ich ihnen ausdrücklich. Der Verfassungsschutzbericht richtet sich, bei aller Wertschätzung an diejenigen, die für seinen Inhalt gearbeitet haben, in erster Linie an die Öffentlichkeit, an Sie, liebe Bürgerinnen und Bürger, die ihn nutzen sollen. Er soll keine Referenz für die Archive sein, sondern praktisches Hilfsmittel für ihre Arbeit. Ob in der Schule, in der Jugendarbeit, in der Verwaltung oder im Ehrenamt: Schauen Sie sich diese Entwicklungen im Extremismus und in den anderen Themen, die er enthält, aus Ihrem beruflichen oder privaten Blickwinkel an. Wenn Ihnen dieses Wissen hilft, so manches, was Sie im Internet sehen oder was Ihnen im gesellschaftlichen Umfeld auffällt, besser zu erkennen, wenn Sie Radikalisierungsgefahren früher einschätzen können, hat er seinen Zweck erfüllt. Peter Beuth Hessischer Minister des Innern und für Sport Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 -7 ZU DIESEM BERICHT 8- Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZU DIESEM BERICHT Liebe Bürgerinnen und Bürger, das Jahr 2019 war mit dem tödlichen Anschlag Anfang Juni auf Regierungspräsident Dr. Walter Lübcke von einem besonders erschütternden Ereignis gekennzeichnet. Dieser Mord aus mutmaßlich rechtextremistischer Gesinnung war aber nicht die einzige erschreckende Tat, die sich im rechtsextremistischen Spektrum ereignete. Im Juli kam es zu dem Tötungsversuch an einem Asylbewerber in Wächtersbach und im Februar 2020 zu dem tödlichen Anschlag auf neun Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Hanau. Dieses Attentat hat Hessen und ganz Deutschland erschüttert. Die Opfer dieser schrecklichen Tat werden uns in Erinnerung bleiben. Sie sind uns Mahnung und Auftrag zugleich. Für die Sicherheitsbehörden und damit auch für das Landesamt für / Verfassungsschutz (LfV) stellt diese Entwicklung eine der größten Herausforderungen der letzten Jahrzehnte dar. Die Bedeutung des Rechtsextremismus mit seiner Tendenz hin zum Rechtsterrorismus haben wir frühzeitig erkannt und im Jahr 2016 mit einer organisatorischen und personellen Neustrukturierung reagiert. Es ist eine Abteilung entstanden, die sich ausschließlich diesem Phänomen widmet. Mit dieser Organisationsstruktur konnte das LfV rechtsextremistische und rechtsterroristische Bedrohungen im Vorfeld erkennen und zu ihrer Zerschlagung beitragen. Die oben genannten Taten zeigen aber auch, dass dies nicht in allen Fällen gelingt oder gelingen kann. Auch diese neuen rechtsterroristischen Herausforderungen haben bereits zu Anpassungen der Arbeitsweise des LfV geführt: Vom stärker personenbezogenen Ansatz, wie es bei der Bekämpfung des Jihadismus bereits der Fall ist, bis hin zur stärkeren Überprüfung aus früheren Jahren bekannter Rechtsextremisten, die heute eine scheinbar unauffällige Vita aufweisen. In diesen Rahmen sich seit Jahren verändernder Arbeitsweisen gehört auch der Anspruch, dass Extremisten keinesfalls Waffen besitzen dürfen. Für eine Behörde wie das LfV sind mir vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen zwei Aspekte besonders wichtig: Wir müssen zum einen stets aufs Neue und fortdauernd unsere Kompetenz stärken. Dies betrifft sowohl Bereiche, in denen wir dies selbst können, wie fachliche Fortbildung oder die Gewinnung von personeller Expertise; es betrifft aber auch externe Rahmenbedingungen, wie die fortlaufende Überprüfung der gesetzlichen Grundlagen. Zum anderen müssen wir über eine ausprägte Fehlerkultur verfügen. Für mich heißt das, aus Fehlern oder aus Defiziten ständig zu lernen und auf Verbesserung hinzuarbeiten. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 -9 ZU DIESEM BERICHT Der vorliegende Verfassungsschutzbericht beschreibt die Entwicklungen im Jahr 2019. Besorgniserregend ist sowohl die Zunahme des rechtsextremistischen Personenpotenzials als auch der Straftaten in diesem Bereich. Auch dies unterstreicht, dass die Bekämpfung des Rechtsextremismus höchste Priorität hat. Wir würden unsere Aufgabe aber falsch verstehen, wenn wir über den verschärften Blick auf den Rechtsextremismus die anderen Extremismusphänomene vernachlässigen würden. Wir müssen uns vor der Annahme hüten, dass der islamistische Terrorismus nicht mehr die seit Jahren bestehende Gefährlichkeit habe oder dass der Linksextremismus zu vernachlässigen sei. Liebe Bürgerinnen und Bürger, lassen Sie mich noch auf ein Thema zu sprechen kommen, das mir besonders am Herzen liegt: die Bekämpfung des Antisemitismus. Im Januar 2020 haben wir des 75. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationsund Vernichtungslagers Auschwitz gedacht. Im vorliegenden Bericht haben wir diesem Thema ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Erinnerung an den ungeheuerlichen Zivilisationsbruch des Holocaust wachzuhalten, ist eine dauernde Aufgabe für uns alle. Es stimmt mich nachdenklich und besorgt, wenn ich in manchen Gesprächen erfahre, dass Schülerinnen und Schüler mit dem 9. November 1938 nichts mehr anfangen können, schlichtweg nicht wissen, was an diesem Tag im damaligen nationalsozialistischen Deutschland geschah. Gemeinsam mit dem Landrat des Kreises Hersfeld-Rotenburg habe ich daher im vergangenen Jahr eigens eine Veranstaltungsreihe zum Thema Antisemitismus und Holocaust-Gedenken initiiert, angeknüpft an den Hessentag in Bad Hersfeld, die sich in zahlreichen Folgeveranstaltungen über den 9. November hinaus fortsetzte. Veranstaltungsreihen wie diese ergänzen die Arbeit der Phänomenbereichsübergreifenden wissenschaftlichen Analysestelle und Fremdenfeindlichkeit (PAAF), die seit 2016 im LfV besteht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Amt wie der Verfassungsschutz mit seiner herausfordernden und wahrlich nicht einfachen Aufgabe lebt von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die dies alles leisten. Sie alle haben in den sehr unterschiedlichen Aufgabenbereichen des Landesamts eine hervorragende Arbeit geleistet. Wir stehen weiterhin vor großen Herausfor10 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZU DIESEM BERICHT derungen, die wir gemeinsam mit aller Entschlossenheit zum Wohle und Schutz der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes annehmen. Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar. Robert Schäfer Präsident des Landesamts für Verfassungsschutz Hessen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 11 ZU DIESEM BERICHT 12 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN - FReIHeItLIcHe deMokRatIScHe GRundoRdnunG - auFGaBen, BeFuGnISSe, MItwIRkunGSauFGaBen - MetHoden - kontRoLLe - StRuktuRen, oRGanISatIon, HauSHaLt - weSentLIcHe InStItutIoneLLe eLeMente deR SIcHeRHeItSaRcHItektuR auF BundeSeBene und In HeSSen - ÖFFentLIcHkeItSund PRäVentIonSaRBeIt - kontakt und InteRnetPRäSenz VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN FReIHeItLIcHe deMokRatIScHe GRundoRdnunG den kern der demokratie in der Bundesrepublik deutschland bildet die freiheitliche demokratische Grundordnung. In ihr sind tragende Grundprinzipien festgeschrieben, die absolute werte und unverzichtbare Schutzgüter sind. Resultierend aus den erkenntnissen über das Scheitern der weimarer Republik und aus den furchtbaren erfahrungen mit dem nationalsozialistischen terrorund unrechtsregime (1933 bis 1945) ist die demokratie in deutschland heute streitbar und abwehrbereit (siehe hierzu Hessischer Verfassungsschutzbericht 2018, S. 14-20). die demokratie ist willens und fähig, sich gegen angriffe ihrer Feinde zu verteidigen. der Verfassungsschutz hat hierbei die wichtige Funktion eines "Frühwarnsystems". AUF EINEN BLICK * demokratie und Rechtsstaatlichkeit * werteprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung * Garantie der Menschenwürde als ausgangspunkt demokratie und Rechtsstaatlichkeit | Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist unsere Demokratie eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung. In ihr sind die Grundrechte der Bürger garantiert; es ist jedem Bürger möglich, staatliche Entscheidungen durch unabhängige Gerichte nachprüfen zu lassen. Das bedeutet, dass staatliche Willkür ausgeschlossen und das Handeln der Behörden an Recht und Gesetz gebunden ist. Jeder Bürger genießt Rechtssicherheit. Diese Ordnung gründet sich auf dem Selbstbestimmungsrecht des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit, auf der Freiheit und Gleichheit aller Menschen, auf der Gewaltenteilung und der Unabhängigkeit der Gerichte. werteprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung | Zu der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, die unabänderliche oberste Werteprinzipien als Kernbestand unserer Demokratie enthält, zählen: * die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, * das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, * die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, 14 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN * das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, * die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, * die Unabhängigkeit der Gerichte und * der Ausschluss jeder Gewaltund Willkürherrschaft. Garantie der Menschenwürde als ausgangspunkt | Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 17. Januar 2017 (2 BvB 1/13) auf den Antrag des Bundesrates, die Nationaldemokratische Partei Deutschlands einschließlich ihrer Teilorganisationen als verfassungswidrig einzustufen und aufzulösen, Folgendes erklärt: "Der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne von Art. 21 Abs. 2 GG beinhaltet die zentralen Grundprinzipien, die für den freiheitlichen Verfassungsstaat schlechthin unentbehrlich sind. Ihren Ausgangspunkt findet die freiheitliche demokratische Grundordnung in der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG). Die Garantie der Menschenwürde umfasst insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität sowie die elementare Rechtsgleichheit. Auf rassistische Diskriminierung zielende Konzepte sind damit nicht vereinbar. Daneben sind im Rahmen des Demokratieprinzips die Möglichkeit gleichberechtigter Teilhabe aller Bürgerinnen und Bürger am Prozess der politischen Willensbildung und die Rückbindung der Ausübung aller Staatsgewalt an das Volk (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) konstitutive Bestandteile der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Hinsichtlich des Rechtsstaatsprinzips gilt dies für die Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt, die Kontrolle dieser Bindung durch unabhängige Gerichte und das staatliche Gewaltmonopol". auFGaBen, BeFuGnISSe, MItwIRkunGSauFGaBen aufgabe des LfV ist, es den zuständigen Stellen zu ermöglichen, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung sowie den Bestand und die Sicherheit von Bund und Ländern zu treffen. darüber hinaus erstellt das LfV Lageberichte und analysen. zu diesem zweck sammelt es Informationen - insbesondere von sachund personenbezogenen auskünften, nachrichten und unterlagen - über extremistische Bestrebungen und sicherheitsgefährdende und geheimdienstliche tätigkeiten und wertet sie aus. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 15 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN AUF EINEN BLICK * aufgaben - definition extremistische Bestrebungen * Befugnisse - kein einsatz von zwangsmitteln * Mitwirkungsaufgaben des LfV aufgaben - definition extremistische Bestrebungen | Extremistische Bestrebungen im Sinne des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes (HVSG) sind politisch bestimmte zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen in einem oder für einen Personenzusammenschluss, die auf die Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zielen. Nicht extremistisch ist die kritische Auseinandersetzung mit Elementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, ohne dass diese Auseinandersetzung das Ziel der Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verfolgt. Neben extremistischen Bestrebungen, die auf die Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zielen, beobachtet das LfV * sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes für eine fremde Macht, * Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, * Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Art. 9 Abs. 2 GG), insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker (Art. 26 Abs. 1 GG), gerichtet sind, * Bestrebungen und Tätigkeiten der Organisierten Kriminalität im Geltungsbereich des Grundgesetzes. Befugnisse - kein einsatz von zwangsmitteln | Das LfV hat keine exekutiven Befugnisse. Es darf zum Beispiel Personen weder vorladen noch festnehmen oder Durchsuchungen durchführen. Die Zusammenarbeit mit dem LfV beruht für Privatpersonen auf Freiwilligkeit. Um Maßnahmen, zu denen es selbst nicht befugt ist, darf das LfV die Polizei nicht ersuchen, was eine der Ausprägungen des Trennungsgebots zwischen Verfassungsschutz und Polizei ist. Mitwirkungsaufgaben des LfV | Neben den oben beschriebenen Aufgaben unterstützt das LfV im Bereich des Geheimund Wirtschaftsschutzes Behörden und Unternehmen mit seinen Erkenntnissen und seinem Wissen. Ebenso wirkt das LfV mit bei: * Aufenthalts-/Einbürgerungsverfahren von Ausländern und * Sicherheitsund Zuverlässigkeitsüberprüfungen (unter anderem für die Bereiche Luftsicherheit, Atomkraftanlagen und den Umgang bzw. Verkehr mit Waffen und Sprengstoff). 16 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Die Aufgaben und Befugnisse des Verfassungsschutzes sind gesetzlich festgelegt. In allen Ländern bestehen hierfür eigene gesetzliche Grundlagen. In Hessen sind die Aufgaben und Befugnisse im HVSG geregelt. Darüber hinaus regelt das Bundesverfassungsschutzgesetz die Aufgaben und die Rechtsstellung des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) sowie die Zusammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern. MetHoden um mittels kontinuierlicher Beobachtung verfassungsschutzrelevante Bestrebungen und tätigkeiten zu erkennen und in fundierten analysen zu beschreiben, bedient sich das LfV verschiedener Methoden. Sie reichen von der Informationsgewinnung aus allgemein zugänglichen Quellen über das Verwenden technischer Mittel bis hin zum einsatz von Vertrauensleuten. AUF EINEN BLICK * Informationserhebung auf der Grundlage allgemein zugänglicher Quellen * Informationserhebung mit nachrichtendienstlichen Mitteln Informationserhebung auf der Grundlage allgemein zugänglicher Quellen | Die zur Erfüllung seiner Aufgaben notwendigen Informationen gewinnt das LfV vornehmlich aus allgemein zugänglichen Quellen. Dazu gehören unter anderem * Publikationen, * Internetinhalte sowie * öffentliche Veranstaltungen. Informationserhebung mit nachrichtendienstlichen Mitteln | Verfassungsfeinde und andere Personen bzw. Gruppierungen, die dem Beobachtungsauftrag des LfV unterliegen, arbeiten oft konspirativ, das heißt, sie versuchen ihre wahren Ziele und Aktivitäten zu verschleiern oder geheim zu halten. Das Sammeln allgemein zugänglichen Materials durch das LfV und der Informationsaustausch mit anderen Behörden und anderen Stellen genügen deshalb zuweilen nicht, um ein vollständiges und sachgerechtes Bild von verfassungsfeindlichen und sicherheitsgefährdenden Bestrebungen sowie von Spionagetätigkeiten und Aktivitäten der Organisierten Kriminalität zu erhalten. Daher ist das LfV befugt, nachrichtendienstliche Mittel einzusetzen. Dazu gehören zum Beispiel: * die Überwachung des Brief-, Postund Fernmeldeverkehrs, * der Einsatz technischer Mittel zur Wohnraumüberwachung, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 17 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN * der Einsatz technischer Mittel zur Ortung von Mobilfunkendgeräten, * die Observation verdächtiger Personen, * das Fertigen von Bildund Tonaufzeichnungen, * die Beobachtung des Internets sowie * das Einsetzen von verdeckten Mitarbeitern und Vertrauensleuten. Die Vertrauensleute gehören nicht dem Verfassungsschutz an, liefern aber Informationen aus dem jeweiligen Beobachtungsobjekt. Nachrichtendienstliche Mittel dürfen in Bezug auf personenbezogene Daten nur dann angewendet werden, wenn hierfür bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Die entsprechenden Regelungen sind in SS 5 HVSG festgelegt. Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel unterliegt gesetzlichen Schranken, wobei insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (SS 14 HVSG) zu beachten ist. kontRoLLe die tätigkeit des LfV wird auf vielfältige weise kontrolliert. dies geschieht insbesondere durch die Parlamentarische kontrollkommission Verfassungsschutz (PkV) des Hessischen Landtags. die Regularien, welche die parlamentarische kontrolle und die PkV als Institution betreffen, sind im Verfassungsschutzkontrollgesetz (VerfSchkontG) festgeschrieben. AUF EINEN BLICK * wahl der PkV-Mitglieder aus der Mitte des Hessischen Landtags * Pflichten der Hessischen Landesregierung * Befugnisse der PkV * G-10-kommission * Rechtsund Fachaufsicht * weitere kontrollen wahl der PkV-Mitglieder aus der Mitte des Hessischen Landtags | Die PKV besteht aus sieben Mitgliedern, die der Hessische Landtag gemäß SS 1 Abs. 2 VerfSchKontG aus seiner Mitte wählt. Demnach bestimmt die Volksvertretung die Zahl der Mitglieder, die Zusammensetzung und die Arbeitsweise der PKV. Die Beratungen der PKV sind geheim. Pflichten der Hessischen Landesregierung | Die Pflicht der Hessischen Landesregierung zur Unterrichtung der PKV sowie deren Befugnisse sind durch das im Juni 2018 in Kraft getretene Gesetz zur Neuaus18 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN richtung des Verfassungsschutzes in Hessen (Art. 2 - Gesetz zur parlamentarischen Kontrolle des Verfassungsschutzes in Hessen) präzisiert und erweitert worden. Neben der umfassenden Unterrichtung der PKV durch das für das LfV zuständige Hessische Ministerium des Innern und für Sport über die allgemeine Tätigkeit des LfV und über Vorgänge von besonderer Bedeutung wird die Kontrollkommission über weitere Sachverhalte informiert: so etwa über besondere Auskunftsersuchen, den verdeckten Einsatz technischer Mittel zur Wohnraumüberwachung, die Ortung von Mobilfunkendgeräten und Observationen sowie den Einsatz von verdeckten Mitarbeitern und Vertrauensleuten (SSSS 10, 7, 9, 11, 12 u. 13 HVSG). Befugnisse der PkV | Jedes Mitglied der PKV kann die Einberufung einer Sitzung und die Unterrichtung der PKV verlangen. Darüber hinaus hat jedes Mitglied das Recht der Akteneinsicht; falls erforderlich, ist dabei auch Zutritt zu den Dienststellen des LfV zu gewähren. Mit Zwei-Drittel-Mehrheit kann die PKV einen Sachverständigen mit der Durchführung von Untersuchungen beauftragen, welcher der PKV über das Ergebnis berichten muss. Darüber hinaus hat die PKV das Recht, den Haushaltsplan des LfV mitzuberaten. KONTROLLE DES LFV Parlamentarische Kontrolle Parlamentarische Kontrolle Parlamentarische Kontrolle Parlamentarische Hessischer Landtag G-10-Kommission Kontrollkommission LfV Hessen Verwaltungskontrolle Gerichtliche Kontrolle Öffentliche Kontrolle - Hessisches Ministerium des Verwaltungsgerichtlicher - Bürger (Auskunftsrecht) Innern und für Sport Rechtsschutz - Öffentliche Medien - Hessischer Beauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit - Hessischer Rechnungshof Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 19 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN G-10-kommission | Maßnahmen, die mit einem Eingriff in Art. 10 GG (Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis) verbunden sind, bedürfen der Genehmigung der G-10-Kommission des Hessischen Landtags. Rechtsund Fachaufsicht | Das Hessische Ministerium des Innern und für Sport nimmt die Rechtsund Fachaufsicht über das LfV wahr, das heißt, es prüft die Rechtund Zweckmäßigkeit des Handelns des LfV, indem es dessen Aufgabenerledigung steuert und kontrolliert. Dies geschieht etwa mittels Strategieund Programmplanungen, Zielvereinbarungen, Besprechungen, Weisungen und Erlassen. weitere kontrollen | Darüber hinaus kontrollieren der Hessische Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, der Hessische Rechnungshof und - mittelbar auf dem Wege der Berichterstattung und Kommentierung - die öffentlichen Medien die Tätigkeit des LfV. Die Speicherung personenbezogener Daten, Auskunftserteilungen und die Erwähnung im Verfassungsschutzbericht, die das LfV zu Lasten Betroffener trifft, unterliegen darüber hinaus der vollständigen gerichtlichen Kontrolle. StRuktuRen, oRGanISatIon, HauSHaLt der Verfassungsschutz ist als Inlandsnachrichtendienst der Bundesrepublik deutschland föderal organisiert. der Bund und die 16 Länder unterhalten jeweils eigene Verfassungsschutzbehörden. AUF EINEN BLICK * organisation * anzahl der Planstellen - ausgabenbudget organisation | Als obere Landesbehörde untersteht das LfV dem Hessischen Ministerium des Innern und für Sport. Das LfV hat seinen Sitz in Wiesbaden. Das LfV gliedert sich in fünf der Amtsleitung unterstehende Abteilungen. An die Amtsleitung angebunden sind ebenso der Stab sowie die Koordination des Nachrichtendienstlichen Informationssystems (NADIS), die Interne Revision, die Geheimschutzbeauftragte, die Datenschutzbeauftragte, die Koordination Dokumentenmanagementsystem (DMS) sowie die Projektgruppe 24/7Dauerdienst. Darüber hinaus verfügt das LfV in Hessen über Außenstellen. Wie in jeder Behörde gibt es einen Personalrat, eine Schwerbehindertenvertretung und eine Gleichstellungsbeauftragte. 20 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 PRÄSIDENT 24/7-Dauerdienst VIZE-PRÄSIDENT Personalrat STAB HSG 1 - Leitungsunterstützung, GremienSchwerbehindertenvertretung arbeit und Qualitätssicherung DMS-Koordination NADIS-Koordination Geheimschutzbeauftragte Gleichstellungsbeauftragte HSG 2 - Presseund Öffentlichkeitsarbeit, Kommunikation und aufklärende Prävention Interne Revision Datenschutzbeauftragte HSG 3 - Berichtswesen HSG 4 - Beratende Prävention ABTEILUNG 1 ABTEILUNG 2 ABTEILUNG 3 ABTEILUNG 4 ABTEILUNG 5 Zentrale Dienste Rechtsextremismus/ Operative Fachdienste Islamismus und islamistischer Linksextremismus/-terrorismus -terrorismus Terrorismus/Salafismus und Extremismus/Terrorismus mit Auslandsbezug DEZERNAT 30 DEZERNAT 50 DEZERNAT 11 DEZERNAT 20 Organisierte Kriminalität, DEZERNAT 40 Beschaffung Verwaltung und G10 Beschaffung Spionageabwehr und Beschaffung Koordinierung von BeschaffungsWirtschaftsschutz grundsätzen DEZERNAT 12 DEZERNAT 21 DEZERNAT 31 DEZERNAT 41 DEZERNAT 51 Strukturanalyse und strategische Strukturanalyse und strategische Strukturanalyse und strategische ITund Sondertechnik Observation Auswertung Auswertung Auswertung DEZERNAT 13 DEZERNAT 22 DEZERNAT 32 DEZERNAT 42 DEZERNAT 52 Fallbezogene und operative Personeller und materieller Fallbezogene und operative Fallbezogene und operative Datenschutz und Grundsatz Auswertung Geheimschutz Auswertung Auswertung DEZERNAT 23 DEZERNAT 33 DEZERNAT 14 Phänomenbereichsübergreifende Online-Recherche-Team Mitwirkungsaufgaben wissenschaftliche Analysestelle Extremismus, Terrorismus - ORTET Antisemitismus und FremdenVERFASSUNGSSCHUTZ feindlichkeit (PAAF) DEZERNAT 34 AUSSENSTELLEN Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 Zentrale Ermittlungen Phänomenübergreifende regionalisierte Extremismusbearbeitung IN HESSEN - 21 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN ANZAHL DER PLANSTELLEN DES LFV (2015 BIS 2019) 400 375 352 350 332 312 300 266 250 200 150 100 50 0 2015 2016 2017 2018 2019 anzahl der Planstellen - ausgabenbudget | Die Personalmittel sowie die Finanzmittel für Personalund Sachausgaben sind im Haushaltsplan des Landes Hessen ausgewiesen. Für das Jahr 2019 standen dem LfV 375 Planstellen zur Verfügung. Das Ausgabenbudget für das Jahr 2019 belief sich auf 29.658.500.Euro. AUSGABENBUDGET DES LFV (2015 BIS 2019) 35 Mio. 32.559.500 30 Mio. 29.658.500 27.542.300 25 Mio. 26.094.200 20 Mio. 20.302.400 2015 2016 2017 2018 2019 22 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN weSentLIcHe InStItutIoneLLe eLeMente deR SIcHeRHeItSaRcHItektuR auF BundeSeBene und In HeSSen die Sicherheitsstruktur in der Bundesrepublik deutschland wurde in den letzten Jahren ausgebaut und modifiziert. die zielsetzung war hierbei, auf Gefahren und Bedrohungen flexibler und schneller reagieren zu können sowie wissen und kompetenzen verschiedener Sicherheitsbehörden zu bündeln. Relevante Informationen sollen unter Beachtung der jeweiligen zuständigkeiten und gesetzlichen Vorgaben zusammengeführt und bewertet werden, ohne die organisatorische trennung der Sicherheitsbehörden in Frage zu stellen. AUF EINEN BLICK * Sicherheitsarchitektur auf dem Prüfstand * kernelemente der bundesweiten Sicherheitsarchitektur * Hetaz Sicherheitsarchitektur auf dem Prüfstand | Nach wie vor unterlagen Organisation und Effizienz der Sicherheitsstruktur in der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere das Zusammenwirken ihrer einzelnen Elemente, einem Prüfungsprozess. Der vom Deutschen Bundestag 2018 eingesetzte Untersuchungsausschuss zum islamistisch motivierten Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin vom 19. Dezember 2016 soll sich unter anderem ein Urteil bilden zu der Frage, "ob die Sicherheits-, Strafverfolgungsund Strafvollzugsbehörden und die Nachrichtendienste des Bundes und der Länder sowie die für den Vollzug des Asylund Aufenthaltsrechts zuständigen Behörden unter Ausschöpfung der rechtlichen Möglichkeiten sachgerechte Maßnahmen ergriffen haben, ob Informationen zwischen den einzelnen Behörden zeitund sachgerecht ausgetauscht wurden und ob mit Nachrichtendiensten und Sicherheitsund Strafverfolgungsbehörden im europäischen und außereuropäischen Ausland sachgerecht zusammengearbeitet beziehungsweise Informationen ausgetauscht wurden". Auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse soll der Untersuchungsausschuss unter anderem "weitere Schlussfolgerungen für Befugnisse, Organisation, Arbeit und Kooperation der Sicherheits-, Strafverfolgungsund Strafvollzugsbehörden und der Nachrichtendienste von Bund und Ländern sowie der für den Vollzug des Asylund Aufenthaltsrechts zuständigen Behörden von Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 23 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Bund, Ländern und Kommunen ziehen und gegebenenfalls Empfehlungen für weitere Maßnahmen aussprechen". kernelemente der bundesweiten Sicherheitsarchitektur | Die bundesweite Sicherheitsarchitektur besteht im Wesentlichen aus folgenden Einrichtungen: * dem Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) zur Abwehr und Bekämpfung des islamistischen Terrorismus, * dem Gemeinsamen Internetzentrum (GIZ) und * dem Gemeinsamen Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum (GETZ). Am GTAZ in Berlin sind Vertreter folgender Behörden beteiligt: * Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern, * Bundeskriminalamt (BKA), * Bundesnachrichtendienst (BND), * Generalbundesanwaltschaft (GBA), * Bundespolizei (BPol), AUFBAU DES GEMEINSAMEN TERRORISMUSABWEHRZENTRUMS Bundesamt für Migration und Bundesamt Flüchtlinge Generalfür bundesanwalt Verfassungsschutz 16 BundesLandesämter kriminalamt für Verfassungsschutz GTAZ NIAS 16 LandesBundesnachkriminalrichtenämter dienst Bundesamt für den Militärischen AS Bundespolizei PI GeneralAbschirmdienst zolldirektion 24 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN * Generalzolldirektion (GZD), * Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), * Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst (BAMAD) und die * Landeskriminalämter. Im GTAZ gibt es darüber hinaus zwei voneinander institutionell getrennte Einrichtungen: Die Nachrichtendienstliche (NIAS) und die Polizeiliche Informationsund Analysestelle (PIAS). NIASund PIASMitglieder kooperieren in verschiedenen Arbeitsgruppen eng miteinander, um bestimmte Fälle aktuell zu bearbeiten sowie Gefahrenprognosen und mittelbzw. längerfristige Analysen zu erstellen. Nach dem Vorbild des GTAZ arbeiten im GIZ Vertreter des * BfV, * BKA, * BND, * BAMAD und * der GBA AUFBAU DES GEMEINSAMEN EXTREMISMUSUND TERRORISMUSABWEHRZENTRUMS Bundesamt für Migration und Bundesamt GeneralFlüchtlinge für Wirtschaft bundesanwalt und Ausfuhrkontrolle Bundesamt Generalfür zolldirektion Verfassungsschutz NIAS 16 Bundeskriminalamt GETZ Landesämter für Verfassungsschutz BundesnachBundespolizei richtendienst PIAS 16 LandeskriminalBundesamt für den Militärischen ämter Abschirmdienst Europol Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 25 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN eng zusammen. Darüber hinaus steht das GIZ in ständigem Austausch mit den zuständigen Landesbehörden. Aufgabe der Vertreter der am GIZ mitwirkenden Behörden ist die Beobachtung, Auswertung und Analyse von Veröffentlichungen mit islamistischen und jihadistischen Inhalten im Internet, um frühzeitig extremistische und terroristische Strukturen und Aktivitäten zu identifizieren. Das GETZ ist als "Dachorganisation" für die Bekämpfung folgender Phänomenbereiche zuständig: * Rechtsextremismus/-terrorismus, * Linksextremismus/-terrorismus, * Extremismus mit Auslandsbezug und * Spionageabwehr und Proliferation. Die Federführung obliegt dem BfV und dem BKA. Die Koordinierte Internetauswertung (KIA) erfolgt beim BfV in Köln. Am GETZ als Informationsund Kommunikationsplattform beteiligen sich - analog zu den Aufgaben des GTAZ - zur Bündelung der Fachexpertise und der Sicherstellung eines möglichst lückenlosen und schnellen Informationsflusses folgende Behörden: * Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern, * BKA, * BPol, * Europäisches Polizeiamt (Europol), * GBA, * GZD, * BND, * BAMAD, * BAMF, * Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) und die * Landeskriminalämter. HETAZ | Das in Hessen am 11. März 2019 konstituierte Hessische Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum (HETAZ) hat seine Geschäftsstelle im LfV. Es fungiert als anlassbezogene Kommunikations-, Informationsund Kooperationsplattform unter ständiger Beteiligung des Hessischen Landeskriminalamts (HLKA), der Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main - Abteilung Staatsschutz, der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main sowie des LfV. Abhängig von konkreten Gefährdungsund Bedrohungssachverhalten werden Vertreter weiterer Behörden, wie zum Beispiel von Polizeipräsidien, Ausländerbehörden und Jugendämtern im Rahmen ihres jeweiligen Aufgabenbereichs und ihrer Zuständigkeit hinzugezogen. 26 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN AUFBAU DES HESSISCHEN EXTREMISMUSUND TERRORISMUSABWEHRZENTRUMS Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt StaatsanwaltPolizeischaft Frankfurt präsidien Landeskriminalamt Kommunen - Landesamt für HETAZ VerfassungsHMdIS schutz (LPP, Abt. II) Prävention ... (HKE, VPN) weitere Behörden Ziel ist es unter anderem, einen abgestimmten, fortlaufenden und nachhaltigen Informationsaustausch mit kurzen Kommunikationswegen unter Berücksichtigung der gesetzlichen Übermittlungsvorschriften und des für den Verfassungsschutz und die Polizei gültigen informationellen Trennungsgebots zu gewährleisten. Durch Bündelung, Verdichtung und Bewertung der Informationen soll die Erkenntnislage der zuständigen Behörden verbessert und der Austausch über operative Maßnahmen in enger Kooperation erleichtert werden. Hieraus soll auch eine noch effektiver und effizienter als bisher gestaltete Strafverfolgung resultieren. Im Berichtsjahr fanden sieben Sitzungen des HETAZ statt. Thematisch befasste es sich unter anderem mit rechtsextremistischen Bestrebungen, Legalwaffenbesitz von Extremisten und der Situation der in Syrien und im Irak inhaftierten Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats aus Hessen und deren mögliche Rückkehr. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 27 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN ÖFFentLIcHkeItSund PRäVentIonSaRBeIt der Verfassungsschutz hat die gesetzliche aufgabe, die Öffentlichkeit über die in SS 2 abs. 2 HVSG genannten Bestrebungen und tätigkeiten zu informieren und aufzuklären. zu diesem zweck stellt das LfV der Öffentlichkeit seinen jährlichen Verfassungsschutzbericht, verschiedene Broschüren sowie Informationen auf seiner Internetseite zur Verfügung. der Prävention, die 2018 im HVSG explizit als aufgabe verankert wurde, misst das LfV sehr große und wachsende Bedeutung bei. zudem haben Journalisten die Möglichkeit, sich mit anfragen an die Pressestelle des LfV zu wenden. AUF EINEN BLICK * Hessischer Verfassungsschutzbericht * Informationsbroschüren des LfV * Prävention - allgemeines * aufklärende Prävention - zielgruppen * Beratende Prävention - zielgruppen * kompetenzzentrum gegen Rechtsextremismus * kooperationspartner * "Begegnungen gegen antisemitismus" * Fachtag der evangelischen akademie in Frankfurt am Main * weitere Maßnahmen * Informationsstand auf dem Hessentag * Herbstgespräch * entwicklung der Präventionsarbeit * Prävention für die wirtschaft Hessischer Verfassungsschutzbericht | Im Mittelpunkt der Information und Aufklärung der Öffentlichkeit steht der vom Hessischen Ministerium des Innern und für Sport herausgegebene jährliche Verfassungsschutzbericht. Er informiert über die wesentlichen während des Berichtsjahrs gewonnenen Erkenntnisse des LfV und bewertet diese. Dabei ist es das oberste Ziel der Präventionsarbeit des LfV, Menschen gegen Extremismus zu immunisieren. Informationsbroschüren des LfV | Damit sich die Bürgerinnen und Bürger gezielt mit einzelnen Extremismusbereichen auseinandersetzen können, gibt das LfV Informationsbroschüren heraus. Folgende Publikationen können beim LfV angefordert oder über dessen Internetseite direkt abgerufen werden (siehe unten Kontakt und Internetpräsenz): * Verfassungsschutz in Hessen - Beobachten, analysieren und informieren. 28 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN * Extremismus erkennen - Handreichung für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Flüchtlingshilfe. * Salafistische Bestrebungen in Hessen. * Kennzeichen und Symbole der Rechtsextremisten. * Gedenkund Jahrestage von Rechtsextremisten. * Rechtsextremismus und Sonnenwendfeiern. * Verfassungsfeindliche Bestrebung: "Reichsbürger" und "Selbstverwalter". * Mit Militanz zur Errichtung einer "herrschaftsfreien Gesellschaft" - Einblicke in die autonome Bewegung. * "... und diese Gerüchte stammen nicht von irgendwelchen Nazis!" Eine Studie zu Erscheinungsformen und ideologischen Hintergründen antisemitischer Agitation in den sozialen Netzwerken (= PAAF Analysen 1), auch als gekürzte Version (PAAF Analysen 1 - In aller Kürze) erhältlich. Darüber hinaus finden interessierte Bürgerinnen und Bürger weitere Informationsmaterialien auf den Internetseiten des Bundesamts für Verfassungsschutz und der Landesämter für Verfassungsschutz: www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/publikationen. Prävention - allgemeines | Das LfV hat seine Präventionsarbeit in den vergangenen Jahren kontinuierlich ausgebaut, dabei bilden Informationen und vorbeugende Maßnahmen in Bezug auf Rechtsextremismus und Salafismus deutliche Schwerpunkte. Das Spektrum der Prävention umfasst * die Bereitstellung von Informationsmaterialien, * zielgruppenorientierte Sensibilisierungsveranstaltungen in Form von Vorträgen und Workshops (aufklärende Prävention) sowie * Beratungsleistungen in konkreten Fällen (beratende Prävention). aufklärende Prävention - zielgruppen | Im Rahmen seiner Präventionsarbeit versucht das LfV, möglichst viele Menschen in staatlichen und nichtstaatlichen Stellen über Gefahren aufzuklären, die von extremistischen Bestrebungen ausgehen. Dazu bietet das LfV Fortbildungen zu den verschiedenen Extremismusphänomenen an, in denen es über entsprechende Ideologien, Strategien und Erscheinungsformen sowie über Anhaltspunkte für Radikalisierung informiert. Die Veranstaltungsteilnehmerinnen und -teilnehmer werden somit in die Lage versetzt, Extremismus zu erkennen, wenn er ihnen möglicherweise im Alltag begegnet. Eine wichtige Zielgruppe der aufklärenden Prävention sind Multiplikatoren im Bereich der (Jugend-)Bildung, zum Beispiel Lehrkräfte. Das LfV ist seit 2009 bei der Hessischen Lehrkräfteakademie als Anbieter von Fortbildungen für Lehrerinnen und Lehrer akkreditiert. Auf Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 29 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN seiner Internetseite sowie über die Online-Fortbildungsangebote der Staatlichen Schulämter bietet das LfV entsprechende Veranstaltungen an. Weitere Adressaten der aufklärenden Prävention des LfV sind Kommunen und Bildungseinrichtungen sowie Justiz, Polizei und Feuerwehr, aber auch religiöse Träger, private Sicherheitsdienstleister, Unternehmen und Wirtschaftsverbände. Das LfV steht auch für Vorträge bei Bürgermeisterdienstversammlungen, Magistratsund Ausschusssitzungen sowie bei Parteien, Vereinen und anderen Multiplikatoren zur Verfügung. Anlassbezogen informiert das LfV Kommunen proaktiv über aktuelle Entwicklungen in den verschiedenen Extremismusbereichen: So setzte das LfV die hessischen Kommunen im Berichtsjahr mit einem Beitrag im Kommunalbrief des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport über eine neue Kampagne "#meetRI#" der islamistischen Organisation Realität Islam (RI) in Kenntnis. Außerdem stellte das LfV dem Hessischen Kultusministerium ein Informationsblatt für Schulen über "schuelersprecher.info", eine Kampagne der rechtsextremistischen Jungen Nationalisten, der Jugendorganisation der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands, zur Verfügung. Beratende Prävention - zielgruppe | Um den Bedarfsträgern Handlungssicherheit bei der Identifizierung von und im Umgang mit extremistischen Bestrebungen zu vermitteln, bietet die beratende Prävention ergänzend zur aufklärenden Prävention einzelfallbezogene Leistungen an. Hierzu zählen insbesondere Beratungsgespräche, Vorträge und Schulungsmaßnahmen für ausgewählte Bedarfsträger, wie zum Beispiel für Landkreise, Städte und Gemeinden, Schulen und soziale Einrichtungen, Behörden und öffentliche Stellen, Verbände und (Moschee-)Vereine. Insbesondere die hessischen Kommunen sind wichtige Partner der Extremismusprävention. So ist das LfV in zahlreichen kommunalen Präventionsgremien vertreten, mit denen es eng zusammenarbeitet und für die es als direkter Ansprechpartner zur Verfügung steht. Vor diesem Hintergrund fand am 26. November in Gelnhausen eine gemeinsam mit dem Präventionsrat des Main-Kinzig-Kreises organisierte Veranstaltung zu den Themen Antisemitismus und Rechtsextremismus für Schulelternbeiräte des Kreises statt. Nach Impulsvorträgen des LfV, des Polizeipräsidiums Südosthessen sowie von Makkabi Deutschland e. V. - Jüdischer Turnund Sportverband in Deutschland und der Roten Linie - Pädagogische Fachstelle Rechtsextremismus konnten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im 30 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Rahmen einer Podiumsdiskussion mit Fragen an die Referentinnen und Referenten wenden. kompetenzzentrum gegen Rechtsextremismus | Das 2008 im LfV eingerichtete Kompetenzzentrum gegen Rechtsextremismus (KOREX) informiert im Rahmen der aufklärenden Prävention über Rechtsextremismus und bereitet dafür das Fachwissen des LfV für bestimmte Zielgruppen und die breite Öffentlichkeit auf. Das KOREX richtet seine Präventionsinhalte stets auf neuere bzw. aktuelle Entwicklungen im Rechtsextremismus aus, so gab es im Rechtsextremismus seit 2015 Veränderungen und Entwicklungen, die sich unter die Stichworte Virtualisierung, Radikalisierung und Entgrenzung fassen lassen. Das KOREX informiert unter anderem über Strategien und Narrative, mit denen Rechtsextremisten um Zuspruch im demokratischen Lager werben. Auf die Entlarvung bzw. Dekonstruktion rechtsextremistischer Agitation und der ihr zugrundeliegenden Muster legt das KOREX besonderen Wert. Die aus rechtsextremistischen Bestrebungen für die freiheitliche demokratische Grundordnung resultierenden Gefahren werden dabei besonders berücksichtigt. Darüber hinaus erstellt das KOREX Broschüren und berät Verantwortungsträger aus Politik, Gesellschaft und Behörden. Das KOREX ist regelmäßig, aber auch anlassbezogen in die Ausund Fortbildung der Hessischen Polizei und in diesem Rahmen vor allem in die Sensibilisierung für das Thema Rechtsextremismus eingebunden. So steuert das KOREX in den Seminaren "Staatsschutzmodul Politisch Motivierte Kriminalität (PMK)" der Polizeiakademie Hessen seit Jahren Vorträge bei und hält auch Vorträge an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung (HfPV) vor Studiengruppen und im Rahmen von Wahlpflichtmodulen. 2019 informierte das KOREX Führungskräfte verschiedener Polizeibehörden bei einer Vielzahl von Terminen über aktuelle Entwicklungen im Rechtsextremismus; an jeweils drei Terminen im April beschulte das KOREX das gesamte Abschlusssemester der Polizeianwärterinnen und -anwärter der HfPV in Wiesbaden. Am 12. August bildete das KOREX für das Ausund Fortbildungszentrum der Bundespolizei erstmals Anwärterinnen und Anwärter sowie das Stammpersonal fort. Diese Zusammenarbeit ist mittlerweile standardisiert, sodass das KOREX Anwärterjahrgänge in regelmäßigen zeitlichen Abständen für das Thema Rechtsextremismus sensibilisiert. kooperationspartner | Das LfV ist bei der Aufklärung über extremistische Bestrebungen eng mit dem Hessischen Informationsund Kompetenzzentrum gegen Extremismus (HKE) und zivilgesellschaftlichen Trägern vernetzt. Das im Jahr 2013 eingerichtete HKE übernimmt die zentrale Steuerung und Koordinierung der Maßnahmen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 31 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN zur Extremismusprävention und -intervention in Hessen. Das LfV ist im Rahmen des organisationsund ressortübergreifenden Ansatzes in der Lenkungsgruppe des HKE vertreten. Das HKE ist über die Internetseite www.hke.hessen.de erreichbar. Außerdem gehört das LfV dem Expertenpool des landesweiten beratungsNetzwerks hessen - Mobile Intervention gegen Rechtsextremismus an. In dem Expertenpool sind staatliche Institutionen und zivilgesellschaftliche Initiativen miteinander vernetzt. Das beratungsNetzwerk hessen ist über die Internetseite www.beratungsnetzwerkhessen.de zu erreichen. Zudem ist das LfV Mitglied im Fachbeirat des Hessischen Präventionsnetzwerks gegen Salafismus. Das 2014 gegründete Netzwerk ist das erste landesweite Präventionsprojekt gegen Salafismus in Deutschland. Im Mittelpunkt des Präventionsnetzwerks steht die Beratungsstelle Hessen - Religiöse Toleranz statt Extremismus, die beim zivilgesellschaftlichen Träger Violence Prevention Network (VPN) angebunden wurde. Die Beratung von islamistisch Radikalisierten und die Ausstiegsbegleitung stehen im Zentrum der Arbeit der Beratungsstelle Hessen (Email-Adresse: hessen@violence-preventionnetwork.de, Internetseite www.violence-prevention-network.de.) "Begegnungen gegen antisemitismus" | Darüber hinaus besteht zwischen dem LfV und den hessischen Kommunen eine enge und wichtige Zusammenarbeit. Dies zeigt exemplarisch das Präventionsprojekt "Begegnungen gegen Antisemitismus". Den Kern des Projekts, das der Landkreis Hersfeld-Rotenburg und das LfV zusammen mit weiteren Partnern im Berichtsjahr durchführten, bildete die Begegnung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Schülerinnen und Schülern. Daran beteiligten sich die Modellschule Obersberg in Bad Hersfeld, die Diltheyschule in Wiesbaden und die Gesamtschule Schenklengsfeld im Landkreis Hersfeld-Rotenburg. Weitere Partner waren unter anderem der Landesverband der Jüdischen Gemeinden in Hessen, das Programm Likrat des Zentralrats der Juden in Deutschland und die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Hersfeld-Rotenburg. Mit der Gesprächsreihe wollten der Landkreis Hersfeld-Rotenburg und das LfV einen deutlichen Akzent gegen Antisemitismus setzen und die Erinnerung an die Verbrechen wachhalten, die insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus an Menschen jüdischen Glaubens begangen wurden. Auftakt der Gesprächsreihe war am 14. Juni auf dem Hessentag in Bad Hersfeld. Schülerinnen und Schüler der jüdischen Religionsklasse der Diltheyschule und der Modellschule Obersberg führten ein Interview mit Mark Krasnov, dem ersten jüdischen Religions32 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN lehrer an einer staatlichen Schule in Hessen zum Thema "Jüdisches Leben in Deutschland". Am 19. September folgte ein historischer Rundgang durch Schenklengsfeld auf den Spuren der jüdischen Familie Löwenberg. Im Zusammenhang mit dem Gedenken an die Reichspogromnacht (9. November 1938) fand am 7. November eine Veranstaltung ("Antisemitismus heute") in der Modellschule Obersberg statt, bei der jüdische und nichtjüdische Schülerinnen und Schüler den Offenbacher Rabbiner Mendel Gurewitz und den hessischen Antisemitismusbeauftragten Uwe Becker befragten. Einen Tag später führte die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit eine Gedenkveranstaltung in der Kirche St. Lullus-Sturmius und an der nahegelegenen Gedenkstätte in Bad Hersfeld durch. Bei der Abschlussveranstaltung am 27. Januar 2020 (Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus/Internationaler Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust) in der Modellschule Obersberg stand die Dokumentation "Jetzt - nach so viel' Jahren" im Mittelpunkt. Der Film beschäftigte sich mit den gegen die jüdische Bevölkerung gerichteten Pogromen 1938 in Rhina (Landkreis Hersfeld-Rotenburg), nach der Filmvorführung interviewten Schülerinnen und Schüler die Filmemacher Pavel Schnabel und Harald Lüders. Fachtag der evangelischen akademie in Frankfurt am Main | Die Evangelische Akademie Frankfurt veranstaltete in Kooperation mit dem Polizeipräsidium Südosthessen am 5. November den Fachtag "Präventionsarbeit an Schulen. Das richtige Ziel am richtigen Ort?" Nach einem Impulsvortrag von Dr. Michael Kiefer (Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück) stellten das LfV und eine Vertreterin der Respekt-Coaches (https://www.jmd-respekt-coaches.de) ihre jeweiligen Präventionsansätze in Bezug auf Extremismus im Kontext Schule vor. Im Anschluss daran fand ein Gespräch mit Publikumsbeteiligung statt. weitere Maßnahmen | Das LfV ist in die Fortbildungsprogramme der Justizvollzugsanstalten eingebunden und bildet gemeinsam mit dem HLKA Strukturbeobachterinnen und -beobachter zum Phänomenbereich Islamismus weiter. Zudem führt das LfV seit einigen Jahren in Zusammenarbeit mit dem Wagnitz-Seminar des Hessischen Ministeriums der Justiz ein mehrtägiges Seminar zu den Themen "Islamismus" und "Rechtsextremismus" für Richter, Staatsanwälte und Bewährungshelfer durch. Seit 2015 fanden des Weiteren rund 30 Fortbildungsveranstaltungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Hessischen Erstaufnahmeeinrichtungen (HEAE) zum Thema "Extremistische Einflussnahme im Kontext von Flüchtlingseinrichtungen" statt. Bei diesen vom HKE koHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 33 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN ordinierten Schulungen, ging es unter anderem darum, Handlungsoptionen zu entwickeln für Fälle, in denen * Anzeichen für eine extremistische Radikalisierung unter Flüchtlingen bemerkt werden, * Tätigkeiten extremistischer Personen oder Gruppen in oder an einer Flüchtlingsunterkunft festgestellt werden, * der Besuch extremistischer Treffpunkte durch Flüchtlinge wahrgenommen wird * und/oder Hinweise auf ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ausländischer Nachrichtendienste bzw. auf nachrichtendienstliche Aktivitäten anderer Staaten in Bezug auf Flüchtlinge erlangt werden. Darauf aufbauend wurde 2017 in Zusammenarbeit mit dem Regierungspräsidium Gießen, dem HKE und dem VPN eine landesweite Abfolge von Präventionsveranstaltungen für kommunale Bedienstete mit dem Titel "Salafismusprävention in den Kommunen" auf den Weg gebracht. Die Veranstaltung wurde 2018 hessenweit durchgeführt und so Vertreterinnen und Vertretern aller Kommunen eine Teilnahme an der Schulung ermöglicht. Im Berichtsjahr wurde die Veranstaltung auf Nachfrage für Kommunen und HEAE angeboten. Eine Fortführung und inhaltliche Weiterentwicklung der Veranstaltungsreihe ist geplant. Informationsstand auf dem Hessentag | Im Rahmen seiner Öffentlichkeitsund Präventionsarbeit war das LfV in der Landesausstellung des Hessentags 2019 in Bad Hersfeld (Landkreis Hersfeld-Rotenburg) mit einem Informationsstand vertreten. Die Besucherinnen und Besucher hatten die Möglichkeit, mit Experten des LfV über die Arbeit des Verfassungsschutzes ins Gespräch zu kommen. Außerdem konnten sich die Besucher anhand von Publikationen und Schautafeln am komplett neugestalteten Stand des LfV über den Antagonismus zwischen freiheitlicher demokratischer Grundordnung und Extremismus informieren. Eine eigens entwickelte Videopräsentation bot Wissenswertes zu allen Extremismusbereichen. Die Bühnenveranstaltung des LfV in der Landesausstellung bildete den Auftakt zu der oben erwähnten Präventionsreihe "Begegnungen gegen Antisemitismus". Herbstgespräch | Das jährliche Herbstgespräch des LfV fand am 14. November im Museum Wiesbaden mit dem Thema "Mit aller Gewalt - Wie Rechtsextremisten unsere freiheitliche Demokratie bekämpfen" statt. Der Präsident des LfV, Robert Schäfer, warnte in seinem Eingangsvortrag vor der ungebrochen hohen Mobilisierungskraft der rechtsextremistischen Szene. Dieses Potenzial zeige sich nicht nur in den bundesweit stattfindenden rechtsextremistischen Konzerten, sondern auch im wachsenden Zuspruch zu rechtsextremistischen 34 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Kampfsportveranstaltungen, die sich zu "Szenemagneten und Rekrutierungstreffen unter sportlichem Vorwand" entwickelt hätten. Darüber hinaus wies Robert Schäfer am Beispiel des Internets darauf hin, dass rechtsextremistische Einzeltäter stets einem speziellen politischsozialem Hintergrund verhaftet sind: "Selbst wenn ein Täter hundertprozentig allein handelt, kann er sich durch das Internet in eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten eingebettet fühlen". Der Journalist Thomas Kreutzmann (ARD-Hauptstadtstudio Berlin/ Hessischer Rundfunk) moderierte die Podiumsdiskussion, an der folgende Diskutanten teilnahmen: Peter Beuth, Hessischer Minister des Innern und für Sport, Heidi Benneckenstein, Aussteigerin aus der Neonazi-Szene, Dr. Andreas Hollstein, Bürgermeister von Altena (Nordrhein-Westfalen) und Opfer einer Messerattacke im Jahre 2017, sowie Dr. Reiner Becker, Politikwissenschaftler und Leiter des Demokratiezentrums Hessen an der Philipps-Universität Marburg. Alle Podiumsgäste waren sich einig, dass der Kampf gegen den Rechtsextremismus nicht allein durch die Sicherheitsbehörden gewonnen werden könne. Vielmehr sei es die Aufgabe aller Bürgerinnen und Bürger, Mut zu haben und Gesicht und Haltung zu zeigen. entwicklung der Präventionsarbeit | Mit 335 Veranstaltungen erreichte das LfV die bislang höchste Zahl von Präventionsterminen pro Jahr. Wie in der Vergangenheit hatten die meisten Veranstaltungen PRÄVENTIONSTERMINE 2010 BIS 2019 350 335 300 292 264 250 243 202 200 189 150 127 100 92 79 46 50 0 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 35 VERFASSUNGSSCHUTZ IN HESSEN Rechtsextremismus, Islamismus und Wirtschaftsschutz zum Thema. Die große Nachfrage nach den Präventionsangeboten des LfV korrespondiert mit der Neuausrichtung des Verfassungsschutzes in Hessen, der damit verbundenen Öffnung der Behörde gegenüber der Öffentlichkeit und dem kontinuierlichen Ausbau der aufklärenden und beratenden Prävention. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Präventionstermine vervielfacht. Prävention für die wirtschaft | Informationen über die Aktivitäten und Dienstleistungen des LfV zum Thema Wirtschaftsschutz finden Sie im Kapitel Geheimund Wirtschaftsschutz. kontakt und InteRnetPRäSenz kontakt und Internetpräsenz | Alle Bürgerinnen und Bürger können sich an das Landesamt für Verfassungsschutz Hessen wenden. Allgemeine Fragen sollten via E-Mail an die Adresse poststelle@lfv.hessen.de gerichtet werden. Für spezielle Fragen zur Öffentlichkeitsund Präventionsarbeit ist das LfV unter der E-Mail-Adresse praevention@lfv.hessen erreichbar. Für spezielle Fragen zum Wirtschaftsschutz ist das LfV unter der E-Mail-Adresse wirtschaftsschutz@lfv.hessen.de erreichbar. Die Internetseite www.lfv.hessen.de enthält außerdem Informationen zu den Aufgaben und Befugnissen des LfV sowie zu allen extremistischen Phänomenbereichen. Das LfV veröffentlicht auf seiner Homepage auch aktuelle Stellenangebote. 36 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS IN HESSEN - EIN ÜBERBLICK - weSentLIcHe eckPunkte - RecHtSextReMISMuS - ReIcHSBüRGeR und SeLBStVeRwaLteR - LInkSextReMISMuS - ISLaMISMuS - extReMISMuS MIt auSLandSBezuG - oRGanISIeRte kRIMInaLItät (ok) - SPIonaGeund cyBeRaBweHR EXTREMISMUS IN HESSEN weSentLIcHe eckPunkte extremistisches Personenpotenzial in Hessen | Im Vergleich zum vorangegangenen Berichtsjahr stieg das extremistische Personenpotenzial in Hessen 2019 um etwa 600 auf rund 14.000 Personen an. Dies resultierte hauptsächlich aus der Zunahme des Personenpotenzials im Phänomenbereich Rechtsextremismus: Der Flügel und die Junge Alternative wurden als Teilorganisationen der Alternative für Deutschland (AfD) zum Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes erklärt, wobei die Gesamtpartei AfD kein Beobachtungsobjekt ist. Darüber hinaus erhöhte sich in Hessen das rechtsextremistische Personenpotenzial im parteiunabhängigen/-ungebundenen sowie im weitgehend unstrukturierten Bereich. Hierzu zählten vor allem Neonazis und Anhänger der subkulturellen rechtsextremistischen Musikszene. In den Phänomenbereichen Islamismus sowie Reichsbürger und Selbstverwalter blieb das Personenpotenzial unverändert, im Linksextremismus nahm es kaum merklich zu, während es im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug vor allem wegen der Einstellung der Beobachtung der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) etwas abnahm. EXTREMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL IN HESSEN (2015 BIS 2019) 15.000 14.015 13.530 13.395 13.060 12.000 12.585 Gesamtzahl der Extremisten (Zahlen gerundet) 9.000 Extremismus mit Auslandsbezug 6.000 Islamismus Linksextremismus 3.000 Rechtsextremismus Reichsbürger und 0 Selbstverwalter 2015 2016 2017 2018 2019 38 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS IN HESSEN Insbesondere mit Blick auf den Rechtsextremismus bestätigte sich die bereits im Berichtsjahr 2018 getroffene Einschätzung, dass der Extremismus in all seinen unterschiedlichen Ausprägungen und Schattierungen eine zunehmende Anziehungskraft in der Gesellschaft besitzt. Signifikante zunahme der Gesamtzahl der extremistischen Strafund Gewalttaten | Gegenüber dem Vorjahr nahm im Berichtszeitraum auch die Gesamtzahl der extremistischen Strafund Gewalttaten zu. Sie erhöhte sich signifikant von 698 (2018) auf 1.060, was einer Steigerung von etwa 52 Prozent entspricht. Von den 1.060 im Jahr 2019 insgesamt verübten Delikten nahmen die rechtsextremistischen Strafund Gewalttaten (886) deutlich den weitaus größten Teil ein, das heißt nahezu 84 Prozent. Erhöhte sich gegenüber dem Vorjahr 2018 ebenso der prozentuale Anteil der rechtsextremistischen Delikte an der Gesamtzahl der extremistischen Strafund Gewalttaten, so ist - neben dem signifikanten Zuwachs im Phänomenbereich Rechtsextremismus (plus 347 Delikte) zweierlei überaus besorgniserregend: STRAFUND GEWALTTATEN IN HESSEN (2015 BIS 2019) 1.200 Gesamt 1.000 800 600 400 Rechtsextremisten Extremismus mit Auslandsbezug 200 Linksextremisten davon Gewalttaten Islamismus 0 2015 2016 2017 2018 2019 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 39 EXTREMISMUS IN HESSEN * Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland befand sich unter den rechtsextremistischen Strafund Gewalttaten ein mutmaßlich rechtsextremistisch motiviertes Morddelikt, bei dem ein Politiker getötet wurde. So wurde der Kasseler Regierungspräsident Dr. Walter Lübcke Anfang Juni auf der Terrasse seines Wohnhauses mutmaßlich von einem Rechtsextremisten gezielt erschossen. * Darüber hinaus nahmen die rechtsextremistischen Strafund Gewalttaten gegenüber dem Vorjahr um etwa 64 Prozent zu. Innerhalb des zurückliegenden Fünf-Jahreszeitraums (2015 bis 2019) wurde damit im Phänomenbereich Rechtsextremismus 2019 der höchste Wert erreicht (siehe unten die Tabelle Rechtsextremistische Strafund Gewalttaten in Hessen, 2015 bis 2019). Diese Entwicklung ist besorgniserregend, sie ist in ihrer Bewertung auch nicht durch den Umstand abzuschwächen, dass die Gesamtzahl aller extremistischen Gewalttaten von 51 (2018) auf 41 und damit um fast etwa 20 Prozent sank. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten innerhalb des oben erwähnten Fünf-Jahreszeitraums kontinuierlich von 20 (2015) auf 31 (2019) stieg, lediglich unterbrochen von einem Rückgang im Jahr 2017 (16). Vor dem Hintergrund des gestiegenen rechtsextremistischen Personenpotenzials sowie der signifikant erhöhten rechtsextremistischen Strafund Gewalttaten bildet die dezidierte Beobachtung des Rechtsextremismus die wesentliche Kernaufgabe des LfV. Allerdings wird daneben nicht vernachlässigt, dass die Gefahr eines jihadistisch motivierten Terroranschlags nach wie vor unvermindert hoch ist und es seitens des LfV gilt, insbesondere von Einzelpersonen ausgehende schwerwiegende Gefahren (ebenso wie im Rechtsextremismus) frühzeitig zu erkennen. Auch beobachtet das LfV genau, ob bzw. in welchem Maße gewaltorientierte Radikalisierungstendenzen in der bundesweiten linksextremistischen autonomen Szene möglicherweise in Hessen ihren Niederschlag finden. So war es in Hamburg zu einem Angriff auf das Fahrzeug des Senators für Inneres und Sport gekommen. RecHtSextReMISMuS Personenpotenzial | Die rechtsextremistische Szene in Hessen gestaltete sich äußerst heterogen und deckte die gesamte Bandbreite des Spektrums ab: von einzeln agierenden Personen über lose strukturierte Kameradschaften und völkische Gruppen bis hin zu fest struk40 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS IN HESSEN turierten Parteien und Gruppierungen der Neuen Rechten. Insbesondere im Bereich des Neonazismus gab es Einzelpersonen, die mit überregionalen rechtsextremistischen Strukturen vernetzt waren. Dabei verteilte sich in Hessen das rechtsextremistische Personenpotenzial relativ gleichmäßig auf die Regionen. Mit einem Anteil von etwa 80 Prozent dominierten Männer die Szene. Insgesamt stieg das rechtsextremistische Personenpotenzial in Hessen mit einer Zunahme von mehr als 700 Personen um ein Drittel an (2018: 1.475). Ursache war insbesondere die Erklärung des Flügels als Teilorganisation der AfD zum Beobachtungsobjekt. Lose strukturierter Rechtsextremismus: Neonazis und subkulturell orientierte Rechtsextremisten | Der lose strukturierte Rechtsextremismus setzte sich aus dem neonazistischen Spektrum und subkulturell orientierten Rechtsextremisten zusammen, wobei beide Bereiche eine Schnittmenge aus den Kategorien parteiunabhängige/parteiungebundene Strukturen und weitgehend unstrukturiertes Personenpotenzial bildeten (siehe Kapitel Rechtsextremistisches Personenpotenzial). Bei beiden Bereichen gab es personelle Überschneidungen, wobei über mehrere Jahre hinweg aktive Gruppierungen nur in Einzelfällen bestanden. Ist der Bereich Neonazismus im engeren Sinne mit dem Bekenntnis zum Nationalsozialismus und dessen maßgeblichen Protagonisten gleichzusetzen, so werden ihm darüber hinaus Personen und GrupRECHTSEXTREMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL IN HESSEN (2015 BIS 2019) 2.500 Gesamtzahl der Rechtsextremisten 2.000 1.500 davon 1.000 gewaltorientiert in Parteien in parteiunabhängigen bzw. parteiungebun500 denen Strukturen weitgehend unstrukturiertes Personen- 0 potenzial 2015 2016 2017 2018 2019 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 41 EXTREMISMUS IN HESSEN pierungen zugerechnet, die insbesondere rassistische und nationalistische Positionen vertreten, ohne dass sie dem legalistischen Rechtsextremismus angehören. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass Neonazis ihre Freizeit eher wie subkulturell orientierte Rechtsextremisten verbringen oder teilweise gemeinsam mit ihnen bei Demonstrationen auftreten. Die Aktivitäten neonazistischer Gruppierungen unterschieden sich hinsichtlich ihrer Art und ihres Ausmaßes voneinander und gingen in den letzten Jahren deutlich zurück. Die Gründe hierfür dürften im Bekanntwerden der rechtsextremistischen Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) sowie in den sich daran anknüpfenden umfassenden staatlichen Maßnahmen und einer hieraus resultierenden Verunsicherung der Szene liegen. Einzelne neonazistische Gruppierungen versuchten, sich durch Satzungen und Aufnahmeprüfungen von anderen Gruppierungen des rechtsextremistischen Spektrums als elitär abzugrenzen. Nicht wenige der in solchen Gruppen agierenden Personen waren während der gesamten Dauer ihrer Szenezugehörigkeit in Straftaten verwickelt und wiesen ein hohes Maß an Gewaltbereitschaft auf. Nach wie vor versuchten neonazistische Gruppierungen in Hessen, sich im rechtsextremistischen Spektrum zu vernetzen und ihr Kontaktumfeld zu erweitern, um auf diese Weise Synergieeffekte zu erzeugen. Dabei fungierten das Internet und verschiedene Messenger-Dienste sowohl als bevorzugtes Vernetzungsmedium als auch als zentrales Instrument der Agitation. Im Rahmen des Ziels der Sicherheitsbehörden in Hessen, das Begehen rechtsextremistischer - insbesondere gewalttätiger (neonazistischer) - Straftaten durch Einzelpersonen und/oder Gruppierungen zu verhindern, befand sich auch die Szene der subkulturell orientierten Rechtsextremisten im besonderen Fokus des LfV. Sobald bekannt wurde, dass eine rechtsextremistische Musikveranstaltung geplant war, wurden alle rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft, um eine solche zu verhindern oder aufzulösen. Aufgrund ihres Erlebnischarakters bietet Musik für Jugendliche verschiedene Identifikationsmöglichkeiten: das Pflegen eines stark emotionalisierten Gemeinschaftsverständnisses, das Beschwören von Feindbildern ("Migranten", "Juden", "Staat" und dessen Repräsentanten), das Verherrlichen von Gewalt sowie das Verharmlosen und Glorifizieren des Nationalsozialismus. Hinzu kommen die Lust der Provokation und der Reiz, Verbotenes zu tun. So gab es in Hessen im Berichtszeitraum vier rechtsextremistische Musikveranstaltungen. 42 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS IN HESSEN Bei der Verhinderung solcher Veranstaltungen kommt dem Zusammenwirken der Sicherheitsbehörden sowie mit den örtlich zuständigen Behörden eine besondere Bedeutung zu. So nimmt etwa das LfV - in der Regel gemeinsam mit der Polizei - im Einzelfall Kontakt mit den jeweiligen Bürgermeistern der betroffenen Gemeinden auf und weist unter anderem im Rahmen des kommunalen Newsletters auf Handlungsmöglichkeiten hin. Gewaltaffinität und Radikalisierung | Die hohe Gewaltaffinität insbesondere der neonazistischen und subkulturell orientierten Szene reichte von der grundsätzlichen Bejahung von Gewalt bis hin zu Gewalttaten gegen Personen, die Rechtsextremisten in ihre Feindbilder einordnen. Dieses Gewaltpotenzial ist eine stets virulente Gefahr. Dies spiegelt sich in den schrecklichen rechtsextremistisch motivierten Ereignissen in Hessen im Berichtszeitraum wider, so der mutmaßlich rechtsextremistisch motivierte Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke in Wolfhagen (Landkreis Kassel), die versuchte Tötung eines eritreischen Staatsangehörigen in Wächtersbach (Main-Kinzig-Kreis) und der Angriff auf einen Syrer in Taunusstein (Rheingau-Taunus-Kreis). Aufgrund ihrer persönlichen Situation, ihres sozialen Umfelds, ihrer Beeinflussung durch außen und ihres Radikalisierungsgrads können einzelne Szeneangehörige zu Kurzschlusshandlungen neigen, die in Gewalt münden. In den meisten Fällen sind diese Taten nicht vorherzusehen und daher für die Sicherheitsbehörden nur äußerst schwer zu verhindern. Von den insgesamt etwa 2.220 Rechtsextremisten in Hessen stufte das LfV 840 als gewaltorientiert ein, wobei unter diesen Begriff gewalttätige, gewaltbereite, gewaltunterstützende und gewaltbefürwortende Rechtsextremisten fallen. Das entspricht einem Anteil von etwa 38 Prozent. Unter gewaltorientiert werden nicht nur Personen erfasst, die bereits mit Gewalttaten in Erscheinung getreten sind, sonRECHTSEXTREMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN IN HESSEN (2015 BIS 2019) 1.000 886 799 800 659 540 539 600 400 Strafund Gewalttaten insgesamt 200 20 23 16 25 31 0 Gewalttaten 2015 2016 2017 2018 2019 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 43 EXTREMISMUS IN HESSEN dern auch solche, die Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele ansehen. Eine wichtige Rolle für diese zu Gewalt führenden Entwicklungen spielt die fortschreitende Digitalisierung. Aus dem Internet und den sozialen Medien schöpfen Rechtsextremisten nicht nur ihre Informationen, die von sachgerechter Berichterstattung, (verzerrenden) Kommentaren und "Fake News" bis zu kruden Verschwörungstheorien reichen, sondern sie nutzen diese Medien, um offen für ihre Ideen und Aktivitäten zu werben und um Gleichgesinnte auf sich aufmerksam zu machen und zu werben. Hierbei besteht die Gefahr, dass sich Menschen in "Echokammern" bzw. "Filterblasen" radikalisieren bzw. sich gegenseitig in der Radikalisierung bestärken, ohne dass sie noch einen relevanten und ihre Rezeption relativierenden Zugang zu der "Realwelt" haben. Vor diesem Hintergrund ist es seitens des LfV unerlässlich, weiterhin in verstärktem Maß präventive Maßnahmen anzubieten und durchzuführen (siehe oben das Kapitel Öffentlichkeitsund Präventionsarbeit), aber auch die Internetbearbeitung zu intensivieren, um vor allem sich radikalisierende gewaltorientierte Gruppierungen und Einzeltäter sowie deren Kennverhältnisse und Kommunikationswege frühzeitig zu identifizieren. Sonderauswertungsgruppe (Saw) | Umgehend nach der Festnahme des dringend Tatverdächtigen Stephan E. im Mordfall Dr. Walter Lübcke wurde im LfV eine Sonderauswertungsgruppe (SAW) gebildet, deren zentrale Aufgabe darin bestand, nachrichtendienstliche Ermittlungen hinsichtlich der Existenz möglicher rechtsextremistischer/-terroristischer Bestrebungen durchzuführen. Dabei hatte die SAW auch die Reaktionen der rechtsextremistischen Szene auf den Mord sowie auf die Inhaftierung der Tatverdächtigen im Blick. Aufgabe der SAW war es, die Ermittlungen des zuständigen Generalbundesanwalts am Bundesgerichtshof bestmöglich zu unterstützen. Hierfür stand das LfV im stetigen und engen Austausch mit dem Generalbundesanwalt. In diesem Kontext wurden die im LfV vorhandenen Erkenntnisse zu den Tatverdächtigen dem Generalbundesanwalt vollumfänglich übermittelt. Darüber hinaus fungierte die SAW im Zusammenhang mit dem Ermittlungsverfahren des Generalbundesanwalts als Informationsschnittstelle zwischen der hessischen Polizei und dem Verfassungsschutzverbund. Am 29. April 2020 erhob der Generalbundesanwalt beim Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main Anklage gegen die Tatverdächtigen. Der Prozess wurde am 16. Juni 2020 eröffnet. 44 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS IN HESSEN Bearbeitung integrierter bzw. abgekühlter Rechtsextremisten (BIaRex) | In Anbetracht der Erkenntnisse im Mordfall Dr. Lübcke wurde am 23. Juli 2019 in der Abteilung 2 des LfV (Rechtsextremismus/-terrorismus) die Organisationseinheit BIAREX geschaffen. Sie unterzieht sogenannte abgekühlte Rechtsextremisten, die in der Vergangenheit zwar einschlägig rechtsextremistisch in Erscheinung getreten sind, in der Gegenwart aber - womöglich bereits seit vielen Jahren - eine unauffällige Biographie aufweisen, sukzessive einer wiederkehrenden Prüfung. Dabei wird insbesondere überprüft, ob die unterstellte Loslösung von der rechtsextremistischen Szene plausibel ist. Durch die fokussierte Analyse von Einzelpersonen sollen außerdem Radikalisierungsprozesse und hieraus entstehende Gefährdungspotenziale frühzeitig erkannt werden, sodass Gegenmaßnahmen eingeleitet werden können. Der Anspruch von BIAREX ist, auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse der angewandten Kriminologie sowie der Gewaltund Extremismusforschung ein eigenes Analyseschema zu entwickeln. Es soll sowohl individuelle Gefährdungseinschätzungen als auch Szenarien ermöglichen, um prognostisch zu analysieren, unter welchen Bedingungen sich das von einem Rechtsextremisten ausgehende Gefährdungsrisiko erhöht oder verringert. Neben der Erarbeitung extremismusspezifischer Analysekriterien bereitet BIAREX vor allem die vorhandenen Erkenntnisse über eine Person auf, um ein möglichst umfassendes Bild über relevante Lebensbereiche, insbesondere auch der Gewaltorientierung, zu erhalten. Von besonderem Interesse ist dabei, einen Eindruck vom individuellen Verhalten einer Person zu gewinnen. Die Analyse verfolgt das Ziel, diejenigen Einflüsse im biographischen Längsund Querschnitt zu identifizieren, die einen Rückschluss auf potenzielle rechtsextremistisch motivierte Verhaltensweisen zulassen. Die Erkenntnisse werden durch andere geeignete Informationen ergänzt (etwa durch staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakten und Gerichtsurteile). Darüber hinaus ist BIAREX Bestandteil einer weitreichenden datenschutzrechtlichen Sonderprüfung. Sie hat das Ziel, die beim LfV aufgrund des seit Juli 2012 bestehenden "Lösch-Moratoriums" gesperrten Datensätze aus dem Phänomenbereich Rechtsextremismus einer kritischen Nachprüfung zu unterziehen. Dabei werden die gesperrten Datensätze in Bezug auf ein erhöhtes Gefahrenpotenzial analysiert. Identitäre Bewegung deutschland e. V. (IBd)/Identitäre Bewegung Hessen (IBH) | Wie im Jahr 2018 gingen die Aktivitäten der IBH zurück, im Berichtsjahr reduzierte sich nunmehr aber auch die Anzahl der Mitglieder der IBH von 80 auf 60. Beide Entwicklungen resultierHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 45 EXTREMISMUS IN HESSEN ten unter anderem aus der vermehrt negativen öffentlichen Berichterstattung über die Identitäre Bewegung im Zusammenhang mit den Anschlägen in Christchurch (Neuseeland), wobei sich die IBD sogar mit Kritik aus den eigenen Reihen konfrontiert sah. Ihr "modernes" und "intellektuell" anmutendes Auftreten versuchte die IBD/IBH gleichwohl beizubehalten, wobei die Asylund Migrationspolitik nach wie vor in ihrem Agitationsmittelpunkt stand. So fragte die IBH am Hauptbahnhof in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) die Passanten mittels Werbetafeln "Fühlst du dich wirklich sicher?" und warnte am Frankfurter Hauptbahnhof vor angeblich "multikulturellen Bahnsteigen". Dort hatte kurz zuvor ein Staatsbürger aus Eritrea ein Kind vor einen einfahrenden Zug gestoßen. Über ihre Aktionen veröffentlichte die IBH Berichte mit Fotos auf ihrer Homepage, ihrem Twitter-Profil oder ihrem Telegram-Kanal. der Flügel - Junge alternative (Ja) | Am 15. Januar 2019 erklärte das BfV, dass es den Flügel und die JA als Teilorganisationen der AfD als Verdachtsfälle bewertet und systematisch beobachtet. (Die Gesamtpartei AfD wird bislang nicht als rechtsextremistisch bewertet und somit auch nicht beobachtet.) Die Bearbeitung einer Gruppierung als Verdachtsfall seitens des BfV entspricht der Bearbeitung einer Gruppierung als Beobachtungsobjekt durch das LfV. Das LfV schloss sich gemäß der Zusammenarbeitsrichtlinie des Verfassungsschutzverbundes am 31. Januar 2019 der Beobachtung des Flügels und der JA an. Aufgrund seiner in Hessen nur gering ausgeprägten Strukturen und seiner fehlenden Präsenzen in den sozialen Medien war der Flügel in seiner Außenwirkung stark begrenzt. Veranstaltungen, die explizit dem Flügel zuzurechnen waren, wurden im Berichtszeitraum nicht festgestellt. Jedoch beteiligten sich Mitglieder des Flügels an entsprechenden überregionalen Veranstaltungen oder nahmen an Veranstaltungen der JA Hessen teil. Der Flügel vertrat rassistische und völkische Positionen, um diese im parlamentarischen Diskurs mehrheitsfähig zu machen. Dazu sollte der steuernde Einfluss des Flügels auf die Gesamtpartei AfD ausgebaut und entsprechend genutzt werden. Strukturen der JA waren in Hessen ebenfalls kaum vorhanden, einzelne Aktivisten beteiligten sich allerdings an Veranstaltungen des Flügels wie etwa dem sogenannten Kyffhäusertreffen. Ähnlich wie die IBD/IBH bemühte die JA das rechtsextremistische Narrativ vom "großen Austausch" und sprach in Bezug auf Menschen mit Migrationshintergrund von einer "herangezüchteten neuen Mehrheitsbevölkerung". Dieser lastete die JA eine "um sich greifende ErobererMentalität", die "gesundheitliche Gefährdung unserer Kinder" sowie eine Steigerung von Infektionskrankheiten an. 46 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS IN HESSEN nationaldemokratische Partei deutschlands (nPd) | Die NPD zog im Berichtsjahr vor allem mit zwei Ereignissen Aufmerksamkeit auf sich: Im Anschluss an ihre Jahresauftaktveranstaltung in Büdingen (Wetteraukreis) unter dem Motto "Festung Europa - Schutzzone Deutschland" fand in der Willi-Zinnkann-Halle eine Musikveranstaltung mit szenebekannten rechtsextremistischen Bands statt. Nachdem Versuche der Stadt Büdingen gerichtlich gescheitert waren, die Vermietung der Stadthalle an die NPD rückgängig zu machen, beschloss die Stadtverordnetenversammlung, die Örtlichkeit grundsätzlich nicht mehr für Veranstaltungen politischer Parteien zur Verfügung zu stellen. Anfang September wurde der stellvertretende Vorsitzende des NPDLandesverbands Hessen, Stefan Jagsch, in Altenstadt (Ortsteil Waldsiedlung, Wetteraukreis) mit den Stimmen der nichtextremistischen Ortsbeiratsmitglieder zum Ortsvorsteher gewählt. Als die Medien bundesweit und international hierüber berichten und sich eine - auch politische - Debatte über die Gründe für diese Wahl entspann, wurde Jagsch vom Ortsbeirat abgewählt und eine neue Ortsvorsteherin einer demokratischen Partei gewählt. Trotz dieser "Korrektur" verdeutlicht die Wahl Jagschs, dass Nichtextremisten verschiedener politischer Couleur sich nicht scheuten, einen Rechtsextremisten in ein politisches Amt zu wählen und hierfür "gewichtige" Gründe hatten; andererseits war es einem Rechtsextremisten offensichtlich gelungen, Nichtextremisten für sich einzunehmen. Bei der Europawahl verlor die NPD in Hessen 9.025 Stimmen und erreichte einen Stimmenanteil von 0,2% (= 4.844 Stimmen). Dieses Wahlergebnis in Hessen sollte jedoch über die Schwere des "Tabubruchs" in Altenstadt nicht hinwegtäuschen, zumal die Partei versuchte, sich zusammen mit ihrer Jugendorganisation Junge Nationalisten (JN) in der Öffentlichkeit als "Kümmererin" (Kampagne "Schafft Schutzzonen!") zu profilieren. Parteiintern erfuhr die NPD Hessen Aufwertung, da es ihr bei dem Bundesparteitag gelang, mit Daniel Lachmann und Ingo Helge nunmehr zwei Personen in den Bundesvorstand zu entsenden. der dritte weg/der III. weg | Einen Agitationsschwerpunkt der neonazistischen Partei bildeten wie in der Vergangenheit die Asylund Flüchtlingspolitik sowie der Geschichtsrevisionismus. So forderte der Dritte Weg einen "zentralen Gedenktag" für die Opfer der alliierten Bombenangriffe während des Zweiten Weltkriegs und führte in Fulda (Landkreis Fulda) und in Darmstadt entsprechende "Gedenkveranstaltungen" durch. Auch versuchte die Partei, die bundesweit bei der Europawahl lediglich 12.756 Stimmen (= 0,0%) gewann, das gesamtgesellschaftlich virulente Thema "Umweltund Klimaschutz" für sich Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 47 EXTREMISMUS IN HESSEN zu nutzen, indem sie es in die Parole "Umweltschutz ist Heimatschutz" ummünzte. In diesen Kontext bezog der Dritte Weg den "Bauernstand als Ernährer unseres Volkes" ein und forderte "Schutz der Natur und Umwelt als Lebensraum unseres Volkes" sowie "Achtung dem Tier als Ausdruck unserer Volksseele". Flüchtlinge im Visier von Rechtsextremisten | Die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Straftaten (40) im Zusammenhang mit der Flüchtlingsthematik nahm gegenüber dem Vorjahr (2018: 38) leicht zu. Dabei erhöhte sich die Zahl der gegen Asylbewerber/Flüchtlinge gerichteten Straftaten um zehn Delikte (2018: 26). Besonders schwer wog hierbei die versuchte Tötung eines Migranten aus Eritrea in Wächtersbach (Main-Kinzig-Kreis). Im Unterschied zum Vorjahr kam es zu keinen gegen Hilfsorganisationen und Helfer gerichteten Straftaten. Da nur eine Straftat in den Gesamtbereich der Politisch Motivierten Kriminalität fiel (41, davon 40 - siehe oben - rechtsextremistisch motiviert), bleibt die Einschätzung des Vorjahres bestehen, dass Fremdenfeindlichkeit ein unabdingbarer Bestandteil des Rechtsextremismus ist, aber auch in Teilen der nichtextremistischen Bevölkerung vorhanden ist, wenn etwa (in der Wahrnehmung der Täter) die sozialökonomischen und politischen Verhältnisse massiven Änderungen unterworfen sind. ReIcHSBüRGeR und SeLBStVeRwaLteR angebliches Fortbestehen eines deutschen Reichs - Fantasiestaaten | Mit etwa 1.000 Personen, unter denen sich rund 150 Rechtsextremisten befanden, blieb das Personenpotenzial der Reichsbürger und Selbstverwalter in den letzten drei Berichtsjahren konstant. Reichsbürger propagieren das Fortbestehen eines historischen Deutschen Reichs, Selbstverwalter erfinden Fantasiestaaten und beanspruchen für sich ein von der Bundesrepublik Deutschland unabhängiges Territorium. Insgesamt erkennen Reichsbürger und Selbstverwalter die Bundesrepublik nicht als Staat an. Sie verstehen sich als außerhalb der Rechtsordnung stehend und fordern Behörden sowie Gerichte auf, geltendes Recht nicht anzuwenden. Diese Verweigerungshaltung kommt durch entsprechende verbale Äußerungen gegenüber Polizisten und anderen Behördenmitarbeitern zum Ausdruck; außerdem leisten Reichsbürger und Selbstverwalter mitunter Widerstand gegen gerichtlich angeordnete Zwangsvollstreckungen oder die Rückgabe von amtlichen Identitätsnachweisen. Das Gros der Szene wendet sich jedoch mit schriftlichen Eingaben an Behörden und deren Mitarbeiter, um etwa die eigene Weltsicht - oft in pseudojuristischer Sprache und Argumentation - als die einzig richtige kundzutun. 48 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS IN HESSEN Das Internet dient Reichsbürgern und Selbstverwaltern als bevorzugtes Medium zur Verbreitung ihrer Weltanschauung sowie zu ihrer Kommunikation und Vernetzung. Mittels Webseiten, YouTube-Kanälen oder Präsenzen auf Social-Media-Plattformen prangert die Szene angebliche Missstände an und diskutiert bzw. verbreitet vermeintliche Lösungsund Argumentationshilfen. affinität zu waffen - entzug waffenrechtlicher erlaubnisse | Da der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene eine hohe Waffenaffinität zu eigen ist, gilt für sie seitens der hessischen Behörden in Bezug auf waffenrechtliche Erlaubnisse und Schusswaffenbesitz - wie auch für andere extremistische Phänomenbereiche - eine Nulltoleranzstrategie. Zahlreichen Reichsbürgern und Selbstverwaltern wurden bislang die waffenrechtlichen Erlaubnisse entzogen und Schusswaffen sichergestellt. Zum Ende des Berichtsjahrs lag die Anzahl entsprechender personenbezogener waffenrechtlicher Erlaubnisse im unteren bis mittleren zweistelligen Bereich. LInkSextReMISMuS Personenpotenzial | Das Personenpotenzial im Phänomenbereich Linksextremismus erhöhte sich im Berichtszeitraum gegenüber dem Vorjahr geringfügig um etwa 30 Personen, wobei der Zulauf aus dem autonomen und anarchistischen Bereich kam. Unverändert bildete Frankfurt am Main sowohl personell als auch strukturell den Schwerpunkt der autonomen Szene in Hessen, allerdings zeigte sich mit den autonomen Protesten gegen die Schließung der Kneipe Havanna 8 in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), dass die Szene auch dort fest verankert war. Szenebeherrschende themen | Vor allem im Kontext des Mordes an Dr. Walter Lübcke rückte die autonome Szene das Thema "Antifaschismus" in ihren Fokus, um auf den "fortschreitenden Rechtsruck" der Gesellschaft aufmerksam zu machen und sich mit den Opfern "rechter" Gewalt zu solidarisieren. Entsprechende Veranstaltungen fanden vor allem in Frankfurt am Main und in Kassel statt. Einen Grund für den "Rechtsruck" sahen Autonome in "extrem rechten Burschenschaften" als "Rückgrat der ,Neuen Rechten'" in deren Funktion als "Bindeglied zwischen verschiedenen extrem rechten Organisationen". Darüber hinaus glaubte die Gruppe kritik&praxis - radikale Linke [f]frankfurt eine "Tendenz der antidemokratischen Verselbständigung" bei den Sicherheitsbehörden zu erkennen. Als Ursache hierfür machte die autonome Gruppierung insgesamt den "Kapitalismus" aus. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 49 EXTREMISMUS IN HESSEN LINKSEXTREMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL IN HESSEN (2015 BIS 2019) 3.000 Gesamtzahl 2.500 der Linksextremisten 2.000 1.500 1.000 Sonstige Linksextremisten 500 Autonome 0 Anarchisten 2015 2016 2017 2018 2019 Ebenso bildete der "Kapitalismus" für Autonome bzw. Linksextremisten den Drehund Angelpunkt, um verstärkt Einfluss auf die Klimaund Umweltbewegung zu nehmen. Die entsprechende und im Rahmen von Veranstaltungen (vor allem Demonstrationen) verwendete Parole lautete "system change not climate change", wobei eine linksextremistische Jugendorganisation erklärte, dass die "Kritik am kapitalistischen System" zwingend zu einer "kämpferischen Umweltbewegung" gehöre. Offensichtlich versuchten Linksextremisten, die Klimaund Umweltbewegung in ihrem Kampf gegen den "Kapitalismus" und damit gegen die gesamte gesellschaftliche und staatliche Ordnung zu instrumentalisieren. Ziel war die "Überwindung von Kapital, Staat und Patriarchat als den dominanten Herrschaftsformen". Versuche der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD) und ihres Jugendverbands REBELL, im Rahmen von Schülerprotesten Einfluss auf die Klimaund Umweltbewegung zu nehmen, stießen dagegen meistens auf Ablehnung. Vor dem Hintergrund der militärischen Operationen der türkischen Armee in von Kurden besiedelten Gebieten in Syrien ("Rojava") solidarisierten sich deutsche Linksextremisten mit Anhängern der Partiya Karkeren Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans). Dies ging so weit, dass die Solidarität mit "Kurdistan" bzw. "Rojava" mit klimaund umweltpolitischen Zielen verknüpft wurde. So hieß es auf einer von Linksextremisten genutzten Internetseite, dass es sowohl die Kampagne "Make Rojava Green Again" als auch eine Fridays-for-Future50 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS IN HESSEN Ortsgruppe in "Rojava" gebe. Dort finde ein gesellschaftlicher Wandel statt, der als Vorbild zu befürworten sei: "Auch wir stehen für einen gesamtgesellschaftlichen Umbruch und sehen dies als Lösung der Klimakrise. ,Make Rojava green again'". Strafund Gewalttaten | Unter anderem im Rahmen dieser miteinander verzahnten Themen kam es zu einer Erhöhung der linksextremistischen Strafund Gewalttaten (vorrangig im Bereich der Sachbeschädigungen und Propagandadelikte) um etwa 35 Prozent von 48 auf 65 Delikte. Allerdings war die im Berichtsjahr aktuelle Zahl weit entfernt von dem Spitzenpunkt innerhalb des zurückliegenden FünfJahreszeitraums im Jahr 2015 (278). Dass nach fünf Jahren eines kontinuierlichen Rückgangs der linksextremistischen Strafund Gewalttaten diese im Jahr 2019 in Hessen um mehr als ein Drittel stiegen, muss sorgfältig beobachtet werden; die Zahl der Gewalttaten sank von 13 (2018) auf fünf (innerhalb des Fünf-Jahreszeitraums 2015 bis 2019 lag sie zusammen mit der Zahl für das Jahr 2017 auf dem niedrigsten Niveau). In einigen autonomen Brennpunkten außerhalb Hessens nahmen die Angriffe auf "systemrelevante" Personen zu, was offenbar Ausdruck eines teilweisen Radikalisierungsprozesses unter Autonomen war. In Hessen zeichnete sich eine solche Entwicklung im Berichtsjahr nicht ab, es ist jedoch denkbar, dass diese infolge der Polarisierung zwischen Linksund Rechtsextremisten, aber auch der gesellschaftlichen Polarisierung insgesamt, eine andere Richtung nimmt. Freilich verfügte die autonome Szene in Hessen, trotz der Schließung einer Szenekneipe in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), insbesondere in Frankfurt am Main über feste Anlaufpunkte, die sie wegen mit einer Radikalisierung verbundenen "Repressalien" nicht aufs Spiel setzen will. LINKSEXTREMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN IN HESSEN (2015 BIS 2019) 300 278 250 200 150 90 100 86 65 Strafund Gewalttaten 61 48 insgesamt 50 25 5 13 5 0 Gewalttaten 2015 2016 2017 2018 2019 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 51 EXTREMISMUS IN HESSEN deutsche kommunistische Partei (dkP) | Bei der Wahl zum Europäischen Parlament im Mai verlor die DKP sowohl bundesals auch hessenweit Stimmen, was in Anbetracht von insgesamt 20.396 Stimmen (= 0,1%) innerparteiliche Kritik am Wahlprogramm nach sich zog. So kritisierte die DKP Gießen - auch mit Blick auf den damals vorzubereitenden 23. Parteitag 2020 - dass es zu viele "reformistische Illusionen" und zu wenige revolutionäre "kommunistische Grundsätze" in der Partei gebe. Leitlinien für eine eigene Klimaund Umweltpolitik wollte die DKP nach ihrem Parteitag entwickeln. Sozialistische deutsche arbeiterjugend (SdaJ) | Die eng mit der DKP verbundene SDAJ versuchte ihre Ziele vor allem mittels der Zusammenarbeit mit extremistischen und nichtextremistischen Organisationen zu verwirklichen, um hierdurch eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Hierzu thematisierte die SDAJ vor allem den "Antikapitalismus" und den "Antimilitarismus" und bemühte sich mittels Flugblattverteilungen an einigen Schulen in Hessen vor allem Jugendliche für ihre Ziele zu interessieren. Ebenso wie die autonome Szene thematisierte die SDAJ die "Kurdistan-Solidarität" und die Notwendigkeit des Klimaund Umweltschutzes. Insgesamt lautete das Motto der SDAJ: "Es ist Zeit für Widerstand, es ist Zeit, dass wir uns wehren!" Rote Hilfe e. V. (RH) | Die RH beschäftigte sich vor allem mit "Polizeigesetzverschärfungen", die sie als "drohende Gefahr" darstellte und dies in einem in Kassel vorgeführten Film über die G20-Proteste in Hamburg im Jahr 2017 zu beweisen versuchte. Eine entsprechende Veranstaltung fand auch in Frankfurt am Main statt, wobei ein Redner trotz des angeblichen "Eskalationskurses der Polizeiführung" kritische Worte für die "militanten Auseinandersetzungen" in Hamburg fand: Es gebe keinen Grund, "Geschäfte, über denen Menschen wohnen, anzuzünden". ISLaMISMuS Jihadistischer und politischer Salafismus | Im Berichtsjahr kam es in Hessen zu einer Reihe von Festnahmen und Verurteilungen im Bereich des jihadistischen Salafismus, wobei die entsprechenden Personen grundsätzlich in Anschlagsplanungen involviert und/oder aktives Mitglied in einer ausländischen terroristischen Vereinigung gewesen waren. In seinen "Stammterritorien" (Syrien und Irak) büßte der terroristische sogenannte Islamische Staat (IS) seine letzten ihm verbliebenen Gebiete ein, sodass seine Anhänger dort zunehmend Strukturen im Untergrund schufen. 52 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS IN HESSEN ISLAMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL IN HESSEN (2015 BIS 2019) 5.000 Gesamtzahl 4.000 der Islamisten 3.000 2.000 1.000 Salafisten 2015 2016 2017 2018 2019 Gingen vor diesem Hintergrund zwar die jihadistisch motivierten Anschläge in Europa im Vergleich zu den früheren Berichtsjahren deutlich zurück, so war die Gefahr eines Terroranschlags aber nach wie vor unvermindert hoch. Trotz der erfolgreichen Militäroperationen der Anti-IS-Allianz - im Oktober 2019 töteten amerikanische Einheiten den IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi - gelang es der Terrororganisation, in den sozialen Medien jihadistische Propaganda und Anleitungen zum Begehen von Anschlägen zu verbreiten. So ist nach wie vor mit Anschlägen von Einzelakteuren zu rechnen, die sich durch die virulente jihadistische Propaganda zu Attentaten aufgerufen glauben. Im Bereich des politischen Salafismus gingen die in der Öffentlichkeit wahrnehmbaren Aktivitäten stark zurück. Allerdings blieb das salafistische Personenpotenzial in Hessen im Vergleich zu den letzten Berichtsjahren konstant (1.650 Personen). Auch das islamistische Personenpotenzial insgesamt verharrte auf dem - im Vergleich zu anderen Extremismusbereichen - hohen Niveau von 4.170 Personen. Strafund Gewalttaten | Nachdem im vergangenen Berichtsjahr die Anzahl der Straftaten mit einem Minus von 73 Prozent deutlich auf 27 Delikte zurückgegangen war, stieg die Zahl nunmehr wieder auf 36 an. Wie in den Jahren zuvor gab es in Hessen 2019 lediglich eine islamistisch motivierte Gewalttat. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 53 EXTREMISMUS IN HESSEN Hizb ut-tahrir (Hut, Partei der Befreiung) - Realität Islam (RI) | Die der HuT zuzurechnende Gruppierung RI führte in ihren Räumen in Mörfelden-Walldorf (Kreis Groß-Gerau) Themenabende durch, um Interessierte kennenzulernen ("Sorgen und Anliegen aus erster Hand" erfahren) und für sich zu gewinnen. In Flugblattaktionen thematisierte RI unter anderem die gezielt gegen Muslime gerichteten Anschläge in Neuseeland und Norwegen und beklagte in diesem Zusammenhang die angeblich "totalitäre Integrationspolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte, welche die weltanschauliche Unterschiedlichkeit der Muslime als vermeintliches Problem identifiziert" habe. Alles sei darauf ausgerichtet, so RI, die "islamische Identität" zu zerstören und den Druck auf die Muslime in Deutschland zu erhöhen. Gleichzeitig empfahl RI muslimischen Eltern in Hessen, der Teilnahme ihrer Kinder am schulischen Islamunterricht eine Absage zu erteilen, da dieser "staatliche Islamunterricht den Anstrich eines reinen Staatsislams, eines Wunschislams der Behörden" habe. Muslimbruderschaft (MB) | In Hessen führten Angehörige der MB ihre legalistische, dialogorientierte Unterwanderungsstrategie konsequent fort. Sie suchten Kontakt zu Repräsentanten des politischen Lebens sowie zu anderen Religionsgemeinschaften, denen sie sich als Dialogpartner anboten. Auf diese Weise bemühten sich Anhänger der MB und ihr nahestehende Organisationen, ihre Ideologie gesellschaftsfähig zu machen und ihr breite Akzeptanz zu verschaffen. Da die MB nicht unter ihrem Namen auftrat, sondern aus einem weitverzweigten Netzwerk von Organisationen und Vereinen heraus operierte, fiel es ihr oft leicht, als unbefangene Partnerin von Politik und Zivilgesellschaft aufzutreten. Nachdem die der MB nahestehende Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD) ihre Umbenennung in Deutsche Muslimische ISLAMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN IN HESSEN (2015 BIS 2019) 100 99 80 60 62 54 40 36 Strafund Gewalttaten 20 27 insgesamt 1 0 1 1 1 0 Gewalttaten 2015 2016 2017 2018 2019 54 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS IN HESSEN Gemeinschaft e. V. (DMG) Ende 2018 formal beendet hatte, beschloss der Verein, seinen Sitz von Köln (Nordrhein-Westfalen) nach Berlin zu verlegen. Offenkundig bemühte sich die DMG um ein neues Image, das durch Medienberichterstattung über Verbindungen der IGD zur MB Schaden erlitten hatte. So forderte auch der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) die DMG auf, ihre Mitgliedschaft im ZMD ruhen zu lassen. Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) | Auch acht Jahre nach dem Tod Necmettin Erbakans nahmen die Erinnerung und die Würdigung seines Lebens und Wirkens großen Raum in der Milli-GörüsBewegung ein. Nach wie vor wurde Erbakan als geistiger Führer und Gründer der Bewegung verehrt. Regelmäßig hielten sich außerhessische bzw. türkische Funktionäre bei dem Saadet Deutschland Regionalverein Hessen e. V. (SP Hessen) auf, was auf dessen nach wie vor hohen Stellenwert in der Bewegung hindeutet. Außerdem stiegen Vertreter der SP Hessen auf die Funktionärsebene der europäischen SP auf. Insgesamt erweiterte die SP Hessen ihr Informationsangebot und zielte damit vereinzelt auch auf die Öffentlichkeit ab. Das in die Türkei ausgewiesene Oberhaupt der Ismail Aga Cemaati (IAC) kehrte weiterhin nicht nach Deutschland zurück. extReMISMuS MIt auSLandSBezuG Personenpotenzial | Dass das Personenpotenzial im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug um mehr als hundert Personen abnahm, resultierte vor allem aus der Einstellung der Beobachtung der in der Vergangenheit auf Sri Lanka kämpfenden LTTE durch den Verfassungsschutz. Die LTTE hatten auch in Deutschland über eine große Anhängerschaft verfügt. Darüber hinaus sind seit mehreren Jahren die legalistischen Strukturen bei Gruppierungen kurdischen und türkischen Ursprungs relativ stabil, sodass das Personenpotenzial im türkischen Bereich kaum merklich abnahm. Partiya karkeren kurdistan (Pkk, arbeiterpartei kurdistans) | Die Anhänger der PKK sahen sich im Berichtsjahr mit einer komplexen Lage konfrontiert: Aufgrund der türkischen Militäroperation "Quelle des Friedens" geriet das kurdische Siedlungsgebiet in Nordsyrien ("Rojava") unter massiven Druck, während die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) ihre Zusammenarbeit mit der syrischen Schwesterpartei der PKK immer wieder in Frage stellten. Darüber hinaus bestand für die PKK-Anhänger erneut Unklarheit in Bezug auf den Gesundheitszustand des in der Türkei inhaftierten PKK-Anführers Abdullah Öcalan. Unter anderem vor diesem Hintergrund versuchten Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 55 EXTREMISMUS IN HESSEN EXTREMISTISCHES PERSONENPOTENZIAL MIT AUSLANDSBEZUG IN HESSEN (2015 BIS 2019) 5.000 Gesamtzahl der Extremisten mit Auslandsbezug 4.000 3.000 2.000 Türkischer Ursprung 1.000 Kurdischer Ursprung 0 Sonstige 2015 2016 2017 2018 2019 PKK-Anhänger in Deutschland die öffentliche Wahrnehmung bzw. die staatliche Einstufung der PKK als Terrororganisation in eine Anerkennung als militärisch und politisch verfolgte Freiheitsbewegung umzumünzen. Entsprechende Demonstrationen verliefen im Unterschied zum Jahr 2018 weitestgehend friedlich. Dabei kam es insbesondere mit Unterstützung deutscher Linksextremisten, die vereinzelt Gewalttaten begingen, zu zahlreichen Demonstrationen. Bemerkenswert war, dass deutsche Linksextremisten - wie bereits oben thematisiert - "Rojava" als Modell der "antikapitalistischen Kräfte der Fridays-for-Future-Bewegung" inszenierten und hiermit einen weiten Bogen von der linksextremistischen Szene über die Klimaund Umweltbewegung bis zur PKK zu spannen versuchten. Dies diente offensichtlich dem Zweck, einen breiten und gesellschaftlich anschlussfähigen Konsens herzustellen. Strafund Gewalttaten | Die Anzahl der Delikte im Phänomenbereich Extremismus mit Auslandsbezug ging gegenüber 2018 (84) um 13 Prozent auf 73 im Berichtsjahr zurück, wobei sich die Zahl der Gewalttaten um ein Drittel von zwölf auf vier verringerte. Was sich im vergangenen Berichtsjahr 2018 als eine tendenziell bedenkliche Entwicklung im Bereich der Gewalttaten angekündigt hatte - Zunahme von einem Delikt (2017) auf zwölf Taten -, bewahrheitete sich 2019 nicht. Die große Anzahl von Demonstrationen und das damit verbundene Ziel, Unterstützung für die "kurdische Sache" zu erhalten, wirkte 56 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS IN HESSEN EXTREMISTISCHE STRAFUND GEWALTTATEN MIT AUSLANDSBEZUG IN HESSEN (2015 BIS 2019) 120 118 100 80 84 73 60 71 61 40 Strafund Gewalttaten insgesamt 20 8 10 12 1 4 0 Gewalttaten 2015 2016 2017 2018 2019 sich nicht nachteilig auf die Zahl der Gewalttaten im Bereich Extremismus mit Auslandsbezug aus. devrimci Halk kurtulus Partisi-cephesi (dHkP-c, Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) | Nachdem die Polizei in der Türkei zwei Mitglieder der Musikgruppe Grup Yorum, die der DHKP-C nahesteht, festgenommen hatte, traten diese - ebenso wie bereits andere Angehörige des Musikerkollektivs - in einen unbefristeten Hungerstreik. Vor diesem Hintergrund kam es bundesweit und in Hessen zu Solidaritätsveranstaltungen. Ein im Juni unter anderem mit Grup Yorum in Frankfurt am Main geplantes Konzert sagten die Veranstalter ab, da sie in einem anderen Bundesland einen Veranstaltungsort gefunden hatten. Einzelne Personen spielten lediglich im September auf einem Grillplatz in Roßdorf (Landkreis Darmstadt-Dieburg) Lieder von Grup Yorum. Insgesamt hatte die Musik von Grup Yorum nach wie vor eine identitätsstiftende Funktion für die DHKP-C-Anhänger. oRGanISIeRte kRIMInaLItät (ok) Mögliche einflussnahmen | Das LfV beobachtet weiterhin Versuche von OK-Gruppen, die möglicherweise darauf ausgerichtet sind, Einfluss auf Politik, Verwaltung, Justiz, Medien und Wirtschaft zu erlangen. Die vom LfV überwiegend mit nachrichtendienstlichen Mitteln und im Rahmen der Zusammenarbeit mit anderen Verfassungsschutzbehörden sowie ausländischen Nachrichtendiensten gesammelten Erkenntnisse eignen sich jedoch selten für eine öffentliche Darstellung. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 57 EXTREMISMUS IN HESSEN Schwerpunkte | Im Bereich der Rockerkriminalität lag der Schwerpunkt der Beobachtung seitens des LfV auf dem Rhein-Main-Gebiet, was ebenso für die russische und italienische OK galt. SPIonaGeund cyBeRaBweHR ausspähung - cyberangriffe - Proliferation | Wie in den letzten Jahren versuchten ausländische Nachrichtendienste vor allem die Bereiche Politik, Wirtschaft, Militär und Forschung auszuspähen. Dies betraf unverändert auch in Deutschland ansässige Organisationen und Menschen, die im Herkunftsland politisch verfolgt und ausgespäht wurden. Nach wie vor kam es zu Cyberangriffen auf Unternehmen mit mutmaßlich chinesischem, iranischem und russischen Hintergrund, wobei die Aktivitäten mit vermutlich staatlicher chinesischer Urheberschaft zunahmen. Hierbei stand vor allem Frankfurt am Main mit etlichen in der Finanzwelt relevanten Institutionen im Fokus. Ein besonderes Augenmerk legte das LfV nach wie vor auf vom Iran sowie von Nordkorea, Pakistan und Syrien ausgehende Proliferationsversuche, das heißt die Weiterverbreitung bzw. Weitergabe von Massenvernichtungswaffen. Versuch der einflussnahme | Ein weiteres Ziel ausländischer Nachrichtendienste bestand in dem Versuch, Einfluss auf die Meinungsbildung in Deutschland zu nehmen. Vor diesem Hintergrund beobachtete das LfV Desinformationskampagnen im Vorfeld der Europawahl und informierte die zuständigen Stellen hierüber. 58 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS - MeRkMaLe - RecHtSextReMIStIScHeS PeRSonenPotenzIaL - RecHtSteRRoRISMuS und ScHweRe GewaLtStRaFtaten - PaRteIunaBHänGIGe Bzw. PaRteIunGeBundene StRuktuRen - LoSe StRuktuRIeRteR RecHtSextReMISMuS - PaRteIGeBundene StRuktuRen Bzw. PaRteIen - koMMunIkatIonSStRateGIen Von RecHtSextReMISten - FLücHtLInGe IM VISIeR Von RecHtSextReMISten - RecHtSextReMIStIScHe StRaFund GewaLttaten RECHTSEXTREMISMUS MeRkMaLe Rechtsextremisten lehnen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik deutschland ab und bekämpfen sie zum teil mit Gewalt. Sie verfolgen extremistische Bestrebungen in unterschiedlichen Formen. AUF EINEN BLICK * das deutsche Volk als höchster wert * "ethnopluralismus" * Ideologie der ungleichheit * "kampf um die Parlamente" - "kampf um die Straße" das deutsche Volk als höchster wert | Das deutsche Volk stellt für alle Rechtsextremisten den höchsten Wert dar. Sie ordnen die Rechte und Freiheiten anderer Völker und Nationen wie auch die des einzelnen Menschen diesem Nationalismus unter. Nach ihren Vorstellungen hat der Einzelne im Sinne eines völkischen Kollektivismus seinen Wert nur durch die Zugehörigkeit zum Volk, das heißt durch eine bestimmte Herkunft. "ethnopluralismus" | Teile des Rechtsextremismus, vor allem die Identitäre Bewegung (IB), propagieren das Konzept des "Ethnopluralismus" und behaupten in einer verschleiernden Sprache, dass sie für die Vielfalt der Völker einstehen würden. In Wirklichkeit zielt dieses Konzept auf einen strikten Nationalismus, der "fremde" Menschen ausgrenzt und dadurch Fremdenfeindlichkeit provoziert. Der "Ethnopluralismus" beschreibt die Unterschiede zwischen den Völkern und meint damit letztlich die homogene nationale Identität der eigenen Ethnie. Ideologie der ungleichheit | Rechtsextremisten vertreten somit eine Ideologie der Ungleichheit, die in vielfacher Hinsicht den Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung widerspricht. An die Stelle demokratischer Entscheidungsprozesse wollen Rechtsextremisten einen autoritären (Führer-)Staat setzen, in dem nur der angeblich in sich einheitliche Wille der "Volksgemeinschaft" herrscht. "kampf um die Parlamente" - "kampf um die Straße" | Ihre Ziele verfolgen Rechtsextremisten auf unterschiedliche Art und Weise. Rechtsextremistische Parteien treten zu Wahlen an und versuchen, sich der demokratischen Strukturen zu bedienen, um diese letztlich abzuschaffen. Demgegenüber setzen Neonazis vor allem auf den "Kampf um die Straße". Sie versuchen, durch öffentlichkeitswirksame Aktionen sowohl im Internet als auch in der "realen" Welt Aufmerksamkeit zu erzielen. 60 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS RecHtSextReMIStIScHeS PeRSonenPotenzIaL1 | 2019 2018 2017 2016 2015 in Parteien Hessen 940 285 275 265 260 Bund 13.330 5.510 6.050 6.550 6.650 davon in der Partei NPD Hessen 260 260 250 250 250 Bund 3.600 4.000 4.500 5.000 5.200 Der Dritte Weg Hessen 20 15 15 15 10 Bund 580 530 500 350 300 DIE RECHTE Hessen 10 10 10 Bund 550 600 650 700 650 Junge Alternative Hessen 50 Bund 1.600 Der Flügel Hessen 600 Bund 7.000 in parteiunabhängigen bzw. parteiungebundenen Strukturen2 Hessen 680 640 650 510 Bund 6.600 6.600 6.300 weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial 3 Hessen 600 550 540 560 Bund 13.500 13.240 12.900 Gesamtzahl der Rechtsextremisten (nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften) Hessen 2.200 1.475 1.465 1.335 1.310 Bund 32.080 24.100 24.000 23.100 22.600 davon gewaltorientiert 4 Hessen 840 680 670 650 400 Bund 13.000 12.700 12.700 12.100 11.800 1 Die Zahlen sind teilweise geschätzt und gerundet. 2 Im Jahr 2017 wurde das Personenpotenzial bundesweit neu kategorisiert. Unter in parteiunabhängigen bzw. parteiungebundenen Strukturen wurden in Bezug auf Hessen vor allem Neonazis sowie die Identitäre Bewegung erfasst. 3 Unter weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial fallen unter anderem Anhänger der subkulturellen Musikszene. Für Hessen wurden die Zahlen rückwirkend für das Jahr 2016 ermittelt. 4 Bis 2015 wurde bei der Darstellung des Gesamtpersonenpotenzials in Hessen die Anzahl der gewaltbereiten Rechtsextremisten ausgewiesen. Seit 2016 wird die Anzahl gewaltorientierter Rechtsextremisten angegeben. Der Oberbegriff "gewaltorientiert" umfasst die Begriffe gewalttätig, gewaltbereit, gewaltunterstützend und gewaltbefürwortend. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 61 RECHTSEXTREMISMUS Gegenüber dem zurückliegenden Berichtsjahr 2018 stieg die Zahl der Rechtsextremisten in Hessen deutlich um ein Drittel an. Ursache hierfür war vor allem die Erklärung des Flügels zum Beobachtungsobjekt als Teilorganisation der AfD, wobei die Gesamtpartei kein Beobachtungsobjekt des LfV ist. Gemäß innerparteilicher Angaben sind 20 bis 40 Prozent der AfD-Mitglieder dem Flügel zuzurechnen. Mit der unteren Grenze dieser Schätzung als Anhaltspunkt ergab sich für Hessen ein Potenzial von bis zu 600 Personen, die dem Flügel angehörten. Ein weiterer Anstieg des Personenpotenzials war im Spektrum des gewaltorientierten Rechtsextremismus zu verzeichnen, wobei der Zuwachs auf den intensivierten Bearbeitungsfokus der hessischen Sicherheitsbehörden zurückzuführen ist. RecHtSteRRoRISMuS und ScHweRe GewaLtStRaFtaten der mutmaßlich rechtsextremistisch motivierte Mord an dem kasseler Regierungspräsidenten dr. walter Lübcke anfang Juni bedeutete für die Bundesrepublik deutschland und Hessen eine zäsur. dieser Mord bildete die Spitze einer kumulation von regelmäßig gegen Repräsentanten des Staats gerichteten drohungen und Gewalttaten und war gleichzeitig der wohl erste rechtsextremistisch motivierte Mord an einem deutschen Politiker seit Bestehen der Bundesrepublik deutschland. In den tagen nach der tat offenbarte sich vor allem im Internet und in den sozialen Medien eine schockierende extremistische dimension des Hasses und der Hetze. nur sechs wochen später wurden in wächtersbach (Main-kinzig-kreis) aus fremdenfeindlichen Motiven heraus Schüsse auf einen 26-jährigen eritreischen Staatsangehörigen abgegeben. Fünf Monate später wurden in Halle (Saale) in Sachsenanhalt zwei Menschen ermordet, als der täter von seinem Vorhaben ablassen musste, mit Gewalt in eine Synagoge einzudringen, um dort Gläubige beim Begehen des höchsten jüdischen Feiertags zu töten. AUF EINEN BLICK * der Mord an dr. walter Lübcke * Versuchte tötung eines eritreischen Staatsangehörigen * angriff mit einer zwille auf einen Migranten * anschlag auf zwei Moscheen in neuseeland * anschlag auf eine Synagoge und auf einen dönerimbiss * anschläge in den uSa und in norwegen * Hohe Gefahr rechtsterroristische Gewaltpotenziale * drohungen und Gewalt gegen Repräsentanten des Staates 62 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS der Mord an dr. walter Lübcke | In der Nacht vom 1. auf den 2. Juni wurde der Präsident des Regierungspräsidiums Kassel auf der Terrasse seines Wohnhauses in Wolfhagen (Landkreis Kassel) leblos aufgefunden. Das HLKA gab am 3. Juni bekannt, dass Dr. Lübcke mittels einer Schusswaffe aus kurzer Entfernung getötet worden war. Des Mordes dringend tatverdächtig ist der Rechtsextremist Stephan E., der sich seit dem 16. Juni in Untersuchungshaft befindet. Seit dem 27. Juni ist zudem der Rechtsextremist Markus H. wegen des Vorwurfs der Beihilfe an dem Mord an Dr. Walter Lübcke in Untersuchungshaft. Eine dritte in diesem Zusammenhang festgenommene Person ist mittlerweile wieder auf freiem Fuß. In einem ersten, nachträglich widerrufenen Geständnis gab E. an, den Regierungspräsidenten in der Nacht vom 1. auf den 2. Juni erschossen zu haben. Das mutmaßlich rechtsextremistische Motiv für die Tat sei seine Empörung über eine Äußerung Dr. Lübckes über die Flüchtlingspolitik im Oktober 2015 bei einer Bürgerversammlung in Lohfelden (Landkreis Kassel) gewesen. Sein Geständnis widerrief E. am 2. Juli vor einem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs, nachdem ihm ein Pflichtverteidiger zugeordnet worden war. In einem zweiten Geständnis vom 8. Januar 2020 beschuldigte E. den wegen Beihilfe Mitangeklagten Markus H., den tödlichen Schuss auf Dr. Walter Lübcke abgegeben zu haben. Darüber hinaus habe sich der Schuss, entgegen der Ausführungen im ersten Geständnis, versehentlich im Zuge eines Streits mit Dr. Lübcke gelöst. Am 28. April 2020 erhob der Generalbundesanwalt Anklage gegen Stephan E. wegen Mordes und gegen Markus H. wegen Beihilfe zum Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten. Der Prozess begann am 16. Juni 2020 vor dem OLG Frankfurt am Main. Versuchte tötung eines eritreischen Staatsangehörigen | In Wächtersbach (Main-Kinzig-Kreis) gab am 22. Juli 2019 ein 55 Jahre alter Mann mehrere Schüsse auf einen 26-jährigen eritreischen Staatsangehörigen ab und verletzte diesen dadurch schwer. Der Schütze soll seine Tat zuvor in einer von ihm regelmäßig besuchten Gaststätte angekündigt haben. Anschließend beging der Täter in seinem Fahrzeug Selbstmord. Die polizeilichen Ermittlungen ergaben, dass der Tat ein fremdenfeindliches Motiv zugrunde lag. angriff mit einer zwille auf einen Migranten | Ein 25-jähriger Syrer wurde am 3. September im Bereich des zentralen Busbahnhofs in Taunusstein (Rheingau-Taunus-Kreis) durch eine Metallkugel am Kopf getroffen und so verletzt, dass er in einem Krankenhaus behandelt Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 63 RECHTSEXTREMISMUS werden musste. Nach umfangreichen kriminalpolizeilichen Ermittlungen wegen gefährlicher Körperverletzung nahm die Polizei zwei Tage später einen 54-Jährigen aus Taunusstein fest. Bei der Durchsuchung der Wohnung des Tatverdächtigen stellte die Polizei unter anderem zwei Zwillen und Metallgeschosse sicher. Der Festgenommene steht darüber hinaus in Verdacht, in mindestens drei weiteren Fällen aus seinem Auto heraus mittels einer Zwille auf "ausländisch erscheinende" Personen geschossen zu haben. anschlag auf zwei Moscheen in neuseeland | Am 15. März beging ein Einzeltäter aus rechtsextremistischen Motiven zwei Anschläge mit Schusswaffen auf Moscheen in Christchurch (Neuseeland). Die Tat "dokumentierte" er per Videoübertragung in Echtzeit im Internet, wobei er 51 Menschen tötete und zahlreiche zum Teil schwer verletzte. Die Angriffe richteten sich insgesamt gegen rund 300 Teilnehmer eines Freitagsgebets in der al-Noor-Moschee im Zentrum Christchurchs und gegen die - wenige Kilometer entfernt liegende - Linwood-Moschee. Die Polizei nahm den mutmaßlichen Täter am selben Tag fest. Im Zuge einer Internetrecherche sicherte die Polizei ein Manifest mit dem Titel "The great replacement" (dt. "Der große Austausch"), woraus sich Bezüge nach Deutschland ergaben. Thematisiert wurden in dem "Manifest" unter anderem die deutsche Einwanderungspolitik und die Ereignisse in der Silvesternacht 2015/2016 in Köln (Nordrhein-Westfalen). Die Reaktionen auf die Tat und das "Manifest" in der rechtsextremistischen Szene in Deutschland bzw. in Hessen fielen überwiegend verhalten und distanziert aus. Hinsichtlich des Charakters, des Vorgehens und der erwarteten Wirkung stieß die Tat zum großen Teil auf Ablehnung. Oftmals wurde angeführt, dass Gewaltund Terrortaten jeglicher Couleur abzulehnen seien. anschlag auf eine Synagoge und auf einen dönerimbiss | Am 9. Oktober verübte in Halle (Saale) in Sachsen-Anhalt ein Einzeltäter einen Anschlag auf die Synagoge sowie einen in der Nähe gelegenen Dönerimbiss. Da es dem Attentäter nicht gelang, in die Synagoge einzudringen, tötete er auf der Straße und in einem Imbiss zwei Menschen und verletzte mehrere zum Teil schwer. Die Polizei nahm den Täter auf seiner Flucht fest. Den Anschlag hatte der Täter auf der Streaming-Plattform twitch.tv live übertragen; im Internet hatte er zuvor - offenbar in Anlehnung an den Anschlag in Christchurch - ein "Manifest" in englischer Sprache veröffentlicht, in dem er seine Tat ankündigte. Darüber hinaus 64 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS war in dem "Manifest" eine Anleitung für das Durchführen eines Anschlags und ein Aufruf zu weiteren Gewalttaten enthalten. Sowohl die internationale als auch die bundesweite rechtsextremistische Szene thematisierte den Anschlag in Halle (Saale) - vor allem im Internet und in den sozialen Medien - in vielfacher Weise. Die Reaktionen waren durchaus heterogen und reichten von der Relativierung des Attentats über eine Distanzierung bis hin zu einem bewussten Verzicht auf eine Distanzierung. Zudem kursierten - zumindest rudimentär formulierte - Verschwörungstheorien, so etwa dass der Anschlag fortan als Vorwand genutzt werden könne, um noch repressiver gegen "Rechte" vorzugehen. anschläge in den uSa und in norwegen | Am 3. August erschoss ein Attentäter in El Paso (USA) 20 Menschen aus rassistischen Motiven. In seinem im Internet veröffentlichten Manifest griff auch er die Ideologie des "großen Austauschs" auf, auf die sich bereits der Attentäter von Christchurch (Neuseeland) berufen hatte. Den Anschlag auf eine Moschee in Oslo (Norwegen) am 10. August verhinderten die Besucher, indem sie den Attentäter überwältigten, der bereits Schüsse abgegeben, aber niemanden tödlich verletzt hatte. Auch diesem Attentat lag eine rassistische und zudem islamfeindliche Ideologie zugrunde. Wiederum bezog sich der Täter auf die Anschläge und den Angreifer in Neuseeland. Hohe Gefahr rechtsterroristischer Gewaltpotenziale | Weltweit stellen rechtsterroristische Gewaltpotenziale eine hohe Gefahr dar, was die oben aufgeführten Anschläge in drastischer Weise verdeutlichen. Der den Taten zugrundliegende - in etwa stets gleiche - Modus Operandi der Anschläge lässt Rückschlüsse auf das hohe Gefahrenpotenzial zu, das von rechtsextremistischen Tätern ausgeht: Im Vordergrund ihrer Motivation steht, eine möglichst große Öffentlichkeitswirksamkeit zu erzielen, um sowohl Furcht und Schrecken zu verbreiten als auch auf angebliche Missstände in Gesellschaft und Politik hinzuweisen. Hierdurch soll der propagierten rechtsextremistischen Ideologie eine möglichst große mediale Bühne bereitet und eine entsprechende Aufmerksamkeit verschafft werden. Auch künftig muss mit Anschlägen dieser Art gerechnet werden, denen eine Selbstradikalisierung des Täters (zum Teil innerhalb des Internets) vorausgeht ("Lone Wolf"-Phänomen). Allerdings ist zu berücksichtigen, dass solche Täter zwar allein handeln, aber insgesamt in ein "größeres weltanschauliches Leitgerüst" (Jan Skudlarek) eingebettet sind, was die Wachsamkeit der gesamten demokratisch verfassten Gesellschaft erfordert. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 65 RECHTSEXTREMISMUS drohungen und Gewalt gegen Repräsentanten des Staates | Nicht erst im Kontext des Mordes an Dr. Walter Lübcke müssen die zahlreichen Drohungen und die einzelnen Gewaltdelikte gegen bundesweit bekannte und gegen kommunal tätige Politiker als potenzielle Wegbereiter für das Entstehen eines rechtsextremistischen Terrorismus äußerst ernst genommen werden. So sind in diesem Zusammenhang auch auf die Angriffe auf die Kölner Bürgermeisterkandidatin Henriette Reker im Kommunalwahlkampf 2015 und auf den Bürgermeister der Stadt Altena (Nordrhein-Westfalen), Dr. Andreas Hollstein, im Jahr 2017 hinzuweisen. Es besteht die Gefahr, dass bei (potenziellen) Tätern sozial und gesellschaftlich geprägte Hemmschwellen sinken und sich verbal-physische Gewalt zunehmend die Bahn bricht. Grundsätzlich birgt die der rechtsextremistischen Ideologie immanente Gewaltorientierung die Gefahr schwerer staatsgefährdender Gewalttaten: Die mit der Ideologie verknüpften Straftaten richten sich oftmals gegen Leben und persönliche Freiheit des Menschen, sodass die Delikte geeignet sind, die Sicherheit und die Grundfesten des demokratischen Verfassungsstaates maßgeblich zu beeinträchtigen. PaRteIunaBHänGIGe Bzw. PaRteIunGeBundene StRuktuRen Identitäre Bewegung deutschland e. V. (IBd)/ Identitäre Bewegung Hessen (IBH) DEFINITION/KERNDATEN die IBd präsentiert sich "modern", "intellektuell" und aktionsorientiert und ahmt in ihrer Bildsprache und in ihren aktionsLogo der formen den Stil "linker" Protestbewegungen nach. Hierzu Identitären verwendet die IBd elemente der Popkultur und führt Flash-Mobs, Bewegung Besetzungen sowie Sprüh-, Bannerund Stickeraktionen durch. tyDeutschland pisch rechtsextremistische bzw. nationalsozialistische Begriffe wie Bundesvorsitzender: etwa "Volksgemeinschaft" und "Rasse" gehören nicht zum VokabuDaniel Fiß lar der IBd. Stattdessen verwendet sie chiffren wie "Identität" und (Mecklenburg-Vorpommern) "ethnie". damit versucht die IBd mittels ihrer Selbstdarstellung in den sozialen Medien und mit Hilfe medienwirksamer aktionen insMitglieder: besondere internetaffine Jugendliche und junge erwachsene zu geIn Hessen etwa 60, winnen, um eine neue völkische Jugendkultur bzw. politische Ströbundesweit etwa 600 mung zu etablieren. Vor allem über die direkte kommunikation in den sozialen Medien, die nicht auf die traditionelle BerichtMedien: Internetpräsenzen erstattung und kommentierung von Fernsehen, Radio und Printmedien (auch im Internet) angewiesen ist, versucht die Identitäre Be- \ wegung (IB), Begriffe und Inhalte neu und scheinbar unverfänglich 66 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS zu definieren und damit auch Personen außerhalb der rechtsextremistischen Szene anzusprechen. So sagte ein Vertreter der IB: "wir haben die Gesetze des Marketings, der Sozialen Medien, und des Gesellschaftsspektakels verstanden. wir gießen diese erkenntnisse in überraschende, aber verständliche aktionen. wir sprechen die Sprache der Jugend und erzeugen die Bilder, die die Mediengesellschaft versteht". (Schreibweise wie im original.) eReIGnISSe/entwIckLunGen Im Berichtszeitraum gingen sowohl die aktivitäten als auch die Mitgliederzahl der IBH zurück, was unter anderem auf die vermehrt negative öffentliche Berichterstattung über die IB zurückzuführen ist. darüber hinaus sah sich die IB mit kritik aus den eigenen Reihen konfrontiert. über einzelne aktionen veröffentlichte die IBH Berichte mit Fotos auf ihrer Homepage, ihrem twitter-Profil oder ihrem telegramkanal. auf diese weise versuchte die IBH nicht nur, neue angehörige zu werben, sondern auch die eigenen aktivisten zu motivieren. AUF EINEN BLICK * asylund Migrationspolitik als agitationsschwerpunkte * Proteste gegen "linke" Gewalt und "überfremdung" * "keine no-Go areas!" - "Fühlst du dich wirklich sicher?" * "europa verteidigen - es bleibt unsere Heimat" * "Patrioten wiesbaden" * Berichterstattung über die IBd * Publikationen der IB asylund Migrationspolitik als agitationsschwerpunkte | Thematisch konzentrierte sich die IBH auf ihren Internetpräsenzen weiterhin auf den Protest gegen die Migrationsund Asylpolitik und führte wie in den Vorjahren Flyer-, Bannerund Plakataktionen unter anderem in Frankfurt am Main, Wiesbaden, Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), Bensheim (Kreis Bergstraße), Hohenstein (Rheingau-TaunusKreis), Dreieich (Landkreis Offenbach), Darmstadt und Fritzlar (Schwalm-Eder-Kreis) durch. Proteste gegen "linke" Gewalt und "überfremdung" | Am 14. Januar versuchten IBH-Aktivisten im Rahmen einer bundesweiten Aktion der IB unter dem Motto "Schreibtischtäter benennen - Protest gegen Linke Gewalt" eine Plakataktion vor dem Redaktionsgebäude der Frankfurter Rundschau durchzuführen, was die Polizei verhinderte. Auf den dafür vorbereiteten Plakaten standen Aufschriften wie etwa "Wann reden Sie über linke Gewalt?" und "Linke Gewalt - ignoriert, geleugnet, verharmlost". Hintergrund waren der Angriff auf einen AfD-Politiker sowie Sachbeschädigungen an einem durch die AfD genutzten Bürogebäude und an dem Auto eines IB-Angehörigen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 67 RECHTSEXTREMISMUS "keine no-Go areas!" - "Fühlst du dich wirklich sicher?" | Am 7. Februar führten IBH-Aktivisten in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) eine Plakataktion im Zusammenhang mit der IBD-Aktionswoche "Keine No-Go Areas in unseren Städten" durch. Die bundesweite Kampagne war nach Aussage der IBH eine Reaktion auf die von ihr kritisierte zunehmende "Ghettoisierung" und Entstehung sogenannter No-Go-Areas in deutschen Städten. Auf ihrer Homepage schrieb die IBD: "In vielen Großstädten erleben wir seit Jahren einen schleichenden Prozess, der von den politisch Verantwortlichen verschwiegen wird: Wir werden in unseren eigenen Vierteln, Stadtgebieten und Straßen zu einer Minderheit im eigenen Land. In Städten wie Berlin, Hamburg, Duisburg und Frankfurt bilden sich zunehmend fremde Parallelgesellschaften, die entlang ethnischer und kultureller Konfliktlinien verlaufen". Die Überschriften der professionell gestalteten Plakate, die unter anderem in Werbetafeln am Marburger Hauptbahnhof angebracht waren, lauteten "Keine No-Go Areas!" und "Fühlst du dich wirklich sicher?" Durch das Anbringen der Plakate in Werbetafeln sollte für den Betrachter offensichtlich der Anschein erweckt werden, dass es sich hierbei um offiziell geschaltete Werbeanzeigen handelte. Am 1. August sperrten Aktivisten der IBH am Frankfurter Hauptbahnhof Teile eines Bahnsteigs mit einem Band ab und befestigten daran ein im Piktogrammstil gestaltetes Warnzeichen mit der Aufschrift "Vorsicht vor multikulturellen Bahnsteigen". Auf dem "Warnzeichen" war eine Person abgebildet, die eine andere vor einen einfahrenden Zug stößt. Hintergrund war der Tod eines achtjährigen Jungen im Frankfurter Hauptbahnhof, den ein Mann aus Eritrea auf ein Bahngleis gestoßen hatte. "europa verteidigen - es bleibt unsere Heimat" | IB-Aktivisten aus Hessen beteiligten sich auch an besonders medienund öffentlichkeitswirksamen Aktionen der IBD. So wollte die IBD am 20. Juli in Halle (Saale) in Sachsen-Anhalt eine Demonstration unter dem Motto "Europa verteidigen - Es bleibt unsere Heimat" mit anschließendem Sommerfest in und vor einer durch die IBD genutzten Immobilie durchführen. Am Veranstaltungstag blockierten rund 3.000 Gegendemonstranten den Gebäudezugang und die umliegenden Straßenzüge, sodass die Polizei die Demonstration der IBD untersagte und nur das IBD-Sommerfest mit etwa 250 Teilnehmern stattfand. "Patrioten wiesbaden" | Der österreichische IB-Aktivist Martin Sellner, der als Führungsfigur innerhalb der IBD gilt, rief in einem auf YouTube im August veröffentlichten Video ("Rechte Volksvernetzung! 68 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS Vernetzt euch mit lokalen Telegramgruppen") zur Gründung von "patriotischen" Telegram-Gruppen auf. Ziel sei es, ein flächendeckendes Netzwerk von "patriotisch" eingestellten Personen aufzubauen. Offenbar als Reaktion auf den Aufruf gründete sich eine öffentlich zugängliche Telegram-Gruppe namens "Patrioten Wiesbaden", in der sich Nutzer als Mitglieder der IBH zu erkennen gaben. Berichterstattung über die IBD | Vermehrt sah sich die IBD im Berichtsjahr mit für sie negativer Berichterstattung in den Medien konfrontiert. Dies resultierte zum einen aus der Einstufung als gesichert rechtsextremistische Bestrebung durch das BfV im Juli und aus den zuvor im März und Mai bekanntgewordenen Verbindungen zwischen dem Attentäter von Christchurch (Neuseeland) und der Identitären Bewegung Österreich (IBÖ). So hatte sich der Rechtsterrorist in seinem im März 2019 veröffentlichten "Manifest" auf die von der IB propagierte rechtsextremistische Verschwörungstheorie des "Großen Austauschs" bezogen. Außerdem sah sich die IBD im November mit Angriffen aus den eigenen Reihen, das heißt der Neuen Rechten, konfrontiert. So erklärte der Publizist Götz Kubitschek vor dem Hintergrund der Verbindungslinie zwischen dem Attentäter von Christchurch und der Bewertung der IBD durch das BfV als gesichert rechtsextremistische Bestrebung: "Zum einen ist dieser wirklich gute Ansatz einer patriotischen, nicht-extremen und sehr kreativen Jugendbewegung nun bis zur Unberührbarkeit kontaminiert. Das bedeutet: Es wird nichts Großes mehr daraus. Zum anderen hat sich der Gegner durch diesen Umgang mit der IB 'bis zur Kenntlichkeit entstellt' - ein lehrreicher Vorgang'". Publikationen der IB | Nachdem die IBH 2017 erstmals die Publikation Identitärer Aktivist (insgesamt drei Ausgaben) veröffentlicht hatte und 2018/2019 keine weiteren mehr erschienen waren, publizierte die IBD im Juli 2019 die erste Ausgabe des Magazins Das sind wir. Darin berichtete die IBD unter anderem über Aktionen, stellte einzelne Aktivisten und deren Beweggründe für ihr Engagement in der IBD vor und berichtete über andere identitäre Gruppierungen in Europa. ENTSTEHUNG/GESCHICHTE Die IBD sieht sich als Ableger der IBÖ, die wiederum aus dem 2003 in Frankreich entstandenen Bloc Identitaire - Le mouvement social europeen, der späteren Generation Identitaire (GI), hervorgegangen war. In der IBÖ sieht die IBD ein "Vorbild". Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 69 RECHTSEXTREMISMUS AUF EINEN BLICK * ursprung in Frankreich * IB in deutschland ursprung in Frankreich | Die "erste größere Aktion" der GI - so ihre eigene Einschätzung - fand im Oktober 2012 statt, als 60 bis 80 Jugendliche in Poitiers (Frankreich) eine Moschee im "Kampf für unsere Identität" besetzten und dies in einem später im Internet verbreiteten Video wie folgt rechtfertigten: "Es ist fast 1300 Jahre her, als Karl Martell die Araber bei Poitiers nach einem heroischen Kampf aufhalten konnte und so unser Land vor den muslimischen Invasoren gerettet hat. Es war der 25. Oktober 732. Heute sind wir im Jahr 2012 und die Wahl ist immer noch die gleiche: Frei zu leben oder zu sterben. Unsere Generation weigert sich, seine Menschen und seine Identität in Gleichgültigkeit aufzugeben, wir werden nie zu den Indianern Europas werden". Ebenfalls im Oktober 2012 erschien auf YouTube das GI-Video "Kriegserklärung - Identitäre Generation". Darin hieß es unter anderem: "Wir sind die Generation der ethnischen Spaltung, des totalen Scheiterns des Zusammenlebens und der erzwungenen Mischung der Rassen. Wir sind die doppelt bestrafte Generation: Dazu verdammt in ein Sozialsystem einzuzahlen, das so großzügig zu Fremden ist, dass es für die eigenen Leute nicht mehr reicht. Unsere Generation ist das Opfer der 68er, die sich selbst befreien wollten von Tradition, von Wissen und autoritärer Erziehung. [...] Unser Erbe ist unser Land, unser Blut, unsere Identität". IB in deutschland | Nach der Veröffentlichung des Videos, das sich europaweit rasch in verschiedenen Sprachen (mit Untertiteln) verbreitete, wurden auch in Deutschland Anhänger der IB aktiv, zunächst "virtuell" im Internet, dann aber auch zunehmend "real", indem sich regionale Gruppen bildeten. Anfang Dezember 2012 fanden sich deutsche Anhänger der IB zu ihrem ersten bundesweiten, konstituierenden Treffen in Frankfurt am Main zusammen, unter ihnen auch Vertreter aus Österreich und Italien. In Hessen trat die IB seit Ende 2012 mit Plakatund Aufkleberaktionen öffentlich in Erscheinung. Im April 2014 fand in Fulda (Landkreis Fulda) ein Treffen statt, das der weiteren Vernetzung diente. In der Folge gründete sich im Mai 2014 in Nordrhein-Westfalen der Verein Identitäre Bewegung Deutschland e. V. mit dem Ziel, die "Identität des deutschen Volkes als eine eigenständige unter den Identitäten der anderen Völker der Welt zu erhalten und zu fördern". 70 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS IDEOLOGIE/ZIELE Indem die IB von "Ethnopluralismus" spricht, stellt sie in ihrem Kampf gegen den vermeintlichen "großen Tausch" "kulturelle Eigenheiten" und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie über die in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verankerten Werte. AUF EINEN BLICK * "Ethnopluralismus" - "Ethnokulturelle Identität" * "Der große Austausch" * Symbolik des griechischen Buchstabens Lambda ( ) V * Angebliches Recht auf "Widerstand" "Ethnopluralismus" - "Ethnokulturelle Identität" | Die IBD betont die dominierende Bedeutung von Abstammung und Identität und steht damit in Nähe zur völkischen Ideologie von Rechtsextremisten. Den Menschen nimmt die IBD nicht primär in seiner Individualität, sondern vorrangig in Bezug auf seine ethnische Herkunft wahr. Hierzu hieß es auf der Homepage der IBD: "Die entscheidenden Fragen des 21. Jahrhunderts werden vor allem auf dem Feld der Identitätspolitik gestellt werden. Dabei müssen wir als patriotische Europäer unweigerlich zur Kenntnis nehmen, dass sich die demographischen Verhältnisse zu Ungunsten der einheimischen Bevölkerung entwickeln und uns ohne ein politisches Umdenken zahlreiche ethnische, kulturelle und religiöse Konflikte erwarten". Die IBD rekurriert mit ihrem Konzept des "Ethnopluralismus" nicht auf die Vordenker des "klassischen" Rechtsextremismus. Im Gegensatz zu diesen vertritt die IBD die Auffassung, dass es auf die Unterschiedlichkeit der Ethnien im kulturellen Sinne ankomme. Diese "kulturellen" Eigenarten - im Jargon der IBD die "Identität" - gelte es durch eine größtmögliche Trennung der verschiedenen Ethnien zu erhalten. Ethnopluralisten geben vor, dabei keine Unterscheidung nach der Wertigkeit einer Ethnie vorzunehmen, was sie vordergründig von den im Rechtsextremismus vorherrschenden rassistischen Ideologien abhebt. Nach eigenen Worten erteilt die IBD "Rassismus und Chauvinismus eine klare Absage, da es uns stets um die Betonung des Rechts auf Bewahrung der Identität für jedes Volk und jede Kultur geht und wir eine qualitative Aufoder Abwertung einer bestimmten ethnokulturellen Gemeinschaft klar ablehnen". Es gelte gleichwohl, so die IBD, die eigene Kultur zu bewahren, da sie das eigene Dasein maßgeblich ausmache. In dem mehrteiligen Artikel "Nationalismus revisited" wird hierzu ausgeführt: Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 71 RECHTSEXTREMISMUS "Ja, wir stehen für den Erhalt unserer ethnokulturellen Identität, gegen Masseneinwanderung, gegen die Lüge von ,Menschheit und Weltstaat', für den Erhalt der Völker, der Wurzeln, der Herkunft und der Heimat, aber NEIN, wir sind KEINE Nationalisten". (Schreibweise wie im Original.) "der große austausch" | Mit dem Begriff "Der große Austausch" bezeichnet die IBD die angebliche "Tendenz einer schrittweisen Verdrängung der einheimischen Bevölkerung zugunsten fremder und zumeist muslimischer Einwanderer". Nach Ansicht der IBD wird diese schrittweise Verdrängung durch die "Selbstabschaffungsideologie von Multikulti, die einen Großteil des gesellschaftlichen Entscheidungsbereichs einnimmt", hervorgerufen, wodurch die einheimischen europäischen Bevölkerungen zur "Minderheit in den eigenen Ländern" würden und letztlich "völlig verschwunden" sein werden. V Symbolik des griechischen Buchstabens Lambda ( ) | In ihrer Bildsprache verwendete die IBD im Internet, bei Veranstaltungen sowie auf Flyern, Aufklebern und Merchandisingartikeln den griechischen Buchstaben Lambda, der durch die Comicverfilmung "300" aus dem Jahr 2006 einem breiten Publikum bekannt geworden ist. Der Film glorifiziert das antike Sparta und den letztlich aussichtslosen Verteidigungskampf von 300 Spartanern (Lakedaimoniern) gegen die Übermacht der Perser in der Schlacht bei den Thermopylen (480 v. Chr.). In vielfachen Variationen zeigt der Film bewaffnete und kämpferisch-entschlossene Spartaner im Kampf gegen die persischen Angreifer. Die IBD identifiziert sich mit dieser Bildsprache und sieht sich in ihrem "Abwehrkampf" in der Tradition der Spartaner. In einem mittlerweile im Internet gelöschten Video erklärte die IBD in Bezug auf den Buchstaben Lambda, der in der Antike die "Schilder [sic] der stolzen Spartaner schmückte": "Wir werden nie zurückweichen, niemals aufgeben! Glaubt nicht, das hier wäre einfach nur ein Manifest, es ist eine Kampfansage an diejenigen, welche ihr Volk, ihr Erbe, ihre Identität und ihr Vaterland hassen und bekämpfen! Ihr seid von gestern, wir sind von Morgen!" Die Orientierung der IBD an Sparta, das "bis heute [...] als Inbegriff eines schon in der Frühzeit gesetzlich streng regulierten und rein militärisch ausgerichteten Staates" (Lukas Thommen, 2017) gilt, ist daher keine vordergründige Symbolik. Die Bildsprache, insbesondere die Verwendung des Buchstabens Lambda, steht für Anschauungen der IB, die nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar sind. 72 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS angebliches Recht auf "widerstand" | Nach Auffassung der IBD sei aufgrund der derzeitigen Lage in Deutschland "eindeutig" der Widerstandsfall nach Art. 20 Abs. 4 GG eingetreten. Das Recht auf Widerstand rechtfertige in der jetzigen Situation zivilen Ungehorsam, jedoch keine Gewalt. In diesem Kontext scheut die IBD nicht davor zurück, an die Akteure der Weißen Rose als vermeintlich historische Vorbilder zu erinnern. Dabei hebt die IBD insbesondere den gewaltfreien Widerstand der Weißen Rose gegen das nationalsozialistische Gewaltund Terrorregime ab, der sich 1942/43 unter anderem mittels Flugblattaktionen artikuliert hatte, eine Aktionsform, auf die auch die IBD immer wieder zurückgreift. StRuktuRen Die IBD gliederte sich laut ihrer Homepage bundesweit in 16 Regionalgruppen, wobei nicht jede Gruppe sowohl im Internet als auch "real" existierte. Eine dieser Regionalgruppen war die IBH. In Hessen gab es mehrere Ortsgruppen der IB, die unter anderem in Frankfurt am Main, Gießen (Landkreis Gießen), Kassel, Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), Darmstadt und Fulda (Landkreis Fulda) aktiv waren. BeweRtunG/auSBLIck Die IBD zeigte sich - vor allem in den sozialen Medien - weiterhin in einem modern anmutenden Design, womit sie versuchte, politische Inhalte im gewohnten Stil plakativ, schnell und verständlich zu transportieren. Hierzu nutzte die IBD hauptsächlich ihre eigene Homepage, Twitter und YouTube als virtuelle Plattformen. Im Berichtsjahr schien die IBD neuerdings auch ein verstärktes Augenmerk auf den Instant-Messaging-Dienst Telegram zu legen. Im Laufe des Berichtsjahrs sah sich die IBD zusehends mit für sie negativer Aufmerksamkeit in den Medien konfrontiert: zum einen aufgrund der Einstufung als gesichert rechtsextremistische Bestrebung durch das BfV, zum anderen aufgrund des negativen Verlaufs der IB"Großdemonstration" am 20. Juli in Halle (Saale) in Sachsen-Anhalt und der öffentlich bekannt gewordenen Verbindungen des Rechtsterroristen von Christchurch (Neuseeland) zur IBÖ. Zudem sah sich die IBD zum Ende des Berichtsjahrs auch Angriffen aus den eigenen Reihen ausgesetzt. Die negative mediale Berichterstattung und die Fundamentalkritik Kubitscheks, eines der maßgeblichen Protagonisten der Neuen Rechten, erschwerten es der IBD, sich weiterhin als jugendliche Avantgarde zu inszenieren, Jugendliche und junge Erwachsene zu werben und somit eine völkisch-antipluralistische Jugendkultur in der Mitte der Gesellschaft zu etablieren. Vor diesem Hintergrund gingen in Hessen das Aktionsaufkommen und auch die Mitgliederzahlen der IBH merklich zurück. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 73 RECHTSEXTREMISMUS Dennoch darf die von der IBD weiterhin ausgehende Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung nicht unterschätzt werden, insbesondere da sie sich nach wie vor als elitär-intellektuelle Impulsgeberin versteht und dementsprechend präsentiert, wodurch sie noch immer eine Anziehungskraft auf Jugendliche und junge Erwachsene entfaltet. Dadurch, dass die IBD behauptet, der "letzten Generation" anzugehören, die den "Untergang Europas" aufhalten könne, und sie in diesem Zusammenhang von einer "Kampfansage" spricht, schafft sie ein Klima des vermeintlich legitimen Widerstands. Der Fall des Rechtsterroristen von Christchurch, der sich in seinem "Manifest" auf die von der IBD propagierte Verschwörungstheorie des "Großen Austauschs" berief und Kontakte zur IBÖ unterhielt, zeigt, dass die von der IBD verbreitete Ideologie dazu geeignet ist, Radikalisierungsprozesse zu fördern und schwerste Gewaltstraftaten zu legitimieren. Indem sich die IBD mit den Widerstandskämpfern der Weißen Rose gegen das nationalsozialistische Unrechtsund Terrorregime vergleicht und das im Grundgesetz verbürgte Widerstandsrecht für sich reklamiert, versucht sie ihr Handeln und ihre politischen Inhalte positiv zu deuten und gleichsam gesellschaftspolitisch zu legitimieren. Dieses Vorgehen ist als Versuch zu werten, die eigene Ideologie als allgemein gesellschaftsfähig darzustellen. Sonstige parteiunabhängige Strukturen Thule-Seminar e. V. das 1980 von dem Rechtsextremisten dr. Pierre krebs gegründete thule-Seminar e. V. mit Sitz in kassel versteht sich als "Forschungsund Lehrgemeinschaft für die indoeuropäische kultur". der Vereinsname orientiert sich an der historischen thule-Gesellschaft, einem im august 1918 gegründeten "Geheimbund". nach dem ende des ersten weltkrieges und dem untergang des kaiserreichs (november 1918) bestand die thule-Gesellschaft bis zu ihrer Löschung aus dem Vereinsregister im Jahr 1932. ähnlich dem heutigen thule-Seminar e. V. sollte die thule-Gesellschaft zur "erforschung deutscher Geschichte und Förderung deutscher art" dienen und vertrat einen aggressiven antisemitismus. die Mitglieder setzten sich überwiegend aus akademikern, aristokraten und Geschäftsleuten zusammen, darunter auch führende nationalsozialisten wie etwa Rudolf Heß (1894-1987) und alfred Rosenberg (1893-1946). als zeichen der thule-Gesellschaft fungierte ein Hakenkreuz mit Schwert. 74 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS AUF EINEN BLICK * Ideologische denkschule mit elitärem Selbstverständnis * "ethnopluralismus" - "genetisches Reservoir" Ideologische denkschule mit elitärem Selbstverständnis | Ähnlich seinem historischen Vorbild ist das Ziel des Thule-Seminars e. V., eine "geistig-geschichtliche Ideenschmiede für eine künftige Neuordnung aller europäischen Völker unter besonderer Berücksichtigung ihres biokulturellen und heidnisch-religiösen Erbes" zu sein. Dabei begreift sich das Thule-Seminar e. V. als ideologische Denkschule mit elitärem Selbstverständnis und verbreitete im Berichtsjahr insbesondere im Internet völkisch-rassistisches Gedankengut. Als Ideologe, Ideengeber und Vortragsredner versuchte Dr. Krebs, Wirkung in rechtsextremistischen Kreisen zu erzielen. Die Ideologie des Thule-Seminars e. V. ist dabei auf die Überwindung der bestehenden politischen Ordnung ohne das Aufzeigen demokratischer Alternativen gerichtet. So schrieb Dr. Krebs auf seiner Homepage: "Was sollten wir heute eigentlich bewahren? Die Werte und Denkhaltungen des Systems? Das hieße gerade das aufrechtzuerhalten, wogegen wir kämpfen! Wie lässt sich aber ein Diskurs, der eine radikale Abkoppelung vom System fordert, mit einem Diskurs vereinbaren, der die Quintessenz dieses Systems bestehen lassen will?" "ethnopluralismus" - "genetisches Reservoir" | Bereits Anfang der 1980er Jahre hatte Dr. Krebs den gegenwärtig vor allem von der IB genutzten Begriff des "Ethnopluralismus" verwendet. Im Hinblick auf den "Extremfall, dass Westeuropa durch den mörderischen Globalismus und die rassische Durchmischung zur Auflösung gebracht" werde, strebte Dr. Krebs das rein biologistisch-rassistische und an der nationalsozialistischen Ideologie orientierte Ziel an, ein "genetisches Reservoir zu schaffen". Dabei orientiert sich das Thule-Seminar e. V. in seiner ideologischen Ausrichtung eng an der Nouvelle Droite, einem Theoriezirkel französischer Rechtsextremisten, der ebenso wie die Mitglieder des Thule-Seminars e. V. ein "indogermanisches Heidentum" propagiert. Der Einfluss und die Anschlussfähigkeit des Thule-Seminars e. V. insbesondere an die Neue Rechte in Deutschland blieben jedoch gering. Darüber hinaus betrieb das Thule-Seminar e. V. - neben seiner umfangreichen Homepage - unter anderem den Eigenverlag Ahnenrad der Moderne sowie den Buchund Kunstversanddienst Ariadne. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 75 RECHTSEXTREMISMUS Recht und Wahrheit - Politik und Zeitgeschichte aus deutscher Sicht die von dem Rechtsextremisten Meinolf Schönborn herausgegebene zeitschrift, die ebenfalls dem intellektuellen Rechtsextremismus zuzurechnen ist, widmet sich laut eigener aussage der "geistigen Pflege des deutschen Freiheitsgedankens" und will für das Recht des "deutschen Volkes auf freie Selbstbestimmung" eintreten. AUF EINEN BLICK * "Lesertreffen" * Sonnwendfeiern zur Vernetzung und kommunikation "Lesertreffen" | Die in der Zeitschrift publizierten Artikel behandelten hauptsächlich gesellschaftliche, politische und historische Themen, wobei rechtextremistische, antisemitische und gebietsrevisionistische Thesen vertreten und propagiert wurden. Darüber hinaus fanden regelmäßig "Lesertreffen" statt. Daneben wirkte ein "Arbeitskreis" an der Gestaltung und Verbreitung der Zeitschrift mit. Sowohl die Teilnehmer der "Lesertreffen" als auch die Mitglieder des "Arbeitskreises" waren dem neonazistischen Spektrum, rechtsextremistischen Parteien sowie den Reichsbürgern und Selbstverwaltern zuzurechnen. So strebten der Herausgeber und die Angehörigen der "Lesertreffen" die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit eines wie auch immer gearteten Deutschen Reichs an. Sonnwendfeiern zur Vernetzung und kommunikation | Neben den mehrmals im Jahr stattfindenden "Lesertreffen" veranstaltete Schönborn unter anderem Sonnwendfeiern, so etwa die Sommersonnwendfeier vom 22. bis zum 23. Juni in Knüllwald (Schwalm-Eder-Kreis). Das Rahmenprogramm enthielt neben zahlreichen Vortragsveranstaltungen zu aktuellen und historischen Themen eine "Feierstunde am Feuer". Die Feiern dienten zum einen der Vernetzung und Kommunikation innerhalb der rechtsextremistischen Szene, zum anderen stand die ideologische Schulung der Teilnehmer im Vordergrund. 76 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS LoSe StRuktuRIeRteR RecHtSextReMISMuS neonazis DEFINITION/KERNDATEN Rechtsextremisten, die nach der überwindung der Gewaltdiktatur des nationalsozialismus (1933-1945) dessen Ideologie Aktivisten /Anhänger: In Hessen etwa 310 in ihren inhaltlichen zielsetzungen oder im Rahmen ihrer aktivitäten zu verwirklichen versuchen, werden als neonazis bezeichnet. zahlMedien : reiche neonazistische organisationen sind verboten, neonazis finInternetpräsenzen den sich aber immer wieder in neuen Gruppierungen, Bündnissen und Plattformen zusammen. zu rechtsextremistischen Parteien und / zu subkulturell orientierten Rechtsextremisten und Skinheads unterhalten neonazis, denen grundsätzlich eine Gewaltorientierung zuzuschreiben ist, enge kontakte. nahezu gleichmäßig erstreckte sich die neonazi-Szene über ganz Hessen. eReIGnISSe/entwIckLunGen wie in den Jahren zuvor konzentrierten sich neonazis auf öffentlichkeitswirksame propagandistische aktionen: die teilnahme an demonstrationen und an Mahnwachen sowie die Verteilung von aufklebern und Flugblättern. die Szene war mehrheitlich durch lose regionale Gruppierungen geprägt. So traten bei verschiedenen rechtsextremistischen Veranstaltungen neonazis anlassbezogen und öffentlichkeitswirksam mit division-Mittelhessen-t-Shirts auf. die kameradschaft aryans wies demgegenüber ebenso wie combat 18 eine überregionale, länderübergreifende Struktur auf. die kameradschaft aryans, bei der es sich ebenso um einen länderübergreifenden Personenzusammenschluss gewaltbereiter neonazis handelt, führte in Hessen keine öffentlichkeitswirksamen aktionen durch. AUF EINEN BLICK * combat 18 deutschland (c 18 deutschland) * Freier widerstand Hessen (FwH) combat 18 deutschland (c 18 deutschland) | Ursprünglich 1992 in England gegründet, setzt sich die Bezeichnung der Gruppierung aus dem Wort combat (dt. Kampf) sowie aus der Zahlenkombination 18, die für den ersten und achten Buchstaben des Alphabets steht, zusammen. Der Name Combat 18 kann demnach mit Kampf(truppe) Adolf Hitler übersetzt werden. Angehörige von C 18 Deutschland waren in mehreren Bundesländern, auch in Hessen, wohnhaft. Die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder beobachteten C 18 Deutschland im Berichtsjahr mit besonderer AufmerksamHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 77 RECHTSEXTREMISMUS keit - auch vor dem Hintergrund der gewalttätigen Historie der englischen Gruppe in ihrer Anfangszeit. Vergleichbares war in Deutschland bislang nicht festzustellen. Dennoch wurde die intensive Beobachtung der grundsätzlich gewaltbereiten und waffenaffinen rechtsextremistischen Organisation fortgesetzt, um mögliche Radikalisierungstendenzen frühzeitig zu erkennen und die Strafverfolgungsbehörden rechtzeitig einzubinden. Ende 2018 kam es aufgrund des Verdachts des Verstoßes gegen ein Vereinigungsverbot zu bundesweiten Durchsuchungsmaßnahmen in zwölf Objekten. Hiervon war auch der in Hessen wohnhafte Anführer von C 18 Deutschland betroffen. Im Februar 2019 wurde bekannt, dass der Anführer nach verbüßter Untersuchungshaft in ein benachbartes Bundesland verzogen ist. Daraufhin wurde ein Rückgang von Aktivitäten im Zusammenhang mit C 18 Deutschland in Hessen verzeichnet. Am 23. Januar 2020 verbot der Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat C 18 Deutschland. Aufgrund einer Klage gegen das Verbot durch Mitglieder der Gruppierung prüft das Bundesverwaltungsgericht derzeit die Rechtmäßigkeit des Verbots. Freier widerstand Hessen (FwH) | Der aus der neonazistischen Gruppierung Nationale Sozialisten Main-Kinzig (NSMK) hervorgegangene FWH trat im Berichtsjahr lediglich mit einer Aufkleberaktion öffentlich in Erscheinung. Hierbei wurden vermutlich im Juni mehrere Aufkleber der Gruppierung im Bereich eines S-Bahnhofs in Dietzenbach (Landkreis Offenbach) angebracht. IdeoLoGIe/zIeLe neonazis orientieren sich, wenn auch in unterschiedlicher ausprägung, an der Ideologie des nationalsozialismus (unter anderem an Rassismus, antisemitismus, Sozialdarwinismus, nationalismus, antipluralismus) und idealisieren den "Führer" des nationalsozialistischen unrechtsund terrorregimes, adolf Hitler (1889-1945). AUF EINEN BLICK * "Volksgemeinschaft" - Revisionismus * uneinheitlichkeit der neonazi-Szene * zahlencodes * kampf gegen das "System" "Volksgemeinschaft" - Revisionismus | Das Ziel von Neonazis ist die Schaffung eines ethnisch homogenen, diktatorischen Staats. Die Rechte des Einzelnen, Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt - insgesamt Pluralismus - haben in der von Neonazis angestrebten deutschen "Volksgemeinschaft" keinen Platz. Die "Volksgemeinschaft" 78 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS schließt Menschen anderer Kulturen und auch solche "Deutsche" aus, die Neonazis aufgrund von Behinderungen, sexueller Orientierung und sozialer Marginalisierung als "unwert" einstufen. Das Individuum soll sich dem angeblichen Gesamtwillen unterordnen. Historische Tatsachen deuten Neonazis in revisionistischer Manier um und leugnen dabei auch den Holocaust. uneinheitlichkeit der neonazi-Szene | Die neonazistische Szene ist in sich nicht homogen. Zum einen wird das "Dritte Reich" (1933-1945) als Vorbild betrachtet und eine Wiederherstellung des Nationalsozialismus angestrebt, zum anderen wird die nationalsozialistische "Weltanschauung" neu interpretiert oder "antikapitalistisch" mit Bezügen zum Linksextremismus und entsprechenden Aktionsformen "modernisiert". Die überwiegende Zahl der Neonazis befürwortet jedoch die Kernelemente des Nationalsozialismus: Führerprinzip, Antisemitismus und die Ideologie der "Volksgemeinschaft". zahlencodes | Intern bekennen sich Neonazis zu ihrer Ideologie, indem sie zum Beispiel nationalsozialistische Grußformeln ("Sieg Heil", "Heil Hitler") verwenden und den "Hitler-Geburtstag" feiern. Nach außen bekennen sich Neonazis wegen der Strafbarkeit eher in verklausulierter Form zum Nationalsozialismus, etwa in der Form der Selbstbezeichnung von Gruppierungen. So stand etwa bei dem 2015 durch das Hessische Ministerium des Innern und für Sport verbotenen Verein Sturm 18 e. V. die Zahl 18 für den ersten und achten Buchstaben im Alphabet (AH), also für Adolf Hitler. Entsprechend steht 88 für "Heil Hitler". kampf gegen das "System" | An die Stelle der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wollen Neonazis einen autoritären Führerstaat sowie eine ethnisch einheitliche "Volksgemeinschaft" setzen. Unsere freiheitliche Demokratie bezeichnen Neonazis als "System", das es abzuschaffen gelte. Bereits die Nationalsozialisten hatten die Weimarer Republik (1918-1933) mit dieser Bezeichnung diffamiert. Der Aufruf zum Kampf gegen das "System" ist ein Grundpfeiler neonazistischer Propaganda. Zielgruppe sind vor allem junge Menschen, die früh an die neonazistische Szene herangeführt und an sie gebunden werden sollen. StRuktuRen die neonazi-Szene befand sich auch im Berichtsjahr in einem fortlaufenden wandel. Sowohl im Hinblick auf Gruppierungen als auch auf Szeneangehörige gab es eine stetige Fluktuation. In der Vergangenheit wurden Gruppierungen verboten, während andere ihre aktivitäten einstellten. charakteristisch für die neonazistische Szene in Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 79 RECHTSEXTREMISMUS Hessen war ihre hessenweite überregionale Vernetzung. darüber hinaus fungierten einzelne neonazis aufgrund ihrer umfassenden Vernetzung als Bindeglied zu der bundesweiten neonazistischen Szene. AUF EINEN BLICK * Verbot strukturierter neonazistischer Personenzusammenschlüsse * Jüngste Verbote Verbot strukturierter neonazistischer Personenzusammenschlüsse | Wie in der Vergangenheit bereits praktiziert, wirkt das LfV im Rahmen von gegen neonazistische Organisationen initiierte Verbotsverfahren aktiv mit, indem es der zuständigen Verbotsbehörde Erkenntnisse zur Verfügung stellt. Jüngste Verbote | Zu strukturierten und verbotenen Personenzusammenschlüssen zählten in der Vergangenheit unter anderem die am 21. September 2011 vom Bundesminister des Innern verbotene Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V. (HNG) sowie der am 27. Oktober 2015 verbotene Sturm 18 e. V. Gleichfalls verbot der Bundesminister des Innern am 16. März 2016 die neonazistische Weisse Wölfe Terrorcrew, da sie offen und aggressiv gegen Staat, Gesellschaft, Migranten und Andersdenkende agierte, sich durch ein erhebliches Maß an Gewaltbereitschaft auszeichnete und eine fremdenfeindliche und menschenverachtende Ideologie verbreitete. Am 23. Januar 2020 verbot der Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat die Gruppierung C 18 Deutschland, die auch Personenbezüge nach Hessen aufwies. BeweRtunG/auSBLIck Nach wie vor versuchten neonazistische Gruppierungen, sich im rechtsextremistischen Spektrum zu vernetzen und durch die Erweiterung ihres Kontaktumfelds Synergieeffekte zu schaffen. Dabei werden das Internet und verschiedene Messenger-Dienste auch in Zukunft als bevorzugtes Mittel für die Vernetzung dienen. Gleiches gilt für die Verbreitung fremdenfeindlicher Propaganda, die ebenfalls eine verbindende Wirkung auf die Szene entfaltet. Wie anhand der im Verhältnis zum Berichtsjahr 2018 gestiegenen Gewalttaten ersichtlich, ist außerdem die weiterhin hohe Gewaltbereitschaft hervorzuheben, die weite Teile der neonazistischen Szene neben ihrer Ideologie eint. Gerade vor dem Hintergrund der rechtsextremistischen Gewalttaten im Berichtsjahr 2019 wird das LfV auch in Zukunft neonazistische Gruppierungen und Einzelpersonen intensiv beobachten. 80 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS Subkulturell orientierte Rechtsextremisten - rechtsextremistische Musik DEFINITION/KERNDATEN weitgehende organisationslosigkeit ist kennzeichnend für Aktivisten /Anhänger: subkulturell orientierte Rechtsextremisten. Hinzu kommt eine In Hessen etwa 450 in der Regel nur oberflächliche weltanschauliche Prägung, verbunden mit rassistischem, antisemitischem und ausländerfeindlichem Musikgruppen in Hessen: Gedankengut. Für diese oftmals in informellen lokalen oder regioFaust und Nordglanz (National nalen Gruppen zusammengeschlossenen Rechtsextremisten stehen Socialist Black Metal, NSBM) erlebnisorientierte aktivitäten in der Regel im Vordergrund. dabei spielt der Besuch rechtsextremistischer Musikveranstaltungen eine / herausgehobene Rolle. Im unterschied zu angehörigen der früheren rechtsextremistischen Skinheadszene sind subkulturell orientierte Rechtsextremisten heutzutage fast nicht mehr anhand eines einheitlichen erscheinungsbilds erkennbar. eReIGnISSe/entwIckLunGen Soweit rechtlich möglich, unterbinden die Sicherheitsbehörden und die kommunalen Behörden rechtsextremistische Musikveranstaltungen in Hessen. trotz dieser restriktiven Vorgehensweise fanden im Berichtsjahr in Hessen vier rechtsextremistische Musikveranstaltungen statt. AUF EINEN BLICK * Liederabende * neujahrsempfang der nPd Liederabende | Am 9. Februar mieteten Rechtsextremisten eine Grillhütte in Mühltal (Landkreis Darmstadt-Dieburg), wobei der Anmelder vorgab, eine Familienfeier abhalten zu wollen. Tatsächlich handelte es sich um einen konspirativen Liederabend, bei dem ein in der Szene bekannter rechtsextremistischer Liedermacher auftreten sollte. Von der Polizei über den Hintergrund der Veranstaltung informiert, kündigte der Bürgermeister den Mietvertrag für die Grillhütte. Am 31. August sollte ein als Geburtstagsfeier getarnter "Balladenabend" mit der aus Niedersachsen stammenden rechtsextremistischen Musikgruppe Kategorie C - Hungrige Wölfe und dem rechtsextremistischen Liedermacher Reichstrunkenbold aus Hessen in einer Gaststätte in Wölfersheim (Wetteraukreis) stattfinden. Von der Polizei über den rechtsextremistischen Hintergrund informiert, kündigte der Vermieter der Gaststätte dem Veranstalter den zuvor mit ihm mündlich vereinbarten Mietvertrag. Die geplante Veranstaltung verlagerte sich sodann auf ein privates Gartengrundstück in HungenHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 81 RECHTSEXTREMISMUS Villingen (Landkreis Gießen), wo Kategorie C - Hungrige Wölfe schließlich spielte. Der ebenfalls angekündigte Liedermacher Reichstrunkenbold trat jedoch in einem anderen Rahmen auf. Im Rahmen ihrer Überwachungsund Kontrollmaßnahmen stellte die Polizei 40 bis 50 Personen als Teilnehmer fest. Darüber hinaus gab es im Berichtsjahr einen weiteren Liederabend im kleinen Kreis. neujahrsempfang der nPd | Nach den politischen Reden verschiedener NPD-Politiker beim Neujahrsempfang der Partei am 5. Januar in Büdingen (Wetteraukreis) spielten abends die rechtsextremistischen Musikgruppen Germanium (Baden-Württemberg), Oidoxie (Nordrhein-Westfalen) und Die Lunikoff-Verschwörung (Berlin) vor etwa 200 Zuhörern. Dabei zeigte ein Besucher den Hitler-Gruß. Als die Polizei den Rechtsextremisten in der Halle festnahm, versuchten Besucher ihn zu befreien. Es kam zu einer körperlichen Auseinandersetzung, wobei ein Polizist leicht verletzt wurde. Im Vorfeld der Veranstaltung hatte die Stadt Büdingen versucht, den Neujahrsempfang der NPD zu verhindern, da es sich nach Ansicht der Stadt wegen der angekündigten Musikgruppen um ein öffentliches Konzert handelte, das keinen Bezug zu der politischen Kundgebung in der Stadthalle aufwies. Die Stadt warf der NPD vor, sie über den wahren Charakter der Veranstaltung getäuscht zu haben und kündigte den Mietvertrag. In der sich anschließenden gerichtlichen Auseinandersetzung gab das Verwaltungsgericht (VG) Gießen der Stadt Recht. Der Verwaltungsgerichtshof revidierte diese Entscheidung und entschied, dass die Stadt Büdingen der NPD die Halle überlassen müsse. FunktIon RecHtSextReMIStIScHeR MuSIk Rechtsextremistische Musik spielt nach wie vor eine wichtige Rolle für die rechtsextremistische Szene und ist zugleich ein bedeutendes, jugendorientiertes Medium, um entsprechende Botschaften zu transportieren. Für die Sicherheitsbehörden ist die intensive Beobachtung der rechtsextremistischen Musikszene obligatorisch, um Inhalte auf strafrechtliche Relevanz zu prüfen und gegebenenfalls einer strafrechtlichen Verfolgung zuzuführen. 82 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS AUF EINEN BLICK * Niedrige Hürde für den Einstieg in den Rechtsextremismus * Diffuse rechtsextremistische Einstellungen * Musikveranstaltungen - Musik im Internet Niedrige Hürde für den Einstieg in den Rechtsextremismus | Oft stehen zunächst nicht rechtsextremistische Inhalte im Vordergrund des Musikerlebnisses, sondern für die Hörer einprägsame Melodien und einfache Rhythmen. Die Hürde für den Einstieg in den Rechtsextremismus ist niedrig, da Musik nahezu jederzeit und überall konsumierbar ist. Die Musik dient der Selbstdarstellung und der szeneinternen Kommunikation über "Werte" und Feindbilder und ist Ausdruck eines subkulturellen Zusammengehörigkeitsgefühls. Dabei wirkt der Konsum von rechtsextremistischer Musik oft als Katalysator von Gefühlen und Aggressionen. Besonders in Verbindung mit Alkohol kann dies zu Gewaltausbrüchen führen. Diffuse rechtsextremistische Einstellungen | Subkulturell orientierte Rechtsextremisten sind gekennzeichnet durch eher diffuse rechtsextremistische Einstellungen, die sich an das Gedankengut von Neonazis anlehnen. Eine vertiefte "weltanschauliche" und politische Auseinandersetzung findet dabei nicht statt. Im Vordergrund steht eine erlebnisund aktionsorientierte Lebensgestaltung vor allem in Form des Konsumierens von Musik. Musikveranstaltungen - Musik im Internet | Musikveranstaltungen spielen für subkulturell orientierte Rechtsextremisten eine wichtige Rolle. In der eher strukturlosen Szene sind Musikveranstaltungen identitätsstiftende Ereignisse und dienen der Kommunikation und Vernetzung. Zudem üben die in der Regel konspirativ organisierten Veranstaltungen gerade auf junge Rechtsextremisten eine große Faszination aus. Eine wachsende Bedeutung haben für subkulturell orientierte Rechtsextremisten, Neonazis und rechtsextremistische Parteien auch Liederabende. Auftritte überwiegend einzelner rechtsextremistischer Interpreten dienen als Treffpunkt und Plattform, wobei politische Botschaften über die Liedtexte mit Zwischenmoderationen verknüpft und zur Anwerbung potenzieller Interessenten genutzt werden. Rechtsextremistische Musik wird auch über das Internet verbreitet. So findet man auf YouTube rechtsextremistische Videos wie etwa der rechtsextremistischen Hooligan-Band Kategorie C - Hungrige Wölfe mit gewaltverherrlichenden Texten. Auch von der Band Faust aus Hessen werden Musikvideos auf YouTube verbreitet. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 83 RECHTSEXTREMISMUS BeweRtunG/auSBLIck Bundesweit sowie im europäischen Ausland durchgeführte größere Konzerte mit unter Rechtsextremisten bekannten Bands stießen nach wie vor auf breite Resonanz in der Szene. Zugleich bestätigte sich im Berichtszeitraum die bereits in der Vergangenheit prognostizierte Tendenz, dass eine Verlagerung der Musikveranstaltungen hin zu Liederabenden, zumeist verbunden mit politischen Redebeiträgen, stattfand. Unabhängig von der Form der Musikveranstaltungen bleibt die hohe Gefahr, die von rechtsextremistischer Musik ausgeht, bestehen. Der Besuch solcher "Events" dient vielfach als Einstieg in den Rechtsextremismus, da hierbei entsprechende Inhalte und vor allem Teile der neonazistischen Ideologie insbesondere jugendlichen Neueinsteigern auf eingängige Art und Weise vermittelt werden. Aufgrund der hieraus für Jugendliche resultierenden Gefahren bildet die Szene der subkulturell orientierten Rechtsextremisten und Neonazis ein wichtiges Beobachtungsfeld des Verfassungsschutzes in Hessen. Unter voller Ausschöpfung der rechtlichen Möglichkeiten unterbinden die hessischen Sicherheitsbehörden konsequent rechtsextremistische Musikveranstaltungen. Mit jeder verhinderten Veranstaltung verliert die rechtsextremistische Szene eine zentrale Anlaufstelle und ein wichtiges Bindeglied zu Jugendlichen, die noch außerhalb des Rechtsextremismus stehen. Rechtsextremistische kampfsportveranstaltungen während in den 1990er Jahren Rockkonzerte und das gewaltaffine Spektrum der Fußballfans die rechtsextremistische erlebniswelt dominierten, nimmt mittlerweile der kampfsport in der Szene eine zentrale Rolle im Bereich des gewaltund erlebnisorientierten Rechtsextremismus ein. zu beobachten ist eine rapide zunehmende Professionalisierung, kommerzialisierung sowie eine organisatorische Routine. AUF EINEN BLICK * Boxen, kickboxen und Mixed-Martial-arts (MMa) * "Volksgesundheit" und "nS-Straight-edge" * kampfsportveranstaltungen * Bewertung/ausblick Boxen, kickboxen und Mixed-Martial-arts (MMa) | Bei rechtsextremistischen Kampfsportveranstaltungen erfreuen sich vor allem Boxen, Kickboxen und MMA großer Beliebtheit. Insbesondere MMA vereint 84 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS Standund Bodenkampf sowie verschiedene Schlag-, Trittund Hebeltechniken zu einem schnellen und brutalen Konzept, das den Anforderungen des waffenlosen Straßenkampfs am ehesten entspricht. Die rechtsextremistische Szene praktiziert, ungeachtet der zunehmenden Betonung des Fitnesscharakters von Kampfsportveranstaltungen, die klassische Rohversion mit Vollkontakt, was dem rechtsextremistischen kriegerischen Selbstbildnis und den allgemeinen Anforderungen an die "Wehrkraft des Volkskörpers" gerecht werden soll. "Volksgesundheit" und "nS-Straight-edge" | Propagiert wird eine mystische Pflicht, die "Volksgesundheit" und die "Wehrhaftigkeit" hochzuhalten und einen "neuen Menschenschlag" zu schaffen, der stark an das im Nationalsozialismus propagierte Ideal des "Herrenmenschen" angelehnt ist. Eine wesentliche ideologische Komponente ist der "Straight-Edge"-Gedanke, der aus der Punk-Szene der 1980er Jahre stammt. Er sollte eine Gegenbewegung zu den ausufernden Alkoholund Drogenexzessen der Jugendkultur etablieren, wobei es im Kern um den Verzicht auf Alkohol und Drogen, gesunde Ernährung bis hin zum Veganismus und sexuelle Enthaltsamkeit ging. Durch die rechtsextremistische Szene erlebt diese Strömung eine gewaltbetonte und rassistische Renaissance als "NS-Straight-Edge". Ein wiederkehrendes Motto der Szene ist in logischer Konsequenz der "Kampf gegen die Moderne", die als Sinnbild von Dekadenz und Verweichlichung strikt abgelehnt wird. Den angeblichen Verfall der Gesellschaft setzt die Szene mit der von ihr als eine solche empfundene Erosion der "Volksgesundheit" gleich. Auffallend ist dabei der enge Schulterschluss mit Gruppen aus anderen europäischen Staaten, insbesondere aus dem osteuropäischen Raum. Die gemeinsame Sache ist hier weniger die Nation als die ethnische Zugehörigkeit zur "weißen Rasse", die es zu verteidigen gilt. Die kollektive transnationale Identität der rechtsextremistischen Kampfsportszene besteht demnach aus zwei Komponenten: aus der "Rassezugehörigkeit" ("weiß") und der Kulturzugehörigkeit ("abendländisch"). kampfsportveranstaltungen | Forum und Fixpunkt der rechtsextremistischen Kampfsportszene sind Wettkampfveranstaltungen, die einer stetigen Professionalisierung und Kommerzialisierung unterliegen, einhergehend mit daraus resultierenden steigenden Zuschauerzahlen. Die Kampfsportveranstaltungen, auf denen sich rechtsextremistische Kampfsportler aus dem Inund Ausland regelmäßig zusammenfinden, dienen als Rekrutierungsund Vernetzungsplattformen sowie der Finanzierung der rechtsextremistischen Szene. Haupteinnahmequelle ist neben dem Verkauf von Tickets für die jeweilige Veranstaltung ein breites Angebot an Merchandising-Artikeln szenetypischer (Mode-)Labels. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 85 RECHTSEXTREMISMUS In Hessen fanden im Berichtsjahr keine rechtsextremistischen Kampfsportveranstaltungen statt. Prominente Beispiele für derartige Veranstaltungen waren im Berichtszeitraum der behördlich untersagte "Kampf der Nibelungen" - geplant für den 12. Oktober in Ostritz (Sachsen) - sowie "TIWAZ - Kampf der freien Männer" am 8. Juni in Zwickau (Sachsen). Bewertung/ausblick | Durch die zunehmend professioneller ausgerichteten Veranstaltungen und die geschickte Selbstinszenierung in den sozialen Netzwerken hat sich der Kampfsport in der erlebnisorientierten rechtsextremistischen Szene neben der Musikkultur zu einem bedeutenden Faktor in der Lebensgestaltung entwickelt. Durch die Verknüpfung von Gewaltästhetik und Körperkult mit dem "Straight-Edge"-Gedanken und Symbolen eines "modernisierten" Rechtsextremismus wird der durch den Nationalsozialismus glorifizierten Kriegerideologie eine neue Bedeutung gegeben. Aufgrund des bisherigen großen Erfolgs in der rechtsextremistischen Szene ist trotz intensivierter behördlicher Maßnahmen künftig mit weiteren Kampfsport-"Events" zu rechnen. PaRteIGeBundene StRuktuRen Bzw. PaRteIen der Flügel DEFINITION/KERNDATEN das BfV erklärte am 15. Januar 2019, dass es den Flügel als teilorganisation der Partei afd als Verdachtsfall bewertet und Personenpotenzial: In Hessen bis zu 600, bundessystematisch beobachtet. die Gesamtpartei afd wird bislang nicht weit bis zu 7.000 Personen als rechtsextremistisch bewertet und somit auch nicht beobachtet. die Bearbeitung einer Gruppierung als Verdachtsfall seitens des BfV Führungspersonen: entspricht der Bearbeitung einer Gruppierung als BeobachtungsBjörn Höcke (Thüringen), Andreas Kalbitz (Brandenburg) objekt durch das LfV Hessen. das BfV stufte den Flügel auf der Grundlage eines Gutachtens als Verdachtsfall ein, das entspreMedien: chende programmatische äußerungen des Flügels als gegen weInternetpräsenzen sentliche elemente der freiheitlichen demokratischen Grundord- \ nung gerichtet bewertete: gegen die Menschenwürde, gegen das demokratieprinzip und gegen die Rechtsstaatlichkeit. das LfV Hessen schloss sich gemäß der zusammenarbeitsrichtlinie des Verfassungsschutzverbundes am 31. Januar 2019 der Beobachtung des Flügels an. 86 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS eReIGnISSe/entwIckLunGen In seiner außenwirkung war der Flügel in Hessen aufgrund seiner nur gering ausgeprägten Strukturen und aufgrund fehlender Präsenzen in den sozialen Medien stark begrenzt. Veranstaltungen, die explizit dem Flügel zuzurechnen sind, wurden im Berichtszeitraum in Hessen nicht festgestellt. Jedoch beteiligten sich hiesige Mitglieder des Flügels an entsprechenden überregionalen Veranstaltungen oder nahmen an Veranstaltungen der Jungen alternative (Ja) Hessen teil. AUF EINEN BLICK * "kyffhäusertreffen" 2019 * Stammtisch der Ja Hessen * Landtagswahlen in Brandenburg und thüringen * wahl des Bundesvorstands "kyffhäusertreffen" 2019 | Obwohl das fünfte "Kyffhäusertreffen" am 6. Juli in Leinefeld (Thüringen) angesichts der im Berichtsjahr anstehenden Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen unter dem Motto "Der Osten steht auf" stand, gilt es generell als das überregional bedeutsamste Zusammentreffen von Flügel-Anhängern. Daran nahmen auch die zentralen Protagonisten des Flügels, Björn Höcke und Andreas Kalbitz, teil. Mitglieder des Flügels aus Hessen beteiligten sich aktiv an der Veranstaltung. Stammtisch der Ja Hessen | Am 24. April nahm ein Mitglied des Europäischen Parlaments an einem von der JA Hessen veranstalteten Stammtisch in Wiesbaden teil. Nach Aussagen des Landesvorsitzenden der AfD Hessen handelte es sich um die Obfrau des Flügels Hessen. Landtagswahlen in Brandenburg und thüringen | Bei den Landtagswahlen in Thüringen und Brandenburg erhielten die Flügel-dominierten AfD-Landesverbände Brandenburg und Thüringen, jeweils unter der Führung von Kalbitz und Höcke, 23,5% (= 297.484 Zweitstimmen) bzw. 23,4% (= 259.382 Zweitstimmen). wahl des Bundesvorstands | Im Rahmen des Bundesparteitags der AfD in Braunschweig (Niedersachsen) vom 30. November bis zum 1. Dezember wurde der Bundesvorstand neu gewählt. Laut Medienberichterstattung zeigte die Zusammensetzung des neuen Vorstands den ungebrochenen Einfluss des Flügels auf die Gesamtpartei. Während dezidierte Kritiker des Flügels aboder nicht gewählt wurden, gelang es den Vertretern des Flügels ihre Positionen zu festigen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 87 RECHTSEXTREMISMUS entSteHunG/GeScHIcHte In einer Selbstbezeichnung des Flügels hieß es, dass er ein "zentral organisierter, loser Verbund von Mitgliedern der alternative für deutschland im gesamten Bundesgebiet" ist. eine formale Mitgliedschaft ist nicht möglich, vielmehr versteht sich der Flügel als eine Sammlungsbewegung innerhalb der afd. als "Gründungsurkunde des Flügels" gilt die "erfurter Resolution" (2015). Mit den seit jenem Jahr veranstalteten sogenannten kyffhäusertreffen verfügte der Flügel über ein überregionales Veranstaltungsformat, das dem gegenseitigen Informationsaustausch, der netzwerkbildung und der eigenen Selbstinszenierung diente. AUF EINEN BLICK * "Gründungsurkunde des Flügels" * "kyffhäusertreffen" "Gründungsurkunde des Flügels" | Die am 14. März 2015 unter anderem von Björn Höcke initiierte "Erfurter Resolution" gilt als "Gründungsurkunde des Flügels", so die Selbstbeschreibung auf der Homepage des Flügels. Die Unterzeichner der "Erfurter Resolution" wandten sich mit diesem Dokument gegen eine Anpassung der AfD an den "etablierten Politikbetrieb". Stattdessen müsse die Partei, so die Forderung, eine "Widerstandsbewegung gegen die weitere Aushöhlung der Identität Deutschlands" bleiben und eine "grundsätzliche, patriotische und demokratische Alternative zu den etablierten Parteien" sowie eine "Bewegung unseres Volkes" gegen "Gesellschaftsexperimente" darstellen. Nach Angaben der Internetseite des Flügels unterzeichneten innerhalb einer Woche 1.600 AfD-Mitglieder die Resolution. "kyffhäusertreffen" | Ebenfalls seit 2015 veranstaltete der Flügel ein jährlich stattfindendes, überregionales Treffen, das als "Kyffhäusertreffen" bekannt wurde. In dessen Rahmen inszenierten sich der Flügel und seine Führungsakteure als bedeutsamste Gruppierung innerhalb der Gesamtpartei AfD. Das Ziel des "Kyffhäusertreffens" wurde auf der Homepage des Flügels wie folgt beschrieben: "Wir als Der Flügel und Unterzeichner der Erfurter Resolution treffen uns einmal im Jahr, bisher am Fuße des Kyffhäuserdenkmals [1896 zu Ehren Kaiser Wilhelms I., 1797-1888, eingeweiht], um uns daran zu erinnern, wer wir sind und wo wir herkommen. Der Flügel als Rückversicherung innerhalb der AfD ist ein Garant für den Zusammenhalt". Laut Presseberichterstattung nahmen am "Kyffhäusertreffen" rund 800 Personen teil. 88 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS IdeoLoGIe/zIeLe der Flügel vertritt rassistische und völkische Positionen mit dem ziel, diese im parlamentarischen diskurs mehrheitsfähig zu machen. dazu sollte der steuernde einfluss des Flügels auf die Gesamtpartei ausgebaut und genutzt werden. der Flügel ist in seiner programmatischen ausrichtung als antipluralistisch, rassistisch und undemokratisch sowie gegen die würde des einzelnen Menschen gerichtet anzusehen. AUF EINEN BLICK * "ethnisch deutsche" als träger des "deutschtums" * Relativierung des nationalsozialismus - latenter antisemitismus * Seit 1919: der "weg in eine Bolschewisierung" "ethnisch deutsche" als träger des "deutschtums" | Ursprung der ideologischen Ausrichtung des Flügels bildet ein Politikkonzept, das primär auf das Ausgrenzen, Verächtlichmachen und das weitgehend Rechtslosstellen von Ausländern, Migranten - insbesondere Muslimen - und politisch Andersdenkenden gerichtet ist. Im Zentrum steht dabei das Postulat eines ethnokulturell homogenen Staatsvolks, das der Flügel und seine Anhänger als höchsten "Wert" ansehen. In der Vorstellungswelt des Flügels bemisst sich der Wert eines Menschen aufgrund dessen Zugehörigkeit zu einer angeblich ethnischen Volksgruppe. Dabei wertschätzt der Flügel den einzelnen "ethnisch Deutschen" als Träger des "Deutschtums", während er sogenannte kulturfremde Menschen als nicht integrierbar darstellt. Außerdem bezog der Flügel flüchtlingsund muslimfeindliche Positionen, womit er unter anderem die Staatsbürgerschaft von Deutschen mit muslimischem Glauben in Frage stellt. Relativierung des nationalsozialismus - latenter antisemitismus | Nicht zuletzt propagieren einzelne Vertreter des Flügels Positionen, in denen der Nationalsozialismus relativiert bzw. verharmlost wird, und vertreten einen latenten Antisemitismus, der offen an rassistische Ideologeme des Nationalsozialismus anknüpft. Nicht selten wird hierzu auf das gängige antisemitisch-verschwörungstheoretische Narrativ einer global agierenden Finanzelite zurückgegriffen, welche die politisch Verantwortlichen in ihrem Handeln lenke und eine Agenda zur Zerstörung gewachsener, ethnisch homogener Völker verfolge. Seit 1919: der "weg in eine Bolschewisierung" | Beispielhaft wird das ideologische Selbstverständnis des Flügels im Rahmen seiner proHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 89 RECHTSEXTREMISMUS grammatischen Veröffentlichungen auf seiner Internetseite, der sogenannten Flügelschläge, sichtbar: "Die Kulturen der Europäer, das Band der christlich-ethischen Grundwerte, wurden zerstört. Es dominierte eine Ideologie, die bereits 1919 den Weg in eine Bolschewisierung vorgab. Die dahinterstehenden Kräfte waren sich in dem Ziel einig, die Weltherrschaft über eine entkultivierte Menschheit übernehmen zu können. In Deutschland waren sie als die Kräfte der 68er, der Frankfurter Schule[,] stark geworden. Sie traten zum Kampf gegen Rechts an und meinten die patriotischen Gefühle der Menschen. Das Ziel war die Entnationalisierung. Es sind politische Führungskräfte der Bundesrepublik aus dieser menschenfeindlichen Szene, die Deutschland unwidersprochen in Demonstrationen ,Deutschland verrecke' skandieren können. Ihr Auftreten entspricht den Absichten der hinter ihnen stehenden Macht". Die Wirkungsmacht des Flügels ist in die AfD hinein gerichtet. Zielsetzung des Flügels ist es, die Kontrolle über die Schlüsselpositionen in der Gesamtpartei zu erlangen, um die inhaltliche Ausrichtung der AfD hinsichtlich der eigenen programmatischen Vorstellungen zu beeinflussen. Dabei sieht sich der Flügel selbst als "Rückversicherung" für die Gesamtpartei, durch die eine politische und inhaltliche Assimilation der AfD durch die "etablierten" Parteien verhindert werden soll. StRuktuRen Beim Flügel handelte es sich um die größte teilorganisation innerhalb der Gesamtpartei afd als "zentral organisierter, loser Verbund" von Mitgliedern der afd im gesamten Bundesgebiet. die organisation und damit auch die inhaltliche ausrichtung des Flügels wurden dabei "maßgeblich vom kreisverband nordhausen-eichsfeldMühlhausen" (thüringen) getragen. der Vorsitzende dieses afdkreisverbands, Björn Höcke, fungierte zugleich als die zentrale Führungsfigur des Flügels. AUF EINEN BLICK * Herausbildung regionaler Strukturen * "Flügelabzeichen" und "Flügelversand" * Personenpotenzial Herausbildung regionaler Strukturen | Gemäß seinem Selbstverständnis und seiner Selbstbeschreibung handelte es sich beim Flügel um eine Gruppierung, in deren Kern nur wenige Einzelpersonen als führende Akteure agierten. Eine formale Mitgliedschaft im Flügel war 90 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS nicht möglich, da der Flügel keine formellen Organisationsstrukturen unterhielt. Um dem Anspruch einer bundesweiten Vereinigung gerecht zu werden, etablierte der Flügel ein System aus regionalen Flügeltreffen und Obleuten - parallel zur Parteistruktur der AfD - in den Bundesländern. Während die vom Flügel organisierten Flügeltreffen als eine Art Parallelparteitag zu sehen sind, fungierten die Obmänner und Obfrauen als regionale Ansprechpartner und Interessenvertreter des Flügels. "Flügelabzeichen" und "Flügelversand" | Zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls innerhalb des Flügels wurde eine Auszeichnung mit Verdienstorden ("Flügelabzeichen" in Schwarz, Silber und Gold für besondere Dienste um den Flügel) geschaffen. Daneben betrieb der Flügel mit dem "Flügelversand" einen eigenen Onlineshop, in dem verschiedene Artikel mit dem "Flügelwappen" sowie dem Konterfei Björn Höckes vertrieben wurden. Personenpotenzial | Das dem Flügel zurechenbare Personenpotenzial wurde von Führungspersonen der Gesamtpartei - sowohl dem Flügel nahestehende als auch aus anderen innerparteilichen Strömungen - auf 20 bis 40 Prozent der Mitglieder der Gesamtpartei geschätzt. Nimmt man die untere Grenze dieser Schätzungen als Anhaltspunkt, ergibt sich für Hessen ein Personenpotenzial von bis zu 600 Personen, das dem Flügel zugerechnet werden kann. BEWERTUNG/AUSBLICK Der Flügel konnte im Berichtsjahr seine innerparteiliche Position weiter konsolidieren sowie seine Stellung als größte Teilorganisation innerhalb der Gesamtpartei und damit seine Funktion für die politische Ausrichtung der AfD festigen. Zudem professionalisierte sich der Flügel in seiner Tätigkeit und trieb seine organisatorische Weiterentwicklung voran: So gelang es im Rahmen des Bundesparteitags, eigene Vertreter im Bundesvorstand zu positionieren und Kritiker des Flügels zu verdrängen. Ideologisch verstetigten sich die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Positionen, wobei Protagonisten rechtsextremistischer Bestrebungen zunehmend Bedeutung gewannen. Dabei agierten vor allem die zentralen Führungspersonen des Flügels, Björn Höcke und Andreas Kalbitz, als Multiplikatoren von rechtsextremistischen Positionen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und deren Grundmerkmale wie Menschenwürde und Demokratieund Rechtsstaatsprinzip. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 91 RECHTSEXTREMISMUS Junge alternative (Ja) DEFINITION/KERNDATEN das BfV erklärte am 15. Januar 2019, dass es die Ja, die Bundesvorsitzender: Damian Lohr (Rheinland-Pfalz) Jugendorganisation der afd, als Verdachtsfall bewertet und systematisch beobachtet. die Gesamtpartei afd wird bislang nicht als Landesvorsitzende: rechtsextremistisch bewertet und somit auch nicht beobachtet. die Jens Mierdel Bearbeitung einer Gruppierung durch das BfV als Verdachtsfall entMichael Werl spricht der Bearbeitung einer Gruppierung als Beobachtungsobjekt Mitglieder: durch das LfV. die einstufung der Ja als Verdachtsfall durch das BfV In Hessen etwa 50, bundesweit geschah auf der Grundlage einer gutachterlichen Bewertung von etwa 1.600 programmatischen äußerungen der Ja, die gegen wesentliche ele- \ mente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet sind: Menschenwürde, demokratieprinzip und Rechtsstaatlichkeit. das LfV schloss sich gemäß der zusammenarbeitsrichtlinie des Verfassungsschutzverbundes am 31. Januar 2019 der Beobachtung der Ja an. eReIGnISSe/entwIckLunGen In ihrer faktischen außenwirkung war die Ja Hessen aufgrund gering ausgeprägter Strukturen und einer nur rudimentären außenkommunikation begrenzt. der Ja Hessen explizit zuzurechnende öffentliche Veranstaltungen waren selten. In den sozialen Medien warb die Ja Hessen zwar damit, dass einmal im Monat auf Landesebene ein wechselnder Regionalstammtisch sowie mehrere Veranstaltungen wie Vorträge und Besichtigungen stattfinden würden, jedoch wurde im Berichtszeitraum nur ein Stammtisch festgestellt, für den die Ja Hessen geworben hatte. Häufiger dagegen waren einzelne aktivisten der Ja Hessen im Rahmen von Veranstaltungen der Gesamtpartei oder Veranstaltungen des Flügels, wie dem "kyffhäusertreffen" 2019, tätig. AUF EINEN BLICK * keine Selbstauflösung * Reaktion auf die einstufung als Verdachtsfall des BfV * "Rebranding" der Ja Hessen * Stammtisch in wiesbaden * Mitgliederversammlung "Bildung durch Gemeinschaft" keine Selbstauflösung | Angesichts der im Jahr 2018 begonnenen Beobachtung mehrerer Landesverbände der JA durch die Verfassungsschutzbehörden erwog die Gesamtpartei, der JA oder einzelnen Landesverbänden den Status als offizielle Jugendorganisation der AfD zu entziehen. Der Landesvorstand der JA Hessen hatte vor diesem Hintergrund zunächst angekündigt, Anfang 2019 im Rahmen 92 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS eines Landeskongresses über die Selbstauflösung des Landesverbands abstimmen lassen zu wollen. Am 26. Januar berichtete die JA Hessen jedoch, dass ein diesbezüglicher Tagesordnungspunkt durch den am gleichen Tag in Bad Homburg vor der Höhe (Hochtaunuskreis) stattfindenden ordentlichen Landeskongress der JA Hessen einstimmig gestrichen worden sei. Bereits im Vorfeld hatte der damalige Landesvorsitzende der JA Hessen erklärt, dass die "wesentliche Grundlage" für einen solchen Schritt, "nämlich die massive Ablehnung der JA durch den AfD-Landesvorstand, nun nicht mehr vorliegt." Reaktion auf die einstufung als Verdachtsfall des BfV | Die JA Hessen reagierte auf die Bewertung des BfV in einem umfassenden Facebook-Beitrag vom 17. Januar. Darin räumte sie zunächst ein, dass man berechtigte Kritik, insbesondere an den "vergangenen Bundeskongressen" und "Teilen des 'Deutschlandplanes'" üben könne. Die Bewertung des BfV basiere jedoch auf "völlig unverständliche[n] Vorwürfe[n]", die "im Stile unsere[r] politischen Gegner erhoben" worden seien. Als Beispiele führte die JA Hessen an, dass es in der JA einen Konsens darüber gebe, dass "andere Ethnien nicht integrierbar" seien, die JA ein "ethnisch homogenes Deutschland" wolle und zudem "geschlossen die Menschenwürde" ablehne. Das Vorgehen des Verfassungsschutzes sei daher als Versuch zu werten, "political correct[n]ess durchzusetzen und die Meinungsfreiheit einzuschränken". Zudem führt die JA Hessen aus: "Wer behauptet, dass der Islam ein Gewaltproblem habe, dass eine Islamisierung statfände (die z. B. vom PEW-Institut in Washington klar vorausgesagt wird) oder davor warnt, dass wir Deutsche in Zukunft zur Minderheit im eigenen Land werden könnten, der ist offenbar nach den Maßstäben des Verfassungsschutzes bereits ein Verfassungsfeind". (Schreibweise wie im Original.) Der Landesvorstand der JA Hessen stehe, so hieß es in der Erklärung weiterhin, "fest auf dem Boden der FDGO". "Rebranding" der Ja Hessen | Im Februar versuchte sich die JA im Rahmen eines umfassenden "Rebranding" in einem neuen, positiven Licht darzustellen und in ihrer Außendarstellung ein bürgerliches Image zu etablieren. So veröffentlichte die JA Hessen im Berichtsjahr auch eine von den zehn Mitgliedern des Landesvorstands unterzeichnete "Grundsatzerklärung der Jungen Alternative Hessen". Darin bekannte sich der Landesvorstand der JA Hessen "uneingeschränkt" zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung und erteilte eine "klare Absage" an jene extremistischen Gruppierungen und Organisationen, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 93 RECHTSEXTREMISMUS "welche auf der Unvereinbarkeitsliste der AfD stehen, den Unvereinbarkeitsbeschluss der JA tangieren oder sich im Widerspruch zu unseren Organisationstatuten befinden. Hierbei ist explizit die Identitäre Bewegung zu nennen!" Kurz zuvor waren jedoch Bezüge von mehreren Mitgliedern des am 26. Januar neugewählten Landesvorstands der JA Hessen zur IB in den Medien öffentlich geworden. Zudem wurde Mitte Februar bekannt, dass ein Mitglied des Landesvorstands der JA Hessen in einer internen Chatgruppe unter anderem die Todesstrafe für Politiker, "die ihr Volk verraten", gefordert und verlangt habe, Frauen das Wahlrecht zu entziehen. Die JA Hessen reagierte auf die öffentliche Berichterstattung erneut mit einer Stellungnahme auf ihrer Facebook-Seite, in der sie sich von den Aussagen des Landesvorstandsmitglieds distanzierte und erklärte, dass das Vorstandsmitglied von seinem Posten zurückund aus der JA Hessen ausgetreten sei. Stammtisch in wiesbaden | Am 24. Juli führte die JA Hessen gemäß eigener Berichterstattung einen Stammtisch in Wiesbaden durch, für den im Vorfeld in den durch die JA Hessen genutzten sozialen Medien geworben worden war. An der Veranstaltung nahm auch eine Abgeordnete des Europaparlaments teil, die nach Aussagen des Landesvorsitzenden der AfD Hessen als Obfrau des Flügels fungiere. Mitgliederversammlung "Bildung durch Gemeinschaft" | Am 4. Dezember berichtete die JA Hessen über eine Mitgliederversammlung. Themen der Veranstaltung waren "aktuelle Geschehnisse, die Entwicklung der JA und de[r] Sachstand bezüglich des 'Verfassungsschutzes'." IdeoLoGIe/zIeLe die Ja Hessen vertritt in ihrer Programmatik eine völkische Ideologie und ist aufgrund ihres weltbilds und personeller überschneidungen fest in die rechtsextremistische Szene in Hessen integriert. auch wenn die Ja dem Rechtsextremismus zuzurechnen ist, versucht sie nach außen in der Öffentlichkeit ein gemäßigtes und bürgerliches Image zu pflegen und somit eine anschlussfähigkeit für ihre rechtsextremistische Ideologie in der Gesellschaft zu erreichen. AUF EINEN BLICK * ethnisch homogener Volksbegriff * "Herangezüchtete neue Mehrheitsbevölkerung" * Verschwörungstheoretische argumentationsmuster ethnisch homogener Volksbegriff | Die JA propagiert einen ethnisch homogenen Volksbegriff, der mit der Würde des Menschen als dem obersten Wert der freiheitlichen demokratischen Grundordnung 94 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS nicht vereinbar ist. Wenn der ehemalige Vorsitzende der JA Hessen vom "langsame[n] Austausch der Deutschen durch muslimische Einwanderer" spricht und die Aussage tätigt, dass Politiker, die das "Volk, das sie finanziert, mit seinem Blut für ein wahnsinniges Bevölkerungsexperiment bezahlen lassen", eine Schande seien, handelt es sich hierbei um eine diffamierende und herabwürdigende Aussage gegenüber dem vermeintlichen Kollektiv der "muslimische[n] Einwanderer". Ebenso bemüht die JA Hessen das Narrativ eines ethnisch homogen deutschen Volks im Kontrast zu vermeintlich minderwertigen anderen Menschengruppen, wenn sie in ihrer Kommentierung des Statistischen Jahrbuchs Frankfurt am Main 2017 zwischen "Deutschen", "Passdeutschen" und Migranten differenziert. Durch die Unterscheidung zwischen "Deutschen" und "Passdeutschen" wird ein biologistisches auf rassistischem Grundgedanken fußendes Weltbild ersichtlich. "Herangezüchtete neue Mehrheitsbevölkerung" | Einher mit der Verwendung eines ethnisch homogenen Volksbegriffs geht bei der JA Hessen eine Herabwürdigung derjenigen Menschen, die ihrer Vorstellung nach nicht zu der Gruppe der "autochthonen Deutschen" gehören. Es wird diesen Teilen der Gesellschaft - im Sprachgebrauch der JA Hessen der "herangezüchteten neuen Mehrheitsbevölkerung" - die Fähigkeit oder der Wille zur Aufrechterhaltung und Einhaltung westlicher Grundwerte (wie dem Minderheitenschutz, der Religionsfreiheit und der Meinungsfreiheit) abgesprochen. Stattdessen attestiert die JA Hessen diesen Bevölkerungsgruppen generell eine "um sich greifende Eroberer-Mentalität" und lastet ihnen eine "gesundheitliche Gefährdung unserer Kinder" sowie eine Steigerung von Infektionskrankheiten an und befeuert die Sorge vor einem "wirtschaftlichen Niedergang". Verschwörungstheoretische argumentationsmuster | Die JA Hessen vertritt nicht nur ein rassistisches Weltbild, sie verbindet dieses zugleich mit verschwörungstheoretischen, von Rechtsextremisten genutzten Argumentationsmustern. Nach Ansicht der JA Hessen wird ein "Bevölkerungsaustausch" vorgenommen und es wird eine "neue herangezüchtete Mehrheitsbevölkerung" in Deutschland geben. Auf diese Weise versucht die JA Hessen eine Emotionalisierung des politischen Diskurses zu erreichen, in dem nicht länger das sachliche Argument zählt. Die Verschwörungstheorie des "Bevölkerungsaustauschs" oder des "Großen Austauschs" stellt ein zentrales Narrativ innerhalb des Spektrums der Neuen Rechten dar. Die Vermischung der vermeintlichen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 95 RECHTSEXTREMISMUS Ethnien und die fortwährende Veränderung von Gruppenidentitäten ist nach Ansicht neurechter Akteure keine genuine Folge der ständigen Veränderung der Welt und Gesellschaft, sondern ist auf einen Plan geheimer Eliten, den sogenannten Großen Austausch, zurückzuführen. Aus Sicht der Neuen Rechten ist damit die "Tendenz einer schrittweisen Verdrängung der einheimischen Bevölkerung zugunsten fremder und zumeist muslimischer Einwanderer" gemeint. Diese Veränderung geschehe nicht zufällig, sondern sei Teil eines aktiven Prozesses zur Zerstörung der Identitäten der Völker Europas. StRuktuRen Die 2013 in Darmstadt im Rahmen eines ersten Bundeskongresses gegründete JA bestand aus 15 Landesverbänden. In Hessen war die JA Hessen, die als Verein organisiert ist, die offizielle Jugendorganisation der AfD Hessen. Die JA Hessen setzte sich aus mehreren Kreisund Ortsverbänden zusammen, wies jedoch keine flächendeckenden Strukturen auf. Der Vorstand der JA Hessen setzte sich aus zehn Personen zusammen, wobei im Berichtszeitraum nicht alle Positionen besetzt waren. Zwei Personen des Landesvorstands der JA Hessen gehörten dem JA-Bundesvorstand an. BeweRtunG/auSBLIck Im Rahmen ihrer Außendarstellung versuchte die JA Hessen im Berichtszeitraum das Bild einer fest in der Mitte der Gesellschaft und auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung fußenden Parteijugend zu zeichnen, um damit ihre rassistischen Anschauungen im politischen Diskurs zu legitimieren. Dass es sich hierbei nur um eine Außendarstellung einer rechtsextremistischen Gruppierung handelt und nicht um eine tatsächliche Mäßigung, wird anhand der im Berichtsjahr bekanntgewordenen Verbindungen von mehreren Landesvorstandsmitgliedern zur IB aber auch an der Teilnahme von Mitgliedern der JA Hessen am "Kyffhäusertreffen" des Flügels deutlich. Das in der Grundsatzerklärung der JA Hessen enthaltene Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung und die Distanzierung gegenüber rechtsextremistischen Gruppierungen wie der IB sind daher als rein taktische Versuche der JA zu werten, sich weiterhin gesellschaftlich anschlussfähig zu halten. Für die Selbstdarstellung der JA stellte die Bewertung durch den Verfassungsschutz einen erheblichen Rückschlag dar, der auch durch ein umfassendes "Rebranding" nicht kompensiert werden konnte. Es ist weiterhin davon auszugehen, dass die JA Hessen versuchen wird, 96 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS völkische Ideologie durch eine bürgerliche Außendarstellung in der Gesellschaft als eine gemäßigte Attitüde zu verankern. nationaldemokratische Partei deutschlands (nPd) DEFINITION/KERNDATEN die nPd vertritt nationalistische, völkische und revisionistische Positionen. Insgesamt weist ihre Programmatik eine ideologische und sprachliche nähe zur nationalsozialistischen Logo der NPD deutschen arbeiterpartei (nSdaP) im "dritten Reich" auf. den verfassungsfeindlichen charakter der nPd stellte das Bundesverfassungsgericht in seinem urteil vom 17. Januar 2017 fest. Logo der JN während die nPd in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in bis zu sieben westdeutschen Landesparlamenten vertreten war, verlor sie in den folgenden Jahren an Bedeutung. Seit der wiedervereinigung Landesvorsitzender 1989/90 nahm ihre lokale und regionale Verankerung, vor allem in Daniel Lachmann damals wirtschaftlich schlechter gestellten Gebieten im osten Bundesvorsitzender: deutschlands, teilweise wieder zu. nachdem sie seit 2004 bzw. Frank Franz (Saarland) 2006 in den Landtagen von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern vertreten war, ist sie inzwischen in keinem LandesparlaMitglieder: In Hessen etwa 260, ment mehr präsent. bundesweit etwa 3.600 eReIGnISSe/entwIckLunGen Jugendorganisation: Junge Nationalisten (JN) die nPd in Hessen war wie in den Vorjahren nur eingeschränkt handlungsfähig. Sie war weiterhin nur in wenigen Regionen aktiv, Medien (Auswahl): trat dort aber öffentlich in erscheinung. agitationsschwerpunkte waDeutsche Stimme (DS), ren die themen "asylmissbrauch", "Flüchtlinge" und "Innere SicherInternetpräsenzen heit", mit denen die Partei bevorzugt im Internet und in sozialen netzwerken öffentlich ihre rechtsextremistische Ideologie ver- / breitete. Bei der europawahl erzielte die nPd in Hessen ein ergebnis von 0,2%. das der nPd Hessen zurechenbare Personenpotenzial blieb im Vergleich zum Vorjahr konstant. AUF EINEN BLICK * Jahresauftakt * europawahl * Stefan Jagsch - wahl und abwahl * kampagne "Schafft Schutzzonen!" * Bundesparteitag Jahresauftakt | Am 5. Januar führten die NPD und ihre Jugendorganisation Junge Nationalisten (JN) ihre Jahresauftaktveranstaltung in der Willi-Zinnkann-Halle in Büdingen (Wetteraukreis) unter dem Motto "Festung Europa - Schutzzone Deutschland" durch. GleichzeiHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 97 RECHTSEXTREMISMUS tig bildete der Neujahrsempfang den Auftakt für den Wahlkampf der NPD für die Wahl zum Europäischen Parlament am 26. Mai. Moderiert wurde die von etwa 150 Teilnehmern besuchte Veranstaltung von dem Chefredakteur der DS, Peter Schreiber, sowie von Vanessa Bredereck, Vorstandsmitglied des NPD-Landesverbands Nordrhein-Westfalen. Als Redner traten neben dem Bundesvorsitzenden Frank Franz und dem Spitzenkandidaten der NPD zur Europawahl, Udo Voigt, weitere parteiprominente Funktionäre auf. In einer Podiumsdiskussion mit dem Landesvorsitzenden der NPD Bayern, Sascha Roßmüller, vertrat der rechtsextremistische Autor Johannes Scharf das in seinem Buch "Der weiße Ethnostaat" beschriebene Konzept des "Nova Europa". Scharf verficht dabei die These, dass es zur Erhaltung der Kultur notwendig sei, über eine Auswanderung in "ethnisch weiße Länder" und die Schaffung von "Siedlungsprojekten" nachzudenken, um "Rückzugsräume" für die "weiße Population" zu erhalten. Im Anschluss an die Jahresauftaktveranstaltung fand in der Willi-Zinnkann-Halle eine Musikveranstaltung mit den szenebekannten rechtsextremistischen Bands Oidoxie, Die Lunikoff-Verschwörung und Germanium mit etwa 200 Zuhörern statt, für die bundesweit geworben worden war. Die Stadt Büdingen hatte zunächst versucht, die Überlassung der Stadthalle zurückzunehmen, da sie sich über die von der NPD gemachten Angaben zur abendlichen Musikveranstaltung getäuscht sah. Nachdem das VG in Gießen einen diesbezüglichen Eilantrag der NPD abgelehnt hatte, entschied der Verwaltungsgerichthof in Kassel letztinstanzlich zugunsten der NPD, sodass die Stadt der NPD die Willi-Zinnkann-Halle überlassen musste. Vor diesem Hintergrund beschloss die Büdinger Stadtverordnetenversammlung Ende Januar, die Willi-Zinnkann-Halle grundsätzlich nicht mehr für Veranstaltungen politischer Parteien zur Verfügung zu stellen. europawahl | Nach der Aufhebung der Drei-Prozent-Sperrklausel durch das Bundesverfassungsgericht war es der NPD bei der Europawahl 2014 gelungen, aufgrund ihres Ergebnis von 1,0% erstmals einen Abgeordneten in das Europäische Parlament zu entsenden. Erklärtes Ziel war es daher, auch 2019 wieder im Europaparlament vertreten zu sein. Die NPD erzielte auf Bundesebene einen Stimmenanteil von 0,3% (= 101.011 Stimmen). Damit verlor sie nicht nur rund zwei Drittel der 2014 erreichten Stimmen (= 301.139), sondern verfehlte deutlich die zur Teilhabe an der staatlichen Parteienfinanzierung erforderliche 98 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS Schwelle von 0,5%. Zudem verlor sie ihr einziges Mandat im Europäischen Parlament. Auch in Hessen gelang es der NPD nicht, das Ergebnis der Europawahl 2014 (= 0,8%, 13.869 Stimmen) zu wiederholen. Mit einem Stimmenanteil von 0,2% (= 4.844 Stimmen) erhielt sie 2019 einen erheblich geringeren Zuspruch als 2014. In einer Stellungnahme zum Ausgang der Wahl konstatierte der Parteivorsitzende Frank Franz, dass das Ergebnis, obwohl man einen "engagierten und auch wahrnehmbaren Wahlkampf geführt" habe, "deutlich hinter den Erwartungen" zurückgeblieben sei. Der NPDSpitzenkandidat und bisherige Europaabgeordnete Udo Voigt sah in der "Zersplitterung unter [...] nationalen Kräften, in drei miteinander konkurrierende Parteien" einen Grund für den enttäuschenden Wahlausgang. Man werde daher im Parteivorstand "schonungslos die künftige Stellung der Partei ausloten". Stefan Jagsch - wahl und abwahl | Am 5. September wurde der stellvertretende Vorsitzende des NPD-Landesverbands Hessen, Stefan Jagsch, in seinem zu der Gemeinde Altenstadt (Wetteraukreis) zählenden Heimatort Waldsiedlung zum Ortsvorsteher gewählt. Bei der einstimmigen Wahl waren sieben Ortsbeiratsmitglieder anwesend, darunter - neben Jagsch - Vertreter der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), der Christlich Demokratischen Union (CDU) und der Freien Demokratischen Partei (FDP). Zwei Ortsbeiratsmitglieder der SPD und CDU waren bei der Wahl nicht anwesend. Später begründeten Mitglieder des Ortsbeirats ihre Wahlentscheidung zugunsten Jagschs unter anderem damit, dass dieser mit Computern umgehen und E-Mails verschicken könne, man im Ortsbeirat völlig parteiunabhängig arbeite und es unerheblich sei, was Jagsch privat oder parteipolitisch mache. Die Medien griffen das Ereignis auf und konstatierten einen "Blackout der Demokratie". Es folgte eine bundesweite Debatte über die Gründe für diesen Wahlausgang. Hochrangige Politiker forderten schließlich eine Abwahl Jagschs als Ortsvorsteher. Am 22. Oktober wurde Jagsch in einer Sitzung des Ortsbeirats Altenstadt, Ortsteil Waldsiedlung, abgewählt und eine neue Ortsvorsteherin aus den Reihen der CDU gewählt. Jagsch kündigte an, gegen die Abwahl juristisch vorgehen zu wollen. kampagne "Schafft Schutzzonen!" | Seit Juni 2018 mobilisierte die NPD für die Kampagne "Schafft Schutzzonen!" und versuchte mit dem Thema "Sicherheit von Deutschen vor Ausländerkriminalität" Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 99 RECHTSEXTREMISMUS eine Emotionalisierung der Bevölkerung zu bewirken. Die Kampagne hatte einen eigenen Internetauftritt, wobei auf den ersten Blick keine Verbindung zur NPD erkennbar war. Als "Schutzzone" definierte die NPD einen nach außen abgegrenzten Bereich, innerhalb dessen angeblich "Sicherheit" gewährleistet werden könne. Die Ausgestaltung sei hierbei variabel, sodass zum Beispiel ein Gebäude, ein Fahrzeug oder eine Personengruppe eine "Schutzzone" bilden können. In Hessen führte die NPD unter Beteiligung der JN seit September 2018 "Schutzzonen"-Aktionen - zumeist in Form von "Streifengängen" - durch, so etwa in Fulda (Landkreis Fulda), Hanau (MainKinzig-Kreis), Friedberg (Wetteraukreis), Wetzlar (Lahn-Dill-Kreis), Offenbach am Main, Gießen (Landkreis Gießen), Wiesbaden und Dillenburg (Lahn-Dill-Kreis). Jeweils nach einem "Streifengang" veröffentlichte die NPD kurze Berichte mit entsprechenden Bildern im Internet. Aufmerksamkeit in den Medien erzielte die NPD mit einer Aktion am 2. März während des Fastnachtsumzugs in Usingen (Hochtaunuskreis). Auf in Facebook veröffentlichten Bildern waren mit "Schutzzonen"Westen bekleidete Aktivisten zu sehen, die sich unter die Zuschauer des Umzugs gemischt hatten. Ein Teilnehmer der "Schutzzonen"Streife sprach mit einem Rettungssanitäter und unterhielt sich augenscheinlich mit einem in einem Funkwagen sitzenden Stadtpolizisten. Im November wurde erstmals in Hessen eine Geldstrafe von 600 Euro gegen einen Teilnehmer einer "Schutzzonen"-Streife verhängt, der sich 2018 mehrfach an Streifen in Fulda (Landkreis Fulda) beteiligt hatte, wobei "Schutzzonen"-Westen getragen und entsprechende Flyer verteilt worden waren. Das Amtsgericht in Fulda sah hierin einen Verstoß gegen das Uniformverbot sowie gegen die Durchführung einer nicht angemeldeten Versammlung. Die Verteidigung kündigte eine Anfechtung des Urteils an. Die Berufungsverhandlung wurde bislang nicht terminiert. Bundesparteitag | Unter dem Motto "Wir setzen uns durch - für unsere Heimat" veranstaltete die NPD ihren 37. ordentlichen Bundesparteitag vom 30. November bis 1. Dezember in Riesa (Sachsen). Mit 84 von 113 abgegebenen gültigen Stimmen (74%) wurde Frank Franz ohne einen Gegenkandidaten zum zweiten Mal seit 2014 zum Bundesvorsitzenden gewählt. Die bisherigen stellvertretenden Vorsitzenden Ronny Zasowk und Thorsten Heise wurden ebenfalls in ihrem Amt bestätigt. Zum dritten Stellvertreter wählten die Delegierten den ehemaligen Bundesvorsitzenden Udo Voigt. Der bisherige stellvertretende Vorsitzende Stefan Köster wurde zum Bundesschatzmeister gewählt. Die NPD Hessen ist im Parteivorstand nun mit zwei Personen 100 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS vertreten. Mit Daniel Lachmann und Ingo Helge wurden sowohl der Landesvorsitzende als auch ein stellvertretender Landesvorsitzender aus Hessen zu Beisitzern im Bundesvorstand gewählt. Einem durch den Parteivorsitzenden Franz zur Diskussion gestellten Entschließungsantrag über die zukünftige Strategie der Partei stimmten 80 von 122 (=66%) der bei der Abstimmung anwesenden Delegierten zu. Mit dem Entschließungsantrag wurde der Parteivorstand beauftragt, bis zum 31. März 2020 ein Konzept für die Zukunft der NPD zu erarbeiten, wobei auch eine Umbenennung der Partei geprüft werden soll. Junge nationalisten (Jn) am 8. und 9. november feierte die Jugendorganisation der nPd auf ihrem 43. Bundeskongress unter dem Motto "Volkserhalt statt Multikulti!" ihr 50-jähriges Bestehen in neuensalz (Sachsen). die Feierlichkeiten - unter anderem mit Redebeiträgen von Frank Franz und thorsten Heise - können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Jn weiterhin mit personell-strukturellen Problemen zu kämpfen hatten. Im Berichtsjahr stagnierten die Mitgliederzahlen der seit 2016 von thassilo Hantusch geleiteten Jn Hessen auf einem konstant niedrigen niveau im unteren zweistelligen Bereich. AUF EINEN BLICK * kundgebungen * wahlkampfunterstützung für die nPd * kampagne "schuelersprecher.info" * kampagne "studentenrat.info" kundgebungen | Als aktionsorientierte Gruppierung führten die JN Hessen erneut Kundgebungen durch. Obwohl die Jugendorganisation hierbei teilweise zusammen mit der NPD auftrat, nahm in Hessen an den Kundgebungen maximal jeweils nur eine niedrige zweistellige Personenanzahl teil. Am 23. März fanden sich etwa zehn JNAktivisten zu einer Aktion gegen die Vortragsveranstaltung eines Sea-Watch-Kapitäns in Wetzlar (Lahn-Dill-Kreis) ein, um gegen die - nach Ansicht der JN - die Fluchtursachen begünstigende Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeerraum zu demonstrieren. Während der "Eilversammlung" wurde ein Banner mit der Aufschrift "Ahoi! Klar zur Wende. Schlepperkähne auf Kurs Süd' drehen!" präsentiert. Anschließend hieß es auf dem Twitter-Profil von Thassilo Hantusch: "Die Machenschaften der NGO-Schlepper verschlimmern die Lage auf dem #Mittelmeer nur. Unsere Antwort: Festung #Europa verteidigen!" Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 101 RECHTSEXTREMISMUS Eine weitere JN-Kundgebung richtete sich am 23. April gegen eine Vortragsveranstaltung der SPD in Wiesbaden. Vor dem Beginn präsentierten zwei JN-Aktivisten sowie der NPD-Landesvorsitzende Daniel Lachmann und dessen Stellvertreter Stefan Jagsch ein Banner mit der Aufschrift "Stoppt die roten Arbeiterverräter www.junge-nationalisten.de" im Umfeld des Veranstaltungsorts. Anschließend kommentierten die JN die Aktion über ihr Twitter-Bundesprofil: "Am Dienstag fand im Stadtteil #Dotzheim eine Veranstaltung der #SPD [...] statt. Deshalb fanden sich Mitglieder der #NPD und #JN dort ein, um spontan gegen [...] die volksfeindliche Politik der SPD zu protestieren". wahlkampfunterstützung für die nPd | Wie auch in den Jahren zuvor unterstützten die JN ihre Mutterpartei im Wahlkampf zur Europawahl. Vereinzelt beteiligten sich Aktivisten an NPD-Informationsständen, darüber hinaus nutzten die JN ihre bundesweite Kampagne "schuelersprecher.info", um gezielt Jungund Erstwähler anzusprechen. Entsprechende Beiträge wurden unter anderem auf Facebook und Instagram veröffentlicht. So informierten die JN in den sozialen Medien über eine Graffiti-Aktion mit dem Wahlaufruf "NPD 26.05." an einer Schule in Fulda (Landkreis Fulda), eine Plakatklebeaktion an einer Schule in Kassel sowie eine angebliche Klebeaktion in Kombination mit einem Graffiti an einem öffentlichen Platz in Hofheim am Taunus (Main-Taunus-Kreis). In einem eigens zur Europawahl verfassten Schreiben, das nach Angaben des JN-Bundesverbands bundesweit an mehr als 100 ausgewählte Schülervertretungen verschiedener Gymnasien versandt wurde, machten die JN auf ihre Homepage www.junge-nationalisten.de aufmerksam. In dem Beitrag hieß es: "Als Jungund Erstwähler kommt unserer Generation eine bedeutende Gewichtung bei der bevorstehenden Wahl zum Europäischen Parlament am 26. Mai 2019 zu. Mit unseren Stimmen werden wir entscheiden, ob wir auch künftig in einem Europa souveräner Nationalstaaten der verschiedenen Kulturen und Bräuche friedlich miteinander leben werden, oder ob unser Kontinent an der Utopie eines multikulturellen Einheitsbreis zugrunde geht". Es folgte die Ankündigung einer verstärkten Präsenz von Aktivisten an Schulen und Jugendclubs, um für die Kampagne zu werben, "damit Heimat auch in einem Europa des 21. Jahrhunderts mehr als nur ein Standort bleibt!" 102 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS kampagne "schuelersprecher.info" | Die erstmals im Rahmen der hessischen Landtagswahl 2018 initiierte Kampagne wurde im Berichtsjahr fortgeführt. Insbesondere während des Wahlkampfs zur Europawahl nutzten die JN die Kampagne als Sprachrohr, um besonders Jungund Erstwähler, aber auch sonstige mögliche Interessenten, über den Deckmantel der zunächst nicht unmittelbar der JN zuzuordnenden Kampagne "Schülersprecher" auf die JN aufmerksam zu machen. Neben entsprechenden Profilen in den sozialen Medien, wie Instagram und Twitter, nutzten die JN hierfür die Homepage www.schuelersprecher.info als zentrales Propagandamittel. Die Homepage bot Interessenten die Möglichkeit, sich über die Kampagne und die bundesweit durchgeführten Aktionen zu informieren. Zudem wurde auf der Homepage eine "Schulhof-CD 2.0" mit einschlägigen Liedern aus der rechtsextremistischen Musikszene zum kostenlosen Download angeboten. Nicht nur mit der Kampagne "schuelersprecher.info" und den darin enthaltenen politischen Themen versuchten die JN anschlussfähig zu sein und sich für ihre junge Zielgruppe attraktiver zu präsentieren. Die JN griffen auch das Thema Klimaund Umweltschutz auf, um es für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren. Dabei versuchten sie von der allgemeinen Popularität der "Klimaproteste" in der Bevölkerung zu profitieren. Ihre eigentlich nationalistischen und völkischen Positionen versuchte die Jugendorganisation hierbei zu verschleiern. Einen Höhepunkt des Versuchs der Vereinnahmung der Umweltund Klimaschutzthematik bildete die Teilnahme einer JN-Gruppe an den Fridays-for-Future-Demonstrationen am 29. März in Frankfurt am Main und am 24. Mai in Erfurt (Thüringen). Hierbei versteckten die Aktivisten ihren parteipolitischen Hintergrund weitgehend unter dem Deckmantel der Kampagne "schuelersprecher.info" und präsentierten ein Banner mit der Aufschrift "Die Zukunft gehört der rebellischen Jugend - Gegen die Lüge vom ,grünen Kapitalismus' schuelersprecher.info" sowie "Europa! Jugend! Revolution! schuelersprecher.info gegen die Instrumentalisierung der Jugend durch Pseudo-Grüne Lobbyisten & Angstmacher". Auf diese Weise versuchten die JN "antikapitalistische" und globalisierungskritische Positionen zu besetzen. So hieß es auf der Homepage www.schuelersprecher.info: "Die Globalisierung diente nicht der Mehrung des Wohlstandes der Mehrheit, sondern nur der Erweiterung der Märkte und dem Reichtum einer vergleichsweise kleinen Gruppe. Milliarden Menschen sollen als neue Konsumenten dienen und im Zweifel ihre Heimat verlassen, um Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 103 RECHTSEXTREMISMUS das Glück in der Ferne zu suchen. Als Arbeitsmigranten oder durch Kriege wurden sie entwurzelt, ihre Heimat wurde destabilisiert und verkauft. Sie flüchten, in der Hoffnung auf Wohlstand, um dann auf dem Arbeitsmarkt als Konkurrenten zur einheimischen Bevölkerung ihrem eigentlichen Einsatzzweck nachzukommen". kampagne "studentenrat.info" | Mit der offensichtlichen Erweiterung der "schuelersprecher.info"um die "studentenrat.info"-Kampagne versuchten die JN zum Ende des Berichtszeitraums, auch Studierende als Zielgruppe für sich zu erschließen. Unter dem Motto "studentenrat.info" fand im Oktober eine erste Verteilaktion an einer Hochschule in Rüsselsheim (Kreis Groß-Gerau) statt. Ein Beitrag über die Aktion wurde unter anderem über das Facebook-Profil studentenrat.info veröffentlicht. In einem Kommentar hieß es: "Pünktlich zur Erstiwoche schlugen wir an den Eingängen der Hochschule [...] auf, um die neuen Studenten zu begrüßen und ihnen unsere Vision für Deutschlands Zukunft näher zu bringen. Das Versagen der Eliten und der gesellschaftliche Wandel sind spürbar. Wir bringen ihn auch an die Universitäten". (Schreibweise wie im Original) entSteHunG/GeScHIcHte Mit der Gründung der nPd 1964 in Hannover (niedersachsen) sollten die zersplitterten kräfte des rechtsextremistischen Lagers in der Bundesrepublik in einer Partei gebündelt werden. der Großteil des Führungskaders der nPd bestand zunächst aus ehemaligen Mitgliedern der nSdaP. AUF EINEN BLICK * anschein von Legalität * krise der nPd * "drei-Säulen-konzept" - erfolge in ostdeutschland * konzept der "seriösen Radikalität" * wahlergebnisse anschein von Legalität | Aus dem Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP) 1952 durch das Bundesverfassungsgericht zog die NPD den Schluss, sich um den Anschein von Legalität zu bemühen und eine öffentliche Verherrlichung des Nationalsozialismus weitgehend zu unterlassen. Diese Strategie trug dazu bei, dass die NPD bei der Bundestagswahl 1965 zwei Prozent (= 664.193 der Zweitstimmen) erreichte. Zwischen 1966 und 1968 zog die NPD in die Landtage von Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ein. Die Mitgliederanzahl 104 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS stieg, wobei auf sämtlichen Parteiebenen etwa 20 Prozent der Mitglieder eine NSDAP-Vergangenheit aufwiesen. Ursache für den damaligen Auftrieb für die NPD waren zum Beispiel das Bestehen einer nur kleinen Opposition gegenüber der ersten Großen Koalition (1966 bis 1969), die konjunkturelle Schwäche in Deutschland und damit verbundene Verlustängste in der Bevölkerung. krise der nPd | Bei der Bundestagswahl 1969 scheiterte die NPD mit 4,3 Prozent (= 1.422.010 der Zweitstimmen) relativ knapp an der Fünf-Prozent-Hürde. In der Folge führten unter anderem die innere Zerstrittenheit der Partei, eine sich allmählich bessernde wirtschaftliche Lage sowie die kritische Berichterstattung in den Medien über Ausschreitungen im Zusammenhang mit NPD-Mitgliedern zu einer langjährigen Krise der Partei. Weitere interne Streitigkeiten über die programmatische Ausrichtung, der starke Rückgang der Mitgliederzahlen, der öffentliche Skandal um die Leugnung des Holocaust durch den damaligen NPD-Vorsitzenden Günter Deckert (1991 bis 1995) und das Auftauchen konkurrierender rechtsextremistischer Parteien zementierten die Krise der NPD bis in die 1990er Jahre hinein. "drei-Säulen-konzept" - erfolge in ostdeutschland | Mit der Wahl Udo Voigts zum Bundesvorsitzenden im Jahr 1996 steigerte die NPD vor allem in den neuen Ländern ihre Mitgliederzahl und erneuerte neben Organisation und Strategie ihre Programmatik. Das neue "Drei-Säulen-Konzept" enthielt folgende Punkte: "Kampf um die Köpfe", "Kampf um die Straße" und "Kampf um die Parlamente". 2004 kam der "Kampf um den organisierten Willen" hinzu. Im Zuge ihres "Kampfs um die Straße" öffnete sich die NPD vor allem gegenüber rechtsextremistischen Skinheads und Neonazis. Umgekehrt näherten sich diese der NPD an. Nach dem Scheitern des NPDVerbotsverfahrens 2003 setzte die Partei ihre Politik der Annäherung an die Neonazi-Szene fort und konzentrierte ihre Aktivitäten zunehmend auf Ostdeutschland. 2004 und 2006 zog die NPD in die Landtage von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern ein, in denen sie inzwischen nicht mehr vertreten ist. konzept der "seriösen Radikalität" | Holger Apfel, der 2011 gewählte Nachfolger Udo Voigts als Bundesvorsitzender, wollte mit seinem Konzept der "seriösen Radikalität" die NPD aus der Krise führen, in die sie unter anderem durch eine Reihe von Niederlagen bei Landtagswahlen sowohl im Osten als auch im Westen Deutschlands geraten war. Offensichtlich aus persönlichen Gründen legte Apfel 2013 sein Amt als Bundesvorsitzender nieder und trat aus der Partei aus. Vorübergehend übernahm sein Stellvertreter Udo Pastörs die FühHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 105 RECHTSEXTREMISMUS rung, bis im November 2014 Frank Franz, vorher Pressesprecher der Partei, zum neuen Bundesvorsitzenden gewählt wurde. Zuvor war die NPD 2014 bei den Landtagswahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. Mit dem Verlust der staatlichen Teilfinanzierung nach dem Ausscheiden aus dem Sächsischen Landtag und der damit verbundenen Einbuße von Mitarbeitern verlor die NPD eine wesentliche Grundlage ihrer bundesweiten politischen Arbeit. wahlergebnisse | Seit der Landtagswahl in Sachsen verlor die NPD bei weiteren Wahlen auf Landesund Bundesebene kontinuierlich Stimmen. 2017 erhielt sie bei den Landtagswahlen im Saarland 0,7 %, was einem Minus von 0,5 Prozentpunkten entspricht, sowie in Nordrhein-Westfalen 0,3 % (= minus 0,3 Prozentpunkte). In Hessen erreichte die NPD bei der Landtagswahl 2018 0,2 % der Stimmen (= minus 0,9 Prozentpunkte). IdeoLoGIe/zIeLe die nPd steht für antiparlamentarismus und antipluralismus. Mit ihrer fremdenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Programmatik wendet sie sich offen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. AUF EINEN BLICK * überwindung des "Systems" * "Solidargemeinschaft aller deutschen" - Islamfeindlichkeit - antisemitismus überwindung des "Systems" | Die NPD will die parlamentarische Demokratie von innen heraus, das heißt mittels Parteiarbeit, abschaffen. Die NPD will die politische und gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, von ihr in Anlehnung an die Sprache des Nationalsozialismus als rein machtorientierte Herrschaft der "Systemparteien" diffamiert, durch eine ethnisch homogene "Volksgemeinschaft" ersetzen. Solidarität soll nur "ethnischen Deutschen" zuteilwerden. So heißt es im Parteiprogramm: "Der ethnischen Überfremdung Deutschlands durch Einwanderung ist genauso entschieden entgegenzutreten wie der kulturellen Überfremdung durch Amerikanisierung und Islamisierung". Diejenigen, die in den Augen der NPD "Fremde" sind, grenzt sie aus. So seien "Ausländer [...] aus dem deutschen Sozialversicherungswesen auszugliedern und einer gesonderten Ausländersozialgesetzgebung zuzu106 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS ordnen. In ihrer Ausgestaltung von Pflichten und Ansprüchen hat sie auch dem Rückführungsgedanken Rechnung zu tragen. [...] Asylbewerber haben keinen Anspruch auf Sozialleistungen". "Solidargemeinschaft aller deutschen" - Islamfeindlichkeit - antisemitismus | Der Globalisierung will die NPD begegnen, indem sie das bestehende "System" durch eine "Solidargemeinschaft aller Deutschen" ersetzt. Darüber hinaus werden Muslime diffamiert. Auch antisemitische Positionen sind in der NPD verbreitet. Die Partei vertritt zwar keine offen antisemitische Programmatik, sie streut aber entsprechende Vorurteile. StRuktuRen Die 2010 vorgenommene Neugliederung des Landesverbands in zwei Unterbezirksund elf Kreisverbände erforderte bereits 2015 eine erneute Modifizierung. Es erfolgte eine Umgestaltung zu sechs Bezirksverbänden (Nordhessen, Osthessen, Mittelhessen, WetterauKinzig, Rhein-Main und Südhessen). Auf den ersten Blick scheint die NPD flächendeckend in Hessen vertreten zu sein. Die Umstrukturierung in größere Bezirksverbände macht jedoch deutlich, dass für feingliederige Strukturen das notwendige Personal fehlte. Die tatsächlich vorhandenen Strukturen waren in weiten Teilen Hessens nur schwach ausgeprägt. BeweRtunG/auSBLIck nPd | Die Äußerungen von Ortsbeiratsmitgliedern nach der Wahl Stefan Jagschs lassen darauf schließen, dass er nicht vorrangig als NPDMitglied und Funktionär einer bekanntermaßen eindeutig rechtsextremistischen Partei wahrgenommen, sondern offenbar auf Basis seiner nach außen getragenen persönlichen Eigenschaften beurteilt wurde. Folglich schien keine Hemmschwelle bestanden zu haben, mit ihm einen Rechtsextremisten in ein politisches Amt zu wählen. Neben diesem "Gewöhnungseffekt" gelang es Jagsch offensichtlich, ein seit dem Rücktritt des bisherigen Ortsvorstehers bestehendes politisches Vakuum im Ortsbeirat für seine eigenen Ziele und im Interesse der NPD zu nutzen. Damit zeigt die, wenn auch nur kurze Amtszeit Jagschs eindrücklich auf, dass Rechtsextremisten den ihnen überlassenen politischen Gestaltungsspielraum - insbesondere auf kommunaler Ebene - geschickt und erfolgreich zu nutzen wissen. Darüber hinaus versuchte die NPD mit der medialen Verbreitung von Bildern im Rahmen ihrer Kampagne "Schafft Schutzzonen!" Aufmerksamkeit zu erringen und sich als Kümmerin um die öffentliche SicherHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 107 RECHTSEXTREMISMUS heit zu inszenieren. Außerdem instrumentalisierte die NPD die Bilder als vermeintlichen Beleg dafür, dass freiwillige Helfer und staatlich Bedienstete bei der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit auf die Unterstützung der "Schutzzonen"-Aktivisten angewiesen seien. Hierdurch versuchte die NPD ihre Kampagne auch gegenüber dem Staat und den Sicherheitsbehörden zu rechtfertigen. Aufgrund der Wahl Daniel Lachmanns und Ingo Helges in den Bundesvorstand erfuhr die NPD Hessen eine Aufwertung innerhalb der Partei. Als langjähriger Funktionär und Mandatsträger ist Lachmann dem Bundesvorstand und anderen Landesverbänden nicht unbekannt. Gleiches gilt für Helge, der wegen der kontinuierlichen Veröffentlichung verhältnismäßig professionell gestalteter Videos zu aktuellen Themen und Interviews mit Parteifunktionären über die Grenzen Hessens hinaus Bekanntheit in der NPD erlangt haben dürfte. Die NPD hat realisiert, dass ihr Name in der öffentlichen Wahrnehmung mit einem Stigma behaftet ist und sie unter diesem Namen wohl auf Dauer nicht in der Lage sein wird Wahlerfolge zu erzielen. Ob es ihr gelingt, mit neuem Namen und einem neuen Konzept auch eine thematische, kommunikative und strategische Erneuerung in die Wege zu leiten, um letztlich auch Wahlerfolge zu erzielen, erscheint zweifelhaft. Es sind derzeit keine Anzeichen ersichtlich, die auf ein Ende des personellen, strukturellen und finanziellen Erosionsprozesses der NPD hindeuten. Dabei steht das bei der Europawahl in Hessen erzielte Ergebnis von 0,2% exemplarisch für den bei Wahlen geringen Rückhalt der NPD. Wie auch bei der hessischen Landtagswahl 2018 gelang es der Partei nicht, mit Hilfe der "Schutzzonen"-Kampagne ihrem Negativtrend entgegenzuwirken. Eine nennenswerte öffentliche Wahrnehmung der NPD fand nahezu ausschließlich in den Regionen Lahn-Dill, Wetterau und Fulda statt. Wie dem Bundesverband mangelt es der NPD Hessen an politikund agitationsfähigen Mitgliedern und Funktionären. Ein in nächster Zeit erreichbarer nachhaltiger und hessenweiter Neuaufbau der Partei ist nicht zu erwarten. Jn | Die Aktivitäten, bei denen Aktivisten der JN als solche offen in Erscheinung traten, gingen merklich zurück, wobei sich Aktivisten der JN auch weiterhin an Aktionen der NPD sowie der "Schutzzonen"Kampagne der Mutterpartei beteiligten. Grund hierfür dürften personelle Probleme sowohl bei den JN als auch bei der NPD Hessen sein. Insbesondere versuchten die JN durch das Aufgreifen der bei Jugendlichen populären Kritik an der Umweltund Klimapolitik ein 108 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS entsprechend breites Spektrum anzusprechen. Aktionen wie etwa die Teilnahme an der Fridays-for-Future-Demonstration in Frankfurt am Main blieben jedoch ohne positive Resonanz für die JN. Gleiches galt für die auf Studierende abzielende Kampagne "studentenrat.info". Insgesamt ließ sich im Berichtszeitraum keine Zunahme der Zahl an Sympathisanten für die JN in Hessen beobachten. der dritte weg/der III. weg deFInItIon/keRndaten die Partei der dritte weg propagiert ein völkisch-antipluralisLogo der Partei tisches Menschenund Gesellschaftsbild. unter den Schlagworten Der Dritte Weg "national", "revolutionär" und "sozialistisch" formuliert der dritte weg in seiner gleichnamigen Broschüre mit dem Begriff "RevoluBundesvorsitzender: tion" einen "grundlegenden, allumfassenden, systematischen und Klaus Armstroff nachhaltigen wandel" sowie die "durchdringung der Politik und Sitz: Gesellschaft mit unserer weltanschauung" als ziel. eine solche ReWeidenthal (Rheinland-Pfalz) volution sei nicht mit waffengewalt zu erzwingen, wenngleich es notwendig sein könnte, dass "einige Scheiben" zerbrächen, wenn Mitglieder: es gelte, das deutsche Volk "in seiner ethnischen existenz zu In Hessen etwa 20, bundesweit etwa 580 sichern" und eine "Jahrtausende umfassende Hochkultur zu retten". unter den Mitgliedern der Partei, die überwiegend aus dem neoMedien: nazistischen Spektrum stammten, befanden sich Personen aus dem Internetpräsenzen umfeld des verbotenen Freien netzes Süd (FnS), der völkisch geprägten neonazi-Szene sowie frühere Mitglieder der nPd. / eReIGnISSe/aktIVItäten die Partei der dritte weg legte auch im Berichtsjahr großen wert auf agitation und Propaganda im zuge öffentlichkeitswirksamer auftritte. einen agitationsschwerpunkt bildeten, wie bereits in den vorangegangenen Jahren, die asylund Flüchtlingspolitik sowie der Revisionismus, wobei die Partei sowohl auf typische fremdenfeindliche als auch auf rechtsextremistische narrative zurückgriff. daneben spielten der wahlkampf zur europawahl sowie zu den kommunalund Landtagswahlen in Sachsen eine wichtige Rolle. darüber hinaus fokussierte der dritte weg verstärkt das thema "umweltund klimaschutz". AUF EINEN BLICK * teilnahme an wahlen * "Gedenkveranstaltungen" * kontakte zu nationalistischen Gruppierungen im ausland * "umweltschutz ist Heimatschutz" - "tierschutz verpflichtet!" Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 109 RECHTSEXTREMISMUS teilnahme an wahlen | Da die Partei erfolgreich die notwendige Zahl von bundesweit 4.000 Unterstützerunterschriften gesammelt hatte, konnte Der Dritte Weg an der Wahl zum Europäischen Parlament teilnehmen. In Hessen startete die Partei ihren Wahlkampf im März in Lampertheim (Kreis Bergstraße) mit den für sie typischen Flugblattund Flyeraktionen sowie Plakatierungen. Es folgten weitere Plakatierungen im Odenwaldkreis, in zahlreichen Gemeinden im Taunus sowie in Wiesbaden, Darmstadt und in Groß-Gerau (Kreis Groß-Gerau). Begleitet wurde der Wahlkampf zudem durch zahlreiche Artikel auf der parteieigenen Website. Als zentrale Forderungen ihres Wahlkampfes formulierte die Partei "kulturelle Vielfalt statt Multikulti", "Das Europa der Vaterländer", "Festung Europa", "Volksverräter [...] stoppen" und eine "Gemeinsame Außen-, Verteidigungsund Geopolitik" in Abgrenzung zur NATO und angeblich "imperialistischen Bestrebungen der USA und Israels". Der Dritte Weg trat mit zehn Kandidaten und einer länderübergreifenden Liste zur Wahl an, die durch den Vorsitzenden Klaus Armstroff und dessen Stellvertreter Matthias Fischer angeführt wurde. Bei der Europawahl am 26. Mai erhielt die Partei bundesweit 12.756 Stimmen (= 0,0%) und errang keine Mandate. Bei den am selben Tag in Sachsen stattfindenden Kommunalwahlen erhielt die Partei in der Stadt Plauen 3.363 Stimmen (=3,8%) und somit einen Sitz in der Stadtverordnetenversammlung. An der Landtagswahl in Sachsen am 1. September nahm Der Dritte Weg nicht teil, da der Landeswahlleiter den Parteistatus als nicht gegeben feststellte und den Dritten Weg somit nicht zur Wahl zuließ. In Hessen verfügte die Partei Der Dritte Weg im Berichtszeitraum nicht über Mandatsträger. "Gedenkveranstaltungen" | Verbunden mit der Forderung nach einem "zentralen Gedenktag" für die Opfer der alliierten Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) führte Der Dritte Weg am 16. Februar in Fulda (Landkreis Fulda) unter dem Motto "Ein Licht für Dresden" eine Demonstration durch. Man wolle mit dieser Demonstration ein "Licht in jene Stadt senden, die ohne Frage als Frontstadt dafür steht, wie die sogenannte ,Befreiung' ausgesehen hat", so der Wortlaut eines auf der Homepage des Dritten Wegs veröffentlichten Artikels. Am 11. September gedachten Aktivisten des Dritten Wegs auf dem Waldfriedhof in Darmstadt der Opfer der sogenannten Darmstädter Brandnacht. Dazu entzündeten die Aktivisten nach eigenen Angaben 200 Kerzen. In der Nacht vom 11. auf den 12. September 1944 hatten alliierte Bomberverbände die Stadt bombardiert, wobei sich der Hauptangriff auf die historische Altstadt konzentrierte. Der durch den 110 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS Angriff ausgelöste Feuersturm zerstörte nahezu die gesamte Altund Innenstadt. Dem Angriff fielen laut Schätzungen etwa 11.000 Menschen zum Opfer. Im Juli führte Der Dritte Weg bundesweit ein Gedenkwochenende zum Todestag des ersten deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck (1815-1898) durch. Dabei besuchten Mitglieder der Partei die Bismarcktürme in Gießen (Landkreis Gießen) und Wetzlar (Lahn-DillKreis) und stellten dort Kerzen mit dem Parteilogo auf. Zum Hintergrund der Aktion wurde auf der Homepage des Dritten Wegs folgende Begründung veröffentlicht: "Seine Ideen [i. e. Bismarcks] eines sozial verantwortungsbewussten und starken Nationalstaates leuchten uns heute noch als Vorbild für die Zukunft. Sein Erbe ist unser Auftrag!" Die zentrale Veranstaltung bildete für den Dritten Weg nach wie vor das "traditionelle Heldengedenken", das jährlich zum Volkstrauertag am 17. November in Wunsiedel (Bayern) unter dem Motto "Tot sind nur jene, die vergessen werden" abgehalten wird. In Hessen stellten Aktivisten des Dritten Wegs am 17. November unter anderem im Raum Groß-Gerau (Kreis Groß-Gerau) Grablichter mit dem Logo der Partei an einem Kriegerdenkmal auf und reinigten im Raum Weilburg (Landkreis Limburg-Weilburg) ein Ehrenmal. kontakte zu nationalistischen Gruppierungen im ausland | Im Januar nahmen Aktivisten an einer "Gedenkveranstaltung" nationalistischer bzw. neofaschistischer Gruppierungen in Rom (Italien) anlässlich des 41. Jahrestags der Ermordung von drei Mitgliedern der neofaschistischen Partei Movimento Sociale Italiano (MSI) teil. Außerdem besuchten Mitglieder des Dritten Wegs das Hauptquartier der neofaschistischen Partei CasaPound in Rom, die - analog zum Dritten Weg - eine nationalrevolutionär-sozialistische Ideologie vertritt. Wie 2018 nahmen Mitglieder des Dritten Wegs auch im Berichtsjahr am "Tag der Ehre" in Budapest (Ungarn) teil. Anlass war das "Gedenken" an die Schlacht von Budapest (Dezember 1944 bis Februar 1945). Die Veranstaltung schloss neben einer Demonstration einen etwa 60 Kilomater langen "Gedenkmarsch" ein. In Kiew (Ukraine) lief im Oktober eine Gruppe von Aktivisten des Dritten Wegs im "Marsch der Nationen" mit, an dem sich etwa 30.000 Nationalisten beteiligten. Dabei schlossen sich die Mitglieder des Dritten Wegs einer Demonstration der ukrainischen nationalistischen Partei Nationales Korps an. Am 6. Dezember nahmen Mitglieder des Dritten Wegs an einem Aufmarsch nationaler Gruppierungen anlässlich des finnischen UnabHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 111 RECHTSEXTREMISMUS hängigkeitstages in Helsinki (Finnland) teil. Laut eigenen Angaben war die Partei mit einem Redebeitrag auf der Abschlusskundgebung vertreten, in dem unter anderem die "deutsch-finnische Waffenbrüderschaft" während des Zweiten Weltkriegs beschworen wurde. "umweltschutz ist Heimatschutz" - "tierschutz verpflichtet!" | Zunehmend interessierte sich Der Dritte Weg für klimaund umweltpolitischen Themen. So hieß es auf der parteieigenen Homepage, dass eine "heimatverbundene Politik [...] seit jeher auch Umweltpolitik" sei. Dabei stilisierte die Partei den Klimaund Umweltschutz zum Kampf um das Überleben des deutschen Volks und verknüpfte ihn mit einer Kritik am "kapitalistischen System". Die derzeitige an "kapitalistischen" Prinzipien ausgerichtete Landwirtschaft führe, so die Partei, zwangsläufig zur "Vernichtung aller traditionellen Bindungen und Kulturen". Dies bedinge letztlich die Entfremdung des Menschen von seiner Kultur und führe schließlich zum Identitätsverlust. Dem sei, so Der Dritte Weg, eine an der Bedarfsdeckung und Ressourcenschonung orientierte Landwirtschaft entgegenzusetzen, welche die Erhaltung der Lebensgrundlage des Volks vor die Rentabilität von Betrieben setze. In diesem Zusammenhang startete Der Dritte Weg unter dem Motto "Der Bauernstand macht stark das Land" im Oktober eine Aktion zur Stärkung der Landwirtschaft auf den Grundlagen eines "deutschen Sozialismus" in "tiefe[r] Verbundenheit mit Land, Tier und Heimat". Kritisiert wurden unter anderem der "Globalisierungswahn", der "internationale Freihandels-Extremismus" und der "Dumping-Wettbewerb von Großkonzernen", welche die ursprüngliche Landwirtschaft verdrängten und schuld an dem schlechten Ruf der Bauern innerhalb der Gesellschaft seien. Der Bauer sei der "Fußabtreter der Nation und seine Berufsbezeichnung ist heutzutage sogar ein Schimpfwort". Unter dem Motto "Volkstreu und grün - Der Bauernstand macht stark das Land" führte Der Dritte Weg im Oktober in Kempten (Bayern) eine entsprechende Kundgebung durch. In der vom Vorsitzenden des Gebietsverbands Süd gehaltenen Rede wurden die Kernpunkte der Partei in Bezug auf eine "nationale" Umweltund Klimaschutzpolitik deutlich: "Ehre dem Bauernstand als Ernährer unseres Volkes. Schutz der Natur und Umwelt als Lebensraum unseres Volkes. Achtung dem Tier als Ausdruck unserer Volksseele". Im Laufe des Berichtsjahrs gab es in Form von Infoständen ("Tierschutz verpflichtet!") weitere Aktivitäten in diesem Themenfeld. Gegen Ende 2019 startete Der Dritte Weg, wie bereits in den Vorjahren, 112 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS seine traditionelle Spendenaktion "Tierfutter statt Böller". Ziel der Aktion war es, Tierfutter zu sammeln, um es anschließend an Tierheime abzugeben. entSteHunG/GeScHIcHte Die Partei Der Dritte Weg wurde am 28. September 2013 in Heidelberg (Baden-Württemberg) gegründet. Nach und nach entstanden verschiedene länderübergreifende Stützpunkte, unter anderem auch der Stützpunkt Westerwald/Taunus, der im Wesentlichen den Landkreis Limburg-Weilburg und den Lahn-Dill-Kreis sowie angrenzende Landkreise in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen umfasst. Seit ihrer Gründung führte die Partei vor allem Demonstrationen, "Heldengedenken" und gegen Flüchtlinge und die Flüchtlingspolitik gerichtete Flugblattverteilaktionen durch bzw. veröffentlichte entsprechende Verlautbarungen im Internet. IdeoLoGIe/zIeLe das "zehn-Punkte-Programm" des dritten wegs bezieht sich sowohl von der Bezeichnung als auch vom Inhalt her auf das 25Punkte-Programm der nSdaP und enthält dessen rechtsextremistische - im detail nationalsozialistische - Programmatik. In diesem Programm verdeutlicht sich die damit verbundene antidemokratische ausrichtung des dritten wegs, die auf die überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zielt. AUF EINEN BLICK * "zehn-Punkte-Programm" * "national, Revolutionär, Sozialistisch" * das Volk als "Blut und Schicksalsgemeinschaft" - Liberalismus als "geistige Immunschwächekrankheit" "zehn-Punkte-Programm" | In seinem Parteiprogramm benennt Der Dritte Weg einen "Deutschen Sozialismus, fernab von ausbeuterischem Kapitalismus sowie gleichmacherischem Kommunismus" als sein Ziel. Das deutsche Volk wird als "naturgesetzliche Gemeinschaft" gesehen. Eine Forderung der Partei besteht in der Förderung kinderreicher deutscher Familien zur "Abwendung des drohenden Volkstodes". Daneben gibt Der Dritte Weg die "Erhaltung und Entwicklung der biologischen Substanz des Volkes" als ein weiteres Ziel an. Darüber hinaus vertritt die Partei in ihrem "Zehn-Punkte-Programm" ein klar geschichtsrevisionistisches Deutschlandbild. So wird eine "friedliche [...] Wiederherstellung Gesamtdeutschlands in seinen völkerrechtlichen Grenzen" gefordert. Weitere Forderungen sind sowohl die Verstaatlichung sämtlicher Schlüsselindustrien als auch die Einführung der Todesstrafe für Kindermord und andere Kapitalverbrechen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 113 RECHTSEXTREMISMUS "national, revolutionär, sozialistisch" | Die Partei Der Dritte Weg begreift sich gemäß ihres im Jahre 2015 veröffentlichten Selbstverständnisses als "nationalrevolutionär" und propagiert einen "deutschen Sozialismus" als "dritten Weg" abseits von Kommunismus und "Kapitalismus". Die Partei knüpft damit zumindest in Teilen an die Programmatik des sogenannten linken Flügels der NSDAP an. Der Programmatik des Dritten Wegs liegt ein völkisches Menschenbild, das sich eng am Nationalsozialismus und an der militanten Kameradschaftsszene orientiert, zugrunde. So heißt es in der im Jahr 2017 erschienenen Broschüre "National, Revolutionär, Sozialistisch" in Bezug auf die drei Kernbegriffe "national, revolutionär, sozialistisch": "Nur diese drei Begriffe zusammengefasst ergeben eine ganzheitliche Wirkung, welche das politische, das wirtschaftliche, das soziale und das geistige Leben zu einer Synthese zusammenführt". das Volk als "Blut und Schicksalsgemeinschaft" - Liberalismus als "geistige Immunschwächekrankheit" | Gemäß seinem völkischen Menschenbild definiert Der Dritte Weg den Nationalismus als die "politische Idee, die die Interessen und das Überleben des eigenen Volkes in den Mittelpunkt aller Betrachtungen und Entscheidungen" rücke. So komme der "echte Nationalismus" nicht ohne eine "völkische Komponente" aus, wobei das Blut der "Schlüssel zum Verständnis der volkseigenen Kultur und der Seele des völkischen Lebens" sei. Das Volk sei nicht nur eine "Blut-, sondern auch eine Schicksalsgemeinschaft", aus deren "übergeordnete[m] Willen" sich die Nation bilde. Im Liberalismus hingegen verkörpere der "Einzelne den wichtigsten Wert" und habe den "europäische[n] Mensche[n]" - einer Immunschwächekrankheit gleich - "auf seine Existenz als Einzelwesen reduziert und seiner Kultur, Heimat und Identität beraubt". In diesem Kontext sieht sich Der Dritte Weg "unseren kulturund blutsverwandten Völkern in Europa verbunden". In Bezug auf ihre Feindbilder beschränkt sich die Partei keinesfalls nur auf Deutschland: "Egal ob Westoder Ost-, Süd[-] oder Nordeuropa, es sitzen überall die gleichen Verräter, die gleichen Vertreter des feigen Bürgertums und die gleichen Geldempfänger des Kapitals in den Parlamenten. Daher können wir sie gar nicht anders als gleichsam hassen und verachten. Wir fiebern jedem Schlag, ja jedem Nadelstich, den die verschiedenen europäischen Bewegungen den volksfeindlichen Systemen beibringen, entgegen, begeistern uns über jeden Erfolg und verneigen uns vor jedem Toten und jedem Verletzten des gesamteuropäischen Kampfes". 114 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS StRuktuRen Organisatorisch gliederte sich die Partei in die Gebietsverbände Mitte, Süd und West, denen bundesweit 18 Stützpunkte zuzuordnen waren. Der dem Gebietsverband West zugeordnete Stützpunkt Westerwald/Taunus umfasste hierbei den Landkreis Limburg-Weilburg und den Lahn-Dill-Kreis. Zu den Veranstaltungen des Dritten Wegs, die in erster Linie eine Stärkung des Gemeinschaftsgefühls zum Ziel haben, gehörten auch regelmäßig stattfindende Stammtische. Im Rahmen einer polizeilichen Kontrollmaßnahme wurde im November im Raum Taunusstein (Rheingau-Taunus-Kreis) ein solcher Stammtisch festgestellt. Bei einer Personenkontrolle ergaben sich Bezüge zum Dritten Weg. Darüber hinaus stellte die Polizei zahlreiches Propagandamaterial sicher. BeweRtunG Wie in der Vergangenheit bestand ein Schwerpunkt der Tätigkeit des Dritten Wegs in der Agitation und Propaganda. Hierzu führte die Partei etliche Veranstaltungen und Aktionen durch, wobei der Fokus weiterhin auf den Themenfeldern "Asyl" und "Zuwanderung" lag. Durch die Teilnahme an Wahlen verfolgte Der Dritte Weg das Ziel, den Parteistatus zu behalten und damit einem möglichen Verbot zu entgehen. Obwohl Der Dritte Weg das Parteiensystem ablehnt, ist seine Teilnahme an Wahlen als Versuch zu werten, auf Teile der Bevölkerung offensiver zuzugehen und die Mechanismen und Vorteile der repräsentativen Demokratie zum Zweck der Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung für sich zu nutzen. Zur Verbreitung seiner Propaganda bediente sich Der Dritte Weg weiterhin verstärkt des Internets - insbesondere zur Mobilisierung für Veranstaltungen über die parteieigene Homepage - und verschiedener sozialer Medien. Dabei versuchte die Partei, sich von sozialen Medien unabhängig zu machen, indem sie im Blogformat Audios, Videos und Bilder einband. In Beiträgen über angebliche Fälle von Ausländerkriminalität, die auf der eigenen Homepage publiziert wurden, trat die Fremdenfeindlichkeit der Partei offen zutage. Mit ihrer "Nationalrevolutionären Schriftenreihe" bedient sich die Partei jedoch auch klassischer Medien zur Verbreitung ihrer Ideologie. Sogenannte Gedenkveranstaltungen des Dritten Wegs ("Heldengedenken", "Denkmalreinigungen") sollten zum einen der besseren Anschlussfähigkeit der Partei an die Mitte der Gesellschaft dienen und zum anderen einen Gegenentwurf zur gesellschaftlich weithin akzeptierten und praktizierten Erinnerungskultur entwerfen. Nach innen dienten die "Gedenkveranstaltungen" auch der Stärkung des GeHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 115 RECHTSEXTREMISMUS meinschaftsgefühls innerhalb der Partei. Dies galt ebenso für die Teilnahme von Parteimitgliedern an "Gedenkveranstaltungen" im europäischen Kontext, die darüber hinaus die Vernetzung und Kommunikation innerhalb der rechtsextremistischen Szene auf europäischer Ebene fördern sollten. Der Versuch des Dritten Wegs, Zuspruch in der gesellschaftlichen Mitte zu ernten, wird besonders in der Hinwendung zu dem Thema "Klimaund Umweltschutz" unter dem Motto "Umweltschutz ist Heimatschutz" deutlich. Ähnlich wie in den vergangenen Jahren versuchte sich Der Dritte Weg als "Kümmerer" um die Belange des deutschen Volks zu inszenieren. Kampagnen, wie der "Bauernstand macht stark das Land", "Tierschutz verpflichtet" oder "Tierfutter statt Böller", wurden mit dem Ziel verfolgt, sich neue Zielgruppen zu erschließen. Dabei versuchten die Aktivisten des Dritten Wegs ihre eigene Rolle als Partei zu überhöhen, um sich als Alternative darzustellen. Hierbei wurden Forderungen nach einer Besserstellung der Bauernschaft oder dem Tierschutz mit den aus dem "Zehn-Punkte-Programm" der Partei entnommenen rechtextremistischen Thesen gezielt vermengt. Insgesamt versuchte die Partei, sich vor allem mittels ihres Internetauftritts, aber auch unter Rückgriff auf aktuelle Themen wie den Klimaund Umweltschutz modern und anschlussfähig zu geben. Dies gelang ihr, wie unter anderem ihre Wahlergebnisse zeigen, jedoch nicht. 116 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS dIe RecHte DEFINITION/KERNDATEN die Partei dIe RecHte vertritt neonationalsozialistische, antisemitische und fremdenfeindliche Standpunkte. Sie lehnt den Logo der Partei Parlamentarismus zwar grundsätzlich ab, versucht jedoch die orgaDIE RECHTE nisationsform als Partei als "Mittel zum zweck" zur Verfolgung des Landesvorsitzender: von ihr angestrebten fundamentalen Systemwechsels zu nutzen. Mike Guldner Mutmaßlich auch, um einer aberkennung des Parteienprivilegs zu entgehen, bemüht sich dIe RecHte, formale Parteiaktivitäten zu Bundesvorsitzende: Sascha Krolzig und Sven Skoda entfalten. neben dem abhalten von Parteitagen tritt dIe RecHte regelmäßig zu wahlen an und errang dabei bundesweit bereits Mitglieder: mehrere kommunalmandate. Signifikante erfolge bei überregionaIn Hessen etwa zehn, len wahlen blieben bislang aber aus. bundesweit etwa 550 Medien: eReIGnISSe/entwIckLunGen Internetpräsenzen zwar stellte sich der Landesverband der Partei dIe RecHte zu Beginn des Berichtszeitraums in Hessen neu auf, aber auch unter / der neuen Führung trat die Partei nur vereinzelt im Bereich nordhessen öffentlich in erscheinung. Mediale aufmerksamkeit erlangte die Partei insbesondere durch ihre teilnahme an einer anlässlich des Mordes am Regierungspräsidenten dr. walter Lübcke in kassel durchgeführten demonstration. Insgesamt hatte der Landesverband weiterhin mit strukturellen und personellen Schwächen zu kämpfen. AUF EINEN BLICK * ausbau von Parteistrukturen angestrebt * antisemitismus im europawahlkampf * "Pogromstimmung gegen das gesamte rechte Lager" * "nationales Bündnis Ruhrgebiet" ausbau von Parteistrukturen angestrebt | Der Landesverband Hessen der Partei DIE RECHTE strebte gemäß eigener Veröffentlichungen im Internet danach, seine Parteistrukturen weiter auszubauen. Dieses Vorhaben wurde auch auf dem Landesparteitag am 24. März in Neukirchen (Schwalm-Eder-Kreis) bekräftigt. Hierzu stellte sich der Landesverband durch eine Neuwahl des Parteivorstands personell neu auf. Unter anderem wurde Mike Guldner zum neuen Landesvorsitzenden gewählt. antisemitismus im europawahlkampf | Nachdem im Jahr 2018 keine öffentlichkeitswirksamen Aktionen der Partei DIE RECHTE in Hessen festzustellen waren, zeigte sich der Landesverband im Berichtszeitraum zwar aktiver, trat aber immer noch zurückhaltend auf. Der Wahlkampf zur Europawahl beschränkte sich auf einzelne Verteilaktionen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 117 RECHTSEXTREMISMUS von Flugblättern im Schwalm-Eder-Kreis und das Anbringen von Wahlplakaten in Kassel und im Schwalm-Eder-Kreis. Allerdings fand die Partei während des Europawahlkampfs insbesondere aufgrund der provokanten Aufschriften auf ihren Wahlplakaten vermehrt öffentliche Beachtung. Nachdem Aktivisten der Partei Plakate mit der Parole "Israel ist unser Unglück" angebracht hatten, entschied der Bürgermeister von Neukirchen (Schwalm-Eder-Kreis), diese im Gemeindegebiet abhängen zu lassen. Als DIE RECHTE rechtliche Konsequenzen androhte, händigte die Stadt Neukirchen die Plakate wieder aus. Schließlich erhielt die Partei DIE RECHTE bei der Europawahl in Hessen 1.162 Stimmen (=0,0%). "Pogromstimmung gegen das gesamte rechte Lager" | Für mediale Aufmerksamkeit sorgte eine von Christian Worch, dem ehemaligen Bundesvorsitzenden der Partei DIE RECHTE, am 20. Juli in Kassel angemeldete Demonstration. Unter dem Motto "Gegen Pressehetze, Verleumdung und Maulkorbfantasien" nahm die Veranstaltung inhaltlich Bezug auf den Mord an Dr. Walter Lübcke. Etwa 120 Demonstranten protestierten gegen eine vermeintliche Instrumentalisierung der Mordtat "im Kampf gegen rechts", wodurch angeblich eine "regelrechte Pogromstimmung gegen das gesamte rechte Lager" erzeugt würde. Der Landesverband Hessen der Partei DIE RECHTE trat dabei mit einem eigenen Banner in Erscheinung. Darüber hinaus beteiligten sich Aktivisten des Landesverbandes an bundesweiten rechtsextremistischen Demonstrationen. "nationales Bündnis Ruhrgebiet" | Außerhalb Hessens wurde im Oktober mit der Gründung des Nationalen Bündnisses Ruhrgebiet eine politische Zusammenarbeit von Vertretern der Partei DIE RECHTE mit der NPD beschlossen. Ziel sei es, die "nationalen Stimmen" für die im Jahr 2020 geplanten Kommunalwahlen im Ruhrgebiet zu "bündeln" und "Synergieeffekte aus den Wahlkämpfen [...] zu erzielen". Der Kreisverband Dortmund der Partei DIE RECHTE führte hierzu an, dass durch das Bündnis "Konkurrenzantritte nationaler Parteien" trotz "inhaltlicher Nähe" vermieden werden sollen und das Bündnis einen "Vorbildcharakter" haben kann. entSteHunG/GeScHIcHte Die Partei DIE RECHTE gründete sich 2012 zunächst als Auffangbecken für Mitglieder der ehemaligen rechtsextremistischen Deutschen Volksunion (DVU), an deren Auffassungen sich das Programm der neuen Partei anfangs orientierte. Kurz danach traten Neonazis und frühere NPD-Mitglieder in die Partei ein. Die Parteigründung stand auch im Kontext von strategischen Erwägungen der rechts118 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS extremistischen Szene. So suchten Rechtsextremisten aufgrund verschiedener Verbote von Kameradschaften nach einer neuen, weniger "verbotsanfälligen" Organisationsform. Im August 2017 gründete sich der Landesverband Hessen. Ein solcher hatte zuvor bereits von November 2012 bis März 2014 bestanden. IdeoLoGIe/zIeLe Neben dem Neonazismus bilden Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit die ideologischen Schwerpunkte der Partei. So vertrat DIE RECHTE im Berichtsjahr hauptsächlich revisionistische sowie antizionistische bzw. antisemitische Einstellungen. Dies wurde nicht zuletzt durch die Wahl der wegen Volksverhetzung verurteilten und inhaftieren Ursula Haverbeck als Spitzenkandidatin für die Europawahl deutlich. Mit der von der Partei DIE RECHTE als "Deutschlands bekannteste Dissidentin" bezeichneten 91-Jährigen zeigte sich explizit auch der Landesverband Hessen - zum Beispiel im Rahmen von Demonstrationen - in der Öffentlichkeit solidarisch. StRuktuRen Im Vergleich zu Gliederungen der Partei in anderen Bundesländern verfügte der Landesverband Hessen nur über rudimentär ausgeprägte Strukturen. Unterhalb der Ebene des Landesverbands gab es keine Kreisverbände oder sogenannte Stützpunkte. Innerhalb Hessens ließ sich ein Aktivitätsschwerpunkt der Partei DIE RECHTE im Schwalm-Eder-Kreis ausmachen, wogegen die Partei in Hessen nicht flächendeckend vertreten war. BeweRtunG/auSBLIck Die bisherige bundesweite Entwicklung der Partei DIE RECHTE legt nahe, dass sie weiterhin als Auffangbecken für Rechtsextremisten verschiedener Ausrichtungen dient, die aus unterschiedlichen Gründen in ihrem bisherigen Szeneumfeld nicht weiter agierten. Nicht zuletzt ging es den Anhängern der Partei darum, ihre neonazistisch geprägten Aktionen fortzusetzen. Auch weiterhin ist mit Demonstrationen, Kundgebungen und provokanten Aktionen der Partei zu rechnen. Darüber hinaus sind weiterhin Wahlteilnahmen der Partei zu erwarten. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 119 RECHTSEXTREMISMUS koMMunIkatIonSStRateGIen Von RecHtSextReMISten durch die stetige entwicklung des Internets und die daraus resultierenden Möglichkeiten der kommunikation verändern sich immer wieder die Strategien und taktiken der Rechtsextremisten. Soziale netzwerke wie etwa Facebook, Blogs, Videoplattformen (zum Beispiel youtube) sowie eigene Internetauftritte wie Homepages, nachrichtenportale oder Foren sind für Rechtsextremisten wichtige Hilfsmittel für die digitale Verbreitung ihrer Propaganda, da sie hierdurch mit wenig aufwand ein breites Publikum erreichen können. AUF EINEN BLICK * offene und versteckte Propaganda * erhöhte Sensibilisierung * online-Radikalisierung * Intensivierung der Bekämpfungsansätze offene und versteckte Propaganda | Die fortschreitende Digitalisierung hat die rechtsextremistische Szene nachhaltig verändert und das Entstehen einer Reihe von neuen Anlaufpunkten, Akteuren und Aktionsformen bewirkt. Rechtsextremisten bzw. rechtsextremistische Organisationen nutzen das Internet einerseits, um offen für ihre Ideen und Aktivitäten zu werben und um Gleichgesinnte zu gewinnen; andererseits gehen sie konspirativ vor und rufen zum Beispiel Initiativen ins Leben, die auf den ersten Blick keinen rechtsextremistischen Hintergrund vermuten lassen, sondern Themen ansprechen, die beim Großteil der Bevölkerung auf Ablehnung stoßen (zum Beispiel Kindesmissbrauch). Hierüber suchen Rechtsextremisten besonders den Kontakt zu Menschen, die bisher keinen Bezug zum Rechtsextremismus hatten. Neben den Internetplattformen nutzen Rechtsextremisten auch verschiedene Messengerdienste wie WhatsApp, Threema oder Signal, um untereinander zu kommunizieren, Veranstaltungen zu planen oder Absprachen zu treffen. erhöhte Sensibilisierung | Die Möglichkeit eines Zugriffs staatlicher Sicherheitsbehörden auf persönliche Daten und die interne Kommunikation sorgt bei Rechtsextremisten für eine erhöhte Sensibilisierung. So werden Leitfäden erstellt und Sicherheitsschulungen durchgeführt, um Anleitungen für konspirative Verhaltensweisen bei der Kommunikation in der rechtsextremistischen Szene zu verbreiten. Diese sollen dazu dienen, nicht in den Fokus von Sicherheitsbehörden zu geraten bzw. sich diesem Zugriff zu entziehen. Weiterhin nutzen Rechtsextremisten geschlossene Gruppen in so120 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS zialen Netzwerken und Messengerdiensten, zu denen nur bestimmte - meist im Vorfeld ausgewählte - Szeneangehörige Zugang erhalten. online-Radikalisierung | Es besteht die Gefahr, dass Rechtsextremisten sich im Rahmen derartiger internetgestützter "Echokammern" oder "Filterblasen" gegenseitig in ihrer Radikalisierung bestärken, ohne dass in der "Realwelt" ein Kennverhältnis zueinander besteht. Für die nachrichtendienstliche Arbeit der Verfassungsschutzbehörden resultiert hieraus das Problem der Aufklärung dieser digitalen Räume, wobei es gilt, Informationsfragmente der virtuellen und "realen Welt" miteinander zu verbinden und zu analysieren. Intensivierung der Bekämpfungsansätze | Vor diesem Hintergrund ist neben den bereits bestehenden operativen und analytischen Maßnahmen eine Intensivierung der Internetbearbeitung unabdingbar, um insbesondere gewaltorientierte Gruppierungen und Einzeltäter sowie deren Kennverhältnisse und Kommunikationswege frühzeitig zu identifizieren. Gleiches gilt für die intensivere Bekämpfung von rechtsextremistischer Hate Speech sowie von anderen rechtsextremistischen digitalen Inhalten. Diese Arbeit des LfV steht im Kontext des am 19. September durch die Hessische Landesregierung vorgestellten Aktionsprogramms "Hessen gegen Hetze". FLücHtLInGe IM VISIeR Von RecHtSextReMISten auch im Berichtsjahr bildeten Flüchtlinge und die Flüchtlingspolitik zentrale themen in der rechtsextremistischen agitation in Hessen. Mit der angst vor angeblicher "kultureller überfremdung" sollten Ressentiments und ängste in der Bevölkerung geschürt werden. die fremdenfeindliche agitation von Rechtsextremisten barg weiterhin das Risiko, dass sich einzelpersonen und Gruppierungen radikalisieren, was zum Begehen schwerster Straftaten - unter anderem gegen Flüchtlinge - führen kann. In Hessen wurde dies in besonders drastischer weise durch die versuchte tötung eines Migranten aus eritrea am 22. Juli in wächtersbach (Main-kinzig-kreis) deutlich. Mit ausnahme eines delikts entfielen alle im kontext Flüchtlinge/Flüchtlingspolitik begangenen Straftaten auf die Politisch Motivierte kriminalität (PMk) - rechts. Straftaten gegen asylund Flüchtlingsunterkünfte | In Hessen kam es im Berichtszeitraum insgesamt zu vier (2018: zehn) Straftaten, die sich gegen Asylund Flüchtlingsunterkünfte richteten. Darunter waren Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 121 RECHTSEXTREMISMUS | 2019 2018 2017 2016 2015 gegen Asyl-/Flüchtlingsunterkünfte PMK insgesamt 4 10 7 25 28 PMK - rechts - 4 10 7 22 25 gegen Asylbewerber/Flüchtlinge PMK insgesamt 37 26 50 72 39 PMK - rechts - 36 1 26 46 67 17 gegen Hilfsorganisationen und Helfer PMK insgesamt - 2 2 3 * PMK - rechts - - 2 1 2 * Summe PMK insgesamt 41 38 59 199 67 PMK - rechts - 40 38 54 91 42 1 Ein Körperverletzungsdelikt am 3. September 2019 in Taunusstein (Rheingau-Taunus-Kreis) wurde erst nach dem Stichtag der statistischen Erhebung als extremistische Straftat bewertet und ist daher in der polizeilichen PMK-Statistik für das Jahr 2019 nicht erfasst. * Diese Kategorie wurde im Jahr 2015 noch nicht erfasst. keine Gewaltdelikte. Gegenüber dem Vorjahr nahmen die in diesem Kontext stehenden Straftaten um mehr als die Hälfte ab. Straftaten gegen asylbewerber und Flüchtlinge | Die Anzahl der Straftaten gegen Asylbewerber und Flüchtlinge stieg in Hessen im Berichtsjahr auf 37 (2018: 26), wobei bis auf eine Straftat alle in den Bereich der PMK - rechts - fielen. Davon waren zwei Straftaten Gewaltdelikte. Damit nahmen die Straftaten im Bereich der PMK - rechts - um mehr als ein Drittel zu. STRAFTATEN GEGEN ASYL-/FLÜCHTLINGSUNTERKÜNFTE 30 28 25 25 22 20 10 10 10 7 7 gegen Asyl-/Flüchtlings- 4 4 unterkünfte insgesamt davon PMK - rechts - 0 2015 2016 2017 2018 2019 122 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 RECHTSEXTREMISMUS Gegen Hilfsorganisationen sowie ehrenamtliche und freiwillige STRAFTATEN GEGEN Helfer wurden im Berichtsjahr keine Straftaten verübt (2018: zwei). HILFSORGANISATIONEN UND HELFER Insgesamt nahm im Berichtszeitraum die Zahl der Straftaten (40) im Bereich PMK - rechts - gegenüber dem Vorjahr (2018: 38) leicht zu. 3 2016 2 Neben der versuchten Tötung eines Migranten aus Eritrea in Wäch- 2 tersbach (Main-Kinzig-Kreis) kam es im September zu einem Überfall 2017 1 auf einen somalischen Asylbewerber durch einen unbekannten Täter. 2 Dabei wurde das Opfer beleidigt sowie mit Gegenständen beworfen 2018 2 und bedroht. 0 2019 0 Bewertung | Obwohl die Zahl der nach Deutschland einreisenden Flüchtlinge im Berichtszeitraum weiterhin abnahm, ist davon auszugegen Hilfsorganisationen gehen, dass die entsprechende rechtsextremistische Agitation anund Helfer halten wird. Die Anti-Asyl-Agitation ist ein klassisches rechtsextremisdavon PMK - rechts - tisches Thema und bietet Rechtsextremisten traditionell ein großes Mobilisierungspotenzial. So war eine intensivierte rechtsextremistische Agitation gegen Flüchtlinge insbesondere im Zusammenhang mit von ihnen begangenen Straftaten, die eine hohe gesellschaftlichmediale Aufmerksamkeit erfuhren, festzustellen. Unverändert besteht die Gefahr, dass Rechtsextremisten Gewalt befürworten, den Anstoß zu Gewalttaten geben bzw. selbst schwerwiegende Straftaten gegen Flüchtlinge und/oder Flüchtlingsunterkünfte begehen. Es ist damit zu rechnen, dass die Themen "Flüchtlinge" und "Flüchtlingspolitik" vor dem Hintergrund der internationalen Entwicklung auf unbestimmte Zeit Gegenstand des in Teilen kontrovers geführten gesellschaftlichen und medialen Diskurses bleiben werden. STRAFTATEN GEGEN ASYLBEWERBER/FLÜCHTLINGE 80 72 67 60 50 46 39 40 37 36 26 26 20 17 gegen Asylbewerber/ Flüchtlinge insgesamt davon PMK - rechts - 0 2015 2016 2017 2018 2019 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 123 RECHTSEXTREMISMUS RecHtSextReMIStIScHe StRaFund GewaLttaten Im Berichtszeitraum wiesen 886 politisch motivierte Strafund Gewalttaten einen rechtsextremistischen Hintergrund auf. Dies bedeutet im Vergleich zum Jahr 2018 einen Anstieg um etwa 64 Prozent und ist damit sowohl der höchste Stand als auch der höchste lineare Anstieg in den letzten fünf Jahren. Dieser signifikante Zuwachs resultiert insbesondere aus der nahezu verdoppelten Zahl der "anderen Straftaten" (insbesondere Propagandadelikte). Insgesamt ist für alle Kategorien der im Jahr 2019 erfassten rechtsextremistischen Delikte ein Anstieg gegenüber dem Vorjahr zu konstatieren. Ebenso ist für die rechtsextremistischen Gewalttaten ein Zuwachs um sechs Delikte (2018: 25) festzustellen, wobei deren Anstieg mit einer Erhöhung um knapp ein Viertel geringer als im letzten Berichtsjahr (etwa 56%) ausfiel. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die rechtsextremistischen Gewalttaten im Berichtsjahr mit dem Mord an Dr. Walter Lübcke und dem Anschlag auf den aus Eritrea stammenden Migranten ein Tötungsdelikt und ein versuchtes Tötungsdelikt enthalten. | 2019 2018 2017 2016 2015 Deliktart Tötung 1 Versuchte Tötung 1 1 Körperverletzung 29 24 13 19 17 Brandstiftung/Sprengstoffdelikte 2 3 Landfriedensbruch 1 Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs-, Luftund Straßenverkehr Freiheitsberaubung, Raub, Erpressung, 1 1 2 Widerstandsdelikte Gewalttaten insgesamt 31 25 16 23 20 Sonstige Straftaten Sachbeschädigung 33 26 22 41 57 Nötigung/Bedrohung 19 7 6 29 16 Andere Straftaten (insbesondere Propagan803 481 496 706 566 dadelikte) Strafund Gewalttaten insgesamt 886 539 540 799 659 124 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER unter der Bezeichnung Reichsbürger und Selbstverwalter fasst der Angehörige: Verfassungsschutz Gruppierungen und einzelpersonen zusammen, In Hessen etwa 1.000, die aus unterschiedlichen Motiven und mit unterschiedlichen Bebundesweit etwa 19.000 gründungen das Grundgesetz, die Bundesrepublik deutschland Medien: und deren Rechtssystem, die Staatsorgane und die demokratisch Internetpräsenzen gewählten Repräsentanten nicht anerkennen und ihnen die Legitimation absprechen. Reichsbürger propagieren das Fortbestehen ei- \ nes historischen deutschen Reichs, Selbstverwalter erfinden Fantasiestaaten und beanspruchen für sich ein von der Bundesrepublik deutschland unabhängiges territorium. Insgesamt erkennen Reichsbürger und Selbstverwalter die Bundesrepublik nicht als Staat an. Sie verstehen sich als außerhalb der Rechtsordnung stehend und fordern Behörden sowie Gerichte auf, geltendes Recht nicht anzuwenden. darüber hinaus können sich Bestrebungen von Reichsbürgern und Selbstverwaltern auch gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richten. wenn solche aktivitäten mit gebietsrevisionistischen Forderungen verbunden sind, steht dies nicht mit dem Gedanken der Völkerverständigung in einklang. Insgesamt sind Reichsbürger und Selbstverwalter in hohem Maße bereit, gegen Gesetze zu verstoßen. um die eigene weltanschauung zu verbreiten, sich auszutauschen und sich in einzelfällen auch zu vernetzen, ist das Internet das vornehmliche Medium der Reichsbürger und Selbstverwalter. Mittels webseiten, youtube-kanälen oder Präsenzen auf Social-Media-Plattformen prangert die Szene angebliche Missstände sowie deren angebliche Verursacher an sowie verbreitet, teilt und diskutiert vermeintliche Lösungsund argumentationshilfen. auch außerhalb des virtuellen Raumes versucht die Szene ihre Ideologie in die Öffentlichkeit zu tragen und hier Stellung zu einzelnen Sachverhalten zu beziehen, etwa durch demonstrationen, kundgebungen oder Rundschreiben. die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder beobachten die Reichsbürger und Selbstverwalter seit dem 22. november 2016 in Gänze. AUF EINEN BLICK * Heterogene Szene * Rechtsextremistische Positionen innerhalb der Szene * Personenpotenzial * entzug waffenrechtlicher erlaubnisse * widerstand gegen Staat und Verwaltung * "Malta-Masche" * deliktfelder * Gefährdungsbewertung 126 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER Heterogene Szene | Die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter weist einen hohen Grad an Heterogenität auf, die sich sowohl in einer Vielzahl an Gruppierungen und Einzelpersonen als auch in einem breiten Spektrum an Weltanschauungen widerspiegelt. So umfasst die Szene Verschwörungstheoretiker, ideologisierte Rechtsextremisten, Leichtgläubige sowie finanziell Gescheiterte. Verschwörungstheoretiker sind davon überzeugt, dass die Bundesrepublik Deutschland kein souveräner Staat, sondern lediglich eine fremdbestimmte Kolonie respektive ein kommerziell ausgerichtetes Wirtschaftsunternehmen sei. Kontrolliert würden diese Gebilde von den Alliierten, Einzelpersonen oder Geheimlogen. Neben verschwörungstheoretischen Positionen finden sich auch geschichtsrevisionistische, fremdenfeindliche, rassistische, antisemitische sowie fundamentalistisch-christliche und esoterische Positionen wieder. Personen, die durch den Vertrieb von Fantasiedokumenten oder durch das Anbieten von Rechtsberatungen, Seminaren und Schulungen versuchen, aus der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter finanziellen Profit zu schlagen, werden innerhalb des Phänomenbereichs den sogenannten Milieumanagern zugerechnet. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Ansichten und Beweggründe ist die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter als strukturarm zu bezeichnen. Zwar gab es vereinzelt Sympathiebekundungen für überregional aktive Szenegruppierungen, allerdings keine innerhalb der Szene allgemein anerkannten Strukturen oder Organisationen. Auch regional ließen sich in Hessen keine Schwerpunkte feststellen. Rechtsextremistische Positionen innerhalb der Szene | In der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter wird sichtbar, wie verschiedene Versatzstücke einzelner Verschwörungstheorien für die eigene Weltsicht herangezogen und nutzbar gemacht werden. Zwar ist die Szene ihrem Wesen nach nicht originär rechtsextremistisch, dort, wo jedoch antisemitische, rassistische und nationalistische Argumentationsmuster aufeinandertreffen, sind die Anhänger entsprechender Positionen als rechtsextremistisch zu bewerten. Für Hessen ist eine untere dreistellige Anzahl an Personen bekannt, die sowohl als Reichsbürger als auch als Rechtsextremisten eingestuft werden. Personenpotenzial | Das mit Stand zum 31. Dezember 2019 den Sicherheitsbehörden bekannte Personenpotenzial von rund 1.000 Reichsbürgern und Selbstverwaltern in Hessen unterschied sich von dem anderer extremistischer Phänomenbereiche auch durch seine Zusammensetzung. Waren andere Extremisten häufig junge Erwachsene oder befanden sie sich im Übergang zum Erwachsenenalter, lag das Durchschnittsalter bei Reichsbürgern und Selbstverwaltern Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 127 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER zwischen 45 und 60 Jahren. Knapp 75 Prozent der Szeneangehörigen waren männlich. Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung wies die Szene zudem einen unterdurchschnittlichen Anteil an Akademikern auf. entzug waffenrechtlicher erlaubnisse | Der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter ist eine hohe Waffenaffinität zu eigen. In Bezug auf waffenrechtliche Erlaubnisse und Schusswaffenbesitz gilt für Reichsbürger und Selbstverwalter - wie auch für andere extremistische Phänomenbereiche - eine Nulltoleranzstrategie der hessischen Sicherheitsbehörden. So wurden durch die enge Zusammenarbeit der hessischen Sicherheitsund Waffenbehörden zahlreichen Reichsbürgern und Selbstverwaltern die waffenrechtlichen Erlaubnisse entzogen und deren Schusswaffen sichergestellt. Zum Ende des Berichtsjahrs 2019 lag die Anzahl der Personen, die dem Spektrum der Reichsbürger und Selbstverwalter zugerechnet wurden und über eine waffenrechtliche Erlaubnis verfügten, im unteren bis mittleren zweistelligen Bereich. Auch in Zukunft ist es das ausgewiesene Ziel der Hessischen Landesregierung und der Sicherheitsbehörden in Hessen, dass kein ihnen bekannter Reichsbürger oder Selbstverwalter waffenrechtliche Erlaubnisse oder Legalwaffen besitzt bzw. Legalwaffen im Fall des Besitzes entzogen werden. widerstand gegen Staat und Verwaltung | Reichsbürger und Selbstverwalter bringen ihre Gesinnung auf unterschiedlichste Art und Weise zum Ausdruck: verbale Äußerungen gegenüber Polizisten und anderen Behördenmitarbeitern, sich einer Personenkontrolle entziehen, Widerstand gegen gerichtlich angeordnete Zwangsvollstreckungen oder etwa die Rückgabe von amtlichen Identitätsnachweisen. Das Gros der Reichsbürger und Selbstverwalter wendet sich aber mit schriftlichen Eingaben an Behörden und deren Mitarbeiter, um die eigene Weltsicht argumentativ zu verdeutlichen, etwaige Strafen zu vermeiden und Ämter an ihrem rechtmäßigen Handeln zu hindern. Dieses Vorgehen ist auch unter dem Begriff "paper terrorism" bekannt. Der hohe Grad der Heterogenität der Szene spiegelt sich auch in der Art und in dem Umfang solcher Eingaben wider. Während ein Teil auf Vordrucke aus dem Internet zurückgreift, verfasst ein anderer Teil der Szene mitunter umfangreiche Schriftstücke, Pamphlete oder "Rechtsgutachten". Die folgenden Auszüge sind exemplarisch für Schreiben, mit denen sich Reichsbürger und Selbstverwalter an Behörden wenden: "Sehr geehrte Frau ..., ich bin der Mensch ... aus der Familie ..., autorisierter Repräsentant ... ohne Präjudize gemäß UCC - alle Rechte vorbehalten ohne Ausnahme. 128 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER Aufgrund offener ungeklärter Fragen kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt das Treuhandverhältnis für ..., welches der Bund zurzeit inne hat nicht übernehmen. Am oben genannten Datum hat die Person ... ein Angebotsschreiben der vorgenannten Firma Amtsgericht mit D-U-N-S Nr. 341 832 633 (laut internationalem Firmenregister) zugesandt bekommen. In dem Angebotsschreiben geht es um eine nicht schriftliche nachgewiesene sogenannte Forderung der Firma Regierungspräsidium ... mit der D-U-N-S Nr. 341 832 633 (laut internationalem Firmenregister). Ein über den von Ihnen aufgeführten Gesamtbetrag schriftlicher Leistungsbescheid mit einer detaillierten Aufstellung des geforderten Betrages der o.g. Firma liegt bis zum heutigen Tag nicht vor. Sie drohen über ihre Firma in rechtswidriger Weise ohne hierfür legitimiert zu sein, mit mehreren Zwangsmitteln, sollte der geforderte Geldbetrag nicht innerhalb zwei Wochen auf Ihrem Firmenkonto verbucht sein. Hierzu ist anzumerken, sollten Sie dazu legitimiert sein, dass das Drohen mit mehreren Zwangsmitteln rechtswidrig ist ... . Des Weiteren drohen Sie noch mit der Vollstreckung durch einen Gerichtsvollzieher, der seit 2012 lt. Gerichtsvollzieherverordnung nur noch privater Handelsvertreter ist und daher auch nicht legitimiert ist, die von Ihnen aufgezählten rechtswidrigen Handlungen durchzuführen". (Schreibweise wie im Original, Auslassungen wurden gekennzeichnet.) Dieses Zitat verdeutlicht, dass der Verfasser das entsprechende Amtsgericht bzw. das Regierungspräsidium als Firmen und deren Schreiben als Angebote wahrnimmt, die nach eigenem Ermessen angenommen oder abgelehnt werden können. Dabei werden den Mitarbeitern der Behörden die Legitimation und die Rechtmäßigkeit ihres Handelns abgesprochen. Häufig fügen Reichsbürger und Selbstverwalter ihren Schreiben sogenannte Lebenderklärungen bei, mittels derer sich Szeneangehörige außerhalb der geltenden Rechtsordnung stehend definieren: "Privat - Streng vertraulich! Ausserhalb des öffentlichen Protokolls! Sehr geehrter ... in der Tätigkeit als [Präsident], Sie erhalten heute als [Leiter] bzw. [Präsident] des ... folgende Unterlagen zur Kenntnisnahme, Registrierung und Weiterleitung an die verantwortlichen Stellen innerhalb des Verwaltungskonstrukts Bundesrepublik Deutschland bzw. Bund: Lebenderklärung von ...: aus der Familie ... . Als einzig beitragender Begünstigter der vom Bund geschöpften/geborenen juristischen Person ... (Geburtenbond) [EStA Registereintrag ...] muß ich mich, ... aus der Familie ... alle sieben Jahre für lebend erklären, da ich ansonsten gemäß House Joint Resolution (HJR 192) als einzig beitragender Begünstigter der Person nach dem Cestui Que Vie Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 129 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER Act von 1666 für tot erklärt werde und meine Ansprüche an diesem Geburtenbond verliere. Dies war mir bis dato vollkommen unbekannt, da den Menschen in Deutschland solche verborgenen Bestimmungen nicht bekannt gemacht werden". (Schreibweise wie im Original, Auslassungen wurden gekennzeichnet) Reichsbürger und Selbstverwalter reichern ihre "Argumentationsketten" häufig mit tatsächlich bestehenden Rechtsnormen an. Dadurch sollen ihre Schreiben eine juristische Anmutung erhalten und die Behörden beschäftigt sowie die Adressaten eingeschüchtert werden. Klassische Szeneschreiben entfalten allerdings keine Rechtsgültigkeit, da die aufgeführten Rechtsnormen zum überwiegenden Teil aus dem Zusammenhang gerissen sind und in Verbindung mit fiktiven oder mittlerweile historischen Gesetzen verwendet werden. "Guten Tag ..., das Schreiben vom ... [- Ordnungswidrigkeit am ... mit dem PKW ... -] ist nicht rechtsichere ausgestellt und wird wegen offenkundigen Mangel und Verstoß nicht nur gegen Artikel 23 Erster Hauptteil Ziffer II HV, Artikel 17 Abs. Erster Hauptteil 1. Abschnitt Verf RP, Artikel 77 Abs. 2 Zweiter Hauptteil I. Abschnitt VErf RP und Artikel 20 Abs. 3 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, sowie Artikel 126 Satz 2 Zweiter Hauptteil Ziffer VII HV, Artikel 121 Zweiter Hauptteil V. Abschnitt Verf RP und 97 (1) GG für die Bundesrepublik Deutschland, sowie Artikel Artikel 20 Satz 1, 2 und 3 Erster Hauptteil Ziffer II HV, Artikel 6 Erster Hauptteil Ziffer 1 ... vollumfänglich und unwiderruflich sowie kostenpflichtig zurückgewiesen. ... Des Weiteren haben Sie, die Grundrechtverpflichteten, sich an Artikel 46 HLKO [Schutz des Einzelnen und des Privateigentums] und Artikel 47 HLKO [Plünderungsverbot] zu halten. Das Plündern ist Ihnen ausdrücklich untersagt. Es wird hiermit offiziell und öffentlich Haus-, sowie Wohnungsbetretungs-, und darüber hinausgehende Kontaktverbot erteilt. Von weiteren die rechtsstaatliche Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland in Deutschland rechtsmissbräuchlich strafbewehrt unterwanderten Offerten wollen Sie bitte Abstand nehmen". (Schreibweise wie im Original, Auslassungen wurden gekennzeichnet.) "Malta-Masche" | Reichsbürger und Selbstverwalter versuchten mitunter, sich nicht nur dem behördlichen Zugriff zu entziehen, sondern ihrerseits Behördenmitarbeiter widerrechtlich zu belangen. Hierfür erfanden Reichsbürger und Selbstverwalter im Zuge der "MaltaMasche" Schulden eines Behördenmitarbeiters und trugen diese in das amerikanische Online-Register Uniform Commercial Code (UCC) ein. Anschließend wurden die Forderungen an ein maltesisches 130 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER Inkassounternehmen abgetreten, um einen vollstreckbaren Titel nach dem europäischen Mahnverfahren zu erreichen. Nach Ansicht des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz und des Auswärtigen Amts stellt dieses missbräuchliche Verfahren einen Betrugsversuch dar. Eine Durchsetzung ihrer erfundenen Forderungen gelang Szeneangehörigen bislang nicht. deliktfelder | Zu den szenetypischen strafrechtlich relevanten Deliktfeldern gehören insbesondere Betrug, Hausfriedensbruch, Nötigung und Sachbeschädigung, aber auch Gewaltdelikte. Da Reichsbürger und Selbstverwalter beanspruchen, Repräsentanten eines wie auch immer gearteten Deutschen Reiches bzw. einer eigenen Staatlichkeit zu sein, kommt es regelmäßig zu Amtsanmaßungen, Urheberrechtsverletzungen sowie Urkundenund Kfz-Kennzeichenfälschungen. Gefährdungsbewertung | Aufgrund der hohen Heterogenität der Szene der Reichbürger und Selbstverwalter ist eine pauschale Gefährdungsbewertung nur eingeschränkt möglich. Gemein ist der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter jedoch die Negierung der Bundesrepublik Deutschland. Dies führt zur generellen Ablehnung jeglicher hoheitlicher Handlungen, von denen die Szene betroffen ist. Staatliche Maßnahmen nimmt sie als illegitim wahr, weshalb sich aus ihrer Sicht ein selbstdeklariertes, vermeintliches "Recht auf Notwehr" ergibt. Reichsbürger und Selbstverwalter sind bereit, dieses "Recht auf Notwehr" auch gegenüber Gerichtsvollziehern oder Polizisten durchzusetzen. In diesem Kontext kommt es immer wieder zu Widerstandshandlungen, in einigen Fällen sogar zum Gebrauch von Schusswaffen. Verbunden mit der Waffenaffinität der Reichsbürger und Selbstverwalter, ist das der Szene immanente Gewaltpotenzial daher nach wie vor als hoch zu bewerten. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 131 REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER 132 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE VoR 75 JaHRen BeFReIt: docH eS waR nIcHt nuR auScHwItz ... Projekt "Stolpersteine" in wiesbaden ZEITFÜRGESCHICHTE 1 "Ich bin allzeit, das beweisen die Kämpfe seit meiner Kindheit und Jutext gend, das beweist jeder Tag meines Lebens, eine Kämpferin für das Recht und die Ehre des Judentums gewesen. Ich habe auch nicht [...] mein Judentum wie [Heinrich] Heine als ein Unglück empfunden. Oh nein! [...] Ich war nicht nur Jüdin, ich war zuerst und vor allen Dingen Deutsche. Das konnte gar nicht anders sein. Meine Vorfahren saßen jahrhundertlang auf deutschem Boden und waren von deutscher Kultur und deutschen Urkräften durchdrungen. Ich selbst war bewusst deutsch, bevor ich noch etwas vom Judentum wusste". 2 "Die Gemeinde hatte sich in zwei Gruppen geteilt, die einen waren in text ihren Häusern geblieben, die anderen zum Bischof geflüchtet. Da erhoben sich die ,Steppenwölfe' [die Kreuzfahrer] wider die Daheimgebliebenen und plünderten sie aus, Männer, Frauen und Kinder, jung und alt. Sie brachten die Wohntürme zum Einsturz und zerstörten die Häuser. Sie nahmen die Torarolle und traten sie in den Schmutz, zerrissen und verbrannten sie [...]. An die achthundert betrug die Anzahl der Getöteten [...] und alle wurden nackt zu Grabe gebracht". 3 "Als Jude war man geboren, und als Deutscher wurde man erzogen. text Heute - nach der von Deutschland aus betriebenen größten Judenverfolgung aller Zeiten - fragt man sich, war es ein Gegensatz oder war es keiner? [...] Unter dem Kaiser [...] glaubte die überwiegende Mehrheit der deutschen Juden nicht an einen Gegensatz. Es galt, wie man sich das vorstellte, die Reste des Mittelalters abzuwerfen. Die Liebe zur Heimat war völlig echt, die Idee der Nation religiös neutral. [...] Warum z. B. in einem Schwarzwaldkurort norddeutsche Kinder, mit denen man heute gespielt und einen Ausflug unternommen hatte, am nächsten Morgen davon nichts mehr zu wissen schienen und nach kurzem Gruß in die Luft guckten, blieb als Frage offen". 4 "Wir wollen zwar nicht leugnen, dass manchem unter uns die Vorwürfe text von Betrug beim Handeln und Faulheit beim Arbeiten recht vorzüglich treffen! Wir glauben aber, dass die Menschen im ganzen betrachtet mit gleichen Neigungen, Anlagen und Fähigkeiten geboren werden [...]. Aber solange wir von Ackerbau und Handwerk und von allen andern rechtmäßigen Erwerbsarten ausgeschlossen und auf den Handel eingeschränkt sind, müssen unsere Neigungen und Fähigkeiten auch eine einseitige Richtung nehmen und können nie so veredelt und ausgebildet werden wie bei den Christen, denen jeder Weg zum Erwerb offen steht". 5 "Die Gruben waren 24 m lang und ungefähr 3 m breit, [die Juden] musstext ten sich hinlegen wie die Sardinen in einer Büchse, Köpfe nach der Mitte. Oben sechs Maschinenpistolenschützen, die dann den Genickschuss beibrachten. Wie ich kam, war sie schon voll, da mussten die Lebenden also dann sich drauflegen, und dann kriegten sie den Schuss; damit 134 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE nicht so viel Platz verloren ging, mussten sie sich schön schichten. Vorher wurden sie aber ausgeplündert an der einen Station - hier war der Waldrand, hier waren die drei Gruben an dem Sonntag, und hier war noch eine 1 1/2 km lange Schlange, und die rückte schrittchenweise - es war ein Anstehen auf den Tod. Wenn sie hier nun näher kamen, dann sahen sie, was drin vor sich ging. Ungefähr hier unten mussten sie ihre Schmucksachen und ihre Koffer abgeben. [...] Das war zur Bekleidung von unserem notleidenden Volk - und dann, ein Stückchen weiter, mussten sie sich ausziehen und 500 m vor dem Wald vollkommen ausziehen, durften nur Hemd und Schlüpfer anbehalten. Das waren alles nur Frauen und kleine Kinder, so 2jährige. Dann diese zynischen Bemerkungen! Wenn ich noch gesehen hätte, dass diese Maschinenpistolenschützen, die wegen Überanstrengung alle Stunden abgelöst wurden, es widerwillig gemacht hätten! Nein, dreckige Bemerkungen: ,Da kommt ja so eine jüdische Schönheit.' Das sehe ich noch vor meinem geistigen Auge. Ein hübsches Frauenzimmer in so einem feuerroten Hemd. Und von wegen Rassenreinheit: In Riga haben sie zuerst rumgevögelt und dann totgeschossen, dass sie nicht mehr reden konnten". 6 "Die Zahl der Juden in Westeuropa ist so gering, dass sie einen fühlbaren Einfluß auf die nationale Gesinnung [in Deutschland] nicht text ausüben können, über unsere Ostgrenze aber dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schaar strebsamer, hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen; die Einwanderung wächst zusehends, und immer ernster wird die Frage, wie wir dies fremde Volksthum mit dem unseren verschmelzen können. [...] Was wir von unseren israelitischen Mitbürgern zu fordern haben, ist einfach: sie sollen Deutsche werden, sich schlicht und recht als Deutsche fühlen - unbeschadet ihres Glaubens [...]. Am Gefährlichsten aber wirkt das unbillige Uebergewicht des Judenthums in der Tagespresse - eine verhängnißvolle Folge unserer engherzigen alten Gesetze, die den Israeliten den Zugang zu den meisten gelehrten Berufen versagten. Ueberblickt man alle diese Verhältnisse [...] so erscheint die laute Agitation des Augenblicks doch nur als eine brutale und gehässige, aber natürliche Reaction des germanischen Volksgefühls gegen ein fremdes Element, das in unserem Leben einen allzu breiten Raum eingenommen hat". 7 "Das ganze Gerede von der angeblichen Mehrheit ist wirkungslos, wenn man feststellt, dass der Schreihals im Anne-Frank-T-Shirt auf dem Markttext platz auftaucht, und die einzigen, die sich ihm entgegenstellen, sind die antifaschistischen Leute, die ich seit Jahren persönlich kenne. Der Großteil der Gesellschaft geht daran vorbei und stört sich nicht an missbrauchten Judensternen. Am Ende muss die Minderheit auch für sich selbst einstehen können". Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 135 ZEITFÜRGESCHICHTE 8 ",Dass man ihre Synagogen und Schulen mit Feuer anstecke und, was text nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte, dass kein Mensch einen Stein oder Schlacke davon sehe ewiglich. [...] Dass man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre. [...] Dass man ihnen nehme alle ihre Betbüchlein und Talmudisten [...]. Will das nicht helfen, müssen wir sie wie die tollen Hunde ausjagen [...]. Pfui euch hie, pfui euch dort, und wo ihr seid, ihr verdammten Juden, dass ihr die ernsten, herrlichen, tröstlichen Worte Gottes so schändlich auf euern sterblichen, madigen Geizwanst [zu] ziehen düret [= wagt] und schämet euch nicht, euern Geiz so gröblich an den Tag zu geben! Seid ihr doch nicht wert, dass ihr die Biblia von außen sollet ansehen, [ge]schweige dass ihr drinnen lesen sollet! Ihr solltet allein die Biblia lesen, die der Sau unter dem Schwanz stehet, und die Buchstaben, die daselbst herausfallen, fressen und saufen'". 9 "Hier oben sieht man so viele Strafgefangenenlager, die Bauarbeiten und text noch so verschiedenes machen. Juden kommen hier, das heißt in Auschwitz, wöchentlich 7-8000 an, die nach kurzem den ,Heldentod' sterben. Es ist doch gut, wenn man einmal in der Welt umher kommt..." 10 "Fatal waren die Juden; ihre frechen, unschönen Gaunergesichter (denn text in Gaunerei liegt ihre ganze Größe) drängen sich einem überall auf". G ewöhne dich nie an Ungerechtigkeiten. Eine Ungerechtigkeit ist " wie ein Sandkorn in der Hand, man spürt ihr Gewicht nicht. Doch Ungerechtigkeiten neigen dazu, sich zu vermehren, es werden mehr und mehr, und bald werden sie so schwer, dass du sie nicht länger tragen kannst. Und nach einiger Zeit wird trotzdem die nächste Ungerechtigkeit kommen". auschwitz als Synonym für den Holocaust | Mit diesen Worten fasste Hedi Fried in ihrem 2019 erschienenen Buch "Fragen, die mir [von Schülerinnen und Schülern] zum Holocaust gestellt werden", "eine der Lehren aus dem Holocaust" zusammen. Als 19-Jährige war Hedi Fried, die heute in Schweden lebt, zusammen mit ihrer Familie am 15. Mai 1944 aus dem zwei Monate zuvor von deutschen Truppen besetzten Ungarn in das Konzentrationsund Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert worden. "Die wenigen, die nach Ankunft als arbeitsfähig taxiert und nicht gleich ins Gas geschickt und sodann verbrannt wurden, hatten Sklavenarbeit zu verrichten. Sie erlagen", so fasste die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) am 25. Januar 2020 das ungeheuerliche Geschehen zusammen, "mit hoher Wahrscheinlichkeit Krankheit, Unterernährung, Erschöpfung, Misshandlung oder medizinischen Experimenten. Der Phantasie des Tötens waren in Auschwitz keine Grenzen gesetzt". "Auschwitz begreifen zu wollen", 136 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE überschrieb die NZZ ihren Artikel, "gleicht dem Versuch, offenen Auges in die Sonne zu starren". Angesichts der alle rationale und emotionale menschliche Vorstellungskraft übersteigenden Monstrosität des in Auschwitz verübten ",industriellen Massenmords'" (Frank Bajohr, 2015) mag der von der Holocaust-Überlebenden Hedi Fried vergleichsweise milde formulierte und an Schülerinnen und Schüler gerichtete Appell "Gewöhne dich nie an Ungerechtigkeiten" überraschen. Die "Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen" (Micha Brumlik, 2015, und bereits Jürgen Habermas im Jahr 1986), und der damit verbundene ungeheuerliche Zivilisationsbruch in Form des Holocaust ist die deutsche "Jahrhundertschuld" (Thomas Schmid, 2020). Auschwitz ist, so der Historiker Götz Aly (2020) der "Tiefpunkt der deutschen Geschichte", "das Synonym", wie es auf der Internetseite der Landeszentrale für politische Bildung BadenWürttemberg heißt, "für den Massenmord der Nazis an Juden, Sinti und Roma und anderen Verfolgten. Auschwitz ist Ausdruck des Rassenwahns und das Kainsmal der deutschen Geschichte. Der 27. Januar, der Tag der Befreiung von Auschwitz, ist daher kein Feiertag im üblichen Sinn. Er ist ein ,DenkTag': Gedenken und Nachdenken über die Vergangenheit schaffen Orientierung für die Zukunft. Die beste Versicherung gegen Völkerhass, Totalitarismus, Faschismus und Nationalsozialismus ist und bleibt die Erinnerung an und die aktive Auseinandersetzung mit der Geschichte. 2020 jährt[e] sich die Befreiung des KZ Auschwitz zum 75. Mal. 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz beobachten wir ein Wiedererstarken des Antisemitismus in Deutschland und eine Zunahme antisemitischer Gewalttaten. Vor diesem Hintergrund ist die Auseinandersetzung mit den bedrückendsten Wahrheiten unserer Geschichte besonders gefordert". ungerechtigkeiten im keim ersticken | Was könnte Hedi Fried mit ihrem an Schülerinnen und Schüler gerichteten Appell "Gewöhne dich nie an Ungerechtigkeiten" bezwecken? Die meisten der oben abgedruckten Texte (1-10) sind in ein äußerst weit gestrecktes Spektrum einzuordnen. Es reicht von vermeintlich nicht schwer wiegenden "Ungerechtigkeiten" bis hin zu schlimmsten Grausamkeiten bzw. Mordtaten: Jüdische und "deutsche" Kinder dürfen von einem auf den anderen Tag nicht mehr miteinander spielen, Menschen jüdischen Glaubens werden dazu aufgefordert, "sich schlicht und recht als Deutsche" zu fühlen, Juden werden massiv beschimpft, die Torarolle wird ihnen weggenommen und anschließend verbrannt, Frauen werden vergewaltigt, Juden werden zum "Anstehen auf den Tod" gezwungen und ermordet. Was Hedi Fried als "Ungerechtigkeit" in der Größe und im Gewicht eines Sandkorns bezeichnet, fängt im Kleinsten an. In der 2019 erHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 137 ZEITFÜRGESCHICHTE schienenen Studie "Verlorene Mitte. Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19" stellten Beate Küpper und Andreas Zick fest: "Antisemitismus beginnt im ,Andersmachen' und ,AndersgemachtWerden', einem in der Forschung benannten ,Othering', wenn beispielsweise von ,Deutschen' und ,Juden' gesprochen wird, als wenn Jüdinnen und Juden keine Deutschen wären bzw. sein sollten. Antisemitismus äußert sich in beiläufigen Bemerkungen, Distanzierung, Diskriminierung, (durchaus auch ungewollt, aber eben auch ohne nachzudenken [...]). Im äußersten Fall mündet der Antisemitismus in Verfolgung, Vernichtung, Genozid". Die von Hedi Fried bewusst vorgenommene Reduktion auf ein "Sandkorn", das dazu neigt sich zu vermehren, beschreibt das, was einem Menschen in keiner Epoche jemals zustoßen darf und was in unserer heutigen freiheitlichen demokratischen Grundordnung als unverrückbarer Wert an erster Stelle steht: Niemals dürfen auch nur ansatzweise die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte verletzt oder sogar außer Kraft gesetzt werden. Doch wo beginnt eine vermeintlich harmlose, kaum wahrnehmbare "Ungerechtigkeit" und ab welchem Punkt schlägt sie in mörderische Monstrosität um? Die oben versammelten Zitate, die vom Mittelalter bis in unsere Gegenwart reichen, können hierüber in vielfacher Weise Auskunft geben. Was ihre historische Chronologie betrifft, sind die Texte absichtlich wie in einem Kaleidoskop durcheinandergewürfelt, denn es gibt, so die in Frankfurt am Main beheimatete Kommission des Leo Baeck Instituts zur Verbreitung deutsch-jüdischer Geschichte (2011), "keine kontinuierliche Verfolgung der Juden von den Kreuzzügen [1095 Aufruf zum ersten Kreuzzug in Clermont-Ferrand] bis zum Nationalsozialismus [1933-1945]": "Die Juden waren im Verlauf der Geschichte nicht nur Objekte, Verfolgte und Opfer, sondern auch Subjekte, d. h. aktive Bürger und kreative Gestalter von Kultur, Wirtschaft und Geschichte in Europa". eine emanzipierte Frau | Im ersten Text spricht mit Henriette Fürth (1861-1938) eine selbstbewusste Frau, die zusammen mit der Jüdin Bertha Pappenheim (1859-1936) in Frankfurt am Main im Jahr 1902 den Verein Weibliche Fürsorge gründete, für das Frauenwahlrecht kämpfte und ebenfalls in Frankfurt die Rechtsschutzstelle für Frauen leitete. Ähnlich wie katholische und protestantische Glaubensangehörige fühlte sich Henriette Fürth "deutsch", hatte also mit ihrer nahtlosen Identifikation von "Deutschund Judentum" all jene negativen kollektiven Erfahrungen hinter sich gelassen, die sehr viele Juden im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit wegen eines christlich moti138 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE vierten Antijudaismus (Texte 2 und 8) durchlitten hatten. Dass zwei ihrer Töchter 1944 in Auschwitz ermordet wurden, musste Henriette Fürth nicht mehr erleben, ihren anderen sechs Kindern glückte es, rechtzeitig nach England und Palästina auszuwandern. antijudaismus und antisemitismus | Der Frankfurter Rechtsanwalt Selmar Spier (1893-1962) war sich im Unterschied zu Henriette Fürth nicht sicher, ob es nicht doch einen Gegensatz zwischen "Deutschen" und Juden gäbe (Text 3). In seinem Buch "Vor 1914. Erinnerungen an Frankfurt geschrieben in Israel" formulierte er die - für ihn als Jugendlichen unbeantwortete - Frage, warum "deutsche" Kinder plötzlich nicht mehr mit jüdischen Altersgenossen spielten. Dies war jedoch, um mit Hedi Fried zu sprechen, eine Ungerechtigkeit. Nachdem die Geheime Staatspolizei (Gestapo) seine Schwiegermutter 1933 verhaftet hatte, entschied sich Selmar Spier zur Emigration und wanderte zwei Jahre später nach Palästina aus. Seine Familie folgte ihm kurz darauf. In der oben zitierten Passage seiner Erinnerungen thematisierte Selmar Spier die antisemitischen Ressentiments "deutscher" Eltern, die sie offenkundig auf ihre Kinder übertrugen. Diese Vorurteile resultierten - nach dem langen und beschwerlichen Weg der wirtschaftlichen und politisch-rechtlichen Emanzipation der Juden im 18. und 19. Jahrhundert (Text 4, Eingabe der jüdischen Gemeinde in Fürth an die Kreisversammlung am 14. Februar 1792) - aus verschiedenen Faktoren: So war auf protestantischer Seite die rein theologisch begründete, aber sehr massive Judenfeindlichkeit des Reformators Martin Luther (1483-1546) nach wie vor virulent ("Von den Juden und ihren Lügen", Text 8). Etwa seit 1850 wurde in Deutschland "die Judenfrage" zu einem festen Begriff. Nach der Reichsgründung kamen im nun vom protestantischen Preußen dominierten Kaiserreich (1871-1918) die "ersten breitenwirksamen antisemitischen Äußerungen [...] von katholischer Seite" (Hermann Greive, 1983) hinzu. Sie waren unter anderem Ausdruck von Ängsten, die unter Katholiken wegen des vom preußischen Staat gegen die katholische Kirche geführten Kulturkampfs aufstiegen und ein geeignetes Ventil suchten. Inmitten einer im Kaiserreich schwierigen wirtschaftlichen Phase - etliche Historiker sprechen von einer von 1873 bis 1895 dauernden "Großen Depression" (Richard H. Tilly, 1990) - mischte sich unter den latenten christlichen Antijudaismus beider Konfessionen ein rassistisch, ökonomisch und national motivierter Antisemitismus. Mit der 1879 veröffentlichten Hetzschrift Wilhelm Maars (1819-1904) "Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum. Vom nicht-confessionellen Standpunkt aus betrachtet", die im Erscheinungsjahr zwölf (!) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 139 ZEITFÜRGESCHICHTE Auflagen erfuhr, und mittels der von ihm ins Leben gerufenen Antisemitenliga hielt der Begriff "Antisemitismus" Einzug in das "politische Vokabular" (Claudia Prinz, 2014). In dieser Hinsicht agitierte in Berlin vor allem der evangelische Hofund Domprediger Adolf Stoecker (1835-1909); als einer der wichtigsten antisemitischen Agitatoren gesellte sich im November 1879 der Historiker Heinrich von Treitschke (1834-1896) hinzu, indem er den Aufsatz "Unsere Aussichten" in den von ihm selbst herausgegebenen Preußischen Jahrbüchern veröffentlichte (Text 6). Darin stand die in ihrer Wirkungsgeschichte so verhängnisvolle Äußerung: "Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf [...] ertönt es heute aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!" Seit 1927 war der Satz "Die Juden sind unser Unglück" in jeder Ausgabe der volksverhetzenden nationalsozialistischen Zeitung Der Stürmer zu lesen. "die Judenfrage" als Symptom für multifaktorielles "unbehagen" | Zusehends wurde die angebliche "Judenfrage" damit zu einer "Chiffre", die ein "politisches, kulturelles, ökonomisches Unbehagen zusammenfaßte, Existenzund Überfremdungsängste artikulierte und durch die neue Lehre des Rassenantisemitismus" (Wolfgang Benz, 2002) auf der Grundlage des biologistischen Sozialdarwinismus eine neue, letztlich mörderische Richtung nahm. So war ein Teil der deutschen Bevölkerung in der Zeit, als Stoecker und Treitschke ihre antisemitische Agitation starteten, "aus der Traditionsgesellschaft in die Moderne gestolpert" und sah sich durch "Industrialisierung und Urbanisierung, Verelendung und Entwurzelung" (Josef Joffe, 1996) in seiner Identität bedroht. ",Jüdischen Geist'" identifizierten die Antisemiten mit "Modernisierung, vor allem mit Kapitalismus und Ausbeutung, aber auch mit Sozialismus und Ausbeutung" (Burkhard Asmuss, 2015). Daher bezeichnete der linksliberale Historiker und spätere Literatur-Nobelpreisträger Theodor Mommsen (1817-1903) den von Treitschke vom Zaun gebrochenen "Antisemitismus-Streit" und das entsprechende Feindbild nicht nur als einen "Feldzug der Antisemiten", sondern auch als eine "Mißgeburt des nationalen Gefühls". ",Radau-antisemitismus'" und erste wahlerfolge im kaiserreich | Obwohl überwiegend Linksliberale und Sozialdemokraten energisch ihre Stimme gegen den wachsenden Antisemitismus erhoben, gründeten sich davon unbeeindruckt antisemitische Vereine und Parteien. Sie wurden unter anderem von dem in Frankfurt am Main geborenen Otto Boeckel (1859-1923), dem ersten bekennenden antisemitischen Reichstagsabgeordneten, geführt, ebenso von dem brandenburgischen Reichstagsabgeordneten Hermann Ahlwardt (1846-1914). Wegen seiner Popularität in der Landbevölkerung wurde Boeckel als "hessischer Bauernkönig" und seine Bewegung wegen ihres "tumultartigen Auftretens" als ",Radau-Antisemitismus'" bezeichnet: 140 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE Boeckel "bediente sich der agitatorischen und publizistischen Mittel rücksichtslos und geschickt, seine Zeitung ,Reichsherold' benutz[t]e eine Sprache, die in vielerlei Hinsicht die antisemitische Terminologie des Nationalsozialismus" (Gottfried Mehnert, 2003) vorwegnahm. In Dresden fand 1882 ein "internationaler" Kongress statt, um die Kontakte verschiedener antisemitischer Gruppierungen effektiver miteinander zu verzahnen (300 Teilnehmer aus Deutschland und Österreich-Ungarn). Stoecker behauptete in seinem Vortrag unter anderem, der Einfluss der Juden beruhe auf dem gewissenlosen Erwerb und Gebrauch des Kapitals. Im Refrain eines Lieds, das die Teilnehmer sangen, hieß es: ",Bald, Germanen, sei es wieder deutsch im deutschen Vaterland'". 1893 erzielten die Antisemiten ihr bestes Wahlergebnis vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914): Mit 16 von insgesamt 392 Mandaten (= vier Prozent der Sitze) zogen sie 1893, darunter Boeckel (zum zweiten Mal) und Ahlwardt, in den Reichstag ein. Schließlich erklärte die antisemitische Deutsch-Soziale Reformpartei 1899 in ihrem "Hamburger Programm", dass sich ",die Judenfrage im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Weltfrage'" entwickeln werde, weshalb diese ",endgültig durch völlige Absonderung und [...] schließliche Vernichtung des Judenvolkes gelöst werden" müsse (zit. nach Hans-Ulrich Wehler, 1988). Im Zuge der 1896 einsetzenden wirtschaftlichen Erholung verloren die antisemitischen Parteien unter den Wählern zwar erheblich an Zustimmung und versanken in die politische Bedeutungslosigkeit, doch neben Teilen der Landbevölkerung machten sich auch Angehörige des Bildungsbürgertums die antisemitische "Ideologie der Ungleichheit" (Henry Friedländer, 1997) im ausgehenden Kaiserreich und während der Weimarer Republik (1918-1933) immer mehr zu eigen. So findet sich in einem Brief Theodor Fontanes (1819-1898), eines der bedeutendsten deutschen Romanautoren, an seine Frau Emilie (1824-1902) der Satz wieder, der oben als Text 10 abgedruckt ist und den er am 17. August 1882 während seines Aufenthalts in Norderney geschrieben hatte. In dem 1897 im Buchhandel und heute noch als Nachdruck erhältlichen Reiseführer "Die Nordseeinsel Borkum einst und jetzt" hieß es sogar: "Ein besonderer Vorzug, welchen Borkum vor vielen Badeörtern voraus hat, besteht darin, daß es judenrein ist. So oft auch die Kinder Israels versuchten, so wurden sie doch stets weggeärgert, zwar nicht von der Borkumer Bevölkerung, sondern von den Kurgästen, welche die ,Auserwählten' nicht unter sich dulden wollten". Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 141 ZEITFÜRGESCHICHTE Der Historiker Hans-Ulrich Wehler gelangt im dritten Band seiner "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" (1995) zu dem ernüchternden Befund: "Trotz des [parlamentarischen] Scheiterns der Antisemitenparteien wäre es aber völlig verfehlt, ihre Niederlage mit einem Rückgang des modernen Antisemitismus überhaupt gleichzusetzen. Vielmehr hatte er sich inzwischen in manchen Sozialmilieus und Klassen der reichsdeutschen Gesellschaft verhängnisvoll tief eingenistet". Von der weimarer demokratie in den nationalsozialistischen totalitarismus | Vor dem Hintergrund des 1918 verlorenen Ersten Weltkriegs, der Mär ("Fake News"), dass die "Heimatfront" die Niederlage in heimtückischer Art und Weise bewerkstelligt habe ("Dolchstoßlegende"), und der schwierigen Bedingungen des Versailler Friedensvertrags begann eine "Jagd nach Sündenböcken". Der Ausdruck "Schmach von Versailles" war ein weitläufig, nicht nur unter Nationalsozialisten, verbreitetes Schlagwort. Im Unterschied zu den Nachkriegsjahren der Bundesrepublik dachten viele seit 1918 - trotz innenund außenpolitischer Erfolge in der Weimarer Republik - nicht an ein "heilsames Vergessen". Das Leiden an der Niederlage und die Verletzung des "kollektiven Selbstwertgefühls" wurden zur "Grundlage einer Massenbewegung und Mobilisierung" (Aleida Assmann, 2020). Die von den Nationalsozialisten methodisch betriebene und instrumentalisierte "Jagd nach Sündenböcken", die Treitschke und andere bereits im 19. Jahrhundert eröffnet hatten, erschloss den Nationalsozialisten zusammen mit etlichen anderen Ursachen (vor allem der seit 1929 virulenten Weltwirtschaftskrise) "bis 1932 ein bisher unvorstellbares Wählerpotenzial" (Hans-Ulrich Wehler, 1995). Vor allem junge Menschen schlossen sich dem Nationalsozialismus an, um sich in einer seit 1930 wirtschaftlich düsteren und scheinbar perspektivlosen Zeit die berufliche Existenz bzw. Zukunft zu sichern. So urteilte Magnus Brechtken (2017) über den späteren Lieblingsarchitekten Hitlers und Reichsminister für Bewaffnung und Munition, Albert Speer (1905-1981), "seit 1942 de facto ,zweiter Mann' im NS-Regime" (Krebs/Tschacher, 2007): "Seine frühe Mitgliedschaft [in der NSDAP 1931] ist ernst zu nehmen als Entscheidung eines Mannes aus dem bürgerlichen Milieu, aus dem sich weitere hunderttausend Gestalter des Regimes rekrutierten". - Später verstand es Speer, 1946 als Hauptkriegsverbrecher zu 20 Jahren Haft verurteilt, sich nach seiner Entlassung "meisterhaft" mit Zutun von Historikern und Journalisten als "guter Nazi" zu präsentieren. Seine "Selbststilisierung als unpolitischer Technokrat" (Heinrich Schwendemann, 2016), der von Auschwitz und der Ermordung der Juden nichts gewusst habe, wurde in der deutschen Gesellschaft mit großer Zustimmung, ja Erleichterung aufgenommen, wobei 142 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE Speers Neuorganisation der Rüstungsindustrie seit Anfang 1942 im Wesentlichen auf der engen Kooperation mit der Schutzstaffel (SS) und Heinrich Himmler (1900-1945), dem Chef der deutschen Polizei sowie Reichsführer SS, beruhte. Übelste antisemitische Hetzschriften kamen seit 1918 vermehrt in Umlauf, wobei Hitlers "Mein Kampf" nur die "Spitze des Eisbergs" bildete. Darüber hinaus verbreiteten sich während der Weimarer Republik im Rahmen eines auch wegen der Kriegsfolgen unter Druck stehenden Sozialsystems vermehrt "rassehygienische und sozialbiologische Ideen in der Berufswelt der Medizin, der Strafverfolgung, der Strafrechtspflege und der Sozialarbeit" (Richard J. Evans, 2004). Letzteres ist mit Blick auf das Konzentrationsund Vernichtungslager Auschwitz von Bedeutung, da dort der "Arzt" Dr. Josef Mengele (1901-1979) entsetzliche medizinische "Versuche" ("Zwillingsexperimente") durchführte, die meistens zum qualvollen Tod seiner Opfer führten. Mengele, der 1930 sein Medizinstudium begonnen und fünf Jahre später über die "Rassenmorphologische Untersuchung des vorderen Unterkieferabschnitts bei vier rassischen Gruppen" promoviert hatte, selektierte ebenso wie andere "Ärzte" der SS in Auschwitz "sowohl Neuankömmlinge an der Rampe als auch Häftlinge im Lager". In Mengeles Ermessen lag es, "Kinder, Kranke und Greise als nicht arbeitsfähig auszumustern und für den Tod in der Gaskammer zu bestimmen" (Sven Keller, 2014). Gepaart mit dem im Kaiserreich vergleichsweise "niedrigschwelligen, osmotischen" Antisemitismus (Götz Aly, 2020) waren es in Deutschland seit 1918 die vor allem durch die Weltkriegsniederlage manifest gewordenen Faktoren, die in den deutschen "Sonderweg" des eliminatorischen Antisemitismus des Nationalsozialismus mündeten. Denn der Antisemitismus in Russland, Polen und Frankreich (Dreyfus-Affäre) war vor dem Ersten Weltkrieg, so der amerikanische Historiker Eugen Joseph Weber salopp, aber zutreffend "selbstverständlich [...] wie Apfelkuchen" (Gordon A. Craig, 1996). In einer Besprechung des 2017 erschienenen Buchs des Schweizer Historikers Christian Gerlach "Der Mord an den europäischen Juden. Ursachen, Ereignisse, Dimensionen" machte Franz Horvath (2017) auf dessen Verdienst aufmerksam, gezeigt zu haben, wie in nahezu allen europäischen Ländern antisemitische Pläne und Vorhaben existierten sowie Verbände und Bewegungen bereits in der Zwischenkriegszeit (1919-1939) und erst recht im Verlauf des Zweiten Weltkriegs antisemitische Forderungen erhoben: "Journalistenund Ärzteverbände, Anwaltskammern, Studentenvereinigungen, Wirtschaftsorganisationen: unendlich ist die Liste der Einrichtungen, die in Frankreich, Polen, Ungarn, Rumänien und so weiter die Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 143 ZEITFÜRGESCHICHTE Ausgrenzung der Juden aus dem öffentlichen Leben, ihren Ausschluss oder die Einführung einer Numerus-Clausus-Regelung aufgrund besonderer nationaler Umstände forderten. Traf ein solcher gesellschaftlicher Druck auf Widerhall in Regierungskreisen, entstanden nicht nur so genannte ,Judengesetze', sondern sie bildeten im Falle regierungsamtlicher Pläne zu ethnischer Homogenisierung etwa im Zuge von Bevölkerungsumsiedlungen und -austauschen ein weiteres Motiv und einen nächsten Grund für den Mord an den Juden. Diese nationalen Motive und Gründe führten dann zu einer aktiven und bereitwilligen Mitarbeit an der [nationalsozialistischen] Judenvernichtung". Radikalisierung "der Judenfrage" im "dritten Reich" | Nach ihrer "Machtergreifung" im Jahr 1933 setzten die Nationalsozialisten die ihnen auf allen staatlichen und soziokulturellen Ebenen zur Verfügung stehenden Mittel ein, um "die Juden in irgendeiner Form aus der deutschen Gesellschaft auszuschalten" (Peter Longerich, 2002). Insbesondere schufen die Nationalsozialisten schrittweise mit Hilfe des Verwaltungs-, Polizeiund Justizapparats - "gerade auf kommunaler Ebene" (Wolf Gruner, 2000) - grundlegende rechtliche Konstruktionen, die später den Holocaust ermöglichten, und zwar in der Form, dass diese "Grundlagen keine rechtlichen Schranken enthielten, die es erlaubt hätten, den Genozid oder die dem Genozid vorgelagerten Schritte als Unrecht auszugrenzen" (Axel Azzola, 1989). So hoffte der spätere Generaloberst der Wehrmacht, Gotthard Heinrici (1886-1971), im Februar/März 1933 stellvertretend für viele andere Zeitgenossen, "dass wir aus der marxistisch jüdischen Schweinerei nun endlich herauskommen'" (Johannes Hürter, 2001), und befürwortete die ersten Entlassungen jüdischer Beamter, Angestellter und Ärzte: ",Ich habe nie die Juden in Bausch und Bogen verdammt, aber es ist sicher gut, wenn sie und das Centrum [i. e. die katholische Zentrumspartei] auf ihre wirkliche Bedeutung zurückgeführt werden. In den Schulen scheint auch schon gelüftet zu werden'". Die antisemitischen Maßnahmen der Nationalsozialisten (zum Beispiel der Boykott jüdischer Geschäfte 1933, die Verabschiedung der Nürnberger "Rassengesetze" und die Reichspogromnacht 1938) sind in der heutigen Öffentlichkeit allgemein bekannt bzw. sollten es sein. Weniger bekannt sind Maßnahmen, die seitens der Nationalsozialisten die - in der Wahrnehmung der meisten Deutschen - vermeintlich "kleineren", "erträglichen" Ausgrenzungen ("Ungerechtigkeiten") der Juden zum Ziel hatten. In dem angesichts der schleppenden bundesrepublikanischen "Vergangenheitsbewältigung" zu einem relativ frühen Zeitpunkt veröffentlichten Jugendroman "Damals war es 144 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE Friedrich" (1961) des Schriftstellers Hans Peter Richter (1925-1993) ist im Anhang eine Zeittafel beigefügt. Darin ist - wohl im Sinne Hedi Frieds - auch alltagsbezogenes und sich in der Konsequenz summierendes Unrecht aufgezählt, zum Beispiel: 21. April 1933 Das rituelle Schächten wird verboten. 6. Sept. 1935 Der Verkauf jüdischer Zeitungen im Straßenhandel wird verboten. 30. Sept. 1935 Alle jüdischen Beamten werden beurlaubt. 26. April 1938 Juden müssen ihr Vermögen angeben. 6. Juli 1938 Juden werden bestimmte Gewerbe untersagt (zum Beispiel Makler, Heiratsvermittler, Fremdenführer). 27. Juli 1938 Alle "jüdischen" Straßennamen werden entfernt. 30. April 1939 Der Mieterschutz für Juden wird eingeschränkt. Ausdrücklich zu betonen ist, dass es sich hierbei nur um einen winzigen Ausschnitt der gegen Juden verhängten Maßnahmen handelt, insgesamt gab es von 1933 bis 1945 mehr als tausend entsprechende Verordnungen und Gesetze. Darüber hinaus wurde das von Julius Streicher (1885-1946) herausgegebene Wochenblatt Der Stürmer (häufig mit vulgär-pornographischen Inhalten) nunmehr offiziell verbreitet, die nationalsozialistische Propaganda in Film, Rundfunk und bei öffentlichen Veranstaltungen artikulierte sich immer rücksichtsloser. Eine Tagebucheintragung des vom Judentum zum Protestantismus konvertierten, mit einer Nichtjüdin verheirateten und 1935 in den vorzeitigen Ruhestand versetzten Romanistik-Professors der Technischen Universität Dresden, Victor Klemperer (1881-1960), verdeutlicht die Dimension dieses - auch alltagsbezogenen - Antisemitismus. Am 17. August 1937 notierte er in sein Tagebuch eine Begebenheit, die ihm - ähnlich wie Selmar Spier - erst jetzt die Augen in Bezug auf den virulenten Antisemitismus in seiner Jugend im Kaiserreich öffnete: "Im ,Stürmer' (der an jeder Ecke aushängt) sah ich neulich ein Bild: zwei Mädchen im Seebad, Badekostüm. Darüber: ,Für Juden verboten', darunter: ,Wie schön, daß wir jetzt wieder unter uns sind!' Da fiel mir eine längst vergessene Kleinigkeit ein. September 1900 oder 1901 in Landsberg. Wir waren in der Unterprima 4 Juden und 16, in der Oberprima 3 unter 8 Klassenschülern. Von Antisemitismus war weder unter den Lehrern noch unter den Schülern Sonderliches zu spüren. Genauer rein gar nichts. Die Ahlwardtzeit und Stoeckerei kenne ich nur als historisches Faktum. [...] Am Versöhnungstag [i. e. Jom Kippur, höchster jüdischer Feiertag] nahmen also die Juden nicht am Unterricht teil. Den nächsten Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 145 ZEITFÜRGESCHICHTE Tag erzählten die Kameraden ohne alle Bösartigkeit lachend (so wie das Wort bestimmt auch von dem durchaus humanen Lehrer nur scherzend gesprochen wurde), Kuhfahl, der Mathematiker, habe zu der verkleinerten Klasse gesagt: ,Heut sind wir u n t er u n s.' Das Wort nahm in der Erinnerung eine geradezu grausige Bedeutung für mich an: Es bestätigt mir den Anspruch der NSDAP, die wahre Meinung des deutschen Volkes auszudrücken. Und immer mehr glaube ich, daß Hitler wirklich die deutsche Volksseele verkörpert". (Hervorhebung im Original.) Reichspogromnacht | 1924 in Frankfurt am Main geboren, erinnerte sich Paul Moser in dem 2005 erschienenen Sammelband "Unvergessene Schulzeit 1921-1945" wie folgt an das Jahr 1938, "als die Synagogen brannten" und in Hessen die Reaktionen von "tiefer Abscheu über gedrücktes Schweigen bis hin zur Identifikation mit den Exzessen oder gar der aktiven Teilnahme" (Walter Mühlhausen, 2013) reichten: "An den jüdischen Geschäften sah man immer wieder Schmierereien wie: ,Kauft nicht bei Juden!' Reiche Juden wanderten nach Amerika aus, überall waren Überseekisten mit der Aufschrift ,New York' zu sehen. Auch der jüdische Hausarzt unserer Familie verließ das Land. Ich war immer gern zu ihm gegangen. Vater nahm es ohne Bedauern zur Kenntnis. ,Wer weiß, was da noch kommt?', fragte sich die Mutter. [...] 9. November 1938. [...] Ich ging in die Frankfurter Innenstadt. Das Kaufhaus Wronker war verwüstet. In den großen Schaufenstern waren in der Vorweihnachtszeit immer so schöne Märchen dargestellt worden. Auch ,Woolworth', wo ich in der Notzeit ab und zu für 10 Pfennig Erbseneintopf gegessen hatte, war zerstört. Überhaupt, die ganze Kaiserstraße bot ein Bild der Verwüstung. Qualm zog über die Dächer. Ich bog in die Taunusanlage ein und sah die brennende Synagoge. In diesem Moment stand überraschend Lehrer Faber neben wir. ,Junge, Junge, wohin wird das bloß noch führen?', sagte er nachdenklich. An diesen Satz mußte ich später immer wieder denken". "Judenumsiedlung", Massenerschießungen und "industrieller Massenmord" | Spätestens mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) nahm der Antisemitismus die grauenhafte eliminatorische Gestalt des Holocaust an. Dabei war die "Radikalisierung der Judenpolitik von der Vertreibung zur Vernichtung" (Wolfgang Benz, 2018) bereits vorher eingeleitet worden: Entsprechende Wegmarken waren vor allem der deutsche Angriff auf Polen (1. September 1939) und die von Hitler öffentlich im Reichstag am 6. Oktober 1939 angekündigte "völkisch-rassistische Neuordnungspolitik in Europa", mit der er den Rahmen der bisherigen, vornehmlich "nationalstaatlich orientierten Machtund Revisionspolitik" (Michael Wildt, 2006) verließ: die Ansiedlung "zahlreicher auslandsdeutscher Volks146 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE gruppen" (Götz Aly, 2017) in Polen (insgesamt mehr als 500.000 Personen), in deren Konsequenz Juden vertrieben und ermordet wurden (bis Ende 1939 7.000 polnische Opfer), um Platz zu machen für "Volksdeutsche" aus dem Baltikum, Wolhynien, Galizien usw. Unter anderem mittels der "Eindeutschung des Generalgouvernements" sollte die ",Volkstumsgrenze'" (Norbert Frei, 1989) deutlich nach Osten verschoben werden. Mit Samuel Salzborn (2020) ist an dieser Stelle ausdrücklich darauf hinzuweisen, was im heutigen öffentlichen Bewusstsein in der Breite noch immer nicht hinreichend verankert ist: "Der Zusammenhang von antisemitischer Vernichtungsund völkischer Bevölkerungspolitik, einfacher gesagt, die beiden Elemente der antisemitischen Volksgemeinschaftsphantasie - antisemitisches und völkisches Denken". Zu der "antisemitischen Volksgemeinschaftsphantasie" gehörte auch der seit dem Frühjahr 1940 entwickelte "Madagaskar-Plan", in dessen Rahmen die Juden auf die zu Frankreich gehörende Insel im indischen Ozean deportiert werden sollten (Frankreich hatte am 25. Juni 1940 vor der Wehrmacht kapituliert). Allerdings erwies sich der Plan aufgrund der "Überlegenheit der britischen Mittelmeerflotte" (Götz Aly, 1998) spätestens im September 1940 als Illusion, während auch in Polen aus vielerlei Gründen (unter anderem finanzielle, bürokratische, logistische Schwierigkeiten sowie Differenzen zwischen den - auch lokalen - nationalsozialistischen Akteuren) die "angekündigte ethnische Neuordnung [...] ins Chaos führte" (Götz Aly, 2017) bzw. als "gewaltiges Umsiedlungsprogramm" (Peter Longerich, 2010) gescheitert war. Vor diesem Hintergrund plante der Chef des Reichssicherheitshauptamts (RSHA), Reinhard Heydrich (1902-1940), spätestens seit März 1941 die Massendeportation der Juden in die noch zu erobernden Gebiete der Sowjetunion, wobei die Kriegsvorbereitungen mindestens seit Dezember 1940 liefen. Angesichts der "chaotischen völkischen Neuordnung" richtete der SS-Sturmbannführer und Leiter der Umwandererzentrale Posen, Rolf-Heinz Höppner (1910-1998) folgenden Vorschlag an Adolf Eichmann (1906-1962), den Leiter des Referats "Auswanderung und Räumung" im RSHA: ",Es besteht in diesem Winter die Gefahr, dass die Juden nicht mehr sämtlich ernährt werden können. Es ist ernsthaft zu erwägen, ob es nicht die humanste Lösung ist, die Juden, soweit sie nicht arbeitseinsatzfähig sind, durch irgendein schnellwirkendes Mittel zu erledigen. Auf jeden Fall wäre dies angenehmer, als sie verhungern zu lassen'". Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 147 ZEITFÜRGESCHICHTE In diesem Zusammenhang stellte der Historiker Christoph Dieckmann (1998) fest: "Es kann keinen Zweifel daran geben, daß die deutsche antijüdische Politik schon vor dem Krieg gegen die Sowjetunion so weit eskaliert war, daß die Ermordung der Juden in den Bereich des Möglichen gerückt war". Ob Hitler vor diesem Hintergrund im Sommer 1941 - in den Archiven ist im Unterschied zu dem mörderischen nationalsozialistischen "Euthanasie"-Programm ("Aktion T 4") hierfür kein schriftlicher Befehl auffindbar - die "Grundsatzentscheidung zur Ermordung aller europäischen Juden" traf, ist in der Geschichtswissenschaft umstritten. So nimmt dies Wolfgang Curilla (2011) aufgrund einer Reihe von Indizien für den Juli 1941 an, Karin Orth (1997) plädiert für den Juni 1942, während Peter Longerich (2017) ähnlich wie Christian Gerlach (2017) auf Folgendes hinweist: "Der Holocaust [ist] nicht aufgrund einer einzelnen zentralen Entscheidung in Gang gesetzt worden, sondern er ist - im Rahmen einer langfristig orientierten, aber immer wieder Veränderungen unterworfenen antijüdischen Politik der Nationalsozialisten - das Ergebnis eines Entscheidungsprozesses, in dem Hitler, die zentrale Führungsinstanz des ,Dritten Reichs', im engen Zusammenspiel mit anderen Teilen des Machtapparates, schrittweise aus einer noch vagen Absicht zur Vernichtung der Juden ein konkretes Mordprogramm entwickelte und in Gang brachte". Vieles spreche dafür, so Franz Bajohr im Jahr 2017, den "Weg in den Völkermord nicht durch eindeutige Befehle, sondern als Kommunikationsfeld zu definieren, in dem die Zentrale der Macht und die Peripherie intensiv miteinander verbunden waren". "Die Umsetzung dieses Ziels", so Peter Longerich (2010), "vollzog sich in einem für das Regime charakteristischen Zusammenspiel aus Vorgaben von oben und Initiativen von unten". Speer hatte bereits in den 1970er Jahren erklärt: ",Es ist [...] der Arbeitsweise Hitlers entsprechend und darf nicht als Lücke angesehen werden, daß kein schriftlicher Befehl zur Vernichtung vorliegt'" (Isabell Trommer, 2016). Laut Franz Bajohr (2017) seien sich die meisten Historiker heute einig, "dass es eines längeren Zeitraums bedurfte, ehe sich die Mordaktionen an sowjetischen Juden schubweise zu einem Völkermord entwickelten, der allen Juden Europas galt. Dieser Prozess begann in den letzten drei Monaten des Jahres 1941 und erstreckte sich bis zur Jahresmitte 1942. Auf der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 wurde deshalb mitnichten die ,Endlösung der Judenfrage' beschlossen, wie es noch bisweilen zu lesen ist". 148 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE An zahlreichen Orten in den von deutschen Truppen besetzten Gebieten der Sowjetunion kam es seit dem Sommer 1941 zu Massenerschießungen von Juden, wobei bereits zwei Tage nach Kriegsbeginn in Gargzdai (Litauen) deutsche Schutzpolizisten aus Vergeltung 200 Juden erschossen, da auf deutsche Wehrmachtseinheiten gefeuert worden war. Brigaden der Waffen-SS ermordeten seit Ende Juli ebenso wie die Einsatzgruppen nunmehr auch jüdische Frauen und Kinder: "Damit war das Tor zum Völkermord aufgestoßen" (Frank Werner, 2017). Dabei geschah die "schrittweise Einbeziehung immer neuer Opfergruppen [...] nicht auf einen einzigen vollkommen eindeutigen Befehl Himmlers hin", "sondern es handelte sich um einen längeren Prozess, in dem die Einheitsführer allmählich an ihre grausame Tätigkeit herangeführt, ja geradezu zu Massenmördern erzogen wurden". (Peter Longerich, 2010.) Allein in der Schlucht von Babi Yar tötete die Einsatzgruppe C, so die Angabe in deren offiziellen Bericht, am 29. und 30. September 1941 "in Kiew 33771 Juden". Bis Ende 1941 kamen in den deutsch besetzten Teilen der Sowjetunion "mehr als eine halbe Million" (Peter Longerich, 2002) jüdische Frauen, Kinder und Männer ums Leben. Einige Mitglieder der Einsatzgruppe C - vornehmlich gab es die Gruppen A, B, C und D, wobei sich deren Angehörige aus der SS, dem Sicherheitsdienst (SD) und der Sicherheitspolizei (Sipo) rekrutierten -, mussten sich nach 1945 vor Gericht verantworten. Dabei handelte es sich vor dem Nürnberger Einsatzgruppenprozess 1947/48 um drei deutsche Offiziere sowie 1968 vor dem Schwurgericht Darmstadt um zehn Angehörige des Sonderkommandos 4a. Der Darmstädter Einsatzgruppen-Prozess gewährte, so ein Beitrag auf der Internetseite des Fritz Bauer Archivs, einen "tief deprimierenden Einblick in wütenden Judenhass, Zeugnis für Mitleidlosigkeit, Korruption, aber auch bedingungslosen Gehorsam ohne Reue und ohne jede Reflexion". "entschluß zum Völkermord" | Vor dem Hintergrund der "gut vorbereitet[en]" Massenerschießungen ist dem Historiker Wolfgang Benz (2018) zuzustimmen, wonach im Juli 1941 der "Entschluß zum Völkermord bereits gefallen war". So beauftragte Hermann Göring (1893-1946) in einer Vielzahl von Funktionen (und von Hitler 1939 offiziell als sein Nachfolger designiert) am 31. Juli 1941 Heydrich schriftlich, "alle erforderlichen Vorbereitungen in organisatorischer, sachlicher und materieller Hinsicht zu treffen für eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet in Europa. [...] Ich beauftrage Sie weiter, mir in Bälde einen Gesamtentwurf über die organisatorischen, sachlichen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 149 ZEITFÜRGESCHICHTE und materiellen Vorausmaßnahmen zur Durchführung der angestrebten Endlösung der Judenfrage vorzulegen". Das im RSHA entworfene Schreiben gehört zu den "Schlüsseldokumenten des 20. Jahrhunderts" (Sven Felix Kellerhof, 2016). Wollte oder konnte sich Göring während des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher nicht an alle einzelnen gegen die Juden gerichteten Gesetze und Erlasse erinnern, so erklärte er am 20. März 1946 gegenüber dem amerikanischen Hauptanklagevertreter Robert H. Jackson (1892-1954): "Diesen Erlaß kenne ich genau", wobei dessen Inhalt bei dieser Gelegenheit nicht näher erörtert wurde. Bis auf den heutigen Tag ist die genaue Bedeutung des Erlasses in der Geschichtswissenschaft umstritten. Parallel zu den Massenerschießungen seit Juni 1941, die oft unter anderem wegen des damit verbundenen "organisatorischen Chaos", ihrer mangelnden Geheimhaltung und der sogar in den Augen mancher Täter ",unbeschreiblichen Brutalität'" (Christopher R. Browning, 1996) bald "problematisch" wurden, ist der Erlass Görings wohl als Auftrag zu verstehen, die "Möglichkeiten zum Massenmord auszuloten", war also noch nicht das unmittelbare "Signal, Todeslager in Polen zu errichten" (Ian Kershaw, 2002). Allerdings wurde hieraus und aus anderen Entscheidungen in den nächsten Monaten bis Ende 1941 im "Zuge der [weiteren] schrittweisen Radikalisierung der antisemitischen Politik tatsächlich ein Mordbefehl" (Sven Felix Kellerhof, 2016), dessen Genese unter anderem mit dem in der Sowjetunion bereits im August stockenden und spätestens im Oktober/November 1941 fehlgeschlagenen deutschen "Blitzkrieg" in Zusammenhang steht. auschwitz: Synonym für den "industriellen Massenmord" | Im Rahmen seiner Besprechungen mit Hitler und anderen Akteuren entfaltete Himmler vor dem Hintergrund der "gigantischen völkischen Neuordnungsvorstellungen des Regimes" (Peter Longerich, 2010) eine beträchtliche Eigeninitiative. Als direkter Vorgesetzter Heydrichs bestellte Himmler "im Sommer 1941" den Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz, Rudolf Höß (1900-1947), "zum persönlichen Befehlsempfang" nach Berlin, so dessen Aussage am 15. April 1946 beim Nürnberger Prozess, wobei die Zeitangaben differieren: Juni, Sommer, Spätsommer und Herbst 1941 kommen für dieses "für alle Juden der europäischen Deportationsländer schicksalhaft[e]" Gespräch (Raul Hilberg, 1994) in Frage. "Im Sommer 1941", so Höß in seinen erstmals im Jahr 1963 von dem Historiker Martin Broszat herausgegebenen "autobiographischen Aufzeichnungen", "wurde ich plötzlich zum Reichsführer SS [Himmler] nach Berlin befohlen, und zwar direkt durch seine Adjutantur. Entgegen seiner sons150 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE tigen Gepflogenheit eröffnete er mir, ohne Beisein eines Adjutanten, dem Sinne nach folgendes: Der Führer hat die Endlösung der Judenfrage befohlen, wir - wir, die SS - haben diesen Befehl durchzuführen. Die bestehenden Vernichtungsstellen im Osten sind nicht in der Lage, die beabsichtigten großen Aktionen durchzuführen. Ich habe daher Auschwitz dafür bestimmt, einmal wegen der günstigen verkehrstechnischen Lage und zweitens läßt sich das dafür dort zu bestimmende Gebiet leicht absperren und tarnen. [...] Nähere Einzelheiten erfahren Sie durch Sturmbannführer Eichmann vom RSHA, der in nächster Zeit zu Ihnen [im August nach Auschwitz, so Till Bastian (1994)] kommt". "Es käme", so Höß, "nur Gas in Frage, denn durch Erschießen die zu erwartenden Massen zu beseitigen, wäre schlechterdings unmöglich und auch eine zu große Belastung für die SS-Männer, die dies durchführen müßten im Hinblick auf die Frauen und Kinder". Ab August/September 1941 begann die SS in Auschwitz mit den entsprechenden Planungen, wobei hier in diesem Beitrag mit dem Begriff Auschwitz der gesamte Lagerkomplex gemeint und nicht die administrative Teilung in Stammlager (Auschwitz I), Vernichtungslager (Auschwitz II, Birkenau) und Zwangsarbeiterlager (Auschwitz III, Buna-Monowitz) berücksichtigt ist. Zu entsprechenden Planungen und "Experimenten" kam es auch in Minsk und Mogilew (Auspuffgase von Gaswagen, Sprengstoff), nachdem sich Himmler am 14./15. August 1941 eine Massenerschießung in der Nähe von Minsk angeschaut und befohlen hatte, eine andere Art des Tötens zu suchen, um, so Mathias Beer (2017), die "psychische Belastung für die Erschießungskommandos [!] zu mindern". (In Auschwitz ließ sich Himmler am 17. und 18. Juli 1942 die Ermordung von niederländischen Juden in einer Gaskammer vorführen.) Anfang November begannen die Arbeiten am Bau des "ersten Vernichtungslagers" Belzec (Peter Longerich, 2010). Seit Dezember 1941 wurden Gaswagen - in ähnlicher Form bereits im Rahmen des "Euthanasie"-Programms eingesetzt -, zur Ermordung von Menschen im Vernichtungslager Chelmno verwendet. Hierbei kamen mindestens 160.000 Juden, Sinti und Roma sowie sowjetische Kriegsgefangene ums Leben. Nachdem in Auschwitz der Lager-"Arzt" Dr. Siegfried Schwela (1905-1942) "Tötungsexperimente" (Wolfgang Curilla, 2011) mit dem ursprünglich als Schädlingsbekämpfungsmittel entwickelten Zyklon B durchgeführt hatte - Opfer in einer Gaskammer waren unter anderem etwa 250 als unheilbar eingestufte Kranke sowie 600 sowjetische Kriegsgefangene -, wurde im Januar 1942 die "erste ,reguläre' Gaskammer in Auschwitz in Betrieb genommen" (Jean-Claude Pressac, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 151 ZEITFÜRGESCHICHTE 1995). Am 15. Februar 1942 kam der "erste zur Vernichtung bestimmte Transport mit Juden" in Auschwitz an, wobei eine "nicht genau bekannte Zahl von Menschen in den Gaskammern des Krematoriums I im Stammlager Auschwitz mit Zyklon B ermordet" (Till Bastian, 1994) wurde. In einer Besprechung mit dem Leiter des SSWirtschaftsund Verwaltungshauptamts, Oswald Pohl (1892-1951), stimmte Speer am 15. September 1942 dem weiteren Ausbau von Auschwitz zu. Nachdem zwei seiner Mitarbeiter Auschwitz und andere Lager besucht hatten und er für die Erweiterungsarbeiten am 30. Mai 1943 Baueisen zur Verfügung gestellt hatte, ergänzte Speer handschriftlich (!) auf einem Schreiben an Himmler: ",Es freut mich, dass die Besichtigung der anderen K.Z. Lager ein durchaus positives Bild ergab'" (Uhl/Pruschwitz/Holler/Leleu/Pohl, 2020). ",Es bleibt damit festzuhalten'", so der Historiker Rainer Fröbe (2000), ",daß erst durch Speers Entscheidung die [weitere] Errichtung der Krematorien und Gaskammern in [Auswitz-]Birkenau überhaupt möglich geworden war'". Etwa zeitgleich zu den Massenerschießungen sowie den in Auschwitz und an anderen Orten anlaufenden Planungen ("Experimenten") befahl Hitler am 17. September 1941 die "Evakuierung" der Juden aus dem Deutschen Reich - auch die der Berliner Juden (unter der tatkräftigen Mitwirkung Speers) "am besten nach Riga und Minsk" -, woraufhin am 18. Oktober 1941 die entsprechenden Deportationen aus dem Reichsgebiet begannen. An die Stelle bislang häufig improvisierter Maßnahmen und an die Stelle der Idee des Deportationsraums Madagaskar traten die jüdischen Ghettos und die organisierten nationalsozialistischen Vernichtungslager vor allem im Osten Europas. Juden mussten fortan den sogenannten Judenstern tragen, die eigenständige Auswanderung war ihnen nunmehr verboten. Wenn auch, so Peter Longerich (2007), die Motive Hitlers hierfür mit Blick auf andere politische Ereignisse vielschichtig waren, ging es dem Diktator insbesondere darum, den "ursprünglichen, seit Anfang des Jahres [1941] verfolgten Plan zur Deportation der Juden in die zu besetzenden Ostgebiete zu realisieren". Im August 1941 hatte Hitler gegenüber Goebbels erklärt, dass die Berliner Juden im Osten dann "unter einem härteren Klima in die Mache genommen" würden: "Im Osten müssen die Juden die Zeche bezahlen; in Deutschland haben sie sie zum Teil schon bezahlt und werden sie in Zukunft noch mehr bezahlen müssen". Einen Teil des sich juristisch formal auf die Nürnberger "Rassegesetze" gründenden Deportationsverfahrens beschreibt der Historiker Wolfgang Benz (2018) in all seinen - in den Augen etlicher Unbeteiligter - scheinbar ertragbaren "Ungerechtigkeiten", um den Begriff Hedi Frieds wiederaufzunehmen, wie folgt: 152 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE "Überall erhielten Juden jetzt vervielfältigte Aufforderungen, sich zur ,Evakuierung' an Sammelplätzen einzufinden, sie hatten Verhaltensmaßregeln empfangen, was sie ,zur Ansiedlung im Osten' mitbringen sollten, in welchem Zustand sie ihre Wohnungen zurücklassen mußten (Licht-, Gas-, Wasserrechnungen waren vor der Abreise zu bezahlen), es war ihnen eröffnet worden - unter gleichzeitiger Erteilung einer ,Evakuierungsnummer' -, daß ihr gesamtes Vermögen rückwirkend zum 15. Oktober 1941 staatspolizeilich beschlagnahmt war und daß ,die seit dieser Zeit getroffenen Verfügungen über Vermögensteile (Schenkungen oder Verkäufe) wirkungslos' seien. Außerdem wurde die Anfertigung einer Vermögenserklärung befohlen, [...] beizufügen waren sämtliche relevanten Urkunden wie Schuldscheine, Wertpapiere, Versicherungspolicen, Kaufverträge usw.". Vor allem der Historiker Götz Aly hat in seinen Veröffentlichungen immer wieder betont (dabei aber auch Widerspruch erfahren), wie sehr Teile der "deutschen" Bevölkerung ökonomisch-finanziell von den Wohnungsauflösungen jüdischer Menschen und der Veräußerung des Hab und Guts der Deportierten profitierte. Peter Longerich (2010) wies auf das hinterhältige Motiv der Nationalsozialisten hin: "Die Juden sollten durch die für jedermann wahrnehmbaren und von der Propaganda entsprechend bewerteten Deportationen als ,Drahtzieher' des [alliierten] Bombenkrieges angeprangert und bestraft werden, während nichtjüdische Bombenopfer und sonstige Bedürftige mit dem Hausrat der Deportierten und der Zuweisung von ,Judenwohnungen' versorgt wurden. Die vielen Nutznießer der Deportationen, so das dahinter stehende Kalkül, machten sich damit zum Komplizen der Judenpolitik". Auch den jeweiligen ausführenden Kommunen ging es um "Profit, Arbeitskräfte, Wohnraum, gesellschaftliches Ansehen, Beziehungen oder sozialen Aufstieg" (Wolf Gruner, 2000). In einem am 25. Januar 2020 aus Anlass der Befreiung von Auschwitz veröffentlichten Interview nannte Götz Aly dies die seitens der Nationalsozialisten bewusst initiierte "Integration in das Böse", Wolf Gruner sprach von einer hiermit verbundenen offenkundigen Stabilisierung des nationalsozialistischen Regimes. Die Bevölkerung sollte - ähnlich wie bei der hochgradigen Arbeitsteilung der Bürokratie bei der Organisation und Durchführung des Holocaust (von der lokalen Bürokratie über die Reichsbahn bis hin zur SS) - zu Komplizen in Sachen "Antisemitismus" bzw. "Endlösung" gemacht werden. Seit dem 25. November 1941 erschoss die Einsatzgruppe A in Kaunas (Litauen) und in Riga (Lettland) deutsche Juden, die in Deportationszügen unter anderem aus Berlin, Breslau, Dortmund, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 153 ZEITFÜRGESCHICHTE Frankfurt am Main, Hamburg, Hannover, Kassel, Köln, München, Nürnberg und Stuttgart ins Baltikum gebracht wurden. Dabei ermordete die Einsatzgruppe A die lettischen Juden, um im Rigaer Ghetto Platz für die noch zu ermordenden deutschen Juden zu schaffen. Ohne zu wissen, dass er vom britischen Combined Services Detailed Interrogation Center (CSDI) abgehört wurde, schilderte der wenige Wochen vor Kriegsende in Gefangenschaft geratene Generalmajor Walter Bruns (1891-1957), einer der aktiv am Attentat auf Hitler Beteiligten, im April 1945 gegenüber anderen mitinhaftierten deutschen Offizieren die Erschießung von etwa 30.000 Juden im Wald von Rumbula in der Nähe von Riga (Text 5). In dem Waldstück waren am 30. November 1941 1.035 Juden aus Berlin sowie am 1., 8. und 9. Dezember 1941 die gesamte lettische Bevölkerung des Rigaer Ghettos ermordet worden; andeutungsweise ist den Worten dieses Augenzeugen die Empörung über das dort Gesehene zu entnehmen. Ungefähr vier Wochen später vermerkte Victor Klemperer am 13. Januar 1942 in seinem Tagebuch: "Paul Kreidl [die Familie Kreidl lebte zusammen mit den Klemperers in einem Dresdener ,Judenhaus'] erzählt - Gerücht, aber von verschiedenen Seiten sehr glaubhaft mitgeteilt -, es seien evakuierte Juden bei Riga reihenweis[e], wie sie den Zug verließen e r s c h o s s e n worden". (Hervorhebung im Original.) Auch Paul Kreidl (1906-1942) kam in Riga ums Leben, nur wenige Wochen nach seiner Deportation aus Dresden am 21. Januar 1942. An diesem Tag schrieb Victor Klemperer in sein Tagebuch: "Vor dem Weggehen des Deportierten versiegelt Gestapo seine ganze Hinterlassenschaft. [...] Paul Kreidl brachte mir gestern abend ein Paar Schuhe, die mir genau passen und bei dem furchtbaren Zustand der meinigen höchst willkommen sind. [...] Heute vormittag Art Kondolenzbesuch bei der Mutter. - Der Transport umfaßt jetzt 240 Personen, es sollen so Alte, Schwache und Kranke darunter sein, daß kaum alle lebend ankommen". "Bei einem Glase Bier" | "Als furchtbarstes KZ", hielt Victor Klemperer knapp acht Wochen später am 16. März 1942 in seinem Tagebuch fest, "hörte ich in diesen Tagen Auschwitz (oder so ähnlich) bei Königshütte in Oberschlesien nennen. Bergwerksarbeit, Tod nach wenigen Tagen". Der Agitator und Demagoge Joseph Goebbels (1897-1945), seit 1933 Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, notierte seinerseits am 27. März 1942 in sein Tagebuch: "Aus dem Generalgouvernement werden jetzt, bei Lublin beginnend, die Juden nach dem Osten abgeschoben. Es wird hier ein ziemlich bar154 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE barisches und nicht näher zu beschreibendes Verfahren angewandt, und von den Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig. Im großen kann man wohl feststellen, daß 60% davon liquidiert werden müssen, während nur noch 40% in die Arbeit eingesetzt werden können. Der ehemalige Gauleiter von Wien [Odilo Globocnik (1904-1945)], der diese Aktion durchführt, tut das mit ziemlicher Umsicht und auch mit einem Verfahren, das nicht allzu auffällig wirkt. An den Juden wird ein Strafgericht vollzogen, das zwar barbarisch ist, das sie aber vollauf verdient haben. Die Prophezeiung, die der Führer ihnen für die Herbeiführung eines neuen Weltkriegs mit auf den Weg gegeben hat, beginnt sich in der furchtbarsten Weise zu verwirklichen. Man darf in diesen Dingen keine Sentimentalität obwalten lassen. Die Juden würden, wenn wir uns ihrer nicht erwehren würden, uns vernichten. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod zwischen der arischen Rasse und dem jüdischen Bazillus. Keine andere Regierung und kein anderes Regime könnte die Kraft aufbringen, diese Frage generell zu lösen. Auch hier ist der Führer der unentwegte Vorkämpfer und Wortführer einer radikalen Lösung, die nach Lage der Dinge geboten ist und deshalb unausweichlich erscheint. Gott sei Dank haben wir jetzt während des Krieges eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die uns im Frieden verwehrt wären. Die müssen wir ausnutzen. Die in den Städten des Generalgouvernements freiwerdenden Ghettos werden jetzt mit den aus dem Reich abgeschobenen Juden gefüllt, und hier soll sich dann nach einer gewissen Zeit der Prozeß erneuern". Von einem Wehrmachtsangehörigen erfuhr die Frau Victor Klemperers, Eva (1882-1951), im April 1942 "bei einem Glase Bier" Einzelheiten über die Massenerschießungen in Babi Yar: "Er ist als Fahrer bei der Polizeitruppe mehrere Wintermonate (bis Weihnachten) in Rußland gewesen. Grauenhafte Massenmorde an Juden in Kiew. Kleine Kinder mit dem Kopf an die Wand gehauen, Männer, Frauen, Halbwüchsige zu Tausenden auf einem Haufen zusammengeschossen, ein Hügel gesprengt und die Leichenmasse unter der explodierenden Erde begraben". (Tagebucheintragung Victor Klemperers vom 19. April 1942.) In einer für die "deutschen Hörer" am 27. September 1942 ausgestrahlten Rundfunksendung der British Broadcasting Corporation (BBC) fragte der Träger des Nobelpreises für Literatur Thomas Mann (1875-1955): ",Nach den Informationen der polnischen Exil-Regierung sind alles in allem bereits 700.000 Juden von der Gestapo ermordet oder zu Tode gequält worden. [...] Wisst Ihr Deutschen das? Und wie findet ihr es?" Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 155 ZEITFÜRGESCHICHTE Zynisch schrieb dagegen am 7. Dezember 1942 ein Wehrmachtssoldat nach Hause, dass in Auschwitz wöchentlich 7.000 bis 8.000 Juden ankämen, "die nach kurzem den ,Heldentod' sterben. Es ist doch gut, wenn man einmal in der Welt umher kommt..." (Text 9). In seiner Studie ",Davon haben wir nichts gewusst!' Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933-1945" untersucht der Historiker Peter Longerich (2007) den Wissenstand der Bevölkerung im Deutschen Reich über den Holocaust und gelangt für das Jahr 1942 zu dem Befund, dass sich in Deutschland zunehmend Gerüchte über die Ermordung der Juden verbreiteten, häufig über Erschießungen spekuliert wurde und es auch Mutmaßungen über den Massenmord mit Giftgas gab, wobei konkrete Informationen über die Vernichtungslager kaum im Umlauf waren, aber: "Vielen war klar, dass die Deportierten dem Tod entgegensahen". Darüber hinaus verweist Longerich auf eine von Hermann Göring am 5. Oktober in Berlin gehaltene Rede, die im Radio ausgestrahlt und später in den Zeitungen verbreitet wurde. Ähnlich wie Goebbels in seinem Tagebuch von einem "Kampf auf Leben und Tod zwischen der arischen Rasse und dem jüdischen Bazillus" gesprochen hatte, fragte Göring seine Zuhörer in aller Öffentlichkeit und Offenheit: ",Was würde denn das Los des deutschen Volkes sein, wenn wir diesen Krieg nicht gewinnen würden? [...] Unsere Frauen würden dann eine Beute der wollüstigen hasserfüllten Juden werden. Deutsches Volk, du musst wissen: Wird der Krieg verloren, dann bist du vernichtet. Der Jude steht mit seinem nie versiegenden Hass hinter diesem Vernichtungsgedanken [...]. Dieser Krieg ist nicht der zweite Weltkrieg, dieser Krieg ist der große Rassenkrieg. Ob hier der Germane und Arier steht oder ob der Jude die Welt beherrscht, darum geht es letzten Endes und darum kämpfen wir draußen'". Tatsächlich standen der Nationalsozialismus und seine Helfer mit "nie versiegendem Hass" hinter dem antisemitischen Vernichtungsgedanken. In einer Rede vor Wehrmachtsgenerälen in Sonthofen (24. Mai 1944) sowie zuvor in zwei seiner insgesamt drei Posener Reden sprach Himmler vor jeweils unterschiedlichem Publikum offen über den Holocaust: Am 4. Oktober 1943 vor hochrangigen SS-Führern, zwei Tage später vor den Reichsund Gauleitern der NSDAP sowie Führungspersönlichkeiten aus Militär und Wirtschaft, darunter Speer, der bis zu seinem Tod 1981 als gefragter Interviewpartner seine Lebenslüge verbreitete, die "Judenverfolgung sei im Geheimen vollzogen worden, kaum jemand habe in den NS-Führungskreisen davon gewusst" (Isabell Trommer, 2016). Am 4. Oktober erklärte Himmler: 156 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE "Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden. [...] Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. - ,Das jüdische Volk wird ausgerottet', sagt ein jeder Parteigenosse, ,ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.' Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen - anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte, denn wir wissen, wie schwer wir uns täten, wenn wir heute noch in jeder Stadt - bei den Bombenangriffen, bei den Lasten und bei den Entbehrungen des Krieges - noch die Juden als Geheimsaboteure, Agitatoren und Hetzer hätten. Wir würden wahrscheinlich jetzt in das Stadium des Jahres 1916/17 [= Dolchstoßlegende] gekommen sein, wenn die Juden noch im deutschen Volkskörper säßen. Die Reichtümer, die sie hatten, haben wir ihnen abgenommen. Ich habe einen strikten Befehl gegeben [...], dass diese Reichtümer selbstverständlich restlos an das Reich abgeführt wurden. Wir haben uns nichts davon genommen. Einzelne, die sich verfehlt haben, werden gemäß einem von mir zu Anfang gegebenen Befehl bestraft, der androhte: Wer sich auch nur eine Mark davon nimmt, der ist des Todes". Befreiung des Lagerkomplexes auschwitz | In etwa vor diesem Ereignishintergrund, der an dieser Stelle lediglich ansatzweise beschrieben werden kann, geschah, was Hedi Fried und ihrer Familie in Auschwitz im Mai 1944 zustieß: Die Eltern wurden noch am Tag ihrer Ankunft in der Gaskammer ermordet, Hedi und ihre jüngere Schwester Livia wurden später in drei Hamburger Außenlager des größten Konzentrationslagers in Nordwestdeutschland, Neuengamme, und anschließend nach Bergen-Belsen gebracht, wo beide am 15. April 1945 zusammen mit etwa 60.000 anderen Gefangenen von britischen Soldaten befreit wurden. Aufgrund der mehr als katastrophalen Zustände in Bergen-Belsen an Typhus erkrankt, waren wenige Wochen zuvor auch Anne Frank (1929-1945) und ihre Schwester Margot (1926-1945) in dem Konzentrationslager gestorben. Knapp ein Vierteljahr zuvor hatte die Rote Armee am 27. Januar 1945 in Auschwitz etwa 7.650 Überlebende, vorwiegend Kranke, befreit, wobei 231 sowjetische Soldaten bei den Kämpfen um die Stadt Auschwitz und das Vernichtungslager starben. In den wenigen - aus Furcht vor der Entdeckung ihrer Gräuel - von der SS auf Befehl Himmlers Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 157 ZEITFÜRGESCHICHTE zerstörten Magazinbeständen des Konzentrationsund Vernichtungslagers endeckten die sowjetischen Soldaten 1.680.000 Kleidungsstücke (Herrenund Damenbekleidung), Kinderund Babykleidung, 44.000 Paar Schuhe und 7,7 Tonnen menschliches Haar, in Papiertüten fertig zum Transport, um nach Deutschland gebracht und gewinnbringend in den Güterund Wirtschaftskreislauf eingespeist zu werden. Insgesamt hatten die Nationalsozialisten und ihre Schergen in ihrem Machtbereich mehr als 10.000 Lager für ",Gegner aller Art'" eingerichtet: "Konzentrationsund Vernichtungslager mit zahlreichen Außenstellen, Zwangsarbeiterund Gefangenenlager, Ghettos und Arbeitslager, viele dieser Lager auch oder nur für Juden" (Hans-Ulrich Wehler, 1996). Laut Angaben des United States Holocaust Memorial Museum in Washington D. C. (USA) starben unter anderem etwa sechs Millionen Juden, etwa sieben Millionen sowjetische Zivilisten, etwa drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene, etwa 312.000 serbische Zivilisten, bis zu 250.000 Menschen mit Behinderungen, bis zu 250.000 Sinti und Roma, etwa 1.900 Zeugen Jevohas, mindestens 70.000 "Wiederholungsstraftäter und sogenannte Asoziale", eine unbestimmte Zahl politischer Gegner und Widerstandskämpfer sowie vermutlich Tausende Homosexuelle. - All diese Fakten sind in einer - auch für Fachhistoriker und andere Experten - kaum zu übersehenden Anzahl von Augenzeugenberichten, Filmen, Fotografien, Gerichtsurteilen, geschichtswissenschaftlichen Darstellungen, Zeitungsartikeln usw. in vielen Facetten mannigfach beleuchtet, dokumentiert und analysiert. "Vergangenheitsbewältigung" in der Bundesrepublik | "Heute geht die Forschung", so der Historiker Frank Bajohr (2017), der in München am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) das Zentrum für Holocaust-Studien leitet, "von rund 200.000 bis 250.000 deutschen und österreichischen Tätern aus". Von den in Auschwitz eingesetzten Angehörigen der SS-Lagermannschaft (zwischen 7.200 und 8.500) kamen nur etwa 800 vor Gericht, die meisten (700) in Polen. Fünf der sechs Lagerkommandanten, darunter Rudolf Höß, wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet bzw. starben kurz vor der Vollstreckung. Der letzte Kommandant von Auschwitz, Richard Baer (1911-1963), starb kurz vor Beginn des Frankfurter Auschwitz-Prozesses in Untersuchungshaft. Ihm war es gelungen, nach Kriegsende bis Dezember 1960 unter einem anderen Namen zu leben und in der Nähe von Hamburg zu arbeiten. Es ist vor allem das Verdienst des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer (1903-1968), dass er im Frankfurter Auschwitz-Prozess die "nationalsozialistische Willkürherrschaft zu einem Gegenwartsthema 158 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE in der jungen Bundesrepublik machte", so der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle im Jahr 2015. Nach einer langen Phase der Verdrängung in den 1950er Jahren zwang Fritz Bauer zusammen mit seinen Mitarbeitern eine unwillige und in Teilen tatbeteiligte Gesellschaft zum Hinsehen "auf ein soziales Phänomen" der fabrikmäßigen Arbeitsteilung als das "zentrale Strukturmerkmal des Holocaust" (Ronen Steinke, 2018). Dagegen gelang es Speer mit seinen 1969 erschienenen und in mehr als 15 (!) Sprachen übersetzten "Erinnerungen", den "geläuterten und reuigen" Nationalsozialisten zu geben, worauf viele in Deutschland mit Erleichterung reagierten: "Wenn schon ein derart wichtiger Politiker wie Speer von Auschwitz nichts gewusst hatte, wie wollte man da dem Normalbürger seine Blindheit vorwerfen[?]" (Nicole Colin, 2015.) Im Vorwort des von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz 2015 in überarbeiteter und erweiterter, dritter Auflage herausgegebenen "Lexikons der ,Vergangenheitsbewältigung' in Deutschland. Debattenund Diskursgeschichte nach 1945" machte Micha Brumlik, emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und ehemaliger Leiter des Fritz Bauer Instituts, auf Folgendes aufmerksam: "Es waren [...] ganze Schichten einer nach allen Kriterien kulturell hochstehenden, zivilisierten Gesellschaft, die keineswegs unter Zwang alles preisgaben, was ihnen ihr Glaube und ihre Kultur mitzuteilen hatten": "Offiziere ohne Ehre, Mediziner ohne hippokratisches Ethos, Juristen ohne Rechtsgefühl, Theologen ohne Glauben, Beamte ohne Rechtsempfinden sowie Ökonomen ohne Anstand, Wissenschaftler ohne Moral, die eine faschistische Diktatur rechtfertigten und stützten, einen Angriffskrieg exekutierten und in seinem Rahmen die Stigmatisierung und Beraubung, dann die Ermordung von Hundertausenden Sinti und Roma, sechs Millionen Juden und Abermillionen von Sowjetbürgern entweder mit betrieben oder billigend in Kauf nahmen". Die von 1963 bis 1965 in Frankfurt am Main sowie zuvor in Israel 1961 gegen Eichmann, wie bereits oben angedeutet, unter anderem für die Deportation der Juden im Rahmen der "Endlösung" zuständig, geführten Prozesse gaben den Anstoß, Auschwitz zum Synonym für den Holocaust zu machen. In einem am 11. April 2019 veröffentlichten Interview schilderte der stellvertretende Ankläger des Eichmann-Prozesses, Gabriel Bach, dessen Familie aus Deutschland (1938) über die Niederlande nach Palästina (1940) auswanderte, die Aussage eines Augenzeugen und seine eigene persönliche Betroffenheit hierüber. In der Zeitung Die Zeit hieß es unter der Überschrift "Er [i. e. Eichmann] war so besessen, dass er sich sogar über Hitler hinwegsetzte": Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 159 ZEITFÜRGESCHICHTE "Er [der Augenzeuge] hat erzählt, wie er mit 200 anderen Kindern in die Gaskammer geführt wurde. Dort hat man abgeschlossen - und es war absolut dunkel. Die Kinder haben angefangen zu singen, um sich Mut zu machen. Er sagte, einige Minuten haben wir gesungen und als erst nichts geschah, haben wir angefangen zu weinen und zu schreien. Und da öffnete sich die Tür. Wir Staatsanwälte haben später über andere Beweise erfahren: Da war ein Zug mit Kartoffeln in Auschwitz angekommen, und es gab nicht genug SS-Leute, um ihn zu entladen. Man hat die Tür aufgemacht und 30 Kinder, die nahe am Eingang standen, herausgenommen - er war einer von denen. Dann hat man wieder abgeschlossen und die anderen 170 wurden gleich getötet. Die 30 haben bei der Entladung der Kartoffeln geholfen, dann wurden sie auch getötet. Aber der wachhabende SS-Mann hat behauptet, dieser Junge hätte einen Schaden an einem der Lastwagen angerichtet, und gesagt: Bevor der Junge mit der nächsten Gruppe ebenfalls getötet wird, soll er als Strafe ausgepeitscht werden. Der SS-Mann, der ihn auspeitschen sollte, hat aber eine Zuneigung zu dem Jungen entwickelt und stellte ihn als Schuhputzer an. Auf diese Weise war er der Einzige von den 200, der am Leben geblieben ist. [...] Es gab viele grausame Momente während des Prozesses, aber bei dieser Geschichte mit den singenden und weinenden Kindern haben auch die Richter eine Pause anberaumt. Ich blieb wie erstarrt auf meinem Platz sitzen". Nachdem Fritz Bauer den israelischen Behörden den entscheidenden Hinweis gegeben hatte, entführte der israelische Geheimdienst Eichmann (alias Ricardo Klement) am 11. Mai vor sechzig Jahren aus Buenos Aires. 1946 aus einem amerikanischen Internierungslager entwichen, war Eichmann - ebenso wie Tausende andere nationalsozialistische Kriegsverbrecher - 1950 mit Hilfe eines "breiten Netzwerks der römisch-katholischen Kirche" (Clara Akinyosoye, 2015) über Italien nach Argentinien gelangt, wobei sich - mitten im Kalten Krieg - hieran auch andere Akteure beteiligten. Dabei handelten die Geistlichen, so der österreichische Historiker Gerald Steinacher (2008), aus unterschiedlichen Motiven: Sympathie mit dem Nationalsozialismus, Antikommunismus, theologische Argumente (Vergebung). Björn Höcke: "erinnerungspolitische wende um 180 Grad!" | Liest man heute eine von dem Rechtsextremisten Höcke am 17. Januar 2017 in Dresden gehaltene Rede, so wird Folgendes deutlich: Der maßgebliche Funktionär der AfD und des mittlerweile formal aufgelösten Flügels der AfD, der in Hessen an zwei Universitäten unter anderem Geschichtswissenschaft für das Lehramt am Gymnasium studierte und zeitweise unterrichtete, will den politischen bzw. erinnerungspolitischen Kurs und den seiner Anhänger offensichtlich 160 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE in eine nichtdemokratisch verfasste Zukunft lenken. Höcke kritisiert, immer wieder vom Beifall der Zuhörer unterbrochen, die "nach 1945 begonnene systematische Umerziehung", bezeichnet in diesem Kontext das Denkmal für die ermordeten Juden Europas als "Denkmal der Schande" und fordert eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad!": "Mit der Bombardierung Dresdens und der anderen deutschen Städte wollte man nichts anderes als uns unsere kollektive Identität rauben. Man wollte uns mit Stumpf und Stiel vernichten, man wollte unsere Wurzeln roden. Und zusammen mit der dann nach 1945 begonnenen systematischen Umerziehung hat man das auch fast geschafft. Deutsche Opfer gab es nicht mehr, sondern es gab nur noch deutsche Täter. Bis heute sind wir nicht in der Lage, unsere eigenen Opfer zu betrauern. [...] (Applaus) [...] Bis jetzt ist unsere Geistesverfassung, unser Gemütszustand immer noch der eines total besiegten Volkes. (Applaus) Wir Deutschen - und ich rede jetzt nicht von euch Patrioten, die sich hier heute versammelt haben - wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat. (Applaus) Und anstatt die nachwachsende Generation mit den großen Wohltätern, den bekannten weltbewegenden Philosophen, den Musikern, den genialen Entdeckern und Erfindern in Berührung zu bringen, von denen wir ja so viele haben [...] [,] und anstatt unsere Schüler in den Schulen mit dieser Geschichte in Berührung zu bringen, wird die Geschichte, die deutsche Geschichte, mies und lächerlich gemacht. So kann es und darf es nicht weitergehen! (Jubel, längerer, stehender Applaus, Rufe: ,Höcke, Höcke!') [...] Wir brauchen nichts anderes als eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad! (Applaus) [...] Wir brauchen eine lebendige Erinnerungskultur, die uns vor allen Dingen und zuallererst mit den großartigen Leistungen der Altvorderen in Berührung bringt. (Applaus)". Abgesehen von inhaltlichen Unrichtigkeiten (Samuel Salzborn, 2020, spricht von einer schlichtweg "unverfrorene[n] und schamlose[n] Lüge"), steht jemand, der solches sagt, mit dem Treitschke des 19. Jahrhunderts auf einer Stufe. Mittels der Fokussierung auf die angeblich nicht vorhandenen "deutschen Opfer" und mit der doppeldeutigen Etikettierung des Berliner Holocaust-Denkmals als "Denkmal der Schande" unterscheidet ein solcher Redner noch immer zwischen Juden und "Deutschen". Zu fragen ist: Wenn die nach 1945 begonnene "systematische Umerziehung" zu kritisieren ist, ist dann die Erziehung von 1933 bis 1945 - zum Beispiel in den Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (Napola) der Nationalsozialisten - gutzuheißen? Gehört in diesem Kontext auch die Erziehung vor 1918 im autoritären Kaiserreich? Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 161 ZEITFÜRGESCHICHTE Zu fragen ist weiterhin: Gehörten die 1941/42 in Riga ermordeten Berliner und Dresdener Juden etwa nicht zu den "deutschen" Opfern? Ein solcher Redner begreift offensichtlich nicht oder will es nicht begreifen, zumindest artikuliert er es nicht, dass die Berliner und Dresdener Juden zu dem "deutschen Volk" gehören. Gleichzeitig "vergisst" ein solcher Redner, dass die von ihm zitierten "bekannten weltbewegenden Philosophen, die Musiker, die genialen Entdecker und Erfinder" zum Teil deutsche Juden bzw. jüdische Deutsche waren. Wieder ist zu fragen: Sind auch sie Teil seiner "Erinnerungskultur"? Weiß ein solcher Redner nicht, dass in Auschwitz das auf Geheiß der SS eingerichtete Mädchenorchester unter anderem die Werke Johann Sebastian Bachs (1685-1750) spielen musste und sich Mengele am liebsten Robert Schumanns (1810-1856) "Träumerei" vorführen ließ? Und zuletzt die Frage: Artikuliert sich in dieser Verdichtung von Mord und Kultur nicht in bestürzender Art und Weise der Kulturund Zivilisationsbruch der noch nicht "Umerzogenen"? Ein solcher Redner teilt in seiner Agitation ("Import fremder Völkerschaften", "Masseneinwanderung") aber nicht nur die "massive Überfremdungsangst" (Matthias Brosch, 2004) Treitschkes, sondern er spricht in anderen Passagen darüber hinaus von der Auflösung eines einst intakten Staats, der Preisgabe der Außengrenzen und dem drohenden Untergang der "einst hoch geschätzte[n] Kultur [...] nach einer umfassenden Amerikanisierung". Wenn es schließlich heißt, "wir werden uns unser [!] Deutschland Stück für Stück zurückholen!", so ist mit den Worten Victor Klemperers zu befürchten, dass sich ein solcher Parteifunktionär gemeinsam mit seinen Verbündeten und Anhängern anmaßt, allein "die deutsche Volksseele" zu verkörpern. Offenbar steht dahinter die Absicht, ein "Kommunikationsumfeld" zu schaffen, das als Basis dient, um die Mitte der Gesellschaft mit dem "Wunsch nach eigener (kollektiver) Unschuld, dem Phantasma des eigenen Opferstatus" zu infizieren: "Nicht die Deutschen haben etwas getan, sondern den Deutschen wurde etwas angetan". (Samuel Salzborn, 2020.) Ein anderer Funktionär, der auch auf Treffen des Flügels sprach, erklärte im November 2017 gegenüber einer Tageszeitung: "Auschwitz geht natürlich ebenso in unsere Geschichte ein wie der Magdeburger Dom oder die Befreiungskriege. Es ist aber nicht unsere heutige demokratische Identität. Es ist nichts, was uns täglich berührt. [...] Wir sind heute nicht mehr Auschwitz. Denn das deutsche Volk hat in den fast 75 Jahren seither eine funktionierende Demokratie aufgebaut". Was Auschwitz als Synonym für die Singularität des Holocaust betrifft, sind solchen Äußerungen die folgende Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, des höchsten deutschen Gerichts, aus dem Jahr 2009 entgegenzuhalten: 162 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE "Das Grundgesetz kann weithin geradezu als Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes gedeutet werden. Die Erfahrungen aus den Zerstörungen aller zivilisatorischer Errungenschaften durch die nationalsozialistische Gewaltund Willkürherrschaft prägen die gesamte Nachkriegsordnung und die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die Völkergemeinschaft bis heute nachhaltig". anschlag in Halle (Saale, Sachsen-anhalt) - atomwaffendivision deutschland (awdd) | Mit zahlreichen Schüssen sowie selbstgefertigten Sprengmitteln versuchte am 9. Oktober 2019 ein bis dahin den Sicherheitsbehörden nicht bekannter Rechtsextremist, sich Zugang zu der Synagoge zu verschaffen. Er wollte die etwa 50 Gemeindemitglieder töten, die sich dort versammelt hatten, um den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur zu begehen. Als dem Täter dies nicht gelang, erschoss er vor der Synagoge eine Passantin und anschließend einen jungen Mann in einem nahegelegenen DönerImbiss. Dieses Ereignis steht in einer Reihe von Anschlägen der letzten Jahre, bei denen junge Männer vorgaben, mit ihren Taten die "weiße Rasse" zu verteidigen, und bei denen das Internet in zweierlei Hinsicht eine entscheidende Rolle spielte: Zum einen waren die Täter kaum in rechtsextremistische Organisationen eingebunden, sondern radikalisierten sich stattdessen überwiegend in virtuellen Communities wie 8chan oder Gab; zum anderen verstärkten die Täter die Wirkung ihrer Verbrechen, indem sie über das Internet Bekenntnisse ("Manifeste") verbreiteten und das Geschehen zum Teil sogar live im Internet übertrugen. Als wichtigstes "Vorbild" dieser Taten ist der Anschlag auf zwei Moscheen in Christchurch (Neuseeland) im März 2019 zu bewerten. Auch der Anschlag des norwegischen Massenmörders Anders B. Breivik im Jahr 2011 (77 Tote) und der Anschlag auf eine Synagoge Ende 2018 in Pittsburgh (USA) mit elf Opfern sind in diesem Zusammenhang relevant. Im Rahmen der Live-Übertragung des Verbrechens begründete der Täter seinen Anschlag in Halle (Saale) damit, dass "der Jude" für den Feminismus, die in dessen Folge sinkenden Geburtenraten in westlichen Ländern sowie die Masseneinwanderung nach Europa verantwortlich sei. Der Gedanke einer angeblich jüdisch gesteuerten Massenmigration ist in der rechtsextremistischen Szene in der Bundesrepublik Deutschland seit jeher stark verbreitet. Ein Beispiel hierfür ist die AWDD. Ihren Ursprung hat die Gruppierung in den USA, wo sie mit mehreren Morden und schweren Gewalttaten in Verbindung gebracht wird. In Deutschland trat die AWDD 2018 mit dem Video "AWDD Deutschland: Die Messer werden schon gewetzt!" erstmals in Erscheinung. Im Laufe des Jahrs 2019 verteilte die Gruppierung Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 163 ZEITFÜRGESCHICHTE an mehreren deutschen Hochschulen Flugblätter, unter anderem an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. In einem Flugblatt bezeichnete die AWD den "Globalen Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration" der UN als "weitere Waffe gegen die weiße Rasse", der zeige, "dass die Juden und ihre Handlanger entschlossen sind, die Invasion in die weißen Länder unaufhörlich weiter voranzutreiben, um die weißen Völker zu vernichten". Ein anderes Flugblatt zeigt eine Person, die einer anderen die Kehle durchschneidet, sowie den Schriftzug "Töte Moslems!" Auf der Rückseite des Flyers heißt es: "Join your local Nazis. Kill your local Rabbi. Kill your local Imam". Israelbezogener antisemitismus | Nicht immer wird der Hass auf Juden so unverblümt wie bei der AWDD artikuliert. Stattdessen arbeiten Antisemiten häufig mit Chiffren, Codes und Anspielungen. Ein Beispiel hierfür sind Plakate der Partei DIE RECHTE anlässlich der Europawahl, die unter anderem in Kassel und in Neukirchen (SchwalmEder-Kreis) angebracht waren. Auf einem der Plakate stand die Parole "Israel ist unser Unglück", mit der DIE RECHTE offensichtlich auf die von Treitschke erfundene und von den Nationalsozialisten unablässig verwendete Parole "Die Juden sind unser Unglück" Bezug nahm. Indem die Partei das Wort "Juden" des Treitschke-Satzes durch "Israel" ersetzte, öffnete sie mit Erfolg eine Hintertür, um sich der strafrechtlichen Verfolgung zu entziehen. So lehnten verschiedene Staatsanwaltschaften Ermittlungen mit der Begründung ab, dass auch eine straffreie Deutung der Plakate möglich sei. Darüber hinaus hatte die Partei DIE RECHTE mit Ursula Haverbeck-Wetzel eine zu zwei Jahren Haft verurteilte Holocaust-Leugnerin als Spitzenkandidatin zur Europawahl aufgestellt und dazu aufgerufen, diese durch einen Wahlsieg aus der "Gesinnungshaft" zu befreien. Auch Teile der sogenannten Mitte der Gesellschaft nutzten die Kritik am Staat Israel, um ihre Ressentiments gegenüber Juden auf gesellschaftlich weitgehend akzeptierte Art und Weise zum Ausdruck zu bringen. Die sozialwissenschaftliche Forschung spricht hier von "Umwegkommunikation". In diesem Zusammenhang entwickelte die International Holocaust Remembrance Alliance Kriterien, um berechtigte Kritik an israelischem Regierungshandeln auf der einen und israelbezogenen Antisemitismus auf der anderen Seite voneinander abzugrenzen. 2017 erkannte die Bundesregierung dieses Instrumentarium offiziell an. Demzufolge liegt israelbezogener Antisemitismus unter anderem dann vor, wenn das Existenzrecht Israels negiert oder Israel anhand anderer Maßstäbe beurteilt wird als andere Staaten, sowie wenn klas164 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE sische antisemitische Stereotype auf den Staat Israel übertragen, Vergleiche zwischen Israel und den Nationalsozialisten gezogen oder Juden weltweit für das Verhalten des israelischen Staates verantwortlich gemacht werden. Geschichtsrevisionismus und erinnerungsabwehr | Das Beispiel der Partei DIE RECHTE zeigt außerdem, wie Rechtsextremisten versuchen, die deutsche Geschichte in ihrem Sinne umzudeuten. So wurde die Holocaust-Leugnerin Haverbeck-Wetzel als Märtyrerin und Opfer einer vermeintlichen "Gesinnungsdiktatur" verehrt. Andere Rechtsextremisten verunglimpften die historische Aufarbeitung des Holocaust und das Gedenken an die Ermordeten als "Schuldkult" und Instrument der "Siegermächte". Auf der Internetseite der Partei Der Dritte Weg hieß es etwa über die 1979 erstmals im Fernsehen ausgestrahlte Serie "Holocaust - Die Geschichte der Familie Weiss": "An die Stelle der eigenen, gewachsenen und arterhaltenden Ideale pflanzte der Feind seine verbrecherischen Vorstellungen von einer mit Schuld beladenen nationalen Geschichte in die Köpfe der Deutschen und störte damit das völkische Selbstwertgefühl und den Instinkt zur Selbsterhaltung so weit, dass ein erschreckend großer Teil der Deutschen heute lieber ihr eigenes Volk vom Antlitz der Erde verschwinden sehen würde oder seinem Verschwinden zumindest gleichgültig zusehen". Durch Formulierungen wie die "fiktive Geschichte über eine Familie Weiss, die aufgrund ihrer jüdischen Herkunft [...] Opfer geworden sein soll" und "dem deutschen Publikum" als "Nachfahren von angeblichen Verbrechern" stellt Der Dritte Weg die Historizität des Holocaust zumindest andeutungsweise in Frage. Aber auch außerhalb der rechtsextremistischen Szene nehmen öffentliche Forderungen nach einem "Schlussstrich" unter der deutschen Vergangenheit und verbale Relativierungen des Nationalsozialismus und des Holocaust zu (sekundärer Antisemitismus). Entsprechende politische Akteure bedienen dabei eine offensichtlich in weiten Teilen der Bevölkerung vorhandene Sehnsucht nach Schuldbzw. Erinnerungsabwehr. So stimmt wissenschaftlichen Erhebungen zufolge fast die Hälfte der Befragten der Aussage "Ich bin es leid, immer wieder von den deutschen Verbrechen an den Juden zu hören" zumindest in Teilen zu. Auch im Rahmen einer Untersuchung des LfV zu "Antisemitischer Agitation in den sozialen Netzwerken" ließ sich beobachten, dass viele Nutzer auf Medienberichte zu Antisemitismus in Deutschland mit verschiedenen Abwehrreflexen reagierten: Es wurde unterstellt, dass Juden das Thema künstlich aufHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 165 ZEITFÜRGESCHICHTE bauschen, oder es wurde lamentiert, dass es "uns Deutschen" tatsächlich viel schlechter gehe als "den Juden". Dies galt sogar dann, wenn diese Medienberichte gar keinen Bezug zum Holocaust herstellten, sondern sich lediglich mit heutigem Antisemitismus beschäftigten. So gelangt die Studie "Verlorene Mitte. Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018/19" (2019) zu dem Befund: "Der generalisierenden und negativen Aussage, dass ,Juden zu viel Einfluss in Deutschland haben', stimmen 8,1-4,3% der Befragten ,eher' oder ,voll und ganz' zu [...]. 7,5-4% weisen zudem Juden eine ,Mitschuld an ihren Verfolgungen' zu. Den modernen und subtileren Formen des sekundären und israelbezogenen Antisemitismus stimmen deutlich mehr Befragte zu. Wird der Antisemitismus über Umwege kommuniziert, sind 21,6-12,5% der Meinung, Juden wollten die Vergangenheit zu ihrem Vorteil nutzen. 26,6-16,3% geben an, aufgrund von politischen Handlungen des Staates Israel gut verstehen zu können, wenn man etwas gegen Juden hat und 39,4-27,3% der Deutschen setzen die Verbrechen des Nationalsozialismus mit den Handlungen des Staates Israel im israelisch-palästinensischen Konflikt gleich. Jede zehnte befragte Person stimmt den Aussagen zum klassischen Antisemitismus zu. Rund ein Viertel der Befragten stimmt vor allem dem israelbezogenen Antisemitismus zu und lehnt die Aussagen demnach nicht deutlich ab". "erziehung zur Mündigkeit" wegen und nach auschwitz | Die Rede Höckes (sowie andere in seinem Umfeld getätigte öffentliche Äußerungen) und viele andere ähnliche Ereignisse stehen im Kontext eines vielfältigen Umbruchs unserer Erinnerungskultur. Diese Zäsur begann sich 1986/87 mit dem "Historikerstreit", seit Anfang der 1990er Jahre mit der Debatte um ein in Berlin zu errichtendes Holocaust-Mahnmal sowie mit der umstrittenen Wanderausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht von 1941-1944" (1995) abzuzeichnen, wobei die "Wehrmachtsausstellung" "hochgradig emotionale Reaktionen" auslöste, die sich "ab 1996/97 zu einem nahezu gesamtgesellschaftlichen Skandal ausweiteten" (Lena Knäpple, 2015). Damit begannen die "Erinnerungskontroversen der Berliner Republik" (Fischer/Lorenz, 2015), die heute, so wie es Aleida Assmann bereits im Titel ihres 2020 erschienenen Buchs "Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention" andeutet, aus vielerlei Gründen mit etlichen Problemen behaftet sind. Dazu gehört, dass die "Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und an den Holocaust [...] bald ausschließlich mediatisiert" (Assmann) sein wird, verbunden mit einem starken Wandel der Medienlandschaft insbesondere wegen des Gebrauchs, auch Missbrauchs und der entsprechenden Wirkung der sozialen Medien. 166 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE Angesichts der von Höcke propagierten volksbezogenen und geschichtsvergessenen Eindimensionalität des Denkens und Handelns muss es das Anliegen und die Pflicht aller Demokraten sein, auch kleinste, scheinbar unbedeutende "Ungerechtigkeiten" zu verhindern, bevor sie - für viele aufgrund der Gewöhnung nahezu unmerklich - in der Summe so schwer werden, dass sie "nicht länger zu [er]tragen" (Hedi Fried, 2019) sind. Es gilt, sich darüber bewusst zu sein, dass das ungeheuerliche Geschehen in Auschwitz sich nicht grundlos von einem auf den anderen Tag ereignete. Es gilt sich vor Augen zu halten, dass es sich auch bei heutigen extremistischen Bestrebungen um einen kleinteiligen Prozess handelt, in den man sich angesichts kleinster, kaum wahrnehmbarer, scheinbar harmloser "Ungerechtigkeiten" nicht integrieren lassen darf. Gab es vor 1918 immer wieder einzelne oder epochenbezogene und unterschiedlich motivierte antisemitische Vorkommnisse, so verdichteten sich diese, wie oben gezeigt, seit 1918 zu einem voranschreitenden Prozess, der - in sich keineswegs stringent - mit dem singulären, fürchterlichen Menschheitsverbrechen des Holocaust endete. Einem pädagogischen Appell des in Frankfurt am Main geborenen Philosophen Theodor Adorno (1903-1969) ist zuzustimmen. Er war - nach nationalsozialistischer Definition - ein "Halbjude", verlor 1933 seine Lehrbefugnis, emigrierte 1934 aus Deutschland, kehrte 1949 nach Frankfurt am Main zurück und leitete dort zusammen mit dem Philosophen Max Horkheimer (1895-1973) das Institut für Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. In Adornos 1971 posthum erschienener Schrift "Erziehung zur Mündigkeit" heißt es: "Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung[!]. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen". So vertrat auch Hedi Fried 2010 bei der Tagung "Überlebende und ihre Kinder" im Studienzentrum der KZ-Gedenkstätte Neuengamme folgende Überzeugung: ",Die Erziehung ist die einzige Waffe gegen Rechtsradikalismus, die wir haben'". Denn die emotionslose Marginalisierung des Antisemitismus (hierfür steht unter anderem der Fall Speer als "schuldlose Verstrickung", Nicole Colin, 2015) und die Marginalisierung anderer Ausprägungen von Extremismus (vor allem Rassismus) beginnen in den Köpfen und setzen sich im Alltag, in Geschäften, Büros, Verkehrsmitteln usw. fort. Diese Marginalisierung kann, wie Micha Brumlik (2015) es nennt, zu den "ohne"-Attributen führen: "Offiziere ohne Ehre", "Mediziner ohne hippokratisches Ethos" usw. So waren es "ganz normale Männer" (Christopher R. Browning, 1996), die in Polen bei den Massenerschießungen mordeten. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 167 ZEITFÜRGESCHICHTE Die Notwendigkeit einer Demokratieerziehung - im weitesten Sinne kognitive, faktenbezogene und affektive Bildung in allen Lebensabschnitten - müssen wir entgegen der von Adorno konstatierten Selbstverständlichkeit in unserer Gegenwart leider begründen. Diese Erziehung zur Demokratie muss auch neu in ihrer Funktionalität und Wirkung überdacht werden, wenn, so wie 2019 an einer Schule in Grünberg (Landkreis Gießen) geschehen, mehrere Schüler nach dem Besuch des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald auf einem Smartphone antisemitische Lieder abgespielt und mitgesungen haben sollen. Als in Halle (Saale) im Mai 2020 Demonstranten gegen die staatlichen "Corona-Maßnahmen" protestieren und als sichtbares Zeichen ihrer vermeintlichen "Unterjochung" T-Shirts mit aufgedrucktem Judenstern sowie Anne-Frank-T-Shirts trugen, ging der Großteil der Passanten achtlos vorbei (Text 7). Das Tragen der Kleidungsstücke im Zusammenhang mit einer Unmutsbekundung gegen "Corona-Maßnahmen" ist ebenso wie die wegschauende Teilnahmslosigkeit der Passanten in Anbetracht dessen, was den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltund Terrorherrschaft und Anne Frank persönlich widerfuhr, nicht nur geschmacklos, sondern zeugt von einer eminenten Geschichtsvergessenheit. Ähnlich wie in dem Theaterstück "Die verkehrte Welt" (Ludwig Tieck, 1773-1853) wurden sowohl in Halle (Saale) als auch in Dresden in grotesker Weise Rollen vertauscht, Tatsachen verdreht und äußerst Bedenkliches beklatscht, sodass der Verlust eines jeglichen Realitätssinns dieser Akteure festzustellen ist. Mit Blick auf die Ereignisse in Halle (Saale) und die Äußerungen Höckes, der zusammen mit seinem Umfeld sogar in den Parlamenten sitzt, ist - angelehnt an Hedi Fried - leider zu fragen: Wann wird die "nächste Ungerechtigkeit kommen" bzw. wann wird es wieder eine Bluttat geben? Diesen Entwicklungen muss mit jedem individuellen Engagement sowie mit allen gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen rechtzeitig und energisch entgegengetreten werden, bevor sich Ungerechtigkeiten zu einer Schwere verdichten, die nicht mehr zu ertragen ist. Angesichts der rechtsextremistischen Anmaßung "Wir sind das Volk" kann sich niemand, so wie es als Leitmotiv vor dem Beginn der eigentlichen Geschichte in "Damals war es Friedrich" heißt, sicher sein: "Damals waren es die Juden... Heute sind es dort die Schwarzen, hier die Studenten... Morgen werden es vielleicht die Weißen, die Christen oder die Beamten sein..." Daher initiierte das LfV gemeinsam mit dem Landkreis Hersfeld-Rotenburg im Jahr 2019 das Präventionsprojekt "Begegnungen gegen Antisemitismus", um etwaige Ressentiments oder Berührungsängste nachhaltig zu überwinden bzw. erst gar nicht als "Sandkorn" (Hedi Fried) entstehen zu lassen (siehe hierzu oben das Kapitel Öffentlichkeitsund Präventionsarbeit). 168 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ZEITFÜRGESCHICHTE Zum Schluss ist der Ausgangspunkt Auschwitz noch einmal ins Gedächtnis zurückzurufen: Ausgehend von einer Anregung des Frankfurters Mitbürgers und Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis (1927-1999), erklärte Bundespräsident Roman Herzog (1934-2017) Anfang 1996 den 27. Januar zum "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus". Dabei stand Ignatz Bubis seit seiner Wahl zum Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland (1992), so Michael Lenarz, einer der beiden stellvertretenden Direktoren des Jüdischen Museums Frankfurt, als eine positiv "Symbolfigur" im "Mittelpunkt eines nationalen, ja sogar internationalen Interesses". Allerdings seien seine letzten Jahre von dem Konflikt mit Martin Walser überschattet worden, der Ignatz Bubis an der "Bereitschaft der deutschen Gesellschaft zweifeln ließ, sich auch in Zukunft ernsthaft mit den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und ihren Folgen auseinandersetzen zu wollen". Anlässlich der Befreiung der wenigen Überlebenden des Konzentrations-, Zwangsarbeiterund Vernichtungslagers Auschwitz erklärte Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier am 29. Januar 2020 im Bundestag: "Wir vergessen nicht, was geschehen ist! Aber wir vergessen auch nicht, was geschehen kann!" Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 169 ZEITFÜRGESCHICHTE 170 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS - MeRkMaLe - LInkSextReMIStIScHeS PeRSonenPotenzIaL - autonoMe - SonStIGe BeoBacHtunGSoBJekte - LInkSextReMIStIScHe StRaFund GewaLttaten LINKSEXTREMISMUS MeRkMaLe die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und die errichtung eines totalitären, sozialistisch-kommunistischen Systems oder einer angeblich "herrschaftsfreien Gesellschaft" sind ziele linksextremistischer Bestrebungen. AUF EINEN BLICK * orthodoxer kommunismus * Maoismus * anarchismus * autonome Vorstellungen orthodoxer kommunismus | Protagonisten dieses Teils des Linksextremismus wie zum Beispiel die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) orientieren sich an den Lehren von Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895). Marx und Engels teilten Gesellschaften in Klassen ein und behaupteten, es gebe einen andauernden "Klassenkampf". Auf der Ausbeutung der Klasse der Arbeiter ("Proletariat") durch die Klasse der "Kapitalisten" fußt nach Auffassung orthodoxer Kommunisten - gegründet auf den Lehren von Marx und Engels - der "Kapitalismus": Dieser führe zwangsläufig zu immer mehr Elend und Gewalt in der Gesellschaft. Der Kapitalismus könne nur durch eine Revolution, die eine Änderung der Eigentumsverhältnisse einschließe, beseitigt werden. Durch Umverteilung des Besitzes werde die alte Ordnung absterben und sich nach und nach eine kommunistische Gesellschaft entwickeln. Neben Marx und Engels berufen sich orthodoxe Kommunisten auf Wladimir Iljitsch Uljanow (1870-1924), genannt Lenin. Dieser glaubte, die Arbeiter könnten nur durch eine elitäre Kaderpartei zum richtigen "Klassenbewusstsein" und zu einer erfolgreichen Revolution geführt werden. Nach der Erringung der Macht sei es Aufgabe dieser Partei, mittels einer "Diktatur des Proletariats" die kommunistische Gesellschaft zu errichten und gewaltsam alle "konterrevolutionären" Elemente zu bekämpfen. Maoismus | Organisationen wie die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) orientieren sich an der chinesischen Variante des Kommunismus, dem Maoismus, der auf den Revolutionär Mao Zedong (1893-1976) zurückgeht. Die von ihm 1937 verfassten Schriften sowie seine Politik der Ablehnung der damaligen Sowjetunion bilden die Grundlage der maoistischen Ideologie. Im Unterschied zum orthodoxen Kommunismus setzt sich für Maoisten die Revolution auch nach Erringung der Macht fort und kann sich gegen 172 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS eigene kommunistische Strukturen und deren Repräsentanten richten. Darüber hinaus definierte der Maoismus nicht die Arbeiter, sondern - vor allem in Ländern der Dritten Welt - die Bauern als Träger der proletarischen Revolution. anarchismus | Anarchisten wie die Freie Arbeiterinnenund ArbeiterUnion (FAU) lehnen - im Unterschied zu kommunistischen Organisationen - jegliche Herrschaft ab. Sie sehen den Staat als unterdrückerische Zwangsinstanz an, die zerschlagen werden müsse, wobei es - im Unterschied zu Marxisten-Leninisten - keiner Kaderpartei bedürfe. Anarchisten wenden sich gegen jegliche Institutionen, insbesondere gegen Parteien und Parlamente; sie selbst organisieren sich in nur wenig strukturierten Gruppen. autonome Vorstellungen | Die Positionen von Autonomen verfolgen - verglichen mit denjenigen orthodox-kommunistischer Parteien - kein starres Dogma. Sie vermischen verschiedene Ideologiefragmente zu einem mitunter brüchigen Gesamtbild, das von Gruppe zu Gruppe variieren kann. Nicht die Partei, sondern das selbstbestimmte Individuum steht bei Autonomen im Mittelpunkt ("Politik der ersten Person"). Nach autonomer Auffassung muss der Einzelne ständig um seine Befreiung von "strukturellen Zwängen" kämpfen. Mit orthodoxen Kommunisten verbindet Autonome aber die Vorstellung von einer Welt, in der jeder im Rahmen einer kommunistischen Gesellschaft nach seinen Bedürfnissen leben und sich selbst verwirklichen kann: Dazu müssten alle "Systeme", die dem Individuum Pflichten und Zwänge auferlegen, beseitigt werden. Zu diesen "Systemen" gehören nach dem Verständnis von Autonomen unter anderem Demokratie und rechtsstaatliches Handeln. Die Vorgehensweisen und die Zusammensetzung autonomer Zusammenschlüsse sind heterogen. Einige Autonome versuchen, Ideen anarchistischer Prägung in die Realität umzusetzen, zum Beispiel durch die Errichtung "gewaltund herrschaftsfreier Räume" in Form von Besetzungen oder der Verwaltung von Gebäuden. Andere Autonome engagieren sich weiterhin in der Bündnisund Netzwerkarbeit, wobei sie zunehmend nichtextremistische Unterstützer zu gewinnen versuchen. Zunehmende Bedeutung gewinnt die Instrumentalisierung von Teilen der Klimaschutzbewegung unter der Losung "system change not climate change". Um ihre jeweiligen Ziele zu erreichen, halten Autonome generell die Anwendung von Gewalt für ein legitimes Mittel. Insbesondere auf Grund ihrer "militanten Aktionen" stellen Autonome eine konstante Bedrohung für die Innere Sicherheit in Deutschland dar. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 173 LINKSEXTREMISMUS LInkSextReMIStIScHeS PeRSonenPotenzIaL1 Der leichte Anstieg des linksextremistischen Personenpotenzials in Hessen resultierte aus der Gründung neuer Gruppen im lose strukturierten Linksextremismus. Dabei verharrte die Gesamtzahl des linksextremistischen Personenpotenzials auf einem gleichbleibenden Niveau, auch weil Personen Hessen verließen oder ihre politischen Ziele nicht mehr in demselben Aktionsrahmen vertraten wie früher. | 2019 2018 2017 2016 2015 Autonome Hessen 420 400 400 400 340 Bund 7.400 7.400 7.000 6.800 6.300 Anarchisten Hessen 80 70 70 70 60 Bund 900 800 800 800 800 Sonstige Linksextremisten (Marxisten-Leninisten, Trotzkisten u. a.) Hessen 2.400 2.400 2.400 2.400 2.400 Bund 25.300 24.000 21.400 21.800 20.300 Gesamtzahl der Linksextremisten (nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften) Hessen 2.600 2.570 2.570 2.570 2.500 Bund 1 33.500 32.000 29.500 28.500 26.700 1 Die Zahlen sind teilweise geschätzt und gerundet. autonoMe DEFINITION/KERNDATEN autonome sind undogmatische und organisationskritische Linksextremisten, die sich zum teil diffus an verschiedenen kommunistischen und anarchistischen deutungsmustern orientieren. das staatliche Gewaltmonopol lehnen autonome ab und sehen eigene Gewaltanwendung ("Militanz") zur durchsetzung ihrer politischen ziele als legitim bzw. berechtigt an. Starren organisationsstrukturen stehen "klassische" autonome kritisch bis ablehnend gegenüber und beharren stattdessen auf ihrer Selbstbestimmtheit. autonome organisieren sich überwiegend in losen Gruppen, zwi174 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS schen denen oft nur aktionsund anlassbezogene lockere netzwerke bestehen. Aktivisten: In Hessen etwa 420, bundesweit etwa 7.400 teile der autonomen Szene sind seit einigen Jahren allerdings von diesem Selbstverständnis abgerückt. die mangelnde Strategie soRegionale Schwerpunkte: wie die organisationsund theoriefeindlichkeit "klassischer" autoFrankfurt am Main, Marburg, nomer erachten sie als wenig zielführend: anstelle der Revolution Gießen, Kassel und Darmstadt bevorzugt dieser teil der Szene, der als postautonom bezeichnet Medien : wird, eine langfristige Veränderung der bestehenden Verhältnisse. Swing (Erscheinungsweise Hierfür greifen Postautonome gesamtgesellschaftlich relevante themehrmals jährlich), Internetmen auf und setzen auf eine auch das gesamte linksextremistische präsenzen Spektrum umfassende Bündnispolitik, die eine zusammenarbeit mit nichtextremistischen akteuren ausdrücklich einschließt. dement- / sprechend vermeiden Postautonome in der Regel ein offenes Bekenntnis zur Gewalt. Stattdessen verwenden sie eher unbestimmte Begriffe wie "ziviler ungehorsam" oder sprechen davon, "Polizeiketten durchfließen" zu wollen. damit bieten Postautonome für ihre "aktionen" einen weiten Interpretationsspielraum, der sowohl gewaltorientierten als auch gewaltablehnenden Personen eine teilnahme ermöglicht. die bundesweit bedeutendsten postautonomen organisationen waren im Berichtszeitraum die Interventionistische Linke (IL) und mit abstrichen das sich selbst als "kommunistisch" definierende Bündnis ...umsGanze! (uG). während die Gruppe kritik&praxis - radikale Linke [f]rankfurt teil des ...umsGanze!-Bündnisses war, organisierten sich in der IL die Gruppen d.o.r.n. (kassel), d.i.s.s.i.d.e.n.t. (Marburg), IL darmstadt und IL Frankfurt. eReIGnISSe/entwIckLunGen wie bereits im Berichtsjahr 2018 legte die autonome Szene auch 2019 einen Schwerpunkt ihrer aktivitäten auf das themenfeld "antifaschismus". Mit einer Vielzahl von demonstrationen und aktionen machte die Szene wiederholt auf den "fortschreitenden Rechtsruck" in der Gesellschaft aufmerksam und zeigte sich solidarisch mit den opfern "rechter Gewalt". Gleichzeitig unterstellte die autonome Szene dem Staat, rechtsextremistische Vorkommnisse in den Sicherheitsbehörden nicht konsequent zu ahnden. Im kontext der klimaund umweltschutzbewegung versuchten autonome verstärkt einfluss auf Bewegungen wie Fridays for Future und extinction Rebellion (xR) zu nehmen und führten entsprechende aktionen durch. darüber hinaus gewann das themenfeld "kurdistan-Solidarität" wegen des einmarschs der türkischen armee in von kurden besiedelte Gebiete in Syrien an BedeuHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 175 LINKSEXTREMISMUS tung. autonome Gruppen führten Solidaritätsaktionen durch und verbündeten sich mit organisationen, die der Partiya karkeren kurdistan (Pkk, arbeiterpartei kurdistans) nahestehen. AUF EINEN BLICK * "antifaschismus": outings und demonstrationen * Linksextremistische einflussnahme auf die klimaund umweltschutzbewegung * "kurdistan-Solidarität": Solidaritätsaktionen/-demonstrationen - phänomenübergreifende Bündnisse * "Selbstverwaltete Freiräume" - Schließung des Havanna 8 * "antigentrifizierung" "antifaschismus": outings und demonstrationen | Um vermeintliche oder tatsächliche rechtsextremistische Aktivitäten, Personen und Szeneobjekte öffentlich anzuprangern und gesellschaftlich zu brandmarken, sammelten Autonome - häufig detaillierte - Informationen, um diese in Outings zu veröffentlichen. So wurde im Januar eine Studierende während einer Vorlesung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main als Aktivistin der rechtsextremistischen Identitären Bewegung geoutet. Die Aktivisten teilten Flyer an die Anwesenden aus, weitere Flyer wurden auf dem Campus verteilt und Plakate in den Räumlichkeiten der Universität angebracht. Neben persönlichen Daten, wie Adresse und Studienfach, enthielten die Flugblätter Informationen über Kontaktverhältnisse innerhalb der rechtsextremistischen Szene und entsprechende Aktivitäten. Zudem wurde ein Bericht über das Outing auf der häufig von Linksextremisten benutzten Internetplattform de.indymedia.org veröffentlicht und in den sozialen Medien durch autonome Gruppen geteilt. Darüber hinaus kam es im Laufe des Berichtsjahrs vereinzelt zu weiteren Outing-Aktionen. Im Raum Mittelhessen war die gegen Angehörige von Burschenschaften gerichtete Internetpräsenz Stadt, Land, Volk besonders aktiv und veröffentlichte Berichte im Stil von Outings, um "Netzwerke auf[zu]decken!" und den "(Neu-)Rechten Bewegungen den Aufwind [zu] nehmen". Hierzu hieß es im August auf der Interseitseite von Stadt, Land, Volk: "Extrem rechte Burschenschaften sind als Rückgrat der ,Neuen Rechten' zu sehen. Sie sind nicht nur Mitorganisatoren des Rechtsrucks, sondern treiben ihn aktiv voran. Sie fungieren als Bindeglied zwischen verschiedenen extrem rechten Organisationen, bieten personelle Kontinuitäten und stellen für sie wichtige Infrastruktur. Burschenschaften haben die Räume, das Geld und die entsprechende Sozialisation, inklusive passendem reaktionären Männlichkeitsbild". 176 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS Weiterhin fanden mehrere größere Demonstrationen und Protestaktionen mit linksextremistischer Beteiligung gegen Aktivitäten und Strukturen von vermeintlichen oder tatsächlichen Rechtsextremisten statt. Vor allem infolge des Mordes an dem Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke und aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit der Täterschaft eines Rechtsextremisten, so ein Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 22. August, kam es in Hessen zu Solidaritätsbekundungen und Demonstrationen. Daran beteiligte sich die linksextremistische Szene in unterschiedlicher Intensität: * Frankfurt am Main, 23. März: Eine von der autonomen Szene initiierte und getragene Demonstration mit etwa 1.300 Personen ("Solidarität mit allen Betroffenen! Gemeinsam gegen den Rechtsruck von Staat und Gesellschaft") sollte "Solidarität mit den Opfern rechter Gewalt" zeigen, eine "unabhängige Aufklärung der Geschehnisse um den NSU 2.0" in die Wege leiten und ein "Zeichen gegen die autoritäre Formierung von Staat und Gesellschaft" setzen. Auslöser waren die Bedrohung einer Frankfurter Rechtsanwältin, die Angehörige von Opfern im NSU-Prozess vor dem OLG München vertreten hatte, und unter anderem in den Medien erhobene Vorwürfe, dass hessische Polizisten in rechtsextremistische Strukturen verstrickt seien. In dem Aufruf von kritik&praxis - radikale Linke [f]frankfurt hieß es: "Die Polizei entlarvt sich hier nicht allein als Apparat, der sich im Zweifelsfall einfach selbst reguliert, sondern auch als politischer Akteur mit Eigeninteresse. Die Tendenz der antidemokratischen Verselbständigung ist dabei strukturell in den polizeilichen, geheimdienstlichen und sicherheitspolitischen Apparaten angelegt, da sich ihre Legitimationsberechtigung gerade daraus ergibt, den kapitalistischen Staat mit seiner zugrundeliegenden Eigentumsordnung gegen seine Bevölkerung und im Zweifelsfall auch gegen seine Regierung zu schützen. Die Zusammenarbeit mit nihilistischen Vaterlandsschützer*innen gehört daher konstitutiv zum Kapitalismus. Geschützt wird ein Herrschaftssystem mit ausbeuterischer Kapitalakkumulation". Die autonome Gruppierung siempre*antifa Frankfurt/M erklärte: "Der Faschismus kommt aus dem bürgerlichen Staat: Der Faschismus war schon historisch ein Herrschaftsprojekt aus den reaktionärsten Teilen der bürgerlichen Gesellschaft. Er hat keineswegs vom gesellschaftlichen Rand die Macht ergriffen, sondern wurde von bestimmten Teilen der politischen, militärischen und administrativen Elite und des Staatsapparats sowie der Großindustrie - ergo der herrschenden Klasse - in ein Bündnis integriert [...]. Der #NSUKomplex hat eindrücklich gezeigt, dass mit dem Staatsapparat verbandelte neofaschistische Netzwerke bis heute existieren. [...] Eine Kritik an NeoHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 177 LINKSEXTREMISMUS Faschisten muss vor diesem Hintergrund immer eine radikale Kritik am bürgerlichen Staat mit einschließen". (Schreibweise wie im Original.) Während der Demonstration vermummte sich ein Teil der Teilnehmer; außerdem wurden vereinzelt pyrotechnische Gegenstände gezündet. Im Vorfeld hatten autonome Gruppen hessenweit Mobilisierungstreffen durchgeführt. Darüber hinaus hatten unter anderem das Antifaschistische Kollektiv 069 (AK.069), das Offene Antifaschistische Treffen (OAT) Darmstadt und Marburg sowie bundesweit Linksextremisten für die Demonstration aufgerufen. * Frankfurt am Main, 18. Juni: Eine nicht angemeldete Demonstration, zu der Gruppierungen aus der linksextremistischen Szene in Hessen - darunter die Antifa United Frankfurt (AUF), AK.069 und siempre*antifa Frankfurt/M - über die sozialen Medien mobilisiert hatten, richtete sich "gegen den Rechtsruck der vermeintlichen Mitte": "Die Aufdeckung immer weiterer Verstrickungen von Staatsbediensteten in rechte Netzwerke lässt dabei für uns nur den Schluss zu, sich im Kampf gegen Rassismus und Neonazismus auf sich selbst zu Verlassen. Organisiert den antifaschistischen Selbstschutz! Zerschlagt die Neo-Nazi Netzwerke. Für einen gesellschaftlichen Antifaschismus - gegen den Kuschelkurs mit Rechts". (Schreibweise wie im Original.) Der Betreiber der eigens für die Demonstration zwecks Mobilisierung eingerichteten Facebook-Seite sahen es als Erfolg an, dass "sich so viele Menschen kurzfristig solidarisch zusammengefunden haben, um für eine freiere, antifaschistische Gesellschaft zu demonstrieren". Laut Presseangaben hatten etwa 400 Personen an der Demonstration teilgenommen. * kassel, 19. Juni: Ebenfalls unangemeldet zogen etwa 40 Personen, darunter Linksextremisten, mit Fahnen und Transparenten durch die Innenstadt. Auf der Internetplattform de.indymedia.org wurden anschließend Berichte über die Aktion publiziert. * kassel, 22. Juni: An einer Demonstration unter dem Motto "Gemeinsam gegen rechten Terror", für die im Vorfeld - neben zahlreichen nichtextremistischen Gruppen bzw. Organisationen - auch regionale und anarchistische Gruppierungen wie zum Beispiel T.A.S.K., d.o.r.n., Anarchistische Aktion & Organisierung (A&O) und AUF mobilisiert hatten, nahmen etwa 1.200 Personen teil. In dem Aufruf "Gemeinsam gegen rechten Terror!" hieß es: "Naziterror entsteht nicht isoliert. Durch den andauernden gesellschaftlichen Rechtsruck werden gewaltbereite Rechtsradikale immer mehr ermutigt, zur Tat zu schreiten. Der Einzug einer völkisch-natio178 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS nalistischen Partei in alle politische Ebenen macht menschenfeindliches Gedankengut wieder offen aussprechbar - im Bundestag sind Begriffe sagbar, die früher dem Neonazi-Milieu vorbehalten waren. Auch die Praxis der Bundesregierung legitimiert durch immer weitere Verschärfungen der Asylgesetze und durch das Mittragen der tödlichen EU-Abschottungspolitik faktisch den gesellschaftlichen Rechtsruck". * kassel, 20. Juli: Anlässlich eines Aufzugs der Partei DIE RECHTE beteiligten sich etwa 10.000 Personen, darunter auch Linksextremisten, an einer Gegendemonstration unter dem Motto "Gemeinsam gegen den rechten Terror! Kein Fußbreit den Mördern und Faschisten! Naziaufmarsch in Kassel am 20. Juli in Kassel verhindern!" In dem Bündnis gegen Rechts Kassel waren neben Gewerkschaften und weiteren nichtextremistischen Organisationen auch Linksextremisten wie d.o.r.n., qrew Kassel und T.A.S.K. vertreten. Das Bündnis hatte dazu aufgerufen, für einen "konsequenten, gesellschaftlichen Antifaschismus" einzustehen und dem "rechten Aufmarsch [...] gewaltfrei entgegen" zu treten. Für die Veranstaltung hatten weitere Gruppierungen aus dem gesamten linksextremistischen Spektrum in Hessen vorab über die sozialen Medien mobilisiert. Trotz der Ankündigung, gewaltfrei zu agieren, verliefen die Demonstration der Partei DIE RECHTE sowie die Gegenproteste nicht gänzlich friedlich, sodass die Polizei unter anderem wegen Verstößen gegen das Waffenund Versammlungsgesetz eingreifen musste. Zudem warfen Linksextremisten Flaschen auf Teilnehmer der rechtsextremistischen Veranstaltung sowie auf Polizeibeamte. * wiesbaden, 24. Juli: Die mutmaßlich dem Umfeld der autonomen Szene zugehörige Gruppe Leftwing Rheingau versuchte einen Stammtisch der AfD-Jugendorganisation JA in einer Gaststätte in Wiesbaden zu stören, indem sie von einem mobilen Gerät Musik abspielte. Als die JA-Angehörigen hierauf nicht reagierten, verließen einige Linksextremisten die Gaststätte und betitelten die Stammtischteilnehmer als "dreckiges Nazipack". Die übrigen Aktivisten enthüllten ein Transparent mit dem Symbol der Antifaschistischen Aktion, riefen Parolen und besprühten die JA-Angehörigen mit einer Flüssigkeit. Hierauf kam es zu Handgreiflichkeiten, bei denen zwei Stammtischteilnehmer leicht verletzt wurden. * wächtersbach (Main-kinzig-kreis), 27. Juli: Nach dem Mordversuch an einem 26-jährigen eritreischen Staatsbürger initiierte die autonome Gruppierung AK.069 eine Demonstration, um "rechten Terror zu bekämpfen". Es sollte "laut, wütend und entschlossen gegen rechten Terror und Gewalt" vorgegangen werden. In den sozialen Medien und durch andere autonome Gruppen wurde für die Veranstaltung geworben. An der friedlich verlaufenen DemonsHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 179 LINKSEXTREMISMUS tration nahmen 250 Personen teil, darunter auch einige Autonome. * offenbach am Main, 16. august: Bei der Mobilisierung von anderen autonomen Gruppen in Hessen unterstützt, führte die AUF eine Demonstration unter dem Motto "Go east! Gemeinsam gegen Nazis und Rassist*innen" mit etwa 300 Teilnehmern durch. Bei dieser Veranstaltung wurde für die Demonstration "#unteilbar - Für eine offene und freie Gesellschaft. Solidarität statt Ausgrenzung" am 24. August in Dresden (Sachsen) mobilisiert. Linksextremistische einflussnahme auf die klimaund umweltschutzbewegung | Aufgrund der zunehmenden gesellschaftlichen Bedeutung von klimaund umweltpolitischen Anliegen und des damit verbundenen, wachsenden Mobilisierungsund Anhängerpotenzials intensivierten Linksextremisten ihr Engagement in diesem Themenfeld. Damit versuchten sie, ihre Agitation in das Feld klimapolitischer Forderungen und Aktionen einzubetten, um ihre linksextremistischen Positionen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft anschlussfähig zu machen. Diese Bemühungen, linksextremistische Bereiche mit nichtextremistischen nicht nur in Berührung zu bringen, sondern zu vermischen, wird im Verfassungsschutzverbund als Entgrenzung bezeichnet. Vor diesem Hintergrund riefen zahlreiche linksextremistische Organisationen/Gruppierungen aus dem legalistischen und autonomen Spektrum wiederholt zur Teilnahme an Kundgebungen von Fridays for Future und XR auf bzw. thematisierten die Anliegen der Klimaund Umweltschutzbewegung in eigenen Statements und während eigener Veranstaltungen. Von zentraler Bedeutung war dabei der in der Klimaund Umweltschutzbewegung wiederholt geforderte "Systemwandel" in Form der Parole "system change not climate change". Erstmals wurde sie von Aktivisten der durch das LfV Berlin als linksextremistisch beeinflusst bewerteten Klimaund Umweltschutzbewegung Ende Gelände im Kontext der Proteste gegen die Abholzung des Hambacher Forsts in Nordrhein-Westfalen verwendet; seitdem verbreitete sich die Parole in der gesamten Klimaund Umweltschutzbewegung. Linksextremisten erweiterten die Bedeutung des auf klimaund umweltschutzpolitische Ziele beschränkten Begriffs "system change" bzw. interpretierten ihn im klassischen marxistisch-leninistischem Sinne. Demnach ist die bürgerliche Demokratie lediglich ein Kontrollinstrument des "Kapitalismus" und erlaubt keine tatsächliche Teilhabe am öffentlichen Meinungsbildungsprozess. Tiefgreifende, am Gemeinwohl orientierte Reformen sind für Linksextremisten somit nur außerhalb des "Kapitalismus", also nicht innerhalb der bürgerlichen Demokratie, 180 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS möglich. Spätestens seit der Rede der schwedischen Klimaund Umweltschutzaktivistin Greta Thunberg während der UN-Klimaschutzkonferenz im Dezember 2018 in Katowice (Polen) sahen sich Linksextremisten in ihrer verfassungsfeindlichen Auslegung klimaund umweltschutzpolitischer Ziele bestätigt. Thunberg hatte unter anderem gesagt: "Wir müssen die fossilen Brennstoffe im Boden lassen und wir müssen uns auf Gerechtigkeit konzentrieren. Und wenn Lösungen innerhalb des Systems unmöglich zu finden sind, dann müssen wir vielleicht das System selbst verändern. Wir sind nicht hergekommen, um die führenden Politiker der Welt anzubetteln, dass sie sich kümmern sollen. Ihr habt uns in der Vergangenheit ignoriert und ihr werdet uns wieder ignorieren. Euch gehen die Ausreden aus, und uns läuft die Zeit davon. Wir sind hergekommen, um euch zu sagen, dass der Wandel kommen wird, ob es euch gefällt oder nicht. Die wirkliche Macht gehört den Menschen". Seither gebrauchten verschiedene linksextremistische Gruppierungen in ihrem speziellen Sinne die Parole "system change not climate change". So verwendete etwa die linksjugend ['solid] bei einer Demonstration in Gießen (Landkreis Gießen) ein Banner mit dieser Parole. In abgewandelter Form nutzte die linksjugend ['solid] den Appell zudem in einem Aufruf zum "ersten globalen Klimastreik" am 15. März ("Umwelt retten, heißt Kapitalismus überwinden!"). Ähnlich argumentierte die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ), indem sie im Kontext des "ersten globalen Klimastreiks" von Schülern auf Facebook schrieb, dass eine nachhaltige Klimaschutzpolitik im "Kapitalismus" nicht möglich sei: "Denn solange wir im Kapitalismus leben, bleibt der Staat [...] nur Interessenvertreter der großen Banken und Konzerne". Mit Bezug auf die Maxime "system change" formulierte es die DKP als ihr Ziel, ein "Klassenbewusstsein zu schaffen", um zu "zeigen, gegen wen und wie die Kämpfe geführt werden müssen". In dieser Hinsicht sah die DKP "bereits Ansätze" bei Fridays for Future. REBELL, die Jugendorganisation der MLPD, verteilte einen Flyer, der die Aussage Greta Thunbergs unmittelbar in der Ideologie des Marxismus-Leninismus verortete: "Kritik am kapitalistischen System gehört zwingend zu einer kämpferischen Umweltbewegung. [...] MLPD und REBELL sind die konsequentesten Kapitalismuskritiker. Wir treten dafür ein, dass er revolutionär überwunden und der echte Sozialismus erkämpft wird". Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 181 LINKSEXTREMISMUS Andere Linksextremisten zeigten hingegen ein distanziertes Verhältnis zu den Schülerprotesten. So bewertet die trotzkistische Jugendorganisation REVOLUTION (REVO) die Klimaund Umweltschutzbewegung zwar als grundsätzlich erfolgreich, bedauert aber, dass sie "vor der Eigentumsfrage und der Notwendigkeit der gesellschaftlichen Veränderung der Produktion" zurückschrecke. Dies habe sich auch auf dem Sommerkongress von Fridays for Future vom 31. Juli bis 4. August in Dortmund (Nordrhein-Westfalen) gezeigt. Zwei REVO-Vertreter nahmen nach eigener Darstellung daran teil und schrieben später im Internet: "Die vorherrschende Ideologie in FFF [i. e. Fridays for Future], der Glaube an einen wandelbaren Kapitalismus und die Illusionen in die Erfolgschancen einer Bewegung[,] die Politiker_Innen um Verbesserungen im System bittet, wurde nicht infrage gestellt. [...] Jedoch konnten wir den Kongress nutzen[,] um uns als Antikapitalist_Innen zu vernetzen und Grundlagen für gemeinsame Kämpfe besprechen". Zu einem ähnlichen Schluss kam die IL, als sie im Internet auf ihrem Debattenblog verlauten ließ, dass sie zwar mit der Gruppierung XR zusammenarbeite, aber von ihr fordere, sich eindeutiger zum "Antikapitalismus" zu bekennen: "Die Rhetorik von XR, wonach wir 'alle in einem Boot' sitzen, ist aus unserer Sicht aber wenig hilfreich, um den Anspruch auf Klimagerechtigkeit mit Leben zu füllen. Gegner*innen und Verbündete, Herrschaftsstrukturen und Handlungsperspektiven müssen im Kampf gegen den Klimawandel deutlicher benannt werden. [...] Eine konsequente Rückverlagerung von Macht an die Bürger*innen bedeutet [...] nichts anderes als die Überwindung von Kapital, Staat und Patriarchat als den dominanten Herrschaftsformen bei der Regelung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse. Und auf diesen Weg müssen wir uns hier und heute begeben". Nach einem weiteren "globalen Klimastreik" am 29. November veröffentlichte die trotzkistische Gruppe ArbeiterInnenmacht (GAM) mit Blick auf die Weltklimakonferenz der Vereinten Nationen (UN) vom 2. bis 13. Dezember in Madrid (Spanien) eine ähnliche Stellungnahme. Darin zitierte die GAM aus einem Aufruf der führenden Köpfe von Fridays for Future an die Konferenzteilnehmer. So offenbare der darin formulierte Appell an die Regierungen der Industrieländer die größte Schwäche der Klimaund Umweltschutzbewegung: "Es bleibt beim Appell an die Herrschenden". Stattdessen müsse die gesamte Klimaschutzbewegung die "Systemfrage" stellen und eine Bewegung aufbauen, die der "herrschenden Klasse und ihren Regierungen das Handwerk legen kann". 182 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS Darüber hinaus nahmen Vertreter bzw. kleinere Gruppen nahezu aus dem kompletten linksextremistischen Spektrum an Klimaund Umweltschutzstreik-Veranstaltungen teil. Besonders auffällig war die versuchte linksextremistische Einflussnahme bei der "Global Climate Week" bzw. "week4climate" vom 20. bis zum 27. September. Im Gegensatz zu vorhergehenden Aktionstagen, die vor allem Fridays for Future organisiert hatte, riefen zur Eröffnung der Klimaaktionswoche zahlreiche Organisationen und Verbände gemeinsam auf. Darunter befanden sich Umweltschutz-, Wohlfahrts-, Kulturund Entwicklungsverbände sowie Kirchen, Vereine und Gewerkschaften. Bundesweit waren etwa 500 Kundgebungen geplant, davon mehr als 30 in Hessen. Neben dem nichtextremistischen Lager war eine Vielzahl linksextremistischer Akteure beteiligt. So wurde der Demonstrationszug in Frankfurt am Main, der am 20. September stattfand, in mehrere thematische Blöcke aufgeteilt. Zwecks Bildung des "antikapitalistischen Blocks" hieß es in einem im Internet veröffentlichten Aufruf, den unter anderem die AUF und die IL verbreiteten: "Das Problem heißt Kapitalismus. [...] Unsere Kritik muss dabei in der Lage sein, den Kapitalismus als das zu erfassen, was er ist: als System gesellschaftlicher Herrschaft, gestützt durch ökonomische Macht, nationalstaatliche Konkurrenzverhältnisse, systemerhaltende Ideologie und gesellschaftliche Verblendung. Unser Antikapitalismus darf darum nicht bloß Kritik an einzelnen Kapitalist*innen oder am Konsumverhalten Einzelner sein. Stattdessen wollen wir dieser Individualisierung des Problems eine kollektive Perspektive entgegensetzen, die den Systemcharakter des Kapitalismus begreift - und angreift". Neben dem "antikapitalistischen" bildete sich ein "internationalistischer Block", für den unter anderem die folgenden extremistischen Gruppierungen bzw. Organisationen mobilisierten: * Almanya Göcmen Isciler Federasyonu (AGIF, Föderation der Arbeiterimmigranten aus der Türkei in Deutschland e. V.), * Yeni Kadin (Neue Frau), * Yekitiya Xwendekaren Kurdistan (YXK, Verband der Studierenden aus Kurdistan), * Yurtsever Devrimci Genclik Hareketi (YDG, Patriotisch revolutionäre Jugendbewegung) und * die FAU. In Darmstadt rief das Bündnis Global Strike Darmstadt ebenfalls zu einer Kundgebung am 20. September auf. Neben nichtextremistischen Gruppierungen und Organisationen waren in diesem Bündnis Linksextremisten und Extremisten mit Auslandsbezug vertreten: * IL Darmstadt, * OAT Darmstadt, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 183 LINKSEXTREMISMUS * YXK, * Jinen Xwendekaren Kurdistan Darmstadt (JXK, Studierende Frauen aus Kurdistan) und * Navenda Civaka Demokratik ya Kurden li Almanyaye Darmstadt (NAV-DEM, Demokratisches Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Deutschland e. V.). In identischer Zusammensetzung trat das Darmstädter Bündnis anlässlich des Globalen Klimastreiktags am 29. November auf. In Kassel bildete sich an diesem Tag ein "antikapitalistischer Block" auf der Kundgebung von Fridays for Future, zu deren Veranstaltern ebenfalls Linksextremisten und Extremisten mit Auslandsbezug zählten. Auch bei anderen Veranstaltungen, wie zum Beispiel den Klimaschutzaktionstagen in Kassel und Kundgebungen von Fridays for Future, nahmen Linksextremisten - aber in deutlich geringerem Maß - teil. In wenigen Fällen traten Linksextremisten als Redner bei Veranstaltungen von Fridays for Future und XR auf. Fridays for Future selbst solidarisierte sich mit der linksextremistisch beeinflussten Klimaschutzbewegung Ende Gelände. Dies geschah sowohl anlässlich einer Aktion von Ende Gelände" vom 19. bis 24. Juni im rheinischen Braunkohlerevier als auch bei einer Blockade am 30. November in der Lausitz. So hieß es im Juni auf der Internetseite von Fridays for Future, "dass wir (wie Ende Gelände) ebenfalls zivilen Ungehorsam leisten": "Viele Errungenschaften unserer Gesellschaft [...] wurden nur durch bewussten, massenhaften Regelübertritt erreicht. Sowohl Fridays for Furture, als auch Ende Gelände und viele weitere Bündnisse und Akteur*innen sind Teil einer globalen Klimagerechtigkeitsbewegung. [...] Hiermit erklären auch wir uns solidarisch mit Ende Gelände". (Schreibweise wie im Original) Einige Gruppen von Fridays for Future wehrten sich in Teilen gegen eine Vereinnahmung durch Linksextremisten. Exemplarisch hierfür stand die Aufforderung des Versammlungsleiters der Demonstration "Schülerstreik für Klimagerechtigkeit" am 1. März in Frankfurt am Main an Aktivisten der MLPD, eine Flagge ihrer Jugendorganisation REBELL einzuholen und das Verteilen von Flyern einzustellen oder die Kundgebung zu verlassen. Zu vergleichbaren Vorkommnissen kam es auch im übrigen Bundesgebiet, sie mündeten - auch wegen der stärkeren Präsenz der MLPD - zum Teil in Auseinandersetzungen. Auch die autonome Szene in Hessen versuchte die Klimaund Umweltschutzthematik für ihre politischen Ziele zu instrumentalisieren. 184 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS So enthielt die Internetseite des Aktionsbündnisses Sand im Getriebe einen Artikel der IL-Zeitschrift Arranca! Für eine Interventionistische Linke. Unter der Überschrift "Gegen Kapitalismus und Klimakrise" hieß es: "Ein aktivistischer Angriff auf die Industrie ist [...] ein Angriff auf das zentrale Rückgrat des deutschen Exportkapitalismus sowie auf den Klassenkompromiss der heteronormativen, bürgerlichen Kleinfamilie, der im Familien-SUV seine materielle Manifestation erhält. Andererseits, was tut eine interventionistische, antikapitalistische Linke, wenn sie nicht in die Auseinandersetzung um die Zukunft des deutschen Kapitalismus interveniert? Aus all diesen Gründen muss ein Kampf gegen die ,heilige Kuh' der deutschen Wirtschaft immer auch als transformativer Prozess verstanden werden, der die großen Fragen stellt. Solche, die derzeit auch von FridaysForFuture oder ExtinctionRebellion aufgerufen werden [...]. Der Kampf um die Zukunft der Autoindustrie kann dagegen zum Kampf um die Zukunft der deutschen Gesellschaft werden". Entsprechend waren die von Sand im Getriebe getragenen Proteste gegen die Internationale Automobil Ausstellung (IAA) vom 12. bis zum 22. September in Frankfurt am Main stark durch die IL beeinflusst. Mehrere tausend Personen fuhren - zum großen Teil mit dem Fahrrad - aus dem Rhein-Main-Gebiet nach Frankfurt am Main, um vor dem Messegelände friedlich zu protestieren. Dabei blockierten Kleingruppen die Eingänge zum Messegelände. Im Vorfeld der IAA kam es im Großraum Frankfurt am Main zu mehreren gewaltsamen Straftaten. Besonders erwähnenswert ist die Sachbeschädigung an mehr als 40 Fahrzeugen - in der Perspektive der Täter "Luxuskarren" - auf dem Gelände eines Autohändlers in Kronberg im Taunus (Hochtaunuskreis), wobei ein Schaden in Millionenhöhe entstand. In dem - unter dem Pseudonym "Steine im Getriebe" - auf der von der linksextremistischen Szene genutzten Internetseite de.indymedia.org eingestellten Selbstbezichtigungsschreiben hieß es: "Unsere [im Unterschied zu den angekündigten Protesten gegen die IAA] geplante Aktion ist ein Regelübertritt - deshalb haben wir ihn auch nicht offen angekündigt. Wir stellen uns damit in die Tradition kämpferischer sozialer Bewegungen. [...] Wie diejenige[,] die heute im Hambacher Forst versucht[,] den Kohleausstieg durchzusetzen. [...] In sozialen Bewegungen braucht es [...] eben auch die Militanz. Nur so wird es möglich, die eigenen Inhalte und Forderungen gegen die Regierenden und die Mehrheitsgesellschaft aufzuzeigen, denkbar zu machen und durchzusetzen. Militanz ist notwendig und legitim". Eine Sprecherin von Sand im Getriebe distanzierte sich allerdings von den Sachbeschädigungen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 185 LINKSEXTREMISMUS Weitere Sachbeschädigungen im Kontext der Proteste gegen die IAA in Frankfurt am Main und Offenbach am Main richteten sich gegen SUVs, nahmen aber nicht die Dimension wie in Kronberg an. Im Internet gab es hierzu ein Selbstbezichtigungsschreiben, das zwar nicht auf die Proteste gegen die IAA einging, sich aber mit den entsprechenden Themen beschäftigte. Nach dem Ende der Proteste im September erklärte Tina Velo (i. e. Janna Aljets), die der IL zuzurechnen ist, als Sprecherin von Sand im Getriebe: "Wir haben heute klar gezeigt, dass wir die Klimakrise nur noch mit einer radikalen Verkehrswende aufhalten können". In der Frühjahrsausgabe der Zeitschrift Arranca! Für eine Interventionistische Linke hatte Aljets zuvor mit einem Co-Autor einen Artikel unter der Überschrift "Von der Grube auf die Straße. Gegen Kapitalismus und Klimakrise" verfasst. In einer Pressemitteilung vom 20. September ("Die vorgeschlagenen Reförmchen gehen an den Ursachen der Klimakrise vorbei"), der unter anderem von Ende Gelände, der IL und Sand im Getriebe gezeichnet war, hieß es: "Angesichts des Versagens der Parteienpolitik rufen Gruppen der Klimagerechtigkeitsbewegung dazu auf, sich in den kommenden Monaten an der Erarbeitung eines ,Klimaplan[s] von unten' zu beteiligen. In einem breit angelegten basisdemokratischen Prozess sollen Maßnahmen entwickelt werden, die soziale Gerechtigkeit schaffen und die Erderhitzung auf 1,5 Grad begrenzen". "kurdistan-Solidarität": Solidaritätsaktionen/-demonstrationen - Phänomenübergreifende Bündnisse | Vor dem Hintergrund mehrerer militärischer Operationen der türkischen Armee in von Kurden besiedelten Gebieten in Syrien gab es im Berichtsjahr bundesweit eine Reihe von Solidaritätsaktionen und -demonstrationen deutscher Linksextremisten. Diese galten insbesondere der Region "Rojava" in Nordostsyrien, die vom syrischen Ableger der PKK kontrolliert und von einer internationalen Solidaritätskampagne unter dem Motto "Riseup4Rojava - smash turkish fascism!" unterstützt wurde. In dem "weltweiten Aufruf" der Kampagne hieß es unter anderem: "Wir verteidigen die Revolution und ihre Errungenschaften. Wir identifizieren uns mit der Revolution in Kurdistan, als einem Hauptkampf gegen den Faschismus unserer Zeit und für die Befreiung der Frau und der Gesellschaft. Wir sehen diesen revolutionären Prozess in einer Linie mit den Kämpfen um Befreiung in der Geschichte der Menschheit wie der Oktoberrevolution, dem spanischen Bürgerkrieg und der kubanischen Revolution". 186 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS Dabei wurden zahlreiche Solidaritätsaktionen mit dem Hashtag #riseup4rojava verknüpft. Während des gesamten Berichtsjahrs kam es zu zahlreichen Solidaritätsdemonstrationen, die teilweise vierstellige Teilnehmerzahlen erreichten. Die Mehrzahl der Veranstaltungen fand im Oktober und November als Reaktion auf die am 9. Oktober begonnene türkische Militäroffensive in der Region "Rojava" statt. Schwerpunkte waren die Städte Kassel, Gießen, Frankfurt am Main und Darmstadt. An den Demonstrationen beteiligten sich Gruppierungen aus den folgenden Phänomenbereichen: Extremismus mit autonome und legalistische Auslandsbezug anarchistische Gruppen Linksextremisten * YXK Kassel, Frankfurt am Main * T.A.S.K. * linksjugend ['solid] und Darmstadt * A&O Kassel * DIE LINKE.Sozialistisch- * JXK Frankfurt am Main und * Antifaschistische Revolutionäre Demokratischer Darmstadt Aktion Gießen (A.R.A.G.) Studierendenverband * NAV-DEM Gießen und * kritik&praxis - radikale Linke * DKP Gießen Darmstadt [f]rankfurt * REBELL Gießen * IL Frankfurt und Darmstadt * AUF * OAT Darmstadt Teilweise traten die Gruppen gemeinsam als Veranstalter der Demonstrationen oder weiterer Veranstaltungen auf oder gründeten hierfür phänomenübergreifende Bündnisse, an denen sich mitunter auch nichtextremistische Organisationen beteiligten. Zu nennen sind etwa die extremistisch beeinflussten Bündnisse Solidaritätskomitee Rojava Kassel, Gießener Bündnis für Frieden in Afrin, Defend Rojava Rhein-Main und das Rojava Solidaritätskomitee Darmstadt. In Darmstadt und weiteren Städten kam es zudem zu einer thematischen Verknüpfung der "Kurdistan-Solidarität" mit den Protesten der Fridaysfor-Future-Bewegung unter dem Motto "von Darmstadt bis nach Rojava, Klimaschutz heißt Antifa!" Vor diesem Hintergrund stachen in Hessen vier Ereignisse heraus: * Frankfurt am Main, 10. Oktober: Im Rahmen einer nicht angemeldeten Demonstration, die am türkischen Generalkonsulat startete, zündeten mutmaßlich Autonome pyrotechnische Gegenstände und warfen Farbbeutel unter anderem auf Einsatzkräfte und die Geschäftsstelle der SPD. Darüber hinaus wurden Polizisten mit Fahnenstangen und durch Tritte und Schläge angegriffen. Zu ähnlichen Vorgehensweisen (Graffitischmierereien, Farbbeutelwürfe und kleinere Blockadeaktionen) kam es auch bei weiteren Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 187 LINKSEXTREMISMUS Demonstrationen in Hessen. Außerdem gab es vereinzelt wechselseitige verbale und körperliche Auseinandersetzungen beim Aufeinandertreffen von kurdischen Demonstrationsteilnehmern mit nationalistischen Türken. * kassel, 23. oktober: Mehrere Personen, die sich als "autonome Kleingruppe" bezeichneten, blockierten die Werkszufahrt zum Rüstungsunternehmen Krauss-Maffei Wegmann. Vier von ihnen ketteten sich mit einem Bügelschloss am Werkstor fest, vier weitere bestiegen das Dach eines Werksgebäudes und enthüllten ein Transparent mit der Aufschrift "Riseup4Rojava! Kein Krieg in Nordsyrien!" Die Polizei beendete die Blockade und nahm elf Personen fest. Auf der von Linksextremisten genutzten Internetseite de.indymedia.org thematisierten die Aktivisten in einer "Pressemitteilung" und in einem weiteren Schreiben die Waffenlieferungen an die Türkei. Ziel sei es gewesen, den ",reibungsfreien Ablauf dieser Kriegsschmiede so lange wie möglich zu unterbrechen'". * Frankfurter Flughafen, 25. oktober und 2. november: An beiden Tagen blockierten unter maßgeblicher Beteiligung der IL Frankfurt und der IL Darmstadt mehrere Personen den Check-in-Schalter der Turkish Airlines. Die Blockaden folgten damit einem Aufruf der Kampagne von "Riseup4Rojava", die für die Zeit vom 21. bis 27. Oktober eine Aktionswoche unter dem Motto "No flights to Turkey" ausgerufen hatte. * Geisenheim (Rheingau-taunus-kreis), 15. november: An der Rückseite eines Gebäudes auf dem Gelände der Firma Ferrostaal Industrieanlagen GmbH zündeten unbekannte Täter Autoreifen an, sodass das Gebäude beschädigt wurde und ein Sachschaden in Höhe von etwa 10.000 Euro entstand. Auf de.indymedia.org bekannte sich die "Autonome Gruppe - Kommando Helin Qerecox/Anna Campell" (Kampfbzw. tatsächlicher Name einer in Syrien ums Leben gekommenen "Märtyrerin" der PKK) zu dem Brandanschlag. Darin hieß es, die Aktion sei in "Solidarität mit dem kurdischen Befreiungskampf und gegen die türkische Invasion in Rojava" durchgeführt worden. Das Unternehmen sei in den Fokus geraten, da es "Waffen und Munition für den Kriegseinsatz" herstelle und diese an "jeden zahlenden Despoten" verkaufe. Auf der deutschsprachigen Internetseite der PKK-Nachrichtenplattform Ajansa Nuceyan a Firate (ANF, Firatnews Agency) wurde über den Brandanschlag berichtet und das Selbstbezichtigungsschreiben veröffentlicht. Außerdem thematisierte die dem autonomen Spektrum zuzurechnende Gruppe Leftwing Rheingau die Tat auf ihrer Facebook-Seite. 188 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS "Selbstverwaltete Freiräume" - Schließung des Havanna 8 | Am 16./17. März hatte in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) die häufig von Linksextremisten frequentierte Kneipe Havanna 8 zum letzten Mal geöffnet, da das Mietverhältnis beendet worden war. Seit Monaten hatte das Kneipenkollektiv die Schließung öffentlich thematisiert und den Vermieter des Gebäudes wegen einer angeblich geplanten Luxussanierung und wegen der Erhöhung der Miete kritisiert. Daher kam es seitens der linksextremistischen Szene hessenund teilweise bundesweit zu Solidaritätsbekundungen mit der Kneipe Havanna 8. Die lokale Szene führte im Rahmen der Kampagne "Havanna acht bleibt" eine Vielzahl von Solidaritätsaktionen durch, obwohl die Kneipe bereits kurz nach ihrer offiziellen Schließung in einem selbstverwalteten Zentrum in Marburg "Asyl" gefunden hatte und in dessen Räumlichkeiten ihre Veranstaltungen ausrichtete. Im Rahmen der Kampagne wurden im Marburger Stadtgebiet zahlreiche Sachbeschädigungen begangen, indem unbekannte Täter an verschiedenen Objekten Aufschriften wie "Havanna 8 bleibt" oder "H8 4 ever" anbrachten. Die Marburger autonome Gruppe d.i.s.s.i.d.e.n.t. rief zu "Massencornern" auf, einer Aktionsform, die Linksextremisten insbesondere beim G20-Gipfel 2017 in Hamburg praktiziert hatten. "Massencornern" nennt sich eine Aktionsform, bei der öffentliche Räume wie Straßenecken durch größere Menschenansammlungen, auch unter Alkoholkonsum, eingenommen werden. * 1. april: Etliche Personen folgten diesem Aufruf und hielten sich in unmittelbarer Nähe des Havanna 8 auf. * 8. april: Bei einer Scheinbesetzung der Kneipe vernagelten unbekannte Täter die Eingangstür mit Holzlatten und besprühten den Türrahmen mit Bauschaum. Am Gebäude brachten sie entsprechende Transparente und Graffitis an. Auf einer häufig von Linksextremisten frequentierten Internetseite wurde eine "Pressemitteilung" zu der vermeintlichen Besetzung veröffentlicht. Eine Begehung durch die Polizei ergab, dass das Gebäude nicht besetzt worden war. Trotzdem veröffentlichten zahlreiche linksextremistische Gruppen aus Hessen wie auch außerhalb Hessens umgehend Solidaritätsbekundungen auf ihren Facebookund Internetseiten. * 17. Juni: Zahlreiche Personen folgten einem weiteren Aufruf der Gruppe d.i.s.s.i.d.e.n.t. zum "Massencornern" vor dem ehemaligen Havanna 8, wobei an der Fassade zwei Transparente mit den Aufschriften "Besetzung Utopie.noblogs.org" und "Havanna 8 bleibt Freiräume verteidigen" angebracht wurden. Auf ihrer Internetseite erklärte eine Gruppe, die sich als "Vision" bezeichnete, sie habe ab sofort in den alten Räumlichkeiten einen Infound Vernetzungsladen für alle Interessierten eingerichtet und die ehemalige Kneipe Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 189 LINKSEXTREMISMUS "besetzt": "Wir wollen einen Ort schaffen[,] der Treffen, Austausch und Organisation gegen die sich zuspitzenden menschenverachtenden Verhältnisse ermöglicht". Tatsächlich hatten sich die Teilnehmer des "Massencornerns" Zutritt zum ehemaligen Havanna 8 verschafft und sich darin aufgehalten. Die Polizei beendete die Besetzung. "antigentrifizierung" | Der Kampf gewaltbereiter Linksextremisten gegen angeblich "antisoziale Stadtstrukturen" und für selbstbestimmte "Freiräume" verschärfte sich im Berichtszeitraum bundesund hessenweit. Als "Schuldige" der Verdrängung von Bevölkerungsschichten sowie als Urheber von Mieterhöhungen befanden sich insbesondere große Immobilienunternehmen im Visier der Linksextremisten: * Frankfurt am Main, 11./12. Juli: Unbekannte Täter beschädigten ein Fahrzeug der Immobilienfirma Vonovia, indem sie in der Nacht Reifen zerstachen, Scheiben einschlugen und den Schriftzug "Vonovia enteignen" auf den Wagen schmierten. Auf einer von Linksextremisten häufig frequentierten Internetseite hieß es in einem Selbstbezichtigungsschreiben: "Das Handeln gegen die Akteur*innen der Verdrängung muss selbstorganisiert sein. Vonovia muss und kann an vielen Stellen spüren, dass sie nicht erwünscht sind. [...] Direkter Angriff gegen Vonovia und andere Akteur*innen, die die Gentrifizierung vorantreiben". * Frankfurt am Main, 5. oktober: Angehörige der Initiative Social Hub (ISH) besetzten das ehemalige Tibethaus bzw. jetzige Backhaus während des Bockenheimer Stadtteilfests der Initiative Zukunft Bockenheim e. V., um das Gebäude vor Abriss und "Luxussanierung" zu bewahren und ein soziales Zentrum einzurichten. An der Fassade wurde ein Banner mit der Aufschrift "houses for people, not for profit" und das anarchistisch geprägte Hausbesetzersymbol angebracht. Auf ihrer Internetseite fordert die Gruppierung: "ISH soll politisch unabhängig von Staat, Land und Stadt sein. Wir wollen unsere Ideen von und Wünsche an Gesellschaft selbst gemeinsam verwirklichen, ohne Chefs und Anweisungen ,von oben'". Die Gruppierung Initiative Anarchistische Bewegung Frankfurt (IABF) bekannte sich zur Beteiligung an der Hausbesetzung, die von der linksextremistischen Szene begrüßt wurde. Unter anderem solidarisierten sich autonome Gruppierungen wie die AUF, das AK.069 sowie das OAT Darmstadt mit den Hausbesetzern der ISH. Die Polizei räumte das Gebäude am 8. Oktober. Noch am gleichen Abend fand in unmittelbarer Nähe eine friedliche Solidaritätskundgebung mit 150 bis 250 Personen, darunter auch Linksextremisten, statt. 190 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS entSteHunG/GeScHIcHte die autonome Bewegung wurzelt in den europaweiten Studentenprotesten der späten 1960er und der 1970er Jahre. In dieser zeit entstand die Selbstbezeichnung autonome. AUF EINEN BLICK * Gewalttätige auseinandersetzungen mit der Polizei * "anti"-Haltungen Gewalttätige auseinandersetzungen mit der Polizei | Für die große Öffentlichkeit zum ersten Mal erkennbar agierten Autonome gewalttätig, als sie 1980 in Bremen gegen die Vereidigung von Bundeswehrrekruten demonstrierten. Dabei kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Als breite eigenständige Bewegung waren Autonome seit Anfang der 1980er Jahre auszumachen. Sie waren zunächst vor allem in der Friedensund in der Anti-Atomkraftbewegung sowie bei Hausbesetzungen aktiv. Gewalttätig agierten Autonome zum Beispiel gegen die in Wackersdorf (Bayern) geplante Wiederaufbereitungsanlage für Kernbrennstoffe; gleichfalls lieferten sich Autonome an der Startbahn West am Frankfurter Flughafen gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei. Zuletzt waren Autonome hauptverantwortlich für die massiven Ausschreitungen bei den Protesten gegen die Eröffnung der neuen Zentrale der Europäischen Zentralbank (EZB) 2015 in Frankfurt am Main und bei den Protesten gegen den G20-Gipfel 2017 in Hamburg. "anti"-Haltungen | Mit der Zeit erschlossen sich die Autonomen weitere Aktionsfelder, die in der Regel durch eine "Anti"-Haltung gekennzeichnet sind: "Antifaschismus", "Antirepression", "Antirassismus", "Antigentrifizierung" und "Antimilitarismus". "Antikapitalistische" Einstellungen von Autonomen, die im "Kapitalismus" die Wurzel allen Übels sehen, bilden die Grundlage für diese Aktionsfelder. IdeoLoGIe/zIeLe das ziel der autonomen ist die abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und des "kapitalistischen Systems" zugunsten einer "herrschaftsfreien" Gesellschaft. In ihr sollen sich unabhängige Individuen freiwillig vereinen und gemeinsam und gleichberechtigt handeln. nach der ansicht von autonomen werden die Menschen durch "kapitalismus", "Rassismus" und "Patriarchat" unterdrückt und ausgebeutet. als ursache hierfür betrachten die autonomen die bürgerliche demokratische Gesellschaft und das freie wirtschaftssystem im "kapitalismus". "Imperialismus" und vor Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 191 LINKSEXTREMISMUS allem "Faschismus" sind in den augen der autonomen die maßgeblichen werkzeuge dieser dreifachen unterdrückung. AUF EINEN BLICK * "anti"-Haltungen und Feindbilder * "antikapitalismus" * "antifaschismus" * "antirassismus" * "antigentrifizierung" - "selbstverwaltete Freiräume" * klimaund umweltschutzaktionen * Frage der Gewalt * Hauptströmungen der (post-)autonomen Szene in Hessen * antiimperialisten * antideutsche * antinationale "anti"-Haltungen und Feindbilder | Ihren "Anti"-Haltungen und Feindbildern entsprechend definieren Autonome ihre politischen Aktivitäten, zum Beispiel: "Antifaschismus" gegen "Rechte" bzw. "Nazis" - oder "Antirepression" insbesondere gegen Polizisten als öffentlich wahrnehmbare Vertreter des "staatlichen Repressionsapparats". Sämtliche Feindbilder sind dabei auf eine "antikapitalistische" Grundhaltung zurückzuführen. Um ihre Bündnisund Mobilisierungsfähigkeit zu erhöhen, versuchen vor allem Postautonome mehrere Themenfelder bei ihren Aktivitäten zu verknüpfen. "antikapitalismus" | Dieses Themenfeld bildet den Kern der Vorstellungen der autonomen Szene bzw. des gesamten linksextremistischen Spektrums. Dem Marxismus zufolge ist die "kapitalistische" Wirtschaftsform das alles dominierende Element des menschlichen Daseins und bestimmt alle Lebensbereiche. Linksextremisten setzen auf dieser Basis die freiheitliche demokratische Grundordnung mit dem "Kapitalismus" gleich und bekämpfen diese, indem sie unter anderem soziale Themen für ihre Zwecke instrumentalisieren. "antifaschismus" | Vor allem das Themenfeld "Antifaschismus" zeichnet sich für Linksextremisten dadurch aus, dass es eine hohe Anschlussfähigkeit an nichtextremistische Organisationen und Gruppierungen ermöglicht. Im Unterschied zur demokratischen Bekämpfung des Rechtsextremismus ist das linksextremistische "Antifaschismus"-Verständnis von Demokratiefeindlichkeit geprägt. In kommunistischer Tradition unterstellen Linksextremisten der Demokratie der Bundesrepublik Deutschland, selbst "faschistisch" oder "faschistoid" zu sein. Demnach bezeichnen Linksextremisten auch Personen aus dem demokratischen Spektrum als "Faschisten". Sobald die Bewertung "Faschist" vergeben ist, ist der Betroffene, 192 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS unabhängig von seinen tatsächlichen Überzeugungen, nach linksextremistischem Urteil legitime Zielscheibe von Diffamierungen und Gewalttaten. Unter "Antifaschismus" verstehen Linksextremisten bzw. Autonome also nicht nur die konsequente Ablehnung rechtsextremistischer Bestrebungen, vielmehr setzen sie den offensiven "Kampf gegen Rechts" mit dem "Kampf gegen das Ganze", das heißt gegen das "bürgerlich-kapitalistische System", gleich: Erst mit der Beseitigung des "Kapitalismus" sei die Gefahr des "Faschismus" als Form bürgerlicher Herrschaft gebannt. "antirassismus" | Vor dem Hintergrund der europäischen Flüchtlingspolitik und der damit einhergehenden medialen Berichterstattung sowie der hohen öffentlichen Aufmerksamkeit versucht das linksextremistische Spektrum, mit "Aktionen" in die Debatte einzugreifen. Entsprechend der autonomen bündnispolitischen Zielrichtung soll das szeneeigene Verständnis von "Antirassismus" möglichst langfristig und breit in der Mehrheitsgesellschaft etabliert werden. Dieses Verständnis konzentriert sich nicht nur auf die Thematisierung der Flüchtlingsproblematik, sondern Autonome wollen vor allem nachweisen, dass Staat und Gesellschaft selbst "rassistisch" sind und daher im linksextremistischen Sinne bekämpft und überwunden werden müssen. Rechtmäßiges Handeln von Behörden gilt für Autonome in dieser Diktion als "rassistisch": "Nazis morden, der Staat schiebt ab - das ist das gleiche Rassistenpack". "antigentrifizierung" - "selbstverwaltete Freiräume" | Linksextremisten schließen sich "Antigentrifizierungs"-Initiativen aus mehreren Gründen an: Indem sie sich für bezahlbaren Wohnraum einsetzen, können sie sich als sozialpolitische Akteure profilieren und gesellschaftliche Akzeptanz erreichen. Weiterhin ist es Autonomen auf diese Weise möglich, anschaulich ihre "antikapitalistische" Grundhaltung zu vermitteln. Schließlich sind sie oft selbst von Gentrifizierung betroffen, da unter anderem die von ihnen genutzten "selbstverwalteten Freiräume" - also autonome Szeneobjekte - häufig selbst seitens des Eigentümers für entsprechende "Luxussanierungen" vorgesehen sind. Insofern richten sich linksextremistische Aktionen in diesem Themenfeld gerade auch gegen Immobilienfirmen und Städtebaugesellschaften, die Eigentümer der Objekte sind. klimaund umweltschutzaktionen | Vor dem Hintergrund des fortschreitenden Klimawandels und der damit einhergehenden Auswirkungen auf Mensch und Umwelt sowie im Rahmen des Strebens nach einem sozialverträglichen ökologischen Miteinander gewinnt dieses Themenfeld zunehmend an Bedeutung für das linksextremisHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 193 LINKSEXTREMISMUS tische Spektrum. Hierin lassen sich mehrheitsfähige gesellschaftliche Anliegen - wie etwa der Kampf gegen den Klimawandel (zum Beispiel in Form der Forderung nach einem Ausstieg aus der Atomenergie oder aus dem Kohleabbau) - mit linksextremistischen Forderungen nach einem "selbstbestimmten Leben" durch das Schaffen "selbstverwalteter Freiräume" verbinden. Vor allem bietet sich für Linksextremisten die Möglichkeit, ihre "antikapitalistischen" Forderungen gegen angebliche "klimaschädliche" Unternehmen in Stellung zu bringen und in den gesellschaftlichen Diskurs mittels der Parole "system change not climate change" einzubringen. Mit ihren Versuchen, die Klimaund Umweltschutzbewegung zu instrumentalisieren, wollen Linksextremisten ein Scharnier zwischen ihren Bestrebungen und nichtextremistischen Forderungen herstellen. Frage der Gewalt | Seit jeher versuchen Autonome ihre Ziele auch mit Gewalt zu erreichen. In der Anwendung von Gewalt sehen Autonome nicht nur ein "Mittel zum Zweck", sondern ebenso einen Akt der "individuellen Selbstbefreiung". Die regelmäßig in der Szene geführte "Militanzdebatte" beschäftigt sich daher nicht mit der Legitimität von Gewaltanwendung, sondern mit der kontrovers diskutierten Frage, ob sich Gewalt "nur" gegen Sachen oder auch gegen Menschen richten darf. Dabei nehmen es Autonome billigend in Kauf, dass Menschen im Rahmen ihrer "Aktionen" verletzt oder sogar getötet werden. In dieser Hinsicht war in jüngster Zeit in Hochburgen der gewaltbereiten linksextremistischen Szene (Leipzig, Hamburg und Berlin) vor allem im Themenfeld "Anti-Gentrifizierung" eine Radikalisierung eines kleinen Teils der Szene festzustellen, in deren Folge gezielte Angriffe auf einzelne Personen aus Politik, Justiz und Wirtschaft zunahmen. Beispielhaft genannt seien die Faustschläge in das Gesicht einer Mitarbeiterin einer Immobilienfirma, die am 3. November an ihrer Privatanschrift in Leipzig (Sachsen) "aufgesucht" wurde, sowie der Angriff mit Steinen und farbgefüllten Flaschen auf das an einer Ampel stehende Fahrzeug des Hamburger Senators für Inneres und Sport am 13. Dezember in Hamburg. Hauptströmungen der (post-)autonomen Szene in Hessen | Es sind drei Hauptströmungen - Antiimperialisten, Antideutsche und Antinationale - zu unterscheiden. Sie stehen sich inhaltlich zum Teil diametral gegenüber. Nur über "antikapitalistische" und "antifaschistische" Grundhaltungen erzielen die drei Strömungen häufig einen Minimalkonsens. antiimperialisten | Antiimperialisten machen die vorgeblich durch den "Kapitalismus" bedingte "imperialistische" Politik westlicher Staa194 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS ten, vorrangig der USA und Israels, für weltpolitische Konflikte verantwortlich. Diese Linksextremisten stehen daher fest an der Seite von "antiimperialistischen Befreiungsbewegungen" etwa in Südamerika oder in der arabischen Welt. Im Unterschied zu den Antideutschen solidarisieren sich Antiimperialisten besonders mit dem von der Palestine Liberation Organization (PLO, Palästinensische Befreiungsorganisation) im Jahr 1988 ausgerufenen Staat Palästina und agitieren gegen Israel. antideutsche | Antideutsche zeigen sich dagegen wegen der deutschen Verantwortung am Holocaust (siehe hierzu oben das Kapitel "Vor 75 Jahren befreit: Doch es war nicht nur Auschwitz...") uneingeschränkt solidarisch mit Israel, aber auch mit den USA als dessen militärischer Schutzmacht. Arabische Regimes und islamistische Organisationen bezeichnen die Antideutschen als "rechtsradikal" oder "islamfaschistisch". Militärische Aktionen gegen eine mögliche Bedrohung Israels sehen Antideutsche grundsätzlich als positiv an. Damit widersprechen Antideutsche dem "antimilitaristischen" und gegen den Krieg gerichteten Selbstverständnis anderer autonomer Strömungen. Einige Autonome werfen Antideutschen daher "Kriegstreiberei" vor. Ferner sprechen Antideutsche der deutschen Nation mit Verweis auf den Holocaust die Existenzberechtigung ab. Den Antiimperialisten unterstellen sie - ebenso wie dem deutschen Volk im Allgemeinen - antizionistische und antisemitische Einstellungen. antinationale | Mit den Antinationalen entwickelte sich spätestens seit 2006 bundesweit eine dritte ideologische Ausrichtung, die phasenweise in der autonomen Szene in Hessen prägend war und weiterhin präsent ist. Die Positionen der Antinationalen liegen zwischen Antiimperialisten und Antideutschen, sind jedoch den letzteren näher. Aus Sicht der Antinationalen ist jeder Staat im "Kapitalismus" zwangsläufig "imperialistisch". Kriege seien nur "Ausdruck der notwendigen Konflikte" im "kapitalistischen System", da die jeweiligen staatlichen Interessen gegenüber der globalen Konkurrenz durchgesetzt werden müssten. Die Antinationalen lehnen jedoch die einseitig positive Bezugnahme der Antiimperialisten auf revolutionäre "Befreiungsbewegungen" in der Dritten Welt ab, da diese letztlich auch nur nationalistische Ziele verfolgten und häufig reaktionäre Ideologien verträten, die es aus "antifaschistischer" Perspektive zu bekämpfen gelte. Dies trifft aus Sicht der Antinationalen insbesondere auf islamistische Gruppen zu. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 195 LINKSEXTREMISMUS Den Antideutschen wiederum werfen Antinationale eine zu starke Fixierung auf den "historischen Sonderweg" Deutschlands und den daraus nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Staat Israel sowie eine Gleichsetzung von Islam und Islamismus vor. Zwar räumen Antinationale "Israel als Staat der Holocaustüberlebenden und als Schutzraum für die weltweit vom Antisemitismus bedrohten Jüdinnen und Juden" eine Sonderstellung ein, andererseits sehen sie in Israel - bei aller Solidarität mit dessen Volk - einen "kapitalistischen" Staat, der letztlich ebenso wie das gesamte Staatensystem abzuschaffen sei. StRuktuRen wie in der Vergangenheit blieb Frankfurt am Main sowohl personell als auch strukturell der autonome Szeneschwerpunkt in Hessen. weitere autonome Szenen gab es in den universitätsstädten kassel, Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), Gießen (Landkreis Gießen) und darmstadt. AUF EINEN BLICK * Szeneschwerpunkt Frankfurt am Main * Regionale Szenen Szeneschwerpunkt Frankfurt am Main | Etwa die Hälfte aller Autonomen in Hessen war in Frankfurt am Main oder in den unmittelbar angrenzenden Kommunen (zum Beispiel Offenbach am Main) ansässig. Bundesweit betrachtet, gehörte Frankfurt am Main zu den Großstadtregionen mit einer kontinuierlichen Präsenz autonomer Zusammenhänge. Von anderen Szenen in Hessen unterschied sich der "harte Kern" der Szene in Frankfurt am Main durch seine bundesweite Vernetzung, das hohe Personenpotenzial auf engem Raum und die hohe Gewaltbereitschaft. Besonders relevante Gruppen in Frankfurt am Main waren die AUF, das AK.069, die IL Frankfurt, kritik&praxis - radikale Linke [f]rankfurt sowie stellenweise siempre*antifa Frankfurt/M. Mit dem autonomen Szeneobjekt und ehemaligen Polizeigefängnis Klapperfeld verfügte die Szene in Frankfurt am Main über den bedeutendsten autonomen Anlaufpunkt in Hessen. Einige an der Außenfassade des Gebäudes angebrachte Symbole und Banner vermittelten im Gesamtbild überwiegend eine Tendenz zu linksextremistischem Gedankengut. Dabei sind die entsprechenden Symbole als Ausdruck der inneren Haltung und des aktiv-politischen Vorgehens der Nutzer und Betreiber des Klapperfelds zu werten. Maßgeblich für die Träger des Klapperfelds sind daher nicht "die da draußen", sondern "wir, die Gegenkultur, hier drin". Ein Zweck des gesamten Gebäudes bestand in dem Er196 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS richten eines Symbols der Abgrenzung und der Gegenkultur in einem zentralen Frankfurter Stadtteil. Darüber hinaus fungierten in Frankfurt am Main das Cafe ExZess, das Cafe KoZ und das Centro als wichtige Treffpunkte. Regionale Szenen | Erwähnenswert sind die Gruppierungen T.A.S.K., Antifaschistisches Kollektiv raccoons (ak raccoons) und A&O aus Kassel, die Gruppe d.i.s.s.i.d.e.n.t. Marburg (Landkreis MarburgBiedenkopf), die A.R.A.G. in Gießen (Landkreis Gießen) sowie in Darmstadt das OAT Darmstadt und die IL Darmstadt. Insgesamt gehörten der IL vier autonome Gruppierungen aus Hessen an, was ein Beleg für die bundesweite Vernetzung von (Post-)Autonomen in Hessen ist. BeweRtunG/auSBLIck Ähnlich wie im Berichtsjahr 2018 konzentrierte sich die autonome Szene in Hessen mangels eines herausragenden überregionalen Großereignisses vorwiegend auf regionale Proteste in verschiedenen Themenfeldern. Wie 2018 prognostiziert, engagierte sich die autonome Szene analog zum gesamten linksextremistischen Spektrum verstärkt im Themenfeld "Klimaund Umweltschutzaktivitäten". Dabei schreckte die Szene nicht vor massiven Beschädigungen und Brandstiftungen an angeblich besonders klimaschädlichen Fahrzeugen zurück. Einige autonome Gruppen beteiligten sich zusammen mit anderen linksextremistischen Organisationen an Aktivitäten der Fridays-for-Future-Bewegung und versuchten, diese in ihrem Sinne zu beeinflussen. In einigen Städten gelang ihnen das, da die örtlichen Fridays-for-Future-Gruppen Bündnisse mit Linksextremisten eingingen oder Vertreter zumindest als Redner bei ihren Veranstaltungen zuließen. Zudem solidarisierte sich die Fridays-for-Future-Bewegung bundesweit mit dem nach der Bewertung des LfV Berlin unter linksextremistischem Einfluss stehenden Ende-Gelände-Bündnis. Sollte diese Entwicklung im Jahr 2020 fortschreiten, droht der linksextremistische Einfluss zu einem dominierenden Faktor innerhalb der gesamten Klimaund Umweltschutzbewegung zu werden. Weiterhin richtete sich das Augenmerk der autonomen Aktivitäten in Hessen auf den von der gesamten linksextremistischen Szene behaupteten "Rechtsruck der Gesellschaft". Durch den Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke und den rassistisch motivierten Mordversuch in Wächtersbach (Main-Kinzig-Kreis) sah sich die Szene in ihrer Wahrnehmung bestätigt. Gleichzeitig attestierte die Szene dem Staat weiterhin Tatenlosigkeit bei der Bekämpfung des "Faschismus" bzw. unterstellte ihm, dass in dessen (Sicherheits-)Behörden "rechte" Strukturen existieren. Mit dieser Sichtweise machten Linksextremisten erneut deutlich, dass sie den Staat nicht als Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 197 LINKSEXTREMISMUS Lösung, sondern als Teil des "faschistischen" Problems betrachten und diesen daher in ihren "antifaschistischen Kampf" miteinbeziehen. Insbesondere sah sich die autonome Szene zur Selbstjustiz legitimiert, was ihr erlaubte, mitunter auch gewalttätig gegen politische Gegner und gegen den Staat vorzugehen. Die als notwendig erachtete autonome Selbstjustiz schloss dabei explizit den Kampf gegen staatliche "Repression", gegen die Gentrifizierung linksalternativer Stadtviertel sowie den Kampf für den Erhalt "selbstverwalteter Freiräume" ein. Vor diesem Hintergrund kam es gerade in den bundesweiten Hochburgen der gewaltbereiten linksextremistischen Szene (Leipzig, Hamburg und Berlin) Ende 2019 verstärkt zu gezielten Angriffen auf einzelne Vertreter aus Politik, Justiz und Wirtschaft. Die Häufung und Schwere dieser Attacken lässt befürchten, dass sich zumindest ein - zurzeit - kleiner Teil der autonomen Szene weiter radikalisieren könnte und künftig bewusst schwere körperliche oder gar tödliche Verletzungen ihrer Opfer in Kauf nimmt. Im Umkehrschluss könnte eine solche Radikalisierung zu einer Spaltung der linksextremistischen Szene führen, da der überwiegende Teil der Szene schwerwiegende und mit Tötungsabsicht begangene Gewalttaten insbesondere aus Gründen der politischen Nichtvermittelbarkeit ablehnt. In Hessen sind solche Radikalisierungstendenzen aktuell nicht zu erkennen, allerdings sind sie bei einem auslösenden Moment auch nicht auszuschließen. SonStIGe BeoBacHtunGSoBJekte neben autonomen Gruppierungen gab es in Hessen linksextremistische Parteien sowie organisationen mit parteiähnlichem charakter, die einen bedeutenden teil des linksextremistischen Spektrums bildeten. die wichtigsten von ihnen sind unten aufgeführt. AUF EINEN BLICK * deutsche kommunistische Partei (dkP) Gründung in kommunistischer Tradition Strukturen - Mitgliederzahlen Ergebnisse bei der Europawahl Kritik im Rahmen der Vorbereitung des 23. Parteitags Bewertung/Ausblick * Sozialistische deutsche arbeiterjugend (SdaJ) Jugendorganisation der DKP "Es ist Zeit für Widerstand" Bewertung/Ausblick 198 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS * Marxistisch-Leninistische Partei deutschlands (MLPd) Ziele Mitgliederzahl - Strukturen Klimaund Umweltschutz * Rote Hilfe e. V. (RH) Ideologie - Strukturen - Anstieg der Mitgliederzahlen "Rechtsberatung" für politisch motivierte Straftäter Veranstaltungen Bewertung/Ausblick deutScHe koMMunIStIScHe PaRteI (dkP) Gründung in kommunistischer tradition | Die 1968 gegründete DKP versteht sich als "revolutionäre Partei der Arbeiterklasse" in der Tradition der 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Das Ziel der DKP ist die Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in einem revolutionären Bruch, um - als erste Stufe auf dem Weg zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft - den Sozialismus zu verwirklichen. Dabei setze, so die Auffassung der DKP, die "sozialistische Gesellschaftsordnung [...] die Erringung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse im Bündnis mit den anderen Werktätigen voraus". Strukturen - Mitgliederzahlen | Die DKP Bezirk Hessen (vergleichbar einem Landesverband) gliederte sich in 15 Kreisorganisationen. In Hessen waren der DKP rund 300 Personen zuzurechnen, bundesweit etwa 2.850. Der Schwerpunkt der Aktivitäten der DKP Hessen lag in Mörfelden-Walldorf (Kreis Groß-Gerau) und Gießen (Landkreis Gießen). Die DKP führte nur wenige öffentlichkeitswirksame Aktionen durch, interne Veranstaltungen dominierten das Geschehen in der Partei. MITGLIEDERENTWICKLUNG DER DKP IN HESSEN UND IM BUND (2015 BIS 2019) 3.000 3.000 3.000 3.000 2.850 2.850 2.500 2.000 1.500 1.000 500 350 350 350 350 Hessen 300 Bund 0 2015 2016 2017 2018 2019 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 199 LINKSEXTREMISMUS Die Ortsverbände Gießen, Marburg und Mörfelden-Walldorf gaben eigene Kleinzeitungen heraus. ergebnisse bei der europawahl | Bei der Wahl zum Europäischen Parlament am 26. Mai erhielt die DKP bundesweit 0,1% (= 20.396 Stimmen) und damit 4.751 weniger Stimmen als bei der Europawahl 2014. In Hessen kam die Partei auf 1.236 Stimmen (= 0,0%) und büßte gegenüber 2014 367 Stimmen ein. Dabei hatten sich auf den insgesamt 37 Listenplätzen sechs Kandidaten aus Hessen befunden. Die Partei wertete das Wahlergebnis als "alarmierendes Zeichen dafür, wie schwach die DKP in der Arbeiterklasse verankert ist". Innerhalb des Landesverbands Hessen wurde das Ergebnis ebenfalls negativ beurteilt. Das Wahlprogramm, so der Kreisvorstand der DKP Gießen, habe die "Eigentumsfrage", das heißt den "Privatbesitz an Produktionsmitteln", und "damit auch die Machtfrage nicht ausreichend berücksichtigt" und berief sich bei dieser Argumentation auf das Manifest der Kommunistischen Partei von 1848. Damit nähre die DKP die Vorstellung, so die Kritik, "dass hier über Reformen wesentliche Verbesserungen zu erreichen seien, dies halten wir als Kommunisten für eine falsche Position". kritik im Rahmen der Vorbereitung des 23. Parteitags | In der innerparteilichen Diskussion über den Leitantrag des Parteivorstands für den 23. Parteitag in Frankfurt am Main (28. Februar bis 1. März 2020) spiegelte sich die seit Jahren andauernde Krise der DKP wider. So bemängelte die DKP Frankfurt am Main, dass der Leitantrag keine Antwort auf den Mitgliederschwund und die existenzielle Frage der "Parteistärkung" enthalte: "[Der Leitantrag] gibt auf diese Fragen keinerlei Antwort. Er beinhaltet keine Vision, wie sich die Partei entwickeln soll. [...] Er ist ein 'Weiter-so' statt der dringend benötigten Diskussion nicht um die Stärkung, sondern um die Rettung der DKP". Die DKP Gießen kritisierte, dass sich durch den ganzen Antrag "reformistische Illusionen" zögen und "kommunistische Grundsätze" selten zu finden seien: "Eines der Hauptprobleme sehen wir in der ,Verteidigung der Demokratie'. Wir leben unter der Herrschaft des Kapitals und dies muss auch so formuliert werden. Demokratische Rechte, die in oft jahrelangen Kämpfen erreicht wurden, müssen natürlich verteidigt werden, die Errichtung des Sozialismus darf aber dabei nicht aus den Augen verloren werden". 200 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS Die DKP Gießen forderte, die "Notwendigkeit des Klassenkampfes sowie die Orientierung auf die Arbeiterklasse" stärker zu betonen. Dagegen sei es "sehr positiv", dass die "DDR, ihre Errungenschaften und Bedeutung" ausführlich dargestellt worden seien. ausblick/Bewertung | Vor dem Hintergrund der seit Jahren anhaltenden personellen und strukturellen Schwächung der DKP dauerte der innerparteiliche Richtungsstreit zwischen Reformern und Hardlinern an. Dabei war auffällig, dass die DKP sich kaum in dem Themenfeld Klimaund Umweltschutz engagierte und sich DKP-Gruppen nur vereinzelt an entsprechenden Protesten in Hessen beteiligten. So nahm der Klimaund Umweltschutz auf der Internetseite des DKP-Bezirks Hessen nahezu keinen Raum ein. Leitlinien für eine eigene Klimabzw. Umweltpolitik will die DKP erst nach ihrem 23. Parteitag entwickeln. Ob dies die Kampagnenfähigkeit der Partei fördern wird, bleibt abzuwarten. SozIaLIStIScHe deutScHe aRBeIteRJuGend (SdaJ) Jugendorganisation der dkP | Die dogmatisch-kommunistische Jugendorganisation ist formal unabhängig, jedoch eng mit der DKP verbunden und fungiert als deren Jugendorganisation. So unterstützte die SDAJ Hessen die DKP in ihrem Europawahlkampf und war bei einigen entsprechenden Veranstaltungen mit vor Ort. Ihre Ziele versuchte die SDAJ vor allem durch die Zusammenarbeit mit extremistischen und nichtextremistischen Organisationen zu verwirklichen, um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Der SDAJ in Hessen waren rund 70 Personen zuzurechnen, bundesweit etwa 670. Eigenen Angaben zufolge war die SDAJ in Hessen mit Ortsgruppen in den Regionen Darmstadt/Odenwald, Frankfurt am Main, Gießen, Marburg und Kassel aktiv. Parallel zu der Richtungsdebatte der DKP gab es in der SDAJ ähnlich gelagerte Diskussionen. MITGLIEDERENTWICKLUNG DER SDAJ IN HESSEN UND IM BUND (2015 BIS 2019) 800 750 750 670 670 600 500 400 200 Hessen 80 80 80 70 70 Bund 0 2015 2016 2017 2018 2019 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 201 LINKSEXTREMISMUS So spaltete sich von der SDAJ 2017 eine Gruppierung ab, die sich gegen die strategische Ausrichtung der DKP aussprach und stattdessen eine kommunistische Partei nach leninistischem bzw. stalinistischem Vorbild forderte und sich selbst als Kommunistische Organisation (KO) bezeichnete. Ihr Ziel ist es, eine kommunistische Partei nach dem Vorbild der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) zu schaffen. Die KO befand sich seit 2017 im Aufbau, woran sich auch Mitglieder aus Hessen beteiligten. Inzwischen hat sich die KO von einem eher losen Zusammenschluss zu einer eigenständigen Organisation entwickelt. "es ist zeit für widerstand" | Schwerpunkte der öffentlichkeitswirksamen Tätigkeit der SDAJ bildeten - wie in den vergangenen Jahren - die Themenfelder "Antikapitalismus" und "Antimilitarismus". So protestierte die SDAJ im Juni zusammen mit dem Aktionsbündnis Friedlicher Hessentag, in dem sich auch die DKP Bezirk Hessen und die linksjugend ['solid] Landesverband Hessen engagierten, gegen die Präsenz der Bundeswehr auf dem Hessentag in Bad Hersfeld (Landkreis Hersfeld-Rotenburg). In ihrem alle zwei Monate erscheinenden Magazin Position thematisierte die SDAJ die - nach ihrer Auffassung - prekären Ausbildungsverhältnisse und untragbare Situationen an Schulen. Darüber hinaus verteilte die SDAJ seit dem Frühjahr an einigen Schulen in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), Frankfurt am Main und Kassel wiederholt die Kleinzeitung Flurgeflüster und Flugblätter, worin die Schüler zu Grillpartys bzw. - wie in Kassel - zu einem Informationsabend über Aktivitäten in der Schülervertretung eingeladen wurden. Des Weiteren nahm sich die SDAJ Hessen verschiedener im linksextremistischen Spektrum virulenter Themen an, wie - etwa bei Demonstrationen - der "Kurdistan-Solidarität" und des Klimaschutzes im Rahmen von Schülerprotesten. In Köln (Nordrhein-Westfalen) beteiligten sich im Juni einige Ortsgruppen aus Hessen an dem von dem SDAJ-Bundesvorstand organisierten "Festival der Jugend" (Motto "Zeit für Widerstand!"), darunter auch Angehörige der linksjugend ['solid] Wetterau. In dem Aufruf zu dem Festival hieß es: "Ob Antifa oder Antimilitarismus, Gewerkschaftsarbeit oder Kämpfe in der Schule, Rassismus oder Sexismus in dieser Gesellschaft - in zahlreichen unterschiedlichen Workshops und Vorträgen wollen wir uns austauschen, diskutieren und voneinander lernen. [...] Es ist Zeit für Widerstand, es ist Zeit, dass wir uns wehren!" Bewertung/ausblick | Bei ihren Aktionen setzte die SDAJ vor allem auf Themen wie "Antifaschismus", "Antimilitarismus" sowie "Klima202 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS und Umweltschutz" und damit auf Bereiche, die eine gute Anschlussfähigkeit über die linksextremistische Szene hinaus boten. Die auffällige Zunahme von Werbeaktionen im Bereich von Schulen dürfte aus dem Bestreben der SDAJ resultieren, dem allgemeinen Niedergang der vergangenen Jahre entgegenzuwirken und Neumitglieder zu werben. MaRxIStIScH-LenInIStIScHe PaRteI deutScHLandS (MLPd) ziele | Die maoistisch-stalinistisch orientierte MLPD versteht sich als "politische Vorhutorganisation der Arbeiterklasse in Deutschland". Ihre grundlegenden Ziele sind der "Sturz der Diktatur des allein herrschenden internationalen Finanzkapitals und die Errichtung der Diktatur des Proletariats in Deutschland". Als Teil einer "internationalen sozialistischen Revolution" soll die "Diktatur des Proletariats" in den Aufbau der "vereinigten sozialistischen Staaten der Welt als Übergangsstadium zur weltweiten klassenlosen kommunistischen Gesellschaft" münden. anhängerzahl - Strukturen | Auch wenn sich Anhänger der MLPD an Demonstrationen und Aktionen beteiligten, erhielt die Partei, der in Hessen etwa 80 Personen (rund 2.800 bundesweit) zuzurechnen waren, nahezu keine Aufmerksamkeit. Das lag vor allem an der weitgehenden Isolation der MLPD im linksextremistischen Spektrum. Die MLPD war mit Ortsgruppen in über 450 Städten in Deutschland vertreten. Der MLPD-Landesverband Rheinland-Pfalz/Hessen/Saarland (RHS) hatte seinen Sitz in Frankfurt am Main. In Hessen waren Ortsgruppen in Kassel, Frankfurt am Main, Darmstadt, Rüsselsheim (Kreis Groß-Gerau) und Wiesbaden aktiv. Ebenso war der MLPD-JugendMITGLIEDERENTWICKLUNG DER MLPD IN HESSEN UND IM BUND 3.000 2.800 2.800 2.500 2.000 1.800 1.800 1.800 1.500 1.000 500 Hessen 80 100 80 80 80 Bund 0 2015 2016 2017 2018 2019 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 203 LINKSEXTREMISMUS verband REBELL bundesweit mit Ortsgruppen vertreten, in Hessen in Darmstadt, Gießen (Landkreis Gießen), Kassel und Wiesbaden. klimaund umweltschutz | Die MLPD und ihr Jugendverband REBELL versuchten bundesweit Einfluss auf die Schülerproteste im Rahmen der Fridays-for-Future-Bewegung zu nehmen. Im Berichtszeitraum waren diese Versuche auch in Hessen zu verzeichnen, stießen hier aber zumeist auf Ablehnung. Rote HILFe e. V. (RH) Ideologie - Strukturen - anstieg der Mitgliederzahlen | In Anlehnung an die im Jahr 1924 in der Weimarer Republik (1918-1933) von der KPD initiierten Rote Hilfe Deutschlands (RHD) versteht sich die RH laut ihrer Satzung als "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation". Sie bezeichnet die Bundesrepublik Deutschland als ein "nationalstaatlich fixiertes, bürgerlich kapitalistisches Herrschaftssystem, das von unterschiedlichen Unterdrückungsmechanismen (wie Rassismus oder Sexismus) strukturiert und geprägt" werde. In Hessen verfügte die RH über Ortsgruppen in Darmstadt, Gießen (Landkreis Gießen), Frankfurt am Main, Kassel und Wiesbaden. Ihr gehörten in Hessen etwa 700 Personen an, bundesweit etwa 10.500. Den Anstieg der Mitgliederzahl erklärte ein Angehöriger des Bundesvorstands der RH mit Solidarisierungen, die der Verein im Zusammenhang mit einer für ihn erfolgreichen einstweiligen Verfügung gegen ein Presseorgan erfahren habe: "Bereits wenige Stunden nach Erscheinen des Artikels gab es in den Sozialen Netzwerken eine Vielzahl von Kommentaren, Protesterklärungen und demonstrativen Eintritten in die Rote Hilfe e. V. Es gibt Solidaritätserklärungen aus nahezu allen Spektren der politischen Linken. Von Abgeordneten der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, migrantischen Verbänden, der Interventionistischen Linken, parteinahen Jugendverbänden wie der linksjugend ['solid], Jusos oder der Grünen Jugend, libertären Initiativen bis zu zahlreichen antifaschistischen Gruppen wurde klargestellt, dass die Rote Hilfe e.V. ein Querschnitt der gesamten Linken in der BRD ist und politisch verteidigt wird". "Rechtsberatung" für politisch motivierte Straftäter | Die maßgeblich von Linksextremisten verschiedener Richtungen getragene RH unterstützte seit den 1970er Jahren inhaftierte bzw. inzwischen aus der Haft entlassene Mitglieder der mittlerweile aufgelösten linksterroristischen Roten Armee Fraktion (RAF). Neben politischer und finanzieller Hilfe versuchte die RH mittels "Rechtsberatung" Personen, die politisch 204 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS motivierte Straftaten begingen, der staatlichen Strafverfolgung zu entziehen oder sie bei ihren Verfahren zu unterstützen. Die RH empfahl daher den "Genoss_innen" die "konsequente Aussageverweigerung" als "beste Strategie im Umgang mit Repressionsbehörden". Die RH-Ortsgruppe Frankfurt am Main begleitete im Berichtsjahr bei Strafprozessen vorwiegend Angeklagte, die "linken" und linksextremistischen Gruppierungen zuzurechnen waren. Auf ihrer Homepage wies die RH auf anstehende Prozesse hin und rief Sympathisanten zur "kritischen Prozessbegleitung" auf, um sich solidarisch mit den Angeklagten zu zeigen. Veranstaltungen | Die RH-Ortsgruppe Kassel richtete vom 1. bis 13. Juni eine Veranstaltungsreihe unter dem Titel "Die drohende Gefahr" aus, die sich mit den "Polizeigesetzverschärfungen" beschäftigte. So fand am 1. Juni im Phillip-Scheidemann-Haus ein Workshop zu dem Thema "Deconstruct Sicherheit" unter dem Motto "Gegen das hessische Sicherheitsund Ordnungsgesetz" statt. Im Zentrum stand die Beantwortung von Fragen, zum Beispiel: "Was steckt hinter dem viel zitierten Ziel der Politik, ,mehr Sicherheit' zu gewährleisten? Kann der Staat das überhaupt? Wie fügen sich die Gesetzesvorhaben in den derzeitigen Sicherheitsdiskurs ein? Welche Gefahren ergeben sich aus den Gesetzesverschärfungen für jede*n Einzelne*n von uns für unseren Alltag und unsere politische Praxis? Und wie reagieren wir auf diese Einschränkung unserer Rechte?" Tags darauf wurde unter dem Titel "G20 - Festival der Demokratie" ein Film über die Proteste in Hamburg im Jahr 2017 gezeigt, um - aus der Perspektive der RH - zu dokumentieren, dass dies "kein Festival der Demokratie" war: "Grundrechte wurden willkürlich durch die MITGLIEDERENTWICKLUNG DER RH IN HESSEN UND IM BUND 10.500 10.000 8.300 8.300 8.000 8.000 7.000 6.000 4.000 2.000 Hessen 600 600 700 Bund 0 2015 2016 2017 2018 2019 Für 2015 und 2016 lauteten die Angaben für Hessen jeweils: mehrere hundert Personen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 205 LINKSEXTREMISMUS Polizei eingeschränkt, es kam zu massiver Polizeigewalt". Die Reihe endete mit einem Vortrag "Über das Hessische Sicherheitsund Ordnungsgesetz". Anlässlich des 25. Todestages von Halim Dener, der in Hannover (Niedersachsen) beim Plakatekleben für die PKK während eines Polizeieinsatzes versehentlich mittels einer Dienstwaffe erschossen worden war, veranstaltete die RH-Ortsgruppe Kassel gemeinsam mit dem YXK den "Info/Mobilisierungsvortrag Halim Dener[.] Gefoltert. Geflüchtet. Verboten. Erschossen" in Kassel. Mit der Veranstaltung mobilisierte die RH zur Teilnahme an einer Demonstration am 6. Juli in Hannover. Im Centro in Frankfurt am Main stellte die RH-Ortsgruppe Frankfurt am Main zusammen mit Andreas Blechschmidt im Rahmen der "Gegenbuchmasse" (14. bis 20. Oktober) dessen Buch "Gewalt. Macht. Widerstand. G20 - Streitschrift um die Mittel zum Zweck" vor. In einem Interview mit der Zeitung Neues Deutschland im Juli auf die Frage angesprochen, ob "die autonome Linke beim G20-Protest militanter als es ihre marginale gesellschaftliche Position erlaubt", gehandelt habe, hatte der Autor, der regelmäßig als Sprecher des autonomen Treffund Verstaltungsorts Rote Flora in Hamburg auftritt, erwidert: "Gerade der G20 in Hamburg ist ein Beispiel dafür, dass das nicht mit Zirkel und Lineal vorher abgesteckt werden kann. Das Gerede der Politik vom ,Festival der Demokratie', gefolgt von den offenen Rechtsbrüchen der Polizei und der krassen Polizeigewalt, das überwiegende Schweigen der sogenannten Zivilgesellschaft und die Komplizenschaft der Leitmedien mit dieser Machtdemonstration hat zu einer großen Wut auf der Straße geführt. Wenn es so etwas wie ,die' Politik der Herrschenden gibt, dann waren die militanten Auseinandersetzungen während des G20 in Hamburg eine Antwort auf die Arroganz dieser Herrschenden. Das wundert mich angesichts des Eskalationskurses der Polizeiführung nicht. Aber dann müssen wir weiterreden: Deshalb gibt es keinen Grund, Geschäfte, über denen Menschen wohnen, anzuzünden. Wer das nicht auseinanderhalten kann, wer das kleinredet oder bitte nur szeneintern besprechen möchte, hat ein echtes politisches Problem". Bewertung/ausblick | Die RH nimmt weiterhin eine wichtige Rolle innerhalb der linksextremistischen Szene ein. Sowohl durch ihre "Solidaritätsund Antirepressionsarbeit" als auch durch ihre juristischen und finanziellen Unterstützungsleistungen verfügt die RH über eine hohe Reputation im gesamten Spektrum und stellt damit ein die Szene verbindendes Element dar. Angesichts der von Linksextremisten behaupteten Zunahme der staatlichen "Repression" wird die 206 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 LINKSEXTREMISMUS Bedeutung der RH weiterhin hoch bleiben oder sogar steigen. Die stetig wachsenden Mitgliederzahlen der vergangenen Jahre sprechen für eine solche Entwicklung. LInkSextReMIStIScHe StRaFund GewaLttaten Auffallend ist, dass in Hessen im Berichtszeitraum die Zahl der Gewalttaten wieder auf das Niveau des Jahres 2017 sank, als der G7Gipfel in Hamburg bundesweit zum Fokus linksextremistischer Aktionen wurde. Ebenso glich sich die Gesamtzahl der linksextremistischen Strafund Gewalttaten (65) nahezu an das Niveau des Jahres 2017 (61) an, wobei die Zahl der Sachbeschädigungen 2019 etwa um ein Drittel zunahm. Linksextremisten begingen vor allem deshalb Sachbeschädigungen, weil diese relativ einfach, unbemerkt und ohne große Konsequenzen verübt werden können. Indem oft hohe Schäden angerichtet wurden, erzielten Linksextremisten hiermit Wirkung. Inhaltlich wurden Sachbeschädigungen oft mit aktuellen Themen begründet und versucht, | 2019 2018 2017 2016 2015 Deliktart Tötung Versuchte Tötung 4 Körperverletzung 3 8 1 18 26 Brandstiftung/Sprengstoffdelikte 1 2 2 5 8 Landfriedensbruch 1 1 2 44 Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs-, 1 3 Luftund Straßenverkehr Freiheitsberaubung, Raub, Erpressung, 1 2 1 Widerstandsdelikte Gewalttaten insgesamt 5 13 5 25 86 Sonstige Straftaten Sachbeschädigung 31 21 44 43 122 Nötigung/Bedrohung 2 1 3 1 Andere Straftaten 29 12 11 19 69 (insbesondere Propagandadelikte) Strafund Gewalttaten insgesamt 65 48 61 90 278 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 207 LINKSEXTREMISMUS hierdurch eine Akzeptanz in der Bevölkerung zu gewinnen. Besonders zu erwähnen ist der Brandanschlag auf ein Autohaus in Kronberg im Taunus (Hochtaunuskreis) Ende August, wobei ein Schaden in Millionenhöhe entstand (siehe oben das Kapitel Ereignisse/ Entwicklungen). In dem unter dem Pseudonym "Steine im Getriebe" auf der von der linksextremistischen Szene genutzten Internetseite de.indymedia.org eingestellten Selbstbezichtigungsschreiben hieß es: "Wir stellen uns damit in die Tradition kämpferischer sozialer Bewegungen. [...] Wie diejenige[,] die heute im Hambacher Forst versucht[,] den Kohleausstieg durchzusetzen". Damit bewies die autonome Szene ihre Handlungsfähigkeit, machte aber zugleich deutlich, dass brutale Übergriffe auf Menschen wie zum Beispiel in Leipzig (Sachsen) in Hessen nicht vermittelbar waren. 208 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS - MeRkMaLe - ISLaMIStIScHeS PeRSonenPotenzIaL - SaLaFISMuS - HIzB ut-taHRIR (Hut, PaRteI deR BeFReIunG) - MuSLIMBRudeRScHaFt (MB)/deutScHe MuSLIMIScHe GeMeInScHaFt e. V. (dMG) - MILLi-GÖRüsBeweGunG - tüRkIScHe HIzBuLLaH (tH) - SonStIGe BeoBacHtunGSoBJekte - ISLaMIStIScHe StRaFund GewaLttaten ISLAMISMUS MeRkMaLe der Islam als Religion wird vom Verfassungsschutz nicht beobachtet. Muslime genießen - wie anhänger aller anderen Religionen auch - in deutschland das Grundrecht auf Religionsfreiheit nach artikel 4 des Grundgesetzes. unter Islamismus wird im allgemeinen die Politisierung des Islams zum ziel und zweck verstanden, die bestehende Gesellschaftsordnung nach islamischen Vorstellungen vollständig zu verändern und deren Rechtsgrundlagen, werte und Herrschaftsordnungen entscheidend umzugestalten oder gänzlich abzuschaffen. Islamistische Bestrebungen manifestieren sich, wenn das Handeln von Personen in einem oder für einen Personenzusammenschluss zielund zweckgerichtet danach strebt, gesellschaftliche und institutionalisierte Bereiche in einer weise grundlegend und nachhaltig gemäß islamischen Prinzipien umzugestalten. auf diese weise zielen islamistische Bestrebungen darauf, einen oder mehrere zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu zählenden Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. dies kann mittels Gewaltanwendung oder nutzung "legaler" Möglichkeiten geschehen. diese Bestrebungen gründen sich auf einem Islamverständnis, das islamische Glaubensquellen und andere bedeutsame überlieferungen in eigener weise interpretiert. dieses Verständnis repräsentiert daher nicht eine unabdingbar gültige auslegung des Islams und seiner Praktizierung, vielmehr erheben islamistische Lesarten den anspruch, eine allgemeinverbindliche Form des Islams erkannt zu haben und dessen einhaltung diktieren zu können. AUF EINEN BLICK * Verfassungsfeindlichkeit des Islamismus * entstehung des Islamismus * ziele des Islamismus * Spielarten des Islamismus Verfassungsfeindlichkeit des Islamismus | Die totalitäre Veränderung einer Gesellschaft nach islamistischen Vorstellungen widerspricht elementar den Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und dem demokratischen Gefüge generell: Rechtsstaatlichkeit sowie unveräußerliche Menschenund Bürgerrechte sollen aus islamistischer Sicht vollständig überwunden werden. Das politische System einer demokratisch legitimierten Volksvertretung würde durch eine totalitär agierende Theokratie ersetzt werden. Von Men210 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS schen gemachte Gesetze würden durch sogenanntes göttliches Recht ersetzt. Islamisten sind nicht auf Reformen bedacht, um im Einklang mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung friedlich in einer vielfältigen Gesellschaft zu leben, sondern streben nach einer grundlegenden Veränderung der Verhältnisse. Die Wahl der Mittel umfasst dabei nicht zwangsläufig dem islamistischen Terrorismus zuzurechnende Gewalttaten. Die Mehrheit der Islamisten in Hessen, oft in Vereinen organisiert, nutzt weitaus subtilere Mittel: Sie streben nach einflussreichen Positionen und versuchen ihre Interessen durch das Eindringen in relevante Bereiche von Politik und Gesellschaft zu vertreten. entstehung des Islamismus | Der Islamismus nach heutigem Verständnis entwickelte sich im Nahen und Mittleren Osten des späten 18. sowie des 19. Jahrhunderts als Gegenreaktion auf lokale Herrschaftsverhältnisse und als Reaktion auf den europäischen Kolonialismus, das heißt, in zahlreichen islamisch geprägten Ländern versuchten Gruppierungen unterschiedlichsten Herkommens, sich gegen Benachteiligungen und Repressionen der Kolonialmächte zu wehren. Aus einer Wiederbelebung der islamischen Identität, hierbei gab es durchaus Unterschiede, erhofften sich insbesondere Islamisten das Erstarken ihrer Religion. Sie verbanden damit eine Universallösung für sämtliche gesellschaftliche Probleme. Despoten sollten nicht länger die muslimische Gemeinschaft geißeln und den Islam unterdrücken. Erst das Überwinden "unislamischer" Herrscher würde den Weg ebnen, an "glorreiche Zeiten" des Frühislams anzuknüpfen, die Machtverhältnisse neu zu bestimmen und alle Muslime in eine Weltgemeinde zu führen. Viele dieser Gruppen und Organisationen wurden von muslimischen Intellektuellen und Islamgelehrten geprägt und angeführt, die nicht aus der Elite der islamischen Geistlichkeit stammten. ziele im Islamismus | Obwohl sich islamistische Bewegungen im Laufe der Zeit in zum Teil deutlich unterschiedliche Richtungen entwickelten, ist ihnen doch ein ideologischer Kern gemeinsam: Es ist die Vorstellung, sämtliche Probleme der Gegenwart durch eine Rückkehr zu einer idealisierten, längst vergangenen islamischen Frühzeit zu heilen und auf diese Weise eine universelle Ordnung zu schaffen, die dem Islam und seiner Glaubensgemeinschaft den höchsten Stellenwert einräumt. Für die Gegenwart und Zukunft soll der Islam die allein gültige gesellschaftliche und rechtliche Norm bilden. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 211 ISLAMISMUS Islamisten akzeptieren in der Regel somit nur den Koran und die überlieferte Prophetentradition (Sunna) als Grundlage für islamrechtliche Entscheidungen und Regelungen. Darüber hinaus brandmarken Islamisten die Standpunkte der etablierten islamischen Rechtsschulen als ungültige Veränderungen des Islams oder interpretieren sie zugunsten der eigenen islamistischen Auffassungen. Die Mittel und Methoden der Islamisten zur Rechtsfindung reduzieren sich auf wenige frühislamische Prinzipien. Letztere lassen keinen Spielraum für theologische Auslegungen außerhalb des Islams zuzeiten des Propheten Muhammad zu. Nach der Auffassung von Islamisten soll der Rückgriff auf ursprüngliche islamische Quellen Antworten auf Probleme der Moderne geben. Fragen der Zukunft soll mit Antworten aus der Vergangenheit begegnet werden. Dies bildet den Ausgangspunkt für islamistische Aktivitäten. Würden die islamistischen Ziele konsequent umgesetzt, hätte dies die weltweite Islamisierung, abhängig von der jeweiligen Spielart des Islamismus, zur Folge. Am Ende dieses - in islamistischer Perspektive - "Erweckungsprozesses" stünde ein religiös institutionalisierter Machtbereich, der als staatsähnliche Ordnung dem Kalifat vergangener Zeiten gleichen würde. Spielarten des Islamismus | Abhängig von Zeit und Ort zeigt sich der Islamismus auch in Deutschland in vielfältigen Formen. Häufig übernehmen Islamisten die ideologischen Grundlagen der Kernbewegungen aus dem Ausland. Das Ausnutzen bzw. Nutzen legaler Mittel in einer Demokratie, die aus islamistischer Sicht keine Gültigkeit besitzt, ist ein Wesensmerkmal des legalen Islamismus. Das hierzu gehörende Personenpotenzial wird mit der Bezeichnung "Legalisten" beschrieben, der Phänomenbereich selbst wird als "legalistischer Islamismus" bezeichnet. Diese "Legalisten" versuchen im Einklang mit den Gesetzen ihren Einflussraum durch politische Teilhabe auszudehnen. Mittels kommunaler, regionaler, aber auch landespolitischer Aktivitäten sollen Schutzgüter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unterminiert und auf lange Sicht überwunden werden, um den eigenen islamistischen Interessen Rechnung zu tragen. Extremismusvorwürfe weisen "Legalisten" konsequent und selbstbewusst zurück und versehen sie mit dem Etikett "Islamfeindlichkeit". Andere islamistische Gruppen schrecken zwecks Durchsetzung ihrer Ziele nicht vor Gewalttaten zurück. Insbesondere Jihadisten sehen den Einsatz von Gewalt bzw. Terroranschläge als gerechtfertigt an. 212 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS ISLaMIStIScHeS PeRSonenPotenzIaL Das Personenpotenzial in Hessen blieb gegenüber dem vorherigen Berichtsjahr unverändert. | 2019 2018 2017 2016 20151 Islamisten gesamt Hessen 4.170 4.170 4.170 4.170 4.150 Bund 28.020 26.560 25.810 24.400 davon Salafisten Hessen 1.650 1.650 1.650 1.650 1.650 Bund 12.150 11.300 10.800 9.700 8.350 1 Zu mehreren der bundesweit aktiven islamistischen Organisationen bzw. Gruppierungen lagen für das Jahr 2015 keine gesicherten Anhängerzahlen vor, sodass ein bundesweites islamistisches Personenpotenzial nicht ausgewiesen werden konnte. SaLaFISMuS DEFINITION/KERNDATEN der Salafismus setzt sich ideologisch aus einer politischen und einer jihadistischen Bewegung zusammen. Politische wie jihadistische Salafisten weichen in ihrem ideologischen kern nicht von anderen islamischen erweckungsbewegungen ab. auch anhänger eines salafistischen Islamverständnisses streben abseits theologischer auslegungen und ideologischer ausprägungen nach der Rückkehr zu den angeblich einzig gültigen Glaubensprinzipien, wie sie überlieferungen zufolge in der Frühzeit um den Propheten entstanden waren und praktiziert wurden. anstatt ihre Religionsauffassung und -praxis an die Gegenwart anzupassen, propagieren Salafisten die idealisierte Re-Islamisierung gemäß angeblich unverfälschter werte im einklang mit den Geboten allahs. das salafistische ziel liegt in der wiederentdeckung des reinen Islams, seiner erhaltung und universellen ausdehnung. Im diesseits ist nach salafistischer auffassung eine gottgefällige Lebensweise nur in einer muslimischen Sozialstruktur möglich, die ungehindert für das nachahmen der Lebensweise des Propheten bei gleichzeitiger Beachtung der hierfür zeitlos gültigen Regeln sorgt. ein kalifat nach historischem Vorbild wird in diesem Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 213 ISLAMISMUS zusammenhang häufig als geeignete option für ein solches Gesellschaftsmodell angesehen. darüber hinaus sind politische Salafisten missionarisch aktiv, indem sie die Bekehrung zum Islam und die Verbreitung des islamischen Glaubens (arab. da'wa) betreiben. Jihadistische Salafisten rücken hingegen den gewaltsamen kampf, den sie mit der einhaltung göttlicher Regeln und Prinzipien rechtfertigen, in das zentrum ihrer ideologischen auffassung der islamischen theologie und bilden damit den ausgangspunkt für ihre islamistischen Bestrebungen. der übergang zwischen beiden Strömungen im Salafismus kann fließend sein. In Hessen war der Großteil der Salafisten dem Spektrum des politischen Salafismus zuzurechnen. Mit einem Personenpotenzial von etwa 1.650 blieb in Hessen die zahl der Salafisten im Vergleich zu den Vorjahren konstant und damit weiterhin besorgniserregend hoch. eReIGnISSe/entwIckLunGen IM JIHadIStIScHen SaLaFISMuS die jihadistische terrororganisation Islamischer Staat (IS) büßte im März die letzten der von ihr besetzten Gebiete in Syrien und im Irak ein, schuf jedoch in ihren ehemaligen einflussgebieten untergrundstrukturen, die sie für anschläge auf lokale Machthaber und staatliche Strukturen nutzte. Somit agierte der IS wieder als jene terroristische untergrundorganisation, wie vor seinen gewalttätigen eroberungen und der ausrufung des "kalifats" im Juni 2014. In nordund westafrika sowie in asien etablierten sich ableger des IS, deren anhängerzahlen sich von Region zu Region zum teil erheblich unterschieden. In europa verübten einzeltäter jihadistisch motivierte anschläge, wobei sie - wenn auch nicht immer eindeutig verifizierbar - entweder im auftrag des IS oder eigeninitiativ handelten. die hohe anschlagsgefahr blieb auch im Berichtsjahr bestehen. So kam es unter anderem in Hessen zu etlichen exekutivmaßnahmen, wodurch die anschlagsplanungen einzelner Personengruppen frühzeitig erkannt und vereitelt wurden. AUF EINEN BLICK * Festnahmen und Verurteilungen * Resonanz im jihadistischen und politischen Salafismus auf weltweite jihadistische entwicklungen * Bundesweite anzahl der jihadistisch motivierten ausreisefälle * Hessenweite anzahl der jihadistisch motivierten ausreisefälle 214 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS * Rückkehrer-Problematik Frauen und kinder * weiterhin bestehendes anschlagspotenzial des IS - Maßnahmen der Sicherheitsbehörden * Jihadistisch motivierte anschläge auf Sri Lanka und in europa * abu Bakr al-Baghdadi getötet Festnahmen und Verurteilungen | Im Rahmen von Exekutivmaßnahmen unter Leitung des HLKA nahm die Polizei im März in Hessen und Rheinland-Pfalz mehrere Personen fest. Drei von ihnen sollen einen Anschlag mittels eines Fahrzeugs und Schusswaffen vorbereitet haben; weiterhin werden die Festgenommenen der Terrorismusfinanzierung verdächtigt. Bei den drei Beschuldigten handelt es sich um einen 21-Jährigen aus Offenbach am Main und zwei 31-jährige Brüder aus Wiesbaden, die alle die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und sich nunmehr in Untersuchungshaft befinden. Zur Vorbereitung des Anschlags sollen sie Kontakt zu Waffenhändlern aufgenommen, ein größeres Fahrzeug angemietet und Geld gesammelt haben. Bei den Durchsuchungen beschlagnahmte die Polizei umfangreiches Beweismaterial, unter anderem elektronische Datenträger, schriftliche Unterlagen, Bargeld und mehrere Messer. Im Februar 2019 verurteilte das Jugendschöffengericht Friedberg einen zum Tatzeitpunkt 17-jährigen Jugendlichen aus Florstadt (Wetteraukreis) wegen der Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat zu einer Haftstrafe von einem Jahr und acht Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Dem Jugendlichen war vorgeworfen worden, einen islamistisch motivierten Sprengstoffanschlag im Rhein-Main-Gebiet geplant und die hierfür erforderlichen Vorbereitungen begonnen zu haben. In diesem Zusammenhang hatte sich der Angeklagte eine Anleitung zum Bau einer Sprengvorrichtung verschafft und versucht, über einen Online-Versandhändler Chemikalien zu erwerben, um Triacetontriperoxid (TATP) herzustellen. Allerdings reichten die im Rahmen der Wohnungsdurchsuchung aufgefundenen Chemikalien hierzu nicht aus. Ziel war eine "Schwulenbar" oder ein Shia-Tempel in Frankfurt am Main, um "Ungläubige" zu töten. Die Tatplanungen waren durch nachrichtendienstlich gewonnene Erkenntnisse bekannt geworden. Im Zuge ihrer Ermittlungen stellte die Polizei fest, dass der Jugendliche sich über das Internet radikalisiert hatte und Sympathien für den IS hegte. Das Urteil ist rechtskräftig. Im August verurteilte das OLG Frankfurt am Main einen syrischen Staatsangehörigen wegen Mitgliedschaft und Beteiligung in einer ausländischen terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten. Der als Kriegsflüchtling 2015 in die Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 215 ISLAMISMUS Bundesrepublik Deutschland Eingereiste hatte von 2013 bis 2014 bei der ausländischen terroristischen Vereinigung Harakat Ahrar alSham al-Islamya (Ahrar al-Sham, Islamische Bewegung der Freien Männer Großsyriens) als Mitglied mitgewirkt, in diesem Zusammenhang mittels Kriegswaffen Gewalt ausgeübt und sich an Kampfhandlungen gegen die syrische Regierung und den Machthaber Baschar al-Assad beteiligt. Im Dezember wurde der Syrier nach Verbüßung seiner Haftstrafe - unter Anrechnung der Untersuchungshaft - mit Auflagen aus dem Strafvollzug entlassen. Die vorgesehene Abschiebung nach Syrien war aufgrund der dortigen Kriegsverhältnisse vorerst ausgesetzt. Im September verurteilte das OLG Frankfurt am Main einen 20-jährigen irakischen Staatsangehörigen rechtskräftig wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat, des Werbens für den IS und der Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und setzte die Vollstreckung zur Bewährung aus. Die Polizei hatte den Beschuldigten im Februar 2018 in Eschwege (Werra-Meißner-Kreis) festgenommen; er hatte spätestens seit Dezember 2017 einen nicht näher konkretisierten Selbstmordanschlag in Deutschland oder Großbritannien vorbereitet, indem er sich Schwarzpulver in Form von Chinaböllern verschafft und in der elterlichen Wohnung aufbewahrt hatte. Er wollte einen Sprengsatz herstellen und zu einem nicht bekannten Zeitpunkt an einem unbekannten Ort zünden, um Personen nichtmuslimischen Glaubens zu töten oder zu verletzen. Im Laufe des Verfahrens stellte sich heraus, dass der Angeklagte tatsächlich, nicht wie von ihm angegeben 18, sondern zwei Jahre älter ist. Das OLG wandte dennoch Jugendstrafrecht an. Der Verurteilte wurde im November in den Irak abgeschoben. Im September verurteilte das OLG Frankfurt am Main einen 32-jährigen deutschen Staatsangehörigen wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Der Angeklagte war Anfang November 2013 in die an der türkisch-syrischen Grenze gelegene Stadt Reyhanli gereist, von wo er sich von Schleppern nach Syrien in ein sogenanntes Safehouse des IS bringen ließ (Safehouses dienten dem IS der Überprüfung der Zuverlässigkeit von Neuankömmlingen, insbesondere, ob es sich um Spione handeln könnte). Bei der Registrierung durch den IS erklärte der Angeklagte, sich der terroristischen Vereinigung als Kämpfer anschließen zu wollen. Nachdem der Angeklagte Ende November vom Tod seines Vaters erfahren hatte, verließ er das Safehouse mit Erlaubnis des IS und reiste über die Türkei und Frankfurt am Main nach Kassel zurück. Für die Bereitschaft des Angeklagten, sich dem IS als Kämpfer anzuschließen, erkannte das OLG 216 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten an. Da der Angeklagte bereits 2015 vom Landgericht (LG) Kassel wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln und wegen Waffendelikten zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt worden und diese Strafe einzubeziehen war, wurde er zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig. Das LG Frankfurt am Main verurteilte im November einen 18-jährigen deutschen sowie einen 25-jährigen türkischen Staatsangehörigen aus Offenbach am Main wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Beide hatten geplant, mit einem OneWay-Ticket vom Flughafen Köln/Bonn aus über Bangkok (Thailand) auf die Philippinen zu reisen und sich dort im Umgang mit Waffen und Sprengstoff ausbilden zu lassen. Einen der Angeklagten nahm die Bundespolizei vor dem Abflug fest, dem anderen gelang die Ausreise nach Bangkok, wo er bei seiner Ankunft festgenommen und nach Deutschland zurückgebracht wurde. Der 18-Jährige wurde auf drei Jahre Bewährung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten und der 25-Jährige zu zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Urteile sind rechtskräftig. Im Januar 2020 wurde der 25-Jährige in die Türkei abgeschoben. Darüber hinaus verurteilte das LG Frankfurt am Main im November einen 19-jährigen deutschen Schüler aus Gießen (Landkreis Gießen) wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und eines Verstoßes gegen das Vereinsgesetz zu zweieinhalb Jahren Haft. Der Deutsche ägyptischer Herkunft war im Dezember 2018 mit dem Ziel nach Luxor (Ägypten) geflogen, sich auf der Halbinsel Sinai im bewaffneten Kampf für den IS ausbilden zu lassen. Nachdem ihn die ägyptischen Sicherheitsbehörden am Flughafen verhaftet und in Gewahrsam genommen hatten, war er einen Monat später nach Deutschland abgeschoben worden. Das Urteil ist rechtskräftig. Ebenfalls im November kam es in Offenbach am Main unter der Leitung des HLKA zu Festnahmen und Durchsuchungen dreier Personen wegen des Verdachts von Anschlagsplanungen. Gegen den Hauptbeschuldigten, einen 24-jährigen Deutsch-Mazedonier, wurde Haftbefehl erlassen. Die beiden 21und 22-jährigen mitbeschuldigten türkischen Staatsbürger wurden, da kein dringender Tatverdacht mehr bestand, aus der Untersuchungshaft entlassen. Dem Hauptbeschuldigten wird vorgeworfen, Vorbereitungen getroffen zu haben, um im Rhein-Main-Gebiet mittels Sprengstoff oder Schusswaffen einen islamistisch motivierten Anschlag zu verüben. Er soll dabei beabsichtigt haben, möglichst viele "Ungläubige" zu töten. Bei den Durchsuchungen fand die Polizei zur Herstellung von Sprengstoff geHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 217 ISLAMISMUS eignete Chemikalien. Darüber hinaus soll der Beschuldigte im Internet nach Möglichkeiten zum Kauf von Schusswaffen gesucht haben. Resonanz im jihadistischen und politischen Salafismus auf weltweite jihadistische entwicklungen | Wie im Vorjahr verfolgte die Szene in Hessen weiterhin die Entwicklungen der global agierenden jihadistischen Gruppierungen und Organisationen, insbesondere in Syrien und im Irak. An der Frage, ob der IS und das "Kalifat" theologisch zu legitimieren seien, entzündeten sich in der Szene weiterhin Auseinandersetzungen. Bereits bestehende ideologische Konflikte intensivierten sich, neue kamen hinzu. In der Szene überwog die Einsicht, dass der IS mit der territorialen Bildung eines islamischen Staatsgebildes gescheitert ist. Bundesweite anzahl der jihadistisch motivierten ausreisefälle | Zum Jahresende 2019 lagen zu insgesamt 1.050 deutschen Islamisten und Islamisten aus Deutschland, die in Richtung Syrien/Irak gereist waren, Erkenntnisse vor. Zu etwa der Hälfte der gereisten Personen lagen konkrete Anhaltspunkte vor, dass sie auf Seiten des IS und der Terrororganisation al-Qaida oder diesen nahestehenden Gruppierungen und anderer terroristischer Gruppierungen an Kampfhandlungen teilgenommen hatten oder diese in sonstiger Weise unterstützt hatten. Etwa ein Viertel der ausgereisten Personen war weiblich. Der überwiegende Teil der insgesamt 1.050 Ausgereisten war jünger als 30 Jahre. Etwa ein Drittel dieser Personen kehrte wieder nach Deutschland zurück. Zu über 110 der bislang zurückgekehrten Personen lagen den Sicherheitsbehörden Erkenntnisse vor, wonach diese sich aktiv und jihadistisch motiviert an Kämpfen in Syrien oder im Irak beteiligten oder hierfür eine Ausbildung absolvierten. Nachdem der IS seine territoriale Basis verloren hat, liegen Erkenntnisse zu aus Deutschland ausgereisten Personen im unteren dreistelligen Bereich vor, die aus Syrien bzw. dem Irak ausreisen möchten und/oder die sich dort in Haft bzw. Gewahrsam befinden. Zur Mehrheit dieser Personen liegen Erkenntnisse vor, dass sie beabsichtigen unter anderem nach Deutschland zurückzukehren. Hessenweite anzahl der jihadistisch motivierten ausreisefälle | Den hessischen Sicherheitsbehörden lagen im Berichtszeitraum Erkenntnisse zu etwa 150 Islamisten aus Hessen vor, die in Richtung Syrien oder Irak reisten, um dort auf Seiten des IS und anderer terroristischer Gruppierungen an Kampfhandlungen teilzunehmen oder diese in sonstiger Weise zu unterstützen. Einzelne Ausreisesachverhalte wurden unverändert erst nachträglich bekannt. Neue Aus218 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS reisen in Richtung Syrien/Irak wurden nur noch sehr vereinzelt registriert. Etwa ein Viertel der ausgereisten Personen war weiblich. Dem Bundestrend entsprechend war der überwiegende Teil der insgesamt 150 ausgereisten Personen jünger als 30 Jahre. Nicht in allen Fällen lagen Erkenntnisse vor, dass sich diese Personen tatsächlich in Syrien bzw. im Irak aufhalten oder aufhielten. Etwa ein Viertel der Ausgereisten kehrte bis Ende 2019 nach Hessen zurück. Darüber hinaus lagen Erkenntnisse zu aus Hessen ausgereisten Personen im niedrigen zweistelligen Bereich vor, die sich in Syrien bzw. im Irak in Haft bzw. in Gewahrsam befanden. Mehrheitlich handelte es sich um weibliche Personen. Ein Großteil der Frauen war in Begleitung von Kindern, wobei sich eine verstärkte Rückreisetendenz abzeichnete. Etwa ein Viertel der Ausgereisten kehrte bis Ende 2019 nach Hessen zurück. In Bezug auf die Hälfte der Rückkehrer lagen den Behörden keine belastbaren Informationen vor, dass sich diese aktiv an Kampfhandlungen in der Region Syrien/Irak beteiligten. Als Ergebnis der kontinuierlichen Ausund Bewertung der Erkenntnislage zu den Rückkehrern lagen den Sicherheitsbehörden in Hessen zu etwa 20 Personen Informationen vor, wonach sie sich aktiv an Kämpfen in Syrien oder im Irak beteiligten oder hierfür eine Ausbildung absolvierten. Ferner lagen zu rund 50 Personen Hinweise vor, dass diese mit hoher Wahrscheinlichkeit in Syrien oder im Irak ums Leben kamen. Die hessischen Sicherheitsbehörden sind bestrebt, extremistisch motivierte Ausreiseplanungen frühzeitig wahrzunehmen, um deren Verwirklichung zu unterbinden. Rückkehrer-Problematik Frauen und kinder | Zahlreiche Kinder und Jugendliche, die zum Teil in damaligen Herrschaftsgebieten des IS geboren wurden oder dorthin mit ihren Eltern ausgereist waren, gerieten im Zuge der Zerschlagung des territorialen "Kalifats" des IS in Gefangenschaft der Anti-IS-Allianz. Es ist davon auszugehen, dass zahlreiche dieser Personen mit hoher Wahrscheinlichkeit Traumatisierungen erlitten bzw. psychisch belastende Erfahrungen mit Krieg und Gewalt gemacht haben und unverändert durch die Ideologie des IS indoktriniert sind. Da diese Personengruppe bei einer Rückkehr nach Deutschland eine potenzielle Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, beschäftigt sich der Verfassungsschutzverbund intensiv mit der Rückkehrer-Problematik von jihadistischen Frauen und deren Kindern, die sich in Gefangenschaft befinden. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 219 ISLAMISMUS Im Laufe des Berichtsjahrs kehrten fünf Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit - unter Beteiligung deutscher Sicherheitsbehörden - in Begleitung von insgesamt sieben Kindern nach Hessen zurück. Die Frauen waren zwischen 2014 und 2016 in das Krisengebiet Syrien/ Irak ausgereist. Eine der insgesamt zwischen 21 und 30 Jahre alten Frauen wurde aufgrund eines Haftbefehls wegen Mitgliedschaft und Beteiligung in einer ausländischen terroristischen Vereinigung bei ihrer Rückkehr in Untersuchungshaft genommen. Im Fall einer 30jährigen Deutschen sahen die zuständigen Behörden die Notwendigkeit, deren drei Kinder in eine andere Obhut zu geben. weiterhin bestehendes anschlagspotenzial des IS - Maßnahmen der Sicherheitsbehörden | Trotz der militärischen Offensiven der Anti-ISAllianz war es der Terrororganisation möglich, jihadistische Propaganda über die sozialen Medien zu verbreiten und jihadistisch motivierte Anschläge anzuleiten. Nachdem im Rahmen der Gebietsverluste in Syrien und im Irak die Anzahl der Anschläge des IS zurückgegangen war, nahmen aufgrund dessen Konsolidierung im Untergrund sowohl die Anschlagsquantität als auch die -qualität wieder zu. Obwohl sich hinsichtlich der IS-Propaganda Qualität und Quantität spürbar verringerten, drang die Kernbotschaft des IS zu (potenziellen) Anhängern und Sympathisanten durch. Von nicht unerheblicher Bedeutung war dabei die Vervielfältigung der Propaganda durch IS-Sympathisanten, die ohne Verbindung zu der Terrororganisation jihadistische Inhalte individuell verfassten und aus eigenem Antrieb über das Internet verbreiteten. Hierbei wurden Nachrichten über den IS sowie dessen Verlautbarungen emotional kommentiert. Insbesondere die Reaktionen auf Kämpfe in Baghuz (Syrien), der letzten Hochburg des IS, und auf die im September veröffentlichte erste Videobotschaft al-Baghdadis seit über fünf Jahren stachen dabei heraus. Verstärkt wurde der gewaltsame Jihad gegen diejenigen "Feinde" des "Kalifats" propagandiert, die sich an Anti-Terror-Operationen gegen den IS beteiligten oder der Anti-IS-Allianz anschlossen. Die intensivierten Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden in Deutschland sowie des Militärs in der Konfliktregion erschwerten offensichtlich bestehende oder geplante Anschlagsbemühungen von IS-Terrorzellen erheblich. Vor diesem Hintergrund sowie angesichts der jihadistischen IS-Propaganda und -Anleitung zu entsprechend motivierten Angriffen verlagerte sich der Trend hin zu Einzelakteuren, die Terroraufrufe aufgriffen und - ohne Einbindung in Zellenstrukturen - versuchten, Anschläge vorzubereiten. Für die Sicherheitsbehörden war es eine große Herausforderung, diese vom IS oft unabhängig agierenden Personen vor der Umset220 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS zung eines Anschlags zu identifizieren. Nur in seltenen Fällen lagen zu den Akteuren bereits über einen längeren Zeitraum auf Tatsachen basierende Erkenntnisse vor, die eindeutig auf die Absicht hinwiesen, dass ein Anschlag unmittelbar bevorstand. Oftmals handelte es sich um IS-Sympathisanten, die nur mittelbar in Kontakt mit der Terrororganisation standen oder erst ab einem gewissen Zeitpunkt ihrer jihadistischen Radikalisierung und bei Konkretisierung ihrer Anschlagspläne den direkten Kontakt zum IS herstellten. Jihadistisch motivierte anschläge auf Sri Lanka und in europa | Im Vergleich zu den Vorjahren ging die Zahl der Anschläge mit jihadistischem Hintergrund zurück. Die folgende Kurzdarstellung beschränkt sich auf besonders schwerwiegende Taten: * colombo, negombo und Batticaloa (Sri Lanka), 21. april: Am Ostersonntag begingen sieben IS-Angehörige koordinierte Bombenanschläge auf Kirchen und Hotels, wobei es ihr Ziel war, möglichst viele Menschen zu töten. So wurden die Kirchen während der Ostergottesdienste und die Hotels während der Frühstückszeit angegriffen. Die Anschläge kosteten 253 Menschen das Leben, mehr als 500 wurden zum Teil schwer verletzt. Der IS veröffentlichte im Anschluss ein Video, in dem die Attentäter ihm die Treue schworen und diesem die Anschläge widmeten. * Lyon (Frankreich), 24. Mai: In der Fußgängerzone explodierte ein Sprengsatz, der 13 Menschen leicht verletzte. Drei Tage nach dem Anschlag nahm die französische Polizei den mutmaßlichen Täter fest. Er gestand die Tat und bekannte sich zum IS. * Paris (Frankreich), 3. oktober: Mit einem Messer tötete ein Mitarbeiter der Pariser Polizeidirektion vier Kollegen und verletzte einen fünften schwer, bevor er selbst von einem Polizisten erschossen wurde. Der Täter war ein langjähriger Mitarbeiter der Präfektur, war zum Islam konvertiert und hatte unter anderem das islamistisch motivierte Attentat auf das Satiremagazin Charlie Hebdo im Jahr 2015 gerechtfertigt. abu Bakr al-Baghdadi getötet | Im Rahmen einer Militäroperation der amerikanischen Streitkräfte wurde al-Baghdadi, der Anführer des IS, am 26. Oktober getötet. Nach dem Verlust des territorialen "Kalifats" setzte dies die Terrororganisation noch weiter unter Druck. Vier Tage später bestätigte die IS-Führung den Tod al-Baghdadis und rief mit Abi Ibrahim al-Hashimi al-Quraschi einen neuen "Kalifen" aus. Einzelne IS-"Provinzen" veröffentlichten anschließend Videos, in denen Anhänger dem neuen "Kalifen" ihre Treue bekundeten. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 221 ISLAMISMUS eReIGnISSe/entwIckLunGen IM PoLItIScHen SaLaFISMuS So wie es sich seit dem Sommer 2018 angekündigt hatte, waren im Berichtsjahr keine aktivitäten des "we-Love-Muhammad"-Projekts mehr zu verzeichnen. die Betreiber des Projekts hatten nur wenige akteure zu akquirieren vermocht und es war ihnen nicht gelungen, die Strukturen in Hessen über das Rhein-Main-Gebiet hinaus dauerhaft auszubauen. Im Moscheeverein dar al Salam e. V. fanden weiterhin aktivitäten und Predigten im Rahmen des politischen Salafismus statt. aktivitäten des Moscheevereins dar al Salem e. V. | Der 2015 in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) gegründete Moscheeverein Dar al Salem e. V. betrieb eine Moschee im Marburger Stadtteil Richtsberg und unterhielt mehrere Auftritte in den sozialen Medien. Dass der Moscheeverein politisch-salafistische Bestrebungen verfolgte, war anhand der Predigten des Imams erkennbar. Mittels der Predigten wird die Umsetzung und Verwirklichung von Predigtinhalten forciert, die sich gegen die Grundsätze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung richten. Das Islamverständnis des Dar al Salem e.V. ist exklusivistisch-salafistischer Prägung. In den Predigten wird ein dualistisches Weltbild vermittelt, in dem sich Muslime und Nichtmuslime in Feindschaft gegenüberstehen. Diese Zweiteilung der Welt wird dogmatisch zugespitzt, indem suggeriert wird, dass man dem in den Predigten normativ vorgeschriebenen Islamverständnis folgen müsse, um als Muslim gelten zu können. In den Predigten wird betont, dass man ausschließlich der Prophetentradition (arab. sunna) des Propheten Muhammad und den frommen Altvorderen im Islam folgen solle, da dies den "wahren" Islam ausmache. Dabei würden das Handeln und die Taten des Propheten Muhammad und der frommen Altvorderen nicht nur als historisches Vorbild dienen, sondern müssten als Handlungsanweisung für die gegenwärtige Situation interpretiert werden. Gemäß den Predigtinhalten des Dar al Salem e. V. seien Neuerungen im Islam generell verboten und würden ins Höllenfeuer führen. Die Forderung nach ausschließlicher Ausrichtung an dem Propheten und den frommen Altvorderen im Islam und die Ablehnung jeglicher Neuerung im Islam stehen bei dem Dar al Salem e. V. für ein salafistisches Islamverständnis. 222 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS entSteHunG/entwIckLunG Salafismus als Bezeichnung für die anhänger einer islamistischen Strömung ist erst seit anfang der 2000er Jahre verstärkt in das Interesse der Forschung und Sicherheitsbehörden gerückt. die wortbedeutung leitet sich aus dem arabischen Begriff salaf (dt. altvorderer) ab und prägt den terminus bis heute. Salafisten glorifizieren die islamische ära (etwa 610 bis 850) der altvorderen, die das Leben des Propheten Muhammad und seiner anhängerschaft in drei Generationen fasst, als zeitalter des unverfälschten Islams ("goldene epoche"). In rigider Form stellen Salafisten allah als ursprung und zentrum aller rechtlichen wie moralischen Fragen in den Mittelpunkt ihres Glaubens. die genaue Herkunft des Begriffs Salafismus in der Bedeutung einer religiösen wie sozialen Bewegung lässt sich nicht eindeutig zurückverfolgen. Ideengeschichtlich hat der Begriff seit dem 14. Jahrhundert verschiedene entwicklungen durchlaufen. aktuell fasst das Phänomen Salafismus das Personenpotenzial einer im Islamismus aktiven Strömung zusammen, die sich durch zum teil erhebliche differenzen im auslegen und ausleben ihres Islamverständnisses kennzeichnet. AUF EINEN BLICK * Vorbildfunktion der islamischen Frühgeschichte * Homogene überzeugung - heterogene zusammensetzung * Salafismus in deutschland Vorbildfunktion der islamischen Frühgeschichte | Salafisten gehören konfessionell dem sunnitischen Islam an und richten ihre Glaubenslehre nahezu wortwörtlich am Koran und den überlieferten Bräuchen und Traditionen (arab. sunna) des Propheten Muhammad aus. Salafisten entwickeln in Anlehnung an die islamrechtliche Methodologie der Religionspraxis eine eigene Methode (arab. manhaj), die sie aus ihrer Glaubenslehre ableiten und im Einklang mit ihr praktizieren. Im Gegensatz zu der übrigen islamischen Glaubenstradition sind Salafisten davon überzeugt, dass ausschließlich in der Epoche der frommen Altvorderen (arab. as-salaf as-salih) im 7. Jahrhundert die reine und unverfälschte Form des Islams praktiziert worden sei. Die drei ersten Generationen um den Propheten Muhammad nehmen im sunnitischen Islam wegen ihrer Nähe zu ihm und seiner Lebensweise generell eine hohe Bedeutung ein. Im Salafismus wird dieses Zeitalter theologisch überhöht und ideologisch als vorbildliches Lebensmodell propagiert. Da es sich bei den frommen Altvorderen nicht um eine Bewegung oder ein klar definiertes Konzept handelte, gestaltete sich dieser Rückgriff auf sie - je nach historischen, politischen, gesellschaftlichen und Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 223 ISLAMISMUS intellektuellen Umständen - sehr unterschiedlich und führte in der Moderne zu stark divergierenden Interpretationen und verschiedenen - teils widersprüchlichen - Strömungen innerhalb des Salafismus. Homogene überzeugung - heterogene zusammensetzung | Obwohl das salafistische Islamverständnis grundsätzlich eine klare Doktrin entwickelte, bildeten sich im Verlauf der Zeit unterschiedliche Auslegungen und Praktiken heraus. Gerade die in bewusster Ablehnung der vier anerkannten sunnitischen Rechtsschulen (arab. im Singular madhab) angewandte individuelle Interpretation (arab. ijtihad) der islamischen Primärquellen führte wiederholt zu einer ideologischen Fragmentierung salafistischer Sichtweisen. Dies hemmte gleichzeitig die Verschmelzung zu einer homogenen - in ihrer Theologie vereinten - globalen religiösen Bewegung. Sowohl die Anhänger des Salafismus als auch des Wahhabismus berufen sich abseits der islamischen Hauptquellen im Wesentlichen auf bestimmte Werke der historischen Islamgelehrten Ahmad Ibn Hanbal (780-855), Taqi alDin Ahmad Ibn Taimiya (1263-1328) und Muhammad Ibn Abd alWahhab (1703-1792). Die Schriften dieser Gelehrten und ihrer Zirkel ziehen Salafisten bis heute als Legitimationshilfe für ihr Islamverständnis heran. Dabei ignorieren sie die kultische und kulturelle Mehrdimensionalität des Islams. Die bewusste Abgrenzung von islamrechtlich etablierten Meinungen sowie die theologische Maxime der individuellen Auslegung ließen zudem salafistische Lehrzirkel entstehen, die oftmals nur aus wenigen Schülern und einem Mentor bestehen. Salafismus in deutschland | In Deutschland wurden salafistische Prediger etwa seit 2002 aktiv und begannen, überregionale Missionierungsnetzwerke aufzubauen. Einige Prediger dieser ersten Generation erhielten ihre religiöse Ausbildung an Universitäten in Saudi-Arabien, was sich in ihrer Interpretation der islamischen Glaubenslehre nach wahhabitischer Lesart widerspiegelt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sie die Loyalität gegenüber dem saudischen Königshaus teilen, die traditionelle wahhabitische Gelehrte auszeichnet. Da es auch innerhalb des Wahhabismus heterogene Lehrmeinungen gibt, berufen sich salafistische Akteure in Deutschland auf unterschiedliche Gelehrte und vertreten daher unterschiedliche Positionen, etwa in Bezug auf die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Anwendung von Gewalt erlaubt ist. Anders als die Prediger der ersten Generation hat die wachsende Anzahl der gegenwärtigen Unterstützer und Sympathisanten des Salafismus oftmals keine religiöse Ausbildung an Universitäten erhalten, sondern schöpft ihr "Wissen" aus Islamseminaren in Deutschland, Internetpredigten und privaten Lerngruppen. 224 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS IdeoLoGIe/zIeLe der Salafismus stellt innerhalb des Islamismus eine Strömung dar, die sich insbesondere durch ihre doktrinäre auffassung des Islams hervorhebt. die regional verhaftete, streng konservative sunnitische Islamauslegung des wahhabismus beeinflusste die zeitgenössische salafistische doktrin nachhaltig. die salafistische Glaubenslehre (arab. 'aqida) absorbierte einzelne wahhabitische Glaubensgrundsätze und ergänzte diese um eigene theologische elemente. AUF EINEN BLICK * Selbsternannte Bewahrer eines reinen Islams * Strikter Monotheismus im zentrum der salafistischen doktrin * Verfassungsfeindliche Prinzipien der salafistischen Glaubenslehre * Politischer Salafismus * Jihadistischer Salafismus Selbsternannte Bewahrer eines reinen Islams | Kulturelle Einflüsse, die den Islam seit seiner Verbreitung im 8. Jahrhundert fortwährend geprägt haben, werden in der salafistischen Islamauslegung als schädigende und gleichermaßen als unerlaubte Neuerung (arab. bid'a) stigmatisiert, da sie nicht der normativen bzw. islamrechtlich verbindlichen Vorbildfunktion der Prophetentradition entsprächen. Im Salafismus ist der Handlungsspielraum menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten genau auf die "Goldene Epoche", das heißt die ersten drei Generationen der Muslime nach dem Propheten Muhammad, begrenzt. Er begreift sich gleichzeitig als ewige Bastion gegen verschiedene theologische und kulturelle Entwicklungen im Islam. Das Zeitalter der Prophetentradition bildet für Salafisten somit den theologisch verbindlichen Bezugspunkt zum uneingeschränkten Monotheismus (arab. tauhid), den es unter allen Umständen vor Unglauben (arab. kufr) und Polytheismus (arab. shirk) zu schützen gelte. Dieses Zeitalter ist gleichzeitig auch der moralische und rechtliche Maßstab für das menschliche Dasein und Handeln in der Gegenwart zur Erfüllung des göttlichen Willens. Selbst in traditionellen islamischen Verehrungsriten sehen Salafisten die Universalität und Einmaligkeit Allahs angegriffen. Auch weltliche Institutionen wie Gerichtsbarkeiten, die nicht vollständig der salafistischen Auslegung der islamischen Rechtsund Verhaltensnormen (arab. shari'a) unterworfen sind, werden als Götzendienst (arab. taghut) abgelehnt. Strikter Monotheismus im zentrum der salafistischen doktrin | Im Mittelpunkt der salafistischen Glaubenslehre steht das unerschütterliche Bekenntnis zu einem Gott. Nahezu identisch mit wahhabitischen Auslegungen fassen Salafisten die in den islamischen Glaubensquellen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 225 ISLAMISMUS benannten Attribute Allahs wortwörtlich und nicht metaphorisch auf. Der salafistischen Glaubenslehre zufolge kategorisiert sich die Unterwerfung unter Allah in drei Bereiche der Huldigung. Zu ihnen zählt die universale Herrschaft Allahs, die göttliche Einzigartigkeit sowie die Einmaligkeit der Namen und Attribute Allahs. Den Wesenskern der salafistischen Doktrin bildet dieses tauhid-Verständnis, das es unter allen Umständen vor inneren wie äußeren Verzerrungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schützen gelte. Verfassungsfeindliche Prinzipien der salafistischen Glaubenslehre | Das salafistische Selbstverständnis zeichnet das Bild eines frommen Muslims, der - in Bescheidenheit und Zurückgezogenheit - sein Leben der ewigen Suche nach der Wahrheit im Islam widmet. Salafisten verstehen sich als Bestandteil der sogenannten erretteten bzw. auserwählten Gruppe (arab. at-ta'ifa-al-mansura und al-firqa-an-najiya). Einzig die Anhänger des wahren Islams sollen laut einer Überlieferung (arab. hadith) der islamischen Heilslehre am Tag des Jüngsten Gerichts vor Allah bestehen. Aus der Überzeugung, einer elitären Gruppe wahrer Muslime anzugehören, resultiert das moralische Überlegenheitsgefühl der Salafisten gegenüber Andersdenkenden. Aus diesem Grund fühlen sich Salafisten dazu berufen, das soziale Umfeld gemäß ihrer Überzeugung zu erziehen und nachhaltig zu verändern. Besonders deutlich wird der soziale Verhaltenskodex im Salafismus anhand der Forderung der Einhaltung islamischer Prinzipien, die gemäß der salafistischen Doktrin einen Leitmotivcharakter aufweisen. Salafisten streben danach, den Islam von vorgeblich schädigendem Einfluss zu bereinigen. Dementsprechend versuchen sie sowohl die theologische Lehre im Islam als auch die Gesellschaft als Ganzes gemäß ihrer Doktrin zu gestalten. Indem anderen Muslimen das Rechte geboten und das Schlechte verboten (arab. al-amr bi-l-ma'ruf wa nahy 'an al-munkar) wird, können Salafisten neben der theologischen Lehre somit auch erheblichen sozialen Einfluss ausüben. Salafisten folgen dem Prinzip der Loyalität und Lossagung (arab. al-wala'-wa-l-bara'), um sich durch das klare Bekenntnis zu ihrer Glaubensauslegung demonstrativ von allen anderen Glaubensformen oder vermeintlich Ungläubigen zu distanzieren. In der Nähe zu anderen Glaubensgemeinschaften sehen Salafisten die Gefahr, den eigenen Glauben im engeren Sinne zu verzerren und den Islam im weiteren Sinne zu verderben. Das Abgrenzungsprinzip al-wala'-wa-l-bara' bietet somit den Platzhalter für viele Formen der Fremdenfeindlichkeit und mündet oftmals in der islamtheologisch umstrittenen Praxis, einen Muslim für ungläubig zu erklären (arab. takfir), wenn Salafisten andere Muslime 226 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS aufgrund angeblich frevelhafter Religionsausübung oder anderer Verfehlungen als Nichtmuslime brandmarken. Darüber hinaus vertieft das Prinzip der offensiven Lossagung den Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten, wobei Salafisten letztere den Makel angeblich unwürdiger Muslime zusprechen. Aus dem bedingungslosen Befolgen der salafistischen Doktrin können somit verfassungsfeindliche Bestrebungen gegen die Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung resultieren. Der Bestrebungscharakter im Salafismus ist prinzipiell totalitär, da das Diesseits nach seinen normativen Maßstäben zur Ehrung und Wahrung des Islams zu formen ist. Diese salafistische Doktrin enthält die idealisierte Vorstellung einer Welt, die den Anforderungen des "wahren Islams" vollumfänglich gerecht werden will: gesamtgesellschaftlich, global und konsequent gelebt bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Jedoch lässt sich innerhalb des Salafismus keine synchronisierte, homogene Bestrebung zu diesem Ziel hin feststellen. Idealvorstellung und reale Verhältnisse unterliegen Wechselwirkungen, die sich stets auf das salafistische Islamverständnis in Abhängigkeit von Zeit und Ort ausgewirkt haben. Somit ist die salafistische Doktrin in unzählige "Etappenziele" unterteilt, die ihrerseits dem Wandel veränderter religiöser Prioritäten im Bezug zur Gegenwart unterliegen. Dies setzt entsprechende Bestrebungen im Sinne eines sozial-reformistischen bis hin zu revolutionären Umbruchs voraus, die jedoch aufgrund der verschiedenen weltweiten Erscheinungsformen des Salafismus nicht pauschal bei jedem Anhänger in gleicher Weise ausgeprägt sind. Ungeachtet dessen würde die Implementierung einer salafistischen Gesellschaftsordnung in Deutschland am ehesten mit einem Gottesstaat vergleichbar sein und gleichzeitig die Abschaffung bzw. Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bedeuten. Politischer Salafismus | Der politische Salafismus ist in der Regel von gewaltlosen Aktivitäten gekennzeichnet. Das salafistische Islamverständnis verlangt, die Reinheit des Islams zu bewahren und seine Authentizität wiederherzustellen, wo es notwendig erscheint. Salafisten sehen sich dazu berufen, das im Laufe der Jahrhunderte angereicherte islamische (Gelehrten-)Wissen zu bereinigen (arab. tasfiya), um daraus auch Konsequenzen abzuleiten, so etwa bei der Verbreitung der bereinigten Botschaften in Erziehung und Kultivierung (arab. tarbiya) gegenüber anderen Personen. Daher nutzen politische Salafisten überwiegend gewaltlose Formen der religiösen Erziehung und der im Hintergrund - ohne politisches Aufsehen erregenden - tätigen Beratung (arab. nasiha). Auf diese Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 227 ISLAMISMUS Weise wollen sie ihr Umfeld auf den angeblich wahren Weg Allahs zurückführen und zum Übertritt zum Islam nach ihrem Verständnis bekehren (arab. da'wa). Grundsätzlich meiden Salafisten das politische Engagement, um die Reinheit der Doktrin des tauhid zu erhalten und vor angeblich islamfremden Einflüssen zu schützen. Salafisten sind daher weder parteipolitisch noch in vergleichbarer Form im öffentlichen Diskurs für gesamtgesellschaftliche Gestaltungsprozesse aktiv. Dennoch kann die salafistische Doktrin auf gesamtgesellschaftliche Bereiche einwirken und somit politischen Einfluss entwickeln. Der Einsatz von Gewalt ist bei politischen Salafisten nicht kategorisch auszuschließen, stellt jedoch im Kontrast zu den Anhängern des globalen Jihadismus nicht per se ihr islamrechtlich bevorzugtes Mittel zur Veränderung der Verhältnisse dar. Jihadistischer Salafismus | Jihadistische Salafisten teilen zentrale Glaubensprinzipien des politischen Salafismus, bilden daraus jedoch Legitimationen für eigene Handlungsmuster. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal ergibt sich aus dem Verhältnis zur Gewalt. Der Anstrengung für Allah (arab. jihad) messen Jihadisten eine gewaltorientierte, aktiv-kämpferische Komponente bei, die zur individuellen Glaubenspflicht erhoben wird und dadurch in ihrer Perspektive die Durchsetzung revolutionärer und umstürzlerischer Zwecke rechtfertigt. Entgegen der politisch-salafistischen Agenda sehen Jihadisten primär in der Gewaltanwendung die Möglichkeit, "Tyrannen" und "Ungläubige" zu bekämpfen. Verhaftet in den islamischen Überlieferungen vom Tag des Jüngsten Gerichts, streben Jihadisten nach der Auslöschung aller unislamischen, ungläubigen Elemente, die sie in Regierungen, anderen Religionen und auch islamischen Glaubensgemeinschaften verkörpert sehen. Der gewaltsame sogenannte kleine jihad nimmt in den ideologischen Auffassungen der verschiedenen Gruppen, die insgesamt den globalen Jihadismus bilden, unterschiedliche Formen an und wird entsprechend vielfältig legitimiert und angewendet. Somit zielen jihadistische Salafisten im Gegensatz zum politischen Salafismus auf die gewaltsame Beseitigung bzw. Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder nehmen bewusst deren Schädigung in Kauf. BeweRtunG/auSBLIck Politischer Salafismus | In der Öffentlichkeit gingen die Aktivitäten im Bereich des politischen Salafismus seit 2015 kontinuierlich zurück. So kam etwa das Werben für das Projekt "We Love Muhammad" vollends zum Erliegen. Eine ähnliche Entwicklung ließ sich in Bezug auf öffentliche salafistische Predigten und damit verbundene hoch frequentierte Zusammenkünfte der entsprechenden Sympathisanten und Anhänger feststellen. Zunehmend wichen salafistische Gelehrte 228 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS und Prediger auf private Bereiche aus und nutzten weiterhin die sozialen Medien für ihre Aktivitäten. Insgesamt verschwanden islamistische Aktivitäten, die dem Bereich des politischen Salafismus zuzurechnen sind, nahezu vollständig aus dem öffentlichen Raum in Hessen. Die stark rückläufige Anzahl öffentlicher Auftritte von Salafisten ist jedoch nicht mit einem Rückgang der Anhängerzahl gleichzusetzen. Unverändert hält die politisch-salafistische Szene die Anhänger in ihren Reihen. Jihadistischer Salafismus | Die Gefahr eines jihadistischen Terroranschlags war in Deutschland unvermindert hoch. Solange es dem IS und anderen jihadistischen Gruppierungen weiterhin gelingt, ihre Botschaften und Ideologien insbesondere über die sozialen Medien weltweit zu verbreiten, ist nicht mit einer abnehmenden Anschlagsgefahr zu rechnen. Da jihadistische Gruppierungen weiterhin danach streben, eine islamische Gesellschaft - häufig als "Emirat" oder "Kalifat" bezeichnet - zu etablieren, haben für sie Syrien und weite Teile der Levante (Länder am östlichen Mittelmeer) eine unvermindert große ideologische Bedeutung. Nach jihadistischer Lesart erfüllen sich hier die apokalyptischen Verheißungen und Voraussagen islamischer Überlieferungen, das heißt die Voraussagen in Bezug auf den Tag des Jüngsten Gerichts. Anpassungsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit der Akteure des weltweiten Jihadismus müssen auch in Zukunft sehr genau beobachtet und analysiert werden, um entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Der weltweite Jihadismus besticht in den Augen seiner Anhänger in erster Linie durch seine klare Ideologie, die einerseits die freie Religionsausübung des Islams garantiert und andererseits sowohl moralische als auch politische Feinde zum Schutz des Islams gnadenlos bekämpft. Das Gros der Gefolgschaft bildet sich letztlich aus ideologisierten Anhängern; die Idee einer gemäß salafistischen Prinzipien konzipierten Welt bietet aber auch Nischen für Menschen, die glauben, in diesen Strukturen besser zurechtkommen zu können, als andernorts, wo sie sich unterdrückt fühlen. Es sind daher nicht nur Organisationen oder Gruppen, die den Jihadismus entstehen lassen, sondern vor allem dessen propagandistische ideologische Überzeugungskraft formiert diese Gruppen und wird weiterhin eine breite Anhängerschaft anziehen. Das Zerschlagen von jihadistischen Terrorzellen und -netzwerken hemmt kurzbis mittelfristig den Aufbau jihadistischer Strukturen, kann jedoch nicht die dahinterstehende Ideologie zerstören. Eine maßgebliche Aufgabe des LfV ist es, Radikalisierungsund daraus Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 229 ISLAMISMUS entstehende Gefahrenpotenziale sowie die entsprechenden Akteure rechtzeitig zu erkennen. Darüber hinaus ist es das Ziel des LfV, mittels seiner Präventionsarbeit der Verbreitung des salafistischen/jihadistischen Gedankenguts entgegenzuwirken. HIzB ut-taHRIR (Hut, PaRteI deR BeFReIunG) DEFINITION/KERNDATEN weltweit ist die Hut in über 40 Staaten mit etwa einer Million Führung : Mitgliedern präsent. ziel der panislamischen organisation ist Ata Abu al-Rashta, alias Abu Yasin die "Befreiung" aller Muslime von "unterdrückung" und deren VerAnhänger: einigung in einem weltweiten "kalifat" mit islamischer RechtsordIn Hessen etwa 80, nung. aus Sicht der Hut haben "unterdrückte Muslime" das Recht bundesweit etwa 430 auf "Selbstverteidigung" mit allen Mitteln. als konsequenz billigt Medien : die Hut oftmals Gewalttaten anderer islamistischer Gruppierungen. Mehrsprachige Internetpräsenzen 2003 sprach der Bundesminister des Innern ein Betätigungsverbot gegen die Hut aus, das der europäische Gerichtshof für Menschen- \ rechte 2012 bestätigte. dennoch setzen anhänger der organisation ihre Rekrutierungsbemühungen im untergrund fort. Insbesondere in sozialen netzwerken gibt es zahlreiche Gruppierungen mit Bezügen nach Hessen, die eine ideologische nähe zur Hut aufweisen. Hierzu gehört die in Mörfelden-walldorf (kreis Groß-Gerau) ansässige Gruppierung Realität Islam (RI). eReIGnISSe/entwIckLunGen die Gruppierung RI war unter dem Leitspruch "erhebe deine Stimme gegen die wertediktatur" schwerpunktmäßig in den sozialen Medien aktiv. Bis zum ende des Berichtszeitraums wurde die RIFacebook-Seite von etwa 35.000 Personen geliked bzw. abonniert, der youtube-kanal mit 335 Videos hatte etwa 12.000 abonnenten und wurde seit november 2015 etwa 840.000 Mal aufgerufen. der Instagram-account hatte etwa 9.000, der twitter-account 2.500 Follower. die RI-Internetseite war etwa seit Mai/Juni nicht länger abrufbar. AUF EINEN BLICK * Öffentliche Veranstaltungen * Flugblattaktionen * "Stellungnahme: Sogenannter ,Islamunterricht' an den Schulen Hessens" * kampagne "deine Stimme gegen das kopftuchverbot"/ "#kopftuchunserepflicht" 230 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS Öffentliche Veranstaltungen | Die Gruppierung RI nutzte im Berichtsjahr ihre Räumlichkeiten in Mörfelden-Walldorf (Kreis Groß-Gerau) für öffentliche Veranstaltungen. So fanden sogenannte Themenabende statt: am 25. Januar ("Richtige und falsche Empathie") und am 15. März ("Die Hinrichtung der Muslime in den Moscheen Neuseelands! Was bedeutet das für uns?"). Am 26. April lud RI zu der Veranstaltung "Zeitgeist Tue das Richtige zur rechten Zeit!" (Schreibweise wie im Original) ein. Eine weitere Veranstaltung anlässlich des Fastenbrechens am 11. Mai unter dem Titel "Meine Entscheidung unsere Konsequenzen!" richtete sich, da nicht genügend Platz vorhanden war, ausschließlich an Männer. Insgesamt war es das Ziel von RI, Interessierte kennenzulernen und deren "Sorgen und Anliegen aus erster Hand" zu erfahren. Hierzu sollten - außerhalb der sozialen Medien - persönliche Treffen im Rahmen von Workshops, Vorträgen, Themenabenden, offenen Gesprächen in Veranstaltungssälen, Moscheen, Vereinsräumen und Privatwohnungen dienen. Flugblattaktionen | Parallel zu den sozialen Medien versuchte die Gruppierung RI auch im realen Umfeld ihre Botschaften zu verbreiten. Zu diesem Zweck führte RI im Berichtsjahr insgesamt vier Flugblattaktionen durch: "Die Blutspur führt nach Europa" (März), "Kopftuchverbot für unsere Töchter" (Mai), "Unsere Kinder im Visier" (Juni) und "Nächster Anschlag deine Moschee?" (August). Die entsprechenden Verteilungen fanden schwerpunktmäßig anlässlich der Freitagsgebete in der Nähe von Moscheen im Rhein-Main-Gebiet statt. Darüber hinaus wurden Flugblätter in Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Berlin, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein verteilt. Mit Bezug auf die Anschläge auf Moscheen in Christchurch in Neuseeland (15. März) und in Oslo in Norwegen (12. August) hieß es unter anderem in den Flugblättern: "Sie [i. e. Rassemblement National, AfD, FPÖ, Pegida, IB, Henrik M. Broder, Hamed Abdel-Samed] sind alle Teil eines weit gespannten Netzwerks, das die Polarisierung der Gesellschaft vorantreibt und den Islam als existenzielle Bedrohung darstellt. Unterstützt werden sie dabei von der hiesigen Presse, die ihnen beinahe täglich eine Plattform für ihre geistige Brandstiftung bietet. Mit ihrer Polemik fungieren sie als Tabubrecher, die die Grenzen des Sagbaren permanent verschieben, im Dienste einer breit angelegten Strategie, einer gefährlichen Agenda: die Errichtung einer Wertediktatur! Denn es war die totalitäre Integrationspolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte, welche die weltanschauliche Unterschiedlichkeit der Muslime als vermeintliches Problem identifiziert hat. Zahlreiche Maßnahmen wie Gebetsund Kopftuchverbote, fortwährende Debatten um angebliche Parallelgesellschaften und, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 231 ISLAMISMUS radikale' Moscheen, all dies ist darauf ausgerichtet, die islamische Identität zu zerstören und den Druck auf die in Deutschland lebenden Muslime zu erhöhen! [...] Die Blutspur führt nach Europa! Daher kann die Antwort von Politik und Medien nicht bloß in der Verurteilung dieser Terroranschläge bestehen. Vielmehr müssen die Verantwortlichen ihre repressive Integrationspolitik und die gefährliche Utopie einer weltanschaulich homogenen Gesellschaft unverzüglich aufgeben. Geschieht dies nicht, ist es nur eine Frage der Zeit, bis der kommende Tarrant Muslime tötet und der nächste Breivik vermeintliche Kollaborateure in das Visier seines Maschinengewehrs nimmt!" ("Die Blutspur führt nach Europa".) In dem Flugblatt "Nächster Anschlag deine Moschee?" beklagte RI den "Hass gegenüber dem Islam und den Muslimen, welcher jahrelang durch Politik und Medien gezielt in die Gesellschaft hineingetragen" worden sei: "Um die vermeintliche Invasion muslimischer Eroberer abzuwehren, sehen sich immer mehr Bürger in der Pflicht, selbst zur Tat oder gar zur Bluttat zu schreiten. Attentäter [...] sind nicht einfach nur Rechtsextreme, sie sind Islamhasser und das unausweichliche Resultat einer totalitären Integrationsbzw. Assimilationspolitik". RI bemühte sich darüber hinaus um eine Annäherung an Verbände und Moscheevereine. So warb die Gruppierung um deren Unterstützung beim Ausdruck und bei der Verteilung von Flyern. Diese wurden mehrsprachig (Deutsch, Englisch, Arabisch, Farsi und Türkisch) mit der Bitte veröffentlicht, sie auszudrucken und zu verteilen. So hieß es in dem Flugblatt "Unsere Kinder im Visier!": "Aus diesem Grund rufen wir jeden Muslim und im Besonderen all unsere Verbände, Moscheegemeinden und Entscheidungsträger dazu auf, sich schützend vor die islamischen Werte zu stellen. Die islamische Community muss all ihre Kräfte mobilisieren, damit die islamische Identität auch in der nächsten Generation erhalten bleibt!" "Stellungnahme: Sogenannter ,Islamunterricht' an den Schulen Hessens" | Im August erklärte der Hessische Kultusminister Alexander Lorz öffentlich, weiterhin Islamunterricht an hessischen Schulen anbieten zu wollen - islamische Kooperationspartner waren im Berichtsjahr die Diyanet Isleri Türk Islam Birligi (DITIB, Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.) und die Ahmadiyya Muslim Jamaat in der Bundesrepublik Deutschland e. V. -, wobei als Pilotprojekt im neuen Schuljahr mit etwa 150 Schülern der siebten Klassen ein Islamunterricht ausschließlich in staatlicher Regie einge232 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS führt werde. In einem auf Facebook am 27. August veröffentlichten Video kritisierte RI dieses Vorgehen: "Das Problem bei diesem Vorstoß des Ministeriums ist, dass man hier die Muslime [...] vollkommen außen vorgelassen hat. [...] Es bedeutet nichts Geringeres, als dass hier eine staatliche Instanz sich einfach die Deutungshoheit über das Selbstverständnis einer Religionsgemeinschaft zu eigen macht, ohne die Betroffenen in die Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen. Damit erhält dieser staatliche Islamunterricht den Anstrich eines reinen Staatsislams, eines Wunschislams der Behörden [...]. Die aufgeheizten Islamdebatten und der politisch getragene Angleichungswahn der Muslime an staatliche vorgegebene Denkmuster scheinen die verantwortlichen Akteure immer beratungsresistenter werden zu lassen. Denken die verantwortlichen politischen Entscheidungsträger ernsthaft, man könnte uns Muslimen durch ein paar suspekte Reformtheologen [...] oder durch die Vernetzung einiger Islamhasser [...] mal eben ein neues Islamverständnis einimpfen?" Vor diesem Hintergrund empfahl RI muslimischen Eltern, der Teilnahme ihrer Kinder am Islamunterricht eine Absage zu erteilen. kampagne "deine Stimme gegen das kopftuchverbot"/"#kopf - tuchunserepflicht" | Nachdem RI im Jahr 2016 die Muslime dazu aufgefordert hatte, ein Bekenntnis zur Burka abzulegen ("#BurkaUnsereIdentität") und 2018 mit etwa 165.000 Unterschriften die Kampagne "Deine Stimme gegen das Kopftuchverbot" durchgeführt hatte, griff die Gruppierung das Thema Kopftuchverbot im Oktober 2019 erneut auf. Hintergrund war ein von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände in Deutschland (BAGIV) für den Herbst angekündigtes "Gutachten zur Frage der Zulässigkeit eines Kopftuchverbotes für Minderjährige unter 14 Jahren", das seitens eines Mitglieds der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität Würzburg dann im März 2020 vorlag und ein solches Verbot für verfassungskonform hält. In dem RI-Flugblatt "Kopftuchverbot für unsere Töchter!" hieß es unter anderem: "Geliebte Muslime, als Realität-Islam rufen wir dazu auf, euch in aller Entschiedenheit gegen diese Bevormundung und Angriffe auf unsere Töchter zu stellen! [...] Nun sehen wir uns erneut mit einem Angriff auf unsere islamische Identität und Lebensweise konfrontiert! [...] In der Bundespolitik arbeiten Politik und Medien daran, die islamische Erziehung unserer Kinder zu kriminalisieren. [...] Es gilt, unsere Reihen zu schließen und entschlossene Maßnahmen einzuleiten, um unseren ungebrochenen Widerstand gegen die feindliche Assimilationspolitik zu demonstrieren!" (Schreibweise wie im Original) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 233 ISLAMISMUS entSteHunG/GeScHIcHte die Hut wurde 1953 im damals von Jordanien besetzten ostteil Jerusalems von dem palästinensischen Politiker und der Muslimbruderschaft (MB) nahestehenden aktivisten taqi ad-din an-nabhani (1909-1977) gegründet. AUF EINEN BLICK * Gründung in ost-Jerusalem * Betätigungsverbot in deutschland Gründung in ost-Jerusalem | Der Entschluss zur Gründung der HuT erwuchs aus der Unzufriedenheit an-Nabhanis und seiner Anhänger über die fehlende Unterstützung der MB für das palästinensische Volk im Kampf gegen Israel. Nach dem Tod an-Nabhanis trat in der HuT der Palästina-Bezug zugunsten der Forderung nach einem alle Muslime umfassenden "Kalifat" in den Hintergrund. In Deutschland verbreiteten HuT-Anhänger vor allem in Universitätsstädten Flugblätter und Zeitschriften mit antiisraelischen und "antiwestlichen" Inhalten. Betätigungsverbot in deutschland | Am 25. Januar 2006 bestätigte das Bundesverwaltungsgericht das am 10. Januar 2003 vom Bundesminister des Innern erlassene Betätigungsverbot gegen die HuT. In dem Urteil hieß es unter anderem, dass die HuT zur gewaltsamen Beseitigung des Staats Israel und zur Tötung von Menschen aufgerufen und dadurch der friedlichen Lösung der israelisch-palästinensischen Interessensgegensätze entgegengewirkt hat. In seiner Begründung verwies das Bundesverwaltungsgericht auch auf Art. 9 Abs. 2 GG, wonach Organisationen verboten werden, die sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten. IdeoLoGIe/zIeLe ziel der Hut ist die Vereinigung der weltweiten Gemeinschaft der Muslime (arab. umma) in einem Gottesstaat ohne nationale Grenzen unter der Führung eines kalifen. er soll die göttliche Rechtsordnung, das heißt die Scharia als Grundlage und Maßstab staatlichen Handelns, im kalifat verbindlich durchsetzen. Islam und demokratie sind für die Hut nicht miteinander vereinbar. AUF EINEN BLICK * Verschweigen extremistischer ziele * "Rechtgeleitetes kalifat" als Beleg für die "Richtigkeit und anwendbarkeit des Islams" 234 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS Verschweigen extremistischer ziele | Die Gruppierung RI weist eine ideologische Nähe zur HuT auf. Die islamistischen Ziele von RI und ihr ideologischer Hintergrund werden jedoch bei öffentlichen Aktivitäten verschwiegen. Erst die Lektüre der Publikation "Realität Islam[.] Eine Einführung[.] Gemeinsam für eine starke und bewusst agierende Gemeinschaft" offenbart das von RI propagierte Weltbild und die Widersprüche zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. "Rechtgeleitetes kalifat" als Beleg für die "Richtigkeit und anwendbarkeit des Islams" | So heißt es in der Publikation der Gruppierung RI, dass der Islam eine allumfassende Lebensordnung mit festgelegten Rechtsbeziehungen und einer eigenen Strafgesetzordnung sei. Diese Regelungen seien in Form eines Staatssystems auf die Menschen anzuwenden, wobei die Anwendung der Gesetzgebung Allahs eine unabdingbare Pflicht im Islam darstelle: "Ein islamisches System ist erst dann existent, wenn der Islam in allen Lebensbereichen - und somit auch in Staat und Regierung - zur Anwendung kommt. Dieser Realzustand führte zur falschen Auffassung, dass das islamische Leben [...] gegenwärtig nicht umsetzbar sei. Dies ist eine unter Muslimen bewusst verbreitete Irrmeinung, um sie in die Hoffnungslosigkeit und Resignation zu treiben". Allerdings müsse die "fundamentale Veränderung der gegenwärtigen prekären Situation" der Muslime in den islamischen Ländern beginnen, wo die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung muslimisch und von der Richtigkeit des Islams und seiner Rechtsprechung grundsätzlich überzeugt sei: "Entsteht dort ein rechtgeleitetes Kalifat mit einem korrekten islamischen Staatsund Gesellschaftssystem, wird es der gesamten Welt die Richtigkeit und Anwendbarkeit des Islam[s] im 21. Jahrhundert vor Augen führen". In einem von RI am 25. Februar auf YouTube eingestellten Video hieß es unter anderem: "Der Islam soll verändert und verfälscht werden! In Europa wurden deshalb u. a. die ,Islamischen Studien' an den Universitäten ins Leben gerufen. Ziel ist es, einen Islam zu verbreiten, der kompatibel zu den im Westen vorherrschenden Ideen und Werten ist. [...] Dabei basieren die Reformideen auf gravierenden Fehlverständnissen: 1. Die Reformen behaupten, der Islam müsse an die vorhandenen Zustände angepasst werden. Dabei ist es umgekehrt: Der vorhandene Zustand muss dem Islam angeglichen werden, denn der Islam ist normativ und kein Subjekt, das Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 235 ISLAMISMUS den Wünschen der Menschen entsprechend umgeformt werden kann. 2. Die Reformer behaupten, dass die Scharia bzw. die islamischen Rechtssprüche von Ort und Zeit abhängig wären. Dabei sind die Urteile von Allah (swt) und seinem Gesandten Muhammad (s) eine Rechtleitung für die gesamte Menschheit und gültig bis zum Tage des Gerichts. [...] Geehrte Muslime, wir dürfen niemals zulassen, dass der Islam verfälscht und verändert wird". StRuktuRen Hut-angehörige treten in deutschland wegen des Betätigungsverbots nicht offen in erscheinung. die Ideologie der Hut wird indes durch Gruppierungen in die Gesellschaft lanciert, die nicht mit der Hut gleichzusetzen sind, dieser jedoch zumindest nahestehen. AUF EINEN BLICK * "Virtuelle welt" - "Realwelt" * kontakte außerhalb Hessens "Virtuelle welt" - "Realwelt" | RI war zunächst eine in Facebook aktive Gruppierung, die eine ideologische Nähe zur HuT aufweist. Im Gegensatz zu anderen HuT-nahen Facebook-Gruppierungen bot RI jedoch regelmäßig Veranstaltungen in der "Realwelt" an und intensivierte diese Bemühungen im Berichtsjahr. kontakte außerhalb Hessens | Dass RI-Aktivisten - neben dem RheinMain-Gebiet - auch Flugblattverteilaktionen in anderen Bundesländern (Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Berlin, Niedersachsen, BadenWürttemberg und Schleswig-Holstein) durchführten, deutet darauf hin, dass es Kontakte zu Angehörigen der HuT-Szene außerhalb Hessens gab. BeweRtunG/auSBLIck Die Gruppierung RI nutzte soziale Medien und öffentliche Auftritte, um eine möglichst hohe Streuwirkung ihrer Ideologie in der muslimischen - insbesondere der sunnitischen - Religionsgemeinschaft zu erzielen. Dabei beanspruchte RI, alleiniger Vertreter "der Muslime" zu sein. Dies manifestierte sich insbesondere in der Kritik am Islamunterricht an hessischen Schulen, da die Gruppierung in einem am 27. August veröffentlichten Video verschwieg, dass das Hessische Kultusministerium in dieser Angelegenheit durchaus mit zwei islamischen Kooperationspartnern zusammenarbeitete. RI bemühte sich darüber hinaus allgemein um eine Annäherung an Verbände und Moscheevereine. So warb die Gruppierung um deren Unterstützung beim Ausdruck von Flugblättern und bei deren Ver236 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS teilung, wobei die Aktionen auch in den sozialen Netzwerken Resonanz erzielten. In ihren Flyern verwendete RI typisch islamistische Argumentationsmuster und projizierte diese auf Politik, Medien und gesellschaftliche Zustände in Deutschland. Ein Pauschalvorwurf lautete, gezielt "Hass gegenüber dem Islam und den Muslimen" verbreitet zu haben. Islamische Werte seien durch Assimilation und politische Fehlentscheidungen diskreditiert und der Islam generell zum "Feindbild" stilisiert worden. Hieraus resultierten, so RI, Anschläge gegen Muslime. "Die Schuldigen", die RI pauschal als politische Entscheidungsträger bezeichnete, seien zu identifizieren und ihrer Politik "ein Ende zu bereiten". Das Angebot, sich mit RI im Rahmen der Kampagne #meetRI persönlich zu treffen, ermöglichte es der Gruppierung außerdem, ihre Aktivitäten über das Rhein-Main-Gebiet hinaus auszuweiten. MuSLIMBRudeRScHaFt (MB)/ deutScHe MuSLIMIScHe GeMeInScHaFt e. V. (dMG) DEFINITION/KERNDATEN die MB ist in zahlreichen Staaten der welt, dabei in nahezu allen Ländern des nahen ostens, vertreten. Sie ist die einflussreichste und älteste islamistische Bewegung unter den Sunniten. Logo der MB ziel der MB ist die errichtung eines weltumspannenden Gemeinwesens als Gottesstaat auf der Grundlage von koran und Sunna. In Führung : deutschland ist die dMG die größte organisation, welche die IdeoMuhammad Badi (Ägypten) logie der MB vertritt. In anlehnung an ihre ägyptische MutterorgaAnhänger: nisation versucht die dMG, durch soziales und religiöses engageIn Hessen etwa 300, ment sowie durch dialogangebote akzeptanz in der Gesellschaft bundesweit etwa 1.040 zu finden. Letztlich zielen diese Versuche darauf ab, die Ideologie Zuzurechnende Organisatioder MB in deutschland gesellschaftsfähig zu machen. nen: Harakat al-Muqawama aleReIGnISSe/entwIckLunGen Islamiya (HAMAS, Islamische Widerstandsbewegung) in den Seit einem terroranschlag im april 2017 steht ägypten unter einem palästinensischen Autonomiegevon der Regierung verhängten ausnahmezustand, der unter der bieten (Gazastreifen) in Israel, Regierung des ägyptischen Präsidenten abdel Fattah el-Sisi mit inal-Nahda (Tunesien), al-Ikhwan al-Muslimum fi Suriya (Die tensivierten eingriffsbefugnissen für Militärund Sicherheitskräfte Muslimbrüder in Syrien) einhergeht. nach angaben von Menschenrechtsorganisationen befanden sich im Berichtsjahr rund 60.000 politische Gefangene in / ägyptischen Gefängnissen, darunter zehntausende angehörige der MB. Im Februar wurden neun Menschen hingerichtet, die beschuldigt wurden, der MB anzugehören und einen Staatsanwalt getötet Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 237 ISLAMISMUS zu haben. nachdem es im September zum ersten Mal seit Jahren zu größeren demonstrationen - verbunden mit Forderungen nach dem Rücktritt el-Sisis - gekommen war, machte der ägyptische Präsident feindliche Länder und den "politischen Islam" für die Proteste verantwortlich. Sie waren durch eine Reihe von Videos eines im spanischen exil lebenden ägyptischen Geschäftsmannes ausgelöst worden, der die korruption in ägypten anprangert hatte. dagegen löste der tod des inhaftierten Muslimbruders und ehemaligen ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi (2012-2013) am 17. Juni während einer Gerichtsverhandlung keine öffentlichen Proteste aus. AUF EINEN BLICK * Islamische Gemeinschaft in deutschland e. V. (IGd): umbenennung, umzug und klageverfahren * konferenz "die zukunft der Muslime in europa" * kinderund Jugendcamps * Reaktionen auf den tod Mohammed Mursis * "Islamleben - einheit in Vielfalt" * europäisches Institut für Humanwissenschaften in deutschland e. V. (eIHw) * Fatwa-ausschuss in deutschland * europäischer Rat der Imame gegründet Islamische Gemeinschaft in deutschland e.V. (IGd): umbenennung, umzug und klageverfahren | Im November 2017 hatte die Mitgliederversammlung der IGD ihre Umbenennung in Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG) beschlossen. Nachdem die neue Bezeichnung im Laufe des Jahres 2018 bei der Außendarstellung der DMG Verwendung fand, wurde die Umbenennung nach mehr als einem Jahr auch formal mit der Änderung des Vereinsregistereintrags am 19. Dezember 2018 abgeschlossen. Als Teil dieses Prozesses beschloss der Verein im Mai 2019, seinen Sitz von Köln (Nordrhein-Westfalen) nach Berlin zu verlegen. Mittels ihrer Umbenennung, ihres Umzugs und ihres neuen Corporate Designs bemühte sich die DMG offenkundig um ein neues Image, das durch Presseberichterstattung über Verbindungen der IGD zur MB Schaden erlitten hatte. In diesem Zusammenhang ist auch eine Klage der DMG gegen ihre Nennung im vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat herausgegebenen Verfassungsschutzbericht, die derzeit am LG Berlin anhängig ist, zu sehen. Am 1. Dezember forderte der ZMD die DMG auf, ihre Mitgliedschaft im ZMD ruhen zu lassen. Der ZMD-Vorsitzende erklärte: 238 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS "Wir bedauern diesen zwar schmerzlichen, aber auch notwendigen Schritt und bis zur gerichtlichen Klärung der gegen die DMG öffentlich erhobenen Vorwürfe - auch des Verfassungsschutzes - zur Zuordnung zum Netz der Muslimbruderschaft, gilt in unserem Rechtsstaat selbstverständlich auch für die DMG die Unschuldsvermutung". (Schreibweise wie im Original) konferenz "die zukunft der Muslime in europa" | Vom 2. bis 4. Januar fand in Köln (Nordrhein-Westfalen) die Konferenz "Die Zukunft der Muslime in Europa" statt. Unter den laut Veranstalter mehr als hundert Teilnehmern aus 17 Ländern befanden sich auch Mitglieder der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) sowie hochrangige Vertreter der MB aus dem Ausland und aus Hessen. Das Treffen diente der Vernetzung und der gemeinsamen Gestaltung der Programmatik verschiedener europäischer muslimischer Organisationen. Unter anderem wurde beschlossen, weitere derartige Treffen abzuhalten und eine Koordinierungsstelle in Ankara (Türkei) zu gründen. Nach der Veranstaltung, die unter der Schirmherrschaft der staatlichen türkischen Religionsbehörde DITIB stand, wurde im Internet eine 18 Punkte umfassende Abschlusserklärung veröffentlicht, in der es unter anderem - auch in Hinblick auf die Arbeit mit Jugendlichen - hieß: "8. Der Islam ist eine Religion des Friedens, der überall auf der ganzen Welt dieselben universalen Werte verteidigt und versucht, diese am Leben zu erhalten. [...] Daneben steht die Einschränkung des Islams, der durch adjektivische Bestimmung einer bestimmten Region oder einer Nation zugeschrieben wird - wie ,deutscher Islam', [...] im Widerspruch zur Universalität des Islams, der alle Epochen und Orte zugleich erleuchtet". "12. Heutzutage umschließen soziale Probleme zunehmend das Leben. In diesem Kontext ist die Auseinandersetzung mit Problemen, denen die Frauen und Jugendlichen ausgesetzt sind, als vorrangiges Ziel zu werten. In diesem Sinne ist es eine Notwendigkeit, sich mehr für die Erziehung von Generationen einzusetzen, die einen Beitrag zum Wohl der Menschheit leisten, und die das Ideal von Recht, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Frieden haben sowie einen authentischen Glauben, authentische Kenntnisse, ein reines Bewusstsein und einen tugendhaften Charakter haben. Schließlich sind Generationen, die fern von ihrem Glauben und ihrer Identität, sowie fern vom Bewusstsein der Gemeinde und der muslimischen Gemeinschaft (Umma) sind, offen für Missbrauch. Folglich sind die Zustände der Jugendlichen, die den Angriffen von islamophoben Strukturen schutzlos ausgeliefert sind, sowie die aufgrund fehlerhafter Informationen ausgenutzt und irregeführt werden, weil sie Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 239 ISLAMISMUS ihrem Glauben und ihrer Kultur ferngeblieben waren, dringend zu bearbeitende Anliegen". kinderund Jugendcamps | Um Kinder und Jugendliche frühzeitig in ihre Strukturen einzubinden, veranstaltete die DMG mehrere Kinderund Jugendcamps, so vom 12. bis 14. April das 14. Kindercamp der DMG-Region Mitte, zu der auch Hessen gehört, in Rheinböllen (Rheinland-Pfalz). Es richtete sich an Kinder im Alter von acht bis zwölf Jahren. In Langenscheid (Rheinland-Pfalz) veranstaltete die DMG-Region Mitte vom 19. bis 21. April ein Camp für Mädchen zwischen 13 und 18 Jahren. Vom 2. bis 4. August fand in Neu-Anspach (Hochtaunuskreis) ein Jungscamp für 13bis 18-Jährige statt. In Arnsberg (Nordrhein-Westfalen) bot die DMG vom 20. bis 29. Dezember das 8. Korancamp für 16bis 35-Jährige und vom 29. Dezember bis 3. Januar 2020 das erste Korancamp für 12bis 15-Jährige an. Darüber hinaus fand vom 4. bis 6. Oktober das 2. Frauencamp der DMG in Neu-Anspach statt. Reaktionen auf den tod Mohammed Mursis | In Deutschland reagierten die MB-Anhänger in der Öffentlichkeit eher verhalten auf den Tod des ehemaligen ägyptischen Präsidenten. Die DMG drückte in einer öffentlichen Erklärung ihre Bestürzung aus und rief die muslimischen Gemeinden dazu auf, Totengebete abzuhalten und dieses "traurige Ereignis und seine Tragweite zu thematisieren". Der Präsident der DMG, Khallad Swaid, erklärte, der Verlust Mursis stehe ",symbolhaft für die Krise, die das ägyptische Volk unter dem autokratischen Militärregime'" durchleben müsse: ",Wir hoffen, dass sich die Bundesregierung künftig im Bewusstsein ihrer Verantwortung für Menschenrechte und gegen die unwürdigsten Haftbedingungen zehntausender politischer Gefangener in Ägypten einsetzt'". Am 22. Juni führte eine der MB nahestehende Organisation in Frankfurt am Main eine Mahnwache für Mohammed Mursi durch. Darüber hinaus thematisierte ein der DMG nahestehendes islamisches Zentrum das Ableben Mursis in einer Predigt. "Islamleben - einheit in Vielfalt" | Zum insgesamt sechsten Mal führte die DMG wie in den vier Jahren zuvor in Kirchheim (Landkreis Hersfeld-Rotenburg) vom 27. bis 29. September ihr überregionales "Familientreffen" unter dem Titel "Islamleben - Einheit in Vielfalt" durch. europäisches Institut für Humanwissenschaften in deutschland e. V. (eIHw) | Sein 2018 eingeführtes Kursangebot in deutscher Sprache setzte das EIHW im Berichtsjahr fort. Dabei ist es das Ziel des in Frank240 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS furt am Main ansässigen EIHW, Kurse in "Islam-" und "Koranwissenschaften" auf einem sogenannten akademischen Niveau anzubieten. Auf verschiedenen Niveaus finden darüber hinaus Arabischkurse statt. Auch die im Mai 2018 erstmalig abgehaltenen arabischund deutschsprachigen Kolloquien zu aktuellen Themen waren weiterhin im Programm. Gleichwohl bot das EIHW sein für das Wintersemester 2018/2019 angekündigtes deutschsprachiges Koranund Islamstudium noch nicht an. Vom 3. bis 5. Januar nahmen mehrere Teilnehmer des EIHW-Arabischunterrichts an der "European Universities Arabic Debating Championship" in Wien (Österreich) teil, die von der katarischen Organisation QatarDebate ausgerichtet wurde. Da das EIHW-Team den Wettbewerb gewann, war es im März bei der entsprechenden QatarDebate-Weltmeisterschaft in der katarischen Hauptstadt Doha vertreten. Insgesamt fanden im Berichtsjahr zahlreiche Veranstaltungen des EIHW statt, die von Personen aus dem Bereich der MB - auch aus anderen Bundesländern - geleitet oder besucht wurden. Fatwa-ausschuss in deutschland | Laut eigenen Angaben handelt es sich bei der 2016 gegründeten Organisation um ein Gremium von Spezialisten, das in seiner Rechtsfindung von den Grundlagen und Zielsetzungen des Islams ausgeht, um dadurch das Leben der Muslime in Deutschland zu erleichtern. Tatsächlich basierten die vom FatwaAusschuss in Deutschland veröffentlichten Fatwas zum Teil auf islamrechtlichen und islamisch-rituellen Vorgaben der Scharia, die nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu vereinbaren sind: "Keine Berücksichtigung finden jene europäische Traditionen und Gepflogenheiten, welche im klaren Widerspruch zu definitiven und eindeutigen islamrechtlichen Texten stehen. Hierzu zählen unter anderem die Nivellierung der Differenzen zwischen dem Mann und der Frau im Erbrecht unter dem Deckmantel der Veränderung von Umstand und Zeit; Schließlich handelt es sich bei den Bestimmungen des Erbrechts und der verschiedenen Erbanteile um islamrechtliche Texte, welche definitiv gesichert sind und sich unter keinen Umständen der Veränderungen von Raum und Zeit beugen." (Schreibweise wie im Original.) Der Fatwa-Ausschuss in Deutschland übernahm seine veröffentlichten Fatwas vollständig vom European Council for Fatwa and Research (ECFR) und übertrug diese ins Deutsche. Auch die Mitglieder des Fatwa-Ausschusses in Deutschland waren ausnahmslos Mitglieder des in Dublin (Irland) ansässigen ECFR. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 241 ISLAMISMUS Der ECFR gehörte dem europäischen Netzwerk der MB an und erließ regelmäßig Rechtsgutachten für die in Europa lebenden Muslime. Maßgebliche Aufgabe des ECFR war es, sich als religiöse Instanz in Europa zu etablieren. Zu diesem Zwecke präsentierte die Organisation im April in Paris (Frankreich) auf einer islamischen Messe die "Euro-Fatwa"-App, mit deren Hilfe Smartphone-Nutzer die ECFRFatwas der letzten zwei Jahrzehnte thematisch sortiert abrufen konnten. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war die App in den Sprachen Arabisch, Englisch und Spanisch verfügbar, im Laufe der Zeit soll sie auch auf Deutsch und in sechs weiteren Sprachen erhältlich sein. Eine erste Version der App wurde zunächst von Google Play gesperrt, da in einem einleitenden Text, den der MB-Ideologe und ehemalige ECFR-Vorsitzende Yusuf al-Qaradawi verfasst hatte, antisemitische Aussagen enthalten waren. In der aktuellen Fassung des Programms wurden diese gestrichen. europäischer Rat der Imame gegründet | Im Rahmen der voranschreitenden internationalen Vernetzung der MB trat in Paris (Frankreich) am 18. November erstmals der Europäische Rat für Imame zusammen. Unter den Mitgliedern des neuen Gremiums, das laut eigener Aussage rund 50 Mitglieder aus etwa 20 europäischen Ländern umfasste, befanden sich unter anderem Personen aus Hessen mit Bezug zum MB-/DMG-Netzwerk, der in Deutschland ansässige Präsident der MB-Dachorganisation Federation of Islamic Organizations in Europe (FIOE, Föderation Islamischer Organisationen in Europa - nunmehr Council of European Muslims) sowie einige Funktionäre des ECFR. Ziel des Europäischen Rates der Imame war es unter anderem, die Aktivitäten verschiedener islamischer Organisationen zu koordinieren, die Interessenvertretung zu fördern und einen "Beitrag zur Förderung der islamischen Präsenz, zur Stärkung seiner [i. e. des Islams] zivilisatorischen Rolle und zur Festigung der islamischen Identität und der bürgerlichen Werte zu leisten". entSteHunG/GeScHIcHte In einer Phase des sozialen umbruchs in ägypten, in der sich ein neuer Mittelstand herausbildete, gründete 1928 der Volksschullehrer Hasan al-Banna (1906-1949) die MB als Reaktion auf die zunehmende europäisierung des Landes. als wohlfahrtsorganisation islamischer Prägung, die unter anderem krankenhäuser und Schulen unterhielt, entwickelte sich die streng hierarchisch aufgebaute MB zunehmend zum Staat im Staat. unter der Führung al-Bannas verfolgte die MB nach und nach im wesentlichen folgende ziele: die eliminierung des britischen einflusses in ägypten, die Islamisierung 242 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS von Staat und Gesellschaft sowie die errichtung eines weltweiten kalifats. Vor allem mit ihrer karitativen arbeit gewannen die MB und ihre in anderen Ländern gegründeten ableger immer mehr anhänger. AUF EINEN BLICK * Vom Verbot zur Regierung * die MB in deutschland Vom Verbot zur Regierung | In den 1940er und 1950er Jahren waren die Beziehungen zwischen der MB und dem ägyptischen Staat von gewalttätigen Auseinandersetzungen geprägt. 1948 wurde der ägyptische Ministerpräsident Mahmud Fahmi an-Nuqrashi (geb. 1888) ermordet, 1949 fiel Hasan al-Banna einem Attentat zum Opfer. 1954 verbot die Regierung die MB; ihr maßgeblicher Ideologe, Sayyid Qutb (geb. 1906), wurde 1966 zum Tode verurteilt und hingerichtet. Ungeachtet der Generalamnestie für führende MB-Funktionäre im Jahr 1971 dauerten die Gewalttaten militanter islamistischer Gruppen, die ihre Aktionen unter Berufung auf die Schriften Sayyid Qutbs rechtfertigten, an. Eine militante Abspaltung der MB ermordete 1981 den ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat (geb. 1918). Sein Nachfolger Husni Mubarak (1928-2020) gewährte der MB den Status als religiöse Bewegung, nicht aber den einer politischen Partei. Als Konsequenz entsandte die MB vermeintlich unabhängige Bewerber und Kandidaten auf Wahllisten anderer Parteien in die Parlamentswahlen. Bei den Wahlen im Jahr 2005 vervierfachte die MB die Zahl ihrer Abgeordneten auf 88 und errang damit etwa ein Fünftel der Sitze im ägyptischen Parlament. Nach dem von Massenprotesten der Opposition erzwungenen Rücktritt Mubaraks 2011 erlangten die MB und andere Islamisten bei den Wahlen etwa 70 Prozent der Abgeordnetenmandate. Als politischer Arm der MB gründete sich im Februar 2011 die Hizb al-Hurriya wa-l-Adala (Partei der Freiheit und Gerechtigkeit). Ihr Vorsitzender Mohammed Mursi, zugleich ein führender MB-Funktionär, wurde 2012 zum ägyptischen Staatspräsidenten gewählt. Aufgrund der angespannten Wirtschaftslage und anhaltender Proteste gegen die Partei der Freiheit und Gerechtigkeit setzte das ägyptische Militär Mohammad Mursi im Juli 2013 ab. Im September 2013 verbot ein ägyptisches Gericht die MB nebst allen ihr zugehörigen Organisationen. Seit dem Dezember 2013 ist die MB in Ägypten als Terrororganisation eingestuft. Im Juni 2019 verstarb Mursi, der sich seit seiner Absetzung in Haft befand, während einer Gerichtsverhandlung. Der MB-Anführer Muhammed Badi sowie sein Stellvertreter und neun Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 243 ISLAMISMUS weitere führende MB-Angehörige wurden im September 2019 zu lebenslanger Haft verurteilt. die MB in deutschland | 1960 gründete Said Ramadan (1926-1995), ein Schwiegersohn al-Bannas und hoher MB-Funktionär, in München (Bayern) die Moscheebau-Kommission e. V. Zusammen mit Sayyid Qutb hatte er in den 1950er Jahren Ägypten verlassen und Ableger der MB in Jordanien, Syrien, Saudi-Arabien und im Libanon ins Leben gerufen. Durch Umbenennungen gingen aus der Moscheebau-Kommission e. V. im Jahr 1962 die Islamische Gemeinschaft in Süddeutschland e. V. und 1982 die IGD hervor, die sich 2018 in die DMG umbenannte. IdeoLoGIe/zIeLe der ideologische ursprung der MB geht auf ihren Gründer Hasan al-Banna zurück. zentrale elemente der MB-Ideologie sind bis heute im Selbstverständnis zahlreicher islamistischer und islamistisch-terroristischer organisationen präsent. In dem im Rahmen ihrer Ideologie von der MB angestrebten System bilden Islam und Politik eine unauflösbare einheit, in der weder die Volkssouveränität noch die Freiheit und Gleichheit der Menschen einen demokratisch legitimierten und geschützten Raum finden. AUF EINEN BLICK * durchsetzung der Scharia * "der koran ist unsere Verfassung" durchsetzung der Scharia | Die Ideologie der MB zielt auf die Errichtung einer islamischen Staatsund Gesellschaftsordnung, deren Grundlage Koran und Sunna sowie die Scharia bilden. Dabei ist die Durchsetzung der Scharia ein wesentlicher Bestandteil der MB-Ideologie, da sie die Rechtsund Gesellschaftsordnung bestimmt und somit die wichtigste Grundlage des politischen und sozialen Lebens ist. "der koran ist unsere Verfassung" | Das Motto der MB lautet: "Allah ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Der Jihad ist unser Weg. Der Tod für Allah ist unser nobelster Wunsch". Ebenso wie sein Vorgänger Muhammad Mahdi Akif gehörte Muhammad Badi, der "oberste Führer" (arab. murshid amm) der MB, dem konservativen Lager der Organisation an. Er forderte von der arabischen Welt, die Verhandlungen mit Israel einzustellen und durch den "heiligen Jihad" zu ersetzen. Im Mai 2012 eröffnete ein maßgeblicher Prediger und wichtiger Angehöriger der MB den Wahlkampfauftritt des späteren Präsidenten 244 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS Mursi mit den Sätzen: ",Wir stehen knapp davor zu erleben, dass das Islamische Kalifat durch die Hände Mohammed Mursis Realität wird. Und mit Gottes Willen wird die Hauptstadt des vereinigten Reiches Jerusalem sein'". StRuktuRen In europa bzw. in deutschland bestand ein weit verästeltes netzwerk der MB, mit dessen Hilfe deren Sympathisanten und angehörige versuchten, Ideologie und ziele der organisation zu verbreiten. dabei trat die MB in deutschland nicht offen in erscheinung. AUF EINEN BLICK * FIoe * Strukturen der dMG * Rat der Imame und Gelehrten RIG e.V./ Rat der Imame und Gelehrten in deutschland (RIGd) * eIHw als kaderschmiede für MBund dMG-Funktionäre FIoe | In Europa wird die streng hierarchisch organisierte MB durch die FIOE, einen europäischen Dachverband MB-naher Organisationen mit Sitz in Brüssel (Belgien), vertreten. Eigenen Angaben zufolge vereinigt die FIOE Organisationen aus 28 Staaten, darunter viele nationale Dachverbände. Im Januar 2020 änderte die FIOE ihren Namen in Council of European Muslims (CEM). Strukturen der dMG | In Deutschland ist die DMG, das heißt die ehemalige IGD, mit Hauptsitz in Berlin die mitgliederstärkste Organisation von MB-Anhängern. Die DMG repräsentiert den ägyptischen Zweig der MB und ist seit ihrer Gründung als IGD Mitglied der FIOE. Der DMG sind bundesweit verschiedene Moscheegemeinden und sogenannte Islamische Zentren zuzuordnen, die formal von ihr unabhängig sind, aber Kontakte zu ihr unterhalten. In Hessen befanden sich solche Zentren in Frankfurt am Main und Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf). Rat der Imame und Gelehrten RIG e. V./Rat der Imame und Gelehrten in deutschland (RIGd) | Ähnlich wie der ECFR auf europäischer Ebene, der bis Oktober 2018 unter dem Vorsitz des MB-Ideologen Yusuf al-Qaradawi stand, erhebt der RIGD für Deutschland den Anspruch, als wissenschaftliche Autorität in Fragen der Koranauslegung für hier lebende Muslime zu fungieren. Der RIGD, der seit 2004 mit Sitz in Frankfurt am Main besteht, ist sowohl organisatorisch als auch ideologisch der DMG nahe. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 245 ISLAMISMUS eIHw als kaderschmiede für MBund dMG-Funktionäre | 2012 wurde das EIHW mit Sitz in Frankfurt am Main nach dem Vorbild der Europäischen Institute für Humanwissenschaften in Großbritannien (European Institute of Human Sciences, EIHS) und in Frankreich (Institut Europeen des Sciences Humaines, IESH) als Verein gegründet. 2013 nahm das EIHW seinen Lehrbetrieb auf. Als Schulungsstätte dient das EIHW der Verbreitung der MB-Ideologie und ist eine Kaderschmiede für MBund DMG-Funktionäre. BeweRtunG/auSBLIck Mit dem Tod Mohammed Mursis verlor die MB ihren prominentesten Vertreter. Dass die Reaktionen der MB-Anhänger in Hessen verhalten ausfielen, zeugt von der Diskrepanz zwischen ihrer Sympathie für Mursi und dem Wunsch, nicht öffentlich mit einer Galionsfigur des legalistischen Islamismus in Verbindung gebracht zu werden. In Ägypten gab es keine nennenswerten öffentlichen Demonstrationen anlässlich Mursis Todes, da MB-Sympathisanten mit drakonischen Strafen und massiven Menschenrechtsverletzungen rechnen mussten. Aufgrund der eingeschränkten Handlungsfähigkeit der ägyptischen MB dürfte sich die Bedeutung anderer nationaler MB-Ableger - darunter auch des deutschen Zweigs - sowie der europäischen MBGremien erhöhen. Unter diesen Vorzeichen sind die Vernetzungsbestrebungen der MB in Europa zu sehen. Dies betrifft sowohl die Konferenz "Zukunft der Muslime in Europa" unter der Schirmherrschaft der staatlichen türkischen Religionsbehörde DITIB in Köln (Nordrhein-Westfalen), an der unter anderem Vertreter der MB und IGMG teilnahmen, als auch die Gründung des Europäischen Rates der Imame: Einerseits suchen MB-Funktionäre den europaweiten Schulterschluss, um sich zu vernetzen und politisch-religiösen Positionen mehr Gewicht zu verleihen; andererseits können sie sich auf diese Weise als Vertreter der muslimischen Gemeinde gegenüber der übrigen Gesellschaft inszenieren, obwohl die dahinterstehenden Organisationen nur einen kleinen Teil der Muslime repräsentieren. Auffällig war zudem, dass in der Abschlusserklärung der Konferenz "Zukunft der Muslime in Europa" der Islam zwar als eine "Religion des Friedens" bezeichnet und die Bedeutung der islamischen "Prinzipien Gerechtigkeit, Frieden und Toleranz" unterstrichen wurden, in dem Dokument aber ein explizites Bekenntnis zur Demokratie und ihren Werten in Europa bzw. in Deutschland fehlte. Angehörige der MB in Hessen führten unterdessen im Berichtsjahr ihre legalistische, dialogorientierte Unterwanderungsstrategie konsequent fort. So suchten sie gezielt den Kontakt zu Repräsentanten 246 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS des politischen Lebens sowie zu anderen Religionsgemeinschaften, denen sie sich als Dialogpartner anboten. Auf diese Weise bemühten sich MB-Anhänger und der MB nahestehende Organisationen, ihre Ideologie gesellschaftsfähig zu machen und ihr breite Akzeptanz zu verschaffen. Da die MB nicht unter ihrem Namen auftrat, sondern aus einem weitverzweigten Netzwerk von Organisationen und Vereinen operierte, fiel es ihr oft leicht, als unbefangener Partner von Politik und Zivilgesellschaft aufzutreten. Allerdings steht die DMG als wichtigste Organisation des deutschen MB-Netzwerks inzwischen unter Druck. Mit ihrer Umbenennung, neuem Auftreten und ihrer Klage gegen ihre Nennung im vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat herausgegebenen Verfassungsschutzbericht wollte die DMG ihre belastete IGD-Vergangenheit hinter sich lassen, ohne tatsächlich Änderungen an ihrer Ideologie, ihrem Personal und ihren Zielen vorzunehmen. Ihr faktischer Ausschluss aus dem ZMD ist ein schwerer Rückschlag für die DMG. Die Entscheidung des ZMD entfaltet eine beachtliche Signalwirkung, da die DMG Gründungsmitglied des ZMD ist und bisher als einflussreichste Organisation in dem Gremium galt. Ob die DMG in der Lage sein wird, ihre Reputation innerhalb der islamischen Verbandslandschaft zu rehabilitieren, wird maßgeblich vom Ausgang der Klage gegen das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat abhängen. Sollte dieses zu Ungunsten der Organisation ausgehen, dürfte die "Marke" DMG beschädigt sein. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass die in der DMG organisierten Personen und Vereine auch in diesem Fall weiterhin im Sinn der MB tätig sein werden. Dass die DMG etliche Kinderund Jugendcamps durchführte und "Bildungsangebote", die Gemeinschaftsaktivitäten mit religiösen Inhalten verbanden, an Erwachsene richtete, ermöglichte der DMG weiterhin, Einfluss insbesondere auf Jugendliche zu nehmen und diese an sich zu binden. Auch das EIHW führte sein Bildungsangebot fort, es gelang ihm jedoch nicht, sein Kursangebot wie angekündigt zu erweitern. Mit dem Sieg bei dem europäischen Debattierwettbewerb von QatarDebate erzielte das EIHW einen prestigeträchtigen Erfolg und profilierte sich international als in diesem speziellen Rahmen ernst zu nehmendes Bildungsinstitut. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 247 ISLAMISMUS MILLi-GÖRüs-BeweGunG DEFINITION/KERNDATEN unter der Bezeichnung Milli-Görüs-Bewegung fasst das LfV bestimmte islamistische Bestrebungen türkischen ursprungs zusammen. Ihr verbindendes element liegt in der grundlegenden orientierung an der Ideologie der türkischen Bewegung Milli Görüs (dt. nationale Sicht). diese geht im wesentlichen auf den Politiker necmettin erbakan (1926 - 2011) zurück. dieser wollte den Laizismus in der türkei zugunsten einer islamischen Staatsund Gesellschaftsordnung auf dem Fundament von koran, Sunna und Scharia überwinden. außerdem war es erbakans Vision, eine "Großtürkei" nach dem Vorbild des osmanischen Reiches zu errichten. zur MillA(r)Görüs-Bewegung (etwa 1.450 anhänger in Hessen, bundesweit etwa 10.000) gehörten * die Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) - in Hessen repräsentiert durch den Saadet deutschland Regionalverein Hessen e. V. und im Folgenden als SP Hessen bezeichnet, * die Ismail aga cemaati (Iac), * teile der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG), * die erbakan Vakfi Hessen (erbakan-Stiftung) und * die Milli Gazete (nationale zeitung) eReIGnISSe/entwIckLunGen die erinnerung an necmettin erbakan sowie die würdigung seines Lebens und wirkens besaßen auch acht Jahre nach dessen tod große Bedeutung für die anhänger der Milli-Görüs-Bewegung. nach wie vor wurde erbakan als geistiger Führer der Bewegung verehrt. die umfassenden und weitreichenden angebote der SP Hessen banden im Berichtsjahr sowohl langjährige Mitglieder als auch den nachwuchs weiterhin fest an die organisation. dabei deuteten die regelmäßigen Gastauftritte und -vorträge hochrangiger außerhessischer bzw. türkischer SP-Funktionäre auf den unverändert hohen Stellenwert der SP Hessen - repräsentiert durch den Saadet deutschland Regionalverein Hessen e. V. - hin. das wurde nicht zuletzt durch die Beförderung einzelner Vertreter der SP Hessen auf die Funktionärsebene der europäischen SP deutlich. darüber hinaus erweiterte die SP Hessen ihr Informationsangebot und zielte damit vereinzelt auch auf die Öffentlichkeit ab. die aktivitäten der Iac und ihrer anhänger in Hessen blieben weitestgehend konstant. nach wie vor kehrte ihr 2015 aus deutschlands ausgewiesenes oberhaupt nicht aus der türkei zurück. 248 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS AUF EINEN BLICK * necmettin erbakan: "Lehrer und Vorbild" * Fastenbrechen in Frankfurt am Main * aktivitäten der Jugendorganisation der SP Hessen * zentrale der SP Hessen in Hanau * Personalveränderungen * Milli Gazete als Sprachrohr der Milli-Görüs-Bewegung * Ismail aga cemaati (Iac) necmettin erbakan: "Lehrer und Vorbild" | Anlässlich des achten Todestags Necmettin Erbakans am 27. Februar organisierte die SP sowohl in der Türkei als auch in Europa eine sogenannte ErbakanWoche (24. Februar bis 2. März), um dem "Hodscha Erbakan" ein "ehrendes Gedenken" zu bewahren und sein politisches Wirken zu würdigen. Ein Kolumnist der Milli Gazete berichtete, dass Erbakan seinen Anhängern beigebracht habe, wie man sich mit dem Zionismus, dem "Feind der Menschheit", auseinandersetzen müsse. Die Milli Gazete informierte ausgiebig über die "Erbakan-Woche", während in den Tagen vor und nach dem Todestag in der Türkei und in Europa zahlreiche Veranstaltungen zum Gedenken an Erbakan stattfanden. Der IGMG-Landesverband Hessen veranstaltete am 23. Februar in Kelsterbach (Kreis Groß-Gerau) eine Gedenkveranstaltung für bedeutende islamische "Vorreiter", von deren Erfahrungen man profitieren wolle und derer man gedenke. Zu diesen bedeutenden Vorreitern zählte die IGMG, neben anderen zum wiederholten Male auch Necmettin Erbakan. Im Rahmen der Gedenkveranstaltung wurden Druckerzeugnisse und Waren mit eindeutigen Bezügen zu Erbakan vertrieben. Am eigentlichen Todestag beschränkte sich das Gedenken im IGMG-Landesverband Hessen auf einzelne Beiträge in den sozialen Medien. Auch die SP Hessen gedachte des "verstorbenen Hodschas". Am 2. März betrieb sie in Frankfurt am Main einen Informationsstand unter dem Motto "Höflichkeit und Aufrichtigkeit" und bot Schriften von und über Erbakan an. Dabei wurden die Aktivisten von einem hochrangigen Vertreter der SP aus der Türkei unterstützt. Am 10. März fanden sich in Frankfurt am Main Anhänger, Funktionäre und Gäste der SP Hessen generationenübergreifend zu einer Gedenkveranstaltung unter demselben Motto zusammen, um an das Leben und Wirken Erbakans zu erinnern, Kontakte zu pflegen und auszubauen. Dabei kamen - neben Funktionären der SP Hessen - Abgesandte der europäischen SP-Vertretung sowie ein türkischer Autor, der Bücher über Erbakan veröffentlicht hatte, als Redner zu Wort. Bei dieser Veranstaltung wurde den Teilnehmern, abgesehen von Ausgaben der MillA(r) Gazete, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 249 ISLAMISMUS ein breites Literaturangebot mit Titeln von und über Necmettin Erbakan und weitere, ideologisch einschlägige Druckerzeugnissen präsentiert. Darüber hinaus betrieben Anfang Dezember SP-Aktivisten einen Informationsstand in Dietzenbach (Landkreis Offenbach), um mit Interessierten in Kontakt zu kommen, weiteres Anhängerpotenzial zu gewinnen und Literatur über Erbakan zu verbreiten. Fastenbrechen in Frankfurt am Main | Im Mai veranstaltete die SP Hessen in Frankfurt am Main ihr traditionelles Fastenbrechen im Rahmen des Ramadans. Hochrangige Vertreter der SP Hessen, der europäischen sowie der türkischen SP waren als Referenten geladen, darunter der Jugendvorsitzende der türkischen SP, der nach den Kommunalwahlen in der Türkei am 31. März als Abgeordneter in das Parlament der Provinz Konya eingezogen war. aktivitäten der Jugendorganisation der SP Hessen | Unverändert setzte die Jugendorganisation der SP Hessen ihre Bemühungen fort, Nachwuchs für die Organisation zu gewinnen. So fanden entsprechende Besuche im häuslichen Umfeld statt, um interessierte Jugendliche frühzeitig mit religiösen und ideologischen Inhalten bekanntzumachen. Im Februar fanden sich Angehörige der SP-Hessen-Jugendorganisation in einer Jugendeinrichtung in Montabaur (Rheinland-Pfalz) zu einem Wochenendseminar ein, wobei hochrangige Funktionäre der europäischen SPund der türkischen SP-Jugendorganisation als Referenten auftraten. Mitte September richteten Vertreter der SPHessen-Jugendorganisation in Hanau (Main-Kinzig-Kreis) ein mehrtägiges überregionales Bildungsseminar für die Funktionäre der SP-Jugendorganisationen innerhalb der anderen europäischen SPVertretungen aus. zentrale der SP Hessen in Hanau | Die im Jahr 2018 neu bezogenen Räumlichkeiten etablierten sich im Berichtsjahr als Anlaufstelle und fester Versammlungsort für die Mitglieder und Anhänger der SP Hessen. Auch die Funktionäre kamen zu ihren Sitzungen in der sogenannten Zentrale zusammen, vereinzelt sogar auf Ebene der europäischen SP-Vertretung und der europäischen SP-Jugendorganisation. Außerdem führte die SP Hessen dort regelmäßig Vortragsund Bildungsveranstaltungen zu verschiedenen Themen und häufig mit hochrangigen SP-Vertretern aus der Türkei als Referenten durch. Personalveränderungen | Im Verlauf des Berichtsjahrs gab es bedeutende Personalveränderungen bei den Funktionären der SP Hessen. 250 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS So übertrug der Vorsitzende der europäischen SP-Jugendorganisation im März den Vorsitz über die Jugendorganisation der SP Hessen an einen neuen Verantwortlichen. Ende Juni entband der Vorsitzende der europäischen SP auch den Vorsitzenden der SP Hessen von seinem Amt. Beide Funktionäre der SP Hessen konzentrierten sich fortan auf ihre Aufgaben innerhalb der europäischen SP-Vertretung, blieben der SP Hessen aber weiterhin eng verbunden. Milli Gazete als Sprachrohr der Milli-Görüs-Bewegung | Zusammen mit der türkischen Ausgabe entwickelte sich die ebenfalls türkischsprachige Europaausgabe der MillA(r) Gazete im Berichtsjahr weiter zu einem bevorzugten Medium der SP. Anlässlich ihres 46-jährigen Jubiläums zitierte die Milli Gazete einen hohen Funktionär der türkischen SP mit den Worten, sie sei "die Zeitung der 'Milli Görüs'-Bewegung". Neben Beiträgen zum Kommunalwahlkampf der SP in der Türkei enthielten die Ausgaben der Milli Gazete Berichte über Veranstaltungen mit Beteiligung hoher SP-Funktionäre und -Vertreter. Im Februar berichtete die Milli Gazete über ein Symposium anlässlich des 40. Jahrestags der Islamischen Revolution im Iran und die Rede eines SP-Funktionärs, der gesagt habe, dass das Ende der Juden, der Imperialisten und der Zionisten bald kommen werde. In Bezug auf den im Juli 2016 in der Türkei gescheiterten Putsch erklärte der stellvertretende SP-Vorsitzende, so ein Bericht der MillA(r) Gazete, dass dahinter die USA, das "zionistische" Israel und der "rassistische Imperialismus" steckten. Nachdem die SP im Rahmen der Kommunalwahlen bei den Wahlen zu den Provinzparlamenten drei und zu den Gemeinderäten 295 Sitze (= 2,47% bzw. 3% der Stimmen) gewonnen hatte sowie 21 Bürgermeister (= 2,91%) stellte, veröffentlichte die Milli Gazete eine Erklärung des SP-Vorsitzenden. Danach sei die SP als die politisch relevanteste Partei der Türkei nunmehr zu einer "Schlüsselpartei" geworden. Man werde die Ideale "eine neue Welt" und "erneut eine Großtürkei" realisieren. Gelegentlich standen in der Milli Gazete Beiträge zu der - in der Perspektive der Milli-Görüs-Bewegung - "richtigen" Auslegung des Islams. So hieß es Anfang Juli im Zusammenhang mit der "Widerstandslehre" im Islam, dass deren erste Pflicht darin bestehe, "Imperialismus", Amerika, Israel und "alle Tyrannen und alle arroganten Menschen" zu verabscheuen. Die Gläubigen sollten sich nicht mit Ungläubigen, sondern nur mit Gläubigen befreunden. Ismail aga cemaati (Iac) | Seit seiner Ausweisung aus Deutschland im Jahr 2015 hielt sich das selbsternannte Oberhaupt der europäiHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 251 ISLAMISMUS schen IAC-Gemeinde unverändert in der Türkei auf und kehrte bislang nicht nach Deutschland zurück. Die fortwährende Abwesenheit des "Hodschas" beeinträchtigte jedoch nicht dessen Anziehungskraft, da noch immer teilweise mehrere hundert Personen seine Predigten regelmäßig per Live-Schaltung aus der Türkei in einer Moschee im Raum Frankfurt am Main verfolgten. Die Inhalte waren von einem dualistischen Weltbild, beständiger Kritik an der "westlichen" Lebensweise, Verherrlichung der Scharia, Äußerungen gegen den Gedanken der Völkerverständigung sowie antidemokratischen und auch antisemitischen Aussagen geprägt. Vereinzelt warb der Prediger auch für die SP. entSteHunG/GeScHIcHte 1969 gründete necmettin erbakan in der türkei die Milli-GörüsBewegung und stellte sich damit gegen die vom Gründer der modernen Republik türkei, Mustafa kemal atatürk (1881-1938), eingeführte trennung von Staat und Religion. auf diese weise wollte erbakan die Säkularisierung des Landes rückgängig machen und das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben erneut islamisieren. AUF EINEN BLICK * Milli-Görüs-Bewegung in der türkei * Milli-Görüs-Bewegung in deutschland * SP als Repräsentantin der Milli-Görüs-Bewegung * Rolle der Iac in der türkei Milli-Görüs-Bewegung in der türkei | 1970 wurde als politische Vertretung der Milli-Görüs-Bewegung die Milli Nizam Partisi (MNP, Nationale Ordnungspartei) gegründet. 1973 verfasste Erbakan das für die Ideologie der Bewegung noch immer wegweisende Buch "Milli Görüs". Über Parteiverbote und Parteineugründungen sowie ein zweimal verhängtes Politikverbot für Erbakan führte der Weg der Milli-Görüs-Bewegung in der Türkei bis zur 2001 gegründeten und noch heute existenten SP. Erbakan war in der Türkei mehrere Male stellvertretender Ministerpräsident und bekleidete 1996/97 das Amt des Ministerpräsidenten. Milli-Görüs-Bewegung in deutschland | 1976 entstand in Köln (Nordrhein-Westfalen) als Ableger der Milli-Görüs-Bewegung die Türkische Union Europa e. V. Sie benannte sich 1982 in Islamische Union Europa e. V. (IUE) um. 1984 kam es innerhalb der IUE zu Auseinandersetzungen über die politische Ausrichtung des Vereins. Als Folge gründete sich 1985 in Köln die Avrupa Milli Görüs Teskilatlari (AMGT, Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e. V.) als Nachfolgeorganisation der mittlerweile bedeutungslos gewordenen IUE. 252 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS Aus der AMGT gingen 1995 die Europäische Moscheebau und Unterstützungsgemeinschaft (EMUG) und die IGMG hervor. Organisatorisch waren beide in einen wirtschaftlichen und einen ideellen Bereich getrennt. Aufgabe der EMUG war die umfangreiche Grundstücksverwaltung und Betreuung der AMGTund IGMG-Vereine. Die IGMG war auf die religiösen Belange ihrer Mitgliedsvereine ausgerichtet. Viele Moscheevereine änderten in der Folge den Namenszusatz AMGT in IGMG. Die Zugehörigkeit zur Milli-Görüs-Bewegung blieb jedoch teilweise bis in die Gegenwart erhalten und zeigte sich oftmals auch in personellen Überschneidungen von AMGT und IGMG. SP als Repräsentantin der Milli-Görüs-Bewegung | Auf politischer Ebene vertritt die von Necmettin Erbakan im Jahr 2001 gegründete SP die Milli-Görüs-Bewegung in der Türkei. Die SP ging aus der verbotenen Fazilet Partisi (FP, Tugendpartei) Erbakans hervor, aus der damals auch die jetzige türkische Regierungspartei Adalet ve Kalkinma Partisi (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) entstand. Der Einfluss der SP auf die politische Willensbildung in der Türkei ist aufgrund ihres geringen Wählerpotenzials kaum wahrnehmbar. Obwohl sich die AKP mit der Zeit von der ursprünglichen Ideologie der Milli-Görüs-Bewegung distanzierte, verbindet sie mit der SP dieselben konservativen Wurzeln. Rolle der Iac in der türkei | Die IAC ist der Bruderschaft der Naqshbandiya zuzuordnen, die im 14. Jahrhundert in Zentralasien entstand. Ihr Gründer, Baha' ad-Din Naqshbandi (1318-1389) aus Buchara (heutiges Usbekistan), steht in einer Reihe sogenannter Meister in Zentralasien, die mystische Gemeinschaften gründeten. Die sunnitische Naqshbandiya entwickelte sich in den folgenden Jahrhunderten zur bedeutendsten Bruderschaft und ist heute weltweit verbreitet. Ihr Handeln beruht auf einer religiös geprägten Lebensführung, wobei eine enge emotionale Bindung zwischen Schüler und Meister besteht. Unter anderem durch spezielle Meditationstechniken sucht der Schüler die unmittelbare mystische Gotteserfahrung. So versucht der Schüler durch schweigendes Denken an Allah (arab. dhikr) diesem so nahe wie möglich zu kommen. Obwohl 1925 durch Atatürk verboten, spielte die NaqshbandiyaBruderschaft im religiösen Leben in der Türkei eine bedeutende Rolle. Necmettin Erbakan und das in der Türkei lebende spirituelle Oberhaupt der Bruderschaft, Scheich Mahmud Ustaosmanoglu, pflegten engen Kontakt zu dem einflussreichen türkisch-sunnitischen Naqshbandiya-Scheich Mehmet Zaid Kotku (1897-1980) und wurden durch ihn geprägt. Kotku war eine der führenden Personen des Naqshbandiya-Ordens. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 253 ISLAMISMUS IdeoLoGIe/zIeLe ebenso wie andere islamistische Bewegungen will die Milli-GörüsBewegung eine auf den Rechtsvorschriften der Scharia beruhende islamische ordnung realisieren. da in der früher streng laizistisch orientierten türkei das Propagieren eines entsprechenden konzepts gravierende rechtliche konsequenzen nach sich gezogen hätte, führte erbakan neue Begrifflichkeiten ein. AUF EINEN BLICK * "Gerechte" und "nichtige" ordnung * "neue welt für die gesamte Menschheit" * alleinvertretungsanspruch und antisemitismus in der Milli-Görüs-Bewegung "Gerechte" und "nichtige" ordnung | Gemäß Erbakans Grundsätzen gibt es in der Welt eine gerechte (türk. adil düzen) und eine nichtige Ordnung (türk. batil düzen). Ziel müsse es sein, die schlechte, tyrannische, auf menschlicher Willkür sich gründende und daher vergängliche Ordnung durch die gute, von Allah vorgegebene und angeblich auf Wahrheit fußende Ordnung zu überwinden. Dies sei allein durch die Milli Görüs zu erreichen. "neue welt für die gesamte Menschheit" | Die Verwirklichung dieser Gedanken propagiert die Milli-Görüs-Bewegung insbesondere in der Türkei, wo eine islamische Staatsund Gesellschaftsordnung nach den Grundlagen von Koran und Sunna geschaffen werden soll. Die Milli-Görüs-Bewegung verbindet in ihrer Gesamtheit einen universalen türkisch-nationalistischen mit einem islamistischen Ansatz. So hielt der Generalsekretär der türkischen SP im Januar einen Vortrag in Dortmund (Nordrhein-Westfalen), wobei er laut der Milli Gazette sagte, dass es die Partei für ihre Aufgabe halte, sich um die Probleme der Landsleute zu kümmern sowie eine "lebenswerte Türkei", eine "neue Großtürkei" und eine "neue Welt für die gesamte Menschheit" zu schaffen. alleinvertretungsanspruch und antisemitismus in der Milli-GörüsBewegung | In einem Interview nahm Erbakan im Jahr 2010 für sich und die SP in Anspruch: "Wir sind das Volk, deswegen verändern wir die Türkei". Darüber hinaus erklärte er: "Wir werden eine neue Welt schaffen, auf der Basis von Wissenschaft und Vernunft, auf den Grundlagen der gerechten Ordnung, die uns die Osmanen hinterließen. Darin bekommt jeder sein Recht, auf den ihm angemessenen Platz. Auch den Juden und Christen würde so Recht zuteil, auch sie würden befreit". 254 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS Offen artikulierte Erbakan in Bezug auf Juden und die territoriale Integrität des Staats Israel: "Seit 5700 Jahren regieren Juden die Welt. Es ist eine Herrschaft des Unrechts, der Grausamkeit und der Gewalt. Sie haben einen starken Glauben, eine Religion, die ihnen sagt, dass sie die Welt beherrschen sollen. Sehen Sie sich diese Ein-Dollar-Note an. Darauf ist ein Symbol, eine Pyramide von 13 Stufen, mit einem Auge in der Spitze. Es ist das Symbol der zionistischen Weltherrschaft. Die Stufen stellen vier ,offene' und andere geheime Gesellschaften dar, dahinter gibt es ein ,Parlament der 300' und 33 Rabbinerparlamente, und dahinter noch andere, unsichtbare Lenker. Sie regieren die Welt über die kapitalistische Weltordnung. [...] Wenn die Israelis in Frieden leben wollen, wäre es vielleicht besser, wenn sie zum Beispiel in Amerika lebten". StRuktuRen die Milli-Görüs-Bewegung setzt sich aus mehreren komponenten zusammen, deren gemeinsame Grundlage die ideologisch-religiöse orientierung an den Vorstellungen necmettin erbakans bildet. AUF EINEN BLICK * SP * IGMG * Milli Gazete * erbakan Vakfi (erbakan Stiftung) * Iac SP | Seit einigen Jahren etablieren sich deutschlandweit Ableger der europäischen SP-Vertretung, die Anhänger und Wählerpotenzial in Deutschland aktivieren, um die Politik der Mutterpartei in der Türkei zu unterstützen. Dabei vertraten die SP-Strukturen in Deutschland die politische Ausrichtung der Ideologie Necmettin Erbakans innerhalb der Milli-Görüs-Bewegung, in Hessen war dies der Saadet Deutschland Regionalverein Hessen e. V. IGMG | Die IGMG war laut ihrer Selbstdarstellung eine staatenübergreifend vernetzte Religionsgemeinschaft, die in Regionalverbände, Moscheegemeinden und weitere Zweigstellen aufgegliedert war. Die IGMG war nicht in der Gesamtheit ihrer Mitglieder der islamistischen Milli-Görüs-Bewegung zuzurechnen. Teile der IGMG befanden sich in einem bereits seit Jahren andauernden Prozess des Abwendens von der islamistischen Ideologie Erbakans. Es lagen jedoch tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor, dass einige Strukturen der IGMG in Hessen weiterhin der Ideologie Erbakans folgten und bestrebt waren, dessen Ziele perspektivisch umzusetzen. In Hessen gehörten der Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 255 ISLAMISMUS IGMG-Landesverband mit seinen angegliederten Verbänden der Frauen, Jugend und Studierenden sowie einzelne IGMG-Ortsvereine der Milli-Görüs-Bewegung an. Milli Gazete | Die türkische Tageszeitung Milli Gazete, deren Verlag für die Europaausgabe sich in Frankfurt am Main befindet, informierte in der Vergangenheit vorrangig über die IGMG, berichtete mittlerweile aber in wachsendem Maße über die Aktivitäten der SP im Inund Ausland. In ihrem Selbstverständnis sah sich die Milli Gazete als einzige und konstante Vertreterin der Milli-Görüs-Ideologie unter den Printmedien. In ihrem Namen führte die Milli Gazete - hier in deutscher Übersetzung - den von Erbakan geprägten Zusatz "die gerechte Ordnung wird kommen". Immer wieder hob die Zeitung in ihren Artikeln Erbakan als den Retter der Welt hervor und rühmte dessen Ideologie der Errichtung einer neuen Welt, in welcher der Islam wiederbelebt werde und über allen anderen Ordnungen stehe. Damit bildete die MillA(r) Gazete ein wichtiges Bindeglied zwischen den einzelnen Elementen der Milli-Görüs-Bewegung. Iac | Feste Vereinsstrukturen der IAC gab es in Hessen nicht, sie war lediglich im Rahmen regelmäßig stattfindender Veranstaltungen aktiv. erbakan Vakfi (erbakan Stiftung) | Das Ziel der laut eigenen Angaben 2013 unter Beteiligung von Vertretern der türkischen Milli-GörüsBewegung, Angehörigen der SP sowie von Weggefährten Necmettin Erbakans in der Türkei gegründeten Stiftung ist es, Erbakans Ideologie zu vertreten und die Erinnerung an ihn aufrechtzuerhalten. Dabei sollen sich die Aktivitäten der Stiftung weltweit entfalten und auf den Prinzipien der Milli Görüs beruhen. Vorsitzender der Erbakan Vakfi ist der Sohn Necmettin Erbakans, Fatih Erbakan. Ebenso wurde in Deutschland 2013 eine Europavertretung der Stiftung gegründet; einige Zeit danach gab es Hinweise auf Strukturen der Erbakan Vakfi in Hessen, die bisher jedoch kaum in Erscheinung traten. BeweRtunG/auSBLIck Der Aufstieg von maßgeblichen Angehörigen der SP Hessen auf die Funktionärsebene der SP Avrupa und die regelmäßigen Besuche hochrangiger Vertreter und Referenten vor allem aus den Reihen der türkischen SP betonen den unverändert hohen Stellenwert des hiesigen Landesverbands. Neu war im Berichtsjahr, das sich die SP mit einzelnen Aktivitäten stärker in der Öffentlichkeit und somit außerhalb ihres bisher eher nach innen gerichteten Aktionsraums zeigte. Dabei war die SP für ihre Mitglieder und Anhänger in gewohnter Weise mittels zahlreicher Angebote präsent. Mit einer weiteren Steigerung der Aktivitäten der SP Hessen ist mittelfristig zu rechnen. 256 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS tüRkIScHe HIzBuLLaH (tH) DEFINITION/KERNDATEN nachdem angehörige der tH in den 1990er Jahren zahlreiche Morde und andere Gewalttaten begangen hatten, zerschlug der türkische Staat die terrorgruppe 1999/2000. dabei wurde der Logo der TH tH-anführer Hüseyin Velioglu in einem Feuergefecht mit der Polizei Anhänger/Mitglieder: getötet. durch Flucht nach westeuropa (unter anderem nach In Hessen etwa 140, deutschland, Österreich, Italien und in die Schweiz) entzogen sich bundesweit etwa 400 tH-aktivisten den staatlichen Maßnahmen in der türkei. einzelne Führungsaktivisten sollen sich in den Iran abgesetzt haben. tH-anMedien (Auswahl): Dogru Haber (Wahre Nachgehörige nutzen deutschland seitdem als Rückzugsraum, um sich richt), Inzar (Warnung) und personell und logistisch zu reorganisieren. die aktivisten sammeln das Kindermagazin Cocuk hier vor allem Spenden und vertreiben Publikationen. die letzte be(Kind) kannt gewordene Gewalttat der tH in der türkei, bei der sechs Polizisten getötet wurden, ereignete sich 2001. nicht zu verwechseln ist die sunnitische tH mit der schiitisch orientierten Hizb / allah (Partei Gottes) im Libanon. eReIGnISSe/entwIckLunGen die Vahdet Moschee in wiesbaden benannte sich anfang 2019 in westend Moschee um. auch der Moscheevorstand wurde ausgetauscht. Hierbei handelte es sich jedoch lediglich um eine äußere Veränderung, denn ideologisch hielt die westend Moschee weiterhin an ihren Verbindungen zur tH fest. So beschäftigte die Moschee im Berichtsjahr mehrere Monate lang erneut einen hochrangigen tH-Funktionär als Imam. AUF EINEN BLICK * Schwerpunkt wiesbaden * Rückgang der öffentlich wahrnehmbaren aktivitäten Schwerpunkt wiesbaden | Obwohl im Berichtsjahr 2018 der damalige Imam maßgeblich wegen seiner Bezüge zur TH abgeschoben wurde, stellte die Westend Moschee wenige Monate später erneut einen bedeutsamen Akteur der TH als Imam ein. Rückgang der öffentlich wahrnehmbaren aktivitäten | Größere Ereignisse wie die Kutlu-Dogum-Veranstaltungen, die bis 2017 in Hessen mit großem Aufwand durchgeführt worden waren, fanden nicht mehr statt. Offenbar wurden die Veranstaltungen in den süddeutschen Raum verlagert. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 257 ISLAMISMUS entSteHunG/GeScHIcHte Im Raum diyarbakir, der Hochburg der Partiya karkeren kurdistan (Pkk, arbeiterpartei kurdistans), entstand in der Stadt Batman im Südosten der türkei die tH, als sich in den 1980er Jahren muslimische kurden zu einer organisation zusammenschlossen. AUF EINEN BLICK * Islamistischer Gegenentwurf zur Pkk * aktivisten im untergrund Islamistischer Gegenentwurf zur Pkk | Als islamistischer Gegenentwurf zur PKK kämpfte die TH zwischen Ende der 1980er und Mitte der 1990er Jahre gewaltsam sowohl gegen die damals säkular-linksextremistisch ausgerichtete kurdische Terrororganisation als auch gegen den türkischen Staat. Dabei folterten und töteten TH-Angehörige mehrere hundert Menschen. Intern bekämpften sich zwei miteinander verfeindete Lager der TH mit Gewalt, wobei die mit der ägyptischen MB sympathisierende Ilim-Gruppe schließlich die Oberhand gewann. Insgesamt werden der TH eine Vielzahl von Morden - unter anderem an liberalen türkischen Journalisten, Staatsvertretern und "Verrätern" aus den eigenen Reihen - sowie Folterungen zur Last gelegt. aktivisten im untergrund | Im Verlauf umfassender Exekutivmaßnahmen des türkischen Staats gegen die TH wurde im Jahr 2000 in Istanbul der TH-Anführer Hüseyin Velioglu getötet. Funktionäre wurden festgenommen und seitdem mehrere tausend TH-Angehörige verhaftet. 2011 wurden in der Türkei aufgrund einer Gesetzesänderung zahlreiche TH-Funktionäre unter gerichtlichen Meldeauflagen aus der Haft entlassen. Der größte Teil ist seitdem untergetaucht. Ihren militärischen Flügel baute die TH mittlerweile neu auf, sie bildete neue Kämpfer aus und beschaffte sich erneut Waffen und Sprengstoff. IdeoLoGIe/zIeLe In der 2004 veröffentlichten Schrift Kendi dilinden Hizbullah (dt. die Hizbullah in eigenen worten) sind die ideologischen Leitlinien der tH dargelegt. danach seien differenzen in der islamischen welt und die Herrschaft nichtislamischer Regierungen die ursache aller Probleme. Laut einer erklärung aus dem Jahr 2012 soll das politische System in der türkei legal und gewaltfrei überwunden und eine islamische Herrschaft errichtet werden. 258 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS AUF EINEN BLICK * Schaffung eines islamischen Gottesstaats * Strategiewechsel seit 2000 * antisemitische und antiwestliche Propaganda in tH-Publikationen * "aufwecken" des Jihad-Gedankens Schaffung eines islamischen Gottesstaats | Ziel der TH ist es, in der Türkei einen islamischen Gottesstaat zu errichten und diesen auf die gesamte Welt auszudehnen. Die "westliche" Welt, insbesondere die USA und der Staat Israel, zählen zu den Feindbildern der TH. In der im Jahr 2004 veröffentlichten Schrift Kendi Dilinden Hizbullah beschreibt die TH ihre Ziele wie folgt: "Tausendfacher Dank an Gott, der uns die Hizbullah-Gemeinde und die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinde geschenkt hat, die sich auf das Kampffeld begeben hat, um die Herrschaft des Islam überall zu verbreiten. [...] Mit dem Wunsch eine vereinte islamische Umma zu gründen, in der [...] die göttliche Gerechtigkeit herrscht und die Hadd-Strafen gelten, haben wir das Kämpfen für diesen Glauben und dieses Ziel als unser islamisches Bekenntnis und als eine Notwendigkeit des Islam nach dem Verständnis des Propheten betrachtet. Für solch eine heilige Mission zu kämpfen, Schmerz und Folter zu erdulden und sogar als Märtyrer zu sterben, haben wir als eine Ehre empfunden. Auch in der Zukunft werden wir dieser heiligen Mission und diesen Werten verbunden bleiben und es als Ehre und Würde empfinden, dafür zu kämpfen". Strategiewechsel seit 2000 | Neue Gewalttaten macht die TH von dem "Erfolg" ihres Strategiewechsels abhängig: In der Türkei will sie sich als einflussreiche gesellschaftliche Organisation etablieren und sich hierdurch steigende politische Unterstützung sichern. Hierfür intensiviert sie - ähnlich wie die HAMAS im Nahen Osten - ihre Anstrengungen unter anderem im sozialen Bereich und verzichtet in ihrer Außendarstellung auf Gewalt. Mit Spendenkampagnen im Rahmen von Notsituationen versuchte die TH Einfluss zu gewinnen. antisemitische und antiwestliche Propaganda in tH-Publikationen | Die ideologischen Leitlinien der TH, insbesondere antisemitische und antidemokratische Äußerungen, finden regelmäßig Eingang in Magazine, die der TH nahestehen oder dieser zuzurechnen sind. So ist zum Beispiel in der Zeitschrift Dogru Haber zu lesen: "Sie [i. e. die Götzendiener] beschimpften uns mit den Worten wie Demokratie, Laizismus, Freiheit und Menschenrechte. [...] Sie wollten den Juden dienen sonst gar nichts! Komm, Scharia, komm und zerschlage alle diese falschen Götter!" Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 259 ISLAMISMUS "aufwecken" des Jihad-Gedankens | In dem von einem ehemaligen Imam der Vahdet Moschee in Wiesbaden herausgegebenen Magazin Inzar (Warnung) hieß es mit Bezug auf eine Sure im Koran: "Der palästinensische Staat gehört den Palästinensern. Der islamische Boden, auch wenn es nur ein Fußbreit sein sollte, ist den Ungläubigen verboten. Denn Gott sagt: ,Und kämpft um Gottes Willen gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen... (Bakara, 2/190). Und tötet Sie, wo ihr sie zu fassen bekommt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben! Der Versuch[, Gläubige zum Abfall vom Islam] zu verführen, ist schlimmer als Töten". (Schreibweise wie im Original.) Ebenso wurde in einem Inzar-Artikel der MB-Angehörige Izz al-Din al-Qassam (1882-1935) zitiert. Während des von Großbritannien ausgeübten Völkerbundmandats für Palästina (1920-1947) hatte er als militanter Verfechter des Jihads sowohl die Briten als auch die dortige zionistische Bewegung bekämpft und war im heutigen Westjordanland von britischen Soldaten erschossen worden: "Es ist nicht unbedingt bedeutsam, dass wir diesen Krieg gewinnen. Wichtiger ist es, dass wir der islamischen Gemeinschaft und den zukünftigen Generationen eine Lehre zuteilwerden lassen, so dass der JihadGedanke in ihnen auferweckt wird". StRuktuRen Strukturen der TH bestanden außerhalb der Türkei in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Italien, Belgien, den Niederlanden und Frankreich. Deutschland diente dabei als Rückzugsraum zum finanziellen und personellen Aufbau der TH. Die Organisation unterhielt in Deutschland - ebenso wie im Ausland - einige Moscheevereine, wobei die TH insgesamt straff organisiert war. In Hessen bildete Wiesbaden den Schwerpunkt der Aktivitäten der TH. BeweRtunG/auSBLIck Ihre sich seit 2018 abzeichnende Strategie setzte die TH im Berichtsjahr fort: Öffentliche Veranstaltungen und Aktivitäten mit größerer Außenwirkung wurden eingestellt. Dabei hielt die Westend Moschee in Wiesbaden weiter an der Ideologie der TH fest und arbeitete gezielt mit wichtigen TH-Aktivisten zusammen. Da die Moschee stark im Wiesbadener Stadtteil Westend verwurzelt ist, ist es wahrscheinlich, dass ihre Anhängerschaft die entsprechenden Bestrebungen mitträgt. 260 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ISLAMISMUS SonStIGe BeoBacHtunGSoBJekte Im Folgenden wird ein ableger von al-Qaida in ostafrika als weitere relevante islamistische Gruppierung aufgeführt. die auflistung ist nicht abschließend. Harakat al-Shabaab al-Mujahidin (al-Shabaab, Bewegung der Mujahidin-Jugend) | Im Februar 2012 schwor al-Shabaab dem Nachfolger Osama bin Ladens, Dr. Aiman al-Zawahiri, die Gefolgschaft und gilt seitdem als regionaler al-Qaida-Ableger. Ziele al-Shabaabs sind die Errichtung eines islamischen Gottesstaats am Horn von Afrika, der Sturz der somalischen Regierung sowie die Beteiligung am weltweiten gewaltsamen Jihad. Die Terrormiliz kontrollierte Teile Südsomalias und setzte dort die Scharia in strenger Form durch. Aufgrund des militärischen Engagements der Afrikanischen Union (AU) wurde al-Shabaab mithilfe des internationalen Truppenkontingents African Mission in Somalia (AMISOM) zwar im Jahr 2012 aus Mogadischu und weiteren Gebieten verdrängt, dennoch verübte die Terrormiliz in den vergangenen Jahren in Somalia und im Nachbarland Kenia schwere Anschläge, die zahlreichen Menschen das Leben kosteten. Im Berichtsjahr kamen durch Selbstmordattentäter, die Autobomben und Schusswaffen verwendeten, mehr als 1.000 Menschen um, das heißt 700 mehr als im Jahr zuvor. Bevorzugte Anschlagsziele waren Hotelgebäude, Militärstützpunkte und Regierungsgebäude. So starb der Bürgermeister Mogadischus nach einem Anschlag auf sein Büro durch das Selbstmordattentat einer von al-Shabaab rekrutierten Mitarbeiterin. Zum 18. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 rief al-Zawahiri seine Anhänger per Videobotschaft zu neuen Attacken auf, wobei der Fokus auf amerikanische, europäische, israelische und russische Ziele gelegt werden solle. In der deutschsprachigen al-Qaida-Unterstützerszene rief der Aufruf jedoch keine Reaktion hervor. In Deutschland verfügte al-Shabaab über keine organisierte Unterstützungsstruktur, einzelne Sympathisanten und ehemalige Mitglieder der Terrormiliz gab es jedoch auch in Hessen. Der im Oktober 2018 vor dem OLG Frankfurt am Main gegen einen somalischen Staatsangehörigen begonnene Prozess endete im Januar 2019 mit einem Freispruch. Die Tatvorwürfe des versuchten Mords, der Beihilfe zum Mord sowie die Mitgliedschaft in der ausländischen terroristischen Vereinigung al-Shabaab waren dem somalischen Staatsangehörigen nicht nachzuweisen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 261 ISLAMISMUS ISLaMIStIScHe StRaFund GewaLttaten Im Vergleich zu 2018 erhöhte sich die Anzahl der islamistischen Strafund Gewalttaten im Berichtsjahr - auf niedrigem Niveau - um ein Drittel. Mit lediglich einer Körperverletzung war die Zahl der Gewalttaten in dem Fünfjahreszeitraum 2015 bis 2019 dagegen konstant. Insgesamt war der überwiegende Teil der Straftaten dem Bereich Jihadismus zuzuordnen. Hier fielen die meisten Taten in die Kategorie "andere Straftaten (insbesondere Propagandadelikte), wobei im Berichtsjahr vermehrt Fälle von Terrorismusfinanzierung und gegen das Vereinsgesetz gerichtete Verstöße zu verzeichnen waren. (Siehe im Glossar unter dem Stichwort Politisch motivierte Kriminalität zur Erfassung politisch motivierter Strafund Gewalttaten mit extremistischem Hintergrund.) | 2019 2018 2017 2016 2015 Deliktart Tötung Versuchte Tötung Körperverletzung 1 1 Brandstiftung/Sprengstoffdelikte 1 Landfriedensbruch Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs, Luftund Straßenverkehr Freiheitsberaubung, Raub, Erpressung, 1 Widerstandsdelikte Gewalttaten insgesamt 1 1 1 1 Sonstige Straftaten Sachbeschädigung 3 1 1 3 Nötigung/Bedrohung 1 3 5 10 Andere Straftaten 34 20 92 51 50 (insbesondere Propagandadelikte) Strafund Gewalttaten insgesamt 36 27 99 62 54 262 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG - MeRkMaLe - extReMIStIScHeS PeRSonenPotenzIaL MIt auSLandSBezuG - PaRtIya kaRkeRen kuRdIStan (Pkk, aRBeIteRPaRteI kuRdIStanS) - deVRIMcI HaLk kuRtuLus PaRtISI-cePHeSI (dHkP-c, ReVoLutIonäRe VoLkSBeFReIunGS-PaRteI-FRont) - extReMIStIScHe StRaFund GewaLttaten MIt auSLandSBezuG EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG MeRkMaLe der nichtreligiös motivierte extremismus mit auslandsbezug umfasst sicherheitsgefährdende extremistische und terroristische Bestrebungen in deutschland, die im zusammenhang mit politisch-gesellschaftlichen entwicklungen im ausland stehen und überwiegend von Personen mit Bezug zu den politischen Verhältnissen in einem anderen Staat getragen werden. AUF EINEN BLICK * Gegen Völkerverständigung und friedliches zusammenleben der Völker * Breites Spektrum von Bestrebungen mit auslandsbezug Gegen Völkerverständigung und friedliches zusammenleben der Völker | Extremistische Bestrebungen mit Auslandsbezug richten sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung bzw. das friedliche Zusammenleben der Völker. Diese Bestrebungen gefährden die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland, indem ihre Urheber Gewalt anwenden oder darauf ausgerichtete Handlungen vorbereiten. Obwohl diese Bestrebungen nicht in erster Linie auf die Abschaffung oder Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zielen, können sie die Sicherheit des Bundes oder der Länder gefährden. Breites Spektrum von Bestrebungen mit auslandsbezug | Die Art der politischen Agitation zur Umsetzung dieser extremistischen Aktivitäten ist vielfältig. Sie reicht von Demonstrationen und Kundgebungen mit zum Teil gewalttätigem Verlauf bis hin zu "Spendensammelaktionen" und zur logistischen Unterstützung von Konfliktparteien im Herkunftsland. Das schließt die Unterstützung ausländischer terroristischer Gruppierungen ein. Die unterschiedlichen Zielrichtungen von Organisationen mit Auslandsbezug lassen sich im Wesentlichen unterteilen in * nationalistische, rechtsextremistische Bestrebungen, * linksextremistische Bestrebungen sowie * ethnisch motivierte Autonomiebzw. Unabhängigkeitsbestrebungen. * Die Übergänge sind dabei oft fließend. 264 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG extReMIStIScHeS PeRSonenPotenzIaL MIt auSLandSBezuG1 Das Mitgliederund Anhängerpotenzial von extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug sank 2019 im Vergleich zum Vorjahr leicht ab. Grund hierfür ist die Einstellung der Beobachtung der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE). Der mit Abstand größte Anteil entfiel weiterhin auf Gruppierungen aus dem türkischen linksextremistischen und rechtsextremistischen Spektrum. | 2019 2018 2017 2016 2015 Kurdischer Ursprung Hessen 1.500 1.500 1.500 1.500 1.500 Bund 14.500 14.500 14.500 14.000 14.000 Türkischer Ursprung Hessen 2.655 2.700 2.725 2.725 2.725 Bund 13.550 13.550 13.550 13.550 12.550 Sonstige Hessen 40 130 250 300 400 Bund 770 2.300 2.500 2.500 2.500 Gesamtzahl der Extremisten mit Auslandsbezug Hessen 4.195 4.330 4.475 4.525 4.625 Bund 3 28.820 30.350 30.550 30.050 29.050 1 Die Zahlen sind teilweise geschätzt und gerundet. PaRtIya kaRkeRen kuRdIStan (Pkk, aRBeIteRPaRteI kuRdIStanS) DEFINITION/KERNDATEN ursprüngliches ziel der Pkk war es, einen sozialistisch geprägten Staat ("kurdistan") zu schaffen. nachdem die strikt hierarchisch aufgebaute kaderpartei 1984 zur erreichung dieses ziels einen blutigen Guerillakrieg gegen die türkei begonnen hatte, rückte sie seit 1999 zunehmend davon ab. Inzwischen fordert die Pkk die anerkennung der kurdischen Identität und autonomie. Laut eigenen aussagen will die Pkk dies vor allem auf politischem wege erreichen. Seit november 1993 (bestandskräftig seit März 1994) ist Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 265 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG die Pkk in deutschland mit einem Betätigungsverbot belegt. die eu stuft die Pkk seit 2002 als terroristische organisation ein. Logo der PKK eReIGnISSe/entwIckLunGen Führung: die Militäroperationen der türkei im syrisch-türkischen Grenzgebiet Abdullah Öcalan (seit 1999 in der seit anfang 2018 und die eroberung der von der Pyd kontrollierten Türkei inhaftiert) Stadt afrin setzten die Pkk andauernd unter erheblichen druck. zuAnhänger/Mitglieder: sätzliche Sorge bereitete der terrororganisation die ungewissheit In Hessen etwa 1.500, über den Gesundheitszustand ihres seit 1999 auf der türkischen bundesweit etwa 14.500 Gefängnisinsel Imrali inhaftierten anführers abdullah Öcalan. Bewaffnete Gruppen: Hezen Parastina Gel (HPG, Volksdie erfolge der Pyd, der syrischen Schwesterpartei der Pkk, und verteidigungseinheiten), Teyreihrer militärischen Verbände yPG und yPJ im kampf gegen den IS bazen bescherten ihnen sowohl in der kurdischen Gemeinde als auch weltAzadiya Kurdistan (TAK, Freiheitsweit anerkennung und unterstützung. trotzdem kündigten die uSa, falken Kurdistans) die seit etwa 2014 mit der Pyd zusammenarbeiteten, seit dezemSyrischer Ableger: ber 2018 wiederholt an, ihre truppen aus Syrien zurückzuziehen. Partiya YekA(r)tiya Demokrat (PYD, diesen Plan realisierten die uSa teilweise seit dem Herbst 2019, Partei der Demokratischen wodurch für die türkei der weg frei wurde, im Rahmen der MilitäUnion) und deren militärischer roperation "Quelle des Friedens" am 9. oktober in nordsyrien einArm in Gestalt der Yekineyen Parastina Gel (YPG, Volksverteidizumarschieren und dort eine "Sicherheitszone" einzurichten. Im gungseinheiten) und der Rahmen des im Jahr 2011 ausgebrochenen syrischen Bürgerkriegs Yekineyen Parastina Jin (YPJ, hatte sich in nordsyrien unter der Führung von Pyd, yPG und yPJ Frauenverteidigungseinheiten) seit Mitte 2012 ein de facto autonomes Gebiet herausgebildet, das Medien (Auswahl): innerhalb der Pkk-anhängerschaft als "Rojava" bezeichnet wird. Yeni Özgür Politika (YÖP, Neue Freie Politik) als Sprachrohr der ziel der türkei war es, mittels ihrer Militäroperation "Quelle des FriePKK, Serxwebun (Unabhängigdens" die yPG-/yPJ-Milizen dauerhaft aus einem etwa 30 kilometer keit), Sterk TV/ NUCE-TV breiten korridor entlang der türkisch-syrischen Grenze zu ver- \ treiben, um dort syrische Flüchtlinge anzusiedeln. Im Rahmen einer zwischen der türkei und den uSa vereinbarten und sodann zwischen der türkei und Russland verlängerten waffenruhe zogen die yPG ihre kämpfer aus nordsyrien ab, sodass truppen des von Russland unterstützten assad-Regimes in die entsprechenden Gebiete einrückten. Im Rahmen einer komplexen Gemengelage (militärischer druck der türkei, ungeklärter Gesundheitszustand Öcalans, erfolge im kampf gegen den IS, Verlust ehemaliger Bündnispartner) versuchte die Pkk - vor allem in deutschland - ihre öffentliche wahrnehmung bzw. ihre staatliche einstufung als terrororganisation in eine anerkennung als militärisch und politisch verfolgte Freiheitsbewegung umzumünzen. entsprechende demonstrationen von Pkk-anhängern verliefen im unterschied zu 2018 weitestgehend friedlich. unterstützung erhielt die Pkk hierbei unter anderem durch "Solidari266 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG tätsaktionen" deutscher Linksextremisten, wobei aus deren Reihen heraus vereinzelt Gewalttaten begangen wurden. AUF EINEN BLICK * "28. Internationales kurdisches kulturfestival" * demonstrationen gegen den einmarsch türkischer truppen in nordsyrien * "Rojava" als Modell der "antikapitalistischen kräfte der Fridays-for-Future-Bewegung" * zentrale bundesweite newroz-Veranstaltung in Frankfurt am Main * "Spendensammlungen" "28. Internationales kurdisches kulturfestival" | Erstmals seit 21 Jahren fand am 21. September das Festival in Maastricht (Niederlande) und damit nicht in Deutschland statt. Angemeldet worden war die Veranstaltung, an der etwa 7.000 Personen (2018: 3.500) teilnahmen, als Protestkundgebung ("Status für Rojava, Freiheit für Öcalan!") gegen die bevorstehende Offensive der türkischen Armee in Nordsyrien. Mehrere hochrangige PKK-Funktionäre hatten im Vorfeld in "Werbeeinschaltungen" im Programm des PKK-Fernsehsenders Sterk TV zu der Teilnahme an dem "Kulturfestival" aufgerufen. Daneben warben PKK-Anhänger in den sozialen Medien unter dem Hashtag #MaastrichtteHalklarBulusuyor (dt. Völker treffen sich in Maastricht) für eine Teilnahme. Laut der YÖP wurde das Festival von folgenden Organisationen organisiert: * Kongreya Civaken Demokratik a Kurdistaniyen Ewropa (KCDK-E, Kurdischer Demokratischer Gesellschaftskongress in Europa), * Almanya'daki Mezopotamya Topluluklar Konfederasyonu (Konföderation der Gemeinschaften Mesopotamiens in Deutschland, KON-MED), * Avrupa Türkiyeli Isciler Konfederasyonu (ATIK, Konföderation der Arbeiter der Türkei in Europa) und * Avrupa Ezilen Göcmenler Konfederasyonu (AvEG-Kon, Konföderation der unterdrückten Migranten in Europa). Dabei sind die ATIK der Türkiye Komünist Partisi/Marksist Leninist (TKP/ML, Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten) und die AvEG-Kon der Marksist Leninist Komünist Parti (MLKP, MarxistischLeninistische Kommunistische Partei) zuzurechnen. Hiermit versuchte die PKK zumindest nach außen den Eindruck zu erwecken, dass ihre Sache auf einer breiten Basis verschiedener Organisationen fußte. Allerdings gab die PKK ihren Alleinvertretungsanspruch für die kurdische Sache dabei nie aus der Hand. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 267 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Ein Vertreter der kurdischen Autonomieverwaltung Nordund Ostsyriens erklärte: "Die Revolution von Rojava baut auf der jahrelangen Arbeit Abdullah Öcalans auf. Wer sich für Rojava einsetzt, setzt sich gleichzeitig für Öcalan ein". demonstrationen gegen den einmarsch türkischer truppen in nordsyrien | Bereits zwei Tage vor dem Einmarsch türkischer Truppen am 9. November kam es europaund deutschlandweit zu zahlreichen Protesten der PKK-Anhängerschaft. In Hessen gab es Kundgebungen zunächst in größeren Städten wie Frankfurt am Main, Wiesbaden, Kassel, Darmstadt, Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) und Gießen (Landkreis Gießen). Zunehmend beteiligten sich deutsche Linksextremisten an den Kundgebungen und führten sie im weiteren Verlauf in sogenannter Bündnisarbeit überwiegend an Universitäten in eigener Initiative fort. Partner dieser Bündnisarbeit waren kurdische PKK-nahe Studierendenverbände, linksextremistische Gruppen aber auch Gruppierungen aus dem nichtextremistischen Spektrum. So rief das Widerstandskomitee Berlin auf der Internetseite der der PKK nahestehenden Nachrichtenagentur Ajansa Nuceyan a Firate (ANF, Firat News Agency) zu einem "neuen Frühling der internationalistischen Solidarität" auf. Laut einer Meldung der YÖP vom 9. Oktober gründete sich in Köln (Nordrhein-Westfalen) die PKK-nahe Plattform "Defend Rojava/Verteidige Rojava", deren Ziel es war, jeden Donnerstag um 18 Uhr vor amerikanischen Konsulaten, vor Parlamentsgebäuden und in Stadtzentren Aktionen durchzuführen. Entsprechende Kundgebungen vor dem amerikanischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main verliefen friedlich und störungsfrei. War im Berichtsjahr die Anzahl der Demonstrationen im PKK-Kontext ohnehin hoch (insgesamt etwa 150), so stieg sie seit der türkischen Militäroffensive deutlich an. Im Zeitraum zwischen dem 7. Oktober und 23. Dezember kam es hessenweit zu mehr als 200 öffentlichen Veranstaltungen. Dabei lauteten die Themen unter anderem: * "Protest gegen türkisch-dschihadistische Angriffe in Rojava", * "Rojava verteidigen", * "Kurden gegen Krieg", * "weitere Offensive der Türkei in Syrien mit Toten", * "gegen den türkischen Angriffskrieg" und * "our resistance against the war - RiseUp4Rojava". Auf die einzelnen Städte bezogen, verteilte sich die Anzahl der Veranstaltungen wie folgt: * Frankfurt am Main: 65. * Gießen (Landkreis Gießen): 44. 268 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG * Kassel: 27. * Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf): 21. * Darmstadt: 22. * Wiesbaden: 8. * Bad Hersfeld (Landkreis Hersfeld-Rotenburg): 7. * Hanau (Main-Kinzig-Kreis): 4. * Witzenhausen (Werra-Meißner-Kreis): 1. * Friedberg (Wetteraukreis): 1. * Limburg (Landkreis Limburg-Weilburg): 1. Überwiegend folgende Personenzusammenschlüsse trugen bzw. organisierten die Proteste in Hessen: * verschiedene "Rojava"-Solidaritätsbündnisse, * örtliche PKK-nahe Vereine, * der Yekitiya Xwendekaren Kurdistan (YXK, Verband der Studierenden aus Kurdistan) sowie die Jinen Xwendekar en Kurdistan (JXK, Studierende Frauen aus Kurdistan), die türkische linksextremistische Yeni Demokratik Genclik (YDG, Neue Demokratische Jugend) und * deutsche linksextremistische Gruppen wie die MLPD, die linksjugend ['solid] und die DIE LINKE.Sozialistisch-Demokratischer Studierendenverband (DIE LINKE.SDS). Dabei nahmen phänomenübergreifend sowohl Personen aus dem deutschen Linksextremismus als auch aus dem Extremismus mit Auslandsbezug an der Mehrzahl der Veranstaltungen teil. Folgende in Hessen aktive "Rojava"-Solidaritätsbündnisse und Internetplattformen wurden von Personen aus dem deutschen dogmatischen Linksextremismus getragen: * Defend Rojava Rhein-Main, * RiseUp4Rojava, * Nehele und * Women Defend Rojava. Sowohl die Beteiligung als auch die Einflussnahme deutscher Linksextremisten aus dem dogmatischen und dem autonomen Bereich spiegelten sich in einschlägigen Parolen wider: * "Rüstungsindustrie blockieren", * "Helft der Presse", * "Friday for Peace", * "Solidarität mit Rojava! Kein Fußbreit den Faschisten!" Die Teilnehmerzahlen bei den Demonstrationen, unter denen sich fast immer deutsche linksextremistische Gruppierungen befanden, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 269 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG bewegten sich bisweilen im vierstelligen Bereich. Die teilnehmerstärksten Veranstaltungen fanden in den folgenden Städten statt: * 11. Oktober, Gießen (Landkreis Gießen): etwa 1.000 Personen. * 12. Oktober, Frankfurt am Main: etwa 3.800 Personen. * 17. Oktober, Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf): etwa 1.000 Personen. * 19. Oktober, Frankfurt am Main: etwa 4.500 Personen. Vor allem in Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) und Gießen (Landkreis Gießen) nahmen im Zuge der Proteste gegen den türkischen Einmarsch in "Rojava" die Aktivitäten der PKK bzw. der YXK im Vergleich zu den Vorjahren zu. Insgesamt verlief der überwiegende Teil der Demonstrationen friedlich und ohne besondere Vorkommnisse. In Frankfurt am Main, Kassel, Gießen (Landkreis Gießen) und Darmstadt wurden jedoch szenetypische Straftaten verübt: Es wurden Graffitis gesprüht, Farbe geschmiert, Personen vermummten sich und an Brücken wurden Banner aufgehängt. Vereinzelt kam es zu verbalen Auseinandersetzungen mit der Polizei und türkischen Passanten, die den kurdischen Demonstranten den sogenannten Wolfsgruß, das Handzeichen türkischer Nationalisten, zeigten. Dabei waren in Hessen insbesondere folgende Ereignisse relevant: * Frankfurt am Main, 7. oktober: Während eines Aufzugs mit etwa 160 Teilnehmern provozierte ein türkischer Tourist die Demonstranten, indem er den Wolfsgruß zeigte. Die Polizei unterband eine Auseinandersetzung zwischen den Kontrahenten. * witzenhausen (werra-Meißner-kreis), 10. oktober: Unbekannte Täter besprühten einen Verkehrskreisel mit den Namen kurdischer Städte bzw. Regionen in Nordsyrien: "Rojava", Qamishlo", "Gire Spi". * kassel, 11. oktober: Als etwa 400 Personen die Parole "Terrorist Erdogan" skandierten", kam es während eines Aufzugs zu verbalen und körperlichen Auseinandersetzungen zwischen Demonstrationsteilnehmern und türkischen Passanten bzw. Anwohnern. Die Polizei deeskalierte die Situation. * offenbach am Main, 13. oktober: Ein unbekannter Täter sprühte mit schwarzer Farbe unter anderem "Fuck AKP!" und "YPG" an eine Wand der Moschee der Türkisch Islamischen Gemeinde zu Offenbach a/M e. V. * darmstadt, 14. oktober: Bei einer Demonstration kam es zwischen den etwa 100 Teilnehmern und nationalistischen Türken zu gegenseitigen Provokationen, wobei die Polizei eine Eskalation verhinderte. 270 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG * Gießen (Landkreis Gießen), 15. oktober: Ein mit mehreren Personen besetztes Fahrzeug fuhr an einer Demonstration mit PKK-Anhängern vorbei, wobei am Autofenster eine türkische Flagge hing und einer der Insassen den Wolfsgruß zeigte. Als das Fahrzeug verkehrsbedingt halten musste, zogen mehrere Demonstranten einen Insassen aus dem Fahrzeug, rissen die Fahne ab und beschädigten das Auto. Kurze Zeit später wurde der zuvor aus dem Auto gezogene Fahrer im Stadtgebiet erneut abgefangen und durch einen Faustschlag aufs Auge verletzt. * kassel, 17. oktober: Während in der Innenstadt eine Demonstration stattfand, sprühten unbekannte Täter auf die rückseitige Hauswand des Ordnungsamts den Schriftzug "Biji Berxwedana Rojava" (dt. "Lang lebe der Widerstand von Rojava"). * darmstadt, 18. oktober: Im Rahmen einer nichtangemeldeten Kundgebung vor einer Mercedes-Niederlassung hängten die etwa 50 Teilnehmer Transparente und Plakate mit den Aufschriften "Mercedes liefert, Türkei bombardiert" auf. * Hanau (Main-kinzig-kreis), 25. oktober: Bei einer Demonstration gegen den Einmarsch türkischer Truppen in "Rojava" kam es zu körperlichen Auseinandersetzungen zwischen Kurden und nationalgesinnten Türken. Die Polizei setzte Pfefferspray und Polizeihunde ein, um die Kontrahenten zu trennen. "Rojava" als Modell der "antikapitalistischen kräfte der Fridays-forFuture-Bewegung" | Auf der von Linksextremisten genutzten Internetseite de.indymedia.org wurde am 11. Oktober ein Schreiben eingestellt, in dem "Rojava" als vorbildliches gesellschaftspolitisches Modell für die linksextremistische Szene dargestellt wurde. In dem Beitrag unter dem Titel "Antikapitalistische Kräfte der Fridays for Future Bewegung - Solidarität mit Rojava" hieß es: "In Rojava wurde ein System aufgebaut, welches den Ideen des demokratischen Konförderalismus folgt. Die drei Grundpfeiler dieser Ideologie sind Feminismus, Ökologie und Basisdemokratie. [...] Es gibt die Kampagne Make Rojava Green Again und eine Fridays for Future Ortsgruppe in Rojava. Rojava ist ein Rätesystem, indem die Entscheidungen basisdemokratisch gefällt werden. [...] Seit Jahren ist die USA in Rojava stationiert. [...] Die USA ist der mächtigste kapitalistische Staat [...] und die USA stimmte dem Angriff zu. Der Angriff bereitet uns große Sorgen. Zahlreichen Zivilist*innen, einem fortschrittliches Gesellschaftsmodell, der Kampagne Make Rojava Green Again und auch Fridays for Future in dieser Region drohen das Ende. [...] Das Thema Krieg ist einer der Gründe, wieso Umweltschutz antikapitalistisch sein sollte: Der Kapitalismus zwingt Konzerne und Staaten zum Konkurrenzkampf und Kriege sind ein Mittel um ökonomische Interessen durchzusetzen. [...] In Rojava findet ein GeHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 271 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG sellschaftswandel statt: Weg von einem zwanghaften Profitstreben und grenzenlosem Verbrauch hin zur Produktion für die Bedürfnisse. Weg von einer Elite, die Entscheidungen trifft, hin zur massenhaften politischen Partizipation. Wir befürworten diesen gesellschaftlichen Fortschritt. Auch wir stehen für einen gesamtgesellschaftlichen Wandel und sehen dies als Lösung der Klimakrise. ,Make Rojava green again'". (Schreibweise wie im Original) Laut einer von der PKK-nahen Nachrichtenagentur ANF am 17. Oktober veröffentlichten Ankündigung der Fridays-for-Peace-Bewegung sollte es für bestimmte Anlässe zu einer Zusammenarbeit zwischen Fridays for Future und RiseUp4Rojava kommen. Vor diesem Hintergrund stellte RiseUp4Rojava einen Aktionsplan für den darauffolgenden Tag vor, der die Namen verschiedener Städte enthielt, in denen Aktionen unter dem Motto "Fridays for (for Rojava) future" stattfinden sollten. Nachfolgend sind entsprechende Veranstaltungen in Hessen aufgeführt, bei denen das Thema "Fridays for future" in "Friday/Fridays for peace" oder ähnlich lautende Slogans umbenannt wurde: * witzenhausen (werra-Meißner-kreis) und Frankfurt am Main, 18. oktober, sowie Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf), 1. november: Bei allen Veranstaltungen von Fridays for Future wurde unter dem Motto "Fridays for Peace" auf die türkische Militärinvasion in Nordsyrien aufmerksam gemacht. In Witzenhausen sprühten unbekannte Täter an die Hauswand eines Busunternehmens die Parolen "Fight Nazis everywhere!", "Millions of Dead Cops". In Marburg verteilten kurdische Teilnehmer während des Zulaufs zu der Demonstration Wimpel mit YPG-Bezug. Die Polizei brach die Aktion ab und untersagte die Veranstaltung. Daraufhin wurde die ursprünglich geplante Veranstaltung ("Fridays for Future, Krieg und Klimawandel") abgesagt. Eine Person aus dem deutschen linksextremistischen Spektrum meldete eine Spontanveranstaltung ("Rise up for Rojava-Solidarität mit Rojava! Gegen die türkische Invasion in Syrien und die damit verbundenen schädlichen Einflüsse für das Klima") an. Hierbei durften nicht verbotene PYGund YPG-Wimpel gezeigt werden. * Marburg, 10. november: Bei einem Vortrag im Erwin-Piscator-Haus auf dem Gelände der Philipps-Universität Marburg ("Make Rojava green again") wurden die ökologischen Projekte bzw. die ökologische Entwicklungsmöglichkeit in "Rojava" thematisiert. Darüber hinaus diskutierten die Teilnehmer, welche Perspektiven "Rojava" für die "Klimagerechtigkeitsbewegung" in Deutschland bieten könne. 272 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG * Frankfurt am Main, 27. november: Bei einer Versammlung in der Mensa der Goethe-Universität Frankfurt am Main machten die Teilnehmer auf die "Verschränkung der Kämpfe für Rojava" mit den "Kämpfen für Klimagerechtigkeit" aufmerksam. Vertreter der Plattform Students for future übergaben die Forderungen der Vollversammlung dem Präsidium der Universität. Dabei zeigten die Teilnehmer Transparente mit den Aufschriften "Make Rojava & Rhein-Main green again - defend Rojava" und "No partnership with turkish fascism". Am gleichen Tag hieß es auf der Facebook-Seite von JXK und YXK Frankfurt: "Heute waren wir mit vielen tollen Initiativen bei der Messe der ,Students for future Frankfurt - Klimastreikwoche' in der Goethe-Universität Frankfurt und haben u. a. Bücher von ,Make Rojava green again' verkauft. Der Angriff auf die ökologische Revolution in Rojava ist eng verbunden mit den Angriffen, welche die kapitalistische Moderne auf den gesamten Planeten Erde vornimmt". * kassel, 5. dezember: Bei einer Veranstaltung der linksjugend ['solid] ("Klimakrise und Kapitalismus-Rojava eine ökologische Revolution") berichteten zwei Referenten von "Make Rojava green again" über dort gemachte Erfahrungen und diskutierten mit den Teilnehmern über die ökologische Revolution. zentrale bundesweite newroz-Veranstaltung in Frankfurt am Main | Wie im Jahr 2017 fand im Berichtsjahr die größte PKK-nahe Demonstration in Hessen statt. Rund 25.000 PKK-Anhänger aus ganz Deutschland und dem benachbarten Ausland kamen am 23. März wieder nach Frankfurt am Main, um dort die zentralen Feierlichkeiten zum kurdischen Neujahrsfest zu begehen. 2017 waren es 30.000 Teilnehmer, 2018 in Hannover (Niedersachsen) 11.000 Personen gewesen. Als Anmelder fungierte erstmals der im Januar 2019 gegründete Verein KAWA - Demokratische Föderation der Gesellschaften Kurdistan e. V. in Darmstadt. Der Verein ist Teil mutmaßlicher Strukturen des Navenda Civaka Demokratik ya Kurden li Almanyaye (NAV-DEM, Demokratisches Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Deutschland e. V.). Versammlungsleiter waren PKK-Kader bzw. -Aktivisten aus Hessen und Nordrhein-Westfalen, unter ihnen die Co-Vorsitzende des NAVDEM, Ayten Kaplan. Sie war auch 2018 in die Organisation der zentralen Newroz-Feierlichkeiten eingebunden gewesen. Das Motto im Berichtsjahr lautete "Newroz das Fest der Freiheit - Freiheit für Abdullah Öcalan". Die Teilnehmer liefen in zwei gleichstarken Demonstrationszügen (jeweils 9.000 bis 10.000 Personen) durch die Frankfurter Innenstadt zum Rebstock-Gelände, wo die Abschlusskundgebung stattfand. Auf das Abspielen der Videobotschaft eines Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 273 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Vertreters der PKK Führung aus dem Kandilgebirge verzichtete der Veranstalter, da dies einen Verstoß gegen die Auflagenverfügung der Stadt Frankfurt am Main bedeutet hätte und unter Umständen zu einem Abbruch der Abschlussveranstaltung hätte führen können. Insgesamt gab es keine Störungen, allerdings stellte die Polizei im Vorfeld und im Verlauf der Kundgebung etliche Verstöße gegen das PKK-Kennzeichenverbot - in der Mehrheit verbotene und zusätzlich per Auflagenverfügung untersagte Abbilder von Abdullah Öcalan - fest. Die Polizei dokumentierte die Verstöße, woraus zahlreiche Ermittlungsverfahren resultierten. Bereits im Zuge der bundesweiten Busanreise hatte die Polizei einen Bus aus Stuttgart (Baden-Württemberg) gestoppt und durchsucht. Dabei stellte sie Öcalan-Fahnen, sieben Klappmesser, drei BengaloFackeln, eine Elektroschockpistole und ein Tierabwehrspray in Pistolenform sicher. Den Businsassen wurde ein Platzverweis erteilt und die Weiterreise zur Demonstration in Frankfurt am Main untersagt. Regionale kurdische Neujahrsfeste fanden am 20. März in folgenden Städten statt: * Limburg (Landkreis Limburg-Weilburg): 150 bis 170 Personen. * Gießen (Landkreis Gießen): 150 Personen. * Darmstadt: 390 Personen. Diese Kundgebungen verliefen störungsfrei. Dies gilt auch für die Feierlichkeiten am 21. März als interne Veranstaltung in Räumlichkeiten bzw. auf dem Außengelände der Universität Kassel. "Spendensammlungen" | Wie in den Vorjahren finanzierte die PKK ihren Kampf in den kurdischen Gebieten vor allem über "Spenden". Dazu fanden wie üblich etwa im Zeitraum August bis März entsprechende Kampagnen in Europa statt, wobei die PKK-Führung die "Spendenziele" für die einzelnen PKK-Gebiete vorgab. Diese Summen waren in der Regel utopisch hoch angesetzt, sodass sie nur selten erreicht wurden. Allerdings steigerte sich die "Spendenbereitschaft" seit 2014, der Befreiung Kobanes in Syrien vom IS durch kurdische Einheiten, merklich. 2018 wurden in Deutschland etwa 15.000.000 Euro an "Spenden" gesammelt. Das "Spendenaufkommen" für 2019 lag noch darüber. Die Beträge variierten im Regelfall zwischen mehreren hundert Euro bei Einzelpersonen und im Einzelfall bis zu mehreren zehntausend Euro bei Geschäftsleuten. Erfahrungsgemäß forderte die PKK jeweils die "Spende" in Höhe von bis zu einem Monatseinkommen ein. Dies war unabhängig davon, ob der Spender Gewerbetreibender oder Asylbewerber war. Die Summen waren "verhandelbar". 274 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Die jährliche "Spendensammlung" ist nach wie vor ein wesentlicher Schwerpunkt der PKK-Aktivitäten in Deutschland und dient der logistischen und finanziellen Unterstützung der Gesamtorganisation. Traditionell nehmen die "Spendensammlungen" nach dem Internationalen Kurdischen Kulturfestival an Intensität zu. In der ersten Phase kommt es zu Hausbesuchen, wobei die Höhe der von der Terrororganisation erwarteten "Spende" festgelegt wird, anschließend wird das Geld bei "Spendensammlern" und in "Depots" zwischengelagert und sodann auf dem Landweg ins europäische Ausland transportiert. Als Finanzzentrale der PKK in Europa gilt Brüssel (Belgien). Dort wird das Geld entweder für den eigenen Logistikund Propagandaapparat innerhalb Europas verwendet oder in die kurdischen Siedlungsgebiete gebracht. In der Regel sammelt der PKK-Gebietsleiter in Begleitung von alteingesessenen Kurden bzw. PKK-Angehörigen die "Spenden" ein. Letztere kennen alle kurdischen Familien, Firmen usw. und fahren den Gebietsleiter von Haus zu Haus oder stellen ihm ihr Fahrzeug zur Verfügung. Seit einigen Jahren übt die PKK "nur" psychischen Druck auf die "Spender" aus. Wer sich verweigert, wird innerhalb der örtlichen kurdischen Community an den Pranger gestellt. So wird etwa dazu aufgefordert, bei zahlungsunwilligen Geschäftsleuten nicht mehr einzukaufen. Ab und an nimmt die PKK kriegsversehrte ehemalige Guerillakämpfer zum "Spenden"-Eintreiben mit. Wendete die PKK bis in die späten 1990er Jahre auch körperliche Gewalt bis hin zu Mord im Rahmen der "Spendensammlungen" an, so wurden in den letzten Jahren, also auch bei der Kampagne 2018/2019, keine Hinweise auf Gewaltanwendung oder Drohungen bekannt. entSteHunG/GeScHIcHte 1978 als eine Partei mit marxistisch-leninistischer ausrichtung gegründet, suchte die Pkk mit ihren bewaffneten einheiten seit dem 15. august 1984 die auseinandersetzung mit dem türkischen Militär. den kampfhandlungen fielen seitdem mehrere zehntausend Menschen zum opfer. AUF EINEN BLICK * wandlungen der Pkk * Verurteilung Öcalans * umbenennungen * umfeld der Pkk Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 275 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG wandlungen der Pkk | Die ursprünglich marxistisch-leninistisch orientierte Organisation wurde am 27. November 1978 gegründet und strebte danach, durch einen Guerillakrieg einen revolutionären Umbruch zu erreichen und anschließend einen eigenen kurdischen Staat zu gründen. Im Laufe der Jahre veränderte sich diese Forderung hin zu einer konföderalen Vorstellung, die den Kurden in ihren Gebieten weitgehende kulturelle und politische Autonomie und Selbstbestimmung bringen soll. Hierzu sollen zum Beispiel ein eigenes Parlament, eigene Wirtschaftsund Finanzstrukturen, eine anerkannte eigene Sprache und eine eigene Fahne gehören. Vor allem die beiden letzten Punkte sind für die PKK besonders symbolträchtig. Von Beginn an sah die PKK Gewalt als ein wichtiges Mittel im revolutionären Kampf an. Gewalt wurde innerhalb der Organisation - zum Beispiel gegen Abweichler - ebenso angewendet wie im Rahmen bewaffneter Aktionen und Anschläge insbesondere in der Türkei. Dabei gab es, abhängig von der jeweiligen innenpolitischen Entwicklung, immer wieder Phasen eines von der PKK verkündeten "Waffenstillstands" gegenüber der türkischen Regierung. In Europa und Deutschland versuchte die PKK seit Jahren - zumindest nach außen hin - den Eindruck einer politischen Neuorientierung zu erwecken und sich vor allem durch ihren Kampf gegen den IS in Syrien als zuverlässige Partnerin europäischer Staaten darzustellen. Dies geschah auch deshalb, um eine Streichung von der EU-Terrorliste bzw. die Aufhebung des Betätigungsverbots in Deutschland zu erreichen. Verurteilung Öcalans | 1998 entzog Syrien auf massiven Druck der Türkei dem PKK-Anführer Abdullah Öcalan die Unterstützung und veranlasste ihn, sein dortiges Exil aufzugeben. Nach verschiedenen Aufenthalten in Europa und Afrika wurde Öcalan am 15. Februar 1999 in Kenia festgenommen und in die Türkei gebracht. Am 29. Juni 1999 vom Staatssicherheitsgericht in Ankara zum Tode verurteilt - die Strafe wurde mit Abschaffung der Todesstrafe am 3. Oktober 2002 in lebenslange Haft umgewandelt -, befindet sich Öcalan seitdem auf der Gefängnisinsel Imrali in Haft. Für die PKK gilt der 15. Februar als "schwarzer Tag in der Geschichte des kurdischen Volkes". Sie spricht in diesem Zusammenhang von einem "internationalen Komplott". umbenennungen | 2002 benannte sich die PKK in Kongreya AzadA(r) A" Demokrasiya Kurdistane (KADEK, Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans) um. 2003 folgte die Umbenennung in Kongreya Gele Kurdistane (KONGRA GEL, Volkskongress Kurdistans). Damit versuchte die PKK, sich von der "Stigmatisierung" als Terrororganisation zu befreien und sich als politisch neuausgerichtete Organisation zu präsentieren. 276 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Die unterschiedlichen Bezeichnungen der letzten Jahre hinsichtlich der Struktur und personellen Zusammensetzung führten zu keinen grundsätzlichen Umgestaltungen der PKK. Die Ursprungsorganisation bestand im Wesentlichen fort. 2005 gründete sich die Koma Civaken Kurdistan (KCK, Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans), die sich die Verwirklichung des "demokratischen Konföderalismus" zum Ziel gesetzt hat. Darunter versteht die PKK einen nichtstaatlichen Verbund aller Kurden in der Türkei, in Syrien, im Iran und Irak, den sie mit eigenen Regierungsorganen und mit dem Anspruch einer eigenen Staatsbürgerschaft versieht. Die staatlichen Grenzen der Länder, in denen Kurden leben, sollen in diesem virtuellen Verbund unangetastet bleiben. PKK und KCK sind im Wesentlichen strukturell identisch. In der Binnenkommunikation sprechen Funktionäre, Mitglieder und Anhänger - unbeschadet aller jeweils aktuellen Bezeichnungen der Organisation - seit jeher von PKK. Im Außenverkehr tituliert sich die PKK hingegen, wenn sie ihr organisatorisches Ganzes meint, als KCK. umfeld der Pkk | Mit der PKK verbunden sind die PYD in Syrien sowie die Partiya Jiyana Azad a Kurdistane (PJAK, Partei für ein freies Leben in Kurdistan) und die Partiya Careseriya Demokratik a Kurdistane (PCDK, Partei für eine politische Lösung in Kurdistan) im Irak. Als Schwesterparteien wollen auch sie die Interessen von Kurden vertreten. Die Umsetzung von PKK-Positionen geschieht insbesondere über eigene Medienstrukturen. Neben einem PKK-Fernsehsender (Sterk-TV, Med NUCE-TV) gibt es eine eigene PKK-nahe Nachrichtenagentur ANF (Sitz in den Niederlanden) sowie verschiedene Zeitungen und Zeitschriften (unter anderem die vom Betätigungsverbot nicht betroffene YÖP, die in Neu-Isenburg im Landkreis Offenbach erscheint, sowie Serxwebun und Ciwanen Azad). IdeoLoGIe/zIeLe ziel der terroristischen Pkk war ursprünglich die staatliche unabhängigkeit der auf mehrere Staaten im nahen osten zersplitterten kurdischen Siedlungsgebiete. der kurdische Staat sollte in der türkei aus Südostanatolien, Regionen im nordosten Syriens ("Rojava"), Gebieten im norden des Iraks und Gebieten westirans bestehen. AUF EINEN BLICK * autonomie in der türkei * Öcalan als ideologische Führungsfigur Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 277 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG autonomie in der türkei | Die PKK behauptet, ihr Ziel der staatlichen kurdischen Unabhängigkeit zugunsten eines einheitlichen länderübergreifenden Siedlungsverbunds aller Kurden aufgegeben zu haben, in dessen Rahmen die Grenzen der betroffenen Staaten Bestand haben sollen. Was die in der Türkei lebenden Kurden betrifft, kämpft die PKK für die staatliche Anerkennung ihrer kulturellen und politischen Identität, die in Südostanatolien mittels eines Autonomiestatus - ähnlich der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak - verwirklicht werden soll. Im Zuge des syrischen Bürgerkriegs und der Auseinandersetzungen mit dem IS streben die PKK und ihr syrischer Ableger PYD auch im Norden Syriens nach Autonomie. In dem vom IS befreiten, überwiegend von Kurden besiedelten syrischen Kanton "Rojava" zeichnen sich bereits Strukturen einer gewissen Autonomie ab. Diese sind allerdings weit von jeglicher politischer oder eigenstaatlicher Relevanz entfernt und existieren nur aufgrund der instabilen Lage im Bürgerkriegsland Syrien. Dabei beansprucht die PKK, die Interessen aller Kurden zu vertreten. Öcalan als ideologische Führungsfigur | Der in der Türkei inhaftierte Abdullah Öcalan fungiert weiterhin als ideologische Führungsfigur der Terrororganisation. Dies ist zum einen darin begründet, dass er einer der Gründer der PKK war und damals sogleich zum Vorsitzenden gewählt wurde. Öcalan verfasste Schriften, die noch heute als Material bei der Kaderschulung dienen. Auch nach seiner Inhaftierung hatte Öcalan jahrelang wichtige Entscheidungen der PKK inhaltlich mitgeprägt, so etwa die Zielsetzung der kulturellen und politischen Autonomie, die an die Stelle der Etablierung eines eigenen "Kurdenstaats" trat. Seit mehreren Jahren ist allerdings nicht mehr bekannt, dass Öcalan die inhaltliche Ausrichtung der PKK mitbestimmte. Innerhalb der Terrororganisation hat Öcalan weiterhin eine absolut herausgehobene Stellung inne. Im Laufe der Zeit wurde er immer stärker verklärt, sowohl seine Verhaftung 1999 als auch seine Einzelhaft auf der Gefängnisinsel Imrali wurden im Sinne der PKK historisiert. Insgesamt wird Öcalan schon heute als lebender Märtyrer verehrt, der wegen seines Engagements für eine "richtige und gute Sache" zu Unrecht verfolgt, inhaftiert und isoliert worden sei. Angesichts fehlender Informationen über Öcalan und seine Situation wird vor diesem Hintergrund bei PKK-Veranstaltungen immer wieder die Forderung erhoben, dass über seinen Gesundheitszustand und seine Haftbedingungen berichtet und ein glaubhaftes Lebenszeichen von ihm gegeben wird. Bei Gerüchten über eine Verschlechterung seines Lebensumfelds oder seines Tods organisieren PKK-Anhänger sofort Solidaritätsaktionen. 278 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG StRuktuRen Zahlreiche Teilorganisationen trugen die Aktivitäten der PKK: * Propagandabzw. Frontorganisation (politischer Arm): Koordinasyona Civaka DemokratA(r)k a Kurdistan (CDK, Koordination der kurdisch-demokratischen Gesellschaft), Sitz unbekannt. * Dachorganisation für Europa: Kongreya Civaken Demokratik li Kurdistaniyen Ewropa (KCDK-E, Kurdischer Demokratischer Gesellschaftskongress in Europa). * Dachorganisation für Deutschland: NAV-DEM, Sitz in Düsseldorf, mit - nach eigenen Angaben - bundesweit 45 Vereinen, davon zehn in Hessen: Darmstadt, Frankfurt am Main, Gießen (Landkreis Gießen), Limburg (Landkreis Limburg-Weilburg), Wiesbaden, Hanau (MainKinzig-Kreis), Offenbach am Main, Rüsselsheim (Kreis Groß-Gerau), Bensheim (Kreis Bergstraße) und Kassel. Unter der Adresse des NAV-DEM firmierte die im Mai 2019 gegründete Almanya'daki Mezopotamya Topluluklar Konfederasyonu (KON-MED, Konföderation der Gemeinschaften Mesopotamiens in Deutschland). Ihr gehören fünf Föderationen an, darunter die Federasyona Civaken Demokratik ya Kurdistaniyen li Saarland u Hessen (FCDK-KAWA, Föderation der demokratischen Vereine Kurdistans e. V.) mit Sitz in Darmstadt, die auch Hessen umfasst. Tahir Köcer, Ko-Vorsitzender des NAV-DEM und Mitglied des Vorbereitungskomitees für den zweitägigen Gründungskongress von KON-MED erklärte hierzu: ",Die Menschen aus Kurdistan, die bis Ende der 1990er aus politischen Gründen ins Exil nach Deutschland gekommen sind, haben mit den von ihnen gegründeten Vereinen nach Lösungen für ihre kulturellen, sozialen und politischen Probleme gesucht. In den 2000er Jahren wurden in ganz Europa Räte gegründet, die auf den von Abdullah Öcalan vorgelegten Perspektiven zu einer demokratischen Nation, Autonomie und Konföderalismus aufbauen. Auch heute noch basiert unsere Arbeit auf den Volksräten'". In Deutschland gibt es nach Angaben von Tahir Köcer über achtzig Volksräte, außerdem Dutzende Sportvereine, Einrichtungen der verschiedenen Glaubensrichtungen, Kultureinrichtungen sowie spezifische Organisationen von Frauen und der Jugend. Für bestimmte Zielgruppen unterhielt die PKK sogenannte Massenorganisationen, zum Beispiel: * Tevgera Ciwanen Soresger (TCS, Bewegung der revolutionären Jugend). * Jinen Ciwanen Azad (Bewegung junger Frauen). Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 279 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG * Yekitiya Xwendekaren Kurdistan (YXK, Verband der Studierenden aus Kurdistan). * Jinen Xwendekar en Kurdistan (JXK, Studierende Frauen aus Kurdistan). * Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e. V. (Civika Azad). * Heyva Sor a Kurdistane (HSK, Kurdischer Roter Halbmond). BeweRtunG/auSBLIck Der fortwährende Konflikt in Nordsyrien ist auch für die Bundesrepublik Deutschland von gewisser Brisanz, da die hier lebenden Kurden neben den Türken die größte Migrantengruppe stellen. Kurdische, aber auch türkischen Organisationen in Deutschland betrachten die Ereignisse sehr genau, sodass aus ihren entsprechenden Reaktionen Gefährdungen des Bundes oder der Länder resultieren können. Ähnlich wie im Kontext Afrin im Berichtsjahr 2018 sind auch in Zukunft gegen Medienanstalten, Parteibüros, Flughäfen, Bahnhöfe usw. gerichtete Besetzungsaktionen möglich, die vorrangig dem Ziel dienen, öffentlich wahrnehmbar politische Forderungen zu formulieren und dadurch Unterstützung für die eigenen Positionen zu schaffen. Ziel von Demonstrationen können weiterhin die Generalkonsulate der USA und der Türkei in Frankfurt am Main sowie weiterer Einrichtungen in Hessen - vor allem der Türkei - sein. In Anbetracht der gegenseitigen - sowohl von türkisch-nationalistischer als auch kurdischer Seite ausgehenden - Provokationen bleiben Aktionen gegen Vereine der Ülkücü-Bewegung oder gegen Türkeinahe DITIB-Moscheen trotz der Gewaltverzichtserklärung der PKK ein nicht zu verhinderndes Risiko. Insbesondere unter emotionalisierten kurdischen und türkischen Jugendlichen bedingt die regional starke Präsenz beider Lager eine latent gewaltbereite Wechselwirkung. In Hessen fand eine sichtbare relevante Zusammenarbeit von PKK und Linksextremisten vor allem in Kassel und Frankfurt am Main statt, wo sich die Gruppen über ihre Tätigkeit an Universitäten bereits seit längerer Zeit vernetzt haben. Neu war im Berichtsjahr, dass in vielen Fällen die Organisation von Kundgebungen in den Händen deutscher dogmatischer Linksextremisten oder Autonomer lag bzw. diese die Initiative übernahmen und die PKK etwa in Gestalt ihrer Studentenverbände JXK und YXK sich oft nur beteiligte. Vor diesem Hintergrund ist vor allem das Wiedererstarken entsprechender Strukturen in Gießen (Landkreis Gießen) und Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) erwähnenswert. Darüber hinaus beteiligten sich türkische linksextremistische Gruppen - mit Ausnahme der Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi (DHKP-C, Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) - an den Protesten in Hessen. Insgesamt ist zu er280 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG warten, dass sich deutsche Linksextremisten verstärkt der Thematik "Rojava" annehmen und weiterhin gewillt sein werden gewaltsam zu protestieren. Der im Berichtsjahr mehr als deutliche Teilnehmerzuwachs bei der zentralen bundesweiten Newroz-Veranstaltung in Frankfurt am Main (25.000 Personen gegenüber 11.000 im Jahr 2018 in Hannover), dürfte - neben der zentralen Lage und guten Erreichbarkeit der Mainmetropole - aus folgenden Umständen resultieren: Auf die seit Ende 2018 anhaltenden Hungerstreikaktionen in der Türkei und in vielen Städten Europas reagierten Kurden in Deutschland und in der Türkei mit Selbsttötungen. Auch die andauernde Thematisierung der Isolation Öcalans mobilisierte die kurdische Diaspora immer wieder, sodass innerhalb der PKK-Anhängerschaft eine hohe Emotionalisierung gegeben war. Im Unterschied zu den Auflagenverfügungen in Hannover (Niedersachsen) waren in Frankfurt am Main für die Abschlussveranstaltung zudem Essensund Getränkestände zugelassen, sodass dieser "Festivalcharakter" einen Attraktionspunkt bildete. Hinsichtlich des Sammelns von "Spenden" wird die PKK das Vorgehen des türkischen Militärs in den kurdischen Siedlungsgebieten höchstwahrscheinlich dazu nutzen, höhere Beträge einzufordern, um dem Finanzbedarf der Terrororganisation nachzukommen. Bisherigen Erfahrungen zufolge förderten gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen der Türkei und der PKK stets die "Spendenbereitschaft" ihrer Anhänger. Auch die andauernde Sorge um den angeblich verschlechterten Gesundheitszustand des Anführers und Gründers der PKK, Abdullah Öcalan, könnte die entsprechende Bereitschaft steigern. deVRIMcI HaLk kuRtuLus PaRtISI-cePHeSI (dHkP-c, ReVoLutIonäRe VoLkSBeFReIunGSPaRteI-FRont) DEFINITION/KERNDATEN In der türkei warb die dHkP-c weiterhin für den bewaffneten "Volkskampf", während sie in deutschland nach wie vor gewaltfrei agierte. die Gewaltverzichtserklärung aus dem Jahr 1999 hatte Bestand. darin heißt es: "die dHkP-c wird ihren kampf gegen die unrechtmäßige Verbotsmaßnahme in deutschland fortsetzen - offen, demokratisch und gewaltfrei. Insbesondere wird in deutschland keine Gewalt gegen türkische Institutionen ausgeübt". die sogenannte Rückfront in westeuropa diente der terrororganisation vor allem dazu, Gelder für ihre aktivitäten in der türkei zu beschafHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 281 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG fen. In deutschland ist die dHkP-c seit 1998 mit einem organisatiLogo der Anatoonsverbot belegt, seit 2002 steht sie auf der eu-Liste terroristischer lischen Föderation organisationen. In deutschland tritt die dHkP-c unter anderem unter der tarnbezeichnung anatolische Föderation auf. Logo der DHKC (Volksbefreiungsfront ) eReIGnISSe/entwIckLunGen Logo der DHKP nachdem die Polizei anfang 2019 in Istanbul (türkei) im Idil-kultur(Volksbefreiungszentrum zwei Grup-yorum-Mitglieder festgenommen hatte, traten partei) diese - ebenso wie bereits andere Gruppenangehörige - in einen unbefristeten Hungerstreik. Beide starben im april bzw. Mai 2020 Führung: infolge ihres "todesfastens". Vor diesem Hintergrund kam es bunFunktionärsgruppe (nach dem desweit und in Hessen zu Solidaritätsveranstaltungen. darüber hiTod von Dursun Karatas wurde kein neuer Generalsekretär benaus fanden wie in den letzten Jahren ereignisse im zusammenhang nannt) mit dem der dHkP-c zuzurechnenden Musikerkollektiv Grup yorum besondere aufmerksamkeit bei deren anhängern. Anhänger/Mitglieder: In Hessen etwa 75, AUF EINEN BLICK bundesweit etwa 580 * "adalet-Istiyoruz"-kampagne (dt. "wir wollen GerechtigMedien (Auswahl): keit") Devrimci Sol (Dev Sol, Revolutio- * Grup yorum näre Linke), Yürüyüs (Marsch) * "Gefangenensolidarität" Tarnorganisation in Deutsch"adalet-Istiyoruz"-kampagne (dt. "wir wollen Gerechtigkeit") | Anland: Anatolische Föderation lässlich der Verhaftungen und der Maßnahmen türkischer Behörden, die sich, so eine Erklärung des Grup Yorum Solidaritätskomitees \ Deutschland vom 28. November, gegen Mitglieder von Grup Yorum sowie "alle Anwält*innen des Volkes" richteten, fanden im Rahmen der Kampagne europaweit Solidaritätskundgebungen statt. Damit wollten DHKP-C-Anhänger auf die Situation der Betroffenen und die in ihren Augen unrechtmäßigen Maßnahmen sowie das Schicksal der in der Türkei in Hungerstreik getretenen Bandmitglieder aufmerksam machen. Ein Solidaritätshungerstreik hatte in Deutschland bereits am 17. Mai begonnen, wobei die Teilnehmerzahl im Durchschnitt im unteren zweistelligen Bereich lag. Weitere Veranstaltungen fanden unter anderem in Darmstadt am 7. September und am 29. November vor dem türkischen Generalkonsulat in Frankfurt am Main statt. In einem im Internet veröffentlichten Beitrag des Grup Yorum Solidaritätskomitees Deutschland hieß es unter anderem: "Mitglieder von Grup Yorum befinden sich im unbefristeten Hungerstreik, um ihre Forderungen durchzusetzen: > Das Idil Kulturzentrum soll nicht mehr gestürmt werden > Die Terrorlisten sollen aufgehoben werden, die Namen sollen gestrichen werden > Alle gefangenen Mitglieder sollen frei gelassen werden! > Die Konzertverbote sollen aufgehoben werden 282 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG ..und aus diesen Gründen können wir, als Solidaritätskomitee in Deutschland nicht ruhig bleiben. Wir werden gegen jegliche Zensur gegenüber der Presse über die Taten die der Faschismus in unserem Land anrichtet, demonstrieren und der Wahrheit eine Stimme geben". (Schreibweise wie im Original.) Grup yorum | Eine für den 15. Juni in Frankfurt am Main geplante Kundgebung mit musikalischer Beteiligung von Grup Yorum sagten die Veranstalter ab, da die Gruppe bereits am 1. Juni in Ludwigshafen (Rheinland-Pfalz) auftreten konnte. Zuvor hatte sich eine Bundestagsabgeordnete der Partei DIE LINKE für den Auftritt von Grup Yorum in Ludwigshafen ausgesprochen, ein anderer Bundestagsabgeordneter der Partei sprach bei der Veranstaltung selbst als Redner. Über das Konzert hieß es auf der Internetseite des Online-Nachrichtenmagazins Rote Fahne News, das von der MLPD betrieben wird: "Das Konzert in Ludwigshafen konnte stattfinden, obwohl es zeitweilig verboten war und es zudem drakonische Auflagen gab. Es war trotzdem für alle Beteiligten ein wunderbarer Abend mit mitreißenden politischen Liedern. Und trotz dieser anhaltenden Kriminalisierung wird es weiter Konzerte mit Grup Yorum geben! Es ist die Aufgabe aller fortschrittlichen, demokratischen, antifaschistischen Menschen, die Angriffe gegen Grup Yorum zu verurteilen und sich zu solidarisieren. Hoch die internationale Solidarität! Es lebe die Brüderlichkeit der Völker! Grup Yorum ist die Stimme des Volkes!" Nachdem bekannt wurde, dass am 22. September in Mühltal (Landkreis Darmstadt-Dieburg) im Zusammenhang mit der "Adalet-Istiyoruz"-Kampagne ein "Picknick" unter Beteiligung von Grup Yorum stattfinden sollte, kündigte die Gemeinde den Vertrag über den hierfür angemieteten Grillplatz. Aus einem einen Tag später in Facebook veröffentlichten Video ging hervor, dass die Veranstaltung ersatzweise auf einem Grillplatz in Roßdorf (Landkreis Darmstadt-Dieburg) stattfand. Dabei spielten einzelne Personen Musikstücke von Grup Yorum. Auch in Köln (Nordrhein-Westfalen) wurde eine Veranstaltung mit Grup Yorum verboten. Im Rahmen der "Adalet-Istiyoruz"-Kampagne fand darüber hinaus bundesweit vom 29. November bis 16. Dezember ein "langer Marsch" statt, wobei es sich tatsächlich um hintereinander stattfindende Solidaritätskundgebungen handelte. In Frankfurt am Main versammelten sich am 16. Dezember 15 bis 20 Personen vor einem Zelt, wobei auch ein Banner mit der Aufschrift "Grup Yorum" aufgehängt war. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 283 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Veranstaltungen wie Grup-Yorum-Konzerte dienten der DHKP-C zur Finanzierung ihrer Strukturen und Aktivitäten. Über Eintrittsgelder, inoffizielle Verkäufe - unter anderem der Zeitschrift Yürüyüs - und während der Veranstaltungen durchgeführte Spendensammlungen erschloss sich die Organisation Finanzmittel. "Gefangenensolidarität" | Nachdem 2016 der mutmaßliche Europaleiter der DHKP-C in Hamburg festgenommen worden war und im Dezember 2017 vor dem Hanseatischen OLG der Prozess begonnen hatte, kam es in Deutschland im Berichtsjahr immer wieder zu Solidaritätsveranstaltungen. Dabei besuchten Aktivisten der DHKP-C aus dem gesamten Bundesgebiet den Prozess. Im Februar 2019 verurteilte das OLG den Funktionär zu sechs Jahren und neun Monaten und im Juni einen weiteren DHKP-C-Funktionär zu fünf Jahren Freiheitsstrafe wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland. entSteHunG/GeScHIcHte die dHkP-c wurde 1994 als nachfolgeorganisation der seit 1983 in deutschland verbotenen dev Sol gegründet. auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus spricht sich die dHkP-c nach wie vor für einen revolutionären umsturz der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnung in der türkei aus und strebt die errichtung einer sozialistischen Gesellschaft an. In deutschland unterliegt die dHkP-c seit 1998 einem organisationsverbot. AUF EINEN BLICK * abspaltung von der dev Sol * Grup yorum als integraler Bestandteil der dHkP-c abspaltung von der dev Sol | Die 1978 gegründete Dev Sol war eine politisch-militärische Organisation, die seit diesem Zeitpunkt in der Türkei Terroranschläge verübte. Anfang der 1990er Jahre kam es zu internen Streitigkeiten, die zu einer Spaltung der Organisation - trotz weiterhin gleicher ideologischer Grundlagen und politischer Ziele - führten. Auf einem Kongress im März 1994 spaltete sich einer der beiden Flügel auch formal von der Dev Sol ab und nennt sich seitdem DHKP-C. 1998 wurde die DHKP-C als Ersatzorganisation der bereits 1983 in Deutschland verbotenen Dev Sol eingestuft und in das damalige Verbot einbezogen. Nach einer Klage ist diese Entscheidung seit Februar 2000 bestandskräftig. In Deutschland und Europa agiert die DHKP-C seit 1999 gewaltfrei. Von der EU ist die DHKP-C seit 2002 als terroristische Organisation eingestuft. 284 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG Grup yorum als integraler Bestandteil der dHkP-c | Ähnlich wie Yürüyüs, das vom Verbot seit 2015 mit umfasste Publikationsorgan der DHKP-C, wird das Musikerkollektiv Grup Yorum von deutschen Behörden als integraler Bestandteil der Organisation bewertet. Allerdings wurden Auftritte im kulturellen Zusammenhang und wegen eines nicht eindeutigen DHKP-C-Bezugs gerichtlich in den letzten Jahren immer wieder durchgesetzt. Grup Yorum wurde 1985 in der Türkei gegründet. Die Band vermischt folkloristische Musik mit politischen Texten, die sie in Türkisch, Kurdisch, aber auch in speziellen Dialekten singt. Grup Yorum hat im türkischen Spektrum viele Fans und ihre Auftritte waren in der Türkei Großereignisse. Allerdings unterliegt Grup Yorum in der Türkei mittlerweile einem Auftrittsverbot. Einzelne Mitglieder wurden dort festgenommen und vor Gericht gestellt. Alben der Band wurden in der Türkei verboten. Grup Yorum gibt auch Konzerte in Europa, unter anderem in Deutschland. Allerdings besteht gegen einzelne Mitglieder des Kollektivs ein Einreiseverbot, weswegen die Gruppe bei Auftritten durch andere Personen ersetzt werden. In der Regel wird für Konzerte eigens geworben und es wird selbst bei Auftritten im Rahmen eines Festivals mit Auftritten mehrerer Bands ein Eintrittsgeld für das Musikerkollektiv erhoben. Außerdem werden die Auftritte grundsätzlich mit politischen Reden insbesondere von DHKP-C-Funktionären oder Ansprachen befreundeter politischer Organisationen verbunden. IdeoLoGIe/zIeLe die dHkP-c ist marxistisch-leninistisch ausgerichtet und strebt die Schaffung einer revolutionären Situation an, mit deren Hilfe die bestehende Staatsund Gesellschaftsordnung in der türkei überwunden werden soll. Gemäß ihrer linksextremistischen politischen orientierung will die organisation in der türkei eine sozialistische Gesellschaft errichten. AUF EINEN BLICK * "Bewaffneter kampf" gegen die "faschistische" türkei * agitation zugunsten "politischer Gefangener" "Bewaffneter kampf" gegen die "faschistische" türkei | Von Beginn an sah die DHKP-C den "bewaffneten Kampf" als unersetzliches Mittel für die Schaffung einer revolutionären Situation sowie für den Kampf gegen die "faschistische" Türkei an und versuchte dies entsprechend umzusetzen. Dabei gehen die Verantwortlichen der Terrororganisation davon aus, dass durch den Einsatz von GuerillaHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 285 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG kräften ihr "Krieg" gegen die Türkei zur Sache des Volks und damit erfolgreich umsetzbar würde. agitation zugunsten "politischer Gefangener" | In Deutschland tritt die DHKP-C grundsätzlich gewaltfrei und wenig öffentlichkeitswirksam auf. Neben dem Sammeln von "Spenden" und der Umsetzung ihrer Ziele agitiert die DHKP-C vor allem für die Freilassung der von ihr als "politische Gefangene" bezeichneten Mitglieder. Aber auch Solidaritätsaktionen und Hungerstreiks für in der Türkei inhaftierte Personen stehen mittlerweile regelmäßig im Aktionsspektrum der DHKP-C. Zugleich versucht die Organisation, sich die Unterstützung auch deutscher marxistisch-leninistisch ausgerichteter Gruppierungen und Personen zu sichern. BeweRtunG/auSBLIck Deutschland ist innerhalb der EU ein wichtiger finanzieller und logistischer Rückzugsraum der DHKP-C. Neben den jährlichen Spendenkampagnen dienen die Einnahmen aus den Grup-Yorum-Konzerten zur Finanzierung der Organisation. Deutschland wird als Vorbereitungsraum für terroristische Anschläge in der Türkei genutzt und ist selbst nicht das Ziel von Gewaltaktionen. Die DHKP-C nutzt Musikauftritte von Grup Yorum sowie für die Organisation relevante (Märtyrer-)Gedenktage und gewalttätige Aktionen in der Türkei, um den Zusammenhalt unter ihren Anhängern zu stärken und sie in ihrer Motivation zu bestärken. extReMIStIScHe StRaFund GewaLttaten MIt auSLandSBezuG Das im Berichtsjahr intensivierte Demonstrationsgeschehen und die verstärkte Beteiligung aktionsorientierter deutscher Linksextremisten an PKK-nahen Demonstrationen führten zu einem markanten Anstieg (etwa 45%) in der Kategorie "andere Straftaten (insbesondere Propagandadelikte)", wobei insgesamt die Anzahl der Strafund Gewalttaten zurückging. Dabei verringerte sich die Zahl der Gewalttaten deutlich von zwölf (2018) auf vier. 286 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG | 2019 2018 2017 2016 2015 Deliktart Tötung Versuchte Tötung Körperverletzung 3 5 1 6 6 Brandstiftung/Sprengstoffdelikte 3 3 Landfriedensbruch 1 1 1 Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs-, Luftund Straßenverkehr Freiheitsberaubung, Raub, Erpressung, 1 3 1 Widerstandsdelikte Gewalttaten insgesamt 4 12 1 10 8 Sonstige Straftaten Sachbeschädigung 1 25 8 13 17 Nötigung/Bedrohung 2 2 Andere Straftaten 68 47 107 48 34 (insbesondere Propagandadelikte) Strafund Gewalttaten insgesamt 73 84 118 71 61 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 287 EXTREMISMUS MIT AUSLANDSBEZUG 288 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ORGANISIERTE KRIMINALITÄT ORGANISIERTE KRIMINALITÄT organisierte kriminalität (ok) ist ein komplexes kriminalitätsphänomen. Seine wesentlichen Merkmale sind in SS 3 abs. 2 HVSG definiert und dienen dem LfV als Rechtsgrundlage für die Beobachtung der ok. AUF EINEN BLICK * Planmäßiges Begehen von Straftaten * weitgehende konspirativität * Rockerkriminalität * Russische und italienische ok * Maßnahmen des LfV Planmäßiges Begehen von Straftaten | Gemäß der Gesetzesdefinition ist die OK die von Gewinnund Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung für die Rechtsordnung sind, durch mehr als zwei Beteiligte, die auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig tätig werden * unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, * unter Anwendung von Gewalt oder durch entsprechende Drohung oder * unter Einflussnahme auf Politik, Verwaltung, Justiz, Medien oder Wirtschaft. Akteure der OK - Täter, Hintermänner und Nutznießer - missbrauchen die freiheitliche demokratische Grundordnung, um ihre auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Interessen mit dem Begehen von Straftaten, dem Einsatz von Gewalt oder der Einflussnahme auf Institutionen durchzusetzen. Illegal erwirtschaftete Gelder werden oftmals im Rahmen legaler Wirtschaftstätigkeit gewaschen und in legale und illegale Unternehmungen reinvestiert. weitgehende konspirativität | OK-Gruppen passen ihre Aktionsfelder kriminellen "Markterfordernissen" an und reagieren flexibel auf deren Veränderungen. OK ist generell darauf ausgelegt, nicht erkannt zu werden. Da sie weitgehend konspirativ agiert, ist es deshalb auch schwer, sie als solche zu erkennen. Rockerkriminalität | Im Bereich der kriminellen Rockergruppierungen (Outlaw Motorcycle Gangs, OMCG) in Hessen gibt es mehrere aktive Gruppierungen mit unterschiedlichen Chaptern/Chartern. Einen Schwerpunkt der Aktivitäten bildete hier, wie auch in den vergangenen Jahren, das Rhein-Main-Gebiet. Die sogenannten Boxclubs (BC), wie der ehemalige Osmanen Germania BC und der Osmanen Frankfurt BC, ähneln in ihren optischen und hierarchischen Strukturen den 290 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ORGANISIERTE KRIMINALITÄT den Sicherheitsbehörden bekannten OMCGs, grenzten sich jedoch selbst von diesen ab und verstanden sich vielmehr als Streetgang. Motorräder spielten innerhalb dieser Gruppierungen keine Rolle. Russische und italienische ok | In diesem Bereich beobachtete das LfV unter anderem Aktivitäten von Gruppen und in diesen Strukturen agierende Einzelpersonen. Von besonderem Interesse waren deren Verbindungen in das Rhein-Main-Gebiet. Die Protagonisten sowohl der russischen als auch der italienischen OK verschleierten ihre Aktivitäten und handelten dabei äußerst konspirativ. Auffällig waren die Verbindungen der 'Ndrangheta im Rhein-Main-Gebiet, die das LfV mit besonderem Augenmerk bearbeitet. Neben den klassischen Deliktsbereichen Eigentumskriminalität, Drogenhandel, Schmuggel und illegaler Waffenhandel spielte die Geldwäsche eine hervorgehobene Rolle. Hohe Geldsummen, deren meist ausländische Herkunft kaum nachvollziehbar ist, dienten zum Beispiel dem Erwerb von hochwertigen Immobilien oder Kunstgegenständen und wurden so zu legalen Vermögenswerten. Die italienische OK reinvestierte dazu ihre illegal aus dem Drogenhandel erwirtschafteten Gelder häufig in Gastronomie-/Hotelbetriebe der gehobenen Klasse sowie in legale Immobiliengeschäfte und nutzte so Deutschland als Ruheund Rückzugsraum. Maßnahmen des LfV | Die vom LfV überwiegend mit nachrichtendienstlichen Mitteln und im Rahmen der Zusammenarbeit mit anderen Verfassungsschutzbehörden und ausländischen Nachrichtendiensten gesammelten Erkenntnisse werden den einzelnen Bedarfsträgern gezielt und in geeigneter Form zur Verfügung gestellt. Diese Erkenntnisse eignen sich daher selten für eine öffentliche Darstellung. Seinem Auftrag entsprechend agiert das LfV bei der Beobachtung und Aufklärung der OK im Vorfeld konkreter Straftaten. Ziel ist die Erkenntnisgewinnung in Bezug auf personelle, logistische, organisatorische, finanzielle sowie deliktische Strukturen. Neben dem frühzeitigen Ansatz der Erkenntnisgewinnung bietet die nachrichtendienstliche Beobachtung den Vorteil einer langfristigen und nicht auf einzelne Strafverfahren bezogenen Beobachtung. Die Strukturaufklärung des Verfassungsschutzes ist dabei nicht auf die Bearbeitung einzelner Delikte ausgerichtet, sondern analysiert die kriminellen Strukturen in einem ganzheitlichen Zusammenhang. Daraus können in der Folge auch Erkenntnisse für Strafverfolgungsbehörden resultieren. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 291 ORGANISIERTE KRIMINALITÄT In seiner Funktion als "Frühwarnsystem" unterstützt das LfV das Handeln von Politik, Polizei, weiteren staatlichen Einrichtungen und anderen öffentlichen Stellen, indem Erkenntnisse über Gefahren, die von der OK ausgehen, unter besonderer Beachtung der dem LfV zugrundeliegenden Vorschriften über Verschlusssachen und des Quellenschutzes zur Verfügung gestellt werden. Besonders wachsam werden weiterhin auch Versuche von OK-Gruppen beobachtet, die darauf ausgerichtet sein könnten, Einfluss auf Politik, Verwaltung, Justiz, Medien oder Wirtschaft zu erlangen. 292 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 SPIONAGEABWEHR SPIONAGEABWEHR Das LfV geht aufgrund seines gesetzlichen Auftrags jedem Spionageanfangsverdacht nach, stellt sich auf gesellschaftlichen, politischen und technischen Wandel ein und trägt diesem in seiner Arbeit Rechnung. Diese Arbeit wird mit einem "Rundumblick" durchgeführt: Die Verfassungsschutzbehörden überprüfen alle Hinweise auf gegen deutsche Interessen gerichtete nachrichtendienstliche Aktivitäten, unabhängig von welchem Staat sie ausgehen. AUF EINEN BLICK * Beobachtungsschwerpunkte * Ziele und Arbeitsweisen ausländischer Nachrichtendienste * Nachrichtenund Sicherheitsdienste der Volksrepublik China * Nachrichtenund Sicherheitsdienste der Russischen Föderation * Nachrichtendienst der Türkei * Nachrichtendienst der Islamischen Republik Iran * Nachrichtendienst der Islamischen Republik Pakistan * Proliferation * Gastwissenschaftler Beobachtungsschwerpunkte | Zum Bereich der Spionageabwehr zählen folgende Beobachtungsschwerpunkte: * Geheimdienstliche Agententätigkeit/Oppositionellenausspähung gemäß SS 99 Strafgesetzbuch (StGB), * Proliferation, * Cyberabwehr, * Einflussnahme fremder Staaten auf die Meinungsbildung und die Politik mittels Desinformation, Propaganda und hybrider Kriegsführung sowie * Staatsterrorismus. Ziele und Arbeitsweisen ausländischer Nachrichtendienste | Politik, Militär und Forschung standen nach wie vor im Fokus ausländischer Nachrichtendienste. Auch Finanz-, Wirtschaftsund Energiefragen waren weiterhin von Interesse in anderen Staaten. In Hessen befanden sich mit seinen zahlreichen Forschungseinrichtungen, nationalen und supranationalen Institutionen sowie global agierenden führenden Wirtschaftsunternehmen und großen Finanzinstituten eine Vielzahl von Objekten im Visier anderer Nachrichtendienste. Darüber hinaus spähten ausländische Nachrichtendienste fortgesetzt in Deutschland ansässige Organisationen und Volksgruppen aus, die im Herkunftsland als Oppositionelle politisch verfolgt oder beobachtet wurden. 294 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 SPIONAGEABWEHR Die entsprechenden Staaten nutzten für ihre nachrichtendienstlichen Operationen in der Bundesrepublik Deutschland neben amtlichen Einrichtungen (zum Beispiel Botschaften, Generalkonsulaten) halbamtliche Vertretungen ihrer Länder wie etwa Presseagenturen und Fluggesellschaften. Ausländische Nachrichtendienste waren in unterschiedlicher Stärke in den jeweiligen Einrichtungen ihrer Staaten in Deutschland präsent. Auch in Hessen wurden diese als Legalresidenturen bezeichneten Stützpunkte ausländischer Nachrichtendienste unterhalten. Getarnt agierten sie aus den offiziellen Einrichtungen heraus und nutzten den Schutz des diplomatischen Status oder traten als halboffizielle Vertreter von Presseorganen, Fluggesellschaften und Unternehmen mit staatlicher Beteiligung der Herkunftsländer auf. Dies geschah unter Ausnutzung zum Beispiel der Pressefreiheit oder in Unternehmen im Rahmen wirtschaftlicher Gepflogenheiten. Für den Bankenund Wirtschaftsstandort Frankfurt am Main als Metropole der Rhein-Main-Region galt dies in erster Linie für dort ansässige Generalkonsulate. nachrichtenund Sicherheitsdienste der Volksrepublik china | Das von der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) autoritär regierte Land hat sich - auch unter Einsatz seiner Nachrichtendienste - als wirtschaftliche und militärische Großmacht etabliert. Beobachtung und Kontrolle der Oppositionsbewegungen im Ausland blieb ein wichtiger Schwerpunkt seiner Dienste. Auch in Deutschland betrieben diese die Ausspähung der in China als "Fünf Gifte" bezeichneten Bewegungen: * Mitglieder der regimekritischen Meditationsbewegung Falun Gong, * Organisationen von Angehörigen der muslimischen Uiguren, * Organisationen von Unterstützern eines autonomen Tibets, * Organisationen von Anhängern der Demokratiebewegung und * Organisationen von Befürwortern der Eigenstaatlichkeit Taiwans. Außerdem versuchte China, Perspektiventscheidungen der G20Staaten in der Wirtschafts-, Energieund Finanzpolitik frühzeitig in Erfahrung zu bringen, um entsprechende eigene Strategien anzupassen. Um politische, wirtschaftliche und militärische Informationsbeschaffung der chinesischen Dienste bei Auslandsbesuchen in China abzuwehren, sollten Besucher der Volksrepublik China insbesondere hinsichtlich der vielfältigen technischen Überwachungsmöglichkeiten des chinesischen Staates sensibilisiert sein. nachrichtenund Sicherheitsdienste der Russischen Föderation | Politische Einrichtungen der Exekutive und der Legislative in der EU Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 295 SPIONAGEABWEHR waren nach wie vor von zentralem Interesse für die beiden russischen Auslandsnachrichtendienste: * Der Slushba Wneschnej Raswedki (SWR, Dienst der Außenaufklärung der Russischen Föderation) ist für zivile Objekte und Themen (speziell für Politik, Wirtschaft und Wissenschaft/Technologien) zuständig. * Die Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije (GRU, Hauptverwaltung beim Generalstab der Streitkräfte der Russischen Föderation) interessiert sich für das gesamte militärische Spektrum, insbesondere für neue Technologien in der Entwicklung und im Einsatz. Auch die Aktivitäten des russischen Inlandsnachrichtendiensts Federalnaja Slushba Besopasnosti (FSB, Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation) hielten auf hohem Niveau an. Vor allem die Reisen von Ausländern nach Russland ließen eine risikolose Ansprache von Personen durch den FSB auf eigenem Territorium zu. Dem FSB sind alle Grenztruppen angeschlossen, sodass bereits bei der Einreise "Vorabkontrollen" möglich waren. nachrichtendienst der türkei | Der Nachrichtendienst Milli Istihbarat Teskilati (MIT, Nationale Nachrichtendienstorganisation) ist der mit Exekutivbefugnissen ausgestattete Inund Auslandsnachrichtendienst der Türkei. Die Kernaufgabe des Dienstes besteht in der Ausspähung von Oppositionellen. Darüber hinaus versuchte der MIT, Einfluss auf die Meinungsbildung in Deutschland zu nehmen. Eine wichtige Vorfeldorganisation für die Einflussnahme auf politischer und gesellschaftlicher Ebene im Sinne der Adalet ve Kalkinma Partisi (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) ist die türkische Diasporaorganisation Union Internationale Demokraten (UID), die in Hessen mit einigen Verbänden organisiert ist. Die UID vertritt die Interessen der türkischen Regierung in Deutschland und Europa und ist die inoffizielle Auslandsorganisation der türkischen Regierungspartei AKP. nachrichtendienst der Islamischen Republik Iran | Der iranische Nachrichtendienst Vezarat-e ettela'at jomhuri-ye eslami-ye iran/Ministry of Intelligence (VAJA/MOIS) ist ein ziviler Inund Auslandsnachrichtendienst, der seit Jahren in Deutschland aktiv ist. Neben dem VAJA/MOIS waren auch der Auslandsaufklärungsdienst der Islamic Revolutionary Guard Corps (IRGC, Iranische Revolutionsgarden) insbesondere an der Ausspähung iranischer Oppositioneller sowie projüdischer bzw. proisraelischer Einrichtungen beteiligt. nachrichtendienst der Islamischen Republik Pakistan | Wie der Iran verfügt auch Pakistan über mehrere Nachrichtendienste. Der füh296 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 SPIONAGEABWEHR rende und wichtigste pakistanische Dienst ist der Inter-Service Intelligence (ISI). Neben primär Militärangehörigen rekrutiert der ISI sein Personal auch aus der Zivilbevölkerung und ist unter anderem für die Auslandsaufklärung zuständig. Vor dem Hintergrund des seit Jahrzehnten zwischen Pakistan und Indien virulenten Konflikts unterstützten pakistanische Dienste antiindische Gruppierungen, forschten pakistanische Oppositionelle aus und betrieben Medienbeeinflussung bzw. Gegenpropaganda. Proliferation | Im sicherheitspolitischen Zusammenhang bezeichnet der Begriff Proliferation die Weiterverbreitung bzw. die Weitergabe von Massenvernichtungswaffen sowie den Erwerb passender Trägersysteme und entsprechender Technologien an Staaten, die bislang nicht über solche Waffen verfügen. Neben dem Import kompletter Waffensysteme umfasst Proliferation auch die illegale Beschaffung von Komponenten, relevanten Technologien und Herstellungsverfahren sowie die Abwerbung wissenschaftlich-technischen Personals. Vor diesem Hintergrund waren Massenvernichtungswaffen weiterhin ein machtpolitisches Instrument, das sowohl in regionalen als auch in internationalen Krisensituationen die Stabilität eines gesamten Staatengefüges erschüttern kann. Insbesondere Staaten wie Iran, Nordkorea, Pakistan und Syrien versuchten im Rahmen der Proliferation solche Waffen zu erwerben und weiterzuverbreiten, indem sie etwa die Transportwege über Drittstaaten verschleierten. Ziel solcher nachrichtendienstlichen Maßnahmen war es, Kontrollmechanismen über Drittstaaten, die nicht besonderen Embargo-Vorschriften unterliegen, zu umgehen. Bezüglich der im Iran sowie in Nordkorea, Pakistan und Syrien tätigen Firmen sind folgende Aspekte, Hinweise und Anhaltspunkte, die eventuell auf proliferationsrelevante Aktivitäten hinweisen, zu berücksichtigen: * Der tatsächliche Verbleib der Güter ist unklar und kann nicht plausibel erklärt werden. * Der Kunde kann nicht erklären, wofür das Produkt gebraucht wird. * Der beabsichtigte Verwendungszweck weicht erheblich von der vom Hersteller vorgegebenen Produktbestimmung ab. * Der Kunde handelt üblicherweise mit militärischen Gütern. * Die Person, die als Käufer auftritt, verfügt nicht über das erforderliche Fachwissen. * Die tatsächliche Identität eines Kunden ist nicht bekannt. * Es werden ohne erkennbaren Grund Zwischenhändler eingeschaltet, gegebenenfalls aus dem Ausland (sogenannte Umweglieferung). Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 297 SPIONAGEABWEHR * Der Kunde wünscht eine außergewöhnliche Etikettierung oder Kennzeichnung bzw. Beschriftung, um die Güter neutral zu bezeichnen. * Angebotene Zahlungsbedingungen sind besonders vorteilhaft, wie zum Beispiel Barzahlung, hohe Vorauszahlungen oder ungewöhnliche Provisionen. * Der Käufer verzichtet auf das Einweisen in die Handhabung, auf Serviceleistungen oder auf Garantie. * Firmenangehörige werden zu Ausbildungszwecken zur Herstellerfirma nach Deutschland geschickt, obwohl eine Einweisung vor Ort praktischer und sinnvoller wäre. * Mitglieder von Besucherdelegationen werden namentlich nicht vorgestellt. * Zu weiteren Geschäftskontakten nach Deutschland wird geschwiegen. * Neutrale Handelsfirmen täuschen den Verkäufer über den tatsächlichen Kauf durch staatlich gesteuerte Unternehmen. * Hochschulen des jeweiligen Landes treten als Empfänger auf, um die Identität des Endkunden zu verschleiern. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich für Unternehmen, die möglicherweise proliferationsrelevante Waren ausführen, sich zu Detailfragen bei eventuell genehmigungspflichtigen Sachverhalten unmittelbar mit dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) in Verbindung zu setzen. Gastwissenschaftler | Der wissenschaftliche Austausch von Studierenden und ausgebildeten Fachkräften zwischen Universitäten und Forschungseinrichtungen ist zwar politisch und wirtschaftlich gewollt und sinnvoll, dennoch geschieht dies oft mit Kenntnis der jeweiligen ausländischen Nachrichtendienste. Relevante Staaten mit illegalen Beschaffungsmethoden sind insbesondere Iran, Nordkorea und Pakistan. Beispiel hierfür ist der Bereich Elektrotechnik im Verbund mit dem Einsatz von Zentrifugen im Prozess der Urananreicherung. Hier gibt es immer wieder Verdachtsmomente, dass ausländische Nachrichtendienste eigene Gastwissenschaftler unter Druck setzen, um das gewünschte technische Know-how zu erlangen. Ein weiteres Beispiel für nachrichtendienstliche Steuerung ist der Forschungsaustausch von Universitätsinstituten in dem Sektor chemisch-biologischer Verfahren. 298 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GEHEIMUND WIRTSCHAFTSSCHUTZ GEHEIMUND WIRTSCHAFTSSCHUTZ auFGaBen/zIeLe das arbeitsfeld des LfV umfasst nicht nur die Beobachtung extremistischer Bestrebungen, sondern erstreckt sich auch auf den sogenannten Geheimund wirtschaftsschutz. In den Bereich Geheimschutz fällt insbesondere die Mitwirkung des Verfassungsschutzes im Rahmen von Sicherheitsüberprüfungen: bis zum 18. dezember 2019 nach dem Hessischen Sicherheitsüberprüfungsgesetz (HSüG) und seit dem 19. dezember 2019 nach dem Hessischen Sicherheitsüberprüfungsund Verschlusssachengesetz (HSüVG). auf dieser Grundlage unterstützt das LfV Behörden und unternehmen, die mit staatlichen Verschlusssachen umgehen müssen, bei der Bewältigung dieser Sicherheitsaufgaben. ziel des wirtschaftsschutzes ist es, unternehmen in ihrem Bemühen zu unterstützen, sich vor ausspähung zu schützen. die gesammelten erfahrungen und das methodische wissen des Verfassungsschutzes bilden dabei die Grundlagen für eine präventive arbeit zum know-how-Schutz in wirtschaft, wissenschaft und Forschung. AUF EINEN BLICK * definition und aufgaben des Geheimschutzes * Personeller Geheimschutz * Materieller Geheimschutz * Geheimschutzverfahren des Bundes und der Länder * definition und aufgaben des wirtschaftsschutzes * desinformation/einflussnahme * cyberabwehr * auslandsreisen * das LfV als ansprechpartner GeHeIMScHutz definition und aufgaben des Geheimschutzes | Informationen, die als Verschlusssache eingestuft sind, bedürfen bei ihrer Bearbeitung und Aufbewahrung eines besonderen Schutzes. Dies gilt für öffentliche Stellen und die Privatwirtschaft gleichermaßen. Der Geheimschutz befasst sich mit dem ordnungsgemäßen Umgang mit Verschlusssachen, das heißt mit im staatlichen Interesse geheimzuhaltenden Informationen, die Unbefugten nicht zur Kenntnis gelangen dürfen. Entsprechende Maßnahmen richten sich nach dem HSÜVG und nach der Verschlusssachenanweisung (VSA) des Landes Hessen. 300 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GEHEIMUND WIRTSCHAFTSSCHUTZ Das LfV berät alle Behörden und Unternehmen in Hessen, die Umgang mit Verschlusssachen haben. Es informiert, wie Verschlusssachen durch geeignete personelle und materielle Maßnahmen vor unberechtigtem Zugriff geschützt werden können. Staatliche Verschlusssachen werden durch eine Vielzahl von Maßnahmen personeller und organisatorisch-technischer Natur geschützt (personeller und materieller Geheimschutz). Personeller Geheimschutz | Zweck des personellen Geheimschutzes ist es, zu verhindern, dass mit einem Sicherheitsrisiko behaftete Personen Zugang zu Verschlusssachen erhalten oder an sicherheitsempfindlicher Stelle innerhalb von lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen beschäftigt werden. Ein Sicherheitsrisiko besteht zum Beispiel bei: * Unzuverlässigkeit, * fehlender Verfassungstreue, * Erpressbarkeit durch Überschuldung oder * bei besonderer Gefährdung durch Werbungsversuche ausländischer Nachrichtendienste, insbesondere bei Reisen in entsprechende Länder. Bevor eine Person zum Umgang mit Verschlusssachen ermächtigt wird, muss eine Sicherheitsüberprüfung durchgeführt werden. Hierbei ist das LfV mitwirkende Behörde, die auf Ersuchen der zuständigen Stelle tätig wird. Sicherheitsüberprüfungen im Rahmen des Geheimschutzes in der Wirtschaft veranlasst das Hessische Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen. Im HSÜG waren bis zum 18. Dezember 2019 und im HSÜVG sind seit dem 19. Dezember 2019 die Verfahrensabläufe für unterschiedliche Überprüfungsarten geregelt. Eine Überprüfung findet nur mit Einwilligung des Betroffenen statt. Im Rahmen der Mitwirkung an Sicherheitsüberprüfungen wurden im Jahr 2019 insgesamt 543 Überprüfungen abgeschlossen. Die Mitwirkung bei Sicherheitsüberprüfungen von Beschäftigten an sicherheitsempfindlichen Stellen in lebenswichtigen oder verteidigungswichtigen Einrichtungen (Sabotageschutz) gehört seit 2013 ebenfalls zu den Aufgaben des Verfassungsschutzes. In diesem Zusammenhang wurden 2019 zusätzlich 408 Sicherheitsüberprüfungen abgeschlossen. Materieller Geheimschutz | Der materielle Geheimschutz umfasst organisatorische und technische Maßnahmen. Sie sind im Wesentlichen in der VSA zusammengefasst, die sich auch an die Unternehmen in Hessen richtet. Die VSA regelt unter anderem die Herstellung, Aufbewahrung und Vernichtung von Verschlusssachen. Das LfV hat auch hier eine mitwirkende Funktion, das heißt, es berät und unterHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 301 GEHEIMUND WIRTSCHAFTSSCHUTZ stützt Dienststellen und geheimschutzbetreute Unternehmen, die Verschlusssachen erstellen und bearbeiten. Geheimschutzverfahren des Bundes und der Länder | Die materiellen und formellen Voraussetzungen für Unternehmen, die einem Geheimschutz unterliegende Aufträge von staatlichen Stellen erhalten, sind im Geheimschutzverfahren des Bundes und der Länder geregelt. Die Fachaufsicht über dieses Verfahren, das auch als Geheimschutzbetreuung bezeichnet wird, obliegt dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie oder dem jeweils auf Landesebene zuständigen Ministerium, in Hessen dem Hessischen Ministerium für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen. Erhält ein hessisches Unternehmen einen dem Geheimschutz unterliegenden Auftrag von einer staatlichen Stelle in Hessen, begründet dies die Zuständigkeit des Hessischen Ministeriums für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen. Befindet sich die staatliche Stelle hingegen außerhalb Hessens oder handelt es sich um eine Bundesbehörde, ist die Zuständigkeit des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie gegeben. Für die Durchführung der Sicherheitsüberprüfungen von zu ermächtigenden Personen - also denjenigen Mitarbeitern im Unternehmen, die zur Erfüllung des einem Geheimschutz unterliegenden Auftrags eingesetzt werden sollen - ist der Verfassungsschutz des Landes zuständig, in dem das Unternehmen angesiedelt ist. wIRtScHaFtSScHutz definition und aufgaben des wirtschaftsschutzes | Der Wirtschaftsschutz als präventiver Teil der Spionageabwehr ist seit je her ein fester Bestandteil der Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden. Dabei ist es das Ziel, Spionageaktivitäten zu verhindern und die Wirtschaft durch Beratung und Aufklärung vor solchen Angriffen zu schützen. Hierzu ist es notwendig, die Sensibilität von Unternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen gegenüber Gefahren, die durch Angriffe drohen, zu erhöhen, Kenntnisse über Methoden und Ziele ausländischer Nachrichtendienste zu vermitteln und Hilfestellung beim Einsatz geeigneter Schutzmaßnahmen zu leisten ("Prävention durch Information"). Die Erfahrungen und das methodische Wissen des Verfassungsschutzes bilden die Grundlage für die präventive Arbeit im Wirtschaftsschutz. Es liegt im staatlichen Interesse, einen Beitrag zum 302 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GEHEIMUND WIRTSCHAFTSSCHUTZ Know-how-Schutz in Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung zu leisten. Zur erfolgreichen Bekämpfung dieser Herausforderung ist daher eine intensive Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Verfassungsschutz nötig. Das LfV pflegt daher zu vielen Unternehmen, die in Know-how-intensiven Branchen tätig sind, einen vertrauensvollen Umgang und Informationsaustausch. Auch Unternehmen, die den kritischen Infrastrukturen (KRITIS) zuzurechnen sind, stehen im Austausch mit dem LfV, um sich vor möglichen Gefahren durch Spionage und/oder Sabotage zu schützen. Zusätzlich gibt es etablierte Strukturen und Arbeitskreise, in denen auch die hessischen Unternehmen, die sich in der Geheimschutzbetreuung des Bundes oder des Landes Hessen befinden, ihre Kontakte zum Wirtschaftsschutz des LfV pflegen können. So findet im Länderverbund Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland im jährlichen Wechsel die Tagung der Sicherheitsbevollmächtigten der geheimschutzbetreuten Unternehmen statt, in deren Rahmen sich die Beteiligten sowohl mit Behördenvertretern als auch mit anderen Sicherheitsbevollmächtigten austauschen. Das LfV verstärkte seine Aktivitäten im Wirtschaftsschutz in den letzten Jahren deutlich, so führte es seit 2014 über 400 Beratungen und Vorträge durch. Der Schwerpunkt lag dabei auf folgenden Themen: * Abwehr von Cyberangriffen, * Spionageverdachtsfälle mit staatlichem Hintergrund und * durch Terrorismus und Extremismus aller Phänomenbereiche drohende Gefahren für die hessische Wirtschaft. Im Bedarfsfall wurden Experten aus den Fachabteilungen des LfV hinzugezogen, wobei den Unternehmen grundsätzlich ein fester Ansprechpartner im LfV zur Verfügung steht. Dies gilt gleichermaßen sowohl für große Konzerne als auch mittlere und kleine Unternehmen in Hessen. Im Rahmen der Sicherheitskooperation mit der Vereinigung für die Sicherheit der Wirtschaft e.V. (VSW) werden seit 2016 zweimal jährlich Workshops zu verschiedenen Aspekten des Wirtschaftsschutzes durchgeführt. So wurde am 12. Juni 2019 ein Workshop zu dem Thema "Cyberangriffe auf Industriesteuerungsanlagen" in den Seminarräumen des VSW in Mainz (Rheinland-Pfalz) angeboten. Im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung betreffen Bedrohungsszenarien, wie etwa Cyberangriffe, auch eine große Zahl von produHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 303 GEHEIMUND WIRTSCHAFTSSCHUTZ zierenden Unternehmen, da diese regelmäßig mit Industrial Control Systems (ICS) arbeiten - auch als Industrie 4.0 bezeichnet - und neue Angriffsmöglichkeiten im Cyberraum bieten. Der Workshop befasste sich im ersten Teil mit Schutzkonzepten und staatlichen Unterstützungsmöglichkeiten seitens des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Darüber hinaus wurden Sicherheitsinitiativen der Wirtschaft vorgestellt und mit den Teilnehmern diskutiert. Am 26. November fand der zweite Workshop mit dem Titel "Auslandsinvestitionen China" statt. Unterstützt vom BfV, sensibilisierten Mitarbeitende des LfV in Bezug auf Risiken durch chinesische Investitionen (zum Beispiel Know-how Abfluss nach China). Auch das nachrichtendienstliche Interesse Chinas an deutschen Unternehmen spielte eine Rolle. desinformation/einflussnahme | Russische Desinformationskampagnen werden spätestens seit der mutmaßlichen Beeinflussung der Wahl des amerikanischen Präsidenten im November 2016 in der Öffentlichkeit thematisiert. Daher legte das LfV ein besonderes Augenmerk auf Desinformationskampagnen im Vorfeld der hessischen Landtagswahl im Oktober 2018 und der Europawahl im Mai 2019, wobei entsprechende Aktivitäten im Internet beobachtet sowie bewertet und die zuständigen Stellen hierüber informiert wurden. Neben mutmaßlich russischen Desinformationen auf Twitter, Russia Today Deutsch, Sputnik News, Facebook usw. trat ein neuer Modus Operandi auf: Kleinere lokale journalistische Plattformen wie zum Beispiel Leserreporter-Nachrichtenseiten und Mitmach-Portale wurden genutzt, um Beiträge untereinander zu verlinken und so eine höhere Glaubwürdigkeit durch vermeintlich verschiedene Quellen zu erreichen. Inhaltlich waren die auf diese Art und Weise verbreiteten Informationen nicht auf den ersten Blick als Fake News zu erkennen. Nachteilig aus Sicht der Urheber war allerdings deren verhältnismäßig geringe Reichweite. Identisch aufgebaute Internetpräsenzen gab es in Österreich, Spanien und in Südamerika. Dieser neue Modus Operandi verdeutlicht die Herausforderung, dass bei der Bekämpfung von Desinformationskampagnen nicht nur große Betreiber von Internetplattformen in die Pflicht genommen werden sollten, derartige Inhalte zu identifizieren, sondern grundsätzlich jede Internetplattform, auf der Nutzer Inhalte einstellen können, die missbräuchlich für derartige Zwecke instrumentalisiert werden können. cyberabwehr | Schwerpunkt der Bearbeitung staatlicher Cyberangriffe gegen Unternehmen und Einrichtungen in Hessen waren im 304 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GEHEIMUND WIRTSCHAFTSSCHUTZ Berichtsjahr Aktivitäten mit mutmaßlich chinesischem, iranischem und russischem Hintergrund. Dabei war eine erhöhte Zahl von Aktivitäten mit mutmaßlich staatlicher chinesischer Urheberschaft zu verzeichnen. Nachdem die chinesische Führung im Jahr 2015 der Öffentlichkeit ihre Industriestrategie "Made in China 2025" vorgestellt hatte, in deren Rahmen sie in zehn Schlüsseltechnologien weltweit führende Unternehmen schaffen will, deuteten direkte Cyberangriffe und Angriffsversuche auf ein anhaltendes Interesse an entsprechenden Branchen bzw. wirtschaftsrelevanten Informationen hin. In Hessen bezog sich das chinesische Interesse insbesondere auf den Standort Frankfurt am Main mit seiner Vielzahl an relevanten Institutionen in der Finanzbranche. Darüber hinaus lag im Berichtsjahr eine Vielzahl von Hinweisen vor, wonach der chinesische Staat mittels seiner Einflussnahme auf weltweit agierende chinesische Konzerne über weitreichende Spionageund Sabotagemöglichkeiten verfügt. Chinesische Unternehmen betrieben nicht nur weltweit genutzte Apps und Anwendungen, sondern auch Rechenzentren und traten als Cloud-Dienstleister auf. Die Verbindungen zu chinesischen staatlichen Einrichtungen und Einflussmöglichkeiten waren dabei oft undurchsichtig. Insgesamt ist zu beachten, dass die Gesetzgebung in China weitreichende Kooperationsund Zusammenarbeitspflichten zwischen chinesischen Unternehmen und Behörden enthält. auslandsreisen | Einen weiteren Schwerpunkt des LfV im Bereich Wirtschaftsschutz bilden die Beratung vor Auslandsreisen und FeedbackGespräche nach Auslandsreisen. Rein präventiv sind hier regelmäßig folgende Aspekte zu berücksichtigen: * Gefahren drohen auch bei Reisen in Länder, in denen die Verhältnisse politisch instabil sind, Unruhen herrschen oder sich Krisen ausgebreitet haben. Der Aufenthalt in solchen Ländern ist stets mit einem hohen Risiko behaftet. Das persönliche Verhalten in solchen Regionen erfordert größte Vorsicht und ständige Aufmerksamkeit. * Vor allem die Konflikte in Regionen in Afghanistan und in Pakistan sowie in Syrien und im Irak, stellen für Reisende ein besonderes Sicherheitsproblem dar. Es besteht die Gefahr von Attentaten, Überfällen, Entführungen und anderen Gewaltverbrechen. Bei Reisen in Länder wie China und Russland können Angehörige unliebsamer Minderheiten von erheblichem Interesse für die dortigen Nachrichtendienste sein. Dies trifft auch auf Reisende zu, die über besonderes Wissen in Wirtschaft, Technik und Politik verfügen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 305 GEHEIMUND WIRTSCHAFTSSCHUTZ Bei Besuchen in solchen Staaten sind einige Regeln zu beachten, um im Rahmen der vor Ort notwendigen Kommunikation den unnötigen Abfluss von Daten zu verhindern bzw. zu minimieren: * Telekommunikation so weit wie möglich einschränken. * Nur eigene Kommunikationsmittel nutzen und Sprechdisziplin einhalten. Kein Kommunikationsmittel des Gastgebers zum Austausch sensibler Informationen verwenden. * Informationen auf mehrere Kommunikationsmittel sowie getrennte inhaltliche Nachrichten aufteilen (E-Mail, Telefon, persönliche Gespräche). * Bei Besprechungen Akku aus dem Handy entfernen oder zumindest ungenutzte Schnittstellen (zum Beispiel Bluetooth, Infrarot, WLAN) deaktivieren. * Laptops, Tablets, USB-Sticks, Handys, Smartphones, Navigationsgeräte oder andere elektronische Geräte nicht aus der Hand geben bzw. nicht im Hotel zurücklassen. * Überwachungen im Hotel einkalkulieren. * Nur absolut notwendige Daten auf (externen) Medien speichern. * Visaund Meldebestimmungen sowie die Vorschriften bezüglich der Einund Ausfuhr von Devisen beachten. * Jede Beteiligung an illegalen Transaktionen, unter anderem den Geldtausch auf der Straße und den Kauf gefälschter Gegenstände, vermeiden. * Sonstige Einund Ausfuhrbestimmungen beachten. * Fotografierund Filmverbote befolgen. * Keine negativen Äußerungen über das Gastland und sein Gesellschaftssystem tätigen. * Bei unverschuldetem oder auch verschuldetem Fehlverhalten gegenüber Behörden sofort die nächste diplomatische oder konsularische Vertretung der Bundesrepublik Deutschland verständigen (schon vor Reisebeginn entsprechende Daten beschaffen). * Vorsicht bei Taxifahrten walten lassen und ein Fahrzeug eines öffentlichen Taxistands nutzen. * Größere Menschenansammlungen und Demonstrationen meiden. das LfV als ansprechpartner | Wer einen Ausspähversuch vermutet, Angriffe auf Informationsund Kommunikationstechnik feststellt oder allgemeine Fragen zum Schutz von Know-how hat, kann sich unter folgenden Kontaktdaten an das LfV wenden: Telefonnummer: 0611-720600 E-Mail-Adresse: wirtschaftsschutz@lfv.hessen.de Zur vertraulichen Kommunikation bietet das LfV verschiedene verschlüsselte Übertragungswege an. Weitere Informationen hierzu sind auf der Homepage des LfV unter lfv.hessen.de/presse/anfragen306 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GEHEIMUND WIRTSCHAFTSSCHUTZ oder-beratung-zum-thema-wirtschaftsschutz oder bei einem persönlichen Kontakt erhältlich, wobei das LfV auch eine vertrauliche Zusammenarbeit anbietet. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 307 GEHEIMUND WIRTSCHAFTSSCHUTZ 308 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV neben der Beobachtung der in SS 2 abs. 2 HSVG genannten Bestrebungen und tätigkeiten als kernaufgabe des Verfassungsschutzes nimmt das LfV gesetzlich geregelte Mitwirkungsaufgaben wahr. Mit seinen erkenntnissen und empfehlungen trägt das LfV dazu bei, dass etwa extremisten weder ihren aufenthalt in der Bundesrepublik deutschland verfestigen können noch zugang zu sicherheitsempfindlichen Infrastrukturen erhalten oder in den Besitz legaler waffen gelangen. AUF EINEN BLICK * Gesetzlicher auftrag * erteilung von aufenthaltstiteln * einbürgerung * Visumverfahren * konsultationsverfahren im asylprozess * überprüfung der zuverlässigkeit * Statistik Gesetzlicher auftrag | Um ihren Stellenwert als integralen Bestandteil der Sicherheitsarchitektur hervorzuheben, wurden die Mitwirkungsangelegenheiten ausdrücklich in SS 20 Abs. 1 Nr. 2 HVSG aufgeführt. Dem LfV kommt dabei die wesentliche Aufgabe zu, auf Ersuchen von Behörden bei der Überprüfung von Antragstellern mitzuwirken (SS 2 Abs. 3 HVSG). Das LfV wertet im Rahmen seiner Mitwirkungsangelegenheiten die ihm vorliegenden Erkenntnisse aus (SS 4 Abs. 5 HVSG). Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel kommt dabei nicht in Betracht. erteilung von aufenthaltstiteln | Die Ausländerbehörden übermitteln vor erstmaliger Erteilung oder Verlängerung von Aufenthaltstiteln die personenbezogenen Daten der Antragsteller an das LfV, um zu prüfen, ob Versagungsgründe vorliegen (SS 73 Abs. 2 AufenthG, Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet). Werden dem LfV nachträglich sicherheitsrelevante Informationen bekannt, ist es verpflichtet, diese mitzuteilen (sogenannte Nachberichtspflicht nach SS 73 Abs. 3 AufenthG). Seit 2009 besteht in Hessen eine regelmäßig tagende Arbeitsgruppe, an der unter anderem Vertreter des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport, der Polizei und des LfV teilnehmen. Die Arbeitsgruppe beschäftigt sich ausschließlich mit in Hessen lebenden Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft, die aus Sicht von Polizei und LfV dem islamistischen Spektrum zuzuordnen sind. Ziel ist eine enge behördenübergreifende Zusammenarbeit bei Einzelfällen, die eine besondere Sicherheitsrelevanz aufweisen und bei de310 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV nen aufenthaltsbeendende oder aufenthaltsbeschränkende Maßnahmen geboten sind. einbürgerung | Auch bei Einbürgerungsbewerbern, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, fragen die zuständigen Regierungspräsidien vor ihrer Entscheidung im Einbürgerungsverfahren beim LfV nach Erkenntnissen an (SSSS 32 u. 37 Abs. 2 StAG, Staatsangehörigkeitsgesetz). Visumverfahren | Beantragt ein Ausländer aus einem konsultationspflichtigen Staat bei einer Auslandsvertretung ein Visum zur Einreise nach Deutschland bzw. in das Gebiet der Schengener Staaten, sind eine Vielzahl inländischer Stellen, wie etwa die nationalen Sicherheitsbehörden, zu beteiligen. Zur Feststellung eventueller Versagungsgründe oder sonstiger Sicherheitsbedenken ist dabei eine Übermittlung von personenbezogenen Daten über das Bundesverwaltungsamt als technischen Dienstleister an das BfV möglich. Ergibt sich bei einem automatisierten Datenabgleich mit dem Nachrichtendienstlichen Informationssystem (NADIS) eine Eintragung des LfV, wird es an dem Verfahren beteiligt (SS 73 Abs. 1 AufenthG). konsultationsverfahren im asylprozess | Seit 2017 wird bei unerlaubt eingereisten bzw. aufhältigen Personen sowie bei Asylund Schutzsuchenden mit der Erstregistrierung im Ausländerzentralregister ein automatisierter Sicherheitsabgleich initiiert, an dem das LfV - dem Visumverfahren vergleichbar - beteiligt wird (SS 73 Abs. 1a u. 3a AufenthG). überprüfung der zuverlässigkeit | Das LfV wirkt bei einer Vielzahl von Zuverlässigkeitsüberprüfungen mit, so etwa nach dem * Gesetz über explosionsgefährliche Stoffe (SprengG), * Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG) und * Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (AtG). Werden bei der Zuverlässigkeitsüberprüfung nach dem LuftSiG bzw. AtG im Nachhinein Informationen bekannt, die für die Beurteilung der Zuverlässigkeit von Bedeutung sind, besteht für das LfV eine Nachberichtspflicht. Auch Personen, die ein Bewachungsgewerbe betreiben oder als Wachperson arbeiten wollen, unterliegen einer Zuverlässigkeitsüberprüfung (SS 34a Gewerbeordnung, GewO). Werden diese Personen bei der Bewachung von Aufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften sowie bei der Bewachung von zugangsgeschützten Großveranstaltungen eingesetzt, wirkt das LfV mit. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 311 MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV SS 20 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. l) HVSG regelt die Übermittlungsbefugnis des LfV auch für die Fälle gesetzlich an anderer Stelle normierter Überprüfungen. Dies betrifft zum Beispiel die für den Bereich der Polizei geltenden SSSS 13a und 13b des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG). Das LfV wird nur dann in die Überprüfungen einbezogen, wenn dies im Einzelfall erforderlich ist und die betroffene Person einwilligt. So wirkt das LfV etwa bei der Überprüfung von Personen mit, die eine Tätigkeit als Bedienstete einer Behörde mit Vollzugsaufgaben anstreben oder einen unbegleiteten Zutritt zu staatlichen Einrichtungen erhalten sollen. Gleiches gilt bei Personen, für die ein privilegierter Zutritt zu einer Veranstaltung einer Behörde oder öffentlichen Stelle oder zu einer besonders gefährdeten Veranstaltung in nicht öffentlicher Trägerschaft beantragt wird. Auf Grundlage des SS 13a HSOG wirkt das LfV bei der Überprüfung von Personen mit, die im sicherheitssensiblen Bereich des Hessentags eingesetzt werden sollen. Schließlich wirkt das LfV auch bei der Zuverlässigkeitsüberprüfung von an der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge und ihren Außenstellen beschäftigten Dolmetschern mit (SS 20 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. h) HVSG). PROZENTUALER ANTEIL AM ANFRAGEAUFKOMMEN IM BERICHTSJAHR LuftSiG 20% Aufenthalt 47% VISA 16% Einbürgerung 12% Sonstige 5% 312 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV Der Bundestag hat am 13. Dezember 2019 das Dritte Gesetz zur Änderung des Waffengesetzes und weiterer Vorschriften (3. WaffRÄndG) beschlossen. Am 20. Dezember 2019 stimmte der Bundesrat dem Gesetzentwurf zu. Das Gesetz ist am 20. Februar 2020 in Kraft getreten. SS 5 Abs. 5 Satz 1 Nr. 4 WaffG (Waffengesetz) sieht die Regelanfrage bei den Verfassungsschutzbehörden vor. Das LfV ist ebenfalls verpflichtet, im Nachhinein für die Beurteilung der waffenrechtlichen Zuverlässigkeit bedeutsame Erkenntnisse der zuständigen Waffenbehörde unverzüglich mitzuteilen (SS 5 Abs. 5 Satz 3 WaffG). Statistik | 2019 wurden 184.435 (2018: 176.096 Anfragen) an das LfV gerichtet, was einer Zunahme von 4,7 Prozent entspricht. Zu den anfragestärksten Mitwirkungsaufgaben zählten insbesondere die Beteiligung bei Aufenthaltstiteln, Einbürgerungen, Visa und die Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem LuftSiG. ANZAHL DER ANFRAGEN NACH VERFAHREN 100.000 86.367 81.548 80.000 60.000 40.000 36.587 36.062 28.269 30.171 20.521 22.842 20.000 2018 9.171 8.644 2019 0 Sonstige Einbürgerung VISA LuftSiG Aufenthalt Im Bereich Sonstige sind unter anderem enthalten: Asylkonsultationsverfahren, SprengG, AtG, GewO, Hessentag und HEAE. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 313 MITWIRKUNGSAUFGABEN DES LFV 314 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ANHANG - aBküRzunGSVeRzeIcHnIS - GLoSSaR - extReMIStIScHe oRGanISatIonen und GRuPPIeRunGen - ReGISteR - GeSetz zuR neuauSRIcHtunG deS LFV ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS aBküRzunGSVeRzeIcHnIS a&o anF Anarchistische Aktion & OrgaAjansa Nuceyan a Firate nisierung (Firatnews Agency) a.R.a.G. arab. Antifaschistische Revolutionäre arabisch Aktion Gießen aRd abs. Arbeitsgemeinschaft der RundAbsatz funkanstalten Deutschlands afd art. Alternative für Deutschland Artikel aGÄdegF atG Almanya Göcmen Isciler FedeGesetz über die friedliche rasyonu (Föderation der ArbeiVerwendung der Kernenergie terimmigranten aus der Türkei und den Schutz gegen ihre in Deutschland e.V.) Gefahren ahrar al-Sham atÄdegk Harakat Ahrar al-Sham al-IslaAvrupa Türkiyeli Isciler Konfemya (Islamische Bewegung der derasyonu (Konföderation der Freien Männer Großsyriens) Arbeiter der Türkei in Europa) ak raccoons au Antifaschistisches Kollektiv Afrikanische Union raccons auF ak.069 Antifa United Frankfurt Antifaschistisches Kollektiv 069 aufenthG akP Gesetz über den Aufenthalt, Adalet ve Kalkinma Partisi (Pardie Erwerbstätigkeit und die tei für Gerechtigkeit und AufIntegration von Ausländern im schwung) Bundesgebiet al-Shabaab aveG-kon Harakat al-Shabaab al-MujahiAvrupa Ezilen Göcmenler Kondin (Bewegung der Mujahidinfederasyonu (Konföderation Jugend) der unterdrückten Migranten in Europa) aMGt Avrupa Milli Görüs Teskilatlari BaFa (Vereinigung der neuen WeltBundesamt für Wirtschaft und sicht in Europa e. V.) Ausfuhrkontrolle aMISoM African Mission in Somalia 316 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS BaGIV ceM Bundesarbeitsgemeinschaft Council of European Muslims der Immigrantenverbände in cSdI Deutschland Combined Services Detailed BaMad Interrogation Center Bundesamt für den MilitäriddR schen Abschirmdienst Deutsche Demokratische BaMF Republik Bundesamt für Migration und dev Sol Flüchtlinge Devrimci Sol (Revolutionäre BBc Linke) British Broadcasting CorporadHkP-c tion Devrimci Halk Kurtulus PartisiBc Cephesi (Revolutionäre VolksBoxclubs befreiungspartei-Front) BfV dÄdegtÄdegB Bundesamt für VerfassungsDiyanet Isleri Türk Islam Birligi schutz (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.) BIaRex Bearbeitung integrierter bzw. dkP abgekühlter Rechtsextremisten Deutsche Kommunistische Partei Bka Bundeskriminalamt dMG Deutsche Muslimische Bnd Gemeinschaft e. V. Bundesnachrichtendienst dMS BPol DokumentenmanagementBundespolizei system BSI dr. Bundesamt für Sicherheit in Doktor der Informationstechnik dS bzw. Deutsche Stimme beziehungsweise dt. cdk Deutsch KoordA(r)nasyona Civaka DemokratA(r)k a Kurdistan (Koordination dVu der kurdisch-demokratischen Deutsche Volksunion Gesellschaft) e. V. cdu Eingetragener Verein Christlich Demokratische Union Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 317 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ecFR FIoe European Council for Fatwa Federation of Islamic Organizaand Research tions in Europe (Föderation Islamischer Organisationen in eIHS Europa) European Institute of Human Sciences (Institut für HumanFnS wissenschaften) Freies Netz Süd eIHw FPÖ Europäisches Institut für Freiheitliche Partei Österreichs Humanwissenschaften in FSB Deutschland e. V. Federalnaja Slushba BesopaseMuG nosti (Föderaler Dienst für Europäische Moscheebau und Sicherheit der Russischen Unterstützungsgemeinschaft Föderation) erbakan-Stiftung FwH Erbakan Vakfi Hessen Freier Widerstand Hessen eu GaM Europäische Union Gruppe Arbeiterinnenmacht europol GBa Europäisches Polizeiamt Generalbundesanwaltschaft ezB geb. Europäische Zentralbank geboren Fau Gestapo Freie Arbeiterinnenund Geheime Staatspolizei Arbeiter-Union Getz Fcdk-kawa Gemeinsames ExtremismusFederasyona Civaken Demound Terrorismusabwehrzenkratik ya Kurdistaniyen li Saartrum land u Hessen (Föderation der Gewo demokratischen Vereine Gewerbeordnung Kurdistans e. V.) GG fdGo Grundgesetz Freiheitliche demokratische Grundordnung GI [inoffizielle Abkürzung] Generation Identitaire FdP GIz Freie Demokratische Partei Gemeinsames Internetzentrum GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung 318 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS GRu hrsg. Glawnoje Raswedywatelnoje herausgegeben Uprawlenije (Hauptverwaltung HSoG beim Generalstab der StreitHessischen Gesetzes über die kräfte der Russischen Föderaöffentliche Sicherheit und Ordtion) nung Gtaz Hut Gemeinsames TerrorismusabHizb ut-Tahrir (Partei der Befreiwehrzentrum ung) GVBl. HVSG Gesetzund Verordnungsblatt Hessisches Verfassungsschutzfür das Land Hessen gesetz Gzd Iaa Generalzolldirektion Internationale Automobil HaMaS Ausstellung Harakat al-Muqawama al-IslaIaBF miya (Islamische WiderstandsInitiative Anarchistische bewegung) Bewegung Frankfurt Heae Iac Hessische ErstaufnahmeeinIsmail Aga Cemaati richtung für Flüchtlinge und ihre Außenstellen IB Identitäre Bewegung Hetaz Hessisches Extremismusund IBd Terrorismus-Abwehrzentrum Identitäre Bewegung Deutschland e. V. HfPV Hessische Hochschule für IBH Polizei und Verwaltung Identitäre Bewegung Hessen Hke IBÖ Hessisches Informationsund Identitäre Bewegung Kompetenzzentrum gegen ExÖsterreich tremismus i.e. Id est (lateinisch für das heißt) HLka Hessisches Landeskriminalamt IeSH HnG Institut Europeen des Sciences Hilfsorganisation für nationale Humaines (Institut für Humanpolitische Gefangene und dewissenschaften) ren Angehörige e. V. Ifz HPG Institut für Zeitgeschichte Hezen Parastina Gel (HPG, Volksverteidigungseinheiten) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 319 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS IGd kfz. Islamische Gemeinschaft in Kraftfahrzeug Deutschland e. V. ko IGMG Kommunistische Organisation Islamische Gemeinschaft MillA(r) konGRa GeL Görüs e. V. Kongreya Gele Kurdistane IL (Volkskongress Kurdistans) Interventionistische Linke kon-Med IRGc Almanya'daki Mezopotamya Islamic Revolutionary Guard Topluluklar Konfederasyonu Corps (Iranische Revolutions(Konföderation der Gemeingarden) schaften Mesopotamiens in Deutschland) IS Islamischer Staat koRex Kompetenzzentrum gegen ISH Rechtsextremismus Initiative Social Hub kPch ISI Kommunistische Partei Chinas Inter-Service Intelligence kPd Iue Kommunistische Partei Islamische Union Europa e. V. Deutschlands Ja kPdSu Junge Alternative Kommunistische Partei der Jn Sowjetunion Junge Nationalisten kRItIS Jxk Kritische Infrastrukturen Jinen Xwendekaren Kurdistan LfV (Studierende Frauen aus KurLandesamt für Verfassungsdistan) schutz kadek Ltte Kongreya AzadA(r) A" Demokrasiya Liberation Tigers of Tamil Kurdistane (Freiheitsund DeEelam (LTTE) mokratiekongress Kurdistans) LuftSiG kcdk-e Luftsicherheitsgesetz Kongreya Civaken Demokratik li Kurdistaniyen Ewropa (KurdiMB scher Demokratischer GesellMuslimbruderschaft schaftskongress in Europa) MÄdegt kck Milli Istihbarat Teskilati Koma Civaken Kurdistan (Nationale Nachrichtendienst(Gemeinschaft der Kommunen organisation) Kurdistans) 320 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS MLkP nSBM Marksist Leninist Komünist Parti National Socialist Black Metal (Marxistisch-Leninistische KomnSdaP munistische Partei) Nationalsozialistische DeutMLPd sche Arbeiterpartei Marxistisch-Leninistische Partei nSMk Deutschlands Nationale Sozialisten MMa Main-Kinzig Mixed-Martial-Arts nSu MnP Nationalsozialistischer MillA(r) Nizam Partisi (Nationale Untergrund Ordnungspartei) nzz MSI Neue Zürcher Zeitung Movimento Sociale Italiano oat (MSI) Offenes Antifaschistisches nadIS Treffen Nachrichtendienstliches Inforok mationssystem Organisierte Kriminalität nato oMcG North Atlantic Treaty OrganizaOutlaw Motorcycle Gangs tion (Organisation des Nordatlantikvertrags) PCdk Partiya Careseriya Demokratik naV-deM a Kurdistane (Partei für eine Navenda Civaka DemokratA(r)k ya politische Lösung in Kurdistan) Kurden li Almanyaye (Demokratisches GesellschaftszenPegida trum der KurdInnen in Patriotische Europäer gegen Deutschland e. V.) die Islamisierung des Abendlandes nGo Non-governmental organizaPIaS tion (englisch für nichtstaatPolizeiliche Informationsund liche Organisation) Analysestelle nIaS PJak Nachrichtendienstliche InforPartiya Jiyana Azad a Kurdismationsund Analysestelle tane (Partei für ein freies Leben in Kurdistan) nPd Nationaldemokratische Partei Pkk Deutschlands Partiya Karkeren Kurdistan (Arbeiterpartei Kurdistans) nS Nationalsozialismus Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 321 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS PkV SdaJ Parlamentarische KontrollkomSozialistische Deutsche mission Verfassungsschutz Arbeiterjugend PLo SP Palestine Liberation OrganizaSaadet Partisi (Partei der Glücktion (Palästinensische Befreiseligkeit) ungsorganisation) SP Hessen PMk Saadet Deutschland RegionalPolitisch motivierte Kriminalität verein Hessen e. V. Pyd SPd Partiya YekA(r)tiya Demokrat (ParSozialdemokratische Partei tei der Demokratischen Union) Deutschlands RaF SprengG Rote Armee Fraktion Gesetz über explosionsgefährliche Stoffe ReVo REVOLUTION SRP Sozialistische Reichspartei RH Rote Hilfe e. V. SS Schutzstaffel RHd Rote Hilfe Deutschlands StaG Staatsangehörigkeitsgesetz RI Realität Islam SuV Sport Utility Vehicle RIG/RIGd Rat der Imame und Gelehrten SwR RIG e. V./Rat der Imame und Slushba Wneschnej Raswedki Gelehrten in Deutschland (Dienst der Außenaufklärung der Russischen Föderation) Rn Rassemblement National tak Teyrebazen Azadiya Kurdistan RSHa (Freiheitsfalken Kurdistans) Reichssicherheitshauptamt tcS s. Tevgera Ciwanen Soresger siehe (Bewegung der revolutionären S. Jugend) Seite tH Sa Türkische Hizbullah Sturmabteilung tkP/ML Saw Türkiye Komünist Partisi/MarkSonderauswertungsgruppe sist Leninist (Türkische Kommunistische Partei/MarxistenLeninisten) 322 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS tV ydG Television Yurtsever Devrimci Genclik Hareketi (Patriotisch revolutionäre u. Jugendbewegung) und yÖP ucc Yeni Özgür Politika (Neue Freie Uniform Commercial Code Politik) uG yPJ ...umsGanze! Yekineyen Parastina Jin uId (Frauenverteidigungseinheiten) Union Internationale yxk Demokraten Yekitiya Xwendekaren Kurdisun tan (Verband der Studierenden United Nations aus Kurdistan) (Vereinte Nationen) zit. uSa zitiert United States of America (VerzMd einigte Staaten von Amerika) Zentralrat der Muslime in usw. Deutschland und so weiter v. von/vom v. chr. vor Christus VaJa/MoIS Vezarat-e ettela'at jomhuri-ye eslami-ye iran/Ministry of Intelligence vgl. vergleiche VPn Violence Prevention Network VSw Vereinigung für die Sicherheit der Wirtschaft e. V. waffG Waffengesetz xR Extinction Rebellion Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 323 GLOSSAR anarchismus Im Gegensatz zu anderen linksextremistischen Richtungen fehlt es dem Anarchismus an verbindlichen Theorien und gemeinsamen Organisationsstrukturen. Anarchismus ist vielmehr eine Sammelbezeichnung für politische Auffassungen und Bestrebungen, die auf die Abschaffung jeglicher Herrschaft von Menschen über Menschen abzielen. Das Feindbild aller anarchistischen Strömungen ist der Staat. Die Institution des Staats gilt im anarchistischen Selbstverständnis als repressive Zwangsinstanz, die zugunsten einer herrschaftsfreien Gesellschaft aufgelöst oder zerschlagen werden muss. Dabei differenzieren Anarchisten nicht zwischen demokratisch und diktatorisch organisierten Staaten. Nach anarchistischer Vorstellung soll sich die Gesellschaft auf der Basis völliger Freiwilligkeit selber organisieren. Häufig schließt eine solche Auffassung einen grundsätzlichen Antiinstitutionalismus mit ein. So gelten auch Parlamente, Parteien, Kirchen und Vereine als Einrichtungen, die einer freiwilligen Assoziation von emanzipierten und mündigen Menschen entgegenstehen. Im Mittelpunkt stehen Freiheit, Freizeit, Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Die Ablehnung von Hierarchie und Unterordnung führt zu einer generellen Skepsis gegenüber politischen Organisationsformen. Anarchisten bilden deshalb zumeist nur lose strukturierte Gruppierungen. Gegenwärtig bestehen nur wenige Kleinorganisationen, die sich dezidiert dem Anarchismus verschrieben haben wie zum Beispiel die FAU. Daneben sind jedoch auch die meisten autonomen Gruppierungen durch anarchistische Theoriefragmente beeinflusst. (http://www.verfassungsschutz.bayern.de/linksextremismus/ definition/ideologie/anarchismus/index.html, abgerufen im Juni 2020.) "antifaschismus" ... als Begriff wird auch von Demokraten verwendet, um ihre Ablehnung des Rechtsextremismus zum Ausdruck zu bringen. Linksextremisten versuchen den breiten gesellschaftlichen Konsens gegen den Rechtsextremismus zu nutzen, um von Demokraten als Partner akzeptiert zu werden. Im linksextremistischen Sinn ist "Antifaschismus" weit mehr als das Engagement gegen Rechtsextremismus. Er steht für eine grundsätzliche Ablehnung von Parlamentarismus und demokratischem Verfassungsstaat. "Antifaschismus" im linksextremistischen Sinn behauptet, dass die bürgerliche Gesellschaftsordnung mit Kapitalismus, Parlamentarismus und Rechtsstaat die Ursache von Faschismus und Rechtsextremismus sei. Demokratischen Staaten wie der Bundesrepublik Deutschland wird unterstellt, sich unausweichlich in Richtung eines neuen Faschismus zu entwickeln. Das politische Ziel linksextremistischer Antifaschisten ist deshalb die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Der Begriff "Antifaschismus" geht zurück auf die inneritalienische Opposition gegen die Herrschaft Benito Mussolinis (1883-1945) zwischen 1922 und 1943. Die Wurzeln des deutschen Antifaschismus liegen im Widerstand gegen die Diktatur des "Dritten Reichs". Neben dem bürgerlich-liberal geprägten Antifaschismus, der für den Erhalt 324 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GLOSSAR bzw. die Wiederherstellung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eintrat, entwickelte sich ein kommunistisch orientierter, der alle nichtmarxistischen Systeme als potenziell faschistisch oder zumindest als Vorstufe zum Faschismus betrachtet. Der Faschismus gilt dabei als die reaktionärste, chauvinistischste und imperialistischste Form des Kapitalismus. Nur wenn das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft und ein sozialistisches System errichtet werde, könne der Faschismus zerstört werden. Die Forderung nach der Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist die folgerichtige Konsequenz. Linksextremistische Parteien streben im Rahmen ihrer Bündnispolitik die Übernahme von Leitungsund Steuerungsfunktionen in antifaschistischen Organisationen und Bündnissen an. Zur "Legitimation" ihres Führungsanspruchs verweisen sie häufig auf den Kampf kommunistischer Widerstandskämpfer gegen Hitler und die Verfolgung von Kommunisten zur Zeit des deutschen Nationalsozialismus. Daneben nutzen gewaltbereite Autonome den "antifaschistischen Kampf" seit Jahren zur Mobilisierung ihrer Anhänger und zur Legitimierung ihrer militanten Aktionen gegen Staat und Polizei mit dem Argument, diese schützten Rechtsextremisten. Die so genannten Faschos gelten bei den Autonomen als Feindbild schlechthin. Nach dem Motto "Schlagt die Nazis, wo ihr sie trefft!" wird offen zur Gewaltanwendung aufgerufen. Antifaschismus ist nicht generell linksextremistisch. Es kommt vielmehr darauf an, was die jeweiligen Akteure konkret unter "Faschismus" verstehen und welche Forderungen sie daraus ableiten. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/linksextremismus/ definition/aktionsfelder/antifaschismus/index.html, abgerufen im Juni 2020.) Die Stadt gilt insbesondere gewaltorientierten Linksextremisten tra"antigentrifizierung" ditionell als zentraler Ort des Klassenkampfs, als Ort der Zuspitzung der Klassengegensätze. Durch die Verbindung mit anderen Gruppen erhoffen sich Linksextremisten Möglichkeiten der Massenmilitanz, die in Städten leichter organisierbar ist als in bevölkerungsschwachen Räumen. Ziel gewaltorientierter Linksextremisten ist insbesondere der Erhalt sogenannter Freiräume, die von der Szene als notwendige Widerstandsstrukturen angesehen werden. Mit dem Thema "Antigentrifizierung" versuchen Linksextremisten ihre eigenen Interessen in eine aktuelle stadtund gesellschaftspolitische Diskussion einzubetten und damit in größeren Bevölkerungskreisen politisch Akzeptanz zu finden. Der Begriff "Gentrifizierung" kommt ursprünglich aus der Stadtsoziologie und bezeichnet soziale Umstrukturierungsprozesse in Stadtteilen, die zu steigenden Mieten und einer Verdrängung der bisherigen Bewohner führen. Viele Bewohner von Großstädten beschäftigt dieses Thema. Es bilden sich Initiativen, die in aller Regel von demokratischen Kräften getragen werden. Linksextremisten versuchen, sich diesen Initiativen anzuschließen bzw. im gleichen Themenfeld eigene Aktionen zu entwickeln, um damit ihre gesellschaftliche AkHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 325 GLOSSAR zeptanz zu steigern und sich vordergründig als sozialpolitische Akteure zu profilieren, wobei sie extremistische Ziele verfolgen, die deutlich über die Sozialpolitik hinausreichen. Autonome Linksextremisten entwickeln im Zusammenhang mit dem Themenfeld "Antigentrifizierung" auch gewalttätige Aktivitäten: Insbesondere Immobilienmakler werden von ihnen als Mitverantwortliche für die "Gentrifizierung" und damit als Feindbild wahrgenommen. Büros und Fuhrpark von Immobilienfirmen sind immer wieder Ziel militanter Attacken aus der linksextremistischen Szene. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/linksextremismus/ definition/aktionsfelder/antigentrifizierung/index.html, abgerufen im Juni 2020.) "antiimperialismus" Der Imperialismus, bei dem russischen revolutionären Politiker Lenin (1870-1924) als "höchstes Stadium des Kapitalismus" definiert, ist für Linksextremisten ein Gegenstand heftigster Ablehnung. Nach der klassischen marxistisch-leninistischen Imperialismus-Theorie neigen "kapitalistische" Ökonomien und Staaten dazu, sich zur Maximierung des Profits Märkte für Rohstoffe, Arbeitskräfte und den Absatz von Produkten notfalls gewaltsam zu erschließen, was zu Kolonialismus und Kriegen zwischen "kapitalistischen" Staaten führe. Diese Analyse legt für Linksextremisten eine "antiimperialistische" und "internationalistische" Ausrichtung nahe: Sie verstehen sich als solidarisch mit den "um ihre nationale Befreiung von kolonialistischer Ausbeutung kämpfenden Völkern", falls letztere ein "sozialistisches" Regime errichten wollen. (Vgl. van Hüllen: "Antiimperialistische" und "antideutsche" Strömungen im deutschen Linksextremismus, https://www.bpb.de/politik/ extremismus/linksextremismus/33626/antideutsche-undantiimperialisten, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im Juni 2020.) anti-IS-koalition Die wichtigsten Mitglieder der Koalition waren die USA, Großbritannien, Dänemark, Belgien und Kanada. Partner im Nahen Osten waren Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Qatar und Jordanien. (Vgl. https://www.srf.ch/news/international/das-sind-die-wichtigstenmitglieder-der-anti-is-allianz, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags abgerufen im Juni 2020.) "antikapitalismus" Aus linksextremistischer Sicht kennzeichnen den "Kapitalismus" nicht nur soziale Missstände, sondern auch gesellschaftspolitische Phänomene wie Faschismus, Rechtsextremismus, Rassismus, Repression, Gentrifizierung und Militarismus. Umso wichtiger erscheint Linksextremisten folglich der "antikapitalistische Kampf". Insbesondere die globale Wirtschaftsund Finanzkrise bildet vor diesem Hintergrund den Bezugsrahmen für verschiedene Protestaktionen unter Beteili326 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GLOSSAR gung von Linksextremisten. Im Fokus der sogenannten Krisenproteste steht dabei Frankfurt am Main, deutsche Finanzmetropole und zugleich Sitz der Europäischen Zentralbank, die unter Linksextremisten gleichsam als Symbol der "kapitalistischen Gesellschaft" gilt ("Haut den Banken auf die Pranken"). (Vgl. Linksextremismus. Erscheinungsformen und Gefährdungspotenziale. Hrsg. v. Bundesamt für Verfassungsschutz. Köln 2016, S. 26.) ... ist ein klassisches linksextremistisches Aktionsfeld, dessen Wurzeln "antimilitarismus" bis in die Anfänge der kommunistischen Bewegung zurückreichen. Im Gegensatz zum Pazifismus geht es Linksextremisten nicht nur um die Abschaffung des Militärs, sondern darüber hinaus um die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie. Aus linksextremistischer Perspektive dient das Militär dazu, angebliche kapitalistische Expansionsbestrebungen nach außen durchzusetzen und im Inneren den Kapitalismus und dessen "Ausbeutungsstrukturen" zu stabilisieren. Eine klassenlose Gesellschaft kann demzufolge nur erreicht werden, wenn neben der kapitalistischen Wirtschaftsordnung und der sie tragenden bürgerlichen parlamentarischen Demokratie auch das Militär abgeschafft wird. Die linksextremistische Szene in der Bundesrepublik Deutschland wendet den "Antimilitarismus" auf die Bundeswehr an. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr sowie die Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an Systemen kollektiver Sicherheit wie der NATO stehen dabei im Fokus. Der antimilitaristischen Ideologie zufolge dient die Bundeswehr nur der Durchsetzung imperialer Politik und kapitalistischer Interessen. Ignoriert wird dabei, dass es sich bei der Bundeswehr um ein so genanntes "Parlamentsheer" handelt, dessen bewaffnete Streitkräfte auf der Grundlage einer Entscheidung des Bundestags beziehungsweise auf Basis der Charta der UN ins Ausland entsandt werden. Im Rahmen ihrer Bündnispolitik versuchen Linksextremisten Einfluss auf Initiativen zu nehmen, die die Rolle und Aufgabe einer Armee in einem demokratischen Staat kritisch hinterfragen. Insbesondere das autonome linksextremistische Spektrum geht in seinen antimilitaristischen Aktionen weit über friedliche Proteste hinaus. In szeneinternen Publikationen finden sich offene Aufrufe zur Gewaltanwendung gegen Bundeswehrangehörige ("Wer direkt reinhaut, macht nichts verkehrt"). Auch Brandanschläge gegen Fahrzeuge und Material der Bundeswehr sowie gegen Unternehmen, die mit der Bundeswehr zusammenarbeiten, gehören zur militanten Praxis der Autonomen. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/linksextremismus/ definition/aktionsfelder/antimilitarismus/index.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im Juni 2020.) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 327 GLOSSAR antisemitismus ... ist ein zentrales Ideologieelement des Rechtsextremismus und in allen seinen Äußerungsformen virulent, seien sie publizistisch, parlamentarisch oder auch aktionistisch orientiert. Antisemitismus zielt auf die Diffamierung und Diskriminierung einer behaupteten Gesamtheit "der Juden" ab. Der rechtsextremistische Antisemitismus baut insbesondere auf dem rassistischen Weltbild des Nationalsozialismus auf, der das Judentum als "nichtdeutsche, fremde Rasse" definierte und diesen "Feind der eigenen Rasse" "ausmerzen" wollte. Nicht zuletzt aufgrund der strafrechtlichen Konsequenzen meiden Rechtsextremisten mittlerweile in ihrer Propaganda offenen, rassistisch motivierten Antisemitismus. Vielmehr weichen sie auf einen angedeuteten Antisemitismus aus, insbesondere durch die Behauptung eines übermäßigen politischen Einflusses von Juden (politischer Antisemitismus). Auch religiös begründeter Antisemitismus ist gelegentlich zu beobachten. Oftmals findet antisemitische Propaganda nur unterschwellig statt, unter anderem durch subtil judenfeindlich gefärbte Zeitungsartikel oder Anspielungen. Rechtsextremisten nutzen die im politischen und gesellschaftlichen Alltag geäußerte Kritik an der Politik Israels, um die Existenzberechtigung des Staates Israel in Frage zu stellen. Die grundsätzliche Ablehnung Israels basiert auf der prinzipiellen Ablehnung des Judentums. Gleichsetzungen der israelischen Politik mit den Verbrechen an Juden im Nationalsozialismus sind ebenfalls ein gängiges Muster des antizionistischen Antisemitismus. Im Rahmen des sekundären Antisemitismus wird den Juden vorgeworfen, sie benutzten die Verantwortung Deutschlands für den Holocaust als Mittel der Erpressung, um finanzielle und politische Forderungen durchzusetzen. Antisemitischen Verschwörungstheorien zufolge wird Deutschland im Rahmen einer planvollen Konspiration instrumentalisiert, um den "jüdischen Einfluss" zu vergrößern oder das Ziel der jüdischen Weltherrschaft zu erreichen. Häufig wird ein "jüdischer Einfluss" auf politische Entscheidungen der Regierungsverantwortlichen behauptet. Zu den Feindbildern islamistischer Organisationen gehören prinzipiell der Staat Israel bzw. "die Zionisten", denen - je nach Standort im islamistischen Spektrum mehr oder weniger offen - die verschwörerische Manipulation westlicher Staaten, vor allem der USA, unterstellt wird. Die jüdische Einwanderung in Palästina, die Entstehung des Staates Israel und der seither ungelöste Nahost-Konflikt waren Auslöser für die Entstehung eines islamistischen Antizionismus. Dieser war und ist stark antijüdisch gefärbt, insofern auch auf die prinzipielle, nach Auffassung von Islamisten im Koran belegte und durch die islamistische Geschichtsauffassung gestützte ewige Feindschaft "der Juden" gegen die Muslime/den Islam Bezug genommen wird. Im Unterschied zum Antisemitismus deutscher Rechtsextremisten ist der islamistische Antisemitismus nicht rassistisch begründet. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/de/service/glossar/ antisemitismus, abgerufen im Juni 2020.) 328 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GLOSSAR Antisemitismus äußert sich in vielen verschiedenen Formen und ist nicht immer leicht zu bestimmen. Im Jahr 2016 verabschiedete die Internationale Allianz zum Holocaustgedenken folgende rechtlich nicht verbindliche Definition: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen." Die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Rat erkennen diese Definition an, und die Zivilgesellschaft, die Strafverfolgungsbehörden und die Bildungseinrichtungen orientieren sich daran für eine wirksame Erkennung und Bekämpfung aller Formen von Antisemitismus. So wie andere internationale Organisationen macht die Europäische Kommission in ihrer Arbeit aktiven Gebrauch von dieser Definition, insbesondere auf dem Gebiet der allgemeinen und der beruflichen Bildung. (Vgl. https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ MEMO_19_542, abgerufen im Juni 2020.) ... ist die in der PKK übliche Bezeichnung für ihren inhaftierten Anapo führer Abdullah Öcalan. Salafisten versuchen, ihre Ideologie durch intensive Propagandaakda'wa tivitäten zu verbreiten. Dadurch wollen sie Staat und Gesellschaft in einem langfristigen Prozess nach salafistischen Normen umgestalten. Diese sogenannte da'wa-Arbeit (arab. für Missionierung) betreiben sie insbesondere im Internet. Da'wa-Aktivitäten im öffentlichen Raum finden immer seltener statt. Die zunehmend professionelle Verbreitung der salafistischen Ideologie übt eine beträchtliche Anziehungskraft aus auf vor allem junge, emotional und sozial noch nicht gefestigte Muslime, darunter auch Konvertiten. Für eine Reihe von Personen aus dem salafistisch-jihadistischen Bereich sind die Da'wa-Aktivitäten ein wesentlicher Baustein in ihrer Radikalisierungsbiographie. Staatliche Maßnahmen, zum Beispiel Vereinsund Moscheeverbote, diverse Durchsuchungsaktionen, Ermittlungsund Strafverfahren gegen jihadistische Protagonisten und konsequente Abschiebungen führten zu einer Verhaltensänderung der salafistischen Szene: Es ist ein Trend zum Rückzug aus der Öffentlichkeit ins Private feststellbar. Szeneangehörige agieren vermehrt in geschlossenen Internetgruppen und vernetzen sich durch klandestine Treffen, beispielsweise in Wohnungen (Home-"Da'wa"). Regional übergreifende Islamseminare oder Auftritte salafistischer Prediger konnten nur noch in Einzelfällen festgestellt werden. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.bayern.de/islamismus/ definition/strategie/dawaarbeit/index.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im Juni 2020.) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 329 GLOSSAR "ethnopluralismus" Der Ethnopluralismus sieht sein Idealbild in einer Völkervielfalt ethnisch homogener Staaten. Diese von Rechtsextremisten vertretene Vorstellung läuft letztlich auf die Schaffung ethnisch reiner Gesellschaften und damit die Ausweisung aller "Volksfremden" hinaus. (Vgl. https://www.verfassungsschutz-bw.de/,Lde/1940780, abgerufen im Juli 2020.) Faschismus s. "antifaschismus" Fremdenfeindlichkeit ... richtet sich gegen Menschen, die sich durch Herkunft, Nationalität, (s. auch Rassismus) Religion oder Hautfarbe von der als "normal" erachteten Umwelt unterscheiden. Die mit dieser Zuweisung typischerweise verbundenen vermeintlich minderwertigen Eigenschaften werden als Rechtfertigung für einschlägige Straftaten missbraucht. Insbesondere das rechtsextremistische Weltbild ist geprägt von einer Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit, aus der unter anderem Fremdenfeindlichkeit resultiert. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/de/service/glossar/_lF, abgerufen im Juni 2020.) "Führerprinzip" ... galt als das Grundgesetz nationalsozialistischer Weltanschauung. Es verpflichtete nach dem Motto "Führer befiehl, wir folgen" zu blindem Gehorsam und bedingungsloser Treue gegenüber Adolf Hitler (1889-1945) als dem obersten "Führer" sowie die jeweilige Gefolgschaft zu Gehorsam gegenüber den Befehlen der Führer auf mittlerer und unterer Ebene. Das Führerprinzip war unter Berufung auf Hitlers Buch "Mein Kampf" als Gegensatz zu jeder Art von demokratischer Entscheidung und Mitbestimmung formuliert und fand im Kult um die Person Adolf Hitlers seinen höchsten Ausdruck. Im Willen des Diktators war alle hoheitliche Gewalt des Reichs verkörpert. Nach der damals gültigen Definition war die "Führergewalt" nicht durch Kontrollen gehemmt, sie war ausschließlich und unbeschränkt. Mit der Anerkennung des nationalsozialistischen "Führerprinzips", das bis 1933 nur innerhalb der NSDAP galt und dann auf alle Bereiche von Staat und Gesellschaft ausgedehnt wurde, verzichteten die Deutschen auf alle bürgerlichen Rechte der Gestaltung ihrer Verhältnisse und damit auch auf rationale Strukturen der Politik, die nun ausschließlich vom Willen der "Führer" gesteuert wurde. Das "Führerprinzip" galt nicht nur im politischen und sozialen Bereich, auch die Wirtschaft wurde nach dem Prinzip von Befehl und Gehorsam gelenkt. Das "Führerprinzip" war Inbegriff der Selbstaufgabe des Individuums im nationalsozialistischen Staat. Als Anspruch ist das "Führerprinzip" auch für den modernen Rechtsextremismus typisch und kennzeichnender Ausdruck antidemokratischer Gesinnung. (Vgl. https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/37986/ argumente-gegen-rechte-vorurteile?p=9, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im Juli 2020.) 330 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GLOSSAR Der "Führerabsolutismus" gründete sich nicht allein auf Hitlers "Führerstaat" Machtwillen oder besondere persönliche Qualitäten, sondern auch und vor allem auf die Zustimmungsund Unterordnungsbereitschaft in Verwaltung und Gesellschaft sowie auf die besondere Herrschaftsmechanik im nationalsozialistischen Führerstaat. Der "Führer"-Mythos wurde zum gemeinsamen Nenner der inneren Herrschaftsmechanik sowie der Legitimation durch die Gesellschaft. Bereits während der Aufstiegsphase der NSDAP war Hitler zum machtpolitischen und ideologischen Bezugspunkt der nationalsozialistischen Bewegung geworden. Er hatte zudem diese Machtstellung durch die "Führer"Erwartung innerhalb der NSDAP sowie durch den "Führer"-Kult propagandistisch verstärken bzw. überhöhen können. Nach der Machtübernahme 1933 übertrug sich dieser Prozess der wechselseitigen Verstärkung von allgemeiner Erwartung einer charismatischen Erlöserund Retterfigur und von dem nunmehr staatlichen Kult um den "Führer" auf die gesamte Gesellschaft. (Vgl. Hans-Ulrich Thamer, Ausbau des Führerstaates, http://www.bpb.de/ geschichte/nationalsozialismus/dossiernationalsozialismus/ 39550/ausbau-des-fuehrerstaates?p=all, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im Juli 2020.) Gentrifizierung s. "antigentrifizierung" Gewalt spielt im Salafismus auch als religiös legitimierte Gewalt bei hadd der Vollstreckung des islamischen Rechts eine Rolle. Nach salafistischer Auffassung ist das islamische Recht uneingeschränkt anzuwenden. Das umfasst auch die Verhängung von Körperstrafen für bestimmte Vergehen. Köperstrafen werden im islamischen Strafrecht für zahlreiche Delikte verhängt, so zum Beispiel für die sogenannten Grenzvergehen (von arab. hadd, dt. Grenze) sowie für Mord und Totschlag. Als Grenzvergehen werden diejenigen Verbrechen bezeichnet, die der Koran und die Überlieferungen des Propheten als Kapitalverbrechen benennen und die mit einem bestimmten Strafmaß belegt sind. Sie heißen Grenzvergehen, da sie nicht menschliches Recht, sondern das Recht Allahs verletzen. Es muss daher genau die im Koran bzw. die in der Überlieferung vorgesehene Strafe vollstreckt werden, das heißt die irdische Justiz besitzt bei der Festlegung der Strafe keinen Ermessensspielraum. Islamische Juristen schreiben strenge Voraussetzungen für die Tatfeststellung vor, sodass historisch betrachtet solche Strafen sehr selten ausgesprochen wurden. Salafisten ignorieren die islamischen Rechtstraditionen; für sie sind die im Koran verankerten Grenzstrafen gottgewollt und unbedingt anzuwenden. Zu den Grenzvergehen gehören: Ehebruch und Unzucht, Verleumdung/falsche Beschuldigung wegen illegalen Geschlechtsverkehrs, schwerer Diebstahl, schwerer Straßenraub und Raubmord sowie Alkoholgenuss. Die für die Grenzvergehen verhängten Körperstrafen reichen vom Auspeitschen über das Abtrennen von Hand und/oder Fuß bis hin zur Steinigung und Enthauptung. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 331 GLOSSAR (Vgl. Salafistische Bestrebungen in Deutschland. Hrsg. v. Bundesamt für Verfassungsschutz und Landesbehörden für Verfassungsschutz. Köln 2012, S. 10f.) "Heldengedenken" Der historische Nationalsozialismus ist nach wie vor Vorbild für große Teile der rechtsextremistischen Szene. Die Verbrechen der nationalsozialistischen Diktatur werden dabei ausgeblendet. Vor allem die militärische Komponente des historischen Nationalsozialismus übt auf heutige Rechtsextremisten nach wie vor eine hohe Faszination aus. Dies zeigt sich sowohl in der Verehrung der im Zweiten Weltkrieg kämpfenden Verbände als auch in der Leugnung der durch deutsche Soldaten begangenen Verbrechen. Viele Rechtsextremisten sammeln Gegenstände mit Bezug zum "Dritten Reich". Dazu zählen neben Fahnen und militärischen Gegenständen auch Bilder und Büsten von maßgeblichen nationalsozialistischen Protagonisten. Darüber hinaus interessieren sich viele Rechtsextremisten für Liedgut, Literatur und Filme des "Dritten Reichs". Die positive Bezugnahme auf den Nationalsozialismus äußert sich auch in der Verehrung, die Rechtsextremisten bis heute nationalsozialistischen Führungspersonen entgegenbringen. Eine besondere Rolle nimmt dabei der Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß (geb. 1894) ein, der in der neonazistischen Szene als Märtyrer verehrt wird. Heß, der in den Nürnberger Prozessen zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, saß bis zu seinem Selbstmord am 17. August 1987 im Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau. Gerade dieses Datum wird von Rechtsextremisten und Neonazis zum Anlass genommen, im Rahmen von Demonstrationen und Gedenkveranstaltungen der ehemaligen nationalsozialistischen Größen zu erinnern und hierbei revisionistische Geschichtsbilder und Verschwörungstheorien zu den Todesumständen von Heß zu propagieren. Im Kern der rechtsextremistischen Theorien zum Tod von Rudolf Heß steht die Behauptung, dass Heß nicht Selbstmord begangen habe, sondern durch die Alliierten ermordet worden sei. Das Grab von Rudolf Heß befand sich bis 2011 auf dem städtischen Friedhof der Stadt Wunsiedel (Bayern). Der Ort hat für Rechtsextremisten bis heute einen hohen Symbolwert und dient nach wie vor einmal jährlich als Veranstaltungsort für die Partei Der Dritte Weg und ihre "Heldengedenken"-Veranstaltung. Seit 2005 steht in Deutschland die Verherrlichung des nationalsozialistischen Regimes unter Strafe. Auf Grundlage der entsprechenden Strafvorschrift sind seither Rudolf-Heß-Gedenkmärsche in Wunsiedel verboten. Die Heldengedenken des Dritten Wegs finden nur noch unter strengen behördlichen Auflagen statt. Unter anderem werden die namentliche Nennung von Rudolf Heß oder andere direkte Bezugnahmen zu seiner Person im Rahmen von öffentlichen Veranstaltungen regelmäßig untersagt. Rechtsextremisten sind daher bestrebt, ihre Verehrung möglichst indirekt auszudrücken bzw. auf andere von konkreten Verbotsauflagen unberührte Personen mit Bezug zum Nationalsozialismus zu beziehen. 332 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GLOSSAR (Vgl. Verfassungsschutz in Hessen. Bericht 2018. Hrsg. v. Hessischen Ministerium des Innern und für Sport. Wiesbaden 2019, S. 260f.) Seit den 1970ern ist Holocaust eine nahezu weltweit gebräuchliche Holocaust Bezeichnung für den Mord an den Juden Europas durch das nationalsozialistische Deutschland im Zweiten Weltkrieg. Holocaust stammt vom griechischen Wort holocauston ab und bedeutet "Brandopfer" (wörtlich übersetzt "ganz verbrannt"). Das Symbol des Brandoder Sühneopfers macht den Begriff jedoch insofern zwiespältig, weil die Massenvernichtung keine religiöse oder kultische Handlung war, sondern ein systematisch geplanter und durchgeführter Mord. In Deutschland setzte sich der Begriff ab 1979 durch, nach der Ausstrahlung der gleichnamigen TV-Serie im deutschen Fernsehen. Das Wort Holocaust stellt für viele jüdische Überlebende wegen des ursprünglich christlichen Hintergrunds ein Problem dar, weshalb von Juden auch oft der Begriff Shoah verwendet wird. (Vgl. https://www.yadvashem.org/de/holocaust/lexicon.html, abgerufen im Juni 2020.) In modernen Konfliktszenarien setzen Angreifer auf eine KombiHybride kriegsführung nation aus klassischen Militäreinsätzen, wirtschaftlichem Druck, Computerangriffen bis hin zu Propaganda in den Medien und sozialen Netzwerken (hybride Taktik bzw. hybride Kriegsführung). Ziel der Angreifer ist es, nicht nur Schaden anzurichten, sondern insbesondere Gesellschaften zu destabilisieren und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Offene pluralistische und demokratische Gesellschaften bieten hierfür viele Angriffsflächen und sind somit leicht verwundbar. Das Besondere an der hybriden Kriegsführung ist die Verschleierungstaktik. Die Täter operieren entweder anonym oder bestreiten Beteiligungen an Vorfällen und Konflikten. Sie gehen dabei äußerst kreativ und koordiniert vor, ohne die Schwelle zu einem offiziellen Krieg zu überschreiten. Dies macht die Abwehr solcher Attacken so schwierig: Wenn es keinen eindeutigen Angriff oder Angreifer gibt, fällt die Gegenwehr schwer. Unberechenbarkeit wird zur Waffe. Beliebter Tatort ist der Cyber-Raum, da Angriffe aus dem Internet leicht zu tarnen sind. Der Fokus von Cyber-Angriffen liegt meistens auf der Beeinflussung der öffentlichen Meinung: Von der gezielten Steuerung von Diskussionen in sozialen Netzwerken bis hin zur Manipulation von Informationen auf Nachrichtenportalen. Eben hier liegt der größte Unterschied zwischen der hybriden und der traditionellen Kriegsführung: Mithilfe des Internets und ganz besonders der sozialen Medien kann ein Aggressor so große Verwirrung stiften, wie es in dieser Form bisher nicht möglich war. (Vgl. https://www.bmvg.de/de/themen/sicherheitspolitik/ hybride-bedrohungen/was-sind-hybride-bedrohungen--13692, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags abgerufen im Juni 2020.) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 333 GLOSSAR Ideologien ... griechisch für Wissenschaft der Anschauungen, sind identitätsstiftende Ideensysteme, die Wertund Handlungsorientierungen prägen. Der Begriff Ideologie ist bis heute mehrdeutig und vielschichtig. Er wird deskriptiv und negativ-wertend gebraucht. Nebeneinander stehen seine sozialkritische und seine erkenntniskritische Verwendung. Die Unbestimmtheit des Begriffs wird auch in seiner Geschichte deutlich. Die im deutschen Sprachgebrauch vorherrschende negativ-wertende Bedeutung sagt aus, dass Ideologien zur Verabsolutierung des Partiellen neigen, dass sie Vorurteile und Ressentiments durch einseitige Wahrnehmungsmuster fördern, dass sie illusionäre und realitätsferne Weltdeutungen propagieren. (Vgl. https://www.ezw-berlin.de/html/3_9938.php, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im Juni 2020.) Imperialismus ... ist ein seit dem 19. Jahrhundert gebräuchlicher Begriff für ungleiche regionale Beziehungen, die mit direkten oder indirekten Formen der Beherrschung bzw. der Abhängigkeit zwischen Staaten/ Regionen verbunden sind. Als formelle Gebietsherrschaft ist der Imperialismus besonders in seiner klassischen Phase (etwa 1880-1914) durch häufig gewaltsam herbeigeführte Kolonialisierung in Erscheinung getreten. Im 20. Jahrhundert wurde der Begriff mit informellen Herrschaftsformen politisch, wirtschaftlich oder militärisch mächtiger Staaten oder auch großer, multinationaler Unternehmen in Verbindung gebracht. Für die Anthropogeographie, besonders für die Entwicklungsforschung und für die Radical Geography, haben die marxistischen Interpretationen des Imperialismus große Bedeutung. Sie begründen einen kapitalismuskritischen Anti-Imperialismus, der das globale Kräftespiel und seine Folgen für abhängige Regionen zum Gegenstand hat. (Vgl. https://www.spektrum.de/lexikon/geographie/imperialismus/ 3701, abgerufen im Juni 2020.) jihad Die wörtliche Übersetzung dieses Begriffs ist "Anstrengung" oder "Bemühung". Es gibt zwei Formen des Jihad: die geistig-spirituelle Bemühung des Gläubigen um das richtige religiöse und moralische Verhalten gegenüber Gott und den Mitmenschen (sogenannter großer Jihad) oder der kämpferische Einsatz zur Verteidigung oder Ausdehnung des islamischen Herrschaftsgebiets (sogenannter kleiner Jihad). Von militanten Gruppen wird der Jihad häufig als religiöse Legitimation für Terroranschläge verwendet. Islamistische Terroristen führen unter dem Leitprinzip dieses Jihad ihren gewalttätigen Kampf/"heiligen Krieg" gegen die angeblichen Feinde des Islams. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/de/service/glossar/_lJ, abgerufen im Juni 2020.) 334 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GLOSSAR ... ist eine autokratische Herrschaftsform, in der sowohl die politische kalifat als auch die religiöse Herrschaft durch eine Person, das heißt den Kalifen, ausgeübt wird. (Vgl. Lexikon des Dialogs. Grundbegriffe aus Christentum und Islam, Bd. 1. Hrsg. v. Richard Heinzmann in Zusammenarbeit mit Peter Antes, Martin Thurner, Mualla Selcuk u. Halis Albayrak. Freiburg, Basel u. Wien 2013, S. 392f.) ... sind in der Regel neonazistische lokale Gruppierungen, die meiskameradschaften tens zehn bis 20 Mitglieder umfassen. Im Gegensatz zu den einzelnen Gruppen der subkulturell geprägten gewaltbereiten rechtsextremistischen Szene/Skinheads sind sie deutlich durch den Willen zu politischer Aktivität geprägt. Obwohl Kameradschaften meist keine oder nur geringe vereinsähnliche Strukturen aufweisen, sind sie durch eine verbindliche Funktionsverteilung deutlich strukturiert. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/de/service/glossar/_lK, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im Juli 2020.) Linksextremisten wollen die bestehende Staatsund Gesellschafts"kapitalismus" ordnung und damit die freiheitliche Demokratie beseitigen und diese durch ein kommunistisches beziehungsweise anarchistisches, "herrschaftsfreies" System ersetzen. Die marktwirtschaftliche Eigentumsordnung und der demokratische Rechtsstaat werden dabei als untrennbare Einheit ("Kapitalismus") verstanden. Der "Kapitalismus" diene der Manifestierung von Ausbeutungsund Unterdrückungsverhältnissen, in denen sich wenige Privilegierte auf Kosten einer "Arbeiterklasse" bereichern. Diese "kapitalistische" Ordnung sei mit der Vorstellung einer Gesellschaft, die auf den Prinzipien von Freiheit und Gleichheit aller Menschen beruhe, unvereinbar. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/aflinksextremismus/was-ist-linksextremismus, abgerufen im Juni 2020.) Kommunisten glauben an die Lehre von Karl Marx (1818-1883), der kommunismus zufolge sich die gesamte Menschheitsgeschichte als Wechselspiel von Ausbeutung und Revolte dagegen verstehen lässt. Daran beteiligten Gruppen werden materielle Interessen unterstellt, die in der kommunistischen Lehre als "objektiv" verstanden werden. Sollen es in der Geschichtsauffassung der Kommunisten erst Sklavenhalter und Sklaven, dann Feudalherren und Bauern gewesen sein, die einen "Klassenkampf" führten, so stehen sich heute angeblich "Bourgeoisie" und "Proletariat" gegenüber. Das "Proletariat" soll eine Diktatur errichten, die den Übergang zu einer klassenlosen Gesellschaft einleiten wird. Besonders die von Wladimir I. Lenin (1870-1924) eingeführte Lehre, wonach das "Proletariat" dabei von einer "Avantgarde" geführt werden muss, hat die Erscheinungsform kommunistischer Gruppen in den letzten Jahrzehnten geprägt. Von der Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 335 GLOSSAR marxistisch-leninistischen Orthodoxie abweichende kommunistische Strömungen berufen sich oft auf Berufsrevolutionäre wie Leo Trotzki (1879-1953), Joseph Stalin (1878-1953) oder Mao Zedong (18931976). (Vgl. https://verfassungsschutz.brandenburg.de/cms/detail.php/ lbm1.c.336524.de, abgerufen im Juni 2020.) koran ... ist das heilige Buch des Islams, das die vom Propheten Mohammed verkündeten Offenbarungen Allahs enthält. Der Koran ist in 114 Abschnitte (Suren) unterteilt, die Erzählungen über Propheten, Weissagungen, Belehrungen, Vorschriften, Predigten und die Auseinandersetzungen mit "heidnischen" Mekkanern, Juden und Christen umfassen. Die islamische Welt betrachtet den Koran als Gesetzbuch und als religiöse Unterrichtung. (Vgl. Der Brockhaus. Religionen. Glauben, Riten, Heilige. Hrsg. v. der Lexikonredaktion des Verlags F. A. Brockhaus, Mannheim. Leipzig u. Mannheim 2004, S. 370-372, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags.) Laizismus ... ist eine Mitte des 19. Jahrhunderts in Frankreich entstandene Bezeichnung für eine politische Bewegung, die sich gegen jeden Einfluss des Klerus auf Staat, Kultur und Erziehung wendet, sich für die Trennung von Staat und Kirche ausspricht und die Kirchen in den rein sakralen Bereich zurückdrängen will. (Vgl. https://www.wissen.de/lexikon/laizismus, abgerufen im Juni 2020.) Maoismus ... ist die außerhalb Chinas gebräuchlich Bezeichnung für die Gesamtheit der Lehren Mao Zedongs (1893-1976) sowie für die von ihm maßgeblich bestimmte Theorie und Praxis des chinesischen Kommunismus. Der Maoismus ist kein geschlossenes Gedankensystem. Er verbindet Gedanken des Marxismus-Leninismus mit traditionell chinesischen Elementen. Das im Westen verbreitete Bild des Maoismus wurde besonders durch die Art und Weise geprägt, wie er in den Jahren der "Kulturrevolution" (1966-1969) in Erscheinung trat: * die betont nationale Ausrichtung, * die Ablehnung einer zentralen Führung der kommunistischen Weltbewegung, * die Verbundenheit mit der Dritten Welt im Kampf gegen die Supermächte, * die Auffassung, dass die armen Bauern (und nicht das Proletariat) die Hauptkraft der Revolution bilden, * die Konzeption der Machteroberung durch Guerillakrieg von ländlichen Stützpunkten aus, * die Auffassung, dass Klassenkampf und Revolution auch unter sozialistischen Verhältnissen fortdauern. Der Maoismus ist verantwortlich für Millionen von Opfern unter der chinesischen Bevölkerung (so etwa während der Zeit des Großen 336 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GLOSSAR Sprungs nach vorn, 1958-1961, und während der "Kulturrevolutionen" 1966-1969 und 1972-1974). (Vgl. https://www.wissen.de/lexikon/maoismus, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im Juni 2020.) ... ist eine von Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820Marxismus 1895) begründete Gesellschaftslehre und Theorie der politischen Ökonomie, zu deren Kernpunkt die von Marx kritisierten kapitalistischen Produktionsverhältnisse in seiner Zeit gehören. Danach wird die Gesellschaft nicht durch die politischen, rechtlichen oder moralischen Vorstellungen bestimmt, sondern durch den Fortschritt der materiellen Produktionstechnik. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bewirken nach marxistischer Auffassung, dass sich die gesellschaftliche Arbeitsteilung vertieft und der wirtschaftliche Reichtum nur von der Arbeiterklasse (Proletariat) geschaffen wird, während sich der Reichtum und das Eigentum an den Produktionsmitteln in den Händen immer weniger Kapitalisten konzentrierten. Dieser, von Marx als Grundwiderspruch der kapitalistischen Produktion bezeichnete Gegensatz zwischen gesellschaftlicher Produktion durch die Arbeiterklasse und der privaten Aneignung der Gewinne durch die Kapitalisten, kann nur durch die revolutionäre Erhebung der Arbeiterklasse beseitigt werden. Die Arbeiterklasse enteignet dabei die Kapitalisten und das Eigentum an den Produktionsmitteln wird in Gesellschaftseigentum überführt. Der Kapitalismus wird vom Sozialismus abgelöst. Letztlich wird aber die Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft im Kommunismus angestrebt. (Vgl. https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/lexikon-der-wirtschaft/ 20092/marxismus, abgerufen im Juni 2020.) ... ist das Bekenntnis und die Verehrung nur eines einzigen Gottes, Monotheismus der im Glauben als personales Gegenüber verstanden wird und im Verständnis der Gläubigen als Schöpfer und Erhalter der Welt gilt. Theologisch zeichnet sich der Monotheismus somit durch den Ausschließlichkeitscharakter und Universalitätsanspruch Gottes aus. (Vgl. Der Brockhaus. Religionen. Glauben, Riten, Heilige. Hrsg. v. d. Lexikonredaktion des Verlags F. A. Brockhaus, Mannheim. Leipzig u. Mannheim 2004, S. 442f.) ... sammeln Informationen über die innere oder äußere Sicherheit nachrichtendienste eines Staats gefährdende Bestrebungen und werten sie aus. Hierbei können die Nachrichtendienste verdeckt arbeiten. Die Ergebnisse der Analyse werden in Berichtsform zusammengefasst und den politischen Entscheidungsträgern sowie den Kontrollgremien zur Verfügung gestellt. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es drei Nachrichtendienste: den Inlandsnachrichtendienst in Gestalt der Verfassungsschutzbehörden (BfV und LfV), den Auslandsnachrichtendienst BND sowie das BAMAD. Der Verfassungsschutz in der BunHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 337 GLOSSAR desrepublik Deutschland ist föderal organisiert. Dementsprechend existieren 17 Verfassungsschutzbehörden, ein Bundesamt (BfV) und 16 LfV. Sie arbeiten auf gesetzlicher Grundlage in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes zusammen. Die Verfassungsschutzbehörden der Länder können als untergeordnete Abteilung unmittelbar im jeweiligen Innenministerium angesiedelt sein oder sind als eigenständige Landesoberbehörde dem jeweiligen Innenministerium nachgeordnet. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/de/service/glossar/_lN, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im Juni 2020.) nationalismus ... ist ein übersteigertes Bewusstsein vom Wert und der Bedeutung der eigenen Nation. Im Gegensatz zum Nationalbewusstsein und zum Patriotismus (Vaterlandsliebe) glorifiziert der Nationalismus die eigene Nation und setzt andere Nationen herab. Zugleich wird ein Sendungsbewusstsein entwickelt, möglichst die ganze Welt nach den eigenen Vorstellungen zu formen. (Vgl. https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/pocket-politik/ 16503/nationalismus, abgerufen im Juni 2020.) nationalistische türken s. Ülkücü-Bewegung nationalsozialismus Unter Nationalsozialismus versteht man die völkisch-antisemitischnationalrevolutionäre Bewegung in der Zwischenkriegszeit (1918-1939), die sich in Deutschland als NSDAP organisierte und die unter der Führung Adolf Hitlers (1889-1945) 1933 bis 1945 eine totalitäre Diktatur errichtete. Der Nationalsozialismus gehört überdies in den Zusammenhang der europäischen faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit, die außer in Deutschland nur in Italien aus eigener Kraft und ohne ausländische militärische Unterstützung an die Macht kamen. Der Nationalsozialismus stellt innerhalb der europäischen Faschismen aufgrund seines Rassenantisemitismus und seiner Vernichtungspolitik die radikalste Variante dar. Die Geschichte der NSDAP unterteilt sich in die sogenannte Bewegungsphase (1919-1933) und die Regimephase (1933-1945). (Vgl. http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/handwoerterbuchpolitisches-system/202075/nationalsozialismus?p=all, hier die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im Juni 2020.) neue Rechte Die geistige Strömung der Neuen Rechten ist in den 1970er Jahren in Frankreich aufgekommen. Ihre Anhänger bemühen sich um eine Intellektualisierung des Rechtsextremismus. Die Neue Rechte beruft sich unter anderem auf antidemokratische Denker, die bereits zur Zeit der Weimarer Republik (1918-1933) unter der Bezeichnung Konservative Revolution aktiv waren. Aktivisten der Neuen Rechten be338 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GLOSSAR absichtigen, den demokratischen Verfassungsstaat zu beseitigen oder zumindest zu beeinträchtigen. Sie versuchen zunächst, einen bestimmenden Einfluss auf den kulturellen Bereich zu erlangen, um letztlich den demokratischen Verfassungsstaat zu delegitimieren und das politische System grundlegend zu verändern. (Vgl. https://www.verfassungsschutz-bw.de/,Lde/1940780, abgerufen im Juli 2020.) Das alljährliche von den Kurden begangene Newroz-Fest bedeutet newroz "neuer Tag" und wird als Beginn eines neuen Jahres und des Frühlings gefeiert. Newroz geht historisch auf die Legende eines kurdischen Schmieds zurück, der zum Widerstand gegen einen Tyrannen aufgerufen und diesen in der Nacht vom 20. auf den 21. März im Jahre 612 v. Chr. erschlagen haben soll. Eine große Rolle spielt dabei die aus der Legende stammende Feuersymbolik. Hieraus erklären sich die häufig durchgeführten Fackelzüge. Die alljährlichen NewrozFeierlichkeiten stellen nach wie vor einen der Höhepunkte der regelmäßigen Großveranstaltungen aus dem kurdischen und dem PKKnahen Spektrum dar. Hohe Akzeptanz in der linksextremistischen Szene genießen sogeoutings nannte Outing-Aktionen. Damit soll der politische Gegner aus der Anonymität geholt und mit seinen Unterstützernetzwerken dem unmittelbaren Umfeld sowie einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Ziele sind die Diffamierung der Person(en) und die Schwächung von Strukturen des Gegners. Dafür werden in einem ersten Schritt Daten zur Herkunft, zu Freunden, Aktivitäten in den sozialen Netzwerken, Arbeitgebern, Freizeitbeschäftigungen, Privatfahrzeugen oder Bilder recherchiert. In einem zweiten Schritt folgt die Weitergabe der Daten zunächst innerhalb der Szene, anschließend in der Öffentlichkeit zum Beispiel auf Online-Portalen oder im Wohnumfeld des Outing-Opfers. Mit Outings wird die Grundlage für zielgerichtete Aktionen gegen die betroffenen Personen, gelegt. Dabei werden Straftaten - auch Gewalttaten - zumindest billigend in Kauf genommen. (Vgl. Linksextremismus in Sachsen. Die Autonomen. Hrsg. v. Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen. Dresden [2020], S. 25f. Zum 1. Januar 2001 wurden mit Beschluss der InnenministerkonfePolitisch motivierte renz das Definitionssystem PMK sowie die Richtlinien für den Krimikriminalität (PMk) nalpolizeilichen Meldedienst in Fällen Politisch motivierter Kriminalität eingeführt, um für politisch motivierte Straftaten eine einheitliche polizeiliche Datenerhebung, -erfassung und -auswertung zu ermöglichen. Der PMK werden alle Straftaten zugeordnet, die einen oder mehrere Straftatbestände der sogenannten klassischen Staatsschutzdelikte erfüllen, dies unabhängig davon, ob eine politische Motivation im Einzelfall festgestellt werden kann. Zu den Staatsschutzdelikten Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 339 GLOSSAR zählen unter anderem: Hochverrat und Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates, Landesverrat und Gefährdung der äußeren Sicherheit, Straftaten gegen ausländische Staaten, Straftaten gegen Verfassungsorgane sowie bei Wahlen und Abstimmungen, Bildung terroristischer Vereinigungen, Bildung krimineller oder terroristischer Vereinigungen im Ausland sowie Volksverhetzung. Neben den Staatsschutzdelikten fallen unter die PMK auch diejenigen Straftaten, die in der Allgemeinkriminalität begangen werden können (wie zum Beispiel Tötungsund Körperverletzungsdelikte, Brandstiftungen, Widerstandsdelikte, Sachbeschädigungen), wenn in Würdigung der gesamten Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte für eine politische Motivation gegeben sind. Die von der PMK erfassten Straftaten werden folgenden staatsschutzrelevanten Phänomenbereichen zugeordnet: PMK - rechts: Straftaten, bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie einer rechten Orientierung zuzurechnen sind, ohne dass die Tat bereits die Außerkraftsetzung oder Abschaffung eines Elements der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ziel haben muss, insbesondere wenn Bezüge zum völkischen Nationalismus, Rassismus, Sozialdarwinismus oder Nationalsozialismus ganz oder teilweise ursächlich für die Tatbegehung waren. PMK - links: Straftaten, bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie einer linken Orientierung zuzurechnen sind, ohne dass die Tat bereits die Außerkraftsetzung oder Abschaffung eines Elements der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zum Ziel haben muss, insbesondere wenn Bezüge zu Anarchismus oder Kommunismus einschließlich Marxismus ganz oder teilweise ursächlich für die Tatbegehung waren. PMK - ausländische Ideologie: Straftaten, bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine aus dem Ausland stammende nichtreligiöse Ideologie entscheidend für die Tatbegehung war, insbesondere wenn die Tat darauf gerichtet ist, Verhältnisse und Entwicklungen im Inund Ausland zu beeinflussen. PMK - religiöse Ideologie: Straftaten, bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass eine religiöse Ideologie entscheidend für die Tatbegehung war und die Religion zur Begründung der Tat instrumentalisiert wird. Im Rahmen der PMK wird zwischen politisch und extremistisch motivierten Straftaten unterschieden, das heißt, extremistisch politisch motivierte Straftaten sind Delikte, bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie auf die Beeinträchtigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abzielen. Sie werden als extremistisch motiviert eingestuft und stellen als solche eine Teilmenge der PMK dar. Nur letztere werden seitens des LfV in den Tabellen in Bezug auf Strafund Gewalttaten im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2019 ausgewiesen. (Vgl. https://www.bundestag.de/resource/blob/579832/ %E2%80%A6/WD-7-194-18-pdf-data.pdf, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im Juni 2020.) 340 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GLOSSAR Allen Rechtsextremisten gemeinsam ist die Auffassung, die ZugehöRassismus/ rigkeit zu einer Ethnie, Nation oder "Rasse" entscheide über den Wert Fremdenfeindlichkeit eines Menschen. Rassisten gehen von nicht oder kaum veränderbaren "Rassen" aus. Sie leiten daraus "naturbedingte" Besonderheiten und Verhaltensweisen von Menschen ab und unterscheiden zwischen "höherwertigen" und "minderwertigen" Menschen. Mit der Bezeichnung als "Rasse" werden Menschen nach ethnischen Besonderheiten in Gruppen aufgeteilt. Ab Ende des 17. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert versuchten zahlreiche Wissenschaftler dies zu belegen. Sie scheiterten allesamt. Dennoch fand der Rassismus weite Verbreitung. Über die Kriterien zur trennscharfen Definition von "Rassen" bestand keine Einigkeit. Die Anhänger des "Rasse"-Konzepts benannten die verschiedensten Unterscheidungsmerkmale. Mal war von nur zwei, mal von über 60 "Rassen" die Rede. Bis heute sind menschliche "Rassen" biologisch nicht belegt. Belegt sind dagegen soziologische Funktionen des Rassismus: "Rassen" werden bemüht, um Menschen auszugrenzen und Zugehörigkeit zu erzeugen. Das "Rasse"-Modell bietet einfache Erklärungen. Rechtsextremisten finden es daher attraktiv. Rassisten meinen, "Rassen" optisch unterscheiden zu können. Äußere Merkmale werden dadurch zum entscheidenden Kriterium, ob einer Person bestimmte Rechte zustehen oder nicht. Rassisten in Deutschland werten die "weiße" bzw. "arische Rasse" auf und sehen alle anderen "Rassen" als minderwertig an. Dabei haben sie keine einheitliche Vorstellung einer "weißen" oder "arischen Rasse": Die einen denken dabei an "Deutsche" und Skandinavier, andere meinen alle Europäer, einige verstehen darunter alle optisch als "Weiße" erkennbare Menschen. Nach der Vorstellung von Rechtsextremisten soll das deutsche Volk vor der Integration "rassisch minderwertiger Ausländer" und vor einer "Völkervermischung" bewahrt werden. Rechtsextremisten befürchten den Untergang der "Rasse" des deutschen Volkes infolge einer "Durchmischung mit fremdem Blut". Der Rassismus verstößt gegen elementare Menschenrechte und damit gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Die Ausgrenzung jener Menschen, die nicht dem rassischen Ideal der Rechtsextremisten entsprechen, widerspricht dem Grundsatz der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz. Die Würde des Menschen ist bedingungsund voraussetzungslos jedem Menschen eigen und nicht von der biologisch-genetischen Teilhabe an der "Volksgemeinschaft" abhängig (Art. 1 GG). (Vgl. http://www.verfassungsschutz.bayern.de/rechtsextremismus/ definition/ideologie/rassismus/index.html, abgerufen im Juni 2020.) ... ist ein getarnter nachrichtendienstlicher Stützpunkt im OperatiResidentur onsgebiet. Befindet sich der Stützpunkt in einer offiziellen oder halboffiziellen Vertretung (zum Beispiel Botschaft, Handelsvertretung) spricht man von einer Legalresidentur. Hiervon zu unterscheiden ist Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 341 GLOSSAR eine illegale Residentur, die aus einer Gruppe von konspirativ arbeitenden Agenten besteht. (Vgl. http://www.verfassungsschutz.de/de/service/glossar/_lR, abgerufen im Juni 2020.) Revisionismus, Der das Bestreben nach einer kritischen Überprüfung von Erkenntrechtsextremistischer nissen beschreibende Begriff Revisionismus wird von Rechtsextremisten zur Umdeutung der Vergangenheit verwendet. Ihnen geht es dabei nicht um eine wissenschaftlich objektive Erforschung der Geschichte, sondern um die Manipulation des Geschichtsbilds, um insbesondere den Nationalsozialismus in einem günstigen Licht erscheinen zu lassen. Man kann unterscheiden zwischen einem Revisionismus im engeren Sinn, der den Holocaust leugnet, und einem Revisionismus im weiteren Sinn, der etwa die deutsche Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bestreitet. Der zeitgeschichtliche Revisionismus bedient sich unterschiedlicher Aussagen und Methoden. So beinhaltet die Leugnung des Holocaust, das Ausmaß der Ermordung von Millionen europäischer Juden durch das nationalsozialistische Regime zu verharmlosen oder sogar abzustreiten. Dabei werden vorhandene Dokumente auf unseriöse Weise fehlinterpretiert oder fadenscheinige Vorwände zur Leugnung der Ereignisse gesucht. Forschungsergebnisse seriöser Historiker, die eindeutig belegen, dass die "Endlösung der Judenfrage" unzweifelhaft stattgefunden hat, werden durch rechtsextremistische Revisionisten bewusst ignoriert. (Vgl. http://www.verfassungsschutz.de/de/service/glossar/_lR, abgerufen im Juni 2020.) Scharia ... ist das religiös begründete, auf Offenbarung zurückgeführte Recht des Islams. Es regelt nicht nur Rechtsfragen (zum Beispiel Eheoder Strafrecht), sondern enthält der Idee nach die Gesamtheit der aus der Offenbarung zu gewinnenden Normen für das Handeln des Menschen im Verhältnis zu Gott und zu den Mitmenschen. Nach traditioneller, heute jedoch nicht mehr von allen Muslimen geteilter Überzeugung ist die Verwirklichung der Scharia ein zentraler, unverzichtbarer Bestandteil der islamischen Religion. (Vgl. Der Brockhaus. Religionen. Glauben, Riten, Heilige. Hrsg. v. d. Lexikonredaktion des Verlags F. A. Brockhaus, Mannheim. Leipzig u. Mannheim 2004, S. 289.) Schengen-Raum ... ist eine Zone, in der 26 europäische Länder ihre Binnengrenzen für den freien und uneingeschränkten Personenverkehr im Einklang mit den gemeinsamen Regeln für die Kontrolle der Außengrenzen und die Bekämpfung der Kriminalität abgeschafft haben, indem das gemeinsame Justizsystem und die polizeiliche Zusammenarbeit gestärkt wurden. Der Schengen-Raum deckt die meisten EU-Länder ab, mit Ausnahme von Irland und den Ländern, die bald zur Zone beitreten werden: Rumänien, Bulgarien, Kroatien und Zypern. Obwohl 342 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GLOSSAR nicht Mitglied der EU, gehören Länder wie Norwegen, Island, die Schweiz und Liechtenstein ebenfalls zur Schengen-Zone. (Vgl. https://www.schengenvisainfo.com/de/staaten-des-schengenraums/ unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im Juni 2020.) NPD und JN nutzten in den letzten Jahren zunehmend das PropaSchulhof-cd gandapotenzial von Musik-CDs, sogenannte Schulhof-CDs, für ihre Wahlkampfund Rekrutierungszwecke und produzierten verschiedene eigene Tonträger. In der Folge kamen anlässlich einzelner überregionaler Wahlen (Bundestagsund Landtagswahlen) solche CDs bundesweit zur Verteilung. Die Initiatoren des "Projekts Schulhof" setzten gezielt auf die Wirkung der Musik, mit der sie das Interesse an der rechtsextremistischen Szene wecken und ihre Ideologie an Jugendliche und Heranwachsende herantragen wollten, um der Verbreitung rechtsextremistischen Gedankenguts Vorschub zu leisten. (Vgl. Verfassungsschutz in Hessen. Bericht 2018. Hrsg. v. Hessischen Ministerium des Innern und für Sport. Wiesbaden 2019, S. 270.) ..., das heißt vermummte Aktivisten in einheitlicher Kampf - Schwarzer Block ausrüstung, ist eine Aktionsform, die ursprünglich im linksextremistischen autonomen Spektrum entwickelt wurde und vor allem bei Demonstrationen angewandt wird. Der schwarze Block ist keine zentral organisierte und koordinierte Organisationsform, sondern ein punktueller Zusammenschluss gewaltorientierter Linksextremisten. Ziel dieses Auftretens ist die erschwerte Zuordnung von Strafund Gewalttaten zu Einzelpersonen durch die Polizei. Jeder schwarze Block enthält jedoch ein einzelfallbezogenes, spezifisch bestimmendes Gewaltpotenzial, das sich je nach Lageentwicklung dynamisch und auch kurzfristig noch verändern kann. Wenngleich der schwarze Block überwiegend ein Ausdruck linksextremistischer Massenmilitanz (Straßenkrawalle im Rahmen von Demonstrationen) ist, schließt die Teilnahme eines schwarzen Blocks an einer Demonstration keinesfalls einen friedlichen Demonstrationsverlauf aus. Seit einigen Jahren ist die Aktionsform des schwarzen Blocks auch bei den rechtsextremistischen Autonomen Nationalisten zu beobachten. (Vgl. http://www.verfassungsschutz.de/de/service/glossar/_lS, abgerufen im Juni 2020.) ...sind linksextremistische autonome Zentren, denen häufig "Selbstverwaltete Freiräume" Infoläden angeschlossen sind. Hier finden unter anderem Gruppentreffen, Vorträge und Mobilisierungsveranstaltungen vor Demonstrationen statt. Meist von einer Vielzahl von Gruppen und Einzelpersonen frequentiert, sind sie zudem ein Ort der Vernetzung der Szene. Darüber hinaus stellen solche Räumlichkeiten den meist nur locker organisierten autonomen Gruppen eine Infrastruktur für deren politische Arbeit zur Verfügung. Hier können benötigte Informationen aus Archiven beschafft werden und es existiert eine umfangreiche Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 343 GLOSSAR Büroausstattung. Infoläden dienen außerdem häufig als Postadressen für konspirativ agierende Gruppen. Separatismus ... als Begriff kommt vom lateinischen Wort separare (dt. trennen) und beschreibt die Absicht eines Teils der Bevölkerung, sich von dem Staat, in dem er lebt, zu trennen und einen eigenen Staat zu gründen. Manchmal wollen sich Separatisten nicht nur vom eigenen Staat trennen, sondern sie wollen sich auch einem anderen Staat anschließen. (Vgl. http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-junge-politiklexikon/210464/separatismus-sezession, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags abgerufen im Juli 2020.) Sicherheitsüberprüfung Die Verfassungsschutzbehörden haben auch die Aufgabe, bei der Sicherheitsüberprüfung von Personen mitzuwirken, denen im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftige Informationen anvertraut werden, die Zugang dazu erhalten sollen oder ihn sich verschaffen können, oder die an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen beschäftigt sind oder werden sollen. (Vgl. http://www.verfassungsschutz.de/de/service/glossar/_lS, abgerufen im Juni 2020.) Sozialdarwinismus ... ist die Übertragung der von Charles Darwin (1809-1882) beschriebenen Mechanismen der "Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl" auf Sozialbeziehungen des Menschen. Insbesondere Herbert Spencer (1820-1903), der auch die Formel vom "Überleben der Tüchtigsten" (engl. survival of the fittest) prägte, legt die Grundsteine des Sozialdarwinismus. Letzterer geht davon aus, dass eine übergroße Population nur diejenigen überleben lässt, die sich im "Kampf ums Dasein" überlegen zeigen. Selektion ist damit der Motor jeden Fortschritts. Bejahung umfassender sozialer Auslese und Legitimation der vorhandenen gesellschaftlichen Ungleichheiten leitet der Sozialdarwinismus aus dieser Biologisierung sozialer Verhältnisse ab. Als rational kann danach nur eine Politik gelten, die den schon vorhandenen Selektionsdruck ungehindert walten lässt bzw. noch verstärkt. Wirkungsmächtig wurden sozialdarwinistische Konzepte vor allem im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert. In diesem Zusammenhang ist auf zwei folgenreiche Ausformungen hinzuweisen. So greifen Rassenlehren Kampfsemantik und Ausmerzungsvokabular des Sozialdarwinismus auf. Er diente zur Begründung des kolonialistischen Ausgreifens europäischer Staaten und der USA. Binnengesellschaftlich entwickelt sich eine sozialdarwinistische Eugenik, die in der Existenz von körperlich und geistig "Minderwertigen" eine Bedrohung für den "Überlebenskampf" der jeweiligen Gesellschaft, des "Volkes", sieht. Faschismus und Nationalsozialismus griffen diese Ideen auf und legitimierten mit den wissenschaftlich unhaltbaren Vereinfachungen des Sozialdarwinismus ihre Ausrottungspolitik. 344 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GLOSSAR (Vgl. https://www.spektrum.de/lexikon/philosophie/sozialdarwinismus/ 1903, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im Juni 2020.) ... ist die Gesamtheit der vom Propheten Muhammad überlieferten Sunna Aussprüche, Entscheidungen und Verhaltensweisen. Die Sunna ist neben dem Koran eine der Hauptquellen des islamischen Rechts. Die Muslime, die sich an die Sunna halten, werden Sunniten genannt. Die Schiiten haben ihre eigene Sunna, die auf einer gesonderten, auf Ali und seine Angehörigen zurückgeführten, Tradition beruht. (Vgl. Der Brockhaus. Religionen. Glauben, Riten, Heilige. Hrsg. v. d. Lexikonredaktion des Verlags F. A. Brockhaus, Mannheim. Leipzig u. Mannheim 2004, S. 618.) ... ist eine Gruppe von mehr als zwei Personen, die es sich zum Ziel terrororganisation gesetzt hat, zur Erreichung ihrer politischen, religiösen oder sozialen Ziele terroristische Straftaten zu begehen. Dies können Anschläge auf Leib, Leben und Eigentum anderer Menschen, aber auch andere schwere Straftaten sein, die in SS 129a Abs. 1 und 2 StGB genannt sind. ... Gottesstaat, Gottesherrschaft, bezeichnet ein geistliches theokratie Regiment, das in Vertretung der Gottheit ausgeübt wird. Die Regierungsgewalt dieser Staatsform geht unmittelbar von Gott aus und wird durch einen von ihm erwählten Stellvertreter ausgeübt. Charakteristisch ist ein priesterliches Verhältnis des Regenten zur Gottheit. Im Laufe der Geschichte hat es zahlreiche Theokratien gegeben. Heute gibt es nur wenige Theokratien, in denen Kirche und Staat eng verbunden gemeinsam regieren. Der Vatikan, regiert vom Papst als Oberhaupt der Katholischen Kirche, ist ein völlig unabhängiger Staat. Theokratische Ordnungen finden sich in Staaten des Islams. So wurden zum Beispiel Iran und Pakistan auf der Basis der Religionen gegründet und religiöse Lehren sind in staatliche Gesetze eingeflossen. (Vgl. https://www.spektrum.de/lexikon/geographie/theokratie/8053, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im Juni 2020.) Totalitäre Regime und Bewegungen sind hermetisch abgetotalitarismus schlossene "Weltanschauungen" und rationaler Kritik nicht zugänglich. Es gibt zahlreiche Beispiele für Extremismen, die, einmal an die politische Macht gekommen, durch besonders brutale, menschenverachtende Praktiken ein System der Gewaltherrschaft errichteten. Für diesen Prozess kennt die Politikwissenschaft den Begriff des Totalitarismus, entstanden aus der Selbstdarstellung des italienischen Faschismus unter Benito Mussolini (1883-1945). Darunter versteht sie gemäß dem von Klaus Schubert und Martina Klein herausgegeHessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 345 GLOSSAR benen Politiklexikon (2006) den zur staatlichen Herrschaft gekommenen Extremismus: "Totalitarismus bezeichnet eine politische Herrschaft, die die uneingeschränkte Verfügung über die Beherrschten und ihre völlige Unterwerfung unter ein (diktatorisch vorgegebenes) politisches Ziel verlangt. Totalitäre Herrschaft, erzwungene Gleichschaltung und unerbittliche Härte werden oft mit existenzbedrohenden (inneren oder äußeren) Gefahren begründet, wie sie zunächst vom Faschismus und vom Nationalsozialismus, nicht zuletzt auch im Sowjetkommunismus Stalins [1879-1953] von den Herrschenden behauptet wurden. Insofern stellt der Totalitarismus das krasse Gegenteil des modernen freiheitlichen Verfassungsstaates und des Prinzips einer offenen, pluralen Gesellschaft dar". Totalitäre Bewegungen erheben einen Alleinvertretungsanspruch. Sie verstehen sich als alleinige und ausschließliche Besitzer politischer, religiöser oder sonstiger weltanschaulicher "Wahrheiten". Konkurrierende Bewegungen werden als Verirrungen oder Abweichungen aufgefasst, die es zu bekämpfen gilt. Totalitäre Regime und Bewegungen sind hermetisch abgeschlossene "Weltanschauungen". Sie sind, von innen betrachtet, rationaler Kritik nicht zugänglich. Ihre Ideologie entwickelt sich nicht in der permanenten, rationalen, diskussionsund lernbereiten Auseinandersetzung mit der Geistesund Ideengeschichte, sondern sie beruft sich auf die angeblich ,ewige' und unverrückbare Wahrheit bestimmter Lehrsätze. Totalitäre Regime und Bewegungen verfügen über eine antiaufklärerische, absolutistische Legitimationsbasis. Nicht die Vernunft des aufgeklärten Subjekts, sondern die prophetischen, charismatischen Gaben des die Weltanschauung in idealer und absoluter Weise verkörpernden Führers gelten als einzige Quelle der Legitimation. Der Führer wird verehrt und mystifiziert und gilt als der messianische, charismatische und vom Schicksal ausersehene ,Leader', der jeder Kritik unzugänglich ist. Interne demokratische Willensbildung im Rahmen eines Primats des besseren Arguments läuft dem Führer-Prinzip zuwider und könnte die Allmacht der Führer-Ideologie relativieren und delegitimieren. Aus diesem Grund kann es keine demokratische Willensbildung in totalitären Bewegungen geben. (Vgl. Hans-Gerd Jasche: Totalitarismus, https://www.bpb.de/politik/ extremismus/linksextremismus/33699/totalitarismus, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im Juni 2020.) trennungsgebot ... gibt eine organisatorische Trennung von Verfassungsschutz und Polizei vor. Dies ist für das LfV in SS 1 Abs. 1 HVSG geregelt. Eine solche Trennung verbietet jedoch nicht den Informationsaustausch zwischen Verfassungsschutz und Polizei. Dieser ist vielmehr notwendig, um trotz der Trennung effektiv arbeiten zu können. Nur durch eine Vernetzung von Nachrichtendiensten und Polizeibehörden ist es möglich, die in der jeweiligen Sphäre gewonnenen Erkenntnisse auszutauschen und zu analysieren. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/de/service/glossar/_lT, abgerufen im Juni 2020.) 346 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GLOSSAR ... ist eine politisch-ideologische Richtung, die auf Leo Trotzki (1879trotzkismus 1940), einen der Hauptakteure der russischen Oktoberrevolution 1917, zurückgeht. Ziel der Trotzkisten sind eine "permanente Revolution" und die "Diktatur des Proletariats" unter ihrer Führung. Trotzkistische Parteien stehen abseits von den übrigen kommunistischen Parteien. Um dennoch über ihre engen Zirkel hinaus Einfluss zu gewinnen, bedienen sich Trotzkisten der Methode des gezielten Unterwanderns (Entrismus). (Vgl. http://www.verfassungsschutz.brandenburg.de/cms/detail.php/ lbm1.c.336513.de, abgerufen im Juni 2020.) Rechtsextremistische Ausländerorganisationen sind nationalistisch ülkücü-Bewegung geprägt und messen der eigenen Volksgruppe einen höheren Stellenwert zu als anderen Ethnien. Ihrer Ideologie liegt ein übersteigertes Nationalbewusstsein zugrunde. Das Menschenbild solcher Gruppierungen ist stark von rassistischem Gedankengut beeinflusst. Zu diesem Spektrum gehört unter anderem die rechtsextremistische türkische Ülkücü-Bewegung, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts in der Türkei entstand. Ziel der Ülkücü-Bewegung ist der Schutz des Türkentums sowie die Errichtung von "Turan", einem (fiktiven) ethnisch homogenen Staat unter Führung der Türken, der die Siedlungsgebiete der Turkvölker umfasst und - je nach ideologischer Lesart - vom Balkan bis nach Westchina oder sogar Japan reicht. (Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/afauslaenderextremismus-ohne-islamismus/was-istauslaenderextremismus/rechtsextremistische-tuerken, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags, abgerufen im Juni 2020.) ... bezeichnet allgemein die Gemeinschaft der Muslime. umma ... ist nach Art. 9 Abs. 2 GG möglich, wenn der Zweck oder die TätigVereinsverbot keit des Vereins den Strafgesetzen zuwiderläuft oder sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet. Erst wenn dies durch Verfügung der Verbotsbehörde festgestellt ist, wird nach SS 3 Abs. 1 Vereinsgesetz der Verein als verboten behandelt. Ein Vereinsverbot wird durch den Landesbzw. Bundesinnenminister erlassen. (Vgl. http://www.verfassungsschutz.de/de/service/glossar/_lV, abgerufen im Juni 2020.) ... sind laut dem HSÜVG im öffentlichen Interesse geheimhaltungsVerschlusssachen bedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse unabhängig von ihrer Darstellungsform. Sie werden entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit von einer amtlichen Stelle oder auf deren Veranlassung eingestuft. Eine Verschlusssache wird entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit in folgender aufsteigender Wichtigkeit eingestuft: VS - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 347 GLOSSAR Nur für den Dienstgebrauch, VS - Vertraulich, Geheim, Streng Geheim. Die Verschlusssachenanweisung (VS-Anweisung, VSA) für das Land Hessen regelt als Verwaltungsvorschrift den materiellen und organisatorischen Schutz von Verschlusssachen sowie deren Kennzeichnung und Aufbewahrung. Völkischer kollektivismus/ Das rechtsextremistische Motto "Du bist nichts, dein Volk ist alles!" "Volksgemeinschaft" verdeutlicht die Ideologie des völkischen Kollektivismus, die in vielen Ausprägungen rechtsextremistischer Ideologie eine zentrale Rolle spielt. "Volksgemeinschaft" war ein zentraler Begriff im Nationalsozialismus. Nationalsozialisten verstanden darunter eine Schicksalsgemeinschaft, in der die Interessen des Einzelnen bedingungslos der Gemeinschaft der "Volksgenossen" untergeordnet wurden. Das Wohl der so definierten "Volksgemeinschaft" ging allen anderen Interessen vor. Die pauschale Überbewertung der Interessen der "Volksgemeinschaft" zu Lasten der Interessen und Rechte des Einzelnen führt zu einer Aushöhlung der Grundrechte. Daher steht der völkische Kollektivismus im Widerspruch zum Menschenbild des Grundgesetzes, das die Würde jedes einzelnen Menschen und die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit in den Mittelpunkt stellt. Der Staat wird im völkischen Kollektivismus als "ethnisch-rassisch" homogene "Volksgemeinschaft" angesehen. Der vermeintlich einheitliche Wille des Volks soll dabei von staatlichen Führern intuitiv umgesetzt werden. In einem so verstandenen autoritären Staat würden damit wesentliche Kontrollelemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung fehlen, zum Beispiel das Recht des Volks, die Staatsgewalt in Wahlen auszuüben oder das Recht auf Bildung und Ausübung einer Opposition. (Vgl. http://www.verfassungsschutz.bayern.de/rechtsextremismus/ definition/ideologie/voelkischer_kollekivismus/index.html, abgerufen im Juni 2020.) weiße Rose In den Jahren 1942/43 verbreitete die Münchner Gruppe Weiße Rose sechs Flugblätter gegen das nationalsozialistische Regime. Den Kern der Gruppe bildeten die Studenten Hans Scholl (1918 bis 1943) und Sophie Scholl (1921 bis 1943), Alexander Schmorell (1917 bis 1943), Christoph Probst (1919 bis 1943), Willi Graf (1918 bis 1943) und der Professor Kurt Huber (1893 bis 1943). Weitere Studenten, Schüler, Lehrer, Professoren, Ärzte, Schriftsteller und Buchhändler hatten losen Kontakt zur Weißen Rose. In einer ersten Aktionsphase im Juni/Juli 1942 veröffentlichte die Gruppe vier "Flugblätter der Weißen Rose" in einer Auflage von jeweils etwa 100 Exemplaren. Verteilt wurden diese Flugblätter an einen kleinen Kreis ausgesuchter Adressaten, von denen die meisten Akademiker in München und Umgebung waren. Im Januar 1943 entstand ein fünftes Flugblatt. Es erschien in einer Auflage von 6.000 bis 9.000 und tauchte in mehreren Städten Süddeutschlands und in Österreich auf. Ab Februar 1943 unternahm die Gruppe nächtliche Aktionen, bei denen sie verschiedene Gebäude in München mit Parolen wie "Nieder mit Hitler", "Hitler 348 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GLOSSAR Massenmörder" und "Freiheit" beschrifteten. Ebenfalls im Februar 1943 entstand das sechste Flugblatt der Gruppe. Es richtete sich an die Münchner Studentenschaft und forderte vor dem Hintergrund der Schlacht um Stalingrad dazu auf, sich vom nationalsozialistischen System zu befreien. Bei der Verteilung dieses Flugblatts wurden die Geschwister Scholl am 18. Februar 1943 in der Münchner Universität beobachtet und verhaftet. Sie wurden am 22. Februar zusammen mit Christoph Probst vom Volksgerichtshof unter dessen Präsidenten Roland Freisler (1893 bis 1945) zum Tode verurteilt und noch am selben Tag hingerichtet. In einem weiteren Prozess wurden Graf, Schmorell und Huber am 19. April 1943 ebenfalls zum Tode verurteilt; auch sie wurden hingerichtet. Bis Mitte Oktober 1944 fanden noch fünf Prozesse statt, bei denen Freiheitsstrafen bis zu zwölf Jahren ausgesprochen wurden. (Vgl. https://www.dhm.de/lemo/kapitel/der-zweite-weltkrieg/ widerstand-gegen-den-nationalsozialismus/weisserose.html, unter dieser Adresse die komplette Fassung des oben gekürzten Glossareintrags abgerufen im Juli 2020.) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 349 EXTREMISTISCHE ORGANISATIONEN extReMIStIScHe oRGanISatIonen und GRuPPIeRunGen In der unten stehenden übersicht sind die in diesem Verfassungsschutzbericht genannten organisationen und Gruppierungen aufgeführt, bei denen die hier bekannten Bestrebungen und tätigkeiten nach SS 2 abs. 2 HVSG oder tatsächliche anhaltspunkte hierfür in ihrer Gesamtschau zu der Bewertung geführt haben, dass die organisation/Gruppierung extremistische ziele verfolgt, es sich mithin um eine extremistische organisation/Gruppierung handelt. organisationen/Gruppierungen aus den Phänomenbereichen organisierte kriminalität und Spionageabwehr wurden nicht in die übersicht aufgenommen. Rechtsextremismus DIE RECHTE Kommunistische Organisation (KO) Atomwaffendivision DeutschRecht und Wahrheit - Politik land (AWDD) und Zeitgeschichte aus deutKommunistische Partei scher Sicht Deutschlands (KPD) Combat 18 Deutschland (C 18 Deutschland) Reichstrunkenbold kritik&praxis - radikale Linke [f]rankfurt Die Lunikoff-Verschwörung Thule-Seminar e. V. Leftwing Rheingau Faust Linksjugend ['solid] Der Flügel Linksextremismus Marxistisch-Leninistische ParFreier Widerstand Hessen Anarchistische Aktion & Ortei Deutschland (MLPD) (FWH) ganisierung (A&O) Offenes Antifaschistisches Germanium Anarchistische Aktion & OrTreffen (OAT) Darmstadt ganisierung (A&O) Kassel Identitäre Bewegung (IB) Offenes Antifaschistisches Antifaschistisches Kollektiv Treffen (OAT) Marburg Identitäre Bewegung Hessen 069 (AK.069) (IBH) qrew Kassel Antifaschistisches Kollektiv Identitäre Bewegung racoons (ak racoons) REBELL Deutschland (IBD) Antifaschistische RevolutioREVOLUTION (REVO) Junge Alternative (JA) näre Aktion Gießen (A.R.A.G.) Rote Armee Fraktion (RAF) Junge Nationalisten (JN) Antifa United Frankfurt (AUF) Rote Hilfe e. V. Kameradschaft Aryans Deutsche Kommunistische siempre*antifa Frankfurt/M Kategorie C - Hungrige Wölfe Partei (DKP) Sozialistische Deutsche ArDIE LINKE.Sozialistisch-Debeiterjugend (SDAJ) Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) mokratischer StudierendenT.A.S.K. verband (DIE.LINKE.SDS) Nationale Sozialisten Main...umsGanze! (uG) Kinzig (NSMK) d.i.s.s.i.d.e.n.t. (Marburg) Nationalsozialistischer Unterd.o.r.n. (Kassel) Islamismus grund (NSU) Freie Arbeiterinnenund Arbeiter-Union (FAU) Dar al Salem e. V. Nordglanz Gruppe ArbeiterInnenmacht Deutsche Muslimische GeOidoxie meinschaft e. V. (DMG) (GAM) Der Dritte Weg/Der III. Weg Interventionistische Linke (IL) 350 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 EXTREMISTISCHE ORGANISATIONEN Erbakan Vakfi Hessen (Erbation der Arbeiter der Türkei in Partiya Yekitiya Demokrat kan-Stiftung) Europa) (PYD, Partei der Demokratischen Union) Europäisches Institut für Devrimci Halk Kurtulus ParHumanwissenschaften in tisi-Cephesi (DHKP-C, RevoTevgera Ciwanen Soresger Deutschland e. V. (EIHW) lutionäre Volksbefreiungspar(TCS, Bewegung der revolutei-Front) tionären Jugend) Föderation Islamischer Organisationen in Europa (FIOE) Federasyona Civaken DemoTürkiye Komünist kratik ya Kurdistaniyen li SaarPartisi/Marksist Leninist Harakat al-Shabaab al-Mujaland u Hessen (FCDK-KAWA, (TKP/ML, Türkische Kommuhidin (al-Shabaab, Bewegung Föderation der demokratinistische Partei/Marxistender Mujahidin-Jugend) schen Vereine Kurdistans e. V.) Leninisten) Hizb ut-Tahrir (HuT, Partei der Heyva Sor a Kurdistane (HSK, Ülkücü-Bewegung Befreiung) Kurdischer Roter Halbmond) Yekitiya Xwendekaren KurdisTeilstrukturen der IslamiJinen Ciwanen Azad (Bewetan (YXK, Verband der Stuschen Gemeinschaft MillA(r) gung junger Frauen) dierenden aus Kurdistan) Görüs e. V. (IGMG) Jinen Xwendekaren KurdisYeni Demokratik Genclik Islamischer Staat (IS) tan (JXK, Studierende Frauen (YDG, Neue Demokratische aus Kurdistan) Jugend) Ismail Aga Cemaati (IAC) KAWA - Demokratische Yeni Kadin (Neue Frau) Milli Gazete (Nationale ZeiFöderation der Gesellschaften Kurdistan e. V. Yurtsever Devrimci Genclik tung) Hareketi (YDG, Patriotisch Muslimbruderschaft (MB) Koma Civaken Kurdistan revolutionäre Jugendbewe(KCK, Gemeinschaft der gung) Rat der Imame und GelehrKommunen Kurdistans) ten RIG e. V. (RIG/RIGD) Kongreya AzadA(r) A" DemokraSaadet Partisi (SP, Partei der siya Kurdistane (KADEK, FreiGlückseligkeit) heitsund Demokratiekongress Kurdistans) Türkische Hizbullah (TH) Kongreya Civaken Demokra"We-Love-Muhammad"tik a Kurdistaniyen Ewropa Projekt (KCDK-E, Kurdischer DemoWestend-Moschee kratischer Gesellschaftskongress in Europa) Kongreya Gele Kurdistane Extremismus mit (KONGRA GEL, VolkskonAuslandsbezug gress Kurdistans) Almanya Göcmen Isciler FeKurdisches Zentrum für derasyonu (AGIF, Föderation Öffentlichkeitsarbeit e. V. der Arbeiterimmigranten aus (Civaka Azad) der Türkei in Deutschland Marksist Leninist Komünist e. V.) Parti (MLKP, Marxistisch-LeniAlmanya'daki Mezopotamya nistische Kommunistische Topluluklar Konfederasyonu Partei) (KON-MED, Konföderation Navenda Civaka Demokratik der Gemeinschaften Mesoya Kurden li Almanyaye potamiens in Deutschland) Darmstadt (NAV-DEM, DeAvrupa Ezilen Göcmenler mokratisches GesellschaftsKonfederasyonu (AvEG-Kon, zentrum der KurdInnen in Konföderation der unterDeutschland e. V.) drückten Migranten in Europa) Partiya Karkeren Kurdistan Avrupa Türkiyeli Isciler Konfe(PKK, Arbeiterpartei Kurdisderasyonu (ATIK, Konföderatans) Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 351 REGISTER REGISTER A Aly, Götz 137, 143, 147, 153 Avrupa Ezilen Göcmenler Konfederasyonu (AvEG-Kon, Konföderation der unterdrückAbd al-Wahhab, Muhammad Ibn 224 al-Zawahiri, Dr. Aiman 261 ten Migranten in Europa) 267, 351 Abdel-Samed, Hamed 231 Anarchisten 49, 50, 172, 173, 174, Avrupa Milli Görüs Teskilatlari (AMGT, Ver178, 187, 324, 340 einigung der neuen Weltsicht in Adalet ve Kalkinma Partisi (AKP, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) Anarchistische Aktion & Europa e. V.) 252, 253 253, 270, 296 Organisierung (A&O) 178, 187, 197, 350 Avrupa Türkiyeli Isciler Konfederasyonu Adorno, Theodor 167, 168 Anatolische Föderation 282 (ATIK, Konföderation der Arbeiter der Türkei in Europa) 267, 351 Afghanistan 305 Ankara (Türkei) 239, 276 Azzola, Axel 144 African Mission in Somalia (AMISOM) 261 an-Nabhani, Taqi ad-Din 234 B Afrikanische Union (AU) 261 an-Nuqrashi, Mahmud Fahmi 243 Bach, Gabriel 159 Afrin (Syrien) 187, 266, 280 Antideutsche 192, 194, 195, 196 Bach, Johann Sebastian 162 Ägypten 217, 237, 238, 240, 242, Antifa United Frankfurt (AUF) 243, 244, 246, 258 178, 180, 183, 187, 190, 196, 350 Bad Hersfeld (Landkreis HersfeldRotenburg) 10, 33, 34, 202, 269 Ahlwardt, Hermann 140, 141, 145 Antifaschistische Revolutionäre Aktion Gießen (A.R.A.G.) 187, 197, 350 Bad Homburg vor der Höhe Ahmadiyya Muslim Jamaat 232 (Hochtaunuskreis) 93 Antifaschistisches Kollektiv 069 (AK.069) Ahnenrad der Moderne 75 178, 179, 190, 196, 350 Baden-Württemberg 82, 104, 113, 137, Ajansa Nuceyan a Firate (ANF, 231, 236, 274 Antifaschistisches Kollektiv raccoons Firatnews Agency) 188, 268, 272, 277 (ak raccoons) 197 Badi, Muhammad 237, 243, 244 Akif, Muhammad Mahdi 244 Antiimperialisten 192, 194, 195 Baer, Richard 158 Akinyosoye, Clara 160 Anti-IS-Allianz 53, 219, 220, 326 Baghdadi, Abu Bakr 53, 215, 221 al-Assad, Baschar 216, 266 Antinationale 192, 194, 195, 196 Baghuz (Syrien) 220 al-Banna, Hasan 242, 243, 244 Apfel, Holger 105 Bahrain 326 al-Hashimi al-Quraschi, Abi Ib-rahim 221 Arbeitsgemeinschaft der RundfunkBangkok (Thailand) 217 al-Ikhwan al-Muslimun fi Suriya anstalten Deutschlands (ARD) 35 BAO Rechts 5 (Die Muslimbrüder in Syrien) 237 Argentinien 160 Bastian, Till 151, 152 Almanya Göcmen Isciler Federasyonu (AGIF, Ariadne 75 Föderation der Arbeiterimmigranten aus Batman (Türkei) 258 der Türkei in Deutschland e. V.) 183, 351 Armstroff, Klaus 109, 110 Batticaloa (Sri Lanka) 221 Almanya'daki Mezopotamya Topluluklar Arnsberg (Nordrhein-Westfalen) 240 Bauer, Fritz 158, 159, 160 Konfederasyonu (Konföderation der GeArranca! 185, 186 meinschaften Mesopotamiens in DeutschBayern 98, 104, 111, 112, 191, 244, 332 land, KON-MED) 267, 279, 351 Aryans s. Kameradschaft Aryans Becker, Dr. Reiner 35 al-Nahda 237 Asmuss, Burkhard 140 Becker, Uwe 33 al-Noor-Moschee as-Sadat, Anwar 243 (Christchurch, Neuseeland) 64 Beer, Mathias 151 Assmann, Aleida 142, 166 al-Qaida 218, 261 Belgien 245, 260, 275, 326 Atomwaffendivision Deutschland al-Qaradawi, Yusuf 242, 245 (AWDD) 163, 164 Belzec (Polen) 151 al-Qassam, Izz al-Din 260 Auschwitz (Polen) 10, 136, 137, 139, 142, Benneckenstein, Heidi 35 143, 150, 151, 152, 153, 154, 155, 156, Bensheim (Kreis Bergstraße) 67, 279 al-Rashta, Ata Abu (alias Abu Yasin) 230 157, 158, 159, 160, 162, 166, 167, 169, 195 Altena (Nordrhein-Westfalen) 35, 66 Benz, Wolfgang 140, 146, 149, 152 Auswärtiges Amt 131 Altenstadt (Wetteraukreis) 47, 99 beratungsNetzwerkshessen - Mobile InAutonome Gruppe - Kommando tervention gegen Rechtsextremismus 32 Alternative für Deutschland (AfD) 38, 41, Helin Qerecox/Anna Campell 188 48, 62, 67, 86, 87, 88, 90, 91, 92, 93, 94, Beratungsstelle Hessen - Religiöse Autonome 40, 49, 51, 52, 171, 174-198, Toleranz statt Extremismus 32 96, 160, 179, 231 206, 208, 324, 325, 326, 327, 343 352 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 REGISTER Bergen-Belsen (Niedersachsen) 157 Bundesarbeitsgemeinschaft der ImmigDarmstadt 47, 67, 73, 96, 110, 149, 175, rantenverbände in Deutschland (BAGIV) 178, 183, 184, 187, 188, 190, 196, 197, Berlin 23, 24, 35, 55, 68, 82, 140, 150, 233, 317 201, 203, 204, 268, 269, 270, 271, 273, 152, 153, 154, 156, 161, 162, 166, 180, 274, 279, 282, 283 194, 197, 198, 231, 236, 238, 245, 268, Bundesgerichtshof 44, 63, 177 332 Darwin, Charles 78, 140, 340, 344 Bundesministerium der Justiz Beuth, Peter 35 und für Verbraucherschutz 131 Das sind wir [Publikation] 69 BIAREX 6, 45 Bundesministerium des Innern, de.indymedia.org [Internetplattform] für Bau und Heimat 78, 80, 238, 247 176, 178, 185, 188, 208, 271 bin Laden, Osama 261 Bundesministerium für Wirtschaft Deckert, Günter 105 Bismarck, Otto von 111 und Energie 302 Defend Rojava Rhein-Main 187, 269 Blechschmidt, Andreas 206 Bundesverfassungsgericht 14, 15, 97, 98, 104, 158, 162, 199 Defend Rojava/Verteidige Rojava 187 Bloc Identitaire - Le mouvement social europeen 69 Bundesverwaltungsamt 311 Demokratiezentrum Hessen an der Philipps-Universität Marburg 35 Boeckel, Otto 140, 141 Bündnis für Frieden in Afrin 187 Dener, Halim 206 Borkum (Niedersachsen) 141 Bündnis gegen Rechts Kassel 179 Der Dritte Weg/Der III. Weg Boxclubs (BC) 290 Burschenschaften 49, 176 47, 48, 61, 61, 109-116, 165, 350 Brandenburg 86, 87, 106, 140 C Der Flügel 38, 41, 46, 61, 62, 86-91, Braunschweig (Niedersachsen) 87 92, 94, 96, 160, 162, 350 Cafe ExZess 197 Brechtken, Magnus 142 Der Stürmer 140, 145 Cafe KoZ 197 Bredereck, Vanessa 98 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) CasaPound 111 52, 172, 181, 187, 198, 199, 200, 201, Breivik, Anders B. 163, 232 202, 350 Centro 197, 206 Bremen 104, 191 Deutsche Muslimische Gemeinschaft Charlie Hebdo 221 Breslau (Polen) 153 e. V. (DMG) 55, 237-247, 350 Chelmno (Polen) 151 British Broadcasting Corporation (BBC) 155 Deutsche Stimme (DS) 97, 98 China 58, 172, 294, 295, 304, 305, Broder, Henrik M. 231 336, 347 Deutsche Volksunion (DVU) 118 Brosch, Matthias 162 Christlich Demokratische Union (CDU) 99 Deutsch-Soziale Reformpartei 141 Broszat, Martin 150 Ciwanen Azad 277 Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi (DHKP-C, Revolutionä-re VolksbefreiungsBrowning, Christopher R. 150, 167 Clermont-Ferrand (Frankreich) 138 partei-Front) 57, 280, 281-286, 351 Brumlik, Micha 137, 159, 167 Cocuk (Kind) 257 Devrimci Sol (Dev Sol, Revolutionäre Linke) 282, 284 Bruns, Walter 154 Colin, Nicole 159, 167 DIE LINKE 283 Brüssel (Belgien) 245, 275 Colombo (Sri Lanka) 221 DIE LINKE.Sozialistisch-Demokratischer Bubis, Ignatz 169 Combat 18 Deutschland Studierendenverband (DIE LINKE.SDS.) (C 18 Deutschland) 77, 78, 350 Buchara (Usbekistan) 253 187, 269, 350 Combined Services Detailed Buchenwald bei Weimar (Thüringen) 168 Die Lunikoff-Verschwörung 82, 98, 350 Interrogation Center (CSDI) 154 Budapest (Ungarn) 111 DIE RECHTE 61, 117-119, 164, Council of European Muslims (CEM) 165, 179, 350 Büdingen (Wetteraukreis) 47, 82, 97, 98 242, 245 Dieckmann, Christoph 148 Buenos Aires (Argentinien) 160 Craig, Gordon A. 143 Dietzenbach (Landkreis Offenbach) 78, 250 Bundesamt für Sicherheit in der InformaCurilla, Wolfgang 148, 151 tionstechnik (BSI) 304 Dillenburg (Lahn-Dill-Kreis) 100 D Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) Diltheyschule Wiesbaden 32 d.i.s.s.i.d.e.n.t. 175, 189, 197, 350 17, 25, 26, 29, 46,69, 73, 86, 92, 93, 304, Division Mittelhessen 77 311, 337, 338 d.o.r.n. 175, 178, 179, 350 Diyanet Isleri Türk Islam Birligi (DITIB, Bundesamt für Wirtschaft und AusfuhrDänemark 326 Türkisch-Islamische Union der Anstalt kontrolle (BAFA) 26, 298 für Religion e. V.) 232, 239, 246, 280 dar al Salam e. V. 222, 350 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 353 REGISTER Diyarbakir (Türkei) 258 Evangelische Akademie Frankfurt 28, 33 Freie Arbeiterinnenund Arbeiter-Union (FAU) 173, 183, 324, 350 Dogru Haber (Wahre Nachricht) 257, 259 Evans, Richard J. 143 Freie Demokratische Partei (FDP) 99 Doha (Qatar) 241 Extinction Rebellion (XR) 175, 180, 182, 184, 185 Freier Widerstand Hessen Dortmund (Nordrhein-Westfalen) (FWH) 77, 78, 350 118, 153, 182, 254 F Freies Netz Süd (FNS) 109 Dreieich (Landkreis Offenbach) 67 Facebook 93, 94, 100, 102, 104, 120, 178, 181, 188, 189, 230, 233, 236, 273, Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) 231 Dresden (Sachsen) 110, 141, 145, 154, 160, 161, 162, 168, 180 283, 304 Freisler, Roland 349 Dreyfus, Alfred 143 Falun Gong 295 Fridays for Future 50, 56, 103, 109, 175, Fatwa-Ausschuss in Deutschland 238, 241 180, 181, 182, 183, 184, 185, 187, 197, Dublin (Irland) 241 204, 267, 271, 272 Duisburg (Nordrhein-Westfalen) 68 Faust 81, 83, 350 Fried, Hedi 136, 137, 138, 139, 145, Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) 279 Federalnaja Slushba Besopasnosti (FSB, 152, 157, 167, 168 Föderaler Dienst für Sicherheit der Russi- E schen Föderation) 296 Friedberg (Wetteraukreis) 100, 215, 269 E., Stephan 44, 63 Federasyona Civaken Demokratik ya KurFriedländer, Henry 141 distaniyen li Saarland u Hessen (FCDKFritz Bauer Archiv 149 Eichmann, Adolf 147, 151, 159, 160 KAWA, Föderation der demokratischen El Paso (USA) 65 Vereine Kurdistans e. V.) 279, 351 Fritz Bauer Institut 149 el-Sisi, Abdel Fattah 237, 238 Federation of Islamic Organizations in Fritzlar (Schwalm-Eder-Kreis) 67 Europe (FIOE, Föderation Islamischer Engels, Friedrich 172, 337 Organisationen in Europa) 242, 245, 351 Fröbe, Rainer 152 England 77, 139 Ferrostaal Industrieanlagen GmbH 188 Fulda (Landkreis Fulda) 47, 70, 73, 100, 102, 108, 110 Erbakan Vakfi Hessen (Erbakan-Stiftung) Finnland 112 248, 351 Fürth (Bayern) 139 Fischer, Matthias 110 Erbakan, Necmettin 55, 248, 249, 250, Fürth, Henriette 138, 139 252, 253, 254, 255, 256 Fischer, Torben 159 G Erfurt (Thüringen) 88, 103 Fiß, Daniel 66 G-10-Kommission 20 Eritrea 43, 46, 48, 62, 63, 68, 121, Florstadt (Wetteraukreis) 215 Gargzdai (Litauen) 149 123, 124, 179 Flurgeflüster 202 Geheime Staatspolizei (Gestapo) Europäische Kommission 329 Fontane, Emilie 141 139, 154, 155 Europäische Moscheebau und UnterstütFontane, Theodor 141 Geisenheim (Rheingau-Taunus-Kreis) 188 zungsgemeinschaft (EMUG) 253 Frank, Anne 157, 168 Gelnhausen (Main-Kinzig-Kreis) 30 Europäische Union (EU) 179, 276, 284, 286, 295, 342 Frank, Margot 157 Generation Identitaire (GI) 318 Europäische Zentralbank (EZB) 191 Frankfurt am Main 26, 28, 33, 44, 46, 49, Gerlach, Christian 143, 148 51, 52, 57, 58, 63, 67, 68, 70, 73, 95, 103, Europäischer Gerichtshof für Menschen109, 138, 139, 140, 146, 154, 158, 159, Germanium 98, 350 rechte 230 164, 167, 169, 175, 176, 177, 178, 183, Gesamtschule Schenklengsfeld 32 Europäischer Rat für Imame 242, 246 184, 185, 186, 187, 188, 190, 191, 196, 197, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, Gesellschaft für Christlich-Jüdische Europäischer Rat 329 215, 216, 217, 240, 245, 246, 249, 250, Zusammenarbeit 32, 33 252, 256, 261, 267, 268, 270, 272, 273, Europäisches Institut für Humanwissen274, 279, 280, 281, 282, 283, 290, 295, Gießen (Landkreis Gießen) 34, 52, 73, schaften in Deutschland e. V. (EIHW) 305, 327 82,98, 100, 111, 175, 181, 187, 196, 197, 238, 240, 241, 245, 246, 247, 351 199, 200, 201, 204, 217, 268, 270, 271, Frankfurter Rundschau 67 274, 279, 280 Europäisches Parlament 62, 87, 94, 98, 99, 102, 110 Frankreich 69, 70, 143, 147, 221, 242, Gießener Bündnis für Frieden in Afrin 187 246, 260, 336, 338 European Council for Fatwa and Research Gire Spi (Syrien) 270 (ECFR) 241, 242, 245 Franz, Frank 97, 98, 99, 100, 101, 106 Glawnoje Raswedywatelnoje Uprawlenije European Institute of Human Sciences Frei, Norbert 147 (GRU, Hauptverwaltung beim Generalstab (EIHS, Institut für Humanwissenschaften) der Streitkräfte der Russischen Föderation) 246 296 354 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 REGISTER Global Strike Darmstadt 183 Heidelberg (Baden-Württemberg) 113 Hofheim am Taunus (Main-Taunus-Kreis) 102 Globocnik, Odilo 155 Heine, Heinrich 134 Hohenstein (Rheingau-Taunus-Kreis) 67 Goebbels, Joseph 152, 154, 156 Heinrici, Gotthard 144 Holler, Martin 152 Goethe-Universität Frankfurt am Main Heise, Thorsten 100, 101 159, 164, 167, 176, 273 Hollstein, Dr. Andreas 35, 66 Helge, Ingo 47, 101, 108 Göring, Hermann 149, 150, 156 Höppner, Rolf-Heinz 147 Helsinki (Finnland) 112 Graf, Willi 348, 349 Horkheimer, Max 167 Herzog, Roman Dr. 169 Greive, Hermann 139 Horvath, Franz 143 Heß, Rudolf 74, 332 Großbritannien 216, 246, 260, 326 Höß, Rudolf 150, 151, 158 Hessische Erstaufnahmeeinrichtungen Groß-Gerau (Kreis Groß-Gerau) 110, 111 (HEAE) 33, 312 Huber, Kurt 348, 349 Grünberg (Landkreis Gießen) 168 Hessische Hochschule für Polizei und VerHürter, Johannes 144 waltung (HfPV) 31 Grüne Jugend 204 I Hessische Lehrkräfteakademie 29 Gruner, Wolf 144, 153 Identitäre Bewegung (IB) 46, 60, 61, 66, Hessischer Rundfunk 35 67, 68, 69, 70, 72, 73, 75, 94, 96, 176, Grup Yorum 57, 282, 283, 284, 285, 286 Hessisches Informationsund Kompetenz231, 350 Gruppe ArbeiterInnenmacht (GAM) zentrum gegen Extremismus (HKE) 182, 350 Identitäre Bewegung Deutschland e. V. 31, 32, 33, 34 (IBD) 45, 66-74, 350 Guldner, Mike 117 Hessisches Landeskriminalamt (HLKA) Identitäre Bewegung Hessen (IBH) Gurewitz, Mendel 33 26, 33, 63, 215, 217 45, 66-74, 350 H Hessisches Ministerium des Innern und Identitäre Bewegung Österreich (IBÖ) für Sport 19, 20, 30, 79, 310 69, 73, 74 H., Markus 63 Hessisches Ministerium für Wirtschaft, Identitärer Aktivist 69 Habermas, Jürgen 137 Energie, Verkehr und Wohnen 301 Ilim-Gruppe 258 Halle (Saale) 5, 62, 64, 65, 68, 73, Hessisches Präventionsnetzwerk 163, 168 gegen Salafismus 32 Imrali (Türkei) 266, 276, 278 Hambacher Forst 180, 185, 208 Heydrich, Reinhard 147, 149, 150 Indien 297 Hamburg 40, 52, 68, 141, 153, 154, 158, Heyva Sor a Kurdistane (HSK, Kurdischer Initiative Anarchistische Bewegung 189, 191, 194, 198, 205, 206, 207, 231, Roter Halbmond) 280, 351 Frankfurt (IABF) 190 236, 284 Initiative Social Hub (ISH) 190 Hezen Parastina Gel (HPG, VolksverteidiHanau (Main-Kinzig-Kreis) 5, 9, 100, gungseinheiten) 266 Initiative Zukunft Bockenheim e. V. 190 249, 250, 269, 271, 279 Hilberg, Raul 150 Instagram 102, 103, 230 Hanbal, Ahmad Ibn 224 Hilfsorganisation für nationale politische Institut Europeen des Sciences Humaines Hannover (Niedersachsen)104, 154, 206, Gefangene und deren Angehörige e. V. (IESH, Institut für Humanwissenschaften) 273, 281 (HNG) 80 246 Hanseatisches Oberlandesgericht Himmler, Heinrich 143, 149, 150, Institut für Islamische Theologie der UniHamburg 284 151, 152, 156, 157 versität Osnabrück 33 Hantusch, Thassilo 101 Hitler, Adolf 77, 78, 79, 82, 142, 143, Institut für Sozialforschung an der Goethe146, 148, 149, 150, 152, 154, 159, 325, Universität Frankfurt am Main 167 Harakat Ahrar al-Sham al-Islamya (Ahrar 330, 331, 332, 338, 348 al-Sham, Islamische Bewegung der Freien Institut für Zeitgeschichte (IfZ) 158 Männer Großsyriens) 216 Hizb al-Hurriya wa-l-Adala (Partei der Freiheit und Gerechtigkeit) 243 International Holocaust Remembrance Harakat al-Muqawama al-Islamiya (HAMAS, Alliance 164 Islamische Widerstandsbewegung) Hizb Allah (Partei Gottes) 257 237, 259 Inter-Service Intelligence (ISI) 297 Hizb ut-Tahrir (HuT, Partei der Befreiung) Harakat al-Shabaab al-Mujahidin (al-Sha54, 209, 230-237, 351 Interventionistische Linke (IL) 175, 182, baab, Bewegung der Mujahidin-Jugend) 183, 185, 186, 187, 188, 196, 197, 204 261, 351 Hochtaunuskreis 93, 100, 185, 208, 240 350 Havanna 8 49, 176, 189, 190 Höcke, Björn 86, 87, 88, 90, 91, 160, Inzar (Warnung) 257, 260 161, 166, 167 Haverbeck, Ursula 119, 164, 165 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 355 REGISTER Irak 27, 52, 214, 216, 218, 219, 220, Junge Nationalisten (JN) 30, 97, Kommunistische Organisation (KO) 277, 278, 305 100-104, 108, 109, 343, 350 202, 350 Iran 58, 251, 257, 277, 294, 296, Jusos 204 Kommunistische Partei Chinas (KPCh) 295 297, 298, 305 K Kommunistische Partei der Sowjetunion Irland 241, 342 (KPdSU) 202 Kalbitz, Andreas 86 Islamic Revolutionary Guard Corps (IRGC, Kommunistische Partei Iranische Revolutionsgarden) 296 Kameradschaft Aryans 77, 350 Deutschlands (KPD) 199, 204, 350 Islamische Gemeinschaft in Deutschland Kanada 326 Kompetenzzentrum gegen Rechtse. V. (IGD) 54, 55, 238, 244, 245, 247 Kaplan, Ayten 273 extremismus (KOREX) 28, 31 Islamische Gemeinschaft in SüddeutschKaratas, Dursun 282 Kongreya Azadi u Demokrasiya Kurdistane land e. V. 244 (KADEK, Freiheitsund DemokratiekonKassel 40, 43, 49, 52, 62, 63, 73, 74, 98, gress Kurdistans) 276, 351 Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. 102, 117, 118, 154, 164, 175, 177, 178, (IGMG) 179, 184, 187, 188, 196, 197, 201, 202, Kongreya Civaken Demokratik li Kurdista239, 246, 248, 249, 253, 255, 256, 351 203, 204, 205, 206, 216, 217, 268, 269, niyen Ewropa (KCDK-E, Kurdischer Demo270, 271, 273, 274, 279, 280 kratischer Gesellschaftskongress in Islamische Republik Iran s. Iran Europa) 267, 279, 351 Islamische Republik Pakistan s. Pakistan Kategorie C - Hungrige Wölfe 81, 82, 83, 350 Kongreya Gele Kurdistane (KONGRA GEL, Islamische Union Europa e. V. (IUE) 252 Volkskongress Kurdistans) 276, 351 Katowice (Polen) 181 Islamischer Staat (IS) 52, 53, 214, 215, Konya (Türkei) 250 216, 217, 218, 219, 220, 221, 229, 266, Kaunas (Litauen) 153 KoordA(r)nasyona Civaka DemokratA(r)k a Kur274, 276, 278, 261, 296, 351 KAWA - Demokratische Föderation der distan (CDK, Koordination der kurdischIsland 343 Gesellschaften Kurdistan e. V. demokratischen Gesellschaft) 279 273, 279, 351 Ismail Aga Cemaati (IAC) 55, 248, 249, Köster, Stefan 100 251, 252, 253, 255, 256, 351 Keller, Sven 143 Kotku, Zaid Mehmet 253 Israel 110, 118, 135, 139, 141, 159, 160, Kellerhof, Sven Felix 150 Krasnov, Mark 32 164, 165, 166, 195, 196, 234, 237, 244, Kelsterbach (Kreis Groß-Gerau) 249 251, 255, 259, 328 Krauss-Maffei Wegmann 188 Kemal, Mustafa Atatürk 252 Istanbul (Türkei) 258, 282 Krebs, Dr. Pierre 74, 75 Kempten (Bayern) 112 Italien 58, 70, 111, 160, 257, 260, 290, Krebs, Stefan 143 291, 338 Kenia 261, 276 Kreidl, Paul 154 J Kershaw, Ian 150 Kreis Bergstraße 67, 110, 279 Jackson, Robert H. 150 Kiefer, Dr. Michael 33 Kreis Groß-Gerau 54, 104, 110, 111, Jagsch, Stefan 47, 97, 99, 102, 107 Kiew (Ukraine) 111, 149, 155 199, 203, 230, 231, 249, 279 Japan 347 Kirchheim Kreis Hersfeld-Rotenburg 10 (Landkreis Hersfeld-Rotenburg) 240 Jerusalem 234, 245 Kreutzmann, Thomas 35 Klapperfeld 196 Jinen Ciwanen Azad kritik&praxis - radikale Linke [f]rankfurt (Bewegung junger Frauen) 279, 351 Klein, Martina 345 49, 175, 177, 187, 196, 350 Jinen Xwendekaren Kurdistan (JXK, StuKlement, Ricardo s. Eichmann, Adolf Krolzig, Sascha 117 dierende Frauen aus Kurdistan) Klemperer, Eva 155 Kronberg im Taunus (Hochtaunuskreis) 184, 187, 269, 273, 280, 351 185, 186, 208 Klemperer, Victor 145, 154, 162 Joffe, Josef 140 Kuba 187 Knäpple, Lena 166 Jordanien 234, 244, 326 Kubitschek, Götz 69, 73 Knüllwald (Schwalm-Eder-Kreis) 76 Jüdisches Museum Frankfurt 169 Küpper, Beate 138 Kobane (Syrien) 274 Jugendschöffengericht Friedberg 215 Kurdische Autonomieverwaltung Köcer, Tahir 279 Julius-MaximiliansNordund Ostsyriens 268 Universität Würzburg 233 Köln (Nordrhein-Westfalen) 26, 55, 64, 66, Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeits154, 202, 217, 238, 239, 246, 252, 268, 283 Junge Alternative (JA) 38, 46, 61, 87, arbeit e. V. (Civika Azad) 280, 351 92-97, 179, 350 Koma Civaken Kurdistan (KCK, Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans) 277, 351 356 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 REGISTER L Longerich, Peter 144, 147, 148, 149, Milli Istihbarat Teskilati (MIT, Nationale 150, 151, 152, 153, 156 Nachrichtendienstorganisation) 296 Lachmann, Daniel 47, 97, 101, 102, 108 Lorenz, Matthias N. 159 MillA(r) Nizam Partisi (MNP, Nationale OrdLahn-Dill-Kreis 100, 101, 111, 113, 115 nungspartei) 252 Lorz, Alexander 232 Lampertheim (Kreis Bergstraße) 110 Milli-Görüs-Bewegung 55, 248-256 Löwenberg [jüdische Familie] 33 Landesverband der Jüdischen Minsk (Weißrussland) 151, 152 Gemeinden in Hessen 32 Lübcke, Dr. Walter 5, 9, 40, 43, 44, 45, 49, 62, 63, 66, 117, 118, 124, 177, 197 Modellschule Obersberg 32, 33 Landgericht Berlin 238 Lüders, Harald 33 Mogadischu (Somalia) 261 Landgericht Kassel 217 Ludwigshafen (Rheinland-Pfalz) 283 Mogilew (Weißrussland) 151 Landkreis Darmstadt-Dieburg 57, 81, 283 Luther, Martin 139 Mommsen, Theodor 140 Landkreis Fulda 47, 70, 73, 100, 102, 110 Luxor (Ägypten) 217 Montabaur (Rheinland-Pfalz) 250 Landkreis Gießen 73, 82, 100, 111, 168, 181, 196, 197, 199, 204, 217, 268, 270, Lyon (Frankreich) 221 Mörfelden-Walldorf (Kreis Groß-Gerau) 271, 274, 279, 280 54, 199, 200, 230, 231 M Landkreis Hersfeld-Rotenburg 32, 33, Moscheebau-Kommission e. V. 244 34, 168, 202, 240, 269 Maar, Wilhelm 139 Moser, Paul 146 Landkreis Kassel 43, 63 Maastricht (Niederlande) 267 Movimento Sociale Italiano (MSI) 111 Landkreis Limburg-Weilburg 111, 113, Madagaskar 147, 152 Mubarak, Husni 243 115, 269, 274, 279 Madrid (Spanien) 182 Mühlhausen, Walter 146 Landkreis Marburg-Biedenkopf 46, 49, Main-Kinzig-Kreis 30, 43, 48, 62, 63, 100, 51, 67, 68, 189, 196, 197, 202, 222, 245, 121, 123, 179, 197, 250, 269, 271, 279 Mühltal (Landkreis Darmstadt-Dieburg) 268, 269, 270, 272, 280 81, 283 Mainz (Rheinland-Pfalz) 303 Landkreis Offenbach 67, 78, 250, 277 München (Bayern) 154, 158, 177,244, 348 Makkabi Deutschland e. V. - Jüdischer TurnLangenscheid (Rheinland-Pfalz) 240 und Sportverband in Deutschland 30 Mursi, Mohammed 238, 240, 243, 245, 246 Leftwing Rheingau 179, 188, 350 Malta 126, 130 Museum Wiesbaden 34 Leinefeld (Thüringen) 87 Mann, Thomas 155 Muslimbruderschaft (MB) 54, 55, Leipzig (Sachsen) 194, 198, 208 Marburg (Landkreis Marburg-Biedenkopf) 234-258, 260, 351 Leleu, Jean-Luc 152 46, 49, 51, 68, 73, 175, 178, 189, 196, 197, 200, 201, 202, 222, 245, 268, 269, Mussolini, Benito 324, 345 Lenarz, Michael 169 270, 272, 280, 350, 351 N Lenin s. Uljanow, Wladimir Iljitsch Marksist Leninist Komünist Parti (MLKP, Marxistisch-Leninistische Kommunistische Naqshbandi, Baha' ad-Din 253 Leo Baeck Institut zur Verbreitung deutschPartei) 267, 351 jüdischer Geschichte 138 Naqshbandiya-Bruderschaft 253 Martell, Karl 70 National Socialist Black Metal (NSBM) 81 Libanon 244, 257 Marx, Karl 172, 335, 337 Nationaldemokratische Partei DeutschLiberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) 38, 55, 265 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (NPD) 15, 47, 61, 81, 82, 61, lands (MLPD) 50, 172, 181, 184, 199, 97-109, 118, 343, 350 Liechtenstein 343 203, 204, 269, 283, 350 Nationale Sozialisten Main-Kinzig (NSMK) Limburg (Landkreis LimburgMazedonien 217 78, 350 Weilburg) 269, 274, 279 Mecklenburg-Vorpommern 66, 97, 105 Nationales Bündnis Ruhrgebiet 69, 118 linksjugend ['solid] 181, 187, 202, 204, 269, 273, 351 Med NUCE-TV 266, 277 Nationales Korps 111 Linwood-Moschee Mehnert, Gottfried 141 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter(Christchurch, Neuseeland) 64 partei (NSDAP) 97, 104, 105, 113, 114, Mengele, Dr. Josef 143, 162 142, 146, 156, 330, 331, 338 Litauen 149, 153 Mierdel, Jens 92 Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) Lohfelden (Landkreis Kassel) 63 42, 177, 350 MillA(r) Gazete (Nationale Zeitung) Lohr, Damian 92 248, 249, 251, 254, 255, 256, 351 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 357 REGISTER Navenda Civaka Demokratik ya Kurden li Offenes Antifaschistisches Treffen (OAT) Pittsburgh (USA) 163 Almanyaye (NAV-DEM, Demokratisches Ge178, 184, 187, 190, 197, 351 sellschaftszentrum der KurdInnen in Plauen (Sachsen) 110 Deutschland e. V.) Oidoxie 82, 98, 350 Pohl, Dieter 162 184, 187, 273, 279, 351 Organisierte Kriminalität (OK) 16, 17, 21, 57, 58, 289-292, 350 Pohl, Oswald 152 'Ndragheta 291 Orth, Karin 148 Poitiers (Frankreich) 70 Negombo (Sri Lanka) 221 Oslo (Norwegen) 65, 231 Polen 143, 146, 147, 150, 158, 167, 181 Nehele 269 Osmanen Frankfurt BC 290 Polizeiakademie Hessen 31 Neonazis 35, 38, 41, 42, 43, 47, 60,61, 76, 77-80, 83, 105, 109, 111, 118, 179, Osmanen Germania BC 290 Polizeipräsidium Südosthessen 30, 33 332, 335 Posen (Polen) 147, 156 Österreich 68, 70, 158, 160, 241, 257, Neu-Anspach (Hochtaunuskreis) 240 260, 304, 348 Position 202 Neue Rechte 41, 69, 73, 75, 96, Österreich-Ungarn 141 Postautonome 175, 192, 194, 197 176, 338, 339 Ostritz (Sachsen) 86 Präventionsrat des Main-Kinzig-Kreises 30 Neue Zürcher Zeitung (NZZ) 136, 137 Outlaw Motorcycle Gangs (OMCG) 290 Pressac, Jean-Claude 151 Neuengamme (Hamburg) 157, 167 P Preußische Jahrbücher 140 Neuensalz (Sachsen) 101 Pakistan 58, 294, 296, 297, 298, Prinz, Claudia 140 Neues Deutschland 206 305, 345 Probst, Christoph 348, 349 Neu-Isenburg (Landkreis Offenbach) 277 Palästina 139, 159, 166, 195, 234, 237, 260, 328 Pruschwitz, Thomas 152 Neukirchen (Schwalm-Eder-Kreis) 117, 118, 164 Palestine Liberation Organization (PLO, Pa- Q Neuseeland 46, 54, 62, 64, 65, lästinensische Befreiungsorganisation) Qamishlo (Syrien) 270 69, 73, 163, 231 195 Qatar 241, 247, 326 New York (USA) 146 Pappenheim, Bertha 138 qrew Kassel 179, 350 Niederlande 159, 260, 267, 277 Paris (Frankreich) 221, 242 Qutb, Sayyid 243, 244 Niedersachsen Parlamentarische Kontrollkommission Ver68, 81, 104, 206, 231, 236, 273, 281 fassungsschutz 18, 19 R Norderney 141 Partiya Careseriya Demokratik a Kurdistane Ramadan, Said 244 (PCDK, Partei für eine politische Lösung in Nordglanz 81, 350 Kurdistan) 277 Rassemblement National (RN) 231 Nordkorea 58, 297, 298 Partiya Jiyana Azad a Kurdistane (PJAK, ParRat der Imame und Gelehrten RIG e. V./Rat tei für ein freies Leben in Kurdistan) 277 der Imame und Gelehrten in Deutschland Nordrhein-Westfalen 35, 55, 64, 66, (RIGD) 245, 351 70, 82, 98, 106, 113, 180, 182, 202, 231, Partiya Karkeren Kurdistan (PKK, Arbeiter236, 238, 239, 240, 246, 252, 254, 268, partei Kurdistans) 50, 55, 56, 176, 186, Realität Islam (RI) 30, 54, 230-233, 273, 283 188, 206, 258, 265-281, 286, 329, 339, 235, 236, 237 North Atlantic Treaty Organization (NATO) 351 REBELL 50, 181, 184, 187, 204, 350 110, 327 Partiya YekA(r)tiya Demokrat (PYD, Partei der Recht und Wahrheit 76, 350 Norwegen 54, 62, 65, 231, 343 Demokratischen Union) 266, 277, 278, 351 Reichsbürger und Selbstverwalter Nouvelle Droite 75 38, 48, 49, 76, 125-131 Pastörs, Udo 105 NSU 2.0 5 Reichssicherheitshauptamt (RSHA) Patrioten Wiesbaden 67, 68, 69 147, 150, 151 O Patriotische Europäer gegen die IslamisieReichstrunkenbold 81, 82, 350 Oberlandesgericht Frankfurt am Main rung des Abendlandes (Pegida) 231 44, 63, 215, 216, 261 Reker, Henriette 66 PEW-Institut 93 Oberlandesgericht München 177 REVOLUTION (REVO) 182, 350 Phänomenbereichsübergreifenden wisÖcalan, Abdullah 55, 266, 267, 268, 273, senschaftlichen Analysestelle und FremReyhanli (Türkei) 216 274, 275, 276, 277, 278, 279, 281, 329 denfeindlichkeit (PAAF) 10 Rheinböllen (Rheinland-Pfalz) 240 Offenbach am Main 33, 100, 180, 186, Philippinen 217 Rheingau-Taunus-Kreis 43, 63, 67, 196, 215, 217, 270, 279 Philipps-Universität Marburg 35, 272 115, 122, 188 358 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 REGISTER Rheinland-Pfalz 92, 104, 109, 113, Schleswig-Holstein 104, 231, 236 Spier, Selmar 139, 145 203, 215, 240, 250, 283, 303 Schmid, Thomas 137 Sputnik News 304 Rhina (Landkreis Hersfeld-Rotenburg) 33 Schmorell, Alexander 348, 349 Sri Lanka 55, 215, 221 Richter, Hans Peter 145 Schnabel, Pavel 33 Stalin, Joseph 336, 346 Riesa (Sachsen) 100 Scholl, Hans 348, 349 Steinacher, Gerald 160 Riga (Lettland) 135, 152, 153, 154, 162 Scholl, Sophie 348, 349 Steine im Getriebe 185, 208 RiseUp4Rojava 269, 272 Schönborn, Meinolf 76 Steinmeier, Dr. Frank-Walter 169 Rojava Solidaritätskomitee Darmstadt 187 Schreiber, Peter 98 Sterk TV/NUCE-TV 266, 267, 277 "Rojava" 50, 51, 55, 56, 186, 187, 188, 266, 267, 268, 269, 270, 271, 272, 273, Schubert, Klaus 345 Stoecker, Adolf 140, 141, 145 277, 278, 281 Schumann, Robert 182 Streicher, Julius 145 Rom (Italien) 111 Schutzstaffel (SS) 143, 147, 149, 150, 151, Students for future 273 Rosenberg, Alfred 74 152, 153, 156, 157, 158, 160, 162, 322 Sturm 18 e. V. 79, 80 Roßdorf (Landkreis Darmstadt-Dieburg) Schwalm-Eder-Kreis 67, 76, 117, 118, 119, 164 Stuttgart (Baden-Württemberg) 153, 274 57, 283 Schweden 136 Subkulturell orientierte Rechtsextremisten Roßmüller, Sascha 98 38, 41, 42, 43, 61, 77, 81-84, 335 Rote Armee Fraktion (RAF) 204, 350 Schweiz 143, 257, 260, 343 Swaid, Khallad 240 Rote Fahne News 283 Schwela, Dr. Siegfried 151 Swing 175 Rote Flora 206 Schwendemann, Heinrich 142 Syrien175, 186, 188, 214, 216, 218, 219, Rote Hilfe Deutschlands (RHD) 204 Sellner, Martin 68 220, 229, 237, 244, 266, 267, 268, 270, 272, 274, 276, 277, 278, 280, 297, 305 Rote Hilfe e. V. (RH) 29, 204-207, 351 Serxwebun (Unabhängigkeit) 266, 277 siempre*antifa Frankfurt/M T Rote Linie - Pädagogische Fachstelle Rechtsextremismus 30 177, 178, 196, 350 T.A.S.K. 179, 187, 197, 350 Rumänien 143, 342 Signal 120 Taimiya, Taqi al-Din Ahmad Ibn 224 Rüsselsheim (Kreis Groß-Gerau) Skinheads, rechtsextremistische Taiwan 295 104, 203, 279 77, 105, 335 Tarrant, Brenton 232 Russia Today Deutsch 304 Skoda, Sven 117 Taunusstein (Rheingau-Taunus-Kreis) Russische Föderation s. Russland Slushba Wneschnej Raswedki (SWR, Dienst 43, 63, 64, 115, 122 der Außenaufklärung der Russischen FödeRussland 58, 143, 155, 261, 266, 290, ration) 296 Technische Universität Dresden 145 291, 294, 295, 296, 204, 305, 326 Telegram 46, 67, 69, 73 Social Hub (ISH) 190 S Solidaritätskomitee Rojava Kassel 187 Tevgera Ciwanen Soresger (TCS, Bewegung Saadet Partisi (SP, Partei der Glückseligkeit) der revolutionären Jugend) 279, 351 Somalia 261 55, 248, 249, 250, 251, 252, Teyrebazen Azadiya Kurdistan (TAK, 253, 254, 255, 256, 351 Sonthofen (Bayern) 156 Freiheitsfalken Kurdistans) 266 Saarland 97, 106, 203, 279, 303 Sowjetunion 146, 147, 148, 149, 150, Thailand 217 151, 157, 158, 159, 172, 202 Sachsen 86, 87, 97, 100, 101, 105, Thommen, Lukas 72 106, 109, 110, 163, 180, 194, 208, 339 Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 99, 102, 187 Threema 120 Sachsen-Anhalt 64, 68, 73, 163 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend Thule-Gesellschaft 74 Salafisten 52, 53, 213-230, 329, 331 (SDAJ) 181, 198, 201, 202, 203, 350 Thule-Seminar e. V. 74, 75, 350 Salzborn, Samuel 147, 161, 162 Sozialistische Reichspartei (SRP) 104 Thunberg, Greta 181 Sand im Getriebe 185, 186 Spanien 182, 304 Thüringen 86, 87, 90, 103, 106 Saudi-Arabien 224, 244, 326 Sparta 72 Tibet 295 Schäfer, Robert 7,34, 35 Speer, Albert 143, 148, 152, 156, 159, 167 Tieck, Ludwig 168 Scharf, Johannes 98 Spencer, Herbert 344 Tilly, Richard H. 139 Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 359 REGISTER Treitschke, Heinrich von Vereinigung für die Sicherheit der Wiesbaden 20, 31, 32, 34, 67, 68, 69, 140, 142, 161, 162, 164 Wirtschaft e. V. (VSW) 303 87, 92, 94, 100, 102, 110, 179,203, 204, 215, 257, 260, 268, 269, 279 Trommer, Isabell 148, 156 Vereinte Nationen (United Nations, UN) 164, 181, 182 Wildt, Michael 146 Trotzki, Leo 336, 347 Versailles (Frankreich) 142 Wilhelm I. 88 Trotzkisten 174, 182, 347 Verwaltungsgericht Gießen 98 Witzenhausen (Werra-Meißner-Kreis) Tschacher, Werner 142 269, 270, 272 Vezarat-e ettela'at jomhuri-ye eslami-ye Tunesien 237 iran/Ministry of Intelligence (VAJA/MOIS) Wölfersheim (Wetteraukreis) 81 Türkei 50, 55, 57, 175, 183, 186, 187, 296 Wolfhagen (Landkreis Kassel) 43, 63 188, 216, 217, 239, 248, 249, 250, 251, Violence Prevention Network (VPN) 32, 34 252, 253, 254, 255, 256, 257, 258, 259, Women Defend Rojava 269 260, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 271, Voigt, Udo 98, 99, 100, 105 272, 275, 276, 277, 278, 280, 281, 282, Worch, Christian 118 284, 285, 286, 294, 296, 338, 347 Volkmarsen (Landkreis Waldeck-Frankenberg) 6 Wunsiedel (Bayern) 111, 332 Türkisch Islamische Gemeinde zu Y Offenbach a/M e. V. 270 Volksrepublik China s. China Vonovia 190 Yasin, Abu s. al-Rashta, Ata Abu Türkische Hizbullah (TH) 257-260, 351 Voßkuhle, Andreas 159 Yekineyen Parastina Gel (YPG, VolksverteiTürkische Union Europa e. V. 252 digungseinheiten) 266, 270, 272 Turkish Airlines 188 W Yekineyen Parastina Jin (YPJ, FrauenverteiTürkiye Komünist Partisi/Marksist Leninist Wächtersbach (Main-Kinzig-Kreis) digungseinheiten) 266 (TKP/ML, Türkische Kommunistische Par9, 48, 62, 63, 121, 123, 179, 197 Yekitiya Xwendekaren Kurdistan (YXK, Vertei/Marxisten-Leninisten) 267, 351 Wackersdorf (Bayern) 191 band der Studierenden aus Kurdistan) Twitter 46, 67, 73, 101, 102, 103, 230, 304 183, 184, 187, 206, 269, 270, 273, Wagnitz-Seminar des Hessischen 280, 351 U Ministeriums der Justiz 33 Yeni Demokratik Genclik (YDG, Neue Uhl, Matthias 152 Walser, Martin 169 Demokratische Jugend) 269, 351 Ukraine 111 Washington D. C. (USA) 93, 158 Yeni Kadin (Neue Frau) 183, 351 Uljanow, Wladimir Iljitsch (Lenin) We Love Muhammad 222, 228, 351 Yeni Özgür Politika (YÖP, Neue Freie Politik) 172, 326, 335 Weber, Eugen Joseph 143 266, 267, 268, 277 Ülkücü-Bewegung 280, 347, 351 Wehler, Hans-Ulrich 141, 142, 158 YouTube 49, 68, 70, 73, 83, 120, 126, 230, 235 ...umsGanze! (uG) 175, 350 Wehrmacht 144, 147, 149, 155, 156, 166 Yurtsever Devrimci Genclik Hareketi (YDG, Ungarn 111, 136, 141, 143 Weibliche Fürsorge 138 Patriotisch revolutionäre Jugendbewegung) Union Internationale Demokraten (UID) 296 Weidenthal (Rheinland-Pfalz) 109 183, 351 United States Holocaust Memorial Weilburg Yürüyüs (Marsch) 282, 284 Museum 158 (Landkreis Limburg-Weilburg) 111 Z Universität Kassel 274 Weiße Rose 73, 74, 348 Zasowk, Ronny 100 Usingen (Hochtaunuskreis) 100 Weisse Wölfe Terrorcrew 80 Zedong, Mao 172, 336 Ustaosmanoglu, Mahmud 253 Werl, Michael 92 Zentralrat der Juden in Deutschland V Werner, Frank 149 32, 169 Vahdet Moschee 257, 260 Werra-Meißner-Kreis 216, 269, 270, 272 Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) 55, 238, 247 Velioglu, Hüseyin 257, 258 Wetteraukreis 47, 81, 82, 97, 99, 100, 269 Zentrum für Holocaust-Studien 158 Velo, Tina 186 Wetzlar (Lahn-Dill-Kreis) 100, 101, 111 Zentrum 144 Vereinigte Arabische Emirate 326 WhatsApp 120 Zick, Andreas 138 Vereinigte Staaten von Amerika (United Widerstandskomitee Berlin 268 States of America, USA) 53, 55, 65, Zukunft Bockenheim e. V. 190 110, 130, 143, 146, 150, 158, 160, 163, Wien (Österreich) 155, 241 Zwickau (Sachsen) 86 195, 221, 251, 255, 259, 261, 268, 271, 280, 304, 326, 328, 344 360 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES VERFASSUNGSSCHUTZES IN HESSEN Vom 25. Juni 2018 - veröffentlicht am 3. Juli 2018 im Gesetzund Verordnungsblatt für das Land Hessen, Nr. 13, S. 302ff. Artikel 1) Hessisches Verfassungsschutzgesetz (HVSG) PRÄAMBEL Der Verfassungsschutz dient dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Er ist Dienstleister der Demokratie und hält insbesondere die analytischen Kompetenzen zur Beurteilung jener Gefahren vor, die Demokratie und Menschenrechten durch extremistische Bestrebungen drohen. Er tauscht sich mit Wissenschaft und Gesellschaft aus. Hierzu gehört auch der öffentliche Diskurs. Er berücksichtigt gesellschaftliche Vielfalt und gesellschaftliche Entwicklungen. ERSTER TEIL Organisation und Aufgaben des Landesamts SS1 ORGANISATION DES LANDESAMTS (1) Das Landesamt für Verfassungsschutz (Landesamt) untersteht als obere Landesbehörde dem für den Verfassungsschutz zuständigen Ministerium. Es darf mit Polizeidienststellen organisatorisch nicht verbunden werden. (2) Verfassungsschutzbehörden anderer Länder dürfen in Hessen nur im Einvernehmen, das Bundesamt für Verfassungsschutz nur im Benehmen mit dem Landesamt tätig werden. Das Landesamt darf in anderen Ländern nur tätig werden, soweit die Rechtsvorschriften der anderen Länder dies zulassen. SS2 AUFGABEN DES LANDESAMTS (1) Das Landesamt ist zuständig für die Zusammenarbeit Hessens mit dem Bund und den anderen Ländern in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes. Aufgabe des Landesamts ist es, es den zuständigen Stellen zu ermöglichen, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder zu treffen. Das Landesamt hat auch die Aufgabe, den in Abs. 2 genannten Bestrebungen und Tätigkeiten durch Information, Aufklärung und Beratung entgegenzuwirken und vorzubeugen (Prävention). Zur Aufklärung der Öffentlichkeit erstellt das Landesamt mindestens einmal jährlich einen Bericht über Bestrebungen und Tätigkeiten nach Abs. 2 oder tatsächliche Anhaltspunkte hierfür. Der Bericht wird von dem für den Verfassungsschutz zuständigen Ministerium herausgegeben und auf der Internetseite des Landesamts für fünf Jahre bereitgestellt. (2) Aufgabe des Landesamts ist die Sammlung und Auswertung von Informationen, insbesondere von sachund personenbezogenen Auskünften, Nachrichten und Unterlagen, über 1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder die eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 361 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV 2. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes für eine fremde Macht, 3. Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, 4. Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgesetzes, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Art. 9 Abs. 2 des Grundgesetzes), insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker (Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes), gerichtet sind, 5. Bestrebungen und Tätigkeiten der Organisierten Kriminalität im Geltungsbereich des Grundgesetzes. (3) Das Landesamt wirkt mit bei Sicherheitsüberprüfungen und Überprüfungen nach SS 3 Abs. 2 Satz 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes vom 20. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2954, 2970), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. Juni 2017 (BGBl. I S. 1634). (4) Das Landesamt ist zuständig für Sicherheitsüberprüfungen nach SS 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10-Gesetz) vom 26. Juni 2001 (BGBl. I S. 1254, 2998), zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. August 2017 (BGBl. I S. 3202). SS3 BEGRIFFSBESTIMMUNGEN (1) Die Begriffsbestimmungen des SS 4 Abs. 1 Satz 1, 2 und 4 sowie Abs. 2 des Bundesverfassungsschutzgesetzes finden Anwendung. (2) Organisierte Kriminalität im Sinne dieses Gesetzes ist die von Gewinnoder Machtstreben bestimmte planmäßige Begehung von Straftaten, die einzeln oder in ihrer Gesamtheit von erheblicher Bedeutung für die Rechtsordnung sind, durch mehr als zwei Beteiligte, die auf längere oder unbestimmte Dauer arbeitsteilig tätig werden 1. unter Verwendung gewerblicher oder geschäftsähnlicher Strukturen, 2. unter Anwendung von Gewalt oder durch entsprechende Drohung oder 3. unter Einflussnahme auf Politik, Verwaltung, Justiz, Medien oder Wirtschaft. ZWEITER TEIL Befugnisse des Landesamts SS4 INFORMATIONSERHEBUNG (1) Das Landesamt darf die zur Erfüllung seiner Aufgaben nach SS 2 Abs. 1 und 2 erforderlichen Informationen erheben und verarbeiten. Einzelheiten zum Umgang mit den erhobenen Informationen regelt eine von dem für den Verfassungsschutz zuständigen Ministerium zu erlassende Dienstvorschrift. (2) Das Landesamt darf personenbezogene Daten aus allgemein zugänglichen Quellen erheben und verarbeiten, um zu prüfen, ob tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vorliegen. (3) Liegen bei der betroffenen Person tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vor oder wird das Landesamt nach SS 2 Abs. 3 oder 4 tätig, darf es Auskünfte bei öffentlichen Stellen oder Dritten einholen, wenn die Daten 1. nicht aus allgemein zugänglichen Quellen, 2. nur mit übermäßigem Aufwand oder 3. nur durch eine die betroffene Person stärker belastende Maßnahme erhoben werden können. Würde durch die Erhebung von Auskünften nach Satz 1 der Zweck der Maßnahme gefährdet oder die betroffene Person unverhältnismäßig beeinträchtigt, darf das Landesamt Akten und Register öffentlicher Stellen einsehen. Im Übrigen gilt SS 18. 362 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV (4) Das Landesamt muss Ersuchen auf Auskunft oder Einsicht nicht begründen, soweit dies dem Schutz der betroffenen Person dient oder eine Begründung den Zweck der Maßnahme gefährden würde. Es hat die Ersuchen aktenkundig zu machen. Über die Einsichtnahme nach Abs. 3 Satz 2 hat das Landesamt einen Nachweis zu führen, aus dem der Zweck, die ersuchte Behörde und die Aktenfundstelle hervorgehen. Der Nachweis ist gesondert aufzubewahren, gegen unberechtigten Zugriff zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr seiner Erstellung folgt, zu vernichten. (5) Zur Beantwortung von Übermittlungsersuchen nach SS 20 Abs. 1 Nr. 2 darf das Landesamt personenbezogene Daten nur erheben, soweit dies zur Überprüfung der dem Landesamt bereits vorliegenden Informationen erforderlich ist. Abs. 3 bleibt unberührt. (6) Werden Daten bei der betroffenen Person oder bei Dritten außerhalb des öffentlichen Bereichs offen erhoben, so sind die Befragten auf die Freiwilligkeit ihrer Angaben hinzuweisen. Gegenüber der betroffenen Person ist der Erhebungszweck anzugeben. Die Befragten sind bei einer Sicherheitsüberprüfung nach SS 2 Abs. 3 oder 4 auf eine dienst-, arbeitsrechtliche oder sonstige vertragliche Mitwirkungspflicht hinzuweisen. (7) Ein Ersuchen des Landesamts um Übermittlung personenbezogener Daten darf nur diejenigen personenbezogenen Daten enthalten, die für die Erteilung der Auskunft unerlässlich sind. Schutzwürdige Interessen der betroffenen Person dürfen nur in unvermeidbarem Umfang beeinträchtigt werden. (8) Zur Aufgabenerfüllung nach SS 2 dürfen personenbezogene Daten von Personen, bei denen keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sie selbst Bestrebungen oder Tätigkeiten im Sinne des SS 2 Abs. 2 nachgehen (Unbeteiligte), nur erhoben, verarbeitet oder genutzt werden, wenn 1. dies für die Erforschung von Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vorübergehend erforderlich ist, 2. die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre und 3. überwiegende schutzwürdige Belange der betroffenen Personen nicht entgegenstehen. Personenbezogene Daten Unbeteiligter dürfen auch erhoben werden, wenn sie mit zur Aufgabenerfüllung erforderlichen Informationen untrennbar verbunden sind. (9) Daten, die für das Verständnis der zu speichernden Informationen nicht erforderlich sind, sind unverzüglich zu löschen. Dies gilt nicht, wenn die Löschung nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand möglich ist; in diesem Fall dürfen die Daten nicht verwertet werden. SS5 INFORMATIONSERHEBUNG MIT NACHRICHTENDIENSTLICHEN MITTELN (1) Das Landesamt darf Informationen mit nachrichtendienstlichen Mitteln erheben. Für personenbezogene Daten gilt dies nur, wenn 1. bei der betroffenen Person tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vorliegen und anzunehmen ist, dass auf diese Weise zusätzliche Erkenntnisse erlangt werden können, 2. tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass auf diese Weise die zur Erforschung von Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 erforderlichen Quellen gewonnen werden können, 3. dies zum Schutz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Einrichtungen, Gegenstände und Informationsquellen des Landesamts gegen sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten erforderlich ist oder 4. dies zur Überprüfung der Nachrichtenehrlichkeit und der Eignung von Vertrauensleuten erforderlich ist. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 363 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV (2) Nachrichtendienstliche Mittel sind Mittel und Methoden, die mittelbar oder unmittelbar dem von der betroffenen oder außenstehenden Person nicht erkennbaren Erheben von Daten dienen. Als nachrichtendienstliche Mittel darf das Landesamt einsetzen: 1. Überwachung des Brief-, Postund Fernmeldeverkehrs im Sinne des Art. 10 des Grundgesetzes einschließlich notwendiger Begleitmaßnahmen nach SS 6, 2. technische Mittel zur Wohnraumüberwachung nach SS 7, 3. technische Mittel zur Ortung von Mobilfunkendgeräten nach SS 9, 4. besondere Auskunftsersuchen nach SS 10 zu a) den Umständen des Postverkehrs bei Unternehmen, die geschäftsmäßig Postdienstleistungen erbringen oder daran mitwirken, b) Telekommunikationsverbindungsund Teledienstenutzungsdaten bei Unternehmen, die geschäftsmäßig Telekommunikationsdienste und Teledienste erbringen oder daran mitwirken, c) Daten bei Verkehrsunternehmen, Betreibern von Computerreservierungssystemen und globalen Distributionssystemen sowie bei Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten und Finanzunternehmen, 5. Observation nach SS 11, 6. Verdeckte Mitarbeiterinnen, Verdeckte Mitarbeiter und Vertrauensleute nach den SSSS 12 und 13, 7. verdeckte Ermittlungen und Befragungen, 8. Tonund Bildaufzeichnungen außerhalb der Schutzbereiche der Art. 10 und 13 des Grundgesetzes mit und ohne Inanspruchnahme technischer Mittel, 9. Tarnmittel, 10. Funkbeobachtungen, 11. Beobachtung des Internets; dies beinhaltet auch die verdeckte Teilnahme an der im Internet geführten Kommunikation, insbesondere in Foren und elektronischen Kommunikationsplattformen. (3) In den Fällen des Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3 dürfen nachrichtendienstliche Mittel nicht gezielt gegen Unbeteiligte eingesetzt werden; im Übrigen gilt SS 4 Abs. 8 Satz 2 und Abs. 9. Einzelheiten regelt das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium durch Dienstvorschrift, insbesondere die organisatorische Zuständigkeit für die Anordnung von Informationserhebungen mit nachrichtendienstlichen Mitteln. Die Dienstvorschrift ist der Parlamentarischen Kontrollkommission nach SS 1 des Verfassungsschutzkontrollgesetzes vom 25. Juni 2018 (GVBl. S. 302, 317) zu übersenden. (4) Gemeinden, Gemeindeverbände und die sonstigen der Aufsicht des Landes unterstehenden Körperschaften, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts sowie die Gerichte und Staatsanwaltschaften und das Landesamt leisten sich gegenseitig Amtsund Rechtshilfe. Dies gilt insbesondere für die technische Hilfe bei Tarnmaßnahmen. Polizeiliche Befugnisse oder Weisungsbefugnisse stehen dem Landesamt nicht zu. Das Landesamt darf auch nicht im Wege der Amtshilfe Polizeibehörden um Maßnahmen ersuchen, zu denen es selbst nicht befugt ist. (5) Zur Erfüllung von Aufgaben aufgrund eines Gesetzes nach Art. 73 Nr. 10 Buchst. b und c des Grundgesetzes stehen dem Landesamt die Befugnisse zu, die es zur Erfüllung der entsprechenden Aufgaben nach diesem Gesetz hat. SS6 ÜBERWACHUNG DES BRIEF-, POSTUND FERNMELDEVERKEHRS UND DER TELEKOMMUNIKATION Die Überwachung des Brief-, Postund Fernmeldeverkehrs im Sinne des Art. 10 des Grundgesetzes richtet sich nach dem Artikel 10-Gesetz mit den in Satz 2 bis 6 bestimmten Maßgaben und dem Hessischen Ausführungsgesetz zum Artikel 10-Gesetz vom 16. Dezember 1969 (GVBl. I S. 303), zuletzt geändert durch Gesetz vom 27. September 2012 (GVBl. I S. 290), in der jeweils geltenden Fassung. Dabei ist SS 3a Satz 12 des Artikel 10-Gesetzes mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Dokumentation sechs Monate nach der Mitteilung oder nach der Feststellung der endgültigen Nichtmitteilung nach SS 12 Abs. 1 Satz 1 oder 5 des Artikel 10-Gesetzes zu löschen 364 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV ist. Ist eine laufende Kontrolle nach SS 4 Abs. 1 Satz 2 des Hessischen Ausführungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz durch die G 10-Kommission noch nicht beendet, ist die Dokumentation bis zum Abschluss der laufenden Kontrolle aufzubewahren. SS 3b des Artikel 10-Gesetzes ist mit der Maßgabe anzuwenden, dass sich SS 3b Abs. 1 des Artikel 10-Gesetzes auch auf Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte erstreckt, die in anderen Mandatsverhältnissen als der Strafverteidigung tätig sind, auf Kammerrechtsbeistände sowie auf deren Berufshelfer nach SS 53a der Strafprozessordnung. SS 4 Abs. 1 Satz 5 des Artikel 10-Gesetzes ist mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Protokolldaten sechs Monate nach der Mitteilung oder nach der Feststellung der endgültigen Nichtmitteilung nach SS 12 Abs. 1 Satz 1 oder 5 des Artikel 10-Gesetzes zu löschen sind. SS 4 Abs. 1 Satz 6 des Artikel 10-Gesetzes ist mit der Maßgabe anzuwenden, dass die Löschung der Daten auch unterbleibt, soweit die Daten für eine Nachprüfung der Rechtmäßigkeit der Beschränkungsmaßnahme nach SS 4 Abs. 1 Satz 2 des Hessischen Ausführungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz durch die G 10-Kommission von Bedeutung sein können. SS7 VERDECKTER EINSATZ TECHNISCHER MITTEL ZUR WOHNRAUMÜBERWACHUNG (1) Das Landesamt darf bei der Erhebung personenbezogener Daten in einer Wohnung verdeckt technische Mittel einsetzen, um das nichtöffentlich gesprochene Wort abzuhören und aufzuzeichnen sowie Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen herzustellen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen für eine konkretisierte dringende Gefahr für 1. den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes, 2. Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder 3. solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Bundes oder eines Landes oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt. (2) Die Anordnung einer Wohnraumüberwachung ist nur zulässig, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtlos oder wesentlich erschwert wäre. Die Maßnahme darf sich nur gegen eine Person richten, von der aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte anzunehmen ist, dass sie für die Gefahr verantwortlich ist (Zielperson), und nur in deren Wohnung durchgeführt werden. In der Wohnung einer anderen Person ist die Maßnahme nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, dass sich die Zielperson dort zur Zeit der Maßnahme aufhält, sich dort für die Erforschung des Sachverhalts relevante Informationen ergeben werden und der Zweck der Maßnahme nicht allein unter Beschränkung auf die Wohnung der Zielperson zu erreichen ist. Die Maßnahme darf auch durchgeführt werden, wenn andere Personen unvermeidbar betroffen werden. (3) Im Antrag auf eine richterliche Anordnung nach SS 8 Abs. 1 sind anzugeben: 1. die Person, gegen die sich die Maßnahme richtet, soweit möglich, mit Name und Anschrift, 2. die zu überwachende Wohnung oder die zu überwachenden Wohnräume, 3. Art, Umfang und Dauer der Maßnahme, 4. der Sachverhalt sowie 5. eine Begründung. (4) Die Maßnahme ist unzulässig, soweit tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass durch sie allein Erkenntnisse gewonnen werden würden 1. aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung oder 2. bei einer Rechtsanwältin, einem Rechtsanwalt, einem Kammerrechtsbeistand, einer der in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 4 der Strafprozessordnung genannten Person oder einer diesen nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung gleichstehenden Person, über die der Berufsgeheimnisträger das Zeugnis verweigern dürfte. Erfolgen Maßnahmen bei einem der im Übrigen in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 3b oder 5 der Strafprozessordnung genannten Berufsgeheimnisträger oder einer diesen Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 365 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung gleichstehenden Person, sind das öffentliche Interesse an den von dem Berufsgeheimnisträger wahrgenommenen Aufgaben und das Interesse an der Geheimhaltung der diesem anvertrauten oder bekannt gewordenen Tatsachen besonders zu berücksichtigen. Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 gelten nicht bei Maßnahmen zur Aufklärung von eigenen Bestrebungen oder Tätigkeiten der genannten zeugnisverweigerungsberechtigten Personen. (5) Ergeben sich während der Überwachung tatsächliche Anhaltspunkte im Sinne von Abs. 4 Satz 1, ist die Maßnahme unverzüglich zu unterbrechen, sobald dies ohne Gefährdung eingesetzter Personen möglich ist. Bestehen insoweit Zweifel, darf nur eine automatische Aufzeichnung fortgesetzt werden. Sind das Abhören und Beobachten nach Satz 1 unterbrochen worden, so darf die Maßnahme fortgeführt werden, wenn keine Anhaltspunkte nach Abs. 4 Satz 1 vorliegen. Erkenntnisse, die durch eine Maßnahme nach Abs. 1 erlangt worden sind, sind dem für die Anordnung zuständigen Gericht unverzüglich vorzulegen. Das Gericht entscheidet unverzüglich über die Verwertbarkeit oder Löschung. Soweit Erkenntnisse im Sinne von Abs. 4 Satz 1 durch eine Maßnahme nach Abs. 1 erlangt worden sind, dürfen sie nicht verwertet werden. Aufzeichnungen hierüber sind unverzüglich zu löschen. Die Tatsachen der Erfassung der Daten und der Löschung sind zu dokumentieren. Die Dokumentation darf ausschließlich für Zwecke der Datenschutzkontrolle verwendet werden. Die Dokumentation ist sechs Monate nach der Mitteilung oder nach Erteilung der gerichtlichen Zustimmung zur Feststellung der endgültigen Nichtmitteilung nach SS 8 Abs. 4 zu löschen. (6) Bei Gefahr im Verzug können die Erkenntnisse, die durch eine Maßnahme nach Abs. 1 erlangt worden sind, unter Aufsicht einer oder eines Bediensteten, die oder der die Befähigung zum Richteramt hat, gesichtet werden. Die oder der Bedienstete entscheidet im Benehmen mit der oder dem Datenschutzbeauftragten des Landesamts über eine vorläufige Verwertung der Erkenntnisse. Die Bediensteten sind zur Verschwiegenheit über die ihnen bekannt gewordenen Erkenntnisse, die nicht verwertet werden dürfen, verpflichtet. Die gerichtliche Entscheidung nach Abs. 5 Satz 4 und 5 ist unverzüglich nachzuholen. SS8 VERFAHREN BEI MASSNAHMEN NACH SS 7 (1) Der Einsatz technischer Mittel nach SS 7 bedarf einer richterlichen Anordnung. Die Anordnung ergeht schriftlich. Bei Gefahr im Verzug kann die Behördenleitung oder ihre Vertretung die Anordnung treffen; eine richterliche Entscheidung ist unverzüglich nachzuholen. Die Anordnung ist auf höchstens einen Monat zu befristen. Verlängerungen um jeweils nicht mehr als einen weiteren Monat sind zulässig, soweit die Voraussetzungen der Anordnung fortbestehen. (2) Das Landesamt prüft unverzüglich und sodann in Abständen von höchstens sechs Monaten, ob die erhobenen personenbezogenen Daten für seine Aufgaben nach SS 2 Abs. 1 und 2 erforderlich sind. Soweit die Daten für diese Zwecke nicht erforderlich sind und nicht für eine Übermittlung an andere Stellen benötigt werden, sind sie unverzüglich unter Aufsicht einer oder eines Bediensteten, die oder der die Befähigung zum Richteramt hat, zu löschen. Die Löschung ist zu protokollieren. Die Protokolldaten dürfen ausschließlich zur Durchführung der Datenschutzkontrolle verwendet werden. Die Protokolldaten sind sechs Monate nach der Mitteilung oder nach Erteilung der gerichtlichen Zustimmung zur Feststellung der endgültigen Nichtmitteilung nach Abs. 4 zu löschen. Die Löschung der Daten unterbleibt, soweit die Daten für eine Mitteilung nach Abs. 4 oder für eine gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Maßnahme von Bedeutung sein können. In diesem Fall sind die Daten in der Verarbeitung einzuschränken; sie dürfen nur zu diesen Zwecken verwendet werden. (3) Die verbleibenden Daten sind zu kennzeichnen. Die Behördenleitung oder ihre Stellvertretung kann anordnen, dass bei der Übermittlung auf die Kennzeichnung verzichtet wird, wenn dies unerlässlich ist, um die Geheimhaltung einer Maßnahme nicht zu gefährden, und das für die Anordnung zuständige Gericht zugestimmt hat. 366 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV Bei Gefahr im Verzug kann die Anordnung bereits vor der Zustimmung getroffen werden. Wird die Zustimmung versagt, ist die Kennzeichnung durch den Übermittlungsempfänger unverzüglich nachzuholen; die übermittelnde Behörde hat ihn hiervon zu unterrichten. Nach einer Übermittlung ist die Kennzeichnung durch den Empfänger aufrechtzuerhalten. (4) Eine Maßnahme nach SS 7 ist der betroffenen Person nach ihrer Einstellung mitzuteilen. Die Mitteilung unterbleibt, solange eine Gefährdung des Zwecks der Beschränkung nicht ausgeschlossen werden kann oder solange der Eintritt übergreifender Nachteile für das Wohl des Bundes oder eines Landes absehbar ist. Erfolgt die nach Satz 2 zurückgestellte Mitteilung nicht binnen zwölf Monaten nach Beendigung der Maßnahme, bedarf die weitere Zurückstellung der Zustimmung des für die Anordnung zuständigen Gerichts. Das Gericht bestimmt die Dauer der weiteren Zurückstellung. Einer Mitteilung bedarf es nicht, wenn das Gericht festgestellt hat, dass 1. eine der Voraussetzungen in Satz 2 auch nach fünf Jahren nach Beendigung der Maßnahme noch vorliegt, 2. sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft vorliegt und 3. die Voraussetzungen für eine Löschung sowohl beim Landesamt als auch beim Empfänger vorliegen. Eine Mitteilung kann auch auf Dauer unterbleiben, wenn überwiegende Interessen einer betroffenen Person entgegenstehen oder wenn die Identität oder der Aufenthaltsort einer betroffenen Person nur mit unverhältnismäßigem Aufwand zu ermitteln ist. Die Mitteilung obliegt dem Landesamt. Wurden personenbezogene Daten übermittelt, erfolgt die Mitteilung im Benehmen mit dem Empfänger. (5) Die aus der Anordnung sich ergebenden Maßnahmen sind unter Verantwortung des Landesamts und unter Aufsicht einer oder eines Bediensteten vorzunehmen, die oder der die Befähigung zum Richteramt hat. Die Maßnahmen sind unverzüglich zu beenden, wenn sie nicht mehr erforderlich sind oder die Voraussetzungen der Anordnung nicht mehr vorliegen. Die Beendigung ist dem für die Anordnung zuständigen Gericht anzuzeigen. (6) Personenbezogene Daten aus Maßnahmen nach SS 7 dürfen nur verwendet werden 1. zur Abwehr einer drohenden Gefahr im Sinne von SS 7 Abs. 1, 2. wenn tatsächliche Anhaltspunkte für die dringende Gefahr der Begehung von besonders schweren Straftaten im Sinne von SS 100b Abs. 2 der Strafprozessordnung vorliegen oder 3. zur Verfolgung von Straftaten, zu deren Aufklärung eine solche Maßnahme nach den entsprechenden Befugnissen der Strafprozessordnung angeordnet werden könnte. Personenbezogene Daten aus Maßnahmen nach SS 7, die durch Herstellung von Bildaufnahmen oder Bildaufzeichnungen erlangt wurden, dürfen nicht zu Strafverfolgungszwecken weiterverarbeitet werden. (7) Dient der Einsatz technischer Mittel nach SS 7 ausschließlich dem Schutz der für den Verfassungsschutz bei einem Einsatz in Wohnungen tätigen Personen, erfolgt die Anordnung abweichend von Abs. 1 durch die Behördenleitung oder ihre Vertretung. Eine anderweitige Verwendung der hierbei erlangten Erkenntnisse ist nur zulässig, wenn zuvor richterlich festgestellt wurde, dass die Maßnahme rechtmäßig ist und die Voraussetzungen des SS 7 Abs. 1 vorliegen; Abs. 1 Satz 3 gilt entsprechend. Im Übrigen sind die Daten unverzüglich zu löschen. (8) Zuständig für die richterlichen Entscheidungen ist das Amtsgericht am Sitz des Landesamts; über Beschwerden entscheidet das in SS 120 Abs. 4 Satz 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes bezeichnete Gericht. Für das Verfahren gelten die Vorschriften des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit vom 17. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2586, 2587), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Juli 2017 (BGBl. I S. 2780), in der jeweils geltenden Fassung entsprechend; die Rechtsbeschwerde ist ausgeschlossen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 367 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV SS9 ORTUNG VON MOBILFUNKENDGERÄTEN (1) Das Landesamt darf technische Mittel zur Ermittlung des Standorts eines aktiv geschalteten Mobilfunkendgeräts oder zur Ermittlung der Geräteoder Kartennummer einsetzen, soweit tatsächliche Anhaltspunkte für eine schwerwiegende Gefahr für die von SS 2 umfassten Schutzgüter vorliegen. (2) SS 3 Abs. 2 Satz 1 und 2 und die SSSS 9 und 10 Abs. 1 bis 3 des Artikel 10-Gesetzes gelten entsprechend. SS10 BESONDERE AUSKUNFTSERSUCHEN (1) Das Landesamt darf im Einzelfall, soweit dies zur Erfüllung seiner Aufgaben nach SS 2 erforderlich ist, bei denjenigen, die geschäftsmäßig Postdienstleistungen erbringen oder Telemedien anbieten oder daran mitwirken, Auskünfte über Daten, die für die Begründung, inhaltliche Ausgestaltung, Änderung oder Beendigung eines Vertragsverhältnisses über Postdienstleistungen oder Telemedien gespeichert worden sind, einholen. (2) Das Landesamt darf im Einzelfall zur Erfüllung seiner Aufgaben nach SS 2, wenn tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vorliegen, bei 1. Verkehrsunternehmen sowie Betreibern von Computerreservierungssystemen und Globalen Distributionssystemen für Flüge zu Namen und Anschriften von Kunden sowie zu Inanspruchnahme und Umständen von Transportleistungen, insbesondere zum Zeitpunkt von Abfertigung und Abflug und zum Buchungsweg, 2. Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten und Finanzunternehmen zu Konten, Konteninhabern und sonstigen Berechtigten sowie weiteren am Zahlungsverkehr Beteiligten und über Geldbewegungen und Geldanlagen, insbesondere über Kontostand und Zahlungseinund -ausgänge, einholen. Im Fall des SS 2 Abs. 2 Nr. 1 gilt dies nur für Bestrebungen, die bezwecken oder aufgrund ihrer Wirkungsweise geeignet sind, 1. zu Hassoder Willkürmaßnahmen gegen Teile der Bevölkerung aufzustacheln oder deren Menschenwürde durch Beschimpfen, böswilliges Verächtlichmachen oder Verleumden anzugreifen und dadurch die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt zu fördern und den öffentlichen Frieden zu stören oder 2. Gewalt anzuwenden oder vorzubereiten, einschließlich des Befürwortens, Hervorrufens oder Unterstützens von Gewaltanwendung, auch durch Unterstützen von Vereinigungen, die Anschläge gegen Personen oder Sachen veranlassen, befürworten oder androhen. (3) Das Landesamt darf im Einzelfall, soweit dies zur Erfüllung seiner Aufgaben nach SS 2 erforderlich ist, von denjenigen, die geschäftsmäßig Telekommunikationsdienste erbringen oder daran mitwirken, Auskünfte über die nach den SSSS 95 und 111 des Telekommunikationsgesetzes vom 22. Juni 2004 (BGBl. I S. 1190), zuletzt geändert durch Gesetz vom 30. Oktober 2017 (BGBl. I S. 3618), in der jeweils geltenden Fassung erhobenen Daten verlangen (SS 113 Abs. 1 Satz 1 des Telekommunikationsgesetzes). Dies gilt auch für Daten, mittels derer der Zugriff auf Endgeräte oder auf Speichereinrichtungen, die in diesen Endgeräten oder hiervon räumlich getrennt eingesetzt werden, geschützt wird (SS 113 Abs. 1 Satz 2 des Telekommunikationsgesetzes). Die Auskunft darf auch anhand einer zu einem bestimmten Zeitpunkt zugewiesenen Internetprotokoll-Adresse verlangt werden (SS 113 Abs. 1 Satz 3 des Telekommunikationsgesetzes). Die Auskunft darf nur verlangt werden, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für das Nutzen der Daten vorliegen. (4) Das Landesamt darf im Einzelfall zur Erfüllung seiner Aufgaben nach SS 2 unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. 1 des Artikel 10-Gesetzes bei Personen und Unternehmen, die geschäftsmäßig 1. Postdienstleistungen erbringen oder daran mitwirken, Auskünfte zu Namen, Anschriften und Postfächern und sonstigen Umständen des Postverkehrs, 2. Telekommunikationsdienste erbringen oder daran mitwirken, Auskünfte zu Verkehrsdaten nach SS 96 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 5 des Telekommunikationsgesetzes 368 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV 3. Telemedien anbieten oder daran mitwirken, Auskünfte über a) Merkmale zur Identifikation des Nutzers von Telemedien, b) Beginn und Ende sowie über den Umfang der jeweiligen Nutzung und c) die vom Nutzer in Anspruch genommenen Telemedien einholen. (5) Auskünfte nach Abs. 3, soweit Daten nach SS 113 Abs. 1 Satz 2 und 3 des Telekommunikationsgesetzes betroffen sind, und Auskünfte nach Abs. 4 dürfen nur auf Anordnung des für den Verfassungsschutz zuständigen Ministeriums eingeholt werden. Die Anordnung ist durch die Behördenleitung schriftlich zu beantragen. Der Antrag ist zu begründen. Das Ministerium unterrichtet unverzüglich die G 10-Kommission nach SS 2 Abs. 1 des Hessischen Ausführungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz über die Anordnung vor deren Vollzug und holt deren Zustimmung ein. Bei Gefahr im Verzug kann das Ministerium den Vollzug der Anordnung auch bereits vor Unterrichtung der G 10-Kommission anordnen. Die G 10-Kommission prüft von Amts wegen oder aufgrund von Beschwerden die Zulässigkeit und Notwendigkeit der Einholung von Auskünften. SS 15 Abs. 5 des Artikel 10-Gesetzes ist entsprechend anzuwenden. Anordnungen, welche die G 10-Kommission für unzulässig erklärt, hat das Ministerium unverzüglich aufzuheben. (6) Bei Maßnahmen nach Abs. 2 bis 4 ist SS 4 des Artikel 10-Gesetzes mit der Maßgabe nach SS 6 Satz 5 und 6 dieses Gesetzes anzuwenden, die SSSS 9, 10, 11 Abs. 1 und 2, SS 12 Abs. 1 und 3, SS 17 Abs. 3 des Artikel 10-Gesetzes sowie SS 2 des Hessischen Ausführungsgesetzes zum Artikel 10-Gesetz sind entsprechend anzuwenden. Abweichend von SS 10 Abs. 3 des Artikel 10-Gesetzes genügt eine räumlich und zeitlich hinreichende Bezeichnung der Telekommunikation, sofern anderenfalls die Erreichung des Zwecks der Maßnahme aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Soweit dem Verpflichteten keine Entschädigung nach besonderen Bestimmungen zusteht, findet SS 20 des Artikel 10-Gesetzes entsprechende Anwendung. Im Übrigen hat der Verpflichtete die Auskunft unentgeltlich zu erteilen. (7) Die zur Erteilung der Auskunft erforderlichen Daten müssen unverzüglich, vollständig und richtig übermittelt werden. Das Auskunftsersuchen und die übermittelten Daten dürfen der betroffenen Person oder Dritten vom Verpflichteten nicht mitgeteilt werden. (8) Auf Auskünfte nach Abs. 4 Nr. 2 sind die Vorgaben des SS 8b Abs. 8 Satz 4 und 5 des Bundesverfassungsschutzgesetzes anzuwenden. Für die Erteilung von Auskünften nach Abs. 1, 2 und 4 Nr. 3 gilt die Nachrichtendienste-Übermittlungsverordnung vom 11. Oktober 2012 (BGBl. I S. 2117), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3346), in der jeweils geltenden Fassung. (9) Dem Verpflichteten ist es verboten, allein aufgrund eines Auskunftsersuchens einseitige Handlungen vorzunehmen, die für die betroffene Person nachteilig sind und die über die Erteilung der Auskunft hinausgehen, insbesondere bestehende Verträge oder Geschäftsverbindungen zu beenden, ihren Umfang zu beschränken oder ein Entgelt zu erheben oder zu erhöhen. Die Anordnung ist mit dem ausdrücklichen Hinweis auf dieses Verbot und darauf zu verbinden, dass das Auskunftsersuchen nicht die Aussage beinhaltet, dass sich die betroffene Person rechtswidrig verhalten hat oder ein darauf gerichteter Verdacht bestehen müsse. SS11 OBSERVATION (1) Das Landesamt darf zur Aufklärung von Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 außerhalb der Schutzbereiche der Art. 10 und 13 des Grundgesetzes Personen verdeckt mit oder ohne Inanspruchnahme technischer Mittel planmäßig observieren, insbesondere das nichtöffentlich gesprochene Wort mithören, abhören und aufzeichnen sowie Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen anfertigen. (2) Die Maßnahme ist im Einzelfall länger als 48 Stunden oder an mehr als drei Tagen innerhalb einer Woche (langfristige Observation) nur zur Aufklärung von Bestrebungen oder Tätigkeiten mit erheblicher Bedeutung zulässig, insbesondere, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 369 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV wenn sie darauf gerichtet sind, Gewalt anzuwenden oder Gewaltanwendung vorzubereiten. (3) Die Maßnahme darf sich nur gegen Personen richten, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass sie 1. an den Bestrebungen oder Tätigkeiten beteiligt sind, oder 2. im Zusammenhang mit einer Person nach Nr. 1 stehen und durch die Maßnahme Erkenntnisse, die nicht gleichermaßen nach Nr. 1 zu gewinnen sind, über die Bestrebungen oder Tätigkeiten gewonnen werden können. Die Maßnahme darf auch durchgeführt werden, wenn andere Personen unvermeidbar betroffen werden. (4) Über die Anordnung einer langfristigen Observation nach Abs. 2 entscheidet die Behördenleitung oder ihre Vertretung. Die Anordnung ergeht schriftlich. Bei Gefahr im Verzug kann die zuständige Abteilungsleitung oder deren Vertretung die Anordnung treffen; die Entscheidung nach Satz 1 ist unverzüglich nachzuholen. Die Anordnung ist auf höchstens drei Monate zu befristen. Verlängerungen um jeweils nicht mehr als drei weitere Monate sind zulässig, soweit die Voraussetzungen der Anordnung fortbestehen. (5) In der Anordnung einer langfristigen Observation nach Abs. 2 sind anzugeben: 1. die Person, gegen die sich die Maßnahme richtet, soweit möglich, mit Name und Anschrift, 2. Art, Umfang und Dauer der Maßnahme sowie 3. die wesentlichen Gründe. (6) Die Maßnahme ist unzulässig, soweit tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass durch sie allein Erkenntnisse gewonnen werden würden 1. aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung oder 2. bei einer Rechtsanwältin, einem Rechtsanwalt, einem Kammerrechtsbeistand, einer der in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 4 der Strafprozessordnung genannten Person oder einer diesen nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung gleichstehenden Person, über die der Berufsgeheimnisträger das Zeugnis verweigern dürfte. Erfolgen Maßnahmen bei einem der im Übrigen in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 3b oder 5 der Strafprozessordnung genannten Berufsgeheimnisträger oder einer diesen nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung gleichstehenden Person, sind das öffentliche Interesse an den von dem Berufsgeheimnisträger wahrgenommenen Aufgaben und das Interesse an der Geheimhaltung der diesem anvertrauten oder bekannt gewordenen Tatsachen besonders zu berücksichtigen. Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 gelten nicht bei Maßnahmen zur Aufklärung von eigenen Bestrebungen oder Tätigkeiten der genannten zeugnisverweigerungsberechtigten Personen. (7) Ergeben sich während der Maßnahme tatsächliche Anhaltspunkte im Sinne von Abs. 6 Satz 1, ist die Maßnahme unverzüglich zu unterbrechen, sobald dies ohne Gefährdung eingesetzter Personen möglich ist. Bestehen insoweit Zweifel, darf nur eine automatische Aufzeichnung fortgesetzt werden. Sind das Abhören und Beobachten nach Satz 1 unterbrochen worden, so darf die Maßnahme fortgeführt werden, wenn keine Anhaltspunkte nach Abs. 6 Satz 1 vorliegen. Automatische Aufzeichnungen nach Satz 2 sind dem Amtsgericht am Sitz des Landesamts unverzüglich vorzulegen. Das Gericht entscheidet unverzüglich über die Verwertbarkeit oder Löschung; SS 8 Abs. 8 Satz 2 gilt entsprechend. Soweit Erkenntnisse im Sinne von Abs. 6 Satz 1 durch die Maßnahme erlangt worden sind, dürfen sie nicht verwertet werden. Aufzeichnungen hierüber sind unverzüglich zu löschen. Die Tatsachen der Erfassung der Daten und der Löschung sind zu dokumentieren. Die Dokumentation darf ausschließlich für Zwecke der Datenschutzkontrolle verwendet werden. Die Dokumentation ist sechs Monate nach der Mitteilung oder nach Zustimmung der Behördenleitung zur endgültigen Nichtmitteilung nach Abs. 9 zu löschen. (8) Bei Gefahr im Verzug können Aufzeichnungen nach Abs. 7 Satz 2 unter Aufsicht einer oder eines Bediensteten, die oder der die Befähigung zum Richteramt hat, gesichtet werden. Die oder der Bedienstete entscheidet im Benehmen mit der oder dem 370 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV Datenschutzbeauftragten des Landesamts über eine vorläufige Verwertung der Erkenntnisse. Die Bediensteten sind zur Verschwiegenheit über die ihnen bekannt gewordenen Erkenntnisse, die nicht verwertet werden dürfen, verpflichtet. Die gerichtliche Entscheidung nach Abs. 7 Satz 4 und 5 ist unverzüglich nachzuholen. (9) Dauert eine langfristige Observation nach Abs. 2 durchgehend länger als eine Woche oder findet sie an mehr als 14 Tagen innerhalb eines Monats statt, ist die Maßnahme der betroffenen Person nach ihrer Einstellung mitzuteilen. Die Mitteilung unterbleibt, solange eine Gefährdung des Zwecks der Beschränkung nicht ausgeschlossen werden kann oder solange der Eintritt übergreifender Nachteile für das Wohl des Bundes oder eines Landes absehbar ist. Erfolgt die nach Satz 2 zurückgestellte Mitteilung nicht binnen zwölf Monaten nach Beendigung der Maßnahme, bedarf die weitere Zurückstellung der Zustimmung der Behördenleitung. Die Behördenleitung bestimmt die Dauer der weiteren Zurückstellung. Einer Mitteilung bedarf es nicht, wenn 1. eine der Voraussetzungen in Satz 2 auch nach fünf Jahren nach Beendigung der Maßnahme noch vorliegt, 2. sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch in Zukunft vorliegt und 3. die Voraussetzungen für eine Löschung vorliegen. Eine Mitteilung kann auch auf Dauer unterbleiben, wenn überwiegende Interessen einer betroffenen Person entgegenstehen oder wenn die Identität oder der Aufenthaltsort einer betroffenen Person nur mit unverhältnismäßigem Aufwand zu ermitteln ist. Die Mitteilung obliegt dem Landesamt. SS12 VERDECKTE MITARBEITERINNEN UND VERDECKTE MITARBEITER (1) Das Landesamt darf eigene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter einer ihnen verliehenen und auf Dauer angelegten Legende (Verdeckte Mitarbeiterinnen und Verdeckte Mitarbeiter) einsetzen. (2) Verdeckte Mitarbeiterinnen und Verdeckte Mitarbeiter dürfen weder zur Gründung von Bestrebungen nach SS 2 Abs. 2 noch zur steuernden Einflussnahme auf derartige Bestrebungen eingesetzt werden. Sie dürfen in Personenzusammenschlüssen oder für diese tätig werden, auch wenn dadurch ein Straftatbestand verwirklicht wird. Im Übrigen dürfen Verdeckte Mitarbeiterinnen und Verdeckte Mitarbeiter im Einsatz bei der Beteiligung an Bestrebungen solche Handlungen vornehmen, die 1. nicht in Individualrechte eingreifen, 2. von den an den Bestrebungen Beteiligten derart erwartet werden, dass sie zur Gewinnung und Sicherung der Informationszugänge unumgänglich sind, und 3. nicht außer Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachverhalts stehen. Sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass eine Verdeckte Mitarbeiterin oder ein Verdeckter Mitarbeiter rechtswidrig einen Straftatbestand von erheblicher Bedeutung verwirklicht hat, wird ihr oder sein Einsatz unverzüglich beendet und die Strafverfolgungsbehörde unterrichtet. Über Ausnahmen von Satz 4 entscheidet die Behördenleitung oder ihre Vertretung. (3) Bei Einsätzen zur Erfüllung der Aufgabe nach SS 2 Abs. 2 Nr. 5 gilt SS 9a Abs. 3 des Bundesverfassungsschutzgesetzes entsprechend. (4) Für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die verdeckt Informationen in sozialen Netzwerken und sonstigen Kommunikationsplattformen im Internet erheben, gelten Abs. 2 und 3 sowie SS 9a Abs. 3 des Bundesverfassungsschutzgesetzes entsprechend, auch wenn sie nicht unter einer auf Dauer angelegten Legende tätig werden. SS13 VERTRAUENSLEUTE (1) Für den Einsatz von Privatpersonen, deren planmäßige, dauerhafte Zusammenarbeit mit dem Landesamt Dritten nicht bekannt ist (Vertrauensleute), gilt SS 12 Abs. 1 bis 3 entsprechend. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 371 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV (2) Über die Verpflichtung von Vertrauensleuten entscheidet die Behördenleitung oder ihre Vertretung. Vertrauensleute müssen nach ihren persönlichen und charakterlichen Voraussetzungen für die Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz geeignet sein. Diese Eignung ist fortlaufend durch das Landesamt zu überprüfen. Als Vertrauensleute dürfen Personen nicht angeworben und eingesetzt werden, die 1. nicht voll geschäftsfähig, insbesondere minderjährig sind, 2. von den Geldoder Sachzuwendungen für die Tätigkeit auf Dauer als alleinige Lebensgrundlage abhängen würden, 3. an einem Aussteigerprogramm teilnehmen, 4. Mitglied des Europäischen Parlaments, des Deutschen Bundestages, eines Landesparlaments oder Mitarbeiterin oder Mitarbeiter eines solchen Mitglieds sind oder 5. im Bundeszentralregister mit einer Verurteilung wegen eines Verbrechens oder zu einer Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist, eingetragen sind. Die Behördenleitung oder ihre Vertretung kann eine Ausnahme von Satz 4 Nr. 5 zulassen, wenn die Verurteilung nicht als Täter eines Totschlags (SSSS 212, 213 des Strafgesetzbuchs) oder einer allein mit lebenslanger Haft bedrohten Straftat erfolgt ist und der Einsatz zur Aufklärung von Bestrebungen unerlässlich ist, die auf die Begehung von in SS 3 Abs. 1 des Artikel 10-Gesetzes oder SS 100b Abs. 2 der Strafprozessordnung bezeichneten Straftaten gerichtet sind. Im Falle einer Ausnahme nach Satz 5 ist der Einsatz nach höchstens sechs Monaten zu beenden, wenn er zur Erforschung der in Satz 5 genannten Bestrebungen nicht zureichend gewichtig beigetragen hat. Auch im Weiteren ist die Qualität der gelieferten Informationen fortlaufend zu bewerten. SS14 SCHRANKEN NACHRICHTENDIENSTLICHER MITTEL (1) Von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen hat das Landesamt diejenige zu treffen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigt. (2) Eine Maßnahme darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht. (3) Eine Maßnahme ist nur zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass er nicht erreicht werden kann. (4) Eine Maßnahme ist unzulässig, soweit tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass durch sie allein Erkenntnisse gewonnen werden würden 1. aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung oder 2. bei einer Rechtsanwältin, einem Rechtsanwalt, einem Kammerrechtsbeistand, einer der in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 4 der Strafprozessordnung genannten Person oder einer diesen nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung gleichstehenden Person, über die der Berufsgeheimnisträger das Zeugnis verweigern dürfte. Erfolgen Maßnahmen bei einem der im Übrigen in SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 bis 3b oder 5 der Strafprozessordnung genannten Berufsgeheimnisträger oder einer diesen nach SS 53a Abs. 1 Satz 1 der Strafprozessordnung gleichstehenden Person, sind das öffentliche Interesse an den von dem Berufsgeheimnisträger wahrgenommenen Aufgaben und das Interesse an der Geheimhaltung der diesem anvertrauten oder bekannt gewordenen Tatsachen besonders zu berücksichtigen. Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 gelten nicht bei Maßnahmen zur Aufklärung von eigenen Bestrebungen oder Tätigkeiten der genannten zeugnisverweigerungsberechtigten Personen. (5) Ergeben sich während einer Maßnahme tatsächliche Anhaltspunkte im Sinne von Abs. 4 Satz 1, ist die Maßnahme unverzüglich zu unterbrechen, sobald dies ohne Gefährdung oder Enttarnung eingesetzter Personen möglich ist. Die Maßnahme darf fortgeführt werden, wenn keine Anhaltspunkte nach Abs. 4 Satz 1 mehr vorliegen. Soweit Erkenntnisse im Sinne von Abs. 4 Satz 1 durch eine Maßnahme erlangt worden sind, dürfen sie nicht verwertet werden. Aufzeichnungen hierüber sind unverzüglich zu löschen. Die Tatsachen der Erfassung der Daten und der Löschung sind zu doku372 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV mentieren. Die Dokumentation darf ausschließlich für Zwecke der Datenschutzkontrolle verwendet werden. Die Dokumentation ist am Ende des Kalenderjahres, das der Protokollierung folgt, zu löschen. DRITTER TEIL Verarbeitung personenbezogener Daten SS15 GELTUNG DATENSCHUTZRECHTLICHER VORSCHRIFTEN Bei der Erfüllung der Aufgaben nach SS 2 durch das Landesamt findet das Hessische Datenschutzund Informationsfreiheitsgesetz vom 3. Mai 2018 (GVBl. S. 82) in der jeweils geltenden Fassung wie folgt Anwendung: 1. SS 1 Abs. 8, die SSSS 4, 14 Abs. 1 und 3, SS 19 sowie der Zweite Teil finden keine Anwendung, 2. die SSSS 41, 46 Abs. 1 bis 4 und die SSSS 47 bis 49, 57, 59, 78 und 79 sind entsprechend anzuwenden. SS16 SPEICHERUNG, BERICHTIGUNG, LÖSCHUNG UND VERARBEITUNGSEINSCHRÄNKUNG (1) Das Landesamt darf zur Erfüllung seiner Aufgaben personenbezogene Daten in Dateien speichern, verändern und nutzen, wenn 1. tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vorliegen, 2. dies für die Erforschung und Bewertung von Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 erforderlich ist oder 3. das Landesamt nach SS 2 Abs. 3 tätig wird. Unterlagen, die nach Satz 1 gespeicherte Angaben belegen, dürfen auch gespeichert werden, wenn in ihnen weitere personenbezogene Daten Dritter enthalten sind. Eine Abfrage von Daten Dritter ist unzulässig. (2) Umfang und Dauer der Speicherung personenbezogener Daten sind auf das für die Aufgabenerfüllung des Landesamts erforderliche Maß zu beschränken. (3) Das Landesamt darf Daten über eine minderjährige Person unter 14 Jahren in Dateien und zu ihrer Person geführten Akten nur speichern, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie eine der in SS 3 Abs. 1 und 1a des Artikel 10-Gesetzes genannten Straftaten plant, begeht oder begangen hat. (4) In Dateien oder zu ihrer Person geführten Akten gespeicherte Daten über eine minderjährige Person sind nach zwei Jahren auf die Erforderlichkeit der Speicherung zu überprüfen und spätestens nach fünf Jahren zu löschen, es sei denn, dass nach Eintritt der Volljährigkeit weitere Erkenntnisse angefallen sind, die eine Fortdauer der Speicherung rechtfertigen. Nicht erforderliche Daten sind zu löschen. (5) Personenbezogene Daten, die erhoben worden sind, um zu prüfen, ob Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 vorliegen, dürfen in Dateien erst gespeichert werden, wenn sich tatsächliche Anhaltspunkte für derartige Bestrebungen oder Tätigkeiten ergeben haben. Bis zu diesem Zeitpunkt dürfen auch keine zur Person geführten Akten angelegt werden. (6) Unrichtige personenbezogene Daten sind zu berichtigen. Wird bei personenbezogenen Daten in Akten festgestellt, dass sie unrichtig sind, oder wird ihre Richtigkeit von der betroffenen Person bestritten, so ist dies zu vermerken oder auf sonstige Weise festzuhalten. (7) Das Landesamt prüft bei der Einzelfallbearbeitung und im Übrigen nach von ihm festgesetzten angemessenen Fristen, spätestens jedoch nach fünf Jahren, ob Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 373 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV gespeicherte personenbezogene Daten zur Aufgabenerfüllung noch erforderlich sind. Gespeicherte personenbezogene Daten über Bestrebungen nach SS 2 Abs. 2 Nr. 1 und 3 bis 5 sind spätestens 15 Jahre nach dem Zeitpunkt der letzten gespeicherten relevanten Information zu löschen, es sei denn, die Behördenleitung trifft im Einzelfall ausnahmsweise eine andere Entscheidung. Enthalten Sachakten oder Akten zu anderen Personen personenbezogene Daten, die nach Satz 2 zu löschen sind, dürfen sie nicht mehr verwendet werden. Soweit Daten automatisiert verarbeitet oder Akten automatisiert erschlossen werden, ist auf den Ablauf der Fristen nach Satz 1 und 2 hinzuweisen. Nicht erforderliche Daten sind zu löschen. (8) Personenbezogene Daten sind nicht zu löschen, sondern nur in der Verarbeitung einzuschränken, wenn 1. Grund zu der Annahme besteht, dass schutzwürdige Belange der betroffenen Person beeinträchtigt würden, 2. die Daten zur Behebung einer bestehenden Beweisnot unerlässlich sind oder 3. die Verwendung der Daten zu wissenschaftlichen Zwecken erforderlich ist. In den Fällen des Satz 1 Nr. 3 sind die Daten zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu anonymisieren. (9) Die Verpflichtung nach SS 8 Abs. 1 und 2 des Hessischen Archivgesetzes vom 26. November 2012 (GVBl. S. 458), geändert durch Gesetz vom 5. Oktober 2017 (GVBl. S. 294), in der jeweils geltenden Fassung bleibt unberührt. (10) Zum Zweck der gegenseitigen Information über den Einsatz von Vertrauenspersonen darf das Landesamt zusammen mit den Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der anderen Länder eine Übersicht als gemeinsame Datei führen. Die Übersicht kann Angaben über wesentliche Eigenschaften der Vertrauenspersonen und deren Einsatzbereiche enthalten. Das Landesamt und das Hessische Landeskriminalamt koordinieren den jeweiligen Einsatz von Vertrauenspersonen; Näheres regeln gemeinsame Richtlinien. SS17 ZWECKBINDUNG (1) Das Landesamt darf personenbezogene Daten nur zum Zweck der Aufgabenerfüllung des Verfassungsschutzes im Sinne des SS 2 übermitteln. Zu anderen Zwecken dürfen personenbezogene Daten nur nach Maßgabe der SSSS 20 bis 23 übermittelt werden. (2) Personenbezogene Daten dürfen auch zur Ausübung von Aufsichtsund Kontrollbefugnissen übermittelt und in dem dafür erforderlichen Umfang verwendet werden. SS18 INFORMATIONSÜBERMITTLUNG DURCH ÖFFENTLICHE STELLEN AN DAS LANDESAMT (1) Die Behörden, Gerichte hinsichtlich der dort geführten Register, sonstigen öffentlichen Stellen des Landes Hessen sowie die Gemeinden, Gemeindeverbände und sonstigen der Aufsicht des Landes Hessen unterstehenden juristischen Personen des öffentlichen Rechts haben dem Landesamt die ihnen bei Erfüllung ihrer Aufgaben bekanntgewordenen Informationen einschließlich personenbezogener Daten auch ohne vorheriges Ersuchen des Landesamts zu übermitteln, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Informationen für die Erfüllung der Aufgaben des Landesamts erforderlich sein können. SS 18 Abs. 1a und 1b des Bundesverfassungsschutzgesetzes bleibt unberührt. Die Übermittlung kann auch durch Einsichtnahme des Landesamts in Akten und Dateien der jeweiligen öffentlichen Stelle erfolgen, soweit die Übermittlung in sonstiger Weise den Zweck der Maßnahme gefährden oder einen übermäßigen Aufwand erfordern würde. Über die Einsichtnahme in amtlich geführte Dateien führt das Landesamt einen Nachweis, aus dem der Zweck und die eingesehene Datei hervorgehen; die Nachweise sind gesondert aufzubewahren, gegen unberechtigten Zugriff zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr 374 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV ihrer Erstellung folgt, zu löschen. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 übermitteln die Staatsanwaltschaften außerdem Anklageschriften und Urteile. (2) Das Landesamt überprüft die übermittelten Informationen nach ihrem Eingang unverzüglich darauf, ob sie für die Erfüllung seiner Aufgaben erforderlich sind. Ergibt die Prüfung, dass die Informationen nicht erforderlich sind, werden sie unverzüglich gelöscht. Die Löschung kann unterbleiben, wenn die Trennung von anderen Informationen, die zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich sind, nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand erfolgen kann; in diesem Fall dürfen die nicht erforderlichen Informationen nicht verwendet werden. (3) Die Übermittlung personenbezogener Daten nach Abs. 1, die aufgrund einer Maßnahme nach SS 100a der Strafprozessordnung bekannt geworden sind, ist nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass jemand eine der in SS 3 Abs. 1 und 1a des Artikel 10-Gesetzes genannten Straftaten plant, begeht oder begangen hat. Auf die dem Landesamt nach Satz 1 übermittelten Kenntnisse und Unterlagen findet SS 4 Abs. 1 und 4 bis 6 des Artikel 10-Gesetzes entsprechende Anwendung. (4) Die in Abs. 1 genannten Stellen sind zur Übermittlung verpflichtet, wenn im Einzelfall ein Ersuchen des Landesamts nach SS 4 Abs. 3 vorliegt. Hält die ersuchte Stelle das Verlangen nach Auskunft oder Einsichtnahme nach SS 4 Abs. 3 nicht für rechtmäßig, so teilt sie dies dem Landesamt mit. 3Besteht dieses auf dem Verlangen nach Auskunft oder Einsichtnahme, so entscheidet die für die ersuchte Stelle zuständige oberste Aufsichtsbehörde, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. SS19 INFORMATIONSÜBERMITTLUNG DURCH DAS LANDESAMT AN ÜBERGEORDNETE BEHÖRDEN (1) Das Landesamt unterrichtet die Ministerien und die Staatskanzlei über Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 oder tatsächliche Anhaltspunkte hierfür, die für deren Zuständigkeitsbereich von Bedeutung sind. Dabei dürfen auch personenbezogene Daten übermittelt werden. (2) Das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium und das Landesamt dürfen personenbezogene Daten zum Zweck der Aufklärung der Öffentlichkeit über Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 2 Abs. 2 oder tatsächliche Anhaltspunkte hierfür öffentlich bekanntgeben, wenn die Bekanntgabe für das Verständnis des Zusammenhangs oder der Darstellung von Organisationen erforderlich ist und das Allgemeininteresse das schutzwürdige Interesse der betroffenen Person überwiegt. SS20 INFORMATIONSÜBERMITTLUNG DURCH DAS LANDESAMT INNERHALB DES ÖFFENTLICHEN BEREICHS (1) Das Landesamt darf Informationen einschließlich personenbezogener Daten, auch wenn sie mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhoben wurden, an inländische öffentliche Stellen übermitteln, wenn der Empfänger die Informationen benötigt 1. zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder sonst für Zwecke der öffentlichen Sicherheit oder der Strafverfolgung, soweit die Übermittlung nicht nach Abs. 2 beschränkt ist, oder 2. zur Erfüllung anderer ihm zugewiesener Aufgaben, sofern er dabei auch zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung beizutragen oder Gesichtspunkte der öffentlichen Sicherheit oder auswärtige Belange zu würdigen hat, insbesondere bei a) der Sicherheitsüberprüfung von Personen, denen im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse anvertraut werden, die Zugang dazu erhalten sollen oder ihn sich verschaffen können, b) der Sicherheitsüberprüfung von Personen, die an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen beschäftigt sind oder beschäftigt werden sollen, Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 375 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV c) der Überprüfung der Verfassungstreue von Personen, die sich um Einstellung in den öffentlichen Dienst bewerben, mit deren Einwilligung, d) der sicherheitsbehördlichen Überprüfung von Einbürgerungsbewerberinnen und Einbürgerungsbewerbern, e) der sicherheitsbehördlichen Überprüfung von Ausländerinnen und Ausländern im Rahmen der Bestimmungen des Ausländerrechts, f ) der Überprüfung der Zuverlässigkeit von Personen nach dem Luftsicherheits-, Atom-, Waffen-, Jagdund Sprengstoffrecht, g) der Überprüfung der Zuverlässigkeit von Personen nach den bewachungsund gewerberechtlichen Vorschriften, insbesondere aa) der Zulassung von Personen für den zugangsgeschützten Sicherheitsbereich von Veranstaltungen, bb) von an der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge und ihren Außenstellen beschäftigtem Sicherheitspersonal, cc) von an kommunalen Flüchtlingsunterkünften eingesetztem Wachpersonal, h) der Überprüfung der Zuverlässigkeit von an der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge und ihren Außenstellen beschäftigten Dolmetscherinnen und Dolmetschern, i) der anlassbezogenen Überprüfung der Zuverlässigkeit von Personen und Organisationen, mit denen die Landesregierung zusammenarbeitet aa) in begründeten Einzelfällen, bb) anlässlich der erstmaligen Förderung von Organisationen mit Landesmitteln, sofern diese in Arbeitsbereichen zur Bekämpfung von verfassungsfeindlichen Bestrebungen tätig werden sollen, mit deren Einwilligung und der Möglichkeit zur Stellungnahme, j) der Zuverlässigkeitsüberprüfung von anstaltsfremden Personen nach den hessischen Vollzugsgesetzen, soweit im Einzelfall erforderlich, k) Ordensverfahren zur Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland - mit Ausnahme der Verdienstmedaille - und des Hessischen Verdienstordens, l) sonstigen Zuverlässigkeitsüberprüfungen und Überprüfungen von Personen, soweit dies gesetzlich vorgesehen ist, m) im besonderen öffentlichen Interesse liegenden sonstigen Überprüfungen von Personen mit deren Einwilligung. (2) Informationen, die mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhoben wurden, dürfen an die Staatsanwaltschaften, die Finanzbehörden nach SS 386 Abs. 1 der Abgabenordnung, die Polizeien, die mit der Steuerfahndung betrauten Dienststellen der Landesfinanzbehörden, die Behörden des Zollfahndungsdienstes sowie andere Zolldienststellen, soweit diese Aufgaben nach dem Gesetz über die Bundespolizei vom 19. Oktober 1994 (BGBl. I S. 2978, 2979), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. Mai 2017 (BGBl. I S. 1066) wahrnehmen, nur übermittelt werden 1. zur Abwehr einer im Einzelfall bestehenden Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben, Gesundheit oder Freiheit einer Person oder für solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Bundes oder eines Landes oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt, 2. wenn tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, dass der Empfänger die Informationen zur Verhinderung, sonstigen Verhütung oder Verfolgung von Straftaten von erheblicher Bedeutung benötigt oder 3. wenn der Empfänger die Informationen auch mit eigenen Befugnissen in gleicher Weise hätte erheben können. Unter Straftaten von erheblicher Bedeutung nach Satz 1 Nr. 2 fallen Verbrechen im Sinne des SS 12 Abs. 1 des Strafgesetzbuchs und schwerwiegende Vergehen im Sinne des SS 12 Abs. 2 des Strafgesetzbuchs, wenn die Straftat im Einzelfall mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, sie den Rechtsfrieden empfindlich stört und dazu geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigten. Unter den Voraussetzungen des SS 20 Abs. 1 Satz 1 und 2 sowie Abs. 2 Satz 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes ist das Landesamt zur Übermittlung verpflichtet. 376 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV (3) Soweit Informationen übermittelt werden, die mit Maßnahmen nach SS 7 gewonnen wurden, gilt SS 8 Abs. 1 entsprechend. Der Empfänger darf die Informationen nur zu dem Zweck verwenden, zu dem sie ihm übermittelt worden sind. Der Empfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung hinzuweisen. (4) Zur Übermittlung nach den Abs. 1 und 2 ist auch das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium befugt; Abs. 3 gilt entsprechend. SS21 INFORMATIONSÜBERMITTLUNG DURCH DAS LANDESAMT AN STATIONIERUNGSSTREITKRÄFTE UND AN AUSLÄNDISCHE ÖFFENTLICHE STELLEN (1) Das Landesamt darf Informationen einschließlich personenbezogener Daten, auch wenn sie mit nachrichtendienstlichen Mitteln erhoben wurden, an Dienststellen der Stationierungsstreitkräfte übermitteln, soweit die Bundesrepublik Deutschland dazu im Rahmen des Art. 3 des Zusatzabkommens zu dem Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrages über die Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten ausländischen Truppen vom 3. August 1959 (BGBl. 1961 II S. 1183, 1218) in der jeweils geltenden Fassung verpflichtet ist. (2) Das Landesamt darf Informationen im Sinne des Abs. 1 auch übermitteln an ausländische öffentliche Stellen sowie an überund zwischenstaatliche Stellen, wenn die Übermittlung zur Wahrung erheblicher Sicherheitsinteressen des Empfängers erforderlich ist, es sei denn, auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland stehen der Übermittlung entgegen. (3) Die Übermittlung hat zu unterbleiben, wenn im Einzelfall ein datenschutzrechtlich angemessener und die elementaren Menschenrechte wahrender Umgang mit den Daten beim Empfänger nicht hinreichend gesichert ist. (4) Soweit Informationen übermittelt werden, die mit Maßnahmen nach SS 7 gewonnen wurden, gilt SS 8 Abs. 1 entsprechend. Der Empfänger darf die Informationen nur zu dem Zweck verwenden, zu dem sie ihm übermittelt worden sind. Der Empfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung und darauf hinzuweisen, dass das Landesamt sich vorbehält, Auskunft über die Verwendung der Daten zu verlangen. (5) Zur Übermittlung nach Abs. 1 und 2 ist auch das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium befugt; Abs. 3 und 4 gelten entsprechend. SS22 INFORMATIONSÜBERMITTLUNG DURCH DAS LANDESAMT AN STELLEN AUSSERHALB DES ÖFFENT LICHEN BEREICHS (1) Das Landesamt darf personenbezogene Daten an Personen oder Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs nicht übermitteln, es sei denn, dass dies zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes oder der Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder zur Gewährleistung der Sicherheit von lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen nach SS 20 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b erforderlich ist und das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium im Einzelfall seine Zustimmung erteilt hat. Das Landesamt führt über die Auskunft nach Satz 1 einen Nachweis, aus dem der Zweck der Übermittlung, die Fundstelle und der Empfänger hervorgehen; die Nachweise sind gesondert aufzubewahren, gegen unberechtigten Zugriff zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr seiner Erstellung folgt, zu vernichten. Der Empfänger darf die übermittelten personenbezogenen Daten nur für den Zweck verwenden, zu dem sie ihm übermittelt wurden. Der Empfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung und darauf hinzuweisen, dass das Landesamt sich vorbehält, Auskunft über die Verwendung der Daten zu verlangen. Satz 1 bis 4 finden keine Anwendung, wenn personenbezogene Daten zum Zwecke von Datenerhebungen nach SS 4 übermittelt werden. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 377 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV (2) Soweit Informationen übermittelt werden, die mit Maßnahmen nach SS 7 gewonnen wurden, gilt SS 8 Abs. 1 entsprechend. Der Empfänger darf die Informationen nur zu dem Zweck verwenden, zu dem sie ihm übermittelt worden sind. Der Empfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung und darauf hinzuweisen, dass das Landesamt sich vorbehält, Auskunft über die Verwendung der Daten zu verlangen. (3) Zur Übermittlung nach Abs. 1 ist auch das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium befugt; Abs. 2 gilt entsprechend. SS23 ÜBERMITTLUNGSVERBOTE (1) Die Übermittlung von Informationen nach diesem Teil unterbleibt, wenn 1. erkennbar ist, dass unter Berücksichtigung der Art der Informationen und ihrer Erhebung die schutzwürdigen Interessen der betroffenen Person das Interesse der Allgemeinheit oder des Empfängers an der Übermittlung überwiegen, 2. überwiegende Sicherheitsinteressen, insbesondere Gründe des Quellenschutzes oder des Schutzes operativer Maßnahmen, dies erfordern oder 3. besondere gesetzliche Regelungen entgegenstehen; die Verpflichtung zur Wahrung gesetzlicher Geheimhaltungspflichten oder von Berufsoder besonderen Amtsgeheimnissen, die nicht auf gesetzlichen Vorschriften beruhen, bleibt unberührt. (2) Ein Überwiegen im Sinne von Abs. 1 Nr. 1 und 2 liegt nicht vor, soweit die Übermittlung von Informationen erforderlich ist zur 1. Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Bundes oder eines Landes oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt, oder 2. Verfolgung einer besonders schweren Straftat im Sinne von SS 100b Abs. 2 der Strafprozessordnung, es sei denn, dass durch die Übermittlung eine unmittelbare Gefährdung von Leib oder Leben einer Person zu besorgen ist und diese Gefährdung nicht abgewendet werden kann. Die Entscheidung trifft in den Fällen von Satz 1 die Behördenleitung oder ihre Vertretung, die unverzüglich das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium unterrichtet. Das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium unterrichtet die Parlamentarische Kontrollkommission. SS24 MINDERJÄHRIGENSCHUTZ (1) Personenbezogene Daten minderjähriger Personen dürfen nach den Vorschriften dieses Gesetzes übermittelt werden, solange die Voraussetzungen ihrer Speicherung nach SS 16 Abs. 3 erfüllt sind. Liegen diese Voraussetzungen nicht mehr vor, bleibt eine Übermittlung nur zulässig, wenn sie zur Abwehr einer erheblichen Gefahr oder zur Verfolgung einer der in SS 100a der Strafprozessordnung genannten Straftaten erforderlich ist. (2) Personenbezogene Daten minderjähriger Personen dürfen nach den Vorschriften dieses Gesetzes nicht an ausländische oder überoder zwischenstaatliche Stellen übermittelt werden. SS25 NACHBERICHTSPFLICHT Erweisen sich personenbezogene Daten nach ihrer Übermittlung nach den Vorschriften dieses Gesetzes als unvollständig oder unrichtig, sind sie unverzüglich gegenüber dem Empfänger zu berichtigen, wenn dies zu einer anderen Bewertung der Daten führen könnte oder zur Wahrung schutzwürdiger Interessen der betroffenen Person erforderlich ist. 378 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV SS26 AUSKUNFT (1) Das Landesamt erteilt der betroffenen Person über zu ihrer oder seiner Person gespeicherte Daten auf Antrag unentgeltlich Auskunft, soweit die betroffene Person hierzu auf einen konkreten Sachverhalt hinweist und ein besonderes Interesse an einer Auskunft darlegt. Legt die betroffene Person nach Aufforderung ein besonderes Interesse nicht dar, entscheidet das Landesamt nach pflichtgemäßem Ermessen. Die Auskunft erstreckt sich nicht auf 1. die Herkunft der Daten und die Empfänger von Übermittlungen und 2. Daten, die nicht strukturiert in automatisierten Dateien gespeichert sind, es sei denn, die betroffene Person macht Angaben, die das Auffinden der Daten ermöglichen, und der für die Erteilung der Auskunft erforderliche Aufwand steht nicht außer Verhältnis zu dem von der betroffenen Person dargelegten Auskunftsinteresse. Das Landesamt bestimmt das Verfahren, insbesondere die Form der Auskunftserteilung, nach pflichtgemäßem Ermessen. (2) Die Auskunftserteilung unterbleibt, soweit durch sie 1. eine Gefährdung der Erfüllung der Aufgaben zu besorgen ist, 2. Nachrichtenzugänge gefährdet sein können oder die Ausforschung des Erkenntnisstandes oder der Arbeitsweise des Landesamts zu befürchten ist, 3. die öffentliche Sicherheit gefährdet oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines Landes ein Nachteil bereitet würde oder 4. Daten oder die Tatsache ihrer Speicherung preisgegeben werden, die nach einer Rechtsvorschrift oder ihrem Wesen nach, insbesondere wegen der überwiegenden berechtigten Interessen eines Dritten, geheim gehalten werden müssen. Die Entscheidung trifft die Behördenleitung oder eine von ihr besonders beauftragte Mitarbeiterin oder ein von ihr besonders beauftragter Mitarbeiter. (3) Die Ablehnung der Auskunftserteilung bedarf keiner Begründung. Sie enthält einen Hinweis auf die Rechtsgrundlage für das Fehlen der Begründung und darauf, dass sich die betroffene Person an die Hessische Datenschutzbeauftragte oder den Hessischen Datenschutzbeauftragten wenden kann. Mitteilungen der oder des Hessischen Datenschutzbeauftragten an die betroffene Person dürfen ohne Zustimmung des Landesamts keine Rückschlüsse auf den Kenntnisstand des Landesamts zulassen. SS27 DATEIANORDNUNGEN (1) Für den erstmaligen Einsatz einer automatisierten Datei nach SS 16 trifft das Landesamt in einer Dateianordnung, die der Zustimmung des für den Verfassungsschutz zuständigen Ministeriums bedarf, die in SS 14 Abs. 1 Satz 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes genannten Festlegungen. Die oder der Hessische Datenschutzbeauftragte ist vor Erlass einer Dateianordnung anzuhören. Das Gleiche gilt für wesentliche Änderungen von Dateianordnungen. Das Landesamt führt ein Verzeichnis der geltenden Dateianordnungen. (2) Das Landesamt hat in angemessenen Abständen die Notwendigkeit der Weiterführung oder Änderung der Dateien zu überprüfen. (3) Ist im Hinblick auf die Dringlichkeit der Aufgabenerfüllung die vorherige Mitwirkung der in Abs. 1 genannten Stellen nicht möglich, so kann das Landesamt eine Sofortanordnung treffen. Das Verfahren nach Abs. 1 ist unverzüglich nachzuholen. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 379 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV VIERTER TEIL Schlussvorschriften SS28 EINSCHRÄNKUNG VON GRUNDRECHTEN Aufgrund dieses Gesetzes können die Grundrechte auf Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 des Grundgesetzes, Art. 14 Abs. 1 der Verfassung des Landes Hessen), Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs. 1 des Grundgesetzes, Art. 12 der Verfassung des Landes Hessen) und Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 des Grundgesetzes, Art. 8 der Verfassung des Landes Hessen) eingeschränkt werden. SS29 AUFHEBUNG BISHERIGEN RECHTS Das Gesetz über das Landesamt für Verfassungsschutz vom 19. Dezember 1990 (GVBl. I S. 753)2), zuletzt geändert durch Gesetz vom 3. Mai 2018 (GVBl. S. 82), wird mit Ausnahme der SSSS 20 bis 22 aufgehoben; die SSSS 20 bis 22 werden mit Ablauf des 17. Januar 2019 aufgehoben. SS30 INKRAFTTRETEN Dieses Gesetz tritt am Tag nach der Verkündung in Kraft. Artikel 2) Gesetz zur parlamentarischen Kontrolle des Verfassungsschutzes in Hessen (Verfassungsschutzkontrollgesetz) SS1 PARLAMENTARISCHE KONTROLLE (1) Die Landesregierung unterliegt hinsichtlich der Tätigkeit des Landesamts für Verfassungsschutz der parlamentarischen Kontrolle. Sie wird von der Parlamentarischen Kontrollkommission ausgeübt. (2) Der Landtag wählt zu Beginn jeder Wahlperiode die Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission aus seiner Mitte. (3) Er bestimmt die Zahl der Mitglieder, die Zusammensetzung und die Arbeitsweise der Parlamentarischen Kontrollkommission. (4) Gewählt ist, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Landtags auf sich vereint. (5) Scheidet ein Mitglied aus dem Landtag oder seiner Fraktion aus oder wird es Mitglied der Landesregierung, so verliert es seine Mitgliedschaft in der Parlamentarischen Kontrollkommission. Für dieses Mitglied ist unverzüglich ein neues Mitglied zu wählen; das Gleiche gilt, wenn ein Mitglied aus der Parlamentarischen Kontrollkommission ausscheidet. (6) Die Parlamentarische Kontrollkommission wählt eine Vorsitzende oder einen Vorsitzenden aus ihrer Mitte und gibt sich eine Geschäftsordnung. Sie oder er wird durch eine bei der Präsidentin oder dem Präsidenten des Landtags eingerichtete Geschäftsstelle unterstützt. (7) Im Übrigen bleiben die Rechte des Landtags unberührt. 380 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV SS2 GEHEIMHALTUNG, PROTOKOLLIERUNG, VERWENDUNG VON MOBILEN GERÄTEN (1) Die Beratungen der Parlamentarischen Kontrollkommission sind geheim; das Sicherstellen der Geheimhaltung obliegt jedem Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkommission. Hierauf weist die oder der Vorsitzende vor Beginn jeder Sitzung hin. Die Mitglieder sind zur Geheimhaltung der Angelegenheiten verpflichtet, die ihnen bei ihrer Tätigkeit in der Parlamentarischen Kontrollkommission bekannt geworden sind. Dies gilt auch für die Zeit nach ihrem Ausscheiden. (2) Die Sitzungen werden durch die Kanzlei des Landtags protokolliert. Zum Zwecke der Protokollierung werden die Sitzungen aufgezeichnet. Die Aufzeichnung ist spätestens zwei Wochen nach Fertigstellung des Protokolls zu löschen. Die Vorschriften der Verschlusssachenanweisung bleiben unberührt. Die oder der Vorsitzende leitet das Protokoll nach Fertigstellung der von der Präsidentin oder dem Präsidenten des Landtags bestimmten Stelle zur Registrierung und Verwaltung zu. Je eine Ausfertigung des Protokolls wird beim Landesamt für Verfassungsschutz sowie bei der Präsidentin oder dem Präsidenten des Landtags als Verschlusssache archiviert. (3) Den Mitgliedern ist gestattet, sich für die Beratungen während der Sitzungen handschriftliche Notizen anzufertigen. Aus Gründen des Geheimschutzes stellt die oder der Vorsitzende im Anschluss an jede Sitzung die Einziehung und Vernichtung der handschriftlichen Notizen mit Sitzungsbezug sicher, soweit von der Erstellerin oder dem Ersteller der Notizen eine Verwahrung durch die Landtagsverwaltung nicht gewünscht wird. Wird Verwahrung gewünscht, übergibt das Mitglied der oder dem Vorsitzenden die Unterlagen in einem verschlossenen Umschlag. Die von der Präsidentin oder dem Präsidenten des Landtags bestimmte Stelle zur Registrierung und Verwaltung von Verschlusssachen verwahrt die handschriftlichen Notizen mit dem Protokoll der Sitzung. Jedem Mitglied ist auf Verlangen Einsicht in seine Notizen zu gewähren. (4) Der Gebrauch von Mobiltelefonen, tragbaren elektronischen Datenverarbeitungsgeräten oder sonstigen Geräten zur Aufzeichnung von Bildund Tondaten während der Sitzung ist nicht gestattet. Die oder der Vorsitzende stellt vor Beginn der Sitzung sicher, dass keine der in Satz 1 genannten Geräte eingesetzt werden können. SS3 PFLICHT DER LANDESREGIERUNG ZUR UNTERRICHTUNG (1) Das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium unterrichtet die Parlamentarische Kontrollkommission umfassend über die allgemeine Tätigkeit des Landesamts für Verfassungsschutz und über Vorgänge von besonderer Bedeutung, insbesondere über wesentliche Änderungen im Lagebild der inneren Sicherheit, behördeninterne Vorgänge mit erheblichen Auswirkungen auf die Aufgabenerfüllung und Einzelvorkommnisse, die Gegenstand politischer Diskussionen oder öffentlicher Berichterstattung sind. Das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium berichtet zu einem konkreten ema aus dem Aufgabenbereich des Landesamts für Verfassungsschutz, sofern die Parlamentarische Kontrollkommission dies wünscht. (2) Zeit, Art und Umfang der Unterrichtung der Parlamentarischen Kontrollkommission werden unter Beachtung des notwendigen Schutzes der Quellen durch die politische Verantwortung der Landesregierung bestimmt. (3) Das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium unterrichtet die Parlamentarische Kontrollkommission 1. im Abstand von höchstens sechs Monaten über Auskunftsersuchen nach SS 10 des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes vom 25. Juni 2018 (GVBl. S. 302), insbesondere durch einen Überblick über Anlass, Umfang, Dauer, Ergebnis und Kosten der im Berichtszeitraum durchgeführten Maßnahmen, 2. in jährlichem Abstand durch einen Lagebericht zu a) Maßnahmen nach den SSSS 7, 9 und 11 des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes und Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 381 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV b) dem Einsatz von Verdeckten Mitarbeiterinnen und Verdeckten Mitarbeitern sowie Vertrauensleuten nach den SSSS 12 und 13 des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes, 3. über die Dienstvorschrift des Landesamts für Verfassungsschutz für die Zusammenarbeit mit und insbesondere die Führung von Verdeckten Mitarbeiterinnen und Verdeckten Mitarbeitern sowie Vertrauensleuten nach den SSSS 12 und 13 des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes. (4) Das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium erstattet dem Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundes im Abstand von höchstens sechs Monaten einen Bericht nach SS 8b Abs. 10 Satz 1 des Bundesverfassungsschutzgesetzes vom 20. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2954, 2970), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. Juni 2017 (BGBl. I S. 1634), über die Durchführung von Maßnahmen nach SS 10 Abs. 4 Nr. 2 und 3 des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes; dabei ist insbesondere ein Überblick über Anlass, Umfang, Dauer, Ergebnis und Kosten der im Berichtszeitraum durchgeführten Maßnahmen zu geben. (5) Das für den Verfassungsschutz zuständige Ministerium unterrichtet die Parlamentarische Kontrollkommission über den Vollzug des Wirtschaftsplans im Haushaltsjahr. SS4 BEFUGNISSE DER PARLAMENTARISCHEN KONTROLLKOMMISSION (1) Jedes Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkommission kann die Einberufung einer Sitzung und die Unterrichtung der Parlamentarischen Kontrollkommission verlangen. Diese hat Anspruch auf entsprechende Unterrichtung durch die Landesregierung. (2) Jedem Mitglied der Parlamentarischen Kontrollkommission ist Akteneinsicht zu gewähren. Die Akteneinsicht erstreckt sich auch auf vom Landesamt für Verfassungsschutz amtlich verwahrte Schriftstücke sowie die Einsicht in Daten des Landesamts für Verfassungsschutz. Soweit im Rahmen der Akteneinsicht erforderlich, ist den Mitgliedern der Parlamentarischen Kontrollkommission Zutritt zu den Dienststellen des Landesamts für Verfassungsschutz zu gewähren. (3) Die Parlamentarische Kontrollkommission kann im Einzelfall zur Wahrnehmung ihrer Kontrollaufgaben mit der Mehrheit von zwei Dritteln ihrer Mitglieder nach Anhörung der Landesregierung beschließen, eine sachverständige Person mit der Durchführung von Untersuchungen zu beauftragen. Die sachverständige Person hat der Parlamentarischen Kontrollkommission über das Ergebnis der Untersuchungen zu berichten. Die Landesregierung ist der sachverständigen Person gegenüber in gleicher Weise zur Auskunft und Mitwirkung verpflichtet wie der Parlamentarischen Kontrollkommission. Insbesondere ist der sachverständigen Person auf Verlangen Akteneinsicht zu gewähren. SS 2 Abs. 1 Satz 3 und 4 gilt entsprechend für die sachverständige Person. (4) Die Parlamentarische Kontrollkommission kann der oder dem Hessischen Datenschutzbeauftragten Gelegenheit zur Stellungnahme in Fragen des Datenschutzes geben. (5) Der Haushaltsplan des Landesamts für Verfassungsschutz wird der Parlamentarischen Kontrollkommission zur Mitberatung überwiesen. SS5 UNTERSTÜTZUNG DER MITGLIEDER DER PARLAMENTARISCHEN KONTROLLKOMMISSION (1) Die Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission haben das Recht, zur Unterstützung ihrer Arbeit je eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter ihrer Fraktion nach Anhörung der Landesregierung mit Zustimmung der Parlamentarischen Kontrollkommission zu benennen. Voraussetzung für diese Tätigkeit sind die Ermächtigung zum Umgang mit Verschlusssachen und die förmliche Verpflichtung zur Geheimhaltung. 382 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 GESETZ ZUR NEUAUSRICHTUNG DES LFV (2) Die benannten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind befugt, die Beratungsgegenstände der Parlamentarischen Kontrollkommission mit den Mitgliedern der Parlamentarischen Kontrollkommission zu erörtern. Sie haben grundsätzlich keinen Zutritt zu den Sitzungen der Parlamentarischen Kontrollkommission. Die Parlamentarische Kontrollkommission kann im Einzelfall mit der Mehrheit von zwei Dritteln ihrer Mitglieder beschließen, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fraktionen an bestimmten Sitzungen teilnehmen können. (3) Die Mitglieder der Parlamentarischen Kontrollkommission haben auch das Recht, die Beratungsgegenstände der Parlamentarischen Kontrollkommission mit der Parlamentarischen Geschäftsführerin oder dem Parlamentarischen Geschäftsführer ihrer Fraktion zu erörtern. Für diese gilt SS 2 Abs. 1 entsprechend. SS6 BERICHTERSTATTUNG Die Parlamentarische Kontrollkommission erstattet dem Landtag mindestens in der Mitte und am Ende jeder Wahlperiode einen Bericht über ihre Kontrolltätigkeit. Dabei nimmt sie insbesondere dazu Stellung, ob die Landesregierung ihrer Unterrichtungspflicht zu Vorgängen von besonderer Bedeutung nachgekommen ist. Die Parlamentarische Kontrollkommission erstattet dem Landtag jährlich einen Bericht über die Durchführung sowie Art, Umfang und Anordnungsgründe der Auskunftsersuchen und Maßnahmen nach den SSSS 7, 9, 10 und 11 Abs. 2 des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes; dabei sind die Grundsätze des SS 2 Abs. 1 zu beachten. SS7 INKRAFTTRETEN Dieses Gesetz tritt am 18. Januar 2019 in Kraft. Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 - 383 IMPRESSUM Herausgeber Hessisches Ministerium des Innern und für Sport Friedrich-Ebert-Allee 12 65185 Wiesbaden Redaktionsschluss: August 2020 Gestaltungskonzept & artwork Nina Faber de.sign, Wiesbaden Bildnachweise S. 5: (c) HMdIS | S. 9 +13: (c) Landesamt für Verfassungsschutz Hessen, Wiesbaden | S. 37: (c) picture alliance/Arne Dedert, (c) picture alliance/Andreas Arnold, (c) picture alliance/Markus Scholz, (c) picture alliance/Arne Dedert, (c) picture alliance/ Andrea DiCenzo, (c) picture alliance/Boris Roessler | S. 59: (c) picture alliance/Markus Scholz | S. 125: (c) picture alliance/ Patrick Seeger | S. 132: Renate007 (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stolpersteine_Benni,_Mary_und_Rosi_Ehrenreich_sowie_Leon_Golomb,_Neugasse_3_(Wiesbaden).jpg), https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode | S. 171: (c) picture alliance/Arne Dedert | S. 209: (c) picture alliance/Andrea DiCenzo, (c) picture alliance/Boris Roessler | S. 262: (c) picture alliance/Andreas Arnold | S. 289: (c) picture alliance/Boris Roessler | S. 293: (c) picture alliance/Ulrich Baumgarten | S. 299: (c) picture alliance/Matthias Balk | S. 308: (c) picture alliance/Thoralf Plath, (c) picture alliance/Jochen Zick, (c) picture alliance/Andreas Arnold, (c) picture alliance/Julian Stratenschulte kontakt Landesamt für Verfassungsschutz Hessen Konrad-Adenauer-Ring 49 65187 Wiesbaden Tel.: 0611-7200 Fax: 0611-720179 Internet: www.verfassungsschutz.hessen.de druck AC Medienhaus GmbH, Wiesbaden Diese Druckschrift wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der Hessischen Landesregierung herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlwerbern oder Wahlhelfern während eines Wahlkampfes zum Zweck der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für Landtags-, Bundestagsund Kommunalwahlen sowie Wahlen zum Europaparlament. Missbräuchlich ist insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen, an Informationsständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken oder Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist gleichfalls die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Auch ohne zeitlichen Bezug zu einer bevorstehenden Wahl darf die Druckschrift nicht in einer Weise verwendet werden, die als Parteinahme der Landesregierung zugunsten einzelner Gruppen verstanden werden könnte. Die genannten Beschränkungen gelten unabhängig davon, wann, auf welche Weise und in welcher Anzahl diese Druckschrift dem Empfänger zugegangen ist. Den Parteien ist es jedoch gestattet, die Druckschrift zur Unterrichtung ihrer einzelnen Mitglieder zu verwenden. 384 - Hessischer Verfassungsschutzbericht 2019 Hessisches Ministerium des Innern und für Sport Friedrich-Ebert-Allee 12 65185 Wiesbaden www.hessen.de