Freie Hansestadt Bremen Verfassungsschutzbericht Bremen 2023 Der Senator für Inneres und Sport VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2023 3 e, Fragen oder Hinweis Sie uns gerne an, sprechen office@lfv.bremen.de Verfassungsschutzbericht Bremen 2023 4 VORWORT Vorwort Die Angriffe auf unsere Demokratie, einerseits durch Extremistinnen und Extremisten, andererseits aber auch zunehmend durch ausländische, staatliche Stellen, haben im Jahr 2023 ein erschreckend hohes Niveau erreicht. So wurde aus allen Richtungen gezielt gesellschaftliches Konfliktund Krisenpotenzial aufgegriffen oder bürgerliche Proteste vereinnahmt. Dies geschah sowohl realweltlich als auch digital. Dabei sollen größere Teile der Gesellschaft von verfassungsfeindlichen Weltanschauungen überzeugt und das Vertrauen in die Integrität des demokratischen Systems erschüttert werden. In Zeiten, in denen die Akteure der "Neuen Rechten" ihre Fantasien über die "Remigration" ganzer Bevölkerungsteile öffentlich diskutieren, demokratische Entscheidungsprozesse durch vielfältige Verschwörungsideologien delegitimiert und staatliche Repräsentantinnen und Repräsentanten zunehmend diffamiert und sogar tätlich angegriffen werden, offenbart sich umso mehr die Notwendigkeit der Verteidigung unserer Demokratie und der pluralistischen Gesellschaft. Das Landesamt für Verfassungsschutz steht vor immer neuen Herausforderungen: Sei es der Anschlag der Terrororganisation "HAMAS" am 7. Oktober 2023 auf den Staat Israel mit seinen Auswirkungen, wie etwa einer gestiegenen Anschlagsgefahr durch Angehörige islamistischer Terrorgruppierungen, oder Rekrutierungsbemühungen des sog. "ISPK" aus Afghanistan , aber auch Spionageund Cyberaktivitäten sowie gezielte Desinformationskampagnen anderer Staaten belegen die Vielfältigkeit der aktuellen Bedrohungen. Besonders hervorzuheben für das Jahr 2023 ist die bundesweite und auf alle Phänomenbereiche zuzurechnende Zunahme antisemitischer Straftaten. Der Antisemitismus erstarkt in einem besorgniserregenden Ausmaß. So konnten in verschiedenen Zusammenhängen wiederholt antisemitische und verschwörungsideologische Äußerungen sowie phänomenübergreifende Solidarisierungstendenzen auf der Grundlage einer übereinstimmenden antisemitischen Weltanschauung festgestellt werden. Vor diesem Hintergrund ist es nicht zuletzt an dieser Stelle geboten, die klare Botschaft zu unterstreichen, dass Antisemitismus in Bremen keinen Platz hat - unabhängig davon, von welchem extremistischen Lager er ausgeht. VORWORT 5 Es braucht dringender denn je einen starken und wachsamen Verfassungsschutz, der undemokratische Entwicklungen aufzeigt und analysiert, damit Politik und Zivilgesellschaft handeln können. Der vorliegende Verfassungsschutzbericht bietet wieder eine umfassende Analyse der aktuellen Trends und Tendenzen im Bereich des Extremismus sowie der damit verbundenen Risiken für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung. Damit soll er dazu beitragen, das Bewusstsein für die Herausforderungen, vor denen wir stehen, zu schärfen und uns alle dazu ermutigen, gemeinsam für eine offene, tolerante und demokratische Gesellschaft einzutreten. Es ist mir ein persönliches Anliegen, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verfassungsschutzes Bremen für ihre unermüdliche Arbeit und ihren Einsatz im Dienst der Sicherheit und Stabilität unseres Landes zu danken. Ihr Engagement und ihre Professionalität sind unverzichtbar für den Schutz unserer demokratischen Werte sowie unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung. Gerade in Zeiten wie diesen sind sie wesentlicher Bestandteil dessen, was die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes als "Wehrhaftigkeit der Demokratie" beschrieben. Die Feinde der Demokratie stehen im permanenten Fokus des LfV Bremen, was jedoch mit einer starken, anhaltenden Belastung des Landesamtes einhergeht. Dass darunter weder das Engagement noch die Qualität der Arbeit leidet, ist in höchstem Maße anerkennenswert. Ulrich Mäurer Senator für Inneres und Sport Anmerkung: Die Verwendung der geschlechtersensiblen Sprache im folgenden Bericht spiegelt nicht die Geschlechterverhältnisse des jeweiligen Phänomenbereichs wider. 6 7 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Spionageabwehr Unterstützungsaufgaben des LfV 8 INHALTSVERZEICHNIS Inhaltsverzeichnis 12 1 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz 13 1.1 Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden 15 1.2 Rechtsgrundlagen und Kontrolle des Verfassungsschutzes 16 1.3 Haushalt und Personal 18 2 Öffentlichkeitsarbeit und Prävention 18 2.1 Öffentlichkeitsarbeit des LfV 20 2.2 Präventionsangebote in Bremen 24 3 Rechtsextremismus 24 3.1 Rechtsextremistisches Weltbild 27 3.2 Rechtsterrorismus 30 3.2.1 Das Konzept des "Akzelerationismus" und die "Siege-Ideologie" 33 3.3 Radikalisierte rechtsextremistische Kleingruppen und Personen 34 3.4 Rechtsextremistische Agitation und Propaganda 35 3.4.1 Homophobie und Transfeindlichkeit 37 3.4.2 Rechtsextremistische Propaganda 40 3.5 Verbotsverfahren 42 3.6 Rechtsextremist:innen im öffentlichen Dienst 43 3.7 "Neue Rechte" 43 3.7.1 Strukturen der "Neuen Rechten" 46 3.7.2 "Alternative für Deutschland" (AfD) 50 3.8 Traditioneller Rechtsextremismus 50 3.8.1 Rechtsextremistische Parteien 53 3.8.2 Rechtsextremistische "Mischszene" Bremens 60 4 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates 61 4.1 Entwicklung des Protestgeschehens bundesweit 64 4.2 Virtuelle Vernetzung 65 4.3 Verbreitung von Verschwörungsmythen und -erzählungen 71 4.4 Entwicklung des Protestgeschehens in Bremen 72 4.4.1 Zusammenarbeit und Kollaborationen 74 4.4.2 Verbreitung von Verschwörungsideologien und Desinformationskampagnen in Bremen INHALTSVERZEICHNIS 9 80 5 "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" 80 5.1 Struktur und Ideologie 82 5.2 Aktivitäten 83 5.3 Gewalt und Affinität zu Waffen 85 5.4 "Reichbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" in Bremen 87 5.5 Gruppierungen in Bremen 92 6 Linksextremismus 92 6.1 Linksextremistisches Weltbild und linksextremistische Strukturen 96 6.2 Gruppierungen des gewaltorientierten Linksextremismus 106 6.3 Aktivitäten gewaltorientierter Linksextremist:innen 108 6.3.1 Proteste gegen "staatliche Repression" 112 6.3.2 Proteste gegen Rechtsextremist:innen 114 6.3.3 "Antimilitarismus" 116 6.3.4 Proteste für Klimaund Umweltschutz 119 6.3.5 Kampf um bezahlbaren Wohnraum 124 7 Islamismus 128 7.1 Globale Entwicklungen im islamistischen Terrorismus 130 7.2 Islamistischer Terrorismus in Deutschland 131 7.3 Islamistischer Terrorismus und seine Ausprägungen in Bremen 131 7.3.1 Jihadismus 139 7.3.2 "HAMAS" 140 7.3.3 "Hizb Allah" 143 7.4 Salafismus 144 7.4.1 Salafistische Aktivitäten in Deutschland 146 7.4.2 Salafismus im Land Bremen 152 7.5 Legalistischer Islamismus 152 7.5.1 Muslimbruderschaft 155 7.5.2 "Hizb ut-Tahrir" 156 7.5.3 "Saadet Partisi" 157 7.5.4 Legalistischer schiitischer Islamismus 10 INHALTSVERZEICHNIS 162 8 Auslandsbezogener Extremismus 165 8.1 Globale Entwicklungen im Auslandsbezogenen Extremismus 167 8.2 Auslandsbezogener Extremismus und seine Auswirkungen in Deutschland und Bremen 167 8.2.1 "Arbeiterpartei Kurdistan" (PKK) 176 8.2.2 "Ülkücü"-Bewegung / "Graue Wölfe" 183 8.2.3 Extremistische säkulare pro-palästinensische Bewegungen 190 9 Spionageabwehr 193 9.1 Methoden ausländischer Nachrichtendienste 196 9.2 Hauptakteure der Spionage gegen Deutschland 197 9.2.1 Nachrichtendienste der Russischen Föderation 198 9.2.2 Nachrichtendienste der Volksrepublik China 200 9.2.3 Nachrichtendienste der Islamischen Republik Iran 202 9.2.4 Nachrichtendienste der Republik Türkei 206 10 Unterstützungsaufgaben des LfV 206 10.1 Geheimschutz 208 10.2 Mitwirkung an Zuverlässigkeitsüberprüfungen 209 10.3 Entwicklung der Regelanfragen 212 Impressum 11 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Spionageabwehr Unterstützungsaufgaben des LfV 12 AUFGABEN DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ 1 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Das Grundgesetz hat die Bundesrepublik Deutschland als "wehrhafte" Demokratie konstituiert. Neben weiteren rechtlichen Vorkehrungen bildet die Einrichtung von Verfassungsschutzbehörden hierbei eine wesentliche institutionelle Säule, die verfassungsrechtlich vorgezeichnet ist. Gemäß Art. 73 Grundgesetz besteht die Aufgabe des Verfassungsschutzes im Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sowie des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder. Die Verfassungsschutzgesetze von Bund und Ländern führen diesen Auftrag näher aus und erläutern, dass auch die Aspekte der Spionageabwehr, des Schutzes der auswärtigen Belange Deutschlands vor Gefährdungen mittels Gewaltanwendung und der Gedanke der Völkerverständigung hierzu gehören. Freiheitlich demokratische Der für die Arbeit des Verfassungsschutzes zentrale Grundordnung Aspekt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Garantie der Menschenwürde umfasst dabei nach der Rechtsprechung des BundesDemokratieprinzip verfassungsgerichts die tragenden Prinzipien des freiRechtsstaatsprinzip heitlichen Verfassungsstaates: das Rechtsstaatsund das Demokratieprinzip sowie den Schutz der Menschenwürde, mithin jene fundamentalen Werte und Prinzipien, die für unser Gemeinwesen unverzichtbar sind. Bestrebungen, die dagegen gerichtet sind, werden als extremistisch bezeichnet. Dieser Begriff ist daher nicht eine Frage des jeweiligen politischen Standpunkts, sondern durch das Grundgesetz und die Verfassungsschutzgesetze für die Arbeit der Verfassungsschutzbehörden vorgegeben. Die Bedrohungen, zu deren Abwehr der Verfassungsschutz seinen Beitrag leistet, können sich dabei mit der Zeit verändern und neue Gefahren können hinzutreten. Während der Rechtsund der Linksextremismus ebenso wie der auslandsbezogene Extremismus seit vielen Jahrzehnten für die Gefährdungslage relevant sind, haben später hinzugekommene Phänomene wie der Islamismus und neuere Entwicklungen wie etwa die Bewegung der Reichsbürger:innen oder die verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates die Bedrohungslage deutlich komplexer werden lassen. Für die Arbeit des Landesamts für Verfassungsschutz ist dabei naturgemäß die Sicherheitslage in der Freien Hansestadt Bremen maßgebend. Insbesondere das Ausmaß der Gewaltorientierung, die im Einzelfall erkennbar wird, ist dabei ein wichtiger Aspekt, der für die Schwerpunktsetzung bei der Beobachtung einer Bestrebung entscheidend ist. Vielfach bereiten jedoch auch Bestrebungen im nicht-gewaltorientierten Extremismus erst das Umfeld für andere, die Gewalt als Mittel der politischen Auseinanderset- AUFGABEN DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ 13 zung unterstützen oder befürworten; auch diese müssen daher intensiv in den Blick genommen werden. Neben den jeweils zugrunde liegenden Ideologien, die sowohl in ihren Inhalten als auch ihren Herleitungen - von politisch bis primär religiös - je nach einzelner Bestrebung und Phänomenbereich sehr unterschiedlich ausgestaltet sein können, herrscht bei anderen Elementen bisweilen Übereinstimmung über die extremistischen Lager hinweg, etwas beim Antisemitismus. Der Verfassungsschutz kann und soll Gefahren nicht unmittelbar selbst abwehren, sondern ist damit betraut, entsprechende Informationen zu sammeln und zu analysieren um die Erkenntnisse sodann im Rahmen der rechtlichen Vorgaben Dritten zur Verfügung zu stellen. Empfänger dieser Informationen des bremischen Verfassungsschutzes sind einerseits Senat und Bürgerschaft, die insbesondere mit Analysen zur Sicherheitslage in Bremen unterstützt werden. Zum anderen sind andere Behörden wesentliche Abnehmerinnen der Erkenntnisse, insbesondere Polizei und Ordnungsbehörden, die auf Grundlage der Hinweise gefahrenabwehrende Maßnahmen treffen können. Nicht zuletzt ist die allgemeine Öffentlichkeit zentrale Adressatin der Erkenntnisse des Verfassungsschutzes - u. a. durch das Veröffentlichen des jährlichen Verfassungsschutzberichtes. Zunehmend werden aber auch weiterführende Erläuterungen nachgefragt, die das LfV auf Nachfrage etwa in Form von Vorträgen oder im Rahmen von allgemeiner Pressearbeit gerne zur Verfügung stellt. 1.1 Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden Der Verfassungsschutz hat eine andere Aufgabe als andere Sicherheitsbehörden, insbesondere als die Polizei. Letztere kann im Regelfall erst dann tätig werden, wenn eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder bereits eine Straftat vorliegt. Für die Aufgabe des Verfassungsschutzes, vor extremistischen Bestrebungen zu warnen und darüber zu informieren, käme dies regelmäßig zu spät. Gleichwohl gehen auch von diesen Bestrebungen vielfach konkrete Gefahren aus, sodass eine Zusammenarbeit der unterschiedlichen Behörden unabdingbar ist. Da Verfassungsschutzund Polizeibehörden schon von Verfassung wegen voneinander organisatorisch und inhaltlich getrennt sein müssen, bestehen für die Zusammenarbeit der Behörden jeweils gesetzliche Bestimmungen, u. a. in Form von Vorschriften, die die 14 AUFGABEN DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ Informationsübermittlung regeln. Die entsprechenden Gesetze befinden sich aktuell nicht zuletzt aufgrund von zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts1 sowohl auf Landesals auch auf Bundesebene in einem Novellierungsprozess. Gemeinsame Zentren Als eine Verbesserung der Zusammenarbeit haben sich seit einigen Jahren das "Gemeisame Terrorismusabwehrzentrum" (GTAZ) für den Bereich des islamistischen Terrorismus und das "Gemeinsame Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum" (GETZ) für die übrigen Phänomenbereiche bewährt. An ihnen sind insbesondere die Polizeibehörden von Bund und Ländern wie auch sämtliche deutsche Nachrichtendienste beteiligt. GTAZ und GETZ setzen sich aus der Polizeilichen und der Nachrichtendienstlichen Informationsund Analysestelle (PIAS und NIAS) zusammen. Beide Zentren tragen dabei zum effizienten Informationsaustausch bei. Bundesamt für GeneralbundesMigration und anwalt Flüchtlinge Bundesamt für BundeskriminalVerfassungsamt schutz 16 Landesämter 16 LandesNIAS für Verfassungskriminalämter GTAZ schutz GETZ PIAS BundesBundespolizei nachrichtendienst Militärischer Zollkriminalamt Abschirmdienst 1 BVerfG, Urt. v. 26.04.2022 - 1 BvR 1619/17 und Beschl. v. 28.09.2022 - 1 BvR 2354/13. AUFGABEN DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ 15 1.2 Rechtsgrundlagen und Kontrolle des Verfassungsschutzes Wie bei jeder anderen Behörde ist auch für das Handeln des Verfassungsschutzes in jedem Einzelfall eine gesetzliche Grundlage erforderlich. Neben dem Bundesverfassungsschutzgesetz, das bundeseinheitlich auch mit Wirkung für die Länder Aspekte der Zusammenarbeit regelt, ist das Bremische Verfassungsschutzgesetz (BremVerfSchG) die zentrale Rechtsgrundlage, die für das Landesamt für Verfassungsschutz wesentliche Aufgaben und Befugnisse normiert. Hinzu treten weitere Gesetze, etwa für den Bereich der Telekommunikationsüberwachung das nach dem Artikel zum Postund Fernmeldegeheimnis im Grundgesetz benannten Artikel-10-Gesetz mit einem bremischen Ausführungsgesetz. In zahlreichen anderen Gesetzen werden dem Verfassungsschutz darüber hinaus Mitwirkungsaufgaben auferlegt, vor allem im Bereich der Sicherheitsoder Zuverlässigkeitsüberprüfungen von Personen, etwa durch das Bremische Sicherheitsüberprüfungsgesetz, das Luftsicherheitsgesetz oder auch das Waffengesetz. Bei der Erfüllung seiner Aufgaben nach diesen Gesetzen unterliegt das Landesamt für Verfassungsschutz dabei der Kontrolle, zum Teil durch besondere Gremien. Einerseits besteht die allgemeine Kontrolle, der jede Behörde unterliegt, also die behördeninterne Kontrolle des Senators für Inneres und Sport sowie die externe Kontrolle durch die Gerichte oder z. B. die Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit. Darüber hinaus besteht jedoch aufgrund der Befugnisse des Verfassungsschutzes eine besondere Kontrolle durch die Parlamentarische Kontrollkommission und die G10-Kommission: Parlamentarische Kontrollkommission (PKK) Die PKK besteht aus wenigen gewählten Mitgliedern der Bürgerschaft und wird vom Senator für Inneres und Sport über die gesamte Tätigkeit des Landesamts für Verfassungsschutz umfassend unterrichtet. Sie kann auch Einsicht in die Unterlagen des Amtes nehmen und Zugang zu seinen Einrichtungen verlangen; der Einsatz von V-Personen bedarf ihrer Zustimmung. Aufgrund dieser eingehenden Unterrichtung über die regelmäßig einer besonderen Vertraulichkeit unterliegenden Informationen tagt sie geheim. Die aktuelle personelle Zusammensetzung der PKK ist auf der Internetseite der Bremischen Bürgerschaft verzeichnet, https://www.bremische-buergerschaft.de/index.php?id=255. G10-Kommission Die G10-Kommission entscheidet über die Zulässigkeit und Notwendigkeit von Beschränkungsmaßnahmen des Telekommunikationsgeheimnisses. Ihre Kontrolle erstreckt sich auf die gesamte Erhebung, Verarbeitung und Nutzung der entsprechenden 16 AUFGABEN DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ Daten. Sie besteht aus drei Personen, die von der Bremischen Bürgerschaft gewählt werden. Mindestens der oder die Vorsitzende besitzt die Befähigung zum Richteramt. Kontrolle des Verfassungsschutzes Senator Gerichte Bürgerschaft und PKK Datenschutz(Parlamentarische beauftragte Kontrollkommission) Bremer Verfassungsschutz G10-Kommission Medien Innendeputation Bürger:innen 1.3 Haushalt und Personal Zur Erfüllung seiner Aufgaben gab das Landesamt für Verfassungsschutz Bremen im Haushaltsjahr 2023 für Personal 4.111.233,08 Euro (2022: 3.952.055,79 Euro) und für Sachmittel 1.374.921,34 Euro (2022: 1.364.619,85 Euro) aus. Die investiven Ausgaben betrugen 657.259,34 Euro (2022: 140.445,81 Euro). Das Gesamtausgabevolumen lag bei 6.143.413,76 Euro (2022: 5.457.121,45 Euro). Das Beschäftigungsvolumen umfasste 72 Vollzeiteinheiten (2022: 72). 17 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Spionageabwehr Unterstützungsaufgaben des LfV 18 ÖFFENTLICHKEITSARBEIT UND PRÄVENTION 2 Öffentlichkeitsarbeit und Prävention 2.1 Öffentlichkeitsarbeit des LfV Die Bekämpfung extremistischer Aktivitäten erfolgt in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext. So ist es dem LfV auch ein besonderes Anliegen, das Wissen des Verfassungsschutzes für die Aufklärung und die freie Meinungsbildung, aber auch für die erfolgreiche Präventionsarbeit anderer Institutionen in Staat und Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Um den Anforderungen an einen modernen Verfassungsschutz gerecht zu werden, legt das Bremer Landesamt großen Wert auf größtmögliche Transparenz. Gleichzeitig gilt es, die Rolle als ein zur Vertraulichkeit verpflichteter Nachrichtendienst nicht aus den Augen zu verlieren, der in allen Bereichen des Extremismus auch für besonders schutzwürdige Informationen oder Informationsgeber:innen ansprechbar sein muss. Diese vertraulich erlangten Informationen zu abstrahieren, um sie dadurch der Öffentlichkeit zugänglich machen zu können, gehört zu den besonderen Aufgaben des LfV. Um der Rolle als "Frühwarnsystem" gerecht zu werden, nutzt das LfV gezielt unterschiedliche Formate, um die Öffentlichkeit über die Erkenntnisse hinsichtlich der Entwicklungen extremistischer Bestrebungen zu informieren. Neben dem hier vorgelegten Jahresbericht 2023, der eine umfassende Zusammenstellung der Aktivitäten unterschiedlicher Organisationen und Personen in allen extremistischen Phänomenbereichen darstellt, werden auch zielgerichtet einzelne Themen im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit aufgegriffen. Hierbei beteiligen sich die Beschäftigten des LfV überregional an Vortragsveranstaltungen, Podiumsdiskussionen oder Workshops. Insgesamt bezweckt das LfV, durch die unterschiedlichen Formen der Öffentlichkeitsarbeit zu einer tatsachenbasierten Darstellung von extremistischen Erscheinungsformen beizutragen und die Bevölkerung insoweit zu sensibilisieren. Denn unabdingbare Voraussetzung einer wehrhaften Demokratie ist eine gut informierte Öffentlichkeit, die im Stande ist, extremistischen Ideologien entschieden entgegenzutreten. Vorträge Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit bietet das LfV Vorträge über extremistische Bestrebungen an. In den Vorträgen kann es um aktuelle Entwicklungen und extremistische Erscheinungsformen im Lande Bremen gehen, jedoch können nach Bedarf auch andere Schwerpunkte gesetzt werden. ÖFFENTLICHKEITSARBEIT UND PRÄVENTION 19 Die Vorträge richten sich insbesondere an Beschäftigte von Behörden, Einrichtungen, Vereinen und Schulen. So werden regelmäßig Schulungen in unterschiedlichen Bereichen der öffentlichen Verwaltung angeboten, die die Teilnehmer:innen in die Lage versetzen, extremistische Tendenzen zu erkennen und hiermit umzugehen, etwa durch die Vermittlung von Deradikalisierungsangeboten oder zu Präventionseinrichtungen. Im Bereich der Fortbildungsund Vortragsveranstaltungen wird vermehrt auf die Nutzung digitaler Formate zurückgegriffen. Die verstärkte Nutzung von Online-Formaten bietet auch langfristig die Möglichkeit, größere Teile der Bevölkerung zu erreichen, weshalb in Zukunft vermehrt der Ausbau der Online-Angebote durch das LfV vorangetrieben wird. Beschäftigte von Behörden und zivilgesellschaftlichen Vortragsanfragen: Stellen sollen in die Lage versetzt werden, zwischen Haben Sie oder Ihre Institution legitimer Meinungsäußerung und dem eventuellen Interesse an einem Vortrag zu Abdriften einer Person in extremistische Kreise zu einem oder mehreren Themenfelunterscheiden. Zentrales Anliegen ist es, dabei zu heldern im Bereich Extremismus und fen, die Radikalisierung junger Menschen frühzeitig Prävention? Dann kontaktieren zu erkennen und verschiedene Maßnahmen und Sie uns gerne entweder unter Meldewege aufzuzeigen, bevor Sicherheitsbehörden office@lfv.bremen.de oder über aktiv werden müssen. unsere Rufnummer 0421 5377-0 Informationsblätter Durch die Auswirkungen der Pandemie herrschte eine große Verunsicherung innerhalb der Bevölkerung und Extremist:innen jeglicher Couleur versuchten, vor allem diese verunsicherten Teile der Gesellschaft für ihre Propagandazwecke zu instrumentalisieren. Auch der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine bringt neue Herausforderungen mit sich und hat alte Gewissheiten ins Wanken gebracht. Gerade in Zeiten zunehmender, vor allem digitaler Desinformationskampagnen ausländischer Staaten, spielt die Öffentlichkeitsarbeit des LfV eine essenzielle Rolle bei der Aufklärung und Sensibilisierung der Bevölkerung. Das LfV verstärkt daher noch weiter seine Bemühungen zur Unterrichtung der Öffentlichkeit und bietet zielgerichtet für ausgewählte Themenbereiche prägnante Kurzinformationen an: Im Bereich Islamismus verfolgt das LfV etwa vor allem das Ziel, die öffentliche ISLAMISMUS Debatte in der Abgrenzung zwischen Islam und Islamismus zu versachlichen THEMENHEFT VOM LANDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ und die bremische Bevölkerung über islamistische Bestrebungen zu informieren, 20 ÖFFENTLICHKEITSARBEIT UND PRÄVENTION um auf diese Weise auch einen Beitrag zur Bekämpfung von antimuslimischem Rassismus zu leisten. Im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt klärt das Landesamt für Verfassungsschutz öffentlich über das Phänomen Antisemitismus auf. Zur besseren Orientierung hat das LfV Bremen einen dreisprachigen Flyer zum Thema erstellt, der auf der Homepage heruntergeladen werden kann. ANTISEMITISMUS Flyer auch zu weiteren Phänomenbereichen stehen neben dem jährlichen VerfasIM KONTEXT DES NAHOST-KONFLIKTS THEMENHEFT VOM LANDESAMT FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ sungsschutzbericht auf der Homepage zur Einsicht und zum Herunterladen bereit. Eine gedruckte Fassung können Sie gern telefonisch oder per E-Mail bestellen. 2.2 Präventionsangebote in Bremen Demokratiezentrum Land Bremen Das Demokratiezentrum Land Bremen koordiniert Bildungsund Beratungsangebote für Betroffene, Ratsuchende und Interessierte zu den Themengebieten Rechtsextremismus, Kontakt: islamistischer Extremismus und gruppenbezoSenatorin für Arbeit, Soziales, Jugend gene Menschenfeindlichkeit im Rahmen des und Integration, Referat 22 - Bundesprogrammes "Demokratie leben!". Kinderund Jugendförderung Demokratiezentrum Die Arbeit des Projektverbundes ist an den FörDienstsitz: derzielen Demokratieförderung, VielfaltsgestalBahnhofstraße 28 - 31 tung und Präventionsarbeit im Umgang mit Postanschrift: Bahnhofsplatz 29 Ideologien der Ungleichwertigkeit ausgerichtet. 28195 Bremen Tel.: 0421 361-996 67 Das bei freien Trägern der Kinderund Jugenddemokratiezentrum@soziales.bremen.de hilfe angesiedelte Beratungsangebot umfasst die www.demokratiezentrum.bremen.de Unterstützung von Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt sowie Ausstiegsund Distanzierungsberatungsstellen für Menschen, die sich dem Rechtsextremismus oder religiös begründetem Extremismus zuwenden. Es beruht auf den fachlichen Grundsätzen der Freiwilligkeit und der Vertraulichkeit, ist niedrigschwellig ausgerichtet und für Ratsuchende kostenfrei. ÖFFENTLICHKEITSARBEIT UND PRÄVENTION 21 Fachund Beratungsstelle ADERO Das Angebot der Fachund Beratungsstelle "ADERO" (bis 2021 "kitab") richtet sich primär an Eltern und Angehörige von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich möglicherweise in einem HinwendungsKontakt: prozess zu religiös begründetem Extremismus www.adero-bremen.de befinden. Ebenso leistet "ADERO" Beratung E-Mail: adero@vaja-bremen.de und Unterstützung für Fachkräfte der KinderTel.: 0157 391 302 45 und Jugendhilfe, der sozialen Dienste und weiterer relevanter Berufsfelder, die hinsichtlich solcher Wahrnehmungen sensibilisiert sind. Die Fachund Beratungsstelle begleitet bei der Distanzierung und bietet Unterstützung für die betroffenen Heranwachsenden. Je nach Bedarf kann die Beratung auch in arabischer und englischer Sprache erfolgen. "ADERO" ist Teil des Projektverbundes des Demokratiezentrums. Kompetenzzentrum für Deradikalisierung und Extremismusprävention - KODEX In Ergänzung zum Angebot des Demokratiezentrums Bremen ist KODEX zuständig für Anfragen und Angebote bei der Arbeit mit bereits stark radikalisierten Personen aus den Bereichen des gewaltorientierten Islamismus sowie des gewaltorientierten Rechtsextremismus. Für diesen Bereich der sog. tertiäKontakt ren Prävention arbeitet KODEX mit der zivilgesellDer Senator für Inneres und Sport schaftlichen Beratungsstelle Legato-Disengagement KODEX zusammen. Contrescarpe 22/24 28203 Bremen Der Arbeit von KODEX liegt ein übergreifendes KonTel.: 0421 361-81679 zept zur Extremismusprävention der Ressorts Kinder kodex@inneres.bremen.de und Bildung, Justiz und Verfassung, Arbeit, Soziales, www.kodex.bremen.de/ Jugend und Integration und Inneres und Sport zugrunde. KODEX versteht sich als allgemeiner Ansprechpartner für Fragen rund um das Thema Extremismusprävention und unterstützt sowohl die Vernetzung der Akteur:innen im Aufgabenkreis der allgemeinen Extremismusprävention als auch die wissenschaftliche Begleitforschung im Themenfeld Radikalisierung, Deradikalisierung und Ausstieg. Außerdem bietet KODEX Hilfe bei Qualifizierung und Weiterbildung für diesen Bereich an. 22 ÖFFENTLICHKEITSARBEIT UND PRÄVENTION Landesamt für Verfassungsschutz Präventionsarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Verwaltung Prävention in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Verwaltung ist ein weiteres zentrales Instrument der Öffentlichkeitsarbeit des Landesamtes für Verfassungsschutz Bremen. Sie verfolgt das Ziel, relevante Personen aus Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Politik und Behörden für etwaige Gefährdungen aus dem Zuständigkeitsbereich des Verfassungsschutzes zu sensibilisieren. Hierzu zählen neben den Gefahren des Extremismus vor allem auch die der Spionage, Sabotage und Proliferation1 sowie staatlich gesteuerten Bedrohungen aus dem Cyberraum. Als weltweit anerkannter Forschungsund Industriestandort verfügt das Land Bremen mit den hier ansässigen Unternehmen und Institutionen - teils als Weltmarktführer - über umfassendes und spezifisches Know-how in unterschiedlichsten Wirtschaftsund Forschungsbereichen, welches vor illegalem Abfluss ins Ausland zu schützen ist. Der Fachbereich Prävention in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Verwaltung im LfV steht den Bremer Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen als Ansprechpartner zur Verfügung, um sie für bestehende Risiken aus den Phänomenbereichen des Verfassungsschutzes zu sensibilisieren und auf etwaige Gefährdungen hinzuweisen. 1 Proliferation bezeichnet die Weiterverbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen bzw. der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte, einschließlich des dafür erforderlichen Know-hows, sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen. 23 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Spionageabwehr Unterstützungsaufgaben des LfV 24 RECHTSEXTREMISMUS 3 Rechtsextremismus Die rechtsextremistische Szene versuchte wie bereits in den Vorjahren von den diversen gesellschaftlichen Krisenund Konfliktlagen zu profitieren und diese in ihrem Sinne zu nutzen: Die rechtsextremistische Ideologie, insbesondere die der "Neuen Rechten", verbreitet sich zunehmend in Teilen der Gesellschaft. Menschenverachtende und demokratiefeindliche Äußerungen und Positionen nehmen zu und werden auch in Teilen des "bürgerlichen Spektrums" anschlussfähiger. Des Weiteren stellen einzelagierende rechtsterroristische Täter:innen1 und Kleingruppen eine Bedrohung für den demokratischen Rechtsstaat und die freiheitliche Gesellschaft dar. Insbesondere die Radikalisierung in sozialen Netzwerken stellt die Sicherheitsbehörden vor enorme Herausforderungen. Angesichts vielfältiger Konfliktlagen besteht die Gefahr, dass sich Einzelne im Verborgenen derart radikalisieren, dass sie ihre Anschlagspläne in die Tat umsetzen. 3.1 Rechtsextremistisches Weltbild Rechtsextremismus ist eine Weltanschauung, die sich vor allem gegen die fundamentale Gleichheit aller Menschen richtet (Ideologie der Ungleichheit). Rechtsextremist:innen sind der Überzeugung, dass die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder Rasse über den Wert eines Menschen entscheidet, welchem aufgrund dessen (Grund-)Rechte verwehrt bleiben. Die rechtsextremistische Ideologie besteht aus folgenden Elementen: Fremdenfeindlichkeit Fremdenfeindlichkeit umschreibt eine ablehnende Haltung gegenüber allem, was als fremd und deshalb bedrohlich oder minderwertig empfunden wird. Abgelehnt werden vor allem Ausländer:innen, Personen muslimischen Glaubens, Obdachlose, Behinderte und Homosexuelle. Personen werden bspw. aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ethnischen Zugehörigkeit oder Nationalität abgewertet. Während die Ausländerfeindlichkeit die Feindseligkeit gegenüber Ausländer:innen meint, beschreibt die Islamoder Muslimfeindlichkeit die Feindseligkeit speziell gegenüber Personen muslimischen Glaubens. 1 Die Verwendung des durchaus umstrittenen Begriffs "Einzeltäter:in" wird an dieser Stelle vermieden, da er insofern irreführend ist, als dass die Taten zwar durch allein handelnde Personen ausgeführt werden, die Täter:innen sich aber immer in einem sozialen Umfeld radikalisieren. RECHTSEXTREMISMUS 25 Revisionismus Revisionismus meint die Umdeutung historischer, rechtlicher und wissenschaftlicher Fakten für die eigenen Zwecke. Der Rechtsextremismus ist durch Einstellungen geprägt, die geschichtliche Tatsachen leugnen und tendenziell zur Verharmlosung, Rechtfertigung oder gar Verherrlichung nationalsozialistischer Verbrechen einschließlich des Holocausts beitragen. Rassismus Rassismus ist eine Ideologie der Ungleichheit, die sich durch eine menschenfeindliche Abwertung anderer aufgrund deren Zugehörigkeit zu einer vermeintlich homogenen Gruppierung ausdrückt. Beim Rassismus wird aus genetischen Merkmalen der Menschen eine naturgegebene Rangordnung abgeleitet und zwischen "wertvollen" und "minderwertigen" Rassen unterschieden. Nationalismus und Konzept der Volksgemeinschaft Unter Nationalismus ist ein übersteigertes Bewusstsein vom Wert und der Bedeutung der eigenen Nation zu verstehen. Die eigene Nation wird gegenüber anderen als höherwertig eingestuft. Der völkische oder rassistisch geprägte Nationalismus beruft sich darüber hinaus auf das Konzept der Volksgemeinschaft, welches die Verschmelzung eines totalitären Staates mit einer ethnisch-homogenen Gemeinschaft vorsieht. In dieser Gemeinschaft sind die Interessen und Meinungen der Einzelnen dem Interesse und dem Wohl der Volksgemeinschaft gänzlich untergeordnet. Konzept des Ethnopluralismus Weltanschauungen, in denen der historische Nationalsozialismus und der völkische Rassismus betont werden, verlieren in der rechtsextremistischen Szene teilweise an Bedeutung. Vertreter:innen eines ethnopluralistischen Weltbildes argumentieren, dass sich Menschen nicht aufgrund ihrer "Rasse" voneinander unterscheiden, sondern anhand ethnischer, regionaler und kultureller Faktoren. Dem Individuum kommen demnach ausschließlich aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einem ethnokulturellen Kollektiv (Menschen-)Rechte zu. Migrationsprozesse würden diese Völkervielfalt bedrohen, Menschen entwurzeln und kulturelle Identitäten vernichten. Die Ethnienvielfalt könne letztlich nur durch die Trennung der "Völker" bewahrt werden. Ziel des Ethnopluralismus sind ethnisch und kulturell homogene Staaten ohne "fremde" Einflüsse. Vor diesem ideologischen Hintergrund lehnen "Ethnopluralist:innen" die Einwanderung - insbesondere von Personen muslimischen Glaubens - nach Deutschland und Europa fundamental ab und begreifen sie als Bedrohung. Die islamische Kultur wird als unvereinbar mit den Werten der deutschen oder europäischen Kultur dargestellt. Das Konzept des Ethnopluralismus läuft letztlich ebenso wie das Konzept der Volksgemeinschaft im 26 RECHTSEXTREMISMUS Wesentlichen auf die Idealvorstellung eines ethnisch-homogenen Staates hinaus, in dem sich das Individuum sowohl auf politischer als auch auf gesellschaftlicher Ebene dem Kollektiv unterordnet. Ablehnung von Demokratie und Pluralismus Das Ziel aller Rechtsextremist:innen besteht darin, den demokratischen Rechtsstaat mit seiner pluralistischen Gesellschaftsordnung durch einen ethnisch-homogenen Staat oder eine Volksgemeinschaft zu ersetzen. Diese antidemokratischen Vorstellungen stehen im Widerspruch zur Werteordnung des Grundgesetzes und zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Fremdenfeindlichkeit als Grundelement rechtsextremistischen Denkens ist weder mit dem Prinzip der Menschenwürde noch mit dem Prinzip der Gleichheit aller Menschen vereinbar. Das autoritäre Staatsverständnis und das antipluralistische Gesellschaftsverständnis widersprechen einerseits dem Demokratieprinzip, das seine Ausgestaltung z. B. in der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität, dem Schutz von Minderheiten oder dem Recht zur Bildung und Ausübung einer Opposition findet. Andererseits sind sie auch mit dem Rechtsstaatsprinzip nicht vereinbar, das u. a. die Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt, die Kontrolle dieser Bindung durch unabhängige Gerichte sowie das staatliche Gewaltmonopol vorsieht. Antisemitismus im Rechtsextremismus Der Verfassungsschutz arbeitet mit der 2017 von der "Internationalen Allianz für HolocaustGedenken" (IHRA) entwickelten Arbeitsdefinition: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen2 und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein." (BT-Drs. 19/444, Bremische Bürgerschaft 19/1808). Antisemitismus bildet einen zentralen Bestandteil der rechtsextremistischen Ideologie. Er gilt als einendes Element für die verschiedenen Strömungen innerhalb der rechtsextremistischen Szene und wird vielfach mit Verschwörungsideologien untermauert. Hier bieten sich wiederum ideologische Anknüpfungspunkte für das Spektrum der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" sowie der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen". Innerhalb der neonazistischen Szene, die sich offen zum historischen Nationalsozialismus bekennt, kommt der Judenfeindschaft eine hervorstehende Rolle zu. Hier fungiert der Antisemitismus als Erklärungsmodell für sämtliche schädigende Ereignisse der Gegenwart und Vergangenheit. Antisemitische Narrative werden z. B. herangezogen, um Themen wie Globalisierung oder Migration zu problematisieren. 2 Hiermit sind Personen gemeint, die fälschlicherweise für Juden gehalten werden oder jüdische Personen / Gemeinden unterstützen. RECHTSEXTREMISMUS 27 Teile der "Neuen Rechten" verschleiern ihre antisemitische Einstellung häufig, indem sie diese meist weniger explizit äußern. Durch die Verwendung von antisemitisch gefärbten Verschwörungsnarrativen oder durch Anspielungen und Verwendung antisemitischer Chiffren versuchen sie, unterhalb der Schwelle des Strafbaren zu bleiben und gleichzeitig die Grenzen des Sagbaren zu verschieben. Rechtsextremist:innen werfen Juden eine Instrumentalisierung des Holocaust vor und führen dadurch eine Täter-Opfer-Umkehr durch. Dieser sog. "Sekundäre Antisemitismus" zeichnet sich durch seinen "Schuldabwehrmechanismus" aus und mündet bei Rechtsextremist:innen im Geschichtsrevisionismus: Die Mahnungen der Holocausüberlebenden werden so als Akt der Aggression gegen die deutsche Bevölkerung umgedeutet und die Erinnerung an den Holocaust mit einer moralischen Last gleichgesetzt, die es zu überwinden gelte. 3.2 Rechtsterrorismus Terroristische Täter:innen und (Klein)-Gruppen bilden eine erhebliche Bedrohung für Menschenleben und darüber hinaus für den demokratischen Rechtsstaat. Die vereitelten Anschlagspläne der (rechts-)terroristischen Gruppierungen "Vereinte Patrioten" und "Patriotische Union" um den Rädelsführer Heinrich XIII. Prinz Reuß verdeutlichen dies. Bereits zuvor hatten die drei rechtsterroristischen Attentate in Hanau im Februar 2020, in Halle im Oktober 2019 und in Kassel im Juni 2019 eindrücklich die großen Herausforderungen verdeutlicht, vor denen die Sicherheitsbehörden bei der Identifizierung von sich radikalisierenden (rechts-)terroristischen Täter:innen und Kleingruppen stehen. Über den mutmaßlichen Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke lagen dem Verfassungsschutz zum Tatzeitpunkt keine aktuellen Erkenntnisse mehr vor, obwohl er einen langen Vorlauf in der rechtsextremistischen Szene hatte. Den Attentäter von Halle kannte der Verfassungsschutz nicht, obwohl sein Weltbild eindeutig rassistisch und antisemitisch ist. Ebenso wenig war dem Verfassungsschutz der Attentäter von Hanau vor der Tat bekannt, der ein rechtsextremistisches, rassistisches Weltbild pflegte. Der Verfassungsschutz steht vor der schwierigen Aufgabe, (rechts-)extremistisch motivierte Personen oder (Klein-)Gruppen in den Fokus zu nehmen, die sich im Verborgenen im Internet und in sozialen Netzwerken radikalisieren, jedoch keine (enge) organisatorische oder realweltliche Anbindung an extremistische Spektren aufweisen. Bei der Identifizierung potenzieller extremistischer Attentäter:innen besteht zudem die Schwierigkeit, ihr Radikalisierungspotenzial und ihre weitere Entwicklung einzuschätzen und frühzeitig valide zu prognostizieren. Zur Vermeidung entsprechender Gefahren verfolgt der Bremer Verfassungsschutz in entsprechenden Fällen 28 RECHTSEXTREMISMUS eine Null-Toleranz-Strategie und übermittelt Informationen regelmäßig an die Strafverfolgungsbehörden, auch wenn dies mit einem stetig wachsenden Aufwand verbunden ist. Vereinigung von Extremist:innen in (rechts-)terroristischen Gruppierungen Seit der Corona-Pandemie hat sich das Gefahrenpotenzial für die Entstehung (rechts-) terroristischer Gruppen deutlich erhöht. Die in der Pandemie geltenden Kontaktbeschränkungen führten in Teilen der Bevölkerung zu einem vermehrten Rückzug in den virtuellen Raum. Diese Entwicklung hält über das Ende der Pandemie hinaus weiter an. Gleichzeitig ermöglichten die Hinwendung zu (antisemitischen) Verschwörungserzählungen und "Fake-News" sowie die Verbreitung von Hass und Hetze die Radikalisierung einzelner Personen, die aus den staatlichen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung ein vermeintliches Widerstandsrecht für sich ableiteten. Dabei bildet die gemeinsame Konzentration auf die Ablehnung des demokratischen Systems und seiner Repräsentant:innen ein einendes Element, welches die ideologische Verflechtung und Vernetzung zwischen Rechtsextremist:innen, "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" sowie Angehörigen des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" fördert. Gleich zwei Beispiele aus dem Jahr 2022 belegen eindrücklich, welches Gefahrenpotenzial für die freiheitliche demokratische Grundordnung und ihre Repräsentant:innen von dieser Gemengelage ausgehen kann: Aktuell sind fünf mutmaßliche Mitglieder der Gruppierung "Vereinte Patrioten" vor dem Oberlandesgericht Koblenz wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung oder Mitgliedschaft in einer solchen angeklagt, darunter vor allem "Reichsbürger:innen" und Angehörige des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates". Die Gruppe habe über Chats im Kurznachrichtendienst Telegram geplant, den Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach zu entführen. Die Anklage wirft ihr zudem vor, dass sie mit Sprengstoffanschlägen Einrichtungen der Stromversorgungen zerstören wollte, was zu einem großen "Blackout" (Stromausfall) hätte führen sollen. Die so herbeigeführten bürgerkriegsähnlichen Zustände hätte die Gruppierung sodann nutzen wollen, um die von ihr verhasste Regierung zu stürzen. Ein ähnliches Ziel verfolgte die Gruppierung "Patriotische Union" um den mutmaßlichen Rädelsführer und "Reichsbürger" Heinrich XIII. Prinz Reuß: Die Gruppierung hatte geplant, das demokratische Staatssystem gewaltsam zu stürzen und eine eigene Staatsform zu etablieren (siehe Kapitel 5). Neben einem militärischen Arm sollte ein "Rat" den Aufbau notfalls mit gewaltsamen Mitteln durchsetzen. Mitglieder der Gruppierung bereiteten sich bereits auf den sog. "Tag X" vor und horteten neben Waffen auch beträchtliche Mengen an Bargeld. Der Gruppierung um Prinz Reuß gehörten RECHTSEXTREMISMUS 29 neben "Reichsbürger:innen" auch Angehörige des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" sowie Rechtsextremist:innen an. Festnahmen von Beschuldigten sowie Durchsuchungen bei Mitgliedern der Gruppierung erfolgten im Dezember 2022 in 11 Bundesländern. Der Generalbundesanwalt erhob im Dezember 2023 Anklagen vor den Staatsschutzsenaten der OLG Frankfurt am Main, München und Stuttgart gegen 27 mutmaßliche Mitglieder und Unterstützer:innen. Insgesamt werden bislang 69 Personen in dem Fallkomplex als Mitglieder oder Unterstützer:innen gezählt. Beide Gruppierungen konnten durch umfangreiche Ermittlungen der Sicherheitsbehörden frühzeitig enttarnt und an der Umsetzung ihrer Pläne gehindert werden. Rechtsterroristische Attentate Die drei rechtsterroristischen Attentate in den Jahren 2019 und 2020 und die jahrelange Mordserie der Gruppierung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU), die im Kern fremdenfeindlich, rassistisch und/oder antisemitisch motiviert waren, besitzen nach wie vor eine hohe Relevanz für die rechtsextremistische Szene in Deutschland und international. Immer wieder beziehen sich Rechtsextremist:innen in ihren Äußerungen insbesondere im virtuellen Raum positiv auf die drei in Deutschland begangenen rechtsterroristischen Attentate und erachten sie als nachahmenswert. Der rechtsterroristische Attentäter Tobias R., der am 19. Februar 2020 an drei Tatorten in Hanau insgesamt zehn Personen ermordete, fünf weitere Personen verletzte und sich im Anschluss an die Tat selbst tötete, handelte aus einer rassistischen und fremdenfeindlichen Motivation heraus, die er in Beiträgen und Videos auf seiner Internetseite darlegte. In einer Art Manifest vertrat er eindeutig rechtsextremistische Ideologieelemente, wie Antisemitismus sowie ein rassistisches und ethnisch-homogenes Weltbild. Darüber hinaus bestimmten Verschwörungsfantasien sein Weltbild. Am 9. Oktober 2019 versuchte der Rechtsextremist Stephan B. während des JomKippur-Gottesdienstes mit selbstgebauten Sprengsätzen und Schusswaffen bewaffnet eine Synagoge in Halle zu stürmen, scheiterte jedoch an den verschlossenen Türen. In der Synagoge hielten sich zum Tatzeitpunkt ca. 50 Gläubige auf. Nach der misslungenen Erstürmung erschoss er vor der Synagoge eine Passantin und tötete im Anschluss eine weitere Person in einem nahegelegenen türkischen Imbiss. Während seines Fluchtversuchs, bei dem weitere Passanten verletzt wurden, lieferte er sich eine Schießerei mit der Polizei. Das OLG Naumburg verurteilte Stephan B. am 21. Dezember 2021 u. a. wegen zweifachen Mordes, vielfachen Mordversuchs und Volksverhetzung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung. 30 RECHTSEXTREMISMUS Die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) gilt als "Zäsur", denn erstmals seit dem Jahr 1945 wurde ein amtierender Politiker durch einen rechtsextremistisch motivierten Anschlag getötet. Lübcke wurde am 2. Juni 2019 vor seinem Wohnhaus aus nächster Nähe durch den Rechtsextremisten Stephan E. erschossen. Stephan E. war in der Vergangenheit in rechtsextremistische Strukturen eingebunden und radikalisierte sich im Kontext der rechtsextremistischen "Anti-AsylAgitation" als Reaktion auf die sog. "Flüchtlingskrise" im Jahr 2015. Am 28. Januar 2021 wurde er vom OLG Frankfurt wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Tat reihte sich ein in eine Serie von Bedrohungen gegen Politiker:innen, die die Aufnahme von Geflüchteten befürworteten. Nach der Tat verhöhnten Rechtsextremist:innen den ermordeten Regierungspräsidenten in sozialen Netzwerken und kündigten weitere Taten an. Die geplante und gezielte Mordserie der rechtsterroristischen Gruppierung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU), die über Jahre kein öffentliches Bekenntnis zu ihren Taten in direkter oder indirekter Form ablegte, stellt aufgrund ihrer Gewaltintensität eine Besonderheit in der Geschichte des deutschen Terrorismus dar. Die Mitglieder des NSU lebten rund 13 Jahre im Untergrund und ermordeten in den Jahren 2000 bis 2007 insgesamt zehn Menschen, vor allem aus fremdenfeindlichen und rassistischen Motiven. Darüber hinaus beging das Trio mindestens zwei Bombenanschläge und 15 bewaffnete Raubüberfälle. Der von Mai 2013 bis Juli 2018 laufende Strafprozess richtete sich nach dem Selbstmord der beiden Mitglieder der rechtsterroristischen Gruppierung Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos im Jahr 2011 gegen das einzige noch lebende NSUMitglied Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer. Das Oberlandesgericht München sprach 2018 alle fünf Angeklagten wegen unterschiedlicher Tatvorwürfe im Zusammenhang mit der Mordserie des NSU schuldig und verurteilte Beate Zschäpe zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe und auch die übrigen Angeklagten zu mehrjährigen Haftstrafen. 3.2.1 Das Konzept des "Akzelerationismus" und die "Siege-Ideologie" Die seit Jahren intensiv betriebene virtuelle Vernetzung der rechtsextremistischen Szene weltweit führt dazu, dass vermehrt auch internationale Ideologieelemente, wie die aus den USA stammende "Siege-Ideologie" und der "Akzelerationismus", in Deutschland Anklang finden und auch hier Wirkung entfalten können. In den letzten Jahren hat sich zunehmend gezeigt, dass diese Ideologieelemente in der rechtsextremistischen Szene in Deutschland und auch in Bremen Verbreitung finden und insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene empfänglich dafür sind. RECHTSEXTREMISMUS 31 Bei der "Siege3-Ideologie" und dem ihr zugrunde liegenden Konzept des "Akzelerationismus"4 handelt es sich um rechtsextremistische Terrorpropaganda, die vor allem über das Internet eine weite Verbreitung erfährt und deren erklärtes Ziel die Abschaffung sowohl der liberalen, multikulturellen Gesellschaft als auch des derzeitigen politischen Systems ist. Anhänger:innen des Akzelerationismus sind davon überzeugt, dass die momentane Gesellschaftsform nicht funktioniere und ein "Rassenkrieg" unmittelbar bevorstünde. Durch terroristische Akte sollen gemäß des Akzelerationismus die ethnisch aufgeladenen Konflikte zwischen der vermeintlichen "weißen" Mehrheitsgesellschaft und der "ethnischen Minderheit" derart intensiviert (akzeleriert = "beschleunigt") werden, dass folglich das Vertrauen in die Regierung und das (demokratische) System zerstört wird und sich bürgerkriegsähnliche Zustände entwickeln. Diese münden schließlich, so die Vorstellung, in der Abschaffung des demokratischen Systems zugunsten einer nationalsozialistischen Herrschaft. Die "Siege-Ideologie" oder auch "Siege-Culture" basiert auf dem gleichnamigen Buch "Siege" des US-Amerikaners und Rechtsextremisten James Mason, dessen Ideologie geprägt ist von Antisemitismus, Rassismus, Holocaust-Leugnung sowie seiner Vorstellung von der "white supremacy"5 und deren Umsetzung durch einen rassistischterroristischen Guerillakrieg. Darüber hinaus beschreibt das Buch sehr eindringlich, wie und wo Anschläge verübt werden können, damit der von Mason propagierte "Rassenkrieg" ausgelöst werden kann. Die sog. "Atomwaffen Division"6 (AWD) verhalf den Texten Masons ab ca. 2016 zu einer gesteigerten Reichweite bis hin zu der Entwicklung als Internetphänomen mit einschlägigen Memes, Videos und Symbolen. Durch die Ableger "AWD Deutschland" und "Feuerkrieg Division Deutschland" fand die "Siege-Ideologie" auch hierzulande eine vermehrte Anhängerschaft bei einem teils sehr jungen, internetaffinen Publikum, welches zudem eine große Begeisterung für rechtsextremistisch motivierte Amokläufe aufweist. "Attentäterfanszene" Vor allem bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen bieten sich hier über lokale und nationale Grenzen hinaus Einfallstore für rechtsextremistisches bzw. rechtsterroristisches Gedankengut, welches meist über einfache Memes und ideologisch niedrigschwellige Inhalte verbreitet wird. Insbesondere die der "Siege-Culture" innewohnende Gewaltverherrlichung sowie die fast heldenhafte Glorifizierung früherer rechtsterroristischer Attentäter, die sog. "Attentäterfanszene", wie Meme des Attentäters Breivik 3 Aus dem Englischen: Belagerung. 4 Aus dem Lateinischen "accelerare": beschleunigen, beeilen. 5 Aus dem Englischen: weiße Vorherrschaft / Überlegenheit der "weißen Rasse". 6 Offiziell aufgelöst seit März 2020. 32 RECHTSEXTREMISMUS bspw. von Anders Breivik oder Brenton Tarrant, bergen die Gefahr, Radikalisierungsverläufe bei Jugendlichen rasant zu beschleunigen und zu Nachahmungstaten zu animieren. Im Jahr 2022 konnte bspw. der von einem 16-jährigen Schüler geplante Anschlag an einem Essener Gymnasium zwar frühzeitig verhindert werden, allerdings offenbarten am Wohnort des Jugendlichen aufgefundene Bomben, Waffen, rechtsextremistische Schriftstücke und ein Manifest eindrücklich das von dieser Szene ausgehende Bedrohungspotenzial. Der Prozess vor dem Oberlandesgericht in Düsseldorf endete im Februar 2023 mit einem Schuldspruch, der Jugendliche erhielt eine zweijährige Jugendstrafe auf Bewährung mit anschließender stationärer Behandlung in einer Jugendpsychiatrie. Am 16. November 2023 wurde ein 18-Jähriger aus dem hessischen Limburg-Weilburg festgenommen. Gegen ihn wird wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat ermittelt. Er habe mehrfach in einschlägigen Internetforen damit gedroht, Menschen töten zu wollen, um seine politischen Ziele zu verfolgen. Der Beschuldigte verfügt über eine verfestigte gewaltbereite, antisemitische sowie rechtsextremistische Grundeinstellung. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung fand die Polizei zwei Gewehre und Munition. Exkurs: Glorifizierung und "Gamifizierung" von Amoktaten Über Plattformen und sog. Imageboards (spezielle Internetforen) werden rechtsextremistische Ideologien und Verschwörungsnarrative ausgetauscht und die Täter:innen rechtsterroristischer Anschläge glorifiziert. Mit geringem Aufwand können über das Internet eine enorme Reichweite erzielt und Nachahmungstäter:innen animiert werden. Vielfach beziehen sich die Verantwortlichen bei der Ausübung ihrer Taten auf vorherige Attentate. Durch die heldenhafte Glorifizierung früherer rechtsterroristischer Amoktäter und die "Gamifizierung", d. h. die Integration von Elementen aus Computerspielen, der Taten versuchen sie, besonders große Aufmerksamkeit für ihre eigenen Taten zu erzielen. So hatte Stephan B. bei seinem Attentat in Halle 2019 die Tat live per Helmkamera auf einer Gaming-Plattform übertragen und kommentierte sie für die Zuschauer:innen in englischer Sprache. Ähnlich wie bei einem Ego-Shooter, einem Computerspiel, bei dem die Spieler:innen aus der Ich-Perspektive Mitspielende mit Waffen bekämpfen, setzte er sich sog. "Achievements": Gewisse Tathandlungen folgten einem von ihm aufgestellten Punktesystem. Stephan B. hatte im Vorfeld der Tat ein Bekennerschreiben auf Englisch veröffentlicht, in welchem er sein rechtsextremistisches und antisemitisches Weltbild offenbarte. Das Manifest sowie der Tathergang weisen Parallelen zu dem Terroranschlag des Brenton Tarrant auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch im Jahre 2019 auf, bei dem insgesamt 51 Menschen getötet und weitere 50 verletzt wurden, sowie den Morden des norwegischen Massenmörders Anders Breivik im Jahre 2011. Die Liveübertragung der Morde sowie der Gaming-Charakter des Tathergangs sind Ausdruck eines rechtsterroristischen Bedrohungspotenzials, welches sich im Verborgenen der virtuellen Welt entwickeln und letztlich in realen Taten münden kann. RECHTSEXTREMISMUS 33 3.3 Radikalisierte rechtsextremistische Kleingruppen und Personen Radikalisierte rechtsextremistische Kleingruppen sind neben rechtsextremistischen Täter:innen eine ernstzunehmende Bedrohung für den demokratischen Rechtsstaat, auch weil sie nicht zwangsläufig den bekannten und organisierten rechtsextremistischen Strukturen entstammen. Rechtsextremistische Kleingruppen und einzelagierende Täter in Bremen In der Nacht vom 15. auf den 16. Februar 2020 wurde während eines Konzerts ein Brandanschlag auf das Jugendund Kulturzentrum "Die Friese e.V." im Bremer Steintorviertel verübt. Am Tatort aufgefundene Aufkleber mit "rechten" Inhalten deuteten auf ein politisches Tatmotiv hin. Als Tatverdächtige konnten drei Personen ermittelt werden, die der rechtsextremistischen Szene zugeordnet werden können. In diesem Zusammenhang erwirkte die Staatsanwaltschaft Durchsuchungsbeschlüsse, die im September 2021 vollstreckt wurden. Die Polizei stellte insbesondere Fahnen, Banner und Aufkleber sicher, die das vorhandene nationalsozialistische Gedankengut der Beschuldigten belegen. Die Staatsanwaltschaft erhob im Juli 2022 Anklage gegen die drei Beschuldigten, u. a. wegen schwerer Brandstiftung und gefährlicher Körperverletzung. Zum Tatzeitpunkt befanden sich mehrere Personen im Gebäude. Die Täter nahmen mit dem Anschlag billigend die Gefährdung von Menschenleben in Kauf. Der Anschlag bildete somit einen Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen Angehörigen der rechtsextremistischen Szene und ihren "politischen Gegnern" und verdeutlicht das hohe Gewaltpotenzial, das von einzelnen Angehörigen der rechtsextremistischen Szene ausgeht. Von rechtsextremistischen einzelagierenden Tätern geht eine erhöhte abstrakte Gefahr aus, die nur durch das frühzeitige und konsequente Eingreifen der Sicherheitsbehörden gebannt werden kann. So deckte das LfV Bremen im Jahr 2023 zwei Anschlagsdrohungen auf. In einem Fall sprach ein Bremer Rechtsextremist auf seinem Telegram-Kanal von abstrakten Anschlagsplänen in Nordrhein-Westfalen und plante dort die Errichtung eines nicht näher definierten "Nazi-Stützpunkts". Zudem tätigte er im Telegram-Kanal wiederholt rechtsextremistische Äußerungen. Bei der Wohnungsdurchsuchung stellte die Polizei mehrere gefährliche Gegenstände, darunter Messer und Anscheinswaffen, sicher. Der Generalbundesanwalt führt derzeit die Ermittlungen und hat bereits Anklage erhoben. Ein weiterer Bremer Rechtsextremist drohte in Beiträgen auf TikTok einen Anschlag gegen nicht näher definierte "Unterkünfte" an. Auch in diesem Fall wurden nach Hinweisen des LfV Bremen polizeiliche Durchsuchungsmaßnahmen gegen den 34 RECHTSEXTREMISMUS Beschuldigten durchgeführt, bei denen die Polizei diverse Hiebund Stichwaffen und rechtsextremistische Szenekleidung sicherstellte. Nach dem Abschluss der Ermittlungen konnte jedoch nicht von der Ernsthaftigkeit der Anschlagsdrohung ausgegangen werden. Gleichwohl müssen entsprechende Sachverhalte stets konsequent aufgeklärt werden, da eine entsprechende Ernsthaftigkeit im Vorfeld in der weit überwiegenden Anzahl der Fälle nicht ausgeschlossen werden kann. Exkurs: Rekrutierung junger Anhänger:innen auf TikTok Zur Verbreitung ihrer Ideologie und zur Rekrutierung neuer Anhänger:innen nimmt TikTok für Rechtsextremist:innen insbesondere bei der Ansprache von Jugendlichen im Internet eine wichtige Rolle ein. Die Plattform dient zwar vorwiegend der Unterhaltung, allerdings wird sie auch von etwa einem Viertel der Jugendlichen genutzt, um sich über das aktuelle Tagesgeschehen zu informieren. Diesen Umstand versuchen Rechtsextremist:innen für sich zu nutzen, indem sie sich professionell als TikTok-Influencer:innen inszenieren und dabei zunächst meist unterschwellig, häufig aber auch sehr direkt, extremistische Inhalte als vermeintlich "einfache Antworten" auf komplexe Fragen anbieten. Um ihre Anschlussfähigkeit zu erhöhen, versuchen diese rechtsextremistischen Influencer:innen über positive Emotionen wie (National-)Stolz und Ehre ein Zusammengehörigkeitsgefühl bei den Nutzer:innen hervorzurufen. Dabei zeigen sie sich kämpferisch und rebellisch, teilweise auch gewaltbereit. Die freiheitliche demokratische Grundordnung wird als das "etablierte System" zum Feindbild konstruiert und alles "nicht-deutsche" und "nicht-weiße" herabgewürdigt. Eindeutige rechtsextremistische Begriffe, Szene-Codes und Emojis werden bewusst vermieden und stattdessen abgeändert oder als Zahlenund Farbcodes dargestellt, dies soll die Beiträge und Accounts vor Sperrungen oder Zensierungen durch die jeweiligen Plattformen schützen. 3.4 Rechtsextremistische Agitation und Propaganda Einen weiteren wesentlichen Bestandteil der rechtsextremistischen Ideologie bildet die Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, also die pauschale Ablehnung von Personen oder Personengruppen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer als fremd oder anders wahrgenommenen Gruppe. Menschen werden bspw. aufgrund ihrer Religion, ihrer politischen Einstellung, ihrer Migrationsgeschichte oder ihrer Lebensweise abgewertet und ausgegrenzt. Politischer Gegner als Feindbild Bundesweit stehen zahlreiche Parteien, Politiker:innen, Vereine und Initiativen im Fokus rechtsextremistischer Bedrohungen. Neben Droh-E-Mails und -briefen wird auch über die sozialen Netzwerke gegenüber dem "politischen Feind" eine Drohkulisse RECHTSEXTREMISMUS 35 aufgebaut. Den Adressat:innen wird dabei nicht selten mit massiver Gewalt und Anschlägen gedroht. Eine bisher unbekannte Person verschickt seit Ende des Jahres 2019 zahlreiche Drohbriefe an Empfänger:innen in Bremen und Niedersachsen, welche eine pulverartige Substanz enthalten. Adressat:innen dieser Briefe sind Parteien und Politiker:innen des gesamten politischen Spektrums, eine Moschee sowie Kulturvereine und Vereine aus der Zivilgesellschaft, die sich für die Integration von Geflüchteten einsetzen. Auch an staatliche Institutionen und Privatpersonen sind diese Briefe gerichtet. Die Schreiben enthalten rechtsextremistische Inhalte und insbesondere antisemitische, rassistische und volksverhetzende Drohungen. Derselben Person werden auch Straftaten auf vier Kinderspielplätzen im Bremer Süden zugerechnet, bei denen Messer an Spielgeräten befestigt waren. Menschen jüdischen Glaubens als Feindbild Menschen jüdischen Glaubens stellen grundsätzlich ein Angriffsziel für Rechtsextremist:innen dar. Der Großteil der in den vergangenen Jahren in Deutschland begangenen und von der Polizei registrierten antisemitischen Strafund Gewalttaten wurde als politisch "rechts" motiviert eingestuft. Dabei ist zu beachten, dass fremdenfeindliche und antisemitische Straftaten statistisch generell im Bereich der politisch motivierten Kriminalität als "rechts"-motiviert erfasst werden, wenn der Polizei keine weiterführenden Hinweise zur Tatmotivation oder Täter:in vorliegen. Den Großteil der Straftaten machen auch in Bremen Volksverhetzungsund Propagandadelikte aus. Menschen muslimischen Glaubens als Feindbild Menschen muslimischen Glaubens und ihre Einrichtungen sind seit einigen Jahren ein verstärktes Angriffsziel von Rechtsextremist:innen. Moscheen werden als zentrales Symbol der islamischen Religion und der muslimischen Kultur betrachtet. Darüber hinaus werden bundesweit immer wieder Personen muslimischen Glaubens direkt bedroht. 3.4.1 Homophobie und Transfeindlichkeit Ein weiteres gängiges rechtsextremistisches Narrativ ist der drohende "Volkstod", der sich nur durch eine ausschließlich auf ethnisch deutsche Familien und die Ehe zwischen Mann und Frau ausgerichtete Familienpolitik aufhalten ließe. Dieses Narrativ geht bereits auf den Nationalsozialismus zurück und richtet sich gegen pluralistische und individualistische Partnerschaftsund Familienmodelle. Heterosexualität und die damit verbundene "traditionelle Kernfamilie" werden dabei von Rechtsextremist:innen als 36 RECHTSEXTREMISMUS alternativlos und biologisch "natürlich" angesehen. Bundesweit zeigt sich eine Zunahme an LGBTQIA+7-Feindlichkeit, die sich nicht nur verbal, sondern auch durch gewalttätige Übergriffe gegen Angehörige der LGBTQIA+-Gemeinschaft ausdrückt. Sexuelle Minderheiten werden pauschal durch homophobe, queerund transfeindliche Ideologien diffamiert, ausgegrenzt und herabgewürdigt. #Stolzmonat Weltweit steht der Juni eines jeden Jahres im Zeichen des Pride Months (#Pride Month). Dabei feiern insbesondere Menschen der LGBTQIA+-Bewegung die Vielfalt in der Gesellschaft und den offenen und stolzen Umgang mit sexuellen Identitäten und individuellen Lebensentwürfen. Weltweit finden im Rahmen des sog. Pride Month Veranstaltungen in Großstädten statt. Im Juni 2023 versuchten deutsche Rechtsextremist:innen auf Facebook und X (ehemals Twitter) den #PrideMonth (Hashtag Pride Month) für sich umzudeuten. Unter den Hashtags #Stolzmonat oder #StolzstattPride starteten sie eine medienwirksame Kampagne, um ihre Abneigung gegenüber der LGBTQIA+-Gemeinschaft kundzutun. In Anlehnung an die Regenbogenfahne wurde die Deutschlandfahne in mehreren Farben gezeigt und statt Vielfalt "NationalKampagne "Stolzmonat" stolz" gefordert. Damit soll die LGBTQIA+-Community in den sozialen Medien verhöhnt und provoziert werden. Gleichzeitig wird der Regierung eine vermeintliche ideologische Gleichschaltung der Gesellschaft vorgeworfen sowie - in Verbindung mit der Ablehnung des sog. "Gender-Wahns" - eine vermeintliche politische und ideologische Unterdrückung der "deutschen Bevölkerung" propagiert. Mit dem #StolzmonatHerausforderung "nominierten" sich die Rechtsextremist:innen gegenseitig und riefen dazu auf, für ideologienahe Organisationen zu spenden oder Fotos von Aktionen mit der Deutschlandfahne sowie entsprechende "Memes" zu posten. Der #Stolzmonat wird hierbei als konkretes Vernetzungsinstrument genutzt. Der "Nationalstolz" wird folglich als Kampfbegriff gegen die Akzeptanz von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt propagiert. Beitrag auf der Facebookseite "AfD Bremen" Auch der Bremer Landesverband der AfD (rechtsextremistischer Verdachtsfall, siehe Kapitel 3.7.2) beteiligte sich über seine Facebookseite am #Stolzmonat. Mit dem Slogan "Schwarz-Rot-Gold ist bunt genug" (Facebook-Seite AfD Bremen, 7 LGBTQIA+ ist eine aus dem Englischen übernommene Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender, Queer, Intersexuel, Asexuel / Aromantic / Agender weitere und schließt mit einem + oder * als Platzhalter für weitere Geschlechtsidentitäten ab. RECHTSEXTREMISMUS 37 02.06.2023) wird eine in rechtsextremistischen Kreisen gängige Ablehnung der LGBTQIA+-Community in Verbindung mit einer fremdenfeindlichen Andeutung - in diesem Fall einer vermeintlichen "Überfremdung" Deutschlands - gebracht. 3.4.2 Rechtsextremistische Propaganda Das Ziel rechtsextremistischer Propaganda ist die individuelle und kollektive Radikalisierung, indem über gesellschaftspolitische Diskussionen Einfluss auf die Meinung von Einzelpersonen und somit auf Stimmungen in der Gesellschaft genommen wird. Rechtsextremist:innen gelingt es, u. a. mit "weicheren" Formulierungen oder dem Weglassen von verfassungsfeindlichen Positionen, sich in aktuelle politische Diskussionen einzubringen und ihre fremdensowie speziell islamund muslimfeindlichen Positionen zu verbreiten. Der politische Diskurs verändert sich erkennbar dahingehend, dass fremdenund islamfeindliche Positionen offener als noch vor wenigen Jahren vertreten werden. In der politischen Debatte um Zuwanderung und die Aufnahme von Geflüchteten heben Rechtsextremist:innen die von Migrant:innen begangenen Straftaten hervor. Sie greifen dazu die Sorgen und Ängste vieler Menschen auf, wie die Angst vor einer angeblichen "Überfremdung" oder der vermeintlichen Zunahme von Kriminalität. Das Ziel von Rechtsextremist:innen besteht vor allem darin, die Straftaten von einzelnen Migrant:innen in Zusammenhang mit einer aus ihrer Sicht verfehlten Flüchtlingspolitik der letzten Jahre zu bringen. Hierdurch versuchen sie vorzugeben, dass der deutsche Staat unfähig sei, seine Bürger:innen vor kriminellen Geflüchteten und Migrant:innen zu schützen. Dabei betonen die Akteur:innen die soziale Ungerechtigkeit zwischen der Unterstützung für Asylbewerber:innen und der Unterstützung für "in Not geratene Deutsche". Rechtsextremist:innen arbeiten hierzu mit diffamierenden Stereotypen: jeder Geflüchtete wird pauschal zum "Vergewaltiger" und alle Personen muslimischen Glaubens zu "Terroristen". Mit gezielten Tabubrüchen und dem Zeichnen von Bedrohungsszenarien, für die sie teilweise manipulierte oder verfälschte Informationen heranziehen, versuchen Rechtsextremist:innen, Aufmerksamkeit in der Bevölkerung zu erregen, vorhandene Ängste zu verstärken und Hass zu schüren. Rechtsextremist:innen propagieren das Szenario einer drohenden "Islamisierung" Deutschlands und thematisieren in diesem Zusammenhang häufig Selbstschutz, Selbstverteidigung sowie das "Recht auf Notwehr". Dabei fallen auch aggressive und beleidigende Äußerungen bis hin zu Mordund Gewaltandrohungen. Neben den typischen Feindbildern dienen insbesondere Bürgerkriegsoder Endzeitszenarien der Rechtfertigung von Gewalttaten. 38 RECHTSEXTREMISMUS In den Fokus rechtsextremistischer Narrative gerieten in den letzten Jahren sowohl Politiker:innen der sog. "Altparteien" als auch die sog. "Lügenpresse". Den Politiker:innen wird vorgeworfen, "Politik gegen das deutsche Volk" zu betreiben und die Meinungsfreiheit massiv einzuschränken. Das Ziel von Rechtsextremist:innen besteht in der Polarisierung der Gesellschaft, indem sie Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber ihren gewählten Vertreter:innen säen. Rechtsextremist:innen greifen in Anbetracht wachsender Ängste und Unsicherheiten der Menschen gezielt gesellschaftlich relevante Themen auf und versuchen so, unpolitisierte Teile der Gesellschaft für ihre Zwecke einzuspannen. So werden bspw. die Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, die sich auch in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung durch steigende Energieund Lebenshaltungskosten bemerkbar machten, von den Anhänger:innen der rechtsextremistischen Szene in politischen Kampagnen und Mobilisierungsaufrufen aufgegriffen. Zur Mobilmachung werden dabei sowohl klassische rechtsextremistische Agitationsthemen wie die Migrationspolitik als auch gesellschaftlich relevante Themen wie die Preissteigerungen oder Kritik an den Sanktionen gegen Russland verwendet. Radikalisierung durch rechtsextremistische Propaganda im Internet Dem Internet kommt bei der Verbreitung rechtsextremistischer Feindbild-Propaganda eine entscheidende Rolle zu. Soziale Netzwerke und Messenger-Dienste dienen der rechtsextremistischen Szene zur Kommunikation, Verbreitung von Propaganda, Mobilisierung von Personen für Aktionen und Organisation von Veranstaltungen. Über internationale Plattformen und Imageboards findet eine Vernetzung mit Gleichgesinnten über Ländergrenzen hinaus statt. Zudem kann sich die rechtsextremistische Szene durch die Nutzung alternativer Plattformen kurzfristig neu aufstellen und passt sich flexibel an Verbote und Überwachung an. So entstehen Parallelangebote und -plattformen, über die unzensiert und ohne drohende Accountsperrungen unter dem Deckmantel der Wahrung vermeintlicher Meinungsfreiheit rechtsextremistische Inhalte geteilt werden. Zwar erreichen diese Alternativplattformen zumeist nicht die gleiche Reichweite wie die etablierten Medienkanäle, dafür kann die extremistische Ideologie über zugangsbeschränkte Bereiche, etwa geschlossene Chatgruppen oder Spiele-Plattformen, jedoch umso offensiver vertreten werden. Besonders problematisch sind Messenger-Dienste wie Telegram, da hier ein besonders hoher Grad an Anonymität gegeben ist und die Möglichkeiten für eine konsequente Aufklärung, Prävention und Strafverfolgung erheblich eingeschränkt sind. Radikalisierungsprozesse vollziehen sich bereits länger nicht mehr nur über Szenetreffs und politische Veranstaltungen. Das Internet bietet für viele Personen ein niedrigschwelliges Angebot, da es nicht an lokale Rahmenbedingungen geknüpft ist und eine RECHTSEXTREMISMUS 39 Vielfalt von Themen und Partizipationsmöglichkeiten eröffnet. Zudem gewährleistet die Möglichkeit der Anonymität ein Engagement ohne öffentliche Stigmatisierung oder gar Repressionen. Rechtsextremist:innen nutzen gezielt die Möglichkeiten der virtuellen Vernetzung, lancieren Kampagnen und streuen Desinformationen. Medienbeiträge werden selektiv und oft verzerrt verbreitet, um Stimmung gegen Geflüchtete, die gewählten Vertreter:innen und politisch Andersdenkende zu machen. Durch die Vernetzung untereinander und die Nutzung eigener "rechter" Medienportale werden Vorurteile geschürt und negative Emotionen verstärkt. Die durch Algorithmen gestützte selektive Themensetzung über soziale Netzwerke fördert die Entstehung von sog. "Echokammern" und "Filterblasen", in denen sich das rechtsextremistische Weltbild unhinterfragt verbreiten und verfestigen kann. Die Entstehung eines Resonanzraums, in dem die eigenen gruppenund menschenfeindlichen Ansichten geteilt und gespiegelt werden, birgt die Gefahr einer Parallelwelt, die im Gegensatz zu realweltlichen Kontakten enthemmter und vielschichtiger wirken kann. Diese Entwicklung kann sich beschleunigend auf Radikalisierungsprozesse auswirken. Verbreitung rechtsextremistischer Ideologie über Gaming-Plattformen Rechtsextremistische Inhalte finden auch über Gaming-Plattformen und Videospiele Verbreitung. Die rechtsextremistische Szene nutzt gezielt die "Gamifizierung" (s. o. 3.2.1), um ihre politische Propaganda und Vernetzung voranzutreiben. Über Inhalte, die den Nationalsozialismus verherrlichen und verharmlosen, versucht die Szene insbesondere die Anwerbung junger Menschen voranzutreiben und Anschlussfähigkeit für ihre rechtsextremistische Propaganda zu generieren. Zu den bekannten Spielen mit rechtsextremistischen und antisemitischen Inhalten zählt z. B. die bereits in den 1980er-Jahren veröffentlichte und indizierte Spielereihe "KZManager", bei dem der Spieler die Rolle eines Verwalters in einem Konzentrationslager übernimmt und die Vernichtung der Insassen organisiert. Ein weiteres, szenebekanntes Spiel ist das seit 2020 in Deutschland indizierte "Heimat Defender: Rebellion", welches von einer in Österreich ansässigen Firma in Zusammenarbeit mit dem zum Netzwerk der "Neuen Rechten" zählenden Verein "EinProzent e.V." entwickelt wurde. In diesem "Jump-'n'-Run"-Spiel kann der Spieler verschiedene rechtsextremistische Spitzenfunktionäre der "Neuen Rechten" als Cover des indizierten Spiels spielbare Charaktere auswählen, die als Widerstandskämpfer gegen "Heimat Defender: Rebellion" das im Spiel vorherrschende System kämpfen. Dieser niedrigschwellige Einstieg in rechtsextremistische Ideologieelemente kann dabei als Startpunkt fungieren, über den jüngere Menschen zunächst auf spielerische Weise in die rechtsextremistische Szene gelangen und so die Herausbildung einer rechtsextremistischen Weltanschauung begünstigen. 40 RECHTSEXTREMISMUS Auch Spiele, die ursprünglich für ein Massenpublikum gedacht waren, können durch Rechtsextremist:innen vereinnahmt werden. Auf der Online-Spieleplattform "Roblox" können Nutzer:innen nicht nur eigene Spiele spielen, sondern auch eigene Spiele entwerfen. Dabei sind u. a. rechtsextremistische Spielewelten erstellt worden, in denen die Nutzenden in den letzten Jahren stattgefundenen Terroranschläge nachspielen können. Insbesondere junge und ideologisch noch nicht gefestigte Spieler:innen können auf diese Weise gezielt angesprochen werden und mit rechtsextremistischer Propaganda in Berührung kommen. 3.5 Verbotsverfahren Vereinsverbote bilden eine wichtige Säule bei der Bekämpfung von Extremismus und sind Ausdruck der wehrhaften Demokratie. Im Jahr 2023 wurden mit den "Hammerskins" und der "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V." (AG-GGG) gleich zwei rechtsextremistische Gruppierungen verboten. "Hammerskins" Mit Wirkung vom 19. September 2023 hat das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) die rechtsextremistische Vereinigung "Hammerskins Deutschland" gemäß Vereinsgesetz verboten. Die "Hammerskins" richteten sich ihrem Vereinszweck nach gegen die verfassungsmäßige Ordnung, liefen nach Zweck und Tätigkeit den Strafgesetzen zuwider und richteten sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Mit der Verbotsverfügung wurde auch das Logo der verbotenen "Hammerskin-Chapter Bremen" verboten. "Hammerskins" Die 1988 in den USA gegründete und seit Beginn der 1990er-Jahre in Deutschland existierende rechtsextremistische Skinhead-Organisation "Hammerskins" beschäftigte sich vorwiegend mit der Planung und Durchführung rechtsextremistischer Konzerte. Vor dem Hintergrund ihres rassistischen und nationalistischen Weltbildes verfolgte die Organisation das Ziel, alle "weißen nationalen Kräfte" in einer weltweiten "HammerskinNation" zu vereinigen. Die "Hammerskin Nation" war bis zum Verbot in nationale Divisionen aufgeteilt, die wiederum in regionale "Chapter" gegliedert wurden. In Deutschland existierten etwa 13 "Chapter", wobei das "Hammerskin-Chapter Bremen" zu den ältesten gehörte. Abgesehen von der Durchführung und Organisation von Konzertveranstaltungen traten die konspirativ agierenden "Hammerskins" selten öffentlich in Erscheinung. RECHTSEXTREMISMUS 41 "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V." (AG-GGG) Das Bundesministerium für Inneres verbot zum 27. September 2023 den 1951 gegründeten neonazistischen Verein "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e.V." (AG-GGG). Die "Artgemeinschaft" sei eine sektenartig aufgebaute neonazistische, rassistische, fremdenund demokratiefeindliche Vereinigung. Ihre Anhänger:innen propagierten ein völkischLogo der verbotenen "Hammerskins" rassistisches Weltbild, das sich auf das nationalsozialistische Konzept der biologistisch definierten "Volksgemeinschaft" beziehe. Unter Bezugnahme auf einen pseudoreligiösen germanischen Götterglauben stünde als zentrales Ziel des Vereins die Erhaltung und Förderung der eigenen "Art" im Vordergrund. Im Rahmen des Verbotsvollzugs kam es bundesweit zu Exekutivmaßnahmen gegen die Vereinsmitglieder. Mehrere Rechtsextremist:innen aus Bremen hatten den Verein in der Vergangenheit in finanzieller Hinsicht unterstützt. Exkurs: Bundesweite Gerichtsund Verbotsverfahren gegen rechtsterroristische (Klein-)Gruppierungen:8 23. Januar 2020: Verbot der neonazistischen und militanten Organisation "Combat 18" (C18) 23. März 2020: Verurteilung mehrerer Mitglieder der rechtsextremistischen Gruppierung "Revolution Chemnitz" wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung 23. Juni 2020: Verbot der rechtsextremistischen Vereinigung "Nordadler" 4. Februar 2021 und 18. März 2021: Verurteilung mehrerer Mitglieder der rechtsextremistischen "Gruppe Freital" 30. November 2023: Verurteilung mehrerer Mitglieder der rechtsterroristischen "Gruppe S." (benannt nach ihrem Gründer Werner S.) wegen des Verdachts der Bildung, Mitgliedschaft und Unterstützung einer rechtsterroristischen Vereinigung zu mehrjährigen Haftstrafen 8 Die folgende Auflistung ist keine vollumfängliche Darstellung, sondern beinhaltet primär herausragende Beispiele. 42 RECHTSEXTREMISMUS 3.6 Rechtsextremist:innen im öffentlichen Dienst Im Jahr 2023 wurde mehrfach die Verbreitung der rechtsextremistischen Ideologie durch Angehörige des öffentlichen Dienstes deutschlandweit bekannt. Bundesweit gab es Vorfälle, bei denen Polizist:innen und Soldat:innen rechtsextremistische Inhalte in internen Chatgruppen teilten. So wurden beispielsweise rassistische Witze, rechtsextremistische Symbole oder Darstellungen in Form von "Memes" geteilt, u. a. Abbilder von Adolf Hitler und/oder Symbole, die den Nationalsozialismus verherrlichen. Beamt:innen sind, dem von ihnen geleisteten Eid entsprechend, in besonderem Maße verpflichtet, die Werte der demokratischen Staatsund Gesellschaftsordnung zu vertreten. Dies resultiert u. a. aus ihrer besonderen Stellung als Teil der Exekutive und dem damit verbundenen hohen Vertrauen der Bürger:innen, dass durch entsprechende Vorfälle erschüttert werden kann. Rechtsextremistische Tendenzen und Strukturen im öffentlichen Dienst müssen daher besonders frühzeitig erkannt und eingedämmt werden. Zur Stärkung der Verfassungstreue von Beamt:innen setzt sich die Innenministerkonferenz auf Bremer Initiative dafür ein, dass der Straftatbestand der Volksverhetzung gemäß SS 130 StGB in das Beamtenstatusgesetz aufgenommen wird. Eine entsprechende strafrechtliche Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten hätte dann automatisch zur Folge, dass die rechtskräftig verurteilte Person aus dem Dienst entlassen ist. In enger Abstimmung zwischen den Landesämtern für Verfassungsschutz und den zuständigen Polizeibehörden wurde erstmalig im Oktober 2020 der "Lagebericht zu Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden" veröffentlicht. Im Jahr 2022 wurde die Fortschreibung des Lagebildes unter Hinzunahme des Spektrums der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" erweitert. Im Jahr 2023 waren in Bremen insgesamt vier Verdachtsfälle zu verzeichnen: So argumentierten zwei Angehörige des öffentlichen Dienstes in reichsbürgertypischer Weise, während zwei weitere mit fremdenfeindlichen und volksverhetzenden Aussagen auffielen. In mehreren Fällen der vergangenen Jahre blieb die Verbreitung rechtsextremistischen Gedankenguts durch Angehörige des öffentlichen Dienstes ohne strafrechtliche Konsequenz, da die strafrechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt waren. Gleichwohl hatten die Taten disziplinarrechtliche Konsequenzen für die Betroffenen. RECHTSEXTREMISMUS 43 3.7 "Neue Rechte" Während sich der traditionelle Rechtsextremismus ideologisch vor allem durch seine Bezugnahme auf den historischen Nationalsozialismus und den völkischen Rassismus auszeichnet, propagieren andere Teile eine "modernere" Variante der rechtsextremistischen Ideologie. Statt Rasse sind für die Anhänger:innen der sog. "Neuen Rechten" Ethnie oder Kultur die entscheidenden Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. So argumentieren die "Identitären" mit dem Konzept des Ethnopluralismus, nach dem die ethnokulturelle Identität eines Volkes ausschließlich durch seine Abschottung zu anderen Völkern erhalten werden könne. Bei der "Neuen Rechten" handelt es sich im engeren Sinne um eine Gruppe von Intellektuellen, die sich auf das Gedankengut der Konservativen Revolution der Weimarer Republik beruft und mit einer "Kulturrevolution von rechts" einen grundlegenden politischen Wandel herbeiführen will. Angehörige der "Neuen Rechten" beziehen sich auf Schlagworte wie Ethnie, Identität oder Kultur als Abgrenzungskriterien. Sie eint ein identitäres Demokratieverständnis oder ein ethnisch-homogenes Volksverständnis. Ihre antipluralistische und antiindividualistische Einstellung wird dabei strategisch eingesetzt: Die Vertreter:innen der "Neuen Rechten" versuchen sukzessive, politische Werte umzudeuten und gesellschaftlichen Konsens aufzubrechen. Im Rahmen von politischen Diskussionen beabsichtigen sie, die "Grenze des Sagbaren" durch gezielte Tabubrüche stetig zu erweitern. Die sog. "Strategie der Metapolitik" wird gezielt eingesetzt, um "rechte" Positionen "salonfähig" zu machen und in der Gesellschaft bzw. im "vorparlamentarischen Raum" zu verbreiten. Durch die Umdeutung der politischen Diskurse soll langfristig der Nährboden für die erhoffte "politische Wende" vorbereitet werden. 3.7.1 Strukturen der "Neuen Rechten" Bei der Verfolgung ihres Ziels, dem vermeintlich "linksliberalen Mainstream" eine "rechte" Alternative entgegenzusetzen und somit "rechte" Positionen in der bürgerlichen Gesellschaft anschlussfähig zu machen, können die Akteur:innen der "Neuen Rechten" auf ein breit aufgestelltes heterogenes Netzwerk zurückgreifen. Häufig arbeiten sie in Bewegungen, Initiativen oder Netzwerken mit Personen aus dem nicht-extremistischen, rechtskonservativen Spektrum zusammen, die sich nicht zwangsläufig selbst der rechtsextremistischen Szene zuordnen lassen. Es entstehen situative Netzwerke, über die sich Personen für (virtuelle) Kampagnen und Aktionen leicht rekrutieren lassen. Im Kampf um den vorpolitischen Raum greifen die Akteur:innen dabei auf ein weit verzweigtes Geflecht aus Verlagen, eigenen Medien und Nachrichtenportalen sowie Publikationen zurück, welches überregional tätig ist und somit auch für Bremen Relevanz entfaltet. 44 RECHTSEXTREMISMUS Die im Jahr 2012 gegründete Gruppierung "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) ist im Netzwerk der "Neuen Rechten" ein zentraler Akteur. Die IBD ist ein Ableger der 2003 formierten französischen rechtsextremistischen Bewegung "Generation Identitaire" und untergliedert sich europaweit in lokale und regionale Gruppierungen. Nachdem die "Identitäre Bewegung" (IB) jahrelang mit medienwirksamen Aktionen Logo "Identitäre Bewegung Deutschland" auf sich aufmerksam gemacht hat, zeichnet sich derzeit durch den zunehmenden Mitgliederrückgang eine organisatorische Schwäche der Gruppierung ab. Dennoch haben die "Identitären" als unmittelbares Produkt und Teil des Netzwerkes der "Neuen Rechten" bedeutend dazu beigetragen, den Ethnopluralismus "salonfähiger" zu machen und den gesellschaftlichen Diskurs nach "rechts" zu verschieben. Viele der ehemaligen Akteur:innen sind mittlerweile in anderen Projekten der "Neuen Rechten" aktiv, etwa im Zeitschriftenund Verlagswesen. Zuletzt zeigte sich am 29. Juli 2023 auf der von der IB Österreich organisierten "Remigrationsdemo" in Wien, wie eng die Kooperationsnetzwerke der "Neuen Rechten" zusammen agieren: So waren unter den rund 500 Teilnehmenden auch Vertreter:innen der "Jungen Alternative" (JA) anwesend, der Jugendorganisation der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD), die das BfV seit April 2023 als gesichert extremistisch beobachtet. Die JA hat die vorherigen Distanzierungsbemühungen zur rechtsextremistischen IB mittlerweile aufgegeben und demonstrierte hier öffentlich den Schulterschluss. Das im Jahr 2000 gegründete rechtsextremistische "Institut für Staatspolitik" (IfS) gilt als Denkfabrik der "Neuen Rechten" und hat seinen Hauptsitz im sachsen-anhaltinischen Schnellroda. Das IfS zielt mit seiner Strategie auf die Beeinflussung des vorpolitischen Raumes ab. Mit den IfS-eigenen Publikationen wie der Zeitschrift "Sezession", dem OnlineBlog "Sezession im Netz" und als "Akademien" bezeichnete Tagungen Logo "Institut für Staatspolitik" wird die Verbreitung der rechtsextremistischen Ideologie und die Vernetzung innerhalb der "Neuen Rechten" vorangetrieben. Das BfV erachtet das IfS seit April 2023 als gesichert rechtsextremistische Bestrebung. Der im Jahr 2000 gegründete "Verlag Antaios" gilt als "Hausverlag" des "Instituts für Staatspolitik". Im Verlag erscheinen Logo "Verlag Antaios" vornehmlich Sachbücher rechter oder rechtsextremistischer Autor:innen, die sich insbesondere mit Zeitgeschichte, Politikund Sozialwissenschaften aus einer "neurechten" Perspektive befassen. Zur Autorenschaft gehören u. a. ehemalige und aktive Akteure der "Identitären Bewegung" Deutschlands und Österreichs. Das BfV führt den "Verlag Antaios" seit 2021 als Verdachtsfall. RECHTSEXTREMISMUS 45 Der rechtsextremistische Verein "Ein Prozent e.V." wurde 2015 im Kontext der sog. "Flüchtlingskrise" gegründet. Der Verein versteht sich selbst als "professionelle Widerstandsplattform für Logo "EinProzent e.V." deutsche Interessen [...] gegen die verantwortungslose Politik der Masseneinwanderung." (Internetseite "EinProzent e.V.") Ziel ist die Erringung der kulturellen Hegemonie im vorpolitischen Raum und damit die Etablierung einer rechtsextremistischen "Gegenkultur". Dabei vernetzt und unterstützt der Verein materiell und ideell "neurechte" Organisationen, Gruppierungen und Einzelpersonen. Der Name spiegelt die Überzeugung wider, dass die Unterstützung von einem Prozent der deutschen Bevölkerung ausreiche, um die politische Wende zu erreichen. Das BfV stufte "EinProzent e.V." im April 2023 als gesichert rechtsextremistische Bestrebung ein. Das rechtsextremistische "COMPACT-Magazin" ist das Hauptprodukt des seit 2013 multimedial ausgerichteten Unternehmens "COMPACT - Magazin GmbH". Das Magazin erscheint seit 2010 und wird im brandenburgischen Falkensee herausgegeben Logo "Compact-Magazin" und verlegt. Der Geschäftsführer und Herausgeber des Magazins gilt als zentraler Vernetzungsakteur zwischen der "Neuen Rechten" und dem rechtsextremistischen Parteienspektrum. Zu den Online-Angeboten des Unternehmens gehören insbesondere der Internetvideokanal "COMPACTTV" und das Online-TVFormat "COMPACT. Der Tag". Darüber hinaus werden von der COMPACT-Magazin GmbH verschiedene Aktionen, Veranstaltungen, und Kampagnen durchgeführt, wie die "Ami Go Home"-Kampagne. Die "COMPACT-Magazin GmbH" wird aufgrund ihrer menschenrechtsverletzenden, demokratieund rechtsstaatsfeindlichen Äußerungen sowie geschichtsrevisionistischen und verschwörungsideologischen Inhalten seit Dezember 2021 vom BfV als gesichert rechtsextremistische Bestrebung eingestuft. "PI-NEWS" ist ein im Jahre 2004 gegründetes rechtsextremistisches reichweitenstarkes deutsches Onlineblog. Die Abkürzung PI steht nach eigenen Angaben bewusst provokativ für "Politically Logo "PI-News" Incorrect". Die Beiträge richten sich gegen eine vermeintliche "Islamisierung Europas" und sind von einer Herabwürdigung verschiedenster Bevölkerungsteile geprägt. Zudem zeichnet das Blog ein ethnisch-homogenes Volksund Gesellschaftsverständnis aus. Bei "PI-NEWS" handelt es sich vor allem in ideologischer Hinsicht nicht originär um ein der "Neuen Rechten" zugehöriges Format, dennoch unterhält es zahlreiche Verbindungen zu Organisationen und Einzelpersonen, die vorwiegend diesem Spektrum zuzurechnen sind, wie z. B. "COMPACT-Magazin GmbH" und "Verlag Antaios". Das Blog wird seit 2021 vom BfV als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung beobachtet. 46 RECHTSEXTREMISMUS 3.7.2 "Alternative für Deutschland" (AfD) Innerhalb des Netzwerks der "Neuen Rechten" spielen die Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) sowie deren Jugendorganisation "Junge Alternative" (JA) eine wichtige Rolle. Die AfD ist innerhalb der "Neuen Rechten" als Teil eines strategisch agierenden Netzwerkes zu betrachten, welches in wesentlichen Teilen von gemeinsamen politischen Überzeugungen getragen wird. Von herausragender Bedeutung und Intensität sind die Verbindungen der AfD zum rechtsextremistischen Verein "Institut für Staatspolitik" (IfS), zum rechtsextremistischen Verein "EinProzent e.V." sowie im publizistischen Bereich insbesondere zu "Compact" und "PI-NEWS". Am 8. März 2022 entschied das Verwaltungsgericht Köln, dass das BfV die AfD als "Verdachtsfall" einstufen darf. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass "sich im maßgeblichen Zeitpunkt Anhaltspunkte von hinreichendem Gewicht für verfassungsfeindliche Bestrebungen nicht nur bei den Teilorganisationen JA und Flügel, sondern auch aus den Verlautbarungen der Gesamtpartei und dort der führenden Repräsentanten entnehmen lassen. [...] Es finden sich viele Äußerungen, die die Menschenwürdegarantie verletzen. Das in den Äußerungen zutage geförderte Volksverständnis widerspricht dem im Grundgesetz zum Ausdruck kommenden Verständnis und ist geeignet, Zugehörige einer anderen Ethnie auszugrenzen und als Menschen zweiter Klasse zu behandeln. Es tritt das Ziel zutage, Migranten - insbesondere Muslime - auszugrenzen und verächtlich zu machen. Es handelt sich bei der Vielzahl der Äußerungen erkennbar nicht (mehr) um bloße Entgleisungen einzelner Funktionsträger, Mitglieder oder Anhänger des Personenzusammenschlusses, die sich von der Linie des Flügels abheben würden. Aus dem Grundtenor der zitierten Aussagen lässt sich ableiten, dass das Volksverständnis und die ausländerfeindliche Agitation Ausdruck eines generellen Bestrebens der Klägerin und ihrer Teilorganisationen JA und Flügel sind." (Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 08.03.2022, 13 K 326/21). Das BfV führt die AfD auf Grundlage der Gerichtsentscheidung seit dem 14. März 2022 als Verdachtsfall im Phänomenbereich Rechtsextremismus. Gegen diese Entscheidung legte die AfD am 3. Juni 2022 Berufung beim Oberverwaltungsgericht Münster ein. RECHTSEXTREMISMUS 47 AfD Landesverband Bremen Den Bremer Landesverband der AfD, der als organisatorische Untergliederung der Partei deren politische Agenda mitbestimmt und mitträgt, stufte das LfV Bremen am 17. Juni 2022 ebenfalls als "Verdachtsfall" ein. Es liegen tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht vor, dass der Bremer Landesverband gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und insbesondere die Garantie der Menschenwürde verstößt. In den Veröffentlichungen des Landesverbandes kommt in Teilen ein ethnisch-homogenes Volksverständnis zum Ausdruck; dieses Verständnis widerspricht den zentralen Wertentscheidungen des Grundgesetzes. So teilte der AfD-Landesverband bspw. am 13. Oktober 2023 einen Beitrag auf seinem Facebook-Profil unter dem Titel "Ausländeranteil 22,61 Prozent: Fast jeder vierte Bremer mit Migrationshintergrund! Wir wollen nicht zur Minderheit im eigenen Land werden - darum jetzt AfD!" (Facebook-Seite des AfD-Landesverbandes, 13.10.2023). Mit dem Teilen des Beitrags bedient der Bremer Landesverband implizit das in der ethnopluralistischen Ideologie der "Neuen Rechten" zentrale Narrativ des "Großen Austauschs", wonach die deutsche Beitrag auf der Facebookseite Mehrheitsgesellschaft allmählich durch Menschen mit Migrations"AfD Bremen" hintergrund ausgetauscht werden soll. Zudem wird eine Abgrenzung gegenüber Personen mit Migrationshintergrund vorgenommen, die auf einer Vorstellung ethnischhomogener Kriterien beruht. In weiteren Veröffentlichungen des AfD-Landesverbandes werden Menschen muslimischen Glaubens und Geflüchtete pauschal herabgewürdigt und diffamiert sowie deren Zuwanderung abgelehnt. So veröffentlichte der Landesverband am 20. August 2021 bspw. ein fingiertes Wahlplakat der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit der Aufschrift: "Masseneinwanderung. Asylbetrug. Kriminalität." (Facebook-Seite des AfD-Landesverbandes, 20.08.2021). Diese Aussage unterstellt Einwander:innen generell Asylbetrug und Kriminalität. In einem am 8. März 2022 veröffentlichten Beitrag unterscheidet der AfD-Landesverband bspw. zwischen "echten und unechten" Geflüchteten entsprechend ihrer Herkunft und kriminalisiert pauschal eine der beiden Gruppen, wenn er fordert: "Ja zur Hilfe für ukrainische Flüchtlinge. Aber kein Asyl für Trittbrettfahrer! Die breite Hilfsbereitschaft in unserem Land, für echte Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, darf nicht durch Asylbetrüger aus Drittstaaten gefährdet werden." (Fehler im Original, Facebook-Seite des AfD-Landesverbandes, 08.03.2022). 48 RECHTSEXTREMISMUS Neuausrichtung der AfD Bremen Interne Streitigkeiten und Machtkämpfe prägten den Bremer Landesverband der AfD in den letzten Jahren. Im Vorfeld der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft im Mai 2023 spaltete sich der Landesvorstand in einen sog. "Rumpf-" und "Notvorstand". Der langandauernde Führungsstreit führte dazu, dass die AfD Bremen nicht zur Bürgerschaftswahl zugelassen wurde: Sowohl "Rumpf-" als auch "Notvorstand" hatten eine eigene Kandidatenliste beim Landeswahlleiter eingereicht, was nach Bremer Wahlrecht nicht zulässig ist. Die AfD konnte nicht zur Wahl der Bremischen Bürgerschaft antreten und ist mithin in der neugewählten Bremer Bürgerschaft nicht vertreten. Die Rechtmäßigkeit dieses Ausschlusses wurde im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes am 28. April 2023 durch das Verwaltungsgericht Bremen bestätigt.9 Der Bremer AfD-Landesverband wählte am 15. Oktober 2023 einen neuen Vorstand. Damit entschied der sog. "Rumpfvorstand" um den bisherigen stellvertretenden Vorsitzenden den langanhaltenden Führungsstreit innerhalb des Landesverbandes für sich. Durch die Wahl von zwei Rechtsextremisten in den Vorstand gewannen rechtsextremistische Kräfte weiter an Einfluss im Bremer Landesverband: Ein Vorstandsmitglied postete mehrfach auf seinem Facebookprofil u. a. Inhalte, die ein ethnisch-homogenes Volksverständnis belegen. Ein weiteres Landesvorstandsmitglied ist zudem der ehemalige Vorsitzende des Bremer Landesverbandes der Jungen Alternative (JA)10, dessen Zugehörigkeit zur sog. "Neuen Rechten" und Verbindungen zur rechtsextremistischen "Identitären Bewegung" öffentlich bekannt sind. Am 26. Oktober 2023 teilte die AfD Bremen auf ihrem Facebook-Profil einen Beitrag des AfD-Bundesverbandes unter dem Titel "Andere reden über die Migrationskrise, wir beenden sie" und macht sich diesen so zu eigen. Der Beitrag besteht aus einer Bildmontage, in der als Lösung der Migrationskrise die "Willkommenskultur" gestrichen und durch "Remigration" ersetzt wird: Der Begriff "Remigration", ursprünglich aus der Migrationsund Exilforschung stammend, wird von der rechtsextremistischen "Identitären Bewegung" und weiteren Akteuren der "Neuen Rechten" verwendet, um Maßnahmen zur Umkehrung von Flüchtlingsströmen und zur Rückführung von Menschen mit Migrationsgeschichte in ihre Heimatländer zu fordern. Dabei wird das Ziel verfolgt, vermeintlich fremde Einflüsse aus Europa zu verdrängen, selbst unter Missachtung des Rechtsstatus der betroffenen Personen und der Aberkennung jeglicher Fluchtgründe. Diese Forderungen basieren 9 Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit des Wahlverfahrensakts des Landeswahlausschusses und der Zulassung des Landesverbandes Bremen der AfD zur Bürgerschaftswahl 2023, VG Bremen, 1 V 779/23, Beschluss vom 28.04.2023. 10 Die "Junge Alternative Bremen" wurde 2018 zum "Verdachtsfall" des LfV Bremen erklärt; der Bundesverband ist seit 2023 erwiesen rechtsextremistisches Beobachtungsobjekt des BfV. RECHTSEXTREMISMUS 49 auf dem Konzept des Ethnopluralismus, das einen ethnisch-homogenen Volksbegriff einschließt (siehe Kapitel 3.1). Obwohl dieser Volksbegriff keine explizite rassistische Abwertung von Fremdgruppen beinhaltet, verstößt er dennoch gegen die in Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes garantierte Menschenwürde, da er auf unabänderliche völkisch-abstammungsmäßige Kriterien abzielt. Das Verwaltungsgericht Köln stellte in seinem Urteil vom 13. Oktober 2022 auf Klage der "Identitären Bewegung" zu ihrer Einstufung durch das Beitrag auf der Facebookseite BfV als gesichert rechtsextremistische Bestrebungen fest: In der mit "AfD Bremen" dem Begriff der "Remigration" verbundenen Forderung nach einer "Ausweisung derjenigen Bevölkerungsteile aus Deutschland und Europa, die den ethnokulturellen Kriterien des Klägers nicht entsprechen, kommt ebenfalls eine migrantenfeindliche Grundhaltung zum Vorschein".11 In diesem Zusammenhang kann der Begriff "Remigration" als eine abgemilderte Formulierung der alten Parole "Ausländer raus" betrachtet werden. Exkurs: Rechtliche Voraussetzungen für ein mögliches Verbotsverfahren Ein in der politischen Öffentlichkeit diskutiertes Verbotsverfahren bezüglich der AfD unterliegt hohen Hürden. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Verbot einer Partei sind erheblich, nicht nur in verfahrensrechtlicher Hinsicht bei einer entsprechenden Antragstellung vor dem Bundesverfassungsgericht: Ein Parteiverbot ist kein Gesinnungsoder Weltanschauungsverbot, vielmehr muss nachgewiesen werden, dass die Partei darüber hinausgeht und die freiheitliche demokratische Grundordnung aktiv bekämpft.12 Erforderlich ist dafür ein planvolles Handeln, das im Sinne einer qualifizierten Vorbereitungshandlung auf die Beeinträchtigung oder Beseitigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung ausgeht. Es muss nachgewiesen werden, dass von der Partei kontinuierlich auf die Verwirklichung eines der freiheitlichen demokratischen Grundordnung widersprechenden politischen Konzepts hingearbeitet wird. Ein Parteiverbot kommt erst in Betracht, wenn das verfassungsfeindliche Agieren von Parteianhängern sich nicht nur in Einzelfällen zeigt, sondern einer zugrunde liegenden Haltung entspricht, die der Partei in ihrer Gesamtheit zugerechnet werden kann.13 11 VG Köln, Urteil vom 13.10.2022 - 13 K 4222/18, 143. 12 BVerfG, Urt. v. 17. Jan. 2017, 2 BvB 1/13, Rn. 570 13 BVerfG, a.a.O., Rn. 576 50 RECHTSEXTREMISMUS 3.8 Traditioneller Rechtsextremismus Im Gegensatz zur "Neuen Rechten" sieht sich der traditionelle Rechtsextremismus in der historischen Tradition des Nationalsozialismus und vertritt einen völkischen Rassismus. Seine Anhänger:innen propagieren ihre Fremdenfeindlichkeit, ihren Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus offen nach außen und beziehen sich positiv auf die NS-Diktatur. Ziel ist in der Regel die Bildung einer ethnisch-homogenen Volksgemeinschaft, die nach dem Führerprinzip regiert wird. Strukturell kann die "traditionelle Rechte" auf ein weit verzweigtes Netzwerk aus rechtsextremistischen Parteien, Kameradschaften, Musikbands und Kampfsportlern zurückgreifen. 3.8.1 Rechtsextremistische Parteien Im rechtsextremistischen Parteienspektrum steht die Partei "Die Heimat!", die bis zu ihrer Umbenennung im Juni 2023 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) hieß, in Konkurrenz zu den neonazistisch ausgerichteten Parteien "Die Rechte" und Logo der Partei "Die Heimat" "Der III. Weg". Die 1964 gegründete Partei war in den vergangenen Jahren bei Wahlen durchgängig erfolglos. Die Partei ist bundesweit jedoch weiterhin auf kommunaler Ebene insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern vertreten. Bereits im Vorfeld der Umbenennung gab es innerhalb der Partei Unmut über den "Reformationsprozess". So spaltete sich ein kleiner Teil der ehemaligen NPD-Parteimitglieder von "Die Heimat" ab und kündigte an, weiterhin als "NPD" politisch aktiv sein zu wollen. Zu dieser Dissidentenbewegung gehören auch frühere hochrangige NPD-Funktionäre. Der Bremer Landesverband, der in den vergangenen Jahren nicht öffentlich in Erscheinung trat, ging den Reformprozess mit und änderte entsprechend seinen Namen. "Die Heimat!" vertritt offen fremdenfeindliche, rassistische und nationalistische Positionen.14 Allen politischen, ökonomischen und sozialen Themenbereichen oder Sachfragen liegt das Konzept der ethnisch-homogenen Volksgemeinschaft zugrunde. Die Volksgemeinschaft als Gegenentwurf zur Demokratie gilt für "Die Heimat!" als alternativloses Konzept. Die Verfassungsfeindlichkeit der ihr zugrunde liegenden Ideologie bekräftigte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Verbotsverfahren gegen die damals noch "NPD" genannte Partei 2017. Das von ihr propagierte Ziel, den demokratischen Rechtsstaat durch eine ethnisch-homogene Volksgemeinschaft zu ersetzen, missachte die Menschenwürde und sei mit dem Demokratieprinzip unvereinbar. 14 "Die Heimat" hat das Grundsatzprogramm der NPD übernommen, insofern unterscheidet sie sich ideologisch und politisch nicht von der NPD. RECHTSEXTREMISMUS 51 Am 23. Januar 2024 entschied das Bundesverfassungsgericht, die Partei "Die Heimat" für die Dauer von sechs Jahren von der staatlichen Finanzierung aufgrund ihrer Verfassungsfeindlichkeit auszuschließen. Neonazis "Neonazi" ist die Kurzform für "Neonationsozialist". Fälschlicherweise werden die Begriffe "Neonazi" und "Rechtsextremist" häufig synonym verwendet. Neonazis bezeichnen sich selbst häufig als "Freie Kräfte" oder "Freie Nationalisten". Der Neonazismus, der als ein Teilbereich des Rechtsextremismus gilt, ist dadurch gekennzeichnet, dass er in der Tradition des Nationalsozialismus steht. Neonazis vertreten mit ihrer starken Bezugnahme auf die nationalsozialistische Ideologie revisionistische Positionen. Sie greifen zudem die typischen rechtsextremistischen Ideologieelemente wie Fremdenund Islamfeindlichkeit, Rassismus und Nationalismus auf. Ihr Ziel besteht darin, die staatliche Ordnung Deutschlands, die sie als "das System" bezeichnen, durch einen totalitären Führerstaat nationalsozialistischer Prägung mit einer ethnisch-homogenen Bevölkerungsstruktur zu ersetzen. Ethnische Vielfalt und Meinungsvielfalt bedrohen die von Neonazis angestrebte "Volksgemeinschaft", die Personen ausländischer Herkunft kategorisch ausschließt und in der sich jedes Individuum dem vorgegebenen Gesamtwillen unterzuordnen hat. Trotz übereinstimmender Grundüberzeugungen ist die neonazistische Szene ideologisch nicht homogen, die verschiedenen Ideologieelemente sind vielmehr je nach Gruppe unterschiedlich stark ausgeprägt. Mit dem im Jahr 2018 gegründeten Landesverband der Partei "Die Rechte" existiert eine weitere rechtsextremistische Partei in Bremen. Zuvor hatte es in Bremen von 2013 bis 2015 bereits Logo der Partei "Die Rechte" eine Landesgruppe der Partei "Die Rechte" gegeben. "Die Rechte" ist neonazistisch geprägt, ihre ideologischen Schwerpunkte bilden neben dem Neonationalsozialismus der Antisemitismus und die Fremdenfeindlichkeit. Die Partei verfügt über mehrere Landesund Kreisverbände vor allem in Westund Süddeutschland. Im Jahr 2023 hatte die Partei mit Auflösungserscheinungen zu kämpfen. Der aktivste und mitgliederstärkste nordrhein-westfälische Landesverband NRW löste sich im Januar 2023 auf und schloss sich als Kreisverband der Partei "Die Heimat!" (ehemalig NPD) an. Der Bremer Landesverband entfaltete nach internen Streitigkeiten und Parteiaustritten seit dem Jahr 2021 keine öffentlichen Aktivitäten. Zur Bürgerschaftswahl im Mai 2023 war der Landesverband aufgrund eines Formfehlers nicht zugelassen. 52 RECHTSEXTREMISMUS Die 2013 gegründete neonazistische Partei "Der III. Weg" ist überwiegend in den südlichen und östlichen Bundesländern aktiv, entfaltet aber auch darüber hinaus Wirkung. Sie organisiert sich in derzeit 24 regionalen "Stützpunkten", welche den vier Landesverbänden untergeordnet sind. Logo der Partei Ideologisch vertritt "Der III. Weg" ein völkisch-nationalistisches Weltbild, "III. Weg" welches insbesondere durch einen antipluralistisch-biologistischen Volksbegriff, Geschichtsrevisionismus und Antisemitismus geprägt ist. Die Anlehnung an den historischen Nationalsozialismus wird durch die Übernahme von Elementen des "25-Punkte-Programms" der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP) in das "Zehn-Punkte-Programm" der Partei besonderes deutlich. Strategisch ist "Der III. Weg" nicht nur als Wahlpartei ausgerichtet, er versteht sich vielmehr als eine ganzheitliche Organisation des "nationalen Widerstandes". Das politische Handeln der Partei basiert auf den drei Säulen "Politischer Kampf", "Kultureller Kampf" und "Kampf um die Gemeinschaft". In Bremen bestehen bislang keine Strukturen der Partei "Der III. Weg". Gleichwohl deuten Veröffentlichungen auf der Internetseite mit Bezug nach Bremen und Aktionen der Partei in Bremen darauf hin, dass die Etablierung von Parteistrukturen in Bremen oder dem Umland beabsichtigt ist. So wurden Flugblätter der Kampagne "Die wahre Krise ist das System" im Mai 2023 im Bremer Stadtteil Vahr verteilt (Internetseite "Der III. Weg", 14.05.2023), mit denen die Partei für ihre rechtsextremistische Politik warb. Bereits in den Vorjahren gab es mehrfach Flugblattverteilaktionen in Bremen. Auf der Internetseite der Partei werden regelmäßig Beiträge veröffentlicht, die Ereignisse in Bremen thematisieren und diese in den Kontext der rechtsextremistischen Ideologie des "III. Wegs" einbetten. So bezeichnet die Partei das im September 2023 in der Bremer Innenstadt errichtete Denkmal, das an die Enteignungen der Juden während des Nationalsozialismus erinnert, in einem im September veröffentlichten Beitrag als "Arisierungs-Mahnmal" und "Schuldkult"-Mahnmal (Internetseite "Der III. Weg", 14.09.2023). Auch die Schwarze Kinderbibliothek , die im Januar 2023 in Bremen eröffnete, wird auf der Internetseite der Partei mit der Bemerkung thematisiert, dass die Kinder "in ihren Heimatländern auf dem afrikanischen Kontinent [...] Identität und Rassebewusstsein" fänden (Internetseite "Der III. Weg", 10.02.2023). Dieser Beitrag zeigt ebenfalls das rassistische und verfassungsfeindliche Weltbild, das die Aktivist:innen der Partei teilen. RECHTSEXTREMISMUS 53 Die im Jahr 2021 gegründete "Neue Stärke Partei" (NSP), die aus dem thüringischen Verein "Volksgemeinschaft Erfurt e.V." hervorging, ist bestrebt, in allen Teilen Deutschlands politisch aktiv zu werden, jedoch liegt ihr Aktionsgebiet bislang vornehmlich in den östlichen Bundesländern. An Wahlen nahm die Partei NSP bundesweit bisher nicht teil. Im April 2023 bildete sich eine Jugendorganisation mit dem Namen "Neue Logo der Stärke Partei Jugendorganisation". "Neue Särke Partei" Die NSP propagiert einen am nationalsozialistischen "Volksgemeinschaftsgedanken" ausgerichteten "Ein-Parteien-Staat" unter Exklusion nichtdeutscher Minderheiten und politischer Gegner. Laut Grundsatzprogramm der Partei werden Grundrechte nur "deutschen Volksangehörigen" zugestanden. So solle Deutschland "wieder zu dem Land der Deutschen werden, zu einem wahren Nationalstaat, der die Interessen des deutschen Volkes priorisiert". Weiterhin werde die Partei sich dafür einsetzen, "die eigene Heimat zurückzuerobern und damit korrupter Verwaltung und dem antideutschen Zeitgeist ein Ende zu bereiten" (Grundsatzprogramm "Neue Stärke Partei", S. 19). Die "Neue Stärke Partei" gab am 25. Mai 2023 auf ihren Social-Media-Kanälen bekannt, dass sich in Bremerhaven ein neuer Stützpunkt gegründet habe. Deren Stützpunktleiter, ein langjähriger Anhänger der neonazistischen Szene in Bremen, hatte bereits Führungsfunktionen in der NPD und der Partei "Die Rechte" inne. Seit der Bekanntgabe der Gründung entfaltete der Stützpunkt keinerlei Aktivitäten mehr. Die misslungene Parteineugründung zeigt eindrücklich die Unfähigkeit der neonazistischen Szene Bremens, sich langfristig zu strukturieren sowie neue Anhänger zu gewinnen. 3.8.2 Rechtsextremistische "Mischszene" Bremens In Bremen existiert seit Langem eine "Mischszene" aus aktionsund gewaltorientierten Rechtsextremist:innen und Angehörigen anderer gewaltaffiner Szenen wie Hooligans oder Rockern. Das Bedrohungspotenzial liegt dabei weniger in der ideologischen Grundüberzeugung als vielmehr in der hohen Gewaltbereitschaft, die von Personen aus diesen Spektren ausgeht und die mittels rechtsextremistischer Einflussnahme instrumentalisiert werden kann. Rechtsextremist:innen sind vielfach in der Lage, anlassund ereignisbezogen solche gewaltaffinen Gruppierungen zur Begehung von politisch motivierten Straftaten zu mobilisieren. 54 RECHTSEXTREMISMUS Die Vernetzung der Szene der unterschiedlichen Akteure zeigte sich besonders deutlich am 15. Juli 2023. An diesem Tag wanderten rund 30 Personen, darunter auch Kinder, gemeinsam zur Freilichtbühne Stedingsehre in Bookholzberg in Niedersachsen. Diese wurde von den Nationalsozialisten erbaut und ab 1937 für Massenkundgebungen der NSDAP modernisiert und genutzt. Unter den Teilnehmenden des Marsches befanden sich Angehörige der neonazistischen Szene, insbesondere aus dem Umfeld der Parteien "Der III. Weg" und "Die Heimat!" (ehemals NPD), sowie Personen, die dem neurechten Spektrum, z. B. der "Identitären Bewegung", zugerechnet werden können. Bei der Wanderung zur NSKultstätte "Stedingsehre" handelte es sich um einen sog. "Gedenkmarsch". Diese dienen der rechtsextremistischen Szene, um bereits vorhandene persönliche Kontakte zu stärken, neue zu knüpfen und bestimmte Formen der Erinnerungskultur sowie geschichtsrevisionistische Weltbilder zu pflegen. "Nordic 12" In Bremen trat die rechtsextremistische Gruppierung "Bruderschaft Nordic 12", die 2014 aus der Gruppe "Brigade 8 - Logo "Nordic 12" Bremen Crew" hervorgegangen war, in den vergangenen Jahren kaum öffentlich in Erscheinung. Nichtsdestotrotz sind ihre Anhänger:innen weiterhin politisch aktiv: Mitglieder des Bremer Ablegers beteiligten sich bspw. an der jährlich am 13. Juli stattfindenden Aktion "Schwarze Kreuze". Hierbei handelt es sich um eine bundesweite Aktion, mit der auf vermeintliche Opfer "multikultureller Gewalttaten" aufmerksam gemacht werden soll (Internetseite "Schwarzekreuze.info", 13.07.2023). Hierfür wurde auch im Jahr 2023 ein selbstgebautes schwarzes Kreuz an einem Ortseingangsschild in Bremen angebracht und die Bilder der Aktion auf der Internetseite veröffentlicht. Am 11. März 2023 legten Mitglieder der rechtsextremistischen Gruppierung darüber hinaus einen Kranz mit weißen Schleifen, der Aufschriften "Nordic 12" und "In Erinnerung", am Kriegsmahnmal für Gefallene der beiden Weltkriege in Lemwerder nieder. Seit dem Jahr 2022 wird am 11. März der "Nationale Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt" gedacht. Mit der Kranzniederlegung nimmt die rechtsextremistische Gruppierung eine geschichtsrevisionistische Umdeutung dieses Gedenktages vor. Die sich als "patriotisch" bezeichnende Gruppierung zeigte in Anlehnung an sog. "Outlaw-Motorcycle-Gangs" ein martialisches Erscheinungsbild. "Nordic 12" ist insbesondere um die strategische Vernetzung der rechtsextremistischen Szene Bremens im Kampf gegen das politische "System" bemüht. RECHTSEXTREMISMUS 55 Rechtsextremistisch beeinflusste Hooligans Die Bremer Hooligan-Szene war jahrelang wegen der Hooligan-Gruppierungen "Standarte Bremen", "City Warriors" und "Nordsturm Brema" sowie der FußballfanGruppierung "Farge Ultras" bundesweit bekannt. Auch wenn einige dieser Bremer Gruppierungen in der Vergangenheit vorgaben, sich aufgelöst zu haben, sind ihre ehemaligen Mitglieder und Anhänger:innen weiterhin aktiv. Die Gruppierungen galten als "rechtsextremistisch beeinflusst", das heißt, dass es sich bei einzelnen Mitgliedern um überzeugte Rechtsextremist:innen handelt. In der Regel sind Hooligans unpolitisch, lediglich ein Teil von ihnen ist rechtsextremistisch oder fremdenfeindlich motiviert. Gleichwohl dient die Szene regelmäßig zunächst nicht-extremistischen Personen als Einstieg in den Rechtsextremismus. Seit den 1980er-Jahren versuchen Rechtsextremist:innen sowohl Hooligans gezielt abzuwerben und sie für ihre politischen Ziele zu instrumentalisieren als auch die Hooligan-Szene zu unterwandern. Rechtsextremistische Musik Musik hat eine wichtige Funktion für die rechtsextremistische Szene, weil die typischen Feindbilder in Liedtexten leicht dargestellt und vermittelt werden können. Um eine breite Zuhörerschaft zu erreichen, verdecken manche rechtsextremistischen Bands ihren ideologischen Hintergrund. Nach wie vor finden Jugendliche den Einstieg in die rechtsextremistische Szene neben sozialen Netzwerken häufig über die Musik. Konzerte bilden eine Gelegenheit für Szene-Treffs und stärken das Zusammengehörigkeitsgefühl. Gleichzeitig vermitteln sie den Jugendlichen einen Erlebnischarakter, auch weil sie häufig konspirativ organisiert sind und bieten so die Möglichkeit zu einem niedrigschwelligen Einstieg in die Szene. Rechtsextremistische Bands Für die rechtsextremistische Szene Bremens sind zurzeit vor allem zwei Bands von Bedeutung. Die 1997 gegründete, bundesweit bekannte und aktive rechtsextremistische Hooligan-Band "Kategorie C - Hungrige Wölfe" (KC), die mittlerweile ihren Schwerpunkt in Niedersachsen hat, gilt seit Jahren als Bindeglied der Hooliganund der rechtsextremistischen Szene, weil sie in beiden Szenen vor allem wegen ihrer gewaltverherrlichenden Lieder beliebt ist und insbesondere mit ihren Konzerten zum Zusammenhalt und zur Mobilisierung der Szene beiträgt. 56 RECHTSEXTREMISMUS Im Jahr 2023 veröffentlichte die Band ein neues Album mit dem Titel "Rabenbanner", welches thematisch Bezug nimmt auf in jüngerer Vergangenheit von der Band aufgegriffene Themen der nordischen Mythologie. Die Songtexte von KC sind nicht indiziert, d. h. sie weisen keine eindeutigen rechtsextremistischen (jugendgefährdenden) Inhalte CD-Cover der Band auf. Allerdings tritt die Band regelmäßig auf rechtsextremistischen Veran"Kategorie C" staltungen auf und ihre Bandmitglieder sind langjährige Angehörige der rechtsextremistischen Szene. Die im Jahre 1981 in Bremen gegründete rechtsextremistische Band "Endstufe" ist bundesweit eine der ältesten aktiven "Skinhead Bands". Im Jahr 2021 feierte die Band ihr 40-jähriges Bestehen. Ihre gewaltverherrliLogo der Band "Endstufe" chenden und fremdenfeindlichen Texte bewegen sich im Graubereich des rechtlich Zulässigen, wodurch sie der Indizierung oder dem Verbot ihrer veröffentlichten Alben entgehen. Gleichzeitig tritt die Band bundesweit und international auf rechtsextremistischen Veranstaltungen auf. Im Anschluss an die Veröffentlichung eines neuen Albums zum Jahresende 2021 anlässlich ihres 40-jährigen Bestehens kam es im Herbst 2022 zu einem mehrtägigen Jubiläumskonzert "40 Jahre live und laut", welches außerhalb Bremens stattfand. Ein dazugehöriges weiteres Album wurde im Herbst 2023 veröffentlicht. Die Musik sowie weiteres Merchandise der Band wird über den in Bremen ansässigen rechtsextremistischen "ESE Sound Shop" vertrieben. Rechtsextremistische Konzerte und Veranstaltungen werden in der Regel klandestin organisiert, um dem hohen Repressionsdruck durch die Sicherheitsbehörden zu entgehen. Dennoch gelang es den Sicherheitsbehörden u. a. im Frühjahr 2023, ein geplantes Konzert von "Endstufe" im schleswig-holsteinischen Neumünster aufzulösen. Dabei kam es zu erheblichen gewalttätigen Ausschreitungen, bei denen Konzertteilnehmer die Polizist:innen angriffen. RECHTSEXTREMISMUS 57 Die rechtsextremistische Kampfsportszene Für die gewaltorientierte rechtsextremistische Szene ist Kampfsport seit jeher ein relevantes und elementares Betätigungsfeld, welches in den letzten Jahren eine zunehmende Professionalisierung und Internationalisierung erfahren hat. Durch bundesund europaweite Großveranstaltungen wie den "Kampf der Nibelungen" trägt der Kampfsport zu einer überregionalen Vernetzung der gewaltorientierten rechtsextremistischen Szene bei. Symbol und MarkenAußerdem bildet er u. a. durch den Ticketverkauf für die Veranstaltungen zeichen des neonazistischen Kampfsportund den Vertrieb von Merchandising-Artikeln ein lukratives GeschäftsmoTurniers "Kampf der dell für die Szene. Durch seinen Erlebnischarakter dient der Kampfsport Nibelungen" zudem der Rekrutierung junger bisher ideologisch nicht gefestigter Personen. Der zunehmende Repressionsdruck durch die Sicherheitsbehörden und die zahlreichen Verbote hatten in den vergangenen Jahren einen Rückgang bei der Anzahl von Kampfsportveranstaltungen in Deutschland bewirkt. Die größte europäische Kampfsportveranstaltung "Kampf der Nibelungen" verlagerte sich ins Ausland, wodurch sich jedoch die europaweite Vernetzung der rechtsextremistischen Szene stärkte. Im Mai 2023 fand bspw. die Kampfsportveranstaltung "European Fight Night" mit bis zu 200 Besuchern in Ungarn statt. Das Ausweichen ins europäische Ausland ist eine Reaktion auf das Verbot der Stadt Ostritz im Jahr 2019, welches mit einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit begründet wurde. Die Veranstalter hatten sich mit einer Klage gegen das Verbot gewendet, diese wurde im September 2022 vom Verwaltungsgericht Dresden mit der Begründung abgewiesen, es handele sich nur vordergründig um eine Sportveranstaltung, vielmehr sollen Kampftechniken vorgeführt werden, um politische Ziele gewaltsam durchzusetzen. Rechtsextremistische Kampfsportler aus Bremen und dem Bremer Umland nehmen regelmäßig an Kampfsporttrainings und -veranstaltungen teil. Einzelne Rechtsextremist:innen beteiligen sich auch aktiv an Wettkämpfen oder unterstützen diese. 58 RECHTSEXTREMISMUS 59 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalterinnen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Spionageabwehr Unterstützungsaufgaben des LfV 60 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 4 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates Die bereits im Vorjahr festzustellende Verfestigung des Personenpotenzials, das der Verfassungsschutz dem Phänomenbereich der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" zuordnet, setzte sich im Jahr 2023 fort: Aus der Protestbewegung gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie hatte sich ein "harter Kern" an Personen herausgebildet, der weiterhin aktiv ist. Das Spektrum der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" ist deutschlandweit durch eine hohe Heterogenität geprägt: So besteht keine einheitliche und verbindliche Agenda in Form eines allgemeingültigen Programms, es gibt kaum feste Strukturen zwischen den Personen, vielmehr handelt es sich um Einzelakteur:innen und Kleingruppen. Einendes Element und Zugehörigkeitskriterium sind die Verbreitung verschiedener (meist im Kern antisemitischer) Verschwörungserzählungen sowie die grundlegende Ablehnung und Delegitimierung demokratischer Entscheidungsprozesse und der Repräsentant:innen der Bundesrepublik Deutschland. Grundsätzlich werden der Regierung und den staatlichen Institutionen pauschale und diffamierende Vorwürfe gemacht: So sei die Corona-Pandemie alleinig dafür genutzt worden, Bürger:innen zu entrechten, zu überwachen oder ein repressives Regime zu etablieren. Dabei unterstellen Angehörige des Spektrums häufig eine weltumspannende Verschwörung einer nicht näher definierten "Finanzelite" oder des "tiefen Staates" ("deep state"), die im Hintergrund die Welt steuere. Im Gegensatz zu anderen Extremismusformen steht am Ende der geforderten Überwindung der Demokratie in ihrer jetzigen Form kein einheitliches Staatskonzept, sondern meist lediglich eine abstrakte Vorstellung. Hierdurch ist das Spektrum anschlussfähig für Rechtsextremist:innen oder "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen". Antisemitismus im Spektrum der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" Der Verfassungsschutz arbeitet mit der 2017 von der "Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken" (IHRA) entwickelten Arbeitsdefinition: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen1 und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein." (BT-Drs. 19/444, Bremische Bürgerschaft 19/1808). 1 Hiermit sind Personen gemeint, die fälschlicherweise für Juden gehalten werden oder jüdische Personen / Gemeinden unterstützen. VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 61 Innerhalb des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" äußert sich Antisemitismus primär durch den Bezug auf Verschwörungsideologien und die Verwendung entsprechender Narrative. Dabei wird Menschen jüdischen Glaubens - teilweise durch explizite, häufig aber auch implizite antisemitische Narrative - vorgeworfen, als Elite im Hintergrund die Geschicke der Menschheit zu lenken und die Weltbevölkerung zu unterdrücken. Über den Antisemitismus bieten sich dem Spektrum zudem ideologische Anknüpfungspunkte zum Rechtsextremismus. 4.1 Entwicklung des Protestgeschehens bundesweit Bundesweit gab es erstmals im Frühjahr 2020 Proteste gegen die Maßnahmen der Bundesund Landesregierungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. An den Demonstrationen dieses sehr heterogenen Spektrums beteiligten sich neben Personen aus dem bürgerlichen Spektrum auch Angehörige des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates", Rechtsextremist:innen sowie Personen aus dem Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen". Kritik an den Maßnahmen der Bundesregierung unter Wahrung der Grundsätze der rechtlich zugesicherten Meinungsfreiheit ist Ausdruck der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und wesentlicher Bestandteil des Verfassungsstaates. Werden Proteste und Kundgebungen jedoch durch extremistische Akteur:innen instrumentalisiert und münden diese in einer staatsund sicherheitsgefährdenden Delegitimierung und Verächtlichmachung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner Repräsentant:innen, kann hieraus eine Bedrohung für die demokratische Grundordnung erwachsen. Angesichts der neuen Stoßrichtung der stark heterogenen Protestbewegung richtete der Verfassungsschutz im April 2021 den neuen Phänomenbereich der "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" ein, der eine bundesweit einheitliche, flächendeckende und systematische Beobachtung dieser äußerst dynamischen Bewegung ermöglicht. Die Proteste waren bis einschließlich 2021 deutlich von einer enormen Dynamik und einer Unvorhersehbarkeit bezüglich des Ausmaßes der Mobilisierungsfähigkeit geprägt. Die zwischenzeitlich zentrale "Querdenken"-Organisation wurde mittlerweile gänzlich abgelöst von diversen dezentralen Organisationen auf zumeist kommunaler Ebene, deren einzelne Gliederungen untereinander nur noch vergleichsweise lose und primär digital vernetzt sind. Stand in den Jahren 2020 und 2021 inhaltlich die Kritik an den staatlichen Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der Pandemie im Vordergrund, konnte ab 2022 eine thematische Schwerpunktverschiebung 62 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES festgestellt werden: Die staatliche Corona-Politik wurde im Jahr 2023 meist nur noch rückblickend behandelt. Dabei stand die Forderung nach einer strafrechtlichen "Aufarbeitung" und "Konsequenzen" für die beteiligten Politiker:innen, Firmen und Personen des öffentlichen Lebens im Vordergrund. Das Spektrum versuchte, der schwindenden eigenen Mobilisierungsfähigkeit entgegenzuwirken. Um Anschlussfähigkeit herzustellen, wurden gezielt Themen besetzt, die für die Gesamtgesellschaft oder zumindest Interessengruppen von Bedeutung sind. Eine zentrale Rolle spielten dabei globale Krisen und ihre Auswirkungen: Wie schon 2022 versuchten Angehörige des Spektrums, die in Deutschland spürbaren wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine für ihre Ziele zu instrumentalisieren. Der Angriff der "HAMAS" auf Israel im Oktober 2023 und der darauffolgende Krieg im Gaza-Streifen wurde mit dem Ziel genutzt, Anhänger:innen der Friedensbewegung und auch pro-palästinensischer Gruppen für sich zu gewinnen. So verwendeten weite Teile der Szene den kleinsten gemeinsamen Nenner "Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung" als Demonstrationsmotto. Das Thema Migration wurde teilweise unter Nutzung der Verschwörungsideologie des "Great Reset" aufgegriffen, wodurch sich eine weitere Anschlussfähigkeit für Rechtsextremist:innen bot. Die Leugnung des Klimawandels ist ebenfalls ein zentrales Thema und wird häufig dazu genutzt, das politische System der Bundesrepublik als "Klimadiktatur" zu verunglimpfen. Prinzipiell basiert die Agitation des Spektrums darauf, den sprichwörtlichen "Untergang des Abendlandes" mittels Verschwörungsmythen, Desinformation und Falschbehauptungen möglichst emotionalisiert heraufzubeschwören und zu suggerieren, die demokratische Verfassung der Bundesrepublik Deutschland sei in Wahrheit nur der Deckmantel für eine "quasi-faschistische Diktatur". Ziel ist die umfassende Delegitimierung der gegenwärtigen politischen Ordnung der Bundesrepublik. Die Themenverschiebung verdeutlicht, dass es sich bei dem verfassungsschutzrelevanten Protestspektrum nicht um ein flüchtiges und vorübergehendes Phänomen handelt, sondern vielmehr um eine dynamische Bewegung, die aktuelle gesellschaftlich relevante Themen für die eigenen politischen Zwecke und zur Protestmobilisierung zu nutzen vermag und dabei auf ein Geflecht aus umfassenden virtuellen Netzwerkstrukturen zurückgreifen kann. Mit den thematischen Anpassungen gelang es dem Spektrum der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" jedoch im Jahr 2023 nur begrenzt, NichtExtremist:innen für die Teilnahme an ihren Demonstrationen zu gewinnen. Überregionale Kundgebungen in größeren Städten zogen trotz langfristiger Planung nur noch eine vergleichsweise geringe Zahl an Demonstrierenden an. Beispielsweise fand am 5. August 2023 in Berlin die größte Demonstration des Jahres statt, an der etwa VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 63 4.600 Personen teilnahmen. Im Jahr 2020 hatten sich an derselben Stelle noch etwa 20.000 Demonstrant:innen versammelt. Regelmäßige Demonstrationen auf kommunaler Ebene, die noch im Jahr 2022 bundesweit stattfanden, bildeten im Jahr 2023 eher die Ausnahme. Ein Wiedererstarken der Proteste wäre aufgrund der hohen Dynamik innerhalb dieses Protestmilieus denkbar, beispielweise bei einer ähnlich gravierenden Krise wie der Corona-Pandemie. Die Gefahr einer weiteren Radikalisierung einzelner Aktivist:innen bis hin zur Begehung von Gewalttaten bleibt hingegen bestehen, da insbesondere die Agitation im Internet unvermindert fortgesetzt wird. In digitalen Echokammern, vor allem auf der Chat-Plattform Telegram, vermischen sich Narrative vom legitimen, aber auch vom gewaltsamen Widerstand gegen den Staat, mit Frustration über den geringen Einfluss der friedlichen Proteste des Spektrums auf die Gesellschaft. Exkurs: Begrifflichkeiten Verschwörungsideologie: Übergeordnete Weltanschauung, die sich aus einer Vielzahl von Verschwörungserzählungen und -mythen zusammensetzt. Anhänger:innen von Verschwörungsideologien hegen ein generalisiertes Misstrauen gegenüber Personen und Gruppierungen, die als mächtig wahrgenommen werden. Verschwörungserzählungen bzw. -mythen: Abstrakte oder konkrete Narrative, die hinter komplexen Geschehnissen und Missständen teils umfassende Intrigen oder Zusammenhänge vermuten. Oft wird auf Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte alte Narrative zurückgegriffen, wie die vermeintliche jüdische Weltverschwörung. Im Kern wird einflussreichen Menschen oder Gruppierungen unterstellt, im Hintergrund als geheime dunkle Macht zum Schaden der Weltbevölkerung zu handeln. Fehlinformationen: Irreführende, ungenaue oder falsche Informationen, die nicht zwingend mit der Intention der Täuschung, aber als sachliche Informationen verbreitet werden, ohne auf Richtigkeit überprüft worden zu sein. Desinformation: Falsche Informationen, die absichtlich und gezielt verbreitet werden, um die Rezipienten in die Irre zu führen. Desinformationskampagnen: Gezielte und bewusste Steuerung falscher Informationen durch Gruppierungen und/oder fremde Staaten mit der Absicht, Gesellschaften zu spalten, in die Irre zu führen und das demokratische System so insgesamt zu destabilisieren. 64 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 4.2 Virtuelle Vernetzung Mit dem Rückgang öffentlicher Proteste verlagerte sich ein beträchtlicher Teil der Agitation des verfassungsschutzrelevanten Protestspektrums in den digitalen Raum, insbesondere auf die Chat-Plattform "Telegram". Diese Plattform erfreut sich generell großer Beliebtheit unter Extremist:innen, da die Verbreitung extremistischer Inhalte praktisch ungehindert erfolgen kann. Mit der Funktion der parallelen Weiterleitung von Inhalten in diverse Gruppen ermöglicht Telegram eine hohe Verbreitung von unterschiedlichsten Informationen, darunter eben auch Halbwahrheiten, gezielter Desinformation und Verschwörungsmythen. Diese Gegebenheiten bieten sowohl extremistischen als auch ausländischen staatlich gelenkten Akteur:innen optimale Bedingungen zur Umsetzung von Desinformationskampagnen (vgl. hierzu auch Kapitel 9). In dieser digitalen Sphäre werden sog. "Mainstream-Medien" als "Staatsmedien" und "Lügenpresse" diffamiert und ihre Objektivität infrage gestellt. Demnach basiere der sog. "Mainstream"-Diskurs nicht auf Fakten und werde von "Staatsmedien" und den Politiker:innen gezielt gesteuert. Damit verfolge der Staat das Ziel, die Bevölkerung bewusst und gezielt zu täuschen. Aus dieser Haltung heraus werden Tatsachen als "Mainstream"-Diskurs generell abgelehnt, wodurch Angehörige des Spektrums relativ schnell in einer Parallelwelt aus "alternativen Fakten" landen. Dabei ist es nicht ungewöhnlich, dass "alternative Fakten" (bewusst oder unbewusst) verbreitet werden, die ursprünglich ausländischen Desinformationskampagnen entstammen. Diese Abkehr von zum Teil wissenschaftlich belegbaren Tatsachen fördert die Entstehung einer "alternativen Realität", aus der heraus die freiheitliche demokratische Grundordnung grundlegend delegitimiert und abgelehnt wird. Die Wirkung von Desinformationskampagnen fremder Staaten und die unkritische Übernahme der so gesteuerten Narrative auf Messenger-Diensten lässt sich exemplarisch anhand des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine belegen: Der russische Angriff wird relativiert und Russland zum eigentlichen Opfer westlicher Mächte stilisiert. Russland sei aus reiner Notwehr zu dem militärischen Vorgehen gegen die Ukraine gezwungen, um einer vermeintlichen Bedrohung durch die NATO zu begegnen. Die deutsche Regierung nutze den Krieg und die hohen Energiepreise zudem als Vorwand zur Einführung einer sog. "Ökodiktatur" und riskiere mit ihrem pro-ukrainischen Kurs einen Atomkrieg. In der Filterblase der Telegram-Gruppen bestärken sich die Angehörigen des Phänomenbereichs gegenseitig in dieser Weltsicht. Nutzer:innen mit abweichenden Meinungen werden ausgegrenzt, verunglimpft oder durch Administrator:innen VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 65 aus den Gruppen entfernt. Die Empfänglichkeit gegenüber u. a. von russischen Staatsmedien transportierten Desinformationskampagnen und Propaganda einerseits und das generelle Misstrauen, sowohl gegenüber westlichen "Mainstream-Medien" als auch der Regierung andererseits, haben das Potenzial, sich gegenseitig zu verstärken. So kann eine Parallelwelt entstehen, in der Tatsachen und Fakten kategorisch geleugnet werden. Angehörige des Spektrums begeben sich vor diesem Hintergrund in eine gesellschaftliche Isolation und geraten mitunter in eine Radikalisierungsspirale hinein (vgl. hierzu auch Kapitel 9). Paradoxerweise wähnen sich gerade die in diesen Filterblasen isolierten Personen der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" im Besitz der vermeintlichen Wahrheit und als "erwacht", während der Rest der Gesellschaft aus "Schlafschafen" bestehe, die in blindem Gehorsam gefangen seien. Diese simple Freund-Feind-Rhetorik illustriert den Wunsch nach einfachen Antworten in einer zunehmend komplexen und bedrohlichen Weltlage mit schwer zu überschauenden multiplen Krisen. Gleichzeitig bildet diese einfache Einteilung in "Gut und Böse" die Basis für eine weitere Radikalisierung des Spektrums. Desinformationskampagnen und der zunehmende Einfluss von extremistischen Akteur:innen können eine verstärkende Wirkung auf einzelne Personen entfalten und Radikalisierungsprozesse beschleunigen. Insbesondere der enthemmte Diskurs über soziale Netzwerke und Messenger-Dienste trägt so zu einem Klima bei, in dem Gewalttaten als vermeintlich legitimer Widerstand möglich erscheinen. 4.3 Verbreitung von Verschwörungsmythen und -erzählungen Verschwörungsmythen und -erzählungen spielen eine besondere Rolle bei Angehörigen des besagten Spektrums, sind aber generell ein wesentlicher Grundstein extremistischer Ideologien. Sie dienen einerseits dazu, sich auf Grundlage unwahrer Narrative und Mythen in der "Opferrolle" zu bestätigen und andererseits sich als Gemeinschaft zu begreifen, welche sich im vermeintlichen Widerstand gegen das herrschende System befindet. Unter Rechtsextremist:innen und Reichsbürger:innen sind ebenfalls Verschwörungsideologien verbreitet, die staatliches Handeln diskreditieren oder die Existenz des deutschen Staates insgesamt infrage stellen. Verschwörungsideologien fungieren somit als Klammer zwischen den unterschiedlichen Phänomenbereichen. 66 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES Verschwörungsideologien Rechtsextremismus bilden Basis für Reichsbürger & Zusammenarbeit Selbstverwalter ihrer Anhänger wie bei "Prinz Reuß" und "Vereinte Patrioten Delegitimierung " des Staates Die meisten Verschwörungsmythen und -erzählungen sind dabei strukturell ähnlich aufgebaut: Eine geheime Macht würde unerkannt Pläne verfolgen, unter denen die Weltbevölkerung leide. Es sind häufig "dystopische" Vorstellungen, die die Welt in Gut und Böse aufteilen und damit das Narrativ des rechtmäßigen, heroischen Widerstandes in sich tragen. Je nach Adressatenkreis kann die durch die Unterdrückung entstehende "Neue Weltordnung" ("New World Order", NWO) unterschiedlich ausgeformt sein. Während in den USA das Schreckgespenst einer sozialistischen oder kommunistischen "Neuen Weltordnung" Verbreitung findet, wird in Europa zumeist die Angst vor der Herrschaft der Großkonzerne und dem Niedergang des Mittelstandes bedient. Solche Verschwörungsmythen enthalten also oftmals eine regional angepasste Schreckensvision, um staatliche Akteur:innen und Repräsentant:innen, demokratische Institutionen und zwischenstaatliche Organisationen zu delegitimieren. Verschwörungsideologien und Antisemitismus Zugrundeliegend ist den meisten Verschwörungsmythen und -erzählungen der Rückgriff auf antisemitische Ideologiefragmente. Ein bekanntes Beispiel ist der Mythos von einer "jüdischen Weltverschwörung", der im Dritten Reich als Argumentationsgrundlage für den staatstragenden Antisemitismus diente und die Ermordung und Vertreibung von Millionen von Menschen jüdischen Glaubens zur Folge hatte. Viele Beiträge im Internet beziehen sich auf eine nicht näher definierte abstrakte "Hochfinanz", die die Welt im Verborgenen nach ihren Vorstellungen regiere. In konkreteren Fällen wird die Familie Rothschild oder George Soros als lenkende Eliten dargestellt, die im Geheimen die Fäden in der Hand halten. Auch wenn der Antisemitismus häufig (bewusst oder unbewusst) verschleiert wird, ist gemäß dieser Narrative schlussendlich "der Jude" bzw. "das Judentum" die Wurzel allen Übels. Dementsprechend basieren die einflussreichen Verschwörungsideologien "QAnon" und "Great Reset" auf antisemitischen Narrativen. VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 67 "QAnon" Die 2017 in den USA entstandene Verschwörungsideologie hat mittlerweile weltweite Verbreitung erfahren. Sie basiert auf der Annahme, dass ein angeblicher hochrangiger Beamter der US-Regierung (mit der höchsten Sicherheitsfreigabe "Q") seine Anhänger:innen in den sozialen Netzwerken mit kryptischen Nachrichten oder Rätseln über Pläne zum Sturz einer vermeintlich existierenden verborgenen Elite - dem "Deep State" ("Staat im Staate") - informieren würde. Vertreter:innen des vermeintlichen "Deep State" seien nach Überzeugung der "QAnon"-Anhänger:innen insbesondere Mitglieder (reicher) jüdischer Familien, die den Lauf der Welt steuerten. Darüber hinaus behaupten Anhänger:innen dieser Verschwörungsideologie, dass der "Deep State" Kinder zur Gewinnung eines euphorisierenden Verjüngungselixiers namens "Adrenochrom" in einem industriellen Ausmaß missbrauche und töte. Mit dem Slogan "Save the Children" beziehen sich die Angehörigen auf die vermeintlichen Machenschaften des "Deep State" in der gesamten Welt. Die Verschwörungsideologie zielt wie andere "Weltverschwörungsfantasien" auf antisemitische Narrative ab und diffamiert und dämonisiert Staat und Politik. Auch wenn hier der Antisemitismus zunächst verschleiert wird, basiert die Erzählung der "Adrenochrom"-Gewinnung auf der sog. Ritualmordlegende aus dem Mittelalter: Jüd:innen wurden fälschlicherweise beschuldigt, Ritualmorde oder andere absurde Verbrechen an Kindern zu begehen. Demnach werde das Blut christlicher Kinder während der jüdischen Pessach-Feier konsumiert und für medizinische und magische Rituale genutzt. Die Verknüpfung von kirchlicher Einflussnahme, Aberglaube, wirtschaftlicher Not und apokalyptischen Ängsten führten im Mittelalter in ganz Europa zu Pogromen, Lynchmorden, Scheinprozessen und Diskriminierung. Diese falschen Anschuldigungen dienten der christlichen Kirche dazu, Ressentiments zu schüren und das Bild der jüdischen Gemeinschaft als angebliche Drahtzieher von bösen Machenschaften zu festigen. Bei "QAnon" handelt es sich um keine statische, sondern eine durch die fortwährende Interpretation ihrer Anhänger:innen sich weiterentwickelnde und inhaltlich flexibel erweiterbare Ideologie. Anschlussfähig ist sie damit auch an andere Verschwörungsideologien. Mittlerweile entfalten die "QAnon"-Anhänger:innen zwar nicht mehr die Aktivität, die sie zu ihren Höchstzeiten vor drei Jahren hatten, allerdings werden die Verschwörungsnarrative offensiv weitergesponnen und verbreitet. Erkennungszeichen der "QAnon"-Ideologie wurden auch im Jahr 2023 auf Demonstrationen von einzelnen Anhänger:innen des Spektrums offensiv zur Schau gestellt. 68 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES "Great Reset" Viele Verschwörungsnarrative beziehen sich auf den sog. "Great Reset". Ursprünglich ist "The Great Reset" die 2020 vorgestellte Initiative des WEF2-Direktors, die als Zielsetzung hatte, die Weltwirtschaft nach der Corona-Pandemie nachhaltiger und sozialer auszurichten. Unter Verschwörungsideolog:innen wurde der Begriff "Great Reset" schnell zu einem Synonym für die angeblichen Weltherrschaftspläne einer finanziellen und politischen Elite. Zentral ist dabei der Gedanke, die Pandemie sei von dieser Elite künstlich erschaffen oder sogar regelrecht inszeniert - daher auch der Begriff "Plandemie" - um nach dem "Great Reset" eine (diktatorische) "Neue Weltordnung" (NWO) einführen zu können. Der Verweis auf eine vermeintlich im Verborgenen agierende Elite zielt zudem auf das in rechtsextremistischen Kreisen häufig verwendete Narrativ der "jüdischen Weltverschwörung" ab. Das Narrativ des "Great Reset" wird häufig verknüpft mit weiteren rechtsextremistischen Verschwörungsideologien, wie bspw. dem "Großen Austausch"3, wodurch eine breite Anschlussfähigkeit entsteht. Auch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine wird als eine weitere Ausformung einer angeblichen (jüdischen) Weltverschwörung rezipiert. Der Krieg sei demnach ein Vorwand, um von der Umsetzung der Pläne des sog. "Deep State" oder der "New World Order" abzulenken, deren Ziel u. a. die totale Überwachung, die Enteignung der Bevölkerung, die Errichtung einer globalen Diktatur oder die (gen-)technische Veränderung der Weltbevölkerung sei. Vergleiche mit dem Nationalsozialismus und dem DDR-Regime Während der Hochphase der Pandemie häuften sich im Rahmen von Demonstrationen Aussagen, die die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie mit der diktatorischen Vorgehensweise im Nationalsozialismus oder in der DDR verglichen und somit den demokratischen Rechtsstaat verächtlich machten. Einen eindeutigen Bezug zum Nationalsozialismus wies bspw. ein Plakat mit dem Schriftzug "Impfen macht frei" in Anlehnung an den Satz "Arbeit macht frei" auf, der in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten über dem Eingangstor angebracht war. Außerdem trugen Teilnehmende von "Querdenken"-KundgeIn Bremerhaven 2021 verwendebungen immer wieder sog. "Judensterne" mit der Aufschrift tes Plakat "Impfen macht frei" "Ungeimpft". Die Gleichsetzung der eigenen Person oder Gruppe 2 World Economic Forum, Dt.: Weltwirtschaftsforum 3 Hierbei handelt es sich um ein zentrales Narrativ der "Neuen Rechten", demzufolge die deutsche Mehrheitsgesellschaft sukzessive durch Menschen mit Migrationshintergrund "ausgetauscht" werden solle. VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 69 mit den Opfern des nationalsozialistischen Regimes führt zu einer Verharmlosung der während des Nationalsozialismus begangenen Gräueltaten. Gleichzeitig macht der Vergleich der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie mit dem willkürlichen Vorgehen des nationalsozialistischen Regimes die freiheitliche demokratische Grundordnung verächtlich.4 Teile des Bremer Spektrums beziehen sich in ihrer Argumentation auf eine Verunglimpfung des demokratischen Rechtsstaates als diktatorischen Unrechtsstaat. So wird in Beiträgen zynisch mit Begrifflichkeiten und Daten gespielt, die einen Bezug zwischen der gegenwärtigen politischen Ordnung und dem NS-Regime herstellen: "[Es] wurde vorgeschlagen, das Waffengesetz in Deutschland zu lockern, um auch Zivilisten zu bewaffnen. Ein fürsorglich-fanatischer Vorteil für die Wehrmacht der Bundeswehr. (...) ob damit endlich der Endsieg über den russischen Untermenschen (...) errungen werden kann? Die amerikanischen Halter und Befehlsgeber im Schaufensterstaat Deutschland haben die Entscheidungen für diesen Vorschlag für 5:45 Uhr angekündigt" (Telegram-Kanal "Gemeinsam Stark Bremerhaven", 07.05.2023) Am 26. November 2023 teilte ein Mitglied der zu "Gemeinsam Stark Bremerhaven" zugehörigen "Bremerhaven demonstriert Chatgruppe" einen Beitrag zur Strafverfolgung von Ärzt:innen, die dem Spektrum der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" angehören und während der Pandemie u. a. falsche Maskenatteste ausgestellt hatten. In dem Beitrag wird die Bundesrepublik Deutschland mit dem Unrechtsstaat DDR gleichgesetzt und verschlüsselt die antisemitische Verschwörungsideologie der "jüdischen Weltregierung" verbreitet: "Es ist schlimmer wie zu DDR Zeiten, hinter den Kulissen gibt es einen vollkommen gleichgeschalteten Behördenapparat und wenn Bill Gates oder die Rockefellers eine Anweisung geben, dann wird die umgesetzt, Rechte und Gesetze können die Menschen nicht mehr schützen, weil das System korrupt ist." (Fehler im Original, Telegram-Gruppe "Bremerhaven demonstriert Chatgruppe", 26.11.2023) 4 Ein Erlass des Senators für Inneres vom 9. Juni 2021 verbietet die Verwendung des Davidsterns oder ähnlicher Symbole bei Kundgebungen, die eine Verharmlosung der Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes darstellen. Einsehbar unter "Erlasse und Ausführungsvorschriften - Der Senator für Inneres (https://www.inneres.bremen.de/sixcms/media. php/13/210615%20Erlass%20Verwendung%20Davidstern%20Ausfertigung.pdf). 70 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES Ein Administrator der "Bremerhaven demonstriert Chatgruppe" postete am 23. Oktober 2023 eine Liste von vermeintlichen "Menschenverbrechen" der Polizei während der Corona-Pandemie: "(...) Die Polizei würde einfach alles machen was man ihnen sagt wie in der DDR & im Dritten Reich 3 tote Demonstranten vergisst das niemals Deutschland ist eine Diktatur, es gibt keinen Rechtsstaat, es gibt keine Menschenrechte" (Fehler im Original, Telegram-Gruppe "Bremerhaven demonstriert Chatgruppe", 23.10.2022) Wurde während der Pandemie von einer "Corona-Diktatur" gesprochen, verwenden Angehörige des Spektrums aktuell das Narrativ der "Öko-" oder "Klimadiktatur", um ihren Unmut über die politischen Entscheidungen der demokratisch gewählten Regierung kundzutun. Maßnahmen zum Klimaschutz werden generell als sinnlos dargestellt, weil es den Klimawandel entweder nicht gebe, er ein natürliches Phänomen sei oder der deutsche Anteil am globalen CO2-Ausstoß ohnehin zu vernachlässigen sei. Die Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und ihre Politiker:innen stellen Auf Telegram-Kanal dabei ein besonders beliebtes Ziel für Gleichsetzungen mit dem histori"Gemeinsam Stark Bremerhaven" geteilte schen Nationalsozialismus und seinen Anführern dar, wie die nebensteGrafik hende Abbildung beispielhaft verdeutlicht. Damit verunglimpfen und dämonisieren die Urheber die aktuelle politische Ordnung und verharmlosen gleichzeitig den NS-Staat und dessen Gräueltaten. Am 7. Mai 2023 verbreitete ein führender Vertreter der Gruppierung "Gemeinsam Stark Bremerhaven" über Telegram vermeintlich satirische Inhalte, die die Nachrichtensendung Tagesschau durch computergenerierte Stimmen nachahmen. An diversen Stellen wird dabei angedeutet, die gegenwärtige politische Ordnung sei mit der Diktatur der NS-Zeit gleichzusetzen: "(...) es braucht keine braunen Uniformen oder Armbinden, um mit einer menschenverachtenden Gesinnung Europa in einen neuen Weltkrieg zu stürzen. Eine kranke faschistische Ideologie kann sich auch hinter umweltgrünen Symbolen verbergen. Liebe Mitmenschen, wäre es das erste Mal in Deutschland, dass gesteuerte Politiker und bösartige Regierungen ihre Bevölkerung verraten?" (Telegram-Kanal "Gemeinsam Stark Bremerhaven", 07.05.2023) VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 71 4.4 Entwicklung des Protestgeschehens in Bremen Nach dem Wegfall der Pandemiemaßnahmen im März 2022 gelang es zunächst lediglich der Gruppierung "Gemeinsam Stark Bremerhaven", stabile Strukturen Logo "Gemeinsam Stark Bremerhaven" aufzubauen und bis zum Frühjahr 2023 öffentlich wahrnehmbar und aktiv zu bleiben. Seitdem sind im Land Bremen aufgrund rückläufiger Teilnehmendenzahlen nur noch vereinzelte Demonstrationen zu verzeichnen. Das Bremer Spektrum der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" umfasst rund 50 Personen.5 Am 27. Juli 2023 mobilisierte das Spektrum zu einer Solidaritätsdemonstration vor dem Amtsgericht Bremerhaven anlässlich eines Prozesses gegen einen HNO-Arzt. Das Gericht sprach den Arzt letztlich von dem Vorwurf des Ausstellens mindestens eines gefälschten Maskenattests während der Corona-Pandemie frei. Im Vergleich zu der zuvor sehr geringen Mobilisierungsfähigkeit gelang es dem Spektrum mit insgesamt ca. 60 Teilnehmenden eine vergleichsweise hohe Zahl an Personen zu mobilisieren. Neben bekannten Extremist:innen aus Bremerhaven und Bremen nahmen auch Personen aus dem nichtextremistisch-bürgerlichen Bereich teil. Aufrufe zur Teilnahme verbreitete u. a. ein bekannter Bremer Rechtsextremist. Zwar nahmen letztlich keine bekannten Bremer Rechtsextremist:innen an der Kundgebung teil, dennoch verdeutlicht dies, dass das Online-Netzwerk des Bremer Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" punktuell Überschneidungen mit dem des Rechtsextremismus aufweist. Angesichts des Trends der schrumpfenden Teilnehmendenzahl bei Demonstrationen während des letzten Jahres verdeutlicht die hohe Beteiligung an der Demonstration in Bremerhaven eindrücklich, dass das Spektrum anlassbezogen in der Lage ist, sich über das eigene Spektrum hinaus zu vernetzen und Nichtextremist:innen für ihre Zwecke zu mobilisieren. Ein weiterer Mobilisierungserfolg zeigte sich auch im Dezember 2023: Die extremistische Gruppierung "Gemeinsam Stark Bremerhaven" versuchte, die bundesweiten Proteste von Landwirten für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren und vernetzte sich dazu mit ihnen. An der gemeinsamen Demonstration am 30. Dezember 2023 in Bremerhaven beteiligten sich ca. 120 Personen, neben Angehörigen der extremistischen Gruppierung "Gemeinsam Stark Bremerhaven" überwiegend Personen, die keinem extremistischen Spektrum zuzurechnen sind und lediglich für die politischen Forderungen der Landwirte nach geringeren finanziellen Einschnitten eintraten. 5 Eine Quantifizierung des Spektrums ist insofern schwierig, als dass sich der Großteil im "nicht-sichtbaren" Bereich (vorwiegend online) bewegt. Bei der hier angegeben Zahl handelt es sich um den harten Kern des Spektrums, der auch regelmäßig an Demonstrationen teilnimmt. 72 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES Einer der teilnehmenden Landwirte griff dabei in seiner Rede das verschwörungsideologische Narrativ der "Plandemie" auf, machte seine Ablehnung der sog. "Mainstream-Medien" deutlich und forderte zugleich die Abschaffung des gegenwärtigen politischen Systems, welches er als "durchtrieben, krank und korrupt" darstellte: "(...) Corona-Krise - Es war ja keine Krise, es war geplant nach meiner Meinung. [Applaus von Zuhörern]. (...) Ich sage ja schon seit zwei Jahren, und nur wenige wollten es hören, dass wir unser Land hier mit Ansage zugrunde wirtschaften. (...) Ich lese keine Zeitung mehr (...). Ich hole mir das Wissen da ab, wo ich meine wo Wissen zu holen ist und man kommt dann irgendwann dahinter, dass man seit vielen Jahren nur verarscht wird! [Applaus von den Zuhörern] (...) Es geht mir gar nicht um die Agrardieselrückvergütung und auch nicht um die Steuererleichterung, sondern wir wollen ja ganz was anderes erreichen: Dieses ganze System ist so durchtrieben, krank und korrupt. Das - nach meiner Meinung muss das weg, für alle, nicht nur für die Landwirtschaft, sondern für alle!" [Applaus von Zuhörern] (Fehler im Original, Telegram-Kanäle "Thorben's Nord Report" und "Gemeinsam Stark Bremerhaven", 02.01.2024) Der Redner bedient sich in seiner Rede der klassischen Argumentationsmuster des Phänomenbereiches, indem er die Abschaffung des gegenwärtigen politischen Systems fordert, ohne eine konkrete Alternative aufzuzeigen. Genau diese Lücke bietet einen Anknüpfungspunkt für vermeintliche "Lösungsansätze" von Rechtsextremist:innen und "Reichsbürger:innen". 4.4.1 Zusammenarbeit und Kollaborationen Um die eigene organisatorische Schwäche und den mangelnden Zulauf zu den Demonstrationen zu überwinden, vernetzten sich die Angehörigen des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" im Laufe des Jahres 2023 mit anderen extremistischen Akteur:innen. So schlossen sich die Aktivist:innen von "Gemeinsam Stark Bremerhaven" Kundgebungen in umliegenden Städten wie Hamburg und Oldenburg an und knüpften dabei u. a. Kontakte zu führenden Personen der in Hamburg tätigen, erwiesen extremistischen Organisation "United Movement for Equal Human Rights e.V" (UMEHR e.V.). Die Aktivist:innen der Gruppierung "Bremen steht auf" standen ebenfalls in direktem Kontakt zu "UMEHR e.V." und sind seit November 2023 organisatorisch an den Hamburger Verein angebunden. Seitdem treten sie unter der Bezeichnung "Bremen steht auf - ein Ortsverein von 'UMEHR e.V.'" auf. Offensichtlich wurde diese Anglie- VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 73 derung bei der größten Demonstration des Spektrums in Bremen im Jahr 2023: Diese fand am 30. September 2023 unter dem Motto "11 Städte Hand in Hand - Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung" in der Bremer Innenstadt mit ca. 180 Teilnehmenden statt. Während dieser Veranstaltung unterstützten Akteur:innen von "UMEHR e.V." die Anmelder von "Bremen steht auf" maßgeblich, indem sie kurzfristig den Versammlungsleiter stellten. Bei der Demonstration verbreitete einer der "UMEHR e.V." zuzuordnenden Redner am Mikrofon offen und unwidersprochen die Ideologie des "Reichsbürger:innen"-Spektrums und betrieb Geschichtsrevisionismus: Laut seiner Darstellung sei die Bundesrepublik Deutschland nach dem Auslaufen der Pariser Verträge im Jahr 2015 kein souveräner Staat mehr. Er behauptete zudem, die "deutsche Frage" stehe erneut auf der Tagesordnung, es sei nun notwendig, einen Friedensvertrag mit Russland zu schließen. Als Gegenleistung könnten die deutschen Ostgebiete, die angeblich auf kriminelle Weise von Stalin genommen wurden, zurückerhalten werden. Hierbei nannte er explizit Gebiete wie "Schlesien, Posen, Pommern, Westpreußen und Ostpreußen." Führende Anhänger der Gruppierung "Bremen steht auf" nahmen zudem mehrfach an Demonstrationen von "UMEHR e.V." in Hamburg teil. Die Vernetzung von "Gemeinsam Stark Bremerhaven" und insbesondere die organisatorische Eingliederung von "Bremen steht auf" in die Struktur von "UMEHR e.V." steht deutlich im Widerspruch zu dem oft wiederholten Bekenntnis der eigenen "Ideologiefreiheit". Bei der Gruppierung "Bremen steht auf", ursprünglich ein Ableger von "Gemeinsam Stark Bremerhaven", wurde ab Februar 2023 zunächst eine verstärkte Zusammenarbeit mit Teilen der AfD Bremen deutlich: Der Vorsitzende des sog. "Notvorstandes" (siehe Kapitel 3.7.2) der AfD Bremen unterstützte "Bremen steht auf" bei Kundgebungen. Dabei übernahm er mehrfach die Versammlungsleitung. Angemeldet wurden die Demonstrationen unter der Organisationsbezeichnung "AfD-Bremen steht auf", was die zeitweise Verschmelzung des AfD-"Notvorstandes" mit der Gruppierung "Bremen steht auf" verdeutlicht. Der "Notvorstand" nutzte die Kundgebungen auch als Plattform für den Wahlkampf im Vorfeld der Bürgerschaftswahl im Mai 2023. Anfänglich erhielten die Kundgebungen außerdem personelle Unterstützung aus dem AfD-Kreisverband Diepholz, dessen Vorsitzender ein bekannter Rechtsextremist ist. Zwei zentrale Aktivisten der Gruppierung "Bremen steht auf" kooperierten mit dem AfD-"Notvorstand" und versuchten, dessen Vorsitzenden persönlich bei der Sitzung des Landeswahlausschusses am 23. März 2023 zu unterstützen, als über die Zulassung der AfD Bremen zur Wahl entschieden wurde. Zudem nahmen mehrere führende Aktivisten der Gruppierung "Bremen steht auf" an diversen Demonstrationen der AfD-Diepholz im niedersächsischen Twistringen teil. Nach der Bürgerschaftswahl und 74 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES dem Scheitern des "Notvorstandes", manifestiert in der Übernahme durch den "Rumpfvorstand", wurde die Kooperation weniger. In der zweiten Jahreshälfte veranstaltete die extremistische Gruppierung "Bremen steht auf" mehrere Kundgebungen, die jedoch kaum Zulauf erfuhren. Die Aktivitäten des Bremer Spektrums verdeutlichen deren ideologische Anschlussfähigkeit an Gruppierungen aus den Phänomenbereichen des Rechtsextremismus und der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen". Eine zentrale Scharnierfunktion für die Anschlussfähigkeit zwischen Gruppierungen der unterschiedlichen Phänomenbereiche bilden der Glaube an Verschwörungsideologien und die (bewusste oder unbewusste) Beteiligung an Desinformationskampagnen. 4.4.2 Verbreitung von Verschwörungsideologien und Desinformationskampagnen in Bremen In den Telegram-Kanälen und -Gruppen der extremistischen Gruppierungen "Gemeinsam Stark Bremerhaven" und "Bremen steht auf" werden regelmäßig Beiträge geteilt, die Verschwörungsideologien transportieren und in Teilen auf aus dem Ausland gesteuerten Desinformationskampagnen aufbauen. Dabei handelt es sich zumeist um Beiträge, die den Staat, seine Repräsentant:innen und deren demokratisch legitimierte Entscheidungen systematisch verleumden und verunglimpfen und so geeignet sind, den Staat zu delegitimieren. Nicht selten werden auch Beiträge des russischen PropagandaOrgans "RTdeutsch" geteilt (zum Thema Desinformationskampagnen ausländischer Nachrichtendienste siehe Kapitel 9). Zudem finden sich zunehmend Bezüge zur "Reichsbürger:innen"-Ideologie. Äußerungen, die ideologisch dem Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" zugeordnet werden können, sind innerhalb der Telegram-Gruppe nicht ungewöhnlich. So teilte bspw. ein führender Aktivist am 7. Mai 2023 eine entsprechende Audionachricht auf dem Telegram-Kanal "Gemeinsam Stark Bremerhaven", in der ein "echter Friedensvertrag" mit den USA gefordert wird, weil "Deutschland ein Vasallenstaat der Amerikaner" zu sein scheine und "vermutlich deshalb jede Anweisung der Kriegs-NATO im Ukraine-Stellvertreter-Konflikt gegen Russland befolgen" müsse. Deutschland sei möglicherweise nur "eine Firma", seit dem Zweiten Weltkrieg sei das Land "kein souveräner Staat" mehr. Die Bundesregierung sei ohnehin nur eine "Marionetten-Regierung" (Telegram-Kanal "Gemeinsam Stark Bremerhaven", 07.05.2023). Darüber hinaus teilte ein führender Vertreter der Gruppierung "Gemeinsam Stark Bremerhaven" am 7. Mai 2023 via Telegram diverse Audiobeiträge einer russischen VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 75 Desinformationskampagne. In Form einer Parodie der Nachrichtensendung "Tagesschau" wird darin mittels computergenerierter Stimme unreflektiert russische Propaganda verbreitet: So wird der Krieg gegen die Ukraine nicht als "Krieg", sondern verharmlosend und relativierend als "Stellvertreterkonflikt" bezeichnet. Passend dazu sei nicht Russland der Aggressor, der "Konflikt" sei vielmehr von der "Kriegs-NATO" und den USA "provoziert" worden. Es wird zudem behauptet, Deutschland plane einen (u. a. nuklearen) Angriff auf Russland: "Soll durch diese Diskussion ein gesellschaftspolitischer Korridor eröffnet werden, auch über den Einsatz von deutschen Bodentruppen und Atomwaffen zu sprechen? Soll von deutschem Boden wieder ein Krieg geführt und mitgetragen werden?" (Telegram-Kanal "Gemeinsam Stark Bremerhaven", 07.05.2023) Ein weiterer Audiobeitrag illustriert anschaulich den nahtlosen Übergang zwischen pandemiebezogenen Verschwörungserzählungen und russischer Propaganda: "(...) der Ukraine Stellvertreterkonflikt [soll] nach dem gleichen Muster wie bei der Corona-Medienpanik eine neue Angst schüren (...), um von den Impfschäden des Menschenexperiments abzulenken und die verantwortlichen Politiker zu schützen" (Telegram-Kanal "Gemeinsam Stark Bremerhaven", 07.05.2023) Demnach seien die vermeintlichen Lügen der Regierung zur Corona-Pandemie eine Blaupause für Lügen zum Ukraine-Krieg: "War der Regierung von Anfang an bewusst, dass die Impfung weder einen echten Schutz bietet, aber dafür ein hohes Risiko zu erkranken oder zu versterben? Ist man ein Nazi, wenn man diese Tatsachen nach drei Jahren endlich kritisch hinterfragt? Denn immer mehr Menschen hinterfragen die Machenschaften der Regierung, die nun im Auftrag der USA und der Kriegs-NATO einen dritten Weltkrieg vorbereitet" (Telegram-Kanal "Gemeinsam Stark Bremerhaven", 07.05.2023) Aufgrund der konsequenten Ahndung durch die Sicherheitsbehörden lässt sich jedoch beobachten, dass eindeutig antisemitische und den Holocaust verharmlosende Posts in den öffentlich zugänglichen Gruppen im Verlauf des Jahres 2023 seltener geworden sind. Gleichwohl werden nach wie vor Verschwörungsmythen verbreitet, die verklausuliert auf antisemitischen Narrativen aufbauen oder antisemitisch konnotiert sind. So teilte ein Mitglied der "Bremerhaven Demonstriert Chatgruppe" am 28. Oktober 2023 einen Beitrag, warum man die neue Partei der ehemaligen LINKEN-Politikerin Sahra Wagenknecht nicht wählen sollte: 76 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES "Sahra Wagenknecht hat während der "Pandemie" kein einziges Mal im Bundestag gegen die Corona-Maßnahmen und die massiven Grundrechtseinschränkungen gestimmt. !! Sie inszenieren sich als Widerstand, aber sobald es drauf ankommt, sind sie gehorsame Lakaien!! Alle Parteien werden von der kontrollierten Spitze gelenkt. Es zählen weder Volks, noch Wähler noch Mitgliederwillen, alle was zählt ist die AGENDA für die neue Weltordnung NWO." (Fehler im Original, Telegram-Gruppe "Bremerhaven demonstriert Chat", 28.10.2023) Derselbe Nutzer teilte am 24. November 2023 abermals einen Beitrag mit eindeutigen antisemitischen Verschwörungsnarrativen und Versatzstücken der QAnon-Ideologie: "Wenn du glaubst was im Fernsehen läuft und was in der Zeitung steht, dann wirst du programmiert von Rothschild, Rockefeller, Gates und Co. Alles was der durchschnittsidiot für die Realität hält, ist nicht weiter als eine wieder und wieder und wieder und wiederholte Lüge. Um das zu erkennen braucht mach all das nur zu hinterfragen und nach den wirklichen Fakten forschen und BOOOM! Was dann passiert....wenn Dir all die Lügen bewußt werden und du langsam das System dahinter durchschaust...dann beginnt ein Prozess den man als AUFWACHEN bezeichnet. AUFWACHEN AUS EINER GEHIRNWÄSCHE DURCH DIE MSM, IM AUFTRAG DER REICHESTEN FAMILIEN DER WELT." (Fehler im Original, Telegram-Gruppe "Bremerhaven demonstriert Chat", 24.11.2023) In dem aufgeführten Beitrag wird auf diverse Verschwörungsmythen und -erzählungen Bezug genommen, wonach eine mehr oder weniger definierte "Elite" aktiv die "Unterjochung des Volkes" mit perfiden Strategien betreibe. Insgesamt werden die Regierenden als Protagonist:innen eines stillen Dritten Weltkrieges dargestellt, die wiederum von "den reichsten Familien der Welt" - einer Umschreibung für den antisemitischen Verschwörungsmythos der geheimen (jüdischen) Weltregierung - gesteuert würden. Die Darstellung, die Welt befände sich in (oder auf dem Weg zu) einem geheimen Weltkrieg, ist deshalb so problematisch, weil sie als Argumentation dienen kann, um die Notwendigkeit von Gewalt als Mittel des Widerstandes in Reaktion auf eine vermeintliche Extremsituation zu propagieren und zu legitimieren. VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 77 Ein anderes Mitglied der Chatgruppe "Bremen steht auf - für die Zukunft" teilte am 29. Oktober 2023 einen Beitrag zum Krieg zwischen Israel und "HAMAS", in der es schließlich um die Situation in Deutschland geht: "(...) Wir haben selber einen Krieg im eigenen Land! Auch wenn er nicht mit Waffen geführt wird! Schaut Euch doch im Lande um! Wo soll das nur alles enden? Es wird gezündelt, in der Hoffnung, daß ein Flächenbrand entsteht! Lassen wir es nicht zu! Nicht in unserem Namen! Es verdienen immer die Reichen, die Armen zählen die Leichen! Und während diese Kriege toben, wird fleißig am digitalen Euro, an der totale Überwachung, am Pandemievertrag, am Great Reset, an Smartcitys usw. gearbeitet." (Fehler im Original, Telegram-Gruppe "Bremen demonstriert Chat", 29.10.2023) 78 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 79 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Spionageabwehr Unterstützungsaufgaben des LfV 80 "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" 5 "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Im Jahr 2023 zeigten sich vielfach Kooperationen zwischen Angehörigen des Spektrums der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" und Angehörigen des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates". Zum einen waren diese Kooperationsund Unterstützungsnetzwerke situationsund anlassbezogen in der Lage, ein entsprechendes Mobilisierungspotenzial für ihre Proteste zu aktivieren. Zum anderen war insbesondere virtuell eine deutliche gegenseitige ideologische Beeinflussung der beiden Spektren zu konstatieren, wobei hier meist antisemitisch konnotierte Verschwörungsideologien die einende Klammer bildeten (siehe Kapitel 4). Das Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" konnte im Jahr 2023 seinen Wirkungsbereich deutlich ausweiten, was durch die Zunahme des Personenpotenzials bundesweit und auch in Bremen belegt wird. Insbesondere "Reichsbürger:innen"-Gruppierungen, wie das "Königreich Deutschland", steigerte seine Aktivitäten bundesweit merklich. 5.1 Struktur und Ideologie Das Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" ist ideologisch sowie organisatorisch heterogen. Ihm gehören vor allem Einzelpersonen und kleine Gruppierungen an, die jeweils ihre eigenen Theorien und Argumentationsmuster verfolgen. Die Nicht-Anerkennung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Rechtsordnung ist das verbindende Element sämtlicher "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen". "Reichsbürger:innen" bestreiten die Legitimität und Souveränität der Bundesrepublik Deutschland und berufen sich in Abgrenzung dazu auf den Fortbestand eines "Deutschen Reiches". Die Reorganisation des "Deutschen Reiches" gehört zu den häufigsten Forderungen von "Reichsbürger:innen", insofern weist ihre Ideologie revisionistische Bezüge auf. Bisweilen unterbleibt aber auch eine Bezugnahme auf die "Reichsidee" und die Personen proklamieren ihre Wohnung oder ihr Grundstück als eigenes Staatsgebiet. Sog. "Selbstverwalter:innen" glauben, durch eine entsprechende Erklärung aus Deutschland "austreten" zu können. Türschild eines Bremer "Selbstverwalters" "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" 81 Angehörige des Spektrums sehen das Grundgesetz, Bundesund Landesgesetze sowie Bescheide von Behörden und Entscheidungen von Gerichten als nichtig an und geben sich stattdessen eigene Gesetze oder berufen sich auf ein selbst definiertes Naturrecht. Regelmäßig propagieren "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Verschwörungsfantasien, die zum Teil antisemitisch konnotiert sind. Explizit rechtsextremistische Positionen vertritt jedoch eher eine Minderheit; zum Teil sind die Ideen auch von sozialistischen Positionen geprägt. Manche Gruppierungen sind zudem esoterisch eingefärbt. Wenngleich sich das heterogene Spektrum kaum ideologisch einordnen lässt, sind "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" als extremistisch zu bewerten, weil sie die völkerrechtliche Legitimität und Souveränität der Bundesrepublik Deutschland leugnen und sich damit gegen den Bestand des Staates sowie gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung in Gänze wenden. Antisemitismus im Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Der Verfassungsschutz arbeitet mit der 2017 von der "Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken" (IHRA) entwickelten Arbeitsdefinition: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen1 und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein." (BT-Drs. 19/444, Bremische Bürgerschaft 19/1808). Innerhalb des Spektrums der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" äußert sich Antisemitismus primär durch den Bezug auf Verschwörungsideologien und die Verwendung entsprechender Narrative. Dabei wird Menschen jüdischen Glaubens - teilweise durch explizite, häufig aber auch implizite antisemitische Narrative - vorgeworfen, als Elite im Hintergrund die Geschicke der Menschheit zu lenken und die Weltbevölkerung zu unterdrücken. Über den Antisemitismus bieten sich dem Spektrum zudem ideologische Anknüpfungspunkte zum Rechtsextremismus. 1 Hiermit sind Personen gemeint, die fälschlicherweise für Juden gehalten werden oder jüdische Personen / Gemeinden unterstützen. 82 "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" 5.2 Aktivitäten Die fundamentale Ablehnung der bestehenden Rechtsordnung zeigt sich in besonderem Maße im Verhalten von "Reichsbürger:innen" gegenüber Behörden und deren Beschäftigten. Das Ziel besteht darin, die Funktionsfähigkeit des Staates erheblich zu beeinträchtigen, indem staatliche Institutionen und staatliche Maßnahmen sabotiert werden. Zum Beispiel versenden Angehörige des Spektrums massenhaft Schreiben mit unsinnigen Forderungen an Behörden oder erklären den Mitarbeitenden der öffentlichen Verwaltung, dass diese Personal der "BRD-GmbH" oder des "BRD-Systems" seien, weshalb gerichtliche oder behördliche Entscheidungen rechtswidrig seien. Sie argumentieren häufig in pseudojuristischer Weise und ziehen in ihren Argumentationen oft wahlund zusammenhangslos Gesetze und Urteile heran. Im persönlichen Kontakt mit Behördenangehörigen zeigen "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" oftmals ein hohes Aggressionspotenzial: Beleidigungen, Bedrohungen und Nötigungen sind vielfach das Mittel der Wahl. Die Übernahme von Fantasieämtern ist ein häufiges Merkmal von "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen", sie sehen sich beispielsweise als "Reichskanzler", "Polizeipräsidenten" oder "Angehörige Preußens" und handeln im Namen von "(Kommissarischen) Reichsregierungen". Dazu fertigen sie Selbstentworfener Ausweis eines Bremer "Reichsbürgers" Fantasiedokumente wie Führerscheine, Staatsangehörigkeitsausweise oder ersichtlich absurde Rechtsgutachten an. Das heterogene und überwiegend aus Einzelpersonen und kleineren Gruppierungen bestehende Spektrum ist insbesondere über das Internet miteinander verbunden. In den vergangenen Jahren ist eine Zunahme der Aktivitäten von "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" in sozialen Netzwerken zu verzeichnen. Dort mobilisieren Angehörige zum einen Unterstützer:innen für ihre Aktivitäten und verbreiten zum anderen ihre abstrusen Theorien. So veröffentlichen sie beispielsweise ihre Urteilsund Gesetzesinterpretationen, liefern Vorlagen sowie Dokumente für ihre Argumentationslinien und führen vermeintliche Belege für ihre Verschwörungsmythen und -narrative an. "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" 83 5.3 Gewalt und Affinität zu Waffen Wenngleich es in den vergangenen Jahren lediglich in Einzelfällen zu konkreten Gewalthandlungen kam, zeigen bspw. die Angriffe von "Reichsbürgern" auf Polizist:innen in Sachsen-Anhalt und Bayern im Jahr 2016, bei denen ein Polizist getötet und mehrere Polizist:innen durch Schüsse verletzt wurden, das hohe Gewaltpotenzial, das von einzelnen Anhänger:innen dieses Spektrums ausgeht. Viele Angehörige haben eine grundsätzliche Abwehrhaltung gegenüber dem Staat, welche insbesondere bei behördlichen Maßnahmen, die durchweg als unrechtmäßig empfunden werden, zu Widerstandshandlungen führen kann. So rechtfertigen Teile des Spektrums Gewalttaten als zwangsläufige "Notwehrhandlungen". Bundesweit entzogen die Waffenbehörden in den vergangenen Jahren zahlreichen "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" ihre Waffen. In Bremen veröffentlichte der Senator für Inneres bereits in den Jahren 2016 und 2018 Erlasse zur Entziehung der waffenrechtlichen Erlaubnisse2. Darin wird "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" grundsätzlich die charakterliche Eignung zum Führen von Waffen abgesprochen. Vor diesem Hintergrund stehen die Waffenbehörden in Bremen seit geraumer Zeit im ständigen und engen Austausch mit dem Staatsschutz der Polizei Bremen und dem LfV. Liegen Erkenntnisse vor, die den Verdacht begründen, dass eine Person der extremistischen Szene zuzuordnen ist, werden diese Erkenntnisse an die zuständige Waffenbehörde weitergeleitet. Diese verfolgt sodann den Widerruf einer erteilten waffenrechtlichen Erlaubnis oder erteilt sog. Waffenbesitzverbote, die z. B. auch das Führen erlaubnisfreier Waffen explizit untersagen. Sofern nachträglich eine Zugehörigkeit von Erlaubnisinhabern zu einer extremistischen Szene oder Spektrum festgestellt werden kann, wird der Entzug der entsprechenden Berechtigungen in Bremen konsequent durchgesetzt. Der intensive Austausch zwischen den Behörden und die zielgerichtete Ausschöpfung aller rechtlichen Maßnahmen hat die Entwaffnung aller Personen mit extremistischem Hintergrund zum Ziel. Trotz umfangreicher behördlicher Maßnahmen kann es aufgrund illegaler Bewaffnung des Spektrums jederzeit zu Gewalttaten kommen, wie die Vollstreckung eines Durchsuchungsbeschlusses im baden-württembergischen Boxberg im April 2022 zeigte. Bei der Durchsuchungsmaßnahme wegen illegalen Waffenbesitzes schoss ein "Reichsbürger" mit einem Schnellfeuergewehr auf Polizist:innen und verletzte einen von ihnen. Bei der Durchsuchung stellte die Polizei neben nationalsozialistischen Devotionalien ein umfangreiches Waffenarsenal sicher. Der "Reichsbürger" war den Behörden seit mindestens 2016 als sog. Vielschreiber bekannt, der zudem einen sog. "Reichs-Personenausweis" erworben haben soll. Hierbei handelt es sich um ein Fantasiedokument, 2 Erlasse und Ausführungsvorschriften - Der Senator für Inneres (bremen.de) 84 "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" welches von Einzelpersonen oder Gruppierungen des "Reichsbürger:innen"und "Selbstverwalter:innen"-Spektrums erstellt wird und den oder die Inhaber als Angehörigen des "Deutschen Reiches" ausweisen. Vor dem Hintergrund seines Weltbildes, wonach die Bundesrepublik Deutschland nicht existiert und Repräsentant:innen des Staates folglich über keine hoheitlichen Befugnisse verfügen, stellte das "Eindringen" der Polizist:innen auf sein Privatgrundstück eine illegale Handlung für ihn dar, aus der er ein Notwehrecht ableitete. Im November 2023 wurde die Person wegen versuchten Mordes vom OLG Stuttgart zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Zunehmende Radikalisierung in Teilen des Spektrums Insbesondere zwei Gruppierungen verdeutlichen die fortschreitende Radikalisierung in Teilen des Spektrums der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen". Im April 2022 wurde bekannt, dass die Gruppierung "Vereinte Patrioten" geplant hatte, den Bundesgesundheitsminister gewaltsam zu entführen und durch Sprengstoffanschläge auf die Stromversorgung einen bundesweiten Blackout herbeizuführen. Das so entstehende Chaos sollte in bürgerkriegsähnlichen Zuständen münden. Das bestehende demokratische System sollte infolgedessen abgeschafft werden. Die Gruppierung unterteilte sich in einen operativen "militärischen" sowie einen "administrativen" Zweig. Die Bundesanwaltschaft leitete im April 2022 ein Verfahren wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung gegen fünf Hauptbeschuldigte ein, die sich nunmehr seit Mai 2023 in einem Prozess vor dem Oberlandesgericht Koblenz verantworten müssen. Ihnen wird die Gründung einer terroristischen Vereinigung bzw. die Mitgliedschaft in einer solchen vorgeworfen. Mit der Gruppe "Patriotische Union" um den Rädelsführer Heinrich XIII. Prinz Reuß verfolgte eine weitere "Reichsbürger:innen"-Gruppierung im Jahr 2022 das Ziel, den demokratischen Rechtsstaat gewaltsam zu beseitigen und eine eigene Staatsform zu errichten. Im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens des Generalbundesanwalts wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung hatte die Polizei im Dezember 2022 bundesweit umfangreiche Exekutivmaßnahmen, wie Hausdurchsuchungen und die Vollstreckung mehrerer Haftbefehle, durchgeführt. Die Gruppe bereitete sich auf einen "Tag X" vor und hatte dazu einen militärischen Arm aufbauen wollen, wozu sie Waffen und große Mengen an Bargeld hortete. Zusammenhalt fand die äußerst heterogene Gruppe insbesondere über ihren Glauben an Verschwörungsideologien sowie ihren Wunsch nach "Überwindung" des herrschenden Regierungssystems. So gehörten ihr neben "Reichsbürgern" auch Angehörige des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" und der rechtsextremistischen Szene an, darunter eine Politikerin der "Alternative für Deutschland" (AfD) sowie vereinzelt Soldat:innen und Polizist:innen. "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" 85 Während die Ermittlungen des Generalbundesanwalts wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung weiter andauern, erhob der Generalbundesanwalt im Dezember 2023 Anklage gegen 27 mutmaßliche Mitglieder wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung bzw. Mitgliedschaft. Aufgrund der Größe des Fallkomplexes - insgesamt werden bislang 69 Personen als mutmaßliche Mitglieder bzw. Unterstützer geführt - sind mehrere Oberlandesgerichte in das Verfahren involviert, darunter das OLG Frankfurt am Main, das OLG Stuttgart und das OLG München. Im Verlauf des komplexen Ermittlungsverfahrens kam es zu weiteren Exekutivmaßnahmen und Festnahmen. So erfolgten am 22. März 2023 Durchsuchungsmaßnahmen bei einem "Reichsbürger", der zunächst als Zeuge geführt worden war. Während die Polizist:innen seine Wohnung betraten, schoss er mit einer großkalibrigen Waffe auf sie und verletzte einen der Polizisten. Die Existenz dieser beiden Gruppierungen belegt neben der personellen Verschmelzung verschiedener extremistischer Spektren vor allem den großen ideologischen Zusammenhalt, der über den Glauben an Verschwörungsideologien entsteht, und die Akteur:innen in ihrer gemeinsamen Stoßrichtung gegen den demokratischen Rechtstaat vereint. 5.4 "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" in Bremen Das Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" in Bremen, das überwiegend aus Einzelpersonen und Kleingruppen besteht, zählte im Jahr 2023 rund 170 Personen und hat damit einen deutlichen Zuwachs im Vergleich zum Vorjahr erfahren (2022: 130 Personen). Dieser personelle Zuwachs des Spektrums ergab sich zum einen aus der Zunahme an Aktivitäten von "Reichsbürger:innen", u. a. in sozialen Netzwerken, und zum anderen durch die im Jahr 2023 fortgesetzten Bemühungen von bundesweit aktiven "Reichsbürger"-Gruppierungen um die Anwerbung neuer Mitglieder auch in Bremen. "Reichsbürger:innen" behelligen, wie bereits in den vergangenen Jahren, Bremer Behörden mit ihren zum Teil sehr umfangreichen (Droh-)Schreiben mit szenetypischen Argumentationsmustern, in denen sie insbesondere die Rechtsgültigkeit der an sie gerichteten Bescheide und Bußgelder infrage stellen und ihre Nichtzugehörigkeit zur Bundesrepublik erklären. Zahlreiche Bremer Behörden sind mit den "Anliegen" von "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" beschäftigt, insbesondere die Justiz, das Ordnungsamt und die Steuerverwaltung. Dabei treten "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" u. a. mit Beleidigungsdelikten, Urkundenfälschung oder mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Erscheinung. Angehörige des Spektrums 86 "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" beabsichtigen z. B., ihren Personalausweis abzugeben, oder verweigern die Zahlung von Gebühren. Sehr häufig stellen sie mit Bezug auf ihre "Reichsideen" auch Anträge auf "Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit" und berufen sich bei der Ausstellung des Dokuments beispielsweise auf die Staatsangehörigkeit des "Königreichs Preußen" oder beantragen Zusätze wie "ist Deutscher mit der Staatsangehörigkeit im Bundesstaat Preußen". Im Jahr 2023 stand u. a. das Ordnungsamt in Bremen zum wiederholten Male im Fokus von "Reichsbürger:innen". Auf Anhörungen wegen Ordnungswidrigkeiten oder erlassene Bußgeldbescheide reagierten Anhänger:innen des Spektrums, indem sie die gesetzlichen Grundlagen anzweifelten, da es in Deutschland ihrer Auffassung nach kein gültiges Grundgesetz gebe. Häufig beziehen sich die "Reichsbürger:innen" dabei auf die sog. S.H.A.E.F.-Gesetze. Entsprechend dieser Fantasie erachten sie die Von "Reichsbürgern" verwendetes Symbol, Bundesrepublik Deutschland als nach wie vor besetzt und schreiben den in Anlehnung an das durch das während des Zweiten Weltkrieges existierende Hauptquartier Symbol des damaligen Hauptquartiers der der alliierten Streitkräfte in Nordwestund Mitteleuropa ("Supreme Headalliierten Streitkräfte quarters, Allied Expeditionary Force", S.H.A.E.F.) erlassenen Gesetzen weiterhin Gültigkeit zu. Anhänger:innen der so argumentierenden Szene verweisen auf ein Kriegsrecht und die Gerichtsbarkeit durch das US-Militär. Das Ordnungswidrigkeitengesetz sei zudem aufgehoben. Diese kruden Fantasien und falschen Behauptungen untermauern Anhänger:innen mit zahlreichen Verweisen auf aus dem Zusammenhang gerissenen Gesetzestexten. Ein aus Niedersachsen stammender "Reichsbürger", der sich selbst zum "Commander" einer vermeintlichen Regierungsinstitution S.H.A.E.F. ernannte, und in dieser Funktion "Todesurteile" gegen zahlreiche Personen ausgesprochen hatte, musste sich im August und September 2022 vor dem Landgericht Oldenburg verantworten. Das Gericht sprach den selbsternannten "Commander" wegen Schuldunfähigkeit frei und wies ihn in eine psychiatrische Einrichtung ein, in der er am 18. März 2023 verstarb. Obwohl durch diese Person nunmehr keine weiteren "Todesurteile" im Zusammenhang mit der vermeintlichen Regierungsinstitution S.H.A.E.F. ausgesprochen werden können, bleibt die Fantasie einer durch die alliierten Streitkräfte besetzten und verwalteten Bundesrepublik Deutschland bestehen und wird weiterhin von "Reichsbürger:innen" aktiv propagiert. Die Aktivitäten von "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" in Bremen zeigen sich darüber hinaus in vielfältiger Propaganda im Internet und in sozialen Netzwerken, die zum Teil antisemitische Verschwörungsideologien oder geschichtsrevisionistische Thesen enthält. "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" 87 5.5 Gruppierungen in Bremen Im Jahr 2023 zeigte sich wie bereits im Vorjahr deutlich, dass bundesweit agierende Gruppierungen des nach wie vor mehrheitlich aus organisationsungebundenen Einzelpersonen bestehenden Spektrums verstärkt versuchten, auch in Bremen Fuß zu fassen und hier neue Mitglieder anzuwerben, so wie bspw. die "Reichsbürger"-Gruppierungen "Königreich Deutschland", "Indigenes Volk Germaniten" und "Geeinte deutsche Völker und Stämme". "Königreich Deutschland" (KRD) Beim sog. "Königreich Deutschland" (KRD) handelt es sich um eine 2012 in SachsenAnhalt gegründete Gruppierung von "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen", die von einem selbsternannten "König" geleitet wird und ihre Aktivitäten seit 2019 sukzessive auf andere Bundesländer ausweitet. Die Gruppierung versteht sich als eine Vereinigung "freier Männer (Bürger) und freier Frauen (Bürgerinnen). [...] [Sie will] für einen kompletten Neuanfang des deutschen Staates nach den Grundsätzen des Völkerrechts [stehen]." (Internetseite des "Königreich Deutschland", zuletzt abgerufen 23.01.2024). Die Gruppierung, die sich als sog. "Gemeinwohlstaat" sieht, vermittelt u. a. vermeintlich legale Ausstiegskonzepte aus dem "destruktiven System Bundesrepublik" in Form von kostenpflichtigen "Systemausstiegsseminaren" (Internetseite des "Königreich Deutschland", zuletzt abgerufen 23.01.2024). Mithilfe einer "Königlichen Reichsbank", einer eigenen "Gesundheitskasse", einer "Gemeinwohlkasse" und der Einführung einer eigenen Währung (der sog. "E-Mark") soll dem "Gemeinwohlstaat" eine vermeintliche Staatsstruktur verliehen werden. Der Aufbau staatlicher Parallelstrukturen sowie die Ausrufung eines eigenen Staatsgebiets richten sich eindeutig gegen die Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Der Expansionsdrang des KRD war bundesweit im Jahr 2023 ungebrochen. Das KRD versuchte auch in Bremen aktiv neue Mitglieder anzuwerben und veranstaltete dazu beispielsweise eine Informationsveranstaltung im Mai 2022. Um neue Anhänger:innen zu gewinnen, nutzt die Gruppierung neben Informationsveranstaltungen diverse Plattformen und Kanäle im Internet bzw. in sozialen Netzwerken. Über ihre Internetseite fordert die Gruppierung ihre Anhänger:innen zu Geldund Sachspenden auf, um das "Königreich Deutschland" aufzubauen. Insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern versucht die Gruppierung auch Immobilien zu erwerben. Darüber hinaus ermutigt das KRD beispielsweise gewerbetreibende Personen dazu, einen "Betrieb im KRD" mithilfe sog. "Systemausstiegsseminare" zu gründen. In diesem Zusammenhang hätten die Gewerbetreibenden lediglich ihr Gewerbe in der BRD abzumelden, um dann einen Betrieb im Konstrukt des KRD zu gründen. Als angebliche Vorteile eines sog. 88 "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" "Betriebes im KRD" werden u. a. die vermeintliche Steuerfreiheit, verminderte Sozialabgaben oder ein zinsund schuldenfreies Geldsystem genannt. Die Gewerbe würden nach vollzogenem Wechsel im "Rechtekreis des Gemeinwohlstaates" geführt. Auch in Bremen existieren einzelne Unternehmen, die sich als "Betrieb im KRD" sehen. In ihrem Impressum weisen die jeweiligen Unternehmen entsprechend aus, dass sie ein "Betrieb im KRD" seien, dessen Hauptsitz sich im "KRD in Lutherstadt Wittenberg" befände. Das "Königreich Deutschland" wird als Aufsichtsbehörde benannt und es findet sich ein Hinweis darauf, dass Kund:innen für die Dauer der "Geschäftsbeziehung" eine temporärere Zugehörigkeit zum KRD besäßen. Die Ausübung einer gewerblichen Tätigkeit ohne Gewerbeanmeldung stellt grundsätzlich eine Ordnungswidrigkeit dar, die entsprechende rechtliche Schritte nach sich ziehen kann. "Indigenes Volk Germaniten" Die dem Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" zuzuordnende Gruppierung "Indigenes Volk Germaniten" bemühte sich wie im Vorjahr um die Anwerbung neuer Mitglieder in Bremen. Bundesweit verfolgt die Gruppierung die Strategie, mit dem Logo "Indigenes Volk Aufbau von regionalen "Missionen" ihren Geltungsund EinflussGermaniten" bereich zu vergrößern. Bei dem "Indigenen Volk Germaniten" handelt es sich um eine Gruppierung, deren Anhänger:innen die deutsche Staatsangehörigkeit für sich entschieden ablehnen. Sie bezeichnen sich selbst als Nachfahren germanisch-alemannischer Vorfahren und leiten daraus Sonderrechte für sich ab. Dabei beziehen sie sich u. a. auf die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" (AEMR) bzw. auf die Grundrechte indigener Völker und einer aus dem Jahr 2007 stammenden, nicht-bindende Resolution der Vereinten Nationen über die Rechte indigener Völker ("United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples"). Die Gesetze und Normen der Bundesrepublik Deutschland lehnen sie ab. Zwar bestreiten sie weder die Existenz der BRD noch bestehen sie auf der Gründung oder Wiederbelebung eines Reiches, wie es die meisten "Reichsbürger:innen"-Gruppierungen tun. Allerdings sind sie aufgrund der Berufung auf ein gesondertes "Abstammungsprinzip" und die Forderung nach Anerkennung einer "alternativen" Staatsbürgerschaft dem Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" zuzuordnen. "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" 89 "Geeinte deutsche Völker und Stämme" (GdVuSt) Die "Reichsbürger:innen"-Gruppierung "Geeinte deutsche Völker und Stämme" (GdVuSt) war vor allem wegen ihrer verfassungsfeindlichen und antisemitischen Haltung im Jahr 2020 vom Bundesinnenminister verboten worden. Sie sprach der Bundesrepublik Deutschland in ihren Veröffentlichungen nicht nur ihre Legitimation ab, sondern unterstellte ihr darüber hinaus, ein von Menschen jüdischen Glaubens beherrschtes Firmenkonstrukt zu sein. Mitglieder der verbotenen Gruppierung hatten Amtsträger:innen und Beschäftigte staatlicher Institutionen teils massiv bedroht. Die Gruppierung war aufgrund ihrer vermeintlichen Abstammung von germanischen Ahnen davon überzeugt, Gebietsansprüche ableiten zu können. Die Anführerin der GdVuSt wurde im November 2022 vom Landgericht Lüneburg zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten insbesondere wegen des Verstoßes gegen das Vereinigungsverbot und der Verbreitung von Propaganda verfassungswidriger Organisationen verurteilt. Seit ihrer Verhaftung und Verurteilung waren keine Aktivitäten der verbotenen "Reichsbürger:innen"-Gruppierung festzustellen. Im Jahr zuvor hatte es, u. a. auch in Bremen, Anhaltspunkte dafür gegeben, dass Einzelpersonen die Aktivitäten der 2020 verbotenen Gruppierung fortführten. So gab es in Bremen im Jahr 2021 eine Vielzahl an Schreiben an Behörden, Politiker:innen und Institutionen, in denen die Ausrufung und öffentliche Bekanntgabe einer "Gebietserhebung" propagiert worden war. 90 "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" 91 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Spionageabwehr Unterstützungsaufgaben des LfV 92 LINKSEXTREMISMUS 6 Linksextremismus Schwerpunkt der linksextremistischen Szene waren im Jahr 2023 die bundesweiten Proteste im Zuge des sog. "Antifa-Ost-Verfahrens". Die Linksextremistin Lina E. und drei weitere Linksextremist:innen wurden am 31. Mai 2023 vom Oberlandesgericht Dresden wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, mehrfacher gefährlicher Körperverletzung und Sachbeschädigung zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Angeklagten hatten in den Jahren 2018 bis 2020 gezielt (mutmaßliche) Rechtsextremist:innen angegriffen und sie teilweise schwer verletzt. Bundesweit hatte sich die gewaltorientierte linksextremistische Szene zum Teil lange im Vorfeld der Urteilsverkündung auf gewalttätige Protestaktionen an diesem Tag sowie auf den sog. "Tag X", dem Samstag nach der Urteilsverkündung, in Leipzig vorbereitet. In Bremen konnten größere gewaltsame Ausschreitungen der linksextremistischen Szene nur durch die starke Präsenz und das schnelle Einschreiten der Polizei verhindert werden. Insbesondere die gewaltsam verlaufene Demonstration verdeutlichte das seit mehreren Jahren bestehende hohe Aggressionsund Radikalisierungsniveau der linksextremistischen Szene Bremens. Weniger zeigte sich dies im Jahr 2023 in der Anzahl der verübten "militanten Aktionen", worunter vornehmlich Sachbeschädigungen an Gebäuden und Fahrzeugen zu verstehen sind. Bereits in den Vorjahren war ein Rückgang der "militanten Aktionen" festzustellen. 6.1 Linksextremistisches Weltbild und linksextremistische Strukturen Linksextremist:innen eint das Ziel der Überwindung der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnung und der Errichtung eines herrschaftsfreien oder kommunistischen Systems. Während dogmatische Linksextremist:innen die Überwindung des politischen Systems und die Errichtung einer klassenlosen kommunistischen Gesellschaft über eine Diktatur des Proletariats unter Führung einer "proletarischen Avantgarde" anstreben, zielen Anarchist:innen, Antiimperialist:innen und Autonome auf die Abschaffung jeglicher Form von "Herrschaftsstrukturen". Zu den dogmatischen Linksextremist:innen zählen insbesondere Personen und Gruppen, die sich traditionell auf die Ideologien von Marx, Engels, Lenin, Trotzki, Stalin und Mao Tse-tung beziehen. Die überwiegende Mehrheit der dogmatischen Linksextremist:innen hält den Einsatz von Gewalt zur Erreichung ihrer politischen Ziele für nicht zielführend, LINKSEXTREMISMUS 93 gleichwohl befürwortet ihn ein Teil des dogmatischen Spektrums oder schließt ihn zumindest nicht explizit aus. Während Parteien und parteiförmige Organisationen des dogmatischen Linksextremismus in den vergangenen Jahrzehnten an Bedeutung und politischer Relevanz einbüßten, gründeten sich zuletzt vermehrt Gruppierungen, die sich ideologisch auf den Marxismus-Leninismus berufen, jedoch ihrem Auftreten und ihren Aktionen nach der autonomen Szene zuzuordnen sind. Autonome beziehen sich ideologisch vor allem auf anarchistische und kommunistische Theoriefragmente, wobei ihre Vorstellungen insgesamt diffus bleiben. Sie erheben den Anspruch, nach eigenen Regeln leben zu können, und streben nach einem hierarchiefreien, selbstbestimmten Leben innerhalb "herrschaftsfreier" Räume. Da formelle Strukturen und Hierarchien grundsätzlich abgelehnt werden, ist die autonome Szene traditionell stark fragmentiert und besteht aus losen Personenzusammenschlüssen, die anlassbezogen gegründet werden und sich ebenso kurzfristig wieder auflösen können. Ein Teil der autonomen Szene lässt sich von der ursprünglichen autonomen Szene abgrenzen und wird als "postautonom" bezeichnet. Während sich Autonome traditionell insbesondere durch ihre Organisationsfeindlichkeit, Gewaltbereitschaft und Theorieferne auszeichnen, können Postautonome lediglich noch als organisationskritisch, weniger gewaltbereit und oftmals als theoretisch gefestigter beschrieben werden. Ihre gesellschaftliche Isolation wollen sie vor allem dadurch durchbrechen, dass sie eine Scharnierfunktion zwischen gewaltorientierten Linksextremist:innen und gemäßigten, bürgerlichen "Linken" einnehmen. Kern der linksextremistischen Ideologie ist die Forderung nach sozialer Gleichheit unter Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates. Das Ziel soll dabei unter Missachtung der Grundwerte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erreicht werden und würde grundlegende Prinzipien der Verfassung außer Kraft setzen. Betroffen ist davon nicht nur das in der Verfassung verankerte Rechtsstaatsoder Demokratieprinzip, insbesondere die grundrechtlich geschützten Freiheiten würden dadurch weitgehend außer Kraft gesetzt. Vor allem mit ihrer Einstellung, politische Ziele gewaltsam zu verfolgen, setzen sich gewaltorientierte Linksextremist:innen über das Gewaltmonopol des Staates und den Grundkonsens demokratischer Verfassungsstaaten hinweg, gesellschaftspolitische Veränderungen ausschließlich auf demokratischem Wege herbeizuführen. Daher steht der gewaltorientierte Teil der linksextremistischen Szene im Fokus der Beobachtung durch das LfV. In Bremen zählen rund 250 Personen zur gewaltorientierten linksextremistischen Szene. 94 LINKSEXTREMISMUS Antisemitismus im Linksextremismus Der Verfassungsschutz arbeitet mit der 2017 von der "Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken" (IHRA) entwickelten Arbeitsdefinition: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen1 und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein." (BT-Drs. 19/444, Bremische Bürgerschaft Drs. 19/1808). Der Antisemitismus innerhalb der linksextremistischen Szene zeigt sich besonders deutlich in der Haltung zum Staat Israel und der Positionierung zum "Nahostkonflikt", der eine wesentliche Trennlinie innerhalb der linksextremistischen Szene darstellt. So nehmen antideutsche Linksextremist:innen eine pro-israelische Haltung ein, während antiimperialistisch geprägte Linksextremist:innen eine pro-palästinensische Haltung einnehmen. Der Imperialismus - also das Streben von Staaten, ihre Macht weit über die eigenen Landesgrenzen hinaus auszudehnen - wird von antiimperialistischen Linksextremist:innen als höchste Stufe des Kapitalismus verstanden. Dabei beziehen sich die Anhänger dieser Theorie auf die marxistisch-leninistische Imperialismus-Theorie, nach der das Ausbeutungsverhältnis zwischen Kapitalisten und Proletariern auf eine zwischenstaatliche Ebene übertragen wird: Die Gesellschaft stünde folglich einem Machtblock aus Staat und Kapital gegenüber, der durch Unterdrückung der so beherrschten Bevölkerung international agiere. Die so unterdrückten Völker hätten folglich das Recht, sich gegen diese fremde Herrschaft und die "imperialistische Ausbeutung" zu wehren. Die Konsequenz dieser Auslegung und die Anwendung auf den Konflikt zwischen Israel und den Palästinenser:innen mündet im Antizionismus, also der Absprache des Existenzrechts Israels: Israel wird neben den USA als zentrale Kolonialmacht gesehen, als "imperialistische Macht" und rassistischer Staat, der die Palästinenser:innen unterdrücke. Folglich gelten bspw. die Terroranschläge vom 7. Oktober 2023 als "Befreiungsschlag" eines unterdrückten Volkes. In ihrer Unterstützung für diesen vermeintlichen "Befreiungskampf" kooperieren antiimperialistische linksextremistische Gruppierungen in Teilen mit islamistischen Antisemit:innen. Der Antizionismus und die Gleichsetzung israelischer Militäraktionen mit den Verbrechen des Nationalsozialismus stellen zudem eine Verharmlosung der NS-Diktatur und einen "Schuldabwehrmechanismus" dar, der ebenfalls im islamistischen und rechtsextremistischen Antisemitismus vorzufinden ist. 1 Hiermit sind Personen gemeint, die fälschlicherweise für Juden gehalten werden oder jüdische Personen / Gemeinden unterstützen. LINKSEXTREMISMUS 95 Gewalt als legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung Die Anwendung von Gewalt zur Erreichung politischer Ziele ist dabei einer der strittigsten Punkte innerhalb der linksextremistischen Ideologie. Während der Großteil der Linksextremist:innen auch aus taktischen Gründen auf die konkrete Ausübung von Gewalt verzichtet, ist die Notwendigkeit von Gewalt innerhalb der gewaltorientierten linksextremistischen Szene unumstritten. Zur gewaltorientierten linksextremistischen Szene zählen nicht nur Personen und Gruppierungen, die selbst gewalttätig handeln oder gewaltbereit gegen ihre "politischen Gegner" vorgehen, sondern ebenso diejenigen, die Gewalt unterstützen oder Gewalt befürworten. Die Gewaltorientierung einer Person oder Gruppierung kann sich zum einen aus ihrer ideologischen Ausrichtung und zum anderen aus ihren konkreten Handlungen ergeben. Dazu gehören beispielsweise das Propagieren der Notwendigkeit von Gewalt im Kampf gegen das "politische System" vor einem ideologischen Hintergrund, Appelle an politische Mitstreiter:innen zur Ausübung von Gewalt oder die billigende Inkaufnahme von Gewalttätigkeiten politischer Mitstreiter:innen, etwa mit der Begründung, im Hinblick auf ein politisches Ziel, Geschlossenheit der Szene demonstrieren zu wollen. Gewaltorientierte Linksextremist:innen befürworten zur Durchsetzung ihrer politischen Forderungen die Anwendung von Gewalt gegen den Staat, seine Einrichtungen und Repräsentant:innen sowie gegen (vermeintlich) rechtsextremistische Strukturen und Personen. Gewalt wird häufig mit der von Staat und Gesellschaft ausgehenden "strukturellen Gewalt" gerechtfertigt. Gewalt ist in dieser Szene aber nicht nur ein Mittel zur Bekämpfung des "staatlichen Repressionsapparates", sondern zugleich auch ein identitätsstiftendes Merkmal. Viele Angehörige der gewaltorientierten linksextremistischen Szene sehen darin einen Akt der individuellen Selbstbefreiung. Unterschieden werden kann in diesem Zusammenhang die konfrontative Gewalt von den sog. "militanten Aktionen". Konfrontative Gewalt Im Rahmen von Demonstrationen führt die teilweise hemmungslose Gewalt von Linksextremist:innen regelmäßig zu massiven gewalttätigen Ausschreitungen. Gewalttätige Linksextremist:innen greifen immer wieder Polizist:innen und (vermeintliche) Rechtsextremist:innen gezielt u. a. mit Steinen, Flaschen und pyrotechnischen Gegenständen an. In den vergangenen Jahren zeigten Angehörige der gewaltorientierten linksextremistischen Szene in Auseinandersetzungen mit Polizist:innen und ihren "politischen Gegner:innen" bundesweit ein brutales Vorgehen, welches ein Absenken der Hemmschwelle verdeutlicht, auch schwerste Verletzungen zu verursachen. In diesem Zusammenhang ist häufig die Rede von einer zunehmenden szenedefinierten "Entmenschlichung der politischen Gegner:innen" (siehe Kapitel 6.3.1 und 6.3.2). 96 LINKSEXTREMISMUS An gewalttätigen Auseinandersetzungen beteiligen sich neben Linksextremist:innen häufig auch "anpolitisierte" oder gänzlich unpolitische, erlebnisorientierte Jugendliche. Ihnen geht es weniger um konkrete politische und auf Systemüberwindung ausgerichtete Ziele als um den "Erlebnischarakter", der von solchen Ereignissen ausgeht; auch das Ausleben eines Aggressionspotenzials ist vielfach handlungsleitend. "Militante Aktionen" "Militante Aktionen" in Form von Sachbeschädigungen und Brandanschlägen werden von konspirativ agierenden Kleingruppen zumeist nachts durchgeführt. Gebäude und Fahrzeuge von Behörden, Parteien, Unternehmen und auch Privatpersonen werden u. a. durch Steinwürfe und Farbe beschädigt oder in Brand gesetzt. Darüber hinaus richten sich "militante Aktionen" gezielt gegen Personen. Konspirative Kleingruppen greifen vor allem (vermeintliche) Rechtsextremist:innen vorwiegend in ihrem privaten Wohnumfeld an. Diese gezielten und geplanten Anschläge sollen eine Signalwirkung entfalten. Zum einen geht es den Täter:innen um mediale Resonanz und zum anderen sollen die betroffenen Institutionen oder Personen zu einer Verhaltensänderung genötigt werden. Die Taten werden im Nachhinein oftmals in Selbstbezichtigungsschreiben ideologisch begründet, die im Internet verbreitet werden. Unterzeichnet werden die Selbstbezichtigungsschreiben häufig mit fiktiven Gruppennamen. 6.2 Gruppierungen des gewaltorientierten Linksextremismus In Bremen kann die linksextremistische Szene zu bestimmten Anlässen, beispielsweise zu Spontandemonstrationen, erfahrungsgemäß auch sehr kurzfristig über 200 Personen mobilisieren. Eine maßgebliche Funktion bei der Organisierung von Protesten nehmen in Bremen seit Jahren die beiden postautonomen Gruppierungen "Interventionistische Linke" (IL) und "Basisgruppe Antifaschismus" (BA) ein. "Interventionistische Linke" Die "Interventionistische Linke" (IL) gehört zu den postautonomen Gruppierungen, die ein höheres Maß an Organisiertheit der "linken" Szene zur Erreichung ihrer politischen Ziele für notwendig halten. Die Bremer Ortsgruppe der IL war im Jahr 2014 aus der Ortsgruppe der Gruppierung "Avanti - Projekt undogmatische Linke" ("Avanti") hervorgegangen. Die Logo "InterventionisMehrheit der 1989 gegründeten "Avanti"-Ortsgruppen hatte 2014 ihre tische Linke" Auflösung als selbstständige Organisation und ihren Beitritt zu der seit 2005 bundesweit agierenden IL erklärt. Die IL entwickelte sich damit von LINKSEXTREMISMUS 97 einem Netzwerk aus linksextremistischen, aber auch nichtextremistischen Gruppierungen und Einzelpersonen zu einer Organisation mit 28 lokalen Ortsgruppen in Deutschland und einer Ortsgruppe in Österreich. Ihre Zielsetzung und Strategie legte die IL 2014 in einem weiterhin gültigen "Zwischenstandspapier" dar: "Da sich auf der Basis patriarchaler und rassistischer Gesellschaftsstrukturen der real existierende Kapitalismus entfalten konnte, ist es für uns zentral, den Kampf für eine befreite Gesellschaft mit dem Kampf gegen all diese Herrschaftsformen zu verbinden. [...] Entscheidend für uns ist - sowohl in der theoretischen Begründung als auch in der Eröffnung praktischer Optionen -, stets auf eine gesamtgesellschaftliche Veränderung abzuzielen." (Internetseite der IL, 11. Oktober 2014) Die IL, die sich als "undogmatische Linke" bezeichnet, propagiert keine konkrete "Systemalternative", gleichwohl kämpft sie für einen "revolutionären Bruch mit dem nationalen und globalen Kapitalismus" sowie der "Macht des bürgerlichen Staates" (Internetseite der IL, 11. Oktober 2014). Mit der Formulierung, einen Zustand erreichen zu wollen, der dem Kommunismus ähnelt, bleibt ihr Ziel vage. Die Strategie, sich nicht unnötig ideologisch festzulegen, verfolgt die Gruppierung, um ideologische Differenzen und daraus resultierende Konflikte innerhalb der linksextremistischen Szene zugunsten einer Zusammenarbeit zu überwinden. Die IL bemüht sich seit Jahren, die Handlungsfähigkeit der "linken" Szene durch die Zusammenführung linksextremistischer und nichtextremistischer Aktivist:innen unterschiedlicher ideologischer Prägung in Bündnissen, Initiativen und Kampagnen zu erhöhen. Mit dieser Strategie nimmt die IL eine Scharnierfunktion zwischen linksextremistischen und nichtextremistischen Akteur:innen ein. Mit bewusst vage gehaltenen Formulierungen bezüglich des Ablaufs und des inhaltlichen Ziels einer Veranstaltung gelang es der IL bei Großereignissen in den vergangenen Jahren wiederholt, eine große Zahl an Nichtextremist:innen in ihre Proteste zu involvieren und sie für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren. Ein Beispiel ist hier die linksextremistisch beeinflusste Kampagne "Ende Gelände", die von Einzelpersonen und Gruppierungen sowohl des demokratischen als auch des linksextremistischen Spektrums unterstützt wird und deren Aktivitäten von der IL maßgeblich beeinflusst werden. Die in die Proteste der IL eingebundenen Akteur:innen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer ideologischen Ausrichtung, sondern auch in ihrer Einstellung zu Gewalt, die von Ablehnung bis Befürwortung reicht. Das Verhältnis der Gruppierung zu Gewalt kann somit als taktisch beschrieben werden: Einerseits arbeitet sie eng mit gewalttätigen Akteur:innen zusammen, nimmt ihre Gewalttätigkeiten bei Protesten in 98 LINKSEXTREMISMUS Kauf und bietet ihnen sogar einen Rahmen dafür. Andererseits vermeidet sie ein offenes Bekenntnis oder Aufrufe zur Anwendung von Gewalt, weil sie damit ihre als notwendig erachtete Zusammenarbeit mit Nichtextremist:innen aufgeben müsste, die Gewalt ablehnen und häufig auch die Zusammenarbeit mit Strafund Gewalttäter:innen. Vor dem Hintergrund insbesondere ihrer gewaltbefürwortenden Einstellung gilt die Gruppierung als gewaltorientiert. Schwerpunkt der Arbeit der IL war, wie in den Vorjahren, das Aktionsund Themenfeld "Klimaund Umweltschutz". Bundesweit engagierte sich die IL beispielsweise in den Protesten gegen die Räumung der Ortschaft Lützerath im rheinischen Braunkohlerevier. "Basisgruppe Antifaschismus" Die 2008 gegründete und kommunistisch ausgerichtete "Basisgruppe Antifaschismus" (BA) ist seit mehreren Jahren eine der Logo "Basisgruppe aktivsten gewaltorientierten linksextremistischen Gruppierungen in Antifaschismus" Bremen. Die Gruppierung ist seit 2011 in dem kommunistischen "... ums Ganze!"-Bündnis organisiert. Das Ziel der BA, die revolutionäre Überwindung des demokratischen Rechtsstaates und die Errichtung einer kommunistischen Gesellschaftsordnung, geht u. a. aus einem Facebook-Eintrag aus dem Jahr 2018 hervor: "Ihr seht, es ist viel passiert. Und noch viel mehr muss passieren, soll das mit diesem ganzen Rumgeprolle von sozialer Revolution und emanzipatorischer Aufhebung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Kommunismus mal wirklich Wirklichkeit werden!" (Facebook-Seite der BA, 12.07.2018). Die BA versteht sich als politische Avantgarde und bekräftigte ihren Kampf gegen das System in einem weiteren Beitrag anlässlich ihres 15-jährigen Bestehens: "Auch wir können uns wirklich schönere Dinge vorstellen als einen Großteil unserer Lebenszeit mit Politarbeit zu füllen, uns gegen Staat, Nation, Kapital und Patriarchat und was diese Gesellschaft sonst noch so an großen und kleinen Zumutungen und Schweinereien hervorbringt zur Wehr zu setzen." (Fehler im Original, InstagramSeite der BA, 13.08.2023) Die verfassungsfeindliche Zielsetzung der Gruppierung erläuterte einer ihrer führenden Aktivisten unter einem Aliasnamen 2017 in einem Interview, das die Bedeutung der linksextremistischen terroristischen Vereinigung "Rote Armee Fraktion" (RAF) für die heutige linksextremistische Szene thematisierte: "Trotzdem ist es natürlich immer noch nötig, diese Gesellschaft revolutionär zu überwinden. Diese Gesellschaft ist auf Ausbeutung angelegt. Eine Linke, die sich grundsätzlich von Gewalt distanziert, ist eine sozialdemokratische Linke. Ich bin Kommunist, ich will diese Gesellschaft über- LINKSEXTREMISMUS 99 winden. Für mich ist Gewalt keine Moralfrage, sondern eine taktische. Mich interessiert: Passt das gewählte Mittel inhaltlich zum Zweck meiner Politik?" (Internetseite der BA, Protokoll von Timon Simons aufgezeichnet von Gesa Steeger: "Strategisch bescheuert", 03.09.2017) Die taktische Einstellung des BA-Aktivisten zu Gewalt und seine Betonung, sich als Kommunist von der gewaltablehnenden "sozialdemokratischen Linken" abzugrenzen, zeigt, dass er nicht nur eine gewaltsame Revolution zur Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung als Fernziel für notwendig erachtet, sondern auch die Anwendung von Gewalt in den aktuellen Protesten. Angesichts ihrer zumindest gewaltbefürwortenden Einstellung zählt die Gruppierung zur gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens. Derselbe Führungsaktivist bekräftigte fünf Jahre später in einer Reportage des Fernsehsenders 3sat, dass er Kommunist sei und dass eine Revolution nur gewaltsam vonstattengehen könne: "Postautonome, das sagt der Verfassungsschutz, dass wir das sind. Ich würde das nicht so sagen. Postautonome, das sagt ja eigentlich nur, was wir nicht sind, nämlich keine Autonomen mehr. Ich würde was anderes von mir sagen, ich würde sagen, ich bin Kommunist. Ich würd sagen, ich bin Kommunist, obwohl dieser Begriff so schwer ist, gerade in diesem Land so schwer wiegt, trotz DDR, trotz Stalin und trotz Gulag, weil ich meine, es geht nicht darum, was ich nicht bin, sondern um das, was es gilt zu schaffen, nämlich eine Gesellschaft jenseits Staat, Kapital, Marktwirtschaft und Patriarchat. [...] Wie ist denn das mit Revolution und wie sieht denn das Ganze so aus? Ich glaube, das ist gar keine romantische Veranstaltung, [...] der Sturm auf irgendein Rathaus und da wird dann ne rote Fahre draufgesetzt [...]. Sondern da geht es ja eher da drum, das ist irgendwann ein Punkt von gesellschaftlichen Reformen, wo vielleicht die andere Seite auch nicht mehr zuguckt und sagt, das lassen wir nicht mehr zu, da gucken wir nicht mehr zu, dass ihr weiter an unsere Privilegien, unser Eigentum ran geht, wir wehren uns da jetzt. Und dann gibt es vielleicht Auseinandersetzungen da drüber (...)." (Zitat gemäß Interview, Reportage des Fernsehsenders 3Sat "Mo Asumang und der Kampf der Linken", 05.09.2022) Die BA versucht generell strategisch, sich in gesellschaftlich und politisch relevante Themenbereiche einzubringen, um das vorhandene Konfliktpotenzial und vor allem das dort engagierte Personenpotenzial für ihr politisches Ziel der Überwindung des demokratischen Rechtsstaats zu instrumentalisieren und zu gewinnen. In den vergangenen Jahren versuchte die BA über Themen wie Zwangsräumungen, Inflation, steigende Kosten für Lebensmittel und Lebenshaltung Anschluss an die bürgerliche Mitte der Gesellschaft zu erlangen. 100 LINKSEXTREMISMUS So hatte die BA mit der Gründung des "Bremer Bündnisses gegen Preiserhöhungen" im Juli 2022 das Ziel verfolgt, den damals aufkeimenden Protest gegen Inflation und Preiserhöhungen infolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Februar 2022 zu lenken. Zudem wollte sie den Protest auf eine breite Basis stellen und neben gewaltorientierten Linksextremist:innen, wie der "Interventionistischen Linken" (IL), insbesondere Personen aus dem bürgerlichen, nichtextremistischen Spektrum gewinnen. Inzwischen führt die BA das "Bündnis gegen Preiserhöhungen" als Netzwerk fort, da sie ihr angestrebtes Ziel verfehlte, ein hohes Personenpotenzial für spontane Massenproteste zu mobilisieren: "Wir haben darauf gewettet, dass, ähnlich wie die bundesweiten Proteste gegen die Einführung von Hartz IV 2004, es zu spontanen und massenhaften Protesten kommen würde. [...] Die Wette haben wir verloren. [...] Trotzdem würden wir unseren Praxisansatz als erfolgreich bewerten." (Internetseite BA, 23.02.2023). Die Erklärung der BA belegt, dass es ihr mit der Initiierung des Bündnisses primär um die Politisierung sozialer Konflikte und die Entstehung einer "Bewegungssituation" ging, aus der heraus konsequenterweise der Wandel des politischen Systems erfolgen solle. "... ums Ganze!"-Bündnis Die linksextremistische Gruppierung BA gehört dem 2006 gegründeten Bündnis "... ums Ganze!" (uG) an, das zurzeit aus zehn eigenständig agierenden und lokal verankerten Mitgliedsgruppen Logo "... ums Ganze!"-Bündnis in Deutschland besteht. Das Bündnis bezeichnet sich im Untertitel seines Namens als ein "kommunistisches Bündnis" und verweist damit auf seinen ideologischen Hintergrund. Es strebt die Abschaffung und Ersetzung der bestehenden Gesellschaftsordnung durch eine kommunistische Staatsund Gesellschaftsordnung an: "Wir wollen uns nicht mit realpolitischen Forderungen zufrieden geben, wir wollen nicht nach der praktischen Umsetzbarkeit irgendwelcher Reformen fragen, wir sagen klar und deutlich: Uns geht's ums Ganze! Wir wollen die Überwindung des gesellschaftlichen Verhältnisses Kapitalismus als die einzig 'menschenwürdige Lösung' propagieren. Wir wollen unsere Negation dieses Verhältnisses ausdrücken." (Fehler im Original, "... ums Ganze!": "smash capitalism. fight the g8 summit", Neustadt 2007, Vorwort, S. 3) "Antifaschistische Gruppe Bremen" In den Jahren von 2017 bis 2021 war auch die gewaltorientierte linksextremistische "Antifaschistische Gruppe Bremen" (AGB) Mitglied im bundesweiten "... ums Ganze!"Bündnis. Die Gruppierung wurde 2013 gegründet und ist ebenso wie "... ums Ganze!" kommunistisch ausgerichtet. Ihr Ziel ist die Beseitigung der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnung. Nachdem sie mehrere Jahre öffentlich kaum in Erscheinung LINKSEXTREMISMUS 101 getreten war, engagiert sie sich seit 2022 wieder in den Themenfeldern "Antifaschismus" und "Antirepression". In der Vergangenheit organisierte die AGB häufig in Kooperation mit der "Basisgruppe Antifaschismus" (BA) linksextremistische Protestaktionen gegen (vermeintliche) Rechtsextremist:innen in Bremen. So zählt die AGB zur gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens, weil sie Gewalt befürwortet und in der Vergangenheit offen dazu aufrief. Eine Aufforderung zu Gewalt war die "Kampfansage", die ein Aktivist der AGB in seinem Redebeitrag bei einer Demonstration 2015 in Bremen-Nord machte: "Wir werden so lange hier aufschlagen und diesem braunen Drecksloch zeigen, wo Sichel und Hammer hängen, bis sie es begriffen haben! Und wenn es sein muss legen wir hier mit jedem notwendigen antifaschistischen Widerstand den ganzen braunen Sumpf restlos trocken. An alle Faschisten und Rassist_innen in diesem Stadtteil: Dies ist eine Kampfansage! Wir geben euch Nazis und Rassist_innen die Straße zurück... Stein für Stein... Stein für Stein!" (Fehler im Original, Internetseite der AGB: "Nach Brandanschlag auf Geflüchtetenlager in Bremen Nord", 07.10.2015) "Kämpfende Jugend" Die 2019 gegründete kommunistische Gruppierung "Kämpfende Jugend" (KJ) orientiert sich am klassischen Marxismus-Leninismus. Nachdem die linksextremistische Gruppierung Ende 2021 mehrere Monate lang keine Aktivitäten entfaltete, verkündete sie im April 2022 ihr "Comeback" als "Kämpfende Jugend Bremen". Seitdem zeigt die KJ vielfältige Aktivitäten und beteiligte sich auch im Jahr 2023 an Aktionen und Demonstrationen Logo "Kämpfende wie etwa der 01.-Mai-Demonstration. Jugend" Ihre verfassungsfeindlichen Ziele beschreibt die KJ in ihrer Gründungserklärung ausführlich. So strebt sie die Überwindung des demokratischen Rechtsstaates und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft an: "Wir verstehen uns als kommunistische Gruppe, die sich gegründet hat, um den politischen Entwicklungen und dem bürgerlichen Staat, in dem wir leben, entgegenzutreten. [...] Für uns gibt es keinen ,besseren' oder ,schlechteren' Kapitalismus. Deshalb sagen wir ihm den Kampf an - den Klassenkampf!" (Facebook-Seite der KJ, 24.03.2019) Im Gegensatz zu anderen linksextremistischen Gruppierungen, die zugunsten ihrer Anschlussfähigkeit an das bürgerliche Spektrum ihre politischen Ziele verharmlosen oder verschleiern, bekennt sich die KJ offen zu ihren kommunistischen Vorstellungen: "Grundsätzlich können wir sagen, dass das Konzept der Diktatur des Proletariats mit das Wichtigste an unserer Weltanschauung ist. [...]. Der Sozialismus, die Diktatur des Proletariats, ist eben als Übergangsgesellschaft zu begreifen, in der die Voraussetzungen 102 LINKSEXTREMISMUS für den Kommunismus geschaffen werden sollen. Die Diktatur des Proletariats ist dabei der erste und einzige Staat, der von Beginn an den Zweck hat, langfristig überflüssig zu werden und abzusterben. Wenn alle konterrevolutionären Kräfte besiegt und die Produktionsverhältnisse umfassend revolutioniert sind, dann wird es auch keinen sozialistischen Staat mehr geben und auch die kommunistische Partei hat ihren Zweck erfüllt. [...] In diesem Sinne tragen wir den Begriff "LeninistInnen" mit Stolz. Den Begriff des "Stalinismus" lehnen wir hingegen ab, weil es ein antikommunistischer Kampfbegriff ist." (Internetseite der KJ, 14.05.2022) Ihre Ablehnung gegenüber dem parlamentarischen System formuliert die Gruppierung deutlich, von dessen Reformierung hält sie wenig: "Diese Widersprüche können nur überwunden werden, wenn der Kapitalismus überwunden wird. Dies geschieht nicht durch Wahlen, Reformen oder sonstigen bürgerlichen Nonsens, sondern kann nur auf revolutionärem Wege erreicht werden - durch die sozialistische Revolution!" (Facebook-Seite der KJ, 24.03.2019) Im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 veröffentlichte die KJ ein Thesenpapier, in dem sie ihre "kommunistische Sichtweise auf die parlamentarische Demokratie" darlegt: "Jede Form der Partizipation im Parlament, die sich auf die Spielregeln desselben einlässt ist opportunistisch und gehört bekämpft. Der bürgerliche Staat muss zerschlagen werden, sollen die Interessen der Werktätigen zur Geltung kommen." (Fehler im Original, Internetseite der KJ: "Demokratie & Proletariat. Eine kommunistische Sichtweise auf die parlamentarische Demokratie", 26.09.2021). Die gewaltsame Revolution erachtet die KJ als Voraussetzung für die Errichtung einer klassenlosen, kommunistischen Gesellschaftsform: "Um dies zu verwirklichen und auf den Umsturz dieses Systems hinzuarbeiten, treten wir nun an. [...] Es gilt eine Welt zu erobern! Und wir kämpfen, bis wir diese Welt erobert haben!" (Facebook-Seite der KJ, 24.03.2019) Vor dem Hintergrund des Terrorangriffs der "HAMAS" auf Israel am 7. Oktober 2023 brachte die KJ mit der Veröffentlichung einer "Stellungnahme zu Palästina" ihr antiimperialistisches Weltbild deutlich zum Ausdruck, in der sie den terroristischen Überfall der "HAMAS" auf Israel als vermeintlich notwendige Verteidigung verharmlost: "Als InternationalistInnen und AntiimperialistInnen verteidigen wir entschieden das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes. Das palästinensische Volk befindet sich seit über 75 Jahren in einem Zustand der nationalen und kolonialen Unterdrückung. Israel ist ein siedlerkolonialistischer Apartheidsstaat, der Palästina besetzt hält und bis heute vor Ort Landraub, Vertreibung und ethnische Säuberung vorantreibt. Der Widerstand des palästinensischen Volkes gegen diese nationale und koloniale Unterdrückung ist und bleibt gerechtfertigt!" (Fehler im Original, Instagram-Kanal der KJ, 12.12.2023) LINKSEXTREMISMUS 103 "Rote Hilfe" Die Rote Hilfe (RH) wurde 1975 als Verein "Rote Hilfe e.V." gegründet und unterhält bundesweit etwa 52 Ortsgruppen, eine davon in Bremen. Der Verein hat seinen Sitz in Göttingen, ebenfalls dort befindet sich auch das Archiv der RH ("Hans-Litten-Archiv e.V."). Logo "Rote Hilfe" Das Sprachrohr der RH ist die quartalsweise herausgegebene Zeitung "Die Rote Hilfe". Die RH beschreibt sich als "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation" und ist ausschließlich im Bereich der "Antirepressionsarbeit" tätig. Der Verein unterstützt "linke" Strafund Gewalttäter:innen sowohl in politischer als auch in finanzieller Hinsicht, z. B. gewährt er Rechtshilfe, vermittelt Anwälte und Anwältinnen oder übernimmt in Teilen Anwalts-, Prozesskosten und Geldstrafen bei entsprechenden Straftaten. Darüber hinaus betreut der Verein rechtskräftig verurteilte Straftäter:innen während ihrer Haft mit dem Ziel ihrer dauerhaften Bindung an die linksextremistische Szene. Die dabei entstehenden Kosten werden aus Mitglieds beiträgen und Spenden finanziert. Das Oberverwaltungsgericht Bremen kam in einer Entscheidung 2018 zu dem Schluss, dass es sich bei der RH nicht um "eine Art 'linke Rechtsschutzversicherung' [handelt]. Ein solches Verständnis [...] widerspräche auch dem eigenen Selbstverständnis". Statt einer Vermeidung weiterer Straftaten, "zielt [der RH e.V.] mit seinen Unterstützungsleistungen auch auf die Fortführung des 'Kampfes' und somit Wiederholung der jeweiligen Taten oder Begehung anderer Taten, unter Einschluss von Gewalttaten ab" (Beschluss des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen, Az. 1 B 238/17). Die Strafverfolgung von Linksextremist:innen sieht der Verein als "politische Verfolgung" an und unterstellt der Justiz und dem Staat die willkürliche Unterdrückung von Kritiker:innen und Oppositionellen. Diese Sichtweise zeigt sich deutlich im Zusammenhang mit dem sog. "Antifa-Ost-Verfahren", das einen Schwerpunkt der politischen Arbeit der RH in den vergangenen drei Jahren darstellte (siehe Kapitel 6.3.1 Proteste gegen "staatliche Repression"). Exkurs: "Antifa-Ost-Verfahren" Beim sog. "Antifa-Ost-Verfahren" handelt es sich um den am 8. September 2021 vor dem Oberlandesgericht (OLG) Dresden begonnenen Prozess gegen die Linksextremistin Lina E. Am 31. Mai 2023 wurden Lina E. und drei weitere Mitangeklagte vom Staatsschutzsenat des OLG wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Den Verurteilten wird vorgeworfen, zwischen 2018 und 2020 gezielt Rechtsextremist:innen angegriffen und teilweise schwer verletzt zu haben. Gegen das Urteil haben die Verurteilten Revision eingelegt. 104 LINKSEXTREMISMUS Der Prozess und insbesondere die Einlassungen eines Kronzeugen vor Gericht stellen eine Besonderheit dar, linksextremistische Täter:innen hatten in der Vergangenheit selten vor Gericht so umfangreich zu Aktivitäten und Strukturen der Szene ausgesagt. Die Aussagen des Kronzeugen verunsichern die gewaltorientierte linksextremistische Szene, die sich mit Lina E. und ihren Mitstreitern solidarisierte und ihre Freilassung forderte, bundesweit massiv. Während des sog. "Antifa-Ost-Verfahrens" forderte die RH die "sofortige Freilassung von Lina und allen Antifas" und zeigte sich solidarisch "mit den Genossen*innen, die wegen ihres Engagements gegen Nazis vor Gericht gezerrt werden oder andere Repressionen erdulden müssen." Kritisiert werden die angeblichen "anhaltenden Angriffe und Kriminalisierungsversuche gegen Antifas" (Internetseite des Bundesvorstandes der "Roten Hilfe", 30.10.2022). Die RH hatte in diesem Zusammenhang 2021 eine bundesweite Kampagne gegen die vermeintliche Kriminalisierung von "Antifaschismus" initiiert und Solidaritätsstrukturen aufgebaut. In einer Erklärung des Bundesvorstandes der RH zum Urteil im "Antifa-Ost-Verfahren" heißt es: "Mit diesem Urteil werden alle Antifaschist*innen kriminalisiert, es stellt eine klare Verschärfung der politischen Justiz dar. Daher rufen wir alle Menschen und Initiativen, die sich auf unterschiedlichsten Wegen gegen den Rechtruck in der Gesellschaft und den NaziTerror auf der Straße engagieren dazu auf, sich mit den heute Verurteilten zu solidarisieren und gegen die gesamte Prozessführung und die Urteile zu protestieren" (Fehler im Original, Internetseite der RH, 31.05.2023). Die Forderung nach Straffreiheit von gewalttätigen Übergriffen auf eine missliebige Gruppe (oder als solche gekennzeichnete) würde jedoch dem Rechtstaatsprinzip zuwiderlaufen und einen rechtsfreien Raum eröffnen, in dem politisch Andersdenkende und (vermeintliche) Rechtsextremist:innen willkürlicher Gewalt ausgesetzt wären. Am 31. Mai 2023 kam es anlässlich der Urteilsverkündung bundesweit zu gewalttätigen Protesten. Auch in Bremen gab es neben Sachbeschädigungen Ausschreitungen von gewaltorientierten Linksextremist:innen (siehe Kapitel 6.3.1 Proteste gegen "staatliche Repression"). Die Bremer Ortsgruppe der RH befürwortete die gewalttätige Eskalation des Demonstrationsgeschehen und warb für ihr "Beratungsangebot": "Getroffen hat es einige, gemeint sind wir alle! Wir haben unsere Wut am Tag X gemeinsam auf die Straße getragen und nun stehen wir geschlossen gegen ihre Repression! Wenn ihr bei der kraftvollen Sponti in Schwierigkeiten geraten seid, wenn ihr Strafbefehle oder LINKSEXTREMISMUS 105 andere Post bekommt oder wenn ihr bei generellen Fragen und Problemen mit Justiz und Polizei Unterstützung benötigt, dann kommt gerne zu unserer Sprechstunde" (Internetseite der RH, 17.06.2023). Im September 2023 organisierte die Bremer Ortsgruppe in diesem Zusammenhang eine Vortragsveranstaltung mit dem Titel "Einblicke der Verteidigung in das Antifa Ost-Verfahren", bei dem die Veranstalter:innen den Fokus auf die staatlichen Akteur:innen und ihre vermeintlichen politischen Ziele setzten. Wenngleich die RH selbst nicht gewalttätig agiert, gehört sie aufgrund ihrer gewaltunterstützenden und gewaltbefürwortenden Einstellung zur gewaltorientierten linksextremistischen Szene. Mit seiner gewaltbefürwortenden Einstellung hat der Verein eine stabilisierende Funktion für die gewaltorientierte linksextremistische Szene, wenn er potenziellen linksextremistischen Gewaltund Straftäter:innen vor Begehung von Taten politische und finanzielle Unterstützung verspricht. Dabei unterstützt er nur solche Taten, die er als "politisch" bewertet. Unter dem Motto "Solidarität ist eine Waffe" bietet die RH somit einen Legitimationsrahmen für linksextremistische Straftäter:innen und fördert gleichzeitig durch die Flyer der "Roten Hilfe" gemeinsame Abschottung gegenüber staatlichen Behörden den Zusammenhalt der Szene. Entschuldigungen oder Distanzierungen der Täter:innen von linksextremistischen Gewaltdelikten im Verfahren führen regelmäßig zu einem Entzug der Unterstützung, wie dieses Beispiel verdeutlicht: "Abgelehnt haben wir einen Unterstützungsantrag in einem Verfahren wegen Brandstiftung an Autos. Der Antragsteller hat die Vorwürfe eingeräumt, die Sache bereut und einen politischen Zusammenhang abgestritten. Das unterstützen wir nicht." ("Die Rote Hilfe" 3/2011, S. 7) Die RH verweigert nicht nur dann die Kostenübernahme, wenn sich Tatverdächtige von ihrer Tat distanzieren oder zu ihrem Vorteil aussagen, sondern bei jeglicher Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden. Sie entzieht ihre Unterstützung selbst in solchen Fällen, in denen die Kooperation mit den Sicherheitsbehörden eindeutig darauf zielt, den "politischen Gegner:innen" zu schaden, wie ein Fall aus Bremen belegt: "Es liegt eine Mail der OG [Ortsgruppe] Bremen zu einem Fall vor, bei dem die betroffene Person nach einer Auseinandersetzung mit einem AfDler eine Gegenanzeige gestellt hat. Dadurch sind Aussagen seitens des Betroffenen notwendig, was eine Unterstützung in der Regel unmöglich macht. Der Buvo [Bundesvorstand] teilt die Einschätzung der OG Bremen." ("Die Rote Hilfe" 04/2019, S. 7) 106 LINKSEXTREMISMUS 6.3 Aktivitäten gewaltorientierter Linksextremist:innen Neben den für Linksextremist:innen zentralen Aktionsund Themenfeldern "Antirepression" und "Antifaschismus" standen im Jahr 2023 die Themen "Antimilitarismus", "Klimaund Umweltschutz" und "Gentrifizierung" im Fokus der Agitation. Die unterschiedliche Schwerpunktsetzung macht den fortwährenden Anspruch der linksextremistischen Szene deutlich, ihre Weltanschauung zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen und Diskussionen zu propagieren. Linksextremist:innen äußern ihre Ablehnung der parlamentarischen Demokratie häufig verklausuliert, um sich strafrechtlich nicht angreifbar zu machen und für gemäßigte Teile der Bevölkerung anschlussfähig zu sein. Im Vordergrund steht dabei die Forderung nach der Abschaffung des Kapitalismus, da dieser als grundursächlich für die sozialen Missstände in der Gesellschaft angesehen wird. Die Kritik am Kapitalismus und die Forderung nach einer alternativen Wirtschaftsform ist legitim und gehört zu einer demokratischen Auseinandersetzung dazu. Problematisch hingegen ist die Gleichsetzung des Wirtschaftssystems des Kapitalismus mit einem Herrschaftsbzw. Gesellschaftssystem: Linksextremist:innen sehen im demokratischen Staat lediglich ein Mittel der Kapitalist:innen, ihre Herrschaft und Macht über die Bevölkerung durchzusetzen. Folglich wird die Überwindung des Kapitalismus auch immer mit der Überwindung des Staates verknüpft. Antirassismus Antifaschismus Klimaund Antirepression Umweltschutz Antikapitalismus Antigentrifizierung Antimilitarismus Soziale Kämpfe Antiglobalisierung LINKSEXTREMISMUS 107 "Antikapitalismus" "Antikapitalismus" ist die Basis der linksextremistischen Ideologie. Strukturen und Eigentumsverhältnisse des "Kapitalismus" seien demnach nicht nur Grundlagen für Armut, Hunger und soziale Ungerechtigkeit, sondern darüber hinaus ursächlich für "Faschismus", "Repression", Migrationsströme, ökologische Katastrophen, "Imperialismus" und Krieg. So veröffentlichte bspw. die "Basisgruppe Antifaschismus" (BA) einen Beitrag, in dem sie offensiv für eine Abschaffung des kapitalistischen Systems und die revolutionäre Überwindung des demokratischen Staates eintritt: "Unsere grundsätzlichen Einschätzungen, dass der patriarchale Kapitalismus immer Ausbeutung und Unterdrückung bedeutet und er sich nicht grundlegend verändern und deswegen abgeschafft gehört, halten wir aber weiterhin für richtig. Auch darin, dass der Staat kein Mittel dafür sondern Bedingung und Voraussetzung des Kapitalismus ist und deswegen revolutionär überwunden werden muss [...]. Lasst uns lieber gemeinsam die radikale Linke und die Welt verändern!" (Fehler im Original, X Kanal der BA, 23.11.2023) Die Forderung nach einer revolutionären Überwindung des "kapitalistischen Systems" bietet der gewaltorientierten linksextremistischen Szene die ideologische Grundlage für Strafund Gewalttaten. Diese sog. "militanten Aktionen" erfolgen vorwiegend in Form von Sachbeschädigungen und Brandanschlägen gegen Gebäude und Fahrzeuge, aber auch Angriffe auf den "politischen Gegner" werden als ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung angesehen. Ausgehend vom "Antikapitalismus" lassen sich die weiteren Aktionsund Themenfelder ableiten, dabei kann die Schwerpunktsetzung variieren. Gemäß dem Prinzip der "Politik der ersten Person" werden jeweils die Themen als relevant erachtet, bei denen eine eigene Betroffenheit besteht. "Militante Aktionen" Im Jahr 2023 verübten gewaltorientierte Linksextremist:innen in Bremen insgesamt 15 "militante Aktionen" in verschiedenen Aktionsund Themenfeldern, davon 10 Sachbeschädigungen und vier Brandanschläge. Im Vorjahr waren 16 Sachbeschädigungen zu verzeichnen. Waren im Jahr 2022 keine Brandanschläge zu verzeichnen, verdeutlichten die im Jahr 2023 verübten Brandanschläge in den Begründungszusammenhängen "Antirepression" sowie "Klimaund Umweltschutz" die unverändert hohe Gewaltbereitschaft der Bremer Szene. Wenngleich Brandanschläge als Form linksextremistischer "Militanz" seit jeher gängige Delikte sind, ist in der Regel ein weitaus höheres Maß an Gewaltbereitschaft und krimineller Energie erforderlich, um einen Brandsatz zu zünden, als Gegenstände auf eine andere Weise zu beschädigen. Das Risiko, Leib und Leben von Personen zu gefährden, und der entstehende Sachschaden sind bei einer Brandstiftung in der Regel 108 LINKSEXTREMISMUS ungleich höher als bei Sachbeschädigungsdelikten. Dies findet auch im deutlich höheren Strafrahmen der entsprechenden Delikte im Strafgesetzbuch seinen Ausdruck. So stellte bspw. der Brandanschlag auf das Firmengebäude des Luftund Raumfahrtunternehmens OHB in der Silvesternacht 2021/2022 eindrücklich dar, dass die gewaltorientierte linksextremistische Szene in Bremen bei der Durchsetzung ihrer politischen Ziele durchaus auch die Gefährdung von Menschenleben in Kauf nimmt. Bei dem Brand entstand nicht nur ein Sachschaden im hohen sechsstelligen Bereich. Zugleich wurde auch die Gefährdung von Menschenleben in Kauf genommen, da sich zum Tatzeitpunkt ein Wachmann im Gebäude befand. 6.3.1 Proteste gegen "staatliche Repression" "Antirepression" stellt seit jeher einen Aktionsschwerpunkt der gewaltorientierten linksextremistischen Szene dar. Ihre individuelle, soziale oder politische Entfaltung sehen gewaltorientierte LinksAufkleber der linksextremistischen Szene extremist:innen durch den Staat und seine "Machtund Repressionsstrukturen" unterbunden, vor allem durch Sicherheitsgesetze, polizeiliche Sicherheitsmaßnahmen oder technische Entwicklungen und digitale Vernetzung. Unter Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols bekämpfen sie die "staatliche Repression". Die Polizei als "Handlanger des kapitalistischen Systems" stellt ein Angriffsziel für gewaltorientierte Linksextremist:innen dar. Ihrem Weltbild entsprechend sei die Polizei für die unverhältnismäßige Niederschlagung von legitimem Protest durch massive Gewalt verantwortlich, was "militanten Widerstand" notwendig mache. Polizist:innen werden nicht als Menschen betrachtet, sondern als personifizierte Hassobjekte. Vor diesem Hintergrund gelten Angriffe auf sie als legitim. Die Hemmschwelle, Polizist:innen zu verletzen, ist in den letzten Jahren deutlich gesunken. Für die Proteste gegen "staatliche Repressionen" gelingt es der gewaltorientierten linksextremistischen Szene, anlassbezogen auch kurzfristig eine Vielzahl an Teilnehmer:innen zu mobilisieren. Ausschreitungen anlässlich der Urteilsverkündung im "Antifa-Ost"-Verfahren Am 31. Mai 2023 verurteilte das Oberlandesgericht Dresden die Linksextremistin Lina E. und drei weitere Angeklagte wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung oder Unterstützung einer kriminellen Vereinigung zu mehrjährigen Haftstrafen. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Angeklagten in den Jahren von 2018 bis 2020 mindestens sechs gewaltsame Überfälle auf tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremist:innen begangen hatten. LINKSEXTREMISMUS 109 Bundesweit hatte sich die gewaltorientierte linksextremistische Szene mit der im November 2020 verhafteten Lina E. und ihren drei Mitangeklagten solidarisiert. So forderte sie die Freilassung der Angeklagten sowie die Abschaffung des angeblichen "Gummiparagraphen SS129 StGB", der das Delikt der Bildung einer krimineller Vereinigung definiert. Im gesamten Bundesgebiet hatten gewaltorientierte Linksextremist:innen über Monate und zum Teil über Jahre die gewaltsamen Protestaktionen am Samstag nach dem Tag der Urteilsverkündigung, dem sog. "Tag X", geplant und zur Teilnahme mobilisiert. In einem auf der linksextremistischen Plattform "indymedia.org" im Februar 2023 veröffentlichten Mobilisierungsaufruf wurde gedroht, für jedes Jahr der Haftstrafe, zu der die vier Linksextremisten verurteilt werden würden, Sachschäden von einer Million Euro zu verursachen (Internetseite de.indymedia.org, 02.02.2023). Am Tag der Urteilsverkündung, dem 31. Mai 2023, hatte es bereits bundesweit gewaltsame Ausschreitungen gegeben, v. a. in Hamburg, Leipzig und Berlin. Auch in Bremen fand unter dem Motto "TAG X DEMO am Tag der Urteilsverkündung im Antifa-Ost-Verfahren" eine unangemeldete Demonstration statt, an der sich in der Spitze rund 350 überwiegend vermummte Personen beteiligten. Die Demonstration hatte von Beginn an einen gewalttätigen Charakter. Unmittelbar nach ihrem Beginn bewarfen die Demonstrierenden die Polizist:innen mit Pyrotechnik, Flaschen und Steinen, wobei mehrere Polizist:innen verletzt wurden. Im Verlauf der Demonstration nahm die Polizei 59 Personen in Gewahrsam. Die ausschließlich von linksPlakat Aufruf zur Demonstration extremistischen Gruppierungen, allen voran von der "Basisgruppe am sog. "Tag X" Antifaschismus" (BA), lange im Vorfeld beworbene Demonstration stach im bundesweiten Vergleich neben den Protesten in Leipzig durch ihren martialischen und gewalttätigen Charakter deutlich hervor. Eine weitere Eskalation des Protestes konnte lediglich durch die starke Präsenz und das schnelle Eingreifen der Polizei verhindert werden. Die hohe Teilnehmendenzahl und die bereits im Vorfeld betriebene umfassende Mobilisierung zur Teilnahme an einem zu erwartenden gewaltsamen Protest verdeutlichen erneut das Potenzial der linksextremistischen Szene Bremens, sämtliche ihrer Gruppierungen hinter einem gemeinsamen Ziel zu vereinen. Im Anschluss an die gewalttätigen Ausschreitungen am 31. Mai 2023 in Bremen wurde auf der von Linksextremist:innen genutzten Plattform "tumulte.org" zwei Einschätzungen veröffentlicht, welche die Geschehnisse einzuordnen versuchten. In der ersten Veröffentlichung heißt es, dass "die massenhafte Ingewahrsamnahme von Antifaschist*innen und die erfahrene Bullengewalt ein hoher Preis für die unangemeldete Tag-X-Demo" gewesen sei. Gleichzeitig wird die "rege Teilnahme an der unangemeldeten Demonstration" und "der offensive Charakter von Beginn an" gelobt. Darüber 110 LINKSEXTREMISMUS hinaus werden die von den Kundgebungsteilnehmern ausgeübten Übergriffe von den Autoren als legitimes Mittel betrachtet: "Militanter Antifaschismus bleibt legitim und notwendig! In die Offensive gegen Nazis, Staat und Kapital!" (Internetseite de.indymedia.org", 01.06.2023). In einer zweiten Veröffentlichung am 01. Dezember 2023 befürworten die Organisatoren der Demonstration die Militanz der linksextremistischen Szene: "Unserer Meinung nach sollte eine Antwort auf die Beschissenheit der Dinge ein offener Antifaschismus sein, bei dem auch Militanz fester Bestandteil ist. Natürlich darf Gewalt hierbei nicht zum Selbstzweck verkommen. [...] Wir werden am offensiven Protest in Bremen fest halten und weiterhin versuchen, Demonstrationen und Aktionen aus den gewohnten Bahnen zu holen. Lasst uns experimentierfreudiger werden! Lasst uns unberechenbar werden! Eine offensive antifaschistische Bewegung auf den Straßen dieser Stadt! Gegen Nazis, Staat und Kapital! Militanz ist angemessen." (Fehler im Original, Internetseite de.indymedia.org, 01.12.2023) Am "Tag X", dem 3. Juni 2023, versammelten sich über 1.500 Linksextremist:innen in Leipzig, darunter etwa 500 gewaltorientierte Linksextremist:innen. Die größtenteils vermummten Demonstranten bewarfen die Polizist:innen mit Steinen und Pyrotechnik. Im weiteren Verlauf errichteten Kleingruppen gewaltbereiter Linksextremist:innen Barrikaden und setzten diese in Brand. Zur Beteiligung an den Protesten am "Tag X" in Leipzig hatten gewaltorientierte Gruppierungen in Bremen bereits lange im Vorfeld aufgerufen. Innerhalb der linksextremistischen Szene herrscht Einigkeit bzgl. der Ablehnung der staatlichen Maßnahmen im Zuge des sog. "Antifa-Ost-Verfahrens". In einem im September 2023 veröffentlichten Statement anlässlich der Öffentlichkeitsfahndung des Landeskriminalamts Sachsen nach einem weiteren Beschuldigten im sog. "Antifa-OstVerfahren" legitimiert die BA den Angriff auf den politischen Gegner und verdeutlicht ihre Ablehnung gegenüber dem Staat: "Dass Nazis etwas entgegen gesetzt wird, ist politisch richtig. Wenn Nazis Angst haben müssen auf die Straße zu gehen, wenn sie unsere Straßen meiden, dann ist das ein politischer Erfolg. Solche Erfolge bewerten wir nicht anhand des Strafgesetzbuches, sondern anhand der Frage, ob sie Nazis erfolgreich geschadet haben oder nicht. Dort wo Antifaschist*innen auf Nazis treffen und ihnen konsequent entgegengetreten, dort kommen sie früher oder später auch dem Staat in die Quere. Das ist kein Zufall. Der Staat und sein Gewaltmonopol ist nicht einfach eine neutrale Einrichtung zum Wohle aller. Die gesellschaftliche Ordnung die der Staat mit seiner Gewalt durchsetzt, ist eine Ordnung die fortlaufend Ausschlüsse produziert [...]. Diese Gesellschaft und ihre gewalttätige Eigentumsordnung, ihr Staat und sein Gewaltmonopol, sind daher nicht unsere Verbündeten, sondern unsere Gegner*innen." (Fehler im Original, X-Kanal der BA, 26.09.2023) LINKSEXTREMISMUS 111 "Militante Aktionen" im Themenfeld "staatliche Repression" In Bremen gab es im Zuge des sog. "Antifa-Ost-Verfahrens" mehrere "militante Aktionen". Im April 2023 beschädigten Unbekannte das Polizeirevier Obervieland mit Farbe, sie schmierten die Schriftzüge "Free Antifa Ost" an die Fassade und zerstörten sämtliche Glasscheiben im Erdgeschoss des Gebäudes. Im Mai 2023 wurde eine Straßenbahn der BSAG mit dem Schriftzug "Free Lina - ACAB" beschmiert. Auf der von Linksextremist:innen genutzten Internetseite "tumulte.org" wurden zu beiden Taten entsprechende Selbstbezichtigungsschreiben veröffentlicht. Die Täter bekundeten darin ihre Solidarität mit den Angeklagten im sog. "Antifa-Ost-Verfahren" und bezweifelten die Rechtmäßigkeit des Verfahrens: "Diese direkte Aktion war ein Akt offener Solidarität mit den vier angeklagten Antifaschist*innen im Antifa-Ost Verfahren, denen trotz dünner Beweislage und einem höchst unglaubwürdigen Hauptzeugen hohe Haftstrafen drohen." (Internetseite tumulte.org, 22.04.2023) Am 19. Juli 2023 wurde ein Brandanschlag inmitten eines Bremer Wohngebiets auf den vermeintlichen Pkw des Bremer Innensenators verübt. Durch das Feuer wurden drei Fahrzeuge unbeteiligter Anwohner:innen beschädigt, wovon zwei vollständig ausbrannten. In dem hierzu veröffentlichten Selbstbezichtigungsschreiben beziehen sich die unbekannten Autor:innen auf Brandanschlag auf vermeintlichen Pkw des Bremer Innensenators mehrere linksextremistische Kampagnen als Begründung. So sprechen sie u. a. ihre Solidarität mit den Verurteilten im "Antifa-Ost Verfahren" aus. Nachdem die Polizei in ihrer Pressemitteilung veröffentlichte, dass keines der beschädigten Fahrzeuge auf den Innensenator zugelassen ist, verfassten die mutmaßlichen Täter:innen ein "Update", in dem sie ihre Aktion rechtfertigten. Im Hinblick auf die Ausführung weicht der Brandanschlag auf den vermeintlichen Pkw des Innensenators von den bisherigen "militanten Aktionen" der gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens ab. In der Vergangenheit zeichnete sich diese durch einen hohen Grad an Professionalität und Planungssicherheit aus. Die Auswahl des Ziels der "militanten Aktion" deutet zudem insofern auf eine neue Qualität der Militanz hin, als dass sie dem (vermeintlichen) Privateigentum des Innensenators galt. In der Vergangenheit richteten sich die "militanten Aktionen" vornehmlich gegen Einrichtungen sowie Fahrzeuge von Behörden, insbesondere der Polizei und der Bundeswehr, sowie Unternehmen, die mit dem von der linksextremistischen Szene bezeichneten "staatlichen Repressionsapparat" zusammenarbeiteten. Der Anschlag ist ein weiteres Indiz für die bundesweit erkennbare Entwicklung der Szene, wonach die Ziele persönlicher und die Schädigung unbeteiligter Dritter zunehmend in Kauf genommen werden. 112 LINKSEXTREMISMUS Am 11. April 2023 beschädigten unbekannte Täter:innen sechs Fensterscheiben des Bremer Landesverbandes des Deutschen Gerichtsvollzieher-Bundes und verunreinigten die Büroräumlichkeiten mit Buttersäure. Auf der linksextremistischen Plattform "de.indymedia.org" wurde am gleichen Tag ein Selbstbezichtigungsschreiben veröffentlicht, in dem die unbekannten Täter:innen die Tat in die Begründungzusammenhänge "Antikapitalismus", "Antirepression" und "Antigentrifizierung" setzten: "Unser Ziel ist der wirtschaftliche Schaden und nicht die gesundheitliche Schädigung. [...] Gerichtsvollzieher:innen wissen, welche Arbeit sie sich ausgesucht haben. Sie haben sich bewusst dazu entschieden, die Menschen bei denen sie Klingeln in Angst und Schrecken zu versetzen. Sie sollen den Angriff auf ihr Gebäude als Konsequenz ihres eigenen Handelns verstehen. [...] Für einen militanten Widerstand gegen Zwangsräumungen und Pfändungen! Gerichtsvollzieher:innen heimsuchen!" (Fehler im Original, Internetseite de.indymedia.org, 11.04.2023). Aus Sicht der linksextremistischen Täter:innen sind Gerichtsvollzieher:innen und Polizist:innen willfährige Helfer:innen des kapitalistischen Systems, die durch Ausübung vermeintlicher struktureller Gewalt das staatliche Gewaltmonopol aufrechterhalten. Daher erachten gewaltorientierte Linksextremist:innen den Staat, seine Institutionen und Repräsentant:innen als legitime Ziele "militanter Aktionen". 6.3.2 Proteste gegen Rechtsextremist:innen Im Mittelpunkt der "Antifaschismusarbeit" stehen Proteste gegen Strukturen und Veranstaltungen von (vermeintlichen) Rechtsextremist:innen. Im Rahmen von Demonstrationen und Veranstaltungen kommt es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen gewaltorientierten Linksextremist:innen und gewaltorientierten Rechtsextremist:innen. "Antifaschismus" Im Bereich der "Antifaschismusarbeit" ist neben linksextremistischen Organisationen und Gruppen auch eine Vielzahl unterschiedlicher demokratischer Akteur:innen tätig. Mit dem Ziel der Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung geht das Antifaschismusverständnis von Linksextremist:innen jedoch weit über das von Demokrat:innen hinaus. Für Linksextremist:innen stellt die Bekämpfung von rechtsextremistischen Strukturen und Personen nur ein vordergründiges Ziel dar. Ihre tatsächliche Stoßrichtung sind das "bürgerliche und kapitalistische System" und die ihm angeblich zugrunde liegenden faschistischen Wurzeln. Zur Vergrößerung ihres politischen Einflusses und um neue Anhänger:innen zu gewinnen, ist das Bemühen um Bündnisse mit nichtextremistischen Gruppen ein entscheidendes Instrument autonomer "Antifaschismusarbeit". LINKSEXTREMISMUS 113 Die Gewaltbereitschaft und Brutalität des militanten "antifaschistischen Kampfes" verdeutlichen insbesondere die fünf gewaltsamen Überfälle von Linksextremist:innen auf vermeintliche Rechtsextremist:innen am 9. und 11. Februar 2023 in Budapest. Die Angriffe erfolgten im Nachgang der rechtsextremistischen Gedenkveranstaltung "Tag der Ehre", die jährlich von ungarischen Rechtsextremist:innen organisiert wird und der Vernetzung der europäischen rechtsextremistischen Szene dient. Zu den Tatverdächtigen zählen Aufkleber der "Kämpfenden u. a. mehrere deutsche Linksextremist:innen, die zum Teil im NachJugend" gang der Tat untertauchten, um sich der Strafverfolgung durch die ungarischen und deutschen Behörden zu entziehen. Im Zusammenhang mit den gewaltsamen Übergriffen in Budapest organisierte die gewaltorientierte linksextremistische Gruppierung "Antifaschistische Gruppe Bremen" (AGB) zusammen mit der linksextremistischen "Roten Hilfe Bremen" im Juni 2023 eine Solidaritätsund Informationsveranstaltung mit dem Titel "Widerstand und Repression am sog. 'Tag der Ehre'". Die Veranstaltung richtete sich in erster Linie an Personen, die sich mit den gewalttätigen Ausschreitungen und den gezielten körperlichen Angriffen gegen den politischen Gegner solidarisch zeigen und von den anschließenden behördlichen Maßnahmen Betroffene unterstützen möchten. Linksextremistische "Recherchearbeit" Die "Aufklärungsoder Recherchearbeit" gehört zu den zentralen Aktivitäten der autonomen Szene in der Auseinandersetzung mit der rechtsextremistischen Szene. In diesem Zusammenhang werden Beobachtungen und Informationen über Einzelpersonen, Gruppierungen und Strukturen der "rechten" Szene, wie etwa Szeneläden, gesammelt. Die Informationen zu Einzelpersonen werden meist in Steckbriefen zusammengefasst und im Rahmen sog. "Outing-Aktionen" in der Nachbarschaft der Betroffenen und im Internet veröffentlicht. In den Steckbriefen werden neben persönlichen Daten, wie z. B. Anschrift, Geburtsdatum oder Beruf, auch weitere Einzelheiten aus dem Privatleben der Betroffenen bekanntgemacht. Ziel dieser Aktionen ist es, vermeintliche Rechtsextremist:innen aus der Anonymität zu holen und ihre politischen Aktivitäten öffentlich zu machen, wobei dies eine Gefahr für die Betroffenen darstellt und insbesondere ihre Persönlichkeitsrechte verletzt. Ein weiterer Schwerpunkt im Aktionsund Themenfeld "Antifaschismus" bilden sog. "Outing-Aktionen", bei denen persönliche Daten und Informationen über Rechtsextremist:innen im Internet veröffentlicht werden. Im Jahr 2021 hatten gewaltorientierte Linksextremist:innen mehrere "Outing-Aktionen" in Form von Hausbesuchen bei vermeintlichen Angehörigen des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates", die für die Szeneangehörenden als rechtsextremistisch gelten, im Rahmen der Kampagne "Nationalismus ist keine Alternative" (NIKA) veranstaltet. 114 LINKSEXTREMISMUS Kampagne "Nationalismus ist keine Alternative" (NIKA) Die 2016 ausgerufene Kampagne "Nationalismus ist keine Alternative" (NIKA), die sich anfangs vornehmlich gegen die Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) richtete, zielt heute allgemein auf die Bekämpfung von "rechten" Akteur:innen und Strukturen. Das über die Bekämpfung von Rechtsextremismus hinausgehende Ziel der beteiligten Gruppierungen, allen voran des kommunistischen "... ums Ganze!"-Bündnisses, liegt in der Diskreditierung und der revolutionären Überwindung des demokratischen Rechtsstaates. Die NIKA-Kampagne ist eine sog. "Mitmachkampagne", die den ideologischen Hintergrund, das "Corporate Design" oder das "Label" vorgibt und auf die bundesweite Beteiligung von Gruppierungen mit eigenen Aktionen setzt. In Bremen wird die Kampagne maßgeblich von der im "... ums Ganze!"-Bündnis organisierten linksextremistischen Gruppierung "Basisgruppe Antifaschismus" (BA) getragen. Unter dem Namen "NIKA Nord-West" arbeitet die Bremer Gruppierung seit 2019 mit linksextremistischen Gruppen aus Niedersachsen und Hamburg zusammen. Die extremistische Ausrichtung des Zusammenschlusses kommt in seiner Gründungserklärung zum Ausdruck. So impliziert das Engagement "gegen rechts" die Überwindung des demokratischen Rechtsstaates: "Unter dem Motto 'Gegen die Festung Europas und ihre Fans' kämpfen wir sowohl gegen die menschenfeindliche kapitalistische Ordnung, als auch gegen ihre scheinbaren rechten Alternativen. Wir wollen linke Forderungen und gesellschaftliche Alternativen jenseits der kapitalistischen Sachzwanglogik sichtbar machen." (Internetseite der NIKA-Kampagne, 14.03.2019). Unter dem Banner der NIKA-Kampagne protestierten Angehörige der gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens in den vergangenen Jahren regelmäßig gegen Veranstaltungen von (vermeintlichen) Rechtsextremist:innen. 6.3.3 "Antimilitarismus" In dem Aktionsund Themenfeld "Antimilitarismus" stehen im Fokus der Kritik zum einen die deutsche Sicherheitspolitik und die Rüstungsindustrie und zum anderen der Einsatz und die Existenz der Bundeswehr. Linksextremist:innen erachten die Bundeswehr als ein "Werkzeug der imperialistischen Unterdrückungspolitik" und betrachten sie und Unternehmen, die mit ihr zusammenarbeiten, als legitimes Ziel "militanter Aktionen". In dem Aktionsund Themenfeld, das bereits in den vergangenen Jahren zu den Agitationsschwerpunkten der gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens gehört hatte, gab es infolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und den Investitionen der deutschen Bundesregierung im Rüstungssektor auch im Jahr 2023 vielfältige Aktivitäten und Protestaktionen. Während im Vorjahr insbesondere LINKSEXTREMISMUS 115 das Rüstungsunternehmen Rheinmetall Ziel "militanter Aktionen" war, bildete der "Rüstungsstandort Bremen" allgemein den Schwerpunkt der Aktionen im Jahr 2023. Am 8. April 2023 veröffentlichte die antiimperialistisch ausgerichtete "Kämpfende Jugend Bremen" (KJ) einen Beitrag mit dem Titel "Bremerhaven - Drehund Angelpunkt für Waffenlieferungen", in dem sie einen vermeintlichen deutschen und amerikanischen Imperialismus kritisiert. Die Verfasser:innen attestieren dem Bremer Logistikunternehmen BLG Logistics, ein entscheidender Akteur bei der Kriegsund Rüstungsgüterlieferung an die Ukraine zu sein und eine Mitschuld an der Eskalation des Konfliktes zu tragen: "Als KommunistInnen müssen wir hierzulande auch die Rolle des deutschen Imperialismus besonders herausstreichen. Der Hauptfeind steht im eigenen Land!" (Internetseite der KJ, 08.04.2023). In einer weiteren Veröffentlichung mit dem Titel "Rüstungsstandort Bremen" listet die KJ fünf in Bremen ansässige Rüstungsunternehmen auf, die Ausdruck eines "deutschen Imperialismus" seien und "die an den Kriegen und Völkermorden in der Welt großes Geld verdienen" würden. Dabei sieht sich die KJ in der Aufgabe, als "Deutschlands antimilitaristische und antiimperialistische rote Jugend die Normalisierung von Aufrüstung, Kriegstreiberei, Kriegswirtschaft und Säbelrasseln zu durchbrechen" (Internetseite der KJ, 27.04.2023). In den Veröffentlichungen ordnen die Autor:innen komplexe gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklungen in ihr vereinfachtes ideologisches Weltbild ein und liefern somit Rechtfertigungsmuster für "militante Aktionen". So waren bereits in der Vergangenheit Wirtschaftsunternehmen, wie BLG Logistics und Rheinmetall Tatziele von "militanten Aktionen". "Militante Aktion" im Themenfeld "Antimilitarismus" Im Jahr 2023 wurde eine "militante Aktion" im Begründungszusammenhang "Antimilitarismus" verübt, die öffentliche Aufmerksamkeit erregt hatte. Am 14. November 2023 stürmten mehrere vermummte und dunkel gekleidete Linksextremist:innen während des Berufsverkehrs auf die Fahrbahn der Hollerallee vor den Messehallen in Bremen und errichteten aus mitgebrachten Brennende Barrikaden Hollerallee Bremen Autoreifen brennende Barrikaden. Außerdem entzündeten die unbekannte Täter:innen Pyrotechnik und bewarfen die Fassade der Messehallen mit Farbe befüllten Gläsern. Dabei wurden zwei Fensterscheiben beschädigt und es kam durch die errichteten Barrikaden zu starken Verkehrsbeeinträchtigungen rund um das Messegelände. Durch den Aufbau einer solchen Drohkulisse sollte die zur Tatzeit in den Messehallen stattfindende Raumfahrtfachmesse "Space Tech Expo Europe" beeinträchtigt werden. Am Tatort wurden mehrere Taterklärungen mit den Worten "Space Tech Europe verhindern! Gegen Militarismus, Krieg und Kapitalismus! Für eine autonome Klimabewegung!" hinterlassen. Auf den einschlägigen linksextremistischen 116 LINKSEXTREMISMUS Plattformen wurde im Nachgang eine weitere Taterklärung veröffentlicht, in der sich die unbekannten Täter:innen zu dem "Angriff auf Space Tech Expo Europe" bekennen. Sie behaupten, dass die Stadt Bremen durch ihren Status als "Rüstungsstandort" und die zum Teil zur Rüstungsindustrie zählenden Luftund Raumfahrtunternehmen "von Krisen und Kriegen [profitiert] und von hier exportierte Waffen [..] weltweit Konflikte" förderten. (Fehler im Original, de.indymedia.org, 15.11.2023) 6.3.4 Proteste für Klimaund Umweltschutz Proteste für einen besseren Klimaschutz und gegen den bisherigen politischen und gesellschaftlichen Umgang mit der Klimakrise sind seit mehreren Jahren ein Schwerpunktthema der linksextremistischen Szene. In der politischen Diskussion geht es um die globalen Auswirkungen des Klimawandels, eine Energiewende und die inzwischen beschlossene Stilllegung von Kohlekraftwerken. Linksextremist:innen brachten sich in die politische Diskussion mit der Absicht ein, ihre extremistische Weltanschauung und ihre politischen Ziele zu verbreiten sowie ihre gesellschaftliche Akzeptanz zu vergrößern. Sie erreichten die Zusammenarbeit von linksextremistischen und nichtextremistischen Aktivist:innen in Bündnissen, Initiativen und Kampagnen, wie in der Kampagne "Ende Gelände" (EG). Die 2014 initiierte linksextremistisch beeinflusste Kampagne wird von Gruppierungen und Einzelpersonen sowohl des demokratischen als auch des linksextremistischen Spektrums unterstützt. Die bundesweit agierende linksextremistische Gruppierung "Interventionistische Linke" (IL) ist maßgeblich in die Aktivitäten involviert. Wie in den vorangegangenen Jahren stellte der Protest gegen den Braunkohleabbau auch 2023 einen Schwerpunkt dar. Seit mehreren Jahren steht die geplante Erweiterung des Tagebaus "Garzweiler II" im rheinischen Braunkohlerevier und das nordrhein-westfälische Lützerath, das vor einer Umsiedlung bewahrt werden sollte, im Fokus der linksextremistisch beeinflussten Kampagne "Ende Gelände". In Bremen mobilisierten gewaltorientierte Linksextremist:innen zusammen mit Nicht-Extremist:innen im Rahmen der Kampagne mit Informationsveranstaltungen und Aktionstrainings für die Proteste gegen die Räumung der Ortschaft Lützerath. Darüber hinaus forderte die "Basisgruppe Antifaschismus" (BA) zu einer Protestbeteiligung auf. Auch nach dem Ende der Räumung verübten gewaltorientierte Linksextremist:innen Brandanschläge und Sachbeschädigungen im rheinischen Braunkohlerevier. Daneben wurden im gesamten Bundesgebiet Resonanzstraftaten in Solidarität mit den Besetzer:innen in Lützerath begangen. LINKSEXTREMISMUS 117 "Militante Aktionen" im Themenfeld "Klimaund Umweltschutz" Im Jahr 2023 verübten gewaltorientierte Linksextremist:innen im Begründungszusammenhang "Klimaund Umweltschutz" vier "militante Aktionen" in Bremen. Im Sommer 2023 verübten unbekannte Täter:innen mehrere Brandanschläge auf fünf elektronische Batterieladestationen, die vollständig ausbrannten. Die Brandorte befanden sich zum Teil innerhalb von Wohngebieten. Dies dokumentiert, dass bei der Begehung der Straftaten die Gefährdung unbeteiligter Dritter in Kauf genommen wird. In einer im Juli 2023 veröffentlichten Taterklärung werden die Brandanschläge mit einer grundlegenden Ablehnung des "Kapitalismus" begründet, so heißt es: "Der Wandel, hin zu einem grünen Kapitalismus, geht zwangsläufig mit einer Verschärfung der Ausbeutung von Mensch und Natur einher!" (tumulte.org, 25.07.2023). Der Ausbau von Elektromobilitätsinfrastruktur als Teil der Energieund Mobilitätswende stellt in der linksextremistischen Weltanschauung lediglich einen Anpassungsprozess des kapitalistischen Systems dar, der zu einer Aufrechterhaltung und Verschärfung der bestehenden Ausbeutungsund Unterdrückungsverhältnisse führe. Vor diesem Hintergrund stehen Ladestationen gewissermaßen als Symbol für einen von Linksextremist:innen grundsätzlich abgelehnten Reformund Transformationsprozess in der Klimapolitik. Vor diesem Hintergrund rufen die unbekannten Täter:innen zu weiteren Straftaten auf und treten für die Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ein: "Gegen die Fortsetzung der extraktivistischen Zerstörung der Erde hilft nur die Vervielfältigung von Sabotage, Widerstand und tatsächlichen Alternativen zur kapitalistischen Produktion - Für die (öko-) soziale Revolution! Switch-Off! The system of destruction!" (tumulte.org, 25.07.2023). Mit der Parole "Switch off" beziehen sich die Täter:innen auf die gleichnamige Mitmachkampagne, die auf ihrer Webseite zu Strafund Gewalttaten gegen Wirtschaftsunternehmen aufruft und bundesweit vergangene "militante Aktionen" dokumentiert. In der Nacht auf den 15. März 2023 bewarfen unbekannte Täter:innen den Eingang einer u. a. von der Firma Siemens genutzten Immobilie im Stadtteil Horn-Lehe mittels mit Buttersäure befüllten Gläsern. In einer Taterklärung führen die Verantwortlichen aus, dass das "Kerngeschäft von Siemens [...] die Bereitstellung von Infrastrukturen und Technologien für die kapitalistische Umweltzerstörung weltweit [ist] - wahlweise mit einem giftigen grünen Anstrich - aber immer auf Seiten staatlicher und kapitalistischer Akteure" (de.indymedia.org, 16.03.2023). Neben dem entstandenen Sachschaden wurden mehrere Personen in Folge der ausgetretenen Gase geschädigt. Im September 2023 beschädigten Unbekannte anlässlich der Klima-Proteste die Fensterscheiben der Büros der Parteien BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP in Bremen. In einer veröffentlichten Taterklärung mit dem Titel "Doppelt Glasbruch für den Klimastreik" 118 LINKSEXTREMISMUS heißt es, dass die "Aktion [...] ein kleiner zerstörerischer Beitrag zum internationalen Klimastreik diesen Freitag [ist]". Insbesondere verachten die unbekannten Verfasser:innen in ihrem Bekennerschreiben die parlamentarische Demokratie und deren Repräsentant:innen, welche als "ein Haufen Verräter*innen" diffamiert werden. Bereits im vergangenen Jahr wurde die Fassade des Büros der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Farbe beschädigt. Eine demokratische Protestkultur, die von nichtextremistischen und zivildemokratischen Gruppen betrieben wird, lehnen die Verfasser:innen entschieden ab: "Dem fordernden Aktivismus stellen wir eine autonome Perspektive gegenüber. Wir brauchen keine (versteckt) hierarchische Bewegung, die bloß zu einem schwächeren Spiegelbild des politischen Apparats wird. Vielmehr können wir eine Bewegung ohne Manager*innen und Sprecher*innen aufbauen, bestehend aus zahllose Gruppen die ihre Fähigkeiten zur Sabotage der Maschinerie der Erdzerstörung erproben, aus Initiativen die tatsächliche Alternativen zum Kapitalismus von Unten aufbauen und solidarische internationale Beziehungen zu anderen Kämpfen knüpfen ... kurz eine dezentrale, kreative, chaotische, wilde Bewegung, nicht un-, sonder informell organisiert." (Fehler im Original, tumulte.org, 13.09.2023) Klima-Proteste Die Klima-Proteste konnten Linksextremist:innen im Jahr 2023 nutzen, um ihre Einflussnahme auf nichtextremistische und zivildemokratische Einzelpersonen und Gruppen auszubauen. So nahm die linksextremistisch beeinflusste Kampagne "Ende Gelände" eine zentrale Rolle bei der Organisation des "Klima-Streiks" am 15. September 2023 ein. Zeitgleich zur Blockade der Wilhelm-Kaisen-Brücke in Bremen veröffentlichte "Ende Gelände Bremen" (EG) ein Statement, in dem zu Straftaten aufgerufen wurde: "Ende Gelände blockiert hier heute die Wilhelm-Kaisen-Brücke, denn seit fünf Jahren bringt Fridays for Future tausende von Menschen auf die Straße und trotzdem wird Lützerath abgerissen und massiv LNG-Infrastruktur ausgebaut. Wir blockieren hier, weil es mehr braucht als zweimal im Jahr zum Klimastreik zu gehen. Wir brauchen eine Klimagerechtigkeitsbewegung, die ungehorsamer wird und es selbst in die Hand nimmt, ob durch Blockaden und Sabotage von fossiler Infrastruktur oder politische Streiks. Wir brauchen kreative Aktionsformen, die gezielt den fossilen Kapitalismus angreifen. It's time to disrupt!" (Instagram-Kanal von Ende Gelände Bremen, 15.09.2023). Insbesondere Großdemonstrationen, wie die Klima-Proteste, werden von Linksextremist:innen genutzt, um nichtextremistische und zivildemokratische Gruppen zu unterwandern, zu radikalisieren und für linksextremistische Ziele zu instrumentalisieren. Zum Klima-Streik für 2023 mobilisierten die gewaltorientierten linksextremistischen Gruppierungen "Basisgruppe Antifaschismus" (BA), die "Kämpfende Jugend Bremen" (KJ), die "Interventionistische Linke Bremen" (IL) und die linksextremistisch beeinflusste Kampagne "Ende Gelände" (EG). LINKSEXTREMISMUS 119 Unter dem Motto "KLIMAKAMPF HEISST KLASSENKAMPF! Klimagerechtigkeit erkämpfen! Kapitalismus zerschlagen!" mobilisierte die KJ für die Proteste. In ihrem zentralen Aufruf propagierte diese kommunistische Gruppierung die Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und die Errichtung eines sozialistischen Systems als Lösungsstrategie für den Klimawandel: "Die Klimafrage ist für uns eine Klassenfrage. Denn: Die bürgerlichen PolitikerInnen, Parteien, Staaten und Einrichtungen sind gerade die Einrichtungen, die heute die Verbrechen der kapitalistischen Unternehmen an der Umwelt möglich machen und dafür sorgen, dass diese ungeschoren davonkommen. Die einzige Produktionsweise, die wirklich dazu in der Lage ist, die Natur als notwendige Existenzgrundlage des Menschen zu betrachten und dementsprechend nachhaltig mit ihr umgeht, ist die gesellschaftlich geplante Produktion des Sozialismus. Der Kapitalismus ist nur fähig zu Raubbau und schamloser Ausbeutung von Mensch und Natur und wird dadurch auch die Klimafrage immer weiter verschlimmern. Kampf gegen den Klimawandel, muss für uns Kampf für den Sozialismus bedeuten." (Instagram-Kanal der KJ, 13.09.2023) 6.3.5 Kampf um bezahlbaren Wohnraum Die Schaffung und Erhaltung von "autonomen Freiräumen", wozu in erster Linie besetzte Häuser oder selbstverwaltete Projekte zählen, ist seit jeher von großer Bedeutung für die linksextremistische Szene. "Autonome Freiräume" und Szeneobjekte gelten in der Szene als Widerstandsstrukturen gegen die Überwachung des "kapitalistischen Herrschaftssystems". Das Thema war in den vergangenen Jahren wiederholt ein Schwerpunkt der gewaltorientierten linksextremistischen Szene in Bremen, wobei die Hausbesetzungen meist nicht von langer Dauer waren. Eine Ausnahme bildet hier das "Alte Sportamt", das als Veranstaltungsort der "linken" Szene sowohl von Nichtextremist:innen als auch von gewaltorientierten Linksextremist:innen genutzt wird, und in den Jahren 2015 bis 2017 als besetzt galt. Darüber hinaus war das ehemalige Möbelhaus "Deters" ("Dete") in der Bremer Neustadt im Oktober 2020 für mehrere Tage von der linksextremistischen Gruppierung "Rosarote Zora" besetzt worden und ein weiteres Mal für wenige Stunden im Jahr 2021. Angesichts steigender Mieten gerade in Städten und Ballungsräumen gewinnt die gesellschaftspolitische Diskussion um bezahlbaren Wohnraum seit mehreren Jahren an Bedeutung. Unter dem Stichwort "Gentrifizierung" wird allgemein ein Verdrängungseffekt infolge städtebaulicher Umstrukturierungsmaßnahmen kritisiert, d. h., weniger wohlhabende Bewohner:innen werden durch vermögendere Schichten aufgrund steigender Mieten bspw. infolge von Sanierungsmaßnahmen aus bestimmten Stadtteilen 120 LINKSEXTREMISMUS verdrängt. Vor diesem Hintergrund bemüht sich die gewaltorientierte linksextremistische Szene bundesweit darum, mit ihren Protestaktionen breite Teile der Gesellschaft anzusprechen. Daneben verüben Angehörige der gewaltorientierten linksextremistischen Szene in diesem Zusammenhang Brandanschläge auf Fahrzeuge und Büros von Immobilienund Bauunternehmen oder begehen Sachbeschädigungen an sog. Luxusimmobilien. Wie bereits in den Vorjahren wurden 2023 in Bremen in diesem Zusammenhang mehrere Sachbeschädigungen verübt. Ebenfalls wie in den Vorjahren unterstützten 2023 Aktivist:innen der linksextremistischen Gruppierung "Basisgruppe Antifaschismus" (BA) das "Bremer Bündnis Zwangsräumungen verhindern" bei seinen Protesten. So gab es am 21. August 2023 eine Kundgebung "Cornern gegen Eigenbedarf", welche sich "gegen die (vorgeschobene) Eigenbedarfsräumung" und "grundsätzlich gegen das Privateigentum an [...] Wohnungen" richtete. Weiter heißt es in dem Aufruf zur Kundgebung: "(Vorgeschobener) Eigenbedarf ist ein beliebtes Instrument von Vermieter:innen um Mieter:innen loszuwerden und die Mieten anzuziehen. Das Ergebnis: Mieter:innen werden aus ihrem Zuhause, aus ihrer Nachbarschaft verdrängt und sind gezwungen, an den Stadtrand zu ziehen." (Instagram-Seite des Bremer Bündnis Zwangsräumungen verhindern, 19.08.2023) LINKSEXTREMISMUS 121 Kommunikation Das Internet ist das wichtigste Kommunikationsmittel der linksextremistischen Szene. Es dient ihr sowohl als Kommunikationsplattform als auch als Medium zur Verbreitung von Propaganda. Die 2017 vom Bundesinnenministerium verbotene Internetseite "linksunten.indymedia" nahm eine zentrale Bedeutung für das gesamte "linke" Spektrum ein. Sie betrieb einen "offenen Journalismus", d. h., jede:r Internetnutzer:in konnte dort ohne redaktionelle Vorgaben und unter Nutzung eines Pseudonyms Beiträge veröffentlichen, die andere Personen wiederum anonym kommentieren und ergänzen konnten. Das Bundesverwaltungsgericht wies im Jahr 2020 mehrere Klagen gegen das Verbot von "linksunten.indymedia" ab. Die linksextremistische Internetseite "de.indymedia.org" ersetzt in Teilen das verbotene Internetportal. In Bremen ist die seit 2009 betriebene Internetseite der linksextremistischen Szene "end of road" 2022 eingestellt und die Internetseite "tumulte.org" als Nachfolgeplattform etabliert worden. Ein zentrales Publikationsorgan ist die in Berlin herausgegebene Szene-Zeitschrift "Interim", die als eine von wenigen autonomen Schriften bundesweite Bedeutung genießt. Die Szene-Zeitschrift dient vor allem dem gewaltbereiten autonomen Spektrum zur Information und Diskussion. In der "Interim" finden sich Beiträge zu aktuellen Themen, aber auch Rechtfertigungen zur Gewaltanwendung sowie Aufforderungen und Anleitungen zu Gewalttaten. Um Strafverfolgungsmaßnahmen zu erschweren, gibt es keine feste Redaktion, auch wird kein Impressum abgedruckt. Titelbild der "Interim" 122 LINKSEXTREMISMUS 123 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Spionageabwehr Unterstützungsaufgaben des LfV 124 ISLAMISMUS 7 Islamismus Beim Islamismus handelt es sich um eine Form des religiös begründeten Extremismus. Islamist:innen berufen sich auf Symbole, Begriffe und Konzepte aus dem Islam, um ihre antidemokratischen politischen Ziele religiös zu legitimieren. Dabei behaupten sie, im göttlichen Auftrag zu handeln und verschleiern damit, dass sie nur ihre jeweilige, zumeist einseitige und undifferenzierte, Interpretation der Religion umzusetzen versuchen. Der Bezug auf Gott ist ein wichtiges Unterscheidungskriterium zu anderen extremistischen Ideologien, etwa dem Rechtsoder Linksextremismus. Islamist:innen behaupten, dass alle Bereiche des menschlichen Lebens von der Religion bestimmt werden müssen. Dies schließt auch die Sphären von Gesetzgebung und politischer Ordnung mit ein. Gleichwohl ist politisches Engagement aus religiöser Perspektive keineswegs grundsätzlich verfassungsfeindlich, sondern von der Religionsfreiheit gedeckt. Erst wenn versucht wird, ein Religionsverständnis durchzusetzen, das dem Grundgesetz und der darin enthaltenen freiheitlich-demokratischen Grundordnung widerspricht, handelt es sich um eine sog. extremistische Bestrebung, die der Beobachtung durch den Verfassungsschutz unterliegt. Dies ist beim Islamismus der Fall. Islamismus bezeichnet demnach eine politische Ideologie, die anstelle des demokratischen Rechtsstaates und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung eine Gesellschaftsund Rechtsordnung vorsieht, welche auf einer islamistischen Interpretation des islamischen Rechts beruht. Das hier im Mittelpunkt stehende "Prinzip der Gottessouveränität" widerspricht dem grundgesetzlich verbrieften "Prinzip der Volkssouveränität". Historisch gesehen hat sich der Islamismus im 20. Jahrhundert in verschiedenen Teilen der muslimischen Welt als antikoloniale Bewegung entwickelt. Die Schwäche dieser Verfassungswidrigkeit des Islamismus Ablehnung demokratischer Regierungen und Gesetzgebung Absoluter Geltungsanspruch der jeweiligen Interpretation des islamischen Rechts Aktivitäten gegen die im Grundgesetz verbrieften Menschenrechte Zumeist implizite, teilweise explizite Forderung nach sog. Körperstrafen Legitimierung der körperlichen Züchtigung der Ehefrau Ungleichbehandlung von Mann und Frau homophobe, transfeindliche Überzeugungen und mindestens implizite Forderung des Verbots bzw. der Sanktion Ablehnung der Religionsfreiheit (z. B. durch Antisemitismus oder Forderung der Todesstrafe für Apostasie, d. h. Abfall vom Glauben) Bei islamistischen Terrorist:innen: Propagieren und/oder Ausüben politischer Gewalt ISLAMISMUS 125 Regionen, so die Denkweise der Islamist:innen, läge in der Vernachlässigung der islamischen Pflichten durch die muslimischen Bevölkerungen. Nur wenn der Islam alle Lebensbereiche der Menschen durchdringe und jedwedes Handeln gemäß religiöser Vorgaben ausgerichtet wäre, könne man von einem wahrhaft islamischen Staat sprechen und zu "alter Stärke" zurückkehren. Der Islamismus arbeitet, genauso wie andere Extremismen, gezielt mit Feindbildern. In der islamistischen Rhetorik sind dies die sog. kuffar ("Ungläubige"), womit suggeriert wird, dass angeblich alle Nicht-Muslim:innen bzw. in der Regel auch liberalere muslimische Strömungen dem vermeintlich "wahren Islam" feindlich gegenüberstehen. Hochkomplexe Konflikte in verschiedenen Teilen der Welt sowie Negativerfahrungen von Muslim:innen in Deutschland werden dadurch erklärt, dass die "Ungläubigen" einen Krieg gegen den Islam führen würden und man sich verteidigen müsse. Diese Form der Vereinfachung und die Darstellung des eigenen Handelns als Notwehr gegenüber einer nur vage definierten Gruppe von Feinden findet sich auch bei anderen extremistischen Gruppen. Phänomenübergreifend sind vor allem Menschen jüdischen Glaubens immer wieder Opfer extremistischer Propaganda. Antisemitismus im Islamismus Der Verfassungsschutz arbeitet mit der 2017 von der "Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken" (IHRA) entwickelten Arbeitsdefinition: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen1 und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein." (BT-Drs. 19/444, Bremische Bürgerschaft 19/1808). Allen islamistischen Strömungen ist gemein, dass sie Menschen jüdischen Glaubens als Feinde des Islams und der Muslim:innen darstellen. In den negativen Zuschreibungen gegenüber Jüd:innen finden sich viele ideologische Versatzstücke wieder, die aus dem europäischen Antisemitismus übernommen wurden. Dazu gehört die angebliche Hinterlistigkeit "der Juden", ihre vermeintliche Geldgier, die Legende von Jüd:innen als "Kindermörder" sowie verschwörungsideologische Elemente einer globalen jüdischen Weltherrschaft. Diese Weltanschauungen werden mit gezielt einseitigen und undifferenzierten Bezügen zu den islamischen Quellen religiös aufgeladen, wodurch sich der spezifische Charakter des islamistischen Antisemitismus ergibt. 1 Hiermit sind Personen gemeint, die fälschlicherweise für Juden gehalten werden oder jüdische Personen / Gemeinden unterstützen. 126 ISLAMISMUS Die Vernichtung Israels ist ein wesentliches Ziel vieler islamistischer Organisationen. Dieser Kampf erfolgt zum einen mit militärischen Mitteln, zum anderen aber auch mit propagandistischen Methoden, indem wiederkehrend zur Vernichtung Israels aufgerufen wird. Israel ist ein zentrales Feindbild im Islamismus, unabhängig davon, ob die Gruppierungen gewaltsam oder legalistisch agieren. Islamistischer Antisemitismus im Inund Ausland äußert sich immer wieder im Rahmen des Nahostkonflikts. Durch den Angriff der "HAMAS" auf Israel am 7. Oktober 2023 hat der Konflikt im Berichtsjahr eine neue Eskalationsstufe erreicht (siehe hierzu ausführlich unter Kapitel 7.1 "Nahostkonflikt"). In diesem Zuge kam es auch in Bremen vermehrt zu propalästinensischen Kundgebungen in Bremen. In einigen Fällen beteiligten sich hieran Akteure des islamistischen Spektrums. Zudem konnten bei den Demonstrationen teilweise antisemitische Sprechchöre und Plakate festgestellt werden. Das LfV Bremen hat aus diesem Grund einen Flyer veröffentlicht, der im Kontext des Nahostkonfliktes verdeutlicht, wo die Grenze zwischen legitimer Meinungsäußerung und Antisemitismus verläuft. Er kann auf der Homepage des LfV Bremen heruntergeladen oder in Papierform bestellt werden und steht auch in arabischer sowie türkischer Sprache digital zur Verfügung. Beim Islamismus handelt es sich um eine sehr spezifische Interpretation der islamischen Religion in der Muslim:innen Moderne. Ihr stehen unzählige andere Interpretationen gegenüber, die mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Auch wenn Islamist:innen vorgeben, den angeblich "wahren Islam" zu verkünden, dürfen sie keinesfalls als alleinige Repräsentant:innen ihrer Religion angesehen Islamist:innen Salafist:innen werden, da die überwiegende Mehrheit der Menschen Jihadist:innen muslimischen Glaubens weltweit eine islamistische Islaminterpretation entschieden ablehnt. Radikale Ansichten werden nur von einem Hinzu kommt, dass die islamistische Bewegung in sich Bruchteil der Muslim:innen vertreten selbst nicht homogen ist, sondern sich in diverse Gruppierungen und Strömungen aufspaltet, die zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten entstanden und teilweise untereinander verfeindet sind. Die islamistische Ideologie ist zudem einem stetigen Wandel unterworfen. Aufgrund dieser erheblichen Unterschiede zwischen den verschiedenen islamistischen Gruppen ist es notwendig, jede von ihnen gesondert zu betrachten. Dabei muss neben dem geschichtlichen Hintergrund auch der jeweilige gesellschaftspolitische Kontext beachtet werden, in dem die Gruppe tätig ist. Einige Gruppen waren in ihrer Gründungszeit gewaltorientiert und sind es nun nicht mehr. Andere üben ISLAMISMUS 127 politische Gewalt in ihrer Herkunftsregion aus, nicht jedoch in Deutschland. Wiederum andere versuchen auch in Deutschland ihre Ziele mit Gewalt zu erreichen. Insgesamt ist jedoch nur eine Minderheit innerhalb des islamistischen Spektrums gewaltorientiert. Der Verfassungsschutz unterscheidet grundsätzlich zwischen zwei Hauptsträngen im Islamismus: Unter den Begriff "Islamistischer Terrorismus" fallen alle Strömungen, die politische Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele befürworten und anwenden. Unterschieden werden kann hier zwischen islamistisch-terroristischen Organisationen, die ausschließlich in ihren Heimatländern einen bewaffneten Kampf führen, (z. B. die libanesische Organisation "Hizb Allah" und die palästinensische "HAMAS") und den salafistischen Jihadist:innen, die weltweit einen bewaffneten Kampf führen, (z. B. das Terrornetzwerk "al-Qaida" und der sog. "Islamische Staat"). Der Begriff "Legalistischer Islamismus" beschreibt hingegen Organisationen, welche eine Veränderung der Staatsund Gesellschaftsordnung zugunsten eines islamistischen Staatswesens über die politische Einflussnahme anstreben. Die in Deutschland tätigen "Legalist:innen" lehnen Gewalt jedenfalls vordergründig ab und bewegen sich überwiegend im hiesigen Rechtsrahmen, den sie jedoch langfristig zu unterwandern und abzuschaffen versuchen. Beispiele für in Deutschland tätige legalistischislamistische Organisationen sind die "Muslimbruderschaft", die "Saadet Partisi" oder die "Hizb ut-Tahrir". Hervorzuheben ist, dass beide Bereiche nicht trennscharf voneinander abzugrenzen sind. Dies liegt daran, dass zum einen die ideologische Ausrichtung und die damit begründete Gewaltaffinität der Anhängerschaft nicht immer eindeutig definiert werden kann. Zum anderen rekrutieren terroristische Gruppen ihre Anhänger:innen häufig aus legalistisch-extremistischen Organisationen. Dies gilt insbesondere für den Salafismus, dessen missionarischer eng mit dem gewaltorientierten Strang verflochten ist. In Bremen sind im Jahr 2023 etwa 565 Personen islamistischen Gruppen zuzurechnen. Damit ist die Zahl im Vergleich zum Vorjahr - hier waren es 575 Personen - geringfügig gesunken. Fluktuationen innerhalb der extremistischen Spektren sind üblich. Gleichzeitig kann jedoch nach wie vor eine deutliche Zunahme der Online-Aktivitäten unterschiedlicher islamistischer Gruppierungen festgestellt werden, die eine Vielzahl von insbesondere jüngeren Personen erreicht und noch nicht ausreichend belastbar quantifiziert werden kann. Das LfV Bremen prüft in jedem Einzelfall, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Bearbeitung der jeweiligen Person erfüllt sind. Die Beobachtung der Onlineaktivitäten islamistischer Gruppierungen und potenzieller Sympathisant:innen erfordert ein hohes Maß an Fachkenntnis und ausreichende personelle und technische Ressourcen. 128 ISLAMISMUS 7.1 Globale Entwicklungen im islamistischen Terrorismus Nahostkonflikt Das im Bereich islamistischer Terrorismus herausragende Ereignis 2023 war das Wiederaufflammen des Nahostkonfliktes. Auslöser für die während des Berichtzeitraums stattfindenden Kampfhandlungen zwischen Israel und militanten Gruppierungen in Gaza war ein Terrorangriff der "HAMAS" auf Israel am 7. Oktober 2023 (zur "HAMAS" siehe Kapitel 7.3.2). Bei diesem Angriff kamen etwa 1.200 israelische Zivilist:innen und Soldat:innen ums Leben, was den größten Massenmord an Jüd:innen seit dem Holocaust darstellt. Die "HAMAS" entführte zudem rund 250 Menschen als Geiseln und griff israelische Gebiete mit tausenden Raketen an. Die Angriffe wurden zum Teil gefilmt und die aufbereiteten Videos als Propagandamaterial im Internet durch die "HAMAS" und ihre Sympathisant:innen verbreitet. Darüber hinaus kam es immer wieder auch zu kleineren Auseinandersetzungen an der libanesischen Grenze zwischen dem israelischen Militär und der "Hizb Allah"-Miliz. Als Antwort auf den Terrorangriff rief die israelische Regierung den Kriegszustand aus und mobilisierte etwa 300.000 Reservist:innen. Im Zuge der Militäroperation "Eiserne Schwerter" wurden die "HAMAS"-Kämpfer nach kurzer Zeit aus dem israelischen Grenzgebiet in den Gazastreifen zurückgedrängt. Nach zahlreichen Luftangriffen auf Ziele im Gazastreifen startete Israel Ende Oktober 2023 eine Bodenoffensive mit dem erklärten Ziel, die "HAMAS" zu vernichten. Im fortschreitenden Konfliktverlauf kam es zu zahlreichen zivilen Opfern und einer dramatischen Verschlechterung der humanitären Lage im Gazastreifen. In den folgenden Wochen Jihadistisches Propagandabeherrschte der Konflikt die internationalen Schlagzeilen. In fast magazin mit Bezugnahme zu den Terrorangriffen der allen Staaten fanden vermehrt Proteste statt, die auf die Lage in "HAMAS" Gaza aufmerksam machen sollten. Nahezu alle islamistischen Terrorgruppierungen griffen das Thema "Nahost" in ihren Propagandaverlautbarungen auf und versuchten, es für ihre eigenen Zwecke nutzbar zu machen. Dies gilt auch für jihadistische Organisationen wie "al-Qaida" oder den sog. "Islamischen Staat" (IS), die für gewöhnlich national orientierte Gruppen wie die "HAMAS" ablehnen, da diese kein globales Kalifat anstreben. Der gemeinsame Feind Israel und der damit verbundene Antisemitismus führten allerdings seit Oktober 2023 zu einer ungewöhnlichen Solidarisierung der gesamten islamistischen Szene. Die damit einhergehende Eskalationsdynamik mündete in einer gestiegenen globalen Bedrohungslage durch den islamistischen Terrorismus, wie sie seit der Zerschlagung ISLAMISMUS 129 des "IS" 2019 nicht mehr gegeben war. So kam es vermehrt zu Aufrufen islamistischer Terrorgruppierungen, als Rache für die "Verbrechen des Westens in Gaza" Anschläge zu begehen. Dass diese Aufrufe und die damit einhergehende Gefahr ernst zu nehmen sind, zeigte sich an der Zahl der in diesem Kontext erfolgten und vereitelten islamistischen Terroranschläge in Europa und Deutschland. Islamistischer Terrorismus in Europa Die Eskalation des Nahostkonfliktes hatte unmittelbare Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Europa. So kam es kurze Zeit nach dem Beginn der Kampfhandlungen zu mehreren Attentaten und Attentatsversuchen in verschiedenen europäischen Ländern. Der erste Vorfall dieser Serie ereignete sich am 13. Oktober 2023 in einer Schule in Nordfrankreich. Dabei wurde ein Lehrer durch einen Messerangriff getötet. Der mutmaßliche Täter wurde kurz darauf festgenommen. In einer Audiound einer Videobotschaft habe er sich vor der Tat ausdrücklich zum "IS" bekannt. Darüber hinaus soll er in den Tagen vor der Tat auf die Lage in Nahost angespielt haben, wie das französische Innenministerium bekannt gab. Am 17. Oktober 2023 erschoss ein Mann in Brüssel zwei schwedische Fußballfans und wurde kurze Zeit später durch die Polizei getötet. Der "IS" reklamierte die Tat für sich. Es gilt als wahrscheinlich, dass die Opferauswahl gezielt erfolgte. In Schweden und Dänemark hatten Anfang des Jahres öffentliche Koranverbrennungen stattgefunden, die zu scharfer Kritik in vielen Teilen der muslimischen Welt geführt hatten. Jihadistische Organisationen wie "al-Qaida" oder der "IS" riefen in diesem Zuge zu Vergeltungsaktionen auf, woraufhin Schweden seine Terrorwarnstufe erhöht hatte. Es gilt als wahrscheinlich, dass die Lage in Nahost und die damit verbundene Propagandawelle dem Attentäter den entscheidenden Impuls verliehen hatten, um seine Tat zu begehen. Kurz vor dem Attentat hatte er in den sozialen Netzwerken seine Solidarität mit dem palästinensischen Volk ausgedrückt. Nur drei Tage später, am 20. Oktober 2023, wurde in Großbritannien ein 20-jähriger Mann verhaftet, dem vorgeworfen wurde, einen Anschlag geplant zu haben. Der Mann soll gegenüber der Polizei angegeben haben, die Tat als "Rache für die in Gaza getöteten Kinder" geplant zu haben. Wenige Tage zuvor hatte der Direktor des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5 noch davor gewarnt, dass der Israel-Gaza-Konflikt die Motivation für islamistische Anschläge in Großbritannien steigern könnte. Am 2. Dezember 2023 kam es schließlich zu einem weiteren Attentat in Frankreich. Dabei hatte der Attentäter auf offener Straße in Paris Tourist:innen angegriffen und einen deutschen Staatsbürger getötet. Er wurde kurz nach dem Angriff durch die Polizei 130 ISLAMISMUS in Gewahrsam genommen. In einem Video hatte er sich zum "IS" bekannt und Frankreich für die Lage in Nahost mitverantwortlich gemacht. Der Täter war bereits 2016 aufgrund von Anschlagsvorbereitungen inhaftiert worden und hatte nach seiner Entlassung Kontakt zum späteren Mörder des Lehrers Samuel Paty, der 2020 in Paris auf offener Straße enthauptet worden war. Es ergeben sich somit in allen Fällen Bezüge zum Konfliktgeschehen in Gaza. Diese Entwicklung ist seit Oktober 2023 auch in Deutschland spürbar geworden. 7.2 Islamistischer Terrorismus in Deutschland Schon vor den Geschehnissen vom 7. Oktober 2023 hat es in Deutschland mehrere Vorfälle mit islamistisch-terroristischem Bezug gegeben. Bereits am 8. Januar 2023 hatten Polizeikräfte in Castrop-Rauxel einen Mann festgenommen, der einen islamistischen Anschlag vorbereitet haben soll. Laut Generalstaatsanwaltschaft soll die Person dafür mehrere Giftstoffe, Cyanid und Rizin, besorgt haben. In Duisburg hatte am 18. April 2023 ein Mann in einem Fitnessstudio eine andere Person mit einem Messer attackiert. Der Täter wurde kurz darauf in seiner Wohnung festgenommen. Ihm wurde zusätzlich vorgeworfen, in der Nacht zum Ostersonntag einen Mann in Duisburg auf offener Straße erstochen zu haben. Wenige Tage später übernahm die Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen, da sich die Anhaltspunkte für eine islamistische Tatmotivation verdichtet hätten. So seien im Rahmen der Auswertung des Mobiltelefons des Mannes Bilder und Symbole gefunden worden, die auf Sympathien zur Terrororganisation "IS" und eine militant islamistische Gesinnung hätten schließen lassen. Am 31. Mai 2023 kam es in Deutschland zu einer Großrazzia gegen die islamistische Szene. Dabei wurden sieben Verdächtige festgenommen. Ihnen wird vorgeworfen, Teil eines internationalen Netzwerks zur Finanzierung der Terrormiliz "IS" zu sein. Der Tatvorwurf lautete deswegen "Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland". Eine der festgenommenen Personen ist in Bremen wohnhaft (siehe Kapitel 7.3 "Islamistischer Terrorismus und seine Ausprägungen in Bremen"). Am 24. Oktober 2023 kam es in Deutschland schließlich zur ersten Festnahme im Bereich islamistischer Terrorismus mit Nahostbezug. Ein 29-jähriger Mann wurde in Duisburg in Untersuchungshaft genommen, da ihm die Verabredung zu Mord und Totschlag vorgeworfen wurde. Laut Auskunft der Generalstaatsanwaltschaft habe sich der Mann gegenüber einem Chatpartner in Syrien dazu bereit erklärt, mit einem Lkw in eine pro-israelische Demonstration zu fahren. Die Person war den Sicherheitsbehörden ISLAMISMUS 131 hinlänglich bekannt. Bereits 2013 war er nach Syrien ausgereist und hatte sich dort dem "IS" angeschlossen. 2016 kehrte er nach Deutschland zurück und wurde zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. 2021 wurde er entlassen, blieb jedoch unter Beobachtung durch die Sicherheitsbehörden. Kurz vor Weihnachten gab es schließlich Hinweise auf einen in der Silvesternacht geplanten Anschlag auf den Dom in Köln. Mehrere Verdächtige wurden daraufhin festgenommen. Ersten Ermittlungen zufolge gab es bei den Verdächtigen Bezüge zum sog. "Islamischen Staat Provinz Khorasan" (ISPK) (siehe folgendes Kapitel 7.3.1 "Jihadismus"). Auch dieser hatte im Nachgang zu den Geschehnissen vom 7. Oktober 2023 vermehrt zu Anschlägen im Westen aufgerufen. Die Fälle verdeutlichen, wie vor allem der Nahostkonflikt als Katalysator für die jihadistische Szene in Deutschland fungieren kann und sich dadurch die Gefahr, die von ihr ausgeht, nochmals erhöht hat. Durch das Vorhandensein von antisemitischen Einstellungen in bestimmten muslimisch-migrantisch geprägten Milieus, welches sich unter anderem in Straftaten wie dem Werfen von Brandsätzen gegen Synagogen oder dem Markieren von Häusern mit Judensternen äußert, fühlen sich islamistische Terroristen in gestiegenem Maße motiviert, Anschläge zu verüben. Aus diesem Grund veröffentlichte das Bundesamt für Verfassungsschutz am 29. November 2023 eine Presseerklärung zur Sicherheitslage in Deutschland. Darin hieß es, die Gefahr sei real und so hoch wie seit Langem nicht mehr. Die entsprechenden Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Bremen werden im folgenden Kapitel erläutert. 7.3 Islamistischer Terrorismus und seine Ausprägungen in Bremen 7.3.1 Jihadismus Beim Jihadismus handelt es sich um den gewaltorientierten Strang des Salafismus (siehe Kapitel 7.4 Salafismus). Jihadist:innen lehnen das Konzept von Nationalstaaten ab und streben ein länderübergreifendes sog. "Kalifat" an, welches schlussendlich die gesamte Welt umspannen soll. Historisch ist der Jihadismus aus militanten islamistischen Gruppierungen in der muslimischen Welt hervorgegangen, die im Afghanistankrieg gegen die Sowjetunion (UdSSR) teilweise miteinander fusionierten. Seit dem Untergang der UdSSR ist die westliche Welt das große Feindbild der Jihadist:innen. Diese zielen mit ihren Anschlägen darauf ab, die Präsenz und den Einfluss westlicher Staaten in der muslimischen Welt zurückzudrängen, um die dortigen, aus ihrer Sicht "unislamischen" Regime, stürzen zu können. 132 ISLAMISMUS Die bekanntesten jihadistischen Organisationen sind "al-Qaida" und der sog. "Islamische Staat" (IS). Trotz einer ähnlichen Zielsetzung stehen diese in einem Konkurrenzverhältnis zueinander und bekämpfen sich in bestimmten Konfliktregionen gegenseitig. Beide verfügen über verschiedene regionale Ableger. Die derzeit bedeutendste Ablegerorganisation des IS ist der sog. "Islamische Staat In Deutschland verbotene Flagge des "IS" Provinz Khorasan" (ISPK). Dieser hat seine Basis in Afghanistan, wo er einerseits gegen das dort herrschende Regime der "Taleban" kämpft, die aus seiner Sicht nicht wahrhaft islamisch regieren. Andererseits verfolgt der ISPK eine globale Agenda und motiviert insbesondere über das Internet potenzielle Sympathisant:innen dazu, Anschläge in westlichen Staaten zu begehen. Die schlagkräftigste "al-Qaida"-nahe Organisation ist die "Hai'at Tahrir al-Sham" (HTS). Die in Deutschland als Terrororganisation eingestufte Gruppierung beherrscht die syrische Region Idlib und konnte dort protostaatliche Strukturen im Sinne ihrer Ideologie etablieren. Auch deutsche Jihadist:innen haben sich der HTS angeschlossen und rufen in Propagandaveröffentlichungen dazu auf, die Organisation durch Flagge der "al-Qaida" Spenden oder sogar eine eigene Ausreise zu unterstützen. Jihadismus und seine Ausprägung im Land Bremen Seit Jahren existiert in Bremen eine jihadistische Szene, die mit terroristischen Organisationen sympathisiert, deren Strukturen in Deutschland und im Ausland unterstützt und vermutlich dazu bereit wäre, Anschläge auch im Land Bremen zu verüben. Aus diesem Grund hat die Bearbeitung von jihadistischen bzw. terroristischen Sachverhalten im LfV Bremen eine äußerst hohe Priorität. Zur Verhinderung von Anschlägen erfolgt die Zusammenarbeit mit den Polizeibehörden sowie Behörden des Verfassungsschutzverbundes. Eine wichtige Einrichtung in diesem Bereich ist das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin. Es dient zum Austausch relevanter Informationen in Gefährdungssachverhalten, um auf dieser Grundlage Analysen und Bewertungen vorzunehmen und Gefährdungslagen länderübergreifend zu bewältigen. Die jihadistische Szene in Bremen unterteilt sich im Wesentlichen in zwei Bereiche. Zum einen geht ein erhöhtes Risiko von Kleingruppen und sog. "Lone-Wolf-Akteuren" aus. Die in diesem Zusammenhang beobachteten Personen, welche sich auch über den norddeutschen Raum hinaus bundesweit vernetzen, bilden keine homogene Gruppe. So kann es zwischen Einzelpersonen und Personengruppen zwar Schnittmengen in Form von Kennverhältnissen geben, jedoch gibt es ebenfalls isolierte Personen und Kleinstgruppen, die keinerlei Einbettung in hiesige, institutionalisierte extremistische Strukturen erkennen lassen. ISLAMISMUS 133 Hintergrund und Profile der Personen, welche islamistisch begründete Gewalttaten begehen oder unterstützen wollen, sind höchst unterschiedlich. Neben in Deutschland geborenen und sozialisierten Personen über solche mit eigenen Migrationsbiografien bis hin zu Menschen, welche erst kürzlich zum Islam konvertiert sind, ist das für jihadistische Ideologien empfängliche Personenspektrum vergleichsweise divers. Auch der Radikalisierungsprozess der einzelnen Personen in Bremen ist uneinheitlich. Jüngere Personen radikalisieren sich oftmals über online bereitgestellte Angebote, etwa Youtube-Prediger, TikTok-Videos, Instagram-Stories oder extremistische Telegram-Gruppen. Neben bundesweit bekannten salafistisch-jihadistischen Protagonist:innen, die für die Gewinnung neuer Anhänger:innen offen auf Social-MediaPlattformen agitieren, existieren zudem Szeneangehörige, die konspirativ und nicht selten in anonymer Form ihre islamistischen Inhalte unter dem Deckmantel einer Vermittlung vorgeblich allgemein anerkannter islamischer Glaubenslehren verbreiten. Solche Akteur:innen verbreiten dabei häufig Texte, Bildcollagen oder Videos von zum Teil international bekannten jihadistischen Predigern, in welchen antidemokratische und gewaltverherrlichende Haltungen vertreten werden. Seit dem Terroranschlag der "HAMAS" am 7. Oktober 2023 in Israel und dem anschließenden Militäreinsatz Israels in Gaza greifen jihadistische Personen online zudem klassische antisemitische Argumentationsmuster wieder auf, die aus ihrer Sicht geeignet scheinen, die Eskalation im Nahostkonflikt zu erklären (siehe Kapitel 7.1 "Nahostkonflikt"). Die von ihnen vorgenommene, eindeutige Schuldzuweisung in Richtung Israel verfängt auch im nichtextremistischen Spektrum ihrer Follower. Die so herbeigeführte ideologische Einmütigkeit soll sich anschließend auch auf weitergehende, jihadistische Islamverständnisse übertragen, nicht selten mit Erfolg. Mit Blick auf die gesamtdeutsche Lage war häufiger zu beobachten, dass insbesondere von solchen Personen ein erhöhtes Gefahrenpotenzial ausgeht, bei denen religiöser Extremismus auf psychische Erkrankungen trifft und es in diesem Zusammenhang zu Gewalttaten oder deren Vorbereitung kommt. Gerade diese Personengruppe ist in besonderem Maße anfällig für emotionalisierende Ereignisse, die zu einem - subjektiv empfundenen - Handlungsdruck bei den Betroffenen führen können, auch wenn kein unmittelbarer Bezug zur primär unterstützten Ideologie bzw. Organisation besteht. Der zweite wesentliche Teil der jihadistischen Szene in Bremen umfasst Personen, die terroristische Organisationen im syrischen Bürgerkriegsgebiet unterstützen. Nach der Zerschlagung des sog. "IS"-Kalifats und der Inhaftierung seiner Kämpfer:innen und Unterstützer:innen vor Ort finden kaum noch Ausreisen in diese Gebiete zum Zwecke der Teilnahme an Kampfhandlungen statt. Zeitgleich wurden in Deutschland Exekutivmaßnahmen gegen lokale Strukturen durchgeführt und diese so an der offenen Betätigung, insbesondere Personen zu radikalisieren und zur Ausreise zu bewegen, gehindert. 134 ISLAMISMUS Diese Entwicklung führte zu einer Veränderung der Unterstützungshandlungen auch in Bremen. In den sozialen Netzwerken hat sich zuletzt eine Szene herausgebildet, welche realweltlich zum Teil in Bremen wohnhaft ist und online Spenden einwirbt. Dadurch wird ein überregionaler Adressat:innenund Unterstützer:innenkreis erreicht. In den meisten Fällen erfolgen diese Spendenaufrufe, um insbesondere Frauen und Kinder, welche in kurdischen Camps inhaftiert sind, zu unterstützen oder ihnen die Flucht zu ermöglichen. So wird in der Regel um Hilfe für "Schwestern" gebeten. Dass es sich hierbei um Jihadistinnen handelt, welche in der Vergangenheit den sog. "IS" aktiv unterstützt haben und weiterhin dessen Ideologie anhängen, ist diesen Spendensammler:innen und in Teilen auch den Spender:innen selbst bewusst. Ob das Spendenaufkommen tatsächlich ausschließlich den Frauen und Kindern zukommt oder auch zur Finanzierung von verbliebenen "IS"-Strukturen in Syrien dient, ist nicht immer eindeutig. Es lässt sich zudem beobachten, dass die Unterstützer:innen solcher Kampagnen diese nicht ausschließlich finanziell fördern, sondern wiederum auf eigenen Kanälen den ideologischen Unterbau salafistisch-jihadistischer Prägung mitliefern. Zur Aufklärung der Spendenaktivitäten und der dahinter stehenden Netzwerke steht das LfV Bremen im Austausch mit anderen Sicherheitsbehörden, zivilgesellschaftlichen Akteur:innen und Verbänden. Jihadistische Verdachtsund Gefährdungssachverhalte Am 31. Mai 2023 wurden sieben mutmaßliche Unterstützer:innen des sog. "Islamischen Staates" festgenommen sowie bundesweite Durchsuchungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Beteiligung an einem internationalen IS-Finanzierungsnetzwerk im gesamten Bundesgebiet durchgeführt, so auch in Bremen. Die Beschuldigten sind der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland verdächtig. Anhänger:innen des sog. "IS" warben aus Syrien heraus auf Telegram-Kanälen für Zahlungen zugunsten der Vereinigung. Die Gelder wurden an IS-Mitglieder in Syrien oder Mittelspersonen transferiert, um den sog. "IS" zu stärken. Zahlungen wurden u. a. zur Verbesserung der Versorgungslage von in den nordsyrischen Lagern Al-Hol und Roj inhaftierten Angehörigen der Vereinigung genutzt, teilweise auch für deren Flucht oder Schleusung aus den Lagern. Insgesamt wurden mindestens 65.000 EUR an den IS in Syrien transferiert. Die Beschuldigten, darunter eine Bremerin, nahmen durch ihre Mittlertätigkeiten eine zentrale Rolle innerhalb des Finanzierungsnetzwerkes ein. In einer konzertierten Aktion wurden bundesweit Durchsuchungsmaßnahmen in mehr als 90 Objekten im Auftrag der jeweils zuständigen Generalstaatsanwaltschaft durchgeführt. Im Rahmen dieser Maßnahmen veröffentlichten diverse salafistisch-jihadistische Social-Media-Kanäle Solidaritätsbekundungen und thematisierten eine vermeintliche Ungerechtigkeit im Vorgehen gegen die Beschuldigten. Am 29. November 2023 hat die Bundesanwaltschaft vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf Anklage gegen fünf Beschuldigte erhoben. ISLAMISMUS 135 Das jihadistische Personenspektrum setzt sich sowohl aus männlichen als auch weiblichen Personen zusammen. Während die männlichen Personen oftmals in die Planung und Durchführung von jihadistischen Gewalttaten im Inund Ausland involviert sind, bilden die Frauen ein stabilisierendes Netzwerk, indem sie durch Spendensammlungen, Heiratsvermittlungen, Unterstützungen im Radikalisierungsprozess und Bereitstellen einer Infrastruktur die Voraussetzungen für die Existenz und Vernetzung der jihadistischen Szenen schaffen und die auf Gewaltausübung gerichteten Taten so zielgerichtet unterstützen. Mit teils sehr eigenständig und proaktiv agierenden Akteurinnen geht auch von den weiblichen Personen sowohl in Bremen als auch bundesweit ein erhebliches Gefährdungspotenzial aus, welches sich keinesfalls auf die reine Unterstützung männlicher Szeneangehöriger beschränkt. Trotz der öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen der Sicherheitsbehörden gegenüber IS-Unterstützer:innen ist jedoch zu beobachten, dass der sog. "IS" nicht mehr als alleinige Referenz jihadistischer Akteur:innen dient, sondern durchaus von wirkmächtigen jihadistischen Predigern unterschiedlicher Strömungen und Herkunft abgelöst wurde, wodurch sich die Radikalisierung personenbezogener und differenzierter ausgestaltet und sich weniger stark an nur einer Organisation orientiert. Bremer Ausreisen nach Syrien und Irak Den Bremer Sicherheitsbehörden sind 33 Personen bekannt, die seit 2014 in die Region Syrien und Irak ausgereist sind, um sich dort agierenden jihadistischen Organisationen, mehrheitlich dem "IS", anzuschließen. Nahezu alle bekannt gewordenen Ausreisesachverhalte aus Bremen lassen klare Bezüge der jeweiligen Personen zu unterschiedlichen Bereichen der salafistischen Szene Bremens erkennen. Nicht in allen Fällen war die Ausreise erfolgreich und teilweise erfolgte eine Festnahme bzw. Abschiebung aus dem syrisch-türkischen Grenzgebiet durch die dortigen Behörden. Mindestens sechs der aus Bremen Ausgereisten sollen bereits ums Leben gekommen sein. Im Jahr 2023 erfolgten keine Ausreisen. Im Rahmen der Bearbeitung von Ausreisesachverhalten spielt in der Folge auch die Problematik der Rückkehrer:innen regelmäßig eine herausragende Rolle und stellte in den letzten Jahren eine der größten Herausforderungen für das LfV Bremen im Phänomenbereich Islamismus dar. Nach Syrien ausgereiste Bremer:innen haben für eine gewisse Zeit Anschluss an terroristische Gruppierungen gefunden, mit ihnen sympathisiert und diese häufig auch durch militärisches oder sonstiges Engagement unterstützt. Es ist daher zu befürchten, dass diese Personen und auch ihre Kinder erheblich ideologisch indoktriniert wurden. Aus diesem Grund sind sie für die Sicherheitsbehörden nach ihrer Rückkehr nach Deutschland von besonderer Relevanz. Das Ausmaß der Traumatisierung, das der Aufenthalt in den umkämpften Regionen besonders für dort aufgewachsene Kinder mit sich bringt, ist bislang kaum absehbar. In Fällen der Rückkehr ist eine sehr 136 ISLAMISMUS enge Kooperation mit allen beteiligten Behörden unverzichtbar. Das LfV Bremen arbeitet in diesem Bereich im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben eng mit staatlichen und nichtstaatlichen Deradikalisierungsund Beratungsstellen zusammen (siehe Kapitel 2 "KODEX"). Aktuell sind 15 der aus Bremen ausgereisten Personen wieder zurückgekehrt. Darunter befinden sich jedoch auch Personen, deren Einreise nach Syrien fehlgeschlagen ist bzw. durch die Sicherheitsbehörden vereitelt und eine Abschiebung bzw. Rückführung veranlasst wurde. Islamistische nordkaukasische Szene (INS) in Bremen Als Nordkaukasus wird ein mehrheitlich muslimisch geprägtes Gebiet im Süden Russlands bezeichnet, das u. a. Dagestan und Tschetschenien als Republiken der Russischen Föderation umfasst. Historisch betrachtet ist der Nordkaukasus von zahlreichen Konflikten geprägt, die sich in der jüngeren Vergangenheit insbesondere in den beiden Tschetschenienkriegen manifestierten. Auslöser für den ersten Tschetschenienkrieg waren Unabhängigkeitsbestrebungen der tschetschenischen Bevölkerung und ein separatistischer Kampf gegen Russland. Im weiteren zeitlichen Verlauf vermischten sich diese zunehmend mit religiösen Motiven. Dem Salafismus zuzurechnende Personen gewannen an Einfluss auf den Konflikt und verfolgten das Ziel, auch unter Anwendung von Gewalt, einen Gottesstaat in der Region aufzubauen. So etablierten sich verschiedene jihadistische Gruppierungen im Nordkaukasus und der einstig nationalistische Unabhängigkeitskampf wandelte sich sukzessive in einen regionalen Jihad, der letztlich zum zweiten Tschetschenienkrieg führte. Im Jahr 2007 rief der inzwischen getötete Doku Umarow das kaukasische Emirat aus, das für zahlreiche Terroranschläge verantwortlich gemacht wird und später dem sog. "IS" die Treue schwur. Der Wirkungskreis von Islamist:innen nordkaukasischer Herkunft ist nicht nur auf den Nordkaukasus begrenzt. Zahlreiche Nordkaukasier:innen reisten in die Jihadgebiete in Syrien und im Irak, um sich dort an Kampfhandlungen des "IS" zu beteiligen. Unter den ausländischen Kämpfenden nehmen sie eine herausgehobene Stellung ein, da sie oftmals, den Tschetschenienkriegen geschuldet, auf umfassende militärische Fähigkeiten und Kampferfahrungen zurückgreifen konnten. So existierte etwa innerhalb des "IS" ein kaukasisch-dominierter Kampfverband namens "Katiba Badr", dem sich in der Vergangenheit auch Tschetschenen aus Bremen anschlossen. Auch nach dem faktischen Ende des sog. "IS"-Kalifats in Syrien geht weiterhin ein nicht zu unterschätzendes Gefährdungspotenzial von nordkaukasischen Islamist:innen bzw. Jihad-Rückkehrenden aus. Als gut ausgebildete, kampferfahrene und gewaltbereite Einzeltäter oder Kleingruppen können sie radikalisierend auf einzelne Personen in ISLAMISMUS 137 ihrem Umfeld wirken und sich dabei auf die vorhandenen Strukturen der hiesigen Diaspora stützen. Mehrere islamistisch motivierte Gewalttaten der vergangenen Jahre verdeutlichten außerdem, dass von den Angehörigen der islamistischen nordkaukasischen Szene vereinzelt auch für westliche Staaten eine reale Gefahr ausgeht (siehe Kapitel 7.1 "Islamistischer Terrorismus in Europa"). Zum besonderen Gefährdungspotenzial trägt darüber hinaus die generelle Affinität vieler Angehöriger der islamistischen nordkaukasischen Szene zu Waffen und eine oftmals enge Verflechtung mit Strukturen der organisierten Kriminalität bei, die auch in Bremen beobachtet werden konnte. Auch im Berichtsjahr 2023 ist die Teilnahme von Tschetschenen an Kampfhandlungen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu betonen. Im Vordergrund dieser Kriegsbeteiligung stehen die für die russische Seite nutzbaren, militärischen Fähigkeiten der tschetschenischen Kampfeinheiten. Gleichwohl betonte der Präsident Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, welcher die Teilrepublik als Diktator führt, dass der Einsatz der tschetschenischen Einheiten eine "gottgefällige Mission" sei. Eine Machtressource Kadyrows ist eine spezielle Art des (Staats-)Islamismus, durch den Minderheiten unterdrückt werden und der auch eine Motivation in der Kriegsbeteiligung darstellt. So spricht Kadyrow von "Satanisten" auf ukrainischer Seite, die es zu bekämpfen gelte. Für die tschetschenische bzw. nordkaukasische Diaspora in Westeuropa könnte die Kriegsbeteiligung emotionalisierend wirken. In Bezug auf den seit dem 7. Oktober 2023 eskalierten Nahost-Krieg zwischen der "HAMAS" und dem israelischen Staat kam es im nordkaukasischen Dagestan zu einer Stürmung des Flughafens in Machatschkala, weil dort ein Flugzeug mit israelischen Evakuierten landete. Die Motivation der Flughafenstürmung gründete in der Solidarisierung der beteiligten Dagestaner:innen mit den muslimischen Menschen aus dem Gazastreifen. Sowohl der Präsident Dagestans, Sergei Melikow, als auch Ramsan Kadyrow verurteilten im Nachgang antisemitische Ausschreitungen. Die islamistische nordkaukasische Szene in Bremen, der ein mittleres, zweistelliges Personenpotenzial zugerechnet wird, weist keine förmlichen Strukturen oder Führungspersonen auf und verfügt auch nicht über eine eigene Moschee. Ihre Anhänger:innen besuchen in der Regel wohnortnahe Moscheen anderer Träger (z. B. türkische oder arabische Gemeinden). Jedoch ist zu beobachten, dass in der Regel eine weitestgehende Abschottung gegenüber Menschen anderer Ethnien in den besuchten Moscheegemeinden und selbst gegenüber anderen Islamist:innen stattfindet. Das Kontaktspektrum der Szene ist häufig durch weitläufige, zum Teil europaweite Netzwerke gekennzeichnet und kann maßgeblichen Einfluss auf potenzielle Radikalisierungsverläufe nehmen. Verbindende Elemente sind hierbei neben der Religion vor allem die ethnische Herkunft und damit verbunden ein traditionelles Werteverständnis. 138 ISLAMISMUS Darüber hinaus spielen auch niedrigschwellige Faktoren des Zusammenhalts eine Rolle: Die ausgeprägte Kampfsportaffinität beispielsweise, die in der (islamistischen) nordkaukasischen Szene kulturell und gesellschaftlich seit vielen Jahren gewachsen ist, ist sehr oft ein verbindendes Element. Im Rahmen von Kampfsportveranstaltungen und gemeinsamen Trainingseinheiten nehmen Personen der Szene zueinander Kontakt auf und werben außerdem Jugendliche und junge Erwachsene als neue Anhänger. Die sportliche Betätigung mischt sich mit religiös-ideologischen Inhalten und führt dazu, dass sich Szeneangehörige radikalisieren können. Auch den sozialen Medien kommt in der Radikalisierung junger nordkaukasischer Menschen eine besondere Bedeutung zu. Durch die einfachen Vernetzungsmöglichkeiten der Social-Media-Portale kommen sie schnell in Kontakt mit szenerelevanten Personen. Ein persönliches Kennverhältnis zwischen den Personen ist daher nicht zwangsläufig gegeben bzw. in vielen Fällen tatsächlich nicht vorhanden. Der Großteil der Kommunikation findet über verschiedene Messengerdienste statt. Diese Entwicklung führt zu einer Verlagerung der nachrichtendienstlichen Tätigkeit in die digitalen Räume, in denen personelle Verflechtungen schneller erkennbar werden können als in der realen Welt. 2022 wurde eine Chatgruppe des Messenger-Dienstes Telegram bekannt, in welcher Propagandamaterialien des "IS" geteilt und Pläne zu jihadistisch motivierten Ausreisen und Anschlägen in Deutschland besprochen wurden. Die Gruppenmitglieder waren über das Bundesgebiet verteilt wohnhaft, in den meisten Fällen bestand nur ein digitales "Kennverhältnis". Als Wortführer innerhalb dieser Gruppierung trat eine minderjährige, tschetschenisch-stämmige Person aus Bremerhaven in Erscheinung. Im weiteren Verlauf der Ermittlungen kam es zu mehreren Festnahmen, u. a. des Gruppenmitglieds aus Bremerhaven. Dieser wurde am 9. Oktober 2023 wegen der Mitgliedschaft in der ausländischen terroristischen Vereinigung sog. "Islamischer Staat" (IS) sowie Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat durch das Hanseatische Oberlandesgericht in Hamburg zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Die Person aus Bremerhaven stand im Sommer 2022 in Kontakt mit einem in Afghanistan aufhältigen Mitglied der dortigen IS-Regionalorganisation "Islamischer Staat Provinz Khorasan" ("ISPK"; siehe Kapitel 7.3.1 Jihadismus). Gegenüber diesem "ISPK"-Mitglied erklärte sich der Bremerhavener bereit, eine lokale "IS"-Zelle in Deutschland zu gründen. In einer Chatgruppe, der mehrere minderjährige Teilnehmer angehörten, verbreitete er neben "IS"-Propagandamaterial auch Anleitungen zum Bau von Sprengsätzen und rief außerdem zu Anschlägen im Namen des "IS" auf. Darüber hinaus bemühte er sich intensiv um die Anwerbung neuer Unterstützer und Anhänger des "IS". Im selben Verfahren wurde zudem ein 17-Jähriger mit deutscher und kosovarischer Staatsangehörigkeit aus Nordrhein-Westfalen wegen Unterstützung des "IS" sowie der ISLAMISMUS 139 Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Der Bremerhavener Jihadist war in die Vorhaben des 17-Jährigen eingeweiht und vermittelte ihm den Kontakt zu einem ISPK-Mitglied. Dieser Sachverhalt verdeutlicht neben der Bedrohungslage durch nordkaukasische Islamist:innen auch die Gefährdung durch radikalisierte Minderjährige und die Bedeutung von online agierenden Islamist:innen. Bei der Bewertung von gewaltbefürwortenden Social-Media-Postings durch radikalisierte, zumeist männliche, Minderjährige muss in jedem Einzelfall eine Abwägung zwischen "lediglich" jugendlicher Naivität bzw. Prahlerei und einer reellen Gefährdung getroffen werden. Dies stellt auch aufgrund des Umfangs an neuen Postings eine enorme Herausforderung für die Sicherheitsbehörden dar, zumal jeder Einzelfall zunächst immer gründlich analysiert und bewertet werden muss. 7.3.2 "HAMAS" Die "HAMAS" ist eine islamistische Terrororganisation, die 1987 während des Ersten Palästinensischen Aufstandes ("Intifada") gegründet wurde. Ideologisch und historisch gilt sie als Ableger der Muslimbruderschaft in den palästinensischen Gebieten (zur Muslimbruderschaft siehe Kapitel 7.5.1). Ihr Hauptziel ist die Vernichtung des Staates Israel und die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates auf dem gesamten israelisch-palästinensischen Territorium. Sie wird insbesondere durch den Iran aber auch durch Katar und Syrien finanziell und logistisch unterstützt. Seit ihrer Gründung kam es regelmäßig zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der "HAMAS" und Israel. Aufgrund des Einsatzes von Raketen und Selbstmordattentaten gegen die israelische Zivilbevölkerung wird die "HAMAS" seitens der Europäischen Union seit 2001 als Terrororganisation eingestuft. Aktivitäten von Sympathisant:innen der "HAMAS" in Deutschland und Bremen In Deutschland verfügt die "HAMAS" über keine offiziellen Strukturen, sondern versucht, über ihr nahestehende Vereine Spenden zu sammeln, Propaganda zu verbreiten, logistische Unterstützung zu generieren und neue Anhänger:innen zu werben. Als Reaktion auf den Angriff auf Israel am 7. Oktober 2023 (siehe Kapitel 7.1 "Nahostkonflikt") hat das Bundesministerium des Innern am 2. November In Deutschland verbotene Flagge der "HAMAS" 2023 ein Betätigungsverbot für die "HAMAS" erlassen. Die Tätigkeit der "HAMAS" im Bundesgebiet läuft Strafgesetzen zuwider und richtet sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Darüber hinaus beeinträchtigt ihr Zweck oder ihre Tätigkeit erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland, heißt es in der 140 ISLAMISMUS Verbotsverfügung. In Zuge des Verbots kam es zu bundesweiten Durchsuchungen von Vereinen und Privaträumlichkeiten. Im Land Bremen gibt es eine Anzahl von Einzelpersonen im niedrigen zweistelligen Bereich, die mit der "HAMAS" sympathisieren und als deren Anhängerschaft bezeichnet werden können. Im Zuge des Angriffs der "HAMAS" auf Israel konnten "HAMAS"befürwortende Postings auf Profilseiten bekannter Bremer Islamist:innen festgestellt werden, wobei diese anderen islamistischen Strömungen zuzuordnen sind und sie bisher nicht als Sympathisanten der HAMAS aufgefallen waren. Außerdem gibt es einen Personenkreis, welcher neben Sympathiebekundungen im Internet auch durch "HAMAS"-befürwortende Farbschmierereien oder Ausrufe bei Demonstrationen in Bremen auftritt und vor dem Angriff noch nicht bekannt war. Die weitere Beobachtung solcher Aktivitäten durch das LfV Bremen wird in den nächsten Monaten möglicherweise weitere Erkenntnisse zu Aktivitäten der "HAMAS"-Anhängerschaft oder möglichen weitergehend vernetzten Strukturen in Bremen offenbaren. 7.3.3 "Hizb Allah" Nach dem Einmarsch von israelischen Truppen in den Libanon wurde 1982 die libanesische Organisation "Hizb Allah" ("Partei Gottes", auch bekannt unter "Hisbollah") gegründet. Der Iran initiierte die Gründung und unterstützt die islamistisch-schiitische Organisation seit ihrem Bestehen sowohl finanziell als auch materiell. Flagge der "Hizb Allah" Im Hinblick auf die ideologische Ausrichtung verkörpert der "revolutionäre Iran" das Vorbild für die "Hizb Allah". Dies zeigt sich vor allem daran, dass bis in die 1990er-Jahre durch die "Hizb Allah" das Ziel verfolgt wurde, eine "islamische Revolution" im Libanon auszulösen, die wiederum einen schiitischen Gottesstaat zur Folge haben sollte. Die Relevanz dieses Ziels sank nach diversen politischen Entwicklungen, unverändert ist aber die oberste Priorität der Schutz des libanesischen Territoriums vor israelischen Militäraktionen sowie die Vernichtung des Staates Israel, da die "Hizb Allah" Israel das Existenzrecht abspricht. Im Libanon herrscht seit 2019 eine folgenschwere Wirtschaftskrise, die nach Angaben der UN dazu führte, dass etwa drei Viertel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze lebt. Zusätzlich verlor die libanesische Währung 2023 drastisch an Wert. Daneben befindet sich das Land in einer politischen Krise, da sich seit den Wahlen im Jahr 2022 die politische Elite nicht auf einen Präsidenten einigen konnte. Der aktuelle Regierungschef ist, nach seinem planmäßigen Ausscheiden aus dem Amt, nur noch geschäftsführend tätig und dadurch nur eingeschränkt handlungsfähig. ISLAMISMUS 141 An der Grenze zwischen Israel und dem Libanon galt die Sicherheitslage ohnehin als angespannt und verschärfte sich nach dem Angriff der Terrororganisation "HAMAS" am 7. Oktober 2023 auf Israel nochmal deutlich (siehe Kapitel 7.1 "Nahostkonflikt"). Die "Hizb Allah" beschoss Israel aus dem Südlibanon mehrfach mit Raketen. Seitdem kommt es zwischen dem israelischen Militär und der "Hizb Allah" immer wieder zu Gefechten. In einer Rede am 3. November 2023 äußerte sich der Generalsekretär der "Hizb Allah", Hassan Nasrallah, das erste Mal öffentlich zum Gaza-Krieg. Er nutzte seine Ansprache, um den Angriff der "HAMAS" auf Israel zu loben, wies aber gleichzeitig darauf hin, nicht an dem Angriff beteiligt zu sein. Nasrallah drohte zwar indirekt damit, eine neue Front gegen Israel zu eröffnen, ließ aber eine unmittelbare Beteiligung als Kriegspartei offen. Aktivitäten von Sympathisant:innen der "Hizb Allah" in Deutschland und Bremen Das primäre Ziel der Anhängerschaft der "Hizb Allah" in Deutschland ist es, Organisationsstrukturen aufzubauen bzw. diese nachhaltig zu etablieren. Dazu gehören unter anderem eigene Moscheevereine, in denen sich die Anhänger:innen organisieren können. Der Handlungsspielraum der Unterstützungsszene erstreckt sich wiederum auf die Organisation von Spendensammlungen oder religiösen Veranstaltungen sowie die Teilnahme an Demonstrationen. Die deutschen Sicherheitsbehörden schöpfen alle rechtsstaatlichen Mittel aus, um gegen terroristische Aktivitäten und deren relevante Strukturen vorzugehen. Als Beispiel hierfür ist das vom Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) am 30. April 2020 erlassene Betätigungsverbot für die "Hizb Allah" anzuführen. Dieses wurde verhängt, da die Tätigkeiten der "Hizb Allah" den Strafgesetzen zuwiderlaufen und sich darüber hinaus gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten. Im darauffolgenden Jahr, am 19. Mai 2021, folgten weitere bundesweite Maßnahmen gegen die Aktivitäten der Terrororganisation. So wurden die drei Spendensammelvereine "Gib Frieden e.V.", "Menschen für Menschen e.V." sowie "Deutsche Libanesische Familie e.V." vom BMI verboten. Bei den Vereinen handelte es sich um Nachfolgeorganisationen des bereits 2014 verbotenen Vereins "Waisenkinderprojekt Libanon e.V." bzw. "Farben für Waisenkinder e.V.", der für die sog. "Shahid-Stiftung" (auch "Märtyrer-Stiftung") im Libanon Spenden sammelte. Die Stiftung versorgt im Libanon Angehörige von sog. Märtyrern der "Hizb Allah", die u. a. im Kampf gegen Israel ums Leben kamen. Als wichtiger Tag gilt für die Angehörigen der "Hizb Allah" sowie weiterer schiitischislamistischer Organisationen der "al-Quds-Tag". Hierbei handelt es sich um einen schiitischen Gedenktag, der an die von Ayatollah Khomeini im Jahr 1979 geforderte 142 ISLAMISMUS "Befreiung" von Jerusalem erinnern soll und gleichzeitig Solidarität mit dem palästinensischen Volk zum Ausdruck bringen soll. Die übliche, anlässlich des "al-Quds-Tags" veranstaltete Großdemonstration in Berlin fand, wie bereits im letzten Jahr auch, nicht statt. Stattdessen fand am 15. April 2023 unter dem Motto "Freiheit für Palästina und alle unterdrückten Völker" eine Demonstration in Frankfurt am Main statt. Unter den Teilnehmenden befanden sich auch Personen aus dem Bremer Umland, die einem schiitisch-islamistischen Netzwerk zuzuordnen sind. Verbot des "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." rechtskräftig Nachdem der schiitisch-islamistische Verein "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V.", in dem sich bis zur Schließung ca. 50 Anhänger:innen der "Hizb Allah" organisierten, durch den Senator für Inneres Bremen im März 2022 verboten wurde, ist das Verbot nunmehr rechtskräftig. Das Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) wies die Beschwerde des "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." gegen die Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Bremen mit Beschluss vom 16. Oktober 2023 als unbegründet zurück. Der "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." wurde verboten, da er sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtete, indem er zum Hass gegen Angehörige anderer Religionen aufrief. Er lehnte außerdem zentrale Elemente der bestehenden völkerrechtlichen Ordnung ab und rief zu deren Bekämpfung auf. Weiterhin propagierte und förderte er aktiv Gewalt oder vergleichbar schwerwiegende völkerrechtswidrige Handlungen wie den Terrorismus, in diesem Fall die Terrororganisation "Hizb Allah". Die Resonanz aus der Szene zu dem Urteil des BVerwG war geprägt von Unverständnis und dem Vorwurf, dass der deutsche Rechtsstaat Menschen muslimischen Glaubens diskriminiere. Eine differenzierte Auseinandersetzung fand nicht statt und die Solidarität gegenüber der verbotenen Gemeinde blieb ungebrochen. Festnahmen von mutmaßlichen Mitgliedern der "Hizb Allah" Am 10. Mai 2023 hat die Bundesanwaltschaft zwei mutmaßliche Mitglieder der Terrororganisation "Hizb Allah" festnehmen lassen. Bei den Personen handelte es sich um den in Niedersachsen wohnhaften ersten Vorsitzenden des verbotenen "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." sowie einen Prediger aus Nordrhein-Westfalen, der in dem dortigen Moscheeverein häufig sowie vereinzelt auch in dem Bremer Verein auftrat. Die Beschuldigten befinden sich seitdem in Untersuchungshaft. Am 4. Dezember 2023 wurde vor dem Staatsschutzsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg Anklage erhoben. Sie sind demnach dringend verdächtig, sich in der Terrororganisation "Hizb Allah" mitgliedschaftlich betätigt zu haben. Der erste Vorsitzende des Bremer "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." habe sich spätestens 2004 der "Hizb Allah" angeschlossen und sei als Auslandsfunktionär bzw. Angehöriger einer Eliteeinheit des militärischen Arms der "Hizb Allah" tätig gewesen. Innerhalb des Bremer Vereins richtete er die Tätigkeiten ISLAMISMUS 143 nach den Vorgaben und Zielen der Terrororganisation aus. Auch dem Prediger wird zur Last gelegt, dass er als Angehöriger der Abteilung für Außenbeziehungen die libanesischen Vereine vornehmlich in Norddeutschland betreute und die "Hizb Allah" über die Arbeit der Vereine informierte. 7.4 Salafismus Beim Salafismus handelt es sich um eine besonders fundamentalistische Ausprägung des Islamismus. Hinsichtlich der Anzahl seiner Anhänger:innen ist im realweltlichen Bereich ein leichter Rückgang zu verzeichnen. Dies liegt zum einen an den Präventionsund Deradikalisierungsangeboten des Landes Bremen, zum anderen daran, dass die salafistische Propaganda durch Maßnahmen der Sicherheitsbehörden, wie beispielsweise Vereinsverbote und Strafverfahren, an Wirksamkeit und Attraktivität verloren hat. Darüber hinaus ist eine exakte Bezifferung des salafistischen Personenpotenzials aufgrund von strukturellen Besonderheiten der Szene schwierig. So weisen zahlreiche salafistische Personenzusammenschlüsse keine festen Strukturen mehr auf. Gleichzeitig finden sich Salafist:innen in anderen islamistischen Organisationen und Einrichtungen oder sind in Teilen ausschließlich im Internet aktiv. Salafismus leitet sich vom arabischen Begriff Salafiyya ab, der eine Strömung des Islams bezeichnet, die sich ideologisch an den sog. Salaf as-Salih ("die frommen Altvorderen"), also den ersten drei Generationen der Muslime, orientiert. Salafist:innen versuchen, deren Lebensweise detailgetreu zu kopieren. Die Anhänger:innen dieser Ideologie sind der Überzeugung, dass Probleme der Gegenwart durch die Rückbesinnung auf den vermeintlich "wahren Ur-Islam" gelöst werden können. Anpassungen der Islamauslegung an veränderte gesellschaftliche und politische Gegebenheiten werden als "unislamisch" kategorisch abgelehnt und führen - so die Vorstellung - zwangsläufig zum "Unglauben". Die Ideologie des Salafismus lässt sich in eine politische und eine jihadistische Strömung unterteilen. Die gewaltorientierte jihadistische Variante ist gleichzusetzen mit dem im vorherigen Kapitel behandelten islamistischen Terrorismus. Vertreter:innen des politischen Salafismus hingegen stützen sich auf intensive Propagandatätigkeiten, um ihre extremistische Ideologie zu verbreiten sowie politischen und gesellschaftlichen Einfluss zu gewinnen. Diese Missionierungstätigkeit wird von ihnen als da'wa bezeichnet. 144 ISLAMISMUS da'wa-Arbeit da'wa bedeutet wörtlich übersetzt "Ruf" und kann als "Einladung zum Islam" verstanden werden. Einige Muslim:innen sehen es als ihre besondere Pflicht an, andere Menschen über den Islam aufzuklären und sie auf diese Weise zu bekehren. So heißt es im Koran (Sure 16, Vers 125): "Ruf [die Menschen] mit Weisheit und einer guten Ermahnung auf den Weg deines Herrn und streite mit ihnen auf eine möglichst gute Art." Nach islamischer Lehre erfolgt die Bekehrung ohne Androhung oder Anwendung von Gewalt. Insofern sind da'wa-Aktivitäten ohne extremistischen Hintergrund von der Religionsfreiheit gedeckt und für die Arbeit des Verfassungsschutzes entsprechend irrelevant. Eine fundamentalistische Religionsausübung ist nicht zwangsläufig verfassungsfeindlich. Da jedoch der politische Salafismus seiner Islaminterpretation absoluten Geltungsanspruch einräumt, stellt er eine gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtete extremistische Bestrebung dar. So lehnen Salafist:innen die Demokratie als politisches System grundsätzlich ab, da nur Gott Gesetze erlassen dürfe. Des Weiteren verletzen die in der salafistischen Rechtsauffassung vorgeschriebenen Körperstrafen für Kapitalverbrechen, die Legitimierung der körperlichen Züchtigung der Frau und die Beschränkung ihrer Freiheitsrechte sowie die fehlende Religionsfreiheit die im Grundgesetz konkretisierten Grundrechte. 7.4.1 Salafistische Aktivitäten in Deutschland Im Zentrum der Szene stehen männliche Prediger, die als "Szenegrößen" durch Deutschland reisen und in salafistischen Moscheevereinen Vorträge halten. Die Inhalte dieser Vorträge reichen von allgemeinen islamischen Themen, über legalistische Äußerungen bis hin zu strafrechtlich relevanten Aussagen. Aufgrund ihrer Erfahrungen mit den Sicherheitsbehörden achten solche Prediger in der Regel jedoch sehr genau darauf, welche Aussagen sie im öffentlichen Raum tätigen und versuchen, die Grenzen des rechtlich noch Zulässigen auszureizen. Dieses Verhalten stellt im Hinblick auf ein mögliches Unterbinden der Vortragstätigkeiten durch die deutschen Sicherheitsbehörden eine anhaltende Herausforderung dar, zumal viele Äußerungen kontextabhängig verschiedene Interpretationen und Auslegungen zulassen. Die realweltlich oder digital anwesenden Zuhörenden wissen jedoch in aller Regel, u. a. aufgrund ihrer Szeneangehörigkeit, zweifelsfrei, wie die jeweiligen Aussagen zu verstehen sind. Darüber hinaus erschließen sich überregionale salafistische Prediger aktuell angesagte Social-Media-Plattformen. Zu nennen ist hier speziell die App TikTok. Sie wird hauptsächlich von eher jüngeren Personen insbesondere zu Unterhaltungszwecken verwendet. ISLAMISMUS 145 Die Besonderheit der App besteht im Unterschied zu anderen Social-Media-Plattformen darin, dass per Algorithmus ausgewählte Videos abgespielt werden, ohne dass Nutzer:innen diese aktiv auswählen müssen. Mit einer Wischbewegung gelangen sie zum nächsten Clip. Durch diese Funktion werden auch Zielgruppen erreicht, die sich gar nicht aktiv für die Inhalte des algorithmusbasierten Clips entschieden haben. Für Islamist:innen hat das wiederum den Vorteil, dass sie ihre Botschaften niedrigschwellig an sehr junge Personen weitergeben können, die sich aufgrund ihres Alters möglicherweise auf einer Identitätssuche befinden und islamistische Inhalte nicht direkt als solche einordnen können bzw. zunächst auch nicht zwingend gezielt danach suchen. Andere Social-Media-Plattformen wie YouTube oder Instagram kopierten das "TikTokKonzept" und bieten seitdem ihrerseits ebenfalls kurze Videoformate, "Shorts" oder "Reels" genannt, an, unter denen sich auch vermehrt salafistische Inhalte finden lassen. Inhaltlich werden vermeintliche "Zuschauerfragen" beantwortet. Die Fragen betreffen religiöse Belange sowie die Glaubensauslegung im Alltag und in lebensnahen Bereichen. Die Antworten der Beispiel für einen salafistischen entsprechenden salafistischen Prediger fallen, je nach Dauer des Social-Media-Kanal Videos, unterschiedlich aus. Bei sehr kurzen Clips (unter 20 Sekunden) wird die Frage oftmals nur mit "erlaubt" (halal) oder "nicht erlaubt" (haram) beantwortet. Bei längeren Videos wird die Antwort der salafistischen Ideologie entsprechend erläutert. Hier zeigt sich die sehr einseitige salafistische Sichtweise, nämlich die Einteilung in "Richtig" und "Falsch", in "Gut" und "Böse", in Glauben und vermeintlichen Unglauben. Identitätssuchende und leicht beeinflussbare Nutzer:innen der App TikTok werden durch solche Inhalte angesprochen, setzen sich bei Interesse näher mit den Predigern oder der dahinterstehenden Organisationen auseinander und besuchen für darüberhinausgehende Informationen möglicherweise auch andere Webseiten oder Plattformen, wie z. B. die entsprechenden Instagram-Profile und Youtube-Kanäle. Ein weiterer wichtiger Aktivitätszweig im Salafismus ist das Thema Spenden. Salafistische Prediger werben damit, Muslimen in Not zu helfen und appellieren somit an die innermuslimische Solidarität. Die genaue Verwendung der Spenden ist jedoch oft nicht seriös nachzuvollziehen. Vor allem TikTok wird zur Generierung von anlassbezogenen Spenden genutzt und es ist davon auszugehen, dass die Reichweitenstärke einiger salafistischer Prediger auf TikTok einen erheblichen Beitrag zum Erfolg besagter Spendenkampagnen geleistet hat. Frauen agierten der salafistischen Ideologie entsprechend lange Zeit vornehmlich im Hintergrund. Demnach seien sie in erster Linie für Haushalt, Kindererziehung und die Unterstützung des Ehemannes zuständig. In den letzten Jahren haben sich salafistische 146 ISLAMISMUS Frauen jedoch auch andere Aktivitätsbereiche erschlossen. So leisten sie Missionierungsarbeit, im Gegensatz zu salafistischen Männern allerdings weniger öffentlich. Gemäß der Geschlechtertrennung werben bewusst Frauen andere Frauen und Mädchen an und nutzen dafür niedrigschwellige Angebote, z. B. Chatgruppen oder Treffen, in denen auch über häusliche Themen gesprochen wird. Dass sich hinter solchen Angeboten aber auch eine religiöse Beratung entsprechend der salafistischen Ideologie verbirgt, ist den neu angesprochenen bzw. eingeladenen Frauen in der Regel zunächst nicht bewusst. Nachdem die salafistische Szene Anfang der 2000er-Jahre insbesondere eine Protestkultur gegen die Elterngeneration darstellte, wird zunehmend das Phänomen der sog. "salafistischen Sozialisation" sichtbar. Hierbei versuchen salafistische Familien ihre Kinder im Sinne der grundgesetzwidrigen Ideologie zu erziehen. So werden Angebote salafistischer Moscheen genutzt, aber auch im privaten Raum eigens hierfür produzierte Kinderbücher, Hörspiele und Apps verwendet. Die große Gefahr besteht hierbei in der Indoktrinierung von Kindern, welche einer "Angstpädagogik" ausgesetzt sind. Dabei wird ihnen vermittelt, dass ihr alltägliches Umfeld ihnen gegenüber feindlich eingestellt sei. Die Auswirkungen einer salafistischen Weltanschauung äußern sich oft bereits im Kitaund Schulbereich. In solchen Fällen ist zumeist eine pädagogische Lösung, gegebenenfalls unter Einbeziehung einer zivilgesellschaftlichen Beratungsstelle (siehe Kapitel 2 "adero"), sinnvoll. Der Verfassungsschutz steht hierbei beratend zur Seite. Letztlich ist die salafistische Sozialisation ein Thema von gesamtgesellschaftlicher und nicht nur sicherheitsbehördlicher Tragweite. Insgesamt hat sich die salafistische Szene in den letzten Jahren konsolidiert und professionalisiert. Salafistische Geschäftstätige versuchen etwa, die Ideologie zur wirtschaftlichen Gewinnerzielung zu instrumentalisieren (z. B. durch den Verkauf von Büchern oder die Gründung von Unternehmen, die salafistisch geprägtes "islamisches LifestyleCoaching" anbieten). Die Verknüpfung der Ideologie mit marktwirtschaftlichen und finanziellen Interessen zeigt, dass es auch Personen gibt, die ein langfristiges - zum Teil mutmaßlich nicht primär ideologisch motiviertes - Interesse an der professionellen Verbreitung der salafistischen Ideologie haben. 7.4.2 Salafismus im Land Bremen Die salafistische Szene in Bremen setzt sich aus klassisch strukturierten Milieus, z. B. innerhalb eines Moscheevereins, aber auch Kleingruppen, losen Personenzusammenschlüssen und Einzelpersonen zusammen. Sie ist demzufolge durch eine Heterogenität gekennzeichnet, welche die Szenen in ganz Westeuropa ausmacht. Der Bremer Szene ISLAMISMUS 147 gehören etwa 460 Anhänger:innen an. Der Großteil lässt sich dem gewaltfreien politischen Salafismus zurechnen. Ungefähr 30 % hängen dem jihadistischen Salafismus an, der unterschiedliche Abstufungen einer Gewaltorientierung aufweisen kann. Diese reichen von gewaltunterstützend bis hin zu gewalttätig. Im Berichtsjahr 2023 ist die Gesamtzahl der Salafist:innen in Bremen erneut geringfügig gesunken. Diese Entwicklung ist u. a. auf den stetigen Ausbau bestehender Präventionsnetzwerke, die zielgruppenorientierte Durchführung von Präventionsmaßnahmen aller daran beteiligten Behörden des Landes Bremen sowie eine deutlich ausgebaute Öffentlichkeitsarbeit unterschiedlichster Institutionen und Medien in den letzten Jahren zurückzuführen. Außerdem führte der erhöhte Verfolgungsund Aufklärungsdruck der Sicherheitsbehörden zu einem sehr viel vorsichtigeren Verhalten der salafistischen Szene. Radikale Aussagen in der Öffentlichkeit sind seltener festzustellen. Teilweise erfolgte ein Rückzug gewisser, teils tragender Protagonist:innen der Szene in private Bereiche, wodurch zwar einerseits die Aufklärung erheblich erschwert, andererseits aber auch die unmittelbare und sichtbare Reichweite der Ideologieverbreitung vermindert wird. Insgesamt zeigten die umfangreichen sicherheitsbehördlichen Bemühungen der letzten Jahre Erfolge. Analog zu den Entwicklungen im Bundesgebiet ist festzustellen, dass auch Bremer Akteur:innen der salafistischen Szene verstärkt im Internet agieren. Social-MediaPlattformen und Messenger-Dienste dienen neben der klassischen Kommunikation auch der Verbreitung salafistischer Inhalte sowie dem Werben neuer Anhänger:innen. In Teilen ersetzt die digitale Vernetzung realweltliche Kennverhältnisse vollständig. Die Möglichkeit, anonym zu bleiben und verschlüsselt kommunizieren zu können, ist aus Sicht der konspirativ agierenden salafistischen Nutzer:innen von Vorteil, stellt das LfV Bremen jedoch vor erhebliche Herausforderungen. Die Beobachtung salafistischer Bestrebungen im Internet wird weiterhin eine zentrale Rolle in der Arbeit des LfV Bremen einnehmen. Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt ist die Beobachtung von Reaktionen der salafistischen Szene in Bremen auf aktuelle politische und gesellschaftliche Debatten, Geschehnisse und Themen. Die Bremer salafistischen Akteure sind regelmäßig um eine Kommentierung und Einordnung dieser im Sinne der eigenen Ideologie bemüht. Die Emotionalisierung und Vergrößerung der Anhängerschaft steht dabei im Mittelpunkt. Im Berichtszeitraum 2023 haben neben der neuen Eskalation im Nahostkonflikt u. a. zwei weitere Themen die salafistische Community in Bremen besonders beschäftigt: das Erdbeben in der Türkei und Syrien am 6. Februar 2023 sowie der Umgang mit der LGBTQIA+-Community. 148 ISLAMISMUS Anfang Februar 2023 ereignete sich im Südosten der Türkei und im Norden Syriens ein starkes Erdbeben, welches enorme Schäden verursachte und knapp 60.000 Menschen in der Region das Leben kostete. In der salafistischen Szene Bremens herrschte wegen der vielen Erdbebenopfer eine große Betroffenheit und es wurde verstärkt zu Spenden aufgerufen, welche in der Erdbebenregion zum einen in Form von Lebensmitteln und Hilfsgütern, aber auch in Form von Bargeld übergeben wurden. Zu Spendenzwecken erfolgte außerdem eine Vernetzung von salafistischen Moscheen in Norddeutschland, darunter auch des "Islamischen Kulturzentrums Bremen e.V." (s. u.). Dieser Sachverhalt ist für das LfV Bremen insofern relevant, als dass der Norden Syriens in Teilen nach wie vor von der Terrororganisation "Hai'at Tahrir al-Sham" (HTS) besetzt ist (siehe Kapitel 7.3.1 "Jihadismus") und damit die Möglichkeit besteht, dass in Deutschland eingenommene Spenden auch der Terrororganisation oder anderen islamistischen Institutionen in der Region zugutekommen und zweckentfremdet verwendet werden könnten. Darüber hinaus wurde die humanitäre Notsituation durch salafistische Akteur:innen in Bremen für die eigenen Propagandazwecke genutzt, um einerseits die Anhängerschaft zu emotionalisieren und andererseits durch die Besetzung eines nicht extremistischen Themas eine höhere Anschlussfähigkeit bei Nicht-Extremist:innen zu erreichen. Die LGBTQIA+-Feindlichkeit der salafistischen Szene stellt eine Herausforderung für die Bremer Sicherheitsbehörden dar, die in Zukunft noch weiter an Relevanz gewinnen dürfte. Neben anderen islamistischen Überzeugungen ist die salafistische Szene von heteronormativen Vorstellungen der sexuellen Orientierung geprägt. Die strikte Ablehnung jeglicher abweichender, vermeintlich "nicht-normativer" Lebensentwürfe in der Gesellschaft wird in Predigten und in entsprechenden Beiträgen auf allen verfügbaren Social-Media-Portalen immer wieder unterstrichen. Die zum Teil hasserfüllten Aussagen und Kommentare führen zu einer nicht endenden Spirale der Verunglimpfung queerer Menschen, aber auch generell zu Feindseligkeiten gegenüber der westlichen Welt und den sog. Ungläubigen (kuffar). Hierbei spielen sich entsprechende Diskussionen bundesweit keinesfalls nur online ab, sondern münden - durchaus im Wissen der Verantwortlichen - immer wieder in reale Ereignisse und insbesondere auch queerfeindliche Angriffe. So endete etwa ein islamistisch motivierter Messerangriff auf ein homosexuelles Paar im Oktober 2020 in Dresden tödlich, wobei es sich bei dem Beschuldigten um einen 21-jährigen islamistischen Gefährder handelte. Darüber hinaus finden sich in queer-feindlichen Beiträgen von Anhänger:innen der salafistischen Szene häufig Bezüge zu antisemitischen Verschwörungserzählungen, denen zufolge Homosexualität, aber etwa auch der Feminismus, ein angeblich von der "jüdischen Elite" verbreitetes "Übel" zur Schwächung der muslimischen Gemeinschaft sei. Die salafistische Szene in Bremen greift dieses Thema wiederholt auf und versucht, insbesondere auf Jugendliche und junge Erwachsene einzuwirken, indem behauptet wird, ISLAMISMUS 149 dass "queer sein" etwas Verbotenes, Schlechtes und Unnatürliches sei. Aufgrund der vorherrschenden Ablehnung und Abschottung gegenüber dem Staat ist die Aufklärung queer-feindlicher Bestrebungen innerhalb der salafistischen Szene für die Bremer Sicherheitsbehörden deutlich erschwert. Vor allem im Internet existieren zahlreiche islamistische Memes, in denen auf pseudohumoristische Weise versucht wird, queere Menschen verächtlich zu machen. Das LfV Bremen prüft grundsätzlich in Fällen mit Bremen-Bezug, ob der jeweilige Sachverhalt zur Bewertung einer potenziellen Strafbarkeit an die Polizei übermittelt werden kann und beobachtet den sich verschärfenden Exkurs weiterhin besonders aufmerksam. "Islamisches Kulturzentrum Bremen e.V." (IKZ) Der salafistische Moscheeverein "Islamisches Kulturzentrum Bremen e.V." ("IKZ") ist seit seiner Gründung im Jahr 2001 Anlaufstelle für Personen der salafistischen Szene in Bremen und aus dem gesamten Bundesgebiet. Die Predigten und Vortragsveranstaltungen werden durch das "IKZ" in den Räumlichkeiten am Breitenweg ausgerichtet. Das wöchentlich stattfindende Freitagsgebet wird in der Regel von 400 bis 500 Teilnehmer:innen besucht, welche größtenteils aus Nordund Ostafrika, dem Nahen Osten sowie dem Balkan stammen und darüber hinaus nahezu ausnahmslos Migrationsbiografien aufweisen. Die im "IKZ" abgehaltenen Predigten bestehen inhaltlich teilweise aus gemäßigten religiösen Themen, richten sich jedoch oftmals auch gegen zentrale Verfassungsgrundsätze und rufen zu einer bewussten Abund Ausgrenzung gegenüber Nichtmuslim:innen bzw. vermeintlichen "Ungläubigen" auf. Neben einer Ablehnung der westlichen Rechtsund Werteordnung belegen auch die Verbreitung antisemitischer Inhalte und die Propagierung der Ungleichwertigkeit der Religionen die islamistische Ausrichtung des "IKZ". Die Predigten offenbaren typische Wertevorstellungen und Feindbilder der salafistischen Ideologie und zielen darauf ab, bei den Zuhörenden ein Überlegenheitsgefühl hervorzurufen sowie Andersgläubige abzuwerten. So wurden beispielweise in einer Freitagspredigt der Staat Israel bzw. die jüdische Gemeinschaft als "Hunde" bezeichnet. Die Anhänger der Religionsgemeinschaft des Hinduismus wurden in einer weiteren Predigt als "Kuhanbeter" beschimpft. Auch Andersdenkende innerhalb der muslimischen Glaubensgemeinschaft werden durch die Akteure des IKZ wiederholt kritisiert und verleumdet. Diejenigen Muslim:innen, die ein von salafistischen Grundsätzen abweichendes Islamverständnis pflegen, seien in den Augen der Salafist:innen keine "wahren" Muslim:innen, sondern Heuchler:innen. Anhand der Abwertung von Andersgläubigen und von anderen Glaubensgemeinschaften verdeutlicht das "IKZ" sein extremistisches Islamverständnis. 150 ISLAMISMUS Wie auch in den Jahren zuvor fanden in den Räumlichkeiten des "IKZ" neben den Freitagspredigten auch eine Vielzahl von Vorträgen und Islamseminaren zu unterschiedlichen religiösen Themen statt. Die Zahl der Besucher:innen lag teilweise bei bis zu 300 Personen. Als Gastdozenten wurden regelmäßig überregionale Prediger eingesetzt, bei denen es sich mehrheitlich um prominente Akteure der salafistischen Szene handelte. Die Verantwortlichen des "IKZ" wählen sehr bewusst bekannte Prediger mit einer großen Social-Media-Reichweite, da sie sich davon einen verstärkten Zulauf eines sehr jungen Publikums versprechen und so die Möglichkeit erhalten, diesen Personenkreis an die Moschee heranzuführen bzw. auch zu binden. Weiterhin intensivierte das "IKZ" seine Vernetzung mit anderen salafistischen Moscheevereinen außerhalb Bremens, wodurch das "IKZ" zusätzlich die Aufmerksamkeit von Anhänger:innen der salafistischen Szene anderer Bundesländer gewinnen konnte. Dies wiederum verschaffte dem Verein mehr Einfluss auf die Szene und ihren Diskurs. Im Rahmen der Vernetzung treten Prediger des "IKZ" in anderen Moscheen, wie beispielweise der "Deutschsprachigen Muslimischen Gemeinschaft e.V." ("DMG") in Braunschweig, auf. Innerhalb der letzten Jahre hat sich die "DMG" zu einem wichtigen Flyer einer Vortragsveranstaltung deutschlandweiten Knotenpunkt der salafistischen Szene entwickelt im "IKZ" mit dem überregional und ist Vortragsort vieler bekannter salafistischer Prediger. Die bekannten salafistischen Prediger "Abul Baraa" offensichtliche Verbindung zwischen den beiden Moscheen sowie die Kooperation mit auswärtigen Szenegrößen ist eine relativ neue Entwicklung und von großer Relevanz bei den Aufklärungsbemühungen der Verfassungsschutzbehörden. Ein überwiegender Anteil der Seminare und Vortragsveranstaltungen im "IKZ" befasst sich mit religiösen Themen. Insgesamt wird auf extremistische Äußerungen in der Öffentlichkeit in der Regel verzichtet. So wurde 2023, wie bereits in den Vorjahren, eine Zurückhaltung in Bezug auf relevante Aussagen beobachtet, die vor dem Hintergrund verschiedener gerichtlicher Auseinandersetzungen von Vereinsfunktionären und Besuchern taktischer Natur sein dürfte. Ein regelmäßig im "IKZ" auftretender bundesweit aktiver Prediger der salafistischen Szene ist im Rahmen seines Vortrages durch eine homophobe und trans*feindliche Aussage aufgefallen und verunglimpfte queere Menschen als "üble Kreaturen". Die hierbei abermals klar zu Tage tretende "GläubigeUngläubige"-Zweiteilung sowie die daraus resultierende Abschottung von der Mehrheitsgesellschaft dominieren neben weiteren Inhalten immer wieder die salafistische Ideologie. ISLAMISMUS 151 Die Moschee hat ihre Onlineaktivitäten im Jahr 2023 weiter ausgebaut und professionalisiert. Die Präsenz auf unterschiedlichen Social-Media-Plattformen erreicht einen großen Adressat:innenkreis, insbesondere werden die jüngeren Generationen durch die professionell gestalteten Kurzvideos und Reels angesprochen. Die Videos werden zur Vermittlung von Glaubensinhalten genutzt und sollen durch die Anpassung an das Konsumverhalten von jüngeren Generationen insbesondere für diese attraktiv sein. Durch die zur Verfügung gestellte Live-Übertragung von Predigten und Seminaren aus dem Gebetsraum des "IKZ" ist die Zielgruppe zudem nicht primär auf Bremen beschränkt. Eine überregionale Nutzung des Onlineangebots der Moschee ist somit wahrscheinlich, allerdings nicht quantifizierbar. Für seine Anhänger:innen vor Ort bot das "IKZ", wie bereits in den letzten Jahren, auch 2023 Islamunterricht für Kinder unter Beachtung der Geschlechtersegregation an. Darüber hinaus veranstaltete der Moscheeverein weiterhin ein Freizeitprogramm für Kinder und Jugendliche, welches zunächst nicht primär religiös ausgerichtet ist. Es ist allerdings davon auszugehen, dass entsprechende Aktivitäten auch dazu genutzt werden, den Kindern und Jugendlichen salafistische Ideologiefragmente näherzubringen und sie mittelbis langfristig an das "IKZ" zu binden. Das "IKZ" betreut zudem eine hauseigene Bibliothek, die neben arabischsprachiger Literatur auch über eine große Anzahl an deutschsprachigen Büchern verfügt. Hierbei handelt es sich u. a. um salafistische Schriften oder Literatur salafistischer Autoren bzw. Verlage aus dem Inund Ausland. Die Bereitstellung solcher Bücher gehört zum missionarischen Konzept des "IKZ" und dient der Weiterverbreitung der salafistischen Ideologie. Im April 2021 verfügte die Bremer Innenbehörde die Ausweisung des Imams des "IKZ", u. a. mit der Begründung, dass er sich in seinen Predigten gegen die freiheitlichdemokratische Grundordnung wenden und die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden würde, indem er terroristische Vereinigungen unterstütze. Ferner habe er zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufgerufen. Der hiergegen gerichteten Klage des Imams gab das Bremer Verwaltungsgericht im Juli 2022 statt. Auf Antrag der Innenbehörde wurde die Berufung gegen diese Entscheidung durch das OVG Bremen zugelassen und das Verfahren war zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts weiter anhängig. 152 ISLAMISMUS 7.5 Legalistischer Islamismus Die Mehrheit der Islamist:innen in Deutschland lehnt die Anwendung von Gewalt zur Verwirklichung ihrer Ziele ab. Diese sog. legalistischen islamistischen Gruppierungen streben ihre extremistischen Ziele mithilfe politischer Mittel innerhalb der bestehenden Rechtsordnung an. Dabei verfolgen sie eine Doppelstrategie. Durch Lobbyarbeit versuchen sie, Einfluss auf Politik und Gesellschaft auszuüben und dabei als vermeintliche Repräsentant:innen der Menschen muslimischen Glaubens in Deutschland aufzutreten. Hierfür betreiben sie Kulturvereine und Moscheen, die sowohl der Mitgliederwerbung als auch der Verbreitung ihrer Ideologie dienen. Über ihre Dachverbände versuchen sie zudem, sich als Vertreter:innen aller Menschen muslimischen Glaubens beim Staat zu etablieren. Dabei präsentieren sie sich nach außen als offen, tolerant und dialogbereit, während innerhalb ihrer Organisationen weiterhin antidemokratische und totalitäre Tendenzen bestehen. Das zunächst vorrangige Ziel der Legalist:innen ist die Beeinflussung des Islamverständnisses der in Deutschland lebenden Muslim:innen in ihrem Sinne. Hierfür versuchen sie, sich in großen Teilen legitime Anliegen der muslimischen Gemeinschaft zu eigen zu machen und öffentlich dafür zu werben. Offen extremistische Forderungen treten hierbei zunächst in den Hintergrund. Langfristig streben sie allerdings die Unterwanderung staatlicher Institutionen und die Umgestaltung des demokratischen Rechtsstaats in einen nach ihrer Vorstellung "wahrhaft islamischen" Staat an. 7.5.1 Muslimbruderschaft Die Muslimbruderschaft ist die älteste und bekannteste Organisation des legalistischen Islamismus. Sie wurde 1928 von Hasan al-Banna (1906 - 1949) in Ägypten gegründet und expandierte seitdem in viele weitere Länder der muslimischen Welt. Die Mitglieder der Bruderschaft treffen sich in der Regel im Verborgenen und geben sich (je nach Land) nur selten offen als Muslimbrüder zu erkennen. Vor allem die führenden Mitglieder der Organisation verfügen seit jeher über höhere Studienabschlüsse und versuchen, nicht mit extremistischen Inhalten aufzufallen. Dies äußert sich in Europa u. a. durch das Tragen "westlicher" Kleidung und die Ausübung angesehener Berufe. Die Muslimbruderschaft strebt auf politischem Weg ein Staatssystem islamistischer Natur an, in dem elementare Grundrechte nicht mehr gewährleistet wären. Auch wenn ihr in Teilen der Wissenschaft ein pragmatisches Politikverständnis und die Fähigkeit zum ideologischen Wandel nicht abgesprochen wird, so zeigen Analysen von Aussagen und Publikationen ihrer führenden Vertreter:innen und Institutionen, dass das Religionsverständnis der Muslimbruderschaft nach wie vor erwiesenermaßen extremistisch ist. ISLAMISMUS 153 Insbesondere Frauen und religiöse Minderheiten wären in einem Staat nach den Vorstellungen der Muslimbruderschaft nicht gleichberechtigt. Zudem wäre das Recht auf freie Meinungsäußerung und die sog. negative Religionsfreiheit, d. h. das Recht, einem religiösen Bekenntnis nicht zu folgen, stark eingeschränkt. Auch würde das Recht auf körperliche Unversehrtheit aufgrund von der mittelfristigen Einführung von Körperstrafen verletzt. Im ägyptischen Mutterland stand die Bruderschaft seit ihrer Gründung in der Opposition zu den jeweils Herrschenden. Dies änderte sich erst nach dem Sturz Husni Mubaraks im Jahre 2011 und den Wahlen 2012. Mit Mohammed Mursi (1951 - 2019) kam ein Muslimbruder als erster demokratisch gewählter Präsident des Landes an die Macht. Nach nur einem Jahr wurde die Muslimbruderschaft Logo der Muslimbruderschaft bereits 2013 gestürzt. Tausende Anhänger:innen der Bruderschaft wurden seitdem in Ägypten inhaftiert. Da auch das formelle Oberhaupt der Muslimbruderschaft, der seit 2010 amtierende Muhammad Badie, aktuell in Ägypten inhaftiert ist, wird die Leitung der Organisation von untereinander zerstrittenen Büros außerhalb des Landes übernommen. Die Machtkämpfe zwischen dem Londoner Büro ("London Front") und dem Istanbuler Büro ("Istanbul Front") werden seitdem auch medienwirksam ausgetragen. Zuletzt schien sich jedoch die "London Front" durchzusetzen, nachdem am 4. November 2022 Ibrahim Munir, der Leiter der "London Front", verstarb, wurde im März 2023 Salah Abdel-Haq zum neuen Generalführer der Organisation benannt. Der sich noch in ägyptischer Haft befindliche Muhammad Badie bestätigte vor Gericht zwar, dass Salah Abdel-Haq die Organisation aktuell von London aus führe, Badie aber bis zu seinem Tod oder bis zu einer offiziellen Abberufung der oberste Führer bleibe. Aktivitäten von Sympathisant:innen der Muslimbruderschaft in Deutschland und Bremen In der Bundesrepublik tritt die Muslimbruderschaft nicht offen auf und verfolgt auch weniger stark ausgeprägt das Ziel der Errichtung eines islamischen Staates. Vielmehr steht die Beeinflussung muslimischer Bevölkerungsgruppen in ihrem Sinne im Vordergrund der Bemühungen. Darüber hinaus versucht die Muslimbruderschaft, sich als Interessenvertreterin für die Belange der Muslim:innen in ganz Europa zu inszenieren. Hierfür nutzt sie verschiedene Organisationen, wie z. B. "Council of European Muslims" (ehemals "Federation of Islamic Organizations in Europe"), die nach außen jede Verbindung zur Muslimbruderschaft abstreiten. In Deutschland gibt es zahlreiche Vereine, die der Muslimbruderschaft zugerechnet werden. Die bekannteste Organisation auf Bundesebene ist die "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e.V.", "DMG", (ehemals "Islamische Gemeinschaft in Deutschland"). 154 ISLAMISMUS Im Bundesland Bremen konnten bisher Einzelpersonen festgestellt werden, die mit der Muslimbruderschaft sympathisieren. Vor allem auf Social-Media-Plattformen lassen sich immer wieder Sympathiebekundungen verschiedenster Art für Ideologen der Muslimbruderschaft wie Sayyid Qutb (1906 - 1966) feststellen. Zwischen den Einzelpersonen bestehen teilweise Kennverhältnisse, es kann jedoch nicht von einer zusammenhängenden Gruppe gesprochen werden, die sich einer Moschee in Bremen zuordnen lässt. Da es sich bei der "HAMAS" im Gazastreifen um einen palästinensischen Ableger der Muslimbruderschaft handelt, beschäftigen sich auch die Bremer Anhänger:innen und Sympathisant:innen der Muslimbruderschaft mit den erneuten Eskalationen im Nahostkonflikt. So verherrlichte beispielsweise ein Bremer Anhänger der Muslimbruderschaft die Terroranschläge gegen Israel vom 7. Oktober 2023 auf der SocialMedia-Plattform Facebook und rief u. a. zur gewaltsamen Eroberung Jerusalems auf und verunglimpfte Menschen jüdischen Glaubens. Das Beispiel verdeutlicht auch den Unterschied zwischen reinen Sympathisant:innen auf der einen Seite, die sich offen im Sinne extremistischer Gruppierungen äußern, und den echten Vollmitgliedern der Muslimbruderschaft auf der anderen Seite, die sich im Verborgenen für die Organisation engagieren, taktisch vorgehen und ihre Sympathien für Terrorakte nicht öffentlich zur Schau stellen. Darüber hinaus existieren Bezüge in das Bremer bzw. Bremerhavener Umland, d. h. die Sympathisant:innen der Muslimbruderschaft agieren über die Landesgrenzen Bremens hinaus und vernetzen sich. Es handelt sich bei diesen Personen zu einem überwiegenden Teil um vermeintlich gut integrierte Akademiker:innen mit gefestigten bürgerlichen Lebensentwürfen. Das ist insofern bedeutsam, da es zur Strategie der Muslimbruderschaft gehört, sich über angesehene Berufsgruppen Zugang zu gesellschaftlichen Schlüsselpositionen zu verschaffen und darüber Einfluss zu nehmen. Außerdem erreicht die im Vergleich zum Salafismus tendenziell intellektuell anspruchsvollere Ideologie der Muslimbruderschaft einen eher gebildeteren Personenkreis und ermöglicht damit ein subtileres Vordringen in muslimische bzw. nichtmuslimische Bereiche der westlichen Gesellschaft. Erkenntnisse aus den sozialen Medien belegen, dass sich die Bremer Sympathisant:innen der Muslimbruderschaft oft auch für salafistische Inhalte interessieren. Teilweise besuchen sie sogar salafistische Vereine, wie etwa das "IKZ". ISLAMISMUS 155 7.5.2 "Hizb ut-Tahrir" Die "Hizb ut-Tahrir" (HuT - "Partei der Befreiung") wurde 1953 von Taqi ad-Din al-Nabhani (1909 - 1977), einem palästinensischen Islamgelehrten, Richter und Autor gegründet. Sie ist eine islamistische Organisation, die länderübergreifend agiert. Die "HuT" versteht den Islam als politisches System und wirbt für die Herstellung eines weltumspannenden Kalifats. Die Vorstellung der "HuT" eines solchen Systems ist mit den Werten einer modernen Demokratie unvereinbar. Die "HuT" selbst bezeichnet die Demokratie offen als "System des Unglaubens" und Wahlen als nicht mit dem Islam verLogo der "Hizb ut-Tahrir" einbar. Sie vertritt somit klassisch-islamistische Positionen und ist in einer ganzen Reihe von Staaten, darunter auch in den meisten des Nahen und Mittleren Ostens, verboten. Aktivitäten von Sympathisant:innen der "Hizb ut-Tahrir" in Deutschland und Bremen Aufgrund ihrer Befürwortung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Belange, ihres ausgeprägten Antisemitismus und des Verstoßes gegen den Gedanken der Völkerverständigung folgte auch in Deutschland im Jahre 2003 ein Verbot durch das BMI. Die "HuT" wirbt dennoch vor allem über das Internet für ihre politischen Ziele und ist fortwährend bestrebt, ihre Anhängerschaft zu vergrößern und ihre Ideologie unter gemäßigten Muslim:innen weltweit zu verbreiten. In Deutschland bildeten sich nach dem Verbot auf Social-Media-Plattformen Gruppierungen, die eine ideologische Nähe zur "HuT" aufweisen und durch öffentlichkeitswirksame Aktionen auffallen. Hierzu zählen u. a. die Gruppen "Realität Islam", "Generation Islam" und "Muslim Interaktiv". Vor allem junge Muslim:innen können dabei als Zielgruppe der Propaganda ausgemacht werden. Die Gruppierungen versuchen, über verschiedene realweltliche aber auch online stattfindende Veranstaltungen Interessierte gezielt anzusprechen und durch den Aufbau freundschaftlicher Beziehungen potenzielle Sympathisant:innen sukzessive an die Ideologie heranzuführen. Diese Aktivitäten beziehen sich sehr häufig zunächst auf religiöse und weltanschauliche Inhalte, um so den Extremismusbezug zu verschleiern. Politische Themen werden in Social-Media-Beiträgen stets im Sinne der Ideologie stark vereinfacht und sehr einseitig dargestellt. Schwarz-Weiß-Denken und klare Freund-Feind-Schemata dominieren dabei die Veröffentlichungen. Speziell die Beiträge in deutscher Sprache versuchen, das Bild zu vermitteln, "der Westen" würde pauschal "die Muslime" unterdrücken und assimilieren. Die "HuT" ist bemüht, ihr Ziel der Errichtung eines Kalifats als "Lösung" 156 ISLAMISMUS für alle tatsächlichen wie vermeintlichen Probleme der heutigen Welt zu bewerben und sieht dabei die Muslim:innen in einer weltweiten Opferrolle, die nur durch die Errichtung des Kalifats beendet werden könne. Bundesweit sorgten im Jahre 2023 vor allem zwei Demonstrationen "HuT"-naher Gruppen für großes mediales Aufsehen. So kam es zunächst im Februar 2023 nach Koranverbrennungen in Dänemark und Schweden zu einer Demonstration mit 3500 Teilnehmenden in Hamburg. Als Organisatoren traten dabei Mitglieder der als "HuT"nah zu bewertenden Gruppe "Muslim Interaktiv" auf. Nach den Terroranschlägen der "HAMAS" auf Israel im Oktober 2023 kam es wiederum zu einer Demonstration in Essen mit rund 3.000 Teilnehmenden, die sich zum Teil direkt "HuT"-nahen Gruppen zuordnen ließen. So handelte es sich bei dem Hauptredner der Veranstaltung um den Berliner Ahmad Tamin, der als einer der Sprecher der "HuT"-nahen Gruppe "Generation Islam" bekannt ist. Die bei der Demonstration gezeigten Plakate mit Parolen wie "Das Kalifat ist die Lösung" weisen diese klar als Propaganda der "HuT" aus. Dem LfV ist bekannt, dass an der Demonstration in Essen mindestens ein "HuT"-Sympathisant aus Bremen teilgenommen hat. Er und seine Bezugspersonen zeigen ihre Sympathie auf Social-Media-Plattformen und teilen in Videos, Story-Beiträgen, Reels und sonstigen Postings Propaganda der "HuT". 7.5.3 "Saadet Partisi" Die "Saadet Partisi" ("SP", "Partei der Glückseligkeit") bildet in der Türkei den politischen Ableger der islamistischen "Milli Görüs"Bewegung, welche auf die Ideologie des türkischen Politikers Necmettin Erbakan zurückgeht. Die "SP" unterhält im Ausland Vertretungen, u. a. auch in Deutschland. Die Europazentrale ist in Köln angesiedelt. Die Anhängerschaft der "SP" bezieht sich in ihren öffentlichen Verlautbarungen regelmäßig auf die Weltanschauung Logo der "Saadet Partisi" (SP) Necmettin Erbakans oder teilt in den sozialen Medien Beiträge des aktuellen Vorsitzenden der "SP", Temel Karamollaoglu. Im Wesentlichen wird die menschengemachte, weltliche Gesetzgebung abgelehnt und die Notwendigkeit einer auf islamischen Grundsätzen und göttlicher Offenbarung basierenden "Gerechten Ordnung" betont. Diese Anschauung findet sich auch in der öffentlichen Darstellung der Bremer "SP" wieder. Sie widerspricht hierbei eindeutig wesentlichen Aspekten des Demokratieund Rechtsstaatsprinzips. Die Durchsetzung dieses Ziels solle gemäß Erbakan stets mit einer milli görüs ("Nationalen Sicht") vorangetrieben werden. ISLAMISMUS 157 Aktivitäten von Sympathisant:innen der "SP" in Bremen In Bremen stellt der "Saadet Bremen e.V." die hiesige Zweigstelle der "SP" dar, welcher in etwa 35 Anhänger:innen zuzurechnen sind. Während der Corona-Pandemie fanden diverse Veranstaltungen der Bremer "SP" in digitaler Form statt. In den vergangenen Jahren führten Bremer "SP"-Angehörige wieder regelmäßige Präsenzveranstaltungen und gemeinsame Sitzungen durch. Darüber hinaus nahmen hiesige "SP"-Akteur:innen an überregionalen Netzwerktreffen teil. Die Bremer "SP" unterhält diverse Social-Media-Accounts, welche sich zusätzlich in Jugendund Frauenbereiche unterteilen. In den dort geteilten Beiträgen lassen sich regelmäßig Bezüge zu Necmettin Erbakan sowie Zitate des Parteivorsitzenden Temel Karamollaoglu finden. Einzelne Bremer "SP"-Anhänger:innen überschreiten mit den Inhalten ihrer Social-Media-Beiträge die Grenze zu israelbezogenem Antisemitismus. Diese Überschreitung kann auch in Beiträgen festgestellt werden, welche im Kontext zu dem Angriff der "HAMAS" auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem sich in der Folge zuspitzenden Nahostkonflikt stehen. Einzelne solcher Beiträge beinhalten einen direkten Bezug zur Terrororganisation "HAMAS" oder verharmlosen den Angriff indirekt. So teilt ein Bremer SP-Sympathisant beispielsweise Beiträge, die den Sprecher der AlQassam-Bridagen, Ebu Ubeyde oder auch Abu Obeida, zeigen bzw. diesen zitieren. Bei den Al-Qassam-Bridagen handelt es sich um den militärischen Arm der "HAMAS". In einem dieser geteilten Beiträge wird beispielsweise die Äußerung getätigt, dass diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen seien, die "unser Land besetzt" hätten und dass Gott diejenigen zur Rechenschaft ziehen werde, welche "zu dieser Besetzung und Unterdrückung schweigen". Im Mai 2023 fanden in der Türkei die Parlamentsund Präsidentschaftswahlen statt, an welchen die "SP" nicht eigenständig, jedoch als Teil des oppositionellen "Bündnis der Nation" unter Führung der "CHP" ("Cumhuriyet Halk Partisi" - Republikanische Volkspartei) teilnahm. Die in Deutschland lebenden, wahlberechtigten Personen hatten die Möglichkeit, sich in regionalen Wahllokalen an den Präsidentschaftswahlen zu beteiligen, so auch im Bundesland Bremen (siehe dazu auch Seite 8.2, "Türkischer Rechtsextremismus"). 7.5.4 Legalistischer schiitischer Islamismus Auch im schiitischen Islamismus existieren neben gewaltorientierten auch legalistische Strömungen. Das LfV Bremen beobachtet diese Bestrebungen, die ihren Ursprung mehrheitlich im Iran haben. In den Jahren 1978 und 1979 kam es dort zu einer islamischen Revolution, die von Ayatollah Ruhollah Khomeini angeführt wurde. Das Ergebnis 158 ISLAMISMUS war die Gründung der bis heute bestehenden Islamischen Republik Iran. Die theokratische Ordnung des Landes sieht vor, dass der Staat sich auf Gott gegebene Gesetze und dadurch einzig auf dessen vermeintlichen Willen beruft. Zwar tritt als Repräsentant der Republik und gleichzeitig als Verantwortlicher vor dem Volk Ebrahim Raisi als Präsident in Erscheinung, jedoch bleibt der oberste Religionsgelehrte Ayatollah Ali Khamenei als Vertreter des zwölften Imams die wichtigste Person im Iran. Die Basis dafür ist das von Khomeini etablierte Prinzip der "velayate faqih" ("Herrschaft der Rechtsgelehrten"). Es verleiht dem obersten Religionsgelehrten, also Khamenei, eine herausragende Stellung, wodurch es ihm obliegt, über die Richtlinien von grundlegenden politischen Entscheidungen zu entscheiden. Dem Klerus (den Geistlichen) sichert dies die absolute Macht im Iran. Eine "Gottesherrschaft" steht im direkten Widerspruch zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung. In seiner Außenwirkung strebt der Iran eine Islamisierung der westlichen Nationen, auch "Export der islamischen Revolution" genannt, an und verfolgt dabei eine antiisraelisch und generell antiwestlich ausgerichtete Politik. Die iranische Staatsdoktrin erhebt für sich einen Absolutheitsanspruch, der keinen Raum für ein liberales Wertesystem lässt. Deutlich ist dies vor allem daran zu erkennen, mit welcher Härte das iranische Regime mit Oppositionellen umgeht. So wurden die Proteste gegen die Ermordung der jungen Frau Mahsa Amini durch die iranische Polizei Ende 2022 blutig niedergeschlagen. Die Propaganda des iranischen Staatsapparats zielt darauf ab, die in Deutschland lebenden Muslim:innen auf die verfassungsfeindlichen islamistischen Rechtsnormen einzuschwören. Dadurch sollen wesentliche Grundpfeiler liberaler Demokratien unterminiert und desintegrative sowie antisemitische Überzeugungen geschürt werden. Entsprechend werden extremistische Bestrebungen von Anhänger:innen des iranischen Regimes durch das LfV Bremen, nicht nur vor dem Hintergrund der aktuellen Eskalation im Nahostkonflikt, aufmerksam beobachtet. Wie sehr die Anhänger:innen des schiitischen Islamismus auf einer Linie mit der Doktrin des iranisches Regimes sind, zeigt das Beispiel des 2023 erlassenen Todesurteils gegen den Deutsch-Iraner Jamshid Sharmahd in Teheran wegen Terrorismusvorwürfen. Der vom iranischen Regime inszenierte Schauprozess gegen den Oppositionellen sowie das Urteil wurden seitens schiitischer Islamist:innen in Deutschland als gerechtfertigt dargestellt und es wurde hinterfragt, warum die deutsche Regierung sich für einen "Terroristen" einsetze. Die Unmenschlichkeit der Todesstrafe und das autoritäre Vorgehen der iranischen Führung wurden hier ausgeblendet. Am 16. November 2023 wurden im Verein "Islamisches Zentrum Hamburg e.V." (IZH) sowie möglichen Teilorganisationen des IZH aufgrund eines vereinsrechtlichen Ermittlungsverfahrens des BMI Durchsuchungen durchgeführt. Es besteht der Verdacht, dass ISLAMISMUS 159 sich das IZH gegen die verfassungsmäßige Ordnung und gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet. Eine mögliche Unterstützung der Terrororganisation "Hizb Allah" wird ebenfalls geprüft. Die Durchsuchungen erfolgten in 54 Objekten, die auf sieben Bundesländer verteilt waren. Das IZH gilt neben der iranischen Botschaft als wichtigste Vertretung des Iran in Deutschland und fungiert als dessen Propagandazentrum in Europa. Aus der Vergangenheit sind auch Bezüge des in Bremen inzwischen verbotenen Vereins "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." zum IZH bekannt. Aus der schiitisch-islamistischen Szene waren im Anschluss Solidaritätsbekundungen zu vernehmen, die die Durchsuchungen als Angriff auf die Schiit:innen und Muslim:innen in Deutschland im Allgemeinen bewerteten. Zusätzlich wurden die Maßnahmen der Sicherheitsbehörden so dargestellt, als seien sie von Israel selbst diktiert worden. Die Rechtsstaatlichkeit, Gewährleistung der Religionsfreiheit sowie die Gewährung von demokratisch verbrieften Rechten in Deutschland wurden in diesem Zusammenhang seitens der schiitisch-islamistischen Unterstützungsszene massiv angezweifelt. Es wurde zudem behauptet, dass "das Regime" in Deutschland zukünftig Personen, die von der Meinung des "Mainstreams" abweichen, mit Konsequenzen drohen würde. Dies sei aus Sicht der schiitischen Islamist:innen bereits sowohl im Hinblick auf den Ukraine-Krieg, Corona und Israel der Fall. Die Äußerungen zielen darauf ab, in der schiitisch-islamistischen Szene und darüber hinaus das Vertrauen in den Rechtsstaat zu untergraben und den Eindruck zu erwecken, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland unterbunden würde. Anhängerschaft des iranischen Regimes in Bremen und Umgebung Für das LfV Bremen steht bei der Beobachtung u. a. ein norddeutsches schiitischislamistisches Netzwerk mit Bezügen nach Bremen im Fokus. Das Ziel des Netzwerkes ist es, die Ideologie des iranischen Regimes, welche von Feindbildern durchzogen ist, zu verbreiten. Durch das stetige Aufzeigen der vermeintlichen "Feinde" und "Bedrohungen" für die Gesellschaft und besonders für die Muslim:innen in Deutschland wird Verunsicherung oder gar Hass geschürt. Beispielhaft können der "Apartheidstaat" Israel, die USA, sunnitisch-arabische Regime wie zum Beispiel Saudi-Arabien oder die LGBTQIA+-Bewegung als Feindbilder benannt werden. Im Berichtsjahr wurde das besagte Netzwerk außerdem um eine Jugendgruppe in Bremerhaven erweitert, die Bezüge zu bundesweit bekannten schiitischen Islamist:innen aufweist. Die Veranstaltungen entfalteten ihre Wirkkraft auch über die Grenzen Bremens hinaus. Eine neuere Entwicklung zeichnet sich dadurch aus, dass die norddeutsche schiitischislamistische Szene in Teilen Annäherungsversuche mit Rechtspopulist:innen oder Akteur:innen aus dem Spektrum der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates vornimmt (siehe Kapitel 3 "Rechtsextremismus" und Kapitel 5 "Verfassungs- 160 ISLAMISMUS schutzrelevante Delegitimierung des Staates"). Über eigens betriebene Internetforen, Kanäle auf "Youtube" sowie soziale Netzwerke wird eine Propaganda verbreitet, die von staatssowie LGBTQIA+und transfeindlichen Ideologiefragmenten durchzogen ist. Geeint sind die Akteure in ihrer Abneigung gegenüber dem "Mainstream" und der vermeintlich nicht gewährleisteten Meinungsfreiheit in Deutschland. Ein Schulterschluss zwischen den Phänomenbereichen bedeutet unter Umständen eine Vergrößerung des erreichbaren Personenspektrums, gegenseitiger "Ideologietransfer" und eine Bestärkung in der jeweils staatsablehnenden Haltung. 161 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Spionageabwehr Unterstützungsaufgaben des LfV 162 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 8 Auslandsbezogener Extremismus Allgemein Die extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug in Deutschland sind stark von Ereignissen und Entwicklungen in ihren Herkunftsländern abhängig. Im Gegensatz zu islamistischen Organisationen orientieren sie sich überwiegend nicht an einer religiöspolitischen Weltanschauung, sondern an weltlichen, politischen Ideologien, auch wenn in Einzelfällen eine gewisse Nähe zu religiösen Überzeugungen bestehen kann. Die Zielrichtungen von extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug lassen sich im Wesentlichen unterteilen in linksextremistische, nationalistische bis nationalistisch-religiöse und ethnisch motivierte Autonomieund Unabhängigkeitsbestrebungen. Die extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug agieren nicht autark, sondern meistens als Teil einer "Mutterorganisation" im Herkunftsland oder sind zumindest ideologisch eng mit einer solchen verbunden. Hierbei ist der Grad der Einflussnahme bzw. Steuerung durch die "Mutterorganisationen" unterschiedlich stark ausgeprägt. Viele extremistische Organisationen mit Auslandsbezug sind bestrebt, ihre Ziele nicht durch offene Agitationen gegen die verfassungsmäßige Ordnung zu erreichen, sondern sich dieser vordergründig sogar unterzuordnen, um ungestörter auch in der Bundesrepublik agieren zu können. Diese Anstrengungen gehen teilweise so weit, dass durch Verantwortliche der jeweiligen Organisationen dazu aufgerufen wird, sich nicht nur unauffällig und gesetzeskonform zu verhalten, sondern auch über vermeintlich demokratisch legitimierte Organisationen bzw. die Unterwanderung tatsächlich demokratischer Organisationen gezielt Einfluss zu nehmen. Hierbei erfolgt keineswegs eine Abkehr von der eigenen, nicht mit der deutschen Verfassung in Einklang zu bringenden, Ideologie der jeweiligen extremistischen Organisation. Durch die gezielte Einflussnahme über demokratische Organisationen soll vielmehr der Eindruck einer mutmaßlichen Verfassungstreue erweckt und gezielt Lobbyarbeit für die eigentlichen, extremistischen Ziele betrieben werden, ohne dass eine tatsächliche und offene Hinwendung zur demokratischen Zivilgesellschaft erfolgt oder beabsichtigt ist. Diese Strategien entsprechen häufig denen der sog. "legalistischen" Organisationen im Islamismus (vgl. Kapitel 7.5). Gesellschaftliche und politische Konflikte aus anderen Teilen der Welt können durch Migration importiert werden. Von der Finanzkraft der hier lebenden und arbeitenden Ausländer:innen sowie Menschen mit Migrationshintergrund profitieren auch extre- AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 163 mistische Organisationen in den Heimatländern. Vielfach gründeten sie "Exilvereine" in Deutschland. Heute ist Deutschland für extremistische Organisationen mit Auslandsbezug in unterschiedlicher Intensität ein Rückzugsund Rekrutierungsraum und dient ihnen zur Beschaffung von Material und finanziellen Mitteln, die sowohl auf legale als auch auf kriminelle Art und Weise akquiriert werden. Zu den Aufgaben des Landesamts für Verfassungsschutz Bremen gehört u. a. die Beobachtung von Bestrebungen, die auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland durch Gewalt gefährden. Hiervon ist auszugehen, wenn ausländische Gruppierungen aus Deutschland heraus gewaltsame Aktionen im Heimatstaat unterstützen, etwa durch Aufrufe zur Gewalt oder durch logistisch-finanzielle Hilfe. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung wird durch entsprechende Bestrebungen mit Auslandsbezug z. B. dann gefährdet, wenn Kaderstrukturen aufgebaut, demokratische Prinzipien in Deutschland außer Kraft gesetzt bzw. demokratische Strukturen gezielt unterwandert werden, um die jeweiligen Positionen in den politischen Willensbildungsprozess einzubringen. Im Jahr 2023 umfasste das extremistische Personenpotenzial mit Auslandsbezug in Bremen rund 1.000 Personen, wobei die Gruppierungen aus verschiedenen Herkunftsländern stammen. Organisationen bzw. Personengruppen, die im Bereich des auslandsbezogenen Extremismus aufgrund des vorhandenen Personenpotenzial von hervorgehobener Bedeutung sind, sind die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die rechtsextremistische türkische "Ülkücü"-Bewegung. Aufgrund der bereits im Kapitel zum Islamismus thematisierten Eskalation im kriegerischen Konflikt zwischen dem Staat Israel und der "HAMAS" werden im Folgenden neben diesen beiden Organisationen auch relevante Akteure des auslandsbezogenen Extremismus im Kontext des Nahostkonflikts betrachtet. Antisemitismus im auslandsbezogenen Extremismus Der Verfassungsschutz arbeitet mit der 2017 von der "Internationalen Allianz für HolocaustGedenken" (IHRA) entwickelten Arbeitsdefinition: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen1 und / oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein." (BT-Drs. 19/444, Bremische Bürgerschaft Drs. 19/1808). 1 Hiermit sind Personen gemeint, die fälschlicherweise für Juden gehalten werden oder jüdische Personen / Gemeinden unterstützen. 164 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS Eine Erscheinungsform des "Antisemitismus" stellt der "Antizionismus" dar, der auf eine vollständige Beseitigung des Staates Israel abzielt. Der Begriff Zionismus bezeichnete im 19. Jahrhundert das politische Streben nach der Errichtung eines eigenen Nationalstaates für alle Jüd:innen. Seitdem im Jahr 1948 der Staat Israel gegründet wurde, werden unter dem Begriff Zionismus alle Bestrebungen für den Erhalt und Ausbau dieses Staates verstanden. Der "Antizionismus" richtet sich somit gegen die Existenz des Staates Israel und umfasst dementsprechend alle Handlungen und Aussagen, welche diese Existenz ablehnen oder gefährden.2 Antisemitismus ist im auslandsbezogenen Extremismus in Deutschland vor allem in den Bereichen des türkischen Rechtsextremismus sowie bei extremistischen Palästinenser:innen feststellbar. In anderen Bestrebungen des auslandsbezogenen Extremismus ist der Antisemitismus hingegen kein ideologisches Merkmal, da dort andere Feindbilder vorherrschen. Im Bereich des türkischen Linksextremismus lassen sich mitunter israelkritische Aussagen vernehmen, welche jedoch auf den Territorialkonflikt von Israel und Palästina abzielen anstatt sich auf Religion oder Ethnie von Jüd:innen zu beziehen.3 In der türkisch rechtsextremistischen "Ülkücü"-Bewegung stellt der Antisemitismus ein Kernelement der Ideologie dar, auch wenn dieser nicht von allen Anhänger:innen offen ausgelebt wird. Auch in Schriften ideologischer Vordenker der "Ülkücü"-Bewegung werden rassistische und antisemitische Elemente offenbar. Im Bereich des säkularen pro-palästinensischen Extremismus bezieht sich der Antisemitismus vor allem auf den Territorialkonflikt mit dem Staat Israel, dabei wird Israel oft mit "den Juden" gleichgesetzt. So wird beispielsweise das Existenzrecht Israels negiert, die Beseitigung Israels und stattdessen die Errichtung eines palästinensischen Staates innerhalb der Staatsgrenzen Israels angestrebt, in welchem jüdische Menschen keine Existenzberechtigung hätten oder zu Bürgern zweiter Klasse degradiert würden. enn sich jemand in mein ark ettigi er Umge mde bung Das LfV Bremen veröffentlichte im November 2023 den Landesamt IKI SEHIR. für Verfas brymn TEK EYALET - . .brymrhfnwly@ wHd@ .mdyntyn oruma Teskilatina Informationsflyer "Antisemitismus im Kontext des enannten isminizi Rufnumbelirtm Selbstverstä agindan eden ndlich kuskun erfassungssc ciligin tersine uz hutz , adli altschaft, einem bk asi radika lizmi icinde calisir tionsange y Nahostkonfliktes", in welchem eingeordnet wird, ab boten im Bedarf weiterver.fy ukn Thema? Bremen wann Kritik am Staat Israel in Antisemitismus assungsschut z- tHt ruma Rücksiniz: aten umschlägt. Dieser ist sowohl in deutscher Sprache als AN TIS EM ymn 'ly@ .tly@ OR TAD fy syq OG m`d@ lsmy@shrq 'lwsT CAT ISM U'D AK I auch auf Türkisch und Arabisch auf der Webseite des IM KO NT ITIS MU S NA HO STEXT DES Sr` fy l l AN TIS EMALA R BAG LAM KO NFL mktb lqlymy ÄdegTÄdegZ M IND A IKT S THE MEN khS mn l ANAYAS u yWb FÜR VER HEF T VOM LAN DES uktHmy@ ldstwr AYI BILG ILEN KOR UM A TES l DIRM E KILATINI LfV Bremen abrufbar. FAS SUN AMT GSS CHU BRO SÜR N TZ Ü 2 Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz: "Antisemitismus im Islamismus", Juni 2019, Seite 5, 8-13, abrufbar unter www.verfassungsschutz.de 3 Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz: "Lagebild Antisemitismus 2020/21", Stand April 2022, Seite 94-95, abrufbar unter www.verfassungsschutz.de AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 165 8.1 Globale Entwicklungen im Auslandsbezogenen Extremismus Angriff der "HAMAS" auf Israel am 7. Oktober 2023 und seine Auswirkungen Die Bearbeitung des auslandsbezogenen Extremismus wurde im Berichtsjahr 2023 auch durch den kriegerischen Konflikt zwischen dem Staat Israel und der islamistischterroristischen "HAMAS" geprägt. Am 7. Oktober 2023 begann die Terrororganisation "HAMAS" einen großangelegten Angriff auf den Staat Israel aus dem Gazastreifen heraus. Dabei kam es zu Raketenangriffen und dem Durchbrechen des Grenzzaunes zum Gazastreifen, infolgedessen zahlreiche Kämpfer der "HAMAS" auf das Staatsgebiet Israels vordrangen und in nahegelegenen Orten mehr als 1.200 Personen töteten und über 200 Menschen, darunter viele Zivilist:innen, in den Gazastreifen entführten. Durch die israelische Regierung wurde am folgenden Tag der Kriegszustand ausgerufen, anschließend begann am 28. Oktober 2023 eine Bodenoffensive der israelischen Streitkräfte gegen die "HAMAS". In der Folge kam es auch in Deutschland und Bremen zu mehreren propalästinensischen Demonstrationen, an denen verschiedene Akteur:innen des auslandsbezogenen Extremismus beteiligt waren (siehe Kapitel 8.2.3). Im Zuge einer siebentägigen Waffenruhe zwischen Israel und der "HAMAS" konnte Ende November ein Austausch von israelischen Geiseln gegen palästinensische Gefangene durchgeführt werden. Im Verlauf des kriegerischen Konfliktes kam es im Gazastreifen zu einer hohen Anzahl palästinensischer Todesopfer sowie zu Todesfällen israelischer Soldaten (vgl. Kapitel 7.1). Erdbeben in der Türkei Am 6. Februar 2023 erschütterte die Türkei und Syrien ein Erbeben, in dessen Folge über 50.000 Menschen starben und Millionen Bürger:innen obdachlos wurden. Unter den vom Erbeben betroffenen Gebieten befanden sich auch kurdisch geprägte Regionen. Aufgrund dessen wurden im Februar 2023 sämtliche militärische Aktionen der PKK vorerst eingestellt. In den darauffolgenden Monaten wurden keine Angriffe seitens der PKK in den umkämpften Regionen in Syrien ausgeführt. Aufgrund der anhaltenden türkischen Angriffe auf Stellungen der PKK im Kandil-Gebirge wurde die Feuerpause im Juni 2023 für beendet erklärt. Türkische Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 Im Mai 2023 wurden in der Türkei die Parlamentsund Präsidentschaftswahlen ausgetragen. Die Wahlen wurden durch das Erdbeben im Februar 2023 geprägt, da auf- 166 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS grund dessen die Stimmabgabe in den betroffenen Regionen erschwert und nur bedingt realisierbar war. Die Möglichkeit der Briefwahl bestand in der Türkei nicht, Wähler:innen mussten in den Orten ihres offiziellen Wohnsitzes in entsprechenden Wahllokalitäten ihre Stimmen abgeben. Viele Bewohner:innen waren zu diesem Zeitpunkt bereits gezwungen gewesen, die zerstörten Regionen zu verlassen und konnten eine Anreise zur Stimmenabgabe nicht bewerkstelligen. Im ersten Wahlgang am 14. Mai 2023 konnten weder das Parteienbündnis "Volksallianz" 4, mit dem bisherigen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan, noch das Bündnis "Allianz der Nation"5 um Erdogans Herausforderer Kemal Kilicdaroglu die erforderliche absolute Mehrheit für sich erringen. Während das Bündnis "Volksallianz" u. a. aus der bis dato türkischen Regierungspartei "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung" (AKP)6, der rechtsextremen "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP)7 und der islamisch-nationalistischen "Partei der Großen Einheit" (BBP)8 bestand, setzte sich die "Allianz der Nation" u. a. aus der größten Oppositionspartei, der kemalistisch-sozialdemokratischen "Republikanische Volkspartei" (CHP)9, der nationalistischen "Gute Partei" (IYI)10 und der islamischen "Partei der Glückseligkeit" (SP)11 (Vgl. Kapitel 7.5.3) zusammen. Die kurdische "Demokratische Partei der Völker" ("Halklarin Demokratik Partisi", HDP) verzichtete auf einen eigenen Kandidaten und unterstützte ebenfalls Kilicdaroglu. In der am 28. Mai durchgeführten Stichwahl wurde der amtierende Staatspräsident Erdogan mit gut 52 % der Stimmen für eine weitere Amtszeit bestätigt. Den in Deutschland lebenden, türkisch-stämmigen Wahlberechtigten war es im Vorfeld der Wahltermine in der Türkei möglich, ihre Stimmen in örtlich organisierten Wahllokalen innerhalb Deutschlands abzugeben. Auch in Bremen bestand so die Möglichkeit, sich in einem eingerichteten Wahllokal am ersten Wahlgang sowie der folgenden Stichwahl zu beteiligen. Wie schon im Nachgang der Präsidentschaftswahlen der Türkei im Jahr 2018 festzustellen war, sprach sich die Wählerschaft in Deutschland zu größeren Teilen für Erdogan und die AKP aus: Von den 1,5 Millionen wahlberechtigten Personen in Deutschland beteiligte sich insgesamt rund die Hälfte. Diese gaben mit einer deutlichen Mehrheit von ca. 67 % ihre Stimmen zugunsten Erdogans ab. 4 Türk. "Cumhur ittifaki" 5 Türk. "Millet Ittifaki" 6 "Adalet ve Kalkinma Partisi" AKP - "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung" 7 "Milliyetci Hareket Partisi" MHP - "Partei der Nationalistischen Bewegung" 8 "Büyük Birlik Partisi" BBP - "Partei der Großen Einheit" 9 "Cumhuriyet Halk Partisi" CHP - "Republikanische Volkspartei" 10 "Iyi Parti" IYI - "Gute Partei" 11 "Saadet Partisi" SP - "Partei der Glückseligkeit" AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 167 Auswirkungen des versuchten Selbstmordattentats vom 1. Oktober 2023 in Ankara Am 1. Oktober 2023 kam es in der türkischen Hauptstadt Ankara zu einem versuchten Selbstmordattentat durch zwei Kämpferinnen der PKK-Guerilla-Kampfeinheit HPG ("Hezen Parastina Gel"). Ursprünglich soll das Ziel der Attentäterinnen das türkische Innenministerium gewesen sein. Vor dem Gelände kam es jedoch zu einer bewaffneten Auseinandersetzung mit den örtlichen Sicherheitskräften. Die Angreiferinnen verstarben noch vor Ort, bevor sie ihr Ziel erreichen konnten. Zwei Polizeibeamte wurden durch den Schusswechsel leicht verletzt. Nachdem die PKK die Tat für sich reklamiert hatte, reagierte die Türkei mit intensiven Luftangriffen auf Ziele im Nordirak und in Nordsyrien (Militäroperation "Helden"). Im Fokus stand das Kandil-Gebirge, in dem sich die PKK-Führung aufhält. 8.2 Auslandsbezogener Extremismus und seine Auswirkungen in Deutschland und Bremen 8.2.1 "Arbeiterpartei Kurdistan" (PKK) Die 1978 von dem noch heute amtierenden PKK-Führer Abdullah Öcalan gegründete Organisation erhebt den Anspruch, alleinige Vertreterin aller Kurd:innen zu sein. Die Kurd:innen bilden eine ethnische Volksgruppe, die vorwiegend in der Türkei, jedoch auch im Irak, im Iran und in Syrien lebt. Während das anfängliche Ziel der Flagge der HPG PKK in der Errichtung eines kurdischen Nationalstaates bestand, kämpft sie nunmehr für die politisch-kulturelle Autonomie der Kurd:innen innerhalb des türkischen Staates. Hierfür unterhält sie die "Guerillaverbände der Volksverteidigungskräfte" (HPG). Das von Öcalan 2005 hierzu entwickelte Konzept sieht die Etablierung eines politisch-kulturellen Verbundes der in verschiedenen Staaten lebenden Kurd:innen vor. Der mit Unterbrechungen seit fast 30 Jahren geführte Guerilla-Kampf der PKK gegen den türkischen Staat wurde mit der Proklamation eines "einseitigen Waffenstillstands" durch PKK-Führer Öcalan im März 2013 vorerst beendet. Im Gegenzug wurde der türkische Staat u. a. aufgefordert, den Kurd:innen insbesondere die Gleichstellung als Staatsvolk, die Benutzung der kurdischen Sprache, etwa in Schulen, und mehr Selbstbestimmung in ihren Siedlungsgebieten einzuräumen. Seit die "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung" (AKP) bei den türkischen Parlamentswahlen im Juni 2015 die absolute Mehrheit verfehlte, ging der türkische Staat erneut härter gegen die PKK vor. In der Folge eskalierte der Konflikt wieder und beide Seiten kündigten die damals seit zwei Jahren währende Waffenruhe faktisch auf. 168 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS Politischer Arm in Syrien Die kurdische Partei "Partiya Yekitiya Demokrat" (PYD) wurde 2003 in Syrien gegründet und ist die dortige Zweigorganisation der PKK, wenngleich die offene Darstellung dieser Verbindung vermieden wird. Die PYD strebt die Autonomie der Kurd:innen in Syrien an und rief im Januar 2014 in drei von Kurd:innen dominierten Kantonen (Afrin, Kobane und Cizre) eine "Demokratische Autonomie" aus. Die PYD unterhält paramilitärische Einheiten, die sog. "Volksverteidigungseinheiten" (YPG / YPJ). In Europa organisiert die PYD insbesondere Protestveranstaltungen gegen Menschenrechtsverletzungen in Syrien. Die PKK in Deutschland und Europa Die PKK bildete auch im Jahr 2023 die größte Gruppe unter den ausländischen Extremist:innen in Deutschland. Die PKK ist in Deutschland seit 1993 aufgrund vielfältiger, teilweise gewaltsamer Unterstützungshandlungen ihrer hier lebenden Anhänger:innen für Flagge der PKK Nachfolgeorgadie Mutterorganisation verboten. Das Verbot bezieht sich auch auf nisation "KCK" (Koma Civaken Kurdistan) alle späteren Nachfolgeorganisationen mit unterschiedlichen Bezeichnungen. Zur Unterstützung ihrer Interessen in der Türkei ist die PKK in Europa durch den "Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft Kurdistan in Europa" (KCDK-E) vertreten. Einer der Vorsitzenden des KCDK-E war bis Juli 2023 der Bremer PKK-Funktionär Yüksel Koc. In ihrem als vermeintlich "gewaltfreiem Kampf" bezeichneten Vorgehen greift die Organisation auf legale und illegale Strukturen zurück. Regionale Kurdenvereine (sog. Basisvereine) dienen den Anhänger:innen als Informationsund Kommunikationszentren. Diese der PKK nahestehenden Vereine sind in Deutschland unter dem Dachverband der "Konföderation der Gesellschaften Kurdistans in Deutschland" (KON-MED) zusammengeschlossen. KON-MED gehören insgesamt fünf regionale Föderationen an. Für den norddeutschen Raum ist es die "Föderation der kurdischen Gemeinschaft in Norddeutschland" (FED-DEM). Im Juni 2023 fand in Bremen der fünfte FED-DEM Kongress unter der Beteiligung von Vertreter:innen aus dem gesamten norddeutschen Raum statt. Finanzierung der PKK Die von der PKK in der Türkei über Jahrzehnte geführten Kämpfe sowie ihre politische Arbeit in Europa erfordern erhebliche finanzielle Mittel. Die PKK finanziert sich in erster Linie durch Spenden, daneben auch aus Veranstaltungserlösen und dem Verkauf von Publikationen. Die PKK ruft jährlich zu einer groß angelegten Spendenkampagne auf, die sie "das Jährliche" nennt, und fordert von ihren Anhänger:innen eine konstante Steigerung der Spendeneinnahmen. AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 169 Die Höhe der Beiträge richtet sich nach dem Jahreseinkommen der jeweiligen Personen oder Unternehmen. Während von durchschnittlich verdienenden kurdischen Familien mehrere Hundert Euro verlangt werden, erwartet man von erfolgreichen Geschäftsleuten mehrere Tausend Euro. In Bremen konnten zuletzt Spenden in Höhe eines unteren bis mittleren sechsstelligen Betrages gesammelt werden. Laut Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz sammelte die PKK allein in Deutschland jährlich teilweise über 15 Millionen Euro. Die Einnahmen aus Spendengeldern in Deutschland hätten sich in den letzten zehn Jahren nahezu verdreifacht. Bemühungen zur Aufhebung des Betätigungsverbotes Nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 15. November 201812 entschieden hatte, dass die PKK zwischen 2014 und 2017 aufgrund einer nicht ausreichenden Begründung zu Unrecht auf der sog. EU-Terrorliste geführt wurde, wurde der Antrag auf rückwirkende Streichung der Listung seit 2002 hingegen zurückgewiesen. Im Übrigen befand der EuGH auch den seit 2019 neu gefassten Beschluss zur Listung der PKK als ausreichend begründet.13 Eine im April 2021 durch die PKK eingereichte Klage beim EuGH gegen die Aufführung auf der EU-Terrorliste wurde am 14. Dezember 202214 durch das Gericht abgewiesen. Die PKK verbleibt dadurch weiterhin rechtmäßig auf der EU-Terrorliste. Die PKK hat am 11. Mai 2022 beim Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) einen Antrag auf Aufhebung des gegen sie bestehenden Betätigungsverbots eingereicht, da es aus ihrer Sicht die kurdische Bewegung kriminalisiere. Im Antrag wird behauptet, die PKK beginge in Deutschland keine Straftaten mehr und stelle aufgrund dessen keine Gefahr für die innere Sicherheit dar. 2023 jährte sich das PKK Verbot zum dreißigsten Mal. Aus diesem Anlass wurden in Deutschland sowie vor deutschen Botschaften im europäischem Ausland Protestaktionen durchgeführt. In Berlin fand am 18. November 2023 eine Demonstration statt. Aktivist:innen reisten aus dem gesamten Bundesgebiet, darunter auch aus Bremen, an und forderten die Aufhebung des Betätigungsverbots. Im Verlauf der Demonstration kam es, aufgrund der Verbreitung verbotener Parolen und des Verdachts der Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole, zu vereinzelten Festnahmen. Demonstration zur Aufhebung des PKK-Verbots am 18.11.2023 Zudem ist es zu einem Angriff auf einen Polizeibeamten durch einen Demonstranten gekommen. 12 EuGH vom 15.11.2018, Az.: T-316/14 13 EuGH vom 15.11.2018, Az.: T-316/14 14 EuGH vom 14.12.2022, Az.: T-182/21 170 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS Unterstützung der PYD und PKK durch öffentliche Einrichtungen PKK und PYD nutzen ihre gesellschaftlichen und politischen Kontakte nach vorliegenden Erkenntnissen, um gezielt eigene Vertreter:innen in politischen und gesellschaftlichen Strukturen zu etablieren. Langfristige Ziele dieser Bemühungen sind die Aufhebung des PKK-Verbots, die Freilassung des PKK-Führers Öcalan und die Anerkennung der PKK als vermeintlich demokratische Vertretung aller Kurd:innen. Hierbei wird bewusst versucht, die streng hierarchische und antidemokratische Struktur der Kernorganisation zu verschleiern, um ihre Anschlussfähigkeit nicht zu gefährden. Aktivitäten von Anhänger:innen der PKK in Bremen Die kurdischen Extremist:innen stellen mit rund 650 Anhänger:innen auch in Bremen die mitgliederstärkste Gruppe unter den extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug dar. Sie organisieren sich überwiegend im "Verein zur Förderung demokratischer Gesellschaft Kurdistans" ("Birati e.V."), der als regionales Ausführungsorgan der PKK fungiert. In den 1990er-Jahren waren im Zusammenhang mit dem Verbot der PKK in Bremen vier "Unterstützervereine" sowie deren Nachfolgeorganisationen verboten worden. Die PKK-Anhänger:innen in Bremen gründeten jedoch jeweils unmittelbar nach den Verboten neue Vereine, die fortwährend vom LfV beobachtet werden. Vereinsstruktur in Bremen Der Verein "Birati e.V." nimmt als regionales Ausführungsorgan der PKK eine besondere Stellung ein, weil er zu den sog. Zentralvereinen gehört. Er bietet seinen Mitgliedern u. a. soziale und kulturelle Aktivitäten an. Die im Zusammenhang mit der PKK stehenden Gebäude des "Birati e.V." in Aktivitäten nehmen dabei großen Raum ein, so werden etwa Feiern Bremen zum Geburtstag Abdullah Öcalans oder zum Jahrestag des Beginns des bewaffneten Kampfes der PKK veranstaltet. Bisher wurde Deutschland vom politischen Arm der PKK intern in ca. 30 Gebiete unterteilt. In einem solchen Gebiet nimmt der jeweils bedeutendste kurdische Verein die Stellung eines "Zentralvereins" ein, alle anderen PKK-nahen Vereine sind meist abhängig von dessen Entscheidungen und Weisungen. In Bremen stehen z. B. der Verein "Förderung der kurdisch-islamischen Kultur e.V." (Trägerverein der "Saidi Kurdi Moschee") und der "Frauenrat Seve e.V." (ehemals "Internationale Fraueninitiative e.V.") in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Zentralverein "Birati e.V.". AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 171 Jedem Gebiet steht an der Spitze ein Führungsfunktionär vor. Die verantwortlichen Führungsfunktionäre, deren Tätigkeit in aller Regel zeitlich begrenzt ist, agieren zumeist konspirativ und leiten organisationsinterne Anweisungen und Vorgaben zur Umsetzung an nachgeordnete Ebenen weiter. Für die Umsetzung dieser Vorgaben nutzt die PKK überwiegend die örtlichen kurdischen Vereine, die den Anhänger:innen der Organisation als Treffpunkt und Anlaufstelle dienen. Diese Führungsfunktionäre werden regelmäßig wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung verurteilt (SSSS 129a, b StGB). Am 29. April 2022 wurde der zu diesem Zeitpunkt für das Gebiet Bremen zuständige Gebietsleiter, Özgür A., aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof, in Bremen festgenommen. Er wird dringend verdächtigt, sich als Mitglied für die ausländische terroristische Vereinigung PKK gemäß SS 129a Abs.1 Nr.1 i.V.m. SS 129b Abs. 1 StGB betätigt zu haben. Im November 2022 begann der Prozess vor dem Oberlandesgericht Koblenz. Der Vorwurf wurde im Mai 2023 durch das Oberlandesgericht Koblenz bestätigt. Özgür A. wurde zu einer fünfjährigen Haftstrafe aufgrund seiner Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung PKK verurteilt. Das Urteil ist inzwischen rechtskräftig. Am 7. Dezember 2022 wurde der ehemalige Gebietsleiter Mehmet C. wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung gemäß SS 129a Abs.1 Nr.1 i. V. m. SS 129b Abs. 1 StGB aufgrund eines europäischen Haftbefehls in Mailand (Italien) verhaftet. C. wird u. a. zur Last gelegt, die Gebietsleitung für das PKK-Gebiet Bremen von ca. Mitte 2019 bis Mitte 2021 wahrgenommen zu haben. In diesem Zusammenhang wurden in Bremen mehrere Objekte und Privatwohnungen durchsucht, wobei die Durchsuchungen nach SS 103 StPO bei Unverdächtigen erfolgten. Der Prozess gegen Mehmet C. wurde seit September 2023 vor dem Oberlandesgericht Celle verhandelt und im April 2024 abgeschlossen. Mehmet C. wurde zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Innerhalb der Vereinsstrukturen des Birati e.V. nimmt das "Volksparlament" bzw. der "Volksrat" eine zentrale Rolle ein. Die Einsetzung von "Volksräten" folgt einem von Öcalan 2005 entwickelten Konzept, das letztlich auf die Etablierung eines politischkulturellen Verbundes der in verschiedenen Staaten lebenden Kurd:innen abzielt, um die Mitbestimmung aller Kurd:innen zu gewährleisten. Tatsächlich erfolgt die politische Arbeit im "Volksrat" allerdings nicht nach demokratischen Regeln, sondern ist nach wie vor von autoritären Strukturen und Funktionär:innen der PKK geprägt. 172 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS Im Rahmen einer von der PKK-Führung beschlossenen und den Anhänger:innen vorgegebenen Umstrukturierung sind die bisherigen Vereine wie der "Birati e.V." in sog. "Zentren der demokratischen kurdischen Gesellschaft" (DKTM) umbenannt worden. Zudem wurden in Bremerhaven und mehreren Bremer Umlandgemeinden "regionale Volksparlamente" eingerichtet. Vertreter:innen dieser "regionalen Volksparlamente" werden auch in das übergeordnete "Volksparlament" des Birati e.V. entsendet. Während die Aktivitäten der bremischen PKK-Anhänger:innen bisher hauptsächlich auf Weisungen übergeordneter legaler und illegaler hierarchischer Strukturen zurückzuführen waren, sollten sie laut eigener Ankündigung zukünftig demokratischer strukturiert werden. In der Praxis erfolgten jedoch keine Veränderungen der Entscheidungsprozesse. Diese sind in wesentlichen Teilen nach wie vor undemokratisch und basieren auf der streng hierarchisch organisierten Kaderstruktur. "Kurdisch-deutscher Gemeinschaftsverein" in Bremerhaven Im Frühjahr 2013 wurde in Bremerhaven der "Kurdisch-deutsche Gemeinschaftsverein" gegründet, der in einem Abhängigkeitsverhältnis zum "Birati e.V." steht. Die Eintragung in das Vereinsregister Bremen erfolgte am 19. Juni 2014. Die Mitglieder organisieren regelmäßig Feierlichkeiten, bei denen u. a. dem Gebäude des "Kurdisch-deutschen Gemeinschaftsverein" in Bremerhaven PKK-Führer Öcalan gehuldigt wird. 2022 und 2023 fuhren wiederholt Busse aus Bremerhaven zu bundesweiten PKK Feiern oder Demonstrationen, u. a. zu einer Großdemonstration am 18. November 2023 in Berlin. Protest im Zusammenhang mit den Geschehnissen in der Türkei In Deutschland kam es in den vergangenen Jahren zu zahlreichen Protesten aufgrund aktueller oder vergangener Ereignisse in der Türkei. Die PKK-Führung ruft ihre Mitglieder oftmals deutschlandweit auf, anlassbezogene Veranstaltungen zu organisieren. Teilweise werden hier auch verbotene Symbole der PKK gezeigt. So waren insbesondere verschiedene militärische Operationen der Türkei oftmals Auslöser für Demonstrationen oder Kundgebungen. Hier sind hauptsächlich die Militäroperationen "Olivenzweig" (2018), "Friedensquelle" (2019), "Adlerklaue" (2020), "Tigerkralle" (2020), "Krallenblitz" (2021) und "Klauenverschluss" (2022) zu nennen. Das türkische Innenministerium reagierte auf das Attentat vom 1. Oktober 2023 mit der Militäroperation "Helden". Die Operation äußerte sich durch Luftangriffe der Türkei auf Nordsyrien und sorgte wiederum für ein gesteuertes, bundesweites Protestauf- AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 173 kommen, welches insbesondere durch die Jugendbewegungen der PKK und Personen des linksextremistischen Spektrums verantwortet wurde. Infolge dessen kam es auch in Bremen am 6. Oktober 2023 zu zwei Spontanversammlungen. Aufgrund der anhaltenden militärischen Angriffe formierte sich bereits im April 2021 das europaweite Bündnis "Defend Kurdistan", welches seitdem auch regelmäßig zu Aktionen in Deutschland aufruft. Getragen wird das Bündnis nicht nur durch Anhänger:innen der PKK, sondern auch von Linksextremist:innen. So wird "Defend Kurdistan" bspw. durch das Bündnis "Rise Up 4 Rojava" unterFlyer zur Kundgebung in stützt, welches in Bremen durch die Gruppierung "Bremen für Bremen Rojava" in Erscheinung tritt. Am 19. Juli 2023 wurden die Fensterscheiben und Fassaden der Landesgeschäftsstelle der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN durch Farbvandalismus in Form von Kunstblut beschädigt. Die Aktion wurde in verschiedenen Bundesländern im Rahmen der Initiative "Blut an euren Händen" organisiert, um Kritik an der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf die Situation in Nordsyrien zu üben. Die beteiligten Personen stammten hierbei überwiegend aus der Szene der Internationalist:innen. Je nach politischer Gemengelage in den Herkunftsregionen der hiesigen PKKAngehörigen (hauptsächlich Türkei und Syrien) scheint deren Emotionalisierungsgrad nach wie vor hoch zu sein und leichteste verbale Provokationen können gewaltsame Eskalationen nach sich ziehen. In der Vergangenheit kam es am Rande von Demonstrationen auch zu wechselseitigen Provokationen zwischen den Anhängern der PKK und Personen des türkisch-rechtsextremistischen Spektrums. Vor dem Hintergrund der türkischen Parlamentsund Präsidentschaftswahlen kam es in einem Bremer Wahllokal zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung verschiedener Personen aufgrund unterschiedlicher politischer Ansichten. Eine weitere Provokation ereignete sich am 1. Juni 2023. Ein jugendlicher PKK-Sympathisant entwendete an diesem Tag eine an einer Moschee des sunnitisch-islamischen Moscheenverbands DITIB ("Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V.") in Bremen befestigte Türkeiflagge. Während der Tat hatte der Täter sich eine Flagge mit dem Abbild vom PKK Gründer Abdullah Öcalan umgebunden. Der Täter verbrannte die Türkeiflagge anschließend öffentlichkeitswirksam und teilte dies auf dem sozialen Netzwerk Instagram. 174 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS Haftsituation von Abdullah Öcalan Der Gesundheitszustand des auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKKAnführers Abdullah Öcalan ist nach wie vor besonders geeignet, die in Bremen lebende PKK-Anhängerschaft zu emotionalisieren und zu mobilisieren. So werden in diesem Kontext Demonstrationen und verschiedene Aktionen durchgeführt, die sich auch auf die Sicherheitslage in Bremen auswirken. Anlässlich des 24. Jahrestages der Festnahme von Abdullah Öcalan am 15. Februar 1999 fanden im Februar eine Vielzahl von Veranstaltungen in Deutschland und Europa statt. Hierzu zählten die sog. "langen Märsche" der PKK-Jugend in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Mit diesen Aktionen soll der Forderung nach Freilassung Abdullah Öcalans Nachdruck verKundgebung am 15.04.2023 in Düsseldorf liehen werden. Ferner wurden aufgrund der seit zwei Jahren anhaltenden Ungewissheit über den Gesundheitszustand Öcalans mehrere Demonstrationen durchgeführt. Eine bundesweit organisierte Großdemonstration fand am 15. April 2023 in Düsseldorf statt. Zu dieser reisten auch Teilnehmende aus Bremen an. In Bremen wurden neben der Teilnahme an bundesweiten Großdemonstrationen regelmäßig auch lokale Kundgebungen für die Freilassung von Abdullah Öcalan organisiert. Am 7. Oktober 2023 fand vor der Bremischen Bürgerschaft ein vom Birati e.V. und dem Frauenrat Seve e.V. organisierter Protest statt. Zudem haben Aktivist:innen der internationalistischen Szene zusammen mit jungen Kurd:innen am 18. Januar 2023 Vorlesungsveranstaltungen der Universität Bremen gestört. Die Aktivist:innen forderten die Freilassung von Abdullah Öcalan und verwiesen auf Aktion an der Universität Bremen seinen ungeklärten Gesundheitszustand. Newroz-Feierlichkeiten Anlässlich des kurdischen Neujahrsfest-Fest (Newroz) fand in diesem Jahr eine zentrale Feier in Frankfurt am Main statt. Das Newroz-Fest geht auf eine Legende um einen kurdischen Schmied zurück, der zum Widerstand gegen einen Tyrannen aufgerufen und diesen in der Nacht vom 20. auf den 21. März im Jahr 612 v. Chr. erschlagen haben soll. Daher wird Newroz auch als Fest des Widerstands gegen Tyrannei und als Symbol für den kurdischen Freiheitskampf verstanden. Flyer Newrozfest in Frankfurt am 25.03.23 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 175 Am 25. März 2023 nahmen ca. 35.000 Personen unter dem Motto "Mit dem Widerstandsgeist des Newroz ist Freiheit ein Recht! - Freiheit für Öcalan" an der Veranstaltung teil. Der Organisation gelang es damit, wieder ähnliche Besucher:innenzahlen wie vor der Covid-19-Pandemie zu generieren. Im Zuge dieser wurden in den Jahren 2020 bis 2022 weniger Teilnehmende festgestellt, sodass deren Anzahl im Vergleich zu 2022 nun beinahe wieder verdoppelt werden konnte. An der Veranstaltung nahmen auch bremische PKK-Anhänger:innen teil. Das PKK-nahe Nachrichtenportal "ANF" berichtete am 25. März 2023, dass u. a. Fahnen mit Porträts gefallener Guerillakämpfern und einer Selbstmordattentäterin der PKK sowie Abbildungen des PKK Gründer Abdullah Öcalan gezeigt wurden. Neben der zentralen Großveranstaltung in Frankfurt am Main fanden auch in anderen Städten Newroz-Feiern statt. In Bremen organisierte die PYD Bremen am 12. März 2023 ihr diesjähriges Newroz-Fest mit mehreren hundert Teilnehmenden. Das 31. "Internationale Kurdische Kulturfestival" Das "Internationale Kurdische Kulturfestival" stellt regelmäßig einen Höhepunkt der kurdischen Großveranstaltungen dar. Neben der von der PKK propagierten "Pflege der kurdischen Kultur" dient es zur Verbreitung ihrer politischen Botschaften. Am 9. September 2023 fand das 31. "Internationale Kurdische Kulturfestival" unter dem Motto: "100 Jahre nach dem Vertrag von Lausanne: Lösung der kurdischen Frage. Freiheit für Öcalan, Status für Kurdistan" erstmalig seit der Covid-19-Pandemie wieder in Deutschland statt. Das Festival in Frankfurt wurde den am 23. Dezember 2022 in Paris ermordeten Kurd:innen gewidmet. Flyer zum Kurdischen An der Veranstaltung nahmen rund 12.000 Personen teil. Für das Kulturfestival 2023 Festival wurden verschiedene Reisemöglichkeiten für die Teilnehmer:innen organisiert, darunter auch Busse aus Bremen. Neben einem Programm aus kurdischer Kunst, Musik und Folklore wurde auch den verstorbenen PKK-Guerillaeinheiten gedacht sowie die Isolation Abdullah Öcalans beklagt. Werbung und Rekrutierung für die PKK-Guerilla Die anhaltenden Kampfhandlungen in Syrien und im Irak haben die Bereitschaft der PKK-Anhänger:innen gesteigert, sich für den bewaffneten Kampf rekrutieren zu lassen. Sie folgen u. a. Aufrufen, die von der PKK nahestehenden Medien auf einschlägigen Internetseiten, in (Jugend-)Zeitschriften oder auf Großveranstaltungen wie dem jährlichen kurdischen Kulturfestival verbreitet werden. 176 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS In der Vergangenheit wurden auch Jugendliche aus Bremen rekrutiert. Hier forderten Eltern der Ausgereisten im Birati e.V. die Rückführung ihrer Kinder. Auch von den örtlichen Vereinen organisierte sog. "Märtyrerveranstaltungen", bei denen gefallene Guerilla-Kämpfer:innen glorifiziert werden, bereiten den Boden für Rekrutierungen. Im Jahr 2023 wurden in den Räumlichkeiten des "Birati e.V." ebensolche Gedenkfeiern für die "Märtyrer" mit den entsprechenden Zielrichtungen veranstaltet. So wurde am 7. Mai 2023 im PKK-nahen Nachrichtenportal ANF über das Gedenken an die Mai-Märtyrer im Birati e.V. berichtet. Märtyrergedenken 2022 im "Birati e.V." In einem Artikel vom 21. Juli 2023 berichtete ANF News zudem über eine Zeremonie zu Ehren gefallener Märtyrer im Birati e.V., an dem auch internationalistische Aktivist:innen teilnahmen. 8.2.2 "Ülkücü"-Bewegung / "Graue Wölfe" Allgemeine Hintergrundinformationen Die "Ülkücü" ("Idealisten") sind eine türkisch-rechtsextreme Bewegung, deren Ursprünge nahezu 100 Jahre zurückreichen. Sie bezeichnet heute eine Ideologie, die eine nationale Einigung aller Turkvölker in einem einzigen, als ethnisch-homogen verstandenen Staat zum Ziel hat. Dieses angestrebte "großtürkische Reich" wird mit dem Begriff "Turan" bezeichnet. Zu Vordenkern der Bewegung werden Nihal Atsiz (1905 - 1975) und der spätere Gründer der türkischen Partei "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP), Alparslan Türkes (1917 - 1997), gezählt. In der Gründungszeit der MHP zeigte sich vor allem deren Jugendorganisation "Bozkurtlar" ("Graue Wölfe") äußerst gewalttätig. Die "Ülkücü"-Ideologie basiert auf nationalistischen, rassistischen und islamischen bis hin zu islamistischen Elementen und ist in der Gesamtschau antidemokratisch. Prägend für die Bewegung ist ein übersteigerter türkischer Nationalismus mit einer Überhöhung der eigenen Ethnie, welcher sich vor allem in der Forderung nach der "Wiedervereinigung" aller Turkvölker in einem Staat "Turan" zeigt. Die Anhängerschaft geht von einer Überlegenheit "des Türkentums" gegenüber anderen Völkern und Staaten aus. Damit einher geht eine Abwertung anderer Ethnien, Bevölkerungsgruppen oder Religionen. AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 177 Einer der ideologischen Vordenker der "Ülkücü"-Bewegung ist Hüseyin Nihal Atsiz. In seinen Schriften finden sich neben rassistischen Elementen auch antisemitische Stereotype, so lautet es in Auszügen Atsiz' beispielsweise: "Das Türkentum ist allen anderen Völkern voraus und überlegen"15 "Dennoch betrachten wir [...] den Juden als elenden Geizkragen. Denn wir wissen [...], dass der Jude uns gegenüber durch und durch aus Feindseligkeit besteht."16 Auch wenn die verschiedenen (Unter-)Organisationen der "Ülkücü"-Bewegung in ihren Publikationen in der Regel auf offenen Rassismus verzichten, bleiben sie diesem Gedankengut stets verbunden. Die "Ülkücü"-Ideologie ist geprägt von einem FreundFeind-Denken. Die identitätsstiftenden Feindbilder stützen sich auf rassistische - vornehmlich kurdenfeindliche und antisemitische - Anschauungen. "Innere" Feinde sind traditionell Kurd:innen, Alevit:innen, Kommunist:innen, linke Oppositionelle sowie die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, welche von der türkischen Regierung für den 2016 gescheiterten Putschversuch verantwortlich gemacht und infolgedessen zur Terrororganisation erklärt worden ist.17 Jüd:innen wird in der "Ülkücü"-Ideologie eine negative Sonderstellung zugeschrieben. Dies offenbart sich unter den Anhänger:innen zumeist offen, wenn der Staat Israel durch eine sich zuletzt verschärfende Lage im Nahostkonflikt im Fokus steht und stellvertretend für alle Jüd:innen als Feind gebrandmarkt wird. In der Rhetorik der "Ülkücü"-Bewegung wird auch eine Gewaltbefürwortung deutlich. Die Verherrlichung der kriegerischen Vergangenheit des Osmanischen Reiches und antiker "Turk"-Kriegsherren in Verbindung mit konkreten Territorialansprüchen, die das Staatsgebiet zahlreicher souveräner Staaten umfassen, impliziert eine Neigung zur notfalls gewalttätigen, jedenfalls völkerverständigungswidrigen Durchsetzung der ideologischen Ziele. Symbolik Um ihre Zugehörigkeit zur "Ülkücü"-Bewegung sowie Gesinnung öffentlich darzustellen, werden im Wesentlichen drei Symbole verwendet. 15 Aus: Zeitschrift "Orhun" vom 15. Juni 1963, 2. Jahr, 17. Ausgabe und in der Zeitschrift Ötüken, 1. Ausgabe im Jahr 1964 Aus: Hüseyin Nihal Atsiz, Makaleler III, 4. Druck 2018. 16 Aus: Zeitschrift "Orhun" vom 15. Juni 1963, 2. Jahr, 17. Ausgabe und in der Zeitschrift Ötüken, 1. Ausgabe im Jahr 1964 Aus: Hüseyin Nihal Atsiz, Makaleler III, 4. Druck 2018. 17 In diesem Zusammenhang wird von türkischer Seite auch der Begriff FETÖ, "Fethullahistische Terrororganisation" verwendet. 178 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS Der graue Wolf (Bozkurt) Der Wolf spielt in der alttürkischen Mythologie eine zentrale Rolle. Je nach Überlieferung existiert zum einen der Mythos eines grauen Wolfes, der das urtürkische Volk der Göktürken aus dem Tal Ergenekon nach der Niederlage gegen die Chinesen im 8. Jahrhundert hinausgeführt haben soll, zum anderen wird von einem kleinen Jungen erzählt, der als einziger Überlebender seines Stammes von einer Wölfin aufgezogen wurde. Ab den 1960er-Jahren spielte der "Graue Wolf" auch auf politischer Ebene eine Rolle. Dieser war Symbol für Symbol Grauer Wolf die 1968 entstandene paramilitärisch ausgebildete Jugendorganisation der extrem nationalistischen türkischen Partei MHP, dem politischen Arm der "Ülkücü". Daher werden innerhalb der "Ülkücü"-Szene auch heute noch junge männliche Anhänger als "Bozkurtlar" (Graue Wölfe) bezeichnet. Ende der 1970er-Jahre waren die Grauen Wölfe an gewaltsamen Übergriffen gegen linke und linksextremistische Jugendund Studentenorganisationen beteiligt. Im Dezember 1978 organisierten Mitglieder der Grauen Wölfe Gewaltakte in Kahramanmaras (Türkei), bei welchen 150 Alevit:innen ermordet wurden. Der Wolfsgruß Aufgrund der Verwendung des "Grauen Wolfes" als Symbol verbreitete sich unter MHP-Anhänger:innen das Zeigen des "Wolfsgrußes". Vorwiegend wird dieser mit der rechten Hand geformt und dient den "Ülkücü"-Anhänger:innen als Begrüßungswie auch Erkennungszeichen. Auch zur Provokation politischer Gegner wird das Zeichen beispielsweise bei Demonstrationen eingesetzt. Der kleine Finger beim Wolfsgruß soll den Türken symbolisieren, der Zeigefinger den Islam. Der beim "Wolfsgruß" entstehende Ring, Abbildung Wolfsgruß geformt durch Ring-, Mittelfinger und Daumen steht für die Welt. Der Punkt, an dem sich diese drei Finger treffen, soll als Stempel angesehen werden. Damit soll der "Wolfsgruß" bedeuten, dass die "Grauen Wölfe" der Welt ihre Ansichten und ihren islamischen Stempel aufdrücken wollen. Aufgrund der anhaltenden Diskussionen über ein mögliches Verbot der "Grauen Wölfe" und der steigenden Bekanntheit dieses Erkennungszeichen erfolgt dessen Verwendung zunehmend zurückhaltender, um eine Identifizierung als Anhänger der Ideologie zu erschweren. Drei Halbmonde Die Symbolik der "Drei Halbmonde" hat ihren Ursprung im Osmanischen Reich. Eine von dessen Kriegsflaggen zeigte die "Drei Halbmonde" auf grünem Hintergrund (die Farbe des Islams). Symbolisch standen die Halbmonde für die drei Kontinente Asien, AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 179 Afrika und Europa, auf denen sich der Islam durch das Osmanische Reich verbreitet hatte. Die "Drei Halbmonde" auf rotem Grund bilden das Parteilogo der MHP und symbolisieren die Verbundenheit zum Osmanischen Reich. Die "Drei Halbmonde" werden von "Ülkücü"-Anhängern mitunter sichtbar getragen, bspw. in Form von Ketten, Ringen oder Tätowierungen. Darüber hinaus wurde die Symbolik durch das Sprühen von "cCc" auf Hauswänden in Abbildung Drei Halbmonde der Öffentlichkeit platziert. Die "Ülkücü"-Bewegung in Deutschland und Bremen Die "Ülkücü"-Vereine in Deutschland vermeiden einen zumindest offenen Antisemitismus und geben sich nach außen überwiegend legalistisch und demokratisch. In der Vergangenheit forderten führende Mitglieder, die demokratischen Rechte in Deutschland wahrzunehmen und sich gezielt politisch und gesellschaftlich zu betätigen, um Einfluss auszuüben. So wurden Fälle bekannt, in denen Mitglieder örtlicher "Ülkücü"Vereine in Integrationsräte gewählt wurden oder "Ülkücü"-Vereine mit eigener Liste erfolgreich an Integrationsratswahlen teilgenommen haben.18 Dies darf jedoch nicht als Anerkennung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verstanden werden, sondern dient der gezielten politischen Einflussnahme bzw. Unterwanderung im Sinne einer türkisch-nationalistischen Ideologie. "Ülkücü" sehen sich nicht nur als alleinige Hüter der Ideologie der "Nationalistischen Bewegung" in Deutschland, sondern generell als Hüter türkischer Werte und Kultur. Eine derartige, auf Volkszugehörigkeit und übersteigertem Nationalismus gründende, Identität kann in einer pluralistisch geprägten Gesellschaft jedoch unterschiedliche Konflikte hervorrufen. Sie führt nicht zuletzt zu Intoleranz gegenüber anderen Völkern. Dies widerstrebt dem Gedanken der Völkerverständigung, ist gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet und wirkt einer Integration in die deutsche Gesellschaft entgegen. Der "Ülkücü"-Bewegung in Deutschland werden aktuell drei Dachverbände sowie eine freie und unorganisierte Szene zugerechnet: Die "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." (ADÜTDF), die "Föderation der Weltordnung in Europa" (ANF) sowie die "Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V." (ATIB e.V.). In Bremen finden sich sowohl Vereinsstrukturen der Dachverbände der ATIB und der ADÜTDF als auch Einzelpersonen, welche der freien, unorganisierten Ülkücü-Szene zuzurechnen sind. Insgesamt werden der "Ülkücü"Bewegung in Bremen rund 400 Anhänger:innen zugerechnet. 18 Vgl. Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage zum Thema "Aktivitäten der rechtsextremen Grauen Wölfe", Drucksache 19/21060 vom 14.07.2020. 180 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS Am 18. November 2020 wurde im Deutschen Bundestag mehrheitlich ein Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angenommen, nach welchem der Einfluss von "Ülkücü"-Organisationen zurückgedrängt und ein Verbot bestimmter Organisationsstrukturen geprüft werden solle.19 Ähnlich positionierte sich auch der Bremer Senat Ende 2020.20 Verbände aus dem "Ülkücü"-Spektrum sind bestrebt, sich mit politischen Verantwortungsträgern in der Türkei zu vernetzen, so beispielsweise bei einem Treffen der Vorsitzenden diverser türkischer Organisationen aus Deutschland, u. a. ATIB und ADÜTDF, mit Präsident Erdogan im April 2021 in Ankara. ADÜTDF Die "Alamanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu" (Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland, kurz: ADÜTDF) ist der älteste und mit ca. 7.000 Mitgliedern21 zugleich anhängerstärkste Dachverband der "Ülkücü"-Bewegung in Deutschland und fungiert darüber hinaus als Auslandsorganisation der türkischen "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP). Die MHP ging einst aus der "Republikanischen Bauern-Volkspartei" hervor und wurde 1969 von ihrem Vorsitzenden Alparslan Türkes in MHP umbenannt. Dieser etablierte anschließend die antikommunistische und nationalistische ADÜTDF Logo Ideologie des "Idealismus" (türk.: Ülkücülük). Die "Ülkücü" und deren Mitgliedsvereine bekennen sich nach wie vor zum 1997 verstorbenen MHP-Gründer Alparslan Türkes. Der ehemalige Oberst wird weiterhin uneingeschränkt als ewiger Führer ("Basbug") verehrt. In sozialen Medien präsentieren sich "Ülkücü"-Anhänger mitunter vor dem Grab des Alparslan Türkes in der Türkei und zeigen den Wolfsgruß. Die Ideologie der MHP stützt sich u. a. auf den Gedanken des Panturkismus, einer Vereinigung aller Turkvölker - vom Balkan bis nach Zentralasien - unter der Führung einer "Großtürkei", angelehnt an das Osmanische Reich. Die türkische Nation wird, wie bereits erwähnt, sowohl politisch-territorial als auch ethnisch-kulturell als höchster Wert betrachtet. Neben der MHP ist die BBP (Große Einheitspartei) eine weitere politische Partei des extrem nationalistischen Spektrums in der Türkei, welche in Form der ANF einen (Europa-)Verband unterhält, dem auch Ortsvereine in Deutschland zuzuordnen sind. Sie ist in ihrem Religionsverständnis deutlich fundamentalistischer ausgerichtet als die MHP. 19 BT-Drucksache 19/24388. 20 Anhang zum Plenarprotokoll der 19. Sitzung der Bremischen Bürgerschaft innerhalb der 20. Wahlperiode, 2518. 21 Zahl aus dem Jahr 2022; Vgl. Verfassungsschutzbericht des Bundes 2022. AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 181 Die ADÜTDF und ihre bundesweiten Mitgliedsvereine, die sog. Ülkü Ocaklari (dt.: "Idealisten-Vereine"), gelten als ein Sammelbecken extrem nationalistischer Personen mit türkischem Migrationshintergrund. Organisatorisch ist die ADÜTDF in mehrere Gebiete (türk.: "Bölge") unterteilt. Der Bremer Verein gehört gemeinsam mit Hamburg, Neumünster, Lübeck und Kiel zum Nordverbund (Bölge-Nord), in dessen Rahmen ein enger Kontakt und Austausch besteht. Die lokale Vertretung in Bremen und Bremerhaven findet sich in dem Verein "Türkische Familienunion in Bremen und Umgebung e.V.". Der Bremer Verein dient als zentraler Treffpunkt der hiesigen organisierten "Ülkücü"Szene. Die Mitglieder:innen kommen regelmäßig zusammen, um untereinander den (politischen) Austausch zu suchen, Fastenbrechen zu feiern oder Freitagsgebete abzuhalten. Aufgrund der von den Mitgliedern offen im Internet zur Schau gestellten "Ülkücü"-Symbolik in Form von Wappen, Fahnen, Bildern und Literatur, welche im Gebäude zu sehen ist, erkennt man jedoch eindeutig die Ausrichtung des Vereins. ATIB 1987 entstand durch eine Abspaltung von der ADÜTDF die ATIB22 (Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa), welche einen stärkeren religiösen Fokus aufweist, jedoch ebenso der "Ülkücü"-Bewegung zuzurechnen ist. Vordergründig versteht sich der Verband als Vertreter kultureller, sozialer sowie juristischer Interessen der "türkisch-muslimischen Minderheit", was mit dem Einsatz für Völkerverständigung und Akzeptanz unterschiedlicher Kulturen einhergehen solle. Tatsächlich ist die ATIB jedoch in der ATIB Logo "Ülkücü"-Bewegung zu verorten. Wesentliche Elemente ihrer Ideologie basieren auf türkisch-nationalistischen, rassistischen und zum Teil islamistischen Vorstellungen. So schlägt sich bei ATIB-Anhänger:innen ein innerhalb der "Ülkücü"-Bewegung vorherrschender übersteigerter Nationalismus in Form von türkisch-nationalistischen Großmachtfantasien (Staat "Turan") nieder. Dieser findet Ausdruck u. a. in der Glorifizierung historischer osmanischer Eroberungen sowie in der Betonung angeblicher türkischer Überlegenheit, ethnisch sowie politisch-territorial. Anders als die ADÜTDF ist die ATIB versucht, ihre Unabhängigkeit von politischen Parteien in der Türkei zu demonstrieren. Zugleich sucht sie zur Wahrung ihrer Interessen in Deutschland die Nähe zu Verbänden und Einrichtungen. So ist der ATIB-Verband Gründungsmitglied des Zentralrats der Muslime (ZMD). Eine gegen die Zuschreibung als "Ülkücü"-Organisation gerichtete Klage der ATIB gegen den Freistaat Bayern wies das Verwaltungsgericht München 2019 in einem inzwischen rechtskräftigen Urteil ab. Auch eine Klage der ATIB gegen deren Benennung 22 "Avrupa Türk Islam Birligi" 182 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS in den Verfassungsschutzberichten des Bundes in den Jahren 2019 und 2020 wurde vom Verwaltungsgericht Berlin im Berichtsjahr abgewiesen. Die Entscheidung ist derzeit aufgrund eines gestellten Antrages auf Zulassung der Berufung noch nicht rechtskräftig. Unorganisierte Szene Neben den Mitgliedern der o. g. Vereine bzw. Dachverbände gibt es auch Anhänger:innen, die der Bewegung ideologisch verbunden, jedoch nicht in einem Verein organisiert sind. Diese unorganisierte Bewegung, auch freie Szene genannt, besteht überwiegend aus jüngeren Personen, die insbesondere in den sozialen Netzwerken gegen politische Gegner:innen und andere Völker agitieren und an das gemeinsame türkische Nationalbewusstsein appellieren. Die Zurschaustellung ihrer zumindest ideologischen Zugehörigkeit zur "Ülkücü"-Bewegung erstreckt sich bspw. auf Social-MediaPosts, in welchen unter Verwendung der o. g. klassischen Symbolik auch nationalistische, rassistische sowie (israelbezogene) antisemitische Stereotype verbreitet werden. In den vergangenen Jahren kam es in den sozialen Medien zu mehreren Bedrohungssachverhalten, welche sich gegen deutsche Politiker:innen und Journalist:innen richteten. Über die Plattform Instagram wurden Direktnachrichten versendet, in welchen die Empfänger:innen mit dem Tod bedroht wurden. Der bzw. die Urheber:innen der Nachrichten sollen in der Türkei ansässig sein und lassen sich im türkisch-nationalistischen Spektrum verorten. Unter den Betroffenen befanden sich u. a. auch Abgeordnete der Bremer Partei DIE LINKE. Auswirkungen der türkischen Präsidentschaftswahlen innerhalb Deutschlands und Bremens In Deutschland sorgte im Vorfeld der Parlamentsund Präsidentschaftswahlen in der Türkei der Auftritt eines AKP-Abgeordneten in einer Moschee der ADÜDTF in Neuss (NRW) für Aufsehen. Der Abgeordnete sprach in einer Rede von der Vernichtung von Anhänger:innen der PKK und der Gülen-Bewegung und äußerte, dass man diesen das Recht auf ein Leben auch in Deutschland nicht gewähren werde. Als sich der Wahlsieg Erdogans abzeichnete, kam es deutschlandweit zu Zusammenkünften größerer Personengruppen sowie Autokorsos. Auch in Bremen kam es zu einem Autokorso sowie einer Versammlung von mehreren Hundert Personen. Im Zuge dessen wurde vereinzelt Pyrotechnik gezündet sowie von einzelnen Teilnehmenden der Wolfsgruß gezeigt. Reaktionen im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt 2023 Seit dem Angriff der "HAMAS" auf Israel am 7. Oktober 2023 sind auch von Anhänger:innen aus der "Ülkücü"-Bewegung in Deutschland Reaktionen bekannt geworden, AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 183 welche eine antiisraelische, antisemitische oder gar unterstützende Resonanz für die "HAMAS" beinhalten. So bekundete der Vorsitzende des Dachverbandes ANF auf einem Social-Media-Kanal des Verbandes noch am 7. Oktober seine Unterstützung für den Angriff. U. a. hieß es in besagtem Beitrag: "Möge Gott meinen palästinensischen Brüdern, die gegen Israel unter der Bezeichnung "Al-Aqsa-Sturm" eine Militäroperation begonnen haben, den Sieg schenken."23 In der freien "Ülkücü"-Szene ist grundsätzlich eine pro-palästinensische Haltung zu vernehmen, welche mit der zunehmenden Emotionalisierung und dem Andauern des Konfliktes zu einer Ausdehnung antiisraelischer und antizionistischer Stellungnahmen in den sozialen Medien führt. 8.2.3 Extremistische säkulare pro-palästinensische Bewegungen "Volksfront für die Befreiung Palästinas" - PFLP Hauptakteurin der in Deutschland aktiven säkularen extremistischen pro-palästinensischen Organisationen ist die "Volksfront für die Befreiung Palästinas"24 (PFLP). Bei der PFLP handelt es sich um eine im Jahr 1969 gegründete Organisation, welche sich ursprünglich an der Ideologie des Marxismus-Leninismus orientierte und insofern eine säkulare Prägung hat. Darüber hinaus ist die PFLP von einem Flagge der PFLP starken arabischen Nationalismus geprägt. Der Hauptsitz der PFLP befindet sich in Damaskus/Syrien. Die PFLP verfolgt das Ziel der Gründung eines sozialistischen palästinensischen Staates mit Jerusalem als ungeteilter Hauptstadt. Dieser palästinensische Staat soll in den Grenzen des historischen Palästina vor Gründung des Staates Israel verlaufen und somit das heutige Staatsgebiet Israels umfassen. Realisiert werden soll dieses Ziel durch die Beseitigung der "zionistischen Besatzung". Die PFLP bestreitet das Existenzrecht Israels, propagiert offen den bewaffneten Kampf gegen Israel und sucht den Schulterschluss zu anderen, insb. auch islamistischen, Organisationen, welche den Staat Israel bekämpfen, wie der "Hizb Allah" und der "HAMAS" (siehe Kapitel 7.3.2 "HAMAS" und 7.3.3 "Hizb Allah"). Die PFLP betrachtet sich selbst dabei nicht als antisemitisch, sondern als antizionistisch. Einige Funktionäre der PFLP äußern, dass in dem durch die Organisation angestrebten Gesamtstaat Palästina auch Menschen jüdischen Glaubens leben dürften. 23 Facebook-Post 07.10.2023 auf "ANF Avrupa Nizam-i Alem Federasyonu" 24 "Popular Front for the Liberation of Palestine" - PFLP 184 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS Im Nahen Osten stellen die "Abu Ali Mustafa-Brigaden" (AAMB)25 den bewaffneten Arm der PFLP dar, der in Israel und im Westjordanland zum Teil terroristische Mittel einsetzt. Anhänger:innen der PFLP verüben nach wie vor terroristische Anschläge. Diese richten sich mitunter gezielt gegen jüdische Israel:innen und offenbaren so, entgegen dem nach außen propagierten Selbstbild der PFLP, den antisemitischen Charakter der Organisation. Die PFLP wird seit 2002 auf der europäischen Liste der terroristischen Organisationen geführt. Außerhalb der Konfliktregion bemüht sich die PFLP insbesondere in der arabischen Diaspora um politische Unterstützung. In Deutschland verbreitet die PFLP primär israelfeindliche Propaganda, ist hierzulande aber nicht terroristisch tätig. Anhänger:innen versuchen, in Deutschland Spenden zur Unterstützung der PFLP-Strukturen und des bewaffneten Kampfes in Nahost sowie allgemein politische Unterstützung zu generieren. Hierbei unterhalten sie Kontakte zu vielen pro-palästinensischen Gruppierungen, darunter zu "Boycott, Desinvestment und Sanktionen"26 und verfügen über Verbindungen zum deutschen linksextremistischen Spektrum. Auch in Bremen sind einzelne Personen der PFLP zuzurechnen. Palästinensisches Netzwerk "Samidoun" Das Netzwerk "Samidoun - Palestinian Solidarity Network" ("Samidoun") wurde im Jahr 2011 von Mitgliedern der PFLP gegründet. Es hat seinen Hauptsitz in den USA und agiert darüber hinaus international in sog. "Chaptern". Eigenen Angaben zufolge sollen weltweit derzeit rund 20 Chapter existieren. "Samidoun" setzt sich für die Freilassung palästinensischer Gefangener ein, welche sich u. a. aufgrund von Verbindungen zur PFLP in Haft befinden. Darunter finden sich auch verurteilte Terrorist:innen. Anlass der Gründung von "Samidoun" war ein Hungerstreik palästinensischer Gefangener, um eine Verbesserung ihrer Haftbedingungen zu erwirken. Unter ihnen befanden sich auch verurteilte Anhänger:innen der PFLP. In Israel wird "Samidoun" seit dem Jahr 2021 als "Samidoun" Logo Terrororganisation sowie als Teil des Auslandsnetzwerks der PFLP eingestuft. Das Chapter "Samidoun Deutschland" tritt seit dem Jahr 2019 bundesweit, insbesondere in Berlin und Nordrhein-Westfalen, im Rahmen von Demonstrationen in Erscheinung, bei denen u. a. die Freilassung palästinensischer Gefangener, mitunter mit Verbindungen zur PFLP, gefordert wird. Es kommt dabei zu antisemitischen und israelkritischen Aussagen sowie zum Teil zu Gewaltausschreitungen gegenüber der Polizei. 25 "Abu Ali Mustafa Brigades" - AAMB 26 "Boycott, desinvestment and sanctions" - BDS AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 185 "Samidoun Deutschland" propagiert ebenso wie die PFLP die Errichtung eines palästinensischen Staates. Der politische Extremismus der Organisation wird in der Ablehnung des Existenzrechtes Israels deutlich. So wird sowohl im Internet als auch auf Versammlungen der Slogan "From the river to the sea, Palestine will be free"27 verwendet, mit dem das Existenzrecht Israels negiert wird. Dem "Samidoun"-Netzwerk sind in Deutschland rund 50 Anhänger:innen zuzurechnen, die Anzahl von Sympathisant:innen sowie das Mobilisierungspotenzial reichen jedoch weit über diese Personenzahl hinaus. "Samidoun Deutschland" mobilisierte in den vergangenen Jahren regelmäßig zu pro-palästinensischen Demonstrationen, beispielsweise zu Versammlungen wie dem "Nakba"-Tag am 15. Mai. "Nakba" bedeutet aus dem Arabischen übersetzt "Katastrophe". Am sog. "Nakba"-Tag wird von Palästinenser:innen weltweit der Flucht und Vertreibung in Folge der Staatsgründung Israels aus dem ehemaligen britischen Mandatsgebiet Palästina 1948/49 gedacht. In Deutschland wurden das internationale Netzwerk "Samidoun" sowie die Teilorganisation "Samidoun Deutschland"28 am 2. November 2023 durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) verboten. In der Verbotsverfügung stellt das BMI fest, dass sich Zweck und Tätigkeit des Netzwerkes gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten sowie das friedliche Zusammenleben, die öffentliche Ordnung und sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik beeinträchtigt und gefährdet. "Samidoun Deutschland" reichte gegen die Verbotsverfügung Klage vor dem Bundesverwaltungsgericht ein. Das BMI erließ zeitgleich zudem ein Betätigungsverbot gegen die Terrororganisation "HAMAS" (vgl. Kapitel 7.3.2). "Boykott, Desinvestment und Sanktionen" - BDS-Bewegung Die Bezeichnung BDS-Bewegung steht für "Boykott, Desinvestment und Sanktionen" und propagiert eine Kampagne, die auf den wirtschaftlichen Boykott, den Rückzug von Investitionskapital sowie auf Sanktionen gegenüber dem Staat Israel abzielt. Die BDS-Bewegung besteht nach eigenen Angaben aus einem weltweiten Zusammenschluss von 171 hauptsächlich palästinensischen Organisationen, welcher von dem "Council of National and Islamic Forces in Palestine" angeführt wird. Dabei handelt es sich nicht um eine homogene Vereinigung oder Organisation im klassischen Sinne, sondern um einen globalen Zusammenschluss verschiedener Gruppierungen, welche sich mit den Zielen der BDS-Bewegung identifizieren. Die Bewegung zeichnet sich dadurch aus, dass man sich ihr durch Engagement anschließen BDS Plakat kann (partizipativer Charakter). 27 Gemeint ist hier das Gebiet zwischen dem im Osten Israels verlaufenden Fluss Jordan und dem an der westlichen Grenze Israels liegenden Mittelmeer. 28 Diese agiert in Deutschland auch unter den Bezeichnungen "HIRAK - Palestinian Youth Mobilization Jugendbewegung (Germany)" und "Hirak e.V.". 186 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS Teil des Zusammenschlusses sind auch die Terrororganisationen "HAMAS" und die PFLP. Die BDS-Bewegung wurde vermutlich kurz nach dem Ende der zweiten Intifada im Jahr 2005 durch den sog. "BDS-Call"29, in welchem die zentralen Ziele der Bewegung formuliert sind, ins Leben gerufen. Gefordert werden das "Ende der israelischen Besatzung", die Beendigung der vermeintlichen systematischen Diskriminierung gegenüber Palästinenser:innen durch den Staat Israel ("Apartheid"), ein "Rückkehrrecht für alle palästinensischen Flüchtlinge"30 sowie die "Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit" für die palästinensische Bevölkerung. Vom Deutschen Bundestag wurde im Mai 2019 der gemeinsame Antrag der Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN "Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten - Antisemitismus bekämpfen" beschlossen. Die "Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung" werden darin als antisemitisch eingeordnet.31 Auch der Bremer Senat positionierte sich bereits 2018 strikt ablehnend gegenüber Aktionen der BDS-Bewegung.32 Reaktionen pro-palästinensischer Bewegungen in Deutschland auf den Nahostkonflikt 2023 Weltweit kam es in Folge der Angriffe der "HAMAS" auf Israel am 7. Oktober 2023 und der anschließenden Gegenoffensive der israelischen Streitkräfte zu einem erhöhten Aufkommen pro-palästinensischer Demonstrationen sowie Gedenkveranstaltungen für die israelischen Opfer des "HAMAS"-Angriffes. So gab es auch in Deutschland vor allem im Oktober und November 2023 eine hohe Zahl pro-palästinensischer Veranstaltungen. Bei diesen wurden bundesweit mitunter antisemitische Straftaten und teilweise auch Gewalttätigkeiten verzeichnet. Insbesondere in Berlin kam es auf Demonstrationen kurz nach den Angriffen der "HAMAS" zu Ausschreitungen und Angriffen auf Polizeikräfte. Bei der überwiegenden Mehrheit der Teilnehmer:innen pro-palästinensischer Versammlungen handelt es sich um Personen ohne extremistischen Hintergrund. Es lassen sich jedoch auch Extremist:innen aus verschiedenen Phänomenbereichen unter den Teilnehmenden ausmachen, darunter Personen aus dem extremistischen säkularen pro-palästinensischen Spektrum, welche ihr ideologisches Weltbild verbreiteten. 29 "Palestinian Civil Society Call for BDS" - Bei dem sog. "BDS-Call" handelt es sich um ein veröffentlichtes Manifest aus dem Jahr 2005, in welchem die zentralen Ziele der BDS-Bewegung niedergeschrieben wurden. 30 Diese Forderung beinhaltet auch alle Nachkommen der 1948 geflohenen bzw. vertriebenen Palästinenser:innen. 31 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 19/10191, 15.05.2019. 32 Vgl. Bremische Bürgerschaft. Drucksache 19/1808, 04.09.2018. AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 187 Aus dem extremistischen säkularen pro-palästinensischen Spektrum sorgte vor allem eine Aktion von "Samidoun Deutschland" in Berlin für Aufmerksamkeit. Kurz nach den Angriffen der "HAMAS" auf Israel wurden die Terrorangriffe auf Social-Media-Kanälen von "Samidoun Deutschland" begrüßt sowie u. a. bei einer Aktion in Berlin, bei der auf der Sonnenallee Süßigkeiten an Passanten verteilt wurden, gefeiert. Im digitalen Raum verbreitete "Samidoun Deutschland" bis zu dem Verbot durch das BMI und der damit einhergehenden Deaktivierung der Social-Media-Accounts mitunter Propaganda der "HAMAS" sowie Falschinformationen aus dem Gazastreifen. Auch in Bremen wurden seit dem 7. Oktober 2023 diverse propalästinensische Demonstrationen durchgeführt, an welchen mitunter eine mittlere dreistellige Anzahl von Personen teilnahm. Dabei zeigte sich ein überwiegend friedlicher Verlauf. Jedoch wurden auch vereinzelt antisemitische Inhalte auf Versammlungen propagiert, beispielsweise auf Plakaten mit dem Slogan "From the river to the Plakat auf Demonstration in sea, palestine will be free", der das Existenzrecht Israels negiert. Bremen im Oktober 2023 Eine in Bremen im Oktober 2023 angemeldete Demonstration einer Gruppierung wurde durch die Versammlungsbehörde untersagt. Grund dafür waren u. a. Äußerungen auf den Social-Media-Kanälen der Gruppierung, mit denen Israel als Aggressor des Konfliktes dargestellt wurde. Zudem distanzierten sich die Anmelder:innen nicht in ausreichendem Maße von dem zuvor genannten Slogan "From the river to the sea, palestine will be free", mit welchem die Versammlung bereits beworben worden war. Nach Einschätzung der Versammlungsbehörde wären im Zusammenhang mit der Demonstration Straftaten, beispielweise in Form von Volksverhetzungsdelikten oder der Billigung von Straftaten, zu erwarten gewesen. Die Einschätzung des Ordnungsamtes wurde im Eilverfahren durch das Verwaltungsgericht Bremen bestätigt. Die Frage der strafrechtlichen Bewertung von Slogans ist anhaltender Gegenstand von gerichtlichen Auseinandersetzungen auch über den Berichtszeitraum hinaus. 188 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 189 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Spionageabwehr Unterstützungsaufgaben des LfV 190 SPIONAGEABWEHR 9 Spionageabwehr Ausländische Nachrichtendienste entfalten in Deutschland vielfältige Spionageaktivitäten, um die Ziele und Interessen ihrer jeweiligen Regierung zu fördern. Die Durchsetzungsfähigkeit eines Staates ist von verschiedenen Faktoren abhängig, etwa der wirtschaftlichen und militärischen Stärke, aber auch von den zur Verfügung stehenden Informationen. So kann ein Informationsvorsprung etwa in Verhandlungen, politischen Entscheidungsprozessen oder Konflikten einen entscheidenden Vorteil bieten. Die Ausrichtung fremder Nachrichtendienste ist dabei maßgeblich von der ökonomischen, gesellschaftlichen sowie innenund außenpolitischen Situation ihrer Herkunftsstaaten abhängig. So setzen manche Staaten ihre Nachrichtendienste primär zur Unterdrückung der Opposition im eigenen Land und zum Machterhalt der dort Herrschenden ein, während andere Staaten den Fokus auf Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage oder die Beschaffung geheimer militärischer und politischer Informationen legen. Das Ziel kann dabei sowohl darin liegen, die eigene Position auf illegitime Weise zu stärken als auch der gegenüberliegenden Seite zu schaden. Beide Ansätze laufen regelmäßig den Interessen der Bundesrepublik Deutschland zuwider und es gilt sie deshalb aufzudecken. Die Aktivitäten ausländischer Nachrichtendienste lassen sich dabei in fünf Kategorien unterteilen, die zum Teil ineinandergreifen und von fließenden Übergängen gekennzeichnet sind. Spionage gegen Politik, Verwaltung und Militär Für Regierungen nahezu aller Staaten sind sensible Informationen aus dem Ausland von entscheidender Bedeutung. Gelingt es fremden Regierungen, sich mittels geheimer Methoden ein klares Bild über die Strategien und Positionen Deutschlands und damit einen Informationsvorteil zu verschaffen, können sie ihr eigenes staatliches Handeln zielgerichtet anpassen und diplomatische Verhandlungen torpedieren oder sich effektiver positionieren. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine verdeutlicht dabei die Relevanz von politischer und militärischer Spionage: Russische Nachrichtendienste haben ein hohes Interesse an Informationen über die Strategien sowie die militärischen und technologischen Fähigkeiten von NATO und Bundeswehr. Gleichzeitig war nicht erst mit Kriegsbeginn eine möglichst genaue Antizipation etwaiger (politischer) Gegenreaktionen von Bedeutung: Wie und in welchem Ausmaß wird der Westen die Ukraine unterstützen und Russland sanktionieren? Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage Fremde Regierungen haben ein großes Interesse daran, ihre eigene Wirtschaft zu stärken und ökonomische Abhängigkeiten zu reduzieren. Gleichzeitig bestehen häufig noch qualitative und technologische Defizite gegenüber den in Deutschland und seinen SPIONAGEABWEHR 191 Partnerländern entwickelten Produkten, Maschinen und Technologien. Um diesen Widerspruch aufzulösen, versuchen ausländische Nachrichtendienste auf illegalem Weg und durch den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel bestehende Lücken zu schließen. Aus Sicht der handelnden Regierungen stellt die Wirtschaftsspionage ungeachtet der Strafbarkeit nach deutschem Recht ein legitimes Mittel zur Förderung der eigenen Volkswirtschaft und technologischen Entwicklung dar. Auch Forschungseinrichtungen und Unternehmen in Bremen verfügen über Fachwissen und einzigartige Technologien, mit denen sie - oftmals auch im weltweiten Vergleich - eine führende Rolle einnehmen und die es vor einem illegalen Abfluss ins Ausland zu schützen gilt. Die Größe der Forschungseinrichtung oder des Unternehmens ist dabei zweitrangig. Um das Interesse eines fremden Nachrichtendienstes zu wecken, sind allein die vorhandenen Fähigkeiten, Technologien und das Know-how ausschlaggebend, sodass selbst kleine und mittelständische Unternehmen in den Fokus geraten können. Aus Ermangelung eines entsprechenden Risikobewusstseins oder schlicht aufgrund fehlender Ressourcen zur Stärkung der eigenen Resilienz sind Aktivitäten gegen diese Zielgruppe aus Sicht der ausländischen Nachrichtendienste häufig besonders erfolgsversprechend. Proliferationsbekämpfung Die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, stellt in der heutigen Zeit eines der größten globalen Sicherheitsrisiken dar. Während einige Staaten bereits über atomare, biologische und chemische Massenvernichtungswaffen verfügen, versuchen andere Staaten sich die zur Herstellung und zum Einsatz solcher Waffen erforderlichen Kenntnisse, Produkte und Technologien zu beschaffen. Solche Beschaffungsversuche werden als Proliferation bezeichnet. Um in den Besitz von der Proliferation umfasster Güter und Waffensysteme zu gelangen, greifen fremde Mächte u. a. auf ihre Nachrichtendienste zurück. Dabei versuchen sie, durch Spionage das erforderliche Wissen zu erlangen oder einzelne Produkte oder Maschinen zu erwerben, die zur Herstellung der Massenvernichtungswaffen gebraucht werden. Im besonderen Fokus stehen dabei sog. Dual-Use-Güter, also Güter mit einem sowohl militärischen als auch zivilen Verwendungszweck. Das Portfolio relevanter Güter ist breit und reicht beispielsweise von bestimmten Werkstoffen und Chemikalien, Elektronik aus der zivilen Luftund Raumfahrt und Lasertechnologien bis hin zu medizinischen Zentrifugen. Die geplante militärische Nutzung soll dabei durch Vorgabe falscher Tatsachen verheimlicht und eine zivile Nutzung vorgetäuscht werden. Hierfür werden etwa Tarnfirmen gegründet oder sog. "Umweglieferungen" über Drittstaaten initiiert, um Sanktionen zu umgehen und den eigentlichen Bestimmungsort der Güter zu verschleiern. 192 SPIONAGEABWEHR Ausforschung oppositioneller Gruppen und Staatsterrorismus Insbesondere in autoritären Staaten bedienen sich viele Regierungen gezielt ihren Nachrichtendiensten, um ihre eigene Macht zu erhalten und (regierungs-)kritische Positionen zu unterdrücken. Die in diesem Zusammenhang angewandten Maßstäbe können dabei sehr willkürlich sein und selbst solche Personen in den Fokus rücken, die sich im Rahmen der jeweils geltenden Gesetze oder verfassungsrechtlichen Grundsätze bewegen. So können selbst Äußerungen, die in unserem demokratischen und pluralistischen System als erwünschter und essenzieller Bestandteil des öffentlichen Diskurses betrachtet werden, zu einer gezielten Verfolgung durch ausländische Nachrichtendienste führen. Besonders aggressiven Staaten sind dabei alle Mittel recht: Angefangen bei der Ausspähung oppositioneller Gruppierungen unter Nutzung aller zur Verfügung stehenden nachrichtendienstlichen Mittel über die Bedrohung der Betroffen und ihrer Angehörigen bis hin zu schwersten Verbrechen wie Entführungen oder Mordanschlägen. Ausländische Nachrichtendienste wirken dabei nicht nur innerhalb ihres eigenen Staatsgebiets, sondern nehmen gezielt Regimegegner, Dissidenten und Überläufer ins Visier, die ins Ausland geflohen sind oder sich dort aufhalten - auch in Deutschland. Als prominentes Beispiel der jüngeren Vergangenheit gilt in diesem Zusammenhang die Erschießung eines georgischen Staatsangehörigen im Berliner Tiergarten im Jahr 2019. Im Rahmen des rechtskräftigen Urteils stellte das zuständige Gericht fest, dass die Tötung von staatlichen Stellen der Russischen Föderation beauftragt wurde und auf die Rolle des Opfers im zweiten Tschetschenienkrieg zurückzuführen sei. Der Fall wurde vom Gericht als Staatsterrorismus bewertet und ging als sog. Tiergartenmord in die breite mediale Berichterstattung ein. Auch innerhalb Bremens leben Personen, die zum Teil offen und mit hoher Reichweite Kritik an den Regierungen ihrer Herkunftsstaaten äußern und damit in den Fokus ausländischer Nachrichtendienste rücken können. Hybride Bedrohungen In den letzten Jahren gab es eine Vielzahl von Definitionsversuchen des Begriffs der hybriden Bedrohungen. Wenngleich sich bislang keine einheitliche Legaldefinition durchgesetzt hat, stimmen die vielen verschiedenen Definitionsansätze in zentralen Punkten miteinander überein. Hybride Bedrohungen bezeichnen demnach den von einem gegnerischen Staat ausgehenden, koordinierten Einsatz vielfältiger, aufeinander abgestimmter und ineinandergreifender Maßnahmen, die innerhalb einer übergeordneten Gesamtstrategie darauf abzielen, einem anderen Staat zu schaden. Bewusst wird dabei oftmals auf niedrigschwellige Maßnahmen zurückgegriffen, um die zu einem militärischen Konflikt führenden Grenzen nicht zu überschreiten. Vielmehr adressieren hybride Bedrohungen Ebenen im Zielstaat, die etwa zu einer Schwächung der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Zusammenhalts, einem Vertrauensverlust in die Demokratie und die staatliche Handlungsfähigkeit sowie zu Verunsicherungen und SPIONAGEABWEHR 193 zur Verschärfung von Konflikten innerhalb der Bevölkerung führen sollen. Dieses vielschichtige Vorgehen zielt schließlich auf eine gesamtheitliche Destabilisierung des Zielstaats ab. In der Praxis wird dies zum Beispiel durch Methoden der illegitimen Einflussnahme verwirklicht, etwa indem verdeckt auf demokratische Wahlen Einfluss genommen oder durch Desinformationskampagnen die öffentliche Meinung manipuliert wird. So werden etwa gezielt falsche Informationen verbreitet oder wahre Informationen in einen falschen Kontext gesetzt. Gerade in den sozialen Netzwerken kann es dabei gelingen, mit überschaubarem Aufwand eine große Reichweite zu erreichen und die dort entstehenden Debatten durch eigens eingerichtete Fakeprofile im eigenen Interesse zu steuern. Auch können Cyberangriffe und Sabotagehandlungen gegen kritische Infrastrukturen oder Einrichtungen der Daseinsvorsorge Teil hybrider Bedrohungen sein. 9.1 Methoden ausländischer Nachrichtendienste Wie zu Beginn dieses Kapitel dargestellt, entfalten ausländische Nachrichtendienste unterschiedliche Aktivitäten in vielen verschiedenen Handlungsfeldern. Allen Aktivitäten ist dabei jedoch gemein, dass der Beschaffung von Informationen eine zentrale Rolle zukommt: Ist die Beschaffung von Informationen selbst etwa im Zuge der Spionage gegen Politik, Militär, Wirtschaft und Wissenschaft das Ziel, so ist eine umfassende Sammlung von Informationen zugleich das Fundament für ein erfolgreiches Agieren von Nachrichtendiensten. Um einen Wissensträger aus der Forschung oder einflussreiche Personen des politischen Lebens für die eigenen Zwecke zu vereinnahmen, können Informationen über persönliche Vorlieben, Schwächen, die finanzielle Situation oder kompromittierendes Material von immenser Bedeutung für ausländische Nachrichtendienste sein. Planen ausländische Nachrichtendienste einen Cyberangriff oder einen Sabotageakt, gilt es zunächst umfassende Informationen über das Zielsystem zu sammeln, um eine erfolgreiche Operation durchführen zu können. Auch die Durchführung von Desinformationskampagnen und das Befeuern von gesellschaftlichen Konflikten, wie sie im Zuge von hybriden Bedrohungen zu beobachten sind, ist ohne eine vorherige Sammlung und Auswertung von Informationen undenkbar. Die Beschaffung von Informationen ist für Nachrichtendienste damit essenziell. Ausländische Nachrichtendienste nutzen deshalb grundsätzlich alle ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, um relevante Informationen zu erlangen. Die gesetzlichen Regelungen ihrer Herkunftsländer räumen ihnen dabei oftmals sehr weitreichende Befugnisse ein. Neben besonders sensiblen und geheim gehaltenen Informationen können frei zugängliche Informationen für ausländische Nachrichtendienste gleichermaßen 194 SPIONAGEABWEHR von Nutzen sein. Im Wesentlichen lassen sich die Methoden zur Informationsbeschaffung in die Kategorien Open Source Intelligence (OSINT), Human Intelligence (HUMINT), Cyber Intelligence (CYBINT) und Signals Intelligence (SIGINT) unterscheiden. Open Source Intelligence meint dabei die Auswertung offener und frei zugänglicher Quellen. Dies können etwa Zeitungsartikel und Medienberichte, aber auch Internetpräsenzen von Unternehmen oder persönliche Profile in sozialen Netzwerken sein. Die offene Informationsbeschaffung ist insbesondere zu Beginn eines nachrichtendienstlichen Vorhabens von besonderer Bedeutung, um sich ein erstes Bild des ausgewählten Ziels zu verschaffen und weitere Schritte vorbereiten zu können. Human Intelligence bezeichnet den Einsatz menschlicher Quellen zur Informationsgewinnung und stellt trotz des rasanten technologischen Fortschritts nach wie vor eine der bedeutendsten und effektivsten Methoden ausländischer Nachrichtendienste dar. Das primäre Ziel besteht darin, sich personelle Zugänge zum Beispiel in Unternehmen, Behörden, Forschungseinrichtungen oder politische und militärische Kreise zu verschaffen, um an interne oder geheim gehaltene Informationen zu gelangen oder Sabotagehandlungen vorzunehmen. Hierbei wird nicht nur auf hauptamtliche Angehörige der ausländischen Nachrichtendienste zurückgegriffen, die oft unter hohem Aufwand in das Zielobjekt eingeschleust werden sollen. Häufig nehmen ausländische Nachrichtendienste ausgewählte Zielpersonen ins Visier, die sich bereits in einer entsprechenden Position befinden und zu einer Zusammenarbeit bewegt werden sollen. Als Grundlage für eine solche nachrichtendienstliche Anbahnung wird in aller Regel auf die zuvor durch OSINT gewonnen Erkenntnisse zurückgegriffen. Insbesondere im Internet und in den sozialen Medien teilen viele Menschen oftmals leichtfertig und freiwillig eine Vielzahl persönlicher Informationen. Diese ermöglichen es ausländischen Nachrichtendiensten, sich ein umfassendes Bild ihrer Zielperson zu verschaffen und persönliche Interessen, Lebensumstände oder Schwächen für eine Anbahnung zu nutzen. Dieses Vorgehen wird als Social Engineering bezeichnet und verdeutlicht die Notwendigkeit eines sensiblen Umgangs mit persönlichen Daten. Die Gründe, die Menschen letztlich dazu bewegen, einer Zusammenarbeit mit ausländischen Nachrichtendiensten zuzustimmen und Informationen über eigene Arbeitgeber, Freunde oder sogar Staatsgeheimnisse zu verraten, sind dabei sehr unterschiedlich. Das aus dem Englischen Illustration MICE stammende Apronym MICE (dt. Mäuse) fasst dabei die häufigsten Motive zusammen: Money (Geld), Ideology (Ideologie), Coercion (Zwang) und Ego. Unter Signals Intelligence (SIGINT) ist grundsätzlich der Erkenntnisgewinn aus dem Abfangen elektronischer bzw. elektromagnetischer Signale wie beispielsweise des SPIONAGEABWEHR 195 Funk-/Telefonund Internetverkehrs zu verstehen. Dabei können sowohl die Inhalte als auch ihre Metadaten abgefangen und ausgewertet werden. Die Methoden der Cyber Intelligence (CYBINT) ergänzen die realweltlichen Ansätze zur Informationsgewinnung und weiten die Handlungsfelder ausländischer Nachrichtendienste auf den digitalen Raum aus. Cyberangriffe stellen dabei eine effektive Methode dar, um mit einem vergleichsweise geringen Risiko sensible Informationen auszuleiten oder Zielsysteme zu sabotieren. Insbesondere die Sabotage von kritischen Infrastrukturen, Lieferketten und Produktionsabläufen durch Cyberangriffe kann dabei weitreichende Folgen für die Daseinsvorsorge und das öffentliche Leben in Deutschland haben und stellt eine besonders schwerwiegende Gefahr dar. Nicht zuletzt die gegen die Ukraine eingesetzten Schadprogramme verdeutlichen die Bedrohung durch destruktive Cyberangriffe, die etwa zu Ausfällen von Mobilfunkund Internetdiensten oder gar der Stromversorgung geführt haben - Szenarien, die auch in Deutschland denkbar sind. Die besondere Attraktivität von Cyberoperationen ergibt sich dabei aus dem günstigen Kosten-Nutzen-Verhältnis und dem Umstand, derartige Angriffe aus dem jeweiligen Herkunftsland heraus durchführen zu können. Die Täter müssen sich folglich nicht in das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland begeben und erschweren damit den Zugriff deutscher Behörden. Gleichzeitig müssen sie in ihren Herkunftsländern nicht mit einer Strafverfolgung rechnen, da sie im Auftrag staatlicher Stellen oder sogar als Teil dieser tätig werden. Die umfassenden Möglichkeiten, digitale Spuren zu verwischen oder gezielt falsche Fährten in den Schadcode zu implementieren, erschweren darüber hinaus die sichere Zuordnung (Attribution) eines Cyberangriffs zu einzelnen Gruppierungen oder Staaten. Das Legen von falschen Fährten dient dabei einerseits dazu, die eigene Urheberschaft zu verschleiern, andererseits kann es genutzt werden, um eine Schuldzuweisung zu Lasten einer dritten, ihrerseits unbeteiligten Partei zu erreichen und dieser dadurch zu schaden. Dieses Vorgehen wird als False-Flag-Operation bezeichnet. Obwohl die Grenzen oftmals fließend und trennscharfe Abgrenzungen nicht immer möglich sind, gilt es im Zuge der Spionageabwehr zwischen staatlich gesteuerten bzw. beauftragten Angriffsgruppierungen und solchen mit rein krimineller Intention zu unterscheiden. So verfügen staatliche Cyberakteure über den Rückhalt ihrer jeweiligen Regierungen und damit über nahezu unbegrenzte finanzielle und personelle Ressourcen sowie Handlungsfreiheiten. Dies ermöglicht es ihnen, besonders ausgefeilte und raffinierte Angriffsmethoden zu entwickeln, weshalb sie auch als Advanced Persistent Threat (APT) Gruppierungen bezeichnet werden. Weiter nimmt vor diesem Hintergrund die Gewinnerzielungsabsicht, mit wenigen Ausnahmen wie im Falle Nordkoreas, bei staatlichen Cyberakteuren eine zu vernachlässigende Rolle ein. Anders als viele 196 SPIONAGEABWEHR kriminelle Cybergruppierungen, sind sie deshalb nicht darauf angewiesen, einen Handlungsdruck bei ihren Opfern zu erzielen und die erfolgreiche Kompromittierung des Zielsystems zu offenbaren, wie es etwa bei Verschlüsselungstrojanern (Ransomware) der Fall ist. Stattdessen besteht ihr Interesse in der Regel darin, sich möglichst unentdeckt im Zielsystem Illustration ausgewählter APT-Gruppierungen zu bewegen und sich dadurch einen langfristigen Informationszugang zu verschaffen. Die staatliche Steuerung ist in den meisten Fällen das entscheidende Kriterium, um den Anwendungsbereich des Bremischen Verfassungsschutzgesetzes zu eröffnen, während andere Cyberangriffe in der Regel in die Zuständigkeit der Polizeibehörden fallen. Der Abwehr und Aufklärung von Cyberangriffen fremder Nachrichtendienste auf Unternehmen oder exponierte Einzelpersonen kommt seit Jahren eine wachsende Bedeutung zu. Im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung ergeben sich stetig neue Herausforderungen. Damit einher geht ein qualitativer und quantitativer Anstieg von Cyberangriffen. Hiervon bleibt auch Bremen nicht verschont. Im vergangenen Jahr konnten regelmäßig Cyberangriffe zum Zwecke der Spionage bzw. der Ausforschung auf Hochwertziele festgestellt werden. 9.2 Hauptakteure der Spionage gegen Deutschland Die Spionageabwehr des Verfassungsschutzverbundes richtet sich grundsätzlich gegen alle illegalen nachrichtendienstlichen Aktivitäten fremder Staaten in Deutschland, egal von welchem Staat diese ausgehen. Eine Eingrenzung auf ausgewählte Staaten wird dabei im Vorfeld nicht vorgenommen, weshalb sich die Bezeichnung der 360-GradAbwehr etabliert hat. Gleichwohl unterscheiden sich die Zielsetzungen sowie die Qualität und Quantität nachrichtendienstlicher Aktivitäten fremder Staaten erheblich. Hauptakteure und damit Bearbeitungsschwerpunkt der gegen Deutschland gerichteten Spionage und Einflussnahmeversuche im Inland sind die Russische Föderation, die Volksrepublik China, die Islamische Republik Iran sowie die Republik Türkei. SPIONAGEABWEHR 197 9.2.1 Nachrichtendienste der Russischen Föderation Mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 und der daraus resultierenden, umfassenden militärischen und politischen Unterstützung Deutschlands für die Ukraine geht ebenfalls ein erhöhtes Aufklärungsinteresse russischer Nachrichtendienste gegen die Bundesrepublik und ihre Partner einher. Russische Spionage stellt dabei keinesfalls ein neues Phänomen dar, vielmehr bewegt sie sich bereits seit vielen Jahren auf einem hohen Niveau. Sie umfasst dabei sowohl politische und militärische Ziele, als auch solche in Wirtschaft und Wissenschaft. Die Russische Föderation kann dabei auf leistungsstarke und erfahrene Nachrichtendienste zurückgreifen, deren Ursprünge in die Sowjetunion zurückreichen. Neben dem Inlandsnachrichtendienst FSB und dem AusLogo des FSB landsnachrichtendienst SWR, die aus den Strukturen des ehemaligen sowjetischen Geheimdienstes KGB hervorgingen und dessen Aufgaben im wesentlich fortgeführt haben, ist dies insbesondere auch der militärische Nachrichtendienst GRU. Alle drei Nachrichtendienste sind in Deutschland aktiv und steuerten ihre Aktivitäten in den vergangenen Jahren maßgeblich aus sog. Legalresidenturen. Unter Legalresidenturen werden abgetarnte Stützpunkte ausländischer Nachrichtendienste innerhalb ihrer offiziellen oder halboffiziellen Vertretungen in Deutschland verstanden, etwa in Logo des SWR Botschaften, Konsulaten oder Handelsvertretungen. Als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wurden vor diesem Hintergrund allein aus Deutschland 40 russische Diplomaten ausgewiesen, die als Angehörige russischer Nachrichtendienste identifiziert wurden. Die aus den Ausweisungen und den umfassenden weiteren Sanktionen resultierenden Einschränkungen in der Informationsbeschaffung werden die russischen Nachrichtendienste durch andere Methoden und eine Neuausrichtung zu kompensieren versuchen. Denkbar ist hier etwa der vermehrte Einsatz sog. Illegaler, also von hauptamtlichen Mitarbeitenden russischer NachrichtenLogo des GRU dienste, die mit falschen Identitäten und unter Verschleierung ihrer Bezüge zur Russischen Föderation nach Deutschland eingeschleust werden und hier teilweise erst nach vielen Jahren eines unauffälligen Lebens ihrem eigentlichen Auftrag nachgehen. 198 SPIONAGEABWEHR Das Aufklärungsinteresse der russischen Nachrichtendienste kann dabei als nahezu allumfassend bezeichnet werden. Die politische und militärische Spionage stehen dabei im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit. So zeigen russische Nachrichtendienste ein großes Interesse an den Positionen der Bundesregierung in den Feldern der Bündnisund Außen-, Sicherheitssowie der Energiepolitik. Gleichzeitig beobachten sie aufmerksam die innenpolitische Situation in Deutschland und das gesellschaftliche Klima, u. a. um Kampagnen im Sinne hybrider Bedrohungen vorbereiten und durchführen zu können. Im Bereich der militärischen Spionage versucht Russland, Informationen über die Fähigkeiten, Positionen und Aktivitäten der Bundeswehr, ihrer Verbündeten und insbesondere auch der NATO zu beschaffen. Besonderes Interesse besteht schon immer an westlichen Waffensystemen und Rüstungstechnologien, die nun zum Teil auch in der Ukraine gegen Russland eingesetzt werden. Dieses Interesse und die Tatsache, dass die russische Industrie in vielen Bereichen weiterhin von westlichen Technologien und Produkten abhängig ist, der Zugang zu diesen aufgrund umfassender Sanktionen jedoch stark eingeschränkt wurde, dürfte zukünftig zu verstärkten Aktivitäten russischer Nachrichtendienste in der Wirtschafts-, Wissenschaftsund Technologiespionage führen. Auch ist bereits jetzt erkennbar, dass Russland bestrebt ist, die Sanktionen zu umgehen, u. a. indem auf Methoden zurückgegriffen wird, die aus der Proliferationsbekämpfung bekannt sind. Neben diesen Feldern schrecken russische Nachrichtendienste selbst vor einem aggressiven Vorgehen bei Reisen oder längerfristigen Aufhalten deutscher Staatsbürger in Russland nicht zurück. Dies gilt neben Diplomaten und Geschäftsreisenden auch für Forschende, Studierende oder Personen, die Verwandtschaft in Russland besuchen. Auf russischem Staatsgebiet stehen den russischen Nachrichtendiensten umfassende Überwachungsmöglichkeiten zur Verfügung und Personen von Interesse werden zum Teil gezielt in kompromittierende Situationen verwickelt, um sie unter Androhung von Strafen zu einer Zusammenarbeit zu nötigen. Russische Nachrichtendienste sind darüber hinaus staatsterroristisch aktiv und verfolgen Regimekritiker:innen und Überläufer:innen bis ins Ausland - u. a. um diese durch gezielte Tötungen zum Schweigen zu bringen. 9.2.2 Nachrichtendienste der Volksrepublik China Die Nachrichtendienste der Volksrepublik China dienen der Kommunistischen Partei China (KPCh) als zentrale Instrumente zum Machterhalt und zur Erreichung ihrer wirtschaftlichen und politischen Ziele. Hierfür können sie auf umfassende materielle und personelle Ressourcen zurückgreifen und verfügen über äußerst weitreichende Befugnisse. SPIONAGEABWEHR 199 Von besonderer Bedeutung innerhalb der chinesischen Sicherheitsarchitektur ist dabei das Ministerium für Staatssicherheit (MSS), das als ziviler Inund Auslandsnachrichtendienst auch mit polizeilichen Befugnissen ausgestattet ist. Durch das Nationale Geheimdienstgesetz werden darüber hinaus Einzelpersonen, Unternehmen und sonstige Organisationen - sowohl in China als auch im chinesischen Ausland - zur Zusammenarbeit mit den chinesischen Nachrichtendiensten verpflichtet. Logo des MSS Das Aufklärungsinteresse gegen die Bundesrepublik Deutschland ist breit gefächert und richtet sich gegen die Bereiche Politik, Militär, Verwaltung sowie in hohem Maße auch Wirtschaft und Wissenschaft. Neben einer offenen Informationsbeschaffung setzten chinesische Nachrichtendienste menschliche Quellen ein und machen von Cyberangriffen Gebrauch. Insbesondere wirken die chinesischen Nachrichtendienste an der von der KPCh verfolgten industriepolitische Strategie Made in China 2025 mit und fördern diese durch den gezielten Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel. Deklariertes Ziel der bereits 2015 Logo der industriepolitischen veröffentlichten Strategie ist es dabei, die eigene technologische Strategie Wertschöpfung schrittweise massiv zu stärken und die Marktführerschaft in zehn ausgewählten Schlüsselindustrien zu erreichen. In diesen soll sich die Volksrepublik bis zum Jahr 2025 zu einem international etablierten Produzenten entwickeln, bis 2035 einen Lieferantenstatus von Weltrang einnehmen und schließlich im Jahr 2049, pünktlich zum 100-jährigen Bestehen der Volksrepublik, die globale Marktführerschaft Chinas unter allen Industrienationen zu verwirklichen. Zum jetzigen Zeitpunkt bestehen jedoch in weiten Teilen dieser Industrien Abhängigkeiten von Produzierenden aus Europa oder den USA. Diese Abhängigkeiten und bestehende Defizite versucht die chinesische Regierung unter anderem durch illegale Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage zu überwinden. Dabei werden zum Beispiel gezielt Personen in deutschen Unternehmen oder Forschungseinrichtungen angeworben. Darüber hinaus sind strategische Aufkäufe deutscher Unternehmen und Investitionen in kritischen Infrastrukturen Teil des staatlich gesteuerten Wissenstransfers nach China und bieten gleichzeitig neue Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme und Informationsabschöpfung. So löste etwa die Beteiligung des chinesischen Staatskonzerns Cosco an einem Containerterminal des Hamburger Hafens einen öffentlichen Diskurs über die sich daraus ergebenden Einflussnahmemöglichkeiten Chinas aus. Zur Erreichung der wirtschaftspolitischen Ziele der Volksrepublik gilt es aus chinesischer Sicht als unabdingbar, ein hohes Ansehen bei internationalen Partnern zu erreichen, 200 SPIONAGEABWEHR chinakritische Positionen und Äußerungen aus dem öffentlichen Diskurs fernzuhalten und damit das Fundament für ein chinafreundliches und wohlwollendes Geschäftsklima zu legen. Zu diesem Zweck führen auch chinesische Nachrichtendienste Einflussnahmeaktivitäten im wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Raum durch. Chinesische Nachrichtendienste sind des Weiteren für die Bekämpfung von dem Regime unliebsamen Minderheiten und oppositionellen Gruppierungen zuständig. Insbesondere sind hier die sog. Fünf Gifte zu nennen. Unter den Fünf Giften werden in der Volksrepublik China die nach mehr Autonomie strebenden ethnischen Minderheiten der Uiguren und Tibeter, die Falun-GongBewegung sowie die Demokratiebewegungen Taiwans und Hongkongs verstanden. Als autoritärer Einparteienstaat duldet die Regierung der Volksrepublik China keine abweichenden oder kritischen Positionen und verfolgt diese Gruppierungen deshalb nicht nur in China, sondern auch hierzulande. Dabei versucht die chinesische Regierung, ihre Auslandsgemeinde in Deutschland eng an chinesische Institutionen zu binden und damit Möglichkeiten zur Kontrolle und Steuerung der sich hierzulande aufhaltenden Chinesen zu schaffen. Dabei werden von der chinesischen Diaspora stets ein linientreues Verhalten und die Verbreitung der Parteinarrative verlangt, während Kritik an der KPCh nicht geduldet wird. So können unerwünschte Äußerungen in Deutschland etwa dazu führen, dass in China lebende Angehörige von dortigen Sicherheitsbehörden aufgesucht und unter Druck gesetzt werden, um ein Unterlassen kritischer Äußerungen hierzulande zu erreichen. Auch die von China informell in Deutschland unterhaltenen sog. Übersee-Polizeistationen werden als Instrument chinesischer Kontrolle genutzt. Durch linientreue Parteianhänger werden zum Beispiel Informationen über die chinesische Diaspora gesammelt und die Ideologie der KPCh verbreitet. 9.2.3 Nachrichtendienste der Islamischen Republik Iran Im Aufklärungsinteresse der iranischen Nachrichtendienste stehen angesichts des vom Iran beanspruchten Status als Regionalmacht vor allem Informationen über die Situation im Nahen und Mittleren Osten sowie über die zu solchen erklärten "Erzfeinde" USA und Israel und ihrer Verbündeter. Zu den wichtigsten Aufgaben zählt darüber hinaus das Vorgehen gegen oppositionelle oder regimekritische Gruppierungen und damit die Sicherung des Machterhalts der iranischen Staatsführung bzw. des Religionsführers. Logo des MOIS SPIONAGEABWEHR 201 In Deutschland sind mit dem iranischen Ministry of Intelligence (MOIS) und den geheimdienstlich agierende Quds Force der iranischen Revolutionsgarden zwei iranische Dienste besonders aktiv. Während bei den nachrichtendienstlichen Aktivitäten des Ministry of Intelligence ein Schwerpunkt in der Aufklärung oppositioneller Gruppierungen erkennbar ist, liegt der Fokus der Quds Force auf Aktivitäten, die gegen israelische und jüdische Einrichtungen gerichtet sind. Von besonderem Interesse sind dabei Repräsentant:innen und exponierte Unterstützer:innen Israels sowie hochrangige Funktionär:innen jüdischer Organisationen und Einrichtungen. Die nachrichtendienstliche Aufklärung dieser Gruppierung dient neben einer allgemeinen Informationsbeschaffung der Vorbereitung von staatsterroristischen Aktivitäten. Neben Bedrohungen und Einschüchterungen, die ein Einstellen ungewünschter Handlungen bewirken sollen, sind Verschleppungen in den Iran bis hin zu gezielten Ermordungen von unliebsamen Personen aus Sicht iranischer Nachrichtendienste probate Mittel. Darüber hinaus verdeutlicht ein Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf die Skrupellosigkeit des iranischen Regimes: Das Gericht sah es als erwiesen an, dass ein Deutsch-Iraner einen von staatlichen iranischen Stellen geplanten und beauftragten Brandanschlag auf eine Bochumer Synagoge durchführen wollte. Laut dem Gericht nahm der Täter, aus Angst vor einer Entdeckung, unmittelbar vor der Tat Abstand von seinen eigentlichen Plänen und warf den Brandsatz vor Ort auf das Grundstück einer benachbarten Schule. Die Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 9 Monaten ist seit dem 15. Januar 2024 rechtskräftig. Logo der Quds Force Eine hohe Gefährdung besteht u. a. bei Reisen in den Iran, insbesondere für iranstämmige Personen mit einer anderen bzw. weiteren Staatsangehörigkeit. So ist im Iran mit Ansprachen und willkürlichen Verhaftungen und Anklagen aufgrund von fingierten Verstößen durch iranische Nachrichtendienste bzw. weitere staatliche Stellen zu rechnen, die Betroffene unter teils massivem Einsatz von Druckmitteln zu einer Zusammenarbeit bewegen oder zwingen sollen. Erschwerend kommt hinzu, dass im Iran grundsätzlich keine doppelten Staatsbürgerschaften anerkennt und folglich alle iranstämmigen Personen als Inländer betrachtet, selbst wenn sich diese seit vielen Jahren nicht mehr oder nie regulär im Iran aufgehalten haben. Bei entsprechenden Verhaftungen im Iran wird deshalb regelmäßig eine diplomatische Betreuung durch Auslandsvertretungen anderer Staaten verweigert, obwohl die Betroffenen eine entsprechende Staatsbürgerschaft besitzen. Gleichzeitig nutzt der Iran diese Verhaftung als Druckmittel gegenüber dem Staat der doppelten - eigentlich nicht anerkannten - Staatsangehörigkeit, um Zugeständnisse zu erpressen und politische Ziele durchzusetzen. 202 SPIONAGEABWEHR 9.2.4 Nachrichtendienste der Republik Türkei Der Milli Istihbarat Teskilati (MIT) ist der bedeutsamste türkische Nachrichtendienst und sowohl für die Inlandsals auch Auslandsaufklärung zuständig. Hierfür ist der MIT mit umfassenden personellen und finanziellen Ressourcen ausgestattet und verfügt über weitreichende Exekutivbefugnisse. Innerhalb der türkischen Sicherheitsarchitektur im Allgemeinen und für die Machterhaltung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, dem der Dienst direkt unterstellt ist, kommt dem MIT eine herausragende Logo des MIT Bedeutung zu. Hierbei zählt die Aufklärung und Bekämpfung von (mutmaßlich) oppositionellen Gruppierungen und solchen, die seitens der Türkei als extremistisch oder terroristisch eingestuft werden, zu den Kernaufgaben. Im besonderen Fokus stehen hierbei die auch in Deutschland als Terrororganisation eingestufte und auch im Land Bremen aktive Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sowie die von der Türkei als Fethullahistische Terrororganisation (FETÖ) bezeichnete Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen. Letztere wird für den am 15. Juli 2016 vereitelten Putschversuch in der Türkei verantwortlich gemacht und deren Anhänger:innen seitdem als Staatsfeinde stigmatisiert und verfolgt. Türkische Nachrichtendienste sind auch in Bremen darum bemüht, unliebsame Gruppierungen auszuforschen und aufzuklären. So kam es etwa in der Vergangenheit bereits zu einer rechtskräftigen Verurteilung aufgrund von geheimdienstlicher Agententätigkeit für einen türkischen Nachrichtendienst, die sich gegen einen hochrangigen PKK-Funktionär aus Bremen richtete. Darüber hinaus wurden in den letzten Jahren immer wieder Personen aus Bremen aufgrund von hierzulande entfalteten Aktivitäten bei Reisen in die Türkei kurzfristig verhaftet oder an der Einund Ausreise gehindert. Türkische Nachrichtendienste profitieren bei ihrer Arbeit in Deutschland von günstigen Rahmenbedingungen und einer vorteilhaften Ausgangslage. So existieren in Deutschland viele türkische Organisationen, Institutionen und diplomatische Vertretungen sowie eine große türkeistämmige Diaspora. Türkische Nachrichtendienste binden dabei gezielt staatsund regierungstreue, in Deutschland lebende Personen in ihre nachrichtendienstlichen Aktivitäten ein. So wird von der türkeistämmigen Diaspora etwa erwartet, Informationen und personenbezogene Daten von deklarierten Regierungsgegner:innen an türkische staatliche Stellen weiterzugeben und Landsleute zu denunzieren. Neben der persönlichen Weitergabe zum Beispiel während Reisen, werden auf Internetpräsenzen, u. a. der des MIT, spezielle dafür eingerichtete Formulare bereitgestellt, die eine anonyme Informationsweitergabe ermöglichen. SPIONAGEABWEHR 203 Weiter ist die türkische Regierung daran interessiert, die in Deutschland lebende Diaspora in ihrem Sinne zu beeinflussen. Von herausgehobener Bedeutung ist dabei der in Köln ansässige und durch zahlreiche Regionalvertretungen in Deutschland flächendeckend präsente Interessenverband Union Internationaler Demokraten (UID). Die UID stellt ihre Regierungsnähe durch gemeinsame Treffen und Auftritte mit Angehörigen der türkischen Regierungspartei AKP regelmäßig und offen zur Schau. 204 SPIONAGEABWEHR 205 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Spionageabwehr Unterstützungsaufgaben des LfV 206 UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV 10 Unterstützungsaufgaben des LfV Dem LfV obliegt nicht nur die Beobachtung extremistischer Bestrebungen zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, sondern es trägt durch verschiedene, umfangreiche Überprüfungsmaßnahmen dazu bei, Sicherheitsrisiken in Behörden oder privaten Unternehmen zu minimieren. Zu den unterschiedlichen Überprüfungen zählen u. a. die Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem Luftsicherheitsgesetz, dem Atomgesetz, dem Sprengstoffgesetz und dem Waffengesetz. Außerdem ist das LfV zentrale Stelle für die Sicherheitsüberprüfungen von Personen in Bremen und Bremerhaven, die im Rahmen ihrer Tätigkeiten Zugang zu vertraulichen Informationen erhalten (Geheimschutz). Die Art, der Umfang und die Maßnahmen einer solchen Sicherheitsüberprüfung richten sich nach dem Verschlusssachengrad, zu dem eine Person Zugang erhalten soll. Diese Sicherheitsüberprüfungen und die damit verbundenen Maßnahmen sind im Bremischen Sicherheitsüberprüfungsgesetz geregelt. 10.1 Geheimschutz Der Schutz geheimhaltungsbedürftiger Informationen ist die zentrale Aufgabe des Geheimschutzes, indem er die materiellen und personellen Voraussetzungen dafür schafft, dass Unbefugte keine Kenntnis von den im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen (Verschlusssachen - VS) erhalten oder an sicherheitsempfindlichen Stellen öffentlicher Einrichtungen beschäftigt werden. Verschlusssachen sind im öffentlichen Interesse, insbesondere zum Schutz des Wohles eines Staates, geheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse. Materieller Geheimschutz Behörden und sonstige Stellen sind verpflichtet, Verschlusssachen durch Maßnahmen des materiellen Geheimschutzes so zu schützen, dass Unbefugte keinen Zugang erhalten und Zugriffsversuche erkannt und aufgeklärt werden können. Der materielle Geheimschutz beinhaltet technische und organisatorische Sicherheitsmaßnahmen und regelt u. a. die Aufbewahrung und Verwaltung von VS-Material. Rechtsgrundlage hierfür ist die Verschlusssachenanweisung des Landes Bremen, in der Anforderungen und Vorgaben des materiellen Geheimschutzes konkretisiert werden. Je nach Geheimhaltungsgrad wird darin auch die Erforderlichkeit von Tresoren und Alarmanlagen geregelt. Das UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV 207 LfV ist zentraler Ansprechpartner für alle bremischen Behörden, die mit VS-Material umgehen. Es berät und unterstützt diese bei der Erfüllung der Anforderungen des materiellen Geheimschutzes. Eine Verschlusssache ist 1. STRENG GEHEIM, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte den Bestand oder lebenswichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden kann, 2. GEHEIM, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden oder ihren Interessen schweren Schaden zufügen kann, 3. VS-VERTRAULICH, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder schädlich sein kann, 4. VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder nachteilig sein kann. Personeller Geheimschutz Der personelle Geheimschutz stellt sicher, dass nur Personen Zugang zu Verschlusssachen erhalten, von denen kein Sicherheitsrisiko ausgeht. Insbesondere darf hierzu kein Zweifel an der Zuverlässigkeit oder am Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bestehen. Auch eine Erpressbarkeit oder besondere Gefährdung durch Anbahnungsversuche fremder Nachrichtendienste oder extremistischer Vereinigungen können ein Sicherheitsrisiko darstellen. Ein zentrales Instrument des personellen Geheimschutzes stellt die Sicherheitsüberprüfung dar. Nur wenn die Sicherheitsüberprüfung mit einem positiven Ergebnis abgeschlossen wird, können die Betroffenen zum Umgang mit Verschlusssachen ermächtigt werden. Die Tiefe der Überprüfung hängt dabei von der Sensibilität des Arbeitsplatzes und der Geheimhaltungsbedürftigkeit der dort verarbeiteten Verschlusssachen ab. 208 UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV Das Bremische Sicherheitsüberprüfungsgesetz unterscheidet hierzu zwischen drei Arten von Sicherheitsüberprüfungen: SS 9 BremSÜG - Einfache Sicherheitsüberprüfung (SÜ1) - Zugang zu VS bis einschließlich VS-VERTRAULICH SS 10 BremSÜG - Erweiterte Sicherheitsüberprüfung (SÜ2) - Zugang zu VS bis einschließlich GEHEIM SS 11 BremSÜG - Erweiterte Sicherheitsüberprüfung mit Sicherheitsermittlungen (SÜ3) - Zugang zu VS bis einschließlich STRENG GEHEIM Das Landesamt für Verfassungsschutz wirkt im Rahmen seiner gesetzlichen Bestimmungen an Sicherheitsüberprüfungen im Land Bremen gem. SS 4 BremSÜG mit und führt diese auch selbst durch. 10.2 Mitwirkung an Zuverlässigkeitsüberprüfungen Der Ausschluss von individuellen Sicherheitsrisiken ist nicht nur im Bereich des Geheimschutzes, sondern auch in anderen Arbeitsbereichen des LfV von Bedeutung. So sehen u. a. das Luftsicherheitsgesetz und das Bremische Hafensicherheitsgesetz Überprüfungen der in diesen Bereichen in der Regel bei privaten Unternehmen beschäftigten Personen vor. An diesen Zuverlässigkeitsüberprüfungen wirkt das LfV mit, um beispielsweise zu verhindern, dass an diesen Stellen potenzielle Attentäter:innen beschäftigt werden. Die zunehmende Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, aber auch die anhaltend hohe Gefahr terroristischer Anschläge haben in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass in weiteren Bereichen die Mitwirkung des Verfassungsschutzes an den Zuverlässigkeitsüberprüfungen von beschäftigten Personen erforderlich ist. So ist inzwischen die Mitwirkung bei der Überprüfung von Wachpersonal in bestimmten Einsatzbereichen und bei der Zuverlässigkeitsüberprüfung für das Erteilen von Waffenerlaubnissen sowie Jagdscheinen und für Sprengstoffberechtigungen gesetzlich vorgeschrieben. Die Anfragen in den entsprechenden Bereichen beinhalten hierbei sowohl Erstanträge als auch die gesetzlich vorgeschriebenen Wiederholungsüberprüfungen. Auch die Diskussion über die Verfassungstreue im öffentlichen Dienst beschäftigter Personen hat im Lichte der aktuell andauernden und zum Teil zunehmenden Krisen und Konflikte im Berichtszeitraum abermals an Bedeutung gewonnen. Grundsätzlich müssen sich zwar alle Beschäftigten öffentlicher Stellen bei Einstellung zu ihrer Verfassungstreue bekennen, gleichwohl werden immer wieder Fälle bekannt, bei denen auch diese Personen offen oder verdeckt mit extremistischen Organisationen und Ideologien sympathisieren. Um die Einstellung entsprechender Personen gerade im UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV 209 besonders sensiblen Bereich der Sicherheitsbehörden zu verhindern, wurde bereits im Jahr 2020 für die Polizeianwärter:innen in Bremen eine Zuverlässigkeitsüberprüfung unter Beteiligung des Verfassungsschutzes eingeführt. Im Jahr 2023 wurde außerdem mit dem Gesetz zur Neufassung des Bremischen Richtergesetzes die Verfassungstreueprüfung für den richterlichen und den staatsanwaltschaftlichen Dienst hinzugefügt. Diese Änderung dient entsprechend der Gesetzesbegründung ausdrücklich dem Schutz der freiheitlichen-demokratischen Grundordnung. Sie soll dazu beitragen, nur verfassungstreue Richter:innen, Staatsanwält:innen und ehrenamtliche Richter:innen in der bremischen Justiz einzustellen. Eine Beteiligung des LfV erfolgt in diesen Fällen jedoch erst, wenn der einstellenden Behörde bereits aus öffentlich zugänglichen Quellen Anhaltspunkte für Zweifel an der Zuverlässigkeit bekannt geworden sind. 10.3 Entwicklung der Regelanfragen Die folgende Grafik zeigt die Gesamtentwicklung der Anfragen an den Bremer Verfassungsschutz der vergangenen fünf Jahre: Gesamtentwicklung der Anfragen an das LfV Bremen 2019 17.369 2020 20.382 2021 19.575 2022 22.550 2023 26.429 0 5.000 10.000 15.000 20.000 25.000 Zu den anfragestärksten Aufgaben des LfV gehören die Beantwortung von Regelanfragen im Rahmen von Einbürgerungsverfahren und vor der Erteilung von Aufenthaltstiteln. Ein weiterer Schwerpunkt der personenbezogenen Überprüfungen stellen Anfragen in Visaund Asylkonsultationsverfahren dar. 210 UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV Prozentualer Anteil am Anfrageaufkommen im Berichtsjahr Sonstige* 4,7 % Polizeibewerber 2,1 % Asylverfahren 4,6 % WaffG 6,9 % LuftSiG 8,2 % Aufenthaltsgenehmigungen 44,4 % Visaverfahren 11,7 % Einbürgerungen 17,4 % Anzahl der Anfragen nach Verfahren 12.000 2022 11.733 2023 10.000 10.451 8.000 6.000 4.605 4.000 1.827 3.304 3.093 1.329 1.250 2.780 1.204 1.044 2.000 2.172 2.131 886 625 545 0 EinbürgeAufentAsylVisaLuftSiG WaffG PolizeiSonstige* rungen haltsverfahren verfahren bewerber genehmigungen * beinhaltet HafenSiG, SprenG und Bewachung nach GewO UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV 211 In dem Berichtsjahr ist insgesamt ein Anstieg der Anfragezahlen in allen Verfahren zu verzeichnen. So wurden im Rahmen der Visaund Asylkonsultationsverfahren deutlich mehr Anfragen als in den Vorjahren an das LfV gestellt. Der Grund für die Erhöhung liegt in der Normalisierung der Verfahrensabläufe seit der Beendigung vieler CoronaMaßnahmen, wodurch wieder vermehrte Reisebewegungen möglich wurden. Auch in den Aufenthaltsund Einbürgerungsverfahren ist ein erheblicher Anstieg erkennbar. Die Erhöhung der Anfragen im Bereich der Einbürgerungen steht insbesondere im Zusammenhang mit der Zuwanderung von syrischen Schutzsuchenden in den Jahren 2014 bis 2016, die u.a. die Voraussetzung für eine Einbürgerung nach acht Jahren Mindestaufenthalt in Deutschland erfüllen. Aufgrund des neuen Einbürgerungsgesetzes, welches Anfang 2024 von Bundestag und Bundesrat beschlossen wurde, wird im kommenden Jahr mit einem erheblichen Anstieg der Anfragen gerechnet. Mit dem neuen Einbürgerungsgesetz wurden die Voraussetzungen angepasst, um Einbürgerungen beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen schneller möglich zu machen. 212 VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2023 Impressum Herausgeber: Der Senator für Inneres und Sport Contrescarpe 22-24 28203 Bremen www.inneres.bremen.de Redaktion: Landesamt für Verfassungsschutz Bremen Postfach 28 61 57 28361 Bremen Tel.: 0421 53 77-0 Fax: 0421 53 77-195 office@lfv.bremen.de www.verfassungsschutz.bremen.de Gestaltung: AlsterWerk MedienService GmbH, Hamburg Fotos: LfV Titelbild: picture alliance, Peter Schickert Rückseite: iStock, Jürgen Sack Druck: AlsterWerk MedienService GmbH, Hamburg Erscheinungsdatum: 31. Mai 2024 *