Freie Hansestadt Bremen Verfassungsschutzbericht Bremen 2022 Der Senator für Inneres VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2022 3 Verfassungsschutzbericht Bremen 2022 4 VORWORT Vorwort Im vergangenen Jahr zeigte sich weiterhin, dass extremistische Akteure gezielt gesellschaftliches Konfliktund Krisenpotenzial aufgreifen, um ihre Propaganda und verfassungsfeindlichen Ideologien in bürgerliche Proteste einzubringen. Die Gefahr, die von der Entstehung einer solchen heterogenen Mischszene ausgeht, zeigte sich besonders eindrücklich an den beiden rechtsterroristischen Gruppierungen "Vereinte Patrioten" sowie der Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß. Beide Gruppierungen planten die gewaltsame Beseitigung des demokratischen Rechtstaates und die Etablierung eines neuen Regierungssystems. Ihre Anhänger:innen rekrutierten sich dabei sowohl aus dem Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen", Rechtsextremist:innen als auch Angehörigen des neuen Phänomenbereichs "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates". Beide Fälle zeigen eindrücklich das hohe Bedrohungspotenzial, das von dem Glauben an antisemitisch gefärbte Verschwörungsund Widerstandserzählungen ausgeht. Das frühe und konsequente Eingreifen der Sicherheitsbehörden verhinderte, dass die Angehörigen dieser Gruppierungen ihre Gewaltfantasien in die Tat umsetzen konnten. Für Extremist:innen bieten die vielfältigen Vernetzungsmöglichkeiten im virtuellen Raum über diverse Messenger-Dienste und Kommunikationsplattformen eine einfache Möglichkeit, ihre verfassungsfeindlichen Weltanschauungen möglichst breit zu streuen, neue Anhänger:innen zu rekrutieren sowie sich untereinander zu vernetzen. Der digitale Raum ist geprägt durch eine enorme Dynamik und Anpassungsfähigkeit, wodurch sich Radikalisierungsverläufe rasant beschleunigen können. Die umfassende Aufklärung des extremistischen Personenpotenzials im virtuellen Raum stellt somit auch weiterhin einen elementaren Schwerpunkt der Arbeit der Sicherheitsbehörden dar. Die Schwerpunkte der gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens verlagerten sich im Jahr 2022 im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und die sich daraus ergebenden wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen für die Gesellschaft auf die Aktionsund Themenfelder "Antimilitarismus" und "Soziale Kämpfe". Linksextremistische Gruppierungen versuchen aktiv, ihren Einfluss auf legitime und bürgerlich geprägte Proteste auszuweiten und Anschlussfähigkeit für ihre Propaganda hervorzurufen. VORWORT 5 Im Phänomenbereich Islamismus setzte sich im Berichtsjahr die bereits in den Vorjahren festgestellte zunehmende Verlagerung islamistischer Radikalisierungsbemühungen in den digitalen Raum fort. In der salafistischen Szene dienen Social-Media-Plattformen und Messenger-Dienste, neben der allgemeinen Kommunikation, auch der Verbreitung salafistischer Inhalte sowie dem Werben neuer Anhänger:innen. In Teilen ersetzt die digitale Vernetzung zwischenmenschliche Kontakte vollständig, da insbesondere die Möglichkeit der anonymen und verschlüsselten Kommunikation aus Sicht der salafistischen Nutzer:innen eine konspirative Vorgehensweise ermöglicht. Das am 17. März 2022 durch den Senator für Inneres, Bremen, verkündete Verbot des schiitisch-islamistischen Vereins "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." stellte eine Besonderheit dar. Es handelte sich um eines der ersten Verbote eines Hizb-Allah-Unterstützungsverein in Deutschland. Der Verein und sein Vorstand richteten sich u. a. gegen den Gedanken der Völkerverständigung, indem sie den Hass gegen Angehörige anderer Religionen schürten. In der noch nicht rechtskräftigen Entscheidung des Bremer Oberverwaltungsgerichts vom 15. November 2022 berücksichtigt der Senat in allen wesentlichen Punkten die seitens des LfV Bremen beigebrachten Erkenntnisse. Wie auch schon in den letzten Jahren waren die Tätigkeiten der extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug geprägt von den Ereignissen in den jeweiligen Herkunftsregionen. Mit Rückgang der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie nahmen auch die öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen in Bremen wieder zu. Gerade im Hinblick auf die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen am 14. Mai 2023 in der Türkei ist der Emotionalisierungsgrad auch in Bremen und Bremerhaven nach wie vor hoch und birgt die Gefahr von wechselseitigen Provokationen zwischen den Anhänger:innen der PKK und Personen des türkisch-rechtsextremistischen Spektrums. Die Arbeit des Verfassungsschutzverbundes wurde im Jahr 2022 maßgeblich durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine geprägt. Die sich hieraus ergebenden Entwicklungen stellen die Bereiche der Spionageund Cyberabwehr, Proliferationsbekämpfung und den Geheimschutz vor besondere Herausforderungen. Russische Spionageund Cyberaktivitäten sowie gezielte Desinformationskampagnen - über soziale Medien bis hin zu rundfunkähnlichen Formaten - sollen zu einer erheblichen Verunsicherung der Bevölkerung beitragen und zu einer Destabilisierung unserer Demokratie führen. Insofern ist auch hier die konsequente Aufklärung solcher Bestrebungen durch den Verfassungsschutz essenziell. 6 VORWORT Darüber hinaus sind viele der in Bremen ansässigen Unternehmen von besonderem Aufklärungsinteresse durch ausländische Dienste. Deren Methoden der Informationsgewinnung verlagern sich immer stärker in den Cyberraum und stellen somit eine besondere Herausforderung für die Cyberabwehr, den Geheimschutz als auch die Unternehmen selbst dar. Der vorliegende Jahresbericht 2022 zeigt deutlich, welch vielfältigen Angriffen die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgesetzt ist. Die Bewahrung und Aufrechterhaltung der demokratischen Werte setzt neben dem individuellen Bekenntnis zur Demokratie auch ein gut funktionierendes Frühwarnsystem voraus, welches in der Lage ist, konsequent und vorausschauend mögliche Bedrohungen abzuwehren und Aufklärung gegenüber der Öffentlichkeit zu leisten. Die Arbeit des Verfassungsschutzes ist ein wesentlicher Bestandteil dieser frühzeitigen und umfassenden Gefahrenabwehr. An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Mitarbeiter:innen herzlich für ihren Einsatz bedanken. Ulrich Mäurer Senator für Inneres Anmerkung: Die Verwendung der geschlechtersensiblen Sprache im folgenden Bericht spiegelt nicht die Geschlechterverhältnisse des jeweiligen Phänomenbereichs wider. 7 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Unterstützungsaufgaben des LfV Anhang 8 INHALTSVERZEICHNIS Inhaltsverzeichnis 12 1 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz 14 1.1 Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden 15 1.2 Rechtsgrundlagen und Kontrolle des Verfassungsschutzes 16 1.3 Haushalt und Personal 18 2 Öffentlichkeitsarbeit und Prävention 18 2.1 Öffentlichkeitsarbeit des LfV 21 2.2 Weitere Präventionsangebote in Bremen 24 3 Rechtsextremismus 24 3.1 Rechtsextremistisches Weltbild 26 3.2 Rechtsterrorismus 32 3.3 Rechtsextremistische Agitation und Propaganda 37 3.4 Rechtsextremist:innen im öffentlichen Dienst 38 3.5 Rechtsextremistische Beeinflussung der Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie 39 3.5.1 Demonstrationsgeschehen 40 3.5.2 Rechtsextremistische Beeinflussung der Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in Bremen und Bremerhaven 41 3.6 Strukturen im Rechtsextremismus 41 3.6.1 "Neue Rechte" 42 3.6.2 "Identitäre Bewegung" (IB) 43 3.6.3 "Alternative für Deutschland" (AfD) 45 3.6.4 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) 46 3.6.5 "Die Rechte" 47 3.6.6 "Der III. Weg" 49 3.6.7 Rechtsextremistische "Mischszene" Bremens INHALTSVERZEICHNIS 9 54 4 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates 54 4.1 Extremismus eigener Art 55 4.2 Bedeutungsverlust der "Querdenken"-Bewegung bei Erstarken dezentraler Gruppierungen 56 4.3 Bundesweite Proteste 57 4.4 Virtuelle Vernetzung 59 4.5 Verbreitung von Verschwörungsideologien 62 4.6 Radikalisierung 63 4.7 Entwicklung der Proteste in Bremen 68 5 "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" 68 5.1 Struktur und Ideologie 69 5.2 Aktivitäten 70 5.3 Gewalt und Affinität zu Waffen 72 5.4 "Reichbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" in Bremen 73 5.5 Gruppierungen in Bremen 78 6 Linksextremismus 78 6.1 Linksextremistisches Weltbild und linksextremistische Strukturen 81 6.2 Gruppierungen des gewaltorientierten Linksextremismus 91 6.3 Aktivitäten gewaltorientierter Linksextremist:innen 94 6.3.1 Proteste gegen Rechtsextremist:innen und Rechtspopulist:innen 97 6.3.2 Prosteste gegen "staatliche Repression" 98 6.3.3 "Antimilitarismus" 101 6.3.4 "Soziale Kämpfe" 102 6.3.5 Kampf um bezahlbaren Wohnraum 103 6.3.6 "Klimaproteste" 10 INHALTSVERZEICHNIS 108 7 Islamismus 111 7.1 Islamistischer Terrorismus 112 7.1.1 Globales Terrornetzwerk "Al-Qaida" 112 7.1.2 "Islamischer Staat" (IS) 113 7.1.3 Globale Entwicklungen im islamistischen Terrorismus 116 7.1.4 Islamistischer Terrorismus in Deutschland 118 7.1.5 Jihadistische Szene in Bremen 124 7.2 Salafismus 128 7.2.1 Salafismus im Land Bremen 129 7.2.2 "Islamisches Kulturzentrum Bremen e.V." (IKZ) 132 7.3 Legalistischer Islamismus 133 7.3.1 Muslimbruderschaft 135 7.3.2 "Hizb ut-Tahrir" 137 7.3.3 "Saadet Partisi" 138 7.4 Schiitischer Islamismus 138 7.4.1 "Hizb Allah" 143 7.4.2 Sonstiger schiitischer Islamismus 148 8 Auslandsbezogener Extremismus 150 8.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) 159 8.2 "Ülkücü"-Bewegung / "Graue Wölfe" 168 9 Unterstützungsaufgaben des LfV 168 9.1 Geheimschutz 171 9.2 Mitwirkung an Zuverlässigkeitsüberprüfungen 172 9.3 Entwicklung der Regelanfragen 176 Anhang 178 Impressum 11 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Unterstützungsaufgaben des LfV Anhang 12 AUFGABEN DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ 1 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Das Grundgesetz konstituiert die Bundesrepublik Deutschland als "wehrhafte" Demokratie. Neben weiteren rechtlichen Vorkehrungen bildet die Einrichtung von Verfassungsschutzbehörden hierbei eine wesentliche institutionelle Säule, die verfassungsrechtlich vorgezeichnet ist. Gemäß Art. 73 Grundgesetz besteht die Aufgabe des Verfassungsschutzes im Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sowie des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder. Die Verfassungsschutzgesetze von Bund und Ländern führen diesen Auftrag näher aus und erläutern, dass auch die Aspekte der Spionageabwehr, des Schutzes der auswärtigen Belange Deutschlands vor Gefährdungen mittels Gewaltanwendung und der Gedanke der Völkerverständigung hierzu gehören. Freiheitlich demokratische Der für die Arbeit des Verfassungsschutzes zentrale Grundordnung Aspekt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung Garantie der Menschenwürde umfasst dabei nach der Rechtsprechung des BundesDemokratieprinzip verfassungsgerichts die tragenden Prinzipien des freiRechtsstaatsprinzip heitlichen Verfassungsstaates: das Rechtsstaatsund das Demokratieprinzip sowie der Schutz der Menschenwürde, mithin jene fundamentalen Werte und Prinzipien, die für unser Gemeinwesen schlechthin unverzichtbar sind. Bestrebungen, die dagegen gerichtet sind, werden auch als extremistisch bezeichnet. Dieser Begriff ist daher nicht eine Frage des jeweiligen politischen Standpunkts, sondern durch das Grundgesetz und die Verfassungsschutzgesetze für die Arbeit des Verfassungsschutzbehörden vorgegeben. Die Bedrohungen, zu deren Abwehr der Verfassungsschutz seinen Beitrag leistet, können sich dabei mit der Zeit verändern und neue Gefahren können hinzutreten. Während der Rechtsund der Linksextremismus ebenso wie der auslandsbezogene Extremismus seit vielen Jahrzehnten für die Gefährdungslage relevant sind, haben später hinzugekommene Phänomene wie der Islamismus und neuere Entwicklungen wie etwa die "Reichsbürgerbewegung" die Bedrohungslage komplexer werden lassen. Für die Arbeit des Landesamts für Verfassungsschutz ist dabei naturgemäß die Sicherheitslage in der Freien Hansestadt Bremen maßgebend. Insbesondere das Ausmaß der Gewaltorientierung, die im Einzelfall erkennbar wird, ist dabei ein wichtiger Aspekt, der für die Schwerpunktsetzung bei der Beobachtung einer Bestrebung entscheidend ist. Vielfach bereiten jedoch auch Bestrebungen im nicht-gewaltorientierten Extremismus erst das Umfeld für andere, die Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung unterstützen oder befürworten; auch diese müssen daher intensiv in den Blick genommen werden. Neben den extremistischen Gefahren, die je nach einzelner Bestrebung und Phänomen- AUFGABEN DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ 13 bereich unterschiedlich ausgeprägt sind, herrscht bei anderen Elementen bisweilen Übereinstimmung über die extremistischen Lager hinweg, etwa beim Antisemitismus: Antisemitismus Antisemitismus stellt einen Arbeitsschwerpunkt des LfV dar. Die Verbreitung von Antisemitismus unter Islamisten, Rechtsund Linksextremisten sowie weiteren Extremisten zeigte sich nicht zuletzt durch die steigende Zahl antisemitischer Vorfälle in den vergangenen Jahren in Deutschland. Der Verfassungsschutz arbeitet mit der 2017 von der "Internationalen Allianz für HolocaustGedenken" (IHRA) entwickelten Arbeitsdefinition: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein." (BT-Drs. 19/444, Bremische Bürgerschaft 19/1808) Im Rechtsextremismus gehört die Feindschaft gegenüber Juden zum festen Bestandteil der Ideologie. Im Nationalsozialismus wurde die Ausgrenzung, Vertreibung und Vernichtung von Juden rassistisch begründet, während Antisemitismus bis dahin vor allem religiös und sozial begründet worden war. Entsprechend noch heute existierender und ständig weiter gesponnener Verschwörungsfantasien werden Juden weltweit für politische, soziale und wirtschaftliche Probleme verantwortlich gemacht; es herrscht die Vorstellung, dass ein weltweit vernetztes jüdisches Volk die Fäden im Verborgenen spinnt. Der Verfassungsschutz kann und soll Gefahren nicht unmittelbar selbst abwehren, sondern ist damit betraut, entsprechende Informationen zu sammeln und zu analysieren und die Erkenntnisse sodann Dritten zur Verfügung zu stellen. Empfänger dieser Informationen des bremischen Verfassungsschutzes sind einerseits Senat und Bürgerschaft, die insbesondere mit Analysen zur Sicherheitslage in Bremen unterstützt werden. Zum anderen sind andere Behörden wesentliche Abnehmer der Erkenntnisse, insbesondere Polizei und Ordnungsbehörden, die auf Grundlage der Hinweise gefahrenabwehrende Maßnahmen treffen können. Nicht zuletzt ist die allgemeine Öffentlichkeit zentraler Adressat der Erkenntnisse des Verfassungsschutzes - u. a. durch das Veröffentlichen des jährlichen Verfassungsschutzberichtes. Zunehmend werden aber auch weiterführende Erläuterungen nachgefragt, die das LfV auf Nachfrage etwa in Form von Vorträgen gern zur Verfügung stellt. 14 AUFGABEN DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ 1.1 Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden Der Verfassungsschutz hat eine andere Aufgabe als andere Sicherheitsbehörden, insbesondere als die Polizei. Letztere kann im Regelfall erst dann tätig werden, wenn eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder bereits eine Straftat vorliegt. Für die Aufgabe des Verfassungsschutzes, vor extremistischen Bestrebungen zu warnen und darüber zu informieren, käme dies regelmäßig zu spät. Gleichwohl gehen auch von diesen Bestrebungen vielfach konkrete Gefahren aus, sodass eine Zusammenarbeit der unterschiedlichen Behörden unabdingbar ist. Da Verfassungsschutzund Polizeibehörden schon von Verfassungswegen voneinander organisatorisch und inhaltlich getrennt sein müssen, bestehen für die Zusammenarbeit der Behörden jeweils gesetzliche Bestimmungen, u. a. in Form von Vorschriften, die die Informationsübermittlung regeln. Gemeinsame Zentren Als eine Verbesserung der Zusammenarbeit haben sich seit einigen Jahren das "Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum" (GTAZ) für den Bereich des islamistischen Terrorismus und das "Gemeinsame Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum" (GETZ) für die übrigen Phänomenbereiche bewährt. An ihnen sind insbesondere die Polizeibehörden von Bund und Ländern wie auch sämtliche deutsche Nachrichtendienste beteiligt. GTAZ und GETZ setzen sich aus der Polizeilichen und der Nachrichtendienstlichen Informationsund Analysestelle (PIAS und NIAS) zusammen. Beide Zentren tragen dabei zum effizienten Informationsaustausch bei. Bundesamt für GeneralbundesMigration und anwalt Flüchtlinge Bundesamt für BundeskriminalVerfassungsamt schutz 16 Landesämter 16 LandesNIAS für Verfassungskriminalämter GTAZ schutz GETZ PIAS BundesBundespolizei nachrichtendienst Militärischer Zollkriminalamt Abschirmdienst AUFGABEN DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ 15 1.2 Rechtsgrundlagen und Kontrolle des Verfassungsschutzes Wie bei jeder anderen Behörde ist auch für das Handeln des Verfassungsschutzes in jedem Einzelfall eine gesetzliche Grundlage erforderlich. Neben dem Bundesverfassungsschutzgesetz, das bundeseinheitlich auch mit Wirkung für die Länder Aspekte der Zusammenarbeit regelt, ist das bremische Verfassungsschutzgesetz (BremVerfSchG) die zentrale Rechtsgrundlage, die für das Landesamt für Verfassungsschutz wesentliche Aufgaben und Befugnisse normiert. Hinzu treten weitere Gesetze, etwa für den Bereich der Telekommunikationsüberwachung das nach dem Artikel zum Postund Fernmeldegeheimnis im Grundgesetz benannten Artikel-10-Gesetz mit einem bremischen Ausführungsgesetz. In zahlreichen anderen Gesetzen werden dem Verfassungsschutz darüber hinaus Mitwirkungsaufgaben auferlegt, vor allem im Bereich der Sicherheitsoder Zuverlässigkeitsüberprüfungen von Personen, etwa durch das bremische Sicherheitsüberprüfungsgesetz, das Luftsicherheitsgesetz oder auch das Waffengesetz. Bei der Erfüllung seiner Aufgaben nach diesen Gesetzen unterliegt das Landesamt für Verfassungsschutz dabei der Kontrolle, zum Teil durch besondere Gremien. Neben der allgemeinen Kontrolle, der jede Behörde unterliegt, also einerseits durch die behördeninterne Kontrolle des Senators für Inneres sowie andererseits die externe Kontrolle durch die Gerichte oder z. B. die Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, treten aufgrund der besonderen Befugnisse des Verfassungsschutzes die Parlamentarische Kontrollkommission und die G10-Kommission: Parlamentarische Kontrollkommission (PKK) Die PKK besteht aus wenigen Mitgliedern der Bürgerschaft und wird vom Senator für Inneres über die gesamte Tätigkeit des Landesamts für Verfassungsschutz umfassend unterrichtet. Sie kann auch Einsicht in die Unterlagen des Amtes nehmen und Zugang zu seinen Einrichtungen verlangen; der Einsatz von V-Personen bedarf ihrer Zustimmung. Aufgrund dieser eingehenden Unterrichtung über die regelmäßig einer besonderen Vertraulichkeit unterliegenden Informationen tagt sie geheim. Die aktuelle personelle Zusammensetzung der PKK ist auf der Internetseite der bremischen Bürgerschaft verzeichnet, https://www.bremische-buergerschaft.de/index.php?id=255. G10-Kommission Die G10-Kommission entscheidet über die Zulässigkeit und Notwendigkeit von Beschränkungsmaßnahmen des Telekommunikationsgeheimnisses. Ihre Kontrolle erstreckt sich auf die gesamte Erhebung, Verarbeitung und Nutzung der entsprechen- 16 AUFGABEN DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ den Daten. Sie besteht aus drei Personen, die von der Bremischen Bürgerschaft gewählt werden. Mindestens der oder die Vorsitzende besitzt die Befähigung zum Richteramt. Kontrolle des Verfassungsschutzes Senator Gerichte Bürgerschaft und PKK Datenschutz(Parlamentarische beauftragte Kontrollkommission) Bremer Verfassungsschutz G10-Kommission Medien Innendeputation Bürger:innen 1.3 Haushalt und Personal Zur Erfüllung seiner Aufgaben gab das Landesamt für Verfassungsschutz Bremen im Haushaltsjahr 2022 für Personal 3.952.055,79 Euro (2021: 3.930.380,31 Euro) und für Sachmittel 1.364.619,85 Euro (2021: 1.200.576,78 Euro) aus. Die investiven Ausgaben betrugen 140.445,81 Euro (2021: 516.478,21 Euro). Das Gesamtausgabevolumen lag bei 5.457.121,45 Euro (2021: 5.647.435,30 Euro). Das Beschäftigungsvolumen umfasste 72 Vollzeiteinheiten (2021: 72). 17 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Unterstützungsaufgaben des LfV Anhang 18 ÖFFENTLICHKEITSARBEIT UND PRÄVENTION 2 Öffentlichkeitsarbeit und Prävention 2.1 Öffentlichkeitsarbeit des LfV Die Bekämpfung extremistischer Aktivitäten erfolgt in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext. So ist es dem LfV auch ein besonderes Anliegen, das Wissen des Verfassungsschutzes für die Aufklärung und die freie Meinungsbildung, aber auch für die erfolgreiche Präventionsarbeit anderer Institutionen in Staat und Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Um den Anforderungen an einen modernen Verfassungsschutz gerecht zu werden, legt das Bremer Landesamt großen Wert auf größtmögliche Transparenz. Gleichzeitig gilt es, die Rolle als ein der Vertraulichkeit verschriebener Nachrichtendienst nicht aus den Augen zu verlieren, der in allen Bereichen des Extremismus auch für besonders schutzwürdige Informationen oder Informationsgeber ansprechbar sein muss. Diese vertraulich erlangten Informationen zu abstrahieren, um sie dadurch der Öffentlichkeit zugänglich machen zu können, gehört zu den besonderen Aufgaben des LfV. Um der Rolle als "Frühwarnsystem" gerecht zu werden, nutzt das LfV gezielt unterschiedliche Formate, um die Öffentlichkeit über die Erkenntnisse hinsichtlich der Entwicklungen extremistischer Bestrebungen zu informieren. Neben dem hier vorgelegten Jahresbericht 2022, der eine umfassende Zusammenstellung der Aktivitäten unterschiedlicher Organisationen und Personen in allen extremistischen Phänomenbereichen darstellt, werden auch zielgerichtet einzelne Themen im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit aufgegriffen. Hierbei beteiligen sich die Beschäftigten des LfV überregional an Vortragsveranstaltungen, Podiumsdiskussionen oder Workshops. Insgesamt bezweckt das LfV, durch die unterschiedlichen Formen der Öffentlichkeitsarbeit zu einer tatsachenbasierten Darstellung von extremistischen Erscheinungsformen beizutragen und die Bevölkerung insoweit zu sensibilisieren. Denn unabdingbare Voraussetzung einer wehrhaften Demokratie ist eine gut informierte Öffentlichkeit, die im Stande ist, extremistischen Ideologen entschieden entgegenzutreten. Vorträge Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit bietet das LfV Vorträge über extremistische Bestrebungen an. In den Vorträgen kann es um aktuelle Entwicklungen und extremistische Erscheinungsformen im Lande Bremen gehen, jedoch können nach Bedarf auch andere Schwerpunkte gesetzt werden. Die Vorträge richten sich insbesondere an Beschäftigte von Behörden, Einrichtungen, Vereinen und Schulen. So werden regelmäßig Schulungen in unterschiedlichen Bereichen der öffentlichen Verwaltung ange- ÖFFENTLICHKEITSARBEIT UND PRÄVENTION 19 boten, die die Teilnehmenden in die Lage versetzen, extremistische Tendenzen zu erkennen und hiermit umzugehen, etwa durch die Vermittlung von Deradikalisierungsangeboten oder zu Präventionseinrichtungen. Im Bereich Islamismus verfolgt das LfV vor allem das Ziel, die öffentliche Debatte über Islam und Islamismus zu versachlichen und die bremische Bevölkerung über islamistische Bestrebungen zu informieren, um auf diese Weise auch einen Beitrag zur Bekämpfung von antimuslimischem Rassismus zu leisten. Beschäftigte von Behörden und zivilgesellschaftlichen Vortragsanfragen: Stellen sollen in die Lage versetzt werden, zwischen Haben Sie oder Ihre Institution legitimer Religionsausübung und dem eventuellen Interesse an einem Vortrag zu Abdriften einer Person in extremistische Kreise zu einem oder mehreren Themenfelunterscheiden. Zentrales Anliegen ist es, dabei zu heldern im Bereich Extremismus und fen, die Radikalisierung junger Personen frühzeitig zu Prävention? Dann kontaktieren erkennen und verschiedene Maßnahmen und MeldeSie uns gerne entweder unter wege aufzuzeigen, bevor Sicherheitsbehörden aktiv office@lfv.bremen.de oder über werden müssen. unsere Rufnummer 0421 5377-0 Öffentlichkeitsarbeit und Corona Die beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben auch im vergangenen Jahr noch dazu geführt, dass viele der geplanten Veranstaltungen entweder gar nicht oder nicht in der gewohnten Form stattfinden konnten. Gerade in diesen Zeiten, in denen durch die Auswirkungen der Pandemie eine große Verunsicherung innerhalb der Bevölkerung herrscht und Extremisten jeglicher Couleur versuchen, vor allem diese verunsicherten Teile der Gesellschaft für ihre Propagandazwecke zu instrumentalisieren, spielt die Öffentlichkeitsarbeit durch das LfV jedoch eine essenzielle Rolle bei der Aufklärung und Sensibilisierung der Bevölkerung. Im Bereich der Fortbildungsund Vortragsveranstaltungen wurde daher vermehrt auf die Nutzung digitaler Formate zurückgegriffen, um die entsprechenden Ausfälle zu kompensieren. Die verstärkte Nutzung von Online-Formaten bietet auch langfristig die Möglichkeit, größere Teile der Bevölkerung zu erreichen, weshalb in Zukunft vermehrt der Ausbau der Online-Angebote durch das LfV vorangetrieben wird. Präventionsarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Verwaltung Prävention in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Verwaltung ist ein weiteres zentrales Instrument der Öffentlichkeitsarbeit des Landesamtes für Verfassungsschutz Bremen. Sie verfolgt das Ziel, Bedarfsträger aus Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Politik und Behörden für etwaige Gefährdungen aus dem Geschäftsbereich des Verfassungsschutzes zu sensibilisieren. Hierzu zählen neben den Gefahren des 20 ÖFFENTLICHKEITSARBEIT UND PRÄVENTION Extremismus vor allem auch die der Spionage, Sabotage und Proliferation1 sowie staatlich gesteuerten Bedrohungen aus dem Cyberraum. Als weltweit anerkannter Forschungsund Industriestandort verfügt das Land Bremen wie die hier ansässigen Unternehmen und Institutionen - teils als Weltmarktführer - über umfassendes und spezifisches Know-how in unterschiedlichsten Wirtschaftsund Forschungsbereichen, das es vor illegalem Abfluss ins Ausland zu schützen gilt. So sind verschiedene ausländische Nachrichtendienste an dem in Bremen vorhandenen Wissen und Gütern interessiert und versuchen sich diese illegal und unter Verwendung nachrichtendienstlicher Mittel zu beschaffen. Während solche "Beschaffungsversuche" nach dem deutschen Recht strafbewehrt sind, sehen einige Staaten - wie zum Beispiel Russland - Wirtschaftsspionage als legitimes Mittel an, um die eigene Volkswirtschaft und technologische Entwicklung zu fördern. So finden sich in den Gesetzesgrundlagen ausländischer Nachrichtendienste regelmäßig Formulierungen, die den fremden Nachrichtendiensten ausdrücklich Spionagehandlungen zu diesem Zweck erlauben und damit letztlich schwarz auf weiß die Legitimation für Wirtschaftsspionage darstellen. Der potenzielle Schaden durch Spionage ist dabei hoch und verstärkt die Notwendigkeit, proaktive Präventionsarbeit durchzuführen. Auch der Angriffskrieg der Russischen Föderation auf die Ukraine führt die immense Bedeutung der Sabotageund Spionageabwehr vor Augen und verdeutlicht die Bedrohung durch staatlich gesteuerte Cyberangriffe. Der Fachbereich Prävention in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Verwaltung im LfV steht den Bremer Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen als Ansprechpartner zur Verfügung, um sie für bestehende Risiken aus den Phänomenbereichen des Verfassungsschutzes zu sensibilisieren und auf etwaige Gefährdungen hinzuweisen. 1 Proliferation bezeichnet die Weiterverbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen bzw. der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte, einschließlich des dafür erforderlichen Know-hows, sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen. ÖFFENTLICHKEITSARBEIT UND PRÄVENTION 21 2.2 Weitere Präventionsangebote in Bremen Demokratiezentrum Land Bremen Das Demokratiezentrum Land Bremen koordiniert umfassende Präventionsund Beratungsangebote für Betroffene, Ratsuchende und Interessierte zu den Themengebieten Rechtsextremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sowie islamistischer Extremismus und antimuslimischer Rassismus im Rahmen des Bundesprogrammes "Demokratie leben!". Die Arbeit des Projektverbundes ist an den Förderzielen Kontakt: "Demokratieförderung, Extremismusprävention Senatorin für Soziales, Jugend, Frauen, und Vielfaltgestaltung" ausgerichtet. Integration und Sport Referat 22 - Kinderund Jugendförderung Das Demokratiezentrum fungiert als ErstkonDemokratiezentrum taktstelle und verweist an die Beratungsstellen Dienstsitz: im Projektverbund. Das bei freien Trägern2 der Bahnhofstraße 28 - 31 Kinderund Jugendhilfe angesiedelte BeraPostanschrift: Bahnhofsplatz 29 tungsangebot beruht auf den fachlichen 28195 Bremen Grundsätzen der Freiwilligkeit und der VertrauTel.: 0421 361-996 67 lichkeit, ist niedrigschwellig ausgerichtet und demokratiezentrum@soziales.bremen.de für Ratsuchende kostenfrei. Das Demokratiewww.demokratiezentrum.bremen.de zentrum koordiniert Unterstützungsangebote für Betroffene rechter Gewalt und Angebote der Distanzierungsund Ausstiegsberatung, die zivilgesellschaftlich verortet sind. Zum Umgang mit den Phänomenbereichen Rechtsextremismus, islamistischer Extremismus, antimuslimischer Rassismus und weiteren Facetten gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit bietet das Demokratiezentrum Hilfestellungen bzgl. Interventionsmöglichkeiten und Handlungsstrategien. Neben der Koordination der Netzwerkarbeit für die Akteurinnen und Akteure in den Arbeitsfeldern werden Informationsmaterialien entwickelt und Fachveranstaltungen organisiert. Das Angebot der Fachund Beratungsstelle "ADERO" (bis 2021 "kitab") richtet sich primär an Eltern und Angehörige von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich möglicherweise in einem HinwendungsKontakt: prozess zu religiös begründetem Extremismus www.adero-bremen.de befinden. Ebenso leistet "ADERO" Beratung und E-Mail: adero@vaja-bremen.de Unterstützung für Fachkräfte der Kinderund Tel.: 0157 391 302 45 2 Träger sind das LidiceHaus, das Rat&Tat-Zentrum, der VAJA e.V., und perspektive ausstieg - Verein für Demokratieförderung und Rechtsextremismusprävention e.V. 22 ÖFFENTLICHKEITSARBEIT UND PRÄVENTION Jugendhilfe, der sozialen Dienste und weiterer relevanter Berufsfelder, die hinsichtlich solcher Wahrnehmungen sensibilisiert sind. Die Fachund Beratungsstelle begleitet bei der Distanzierung und bietet Unterstützung für die betroffenen Heranwachsenden. Je nach Bedarf kann die Beratung auch in arabischer und englischer Sprache erfolgen. "ADERO" ist Teil des Projektverbundes des Demokratiezentrums. Kompetenzzentrum für Deradikalisierung und Extremismusprävention - KODEX In Ergänzung zum Angebot des Demokratiezentrums Bremen ist KODEX zuständig für Anfragen und Angebote bei der Arbeit mit bereits stark radikalisierten Personen aus den Bereichen des gewaltorientierten Islamismus sowie des gewaltorientierten Rechtsextremismus. Für diesen Bereich der sog. tertiären PrävenKontakt tion arbeitet KODEX mit der zivilgesellschaftlichen Der Senator für Inneres Beratungsstelle Legato-Disengagement zusammen. KODEX Contrescarpe 22/24 KODEX versteht sich als allgemeiner Ansprechpartner 28203 Bremen für Fragen rund um das Thema ExtremismusprävenTel.: 0421 361-81679 tion und unterstützt sowohl die Vernetzung der kodex@inneres.bremen.de Akteure im Aufgabenkreis der allgemeinen Extremiswww.kodex.bremen.de/ musprävention als auch die wissenschaftliche Begleitforschung im Themenfeld Radikalisierung, Deradikalisierung und Ausstieg. Außerdem bietet KODEX Hilfe bei Qualifizierung und Weiterbildung für diesen Bereich an. 23 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Unterstützungsaufgaben des LfV Anhang 24 RECHTSEXTREMISMUS 3 Rechtsextremismus Rechtsterroristische Täter:innen1 und Kleingruppen bildeten auch im Jahr 2022 eine enorme Bedrohung für den demokratischen Rechtsstaat. Die verhinderten Anschlagspläne der rechtsterroristischen Gruppierungen "Vereinte Patrioten" und die Gruppe um den Rädelsführer Heinrich XIII. Prinz Reuß belegten eindrücklich, welche Gefahr von sich im Verborgenen radikalisierenden Gruppierungen für die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgeht. Die Sicherheitsbehörden stehen vor der Herausforderung, sowohl virtuelle als auch realweltliche Radikalisierungsprozesse frühzeitig zu erkennen. Die rechtsextremistische Szene versuchte wie bereits im Vorjahr, von gesamtgesellschaftlichen Krisen und Konfliktlagen zu profitieren: Bundesweit unterwanderten erneut Teile der Szene aktiv die Proteste, die im Kontext der andauernden CoronaPandemie stattfanden, und trugen so wesentlich zur fortschreitenden Radikalisierung der Protestlage bei. Das Ausnutzen von Notlagen und Krisensituationen dient weiterhin der Verbreitung ihrer demokratieablehnenden Haltung und Propaganda. 3.1 Rechtsextremistisches Weltbild Rechtsextremismus ist eine Weltanschauung, die sich vor allem gegen die fundamentale Gleichheit aller Menschen richtet (Ideologie der Ungleichheit). Rechtsextremist:innen sind der Überzeugung, dass die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder Rasse über den Wert eines Menschen entscheidet, welchem aufgrund dessen (Grund-)Rechte verwehrt bleiben. Die rechtsextremistische Ideologie besteht aus folgenden Elementen: Fremdenfeindlichkeit Fremdenfeindlichkeit umschreibt eine ablehnende Haltung gegenüber allem, was als fremd und deshalb bedrohlich oder minderwertig empfunden wird. Abgelehnt werden vor allem Ausländer:innen, Personen muslimischen Glaubens, Obdachlose, Behinderte und Homosexuelle. Personen werden aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ethnischen Zugehörigkeit oder Nationalität abgewertet. Während die Ausländerfeindlichkeit die Feindseligkeit gegenüber Ausländer:innen meint, beschreibt die Islamoder Muslimfeindlichkeit die Feindseligkeit speziell gegenüber Personen muslimischen Glaubens. 1 Die Verwendung des durchaus umstrittenen Begriffs "Einzeltäter:in" wird an dieser Stelle vermieden, da er insofern irreführend ist, als dass die Taten zwar durch allein handelnde Personen ausgeführt werden, die Täter:innen sich aber immer in einem sozialen Umfeld radikalisieren. RECHTSEXTREMISMUS 25 Antisemitismus Antisemitismus meint die Feindschaft gegenüber Personen jüdischen Glaubens, die häufig politisch, kulturell, sozial oder rassistisch begründet ist und vielfach mit Verschwörungsideologien untermauert wird. Die Feindschaft gegenüber Juden ist nach wie vor das verbindende Ideologieelement von Rechtsextremist:innen unterschiedlicher Spektren. Revisionismus Revisionismus meint die Umdeutung historischer, rechtlicher und wissenschaftlicher Fakten für die eigenen Zwecke. Der Rechtsextremismus ist durch Einstellungen geprägt, die geschichtliche Tatsachen leugnen und tendenziell zur Verharmlosung, Rechtfertigung oder gar Verherrlichung nationalsozialistischer Verbrechen einschließlich des Holocausts beitragen. Rassismus Rassismus ist eine Ideologie der Ungleichheit, die sich durch eine menschenfeindliche Abwertung anderer aufgrund deren Zugehörigkeit zu einer vermeintlich homogenen Gruppierung ausdrückt. Beim Rassismus wird aus genetischen Merkmalen der Menschen eine naturgegebene Rangordnung abgeleitet und zwischen "wertvollen" und "minderwertigen" Rassen unterschieden. Nationalismus und Konzept der Volksgemeinschaft Unter Nationalismus ist ein übersteigertes Bewusstsein vom Wert und der Bedeutung der eigenen Nation zu verstehen. Die eigene Nation wird gegenüber anderen als höherwertig eingestuft. Der völkische oder rassistisch geprägte Nationalismus beruft sich darüber hinaus auf das Konzept der Volksgemeinschaft, welches die Verschmelzung eines totalitären Staates mit einer ethnisch homogenen Gemeinschaft vorsieht. In dieser Gemeinschaft sind die Interessen und Meinungen der Einzelnen dem Interesse und dem Wohl der Volksgemeinschaft gänzlich untergeordnet. Konzept des Ethnopluralismus Weltanschauungen, in denen der historische Nationalsozialismus und der völkische Rassismus betont werden, verlieren in der rechtsextremistischen Szene teilweise an Bedeutung. Vertreter:innen eines ethnopluralistischen Weltbildes argumentieren, dass sich Menschen nicht aufgrund ihrer "Rasse" voneinander unterscheiden, sondern anhand ethnischer und kultureller Faktoren. Dem Individuum kommen ausschließlich (Menschen-)Rechte aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einem ethnokulturellen Kollektiv zu. Das Konzept des Ethnopluralismus läuft jedoch ebenso wie das Konzept der Volksgemeinschaft im Wesentlichen auf die Idealvorstellung eines ethnisch homogenen 26 RECHTSEXTREMISMUS Staates hinaus, in dem sich das Individuum sowohl auf politischer als auch auf gesellschaftlicher Ebene dem Kollektiv unterordnet. Ablehnung von Demokratie und Pluralismus Das Ziel aller Rechtsextremist:innen besteht darin, den demokratischen Rechtsstaat mit seiner pluralistischen Gesellschaftsordnung durch einen ethnisch homogenen Staat oder eine Volksgemeinschaft zu ersetzen. Diese antidemokratischen Vorstellungen stehen im Widerspruch zur Werteordnung des Grundgesetzes und zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Fremdenfeindlichkeit als Grundelement rechtsextremistischen Denkens ist weder mit dem Prinzip der Menschenwürde noch mit dem Prinzip der Gleichheit aller Menschen vereinbar. Das autoritäre Staatsverständnis und das antipluralistische Gesellschaftsverständnis widersprechen sowohl dem Demokratieprinzip, wie z. B. der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität, dem Schutz von Minderheiten oder dem Recht zur Bildung und Ausübung einer Opposition, als auch dem Rechtsstaatsprinzip, wie z. B. der Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt, der Kontrolle dieser Bindung durch unabhängige Gerichte sowie dem staatlichen Gewaltmonopol. 3.2 Rechtsterrorismus Die drei rechtsterroristischen Attentate in Hanau im Februar 2020, in Halle im Oktober 2019 und in Kassel im Juni 2019 zeigten eindrücklich die große Herausforderung, vor der die Sicherheitsbehörden bei der Identifizierung von sich radikalisierenden rechtsterroristischen Täter:innen und Kleingruppen stehen. Über den mutmaßlichen Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hatte der Verfassungsschutz zum Tatzeitpunkt keine aktuellen Erkenntnisse mehr, obwohl er einen langen Vorlauf in der rechtsextremistischen Szene hatte. Den Attentäter von Halle kannte der Verfassungsschutz nicht, obwohl sein Weltbild eindeutig rassistisch und antisemitisch ist. Ebenso wenig war dem Verfassungsschutz der Attentäter von Hanau vor der Tat bekannt, der ein rechtsextremistisches, rassistisches Weltbild pflegte. Der Verfassungsschutz steht vor der schwierigen Aufgabe, rechtsextremistisch motivierte Personen oder Kleingruppen, die sich im Verborgenen im Internet und in sozialen Netzwerken radikalisieren, jedoch keine (enge) organisatorische Anbindung an die rechtsextremistische Szene aufweisen, in den Fokus zu nehmen. Bei der Identifizierung potenzieller rechtsextremistischer Attentäter:innen besteht zudem die Schwierigkeit, ihr Radikalisierungspotenzial und ihre weitere Entwicklung einzuschätzen und frühzeitig zu prognostizieren. RECHTSEXTREMISMUS 27 Vertrauliches Hinweistelefon des LfV Beim frühzeitigen Erkennen von rechtsextremistischen Bedrohungspotenzial sind die Sicherheitsbehörden in besonderem Maße auf die Unterstützung der Bevölkerung angewiesen. Aus diesem Grund hat das LfV Bremen ein vertrauliches Hinweistelefon geschaltet: Verdächtige Wahrnehmungen können unter der Telefonnummer 0421 5377-250 mitgeteilt werden. Rassistisch motiviertes Attentat in Hanau Der rechtsterroristische Attentäter Tobias R., der am 19. Februar 2020 an drei Tatorten in Hanau insgesamt zehn Personen ermordete, fünf weitere Personen verletzte und sich im Anschluss an die Tat selbst tötete, handelte aus einer rassistischen, fremdenfeindlichen Motivation heraus, die er in Beiträgen und Videos auf seiner Internetseite darlegte. Rechtsextremistische Ideologieelemente, wie Antisemitismus sowie ein rassistisches und ethnisch-homogenes Weltbild vertritt er ebenfalls in seiner "Botschaft an das gesamte deutsche Volk", mit der er seine Tat zu erklären versuchte. Das 24-seitige Schreiben besitzt starken autobiografischen Charakter und offenbart psychische Probleme des Attentäters. Verschwörungsfantasien sind in seinem Weltbild von zentraler Bedeutung, so glaubt er an die ständige Überwachung durch eine ominöse "Geheimorganisation". Antisemitisch motiviertes Attentat in Halle Am 9. Oktober 2019 versuchte der Rechtsextremist Stephan B., während des JomKippur-Gottesdienstes mit selbstgebauten Sprengsätzen und Schusswaffen bewaffnet eine Synagoge in Halle zu stürmen, scheiterte jedoch an den verschlossenen Türen. In der Synagoge hielten sich zum Tatzeitpunkt ca. 50 Gläubige auf. Nach der misslungenen Stürmung erschoss er vor der Synagoge eine Passantin und tötete im Anschluss eine weitere Person in einem nahegelegenen türkischen Imbiss. Während seines Fluchtversuchs, bei dem weitere Passanten verletzt wurden, lieferte er sich eine Schießerei mit der Polizei. Der Rechtsextremist Stephan B. wurde am 21. Dezember 2020 vom Oberlandesgericht Naumburg u. a. wegen zweifachen Mordes, vielfachen Mordversuchs und Volksverhetzung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Das Gericht stellte zudem die besondere Schwere der Schuld fest. Seine Tat hatte Stephan B. live per Helmkamera auf einer Gaming-Plattform übertragen und kommentierte sie für die Zuschauer:innen. Ähnlich wie bei einem Ego-Shooter, einem Computerspiel, bei dem der Spielende aus der Ich-Perspektive Mitspielende mit Waffen bekämpft, setzte er sich sog. "Achievements": Gewisse Tathandlungen folgten einem von ihm aufgestellten Punktesystem. Stephan B. hatte im Vorfeld der Tat ein Bekennerschreiben auf Englisch veröffentlicht, in welchem er sein rechtsextremistisches und antisemitisches Weltbild offenbarte. 28 RECHTSEXTREMISMUS Das Manifest sowie der Tathergang weisen Parallelen zu dem Terroranschlag auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch im März 2019 auf, bei dem insgesamt 51 Menschen getötet und weitere 50 verletzt wurden, sowie den Morden des norwegischen Massenmörders Anders Breivik im Jahre 2011. Die Liveübertragung der Morde sowie der Gaming-Charakter des Tathergangs sind Ausdruck eines rechtsterroristischen Bedrohungspotenzials, welches sich im Verborgenen der virtuellen Welt entwickeln und letztlich in realen Taten münden kann. Über Plattformen und Imageboards werden rechtsextremistische Ideologien und Verschwörungstheorien ausgetauscht und die Täter:innen rechtsterroristischer Anschläge glorifiziert. Mit geringem Aufwand können über das Internet eine enorme Reichweite erzielt und Nachahmungstäter:innen animiert werden. Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) gilt als "Zäsur", denn erstmals ist seit dem Jahr 1945 ein amtierender Politiker durch einen rechtsextremistisch motivierten Anschlag getötet worden. Lübcke wurde am 2. Juni 2019 vor seinem Wohnhaus aus nächster Nähe erschossen. Der Rechtsextremist Stephan E. wurde am 28. Januar 2021 vom Oberlandesgericht Frankfurt wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht stellte die besondere Schwere der Schuld fest, das heißt, dass eine Entlassung auf Bewährung aus der Strafhaft nach bereits 15 Jahren nicht in Betracht kommt. Der Rechtsextremist Stephan E. war über Jahre nicht mehr aktiv in rechtsextremistische Strukturen eingebunden und stand somit nicht im Fokus des Verfassungsschutzes. Der Tatverdächtige radikalisierte sich im Kontext der rechtsextremistischen "Anti-AsylAgitation" als Reaktion auf die sog. "Flüchtlingskrise" im Jahr 2015. Videound Fotoaufnahmen belegen, dass Stephan E. am 1. September 2018 am sog. "Trauermarsch" in Chemnitz teilnahm. Unter der Vorgabe, man trauere "um die Toten und Opfer der illegalen Migrationspolitik" in Deutschland, kam es bei dieser ausländerfeindlichen Kundgebung zu einem "Schulterschluss" des vermeintlich "patriotischen" Lagers mit Pegida und Teilen der rechtsextremistischen Szene. Lübcke, der sich für die Aufnahme von Geflüchteten in seinem Wahlkreis aussprach, wurde für seine Haltung von Rechtsextremist:innen sowie Personen aus dem islamfeindlichen Spektrum bedroht. Die Tat reiht sich ein in eine Serie von Bedrohungen von Politiker:innen, die die Aufnahme von Geflüchteten befürworten. Nach der Tat verhöhnten Rechtsextremist:innen den ermordeten Regierungspräsidenten in sozialen Netzwerken und kündigten weitere Taten an. "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) Die geplante und gezielte Mordserie der rechtsterroristischen Gruppierung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU), die über Jahre kein öffentliches Bekenntnis in direk- RECHTSEXTREMISMUS 29 ter oder indirekter Form ablegte, stellt eine Besonderheit in der Geschichte des deutschen Terrorismus dar. Die in den 1970erbis 2000er-Jahren in Deutschland existierenden rechtsterroristischen Gruppierungen begingen keine Serienmorde an Personen und auch keine gezielten Tötungen. Im Vergleich zu früheren Gruppierungen im Rechtsterrorismus unterscheidet sich der NSU damit deutlich hinsichtlich seiner Gewaltintensität. Die Mitglieder des NSU lebten rund 13 Jahre im Untergrund und ermordeten in den Jahren 2000 bis 2007 insgesamt zehn Menschen vor allem aus fremdenfeindlichen und rassistischen Motiven. Darüber hinaus beging das Trio mindestens zwei Bombenanschläge und 15 bewaffnete Raubüberfälle. Der von Mai 2013 bis Juli 2018 laufende Strafprozess richtete sich nach dem Selbstmord der beiden Mitglieder der rechtsterroristischen Gruppierung Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos im Jahr 2011 gegen das einzige noch lebende NSU-Mitglied Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer. Das Oberlandesgericht München sprach 2018 alle fünf Angeklagten wegen unterschiedlicher Tatvorwürfe im Zusammenhang mit der Mordserie des NSU für schuldig und verurteilte sie zu mehrjährigen Haftstrafen. Im August 2021 wies der Bundesgerichtshof (BGH) die Revision der Hauptangeklagten Zschäpe zurück, wodurch diese nun rechtskräftig als Mittäterin zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden ist. Im Dezember 2021 wies der BGH auch die letzte Revision eines weiteren NSU-Helfers endgültig zurück. Das umfassende und langjährige Verfahren gegen die rechtsterroristische Zelle und ihre Unterstützer wurde somit rechtskräftig abgeschlossen. Rechtsterroristische Kleingruppen Rechtsterroristische Kleingruppen sind neben radikalisierten rechtsterroristischen Täter:innen eine ernstzunehmende Bedrohung für den demokratischen Rechtsstaat, auch weil sie sich häufig nicht aus den bekannten und organisierten rechtsextremistischen Strukturen herausbilden. So bereitete sich beispielsweise die 2017 bekannt gewordene Gruppierung "Nordkreuz" auf einen "Tag X" vor, an dem sie ihre politischen Gegner beseitigen wollte, und hortete dazu Waffen sowie Munition. Die Mitglieder der Gruppierung "Nordkreuz" gehören der sog. Prepper-Szene an, deren Angehörige sich u. a. durch Einlagerung von Lebensmitteln und Waffen sowie dem Bau von Schutzbauten auf einen möglichen Katastrophenfall vorbereiten. Im Kontext der Corona-Pandemie hat sich das Gefahrenpotenzial für die Entstehung rechtsterroristischer Kleingruppen deutlich erhöht. Die geltenden Kontaktbeschränkungen führten in Teilen der Bevölkerung zu einem vermehrten Rückzug in den virtuellen Raum. Gleichzeitig ermöglichten die Zuwendung zu (antisemitischen) Verschwö- 30 RECHTSEXTREMISMUS rungserzählungen und "Fake-News" sowie die Verbreitung von Hass und Hetze die Radikalisierung einzelner Personen, die aus den geltenden Maßnahmen gegen die Pandemie ein vermeintliches Widerstandsrecht für sich ableiteten. Dabei bildet die gemeinsame Konzentration auf die Ablehnung des demokratischen Systems und seiner Repräsentant:innen ein einendes Element, welches die ideologische Verflechtung und Vernetzung zwischen Rechtsextremist:innen, "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" sowie Angehörigen des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" fördert. Gleich zwei Beispiele im Jahr 2022 belegen eindrücklich, welches Gefahrenpotenzial für die freiheitliche demokratische Grundordnung und ihre Repräsentant:innen von dieser Gemengelage ausgehen kann: Am 13. April 2022 wurde ein Mitglied der bis dahin unbekannten Gruppierung "Vereinte Patrioten" bei der versuchten Übergabe bestellter Waffen in Neustadt an der Weinstraße (Rheinland-Pfalz) festgenommen. Die rechtsterroristische Gruppierung hatte geplant, Sprengstoffanschläge zu begehen und den Bundesgesundheitsminister gewaltsam zu entführen. Gleichzeitig sollte mit der Beschädigung oder Zerstörung der Stromversorgung ein bundesweiter Blackout erzeugt werden. Die so herbeigeführten bürgerkriegsähnlichen Zustände hätten sodann genutzt werden sollen, um den Sturz der ihnen verhassten Regierung herbeizuführen. Gegen fünf Hauptprotagonisten der Gruppierung ermittelt die Bundesanwaltschaft aktuell wegen des Verdachts der Gründung einer terroristischen Vereinigung. Ein ähnliches Ziel verfolgte die rechtsterroristische Gruppierung um den mutmaßlichen Rädelsführer und "Reichsbürger" Heinrich XIII. Prinz Reuß: Die Gruppierung hatte geplant, das demokratische Staatssystem gewaltsam zu stürzen und eine eigene Staatsform zu etablieren (siehe Kapitel 5). Neben einem militärischen Arm sollte ein "Rat" den Aufbau notfalls mit gewaltsamen Mitteln durchsetzen. Mitglieder der Gruppierung bereiteten sich bereits auf den sog. "Tag X" vor und horteten neben Waffen auch beträchtliche Mengen an Bargeld. Der Gruppierung um Prinz Reuß gehörten neben "Reichsbürger:innen" auch Angehörige des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" sowie Rechtsextremist:innen an. Von den Exekutivmaßnahmen gegen die Gruppierung am 7. Dezember waren insgesamt 11 Bundesländer betroffen, in Bremen kam es zu keinen Durchsuchungen oder Festnahmen. Beide Gruppierungen konnten durch umfangreiche Ermittlungen der Sicherheitsbehörden frühzeitig enttarnt und bei der Umsetzung ihrer Pläne gestoppt werden. RECHTSEXTREMISMUS 31 Rechtsextremistischer Anschlag auf das Jugendzentrum "Friese" In der Nacht vom 15. auf den 16. Februar 2020 wurde während eines Konzerts ein Brandanschlag auf das Jugendund Kulturzentrum "Die Friese e.V." im Bremer Steintorviertel verübt. Am Tatort aufgefundene Aufkleber mit "rechten" Inhalten deuteten auf ein politisches Tatmotiv hin. Als Tatverdächtige konnten drei Personen ermittelt werden, die der rechtsextremistischen Szene zugeordnet werden können. In diesem Zusammenhang erwirkte die Staatsanwaltschaft Durchsuchungsbeschlüsse, die im September 2021 vollstreckt wurden. Die Polizei stellte insbesondere Fahnen, Banner und Aufkleber sicher, die das vorhandene nationalsozialistische Gedankengut der Beschuldigten belegen. Die Ermittlungen wegen schwerer Brandstiftung konnten inzwischen abgeschlossen werden. Die Staatsanwaltschaft erhob im Juli 2022 Anklage gegen die drei Beschuldigten u. a. wegen schwerer Brandstiftung und gefährlicher Körperverletzung. Zum Tatzeitpunkt des Brandes befanden sich mehrere Personen im Gebäude. Die Täter nahmen mit dem Anschlag billigend die Gefährdung von Menschenleben in Kauf. Der Anschlag bildet somit einen Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen Angehörigen der rechtsextremistischen Szene und ihren "politischen Gegnern" und verdeutlicht das hohe Gewaltpotenzial, das von einzelnen Angehörigen der rechtsextremistischen Szene ausgeht. Exkurs: Bundesweite Gerichtsund Verbotsverfahren gegen rechtsterroristische (Klein-)Gruppierungen:2 23. Januar 2020: Verbot der neonazistischen und militanten Organisation "Combat 18" (C18) 23. März 2020: Verurteilung mehrerer Mitglieder der rechtsextremistischen Gruppierung "Revolution Chemnitz" wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung 23. Juni 2020: Verbot der rechtsextremistischen Vereinigung "Nordadler" 4. Februar 2021 und 18. März 2021: Verurteilung mehrerer Mitglieder der rechtsextremistischen "Gruppe Freital" 13. April 2021: Prozessbeginn gegen Mitglieder der rechtsterroristischen "Gruppe S." (benannt nach ihrem Gründer Werner S.) wegen des Verdachts der Bildung, Mitgliedschaft und Unterstützung einer rechtsterroristischen Vereinigung 2 Die folgende Auflistung ist keine vollumfängliche Darstellung, sondern beinhaltet primär herausragende Beispiele. 32 RECHTSEXTREMISMUS 3.3 Rechtsextremistische Agitation und Propaganda Politischer Gegner als Angriffsziel Bundesweit stehen zahlreiche Parteien, Politiker:innen, Vereine und Initiativen im Fokus rechtsextremistischer Bedrohungen. Neben Droh-E-Mails und -briefen wird auch über die sozialen Netzwerke gegenüber dem "politischen Feind" eine Drohkulisse aufgebaut. Den Adressaten wird dabei nicht selten mit massiver Gewalt und Anschlägen gedroht. Ein:e bisher unbekannte:r Täter:in verschickt seit Anfang des Jahres 2020 zahlreiche Drohbriefe an Empfänger:innen in Bremen und Niedersachsen, welche eine pulverartige Substanz enthalten. Adressat:innen dieser Briefe sind Parteien, Politiker:innen, eine Moschee sowie Vereine, die sich für die Integration von Geflüchteten einsetzen. Die Briefe enthalten rechtsextremistische Inhalte und insbesondere antisemitische Drohungen. Derselben Person werden auch Taten auf zwei Kinderspielplätzen im Bremer Süden zugerechnet, bei denen Messer an Spielgeräten befestigt waren. Menschen jüdischen Glaubens als Angriffsziel Menschen jüdischen Glaubens stellen seit jeher ein Angriffsziel für Rechtsextremist:innen dar. Der Großteil der in den vergangenen Jahren begangenen und von der Polizei registrierten antisemitischen Strafund Gewalttaten wurde als "rechts" motiviert eingestuft. Dabei ist zu beachten, dass fremdenfeindliche und antisemitische Straftaten statistisch generell im Bereich der Politisch motivierten Kriminalität (PMK-Rechts) erfasst werden, wenn der Polizei keine weiterführenden Hinweise zu Tatmotivation oder Täter:in vorliegen. Den Großteil der Straftaten machen Volksverhetzungsund Propagandadelikte aus. Im Frühjahr 2022 wurde durch unbekannte Täter:innen eine Mauer in einem Waldstück im Park "Links der Weser" mit zwei Hakenkreuzen und der Aufschrift "KILL JEWS" beschmiert. Menschen muslimischen Glaubens als Angriffsziel Menschen muslimischen Glaubens und ihre Einrichtungen sind seit einigen Jahren ein verstärktes Angriffsziel von Rechtsextremist:innen. Moscheen werden als zentrales Symbol der islamischen Religion und der muslimischen Kultur betrachtet. Straftaten mit islamoder muslimfeindlichen Motiven wies die Polizei erstmals im Jahr 2017 gesondert aus. Darüber hinaus gibt es immer wieder Fälle, in denen Personen muslimischen Glaubens direkt bedroht werden. So wurde im August 2022 eine Frau am Busbahnhof Blumenthal mit den Worten "Scheiß Türkin [...], mach gefälligst das Kopftuch ab, verpiss dich aus unserem Land" beleidigt. RECHTSEXTREMISMUS 33 Rechtsextremistische Propaganda Das Ziel rechtsextremistischer Propaganda ist die individuelle und kollektive Radikalisierung, indem über gesellschaftspolitische Diskussionen Einfluss auf die Meinung von Einzelpersonen und somit auf Stimmungen in der Gesellschaft genommen wird. Rechtsextremist:innen gelingt es, u. a. mit "weicheren" Formulierungen oder dem Weglassen von verfassungsfeindlichen Positionen, sich in aktuelle politische Diskussionen einzubringen und ihre fremdensowie speziell islamund muslimfeindlichen Positionen zu verbreiten. Der politische Diskurs verändert sich erkennbar dahingehend, dass fremdenund islamfeindliche Positionen offener als noch vor wenigen Jahren vertreten werden. In der politischen Debatte um Zuwanderung und die Aufnahme von Geflüchteten heben Rechtsextremist:innen die von ihnen begangenen Straftaten hervor. Sie greifen dazu die Sorgen und Ängste vieler Menschen auf, wie die Angst vor einer angeblichen "Überfremdung" oder der vermeintlichen Zunahme von Kriminalität. Das Ziel von Rechtsextremist:innen besteht vor allem darin, die Straftaten von einzelnen Migrant:innen in den Zusammenhang mit der aus ihrer Sicht verfehlten Flüchtlingspolitik der letzten Jahre zu bringen. Hierdurch versuchen sie aufzuzeigen, dass der deutsche Staat unfähig sei, seine Bürger:innen vor kriminellen Geflüchteten und Migrant:innen zu schützen. Dabei betonen die Akteur:innen die soziale Ungerechtigkeit in der Unterstützung für Asylbewerber:innen und "in Not geratene" Deutsche. Rechtsextremist:innen arbeiten hierzu mit diffamierenden Stereotypen: jeder Geflüchtete wird pauschal zum "Vergewaltiger" und jede Person muslimischen Glaubens zu "Terrorist:innen". Mit gezielten Tabubrüchen und dem Zeichnen von Bedrohungsszenarien, für die sie teilweise manipulierte oder verfälschte Informationen heranziehen, versuchen Rechtsextremist:innen, Aufmerksamkeit in der Bevölkerung zu erregen, vorhandene Ängste zu verstärken und Hass zu schüren. Rechtsextremist:innen propagieren das Szenario einer drohenden "Islamisierung" Deutschlands und thematisieren in diesem Zusammenhang häufig Selbstschutz, Selbstverteidigung sowie das "Recht auf Notwehr". Dabei fallen auch aggressive und beleidigende Äußerungen bis hin zu Mord und Gewaltandrohungen. Neben den typischen Feindbildern dienen insbesondere Bürgerkriegsoder Endzeitszenarien der Rechtfertigung von Gewalttaten. In den Fokus rechtsextremistischer Narrative gerieten in den letzten Jahren sowohl Politiker:innen der "Altparteien" als auch die sog. "Lügenpresse". Den Politiker:innen wird vorgeworfen, "Politik gegen das deutsche Volk" zu betreiben und die Meinungsfreiheit massiv einzuschränken. Das Ziel von Rechtsextremist:innen besteht in der Polarisierung der Gesellschaft, indem sie Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber ihren gewählten Vertreter:innen säen. Die "Anti-Asyl Propaganda" rechtsextremistischer Akteur:innen hat somit einen Resonanzraum geschaffen, in dem die Hetze gegen 34 RECHTSEXTREMISMUS Geflüchtete und Minderheiten als "patriotisch" gilt und ein allgemeines Misstrauen gegenüber den Medien sowie den politischen Repräsentant:innen gehegt wird. Dies wird besonders deutlich im Kontext der Corona-Pandemie (siehe Kapitel 3.4): Vielfach werden die durch die Bundesregierung zur Eindämmung der Pandemie getroffenen Maßnahmen als Belege für die vermeintliche Errichtung einer Diktatur und der Beschneidung der Meinungsund Bewegungsfreiheit ausgelegt. Radikalisierung durch rechtsextremistische Propaganda im Internet Dem Internet kommt bei der Verbreitung rechtsextremistischer Feindbild-Propaganda eine entscheidende Rolle zu. Soziale Netzwerke und Messenger-Dienste wie Facebook, Twitter oder YouTube dienen der rechtsextremistischen Szene zur Kommunikation, Verbreitung von Propaganda, Mobilisierung von Personen für Aktionen und Organisation von Veranstaltungen. Über internationale Plattformen und Imageboards findet eine Vernetzung mit Gleichgesinnten über Ländergrenzen hinaus statt. Zudem kann sich die rechtsextremistische Szene durch die Nutzung alternativer Plattformen kurzfristig neu aufstellen und passt sich flexibel an Verbote und Überwachung an. So entstehen Parallelangebote und -plattformen über die unzensiert und ohne drohende Accountsperrungen unter dem Deckmantel der Wahrung vermeintlicher Meinungsfreiheit rechtsextremistische Inhalte geteilt werden. Zwar erreichen diese Alternativplattformen meist nicht die gleiche Reichweite wie die etablierten Medienkanäle, dafür kann die extremistische Ideologie über zugangsbeschränkte Bereiche wie geschlossene Chatgruppen oder Spiele-Plattformen jedoch umso offensiver vertreten werden. Besonders problematisch sind Messenger-Dienste wie Telegram, da hier ein besonders hoher Grad an Anonymität gegeben ist und die Möglichkeiten für eine konsequente Strafverfolgung eingeschränkt sind. Radikalisierungsprozesse vollziehen sich nicht nur über Szenetreffs und politische Veranstaltungen. Das Internet bietet für viele ein niedrigschwelliges Angebot, da es nicht an lokale Rahmenbedingungen geknüpft ist und eine Vielfalt von Themen und Partizipationsmöglichkeiten bietet. Zudem gewährleistet die Anonymität des Internets ein Engagement ohne öffentliche Stigmatisierung oder gar Repressionen. Rechtsextremist:innen nutzen gezielt die Möglichkeiten der virtuellen Vernetzung, lancieren Kampagnen und streuen Desinformationen. Medienbeiträge werden selektiv und oft verzerrt verbreitet, um Stimmung gegen Geflüchtete, die gewählten Vertreter:innen und politisch Andersdenkende zu machen. Durch die Vernetzung untereinander und die Nutzung eigener "rechter" Medienportale werden Vorurteile geschürt und negative Emotionen verstärkt. Die durch Algorithmen gestützte selektive Themensetzung über soziale Netzwerke fördert die Entstehung von "Echokammern" und "Filterblasen", in denen sich das rechtsextremistische Weltbild unhinterfragt verbreiten und verfestigen kann. Die Entstehung eines Resonanzraums, in dem die eigenen gruppenund RECHTSEXTREMISMUS 35 menschenfeindlichen Ansichten geteilt und gespiegelt werden, birgt die Gefahr einer Parallelwelt, die im Gegensatz zu realweltlichen Kontakten enthemmter und vielschichtiger wirken kann. Diese Entwicklung kann sich beschleunigend auf Radikalisierungsprozesse auswirken. Welche Auswirkungen solche Radikalisierungsverläufe haben können, zeigt das Beispiel des Attentäters von Halle. Stephan B. war Teil einer virtuellen Gemeinschaft, die Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit propagierte und Verschwörungsfantasien verbreitete. Exkurs: Das Konzept des "Akzelerationismus" und die "Siege-Ideologie" Die seit Jahren intensiv betriebene virtuelle Vernetzung der rechtsextremistischen Szene führt dazu, dass vermehrt auch internationale Ideologieelemente, wie die aus den USA stammende "Siege-Ideologie" und der "Akzelerationismus", in Deutschland Anklang finden. Bei der "Siege3-Ideologie" und dem ihr zugrunde liegenden Konzept des "Akzelerationismus"4 handelt es sich um rechtsextremistische Terrorpropaganda, die vor allem über das Internet eine weite Verbreitung erfährt und deren erklärtes Ziel die Abschaffung sowohl der liberalen, multikulturellen Gesellschaft als auch des derzeitigen politischen Systems ist. Ursprünglich aus dem Linksextremismus stammend handelt es sich beim Akzelerationismus um eine antikapitalistische Theorie, nach der mittels "Beschleunigung" bestehender Konflikte innerhalb des kapitalistischen Systems dessen Abschaffung herbeigeführt werden soll. In den 1990er-Jahren entwickelte sich hieraus ein Konzept, welches - vorangetrieben durch die in den 2010er-Jahren entstandene "Siege-Ideologie" - zunehmend von politischen Extremist:innen und Terrorist:innen genutzt wird. Die Konflikte in der Gesellschaft werden anhand rassistischer und nationalistischer Elemente festgemacht und unterteilen die Gesellschaft in eine vermeintlich "weiße" Mehrheitsgesellschaft und eine "nicht-weiße" Minderheit. Anhänger:innen des Akzelerationismus sind davon überzeugt, dass die momentane Gesellschaftsform nicht funktioniere und ein "Rassenkrieg" unmittelbar bevorstünde. Durch terroristische Akte sollen gemäß des Akzelerationismus die ethnisch aufgeladenen Konflikte zwischen der "weißen" Mehrheitsgesellschaft und der "ethnischen Minderheit" derart intensiviert (akzeleriert = "beschleunigt") werden, dass folglich das Vertrauen in die Regierung und das (demokratische) System zerstört wird und sich bürgerkriegsähnliche Zustände entwickeln. Diese münden schließlich, so die Vorstellung, in der Abschaffung des demokratischen Systems zugunsten einer nationalsozialistischen Herrschaft. 3 Aus dem Englischen: Belagerung 4 Aus dem Lateinischen "accelerare": beschleunigen, beeilen 36 RECHTSEXTREMISMUS Die "Siege-Ideologie" oder auch "Siege-Culture" basiert auf dem gleichnamigen Buch "Siege" des US-Amerikaners und Rechtsextremisten James Mason. Die ursprünglich als Newsletter veröffentlichten Texte zeugen von Masons Antisemitismus, Rassismus, Holocaust-Leugnung, seiner Vorstellung von der "white supremacy"5 und deren Umsetzung durch einen rassistisch-terroristischen Guerillakrieg. Darüber hinaus beschreibt das Buch sehr eindringlich, wie und wo Anschläge verübt werden können, damit der von Mason propagierte "Rassenkrieg" ausgelöst werden kann. Die sog. "Atomwaffen Division"6 (AWD) verhalf den Texten Masons ab ca. 2016 zu einer gesteigerten Reichweite bis hin zu der Entwicklung als Internetphänomen mit einschlägigen Memes, Videos und Symbolen. Durch die Ableger "AWD Deutschland" und "Feuerkrieg Division Deutschland" fand die "Siege-Ideologie" auch hierzulande eine vermehrte Anhängerschaft bei einem eher jungen, internetaffinen Publikum, welches zudem eine große Begeisterung für rechtsextremistisch motivierte Amokläufe aufweist. Insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen bieten sich hier Einfallswege für rechtsextremistisches Gedankengut, welches meist über einfache Memes und ideologisch niedrigschwellige Inhalte verbreitet wird. Insbesondere die der "Siege-Culture" innewohnende Gewaltverherrlichung sowie die fast heldenhafte Glorifizierung früherer rechtsterroristischer Amoktäter, wie bspw. Anders Breivik oder Brenton Tarrant, bergen die Gefahr, Radikalisierungsverläufe insbesondere bei Jugendlichen rasant zu beschleunigen und zu Nachahmungstaten zu animieren. So konnte der von einem 16-jährigen Schüler mutmaßlich geplante Anschlag an einem Essener Gymnasium am 12. Mai 2022 zwar frühzeitig verhindert werden, allerdings offenbarten am Wohnort des Jugendlichen aufgefundene Bomben, Waffen, rechtsextremistische Schriftstücke und ein Manifest eindrücklich das von dieser Szene ausgehende Bedrohungspotenzial. Rechtsextremismus und Gaming-Szene Rechtsextremistische Inhalte finden auch über Gaming-Plattformen und Videospiele Verbreitung. Die rechtsextremistische Szene nutzt gezielt die "Gamifizierung", um ihre politische Agitation und Vernetzung voranzutreiben. Über Inhalte, die den Nationalsozialismus verherrlichen und verharmlosen, versucht die Szene insbesondere die Anwerbung junger Menschen voranzutreiben und Anschlussfähigkeit für ihre rechtsextremistische Propaganda zu generieren. 5 Aus dem Englischen: weiße Vorherrschaft / Überlegenheit der "weißen Rasse" 6 Offiziell aufgelöst seit März 2020. RECHTSEXTREMISMUS 37 Zu den bekannten Spielen mit rechtsextremistischen und antisemitischen Inhalten zählt z. B. die bereits in den 1980er-Jahren veröffentlichte und indizierte Spielereihe "KZManager". Dieses Spiel gehört zum Genre der Wirtschaftssimulation, in dem der Spieler die Rolle eines Verwalters in einem Konzentrationslager spielt und so die Vernichtung der Insassen organisiert. Ein weiteres szenebekanntes Spiel ist das seit 2020 in Deutschland indizierte Spiel "Heimat Defender: Rebellion", welches von einer in Österreich ansässigen Firma in Zusammenarbeit mit einem zum Netzwerk der "Neuen Rechten" zählenden Verein entwickelt wurde. In diesem "Jump-n'-Run"-Spiel kann der Spieler verschiedene rechtsextremistische Spitzenfunktionäre der "Neuen Rechten" als spielbare Charaktere auswählen, die als Widerstandskämpfer gegen das im Spiel vorherrschende System kämpfen. Dieser niedrigschwellige Einstieg in rechtsextremistische Ideologieelemente kann Cover des indizierten Spiels "Heimat Defender: Rebellion" dabei als Startpunkt fungieren, über den jüngere Menschen zunächst auf spielerische Weise in die rechtsextremistische Szene gelangen und so die Herausbildung einer rechtsextremistischen Weltanschauung begünstigen. 3.4 Rechtsextremist:innen im öffentlichen Dienst Mit der Verbreitung rechtsextremistischer Positionen gerieten Angehörige des öffentlichen Dienstes in Deutschland im vergangenen Jahr mehrfach in die öffentliche Kritik. Bundesweit gab es Vorfälle, bei denen Polizist:innen und Soldat:innen rechtsextremistische Inhalte in internen Chatgruppen teilten. Beamte sind in einem besonderen Maße verpflichtet, die Werte der demokratischen Staatsund Gesellschaftsordnung zu vertreten, und haben mit der Aufnahme in das Beamtenverhältnis einen Eid auf die freiheitliche demokratische Grundordnung geschworen. Rechtsextremistische Tendenzen und Strukturen im öffentlichen Dienst müssen besonders frühzeitig erkannt und eingedämmt werden. Auf Initiative der Innenministerkonferenz wurde in enger Abstimmung zwischen den Landesämtern für Verfassungsschutz und den zuständigen Polizeibehörden der erste "Lagebericht zu Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden" im Oktober 2020 veröffentlicht. In Bremen wurden in diesem Zusammenhang lediglich Einzelfälle gezählt, in denen sich der Extremismusverdacht letztlich aber nicht erhärtete. Im Jahr 2022 wurde die Fortschreibung des Lagebildes unter Hinzunahme des Spektrums der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" erweitert. Zur Stärkung der Verfassungstreue von Beamtinnen und Beamten setzt sich auf Bremer Initiative die Innenministerkonferenz dafür ein, dass der Straftatbestand der 38 RECHTSEXTREMISMUS Volksverhetzung7 in das Beamtenstatusgesetz aufgenommen wird. Eine entsprechende strafrechtliche Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten hätte dann automatisch zur Folge, dass die Beamtin oder der Beamte aus dem Dienst entlassen ist. Die Bremer Berufsfeuerwehr geriet im November 2020 in den Fokus der Sicherheitsbehörden. So hatten Feuerwehrmänner einer Wachschicht an einer Bremer Feuerwehrwache in zeitlichem Zusammenhang mit dem Höhepunkt der "Flüchtlingskrise" im Jahr 2015 in einer internen Chatgruppe menschenund fremdenfeindliche Inhalte geteilt, die bisweilen die Schwelle zum Rechtsextremismus deutlich überschritten. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wurden im Juli 2022 eingestellt. Die umfassenden Untersuchungen konnten den Verdacht auf ein Vorhandensein gefestigter rechtsextremistischer Strukturen innerhalb der Feuerwehr Bremen nicht bestätigen. Der Hauptbeschuldigte, gegen den aktuell ein Disziplinarverfahren läuft, bleibt bis auf Weiteres vom Dienst suspendiert. Auch wenn sich keine Belege für gefestigte rechtsextremistische Strukturen finden ließen, zeigte sich deutlich, dass es einer intensiveren gesamtgesellschaftlichen Befassung mit der Verbreitung aber auch Verharmlosung rassistischer Inhalte über Messenger-Dienste bedarf. Angehörige der Bremer Polizei und Feuerwehr haben seit Jahresbeginn 2022 die Möglichkeit, sich bei Hinweisen auf rechtsextremistische Vorfälle an die unabhängige Polizeibeauftragte der Freien Hansestadt Bremen zu wenden. 3.5 Rechtsextremistische Beeinflussung der Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie Seit dem Frühjahr 2020 kam es bundesweit zu Protesten gegen die Maßnahmen der Bundesund Landesregierungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Die Protestbewegung war insgesamt sehr heterogen: Neben Friedensaktivist:innen, Esoteriker:innen und sich beispielsweise um ihre finanzielle Existenz sorgenden Bürger:innen demonstrierten auch Rechtsextremist:innen sowie Personen aus dem Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen". Ideologisch gab es Überschneidungen zwischen der in Teilen extremistischen Protestszene, die dem Phänomenbereich der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" zuzurechnen ist, und dem Rechtsextremismus. Gemein ist beiden der Bezug auf antisemitisch konnotierte Verschwörungsideologien sowie die Delegitimierung des Staates und seiner Repräsentant:innen (siehe Kapitel 4). Rechtsextremist:innen und "Reichsbürger:innen" nutzten 7 https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__130.html RECHTSEXTREMISMUS 39 im Jahr 2022 wiederholt die bundesweiten Proteste für ihre eigenen Zwecke und um ihre demokratiefeindlichen Positionen in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. 3.5.1 Demonstrationsgeschehen Rechtsextremist:innen und Angehörige des Spektrums der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" provozierten auf Demonstrationen gegen die CoronaMaßnahmen gezielt Gewalt. Die Provokation von Gewalt soll das von ihnen verbreitete Widerstandsnarrativ nähren und der Bewegung größeren Zulauf verschaffen. Bei den im Jahr 2020 stattfindenden Großdemonstrationen wurde besonders deutlich, dass Rechtsextremist:innen sowie "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" den Schulterschluss mit den "Anti-Corona-Demonstrant:innen" suchen, um ihre eigene politische Agenda zu verfolgen. Medial besonders eindrucksvoll wurde dies im Rahmen der Demonstration am 29. August 2020 in Berlin deutlich: Während einer Kundgebung gelang es Extremist:innen, die Treppen des Reichstags zu erstürmen. Das gewaltsame Eindringen in das Gebäude des Deutschen Bundestags konnte durch Polizeikräfte knapp verhindert werden. In der Spitze befanden sich bis zu 400 Personen auf den Treppen des Reichstags. Dabei schwenkten Demonstrant:innen u. a. schwarz-weiß-rote Reichsflaggen und andere Erkennungszeichen, die verdeutlichten, dass es sich bei den Demonstrant:innen größtenteils um Angehörige aus der rechtsextremistischen Szene sowie dem Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" handelte. Das Beispiel zeigt, wie Extremist:innen die heterogene Protestlage für ihre politischen Zwecke medienwirksam zu instrumentalisieren versuchen, auch wenn sie zahlenmäßig nicht die Proteste dominieren. Bundesweit kam es seit Ende 2021 im Rahmen von Kundgebungen zunehmend zu gezielten Provokationen und gewalttätigen Übergriffen auf Polizist:innen, Medienvertreter:innen und Gegendemonstrant:innen, insbesondere angestachelt von rechtsextremistischen Akteur:innen, die sich an die Spitze der Proteste stellten und Polizeiketten durchbrachen. Die Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, die sich im Herbst und Winter 2022 auch in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung durch steigende Energieund Lebenshaltungskosten bemerkbar machten, wurden von den Anhänger:innen der rechtsextremistischen Szene in politischen Kampagnen und Mobilisierungsaufrufen aufgegriffen. In Anbetracht wachsender Ängste und Unsicherheiten der Menschen propagierten die Akteure einen bundesweiten "Heißen Herbst" bzw. "Wutwinter". Zur Mobilmachung wurden dabei sowohl klassische rechtsextremistische Agitations- 40 RECHTSEXTREMISMUS themen wie die Migrationspolitik als auch gesellschaftlich relevante Themen wie die Preissteigerungen oder Kritik an den Sanktionen gegen Russland verwendet. Der rechtsextremistischen Kleinstpartei "Freie Sachsen" gelang es dabei, im Herbst 2022 mit ihren Aktionen vor allem in Ostdeutschland größere Demonstrationen mit mehreren Tausend Teilnehmenden zu organisieren. Besonders in Ostdeutschland schlossen sich den durch die "Freien Sachsen" organisierten Protesten Anhänger:innen und Parteimitglieder weiterer rechtsextremistischer Parteien sowie Gruppierungen der Corona-Protestbewegung an. Der Partei gelang somit ein Schulterschluss der rechtsextremistischen Szene, der allerdings regional beschränkt blieb. 3.5.2 Rechtsextremistische Beeinflussung der Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in Bremen und Bremerhaven In Bremen versuchten Angehörige der rechtsextremistischen Szene sowie des Spektrums der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" die seit Mai 2020 stattfindenden Proteste in Teilen zu beeinflussen, um ihre Ablehnung der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie öffentlich kundzutun. Neben den extremistischen Gruppierungen "Querdenken 421" und "Gemeinsam Stark Bremerhaven/Bremen" (siehe Kapitel 4) nahmen auch einzelne Personen aus dem Umfeld der rechtsextremistischen Partei "Die Rechte", der 2019 verbotenen rechtsextremistischen Gruppierung "Phalanx 18" ", einzelne Unterstützer der rechtsextremistischen "Identitären Bewegung" (IB), Anhänger der rechtsextremistischen Band "Kategorie C" sowie Personen aus dem Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" an den Kundgebungen teil. Den Rechtsextremist:innen in Bremen gelang es aber nicht, maßgeblichen Einfluss auf die Proteste zu erlangen. Gleichwohl bilden die Ablehnung der Pandemiemaßnahmen, eine anti-staatliche Grundhaltung, der Gebrauch antisemitisch konnotierter Verschwörungsmythen sowie ein pro-russischer Kurs im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine eine Klammer zwischen Rechtsextremist:innen und der Protestbewegung. Diese vermeintlich pragmatische Zielorientierung führte auch in Bremen vermehrt zur stillschweigenden Toleranz bis hin zur Akzeptanz rechtsextremistischer Kundgebungsteilnehmender innerhalb des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" (siehe Kapitel 4). RECHTSEXTREMISMUS 41 3.6 Strukturen im Rechtsextremismus 3.6.1 "Neue Rechte" Während sich der traditionelle Rechtsextremismus ideologisch vor allem durch seine Bezugnahme auf den historischen Nationalsozialismus und den völkischen Rassismus auszeichnet, propagieren Teile des Rechtsextremismus eine "modernere" Variante der rechtsextremistischen Ideologie. Statt Rasse sind für die Anhänger:innen der sog. "Neuen Rechten" Ethnie oder Kultur die entscheidenden Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. So argumentieren die "Identitären" mit dem Konzept des Ethnopluralismus, nach dem die ethnokulturelle Identität eines Volkes ausschließlich durch seine Abschottung zu anderen Völkern erhalten werden könne. Bei der "Neuen Rechten" handelt es sich im engeren Sinne um eine Gruppe von Intellektuellen, die sich auf das Gedankengut der Konservativen Revolution der Weimarer Republik beruft und mit einer "Kulturrevolution von rechts" einen grundlegenden politischen Wandel herbeiführen will. Der Begriff wird aber heute vielfach weiter gefasst. Inzwischen werden sämtliche Akteur:innen, Institutionen oder Organisationen zur "Neuen Rechten" gezählt, die mit den Schlagworten Ethnie, Identität oder Kultur als Abgrenzungskriterien arbeiten und die ein identitäres Demokratieverständnis oder ein ethnisches Volksverständnis eint. Ihre antidemokratischen Vorstellungen - weil grundsätzlich antipluralistisch und antiindividualistisch - tragen die Anhänger:innen der "Neuen Rechten" auf strategische Weise in die Gesellschaft. Ihr Ziel besteht in der Schaffung eines Klimas, das politische Veränderungen ermöglicht. Sie versuchen sukzessive, politische Werte umzudeuten und gesellschaftlichen Konsens aufzubrechen. Im Rahmen von politischen Diskussionen beabsichtigen sie, die "Grenze des Sagbaren" durch gezielte Tabubrüche stetig zu erweitern. Die sog. "Strategie der Metapolitik" wird gezielt eingesetzt, um "rechte" Positionen "salonfähig" zu machen und in der Gesellschaft bzw. im "vorparlamentarischen Raum" zu verbreiten. Durch die Umdeutung der politischen Diskurse soll langfristig der Nährboden für die erhoffte "politische Wende" vorbereitet werden. Bei der Verfolgung ihres Ziels, dem vermeintlich "linksliberalen Mainstream" eine "rechte" Alternative entgegenzusetzen und somit "rechte" Positionen in der bürgerlichen Gesellschaft anschlussfähig zu machen, können die Akteur:innen der "Neuen Rechten" auf ein breit aufgestelltes heterogenes Netzwerk zurückgreifen. Häufig arbeiten sie in Bewegungen, Initiativen oder Netzwerken mit Personen aus dem nichtextremistischen, rechtskonservativen Spektrum zusammen, die sich nicht zwangsläufig selbst der rechtsextremistischen Szene zuordnen lassen. Es entstehen situative Netz- 42 RECHTSEXTREMISMUS werke, über die sich Personen für (virtuelle) Kampagnen und Aktionen leicht rekrutieren lassen. Im Kampf um den vorpolitischen Raum greifen die Akteur:innen dabei auf ein weit verzweigtes Geflecht aus Verlagen, eigenen Medien und Nachrichtenportalen sowie Publikationen zurück. Als maßgeblicher Akteur und Ideengeber der "Neuen Rechten" hat sich das "Institut für Staatspolitik" (IfS) in den letzten Jahren etabliert. Das IfS wurde 2020 vom Bundesamt für Verfassungsschutz als Verdachtsfall und 2021 von der Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalt als gesichert rechtsextremistische Bestrebung eingestuft. Mit den IfSeigenen Publikationen wie der Zeitschrift "Sezession", Online-Auftritten (u. a. "Sezession im Netz") und als "Akademien" bezeichneten Tagungen wird die Verbreitung der eigenen Ideologie und die Vernetzung innerhalb der "Neuen Rechten" vorangetrieben. Eng mit dem IfS verbunden ist der als rechtsextremistischer Verdachtsfall vom Bundesamt für Verfassungsschutz eingestufte Verein "EinProzent", dessen Ziele die Etablierung einer kulturellen Hegemonie im vorpolitischen Raum und die Etablierung einer rechten Gegenkultur sind. Die Akteur:innen der "Neuen Rechten" sind eng vernetzt: So ist das IfS-Vorstandsmitglied gleichzeitig Gründungsmitglied des Vereins "EinProzent". Ein weiterer wichtiger Akteur der "Neuen Rechten" ist das erstmals 2010 erschienene "Compact-Magazin". Durch den in den Beiträgen vorherrschenden völkisch-nationalistischen Duktus und die Verbreitung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit richtet sich das Magazin gegen das politische System und seine Repräsentant:innen und ist dazu geeignet, Teile der Bevölkerung aufzuhetzen. Das "Compact-Magazin" wird seit 2021 als gesichert rechtsextremistische Bestrebung vom Bundesamt für Verfassungsschutz geführt. 3.6.2 "Identitäre Bewegung" (IB) Die im Jahr 2012 gegründete Gruppierung "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) gehört dem Netzwerk der "Neuen Rechten" als zentraler Akteur an. Die IBD ist ein Ableger der französischen rechtsextremistischen Bewegung "Generation Identitaire", die sich 2003 formierte. Die "Identitären" gibt es in mehreren europäischen Ländern. In Deutschland existieren lokale und regionale Gruppierungen der "Identitären Bewegung" (IB). In Bremen gründete sich 2012 die "Identitäre Bewegung Bremen" (IBB), die in den vergangenen Jahren keine öffentlich wahrnehmbaren Aktionen mehr durchführte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die "Identitären" in Bremen keine Anhänger:innen mehr hätten. RECHTSEXTREMISMUS 43 Soziale Netzwerke sind von zentraler Bedeutung für die Gruppierung, da es ihr vor allem um die öffentlichkeitswirksame Inszenierung ihrer politischen Aktionen geht. Daher wurde die IBD durch die Löschung sämtlicher Profile auf Facebook, Twitter und YouTube im Jahr 2018 hart getroffen. Zwar versucht sie seitdem immer wieder, über Alternativ-Plattformen auf ihre Aktionen aufmerksam zu machen, allerdings ist die Reichweitenstärke als sehr gering einzuschätzen. Die derzeitige organisatorische Schwäche der Gruppierung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die "Identitären" als unmittelbares Produkt und Teil des Netzwerkes der "Neuen Rechten" bedeutend dazu beigetragen haben, den Ethnopluralismus "salonfähig" zu machen sowie den gesellschaftlichen Diskurs nach "rechts" zu verschieben. Viele der ehemaligen Akteur:innen sind mittlerweile in anderen Projekten der "Neuen Rechten" aktiv, etwa im Zeitschriftenund Verlagswesen. Ideologie des Ethnopluralismus bei den "Identitären" Die "Identität" bildet das prägende Element in der Weltanschauung der Gruppierung. Dazu greift sie auf das Konzept des Ethnopluralismus zurück. Grundlegende Annahme des Ethnopluralismus ist die Verschiedenartigkeit der Völker. Migrationsprozesse würden diese Völkervielfalt bedrohen, Menschen entwurzeln und kulturelle Identitäten vernichten. Die Ethnienvielfalt könne letztlich nur durch die Trennung der Völker bewahrt werden. Ethnopluralist:innen betonen, dass sich Menschen nicht aufgrund ihrer Rasse, sondern aufgrund kultureller, regionaler und geografischer Faktoren unterscheiden. Ihr Ziel sind ethnisch und kulturell homogene Staaten ohne "fremde" Einflüsse. Vor diesem ideologischen Hintergrund lehnen die "Identitären" die Einwanderung - insbesondere von Personen muslimischen Glaubens - nach Deutschland und Europa fundamental ab und begreifen sie als Bedrohung. Die islamische Kultur wird als unvereinbar mit den Werten der deutschen oder europäischen Kultur dargestellt. Die "Identitäre Bewegung" fordert eine "identitäre Demokratie", die die Homogenität des Volkes voraussetzt und die repräsentative Demokratie ablehnt. Das Konzept des Ethnopluralismus begreift sie somit als Gegenmodell zur bestehenden pluralistischen Gesellschaftsordnung und wendet sich somit von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ab. 3.6.3 "Alternative für Deutschland" (AfD) Zum parlamentarischen Arm des Netzwerks der "Neuen Rechten" zählt die Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) sowie deren Jugendorganisation "Junge Alternative" (JA). Der informelle Personenverbund "Der Flügel" hatte sich zwar offiziell 2020 aufgelöst, nach wie vor sind jedoch wesentliche Akteure des "Flügels" in der AfD aktiv und stärken den völkisch-nationalistisch geprägten Teil der Partei. 44 RECHTSEXTREMISMUS Am 8. März 2022 entschied das Verwaltungsgericht Köln, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz die AfD als "Verdachtsfall" einstufen darf. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass "sich im maßgeblichen Zeitpunkt Anhaltspunkte von hinreichendem Gewicht für verfassungsfeindliche Bestrebungen nicht nur bei den Teilorganisationen JA und Flügel, sondern auch aus den Verlautbarungen der Gesamtpartei und dort der führenden Repräsentanten entnehmen lassen. [...] Es finden sich viele Äußerungen, die die Menschenwürdegarantie verletzen. Das in den Äußerungen zutage geförderte Volksverständnis widerspricht dem im Grundgesetz zum Ausdruck kommenden Verständnis und ist geeignet, Zugehörige einer anderen Ethnie auszugrenzen und als Menschen zweiter Klasse zu behandeln. Es tritt das Ziel zutage, Migranten - insbesondere Muslime - auszugrenzen und verächtlich zu machen. Es handelt sich bei der Vielzahl der Äußerungen erkennbar nicht (mehr) um bloße Entgleisungen einzelner Funktionsträger, Mitglieder oder Anhänger des Personenzusammenschlusses, die sich von der Linie des Flügels abheben würden. Aus dem Grundtenor der zitierten Aussagen lässt sich ableiten, dass das Volksverständnis und die ausländerfeindliche Agitation Ausdruck eines generellen Bestrebens der Klägerin und ihrer Teilorganisationen JA und Flügel sind." (Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 08.03.2022, 13 K 326/21). Gegen diese Entscheidung legte die AfD Berufung zum Oberverwaltungsgericht Münster ein, über die noch nicht entschieden ist. Den Bremer Landesverband der AfD, der als organisatorische Untergliederung der Partei deren politische Agenda mitbestimmt und mitträgt, stufte das LfV am 17. Juni 2022 ebenfalls als "Verdachtsfall" ein. Es liegen tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht vor, dass der Bremer Landesverband gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und insbesondere die Garantie der Menschenwürde verstößt. In den Veröffentlichungen des Landesverbandes kommt in Teilen ein ethnisch-homogenes Volksverständnis zum Ausdruck; dieses Verständnis widerspricht den zentralen Wertentscheidungen des Grundgesetzes. So teilte der AfD-Landesverband bspw. am 3. Dezember 2021 einen Beitrag des früheren "Flügel"-Protagonisten und Rechtsextremisten Björn Höcke unter dem Titel "Fluchtgrund: Deutsches Sozialsystem": "Langfristig ist die Freiheit des deutschen Volkes vor allen Dingen durch millionenfache illegale Einwanderung bedroht. Denn ein Volk, das zur Minderheit im eigenen Land geworden ist, hat seine Freiheit unwiederbringlich verloren." (Facebook-Seite des AfD-Landesverbandes, 03.12.2021). Mit dem Teilen des Beitrags macht sich der Bremer Landesverband den Inhalt zu eigen, welches das in der ethnopluralistischen Ideologie der "Neuen Rechten" zentrale Narrativ des "Großen Austauschs" bedient. Das Ziel dieser Weltanschauung, ethnisch und kulturell homogene Staaten zu schaffen, steht im Widerspruch zur bestehenden pluralistischen Staatsund Gesellschaftsordnung. RECHTSEXTREMISMUS 45 In weiteren Veröffentlichungen des AfD-Landesverbandes werden Menschen muslimischen Glaubens und Geflüchtete pauschal herabgewürdigt und diffamiert sowie deren Zuwanderung abgelehnt. So veröffentlichte der Landesverband am 20. August 2021 bspw. ein fingiertes Wahlplakat der Partei Die Grünen mit der Aufschrift: "Masseneinwanderung. Asylbetrug. Kriminalität." (Facebook-Seite des AfD-Landesverbandes, 13.06.2022). Diese Aussage unterstellt Einwander:innen generell Asylbetrug und Kriminalität. In einem am 8. März 2022 veröffentlichten Beitrag unterscheidet der AfD-Landesverband bspw. zwischen "echten und unechten" Geflüchteten entsprechend ihrer Herkunft und kriminalisiert pauschal eine der beiden Gruppen, wenn er fordert: "Ja zur Hilfe für ukrainische Flüchtlinge. Aber kein Asyl für Trittbrettfahrer! Die breite Hilfsbereitschaft in unserem Land, für echte Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, darf nicht durch Asylbetrüger aus Drittstaaten gefährdet werden." (Fehler im Original, Facebook-Seite des AfD-Landesverbandes, 08.03.2022). 3.6.4 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Im rechtsextremistischen Parteienspektrum steht die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) in Konkurrenz zu den neonazistisch ausgerichteten Parteien "Die Rechte" und "Der III. Weg". Die 1964 gegründete Partei war in den vergangenen Jahren bei Wahlen durchgängig erfolglos. Die Partei ist bundesweit jedoch weiterhin auf kommunaler Ebene insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern vertreten. Ideologie der Volksgemeinschaft in der NPD Die NPD vertritt offen fremdenfeindliche, rassistische und nationalistische Positionen. Allen politischen, ökonomischen und sozialen Themenbereichen oder Sachfragen liegt das Konzept der ethnisch homogenen Volksgemeinschaft zugrunde und damit ein antiindividualistisches Menschenbild sowie ein identitäres Politikund Staatsverständnis. Die Volksgemeinschaft als Gegenentwurf zur Demokratie gilt für die NPD als alternativloses Konzept. Die Verfassungsfeindlichkeit der NPD bekräftigte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Verbotsverfahren gegen die NPD 2017. Das von der Partei propagierte Ziel, den demokratischen Rechtsstaat durch eine ethnisch homogene Volksgemeinschaft zu ersetzen, missachte die Menschenwürde und sei mit dem Demokratieund Rechtsstaatsprinzip unvereinbar. 46 RECHTSEXTREMISMUS NPD in Bremen Der Bremer Landesverband der NPD ist in den vergangenen Jahren nicht mehr öffentlich in Erscheinung getreten. Ein Grund für die Passivität des Landesverbandes ist sein Mangel an geeigneten Führungspersonen und die damit verbundene intellektuelle sowie organisatorische Schwäche. Die NPD in Bremen kämpft seit Jahren mit einem Mitgliederrückgang. Angesichts seiner Schwäche spielte der Bremer Landesverband in den vergangenen Jahren keine Rolle innerhalb der rechtsextremistischen Szene Bremens. Neonazis "Neonazi" ist die Kurzform für "Neonationsozialist:in". Fälschlicherweise werden die Begriffe "Neonazi" und "Rechtsextremist" häufig synonym verwendet. Neonazis bezeichnen sich selbst häufig als "Freie Kräfte" oder "Freie Nationalisten". Der Neonazismus, der als ein Teilbereich des Rechtsextremismus gilt, ist dadurch gekennzeichnet, dass er in der Tradition des Nationalsozialismus steht. Neonazis vertreten mit ihrer starken Bezugnahme auf die nationalsozialistische Ideologie revisionistische Positionen. Sie greifen zudem die typischen rechtsextremistischen Ideologieelemente wie Fremdenund Islamfeindlichkeit, Rassismus und Nationalismus auf. Ihr Ziel besteht darin, die staatliche Ordnung Deutschlands, die sie als "das System" bezeichnen, durch einen totalitären Führerstaat nationalsozialistischer Prägung mit einer ethnisch homogenen Bevölkerungsstruktur zu ersetzen. Ethnische Vielfalt und Meinungsvielfalt bedrohen die von Neonazis angestrebte "Volksgemeinschaft", die Personen ausländischer Herkunft kategorisch ausschließt und in der sich jedes Individuum dem vorgegebenen Gesamtwillen unterzuordnen hat. Trotz übereinstimmender Grundüberzeugungen ist die neonazistische Szene ideologisch nicht homogen, die verschiedenen Ideologieelemente sind vielmehr je nach Gruppe unterschiedlich stark ausgeprägt. 3.6.5 "Die Rechte" Mit dem im Jahr 2018 gegründeten Landesverband der Partei "Die Rechte" existiert eine weitere rechtsextremistische Partei in Bremen. Deren Landesvorsitzender, ein langjähriger Angehöriger der neonazistischen Szene Bremens, hatte zuvor Führungsfunktionen bei der NPD inne. Zuvor hatte es in Bremen von 2013 bis 2015 bereits eine Landesgruppe der Partei "Die Rechte" gegeben. RECHTSEXTREMISMUS 47 Der Bundesverband der Partei wurde 2012 von Christian Worch gegründet, der ein bekannter Protagonist der neonazistischen Szene ist und von 2012 bis 2017 ihr Bundesvorsitzender war. Die Partei verfügt über mehrere Landesverbände vor allem in Westund Süddeutschland und mehrere Kreisverbände. Den organisatorischen Schwerpunkt der Partei bildet Nordrhein-Westfalen, wo sich ihr aktivster und mitgliederstärkster Landesverband befindet. Zuletzt verlor die Partei bundesweit und auch in Nordrhein-Westfalen zunehmend an Strahlkraft. Auch der Tod der ehemaligen Führungsfigur Siegfried Borchardt ("SS-Siggi") im Oktober 2021 hat den Landesverband und somit die Partei geschwächt. "Die Rechte" in Bremen "Die Rechte" ist neonazistisch geprägt, ihre ideologischen Schwerpunkte bilden der Neonationalsozialismus, Antisemitismus und die Fremdenfeindlichkeit. In der zur Gründung des Bremer Landesverbandes veröffentlichten Pressemitteilung wird das Ziel der rechtsextremistischen Partei deutlich, das im Aufbau "nationaler Strukturen" besteht: "Während an der Bürgerweide die Toten Hosen ihre linke Musik spielten, Bürgermeister Carsten Sieling in seinem Größenwahn Bremen als 'Bollwerk gegen den Rechtstrend der Republik' ausrief und knapp 100 politisch Verwirrte im Rahmen der Seebrücken-Aktion in Bremerhaven für unkontrollierte Masseneinwanderung protestierten, setzt sich genau dieser Rechtstrend in unserem Bundesland fort. Zukünftig wird in den Reihen der Partei DIE RECHTE der (Wieder-)Aufbau nationaler Strukturen in unserem Bundesland vorangetrieben. (...) Im kleinsten Bundesland der BRD, unserem einstmals schönen Stadtstaat, werden wir die nationale Bewegung wieder in die Offensive bringen. Die Zeit, in der Nationalisten entlang der Weser ihre Gesinnung versteckt haben oder die Öffentlichkeit scheuten, ist vorbei." (Fehler im Original, Internetseite der Partei "Die Rechte": Wir nehmen Kurs: Die Rechte gründet Landesverband in Bremen! 05.08.2018). Der Bremer Landesverband ist seit 2021 infolge interner Streitigkeiten und Parteiaustritte kaum handlungsfähig. Der stagnierende Aufbau von Organisationsstrukturen sowie die geringe Mobilisierungsfähigkeit von Gleichgesinnten zu Aktionen führten dazu, dass die Partei mit ihren rechtsextremistischen Positionen weder an größere Teile der Gesellschaft anschlussfähig noch innerhalb der rechtsextremistische Szene Bremens von Bedeutung ist. 48 RECHTSEXTREMISMUS 3.6.6 "Der III. Weg" Die neonazistische Partei "Der III. Weg" wurde 2013 gegründet. Die Partei ist überwiegend in den südlichen und östlichen Bundesländern aktiv, entfaltet aber auch darüber hinaus Wirkung. Sie organisiert sich in derzeit 20 regionalen "Stützpunkten", welche den drei Landesverbänden untergeordnet sind. Ideologisch vertritt "Der III. Weg" ein völkisch-nationalistisches Weltbild, welches insbesondere durch einen antipluralistischbiologistischen Volksbegriff, Geschichtsrevisionismus und Antisemitismus geprägt ist. Die Anlehnung an den historischen Nationalsozialismus wird durch die Übernahme von Elementen des "25-Punkte-Programms" der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP) in das "Zehn-Punkte-Programm" der Partei besonderes deutlich. Strategisch ist "Der III. Weg" nicht nur als Wahlpartei ausgerichtet, er versteht sich vielmehr als eine ganzheitliche Organisation des "nationalen Widerstandes". Das politische Handeln der Partei basiert auf den drei Säulen "Politischer Kampf", "Kultureller Kampf" und "Kampf um die Gemeinschaft". In Bremen bestehen bislang keine Strukturen der Partei "Der III. Weg". Gleichwohl deuten die Veröffentlichungen und Aktionen der Partei darauf hin, dass die Etablierung von tatsächlichen Parteistrukturen in Bremen und dem Umland beabsichtigt ist. So fand im November 2022 wie bereits im Vorjahr eine Parteivorstellung in Niedersachsen statt, zu der Interessenten aus dem gesamten norddeutschen Raum eingeladen worden waren. Damit sei laut der Partei "Der III. Weg" "ein weiterer, kleiner Schritt zur Verbreitung und Bekanntmachung unserer nationalrevolutionären Bewegung im norddeutschen Raum gesetzt" (Internetseite "Der III. Weg", 14.12.2022) worden. Bereits zuvor wurden im Bremer Stadtteil Arbergen im Dezember 2022 Flugblätter der Kampagne "Die wahre Krise ist das System" verteilt (Internetseite "III. Weg", 12.12.2022), mit denen die Partei für ihre rechtsextremistische Politik warb. Bereits im Jahr 2021 kam es mehrfach zu Flugblattverteilaktionen, darunter auch von einem Flugblatt mit dem Titel "Das System ist gefährlicher als Corona", in dem die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung von der Partei als Unterdrückungsinstrumente und der demokratische Rechtsstaat per se als "volksfeindlich" dargestellt werden. Über ihre Homepage bewarb die Partei regelmäßig die von Mitte Dezember 2021 bis etwa Anfang Februar 2022 durchgeführten sog. "Spaziergänge" gegen die Maßnah- RECHTSEXTREMISMUS 49 men zur Bekämpfung der Pandemie, darunter auch diverse Veranstaltungen in Bremen. Sie seien zwar nicht die Organisatoren dieser Proteste, riefen aber dennoch zur Teilnahme auf: "Egal wo, ob jung ob alt, ob geimpft oder ungeimpft, immer mehr Deutsche lassen sich nicht weiter durch diese Corona-Diktatur einschüchtern! Die nationalrevolutionäre Bewegung & Partei 'Der III. Weg' wird sich wieder bundesweit an den (Montags)-Protesten gegen die Corona-Zwangsmaßnahmen beteiligen." (Internetseite "Der III. Weg", 07.03.2022). Ihre menschenverachtende und nationalsozialistische Einstellung stellt die Partei offen zur Schau. So veröffentlichten Mitglieder des "III. Weg" auf ihrer Internetseite einen Beitrag, in dem sie ihre bundesweite Kampagne "Die wahre Krise ist das System" am Beispiel einer angeblich seit Jahren in Bremen verfehlten Bildungspolitik bewarben. In dem rassistischen und fremdenfeindlichen Text werden Menschen mit Migrationshintergrund als die gewichtigste Ursache für das schlechte Abschneiden Bremens beim bundesweiten Vergleich des Bildungsstandards von Viertklässer:innen im Jahr 2021 dargestellt. In dem Beitrag werden Menschen mit Migrationshintergrund pauschal als "Asylforderer" und "Invasoren" diffamiert. Verknüpft werden diese gegen die Menschenwürde verstoßenden Aussagen mit der Aufforderung, sich aktiv für die extremistischen Ziele der Partei einzusetzen. So fordern sie, "dass dieses System überwunden werden muss zugunsten eines Deutschen Sozialismus" (Internetseite "Der III. Weg", 27.11.2022). 3.6.7 Rechtsextremistische "Mischszene" Bremens In Bremen existiert seit Langem eine "Mischszene" aus aktionsund gewaltorientierten Rechtsextremist:innen und Angehörige anderer gewaltaffiner Szenen wie Hooligans oder Rockern. Das Bedrohungspotenzial liegt dabei weniger in der ideologischen Grundüberzeugung als vielmehr in der hohen Gewaltbereitschaft, die von Personen aus diesen Spektren ausgeht und die mittels rechtsextremistischer Einflussnahme instrumentalisiert werden kann. Rechtsextremist:innen sind vielfach in der Lage, anlassund ereignisbezogen solche gewaltaffinen Gruppierungen zur Begehung von politisch motivierten Straftaten zu mobilisieren. Daher ist auch nicht nur die absolute Zahl der Rechtsextremist:innen maßgebend bei der Darstellung der rechtsextremistischen Bedrohung, sondern zugleich das sonstige gewaltbereite Rekrutierungspotenzial einzubeziehen. 50 RECHTSEXTREMISMUS "Nordic 12" In Bremen trat die rechtsextremistische Gruppierung "Bruderschaft Nordic 12", die 2014 aus der Gruppe "Brigade 8 - Bremen Crew" hervorgegangen war, in den vergangenen Jahren kaum öffentlich in Erscheinung. Nichtsdestotrotz sind ihre Anhänger:innen weiterhin politisch aktiv: Mitglieder des Bremer Ablegers beteiligten sich bspw. an der jährlich am 13. Juli stattfindenden Aktion "Schwarze Kreuze", eine bundesweite Aktion, mit der auf vermeintliche Opfer "multikultureller Gewalttaten" (Internetseite "Schwarze Kreuze", 07.07.2022) aufmerksam gemacht werden soll. Hierfür wurden selbstgebaute schwarze Kreuze an Ortseingangsschildern in Bremen und Umgebung sowie an einem Kriegerdenkmal angebracht und die Bilder der Aktion über die Homepage geteilt. Die sich als "patriotisch" bezeichnende Gruppierung zeigte in Anlehnung an sog. "Outlaw-Motorcycle-Gangs" ein martialisches Erscheinungsbild. "Nordic 12" ist insbesondere um die strategische Vernetzung der rechtsextremistischen Szene Bremens im Kampf gegen das politische "System" bemüht. Rechtsextremistisch beeinflusste Hooligans Die Bremer Hooligan-Szene war jahrelang wegen der Hooligan-Gruppierungen "Standarte Bremen", "City Warriors" und "Nordsturm Brema" sowie der FußballfanGruppierung "Farge Ultras" bundesweit bekannt. Auch wenn einige dieser Bremer Gruppierungen in der Vergangenheit vorgaben, sich aufgelöst zu haben, sind ihre ehemaligen Mitglieder und Anhänger:innen weiterhin aktiv. Die Gruppierungen galten als "rechtsextremistisch beeinflusst", das heißt, dass es sich bei einzelnen Mitgliedern um überzeugte Rechtsextremist:innen handelt. In der Regel sind Hooligans unpolitisch, lediglich ein Teil von ihnen ist rechtsextremistisch oder fremdenfeindlich motiviert. Seit den 1980er-Jahren versuchen Rechtsextremist:innen sowohl Hooligans gezielt abzuwerben und sie für ihre politischen Ziele zu instrumentalisieren als auch die Hooligan-Szene zu unterwandern. Rechtsextremistische Musik Musik hat eine wichtige Funktion für die rechtsextremistische Szene, weil die typischen Feindbilder in Liedtexten leicht dargestellt und vermittelt werden können. Um eine breite Zuhörerschaft zu erreichen, verdecken manche rechtsextremistischen Bands ihren ideologischen Hintergrund. Nach wie vor finden Jugendliche den Einstieg in die rechtsextremistische Szene neben sozialen Netzwerken häufig über die Musik. Konzerte bilden eine Gelegenheit für Szene-Treffs und stärken das Zusammengehörigkeitsgefühl. Gleichzeitig vermitteln sie den Jugendlichen einen Erlebnischarakter, auch weil sie häufig konspirativ organisiert sind. RECHTSEXTREMISMUS 51 Rechtsextremistische Bands Für die rechtsextremistische Szene Bremens sind zurzeit vor allem zwei Bands von Bedeutung. Die 1997 gegründete, bundesweit bekannte und aktive rechtsextremistische Hooligan-Band "Kategorie C - Hungrige Wölfe" (KC), die mittlerweile ihren Schwerpunkt in Niedersachsen hat, gilt seit Jahren als Bindeglied der Hooliganund der rechtsextremistischen Szene, weil sie in beiden Szenen vor allem wegen ihrer gewaltverherrlichenden Lieder beliebt ist und insbesondere mit ihren Konzerten zum Zusammenhalt und zur Mobilisierung der Szene beiträgt. Zwar hatte die Band im Jahr 2019 ihren offiziellen Rückzug verkündet, im Sommer 2022 erfolgte dann jedoch mit der Veröffentlichung des Albums "Ruf der Götter" das Comeback der Band. Die im Jahre 1981 in Bremen gegründete rechtsextremistische Band "Endstufe" ist bundesweit eine der ältesten aktiven "Skinhead Bands". Im Jahr 2021 feierte die Band ihr 40-jähriges Bestehen. Ihre gewaltverherrlichenden und fremdenfeindlichen Texte bewegen sich im Graubereich des rechtlich Zulässigen, wodurch sie der Indizierung oder dem Verbot ihrer veröffentlichten Alben entgehen. Gleichzeitig tritt die Band bundesweit und international auf rechtsextremistischen Veranstaltungen auf. Im Jahr 2020 veröffentlichte die Band ein neues Album unter dem Titel "Die Zeit war reif", auf dem sie vor allem unveröffentlichte Lieder aus den Jahren 1981 bis 1983 neu aufgenommen hat. Zum Jahresende 2021 veröffentlichte die Band ein neues Album unter dem Titel "Vierzig Jahre", welches musikalisch in der bekannten Tradition der Band steht. Begleitend zur Veröffentlichung des neuen Albums kam es im Herbst 2022 zu einem über mehrere Tage stattgefundenen Jubiläumskonzert "40 Jahre live und laut", welches außerhalb Bremens stattfand. Die rechtsextremistische Kampfsportszene Für die gewaltorientierte rechtsextremistische Szene ist Kampfsport seit jeher ein relevantes und elementares Betätigungsfeld, welches in den letzten Jahren eine zunehmende Professionalisierung und Internationalisierung erfahren hat. Durch bundesund europaweite Großveranstaltungen wie den "Kampf der Nibelungen" oder "TIWAZ - Kampf der freien Männer" trägt der Kampfsport zu einer überregionalen Vernetzung der gewaltorientierten rechtsextremistischen Szene Symbol und Markenzeichen des neonazistischen Kampfsportbei. Außerdem bildet er u. a. durch den Ticketverkauf für die VeranTurniers "Kampf der Nibelungen" staltungen und den Vertrieb von Merchandising-Artikeln ein lukratives Geschäftsmodell für die Szene. Durch seinen Erlebnischarakter dient der Kampfsport zudem der Rekrutierung junger bisher ideologisch nicht gefestigter Personen. Zunehmender Repressionsund Kontrolldruck durch die Behörden sowie die Pandemie haben zumindest im Bereich der Großveranstaltungen im vergangenen Jahr zu starken 52 RECHTSEXTREMISMUS Einschränkungen geführt, gleichwohl waren aber regionale Kampfsportgruppen aktiv. Während der Großteil der Veranstaltungen aufgrund behördlicher Beschränkungsmaßnahmen abgesagt werden musste, verlagerte sich das größte europäische Kampfsportevent "Kampf der Nibelungen" mit Pandemiebeginn in den virtuellen Raum oder ins europäische Ausland, wodurch die europaweite Vernetzung der rechtsextremistischen Szene gestärkt wurde. Das Ausweichen ins europäische Ausland ist eine Reaktion auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Dresden, welches im September 2022 die Klage gegen den im Jahr 2019 verbotenen "Kampf der Nibelungen" im sächsischen Ostritz erneut bestätigte. Das Verwaltungsgericht Dresden argumentiert in seiner Urteilsbegründung, dass bei der Durchführung des "Kampfs der Nibelungen" eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung bestünde. Nach Ansicht des Gerichts steht bei der Veranstaltung nicht das Sportereignis im Vordergrund, sondern vielmehr die Vernetzung und Kampfertüchtigung der teilnehmenden Akteure. Personen der gewaltorientierten rechtsextremistischen (Misch-)Szene in Bremen nehmen regelmäßig an Kampfsporttrainings und -veranstaltungen teil. Die Zahl der aktiv an Wettkämpfen teilnehmenden Bremer Rechtsextremisten liegt im unteren einstelligen Bereich. In Bremen existierten unter dem Label "Nordic Fight Club" mehrere Anlaufstellen für Kampfsportler der rechtsextremistischen Szene Bremens. Die Akteur:innen verlagerten ihre Tätigkeiten im vergangenen Jahr vermehrt in den nichtöffentlichen Bereich. "Hammerskins" Die seit Beginn der 1990er-Jahre in Deutschland existierende rechtsextremistische Skinhead-Organisation "Hammerskins" beschäftigt sich vorwiegend mit der Planung und Durchführung rechtsextremistischer Konzerte. Vor dem Hintergrund ihres rassistischen und nationalistischen Weltbildes verfolgt die Organisation das Ziel, alle "weißen nationalen Kräfte" in einer weltweiten "Hammerskin-Nation" zu vereinigen. Die 1988 in den USA gegründeten "Hammerskins" verstehen sich als Elite der rechtsextremistischen Skinhead-Szene und sind straff und hierarchisch organisiert. Die "Hammerskin Nation" ist in nationale Divisionen aufgeteilt, die wiederum in regionale "Chapter" gegliedert sind. In Deutschland gibt es derzeit etwa 13 "Chapter", wobei das "Hammerskin-Chapter Bremen" zu den ältesten gehört. Abgesehen von der Durchführung und Organisation von Konzertveranstaltungen treten die konspirativ agierenden "Hammerskins" selten öffentlich in Erscheinung. 53 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalterinnen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Unterstützungsaufgaben des LfV Anhang 54 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 4 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates Im Jahr 2022 zeigte sich eindrücklich die Konsolidierung des Personenpotenzials, das der Verfassungsschutzverbund dem neuen Phänomenbereich der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" zuordnet. Aus der Protestbewegung gegen die staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie hat sich ein "harter Kern" an Personen herausgebildet, der dem demokratisch legitimierten Rechtsstaat kategorisch seine Handlungsfähigkeit und -kompetenz abspricht und mit antisemitisch konnotierten Verschwörungsideologien gewalttätige Notwehrhandlungen propagiert. Anhänger dieses Spektrums beschäftigten sich im Jahr 2022 neben der staatlichen Corona-Politik vor allem mit den in Deutschland spürbaren wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine. Der Mitte des Jahres vollmundig angekündigte "heiße Herbst" oder "Wutwinter" blieb bundesweit und insbesondere auch in Bremen aus. 4.1 Extremismus eigener Art Bundesweit gab es erstmals im Frühjahr 2020 Proteste gegen die Maßnahmen der Bundesund Landesregierungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. An den Demonstrationen dieses sehr heterogenen Spektrums beteiligten sich neben Personen aus dem bürgerlichen Spektrum auch Angehörige des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates", Rechtsextremist:innen sowie Personen aus dem Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen". Kritik an den Maßnahmen der Bundesregierung unter Wahrung der Grundsätze der rechtlich zugesicherten Meinungsfreiheit ist Ausdruck der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und wesentlicher Bestandteil des Verfassungsstaates. Werden Proteste und Kundgebungen jedoch durch extremistische Akteure instrumentalisiert und münden diese in einer staatsund sicherheitsgefährdenden Delegitimierung und Verächtlichmachung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner Repräsentant:innen, kann hieraus eine Bedrohung für die demokratische Grundordnung erwachsen. Angesichts der neuen Stoßrichtung der stark heterogenen Protestbewegung richtete der Verfassungsschutzverbund im April 2021 den neuen Phänomenbereich der "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" ein, der eine bundesweit einheitliche, flächendeckende und systematische Beobachtung dieser äußerst dynamischen Bewegung ermöglicht. Die seit Mitte 2020 aufkeimenden Proteste haben deutlich gezeigt, dass es innerhalb der Gesellschaft ein staatsgefährdendes Mobilisierungspotenzial gibt. Bereits während der sog. "Flüchtlingskrise" im Jahr 2015 konnte beobachtet werden, VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 55 dass ein nicht unerheblicher Teil der Gesellschaft empfänglich ist für Verschwörungsideologien, "Fake-News" oder "Alternative Fakten" und die Legitimation der Bundesregierung infrage stellt. Stand in den Jahren 2020 und 2021 inhaltlich die Kritik an den staatlichen Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der Pandemie im Vordergrund, konnte mit dem Rückgang der staatlichen Corona-Maßnahmen ab Frühjahr 2022 eine thematische Schwerpunktverschiebung festgestellt werden: Die im Kontext des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine entstandenen belastenden sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen auf die deutsche Bevölkerung rückten in den Mittelpunkt der Proteste. Diese Themenverschiebung verdeutlicht, dass es sich bei der verfassungsschutzrelevanten Protestszene nicht um ein flüchtiges und vorübergehendes Phänomen handelt, sondern vielmehr um eine dynamische Bewegung, die aktuelle gesellschaftlich relevante Themen für die eigenen politischen Zwecke und zur Protestmobilisierung zu nutzen vermag. Insofern zeigte sich im Jahr 2022 insbesondere mit der flexiblen Übernahme neuer (Krisen-)Themen und der Existenz umfassender virtueller Netzwerkstrukturen die Konsolidierung sowie Verstetigung des Spektrums. 4.2 Bedeutungsverlust der "Querdenken"-Bewegung bei Erstarken dezentraler Gruppierungen Zu Beginn der Proteste im Jahr 2020 kristallisierte sich die sog. "Querdenken"-Bewegung bundesweit als zentrale Organisatorin der Proteste gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie heraus. Die Bewegung trat zuerst in Stuttgart unter der Bezeichnung "Querdenken 711" in Erscheinung, wobei sich die Zahl auf die Stuttgarter Ortsvorwahl bezieht. In Bremen formierte sich Anfang Juli 2020 eine entsprechende Gruppierung unter dem Namen "Querdenken 421". Gemein waren den verschiedenen regionalen Ablegern direkte Kontakte in das Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" sowie die offensive Verbreitung antisemitisch konnotierter Verschwörungserzählungen, wie bspw. der aus den USA stammenden "QAnon"-Verschwörungsideologie. Auch der Bremer Ableger "Querdenken 421" verbreitete in der Vergangenheit antisemitisch konnotierte Verschwörungsideologien. Auf "Querdenken"-Kundgebungen in Bremen wurden in den letzten Jahren wiederholt Vergleiche gezogen, die die Diktaturen der "NS-Gewaltherrschaft" und der DDR verharmlosten und gleichzeitig den demokratischen Rechtsstaat verächtlich machten. Mit dem Fortschreiten der Pandemie ging eine deutliche Radikalisierungstendenz einiger Anhänger:innen der Gruppierung "Querdenken 421" einher. 56 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES Des Weiteren engagierten sich Personen aus dem Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" offenkundig an zentralen Stellen innerhalb der Gruppe. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung hatte das LfV die Gruppierung "Querdenken 421" am 3. Mai 2021 im Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" eingestuft, da tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht einer extremistischen Bestrebung vorliegen. Seit Mitte 2021 waren bundesweit zunehmend Auflösungserscheinungen der sog. "Querdenken"-Bewegung zu sehen. Sowohl die geringe Mobilisierungsfähigkeit als auch die internen (Richtungs-)Streitigkeiten sowie der zunehmende Sanktionsdruck durch die Sicherheitsbehörden führten zu einer Zersplitterung des Spektrums. Über den Messenger-Dienst Telegram formierten sich infolgedessen neue kleinere Gruppen, die anlassbezogen zu Kundgebungen und Demonstrationen aufriefen. Aufgrund der in Teilen der Bundesrepublik herrschenden Versammlungsverbote wurden die Kundgebungen zeitweise dezentral über diverse Plattformen und Gruppen in sozialen Netzwerken als "Spaziergänge" getarnt angekündigt. Um polizeilichen Maßnahmen wie bspw. Versammlungsauflösungen zu entgehen, sind die dezentralen Veranstalter mittlerweile wieder dazu übergegangen, ihre Demonstrationen regulär anzumelden. 4.3 Bundesweite Proteste Die Proteste waren in den Vorjahren deutlich von einer enormen Dynamik innerhalb des Spektrums und einer Unvorhersehbarkeit geprägt, was das Ausmaß der Mobilisierungsfähigkeit betrifft. Mittlerweile gelingt es den Angehörigen der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" kaum noch, Demonstrationen mit großer Beteiligung von Nichtextremist:innen zu mobilisieren. Dies dürfte auf zwei Faktoren zurückzuführen sein: Die Demonstrationen des verfassungsschutzrelevanten Protestspektrums wurden seit Beginn des Jahres 2021 in aller Regel verboten, da die verordneten Infektionsschutzmaßnahmen während der Kundgebungen nicht eingehalten wurden. Daraus resultierende Maßnahmen der Polizei und Justiz gegen Personen, die sich trotzdem versammelten, wirkten abschreckend. Angesichts der schrittweisen Rücknahme der Grundrechtseinschränkungen im Zuge einer verbesserten Infektionslage ab Mitte 2021 waren zudem die Kundgebungen nicht länger Ausdruck eines vermeintlichen Widerstandes und konnten entsprechend weniger (mediale) Aufmerksamkeit generieren. Mit der erneuten Verschärfung des Infektionsgeschehens im Herbst 2021 und der überwiegend emotional geführten Diskussion um eine mögliche Impfpflicht nahm das Protestgeschehen zunächst wieder rasant zu, erreichte jedoch nicht mehr die Beteili- VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 57 gung von größeren Teilen der Bevölkerung, wie es anfänglich im Sommer 2020 noch der Fall war. Die Proteste wurden dezentral über diverse Social-Media-Kanäle organisiert, meist als sog. "Spaziergänge" getarnt, um behördliche Auflagen zu umgehen. Diese Vorgehensweise hielt bis März 2022 an. Mit der Aufhebung zahlreicher Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie wurden auch die Demonstrationen wieder regelkonform angemeldet. Gleichzeitig nahmen im Vergleich zu den Vorjahren abermals weniger Teilnehmende an den Protesten teil. Die Proteste verblieben somit weitgehend unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der Öffentlichkeit, auch weil der Angriffskrieg Russlands die Medien weitgehend beherrschte. Überregionale Demonstrationen in den größeren Städten des Landes zogen trotz langfristiger Planung nur noch vergleichsweise wenige Teilnehmer:innen an, wobei es auch hier deutliche regionale Unterschiede gab. Lediglich der "harte Kern" des Spektrums ließ sich im Jahr 2022 noch regelmäßig zu Protesten mobilisieren. Ein Wiedererstarken der Proteste wäre aufgrund der hohen Dynamik innerhalb dieses Protestmilieus denkbar, wenn die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung erneut verschärft würden oder sich die "Energiekrise" mit den einhergehenden Preissteigerungen zuspitzen würde. Infolge einer solchen Entwicklung ist auch die weitere Radikalisierung einzelner Aktivist:innen bis hin zur Begehung von Gewalttaten nicht auszuschließen. Die Themen "Energiekrise" sowie steigende Inflation werden allerdings auch von anderen gesellschaftlichen Akteuren und Teilen der Politik aufgenommen und diskutiert. Insofern stellen diese Themen - anders als die radikale Ablehnung der Pandemiemaßnahmen - kein Alleinstellungsmerkmal des verfassungsschutzrelevanten Protestspektrums dar. Zudem verknüpfen die Angehörigen der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" ihre Argumente bzgl. des Angriffskrieges an das Narrativ, Russland befände sich in einem notwehrrechtlich legitimen Abwehrkampf gegen eine aggressive, auf Expansion ausgerichtete NATO. 4.4 Virtuelle Vernetzung Neben öffentlichen Protesten spielt sich ein Großteil der Agitation des verfassungsschutzrelevanten Protestspektrums im digitalen Raum ab. Die sozialen Medien bieten für die Selbstvergewisserung der Anhänger:innen - wie auch bei den anderen Phänomenbereichen - weitgehend abgeschlossene Filterblasen, in denen nur die der eigenen Überzeugung zuträglichen Inhalte geteilt werden. Zur indirekten Legitimierung der eigenen Überzeugungen wird von den "Querdenkern" auf allen Ebenen Misstrauen gegenüber der staatlichen Ordnung, ihren Institutionen und Vertreter:innen geschürt. Kritiker:innen in den Kommentarspalten werden dabei systematisch als 58 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES "Trolle", "Systemlinge" und "Schlafschafe" verunglimpft und häufig von den GruppenAdministratoren gesperrt. Es entstehen Echokammern, in denen die eigene Weltsicht hermetisch gegenüber Kritik von außen abgeschottet wird. Die Kommunikation findet bereits seit 2020 primär auf dem Messenger-Dienst Telegram statt, um der vermeintlichen "Zensur" auf großen Plattformen wie Facebook zu entgehen. Telegram ist unter Extremist:innen generell beliebt, weil die Plattformbetreiber:innen keine Beschränkungen von extremistischen Inhalten vornehmen.1 Halbwahrheiten, gezielte Desinformation und Verschwörungsmythen finden so ungehindert Verbreitung. Die sog. "Mainstream-Medien" werden als "Staatsmedien" und "Lügenpresse" diffamiert und deren Objektivität aberkannt. Mithilfe eines ganzen Universums aus "Querdenker"-Anwält:innen, "Querdenker"-Ärzt:innen, "Querdenker"-Polizist:innen usw. soll den "Fake-News"-Kampagnen und Verschwörungsideologien ein seriöser Schein verliehen werden. So wird eine durch Verschwörungsmythen zusammengehaltene umfassende Erzählung verbreitet, die den "Mainstream"-Diskurs generell ablehnt und eine Parallelwelt aus "Alternativen-Fakten" aufbaut. Denn dieser basiere nicht auf Fakten und sei zudem durch "Staatsmedien" gesteuert, deren einziges Ziel darin bestünde, der Bevölkerung die "Wahrheit" vorzuenthalten. Gleichzeitig gelten unter "Querdenkern" Inhalte, die durch unabhängige Faktenchecks als Fake-News entlarvt wurden, als besonders vertrauenswürdig, während die Faktenchecker als "Systemlinge" diffamiert werden. Das hier skizzierte Netzwerk zielt auf eine grundlegende Delegitimierung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ab. Im Kontext der Proteste betonten die Angehörigen des Phänomenbereichs häufig ihre vorgebliche Opferrolle, indem sie beispielsweise Videos vermeintlich ungerechtfertigter Polizeigewalt bei Demonstrationen teilten. Vielfach handelte es sich dabei jedoch um legitime polizeiliche Auflösungen von gerichtlich verbotenen Kundgebungen, die von den Demonstrierenden gezielt und provokativ genutzt wurden, um medienwirksame Bilder zu generieren. Auf die seit März 2022 sinkende Mobilisierungsfähigkeit reagierten die Angehörigen der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" mit dem Versuch, das Themenspektrum auf andere, möglichst emotionalisierende und anschlussfähige Themen zu erweitern. Hierbei werden insbesondere die Auswirkungen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine instrumentalisiert: Steigende Energiepreise, Inflation, Preissteigerungen und eine generelle gesellschaftliche Verunsicherung bilden derzeit den thematischen Nährboden, auf dem sich Teile des Spektrums virtuell radikalisieren. Nicht erst seit dem Angriffskrieg werden russische Desinformationen in dem Spektrum unkritisch übernommen und vor allem über den Messenger-Dienst Telegram weiterverbreitet. Dort wird der russische Angriff relativiert und Russland zum eigentlichen 1 Bislang fällt der Messenger-Dienst Telegram als vermeintliche Plattform für individuelle Kommunikation nicht unter das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG). VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 59 Opfer westlicher Mächte stilisiert. Russland sei aus reiner Notwehr zu dem militärischen Vorgehen gegen die Ukraine gezwungen, um einer vermeintlichen Bedrohung durch die NATO zu begegnen. Die deutsche Regierung nutze zudem den Krieg und die hohen Energiepreise als Vorwand zur Einführung einer sog. "Ökodiktatur" und riskiere mit ihrem pro-ukrainischen Kurs einen Atomkrieg. In der Filterblase der TelegramGruppen bestärken sich die Angehörigen des Phänomenbereichs gegenseitig in dieser Weltsicht. Von abweichenden Meinungen grenzen sie sich ab, verunglimpfen diese oder sperren Nutzer:innen mit gegenteiligen Meinungen. Die Empfänglichkeit gegenüber der u. a. von russische Staatsmedien transportierten Desinformationskampagnen und Propaganda einerseits und das generelle Misstrauen, sowohl gegenüber westlichen "Mainstream-Medien" als auch den Regierenden andererseits, haben das Potenzial, sich gegenseitig zu verstärken und so eine Parallelwelt zu schaffen, in der Tatsachen und Fakten kategorisch geleugnet werden und sich Teile des Spektrums weiter in eine gesellschaftliche Isolation begeben. Paradoxerweise wähnen sich gerade die in diesen Filterblasen isolierten Angehörigen des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" im Besitz der vermeintlichen Wahrheit und als "erwacht", während der Rest der Gesellschaft aus "Schlafschafen" bestehe, die in blindem Gehorsam gefangen seien. Diese einfache Freund-Feind-Rhetorik illustriert den Wunsch nach einfachen Antworten in komplexen und beängstigenden Situationen, wie der Pandemie oder dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit sämtlichen negativen gesellschaftlichen Folgewirkungen. 4.5 Verbreitung von Verschwörungsideologien Verschwörungsmythen und -narrative spielen eine besondere Rolle bei Angehörigen des besagten Spektrums. Sie dienen einerseits dazu, sich auf Grundlage unwahrer Narrative und Mythen in ihrer "Opferrolle" und im Widerstandsmodus zu bestätigen und andererseits sich als Gemeinschaft zu begreifen, welche sich im vermeintlichen Widerstand gegen das herrschende System befindet. Die meisten Verschwörungsideologien und -mythen sind dabei strukturell ähnlich aufgebaut: Eine geheime Macht würde unerkannt Pläne verfolgen, unter denen die Weltbevölkerung leidet. Es sind häufig "dystopische" Vorstellungen, die die Welt in Gut und Böse aufteilen und damit das Narrativ des rechtmäßigen, heroischen Widerstandes in sich tragen. Je nach Adressatenkreis kann die durch die Unterdrückung entstehende "Neue Weltordnung" ("New World Order", NWO) unterschiedlich ausgeformt sein. Während in den USA das Schreckgespenst einer sozialistischen oder kommunistischen "Neuen Weltordnung" Verbreitung findet, wird in Europa zumeist die Angst vor der 60 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES Herrschaft der Großkonzerne und dem Niedergang des Mittelstandes bedient. Solche Verschwörungsmythen enthalten also oftmals eine regional angepasste Schreckensvision, um staatliche Akteure und Repräsentanten, demokratische Institutionen und zwischenstaatliche Organisationen zu delegitimieren. Die eindeutige Aufteilung der Welt in Gut und Böse bzw. Freund-/Feind-Denken kann darüber hinaus in Zusammenhang mit einem Widerstandsnarrativ Radikalisierungsverläufe beschleunigen. Zugrundeliegend ist den meisten Verschwörungsnarrativen der Rückgriff auf antisemitische Ideologiefragmente. So basieren die Verschwörungsideologien "QAnon" und "Great Reset" auf antisemitischen Narrativen. "QAnon" Die 2017 in den USA entstandene Verschwörungsideologie hat mittlerweile weltweite Verbreitung erfahren. Sie basiert auf der Annahme, dass ein angeblicher hochrangiger Beamter der US-Regierung (mit der höchsten Sicherheitsfreigabe "Q") seine Anhänger:innen in den sozialen Netzwerken mit kryptischen Nachrichten oder Rätseln über Pläne zum Sturz einer vermeintlich existierenden verborgenen Elite - dem "Deep State" ("Staat im Staate") - informieren würde. Vertreter:innen des vermeintlichen "Deep State" seien nach Überzeugung der "QAnon"-Anhänger:innen insbesondere Mitglieder (reicher) jüdischer Familien, die den Lauf der Welt steuerten. Darüber hinaus behaupten Anhänger:innen dieser Verschwörungsideologie, dass der "Deep State" Kinder in einem industriellen Ausmaß missbrauche und töte zur Gewinnung eines euphorisierenden Verjüngungselixiers namens "Adrenochrom". Mit dem Slogan "Save the Children" beziehen sich die Anhänger:innen auf diese vermeintlichen Machenschaften des "Deep State" in der gesamten Welt. Die Verschwörungsideologie zielt wie andere "Weltverschwörungsfantasien" auf antisemitische Narrative ab und diffamiert und dämonisiert Staat und Politik. Bei "QAnon" handelt es sich um keine statische, sondern eine durch die fortwährende Interpretation ihrer Anhänger:innen sich weiterentwickelnde und inhaltlich flexibel erweiterbare Ideologie. Anschlussfähig ist sie damit auch an andere Verschwörungsideologien. Mittlerweile entfalten die "QAnon"-Anhänger:innen zwar nicht mehr die Aktivität, die sie zu ihren Höchstzeiten vor zwei Jahren hatten, allerdings werden die Verschwörungsnarrative offensiv weitergesponnen und verbreitet. "Great Reset" Viele Verschwörungsnarrative beziehen sich auf den sog. "Great Reset". Ursprünglich ist "The Great Reset" die 2020 vorgestellte Initiative des WEF2-Direktors, die als Zielsetzung hatte, die Weltwirtschaft nach der Pandemie nachhaltiger und sozialer auszu- 2 World Economic Forum, Dt.: Weltwirtschaftsforum VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 61 richten. Unter Verschwörungsideologen wurde der Begriff "Great Reset" schnell zu einem Synonym für die angeblichen Weltherrschaftspläne einer finanziellen und politischen Elite. Zentral ist dabei der Gedanke, die Pandemie sei von dieser Elite künstlich erschaffen oder sogar lediglich inszeniert - daher auch der Begriff "Plandemie" - um nach dem "Great Reset" eine "Neue Weltordnung" (NWO) einführen zu können. Der Verweis auf eine vermeintlich im Verborgenen agierende Elite zielt zudem auf das in rechtsextremistischen Kreisen häufig verwendete Narrativ der "jüdischen Weltverschwörung" ab. Das Narrativ des "Great Reset" wird häufig verknüpft mit weiteren rechtsextremistischen Verschwörungsideologien, wie bspw. dem "Großen Austausch", wodurch eine breite Anschlussfähigkeit entsteht. Im Zuge der Hinwendung zu neuen Themenfeldern abseits der Corona-Pandemie entwickelten sich seit März 2022 die etablierten Verschwörungsnarrative weiter. So wird der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine als eine weitere Ausformung vermeintlicher Verschwörungen rezipiert. Der Krieg ist demnach ein Vorwand einer angeblichen (jüdischen) Weltverschwörung, um von der Umsetzung der Pläne des sog. "Deep State" oder der "New World Order" abzulenken, wie bspw. die totale Überwachung, die Enteignung der Bevölkerung, die Errichtung einer globalen Diktatur oder die gentechnische Veränderung der Weltbevölkerung. Vergleiche mit dem Nationalsozialismus Während der Hochphase der Pandemie häuften sich im Rahmen von Demonstrationen Aussagen, die die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie mit der diktatorischen Vorgehensweise im Nationalsozialismus oder in der DDR verglichen und somit den demokratischen Rechtsstaat verächtlich machten. So verwendeten Demonstrierende zum Beispiel Schlagworte wie "Corona-Diktatur" und verglichen das Infektionsschutzgesetz mit dem "ErmächtiIm Kontext von Kundgebungen in Bremerhaven 2021 verwendegungsgesetz" der Nationalsozialisten von 1933. Einen eindeutigen tes Plakat "Impfen macht frei" Bezug zum Nationalsozialismus wies bspw. ein Plakat mit dem Schriftzug "Impfen macht frei" in Anlehnung an den Satz "Arbeit macht frei", der in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten über dem Eingangstor angebracht war, auf. Außerdem trugen Teilnehmende von "Querdenken"-Kundgebungen immer wieder sog. "Judensterne" mit der Aufschrift "Ungeimpft". Ein Erlass des Senators für Inneres vom 9. Juni 20213 verbietet die Verwendung des Davidsterns oder ähnlicher Symbole bei Kundgebungen, die eine Verharmlosung der Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes darstellen. Die Gleichsetzung der eigenen Person oder Gruppe mit den Opfern des nationalsozialistischen Regimes führt 3 Erlasse und Ausführungsvorschriften - Der Senator für Inneres (bremen.de) 62 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES zu einer Verharmlosung der während des Nationalsozialismus begangenen Gräueltaten. Gleichzeitig macht der Vergleich der Maßnahmen zur Eindämmung der CoronaPandemie mit dem willkürlichen Vorgehen des nationalsozialistischen Regimes die freiheitliche demokratische Grundordnung verächtlich. Dabei verkennen die Angehörigen des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates", dass die Maßnahmen nach höchstrichterlicher Rechtsprechung zur Eindämmung der Corona-Pandemie nicht im Widerspruch zum Grundgesetz stehen oder dieses gar aufheben. So können grundlegende Freiheiten, wie die Versammlungsfreiheit, beschränkt werden, wenn im konkreten Fall ein anderes Grundrecht, konkret das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, schwerer wiegt. Ziel bleibt dabei, im Rahmen einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit und Abwägung der Interessen, eine möglichst weitgehende Verwirklichung der unterschiedlichen Rechte zu ermöglichen. Gerade bei höchstrangigen Grundrechten wie dem Recht auf Leben besteht nicht nur die rechtliche Möglichkeit zu einschneidenden Maßnahmen, sondern zum Teil sogar eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zum entsprechenden staatlichen Handeln. Liegen Zweifel bezüglich der Rechtmäßigkeit vor, steht den Betroffenen der Rechtsweg offen. 4.6 Radikalisierung Desinformationskampagnen und der zunehmende Einfluss von extremistischen Akteur:innen können eine verstärkende Wirkung auf einzelne Angehörige des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" entfalten und Radikalisierungsprozesse beschleunigen. Insbesondere der enthemmte Diskurs über soziale Netzwerke und Messenger-Dienste trägt so zu einem Klima bei, in dem Gewalttaten als vermeintlich legitimer Widerstand möglich erscheinen. Die Radikalisierung einzelner Personen innerhalb des Spektrums zeigte sich in erschreckender Weise im September 2021 in Idar-Oberstein, als ein 20-jähriger Kassierer einer Tankstelle erschossen wurde, weil er einem Kunden unter Verweis auf die geltende Maskenpflicht den Verkauf von Bier verweigerte. Der Täter wurde am 13. September 2022 vom Landgericht Bad Kreuznach zu lebenslanger Haft wegen Mordes verurteilt. Das Gericht sah die extremistische Einstellung des 50-Jährigen und seine Feindschaft gegenüber dem Staat als Hauptmotiv für die Tat an. Auch Politiker:innen standen im Fokus der Demonstrant:innen: Der martialisch anmutende Fackelmarsch vor dem Haus der sächsischen Gesundheitsministerin sowie die über den Messenger-Dienst Telegram geäußerten Mordpläne gegen den sächsischen Ministerpräsidenten im Dezember 2021 zeigen, dass Teile der Bewegung bereit sind, mit ihrem Protest demokratische und rechtsstaatliche Grenzen zu überschreiten. VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 63 4.7 Entwicklung der Proteste in Bremen Der Bedeutungsverlust der "Querdenken"-Bewegung im Jahr 2021 hinterließ auch in Bremen ein organisatorisches Vakuum, das parallel zur bundesweiten Entwicklung zwischen Herbst 2021 und Frühjahr 2022 eine Vielzahl an Telegram-Gruppen füllte. In diesen Gruppen wurde dezentral zu unangemeldeten "Spaziergängen" und vermeintlich spontanen Protestaktionen aufgerufen, um behördliche Versammlungsauflagen zu umgehen, wie etwa das Tragen von Masken. Diese Vorgehensweise führte dazu, dass die Polizei vermehrt Versammlungen auflöste und Ordnungswidrigkeiten verfolgte. In Einzelfällen kam es zu körperlichen Widerstandshandlungen von Demonstrant:innen gegen Polizist:innen. Nach dem Wegfall der Pandemiemaßnahmen im März 2022 gelang es lediglich der extremistischen Gruppierung "Gemeinsam Stark Bremerhaven" stabile und langfristige Strukturen aufzubauen und realweltlich aktiv zu bleiben. Über mehrere Monate im Jahr 2022 rief die Gruppierung wöchentlich zu Demonstrationen in Bremerhaven auf. Im August 2022 gründete die Gruppierung den Ableger "Gemeinsam Stark Bremen", der sich seit dem 26. Oktober 2022 "Bremen steht auf" nennt, um das Demonstrationsgeschehen auch in Bremen wiederzubeleben. Akteure der Bremerhavener Gruppe übernahmen die Organisation der Kundgebungen auch in Bremen. Seit August 2022 finden in Bremen wöchentliche Demonstrationen statt, die jedoch weder von der Teilnehmerzahl noch vom Organisationsgrad her an die Veranstaltungen in Bremerhaven heranreichen. Unter den Organisator:innen der Gruppierung befinden sich neben Personen aus dem bürgerlichen Milieu auch Angehörige des Phänomenbereichs der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates". So werden bei den Demonstrationen der Gruppierung regelmäßig Mitglieder der im Jahr 2021 aktiven, extremistischen Gruppierung "Querdenken 421" als Ordner eingesetzt. Die Organisator:innen der Proteste in Bremen und Bremerhaven stehen einem Schulterschluss mit Extremist:innen - trotz ihrer Bekenntnisse zur "Ideologiefreiheit" - zunehmend offen gegenüber. Wie bereits im Vorjahr nahmen auch im Jahr 2022 vereinzelt langjährige Mitglieder der Bremer sowie der überregionalen rechtsextremistischen Szene an den Demonstrationen teil, ohne jedoch erkennbaren Einfluss auf die Organisation auszuüben. So beteiligte sich bspw. ein Oldenburger Rechtsextremist, der in der Vergangenheit u. a. die rechtsextremistische "Identitäre Bewegung" als Anwalt vertrat, an der Demonstration am 17. August 2022 in Bremen. Am 19. Oktober 2022 trat ein bekannter niedersächsischer Rechtsextremist im Rahmen einer Demonstration der Gruppierung "Gemeinsam Stark Bremen" (seit 26. Oktober 2022 64 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES unter der Bezeichnung "Bremen steht auf" aktiv) in Vegesack an das Mikrofon und verbreitete russische Desinformationen und Propaganda bzgl. des Krieges gegen die Ukraine. Zudem solidarisierte sich am 10. Oktober 2022 der Versammlungsleiter der Gruppierung "Gemeinsam Stark Bremerhaven" bei einer Kundgebung mit einem rechtsextremistischen Teilnehmer, der kurz zuvor von der linksextremistischen Szene öffentlich "geoutet" worden war: "Dieser Mann wird beschuldigt, ein Nazi zu sein (...). Dieser Mann läuft von Anfang an an meiner Seite (...). Ich kenne ihn (...). Und ich sage, auch wenn er einer wäre, ob rechts, ob links ob ganz egal, wäre es mir egal solange die Ideologie zuhause bleibt" (Fehler im Original, Telegram-Kanal "Thorben's Nord Report", 16.10.2022). Mit dieser Einlassung heißt der Versammlungsleiter jegliche Extremist:innen bei den Kundgebungen der Gruppierung "Gemeinsam Stark Bremerhaven" willkommen, solange diese ihre Ideologie nicht offensiv vertreten. Im Zuge einer weiteren Demonstration am 24. Oktober 2022 rief ein regelmäßiger Protestteilnehmer in Bremen den Gegendemonstranten durch ein Megafon zu: "Schwarz - Weiß - Rot, die BRD ist tot". Der Satz offenbart eine ideologische Nähe zum Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen". Im Nachgang distanzierte sich die Gruppierung "Gemeinsam Stark Bremen" vordergründig von der Person und schloss sie offiziell von Kundgebungen aus, gleichwohl nimmt sie weiterhin an Protesten in Bremen teil. Abseits der wöchentlichen Demonstrationen versuchte der "harte Kern" des Protestspektrums in Bremen am 24. Mai 2022 eine Veranstaltung des Deutschen Ärztetages zu stören, die der Bundesgesundheitsminister mit einer Rede eröffnete. Der Gruppierung "Gemeinsam Stark Bremerhaven" und weiteren extremistischen Akteuren gelang es, bis zu 40 Personen zu mobilisieren, darunter auch bekannte Rechtsextremisten. Die Teilnehmenden protestierten lautstark mit Trillerpfeifen, Trommeln und Parolen, erzeugten eine verbale und akustische Drohkulisse und verhinderten damit die Durchführung eines geplanten Bürgerdialogs. Verbreitung von russischer Propaganda und Verschwörungsideologien in Bremen In den "Gemeinsam Stark Bremerhaven" und "Bremen steht auf" zuzuordnenden Telegram-Kanälen werden regelmäßig Beiträge geteilt, die sich gegen das Demokratieprinzip richten. Dabei handelt es sich um Beiträge, die den Staat, seine Repräsentant:innen und deren demokratisch legitimierte Entscheidungen systematisch verleumden und verunglimpfen und so geeignet sind, den Staat zu delegitimieren. Das Bremer Spektrum der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" zeigte sich sehr empfänglich für russische Propaganda und Desinformation, so wurde die Bundes- VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES 65 regierung bspw. im Rahmen einer Demonstration am 8. August 2022 der "Kriegstreiberei" bezichtigt. Mit zunehmenden Repressionsdruck lässt sich jedoch beobachten, dass sich mittlerweile die Führungspersonen der Gruppierung vorsichtiger äußern. So finden sich eindeutig antisemitische und den Holocaust verharmlosende Posts in den öffentlich zugänglichen Gruppen nur selten. Gleichwohl werden nach wie vor Verschwörungsmythen verbreitet, die auf antisemitischen Narrativen aufbauen. So schrieb ein Administrator des Telegram-Kanals "Gemeinsam Stark Bremerhaven" am 7. Juni 2022, wie er die zukünftige Entwicklung des "Great Reset" einschätzt: "Der great reset nimmt richtig Fahrt auf, bisher wurden wir ja nur darauf vorbereitet und die Weichen gestellt. Ab jetzt werden unabänderliche Fakten geschaffen, und wir werden all das bezahlen was diese Politkriminellen hier angerichtet haben Bis wir nichts mehr besitzen aber glücklich sind, wie der gute Onkel Klaus so schön formuliert hat. Es wird keine Nationalstaaten in Europa mehr geben, der verfassungsgebende Konvent kommt und es mündet in den vereinigten Staaten von Europa, mit Hauptstadt Brüssel. Nachzulesen im Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung auf Seite 131. All das was wir die letzten fast 3 Jahre erleben durften ist nur der Anfang von dem was uns bevorsteht. Wacht auf, geht auf die Straße und wehrt euch. Wir haben keine Zeit mehr!" (Fehler im Original, Telegram-Kanal "Gemeinsam Stark Bremerhaven", 7.6.2022). Dieselbe Person kommentierte am 19. September 2022 mehrere Videos diverser bundesweiter "Querdenken"-Demonstrationen. Dabei nahm sie Bezug auf die gängigen Verschwörungserzählungen und deutete die freiheitliche demokratische Grundordnung zur Diktatur um: "19.09.22 Deutschland gegen die Regierung den Great Reset / WEF AGENDA 2030/ NWO, die Totalitäre Diktatur. (...) wir dürfen nicht zu lassen das die Regierung und ihre Tyrannen dieses wunderschöne Land, unsere Heimat kaputt machen und die Menschen an ein Leben mit Ketten binden. Friede, Freiheit nieder mit der Diktatur. Bestrafung von Polizisten, Richtern, Staatsanwälten, Ärzten und Politiker die sich an Menschenverbrechen beteiligt haben ist notwendig." (Fehler im Original, Telegram-Kanal "Gemeinsam Stark Bremerhaven", 19.9.2022). In einem weiteren Telegram-Kanal, der zur Protestmobilisierung in Bremen genutzt wird, postete der Administrator am 25. August 2022 Verschwörungserzählungen rund um die Corona-Pandemie: 66 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES "Die Maske soll außer Unterwerfung zu signalisieren an die Plandemie erinnern, die ansonsten in Vergessenheit geraten könnte. Zusammen mit den Impfschäden, die als neue Killervirenschäden deklariert werden, kann so mit Hilfe der Qualitätsmedien ein 'Notstand' aufrecht erhalten werden. Ohne Notstand wären die Staaten längst pleite. Im Notstand dürfen sie sich noch mehr verschulden als sie es jetzt schon sind. Auch darum geht es. Die 'Elite' und deren Handlanger in den Parlamenten versuchen immer mit jeder Einzelmaßnahme so viel Schaden wie nur möglich auf so vielen Ebenen gleichzeitig hervorzurufen. Anschließend bieten sie 'Lösungen' für die zuvor selbst geschaffenen Probleme. (...) Das läuft seit Jahrhunderten so, nur haben es die Menschen nicht bemerkt. Zwei Weltkriege im 20. Jahrhundert sind auf diese Naivität zurückzuführen. Derzeit steht die gesamte Menschheit am Abgrund, sollten die Schäden der Gentherapie Folgen für die Fruchtbarkeit haben. Erste Anzeichen sprechen dafür. Dennoch: Wir werden mit Verlusten, aber letztlich doch Erfolgreich aus diesem stillen dritten Weltkrieg hervorgehen. Einen heißen Krieg werden Biden, Scholz und Habeck nicht schaffen, da können ihre Auftraggeber im Hintergrund sie noch so sehr erpressen und bedrohen, das läuft nicht mehr." (Fehler im Original, Telegram-Gruppe "Bremen demonstriert Chat", 25.08.2022). In dieser Veröffentlichung werden gängige Verschwörungsnarrative bedient, wonach die "Elite" mit der Pandemie folglich aktiv die Unterjochung des Volkes mit perfiden Strategien betreibe. Es wird die Falschbehauptung aufgestellt, die Corona-Impfungen seien eine "Gentherapie" und würden die Fruchtbarkeit einschränken. Insgesamt werden die Regierenden als Protagonist:innen eines stillen dritten Weltkrieges dargestellt, die wiederum von namenlosen "Auftraggebern" - einer Umschreibung für den antisemitischen Verschwörungsmythos der geheimen (jüdischen) Weltregierung - gesteuert würden. Die Darstellung, die Welt befände sich in einem geheimen Weltkrieg, ist deshalb so problematisch, weil sie als Argumentation dient, um die Notwendigkeit von Gewalt als Mittel des Widerstandes in Reaktion auf eine vermeintliche Extremsituation zu propagieren und zu legitimieren. 67 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Unterstützungsaufgaben des LfV Anhang 68 "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" 5 "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Angehörige des Spektrums der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" versuchten im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie auch im Jahr 2022 aktiv Anschluss an bundesweite Proteste zu generieren und ihre Verschwörungsideologien zu verbreiten. Die bundesweite Radikalisierung von Angehörigen des Spektrums sowie die Ausweitung der strategischen Kooperation mit Rechtsextremist:innen zeigte sich besonders deutlich anhand der extremistischen Gruppierung "Vereinte Patrioten" sowie der Gruppierung um Prinz Reuß. Die im April 2022 durch Sicherheitsbehörden aufgedeckte Gruppierung "Vereinte Patrioten" plante die Entführung des Bundesgesundheitsministers und zielte auf den Umsturz des demokratischen Systems, den sie über die Verursachung von Blackouts und der Herstellung bürgerkriegsähnlicher Zustände erreichen wollte. Mit der Gruppe um den Rädelsführer Heinrich XIII. Prinz Reuß verfolgte eine weitere "Reichsbürger:innen"-Gruppierung im Jahr 2022 das Ziel, den demokratischen Rechtsstaat gewaltsam zu beseitigen und eine eigene Staatsform zu errichten. Die Ermittlungen des Generalbundesanwalts wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung halten an. Beide Gruppierungen belegen nicht nur einen hohen Grad der Radikalisierung von einzelnen "Reichsbürger:innen", sondern auch ihre engen personellen sowie ideologischen Verflechtungen mit der rechtsextremistischen Szene und dem Spektrum der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates". 5.1 Struktur und Ideologie Das Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" ist ideologisch sowie organisatorisch heterogen. Ihm gehören vor allem Einzelpersonen und kleine Gruppierungen an, die jeweils ihre eigenen Theorien und Argumentationsmuster verfolgen. Die Nicht-Anerkennung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Rechtsordnung ist das verbindende Element sämtlicher "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen". "Reichsbürger:innen" bestreiten die Legitimität und Souveränität der Bundesrepublik Deutschland und berufen sich in Abgrenzung dazu auf den Fortbestand eines "Deutschen Reiches". Die Reorganisation des "Deutschen Reiches" gehört zu den häufigsten Forderungen von "Reichsbürger:innen", insofern weist ihre Ideologie revisionistische Bezüge auf. Bisweilen unterbleibt aber auch eine Bezugnahme auf die "Reichsidee" und die Personen proklamieren ihre Wohnung oder ihr Grundstück als eigenes Staatsgebiet. Sog. "Selbstverwalter:innen" glauben, durch eine entsprechende Erklärung aus Deutschland "austreten" zu können. Türschild eines Bremer "Selbstverwalters" "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" 69 Angehörige des Spektrums sehen das Grundgesetz, Bundesund Landesgesetze sowie Bescheide von Behörden und Entscheidungen von Gerichten als nichtig an und geben sich stattdessen eigene Gesetze oder berufen sich auf ein selbst definiertes Naturrecht. Regelmäßig propagieren "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Verschwörungsfantasien, die zum Teil antisemitisch konnotiert sind. Explizit rechtsextremistische Positionen vertritt jedoch eher eine Minderheit; zum Teil sind die Ideen auch von sozialistischen Positionen geprägt. Manche Gruppierungen sind zudem esoterisch eingefärbt. Wenngleich sich das heterogene Spektrum kaum ideologisch einordnen lässt, sind "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" als extremistisch zu bewerten, weil sie die völkerrechtliche Legitimität und Souveränität der Bundesrepublik Deutschland leugnen und sich damit gegen den Bestand des Staates sowie gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung wenden. 5.2 Aktivitäten Die fundamentale Ablehnung der bestehenden Rechtsordnung zeigt sich in besonderem Maße im Verhalten von "Reichsbürger:innen" gegenüber Behörden und deren Beschäftigten. Das Ziel besteht darin, die Funktionsfähigkeit des Staates erheblich zu beeinträchtigen, indem staatliche Institutionen und staatliche Maßnahmen sabotiert werden. Zum Beispiel versenden Angehörige des Spektrums massenhaft Schreiben mit unsinnigen Forderungen an Behörden oder erklären den Mitarbeiter:innen der öffentlichen Verwaltung, dass diese nur Personal der "BRD-GmbH" oder des "BRD-Systems" seien, weshalb gerichtliche oder behördliche Entscheidungen rechtswidrig seien. Sie argumentieren häufig in pseudojuristischer Weise und ziehen in ihren Argumentationen oft wahlund zusammenhanglos Gesetze und Urteile heran. Im persönlichen Kontakt mit Behördenmitarbeiter:innen zeigen "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" oftmals ein hohes Aggressionspotenzial: Beleidigungen, Bedrohungen und Nötigungen sind vielfach das Mittel der Wahl. Die Übernahme von Fantasieämtern ist ein häufiges Merkmal von "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen", sie sehen sich beispielsweise als "Reichskanzler", "Polizeipräsidenten" oder "Angehörige Preußens" und handeln im Namen von "(Kommissarischen) Reichsregierungen". Dazu fertigen sie Selbstentworfener Ausweis eines Fantasiedokumente wie Führerscheine, StaatsangehörigkeitsBremer "Reichsbürgers" ausweise oder absurde Rechtsgutachten an. 70 "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" Das heterogene und überwiegend aus Einzelpersonen und kleineren Gruppierungen bestehende Spektrum ist insbesondere über das Internet miteinander verbunden. In den vergangenen Jahren ist eine Zunahme der Aktivitäten von "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" in sozialen Netzwerken zu verzeichnen. Dort mobilisieren Angehörige zum einen Unterstützer für ihre Aktivitäten und verbreiten zum anderen ihre abstrusen Theorien. So veröffentlichen sie beispielsweise ihre Urteilsund Gesetzesinterpretationen, liefern Vorlagen sowie Dokumente für ihre Argumentationslinien und führen vermeintliche Belege für ihre Verschwörungsmythen und -narrative an. 5.3 Gewalt und Affinität zu Waffen Wenngleich es in den vergangenen Jahren lediglich in Einzelfällen zu konkreten Gewalthandlungen kam, zeigen die Angriffe von "Reichsbürgern" auf Polizist:innen in Sachsen-Anhalt und Bayern im Jahr 2016, bei denen ein Polizist getötet und mehrere Polizist:innen durch Schüsse verletzt wurden, das hohe Gewaltpotenzial, das von einzelnen Anhänger:innen dieses Spektrums ausgeht. Viele Angehörige haben eine grundsätzliche Abwehrhaltung gegenüber dem Staat, welche insbesondere bei behördlichen Maßnahmen, die durchweg als unrechtmäßig empfunden werden, zu Widerstandshandlungen führen kann. So rechtfertigten Teile des Spektrums die Gewalttaten 2016 als zwangsläufige "Notwehrhandlungen". Bundesweit entzogen die Waffenbehörden in den vergangenen Jahren zahlreichen "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" ihre Waffen. In Bremen veröffentlichte der Senator für Inneres bereits in den Jahren 2016 und 2018 Erlasse zur Entziehung der waffenrechtlichen Erlaubnisse. Darin wird "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" grundsätzlich1 die charakterliche Eignung zum Führen von Waffen abgesprochen. Vor diesem Hintergrund stehen die Waffenbehörden in Bremen seit geraumer Zeit im ständigen und engen Austausch mit dem Staatsschutz der Polizei Bremen und dem LfV. Liegen Erkenntnisse vor, die den Verdacht begründen, dass eine Person der extremistischen Szene oder einer extremistischen Gruppierung oder Organisation zuzuordnen ist, werden diese Erkenntnisse an die zuständige Waffenbehörde weitergeleitet. Diese verfolgt sodann den Widerruf einer erteilten waffenrechtlichen Erlaubnis. Sofern nachträglich eine Zugehörigkeit von Erlaubnisinhabern zu einer extremistischen Szene oder Spektrum festgestellt werden kann, wird der Entzug der entsprechenden Berechtigungen in Bremen konsequent durchgesetzt. Der intensive Austausch zwischen den Behörden und die konsequente Durchsetzung der gesetzlich zur Verfügung stehenden Maßnahmen hat die Entwaffnung aller Personen mit extremistischem Hintergrund zum Ziel. 1 Erlasse und Ausführungsvorschriften - Der Senator für Inneres (bremen.de) "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" 71 Zunehmende Radikalisierung in Teilen des Spektrums Im Jahr 2022 verdeutlichten insbesondere zwei Gruppierungen die fortschreitende Radikalisierung in Teilen des Spektrums der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen". Im April 2022 wurde bekannt, dass die Gruppierung "Vereinte Patrioten" geplant hatte, den Bundesgesundheitsminister gewaltsam zu entführen und durch Sprengstoffanschläge auf die Stromversorgung einen bundesweiten Blackout herbeizuführen. Das so entstehende Chaos sollte in bürgerkriegsähnlichen Zuständen münden. Das bestehende demokratische System sollte infolgedessen abgeschafft werden. Die Gruppierung unterteilte sich in einen operativen "militärischen" sowie einen "administrativen" Zweig. Die Bundesanwaltschaft leitete am 26. April 2022 zunächst gegen fünf Hauptbeschuldigte ein Untersuchungsverfahren wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung ein. Die Rädelsführerin der Gruppierung wurde am 13. Oktober 2022 im Landkreis Mittelsachsen festgenommen. Ihr wird vorgeworfen, sich spätestens ab Januar 2022 der Gruppierung angeschlossen und die Umsetzung der Pläne vorangetrieben zu haben. Neben der Rekrutierung neuer Mitglieder wird ihr zudem vorgeworfen, sich aktiv an der Beschaffung von Waffen und Sprengstoffen beteiligt zu haben. Im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens des Generalbundesanwalts wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung wurden am 7. Dezember 2022 bundesweit umfangreiche Exekutivmaßnahmen, wie zahlreiche Hausdurchsuchungen und die Vollstreckung von mehreren Haftbefehlen, von der Polizei durchgeführt. Der Gruppe um den mutmaßlichen Rädelsführer und "Reichsbürger" Heinrich XIII. Prinz Reuß wird die gewaltsame Beseitigung der staatlichen Ordnung Deutschlands und die Errichtung einer eigenen Staatsform vorgeworfen. Insbesondere der gemeinsame Glaube an verschiedene Verschwörungsideologien sowie der Wunsch nach einer "Überwindung" des herrschenden Regierungssystems brachten die sehr heterogene Gruppe zusammen. So gehörten der Gruppe neben "Reichsbürgern" auch Personen mit Bezügen zum Spektrum der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" und zur rechtsextremistischen Szene an. Die Gruppierung bereitete sich auf einen "Tag X" vor und baute dazu einen militärischen Arm auf. Die Existenz dieser beiden Gruppierungen belegt neben der personellen Verschmelzung verschiedener extremistischer Spektren vor allem den großen ideologischen Zusammenhalt, der über den Glauben an Verschwörungsideologien entsteht, und die Akteure in ihrer gemeinsamen Stoßrichtung gegen den demokratischen Rechtstaat vereint. 72 "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" 5.4 "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" in Bremen Das Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" in Bremen besteht überwiegend aus Einzelpersonen und Kleingruppen. Im Vergleich zu den Vorjahren traten "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" in verstärktem Maße in Kontakt mit Bremer Behörden und versandten ihre zum Teil sehr umfangreichen (Droh-)Schreiben mit szenetypischen Argumentationsmustern, in denen sie insbesondere die Rechtsgültigkeit der an sie ergangenen Bescheide und Bußgelder in Frage stellen und ihre Nichtzugehörigkeit zur Bundesrepublik erklären. Generell sind zahlreiche Bremer Behörden mit den "Anliegen" von "Reichsbürger:innen" beschäftigt, insbesondere die Justiz, das Ordnungsamt und die Steuerverwaltung. Dabei treten "Reichsbürger:innen" u. a. mit Beleidigungsdelikten, Urkundenfälschung oder mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Erscheinung. Angehörige des Spektrums beabsichtigen zum Beispiel, ihren Personalausweis abzugeben, oder verweigern die Zahlung von Gebühren. Sehr häufig stellen sie mit Bezug auf ihre "Reichsideen" auch Anträge auf "Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit" und berufen sich bei der Ausstellung des Dokuments beispielsweise auf die Staatsangehörigkeit des "Königreichs Preußen" oder beantragen Zusätze wie "ist Deutscher mit der Staatsangehörigkeit im Bundesstaat Preußen". Im Kontext der Corona-Pandemie war das Ordnungsamt in Bremen häufig mit "Reichsbürger:innen" konfrontiert. Auf Anhörungen wegen Ordnungswidrigkeiten oder erlassene Bußgeldbescheide reagierten Anhänger:innen des Spektrums, indem sie die gesetzlichen Grundlagen anzweifelten, da es in Deutschland ihrer Auffassung nach kein gültiges Grundgesetz gebe. Häufig beziehen sich die "Reichsbürger:innen" dabei auf die sog. S.H.A.E.F.-Gesetze. Entsprechend dieser Fantasie erachten sie die Bundesrepublik Deutschland nach wie vor als besetzt Von "Reichsbürgern" verund schreiben den vom während des Zweiten Weltkrieges existierenwendetes Symbol, in Anlehnung an das Symbol des den Hauptquartiers der alliierten Streitkräfte in Nordwestund Mitteldamaligen Hauptquartiers europa ("Supreme Headquarters, Allied Expeditionary Force", der alliierten Streitkräfte S.H.A.E.F.) erlassenen Gesetzen weiterhin Gültigkeit zu. Anhänger:innen dieser Fantasie verweisen auf ein Kriegsrecht und die Gerichtsbarkeit durch das USMilitär. Das sog. Ordnungswidrigkeitengesetz sei zudem aufgehoben. Diese kruden Fantasien und falschen Behauptungen untermauern Anhänger:innen dieser Fantasie mit zahlreichen Verweisen auf aus dem Zusammenhang gerissenen Gesetzestexten. "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" 73 Ein aus Niedersachsen stammender "Reichsbürger", der sich selbst zum "Commander" einer vermeintlichen Regierungsinstitution S.H.A.E.F. ernannte, und in dieser Funktion "Todesurteile" gegen zahlreiche Personen ausgesprochen hatte, musste sich im August und September 2022 vor dem Landgericht Oldenburg verantworten. Das Gericht sprach den selbsternannten "Commander" wegen Schuldunfähigkeit frei und wies ihn in eine psychiatrische Einrichtung ein. Die Aktivitäten von "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" in Bremen zeigen sich weiterhin in der vielfältigen Propaganda im Internet und in sozialen Netzwerken, die zum Teil antisemitische Verschwörungsideologien oder geschichtsrevisionistische Thesen enthält. 5.5 Gruppierungen in Bremen Im Jahr 2022 zeigte sich deutlich, dass bundesweit agierende Gruppierungen des nach wie vor mehrheitlich aus organisationsungebundenen Einzelpersonen bestehenden Spektrums verstärkt versuchten, auch in Bremen Fuß zu fassen und hier neue Mitglieder anzuwerben, so wie bspw. die "Reichsbürger"-Gruppierungen "Geeinte deutsche Völker und Stämme", "Königreich Deutschland" und "Indigenes Volk Germaniten". "Geeinte deutsche Völker und Stämme" (GdVuSt) In Bremen gibt es Anhaltspunkte dafür, dass Einzelpersonen Aktivitäten entfalten, die der 2020 verbotenen "Reichsbürger:innen"-Gruppierung "Geeinte deutsche Völker und Stämme" (GdVuSt) nahestehen. So wurden seit März 2021 eine Vielzahl an Schreiben an Behörden, Politiker:innen und Institutionen innerhalb und außerhalb Bremens versandt, in denen die Ausrufung und öffentliche Bekanntgabe einer "Gebietserhebung" propagiert wird. Die GdVuSt war vor allem wegen ihrer verfassungsfeindlichen und antisemitischen Haltung im Jahr 2020 vom Bundesinnenminister verboten worden. Sie spricht der Bundesrepublik Deutschland nicht nur ihre Legitimation ab, sondern unterstellt ihr darüber hinaus, ein von Juden beherrschtes Firmenkonstrukt zu sein. Mitglieder der verbotenen Gruppierung hatten Amtsträger und Beschäftigte staatlicher Institutionen teils massiv bedroht. Die Gruppierung ist aufgrund ihrer Abstammung von germanischen Ahnen davon überzeugt, Gebietsansprüche ableiten zu können. Die Anführerin der verbotenen "Reichsbürger:innen"-Gruppierung GdVuSt wurde am 22. November 2022 vom Landgericht Lüneburg zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten insbesondere wegen des Verstoßes gegen das Vereinigungsverbot und der Verbreitung von Propaganda verfassungswidriger Organisationen verurteilt. 74 "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" "Königreich Deutschland" (KRD) Das sog. "Königreich Deutschland" (KRD) versuchte ebenfalls in Bremen neue Mitglieder anzuwerben. Im Mai 2022 veranstaltete die Gruppierung in Bremen eine Informationsveranstaltung, um für ihre Organisation zu werben. Beim KRD handelt es sich um eine 2012 in Sachsen-Anhalt gegründete "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen"-Gruppierung, die von einem selbsternannten "König" geleitet wird, und die ihre Aktivitäten seit 2019 sukzessive auf andere Bundesländer ausweitet. Die Gruppierung versteht sich als eine Vereinigung "freier Männer (Bürger) und freier Frauen (Bürgerinnen). [...] [Sie will] für einen kompletten Neuanfang des deutschen Staates nach den Grundsätzen des Völkerrechts [stehen]." (Internetseite des "Königreich Deutschland", 09.11.2022). Die Gruppierung, die sich als sog. "Gemeinwohlstaat" sieht, vermittelt u. a. vermeintlich legale Ausstiegskonzepte aus dem "destruktiven System Bundesrepublik" in Form von kostenpflichtigen "Systemausstiegsseminaren" (Internetseite des "Königreich Deutschland", 09.11.2022). Mithilfe einer "Königlichen Reichsbank", einer eigenen "Gesundheitskasse", einer "Gemeinwohlkasse" und der Einführung einer eigenen Währung (der sog. "E-Markt") soll dem "Gemeinwohlstaat" eine vermeintliche Staatsstruktur verliehen werden. Der Aufbau staatlicher Parallelstrukturen sowie die Ausrufung eines eigenen Staatsgebiets richten sich eindeutig gegen die Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Um neue Anhänger:innen zu gewinnen, nutzt die Gruppierung Informationsveranstaltungen und unterhält diverse Plattformen und Kanäle im Internet und in sozialen Netzwerken. Über die eigene Homepage versucht der sog. "Gemeinwohlstaat" ebenfalls dazu zu ermutigen, mittels Geldund Sachspenden sowie durch Überlassung von Wertgegenständen den Aufbau des "Königreiches Deutschland" zu fördern. Dies beinhaltet sowohl das Überlassen von Ersparnissen als auch von Wertgegenständen wie z. B. Immobilien oder Fahrzeuge an das "Königreich". "Indigenes Volk Germaniten" Die Gruppierung "Indigenes Volk Germaniten" verstärkte im Jahr 2022 ebenfalls ihre Bemühungen, in Bremen neue Mitglieder anzuwerben. Beim "Indigenen Volk Germaniten" handelt es sich um eine "Reichsbürger:innen"-Gruppierung, deren Anhänger:innen die Symbol der Gruppierung deutsche Staatsangehörigkeit für sich entschieden ablehnen. Dabei "Indigenes Volk Germaniten" beziehen sie sich u. a. auf die "Allgemeine Erklärung der Menschrechte" (AEMR) bzw. auf die Grundrechte indigener Völker und einer aus dem Jahr 2007 stammenden, unverbindlichen Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte indigener Völker ("United Nations Declaration on the Rights of Indigenous Peoples"). "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" 75 Gegenüber Meldebehörden und dem Bundesverwaltungsamt stellen Mitglieder dieser Gruppierung die Forderung, ihnen schriftlich zu bestätigen, dass sie weder Bundesbürger:innen sind noch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Derartige Schreiben lassen auf eine fundamentale Ablehnung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Rechtsordnung schließen. Durch den Aufbau sog. "Missionen" versucht die Gruppierung derzeit aktiv, bundesweit an Einfluss zu gewinnen. 76 "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" 77 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Unterstützungsaufgaben des LfV Anhang 78 LINKSEXTREMISMUS 6 Linksextremismus In Bremen gab es in den vergangenen Jahren eine Vielzahl an sog. "militanten Aktionen" der gewaltorientierten linksextremistischen Szene, die sich vornehmlich in Sachbeschädigungen an Gebäuden und Fahrzeugen sowie in Brandanschlägen auf Fahrzeuge zeigten. Obwohl die Zahl der "militanten Aktionen" im Jahr 2022 deutlich hinter den Zahlen der letzten drei Jahre zurückfällt, ist das Radikalisierungsniveau der gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens weiterhin hoch. Dies zeigte der von gewaltorientierten Linksextremist:innen begangene Anschlag auf das Firmengebäude des Raumund Luftfahrtunternehmens OHB in der Silvesternacht 2021/2022 nachdrücklich, bei dem die Gefährdung von Menschenleben billigend in Kauf genommen worden war. Einen Schwerpunkt der gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens bildeten auch im Jahr 2022 die Proteste gegen die als "rechts" geltenden Kundgebungen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Einschränkung der Corona-Pandemie. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 und die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen für die deutsche Bevölkerung führten in Bremen dazu, dass die "Klima-Proteste" vorübergehend an Bedeutung verloren und die Aktivitäten der gewaltorientierten linksextremistischen Szene in den Aktionsund Themenfeldern "Antimilitarismus" und "Soziale Kämpfe" zunahmen. So versuchte die "Basisgruppe Antifaschismus" (BA) bspw. über die Themen der steigenden Inflation und den damit einhergehenden Preiserhöhungen und mit der Initiierung eines "Bremer Bündnisses gegen Preiserhöhungen", Anschluss an die bürgerliche Mitte der Gesellschaft zu erlangen. 6.1 Linksextremistisches Weltbild und linksextremistische Strukturen Linksextremist:innen eint das Ziel der Überwindung der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnung und der Errichtung eines herrschaftsfreien oder kommunistischen Systems. Während dogmatische Kommunist:innen die Überwindung des politischen Systems und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft über eine Diktatur des Proletariats unter Führung einer "proletarischen Avantgarde" anstreben, zielen Anarchist:innen, Antiimperialist:innen und Autonome auf die Abschaffung jeglicher Form von "Herrschaftsstrukturen". In der linksextremistischen Ideologie wird die Forderung nach sozialer Gleichheit unter Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates verabsolutiert. Das Ziel soll dabei unter Missachtung der Grundwerte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erreicht werden und würde grundlegende LINKSEXTREMISMUS 79 Prinzipien der Verfassung außer Kraft setzen. Betroffen ist davon nicht nur das in der Verfassung verankerte Rechtsstaatsoder Demokratieprinzip, insbesondere die grundrechtlich geschützten Freiheiten würden dadurch weitgehend außer Kraft gesetzt. Autonome Autonome erheben den Anspruch, nach eigenen Regeln leben zu können, und streben nach einem hierarchiefreien, selbstbestimmten Leben innerhalb "herrschaftsfreier" Räume. Sie beziehen sich ideologisch vor allem auf anarchistische und kommunistische Theoriefragmente, wobei ihre ideologischen Vorstellungen insgesamt diffus bleiben. Da formelle Strukturen und Hierarchien grundsätzlich abgelehnt werden, ist die autonome Szene stark fragmentiert und besteht hauptsächlich aus losen Personenzusammenschlüssen, die anlassbezogen gegründet werden und sich ebenso kurzfristig wieder auflösen. Autonome Linksextremist:innen erachten ihre Eigenund Selbstständigkeit für so wichtig, dass sie sich in der Regel in keine festen politischen Strukturen integrieren. Teile der autonomen Szene beteiligen sich jedoch an bürgerlich-demokratischen Bündnissen und nutzen diese, um zivilgesellschaftliche Proteste in ihrem Sinne zu radikalisieren und ihre politischen Vorstellungen in die Gesellschaft zu tragen. Mit der Taktik der Bündnispolitik gelingt es Autonomen immer wieder, insbesondere im Bereich "Antifaschismus", mit bürgerlich-demokratischen Gruppen zusammenzuarbeiten, die ihre extremistischen Ansichten im Grunde ablehnen. Ein Teil der autonomen Szene lässt sich inzwischen deutlich von der ursprünglichen autonomen Szene abgrenzen und wird als "postautonom" bezeichnet. Während sich Autonome traditionell insbesondere durch ihre Organisationsfeindlichkeit, Gewaltbereitschaft und Theorieferne auszeichnen, können Postautonome lediglich noch als organisationskritisch, weniger gewaltbereit und oftmals als theoretisch gefestigter beschrieben werden. Ihre gesellschaftliche Isolation wollen sie vor allem dadurch durchbrechen, dass sie eine Scharnierfunktion zwischen gewaltorientierten Linksextremist:innen und gemäßigten, bürgerlichen "Linken" einnehmen. Gewalt als legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung Die Anwendung von Gewalt zur Erreichung politischer Ziele ist dabei einer der strittigsten Punkte innerhalb der linksextremistischen Ideologie. Während der Großteil der Linksextremist:innen auch aus taktischen Gründen auf die konkrete Ausübung von Gewalt verzichtet, ist die Notwendigkeit von Gewalt innerhalb der gewaltorientierten linksextremistischen Szene unumstritten. Zur gewaltorientierten linksextremistischen Szene zählen nicht nur Personen und Gruppierungen, die selbst gewalttätig handeln oder gewaltbereit gegen ihre "politi- 80 LINKSEXTREMISMUS schen Gegner" vorgehen, sondern ebenso diejenigen, die Gewalt unterstützen oder Gewalt befürworten. Die Gewaltorientierung einer Person oder Gruppierung kann sich zum einen aus ihrer ideologischen Ausrichtung und zum anderen aus ihren konkreten Handlungen ergeben. Dazu gehören beispielsweise das Propagieren der Notwendigkeit von Gewalt im Kampf gegen das "politische System" vor einem ideologischen Hintergrund, Appelle an politische Mitstreiter:innen zur Ausübung von Gewalt oder die billigende Inkaufnahme von Gewalttätigkeiten politischer Mitstreiter:innen, etwa mit der Begründung, im Hinblick auf ein politisches Ziel, Geschlossenheit der Szene demonstrieren zu wollen. Gewaltorientierte Linksextremist:innen befürworten zur Durchsetzung ihrer politischen Forderungen die Anwendung von Gewalt gegen den Staat, seine Einrichtungen und Repräsentant:innen sowie gegen (vermeintlich) rechtsextremistische Strukturen und Personen. Gewalt wird häufig mit der von Staat und Gesellschaft ausgehenden "strukturellen Gewalt" gerechtfertigt. Gewalt ist in dieser Szene aber nicht nur ein Mittel zur Bekämpfung des "staatlichen Repressionsapparates", sondern zugleich auch ein identitätsstiftendes Merkmal. Viele Angehörige der gewaltorientierten linksextremistischen Szene sehen darin einen Akt der individuellen Selbstbefreiung. Unterschieden werden kann in diesem Zusammenhang die konfrontative Gewalt von den sog. "militanten Aktionen". Konfrontative Gewalt Im Rahmen von Demonstrationen führt die teilweise hemmungslose Gewalt von Linksextremist:innen regelmäßig zu massiven gewalttätigen Ausschreitungen. Gewalttätige Linksextremist:innen greifen immer wieder Polizist:innen und (vermeintliche) Rechtsextremist:innen gezielt u. a. mit Steinen, Flaschen und pyrotechnischen Gegenständen an. In den vergangenen Jahren zeigten Angehörige der gewaltorientierten linksextremistischen Szene in Auseinandersetzungen mit Polizist:innen und ihren "politischen Gegner:innen" bundesweit ein brutales Vorgehen, welches ein Absenken der Hemmschwelle verdeutlicht, auch schwerste Verletzungen zu verursachen. In diesem Zusammenhang ist häufig die Rede von einer zunehmenden szenedefinierten "Entmenschlichung der politischen Gegner:innen". An gewalttätigen Auseinandersetzungen beteiligen sich neben Linksextremist:innen häufig auch "anpolitisierte" oder gänzlich unpolitische, erlebnisorientierte Jugendliche. Ihnen geht es weniger um konkrete politische und auf Systemüberwindung ausgerichtete Ziele als um den "Erlebnischarakter", der von solchen Ereignissen ausgeht; auch das Ausleben eines Aggressionspotenzials ist vielfach handlungsleitend. LINKSEXTREMISMUS 81 "Militante Aktionen" "Militante Aktionen" in Form von Sachbeschädigungen und Brandanschlägen werden von konspirativ agierenden Kleingruppen zumeist nachts durchgeführt. Gebäude und Fahrzeuge von Behörden, Parteien, Unternehmen und auch Privatpersonen werden u. a. durch Steinwürfe und Farbe beschädigt oder in Brand gesetzt. Darüber hinaus richten sich "militante Aktionen" gezielt gegen Personen. Konspirative Kleingruppen greifen vor allem (vermeintliche) Rechtsextremist:innen vorwiegend in ihrem privaten Wohnumfeld an. Diese gezielten und geplanten Anschläge sollen eine Signalwirkung entfalten. Zum einen geht es den Täter:innen um mediale Resonanz und zum anderen sollen die betroffenen Institutionen oder Personen zu einer Verhaltensänderung genötigt werden. Im Nachhinein werden die Taten oftmals in Selbstbezichtigungsschreiben ideologisch begründet und im Internet veröffentlicht. Unterzeichnet werden die Selbstbezichtigungsschreiben häufig mit fiktiven Gruppennamen. Mit ihrer Einstellung, politische Ziele gewaltsam zu verfolgen, setzen sich gewaltorientierte Linksextremist:innen über das Gewaltmonopol des Staates und den Grundkonsens demokratischer Verfassungsstaaten hinweg, gesellschaftspolitische Veränderungen ausschließlich auf demokratischem Wege herbeizuführen. Daher steht dieser gewaltorientierte Teil der linksextremistischen Szene im Fokus der Beobachtung durch das LfV. 6.2 Gruppierungen des gewaltorientierten Linksextremismus In Bremen kann die linksextremistische Szene zu bestimmten Anlässen, beispielsweise zu Spontandemonstrationen, erfahrungsgemäß auch sehr kurzfristig über 200 Personen mobilisieren. Eine maßgebliche Funktion bei der Organisierung von Protesten nehmen in Bremen seit Jahren die beiden postautonomen Gruppierungen "Interventionistische Linke" (IL) und "Basisgruppe Antifaschismus" (BA) ein. Die seit März 2020 andauernde Corona-Pandemie sorgte für einen deutlichen Rückgang von Demonstrationen, Protestaktionen und Veranstaltungen der linksextremistischen Szene Bremens. Mit dem Wegfall der Beschränkungsmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und dem allgemeinen Rückgang des Infektionsgeschehens war im Verlauf des Jahres 2022 wieder ein deutlicher Anstieg der Aktivitäten der gewaltorientierten linksextremistischen Szene festzustellen. 82 LINKSEXTREMISMUS "Interventionistische Linke" Die "Interventionistische Linke" (IL) gehört zu den postautonomen Gruppierungen, die eine bessere Organisierung der "linken" Szene zur Erreichung ihrer politischen Ziele für notwendig halten. Die Bremer Ortsgruppe der IL war im Jahr 2014 aus der Ortsgruppe der Gruppierung "Avanti - Projekt undogmatische Linke" ("Avanti") hervorgegangen. Die Mehrheit der 1989 gegründeten "Avanti"Ortsgruppen hatte 2014 ihre Auflösung als selbstständige Organisation und ihren Beitritt zu der seit 2005 bundesweit agierenden IL erklärt. Die IL entwickelte sich damit von einem Netzwerk aus linksextremistischen, aber auch nichtextremistischen Gruppierungen und Einzelpersonen zu einer Organisation mit 28 lokalen Ortsgruppen in Deutschland und einer Ortsgruppe in Österreich. Ihre Zielsetzung und Strategie legte die IL 2014 in einem weiterhin gültigen "Zwischenstandspapier" dar: "Da sich auf der Basis patriarchaler und rassistischer Gesellschaftsstrukturen der real existierende Kapitalismus entfalten konnte, ist es für uns zentral, den Kampf für eine befreite Gesellschaft mit dem Kampf gegen all diese Herrschaftsformen zu verbinden. [...] Entscheidend für uns ist - sowohl in der theoretischen Begründung als auch in der Eröffnung praktischer Optionen -, stets auf eine gesamtgesellschaftliche Veränderung abzuzielen." (Internetseite der IL, 11. Oktober 2014). Die IL, die sich selbst als "undogmatische Linke" bezeichnet, bietet keine konkrete "Systemalternative", gleichwohl kämpft sie für einen "revolutionären Bruch mit dem nationalen und globalen Kapitalismus" sowie der "Macht des bürgerlichen Staates" (Internetseite der IL, 11. Oktober 2014). Mit der Formulierung, einen Zustand erreichen zu wollen, der dem Kommunismus ähnelt, bleibt ihr Ziel vage. Die Strategie, sich nicht unnötig ideologisch festzulegen, verfolgt die Organisation, um ideologische Differenzen und daraus resultierende Konflikte innerhalb der linksextremistischen Szene zugunsten einer gemeinsamen Organisierung zu überwinden. Die IL bemüht sich seit Jahren, die Handlungsfähigkeit der "linken" Szene durch die Zusammenführung linksextremistischer und nichtextremistischer Aktivist:innen unterschiedlicher ideologischer Prägung in Bündnissen, Initiativen und Kampagnen zu erhöhen. Mit dieser Strategie nimmt die IL eine Scharnierfunktion zwischen linksextremistischen und nichtextremistischen Akteuren ein. Mit bewusst vage gehaltenen Formulierungen bezüglich des Ablaufs und des inhaltlichen Ziels einer Veranstaltung gelang es der IL bei Großereignissen in den vergangenen Jahren wiederholt, eine große Zahl an Nichtextremist:innen in ihre Proteste zu involvieren und sie für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren. Ein Beispiel ist hier die linksextremistisch beeinflusste Kampagne "Ende Gelände", die von Einzelpersonen und Gruppierungen LINKSEXTREMISMUS 83 sowohl des demokratischen als auch des linksextremistischen Spektrums unterstützt wird und deren Aktivitäten von der IL maßgeblich beeinflusst werden. Die in die Proteste der IL eingebundenen Akteur:innen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer ideologischen Ausrichtung, sondern auch in ihrer Einstellung zu Gewalt, die von Ablehnung bis Befürwortung reicht. Das Verhältnis der Gruppierung zu Gewalt kann somit als taktisch beschrieben werden: Einerseits arbeitet sie eng mit gewalttätigen Akteur:innen zusammen, nimmt ihre Gewalttätigkeiten bei Protesten in Kauf und bietet ihnen sogar einen Rahmen dafür. Andererseits vermeidet sie ein offenes Bekenntnis oder Aufrufe zur Anwendung von Gewalt, weil sie damit ihre als notwendig erachtete Zusammenarbeit mit Nichtextremist:innen aufgeben müsste, die Gewalt ablehnen und häufig auch die Zusammenarbeit mit Strafund Gewalttäter:innen. Vor dem Hintergrund insbesondere ihrer gewaltbefürwortenden Einstellung gilt die Gruppierung als gewaltorientiert. Für die IL stellte das Themenfeld "Antimilitarismus" wie bereits in den Vorjahren einen Aktionsschwerpunkt dar. In Anbetracht der enormen Investitionen der deutschen Bundesregierung in den Rüstungssektor infolge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine seit Februar 2022 stand das Rüstungsunternehmen Rheinmetall im Fokus der linksextremistischen Proteste in Bremen. Die IL Bremen nutzte das Thema, um durch breit angelegte Kampagnen und Bündnisarbeit ihren Einflussbereich auszuweiten (siehe Kapitel "Antimilitarismus"). Die sozialpolitischen und wirtschaftlichen Auswirkungen des russischen Angriffskrieges für die weniger wohlhabende Bevölkerung in Deutschland stellte für die IL einen weiteren Themenschwerpunkt dar. So bemüht sich die Gruppierung bundesweit gezielt darum, die durch den Konflikt ausgelösten wirtschaftlichen Folgen der Inflation, der damit einhergehenden Preissteigerungen und Energieknappheit für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. In Bremen schloss sich die IL dem von der linksextremistischen Gruppierung BA initiierten "Bremer Bündnis gegen Preiserhöhungen" an. "Basisgruppe Antifaschismus" Die 2008 gegründete und kommunistisch ausgerichtete "Basisgruppe Antifaschismus" (BA) ist seit mehreren Jahren eine der aktivsten gewaltorientierten linksextremistischen Gruppierungen in Bremen. Die Gruppierung ist seit 2011 in dem kommunistischen "... ums Ganze!"-Bündnis organisiert. Das Ziel der BA, die revolutionäre Überwindung des demokratischen Rechtsstaates und die Errichtung einer kommunistischen Gesellschaftsordnung, geht u. a. aus einem anlässlich ihres 10-jährigen Bestehens veröffentlichten Facebook-Eintrag aus dem Jahr 84 LINKSEXTREMISMUS 2018 hervor: "Ihr seht, es ist viel passiert. Und noch viel mehr muss passieren, soll das mit diesem ganzen Rumgeprolle von sozialer Revolution und emanzipatorischer Aufhebung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Kommunismus mal wirklich Wirklichkeit werden!" (Facebook-Seite der BA, 12.07.2018). Die verfassungsfeindliche Zielsetzung der Gruppierung erläuterte einer ihrer führenden Aktivisten unter einem Aliasnamen 2017 in einem Interview, das die Bedeutung der linksextremistischen terroristischen Vereinigung "Rote Armee Fraktion" (RAF) für die heutige linksextremistische Szene thematisierte: "Trotzdem ist es natürlich immer noch nötig, diese Gesellschaft revolutionär zu überwinden. Diese Gesellschaft ist auf Ausbeutung angelegt. Eine Linke, die sich grundsätzlich von Gewalt distanziert, ist eine sozialdemokratische Linke. Ich bin Kommunist, ich will diese Gesellschaft überwinden. Für mich ist Gewalt keine Moralfrage, sondern eine taktische. Mich interessiert: Passt das gewählte Mittel inhaltlich zum Zweck meiner Politik?" (Internetseite der BA, Protokoll von Timon Simons aufgezeichnet von Gesa Steeger: "Strategisch bescheuert", 03.09.2017). Die taktische Einstellung des BA-Aktivisten zu Gewalt und seine Betonung, sich als Kommunist von der gewaltablehnenden "sozialdemokratischen Linken" abzugrenzen, zeigt, dass er nicht nur eine gewaltsame Revolution zur Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung als Fernziel für notwendig erachtet, sondern auch die Anwendung von Gewalt in den aktuellen Protesten. Angesichts ihrer zumindest Gewalt befürwortenden Einstellung zählt die Gruppierung zur gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens. Derselbe Führungsaktivist bekräftigte fünf Jahre später in einer Reportage des Fernsehsenders 3sat, dass er Kommunist sei und dass eine Revolution nur gewaltsam vonstattengehen könne: "Postautonome, das sagt der Verfassungsschutz, dass wir das sind. Ich würde das nicht so sagen. Postautonome, das sagt ja eigentlich nur, was wir nicht sind, nämlich keine Autonomen mehr. Ich würde was anderes von mir sagen, ich würde sagen, ich bin Kommunist. Ich würd sagen, ich bin Kommunist, obwohl dieser Begriff so schwer ist, gerade in diesem Land so schwer wiegt, trotz DDR, trotz Stalin und trotz Gulak, weil ich meine, es geht nicht darum, was ich nicht bin, sondern um das, was es gilt zu schaffen, nämlich eine Gesellschaft jenseits Staat, Kapital, Marktwirtschaft und Patriarchat. [...] Wie ist denn das mit Revolution und wie sieht denn das Ganze so aus? Ich glaube, das ist gar keine romantische Veranstaltung, mit der Sturm auf irgendein Rathaus und da wird dann ne rote Fahne draufgesetzt [...]. Sondern da geht es halt eher da drum, dass es halt irgendwann einen Punkt von gesellschaftlichen Reformen, wo vielleicht die andere Seite auch nicht mehr zuguckt und sagt, das lassen wir nicht mehr zu, da gucken wir nicht mehr zu, dass ihr weiter an LINKSEXTREMISMUS 85 unsere Privilegien, unser Eigentum ran geht, wir wehren uns da jetzt. Und dann gibt es vielleicht Auseinandersetzungen da drüber (...)." (Zitat gemäß Interview, Reportage des Fernsehsenders 3Sat "Mo Asumang und der Kampf der Linken", 05.09.2022). Die BA versucht generell strategisch, sich in gesellschaftlich und politisch relevante Themenbereiche einzubringen, um das vorhandene Konfliktpotenzial und vor allem das dort engagierte Personenpotenzial für ihr politisches Ziel der Überwindung des demokratischen Rechtsstaats zu instrumentalisieren und zu gewinnen. Während das Engagement der BA im "Bremer Bündnis gegen Zwangsräumungen" und die Organisation der Proteste gegen die von ihr als "rechts" bewerteten Kundgebungen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie den Schwerpunkt ihrer Agitation im Jahr 2021 bildeten, gelang es der Gruppierung im Jahr 2022, sich in weiteren gesellschaftspolitisch relevanten Themenfeldern einzubringen. Darüber hinaus griff die Gruppierung das Thema der Inflation und steigenden Kosten vor allem für Lebensmittel und die Lebenshaltung auf und initiierte im Sommer 2022 das "Bremer Bündnis gegen Preiserhöhungen" mit dem Ziel, Anschluss an die bürgerliche Mitte der Gesellschaft zu erlangen. "... ums Ganze!"-Bündnis Die linksextremistische Gruppierung BA gehört dem 2006 gegründeten Bündnis "... ums Ganze!" (uG) an, das zurzeit aus elf eigenständig agierenden und lokal verankerten Mitgliedsgruppen besteht, davon eine aus Österreich. Das Bündnis bezeichnet sich im Untertitel seines Namens als ein "kommunistisches Bündnis" und verweist damit auf seinen ideologischen Hintergrund. Es strebt die Abschaffung und Ersetzung der bestehenden Gesellschaftsordnung durch eine kommunistische Staatsund Gesellschaftsordnung an: "Wir wollen uns nicht mit realpolitischen Forderungen zufrieden geben, wir wollen nicht nach der praktischen Umsetzbarkeit irgendwelcher Reformen fragen, wir sagen klar und deutlich: Uns geht's ums Ganze! Wir wollen die Überwindung des gesellschaftlichen Verhältnisses Kapitalismus als die einzig 'menschenwürdige Lösung' propagieren. Wir wollen unsere Negation dieses Verhältnisses ausdrücken." (Fehler im Original, "... ums Ganze!": "smash capitalism. fight the g8 summit", Neustadt 2007, Vorwort, S. 3). Das "... ums Ganze!"-Bündnis zählt zur gewaltorientierten linksextremistischen Szene, weil es Gewalt befürwortet. So lobte das Bündnis im Nachgang zum G20-Gipfel 2017 die gewalttätigen Proteste und hob hervor, dass die Blockadeaktion im Hamburger Hafen erst durch die zeitgleichen dezentralen "militanten Aktionen" im Hamburger Stadtgebiet ermöglicht worden seien: "Die Vielfalt der Aktionsform hat sich dabei 86 LINKSEXTREMISMUS praktisch ergänzt, auch wenn das einige lieber nicht so laut sagen wollen. Denn ohne militante Aktionen an anderer Stelle, die viel Polizei gebunden haben, wären wohl weder die Blockadefinder noch die Hafenblockade so relativ erfolgreich gewesen." (Internetseite des "... ums Ganze!"-Bündnisses: "Ein Gruß aus der Zukunft", 11.07.2017). "Antifaschistische Gruppe Bremen" Mitglied im bundesweiten kommunistischen "... ums Ganze!"-Bündnis war in den Jahren 2017 bis 2021 auch die gewaltorientierte linksextremistische Gruppierung "Antifaschistische Gruppe Bremen" (AGB). Nachdem die 2013 gegründete kommunistisch ausgerichtete Gruppierung in den vergangenen Jahren kaum noch öffentlich in Erscheinung getreten war, entfaltete sie im Jahr 2022 wieder Aktivitäten. So organisierte die Gruppierung mit mehreren sog. "Antifa-Tresen" Vernetzungstreffen der gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens im "Alten Sportamt", das sowohl Linksextremist:innen als auch Nichtextremist:innen als Treffpunkt dient. Die kommunistische Gruppierung, deren Ziel in der Beseitigung der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnung besteht, war in den Vorjahren schwerpunktmäßig in den Themenfeldern "Antifaschismus" und "Antirassismus" aktiv und organisierte häufig in Kooperation mit der BA linksextremistische Protestaktionen gegen (vermeintliche) Rechtsextremist:innen in Bremen. So zählt die AGB zur gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens, weil sie Gewalt befürwortet und in der Vergangenheit offen dazu aufrief. Eine Aufforderung zu Gewalt war die "Kampfansage", die ein Aktivist der AGB in seinem Redebeitrag bei einer Demonstration 2015 in Bremen-Nord macht: "Wir werden so lange hier aufschlagen und diesem braunen Drecksloch zeigen, wo Sichel und Hammer hängen, bis sie es begriffen haben! Und wenn es sein muss legen wir hier mit jedem notwendigen anti faschistischen Widerstand den ganzen braunen Sumpf restlos trocken. An alle Faschisten und Rassist_innen in diesem Stadtteil: Dies ist eine Kampfansage! Wir geben euch Nazis und Rassist_innen die Straße zurück... Stein für Stein... Stein für Stein!" (Fehler im Original, Internetseite der AGB: "Nach Brandanschlag auf Geflüchtetenlager in Bremen Nord", 07.10.2015). "Kämpfende Jugend" Die 2019 gegründete kommunistische Gruppierung "Kämpfende Jugend" (KJ) orientiert sich am klassischen Marxismus-Leninismus. Ihre verfassungsfeindlichen Ziele beschreibt die KJ in ihrer Gründungserklärung ausführlich. Sie strebt die Überwindung des demokratischen Rechtsstaates und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft an: "Wir verstehen uns als kommunistische Gruppe, LINKSEXTREMISMUS 87 die sich gegründet hat, um den politischen Entwicklungen und dem bürgerlichen Staat, in dem wir leben, entgegenzutreten. [...] Für uns gibt es keinen ,besseren' oder ,schlechteren' Kapitalismus. Deshalb sagen wir ihm den Kampf an - den Klassenkampf!" (Facebook-Seite der KJ, 24.03.2019). Im Gegensatz zu anderen linksextremistischen Gruppierungen, die zugunsten ihrer Anschlussfähigkeit an das bürgerliche Spektrum ihre politischen Ziele verharmlosen oder verschleiern, bekennt sich die KJ offen zu ihren kommunistischen Vorstellungen: "Grundsätzlich können wir sagen, dass das Konzept der Diktatur des Proletariats mit das Wichtigste an unserer Weltanschauung ist. Nach einer proletarischen Revolution braucht es einen sehr kraftvollen Staat, einen Staat der ehemals Ausgebeuteten und Unterdrückten, der die Errungenschaften der Revolution verteidigt, die konterrevolutionären Kräfte niederhält und Stück für Stück neue Produktionsverhältnisse aufbaut [...]. Der Sozialismus, die Diktatur des Proletariats, ist eben als Übergangsgesellschaft zu begreifen, in der die Voraussetzungen für den Kommunismus geschaffen werden sollen. Die Diktatur des Proletariats ist dabei der erste und einzige Staat, der von Beginn an den Zweck hat, langfristig überflüssig zu werden und abzusterben. Wenn alle konterrevolutionären Kräfte besiegt und die Produktionsverhältnisse umfassend revolutioniert sind, dann wird es auch keinen sozialistischen Staat mehr geben und auch die kommunistische Partei hat ihren Zweck erfüllt. [...] In diesem Sinne tragen wir den Begriff "LeninistInnen" mit Stolz. Den Begriff des "Stalinismus" lehnen wir hingegen ab, weil es ein antikommunistischer Kampfbegriff ist" (Internetseite der KJ, 14.05.2022). Ihre Ablehnung gegenüber dem parlamentarischen System formuliert die Gruppierung deutlich, von dessen Reformierung hält sie wenig: "Diese Widersprüche können nur überwunden werden, wenn der Kapitalismus überwunden wird. Dies geschieht nicht durch Wahlen, Reformen oder sonstigen bürgerlichen Nonsens, sondern kann nur auf revolutionärem Wege erreicht werden - durch die sozialistische Revolution!" (Facebook-Seite der KJ, 24.03.2019). Im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 veröffentlichte die KJ ein Thesenpapier, in dem sie ihre "kommunistische Sichtweise auf die parlamentarische Demokratie" darlegt: "Jede Form der Partizipation im Parlament, die sich auf die Spielregeln desselben einlässt ist opportunistisch und gehört bekämpft. Der bürgerliche Staat muss zerschlagen werden, sollen die Interessen der Werktätigen zur Geltung kommen." (Fehler im Original, Internetseite der KJ: "Demokratie & Proletariat. Eine kommunistische Sichtweise auf die parlamentarische Demokratie", 26.09.2021). Die Verfasser:innen schließen eine Beteiligung an der Bundestagswahl aus, da ihre "Wahl (...) nicht einer x-beliebigen bürgerlichen Partei [gilt], sondern dem Kampf für die Diktatur des Proletariats. 88 LINKSEXTREMISMUS Wir haben nur eine Wahl. Revolution!" (S. 48; "Demokratie & Proletariat. Eine kommunistische Sichtweise auf die parlamentarische Demokratie" Homepage KJ, 26.09.2021). Die gewaltsame Revolution erachtet die KJ als Voraussetzung für die Errichtung einer klassenlosen, kommunistischen Gesellschaftsform: "Um dies zu verwirklichen und auf den Umsturz dieses Systems hinzuarbeiten, treten wir nun an. [...] Es gilt eine Welt zu erobern! Und wir kämpfen, bis wir diese Welt erobert haben!" (Facebook-Seite der KJ, 24.03.2019). Nachdem die KJ ab Dezember 2021 keinerlei Aktivitäten entfaltete, verkündete sie am 4. April 2022 ihr "Comeback": "Wir hatten in den vergangenen Monaten ein paar interne Probleme zu lösen [und] haben uns aber nun neu aufgestellt" (Internetseite der KJ, 04.04.2022). Unter dem Motto "Jugend, Zukunft, Sozialismus" demonstrierte die Gruppierung am 1. Mai 2022 in Bremen. Den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilt die Gruppierung als "imperialistischen Krieg" und ruft zum "Kampf gegen alle imperialistischen Staaten" auf: "Der internationalistische Beitrag, den wir als KommunistInnen in der BRD dafür zu leisten haben, ist die Bekämpfung und schließlich Zerschlagung des deutschen Imperialismus." (Internetseite der KJ, 30.06.22). "Rote Hilfe" Der 1975 gegründete Verein "Rote Hilfe e.V." (RH) unterhält bundesweit etwa 50 Ortsgruppen, eine davon in Bremen. Der Verein hat seinen Sitz in Göttingen, ebenfalls dort befindet sich auch das Archiv der RH ("Hans-Litten-Archiv e.V."). Das Sprachrohr der RH ist die quartalsweise herausgegebene Zeitung "Die Rote Hilfe". Die RH, die sich als "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation" beschreibt, ist ausschließlich im Bereich der "Antirepressionsarbeit" tätig. Der Verein unterstützt "linke" Strafund Gewalttäter:innen sowohl in politischer als auch in finanzieller Hinsicht, z. B. gewährt er Rechtshilfe, vermittelt Anwälte und Anwältinnen oder übernimmt in Teilen Anwalts-, Prozesskosten und Geldstrafen bei entsprechenden Straftaten. Darüber hinaus betreut der Verein rechtskräftig verurteilte Straftäter:innen während ihrer Haft mit dem Ziel ihrer dauerhaften Bindung an die linksextremistische Szene. Die dabei entstehenden Kosten werden aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanziert. Das Oberverwaltungsgericht Bremen kam in seiner Entscheidung vom 23. Januar 2018 zu dem Schluss, dass es sich bei der RH nicht um "eine Art 'linke Rechtsschutzversicherung' [handelt]. Ein solches Verständnis [...] widerspräche auch dem eigenen Selbstverständnis" (Beschluss des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen OVG: 1 B 238/17). LINKSEXTREMISMUS 89 Die Strafverfolgung von Linksextremist:innen sieht der Verein als "politische Verfolgung" an und unterstellt der Justiz und dem Staat die willkürliche Unterdrückung von Kritiker:innen und Oppositionellen. Diese Sichtweise zeigt sich deutlich im Zusammenhang mit dem sog. "Antifa Ost-Verfahren", das einen Schwerpunkt der politischen Arbeit der RH im Jahr 2022 darstellte. Seit September 2021 läuft ein Gerichtsverfahren vor dem Oberlandesgericht Dresden gegen die Linksextremistin Lina E., der vorgeworfen wird, eine linksextremistische Vereinigung geleitet zu haben, welche gezielt Rechtsextremist:innen angegriffen und teilweise schwer verletzt haben soll. In einem Statement fordert die RH die "sofortige Freilassung von Lina und allen Antifas" und zeigt sich solidarisch "mit den Genossen*innen, die wegen ihres Engagements gegen Nazis vor Gericht gezerrt werden oder andere Repressionen erdulden müssen." Kritisiert werden die angeblichen "anhaltenden Angriffe und Kriminalisierungsversuche gegen Antifas." (Internetseite des Bundesvorstandes der "Roten Hilfe", 30.10.2022). Die RH hatte in diesem Zusammenhang bereits 2021 eine bundesweite Kampagne gegen die vermeintliche Kriminalisierung von "Antifaschismus" initiiert und Solidaritätsstrukturen aufgebaut. Anlass ist der Vorwurf gegenüber dem Staat, er würde auf das Erstarken faschistischer Strukturen mit "Kriminalisierung und Verfolgung" antifaschistischer Aktionen reagieren. Höhepunkt der Kampagne bildete eine äußerst gewaltsam verlaufende Demonstration unter dem Motto "Wir sind alle AntiPlakat mit Aufruf zu Demonstrationen nach dem Urteil im faschisten - Wir sind alle LinX" am 18. September 2021 in Leipzig. sog. "Anitfa-Ost-Verfahren" Exkurs: "Antifa-Ost-Verfahren" Die Linksextremistin Lina E. wurde im November 2020 verhaftet und muss sich seit dem 8. September 2021 vor dem Oberlandesgericht Dresden wegen des Vorwurfes verantworten, eine linksextremistische Vereinigung geleitet zu haben, die gezielt Rechtsextremist:innen angegriffen und teilweise schwer verletzt haben soll. Die Einlassungen eines Kronzeugen vor Gericht stellen eine Besonderheit dar, linksextremistische Täter hatten in der Vergangenheit selten vor Gericht umfangreich zu Aktivitäten und Strukturen der Szene ausgesagt. Die Aussagen des Kronzeugen verunsichern darüber hinaus die gewaltorientierte linksextremistische Szene bundesweit massiv, die sich mit Lina E. und ihren Mitangeklagten solidarisiert, ihre Freilassung sowie die Abschaffung des "Gummiparagraphen SS129a StGB" - Bildung terroristischer Vereinigungen - fordert. Für den Tag der Urteilsverkündung im Prozess, der voraussichtlich Anfang 2023 angesetzt ist, wird bereits bundesweit und auch in Bremen zu Protesten aufgerufen. Wenngleich die RH selbst nicht gewalttätig agiert, gehört sie aufgrund ihrer gewaltunterstützenden und gewaltbefürwortenden Einstellung zur gewaltorientierten linksextremistischen Szene. Ihre Einstellung zu Gewalt wird deutlich in der Solidarisierung 90 LINKSEXTREMISMUS mit der linksextremistischen terroristischen Vereinigung "Rote Armee Fraktion" (RAF). Unter der Überschrift "danach war alles anders ..." heißt es in einem 2013 in der Zeitung "Die Rote Hilfe" erschienenen Artikel: "die rote armee fraktion war ein wichtiges und notwendiges projekt auf dem weg zur befreiung, ein projekt, in dem unschätzbare erfahrungen über den kampf in der illegalität gesammelt wurden: die raf hat bewiesen, dass der bewaffnete kampf hier möglich ist. dieses projekt, das konzept stadtguerilla ist gescheitert, raf und widerstand sind hier nicht durchgekommen. Die gründe dafür sind bekannt und müssen für zukünftige bewaffnete projekte berücksichtigt und einbezogen werden. und ein projekt wird folgen ... muss folgen - in welcher form auch immer. nicht als kopie oder reproduktion der raf, das wäre fatal, politisch wie historisch falsch. aber als integraler bestandteil einer neu zu schaffenden sozialrevolutiönären, emazipatorischen organisation oder partei, denn 'die waffe der kritik kann allerdings die kritik der waffen nicht ersetzen. die materielle gewalt muß gestürzt werden durch materielle gewalt'" (Fehler im Original, "Die Rote Hilfe" 2/2013, S. 35 - 40). Mit seiner gewaltbefürwortenden Einstellung hat der Verein eine stabilisierende Funktion für die gewaltorientierte linksextremistische Szene, wenn er potenziellen linksextremistischen Gewaltund Straftäter:innen vor Begehung von Taten politische und finanzielle Unterstützung verspricht. Dabei unterstützt er nur solche Taten, die er als "politisch" bewertet. Unter dem Motto "Solidarität ist eine Waffe" bietet die RH einen Legitimationsrahmen für linksextremistische Straftäter:innen und fördert gleichzeitig durch die gemeinsame Abschottung gegenüber staatlichen Behörden den Zusammenhalt der Szene. Entschuldigungen oder Distanzierungen der Täter:innen von linksextremistischen Gewaltdelikten im Verfahren führen regelmäßig zu einem Entzug seiner Unterstützung, hier ein Beispiel: "Abgelehnt haben wir einen Unterstützungsantrag in einem Verfahren wegen Brandstiftung an Autos. Der Antragsteller hat die Vorwürfe eingeräumt, die Sache bereut und einen politischen Zusammenhang abgestritten. Das unterstützen wir nicht." ("Die Rote Hilfe" 3/2011, S. 7). Die RH verweigert nicht nur dann die Kostenübernahme, wenn sich Tatverdächtige von ihrer Tat distanzieren oder zu ihrem Vorteil aussagen, sondern bei jeglicher Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden. Sie entzieht ihre Unterstützung selbst in solchen Fällen, in denen die Kooperation mit den Sicherheitsbehörden eindeutig darauf zielt, den "politischen Gegner:innen" zu schaden, wie ein Fall aus Bremen belegt: "Es liegt eine Mail der OG [Ortsgruppe] Bremen zu einem Fall vor, bei dem die betroffene Person nach einer Auseinandersetzung mit einem AfDler eine Gegenanzeige gestellt hat. Dadurch sind Aussagen seitens des Betroffenen notwendig, was eine Unterstützung in der Regel unmöglich macht. Der Buvo [Bundesvorstand] teilt die Einschätzung der OG Bremen." (Mitgliederrundbrief "Die Rote Hilfe" 3/2011, S. 7). LINKSEXTREMISMUS 91 6.3 Aktivitäten gewaltorientierter Linksextremist:innen Neben den für Linksextremist:innen zentralen Aktionsund Themenfeldern "Antifaschismus" und "Antirepression" standen im Jahr 2022 die Themen "Klimaschutz", "Antimilitarismus" und "Soziale Kämpfe" im Fokus der Agitation, während es in den Vorjahren vor allem "Gentrifizierung" war. Die unterschiedliche Schwerpunktsetzung macht den fortwährenden Anspruch der linksextremistischen Szene deutlich, ihre Weltanschauung zu aktuellen politischen Themen zu propagieren. "Militante Aktionen" Im Vergleich zum Vorjahr, in dem insgesamt 27 Sachbeschädigungen und Brandanschläge in Bremen zu verzeichnen waren, ging die Anzahl der "militanten Aktionen" im Jahr 2022 mit lediglich 16 Sachbeschädigungen deutlich zurück. Gleichwohl zeigte sich insbesondere in einer in der Silvesternacht 2021/2022 begangenen Brandstiftung eine besondere Qualität, die nicht nur zu einem Sachschaden im hohen sechsstelligen Bereich geführt hat: Mit dem Brandanschlag auf das Firmengebäude des Luftund Raumfahrtunternehmens OHB wurde die Gefährdung von Menschenleben in Kauf genommen, insbesondere eines im Gebäude befindlichen Wachmannes. Im Vergleich zu vorherigen, ähnlich gelagerten Brandanschlägen in den letzten Jahren kam es nach dem Brand bei OHB innerhalb der gewaltorientierten linksextremistischen Szene zu keiner grundlegenden kritischen Auseinandersetzung bzgl. einer möglichen Gefährdung von Menschenleben bei Brandanschlägen. Ihre Beweggründe und ihre politische Motivation zur Begehung des Brandanschlags, der im Begründungszusammenhang "Antimilitarismus" steht, versuchten unbekannte Täter:innen, die sich als "Autonome Anti-Militarist*innen" bezeichnen, in einem am 30. März 2022 auf der linksextremistischen Internetseite "indymedia" veröffentlichten Beitrag zu erklären. Wenngleich sie bedauern, dass sie den Wachmann in Lebensgefahr brachten, halten sie grundsätzlich an der Richtigkeit der Begehung der Tat fest: "Die Panzer rollen durch Europa und der Krieg bestimmt seit Wochen die Schlagzeilen. [...] Der aktuelle Krieg ist die direkte Folge einer militarisierten Welt. Es ist das gleiche dreckige rassistische und mörderische System, das wir in der Silvesternacht angegriffen haben. [...] Zum Jahreswechsel setzten wir ein Firmengebäude von OHB in Bremen in Brand. [...] Aus den Medien mussten wir erfahren, dass sich eine Wachperson in einem Vorraum des angegriffenen Gebäudes aufgehalten haben soll. Unserer Beobachtung nach war zur Tatzeit niemand im komplett verdunkelten Gebäude. Wir wollten niemanden mutwillig in Gefahr bringen. Der Angriff galt selbstverständlich nicht dieser vermutlich prekär beschäftigten Person, die in der Silvesternacht in einem millionenschweren Konzern arbeiten muss. Wir wollten den 92 LINKSEXTREMISMUS Rüstungskonzern OHB schädigen und seine kriegstreibende Arbeit sabotieren. Dass der Angriff richtig war, zeigt nicht nur die Reaktion der Bullen und der Presse. Wow, was für eine Welle! [...] In hilfloser Propaganda betonen der Innensenator und der Oberschlapphut vom Verfassungsschutz bei jeder Gelegenheit, dass solche militanten Angriffe "eine Vorstufe zum Terror" darstellen und sie sich "an die 70er Jahre erinnert fühlen". Diese Vergleiche zielen auf die Diabolisierung autonomer Militanz und sollen die Verwendung starker Ressourcen legitimieren, um gegen militante und emanzipatorische Strukturen vorzugehen. [...] Ein bewaffneter Kampf dagegen zeichnet sich unserer Einschätzung nach derzeit nicht ab. Sabotage und militante Angriffe bleiben unsere Mittel der Wahl. [...] Wir fordern dazu auf, gegen Kriegstreibende aufzustehen, die Rüstungsindustrie anzugreifen und eine überlebensnotwendige antimilitaristische Haltung einzunehmen." (Internetseite "de.indymedia.org", 30.03.2022). Weitere Reaktionen auf die Tat zeigten eine unkritische, bisweilen sogar stark verharmlosende Art der Thematisierung des Anschlags, die bspw. in den Kommentaren der gewaltorientierten linksextremistischen BA zum Ausdruck kam. Mit der Gutheißung von Brandanschlägen und der Sympathiebekundung mit den Täter:innen trägt die BA zu einem Klima bei, in dem die Begehung von Brandanschlägen toleriert und ermöglicht wird. Die Vermittelbarkeit ihrer Taten hat für einen großen Teil der gewaltorientierten linksextremistischen Szene oberste Priorität. Von dieser vormaligen szeneinternen Übereinkunft, dass erstens Unbeteiligte bei Brandanschlägen nicht zu Schaden kommen und zweitens, dass größere Teile der Gesellschaft den Anlass, den Kritikhintergrund und das Ziel einer Tat nachvollziehen können sollen, schien sich die gewaltorientierte linksextremistische Szene Bremens Anfang 2022 abgewendet zu haben. Die Inkaufnahme der konkreten Gefährdung von Menschenleben, die mit der Begehung von Brandanschlägen einhergeht, und die gleichzeitige Befürwortung und Verharmlosung von massiver Zerstörung zugunsten der eigenen politischen Ziele deuteten auf eine Radikalisierung von Teilen der gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens hin. LINKSEXTREMISMUS 93 Linksextremistische Agitation in der Corona-Pandemie und extremistische "Antikapitalismus"-Kritik Nachdem die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in den letzten beiden Jahren der gewaltorientierten linksextremistischen Szene die Durchführung von Demonstrationen und Veranstaltungen erschwert hatten, stieg mit der Rücknahme der Pandemie-Beschränkungsmaßnahmen die Zahl der Protestaktionen und Veranstaltungen in Bremen im Laufe des Jahres 2022 wieder deutlich an. Im Zuge der Corona-Pandemie der vergangenen beiden Jahre setzten gewaltorientierte Linksextremist:innen ihren "Kampf gegen den Kapitalismus" fort und wiesen im Rahmen ihrer extremistischen "Antikapitalismus"-Kritik insbesondere auf die Krisenanfälligkeit des politischen Systems hin oder gaben ihm direkt oder indirekt die Schuld am Ausbruch der Corona-Pandemie. So veröffentlichte die linksextremistische Gruppierung BA am 4. April 2022 bspw. eine Stellungnahme, in der sie die Corona-Politik der Bundesregierung mit der Bekämpfung des kapitalistischen Systems in Zusammenhang stellt: "Finanzpolitik und Pandemiebekämpfung im Kapitalismus ist vor allem Klassenkampf - und im Moment gewinnt den nicht unsere Klasse. [...] In Deutschland hat der Staat mit autoritärer Symbolpolitik und Durchseuchung auf die Pandemie reagiert. Während auf der einen Seite mit Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen der Eindruck von Kontrolle und Gestaltungsmacht inszeniert wurde, wurschtelt sich der Staat weiter durch. Immer wenn die Inzidenzen stiegen wurde vor allem unser weniger profitables Privatleben mit Beschränkungen belegt - nur zu christlichen Feiertagen machte Corona scheinbar Urlaub. Mittlerweile laufen die Maßnahmen der pandemischen Entwicklung nur noch hinterher oder lassen ihr ganz freien Lauf. Die Durchseuchung gilt dabei als Ausweis von Freiheit: Je weniger Pandemiebekämpfung um so mehr Freiheit! Spätestens mit der neuen Bundesregierung weht ein neuer Wind der Freiheit durch das Land, neben der Krankheit liegt jetzt auch ihre Bekämpfung in unserer eigenen Verantwortung, wir dürfen selber sehen wie wir mit ihr klar kommen. Gegen die Kosten der Freiheit: Freedomday. Corona. Kapital. Scheisse" (Fehler im Original, Internetseite der BA, 04.04.2022). "Antikapitalismus" "Antikapitalismus" ist die Basis der linksextremistischen Ideologie. Strukturen und Eigentumsverhältnisse des "Kapitalismus" seien demnach nicht nur Grundlagen für Armut, Hunger und soziale Ungerechtigkeit, sondern darüber hinaus ursächlich für "Faschismus", "Repression", Migrationsströme, ökologische Katastrophen, "Imperialismus" und Krieg. Mehrere Sachbeschädigungen an Fahrzeugen von verschiedenen Firmen, u. a. des Industriedienstleisters Spie, standen im Jahr 2022 im Begründungszusammenhang "Antikapitalismus". Unter dem Titel "Zusammendenken, was zerstört gehört" ver- 94 LINKSEXTREMISMUS öffentlichten unbekannte Täter:innen am 12. Mai 2022 ein Selbstbezichtigungsschreiben und erklärten darin: "Das Problem ist nicht nur ein Profitieren von Kriegen im Speziellen, sondern auch alltägliches Profitieren und Verfestigen von kapitalistischen Besitzverhältnissen im Allgemeinen. Kapitalismus bedeutet Normalisierung von Ausbeutung. Wir stören diese Abläufe." (Internetseite "de.indymedia.org", 12.05.2022). 6.3.1 Proteste gegen Rechtsextremist:innen und Rechtspopulist:innen Im Mittelpunkt der "Antifaschismusarbeit" stehen Proteste gegen Strukturen und Veranstaltungen von (vermeintlichen) Rechtsextremist:innen. Im Rahmen von Demonstrationen und Veranstaltungen kommt es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen gewaltorientierten Linksextremist:innen und gewaltorientierten Rechtsextremist:innen. In den vergangenen Jahren verübten gewaltorientierte Linksextremist:innen immer wieder gewaltsame Übergriffe auf (vermeintliche) Rechtsextremist:innen in Bremen. Im Jahr 2019 überfiel eine Gruppe von rund 30 mutmaßlich aus dem linksextremistischen Spektrum stammenden Personen sechs Mitglieder der im selben Jahr verbotenen rechtsextremistischen Gruppierung "Phalanx 18". Mit gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Linksextremist:innen und Rechtsextremist:innen ist in Bremen regelmäßig insbesondere im Zuge von Fußballspielen zu rechnen, wo sich eine rechtsextremistisch beeinflusste Hooligan-Szene und "linke" Fußballfans der Ultra-Szene sowie gewaltorientierte Linksextremist:innen gegenüberstehen. "Antifaschismus" Im Bereich der "Antifaschismusarbeit" ist neben linksextremistischen Organisationen und Gruppen auch eine Vielzahl unterschiedlicher demokratischer Akteur:innen tätig. Mit dem Ziel der Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung geht das Antifaschismusverständnis von Linksextremist:innen jedoch weit über das von Demokrat:innen hinaus. Für Linksextremist:innen stellt die Bekämpfung von rechtsextremistischen Strukturen und Personen nur ein vordergründiges Ziel dar. Ihre tatsächliche Stoßrichtung ist das "bürgerliche und kapitalistische System" und die angeblich ihm zugrunde liegenden faschistischen Wurzeln. Zur Vergrößerung ihres politischen Einflusses und um neue Anhänger:innen zu gewinnen, ist das Bemühen um Bündnisse mit nichtextremistischen Gruppen ein entscheidendes Instrument autonomer "Antifaschismusarbeit". Ein weiterer Schwerpunkt im Aktionsund Themenfeld "Antifaschismus" bilden sog. "Outing-Aktionen", bei denen persönliche Daten und Informationen über Rechts- LINKSEXTREMISMUS 95 extremist:innen im Internet veröffentlicht werden. Im Jahr 2021 hatten gewaltorientierte Linksextremist:innen mehrere "Outing-Aktionen" in Form von Hausbesuchen bei vermeintlichen Angehörigen des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates", die für die Szeneangehörenden als rechtsextremistisch gelten, im Rahmen der Kampagne "Nationalismus ist keine Alternative" (NIKA) veranstaltet. Auch im Jahr 2022 "outeten" gewaltorientierte Linksextremist:innen mehrfach Bremer Rechtsextremist:innen. Linksextremistische "Recherchearbeit" Die "Aufklärungsoder Recherchearbeit" gehört zu den zentralen Aktivitäten der autonomen Szene in der Auseinandersetzung mit der rechtsextremistischen Szene. In diesem Zusammenhang werden Beobachtungen und Informationen über Einzelpersonen, Gruppierungen und Strukturen der "rechten" Szene wie etwa Szeneläden gesammelt. Die Informationen zu Einzelpersonen werden meist in Steckbriefen zusammengefasst und im Rahmen sog. "Outing-Aktionen" in der Nachbarschaft der Betroffenen und im Internet veröffentlicht. In den Steckbriefen werden neben persönlichen Daten, wie z. B. Anschrift, Geburtsdatum oder Beruf, auch weitere Einzelheiten aus dem Privatleben der Betroffenen bekanntgemacht. Ziel dieser Aktionen ist es, vermeintliche Rechtsextremist:innen aus der Anonymität zu holen und ihre politischen Aktivitäten öffentlich zu machen, wobei dies eine Gefahr für die Betroffenen darstellt und insbesondere ihre Persönlichkeitsrechte verletzt. Proteste gegen Angehörige des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" Die gewaltorientierte linksextremistische Szene Bremens organisiert seit Beginn der Demonstrationen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der CoronaPandemie im Mai 2020 einen Teil der Gegenproteste. Den Teilnehmenden solcher Demonstrationen unterstellt die linksextremistische Szene generell eine "rechte" Weltanschauung. Die linksextremistische Gruppierung BA erklärt in ihrem Redebeitrag im Rahmen einer Demonstration gegen eine Kundgebung des verfassungsschutzrelevanten Protestspektrums am 17. Januar 2022 in der Bremer Innenstadt: "Diese Gesellschaft war schon vor der Pandemie voller Widersprüche [...]. Basierend auf kapitalistischer Ausbeutung und strukturiert durch patriarchale Herrschaft spannt sie ein weltweites Band von Armut, Krieg und Elend. [...] Es ist genau dieser Kampf "aller gegen alle" den die vermeintlich Querdenkenden sich nicht nur wünschen, sondern noch auf die Spitze treiben wollen. Ihre Freiheit die [sie] so sehnlich vermissen, ist das Recht darauf anderen beliebig weiter schaden. So schaffen sie es mitten in einer Krise des Kapitalismus nicht nur reaktionärer sondern auch menschlich noch verkommener zu sein als die Bundesregierung. [...] Was es dagegen braucht sind solidarische, linke Alternativen gegen all die Zumutungen des Corona-Kapitalismus und kapitalistischen Gesundheitssystems. Wir sagen: Das System ist gemein, aber nicht geheim - Klassen- 96 LINKSEXTREMISMUS kampf statt Verschwörungsideologien!" (Fehler im Original, Internetseite der BA, 18.01.2022). Im Begründungszusammenhang "Antifaschismus" standen im Jahr 2022 mehrere "militante Aktionen". Kampagne "Nationalismus ist keine Alternative" (NIKA) Die 2016 ausgerufene Kampagne "Nationalismus ist keine Alternative" (NIKA) richtete sich anfangs vornehmlich gegen die Partei "Alternative für Deutschland" (AfD). Viele Linksextremist:innen halten die Partei für einen Wegbereiter in einen neuen Faschismus, weshalb sie die AfD bekämpfen. Inzwischen ist die Kampagne auf die Bekämpfung von "rechten" Akteur:innen und Strukturen generell ausgeweitet worden. Das über die Bekämpfung von Rechtsextremismus hinausgehende Ziel der beteiligten Gruppierungen, allen voran des kommunistischen "... ums Ganze!"-Bündnisses, liegt in der Diskreditierung und der revolutionären Überwindung des demokratischen Rechtsstaates. Die NIKA-Kampagne ist eine sog. "Mitmachkampagne", die den ideologischen Hintergrund, das "Corporate Design" oder das "Label" vorgibt und auf die bundesweite Beteiligung von Gruppierungen mit eigenen Aktionen setzt. In Bremen wird die Kampagne maßgeblich von der im "... ums Ganze!"-Bündnis organisierten linksextremistischen Gruppierung BA getragen. Unter dem Namen "NIKA Nord-West" arbeitet die Bremer Gruppierung seit 2019 mit linksextremistischen Gruppen aus Niedersachsen und Hamburg zusammen. Die extremistische Ausrichtung des Zusammenschlusses kommt in seiner Gründungserklärung zum Ausdruck. So impliziert das Engagement "gegen rechts" die Überwindung des demokratischen Rechtsstaates: "Unter dem Motto 'Gegen die Festung Europas und ihre Fans' kämpfen wir sowohl gegen die menschenfeindliche kapitalistische Ordnung, als auch gegen ihre scheinbaren rechten Alternativen. Wir wollen linke Forderungen und gesellschaftliche Alternativen jenseits der kapitalistischen Sachzwanglogik sichtbar machen." (Internetseite der NIKA-Kampagne, 14.03.2019). Unter dem Banner der NIKA-Kampagne protestierten Angehörige der gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens in den vergangenen Jahren regelmäßig gegen Veranstaltungen von (vermeintlichen) Rechtsextremist:innen und rechtsextremistischen Parteien. Im Kontext der niedersächsischen Landtagswahl am 9. Oktober 2022 riefen Bremer Linkextremist:innen im Rahmen der NIKA-Kampagne bspw. unter dem Motto "AfD-Wahlkampf Sabotieren Stören verhindern" zur Teilnahme an einer Demonstration am 8. Oktober 2022 in Verden auf. Im Rahmen der NIKA-Kampagne und in Zusammenarbeit mit dem linksextremistischen Verein "Rote Hilfe" gab es darüber hinaus eine Vortragsveranstaltung zum "Antifa-Ost-Verfahren" am 19. November 2022 in Bremen. LINKSEXTREMISMUS 97 6.3.2 Proteste gegen "staatliche Repression" "Antirepression" stellt seit jeher einen Aktionsschwerpunkt der gewaltorientierten linksextremistischen Szene dar. Ihre individuelle, soziale oder politische Entfaltung sehen gewaltorientierte Linksextremist:innen durch den Staat und seine "Machtund Repressionsstrukturen" unterbunden, vor allem durch Sicherheitsgesetze, polizeiliche Sicherheitsmaßnahmen oder technische Entwicklungen und digitale Vernetzung. Unter Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols bekämpfen sie die "staatliche Repression". Die Polizei als "Handlanger des kapitalistischen Systems" stellt ein Angriffsziel für gewaltorientierte Linksextremist:innen dar. Ihrem Weltbild entsprechend sei die Polizei für die unverhältnismäßige Niederschlagung von legitimem Protest durch massive Gewalt verantwortlich, was "militanten Widerstand" notwendig mache. Polizist:innen werden nicht als Menschen betrachtet, sondern als personifizierte Hassobjekte. Vor diesem Hintergrund gelten Angriffe auf sie als legitim. Die Hemmschwelle, Polizist:innen zu verletzen, ist in den letzten Jahren deutlich gesunken. Für die Proteste gegen "staatliche Repressionen" gelingt es der gewaltorientierten linksextremistischen Szene, anlassbezogen auch kurzfristig eine Vielzahl an Teilnehmer:innen zu mobilisieren. Zuletzt hatte die linksextremistische Szene in diesem Zusammenhang bis zu 500 Teilnehmende für eine Kundgebung im Juni 2021 in Delmenhorst mobilisiert. Hintergrund bildete der Tod eines jungen Mannes, nachdem er im Polizeigewahrsam in Delmenhorst kollabiert war. Wie bereits im Vorjahr wurden in Bremen sog. "Aktionswochen gegen Repression" durchgeführt, an denen sich Linksextremist:innen beteiligten. Im Rahmen der vom 15. März bis zum 1. April 2022 stattgefundenen "Bremer Aktionswochen gegen Repression!" gab es neben öffentlichen Aktionen, wie einer Demonstration am internationalen Tag der politischen Gefangenen unter dem Motto "Unsere Solidarität gegen ihre Repression. Freiheit für alle politischen Gefangenen!" am 18. März 2022 bspw. eine Veranstaltungen unter der Überschrift "Was erwartet uns mit der Soko Linx? - Austausch mit Genoss*innen aus Leipzig". Im Zusammenhang mit dem "Antifa-Ost-Verfahren" unterstellen gewaltorientierte Linkextremist:innen der "Soko LinX" des Landeskriminalamtes Sachsen "dubiose Ermittlungsmethoden". Eine weitere Veranstaltung mit dem Titel "Knast gehört dazu" thematisierte den Prozess gegen die "Drei von der Parkbank". Das Landgericht Hamburg hatte 2020 drei Hamburger Linksextremisten zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt und sah es als erwiesen an, dass ihre Festnahmen 2019 offenbar unmittelbar bevorstehende Brandanschläge verhindert hatte. Die diesjährigen "Aktionswochen gegen Repression" wurden u. a. vom linksextremistischen Verein "Rote Hilfe" und Aktivisten der NIKA-Kampagne mitorganisiert. 98 LINKSEXTREMISMUS "Militante Aktionen" im Themenfeld "staatliche Repression" Während sich im Jahr 2021 eine Vielzahl der "militanten Aktionen" im Aktionsfeld "Antirepression" insbesondere gegen Einrichtungen und Fahrzeuge der Polizei, Behörden und Unternehmen richtete, die mit dem von der linksextremistischen Szene so bezeichneten "staatlichen Repressionsapparat" zusammenarbeiten, gab es im Jahr 2022 lediglich zwei Sachbeschädigungen in diesem Kontext. Am 18. Mai 2022 wurden vier, mit Farbe gefüllte Christbaumkugeln gegen das Gebäude des Polizeireviers in Findorff geworfen. Das hierzu veröffentlichte Selbstbezichtigungsschreiben stellte die Tat in den Zusammenhang mit einem laufenden Gerichtsverfahren in München, welches sich gegen die Herausgeber der linksextremistischen Zeitschrift "Zündlumpen" richtete: "Der bunte Gruß geht raus an die Anarchisten in München, die im Mai von harter Repression getroffen wurden. Gegen sie wird nach Paragraph 129 ermittelt, weil sie unter anderem die anarchistische Zeitschrift Zündlumpen produziert und verteilt haben sollen. Bei der Razzia wurden einige Wohnungen durchsucht und eine ganze Druckerei beschlagnahmt. [...] Der Staat schlägt derzeit an vielen Stellen auf anarchistische, autonome und antifaschistische Strukturen ein. Wir werden uns gegenseitig nicht im Stich lassen und uns weiterhin solidarisch aufeinander beziehen: auf der Straße, im gemeinsamen Kampf, in den Nächten der Aktion! Solidarität mit den von Repression betroffenen Anarchisten!" (Internetseite "de.indymedia.org", 18.05.2022). 6.3.3 "Antimilitarismus" In dem Aktionsund Themenfeld "Antimilitarismus" stehen im Fokus der Kritik zum einen die deutsche Sicherheitspolitik und die Rüstungsindustrie und zum anderen der Einsatz und die Existenz der Bundeswehr. Linksextremist:innen erachten die Bundeswehr als ein "Werkzeug der imperialistischen Unterdrückungspolitik" und betrachten sie und Unternehmen, die mit ihr zusammenarbeiten, als legitimes Ziel "militanter Aktionen". Während das Aktionsund Themenfeld bereits in den vergangenen Jahren zu den Agitationsschwerpunkten der gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens gehört hatte, verstärkten sich die Aktivitäten und Protestaktionen mit Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine im Februar 2022 und den Investitionen der deutschen Bundesregierung im Rüstungssektor nochmals. In Bremen steht insbesondere das Rüstungsunternehmen Rheinmetall im Fokus linksextremistischer Agitation. Die linksextremistische Gruppierung IL nutzt das Thema "Antimilitarismus", um durch breit angelegte Kampagnen und Bündnisarbeit ihren Einflussbereich insbesondere im nichtextremistischen, bürgerlichen Spektrum auszuweiten. So schloss sich die Gruppie- LINKSEXTREMISMUS 99 rung der linksextremistisch beeinflussten Kampagne "Ende Gelände" zum "bundesweiten Aktionstag gegen Krieg und Klimakrise" am 27. März 2022 an. Unter dem Motto "Gegen Krieg und Klimakrise! Für Klimagerechtigkeit, offene Grenzen, Abrüstung und Frieden!" kam es vor dem Standort des Rüstungsunternehmens Rheinmetall in Bremen zu einer Kundgebung mit etwa 65 Demonstrant:innen. Am 10. Mai 2022 gab es im Zuge der jährlichen Hauptversammlung des Rüstungsunternehmens bundesweite Protestaktionen. Auch hier kooperierte die IL mit Aktivisten im Rahmen der linksextremistisch beeinflussten Kampagne "Ende Gelände" und organisierte unter dem Motto "Bremen entwaffnen - Militarisierung ist keine Solidarität" eine Fahrraddemonstration, die an verschiedenen Rüstungsstandorten in Bremen Station machte. Zum ersten offenen Treffen des Bündnisses "Rheinmetall entwaffnen" am 24. Mai 2022 in Bremen rief die IL auf. Bereits im Januar 2022 hatte die Gruppierung auf ihrer Internetseite unter der Überschrift "Keine Kohle für Panzer - Warum Rheinmetall entwaffnen auch RWE enteignen bedeutet" für Mitte 2022 geplante Protestaktionen des Bündnisses geworben. Das 2018 gegründete linksextremistisch beeinflusste Bündnis "Rheinmetall entwaffnen" organisiert mit Demonstrationen, (Blockade-)Aktionen und Protestcamps den Protest gegen Militarisierung und Aufrüstung. So veranstaltete das Bündnis vom 30. August bis zum 4. September 2022 ein Protestcamp in Kassel in der Hoffnung, durch die zeitliche Überschneidung des Camps mit der "documenta fifteen", der weltweit bedeutendsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst, große mediale und internationale Öffentlichkeit für seinen Protest zu erhalten. Neben kleineren Informationsund Diskussionsveranstaltungen kam es teilweise zu gewaltsamen Blockadeund Stürmungsversuchen bspw. auf die Werksgelände der Rüstungsunternehmen Rheinmetall und Krauss-Maffei-Wegmann. Der Versuch des linksextremistisch beeinflussten Bündnisses, antimilitaristische und klimapolitische Anliegen miteinander zu verbinden, stieß innerhalb der linksextremistischen Szene kaum auf Resonanz. Bislang gelang es dem antimilitaristischen Bündnis noch nicht einmal selbst, eine einheitliche ideologische Linie bzgl. des Ukraine-Konfliktes zu finden. "Militante Aktionen" im Themenfeld "Antimilitarismus" Im Jahr 2022 gab es im Begründungszusammenhang "Antimilitarismus" keine weiteren Brandanschläge, jedoch mehrere "militante Aktionen". So beschädigten unbekannte Täter:innen die Gebäudefront des Rüstungsunternehmens Rheinmetall mit Farbe gefüllten Christbaumkugeln am 14. März 2022. In dem dazu veröffentlichten Selbstbezichtigungsschreiben unter der Überschrift "Farbvandalismus gegen Rheinmetall und deutsche Aufrüstung" heißt es: "Militarismus und Rüstungsindustrie sind hierzulande die größten Profiteure des Krieges. Während die Bundesregierung, Medien und Teile der Zivilgesellschaft die Kriegslogik übernehmen müssen wir als Antimilitarist:innen dagegen halten. Eine Perspektive ohne Kriege und Herrschaft können wir 100 LINKSEXTREMISMUS nur von unten erkämpfen. Aufrüstung ist keine Solidarität! Militarismus erkennen und angreifen!" (Internetseite "endofroad.blackblogs.org", 17.03.2022). Das Rüstungsunternehmen Rheinmetall war am 5. April 2022 ebenso wie der Zoll und die Bundeswehr am 29. März 2022 von weiteren Sachbeschädigungen mittels Buttersäure betroffen. Die unbekannten Täter:innen erklärten in einem dazu veröffentlichten Selbstbezichtigungsschreiben: "Der Angriff auf die Bundeswehr ist unser Beitrag zum praktischen Antimilitarismus. Jetzt wo die aktuellen Kriegsverbrechen vom feindlichen, dem russischen Militär, begangen werden wähnt sich die Bundeswehr auf der moralisch sauberen Seite. Schwachsinn! Das deutsche Militär ist weder progressiv noch nachhaltig, es ist die Fratze der deutschen Vergangenheit und die Tür zum Faschismus. [...] Das Geschäft mit Waffen ist ein wesentlicher Motor jeden Krieges. Konzerne wie Rheinmetall müssen jetzt mit allen Mitteln angegriffen werden. Für die Sabotage von Militär und Rüstungsindustrie! Für eine aktive Wehrkraftzersetzung!" (Fehler im Original, Internetseite "de.indymedia.org", 7.04.2022). Mit Farbe gefüllten Gläsern und Steinen beschädigten gewaltorientierte Linksextremist:innen die Gebäudefassade des Logistikdienstleisters BLG Logistik am 22. Juni 2022. Die Sachbeschädigung rechtfertigen unbekannte Verfasser:innen in ihrem Selbstbezichtigungsschreiben wie folgt: "Unser Ziel war es die BLG als Kriegsprofiteur zu kennzeichnen und uns solidarisch mit den Streikenden zu zeigen! [...] Gegenwärtig inszeniert sich der deutsche Staat an der Seite der NATO als politische und militärische Kraft auf der Seite des moralisch Richtigen, Guten, Demokratischen und Freiheitlichen. [...] Westeuropäische Demokratien präsentieren sich gern als Bollwerk gegen Krieg und Diktaturen, spielen aber etwa dem türkischen Staat bei der Verfolgung kurdischer Aktivist*innen innerhalb der EU in die Hände. Deutsche Rüstungskonzerne liefern Waffen die direkt für extra-legale Hinrichtungen und Massaker benutzt werden. [...] Rüstungsindustrie und damit auch Rüstungslogistik ist ein mächtiges machtpolitisches Tool für den deutschen Staat und folgt niemals den tatsächlichen Bedürfnissen von Menschen, die sich gegen Invasionen zur Wehr setzen. Vielmehr zielt sie ausschließlich auf die Ausweitung der eigenen Macht. Das, ist deutsche Rüstungspolitik und sie basiert auf ganz gemütlicher Schreibtischarbeit - wie in den Büros der BLG - mit Blick auf die Wallanlagen ... Solidarität mit der streikenden Hafenbelegschaft! Mut und Kraft für allen Mitstreiter*innen im Widerstand gegen den Krieg! Kämpfe verbinden!" (Fehler im Original, Internetseite "de.indymedia.org", 23.06.2022). LINKSEXTREMISMUS 101 6.3.4 "Soziale Kämpfe" Im Aktionsund Themenfeld "Soziale Kämpfe", das überwiegend von nichtextremistischen Akteuren, Initiativen und Gruppen getragen wird, geht es um die Verbesserung der Lebensund Arbeitsbedingungen der Menschen. Die in diesem Zusammenhang häufig geübte und legitime Kritik am Kapitalismus und den kapitalistischen Verhältnissen wird von Linkextremist:innen geteilt, ihre Stoßrichtung geht jedoch weit über eine reine Kapitalismuskritik hinaus und zielt auf die Beseitigung nicht nur des wirtschaftlichen Systems des Kapitalismus, sondern des demokratischen Verfassungsstaates. Der im Februar begonnene russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat nicht nur einschneidende politische und wirtschaftliche Auswirkungen auf Deutschland und die deutsche Bevölkerung, sondern auch soziale. Die steigende Inflation und die Preiserhöhungen für Lebensmittel und den Lebensunterhalt, infolge der durch den Krieg verursachten Verknappung von Strom und Gas, bringen weniger wohlhabende Menschen in finanzielle Bedrängnis und Existenznot. Die linksextremistische Gruppierung "Basisgruppe Antifaschismus" (BA) nahm sich bereits im April 2022 des Themas der steigenden Inflation und Preiserhöhungen an. Im Juli 2022 initiierte sie die Gründung des "Bremer Bündnisses gegen Preiserhöhungen" und organisierte mehrere Kundgebungen. Im Rahmen einer Kundgebung am 16. Juli 2022 in Bremen erklärte die BA: "Wir unterstützen deswegen das Bündnis gegen Preiserhöhungen, weil es zunächst einer Bewegung bedarf, die die Interessen von unten ausspricht und sich dabei nicht auf die Interessen von Staat, Nation, Kapital bezieht. Eine Bewegung, die es überhaupt wieder denkbar macht, dass der jetzige Zustand so aufzuheben ist, dass eine Gesellschaft, in der die Bedürfnisse der Menschen den Zweck bilden möglich ist. Diese Bewegung nennen wir Kommunismus. Staat, Kapital, Preise - Scheiße!" (Internetseite der BA, 17.07.22). Die BA initiierte das Bündnis mit dem Ziel, den Protest auf eine breite Basis zu stellen, und das Personenpotenzial neben gewaltorientierten Linkextremist:innen insbesondere um Personen aus dem bürgerlichen, nichtextremistischen Spektrum zu erweitern. In der aktuellen Schwerpunktsetzung auf Themen wie Inflation, Preissteigerungen und Energiekrise sieht die BA ihre Chance, Anschluss an größere Teile der Gesellschaft zu erlangen. Der BA war es im November 2022 gelungen, die linksextremistische Gruppierung IL für die Mitarbeit im Bündnis zu gewinnen. Die Zusammenarbeit der beiden aktivsten Gruppierungen der gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens in einem Bündnis stellt eine Besonderheit dar, da es in der Vergangenheit vorwiegend anlassbezogene Kooperationen der Gruppierungen gab. 102 LINKSEXTREMISMUS Die IL versucht bundesweit, die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine für die Platzierung ihrer Themen und die Verbreitung ihrer extremistischen Weltanschauung zu nutzen. In diesem Zusammenhang rief sie am 6. September 2022 auf ihrer Internetseite zum Handeln auf: "Nach Monaten im Zeichen von Krieg und Klimakrise stehen wir am Beginn einer sozialen und politischen Krise, deren Ausmaße und Folgen noch gar nicht absehbar sind: Explodierende Preise und die Energiekrise bedrohen unseren Alltag und lassen Grundbedürfnisse für Viele unbezahlbar werden; die Regierungsparteien machen Klassenpolitik von oben, die keine Probleme löst, sondern Unternehmen und Reichen weitere Milliardengewinne verschafft; die Rechte steht bereit, um Frustration und Wut für ihre Zwecke zu nutzen und soziale, klimapolitische, feministische und antirassistische Errungenschaften anzugreifen. In dieser Situation besteht für alle emanzipatorischen Kräfte, alle Bewegungen und alle Spektren der gesellschaftlichen Linken ein unmittelbarer Handlungszwang." (Internetseite der IL, 06.09.2022). 6.3.5 Kampf um bezahlbaren Wohnraum Die Schaffung und Erhaltung von "autonomen Freiräumen", wozu in erster Linie besetzte Häuser oder selbstverwaltete Projekte zählen, ist seit jeher von großer Bedeutung für die linksextremistische Szene. "Autonome Freiräume" und Szeneobjekte gelten in der Szene als Widerstandsstrukturen gegen die Überwachung des "kapitalistischen Herrschaftssystems". Das Thema war in den vergangenen Jahren wiederholt ein Schwerpunkt der gewaltorientierten linksextremistischen Szene in Bremen, wobei die Hausbesetzungen meist nicht von langer Dauer waren. Eine Ausnahme bildet hier das "Alte Sportamt", das als Veranstaltungsort der "linken" Szene sowohl von Nichtextremist:innen als auch von gewaltorientierten Linksextremist:innen genutzt wird, und in den Jahren 2015 bis 2017 als besetzt galt. Darüber hinaus war das ehemalige Möbelhaus "Deters" ("Dete") in der Bremer Neustadt im Oktober 2020 für mehrere Tage von der linksextremistischen Gruppierung "Rosarote Zora" besetzt worden und ein weiteres Mal für wenige Stunden im Jahr 2021. Angesichts steigender Mieten und Kaufpreise in Städten und Ballungsräumen hat sich die gesellschaftspolitische Diskussion um bezahlbaren Wohnraum seit mehreren Jahren verschärft. Unter dem Stichwort "Gentrifizierung" wird ein Verdrängungseffekt infolge städtebaulicher Umstrukturierungsmaßnahmen kritisiert, d. h., weniger wohlhabende Bewohner:innen werden durch vermögendere Schichten aufgrund steigender Mieten bspw. infolge von Sanierungsmaßnahmen aus bestimmten Stadtteilen verdrängt. Vor diesem Hintergrund bemüht sich die gewaltorientierte linksextremistische Szene bundesweit darum, mit ihren Protestaktionen breite Teile der Gesellschaft anzusprechen. LINKSEXTREMISMUS 103 Daneben verüben Angehörige der gewaltorientierten linksextremistischen Szene in diesem Zusammenhang Brandanschläge auf Fahrzeuge von Immobilienund Bauunternehmen oder begehen Sachbeschädigungen an sog. Luxusimmobilien sowie an Büros von Immobilienund Bauunternehmen. Wie bereits in den Vorjahren gab es in Bremen in diesem Zusammenhang mehrere Sachbeschädigungen im Jahr 2022. Aktivist:innen der linksextremistischen Gruppierung BA unterstützten im Jahr 2022 wie bereits in den Vorjahren das "Bremer Bündnis Zwangsräumungen verhindern" bei seinen Protesten. So gab es am 15. Dezember 2022 während der Räumung einer Wohnung in Bremen-Walle eine Kundgebung, die neben der BA auch die IL unterstützte. Im Juli 2021 hatten rund 60 Personen im Zuge einer von der BA mitinitiierten Protestaktion eine Gerichtsvollzieherin am Zutritt zu einer Wohnung gehindert, bis die Polizei die Räumung der Wohnung schließlich durchsetzte. Im Nachgang werden solche Polizeieinsätze regelmäßig als Beleg für die vermeintlich unverhältnismäßige Repression durch die Polizei angeführt. Die Unterstützung des Bündnisses durch die BA war bereits am 10. Juni 2021 in einem Fernsehinterview mit Radio Bremen deutlich geworden, in dem sich eine Führungsperson der BA wie folgt äußerte: "Wir werden uns von Militanz nicht distanzieren, weil wir die Wut und Emotionen dahinter nachvollziehen können. Unsere Praxis besteht daraus oder darin, das Bündnis gegen Zwangsräumung zu unterstützen." (Fernsehsendung "buten un binnen", 10.06.2021). In einer Reportage des öffentlich-rechtlichen Rundfunks vom 5. September 2022 stellte dieselbe Führungsperson der BA in ihrer Funktion als Sprecher des Bremer "Bündnisses Zwangsräumungen verhindern" den Protest gegen die Zwangsräumung im Juli 2021 als "mutiges Engagement" von "ca. 70 Nachbarinnen und Nachbarn" dar, die sich der vermeintlich brutalen Gewalt der Polizei entgegengestellt hätten. Die Führungsperson der BA nutzt die Medienauftritte somit in strategischer Weise, um die Proteste des "Bündnisses Zwangsräumungen verhindern" und sein politisches Anliegen medienwirksam zu vermarkten. 6.3.6 "Klimaproteste" Proteste für einen besseren Klimaschutz und gegen den bisherigen politischen und gesellschaftlichen Umgang mit der Klimakrise sind seit mehreren Jahren ein Schwerpunktthema der linksextremistischen Szene. In der politischen Diskussion geht es seit mehreren Jahren um die globalen Auswirkungen des Klimawandels, eine Energiewende und die inzwischen beschlossene Stilllegung von Kohlekraftwerken. Linksextremist:innen brachten sich in die politische Diskussion mit der Absicht ein, ihre extremistische Weltanschauung und ihre politischen Ziele zu verbreiten sowie ihre gesellschaftliche 104 LINKSEXTREMISMUS Akzeptanz zu vergrößern. Sie erreichten die Zusammenarbeit von linksextremistischen und nichtextremistischen Aktivist:innen in Bündnissen, Initiativen und Kampagnen, wie in der Kampagne "Ende Gelände" (EG). Die 2014 initiierte linksextremistisch beeinflusste Kampagne wird von Gruppierungen und Einzelpersonen sowohl des demokratischen als auch des linksextremistischen Spektrums unterstützt. Die bundesweit agierende linksextremistische Gruppierung IL ist maßgeblich in die Aktivitäten involviert. Im Jahr 2022 wurden im Rahmen der linksextremistisch beeinflussten Kampagne "Ende Gelände" vor allem Protestaktionen gegen die Nutzung fossiler Brennstoffe organisiert. Klimaaktivist:innen protestierten vom 9. bis 15. August 2022 in Hamburg mit einem sog. "Klimagerechtigkeitscamp" und zwei Großdemonstrationen mit jeweils über 1.500 Teilnehmenden gegen die Nutzung fossiler Brennstoffe und den Aufbau von LNG-Terminals. Im Zuge von Blockadeaktionen lieferten sich gewaltorientierte Linksextremist:innen körperliche Auseinandersetzungen mit Polizist:innen. In Bremen organisierten Linksextremist:innen im Rahmen der Kampagne "Ende Gelände" im "Alten Sportamt" Informationsveranstaltungen und Aktionstrainings in Vorbereitung auf die Klima-Proteste in Hamburg. Einen weiteren Schwerpunkt der Kampagne stellt der Protest gegen den Braunkohleabbau dar. Seit mehreren Jahren steht die geplante Erweiterung des Tagebaus "Garzweiler II" im rheinischen Braunkohlerevier und das nordrhein-westfälische Lützerath, das vor einer Umsiedlung bewahrt werden soll, im Fokus der Kampagne. Am 12. November 2022 veranstalteten Linksextremist:innen eine Großdemonstration in Lützerath, an der etwa 1.200 Personen teilnahmen. Vor dem Hintergrund einer drohenden Räumung des Dorfes gab es bundesweit Solidaritätsbekundungen und Sachbeschädigungen, vorwiegend an Büros der Partei "Die Grünen". Auch in Bremen beschädigten unbekannte Täter am 8. November 2022 die Fassade des Parteibüros der "Grünen" mit Farbe. Die linksextremistische Gruppierung BA bekundete ihre Sympathie mit der Tat und ihre Solidarität mit den Täter:innen: "Offensichtlich aus Solidarität mit dem Kampf gegen den Abriss der Siedlung #Lützerath in NRW ist in der Nacht zu Dienstag das Büro der Grünen besprüht worden. Die Aufregung in der Regierungspartei ist groß: ,Gewalt und Sachbeschädigung zur Durchsetzung politischer Ziele lehnen wir ab.' so Landesspracher Florian Pfeffer heute im Weser Kurier. Damit meint er nicht den Abriss von Lützerath zur Errichtung eines Braunkohletagebaus. Schließlich ist der vom Staat rechtlich begründet und wird von der mit dem Gewaltmonopol ausgestatteten Polizei durchgesetzt. Der Abriss zu Gunsten der Profite von RWE und zum Schaden von Klima und Bevölkerung erscheint so als friedvoller Akt. Ganz im Gegensatz zum grausam brutalen ,Farbanschlag'. Wir dagegen sind solidarisch: Mit den Verteidiger*innen von Lützerath, mit den farbenfrohen Genoss*innen und gegen LINKSEXTREMISMUS 105 Staat und Kapital. Lützerath bleibt!" (Fehler im Original, Instagram-Kanal der BA, 09.11.2022). Kommunikation Das Internet ist das wichtigste Kommunikationsmittel der linksextremistischen Szene. Es dient ihr sowohl als Kommunikationsplattform als auch als Medium zur Verbreitung von Propaganda. Die 2017 vom Bundesinnenministerium verbotene Internetseite "linksunten.indymedia" nahm eine zentrale Bedeutung für das gesamte "linke" Spektrum ein. Sie betrieb einen "offenen Journalismus", d. h., jede:r Internetnutzer:in konnte dort ohne redaktionelle Vorgaben und unter Nutzung eines Pseudonyms Beiträge veröffentlichen, die andere Internetnutzer:innen wiederum anonym kommentieren und ergänzen konnten. Das Bundesverwaltungsgericht wies im Jahr 2020 mehrere Klagen gegen das Verbot von "linksunten. indymedia" ab. Die linksextremistische Internetseite "de.indymedia.org" ersetzt in Teilen das verbotene Internetportal. In Bremen ist die seit 2009 betriebene Internetseite der linksextremistischen Szene "end of road" am 8. September 2022 eingestellt und die Internetseite "tumulte.org" als Nachfolgeplattform etabliert worden. Ein zentrales Publikationsorgan ist die in Berlin herausgegebene Szene-Zeitschrift "Interim", die als eine von wenigen autonomen Schriften bundesweite Bedeutung genießt. Die Szene-Zeitschrift dient vor allem dem gewaltbereiten autonomen Spektrum zur Information und Diskussion. In der "Interim" finden sich Beiträge zu aktuellen Themen, aber auch Rechtfertigungen zur Gewaltanwendung sowie Aufforderungen und Anleitungen zu Gewalttaten. Um Strafverfolgungsmaßnahmen zu erschweren, gibt es keine feste Redaktion, auch wird kein Impressum abgedruckt. Titelbild der "Interim" 2022 106 LINKSEXTREMISMUS 107 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Unterstützungsaufgaben des LfV Anhang 108 ISLAMISMUS 7 Islamismus Beim Islamismus handelt es sich um eine Form des religiös begründeten Extremismus. Islamist:innen berufen sich auf Symbole, Begriffe und Konzepte aus dem Islam, um ihre antidemokratischen politischen Ziele religiös zu legitimieren. Dabei behaupten sie, im göttlichen Auftrag zu handeln und verschleiern damit, dass sie nur ihre jeweilige, zumeist einseitige und undifferenzierte, Interpretation der Religion umzusetzen versuchen. Der Bezug auf Gott ist ein wichtiges Unterscheidungskriterium zu anderen extremistischen Ideologien, etwa dem Rechtsoder Linksextremismus. Islamist:innen behaupten, dass alle Bereiche des menschlichen Lebens von der Religion bestimmt werden müssen. Dies schließt auch die Sphären von Gesetzgebung und politischer Ordnung mit ein. Gleichwohl ist politisches Engagement aus religiöser Perspektive keineswegs grundsätzlich verfassungsfeindlich, sondern von der Religionsfreiheit gedeckt. Erst wenn versucht wird, ein Religionsverständnis durchzusetzen, das dem Grundgesetz und der darin enthaltenen freiheitlich-demokratischen Grundordnung widerspricht, handelt es sich um eine sog. extremistische Bestrebung, die der Beobachtung durch den Verfassungsschutz unterliegt. Dies ist beim Islamismus der Fall. Islamismus bezeichnet demnach eine politische Ideologie, die anstelle des demokratischen Rechtsstaates und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung eine Gesellschaftsund Rechtsordnung vorsieht, welche auf einer islamistischen Interpretation des islamischen Rechts beruht. Das hier im Mittelpunkt stehende "Prinzip der Gottessouveränität" widerspricht dem grundgesetzlich verbrieften "Prinzip der Volkssouveränität". Verfassungswidrigkeit des Islamismus Ablehnung demokratischer Regierungen und Gesetzgebung Absoluter Geltungsanspruch der jeweiligen Interpretation des islamischen Rechts Aktivitäten gegen die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte * Implizite Forderung nach sog. Körperstrafen * Legitimierung der körperlichen Züchtigung der Ehefrau * Ungleichbehandlung von Mann und Frau * homophobe, trans*freindliche Überzeugungen und mindestens implizite Forderung des Verbots bzw. der Sanktion * Ablehnung der Religionsfreiheit (z. B. durch Antisemitismus oder Forderung der Todesstrafe für Apostasie, d. h. Abfall vom Glauben) Bei islamistischen Terrorist:innen: Propagieren und/oder Ausüben politischer Gewalt ISLAMISMUS 109 Historisch gesehen hat sich der Islamismus im 20. Jahrhundert in verschiedenen Teilen der muslimischen Welt als antikoloniale Bewegung entwickelt. Die Schwäche dieser Regionen, so die Denkweise der Islamist:innen, läge in der Vernachlässigung der islamischen Pflichten durch die muslimischen Bevölkerungen. Nur wenn der Islam alle Lebensbereiche der Menschen durchdringe und jedwedes Handeln gemäß religiöser Vorgaben ausgerichtet wäre, könne man von einem wahrhaft islamischen Staat sprechen und zu alter Stärke zurückkehren. Der Islamismus arbeitet, genauso wie andere Extremismen, gezielt mit Feindbildern. In der islamistischen Rhetorik sind dies die sog. kuffar ("Ungläubige"), womit suggeriert wird, dass angeblich alle Nicht-Muslim:innen bzw. in der Regel auch liberalere muslimische Strömungen den vermeintlich "wahren Muslim:innen" feindlich gegenüberstehen. Hochkomplexe Konflikte in verschiedenen Teilen der Welt sowie Negativerfahrungen von Muslim:innen in Deutschland werden dadurch erklärt, dass die "Ungläubigen" einen Krieg gegen den Islam führen würden und man sich verteidigen müsse. Diese Form der Vereinfachung und die Darstellung des eigenen Handelns als Notwehr gegenüber einer vage definierten Gruppe von Feinden findet sich auch bei anderen extremistischen Gruppen. Phänomenübergreifend sind vor allem Menschen jüdischen Glaubens immer wieder Opfer extremistischer Propaganda. Antisemitismus im Islamismus Allen islamistischen Strömungen ist gemein, dass sie Menschen jüdischen Glaubens als Feinde des Islams und der Muslim:innen darstellen. In den negativen Zuschreibungen gegenüber Jüd:innen finden sich viele ideologische Versatzstücke wieder, die aus dem europäischen Antisemitismus übernommen wurden. Dazu gehört die angebliche Hinterlistigkeit "der Juden", ihre vermeintliche Geldgier, die Legende von Jüd:innen als Kindermörder:innen sowie verschwörungsideologische Elemente einer globalen jüdischen Weltherrschaft. Diese Weltanschauungen werden mit gezielt einseitigen und undifferenzierten Bezügen zu den islamischen Quellen religiös aufgeladen, wodurch sich der spezifische Charakter des islamistischen Antisemitismus ergibt. Der Kampf gegen die Existenz Israels ist ein wesentliches Ziel vieler islamistischer Organisationen. Dieser Kampf erfolgt zum einen mit militärischen Mitteln, zum anderen aber auch mit propagandistischen Methoden, indem wiederkehrend zur Vernichtung Israels aufgerufen wird. Israel ist ein zentrales Feindbild im Islamismus. Islamistischer Antisemitismus im Inund Ausland äußert sich immer wieder im Rahmen des Nahost-Konflikts. Nach einem Wiederaufflammen des Konflikts im Vorjahr wurden dieses Jahr Israel und die Gebiete der Palästinenser:innen durch eine ganze Reihe von 110 ISLAMISMUS Terrorangriffen und Gegenschlägen erschüttert. Trotz ausgerufener Waffenruhen kam es fortlaufend zu Anschlägen durch Einzeltäter und Kleingruppen mit Bezug zu islamistischen Terrororganisationen. Besondere Aufmerksamkeit erregte der Fall der bekannten palästinensischen Reporterin Shireen Abu Akleh, die im Westjordanland höchstwahrscheinlich durch einen Schuss israelischer Sicherheitskräfte ums Leben kam. Reaktionen auf den anhaltenden Nahost-Konflikt fanden sich dabei auch in Bremen, etwa in Form von friedlichen Demonstrationen mit Sprechchören, welche der Reporterin Shireen Abu Akleh gedachten. Antisemitische Äußerungen konnten in diesem Zusammenhang im Bremen jedoch nicht festgestellt werden. Es handelt sich beim Islamismus um eine sehr spezifische Interpretation der islamischen Religion in der Moderne. Ihr stehen unzählige andere Interpretationen gegenüber, die mit dem Grundgesetz noch vereinbar sind. Auch wenn Islamist:innen vorgeben, den angeblich "wahren Islam" zu verkünden, dürfen sie keinesfalls als alleinige Repräsentant:innen ihrer Religion angesehen werden, da die überwiegende Mehrheit der Menschen muslimischen Glaubens weltweit eine islamistische Islaminterpretation entschieden ablehnt. Hinzu kommt, dass die islamistische Bewegung in sich selbst nicht homogen ist, sondern sich in diverse GrupMuslim:innen pierungen und Strömungen aufspaltet, die zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten entstanden und teilweise untereinander verfeindet sind. Die islamistische Ideologie ist zudem einem stetigen WanIslamist:innen del unterworfen. Aufgrund dieser erheblichen UnterSalafist:innen schiede zwischen den verschiedenen islamistischen Jihadist:innen Gruppen ist es notwendig, jede von ihnen gesondert zu betrachten. Dabei muss neben dem geschichtlichen Hintergrund auch der jeweilige gesellschaftspolitische Radikale Ansichten werden nur von einem Kontext beachtet werden, in dem die Gruppe tätig ist. Bruchteil der Muslim:innen vertreten Einige Gruppen waren in ihrer Gründungszeit gewaltorientiert und sind es nun nicht mehr. Andere üben politische Gewalt in ihrer Herkunftsregion aus, nicht jedoch in Deutschland. Andere wiederum versuchen auch in Deutschland ihre Ziele mit Gewalt zu erreichen. Insgesamt ist jedoch nur eine Minderheit innerhalb des islamistischen Spektrums gewaltorientiert. Der Verfassungsschutz unterscheidet grundsätzlich zwischen zwei Hauptsträngen im Islamismus: Unter den Begriff "Islamistischer Terrorismus" fallen alle Strömungen, die politische Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele befürworten und anwenden. Unterschieden werden kann hier zwischen islamistisch-terroristischen Organisationen, die ausschließlich ISLAMISMUS 111 in ihren Heimatländern einen bewaffneten Kampf führen, (z. B. die libanesische Organisation "Hizb Allah", die palästinensische "HAMAS" oder die afghanischen "Taleban") und den salafistischen Jihadist:innen, die weltweit einen bewaffneten Kampf führen, (z. B. das Terrornetzwerk "al-Qaida" und der sog. "Islamische Staat"). Der Begriff "Legalistischer Islamismus" beschreibt hingegen Organisationen, welche eine Veränderung der Staatsund Gesellschaftsordnung zugunsten eines islamistischen Staatswesens über die politische Einflussnahme anstreben. Die in Deutschland tätigen "Legalist:innen" lehnen Gewalt jedenfalls vordergründig ab und bewegen sich überwiegend im hiesigen Rechtsrahmen, den sie jedoch langfristig zu unterwandern und abzuschaffen versuchen. Beispiele für in Deutschland tätige legalistischislamistische Organisationen sind die "Muslimbruderschaft", die "Saadet Partisi" oder die "Hizb ut-Tahrir". Hervorzuheben ist, dass beide Bereiche nicht trennscharf voneinander abzugrenzen sind. Dies liegt daran, dass zum einen die ideologische Ausrichtung und die damit begründete Gewaltaffinität der Anhängerschaft nicht immer eindeutig definiert werden kann. Zum anderen rekrutieren terroristische Gruppen ihre Anhänger:innen häufig aus legalistisch-extremistischen Organisationen. Dies gilt insbesondere für den Salafismus, dessen missionarischer eng mit dem gewaltorientierten Strang verflochten ist. Aus diesem Grund wird dem Salafismus ein eigenes Unterkapitel gewidmet. In Bremen sind im Jahr 2022 etwa 575 Personen islamistischen Gruppen zuzurechnen. Damit ist die Zahl im Vergleich zum Vorjahr - hier waren es 600 Personen - um ca. 5% geringfügig gesunken. Fluktuationen innerhalb der extremistischen Spektren sind üblich. Gleichzeitig konnte jedoch eine deutliche Zunahme der Online-Aktivitäten unterschiedlicher islamistischer Gruppierungen festgestellt werden, die eine Vielzahl von insbesondere jüngeren Personen erreicht und noch nicht ausreichend belastbar quantifiziert werden kann. 7.1 Islamistischer Terrorismus Der islamistische Terrorismus lässt sich in national und global ausgerichtete Organisationen unterscheiden. Der global ausgerichtete islamistische Terrorismus ist gleichzusetzen mit dem jihadistischen Salafismus oder kurz Jihadismus. Jihadist:innen erkennen das Nationalstaatsprinzip nicht an und versuchen, mittels des Einsatzes terroristischer Gewalt die Regime in der muslimischen Welt zu stürzen, um ein länderübergreifendes Kalifat zu errichten. Anschläge in westlichen Staaten dienen dazu, die dortigen Bevölkerungen einzuschüchtern, die Politik unter Druck zu setzen und demokratische Strukturen, soweit vorhanden, zu destabilisieren. Die bekanntesten Organisationen im Jihadismus sind "al-Qaida" und der sog. "Islamische Staat" ("IS"). 112 ISLAMISMUS 7.1.1 Globales Terrornetzwerk "Al-Qaida" "Al-Qaida" wandelte sich von einer in den 1980er Jahren in Afghanistan entstandenen streng hierarchischen Organisation zu einem weltweiten Netzwerk von Ablegerorganisationen und Sympathisant:innen. Wenngleich der Regime-Umsturz als Fernziel weiterhin Flagge der "al-Qaida" bestehen bleibt, ist "al-Qaida" bestrebt, seine Reputation als schlagkräftigste Terrororganisation durch möglichst spektakuläre Anschläge auch im Westen unter Beweis zu stellen. Während "Kern-al-Qaida" im Nachgang zu den Anschlägen vom 11. September 2001 stark geschwächt werden konnte, haben sich seitdem diverse, zunächst lokal agierende, Terrorgruppen der globalen Ideologie "al-Qaidas" angeschlossen. Zu den von der Kernorganisation "al-Qaida" logistisch und finanziell relativ unabhängig agierenden regionalen Gruppen gehören u. a. "al-Qaida auf der arabischen Halbinsel" (AQAH) im Jemen, "ash-Shabab" ("die jungen Menschen") in Somalia, "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM) in den Maghrebstaaten, "Jama'a Nusrat ul-Islam wa al-Muslimin" (JNIM "Gemeinschaft zur Unterstützung des Islams und der Muslime") im Sahel und "al-Qaida auf dem indischen Subkontinent" (AQIS). In Syrien gibt es mit "Tandhim Hurras ad-Din" (THD, "Organisation Retter der Religion") eine ideologisch eng verflochtene sowie mit "Hay'at Tahrir ash-Sham" (HTS, "Gremium zur Befreiung Syriens") eine eher lose angebundene Ablegerorganisation. Der letzte Führer der "al-Qaida" - Aiman az-Zawahiri - wurde am 31. Juli 2022 durch eine US-amerikanische Drohne in der afghanischen Hauptstadt Kabul getötet. Ein Nachfolger wurde bislang nicht benannt. 7.1.2 "Islamischer Staat" (IS) Der "IS" ging aus der ehemaligen "al-Qaida"-Ablegerorganisation im Irak hervor. Auch wenn sich die grundsätzliche Ideologie beider Gruppen stark ähnelt, existieren einige subtile Unterschiede. So ist der Hass auf Menschen schiitischen Glaubens beim "IS" deutlich stärker ausgeprägt und diese werden zielgerichteter angegriffen. In Deutschland verbotene Der "IS" ist zudem deutlich kompromissloser gegenüber jeglichen Flagge des "IS" Organisationen, die nicht in Gänze sein Weltbild teilen und sich diesem unterordnen wollen. Muslim:innen, welche die "IS"-Ideologie ablehnen, betrachtet der "IS" als Ungläubige, die getötet werden dürfen. Zudem legt der "IS" den Fokus ISLAMISMUS 113 auf schnellstmögliche territoriale Kontrolle, während "al-Qaida" eine Strategie der weltweiten Zellenund Netzwerkbildung verfolgt. Auch der "IS" verfügt über verschiedene Ableger, wie zum Beispiel in Libyen, Ägypten, Algerien, Nigeria, Jemen und Afghanistan. Diese befinden sich in der Regel in einem starken Konkurrenzverhältnis zu "al-Qaida"-nahen Organisationen. Wenngleich es im Sahel partiell zu einer taktischen Zusammenarbeit kam, ist die jihadistische Szene global betrachtet weiterhin gespalten und von einer Annäherung zwischen beiden Gruppen ist derzeit nicht auszugehen. In Deutschland wurde durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) im Jahr 2015 ein Betätigungsverbot gegen den "IS" erlassen. Demzufolge ist es verboten, Kennzeichen des "IS" öffentlich, in Versammlungen oder zur anderweitigen Verbreitung zu verwenden. In Bremen kam es im Berichtszeitraum zu keinen Verstößen im Zuge von Versammlungen. 7.1.3 Globale Entwicklungen im islamistischen Terrorismus Trotz der Zerschlagung des sog. "Kalifats" des "IS" bleibt die Organisation sowohl in Syrien als auch im Irak im Untergrund aktiv. Spektakuläre Anschläge und Aktionen, wie der Angriff auf ein Gefängnis in der syrischen Stadt al-Hasaka belegen, dass der "IS" auch zu Beginn des Jahres 2022 im begrenzten Rahmen handlungsfähig war. Grundsätzlich sind ihre Kapazitäten für die eigenständige Anschlagsbegehung im Westen derzeit begrenzt. Jedoch ist nicht auszuschließen, dass über die gegenwärtigen Flüchtlingsrouten versucht wird, Attentäter:innen nach Europa zu schleusen bzw. auch neue Mitglieder direkt in Europa zu rekrutieren. Nachdem bereits im Februar 2022 der seit 2019 amtierende Führer des "IS" Abu l-Hasan al-Hashimi al-Qurashi getötet wurde, folgte im November 2022 mit Abu l-Husayn al-Husayni al-Qurashi der nunmehr vierte "Kalif" des "IS". Mit der "HTS" bleibt weiterhin eine "al-Qaida"-nahe Organisation die dominanteste Kraft in der von Rebell:innen kontrollierten syrischen Provinz Idlib. Zuletzt gelang es der "HTS" im Oktober 2022, die im Nordwesten Syriens gelegene Stadt Afrin einzunehmen und sich somit gegen die anderen bewaffneten Rebellengruppen weiter durchzusetzen. Auch wenn die "HTS" bestrebt ist, sich ein liberaleres Image zu geben und bestreitet, außerhalb Syriens aktiv werden zu wollen, wird sie aufgrund ihrer gewaltorientierten Ideologie und gewaltsamen Methoden in Deutschland weiterhin als Terrororganisation eingestuft. 114 ISLAMISMUS Machtergreifung der "Taleban" Bei den "Taleban" (Umschrift des in Afghanistan gesprochenen Dari; auch bekannt unter "Taliban") handelt es sich nicht um eine global-jihadistische Gruppierung, sondern um eine islamistische Terrororganisation mit nationaler Ausrichtung. Ihr Ziel eines islamistischen Staates innerhalb der international anerkannten Grenzen Afghanistans konnten die "Taleban" im August 2021 nach jahrelangen Kämpfen unter Einsatz terroristischer Gewalt sowohl Flagge der "Taleban" gegen einheimische und ausländische Sicherheitskräfte als auch gegen die Zivilbevölkerung erreichen. Nach 20 Jahren der kriegerischen Auseinandersetzung ergriffen sie erneut die Macht. Seitdem herrscht in Afghanistan wieder ein von den "Taleban" geführtes Emirat anstatt der vorherigen Republik. Beobachter:innen zufolge sei es den "Taleban" zwar gelungen, die Korruption im Land zurückzudrängen, jedoch leide nach wie vor ein Großteil der Bevölkerung des rohstoffreichen Landes unter starker Armut. Bedingt durch das reaktionäre Frauenbild der neuen Regierung wurden die in der Republik gegründeten Mädchenschulen im Emirat wieder geschlossen und die Rechte der Frauen allgemein stark eingeschränkt. Darüber hinaus gibt es äußerst enge Bezüge zwischen den "Taleban" und jihadistischen Gruppierungen. Das Verhältnis insbesondere zu "al-Qaida" ist über Jahrzehnte gewachsen. Vor allem das zu den "Taleban" gehörende "Haqqani-Netzwerk" verfügt über enge Kontakte zu verschiedenen jihadistischen Gruppierungen. Auch wenn die "Taleban" bei ihrer Machtergreifung verkündet haben, keine Anschlagsplanungen von afghanischem Territorium aus zu dulden, so muss dieses Bekenntnis aufgrund der Präsenz der eindeutig global-jihadistisch ausgerichteten "al-Qaida" in Zweifel gezogen werden. So befand sich auch der letzte Führer der "al-Qaida", Aiman az-Zawahiri, bei seiner Tötung am 31. Juli 2022 (s. o.) in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Durch die insgesamt fragilere und nur noch schwer zu überwachende Lage in Afghanistan hat sich die globale Gefahr für islamistische Anschläge durch die Machtübernahme der "Taleban" erhöht. Dies ist insbesondere auf die von dort aus mehr oder weniger ungestört agierenden Organisationen mit internationaler Agenda zurückzuführen. Den "Taleban" gegenüber feindlich gesinnt bleibt das "IS"-Sympathisant:innenspektrum. Durch den Ableger "Islamischer Staat Provinz Khorasan" ("ISPK") existiert in Afghanistan eine Gruppierung, die in einem Konkurrenzverhältnis zu "al-Qaida" und den "Taleban" steht. Entsprechend häuften sich im Jahre 2022 die Anschläge des "IS"-Ablegers gegen die regierenden "Taleban", aber auch gegen Minderheiten und zivile Einrichtungen in Afghanistan allgemein. Inwieweit sich Afghanistan bzw. der dort aktive "ISPK" als mögliches neues Ausreiseziel jihadistischer Ausreisewilliger etablieren kann, lässt sich aktuell noch nicht abschließend beurteilen. ISLAMISMUS 115 Jihadistische Onlineaktivitäten und Radikalisierung Jihadistische Organisationen nutzen gezielt digitale Formate, um ihre Ideologie zu verbreiten und neue Sympathisant:innen oder sogar Mitglieder zu gewinnen. Dabei versuchen sie, verschiedene Plattformen parallel zu bedienen, um möglichen Einschränkungen zu entgehen. Die bekanntesten Anbieter sozialer Netzwerke, wie YouTube bzw. Google, Facebook und die dazu gehörigen Dienste Instagram und WhatsApp und zunehmend auch Telegram, sind inzwischen bestrebt, jihadistische Inhalte möglichst umgehend zu entfernen. Ein eher neues Phänomen ist die Verbreitung islamistischer aber auch jihadistischer Propaganda über das Video-Portal TikTok. Der besondere Charakter der über TikTok verbreiteten Propaganda besteht in der Kürze der Videos und im oft noch jungen Alter der Konsumierenden wie auch derjenigen, die solche Videos hochladen. Während die Video-Vorträge, Predigten und Botschaften bei Facebook und Youtube mehrere Minuten Zeit in Anspruch nehmen, sind die nur wenige Sekunden langen TikTok-Videos für ein jüngeres Publikum ansprechender. Dabei bleiben die vermittelten Inhalte aufgrund der Kürze oft oberflächlich und arbeiten weniger argumentativ als die Videos in anderen sozialen Medien. Zum Teil setzen die Videos ein szeneinternes Grundwissen voraus, um die nur kurzen Anspielungen wie Symbole, Fahnen und Propaganda-Lieder verstehen und einordnen zu können. In manchen Fällen bleibt unklar, inwieweit die Videos von tatsächlichen Mitgliedern entsprechender Organisationen produziert wurden oder nur von jungen Sympathisant:innen auf Eigeninitiative erstellt und hochgeladen werden und somit keine echten Beziehungen zu den beworbenen extremistischen Organisationen bestehen. So oder so sind die Beiträge allerdings geeignet, um für die jeweiligen Organisationen zu werben. Die direkte Kommunikation, das Kennenlernen und die potenzielle Vernetzung der Sympathisant:innen läuft dabei zum Teil offen in den Kommentarspalten der Videos ab. Die nicht bei TikTok, sondern in den anderen sozialen Medien oder auch in eigenen Internetforen verbreiteten Propaganda-Videos und Botschaften, sind sehr unterschiedlicher Qualität. So unterhalten Organisationen wie beispielsweise die "HAMAS", alQaida", der "IS" oder auch die "Hizb Allah" eigene Medienstellen, die über moderne Videotechnik verfügen und entsprechend aufwendige Propagandavideos produzieren. Der Stil der Propaganda reicht dabei je nach Organisation, Ideologie und Anlass von Musik-Videos, welche singende Jihadisten in militärischen Uniformen zeigen, über Nachrichtensendungen, die einen seriösen Eindruck vermitteln sollen, bis hin zu gewaltsamen Ansprachen mit terroristischen Drohungen gegen die westliche Staatengemeinschaft sowie Aufrufen, in ein bestimmtes Gebiet auszureisen. Je nach den konkreten Inhalten des Propagandamaterials und Art und Weise der Bereitstellung können 116 ISLAMISMUS durch die Verbreitung bzw. das Organisieren entsprechender Angebote unterschiedliche Straftatbestände bis hin zur Unterstützung einer terroristischen Vereinigung i.S.d. SSSS 129a und 129b StGB erfüllt sein. Auch gegen Bremer Beschuldigte werden entsprechende Ermittlungsverfahren geführt. Die Bekämpfung von jihadistischen bzw. terroristischen Bestrebungen durch Sicherheitsbehörden weltweit zwingt die Jihadist:innen mittlerweile, zur direkten Kommunikation untereinander auf unbekanntere Plattformen auszuweichen, welche eine deutlich geringere Reichweite besitzen. Gleichzeitig sind die dortigen Aktivitäten aufgrund technischer Vorkehrungen teilweise nur mit einem noch erheblicheren Aufwand zu überwachen. Das Gleiche gilt für die Kommunikation untereinander über verschlüsselte Chatsysteme. Internetaffine Personen sind somit weiterhin in der Lage, relevante Inhalte zu finden und weiterzuverbreiten. Dies geschieht im Rahmen sog. Radikalisierungsprozesse, bei denen sich die Personen in den oben beschriebenen digitalen Filterblasen befinden, in denen in diesem Fall das jihadistische Narrativ einer globalen Verschwörung gegen den Islam permanent heraufbeschworen und weiterverbreitet wird. Die entsprechenden Resonanzräume zeichnen sich u. a. durch eine starke Diskursvereinfachung aus, bei der in einfacher Darstellung die vermeintlich klare Trennung zwischen "richtig" und "falsch" geboten wird. Existieren für diese Personen keine Deradikalisierungsangebote oder stabilisierende soziale Bindungen, welche glaubwürdig eine alternative Sichtweise vermitteln können, besteht die Gefahr der Verfestigung einer extremistischen Haltung, welche im schlimmsten Fall zu der Verwirklichung einer Anschlagsoder Ausreiseabsicht führen kann. Entsprechend sensibel wird die Verbreitung von islamistischen Inhalten an ein noch junges und somit leichter zu beeinflussendes Publikum vom Verfassungsschutzverbund betrachtet. 7.1.4 Islamistischer Terrorismus in Deutschland Die Entwicklung des islamistischen Terrorismus in Deutschland war stets von vielen Umbrüchen geprägt. Zunächst haben sich islamistische Terrorist:innen zwar in Deutschland aufgehalten, ihre Anschläge jedoch im Ausland verübt, so wie bei den Attentätern des 11. September 2001 oder den aus Deutschland ausgereisten sog. "foreign fighters" in Bosnien und Tschetschenien. Anfang der 2000er-Jahre mehrten sich Anschlagsversuche in Deutschland, welche jedoch entweder vereitelt werden konnten oder fehlschlugen. In dieser Zeit entwickelte sich eine sog. "Home-Grown-Szene", womit gemeint ist, dass die Attentäter:innen in Deutschland aufgewachsen sind und sozialisiert wurden. 2011 kam es schließlich zum ersten islamistischen Attentat in Deutschland auf den Frankfurter Flughafen. Seitdem entstand zunehmend eine Symbiose zwischen zunächst nach Afghanistan und später nach Syrien ausgereisten Personen und in Deutschland ISLAMISMUS 117 gebliebenen Sympathisant:innen. 2016 kam es in Deutschland zu mehreren Anschlägen; der folgenschwerste war der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin am 19. Dezember mit 12 Toten. Die unterschiedlichen Profile der Täter:innen bei diesen Anschlägen verdeutlichen das Erfordernis, die verschiedenen Milieus mit einem ausreichend großen Ressourceneinsatz intensiv zu beobachten. Anschlagsplanungen und Gerichtsverfahren im Jahr 2022 Im Jahr 2022 wurden, wie in den Vorjahren, etliche Strafverfahren mit Terrorismusbezug geführt. Im Rahmen dieser kam es zu zahlreichen Gerichtsprozessen, Verurteilungen und Inhaftierungen. Tatvorwürfe waren hier u. a. Terrorismusfinanzierung, Verstöße gegen das Außenwirtschaftsgesetz sowie Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Auffällig war im aktuellen Berichtszeitraum, dass sich eine Vielzahl der Strafverfahren gegen weibliche Personen richteten. Ursächlich waren größere Rückführungsaktionen, im Rahmen derer Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit und ihre Kinder aus Syrien bzw. dem Irak nach Deutschland gebracht wurden. Diesen Frauen wird zumeist mindestens eine mitgliedschaftliche Betätigung in der Terrororganisation "IS" gem. SSSS 129a und 129b StGB vorgeworfen, wobei sich der Tatverdacht bisweilen auch auf den Vorwurf der Beteiligung an der Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen i.S.d. Völkerstrafgesetzbuches erstreckt. Gegen mehrere der zurückgeführten Frauen lag zum Zeitpunkt ihrer Rückkehr bereits ein Haftbefehl vor, sodass sie unmittelbar der Untersuchungshaft zugeführt wurden und, soweit erforderlich, Inobhutnahmen der zurückgeführten Kinder durch die zuständigen Jugendämter bzw. Familienangehörige erfolgten. Auch wenn die meisten Strafverfahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sind, erfolgte teilweise in erster Instanz die Verhängung empfindlicher Haftstrafen gegen die beschuldigten Frauen, was ein Novum darstellte. Am 12. Mai 2022 begann vor dem Staatsschutzsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg die Hauptverhandlung gegen einen Heranwachsenden. Diesem wurde vorgeworfen, im Jahr 2021 einen islamistisch motivierten Terroranschlag vorbereitet zu haben. Nach mehreren Verhandlungstagen sah es das Gericht als erwiesen an, dass der Verurteilte beabsichtigte, einen Sprengsatz zu bauen, um damit eine schwere staatsgefährdende Straftat zu begehen. Das Material für den Bau des Sprengsatzes hatte er bereits beschafft. Außerdem soll er den Urteilsfeststellungen folgend versucht haben, sowohl eine Schusswaffe nebst Munition als auch eine Handgranate zu beschaffen. Das Gericht verurteilte den Angeklagten zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren. Die Entscheidung war zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Berichts noch nicht rechtskräftig. 118 ISLAMISMUS Der Generalbundesanwalt hat am 23. Juni 2022 vor dem Oberlandesgericht München Anklage gegen eine Person u. a. wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung erhoben. Dem Angeklagten wird vorgeworfen, am 6. November 2021 vier Fahrgäste in einem ICE auf dem Weg von Passau nach Nürnberg mittels eines Taschenmessers schwer und potenziell lebensgefährlich verletzt zu haben. Darüber hinaus soll er eine radikal-islamistische Gesinnung aufgewiesen haben. Am 23. Dezember 2022 verurteilte das Gericht den Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren. Das Urteil war zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts noch nicht rechtskräftig. Nachdem das Oberlandesgericht Celle den bekannten "IS"-Rekrutierer "Abu Walaa" wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland in zwei Fällen und zusätzlicher Delikte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und sechs Monaten verurteilt hatte, verwarf der Bundesgerichtshof die Revision des Angeklagten mit Beschluss vom 9. August 2022. Die Entscheidung, die in der islamistischen Szene u. a. wegen der Höhe der Haftstrafe besondere Beachtung fand, ist damit rechtskräftig. Alleine die vorgenannte Auswahl von Gerichtsentscheidungen belegt, dass die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus in Deutschland nach wie vor auf hohem Niveau fortbesteht. Hinzu kommen im Berichtsjahr erneut mehrere Anschlagsvorhaben, die aufgrund der engen Kooperation verschiedener Sicherheitsbehörden bereits in einem Stadium, in dem die Schwelle zur Versuchsstrafbarkeit noch nicht erreicht war, verhindert werden konnten bzw. in denen die strafrechtlichen Ermittlungen aktuell noch andauern. Ein entsprechendes Fazit kann auch für Bremen gezogen werden. 7.1.5 Jihadistische Szene in Bremen Seit Jahren existiert in Bremen eine jihadistische Szene, die mit terroristischen Organisationen sympathisiert, deren Strukturen in Deutschland und im Ausland unterstützt und vermutlich dazu bereit wäre, Anschläge auch im Land Bremen zu verüben. Aus diesem Grund hat die Bearbeitung von jihadistischen bzw. terroristischen Sachverhalten im LfV Bremen eine äußerst hohe Priorität. Zur Verhinderung von Anschlägen erfolgt die Zusammenarbeit mit den Polizeibehörden sowie Behörden des Verfassungsschutzverbundes. Eine wichtige Einrichtung in diesem Bereich ist das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin. Es dient zum Austausch relevanter Informationen in Gefährdungssachverhalten, um auf dieser Grundlage Analysen und Bewertungen vorzunehmen und Gefährdungslagen länderübergreifend zu bewältigen. ISLAMISMUS 119 Jihadistische Verdachtsund Gefährdungssachverhalte Die jihadistische Szene in Bremen unterteilt sich derzeit im Wesentlichen in zwei Bereiche. Zum einen geht ein erhöhtes Risiko von Kleingruppen und sog. "Lone-WolfAkteuren" aus. Die in diesem Zusammenhang beobachteten Personen, welche sich auch über den norddeutschen Raum hinaus bundesweit vernetzen, bilden keine homogene Gruppe. So kann es zwischen Einzelpersonen und Personengruppen zwar Schnittmengen in Form von Kennverhältnissen geben, jedoch gibt es ebenfalls isolierte Personen und Kleinstgruppen, die keinerlei Einbettung in hiesige, institutionalisierte extremistische Strukturen erkennen lassen. Hintergrund und Profile der Personen, welche islamistisch begründete Gewalttaten begehen oder unterstützen wollen, sind höchst unterschiedlich. Neben in Deutschland geborenen und sozialisierten Personen über solche mit eigenen Migrationsbiografien bis hin zu Menschen, welche erst kürzlich zum Islam konvertiert sind, ist das für jihadistische Ideologien empfängliche Personenspektrum vergleichsweise divers. Auch der Radikalisierungsprozess der einzelnen Personen in Bremen ist uneinheitlich. Jüngere Personen radikalisieren sich oftmals über online bereitgestellte Angebote, etwa Youtube-Prediger, TikTok-Videos, Instagram-Stories oder extremistische TelegramGruppen. Neben bundesweit bekannten salafistisch-jihadistischen Protagonisten, die für die Gewinnung neuer Anhänger:innen offen auf Social Media-Plattformen agieren, existieren zudem Szeneangehörige, die konspirativ und nicht selten in anonymer Form ihre islamistischen Inhalte unter dem Deckmantel einer Vermittlung vorgeblich allgemein anerkannter islamischer Glaubenslehren verbreiten. Für Islamist:innen mittleren Alters spielt jedoch weiterhin die persönliche Vernetzung mit Szenegrößen eine wichtige Rolle. Mit Blick auf die gesamtdeutsche Lage war häufiger zu beobachten, dass insbesondere von solchen Personen ein erhöhtes Gefahrenpotenzial ausgeht, bei denen religiöser Extremismus auf psychische Erkrankungen trifft und es in diesem Zusammenhang zu Gewalttaten oder deren Vorbereitung kommt. Gerade diese Personengruppe ist in besonderem Maße anfällig für emotionalisierende Ereignisse, die zu einem - subjektiv empfundenen - Handlungsdruck bei den Betroffenen führen können, auch wenn kein unmittelbarer Bezug zur primär unterstützten Ideologie bzw. Organisation besteht. Der zweite wesentliche Teil der jihadistischen Szene in Bremen umfasst Personen, die terroristische Organisationen im syrischen Bürgerkriegsgebiet unterstützen. Nach der Zerschlagung des sog. "IS"-Kalifats und der Inhaftierung seiner Kämpfer:innen und Unterstützer:innen vor Ort ist die Anzahl der Ausreisen in diese Gebiete zum Zwecke der Teilnahme an Kampfhandlungen deutlich zurückgegangen. Zeitgleich wurden in Deutschland Exekutivmaßnahmen gegen lokale Strukturen durchgeführt und diese so 120 ISLAMISMUS an der offenen Betätigung, insbesondere Personen zu radikalisieren und zur Ausreise zu bewegen, gehindert. Diese Entwicklung führte zu einer Veränderung der Unterstützungshandlungen auch in Bremen. In den sozialen Netzwerken hat sich zuletzt eine Szene herausgebildet, welche realweltlich zum Teil in Bremen wohnhaft ist und online Spenden einwirbt. Dadurch wird ein überregionaler Adressat:innenund Unterstützer:innenkreis erreicht. In den meisten Fällen erfolgen diese Spendenaufrufe, um insbesondere Frauen und Kinder, welche in kurdischen Camps inhaftiert sind, zu unterstützen oder ihnen die Flucht zu ermöglichen. So wird in der Regel um Hilfe für "Schwestern" gebeten. Dass es sich hierbei um Jihadistinnen handelt, welche in der Vergangenheit den sog. "IS" aktiv unterstützt haben und weiterhin dessen Ideologie anhängen, ist diesen Spendensammler:innen und in Teilen auch den Spender:innen selbst bewusst. Ob das Spendenaufkommen tatsächlich ausschließlich den Frauen und Kindern zukommt oder auch zur Finanzierung von verbliebenen "IS"-Strukturen in Syrien dient, ist nicht immer eindeutig. Es lässt sich zudem beobachten, dass die Unterstützer:innen solcher Kampagnen diese nicht ausschließlich finanziell fördern, sondern wiederum auf eigenen Kanälen den ideologischen Unterbau salafistisch-jihadistischer Prägung mitliefern. Zur Aufklärung der Spendenaktivitäten und der dahinter stehenden Netzwerke steht das LfV im Austausch mit anderen Sicherheitsbehörden, zivilgesellschaftlichen Akteur:innen und Verbänden. Das jihadistische Personenspektrum setzt sich sowohl aus männlichen als auch weiblichen Personen zusammen. Während die männlichen Personen oftmals in die Planung und Durchführung von jihadistischen Gewalttaten im Inund Ausland involviert sind, bilden die Frauen ein stabilisierendes Netzwerk, indem sie durch Spendensammlungen, Heiratsvermittlung, Unterstützungen im Radikalisierungsprozess und Bereitstellen einer Infrastruktur die Voraussetzungen für die Existenz und Vernetzung der jihadistischen Szenen schaffen und die auf Gewaltausübung gerichteten Taten so zielgerichtet unterstützen. Mit teils sehr eigenständig und proaktiv agierenden Akteurinnen geht auch von den weiblichen Personen sowohl in Bremen als auch bundesweit ein erhebliches Gefährdungspotenzial aus, welches sich keinesfalls auf die reine Unterstützung männlicher Szeneangehöriger beschränkt. Bremer Ausreisen nach Syrien und Irak Den Bremer Sicherheitsbehörden sind 33 Personen bekannt, die seit 2014 in die Region Syrien und Irak ausgereist sind, um sich dort agierenden jihadistischen Organisationen, mehrheitlich dem "IS", anzuschließen. Nahezu alle bekannt gewordenen Ausreisesachverhalte aus Bremen lassen klare Bezüge der jeweiligen Personen zu unterschiedlichen Bereichen der salafistischen Szene Bremens erkennen. Nicht in allen Fällen war die Ausreise erfolgreich und teilweise erfolgte eine Festnahme bzw. Abschiebung aus dem syrisch-türkischen Grenzgebiet durch die dortigen Behörden. Mindestens sechs ISLAMISMUS 121 der aus Bremen Ausgereisten sollen bereits ums Leben gekommen sein. Im Jahr 2022 erfolgten keine Ausreisen. Jedoch kam es im Jahr 2022 deutschlandweit zu Rückholaktionen aus den kurdischen Camps und irakischen Gefängnissen. Unter den zurückgeführten Personen befand sich auch eine Bremerin mit ihren fünf Kindern. Die Ausreise nach Syrien erfolgte im April 2014 gemeinsam mit ihrem Ehemann, welcher kurz nach der Ausreise ums Leben kam. Sodann lebte die Bremer Jihadistin mehrere Jahre im Herrschaftsgebiet des "IS". Seit Anfang 2019 bis zu ihrer Rückführung nach Bremen hielt sie sich in verschiedenen kurdischen Camps auf. Gegen sie ist bei der Generalstaatsanwaltschaft Hamburg ein Strafverfahren u. a. wegen Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch gem. SS 9 VStGB anhängig. Eine im Vorjahr zurückgeführte Bremerin wurde im Berichtszeitraum rechtskräftig verurteilt. Der Strafprozess gegen sie begann am 19. Mai 2022 vor dem Hanseatischen Oberlandesgericht in Hamburg. Ihr wurde vorgeworfen, sich als Mitglied an einer terroristischen Vereinigung im Ausland (SSSS 129a und 129b StGB), dem sog. "IS", beteiligt und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (SS 7 VStGB) begangen zu haben. Die Verurteilte war 2014 nach Syrien ausgereist, um sich dem "IS" anzuschließen. Sie war dort nacheinander mit mehreren "IS"-Kämpfern verheiratet, erzog ihre vor Ort geborenen Kinder im Sinne der "IS"-Ideologie und hielt zusammen mit einem Ehemann eine Jesidin als Sklavin, welche regelmäßig misshandelt wurde. Das Gericht verurteilte die Angeklagte am 27. Juli zu einer Gesamtfreiheitstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten. Sie ist damit die erste "IS"-Rückkehrerin, die in erster Instanz neben Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Beihilfe zu Kriegsverbrechen auch wegen Beihilfe zum Völkermord an der Religionsgemeinschaft der Jesiden verurteilt wurde. Die Problematik der Rückkehrer:innen spielt wiederkehrend eine herausragende Rolle und stellt eine der größten Herausforderungen für das LfV Bremen im Phänomenbereich Islamismus dar. Nach Syrien ausgereiste Bremer:innen haben für eine gewisse Zeit Anschluss an terroristische Gruppierungen gefunden, mit ihnen sympathisiert und diese häufig auch durch militärisches oder sonstiges Engagement unterstützt. Es ist daher zu befürchten, dass diese Personen und auch ihre Kinder erheblich ideologisch indoktriniert wurden. Aus diesem Grund sind sie für die deutschen Sicherheitsbehörden nach ihrer Rückkehr nach Deutschland von besonderer Relevanz. Das Ausmaß der Traumatisierung, das der Aufenthalt in den umkämpften Regionen besonders für dort aufgewachsene Kinder mit sich bringt, ist bislang kaum absehbar. In Fällen der Rückkehr ist eine sehr enge Kooperation mit allen beteiligten Behörden unverzichtbar. Das LfV Bremen arbeitet in diesem Bereich im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben eng mit staatlichen und nichtstaatlichen Deradikalisierungsund Beratungsstellen zusammen (siehe Kapitel 2, "KODEX"). 122 ISLAMISMUS Aktuell sind 15 der aus Bremen ausgereisten Personen wieder zurückgekehrt. Darunter befinden sich jedoch auch Personen, deren Einreise nach Syrien fehlgeschlagen ist bzw. durch die Sicherheitsbehörden vereitelt und eine Abschiebung bzw. Rückführung veranlasst wurde. Islamistische nordkaukasische Szene (INS) Als Nordkaukasus wird ein mehrheitlich muslimisch geprägtes Gebiet im Süden Russlands bezeichnet, das u. a. Dagestan und Tschetschenien als Republiken der Russischen Föderation umfasst. Historisch betrachtet ist der Nordkaukasus von zahlreichen Konflikten geprägt, die sich in der jüngeren Vergangenheit insbesondere in den beiden Tschetschenienkriegen manifestierten. Auslöser für den ersten Tschetschenienkrieg waren Unabhängigkeitsbestrebungen der tschetschenischen Bevölkerung und ein separatistischer Kampf gegen Russland. Im weiteren zeitlichen Verlauf vermischten sich diese zunehmend mit religiösen Motiven. Dem Salafismus zuzurechnende Personen gewannen an Einfluss auf den Konflikt und verfolgten das Ziel, auch unter Anwendung von Gewalt, einen Gottesstaat in der Region aufzubauen. So etablierten sich verschiedene jihadistische Gruppierungen im Nordkaukasus und der einstig nationalistische Unabhängigkeitskampf wandelte sich sukzessive in einen regionalen Jihad, der letztlich zum zweiten Tschetschenienkrieg führte. Im Jahr 2007 rief der inzwischen getötete Doku Umarow das kaukasische Emirat aus, das für zahlreiche Terroranschläge verantwortlich gemacht wird und später dem sog. "IS" die Treue schwur. Der Wirkungskreis von Islamist:innen nordkaukasischer Herkunft ist nicht nur auf den Nordkaukasus begrenzt. Zahlreiche Nordkaukasier:innen reisten in die Jihadgebiete in Syrien und im Irak, um sich dort an Kampfhandlungen des "IS" zu beteiligen. Unter den ausländischen Kämpfenden nehmen sie eine herausgehobene Stellung ein, da sie oftmals, den Tschetschenienkriegen geschuldet, auf umfassende militärische Fähigkeiten und Kampferfahrungen zurückgreifen konnten. So existierte etwa innerhalb des "IS" ein kaukasisch-dominierter Kampfverband namens "Katiba Badr", dem sich in der Vergangenheit auch Tschetschenen aus Bremen anschlossen. Im März 2021 wurde eine der ausgereisten Personen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland aus der bremischen Haft heraus in die Russische Föderation abgeschoben. Auch nach dem faktischen Ende des sog. "IS"-Kalifats in Syrien geht weiterhin ein nicht zu unterschätzendes Gefährdungspotenzial von nordkaukasischen Islamist:innen bzw. Jihad-Rückkehrenden aus. Als gut ausgebildete, kampferfahrene und gewaltbereite Einzeltäter oder Kleingruppen können sie radikalisierend auf einzelne Personen in ihrem Umfeld wirken und sich dabei auf die vorhandenen Strukturen der hiesigen Diaspora stützen. Mehrere islamistisch motivierte Gewalttaten der vergangenen Jahre ISLAMISMUS 123 verdeutlichten außerdem, dass von der Anhängerschaft der islamistischen nordkaukasischen Szene vereinzelt auch für westliche Staaten eine reale Gefahr ausgeht. Zum besonderen Gefährdungspotenzial trägt darüber hinaus die generelle Affinität vieler Angehöriger der islamistischen nordkaukasischen Szene zu Waffen und eine oftmals enge Verflechtung mit Strukturen der organisierten Kriminalität bei, die auch in Bremen beobachtet werden konnte. Im Berichtsjahr 2022 ist die Teilnahme von Tschetschenen an Kampfhandlungen im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine besonders hervorzuheben. Im Vordergrund dieser Kriegsbeteiligung stehen die für die russische Seite nutzbaren, militärischen Fähigkeiten der tschetschenischen Kampfeinheiten. Gleichwohl betonte der Präsident Tschetscheniens, Ramsan Kadyrow, welcher die Teilrepublik als Diktator führt, dass der Einsatz der tschetschenischen Einheiten eine "gottgefällige Mission" sei. Eine Machtressource Kadyrows ist eine spezielle Art des (Staats-)Islamismus, durch den Minderheiten unterdrückt werden und der auch eine Motivation in der Kriegsbeteiligung darstellt. So spricht Kadyrow von "Satanisten" auf ukrainischer Seite, die es zu bekämpfen gelte. So wird die Kriegsbeteiligung auch mit religiösen Motiven begründet. Diese Begründung wurde vom tschetschenischen Parlamentssprecher Magomed Daudov im Sommer 2022 bekräftigt. Die tschetschenischen Einheiten würden in erster Linie für den Islam kämpfen. Für die tschetschenische bzw. nordkaukasische Diaspora in Westeuropa könnte die Kriegsbeteiligung emotionalisierend wirken. Zudem wird darauf verwiesen, dass auch auf ukrainischer Seite tschetschenische Einheiten kämpfen. Diese unterstützen jedoch nicht Kadyrow und das derzeit existierende System in Tschetschenien, sondern streben einen eigenen, von der Russischen Föderation unabhängigen Staat an und nutzen die Kampfhandlungen in der Ukraine dazu, den russischen Kräften Schaden zuzufügen. Die islamistische nordkaukasische Szene in Bremen, der ein mittleres, zweistelliges Personenpotenzial zugerechnet wird, weist keine förmlichen Strukturen oder Führungspersonen auf und verfügt auch nicht über eine eigene Moschee. Ihre Anhänger:innen besuchen in der Regel wohnortnahe Moscheen anderer Träger (z. B. türkische oder arabische Gemeinden). Jedoch ist zu beobachten, dass in der Regel eine weitestgehende Abschottung gegenüber Menschen anderer Ethnien in den besuchten Moscheegemeinden und selbst gegenüber anderen Islamist:innen stattfindet. Das Kontaktspektrum der Szene ist häufig durch weitläufige, zum Teil europaweite Netzwerke gekennzeichnet und kann maßgeblichen Einfluss auf potenzielle Radikalisierungsverläufe nehmen. Verbindende Elemente sind hierbei neben der Religion vor allem die ethnische Herkunft und damit verbunden ein traditionelles Werteverständnis. Darüber hinaus spielen auch niedrigschwellige Faktoren des Zusammenhalts eine Rolle: Die ausgeprägte Kampfsportaffinität beispielsweise, die in der (islamistischen) nordkaukasi- 124 ISLAMISMUS schen Szene kulturell und gesellschaftlich seit vielen Jahren gewachsen ist, ist sehr oft ein verbindendes Element. Im Rahmen von Kampfsportveranstaltungen und gemeinsamen Trainingseinheiten nehmen Personen der Szene zueinander Kontakt auf und werben außerdem Jugendliche und junge Erwachsene als neue Anhänger. Die sportliche Betätigung mischt sich mit religiös-ideologischen Inhalten und führt dazu, dass sich Szeneangehörige radikalisieren können. Auch den sozialen Medien kommt in der Radikalisierung junger nordkaukasischer Menschen eine besondere Bedeutung zu. Durch die einfachen Vernetzungsmöglichkeiten der Social-Media-Portale kommen sie schnell in Kontakt mit szenerelevanten Personen. Ein persönliches Kennverhältnis zwischen den Personen ist daher nicht zwangsläufig gegeben bzw. in vielen Fällen tatsächlich nicht vorhanden. Der Großteil der Kommunikation findet über verschiedene Messengerdienste statt. Diese Entwicklung führt zu einer Verlagerung der nachrichtendienstlichen Tätigkeit in die digitalen Räume, in denen personelle Verflechtungen schneller erkennbar werden können als in der realen Welt. 2022 wurde eine Chatgruppe des Messenger-Dienstes Telegram bekannt, in welcher Propagandamaterialen des "IS" geteilt und Pläne zu jihadistischmotivierten Ausreisen und Anschlägen in Deutschland besprochen wurden. Die Gruppenmitglieder waren über das Bundesgebiet verteilt wohnhaft, in den meisten Fällen bestand nur ein digitales "Kennverhältnis". Als Wortführer innerhalb dieser Gruppierung trat eine minderjährige, tschetschenisch-stämmige Person aus Bremerhaven in Erscheinung. Im weiteren Verlauf der Ermittlungen kam es zu mehreren Festnahmen, u. a. des Gruppenmitglieds aus Bremerhaven. Ein Verfahren wegen der mitgliedschaftlichen Betätigung in einer terroristischen ausländischen Vereinigung nach SSSS 129a und 129b StGB ist derzeit beim Generalbundesanwalt anhängig. 7.2 Salafismus Beim Salafismus handelt es sich um eine besonders fundamentalistische Ausprägung des Islamismus. Hinsichtlich seiner Anhängerschaft ist ein leichter Rückgang zu verzeichnen. Dies liegt zum einen an den Präventionsund Deradikalisierungsangeboten des Landes Bremen, zum anderen daran, dass die salafistische Propaganda durch Maßnahmen der Sicherheitsbehörden, wie beispielsweise Vereinsverbote und Strafverfahren, an Wirksamkeit und Attraktivität verloren hat. Darüber hinaus ist eine exakte Bezifferung des salafistischen Personenpotenzials aufgrund von strukturellen Besonderheiten der Szene schwierig. So weisen zahlreiche salafistische Personenzusammenschlüsse keine festen Strukturen auf. Gleichzeitig finden sich Salafist:innen in anderen islamistischen Organisationen und Einrichtungen oder sind in Teilen ausschließlich im Internet aktiv. ISLAMISMUS 125 Salafismus leitet sich vom arabischen Begriff Salafiyya ab, der eine Strömung des Islams bezeichnet, die sich ideologisch an den sog. Salaf as-Salih ("die frommen Altvorderen"), also den ersten drei Generationen der Muslime, orientiert. Salafist:innen versuchen deren Lebensweise detailgetreu zu kopieren. Die Anhängerschaft dieser Ideologie ist der Überzeugung, dass Probleme der Gegenwart durch die Rückbesinnung auf den vermeintlich "wahren Ur-Islam" gelöst werden können. Anpassungen der Islamauslegung an veränderte gesellschaftliche und politische Gegebenheiten werden durch die Salafist:innen als "unislamisch" kategorisch abgelehnt und führen - so die Vorstellung - zwangsläufig zum "Unglauben". Die Ideologie des Salafismus lässt sich in eine politische und eine jihadistische Strömung unterteilen. Die gewaltorientierte jihadistische Variante ist gleichzusetzen mit dem im vorherigen Kapitel behandelten islamistischen Terrorismus. Vertreter:innen des politischen Salafismus hingegen stützen sich auf intensive Propagandatätigkeiten, um ihre extremistische Ideologie zu verbreiten sowie politischen und gesellschaftlichen Einfluss zu gewinnen. Diese Missionierungstätigkeit wird von ihnen als da'wa bezeichnet. Eine fundamentalistische Religionsausübung ist nicht zwangsläufig verfassungsfeindda'wa-Arbeit da'wa bedeutet wörtlich übersetzt "Ruf" und kann als "Einladung zum Islam" verstanden werden. Einige Muslim:innen sehen es als ihre besondere Pflicht an, andere Menschen über den Islam aufzuklären und sie auf diese Weise zu bekehren. So heißt es im Koran (Sure 16, Vers 125): "Ruf [die Menschen] mit Weisheit und einer guten Ermahnung auf den Weg deines Herrn und streite mit ihnen auf eine möglichst gute Art." Nach islamischer Lehre erfolgt die Bekehrung ohne Androhung oder Anwendung von Gewalt. Insofern sind da'wa-Aktivitäten ohne extremistischen Hintergrund von der Religionsfreiheit gedeckt und für die Arbeit des Verfassungsschutzes entsprechend irrelevant. lich. Da jedoch der politische Salafismus seiner Islaminterpretation absoluten Geltungsanspruch einräumt, stellt er eine gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtete extremistische Bestrebung dar. So lehnen Salafist:innen die Demokratie als politisches System grundsätzlich ab, da nur Gott Gesetze erlassen dürfe. Des Weiteren verletzen die in der salafistischen Rechtsauffassung vorgeschriebenen Körperstrafen für Kapitalverbrechen, die Legitimierung der körperlichen Züchtigung der Frau und die Beschränkung ihrer Freiheitsrechte sowie die fehlende Religionsfreiheit die im Grundgesetz konkretisierten Grundrechte. 126 ISLAMISMUS Salafistische Aktivitäten in Deutschland Die salafistische Szene in Deutschland hat sich in den letzten Jahren intern in großen Teilen zerstritten und öffentlichkeitswirksame Aktionen gingen weitestgehend zurück. Grund hierfür war zum einen ein interner Disput über die Legitimität des sog. "IS" und andererseits ein gestiegener Druck durch sicherheitsbehördliche Maßnahmen. So wurden nahezu alle überregional tätigen Vereinigungen durch das BMI verboten. 2022 hat das Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen den Verein "Islamischer Kulturverein Nuralislam e.V." verboten, da sich dieser gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung richtete. Die Funktionäre des Vereins waren Vertreter der salafistisch-jihadistischen Ideologie und standen dem "IS" nahe. Sie haben laut Verbotsverfügung junge Menschen entsprechend der salafistisch und jihadistisch geprägten Ausrichtung des Vereins radikalisiert. In den letzten Monaten und Jahren ist zunehmend ein Erstarken insbesondere der politischen salafistischen Szene festzustellen. Im Zentrum stehen männliche Prediger als "Szenegrößen", die durch Deutschland reisen und in salafistischen Moscheevereinen Vorträge halten. Die Inhalte dieser Vorträge reichen von allgemeinen islamischen Themen, über legalistische Äußerungen bis hin zu strafrechtlich relevanten Aussagen. Aufgrund ihrer Erfahrungen mit den Sicherheitsbehörden achten solche Prediger sehr genau darauf, welche Aussagen sie im öffentlichen Raum treffen und versuchen, so unauffällig wie möglich zu agieren. Dieses Verhalten stellt im Hinblick auf ein mögliches Unterbinden der Vortragstätigkeiten durch die deutschen Sicherheitsbehörden eine Herausforderung dar. Darüber hinaus erschließen sich überregionale salafistische Prediger aktuell angesagte Social-Media-Plattformen. Zu nennen ist hier speziell die App TikTok. Sie wird hauptsächlich von eher jüngeren Personen insbesondere zur Unterhaltung verwendet. Die Besonderheit der App begründet sich im Unterschied zu anderen Social-Media-Apps darin, dass per Algorithmus ausgewählte Videos abgespielt werden, ohne dass Nutzer:innen diese aktiv auswählen müssen. Mit einer Wischbewegung gelangen sie zum nächsten Clip. Durch diese Funktion werden Zielgruppen erreicht, die sich gar nicht aktiv für die Inhalte des algorithmusbasierten Clips entschieden haben. Für Islamist:innen hat das wiederum den Vorteil, dass sie ihre Botschaften niedrigschwellig an sehr junge Personen weitergeben können, die sich aufgrund ihres Alters möglicherweise auf einer Identitätssuche befinden und islamistische Inhalte nicht direkt als solche einordnen können. Im Jahr 2022 ließ sich feststellen, dass immer mehr salafistische Prediger eben diese App nutzen und in einer hohen Frequenz recht kurze Videoclips produzieren und veröffentlichen. Inhaltlich werden vermeintliche "Zuschauerfragen" beantwortet. Die Fragen betreffen religiöse Belange sowie die Glaubensauslegung im Alltag ISLAMISMUS 127 und lebensnahen Bereichen. Die Antworten der entsprechenden salafistischen Prediger fallen, je nach Dauer des Videos, unterschiedlich aus. Bei sehr kurzen Clips (unter 20 Sekunden) wird die Frage oftmals nur mit "erlaubt" (halal) oder "nicht erlaubt" (haram) beantwortet. Bei längeren Videos wird die Antwort der salafistischen Ideologie entsprechend erläutert. Hier zeigt sich die sehr einseitige salafistische Sichtweise, nämlich die Einteilung in "Richtig" und "Falsch", in "Gut" und "Böse", in Glauben und vermeintlichen Unglauben. Identitätssuchende und leicht beeinflussbare Nutzer:innen der App TikTok werden durch solche Inhalte angesprochen, setzen sich bei Interesse näher mit den Predigern oder der dahinterstehenden Organisationen auseinander und besuchen für darüberhinausgehende Informationen möglicherweise auch andere Webseiten oder Plattformen, wie z. B. die entsprechenden Instagram-Profile und YoutubeKanäle. TikTok wird außerdem zur Generierung von anlassbezogenen Spenden genutzt und es ist davon auszugehen, dass die Reichweitenstärke einiger salafistischer Prediger auf TikTok einen erheblichen Beitrag zum Erfolg besagter Spendenkampagnen geleistet hat. Frauen agieren gemäß der salafistischen Ideologie im Hintergrund. Sie sind in erster Linie für Haushalt, Kindererziehung und die Unterstützung des Ehemannes zuständig. In den letzten Jahren haben sich salafistische Frauen jedoch auch andere Aktivitätsbereiche erschlossen. So leisten sie Missionierungsarbeit, im Gegensatz zu salafistischen Männern allerdings weniger öffentlich. Gemäß der Geschlechtertrennung werben Frauen andere Frauen und Mädchen an und nutzen dafür niedrigschwellige Angebote, z. B. Chatgruppen oder Treffen, in denen sich auch über häusliche Themen ausgetauscht wird. Dass sich hinter solchen Angeboten aber auch eine religiöse Beratung entsprechend der salafistischen Ideologie verbirgt, ist den angesprochen Frauen in der Regel zunächst nicht bewusst. Insgesamt befindet sich die salafistische Szene in einer Art "Konsolidierungsphase" und sucht für sich selbst nach einer neuen Identität, neuen Führungspersonen und neuen Strategien. Teile der Szene scheinen sich auf verschiedenste Weise zu professionalisieren. Salafistische Geschäftstätige versuchen etwa, die Ideologie zur wirtschaftlichen Gewinnerzielung zu instrumentalisieren (z. B. durch den Verkauf von Büchern oder die Gründung von Unternehmen, die salafistisch geprägtes "islamisches LifestyleCoaching" anbieten). Die Verknüpfung der Ideologie mit marktwirtschaftlichen und finanziellen Interessen zeigt, dass es auch Personen gibt, die ein langfristiges - zum Teil mutmaßlich nicht primär ideologisch motiviertes - Interesse an der professionellen Verbreitung der salafistischen Ideologie haben. Nachdem die salafistische Szene Anfang der 2000er-Jahre insbesondere eine Protestkultur gegen die Elterngeneration darstellte, wird zunehmend das Phänomen der sog. 128 ISLAMISMUS "salafistischen Sozialisation" sichtbar. Hierbei versuchen salafistische Familien ihre Kinder im Sinne der grundgesetzwidrigen Ideologie zu erziehen. Dabei werden Angebote salafistischer Moscheen genutzt, aber auch im privaten Raum eigens hierfür produzierte Kinderbücher, Hörspiele und Apps verwendet. Die große Gefahr besteht hierbei in der Indoktrinierung von Kindern, welche einer "Angstpädagogik" ausgesetzt sind. Dabei wird ihnen vermittelt, dass ihr alltägliches Umfeld ihnen gegenüber feindlich eingestellt sei. Die Auswirkungen einer salafistischen Weltanschauung äußern sich oft im Kitaund Schulbereich. In solchen Fällen ist zumeist eine pädagogische Lösung, gegebenenfalls unter Einbeziehung einer zivilgesellschaftlichen Beratungsstelle (Siehe Kapitel 2 "adero"), erforderlich. Der Verfassungsschutz steht hierbei beratend zur Seite. Insgesamt ist die salafistische Sozialisation ein Thema von gesamtgesellschaftlicher und nicht nur sicherheitsbehördlicher Tragweite. 7.2.1 Salafismus im Land Bremen Die salafistische Szene in Bremen zeichnet sich, wie in ganz Westeuropa, durch ihre Heterogenität aus. So existieren klassisch strukturierte Milieus, z. B. innerhalb eines Moscheevereins, aber auch Kleingruppen, lose Personenzusammenschlüsse und Einzelpersonen. Der salafistischen Szene in Bremen gehören etwa 470 Anhänger:innen an. Der Großteil lässt sich dem gewaltfreien politischen Salafismus zurechnen. Ungefähr 30 % hängen dem jihadistischen Salafismus an, der unterschiedliche Abstufungen einer Gewaltorientierung aufweisen kann. Diese reichen von gewaltunterstützend bis hin zu gewalttätig. Im Berichtsjahr 2022 ist die Gesamtzahl der Salafist:innen in Bremen erneut gesunken. Diese Entwicklung ist auf den stetigen Ausbau bestehender Präventionsnetzwerke und die zielgruppenorientierte Durchführung von Präventionsmaßnahmen aller daran beteiligten Behörden des Landes Bremen in den letzten Jahren zurückzuführen. Außerdem führte der erhöhte Verfolgungsund Aufklärungsdruck der Sicherheitsbehörden zu einem sehr viel vorsichtigeren Verhalten der salafistischen Szene. Radikale Aussagen in der Öffentlichkeit sind seltener festzustellen. Teilweise erfolgte ein Rückzug gewisser Protagonist:innen der Szene in private Bereiche, wodurch zwar einerseits die Aufklärung erheblich erschwert, andererseits aber auch die unmittelbare und sichtbare Reichweite der Ideologieverbreitung vermindert wird, sodass die umfangreichen sicherheitsbehördlichen Bemühungen der letzten Jahre Erfolge zeigen. Analog zu den Entwicklungen im Bundesgebiet ist festzustellen, dass auch Bremer Akteur:innen der salafistischen Szene verstärkt im Internet agieren. Social-MediaPlattformen und Messenger-Dienste dienen neben der klassischen Kommunikation ISLAMISMUS 129 auch der Verbreitung salafistischer Inhalte sowie dem Werben neuer Anhänger:innen. In Teilen ersetzt die digitale Vernetzung realweltliche Kennverhältnisse vollständig. Die Möglichkeit, anonym zu bleiben und verschlüsselt kommunizieren zu können, ist aus Sicht der konspirativ agierenden salafistischen Nutzer:innen von Vorteil, stellt das LfV Bremen jedoch vor erhebliche Herausforderungen. Die Beobachtung salafistischer Bestrebungen im Internet wird weiterhin einen Arbeitsschwerpunkt darstellen. Street-da'wa-Aktionen in Bremen waren in den letzten Jahren nicht mehr wahrnehmbar. Das lag maßgeblich am Verbot der Organisation "Die wahre Religion" (2016), welche Bekanntheit durch die deutschlandweiten Koranverteilungsstände unter der Bezeichnung "LIES!" erlangt hatte und der vorgelagerten öffentlichen Debatte über die Gefahren solcher Koranverteilungen durch salafistische Akteur:innen. Im Jahr 2022 fanden wieder vereinzelt Informationsstände statt, bei denen vermeintlich über den Islam informiert bzw. aufgeklärt werden sollte. Dass es sich bei den Veranstaltern jedoch zum Teil um salafistische Szenegrößen handelt (siehe nachfolgendes Kapitel), die im Sinne ihrer eigenen ideologischen Auffassung informieren, bleibt gegenüber der angesprochenen Öffentlichkeit in der Regel verborgen. Im Rahmen solcher Informationsaktionen werden Broschüren, Hefte und Bücher verteilt, welche entweder islamistischen Inhalts sind oder von Autoren bzw. Übersetzern geschrieben wurden, die eine salafistische Weltsicht vertreten. Bei einem organisationsungebundenen Informationsstand wurde neben einer salafistischen Broschüre, welche die islamische Gesetzgebung über das Grundgesetz stellt, auch eine Broschüre verteilt, die als apologetisch, d.h. den Glauben rechtfertigend und pseudowissenschaftlich, bewertet werden kann. Sie erweckt den Eindruck, eine Art Lehrbuch zu sein und versucht, die Wissenschaftlichkeit des Korans durch wissenschaftliche Erkenntnisse zu beweisen. Auch wenn die Lektüre keine extremistischen Inhalte ausweist, so ist sie selbst bzw. deren Verbreitung kritisch zu betrachten, zumal es sich bei dem Verteiler der Broschüre um einen Bremer Salafisten handelt. Diese Aktionen bergen die Gefahr, dass gerade Jugendliche und junge Erwachsene durch die Kontaktaufnahme zu denjenigen, die den Stand betreuen, in salafistische Strukturen eingebunden oder über ihn zum Besuch eines entsprechenden Moscheevereins verleitet werden könnten. 7.2.2 "Islamisches Kulturzentrum Bremen e.V." (IKZ) Der salafistische Moscheeverein "Islamisches Kulturzentrum Bremen e.V." (IKZ) ist seit seiner Gründung im Jahr 2001 Anlaufstelle für Personen der salafistischen Szene in Bremen und aus dem gesamten Bundesgebiet. Das wöchentlich stattfindende Freitagsgebet verzeichnet in der Regel 400 bis 500 Teilnehmer:innen, welche größtenteils aus Nordafrika, der Türkei und vom Balkan stammen und darüber hinaus nahezu aus- 130 ISLAMISMUS nahmslos Migrationsbiografien aufweisen. Neben dem Gebetsraum nutzt das "IKZ" auch weitere Räumlichkeiten im Moscheegebäude am Breitenweg, welche im Jahr 2021 aufgrund pandemiebedingter Vorgaben ursprünglich nur temporär angemietet wurden. Im Jahr 2022 verstärkte und professionalisierte das "IKZ" seine Online-Präsenz erneut und stellte auf seinen öffentlichen Social-Media-Profilen Live-Übertragungen von Predigten und Vorträgen aus dem Gebetsraum bereit. Dadurch konnte eine weitere und örtlich nicht primär auf Bremen beschränkte Zielgruppe erreicht werden. Die im "IKZ" abgehaltenen Predigten bestehen inhaltlich teilweise aus gemäßigten religiösen Themen, richten sich jedoch oftmals auch gegen zentrale Verfassungsgrundsätze und rufen zu einer bewussten Abund Ausgrenzung gegenüber Nichtmuslim:innen bzw. vermeintlichen "Ungläubigen" auf. Neben einer Ablehnung der westlichen Rechtsund Werteordnung belegen auch die Verbreitung antisemitischer Inhalte und die Propagierung der Ungleichwertigkeit der Religionen die islamistische Ausrichtung des "IKZ". Die Predigten offenbaren typische Wertevorstellungen und Feindbilder der salafistischen Ideologie und zielen darauf ab, bei den Zuhörern ein Überlegenheitsgefühl hervorzurufen und Andersgläubige abzuwerten. Diejenigen Muslim:innen, die ein von salafistischen Grundsätzen abweichendes Islamverständnis pflegen, seien in den Augen der Salafist:innen keine "wahren" Muslim:innen. In einer Freitagspredigt rief der Imam der Moschee die Anwesenden beispielsweise dazu auf, ihre Töchter ausschließlich mit "gläubigen, vertrauenswürdigen Männern" zu verheiraten, welche nur innerhalb des "IKZ" zu finden seien. Befolge man seinen Rat nicht, so prophezeit er, dass die eigenen Töchter verloren gingen, sie in eine Kirche gebracht und die eigenen Enkelkinder Schweinefleisch essen würden. An diesem Beispiel zeigen sich die salafistische Ausrichtung sowie ein entsprechendes Islamverständnis des "IKZ". Allen Gläubigen, die sich diesen Vorgaben nicht unterordnen, wird durch den Imam bildhaft mit dem Abfall vom muslimischen Glauben gedroht. Vor dem Hintergrund der vorgenannten Aussagen verfügte die Innenbehörde im April 2021 die Ausweisung des Imams, u. a. mit der Begründung, dass er sich in seinen Predigten gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung wenden und die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden würde, indem er terroristische Vereinigungen unterstütze. Ferner habe er zum Hass gegen Teile der Bevölkerung aufgerufen. Der hiergegen gerichteten Klage des Imams gab das Bremer Verwaltungsgericht im Juli 2022 statt. Auf Antrag der Innenbehörde wurde in der Folge die Berufung gegen diese Entscheidung durch das OVG Bremen zugelassen und das Verfahren ist somit zum Zeitpunkt der Berichtserstellung weiter anhängig. ISLAMISMUS 131 Wie auch in den Jahren zuvor veranstaltete das "IKZ" in seinen Räumlichkeiten im Jahr 2022 eine Vielzahl an Vortragsveranstaltungen und Islamseminaren zu unterschiedlichen religiösen Themen. Als Gastdozenten wurden regelmäßig überregionale Prediger eingesetzt, bei denen es sich mehrheitlich um prominente Akteure der salafistischen Szene handelte. Insgesamt konnte eine intensivierte Vernetzung der bundesweiten salafistischen Moscheevereine untereinander festgestellt werden, die dem "IKZ" eine neue Form der Aufmerksamkeit von Anhänger:innen der salafistischen Ideologie auch außerhalb Bremens zuteilwerden ließ und dem Moscheeverein mehr Einfluss auf die Szene und ihren Diskurs verschaffte. So lag die Zahl der Seminarbesucher:innen teilweise bei bis zu 300 Personen. Obgleich sich ein überwiegender Anteil der Inhalte mit religiösen Themen befasste und die Prediger sich - vermutlich aus taktischer Zurückhaltung - in der Regel nicht öffentlich extremistisch äußerten, traf ein bundesweit aktiver Prediger der salafistischen Szene aus Berlin im Zuge seiner Vortragsveranstaltung im "IKZ" eine eindeutig antisemitische sowie homophobe und trans*feindliche Aussage. Demnach seien Menschen jüdischen Glaubens für die LGBTQ-Bewegung verantwortlich, obwohl sie Homosexualität selbst nicht befürworten würden. Der Grund dafür sei, so der Prediger, dass sie in islamischen Ländern Unheil verbreiten wollen. Flyer einer Vortragsveranstaltung im "IKZ" mit einem überDarüber hinaus führte er aus, dass das die gleichen Personen seien, regional bekannten Prediger die mit Flugzeugen Drogen über "bestimmten Gebieten" abwerfen würden, um die dortige Bevölkerung süchtig zu machen. Mit dieser Aussage bringt der Prediger nicht nur seine LGBTQ-feindliche Anschauung zum Ausdruck, ferner unterbreitet er seiner Anhängerschaft eine antisemitische Verschwörungstheorie, wonach die (muslimische) Gesellschaft mithilfe von Homosexualität und dem Einsatz von Drogen geschwächt werden soll. Die Tatsache, dass die Äußerungen des Gastpredigers in Form eines Videos auf dem Facebookprofil des Moscheevereins abrufbar sind, verdeutlicht, dass das "IKZ" Antisemitismus und LGBTQ-Feindlichkeit nicht nur duldet, sondern auch aktiv propagiert. Bei vereinzelten Islamseminaren im "IKZ" konnten begleitend dazu Street-da'wa-Aktionen durch Personen des salafistischen Spektrums in der Bremer Innenstadt festgestellt werden. Im Rahmen solcher Aktionen wurden neben Koranen auch Broschüren und Hefte extremistischer Personen und salafistischer Prediger mit in Teilen extremistischen Inhalten verteilt. Bekanntmachung einer Streetda'wa-Aktion auf einer SocialMedia-Plattform 132 ISLAMISMUS Um seine Anhänger:innen noch intensiver an den Moscheeverein zu binden, bot das "IKZ" wie in den Vorjahren Islamunterrichte für Männer, Frauen und Kinder unter Beachtung der Geschlechtersegregation an. Das "IKZ" ist stets darauf bedacht, einen breiten Personenkreis anzusprechen und richtet sämtliche Aktivitäten danach aus. Im Jahr 2022 veranstaltete das "IKZ" eine Unterrichtsreihe für Konvertiten. Die "unwissenden" Neu-Muslim:innen sollten mit einfachen Mitteln und niedrigschwelligen Angeboten in die Moschee gelockt werden. Dort wurden sie in die Gemeinschaft eingebunden und lernten in den besagten Unterrichten neben islamischem Grundwissen auch fundamentalistische bis hin zu salafistische Glaubensgrundsätze. Ihnen selbst ist diese Indoktrination häufig zunächst nicht bewusst. Ferner kam es im Jahr 2022 auch zu einem Ausbau der zunächst nicht primär religiösen Freizeitangebote der Moschee für Kinder und Jugendliche aller Altersklassen. Es ist davon auszugehen, dass entsprechende Aktivitäten auch dazu genutzt werden, den Kindern und Jugendlichen salafistische Ideologiefragmente näherzubringen und sie mittelbis langfristig an das "IKZ" zu binden. In seinen Räumlichkeiten am Breitenweg betreibt das "IKZ" eine hauseigene Bibliothek, die neben arabischsprachiger Literatur auch über eine große Anzahl an deutschsprachigen Büchern verfügt. Hierbei handelt es sich u. a. um salafistische Schriften oder Literatur salafistischer Autoren bzw. Verlage aus dem Inund Ausland. Die Bereitstellung solcher Bücher gehört zum da'wa Konzept des "IKZ" und dient dazu, die salafistische Ideologie weiterzuverbreiten. Anlässlich des muslimischen Fastenmonats Ramadan lud das "IKZ" erstmalig seit Beginn der Corona-Pandemie wieder zu einem gemeinsamen Fastenbrechen in der Moschee ein. Während des Ramadans wurden fast täglich Live-Übertragungen der Gebete auf den Social-Media-Profilen des "IKZ" bereitgestellt. 7.3 Legalistischer Islamismus Legalistische Organisationen verfolgen ihr Ziel einer mittelbis langfristigen Beseitigung des in Deutschland auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung beruhenden gesellschaftlichen und politischen Systems vordergründig im Rahmen der geltenden Gesetze. Sie bieten sich als Ansprechpersonen für Behörden, die Politik und zivilgesellschaftliche Einrichtungen an und versuchen, deren Einschätzungen und Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen, um so relevante Fürsprecher:innen und Unterstützer:innen zu gewinnen. Hierbei inszenieren sie sich als dialogbereit und distanzieren sich von jihadistischer Gewalt. Ohne das entsprechende Hintergrundwissen ist es deshalb, nicht zuletzt für auf kommunaler und Stadtteilebene tätige Akteur:innen, ISLAMISMUS 133 äußerst schwierig, die tatsächlichen Absichten dieser Organisationen zu identifizieren. Das LfV Bremen ist daher sowohl für staatliche als auch nichtstaatliche Stellen ansprechbar, um bei entsprechenden Einschätzungen hinsichtlich einer möglichen extremistischen Ausrichtung einer Organisation oder Gruppe zu unterstützen. 7.3.1 Muslimbruderschaft Bei der Muslimbruderschaft handelt es sich um die älteste und bekannteste Organisation des legalistischen Islamismus. Sie wurde 1928 von Hasan al-Banna (1906 - 1949) in Ägypten gegründet und expandierte seitdem in viele weitere Länder der muslimischen Welt. Die Mitglieder der Bruderschaft treffen sich in der Regel im Verborgenen und geben sich (je nach Land) nur selten offen als MuslimLogo der Muslimbruderschaft brüder zu erkennen. Die Muslimbruderschaft strebt auf politischem Weg ein Staatssystem islamistischer Natur an, in dem elementare Grundrechte nicht mehr gewährleistet werden. Auch wenn ihr in Teilen der Wissenschaft ein pragmatisches Politikverständnis und die Fähigkeit zum ideologischen Wandel nicht abgesprochen wird, so zeigen Analysen von Aussagen und Publikationen ihrer führenden Vertreter:innen und Institutionen, dass das Religionsverständnis der Muslimbruderschaft nach wie vor erwiesenermaßen extremistisch ist. Insbesondere Frauen und religiöse Minderheiten wären in einem Staat nach den Vorstellungen der Muslimbruderschaft nicht gleichberechtigt. Zudem wäre das Recht auf freie Meinungsäußerung und die sog. negative Religionsfreiheit, d. h. das Recht, einem religiösen Bekenntnis nicht zu folgen, stark eingeschränkt. Auch würde das Recht auf körperliche Unversehrtheit aufgrund von der mittelfristigen Einführung von Körperstrafen verletzt. Im ägyptischen Mutterland stellte die Muslimbruderschaft nach dem Sturz Husni Mubaraks im Jahre 2011 und den Wahlen 2012 mit Mohammed Mursi den ersten demokratisch gewählten Präsidenten des Landes. Nach nur einem Jahr an der Macht wurde die Muslimbruderschaft bereits 2013 gestürzt. Tausende Anhänger:innen der Bruderschaft wurden seitdem in Ägypten inhaftiert, sodass die Leitung der Organisation nun von untereinander zerstrittenen Büros außerhalb des Landes übernommen wurde. Die Machtkämpfe zwischen dem Londoner Büro (der "London Front") und dem Istanbuler Büro (der "Istanbul Front") werden seitdem auch medienwirksam ausgetragen. Nachdem am 4. November 2022 Ibrahim Munir, der Leiter der "London Front", verstarb, wurde Muhyiddin al-Zait zu dessen Übergangsnachfolger ernannt. Die Gruppe wolle auch nach Munirs Tod an ihrem Führungsanspruch innerhalb der Muslimbruderschaft festhalten. Bremer Anhänger:innen der Muslimbruderschaft reagierten bisher nicht öffentlich auf den Tod Munirs. 134 ISLAMISMUS Auch der Tod des weit über die Grenzen der Muslimbruderschaft bekannten Islamisten Yusuf al-Qaradawi gehört zu den für die Organisation wesentlichen Ereignissen des Jahres 2022. Al-Qaradawi war ein radikaler Fernsehprediger, Buchautor und wesentlicher Vordenker der Muslimbruderschaft, der im hohen Alter am 26. September 2022 in Doha (Katar) verstarb. Auch zum Tod Qaradawis konnten keine öffentlichen Reaktionen der Bremer Szene festgestellt werden. In Europa tritt die Muslimbruderschaft nicht offen auf und verfolgt auch weniger stark ausgeprägt das Ziel der Errichtung eines islamischen Staates. Vielmehr steht die Beeinflussung muslimischer Bevölkerungsgruppen in ihrem Sinne im Vordergrund der Bemühungen. Darüber hinaus versucht die Muslimbruderschaft sich als Interessenvertreterin für die Belange der Muslim:innen zu inszenieren. Hierfür nutzt sie verschiedene Organisationen, wie z. B. "Council of European Muslims" (ehemals "Federation of Islamic Organizations in Europe"), die nach außen jede Verbindung zur Muslimbruderschaft leugnen. In Deutschland gibt es zahlreiche Vereine, die der Muslimbruderschaft zugerechnet werden. Die bekannteste Organisation auf Bundesebene ist die "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e.V.", "DMG", (ehemals "Islamische Gemeinschaft in Deutschland"). Aktivitäten von Sympathisant:innen der Muslimbruderschaft in Bremen Im Bundesland Bremen konnten bisher Einzelpersonen festgestellt werden, die mit der Muslimbruderschaft sympathisieren. Zwischen ihnen bestehen teilweise Kennverhältnisse, es kann jedoch nicht von einer zusammenhängenden Gruppe gesprochen werden, die sich einer Moschee in Bremen zuordnen lässt. Darüber hinaus existieren Bezüge in das Bremer bzw. Bremerhavener Umland, d. h. die Sympathisant:innen der Muslimbruderschaft agieren über die Landesgrenzen Bremens hinaus und vernetzen sich. Es handelt sich bei diesen Personen zu einem überwiegenden Teil um vermeintlich gut integrierte Akademiker:innen mit gefestigten bürgerlichen Lebensentwürfen. Das ist insofern bedeutsam, da es zur Strategie der Muslimbruderschaft gehört, sich über angesehene Berufsgruppen Zugang zu gesellschaftlichen Schlüsselpositionen zu verschaffen und darüber Einfluss zu nehmen. Außerdem erreicht die im Vergleich zum Salafismus tendenziell intellektuell anspruchsvollere Ideologie der Muslimbruderschaft einen eher gebildeteren Personenkreis und ermöglicht damit ein subtileres Vordringen in muslimische bzw. nichtmuslimische Bereiche der westlichen Gesellschaft. Dies spiegelte sich 2022 auch darin wieder, dass sich verschiedene Gruppierungen in Bremen mit den Standardwerken der Muslimbruderschaft beschäftigten. Dazu gehörte u. a. das von Sayyid Qutb (1906 - 1966) geschriebene Werk "Zeichen auf dem Weg" (von 1964). Das Buch gilt als eines der wesentlichen Werke der Muslimbruderschaftsideologie und kann als eindeutig verfassungsfeindlich gewertet werden, da es die ISLAMISMUS 135 Demokratie sowie liberale Ideen als von Menschen gemachte Irrlehren ablehnt und stattdessen zu einem Jihad mit dem Ziel der Errichtung einer islamistischen Gesellschaftsordnung aufruft. So sei u. a. nach Qutbs Verständnis eine jede Herrschaft durch Menschen (selbst wenn diese von anderen Menschen gewählt würden) unfrei. Nur das Leben unter den Gesetzen Gottes biete Qutb zufolge ein Leben in Freiheit, wobei sich eben diese Gesetze aus einer extremistischen Interpretation des islamischen Rechts ergeben. Verfassungsfeindliche Konzepte, wie die Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Religionszugehörigkeit, werden in Qutbs Werk ebenso propagiert und gefordert wie die Abschaffung der Demokratie als Ganzes. Recherchen in den sozialen Medien belegen, dass sich die Bremer Sympathisant:innen der Muslimbruderschaft oft auch für salafistische Inhalte interessieren. Teilweise besuchen sie sogar salafistische Vereine wie etwa das "IKZ". 7.3.2 "Hizb ut-Tahrir" Die "Hizb ut-Tahrir" (HuT - "Partei der Befreiung") wurde 1953 durch den palästinensischen Islamgelehrten Taqi ad-Din al-Nabhani gegründet. Sie ist eine islamistische Organisation, die länderübergreifend agiert. Die "HuT" versteht den Islam als politisches System und wirbt für die Herstellung eines weltumspannenden Kalifats. Die Vorstellung der "HuT" eines solchen Systems ist mit den Werten einer modernen Demokratie unvereinbar. Die "HuT" selbst bezeichnet die Demokratie offen als "System des Unglaubens" und Wahlen als nicht mit dem Islam vereinbar. Sie vertritt somit klassisch-islamisLogo der "Hizb ut-Tahrir" tische Positionen. Das BMI hat die "HuT" 2003 u. a. aufgrund der Befürwortung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Belange sowie mit Blick auf ihren ausgeprägten Antisemitismus und aufgrund des Verstoßes gegen den Gedanken der Völkerverständigung verboten. Die "HuT" ist dennoch fortwährend bestrebt, ihre Anhängerschaft zu vergrößern und ihre Ideologie unter gemäßigten Muslim:innen zu verbreiten. In Deutschland bildeten sich auf Social-Media-Plattformen Gruppierungen, die eine ideologische Nähe zur "HuT" aufweisen und durch öffentlichkeitswirksame Aktionen auffallen. Diese versuchen, über verschiedene Veranstaltungen Interessierte gezielt anzusprechen und durch den Aufbau freundschaftlicher Beziehungen potenzielle Sympathisant:innen sukzessive an die Ideologie heranzuführen. Diese Aktivitäten beziehen sich sehr häufig zunächst auf religiöse und weltanschauliche Inhalte, um so den Extremismusbezug zu verschleiern. 136 ISLAMISMUS Auch die Nennung des Namens "Hizb ut-Tahrir" wird in der Bundesrepublik gezielt im Social-Media-Bereich vermieden. Wie viele Abonnent:innen "HuT"-naher SocialMedia-Gruppen diese als "HuT"-nah erkennen, ist nicht sicher in Zahlen zu bemessen. Auch wenn die "HuT" bemüht ist, selbst inklusiv für "die Muslime" zu sprechen und sich jüngst auch in Richtung des Salafismus mehr zu öffnen scheint, wurde und wird sie von anderen islamistischen Gruppen aus verschiedenen Gründen abgelehnt. So predigte beispielsweise der deutschlandweit bekannte Salafist Pierre Vogel mehrfach offen gegen die Organisation und lehnt ihre Ideen vor allem aus theologischen Gründen ab. Aktivitäten von Sympathisant:innen der "Hizb ut-Tahrir" in Bremen Nachdem im Sommer 2021 eine Flyerverteilaktion der Gruppierung "Muslim Interaktiv" festgestellt werden konnte, die eine ideologische Nähe zur "HuT" aufweist, wurden im Jahr 2022 keine Aktivitäten von "Hut"-nahen Gruppierungen in Bremen festgestellt. Nichtsdestotrotz produzieren die "HuT"-nahen Organisationen "Realität Islam", "Generation Islam" und "Muslim Interaktiv" ununterbrochen professionelle Inhalte auf nahezu allen Social-Media-Plattformen. Dementsprechend geht das LfV Bremen davon aus, dass auch Bremer:innen auf diese Angebote zurückgreifen, wobei von einem jungen bis sehr jungen Publikum auszugehen ist. Für junge Muslim:innen kann es je nach Beitrag schwer auf den ersten Blick zu erkennen sein, dass es sich nicht um eine normale muslimische Gruppe, sondern um eine islamistische Organisation handelt, da sich diese teilweise auch Themen bedient, die den muslimischen Mainstream betreffen und keinen Extremismusbezug aufweisen. So wurde zum Beispiel die Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar als "WM der Doppelmoral" thematisiert und instrumentalisiert. Durchgängig unterstellen die Internetseiten "HuT"-naher Organisationen in ihren Videos, dass "der Westen" generell "die Muslime" ablehnen würde. Dass sowohl in "dem Westen" als auch unter "den Muslimen" zu vielen Themen eine große Meinungsvielfallt herrscht, wird dabei absichtlich ausgeblendet und beide Gruppen entsprechend der eigenen totalitären Ideologie verallgemeinernd dargestellt. Eine differenzierte Betrachtung der jeweiligen Themen und der jeweiligen Untergruppen und Individuen findet in aller Regel nicht statt. Andere Beiträge auf der Facebook-Seite von "Muslim Interaktiv" wie "Israel is killing children again. Enjoy your weekend." setzten wiederum völlig offen auf das schon seit dem Mittelalter bekannte antisemitische Narrativ, Menschen jüdischen Glaubens seien Kindermörder. Einzelne anti-muslimische Zitate westlicher Politiker werden wiederum als Beispiel dafür herangezogen, dass der ganze Westen den Islam ablehne. ISLAMISMUS 137 Das zum Teil auch offen ausgesprochene Ziel der Social-Media-Beiträge ist es, bereits integrierte junge Menschen von westlichen Ideen und Lebensvorstellungen abzubringen und sie stattdessen für extremistische Ideen, wie die eines weltweiten Kalifats und einer islamistischen Lebensweise, zu begeistern. Die Integration in westliche Staaten wird allgemein abgelehnt. Das besagte Kalifat wird auch als "Schild des Islams" bezeichnet und die Abschaffung des osmanischen Kalifats im Jahre 1924 als größte Katastrophe der Islamischen Weltgemeinschaft verstanden. Seit 1924 befänden sich "die Muslime" in einer vermeintlichen Opferrolle. Nur durch einen neuen Kalifen könne "die islamische Gemeinschaft" gerettet und ihr zu alter Blüte verholfen werden. Verpackt werden solche Inhalte in professionell produzierten Videos, die sowohl durch ihre für soziale Medien typische Sprache als auch durch ihren gezielt provokanten und stark vereinfachenden Stil für junge Menschen besonders ansprechend sein können. Gerade das in der Regel junge Alter der Zuschauer:innen in Kombination mit der klaren Ablehnung demokratischer Grundwerte, wie etwa der Religionsfreiheit oder der Gleichberechtigung der Geschlechter und der Versuch, eine jede Integration zu unterbinden, machen die aktuelle Gefahr "HuT"-naher Gruppen in Bremen und Deutschland aus. 7.3.3 "Saadet Partisi" Die "Saadet Partisi" ("SP", "Partei der Glückseligkeit") bildet in der Türkei den politischen Ableger der islamistischen "Milli Görüs"Bewegung, welche auf die Ideologie des türkischen Politikers Necmettin Erbakan zurückgeht. Die "SP" unterhält im Ausland Vertretungen, u. a. auch in Deutschland. Die Europazentrale ist in Köln angesiedelt. Die Anhängerschaft der "SP" bezieht sich in ihren öffentlichen Verlautbarungen regelmäßig auf die Weltanschauung Necmettin Erbakans oder teilt in den sozialen Medien Beiträge des Logo der "Saadet Partisi" (SP) aktuellen Vorsitzenden der "SP", Temel Karamollaoglu. Im Wesentlichen wird die menschengemachte, weltliche Gesetzgebung abgelehnt und die Notwendigkeit einer auf islamischen Grundsätzen und göttlicher Offenbarung basierenden "Gerechten Ordnung" betont. Diese Anschauung findet sich auch in der öffentlichen Darstellung der Bremer "SP" wieder. Sie widerspricht hierbei eindeutig wesentlichen Aspekten des Demokratieund Rechtsstaatsprinzips. Die Durchsetzung dieses Ziels solle gemäß Erbakans stets mit einer milli görüs ("Nationalen Sicht") vorangetrieben werden. 138 ISLAMISMUS Aktivitäten von Sympathisant:innen der "SP" in Bremen In Bremen stellt der "Saadet Bremen e.V." die hiesige Zweigstelle der "SP" dar, welcher in etwa 40 Anhänger:innen zuzurechnen sind. Nachdem in den vergangenen Jahren diverse Veranstaltungen coronabedingt in digitaler Form abgehalten wurden, führten Bremer "SP"-Angehörige im vergangenen Jahr wieder regelmäßige Präsenzveranstaltungen und gemeinsame Sitzungen durch. Darüber hinaus nahmen hiesige "SP"-Akteure an überregionalen Netzwerktreffen teil. Außerdem unterhält die Bremer "SP" diverse Social-Media-Accounts, welche sich zusätzlich in Jugendund Frauenbereiche unterteilen. In den dort geteilten Beiträgen lassen sich regelmäßig Bezüge zu Necmettin Erbakan sowie Zitate des Parteivorsitzenden Temel Karamollaoglu finden. Zudem überschreiten einzelne Bremer "SP"-Anhänger:innen mit den Inhalten ihrer Social-Media-Beiträge die Grenze zu israelbezogenem Antisemitismus. 7.4 Schiitischer Islamismus Den bisher dargestellten Organisationen und Strömungen ist gemein, dass sie dem sunnitisch-islamistischen Spektrum zuzuordnen sind. Daneben existieren im schiitischen Islam ebenfalls islamistische Gruppierungen. Viele von ihnen, aber nicht alle, nutzen die Islamische Republik Iran, die sich durch eine islamistisch-theokratische Staatsform auszeichnet, als Orientierung. Wiederum andere Organisationen handeln unabhängig beziehungsweise primär in einem nationalen Kontext. Auch im schiitischen Islamismus gilt es zwischen gewaltorientierten und legalistischen Strömungen zu unterscheiden. 7.4.1 "Hizb Allah" Die libanesische Organisation "Hizb Allah" ("Partei Gottes", auch bekannt unter "Hisbollah") wurde im Jahr 1982 maßgeblich auf Initiative des Iran nach dem Einmarsch israelischer Truppen in den Libanon gegründet. Seit ihrem Bestehen wird die islamistischschiitische Organisation vom iranischen Regime sowohl finanziell Flagge der "Hizb Allah" als auch materiell unterstützt. In ideologischer Hinsicht verkörpert der "revolutionäre Iran" das Vorbild für die "Hizb Allah". Dies ist besonders daran zu erkennen, dass bis in die 1990er-Jahr die "Hizb Allah" das Ziel verfolgte, eine "islamische Revolution" im Libanon auszulösen, um dadurch einen schiitischen Gottesstaat zu errichten. Allerdings verlor dieses Ziel nach diversen politischen Entwicklungen an Relevanz. Oberste Priorität hat nunmehr der Schutz des libanesischen Territoriums vor israelischen Militäraktionen sowie die Vernichtung des Staates Israel, dem die "Hizb Allah" das Existenzrecht abspricht. ISLAMISMUS 139 Nach Beginn der folgenschweren Wirtschaftskrise im Jahr 2019 fanden am 15. Mai 2022 im Libanon Wahlen zur Nationalversammlung statt, an denen sich nur knapp 41 Prozent der registrierten Wähler:innen beteiligten. Das politische System im Libanon ist zwischen den im Land lebenden Religionsgemeinschaften starr aufgeteilt: Das Amt des Präsidenten obliegt einem Christen, während der Regierungschef ein sunnitischer Muslim und der Parlamentspräsident ein Schiit sein müssen. Somit sind die Machtverhältnisse in fester Hand der herrschenden Eliten. Aktivitäten von Sympathisanten der "Hizb Allah" in Deutschland und Bremen Die Anhängerschaft der "Hizb Allah" verfolgt das Ziel, in Deutschland Organisationsstrukturen aufzubauen bzw. diese fortwährend zu etablieren. Die besagten Strukturen umfassen eigene Moscheevereine, in denen sich die Anhänger:innen hauptsächlich organisieren. Im Gegensatz zu der Lage im Libanon beschränkt sich der Handlungsspielraum der "Hizb Allah" in Deutschland primär auf die Organisation von Spendensammlungen oder religiösen Veranstaltungen sowie die Teilnahme an Demonstrationen. Um terroristischen Aktivitäten entgegenzuwirken, gehen die deutschen Sicherheitsbehörden entschlossen gegen alle relevanten Strukturen vor. Dies zeigte sich u. a. in dem vom BMI am 30. April 2020 verkündeten Betätigungsverbot für die "Hizb Allah". So heißt es in der Begründung, dass die Tätigkeiten der "Hizb Allah" den Strafgesetzen zuwiderlaufen und sich außerdem gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten. Dabei ist unerheblich, ob die "Hizb Allah" als politische, karitative oder terroristische Struktur in Erscheinung tritt. Dadurch, dass die Terrororganisation offen zur gewaltsamen Auslöschung Israels aufruft und dessen Existenzrecht grundsätzlich negiert, sind ihre Ziele als eindeutig antisemitisch zu klassifizieren. Mit dem Betätigungsverbot der "Hizb Allah" wurde auch das Verwenden von Kennzeichen der Organisation im öffentlichen Raum, bei Veranstaltungen sowie in Schriften, Tonund Bildträgern untersagt. Eine weitere Maßnahme gegen die Aktivitäten der Terrororganisation erfolgte am 19. Mai 2021, als das BMI das Verbot der Spendenvereine "Gib Frieden e.V.", "Menschen für Menschen e.V." sowie "Deutsche Libanesische Familie e.V." erließ. Es handelte sich bei den Vereinen um Nachfolgeorganisationen des bereits 2014 verbotenen Vereins "Waisenkinderprojekt Libanon e.V." bzw. "Farben für Waisenkinder e.V.", der für die sog. "Shahid-Stiftung" (auch "Märtyrer-Stiftung") im Libanon Spenden sammelte. Der Zweck jener Stiftung ist es, Angehörige von sogenannten Märtyrern der "Hizb Allah" finanziell abzusichern. Dadurch soll die Motivation von den Anhänger:innen, sich dem Kampf u. a. gegen Israel anzuschließen, gesteigert werden, da die Stiftung im Falle ihres Todes für die Versorgung ihrer Angehörigen aufkommt. So ist es 140 ISLAMISMUS möglich, den bewaffneten Kampf gegen Israel aufrechtzuerhalten und den erheblichen Bedarf an entsprechenden Nachwuchskräften für die Kampfeinheiten zu bedienen. Die im Zuge des Verbots erfolgten Durchsuchungen fanden auch in Wohnungen von Vereinsfunktionär:innen in Bremen sowie im Bremer Umland statt. Die meisten Funktionär:innen waren bereits aus der noch aktiven Zeit des "Waisenkinderprojekt Libanon e.V." bekannt. Für die Angehörigen der "Hizb Allah" sowie weitere schiitisch-islamistische Organisationen spielt der "al-Quds-Tag" eine gewichtige Rolle. Hierbei handelt es sich um einen schiitischen Gedenktag, der an die von Ayatollah Khomeini im Jahr 1979 geforderte "Befreiung" von Jerusalem erinnern soll. Gleichzeitig ist der "al-Quds-Tag" der Ausdruck von Solidarität mit dem palästinensischen Volk. Wie bereits im vorherigen Jahr fand die israelfeindliche Demonstration anlässlich des "al-Quds-Tages" in Berlin nicht statt. Dennoch organisierte, ebenfalls wie im Vorjahr, ein norddeutsches Netzwerk schiitischer Islamist:innen und "Hizb Allah"-Sympathisant:innen am 23. April 2022 eine Ersatzveranstaltung, die online ausgerichtet wurde. Während der Veranstaltung, die auf einer schiitisch-islamistischen Plattform ausgestrahlt wurde, wurden mehrere mit Bildern untermalte Zitate des religiösen Oberhaupts des Iran, Ayatollah Khamenei, eingeblendet. Zusätzlich wurden Liveschaltungen zu kleineren Kundgebungen anlässlich des "al-Quds-Tages" in unterschiedlichen deutschen Städten durchgeführt. Es konnte erneut festgestellt werden, dass die islamistische Ideologie des iranischen Regimes bei der Online-Veranstaltung omnipräsent war und konstant gegen Israel agitiert wurde. Anlaufstelle der Bremer "Hizb Allah"-Szene 2022 verboten Die ca. 50 Anhänger:innen der "Hizb Allah" in Bremen waren bis März 2022 in dem Verein "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." organisiert. Der arabisch-schiitische Kulturverein fungierte als Anlaufstelle für schiitische Muslim:innen in Bremen, insbesondere aus dem Libanon. Der "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." war bereits seit dem Auftreten des verbotenen Spendenvereins "Waisenkinderprojekt Libanon e.V." (s.o.) in die finanzielle Unterstützung zugunsten der Logo des verbotenen "Hizb Allah" verwickelt. "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." Am 17. März 2022 verkündete der Senator für Inneres Bremen das Verbot des islamistischen Vereins, was dessen Auflösung zur Folge hatte. Hierbei wurde festgestellt, dass der "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtete, indem er zum Hass gegen Angehörige anderer Religionen aufrief. Er lehnte außerdem zentrale Elemente der bestehenden völkerrechtlichen Ordnung ab und rief zu deren Bekämpfung auf. Weiterhin propagierte und förderte er aktiv Gewalt ISLAMISMUS 141 oder vergleichbar schwerwiegende völkerrechtswidrige Handlungen wie den Terrorismus, in diesem Fall die Terrororganisation "Hizb Allah". Im Zuge des Verbots wurden, so wie bereits im Jahr 2020 im Rahmen des Betätigungsverbots der "Hizb Allah", die Vereinsräumlichkeiten sowie die Privatwohnungen der Vereinsvorsitzenden durchsucht. Neben dem "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." wurde auch der "Fatime Versammlung e.V." alias "Imam Mahdi Zentrum" in Münster wegen der Nähe zur "Hizb Allah" verboten. In der Entscheidung des Bremer Oberverwaltungsgerichts vom 15. November 2022 berücksichtigt der Senat in allen wesentlichen Punkten die seitens des LfV Bremen beigebrachten Erkenntnisse und folgt auch den entsprechenden Bewertungen. Die Klage gegen das Vereinsverbot wurde abgewiesen, die Revision nicht zugelassen. Über die dagegen eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde hat das Bundesverwaltungsgericht zum Zeitpunkt der Berichterstellung noch nicht entschieden. Ein Großteil der in dem Verfahren relevanten Erkenntnisse basierte auf der Zulieferung des Verfassungsschutzes. Die schiitisch-islamistischen Szene bzw. "Hizb Allah"-Sympathisant:innen brachten im Nachgang der Verbote ihre Solidarität gegenüber den Vereinen zum Ausdruck. Die Verbote wurden als gezielte Angriffe auf die muslimische Gemeinschaft generell gewertet, wobei teilweise versucht wurde, mit Desinformationen das Feindbild eines autoritären Staates zu zeichnen, der zukünftig Menschen muslimischen Glaubens ebenso wie die Jüd:innen im Dritten Reich verfolgen würde. Außerdem sah die Szene ihre Grundrechte auf Religionssowie Meinungsfreiheit bedroht, da sich anhand der Verbote gezeigt hätte, dass es sich bei Deutschland um eine "Schein-Demokratie" handle. Auch in diesem Zusammenhang stellten die schiitisch-islamistischen Akteur:innen das "Apartheidregime" Israel, getreu ihres Narratives, als mitverantwortlich für die Verbote dar. Zusätzlich wurden auch verschwörungstheoretische Thesen in der Szene gestreut, etwa, dass die Verbote ihre Ursache nicht in Deutschland hätten, sondern von "geopolitischen Machtinteressen gesteuert" seien. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Israel mit seinen Verbündeten wie beispielsweise den USA das Weltgeschehen lenken und besonders die Politik in Deutschland zu ihren Gunsten beeinflussen würde. Deutsche Interessen würden angeblich keinerlei Relevanz mehr gegenüber israelischen bzw. ggf. auch amerikanischen Interessen haben. Im Rahmen der neuerlichen Durchsuchungen konnten Fotos von einem Vorstandsmitglied des "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." gesichert werden, die die Person 2016 in Syrien zeigen. Anhand von Ortschildern, die im Hintergrund der Fotos zu sehen sind, konnte geschlussfolgert werden, dass sich die Person zu diesem Zeitpunkt in umkämpften Regionen Syriens aufhielt, in denen Einheiten der "Hizb Allah" gemeinsam mit den Regierungstruppen Präsident Assads u. a. gegen den "IS" kämpften. Die größten Leid- 142 ISLAMISMUS tragenden des Konflikts waren zu diesem Zeitpunkt die noch in der Region verbliebenen Teile der Zivilbevölkerung und es kam besonders in dieser Region zu gravierenden humanitären Vorfällen. Auf den gesicherten Bildern wird vorgenannte Person des Vereins u. a. mit mutmaßlichen Kriegswaffen und auf einem Panzer posierend abgebildet. Eine Videoaufnahme belegt, dass die Person mit einer Schusswaffe Schießübungen im offenen Gelände vollzog. Die von dem Vorstandsmitglied getragene Militäruniform war zudem mit einem Emblem versehen, das einer Spezialund Eliteeinheit der "Hizb Allah" zugerechnet werden kann. Der darauf u. a. abgedruckte arabische Schriftzug bedeutet übersetzt "gewaltige Kampfkraft" und entstammt einer Koran-Sure, die von Islamist:innen regelmäßig für die Begründung ihrer antisemitischen Überzeugung missbraucht wird. Nachdem der "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." als Anlaufstelle für schiitische Gläubige aufgrund des Verbots wegfiel, wurden in zwei Fällen Veranstaltungen zu relevanten religiösen Festen in einer angemieteten Halle in Bremen abgehalten. In beiden Fällen waren Vertreter des "Islamischen Zentrum Hamburg e.V." ("IZH") als Redner anwesend. Beim "IZH" handelt es sich laut Erkenntnissen des Landesamts für Verfassungsschutz Hamburg sowohl in ideologischer, organisatorischer als auch personeller Hinsicht um einen Außenposten des iranischen Regimes (Internetseite des Landesamtes für Verfassungsschutz Hamburg "Neue Erkenntnisse über das Islamische Zentrum Hamburg", 16.07.2021). Das Bundesamt für Verfassungsschutz bewertet das "IZH" als bedeutendes Propagandazentrum des Iran in Europa (Verfassungsschutzbericht des Bundesamts für Verfassungsschutz 2021, S. 197). Es ist als eine islamistische Bestrebung zu bewerten, die sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet. Auf einer der Veranstaltungen sollten aufgrund der "Ermächtigung" des "IZH" Spenden für die Schiiten in Bremen und Münster sowie für die "Unterstützung und Aufrechterhaltung des Rechts auf Religionsfreiheit" gesammelt werden. Dies zeigt einerseits, dass das "IZH" offensichtlich erheblichen Einfluss auf die Organisation der Veranstaltungen in Bremen nehmen konnte und andererseits, dass speziell für die am 17. März 2022 verbotenen Vereine Spenden gesammelt wurden und somit eine unmissverständliche Solidaritätsbekundung für Vereine erfolgte, die u. a. wegen eindeutigen Bezügen zu der Terrororganisation "Hizb Allah" verboten wurden. Deutlich wird auch, dass die staatlichen Maßnahmen gegen die Vereine nicht als TerrorisFlyer einer Veranstaltung zur Sammlung musbekämpfung, sondern als vermeintlicher Eingriff in die von Spenden für die verbotenen Vereine Grundrechte der schiitischen Muslim:innen dargestellt wurden. ISLAMISMUS 143 7.4.2 Sonstiger schiitischer Islamismus Das LfV Bremen beobachtet neben der "Hizb Allah" noch andere Bestrebungen im Bereich des schiitischen Islamismus, welcher ursprünglich aus dem Iran stammt. Dort kam es zwischen 1978 und 1979 zu einer islamischen Revolution, angeführt durch Ayatollah Ruhollah Khomeini. In Folge der Revolution konnte die bis heute bestehende Islamische Republik Iran etabliert werden. Charakteristisch für das politische System des Irans ist, dass es einerseits aus gewählten Gremien sowie einem Parlament besteht und es andererseits eine theokratische Ordnung aufweist. Das bedeutet, dass die besagte Ordnung vorsieht, dass der Staat sich auf Gott gegebene Gesetze und dadurch einzig auf dessen vermeintlichen Willen beruft. Als Repräsentant der Republik und gleichzeitig als Verantwortlicher vor dem Volk tritt der iranische Präsident Ebrahim Raisi in Erscheinung. Die dennoch wichtigste Person im Iran ist der oberste Religionsgelehrte Ayatollah Ali Khamenei, der als Vertreter des zwölften Imams angesehen wird, der als Mahdi (Messias-Gestalt) am Ende der Zeiten zurückkehren soll. Aufgrund seiner herausragenden Stellung bestimmt Khamenei über die Richtlinien von grundlegenden politischen Entscheidungen. Das zugrunde liegende Prinzip der sog. "velayate faqih" ("Herrschaft der Rechtsgelehrten") führte der Gründer der Islamischen Republik Khomeini ein und es sorgt weiterhin für die absolute Herrschaft des Klerus (der Geistlichen) im Iran. Eine "Gottesherrschaft" widerspricht der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in wesentlichen Aspekten. In seiner Außenwirkung strebt der Iran eine Islamisierung der westlichen Nationen, auch "Export der islamischen Revolution" genannt, an und verfolgt dabei eine antiisraelische und generell antiwestliche ausgerichtete Politik. Der Absolutheitsanspruch, den die iranische Staatsdoktrin für sich erhebt, lässt keinen Raum für ein liberales Wertesystem. Die in Deutschland lebenden Muslim:innen sollen durch die Propaganda des iranischen Staatsapparats auf die verfassungsfeindlichen islamistischen Rechtsnormen eingeschworen werden. Mit dieser Propaganda sollen wesentliche Ziele liberaler Demokratien unterminiert und desintegrative sowie antisemitische Überzeugungen geschürt werden. Deshalb werden extremistische Bestrebungen von Anhänger:innen des iranischen Regimes durch das LfV Bremen beobachtet. Anhängerschaft des iranischen Regimes in Bremen und Umgebung Im Fokus steht hierbei u. a. ein norddeutsches schiitisch-islamistisches Netzwerk mit Bezügen nach Bremen. Dieses Netzwerk strebt an, die Ideologie des iranischen Regimes mit all seinen Feindbildern und Narrativen zu verbreiten. Durch das stetige Aufzeigen der vermeintlichen "Feinde" und "Bedrohungen" für die Gesellschaft bzw. für die Muslim:innen in Deutschland, wird gezielt Hass geschürt. Die klassischen "Feinde" sind dabei vor allem der "Apartheidstaat" Israel, die USA, sunnitisch-arabische Regime 144 ISLAMISMUS wie zum Beispiel Saudi-Arabien oder, wie seit kurzem verstärkt, die LGBTQ-Bewegung. Besonders die Unterstützung, die der LGBTQ-Community seitens des Staates vermeintlich entgegengebracht wird, wird seitens der Akteur:innen als inakzeptable Gefahr für die Gesellschaft betrachtet. Um ihre Propaganda zu verbreiten, nutzen die Akteur:innen eigens betriebene Internetforen, Kanäle auf "Youtube" sowie soziale Netzwerke. Aktuelles, politisches Tagesgeschehen wird seitens der Islamist:innen regelmäßig in den Beiträgen thematisiert, kommentiert und im Sinne des ideologischen Narrativs eingefärbt. Zum großen Teil werden Themen ausgewählt, die auch nicht-extremistische Muslim:innen bzw. nichtreligiöse Gruppen ansprechen sollen, wie beispielsweise der Krieg in der Ukraine oder die Corona-Pandemie. Dabei ist auffällig, dass die Debatten rund um die Themen einseitig für die eigenen Zwecke instrumentalisiert werden. Die Nutzung entsprechender, gesellschaftlich virulenter Themen wird gezielt genutzt, um auch Personen zu erreichen, die gewöhnlich nicht mit den religiös-extremistischen Inhalten in Berührung kämen. Das Ziel ist daher die Erweiterung der Szene, die wiederum als Multiplikator für die schiitisch-islamistische Ideologie dient. Es besteht hierbei stets die Gefahr einer weitergehenden Radikalisierung der Konsument:innen auch über eine Thematik, die zu dem Erstkontakt mit dem extremistischen Phänomenbereich geführt hat, hinaus. Der Fokus lag 2022 eher auf religiösen Vortragsbeziehungsweise Diskussionsveranstaltungen, die online abgehalten wurden und bei denen die Ideologie des geistlichen Oberhaupts Khamenei stets eine zentrale Rolle spielte. Wie bereits erwähnt, haben die norddeutschen Protagonist:innen des schiitischen Islamismus im Jahr 2022 schwerpunktmäßig gegen die LGBTQ-Bewegung agitiert. Es konnten zahlreiche homound trans*feindliche Äußerungen sowie Anfeindungen festgestellt werden, wozu beispielsweise die Darstellung zählt, dass die LGBTQ-Bewegung als vermeintlich gesellschaftszersetzende Bedrohung dargestellt wird. Deutlich wurde dies u. a., als homosexuelle Männer als vermeintlich Hauptverantwortliche für die Verbreitung von Affenpocken verunglimpft wurden. Darüber hinaus wird behauptet, dass nicht-heteronormative Menschen eine Identitätsstörung hätten und eine "Ideologie" vertreten würden, die von den sog. "Mainstream-Medien" an die unbescholtene Jugend herangetragen werde, was wiederum als öffentlicher Kindesmissbrauch bezeichnet wird. In diesem Zusammenhang wird der LGBTQ-Bewegung indirekt Pädophilie unterstellt und die Angst heraufbeschworen, dass "sie sich eure Kinder holen werden". Jene "Transideologie" sei dazu da, um die nächste Generation zu zerstören. Zudem wird impliziert, dass für die LGBTQ-Gemeinschaft Sonderrechte gelten würden. Solche Aussagen zielen darauf ab, Angehörige der LGBTQ-Bewegung in äußerst menschenverachtender Weise herabzuwürdigen. Diese Darstellungen sind dazu geeignet, Hass und Hetze gegen Angehörige der LGBTQ-Bewegung zu fördern, ISLAMISMUS 145 die unter Umständen auch in gewalttätige Handlungen umschlagen können. Entsprechende Äußerungen verstoßen gegen die Menschenwürde. Sie unterliegen einer fortwährenden Prüfung hinsichtlich ihrer strafrechtlichen Relevanz durch die zuständigen Polizeibehörden. Im Zuge der Eskalation des zunächst innenpolitischen Konflikts in Iran bezogen die Angehörigen des schiitisch-islamistischen Netzwerks online wiederholt sehr eindeutig Stellung zugunsten des iranischen Regimes. Die öffentlich berichteten erheblichen Menschenrechtsverletzung wurden als Desinformation der "Mainstream-Medien" und westlicher Staaten relativiert. Zusätzlich bezeichneten die Akteur:innen das Vorgehen der iranischen Sicherheitskräfte als absolut verhältnismäßig und sogar zurückhaltend im Vergleich zu dem vermeintlich brutalen Agieren deutscher Polizeikräfte bei coronakritischen Protesten der Delegitimiererszene. Insgesamt stellen die Verfechter:innen des iranischen Regimes die These auf, es handele sich lediglich um fremdgesteuerte Proteste fremder Mächte wie beispielsweise der USA und Israels, die versuchen würden, Iran aus antimuslimischen Motiven zu destabilisieren. 146 ISLAMISMUS 147 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Unterstützungsaufgaben des LfV Anhang 148 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 8 Auslandsbezogener Extremismus Die Bearbeitung des auslandsbezogenen Extremismus wurde im Berichtsjahr 2022 insbesondere durch verschiedene operative Maßnahmen in Bezug auf die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) geprägt. So wurden zwei Gebietsleiter bzw. ehemalige Gebietsleiter der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) für den Raum Bremen wegen des Verdachtes der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung (SSSS129a, 129b Strafgesetzbuch) verhaftet. Kurz nach seinem Antritt als Gebietsleiter in Bremen wurde im April 2022 Özgür A. festgenommen. Im Dezember 2022 wurde der ehemalige Gebietsleiter Bremen Mehmet C. (Gebietsleitertätigkeit in Bremen ca. Mitte 2019 bis Mitte 2021) in Mailand (Italien) aufgrund eines europäischen Haftbefehls verhaftet. In diesem Zusammenhang wurden in Bremen mehrere Objekte und Privatwohnungen durchsucht. Sämtliche Durchsuchungsbeschlüsse richteten sich hierbei gegen unverdächtige Personen gemäß SS 103 Strafprozessordnung. Viele extremistische Organisationen mit Auslandsbezug sind bestrebt, ihre Ziele nicht durch offene Agitationen gegen die verfassungsmäßige Ordnung zu erreichen, sondern sich dieser vordergründig sogar unterzuordnen, um ungestörter auch in der Bundesrepublik agieren zu können. Diese Anstrengungen gehen teilweise so weit, dass durch Verantwortliche der jeweiligen Organisationen dazu aufgerufen wird, sich nicht nur unauffällig und gesetzeskonform zu verhalten, sondern auch über vermeintlich demokratisch legitimierte Organisationen bzw. die Unterwanderung tatsächlich demokratischer Organisationen gezielt Einfluss zu nehmen. Hierbei erfolgt keineswegs eine Abkehr von der eigenen, nicht mit der deutschen Verfassung in Einklang zu bringenden, Ideologie der jeweiligen extremistischen Organisation. Durch die gezielte Einflussnahme über demokratische Organisationen soll vielmehr der Eindruck einer mutmaßlichen Verfassungstreue erweckt und gezielt Lobbyarbeit für die eigentlichen, extremistischen Ziele betrieben werden, ohne dass eine tatsächliche und offene Hinwendung zur demokratischen Zivilgesellschaft erfolgt oder beabsichtigt ist. Diese Strategien entsprechen häufig denen der sog. "legalistischen" Organisationen im Islamismus (vgl. Kap. 7, S.132). Entwicklung extremistischer Organisationen mit Auslandsbezug in Deutschland Die extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug in Deutschland sind stark von Ereignissen und Entwicklungen in ihren Herkunftsländern abhängig. Im Gegensatz zu islamistischen Organisationen orientieren sie sich überwiegend nicht an einer religiöspolitischen Weltanschauung, sondern an weltlichen, politischen Ideologien, auch wenn AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 149 in Einzelfällen eine gewisse Nähe zu religiösen Überzeugungen bestehen kann. Die Zielrichtungen von extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug lassen sich im Wesentlichen unterteilen in linksextremistische, nationalistische bis nationalistisch-religiöse und ethnisch motivierte Autonomieund Unabhängigkeitsbestrebungen. Die extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug agieren nicht autark, sondern meistens als Teil einer "Mutterorganisation" im Herkunftsland oder sind zumindest ideologisch eng mit einer solchen verbunden. Hierbei ist der Grad der Einflussnahme bzw. Steuerung durch die "Mutterorganisationen" unterschiedlich stark ausgeprägt. Gesellschaftliche und politische Konflikte aus anderen Teilen der Welt können durch Migration und den Zuzug von Arbeitskräften nach Deutschland importiert werden. Von der Finanzkraft der hier lebenden und arbeitenden Ausländer:innen sowie Menschen mit Migrationshintergrund profitieren auch extremistische Organisationen in den Heimatländern. Vielfach gründeten sie "Exilvereine" in Deutschland. Heute ist Deutschland für extremistische Organisationen mit Auslandsbezug in unterschiedlicher Intensität ein Rückzugsund Rekrutierungsraum und dient ihnen zur Beschaffung von Material und finanziellen Mitteln, die sowohl auf legale als auch auf kriminelle Art und Weise akquiriert werden. Zu den Aufgaben des LfV Bremen gehört u. a. die Beobachtung von Bestrebungen, die auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland durch Gewalt gefährden. Hiervon ist auszugehen, wenn ausländische Gruppierungen aus Deutschland heraus gewaltsame Aktionen im Heimatstaat unterstützen, etwa durch Aufrufe zur Gewalt oder durch logistisch-finanzielle Hilfe. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung wird durch entsprechende Bestrebungen mit Auslandsbezug z. B. dann gefährdet, wenn Kaderstrukturen aufgebaut, demokratische Prinzipien in Deutschland außer Kraft gesetzt bzw. demokratische Strukturen gezielt unterwandert werden, um die jeweiligen Positionen in den politischen Willensbildungsprozess einzubringen. Im Jahr 2022 umfasste das extremistische Personenpotenzial mit Auslandsbezug in Deutschland rund 30.000 Personen, wobei die Gruppierungen aus verschiedenen Herkunftsländern stammen. In Bremen nehmen die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) und die "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." (ADÜTDF) einen besonderen Stellenwert ein, wobei erstere eher linksextremistisch und die zuletzt genannte eher rechtsextremistisch ausgerichtet ist. Hierbei gelingt es dem LfV Bremen durch die Mitwirkung in entsprechenden Verwaltungsbzw. Gerichtsverfahren regelmäßig, Erkenntnisse zuzuliefern, die beispielsweise eine Einbürgerung 150 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS von Extremist:innen verhindern. Im Bereich des auslandsbezogenen Extremismus folgte das Bremer Verwaltungsgericht zuletzt im Dezember 2022 der Einschätzung des Verfassungsschutzes sowie des Migrationsamtes und wies die Klage eines DHKP-CAnhängers ab. Bei der DHKP-C ("Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front") handelt es sich um eine Organisation des türkischen, linksextremistischen Spektrums, die sich u. a. für eine revolutionäre Zerschlagung der türkischen Gesellschaftsordnung unter Einsatz terroristischer Mittel ausspricht und in Deutschland seit 1998 einem Organisationsverbot unterliegt. 8.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) Die größte Gruppe unter den ausländischen Extremist:innen in Deutschland bildete im Jahr 2022 mit etwa 14.500 Anhänger:innen nach wie vor die verbotene kurdische Organisation PKK. Die PKK sowie ihre Nachfolgeorganisationen sind in Deutschland seit 1993 bzw. 2004 aufgrund vielfältiger, teilweise gewaltsamer UnterFlagge der PKK Nachfolgeorgastützungshandlungen ihrer hier lebenden Anhänger:innen für die nisation "KCK" (Koma Civaken Kurdistan) Mutterorganisation verboten. Nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 15. November 20181 entschieden hatte, dass die PKK zwischen 2014 und 2017 aufgrund einer nicht ausreichenden Begründung zu Unrecht auf der sog. EU-Terrorliste geführt wurde, wurde der Antrag auf rückwirkende Streichung der Listung seit 2002 hingegen zurückgewiesen. Im Übrigen befand der EuGH auch den seit 2019 neu gefassten Beschluss zur Listung der PKK als ausreichend begründet2. Eine im April 2021 durch die PKK eingereichte Klage beim EuGH gegen die Aufführung auf der EU-Terrorliste wurde am 14. Dezember 20223 durch das Gericht abgewiesen. Die PKK verbleibt dadurch weiterhin rechtmäßig auf der EU-Terrorliste. Die kurdischen Extremisten:innen stellen, wie im Vorjahr, mit rund 750 Anhänger:innen auch in Bremen die mitgliederstärkste Gruppe unter den extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug dar. Sie organisieren sich überwiegend im "Verein zur Förderung demokratischer Gesellschaft Kurdistans" ("Birati e.V."), der als regionales Ausführungsorgan der PKK fungiert. In den 1990er-Jahren waren im Zusammenhang mit dem Verbot der PKK in Bremen vier "Unterstützervereine" sowie deren Nachfolgeorganisationen verboten worden. Die PKK-Anhänger:innen in Bremen gründeten 1 EuGH vom 15.11.2018, Az.: T-316/14 2 EuGH vom 15.11.2018, Az.: T-316/14 3 EuGH vom 14.12.2022, Az.: T-182/21 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 151 jedoch jeweils unmittelbar nach den Verboten neue Vereine, die fortwährend vom LfV beobachtet werden. Bemühungen zur Aufhebung des Betätigungsverbotes Die PKK hat am 11. Mai 2022 beim Bundesministerium des Inneren und für Heimat (BMI) einen Antrag auf Aufhebung des gegen die PKK bestehenden Betätigungsverbots eingereicht, da es aus ihrer Sicht die kurdische Bewegung kriminalisiere. Der Antrag basiert vor allem auf der Argumentation, die PKK beginge in Deutschland keine Straftaten mehr und stelle aufgrund dessen keine Gefahr für die innere Sicherheit dar. Entwicklung der PKK Die 1978 von dem noch heute amtierenden PKK-Führer Abdullah Öcalan gegründete Organisation erhebt den Anspruch, alleinige Vertreterin aller Kurd:innen zu sein. Die Kurd:innen bilden eine ethnische Volksgruppe, die vorwiegend in der Türkei, jedoch auch im Irak, im Iran und in Syrien lebt. Während das anfängliche Ziel der Flagge der HPG PKK in der Errichtung eines kurdischen Nationalstaates bestand, kämpft sie nunmehr für die politisch-kulturelle Autonomie der Kurd:innen innerhalb des türkischen Staates. Hierfür unterhält sie die "Guerillaverbände der Volksverteidigungskräfte" (HPG). Das von Öcalan 2005 hierzu entwickelte Konzept sieht die Etablierung eines politisch-kulturellen Verbundes der in verschiedenen Staaten lebenden Kurd:innen vor. Der mit Unterbrechungen seit fast 30 Jahren geführte Guerilla-Kampf der PKK gegen den türkischen Staat wurde mit der Proklamation eines "einseitigen Waffenstillstands" durch PKK-Führer Öcalan im März 2013 vorerst beendet. Im Gegenzug wurde der türkische Staat u. a. aufgefordert, den Kurd:innen insbesondere die Gleichstellung als Staatsvolk, die Benutzung der kurdischen Sprache, etwa in Schulen, und mehr Selbstbestimmung in ihren Siedlungsgebieten einzuräumen. Seit die "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung" (AKP) bei den türkischen Parlamentswahlen im Juni 2015 die absolute Mehrheit verfehlte, ging der türkische Staat erneut härter gegen die PKK vor. In der Folge eskalierte der Konflikt wieder und beide Seiten kündigten die damals seit zwei Jahren währende Waffenruhe faktisch auf. Politischer Arm in Syrien Die kurdische Partei "Partiya Yekitiya Demokrat" (PYD) wurde 2003 in Syrien gegründet und ist die dortige Zweigorganisation der PKK, wenngleich die offene Darstellung dieser Verbindung vermieden wird. Die PYD strebt die Autonomie der Kurd:innen in Syrien an und rief im Januar 2014 in drei von Kurd:innen dominierten Kantonen (Afrin, Kobane und Cizre) eine "Demokratische Autonomie" aus. Die PYD unterhält paramilitärische Einheiten, die sog. "Volksverteidigungseinheiten" (YPG / YPJ), die sich seit Herbst 2012 wiederholt bewaffnete Auseinandersetzungen mit anderen in Nordsyrien 152 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS agierenden Konfliktparteien lieferten, etwa mit der "Freien Syrischen Armee" und dem "IS". In Europa organisiert die PYD insbesondere Protestveranstaltungen gegen Menschenrechtsverletzungen in Syrien. Die PKK in Deutschland und Europa Zur Unterstützung ihrer Interessen in der Türkei ist die PKK in Europa durch den "Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft Kurdistan in Europa" (KCDK-E) vertreten. Einer der Vorsitzenden des KCDK-E ist der Bremer PKK-Funktionär Yüksel Koc. In ihrem selbst als "gewaltfreien Kampf" bezeichneten Vorgehen greift die Organisation auf legale und illegale Strukturen zurück. Regionale Kurdenvereine (sog. Basisvereine) dienen den Anhänger:innen als Informationsund Kommunikationszentren. Diese der PKK nahestehenden Vereine sind in Deutschland unter dem Dachverband der "Konföderation der Gesellschaften Kurdistans in Deutschland" (KON-MED) zusammengeschlossen. KON-MED gehören insgesamt fünf regionale Föderationen an. Für den norddeutschen Raum ist es die "Föderation der kurdischen Gemeinschaft in Norddeutschland" (FED-DEM). Im März 2021 fand die erste FED-DEM-Konferenz, bei welcher Vertreter:innen aus dem gesamten norddeutschen Raum anwesend waren, im Bremer PKK-Verein Birati e.V. statt. Die PKK in Bremen Der Verein "Birati e.V." nimmt als regionales Ausführungsorgan der PKK eine besondere Stellung ein, weil er zu den sog. Zentralvereinen gehört. Er bietet seinen Mitgliedern u. a. soziale und kulturelle Aktivitäten an. Die im Zusammenhang mit der PKK stehenden Aktivitäten nehmen dabei großen Raum ein, so werden etwa Feiern Gebäude des "Birati e.V." in zum Geburtstag Abdullah Öcalans oder zum Jahrestag des Beginns Bremen des bewaffneten Kampfes der PKK veranstaltet. Neben den vereinsinternen Veranstaltungen organisieren der Birati e.V. und bremische PKK-Anhänger:innen jährlich auch öffentlichkeitswirksame Aktionen und Demonstrationen, die sich im Jahr 2022, auch aufgrund noch immer bestehender pandemiebedingter Vorbehalte, in einem mittleren zweistelligen Bereich bewegt haben und damit hinter dem vorpandemischen Niveau zurückblieben. Bisher wurde Deutschland vom politischen Arm der PKK intern in ca. 30 Gebiete unterteilt. In einem solchen Gebiet nimmt der jeweils bedeutendste kurdische Verein die Stellung eines "Zentralvereins" ein, alle anderen PKK-nahen Vereine sind meist abhängig von dessen Entscheidungen und Weisungen. In Bremen stehen z. B. der Verein "Förderung der kurdisch-islamischen Kultur e.V." (Trägerverein der "Saidi Kurdi Moschee") und der "Frauenrat Seve e.V." (ehemals "Internationale Fraueninitiative e.V.") in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Zentralverein "Birati e.V.". AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 153 Jedem Gebiet steht an der Spitze ein Führungsfunktionär vor. Die verantwortlichen Führungsfunktionäre, deren Tätigkeit in aller Regel zeitlich begrenzt ist, agieren zumeist konspirativ und leiten organisationsinterne Anweisungen und Vorgaben zur Umsetzung an nachgeordnete Ebenen weiter. Für die Umsetzung dieser Vorgaben nutzt die PKK überwiegend die örtlichen kurdischen Vereine, die den Anhänger:innen der Organisation als Treffpunkt und Anlaufstelle dienen. Diese Führungsfunktionäre werden regelmäßig wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung verurteilt (SSSS 129a, b StGB). So wurde im Januar 2020 ein ehemaliger Führungsfunktionär für das Gebiet Bremen aufgrund eines solchen Tatverdachtes verhaftet und in der Folge vom Staatsschutzsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt. Am 29. April 2022 wurde der zu diesem Zeitpunkt für das Gebiet Bremen zuständige Gebietsleiter, Özgür A., aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof, in Bremen festgenommen. Er ist dringend verdächtig, sich als Mitglied für die ausländische terroristische Vereinigung PKK gemäß SS 129a Abs.1 Nr.1 i.V.m. SS 129b Abs. 1 StGB betätigt zu haben. Am 28. November 2022 begann der Prozess vor dem Oberlandesgericht Koblenz. Am 7. Dezember 2022 wurde der wegen Verdachtes der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung gemäß SS 129a Abs.1 Nr.1 i.V.m. SS 129b Abs. 1 StGB Mehmet C. aufgrund eines europäischen Haftbefehls in Mailand (Italien) verhaftet. C. wird u. a. vorgeworfen, die Gebietsleitung für das PKK-Gebiet Bremen von ca. Mitte 2019 bis Mitte 2021 wahrgenommen zu haben. In diesem Zusammenhang wurden in Bremen mehrere Objekte und Privatwohnungen durchsucht, wobei die Durchsuchungen nach SS 103 StPO bei Unverdächtigen erfolgten. Innerhalb der Vereinsstrukturen des Birati e.V. nimmt das "Volksparlament" bzw. der "Volksrat" eine zentrale Rolle ein. Die Einsetzung von "Volksräten" folgt einem von Öcalan 2005 entwickelten Konzept, das letztlich auf die Etablierung eines politischkulturellen Verbundes der in verschiedenen Staaten lebenden Kurd:innen abzielt, um die Mitbestimmung aller Kurd:innen zu gewährleisten. Tatsächlich erfolgt die politische Arbeit im "Volksrat" allerdings nicht nach demokratischen Regeln, sondern ist nach wie vor von autoritären Strukturen und Funktionär:innen der PKK geprägt. Im Rahmen einer von der PKK-Führung beschlossenen und den Anhänger:innen vorgegebenen Umstrukturierung sind die bisherigen Vereine wie der "Birati e.V." in sog. "Zentren der demokratischen kurdischen Gesellschaft" (DKTM) umbenannt worden. Zudem wurden in Bremerhaven und mehreren Bremer Umlandgemeinden "regionale 154 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS Volksparlamente" eingerichtet. Vertreter:innen dieser "regionalen Volksparlamente" werden auch in den übergeordneten "Volksrat" des Birati e.V. entsendet. Während die Aktivitäten der Bremer PKK-Anhänger:innen bisher hauptsächlich auf Weisungen übergeordneter legaler und illegaler hierarchischer Strukturen zurückzuführen waren, sollten sie laut eigener Ankündigung zukünftig demokratischer strukturiert werden. In der Praxis erfolgten jedoch keine Veränderungen der Entscheidungsprozesse. Diese sind in wesentlichen Teilen nach wie vor undemokratisch und basieren auf einer streng hierarchisch organisierten Kaderstruktur. "Kurdisch-deutscher Gemeinschaftsverein" in Bremerhaven Im Frühjahr 2013 wurde in Bremerhaven der "Kurdisch-deutsche Gemeinschaftsverein" gegründet, der wiederum in einem Abhängigkeitsverhältnis zum "Birati e.V." steht. Die Eintragung in das Vereinsregister Bremen erfolgte am 19. Juni 2014. Gebäude des "Kurdisch-deutschen Die Mitglieder organisieren regelmäßig Feierlichkeiten, bei Gemeinschaftsverein" in Bremerhaven denen u. a. dem PKK-Führer Öcalan gehuldigt wird. Finanzierung der PKK Die von der PKK in der Türkei über Jahrzehnte geführten Kämpfe sowie ihre politische Arbeit in Europa erfordern erhebliche finanzielle Mittel. Die PKK finanziert sich in erster Linie durch Spenden, daneben auch aus Veranstaltungserlösen und dem Verkauf von Publikationen. Die PKK ruft jährlich zu einer groß angelegten Spendenkampagne auf, die sie "das Jährliche" nennt, und fordert von ihren Anhänger:innen eine konstante Steigerung der Spendeneinnahmen. Die Höhe der Beiträge richtet sich nach dem Jahreseinkommen der jeweiligen Personen oder Unternehmen. Während von durchschnittlich verdienenden kurdischen Familien mehrere Hundert Euro verlangt werden, erwartet man von erfolgreichen Geschäftsleuten mehrere Tausend Euro. In Bremen konnten zuletzt Spenden in Höhe eines unteren bis mittleren sechsstelligen Betrages gesammelt werden. Laut Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz sammelte die PKK allein in Deutschland jährlich teilweise über 15 Millionen Euro. Die Einnahmen aus Spendengeldern in Deutschland hätten sich in den letzten zehn Jahren nahezu verdreifacht. Protest im Zusammenhang mit den Geschehnissen in der Türkei In Deutschland kam es in den vergangenen Jahren zu zahlreichen Protesten aufgrund aktueller oder vergangener Ereignisse in der Türkei. Die PKK-Führung ruft ihre Mit- AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 155 glieder oftmals deutschlandweit auf, anlassbezogene Veranstaltungen zu organisieren. Teilweise werden hier auch verbotene Symbole der PKK gezeigt. So waren insbesondere verschiedene militärische Operationen der Türkei oftmals Auslöser für Demonstrationen oder Kundgebungen. Hier sind hauptsächlich die Militäroperationen "Olivenzweig" (2018), "Friedensquelle" (2019), "Adlerklaue" (2020), "Tigerkralle" (2020) und "Krallenblitz" (2021) zu nennen. Aufgrund der anhaltenden militärischen Angriffe formierte sich bereits im April 2021 das europaweite Bündnis "Defend Kurdistan", welches seitdem auch regelmäßig zu Aktionen in Deutschland aufruft. Getragen wird das Bündnis in besonderem Maße nicht nur durch Anhänger:innen der PKK, sondern auch von Internationalist:innen aus dem linken Spektrum. So wird "Defend Kurdistan" bspw. durch das Flyer Demo Defend Kurdistan in Düsseldorf Bündnis "Rise Up 4 Rojava" unterstützt, welches in Bremen durch die Gruppierung "Bremen für Rojava" in Erscheinung tritt. Auch ab April 2022 fand unter dem Namen "Klauenverschluss" eine türkische Militäroffensive mit Schwerpunkt im Nordirak statt, welche sowohl bundesweit als auch in Bremen Reaktionen der PKK-Anhänger:innen auslöste. Allein in Bremen fanden infolge der Militäroperation im Jahresverlauf acht Kundgebungen statt. Darüber hinaus wurden überregionale Großveranstaltungen als Reaktion auf die türkischen Angriffe organisiert. Im April sowie im Juni 2022 fanden diese mit jeweils bis zu 4.500 Teilnehmenden aus dem ganzen Bundesgebiet, u. a. aus Bremen, in Düsseldorf statt. Eine besondere inhaltliche Relevanz erlangte hierbei der Vorwurf der kurdischen Bevölkerung in Nordsyrien, die türkische Armee würde Chemiewaffen nutzen. Der Verdacht der Nutzung dieser international geächteten Waffenart trägt nicht nur im hohen Maße zur Emotionalisierung der kurdischen Anhänger:innen, sondern auch zur Unterstützung aus der deutschen Internationalist:innenszene bei. Auswirkungen des Bombenanschlags in Istanbul am 13. November 2022 Am 13. November kam es in der türkischen Metropole Istanbul zu einer Bombenexplosion. Sechs Menschen wurden getötet und mehr als 80 verletzt. Die türkische Regierung rechnete den Anschlag der PKK bzw. ihrem syrischen Ableger PYD zu. Trotz der Distanzierung beider Organisationen erfolgten ab dem 19. November 2022 durch die neue Militäroffensive "Krallenschwert" zahlreiche Luftangriffe durch das türkische Militär auf Nordsyrien. Flyer Demo 20.11.22 156 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS Diese Angriffe wiederum sorgten für ein durch die Gruppierung "Defend Kurdistan" gesteuertes, bundesweites Protestaufkommen, welches insbesondere durch linksextremistische Akteure getragen wurde. Ein Teil der Gruppierung suchte am 2. Dezember 2022 die Landesgeschäftsstelle der Partei Bündnis 90/Die Grünen auf, um die Situation in Nordsyrien zu thematisieren. Die beteiligten Personen, welche die Aktion in den sozialen Medien als "Besetzung" bezeichneten, stammten hierbei zum großen Teil aus der Szene der Interventionistischen Linken und der Internationalist:innen. Zudem blockierten Aktivisten dieses Spektrums zusammen mit jungen Kurd:innen am 21. November 2022 den Check-in-Schalter der türkischen Fluglinie Turkish Airlines im bremischen Flughafen. Im Verlauf kam es zu einem Handgemenge zwischen den Aktivist:innen und Passagieren. Je nach politischer Gemengelage in den Herkunftsregionen der hiesigen PKK-Angehörigen (hauptsächlich Türkei und Syrien) scheint deren Emotionalisierungsgrad nach wie vor hoch zu sein und leichteste verbale Provokationen können gewaltsame Eskalationen nach sich ziehen. In der Vergangenheit kam es am Rande von Demonstrationen auch zu wechselseitigen Provokationen zwischen den Anhängern der PKK und Personen des türkisch-rechtsextremistischen Spektrums. Reaktionen auf einen tödlichen Angriff gegen Kurd:innen am 23. Dezember 2022 in Paris Am 23. Dezember 2022 wurden drei kurdisch-stämmige Personen in der Pariser Innenstadt erschossen. Bereits am Tatabend kam es in Paris zu ersten Demonstrationen, in deren Folge gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften entstanden. Die Tat wurde ersten Medienberichten zufolge durch einen den Behörden bekannten französischen Rechtsextremisten begangen. In Bremen fand bereits am 23. Dezember 2022 eine von PKK-Angehörigen organisierte themenbezogene Kundgebung statt, welcher am 24. und am 30. Dezember 2022 Demonstrationszüge folgten. Haftsituation von Abdullah Öcalan Der Gesundheitszustand des auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKKAnführers Abdullah Öcalan ist nach wie vor besonders geeignet, die in Bremen lebende PKK-Anhängerschaft zu emotionalisieren und zu mobilisieren. So werden in diesem Kontext Demonstrationen und verschiedene Aktionen durchgeführt, die sich auch auf die Sicherheitslage in Bremen auswirken. AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 157 Anlässlich des 23. Jahrestages der Festnahme von Abdullah Öcalan am 15. Februar fanden im Februar eine Vielzahl von Veranstaltungen in Deutschland und Europa statt. Hierzu zählten die sog. "langen Märsche" der PKK-Jugend in Deutschland, Frankreich und der Schweiz. Mit diesen Aktionen soll der Forderung auf Freilassung von Abdullah Öcalan Nachdruck verliehen werden. Seit 2016 findet eine Dauermahnwache für die Freiheit Abdullah Öcalans in Straßburg vor dem internationalen Gerichtshof für Menschenrechte statt. Die Protestierenden aus ganz Europa nehmen im wöchentlichen Wechsel an der Dauermahnwache teil. Im August 2022 wurde die Mahnwache für eine Woche durch bremische PKK-Anhänger:innen durchgeführt. Newroz-Feierlichkeiten Anlässlich des kurdischen Neujahrsfest-Fest (Newroz) fand in diesem Jahr wieder eine zentrale Feier in Frankfurt am Main statt. Die letzten zwei Jahre konnte das Fest pandemiebedingt nicht wie gewohnt als zentrale Großveranstaltung stattfinden. Das Newroz-Fest geht auf eine Legende um einen kurdischen Schmied zurück, der zum Widerstand gegen einen Tyrannen aufgerufen und diesen in der Nacht vom 20. auf den 21. März im Jahr 612 v. Chr. erschlagen haben soll. Daher wird Newroz auch als Fest des Widerstands gegen Tyrannei und als Symbol für den kurdischen Freiheitskampf verstanden. Am 19. März 2022 nahmen ca. 17.000 Personen unter dem Motto "Newroz das Fest der Freiheit - Freiheit für alle politischen Gefangenen" an der Veranstaltung teil. Auch aus Bremen fuhren mehrere Busse mit PKK-Anhängern zum Festival. Die der PKK nahestehende, türkische Tageszeitung "Yeni Özgür Politika" (YÖP) berichtete am 20. März 2022, dass u. a. Plakate mit den Schriftzügen "Freiheit für Abdullah Öcalan" und "Es lebe unser 50-jähriger Kampf" gezeigt wurden. Die auf den Postern abgebildeten Personen hatten sich zu früheren Newroz-Festen selbst verbrannt, einige davon auch in Deutschland. Flyer Newroz in Frankfurt Der Co-Vorsitzende der "Union der Gemeinschaft Kurdistan4" (KCK), Cemil Bayik, sprach in seiner Videobotschaft u. a. vom Widerstand der Guerilla gegen die Besatzung "Südkurdistans" durch die Türkei und erinnerte "mit Respekt und Dankbarkeit an die Gefallenen". 4 Koma Civaken Kurdistan". Die KCK ist die Dachorganisation der PKK-nahen Parteien und Gruppierungen aus der Türkei, dem Irak, dem Iran und Syrien. 158 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS Parallel zu der zentralen Großveranstaltung in Frankfurt am Main fanden bundesweit Newroz-Feiern statt. In Bremen organisierte die PYD Bremen am 20. März 2022 ihr diesjähriges Newroz-Fest mit mehreren hundert Teilnehmenden. Auch der "Kurdisch-deutsche Gemeinschaftsverein" aus Bremerhaven Flyer Newroz "Kurdisch-deutsche Gemeinschaftsverein" hatte für den 26. März 2022 zu einer Newroz-Feierlichkeit eingeladen. Das 30. "Internationale Kurdische Kulturfestival" Das "Internationale Kurdische Kulturfestival" stellt regelmäßig einen Höhepunkt der kurdischen Großveranstaltungen dar. Neben der von der PKK propagierten "Pflege der kurdischen Kultur" dient es zur Verbreitung ihrer politischen Botschaften. Am 17. September 2022 fand das 30. "Internationale Kurdische Kulturfestival" unter dem Motto: "Gegen Besatzung und Völkermord - Kurdistan verteidigen, Öcalan befreien" wie im Vorjahr in Landgraaf (Niederlande) statt. An der Veranstaltung nahmen rund 10.000 Personen teil, darunter auch Teilnehmer:innen aus Bremen. Es wurden Fahnen mit dem Portrait von Abdullah Öcalan sowie Bilder von getöteten Kämpfern der PKK-Guerillaeinheiten gezeigt. In mehreren PKK-nahen Medien Flyer Kurdische Kulturfestival wurde für das Festival geworben. Laut der YÖP vom 18. September 2022 betonte der Bremer Co-Vorsitzende des KCDK-E, Yüksel Koc, in seiner Rede, dass es in einer Zeit, in der der Widerstand der Guerilla gegen die Besatzung den Höhepunkt erreicht habe, die moralische und politische Pflicht sowie eine Frage des Gewissens sei, diesen Widerstand zu schützen. Werbung und Rekrutierung für die PKK-Guerilla Die anhaltenden Kampfhandlungen in Syrien und im Irak haben die Bereitschaft der PKK-Anhänger:innen gesteigert, sich für den bewaffneten Kampf rekrutieren zu lassen. Sie folgen u. a. Aufrufen, die von der PKK nahestehenden Medien auf einschlägigen Internetseiten, in (Jugend-)Zeitschriften oder auf Großveranstaltungen wie dem jährlichen kurdischen Kulturfestival verbreitet werden. Auch von den örtlichen Vereinen organisierte sog. "Märtyrerveranstaltungen", bei denen gefallene Guerilla-Kämpfer:innen glorifiziert werden, bereiten den Boden für Rekrutierungen. Im Jahr 2022 wurden in den Räumlichkeiten des "Birati e.V." ebensolche Gedenkfeiern für die "Märtyrer" mit den entsprechenden Zielrichtungen veranstaltet. AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 159 So wurde in der YÖP vom 24. Mai 2022 über das Gedenken an die Mai-Märtyrer im Birati e.V. berichtet. Ein Angehöriger der Gefallenen betonte, dass die Märtyrer für ihrer aller Zukunft gestorben seien und dass daher die Pflicht bestehe, sich ihres Kampfes anzunehmen. Said B., Co-Vorsitzender des Birati e.V., sagte mit Blick auf die aktuellen Invasionsangriffe des türkischen Staates, dass die Geschichte weder den Verrat und die Kollaborateure noch den Heldenmut und die Märtyrer vergessen werde. Flyer Märtyrergedenken am 23.10.22 In einem Artikel vom 23. Oktober 2022 berichtete ANF News über eine Zeremonie zu Ehren der Oktober-Märtyrer im Birati e.V. Unterstützung der PYD und PKK durch öffentliche Einrichtungen PKK und PYD nutzen nach vorliegenden Erkenntnissen ihre gesellMärtyrergedenken im "Birati e.V." schaftlichen und politischen Kontakte, um gezielt eigene Vertreter:innen in politischen und gesellschaftlichen Strukturen zu etablieren. Langfristige Ziele dieser Bemühungen sind die Aufhebung des PKK-Verbots, die Freilassung des PKK-Führers Öcalan und die Anerkennung der PKK als vermeintlich demokratische Vertretung aller Kurd:innen. Hierbei wird gezielt versucht, die streng hierarchische und antidemokratische Struktur der Kernorganisation zu verschleiern, um ihre Anschlussfähigkeit nicht zu gefährden. 8.2 "Ülkücü"-Bewegung / "Graue Wölfe" Allgemein Die "Ülkücü" ("Idealisten") sind eine türkisch-rechtsextreme Bewegung, deren Ursprünge nahezu 100 Jahre zurückreichen. Sie bezeichnet heute eine Ideologie, die eine nationale Einigung aller Turkvölker in einem einzigen, als ethnisch homogen verstandenen Staat zum Ziel hat. Dieses angestrebte "großtürkische Reich" wird mit dem Begriff "Turan" bezeichnet. Zu Vordenkern der Bewegung werden Nihal Atsiz (1905 - 1975) und der spätere Gründer der türkischen Partei MHP5, Alparslan Türkes (1917 - 1997), gezählt. In der Gründungszeit der MHP zeigte sich vor allem deren Jugendorganisation "Bozkurtlar" ("Graue Wölfe") äußerst gewalttätig. Die "Ülkücü"-Ideologie basiert auf nationalistischen, rassistischen und islamischen bis hin zu islamistischen Elementen und ist in der Gesamtschau antidemokratisch. Prägend 5 "Milliyetci Hareket Partisi" - "Partei der Nationalistischen Bewegung" 160 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS für die Bewegung ist ein übersteigerter türkischer Nationalismus mit einer Überhöhung der eigenen Ethnie, welcher sich vor allem in der Forderung nach der "Wiedervereinigung" aller Turkvölker in einem Staat "Turan" zeigt. Die Anhängerschaft geht von einer Überlegenheit "des Türkentums" gegenüber anderen Völkern und Staaten aus. Damit einher geht eine Abwertung anderer Ethnien, Bevölkerungsgruppen oder Religionen. Auch wenn die verschiedenen (Unter-)Organisationen der "Ülkücü"-Bewegung in ihren Publikationen in der Regel auf offenen Rassismus verzichten, bleiben sie diesem Gedankengut stets verbunden. Die "Ülkücü"-Ideologie ist geprägt von einem Freund-Feind-Denken. Die identitätsstiftenden Feindbilder stützen sich auf rassistische - vornehmlich kurdenfeindliche und antisemitische - Anschauungen. "Innere" Feinde sind traditionell Kurd:innen, Kommunist:innen, linke Oppositionelle sowie die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, welche von der türkischen Regierung für den 2016 gescheiterten Putschversuch verantwortlich gemacht und infolgedessen zur Terrororganisation erklärt worden ist.6 Jüd:innen wird in der "Ülkücü"-Ideologie eine negative Sonderstellung zugeschrieben. Dies offenbart sich unter den Anhängern zumeist offen, wenn der Staat Israel durch eine sich zuletzt verschärfende Lage im Nahost-Konflikt im Fokus steht und stellvertretend für alle Jüd:innen als Feind gebrandmarkt wird. In der Rhetorik der "Ülkücü"-Bewegung wird auch eine Gewaltbefürwortung deutlich. Die Verherrlichung der kriegerischen Vergangenheit des Osmanischen Reiches und antiker "Turk"-Kriegsherren in Verbindung mit konkreten Territorialansprüchen, die das Staatsgebiet zahlreicher souveräner Staaten umfassen, impliziert eine Neigung zur notfalls gewalttätigen, jedenfalls völkerverständigungswidrigen Durchsetzung der ideologischen Ziele. Die "Ülkücü"-Vereine in Deutschland vermeiden einen zumindest offenen Antisemitismus und geben sich nach außen überwiegend legalistisch und demokratisch. In der Vergangenheit forderten führende Mitglieder, die demokratischen Rechte in Deutschland wahrzunehmen und sich gezielt politisch und gesellschaftlich zu betätigen, um Einfluss auszuüben. So wurden Fälle bekannt, in denen Mitglieder örtlicher "Ülkücü"Vereine in Integrationsräte gewählt wurden oder "Ülkücü"-Vereine mit eigener Liste erfolgreich an Integrationswahlen teilgenommen haben.7 Dies darf jedoch nicht als Anerkennung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verstanden werden, sondern dient der gezielten politischen Einflussnahme bzw. Unterwanderung im Sinne einer türkisch-nationalistischen Ideologie. "Ülkücü" sehen sich nicht nur als alleinige Hüter der Ideologie der "Nationalistischen Bewegung" in Deutschland, sondern gene- 6 In diesem Zusammenhang wird von türkischer Seite auch der Begriff FETÖ, "Fethullahistische Terrororganisation" verwendet. 7 Vgl. Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage zum Thema "Aktivitäten der rechtsextremen Grauen Wölfe", Drucksache 19/21060 vom 14.07.2020. AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 161 rell als Hüter türkischer Werte und Kultur. Eine derartige auf Volkszugehörigkeit und übersteigertem Nationalismus gründende Identität kann in einer pluralistisch geprägten Gesellschaft jedoch unterschiedliche Konflikte hervorrufen. Sie führt nicht zuletzt zu Intoleranz gegenüber anderen Völkern. Dies widerstrebt dem Gedanken der Völkerverständigung, ist gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet und wirkt einer Integration in die deutsche Gesellschaft entgegen. Der "Ülkücü"-Bewegung in Deutschland werden aktuell drei Dachverbände sowie eine freie und unorganisierte Szene zugerechnet: Die "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." (ADÜTDF), die "Föderation der Weltordnung in Europa" (ANF) sowie die "Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V. (ATIB e.V.). Verbände aus dem "Ülkücü"-Spektrum sind bestrebt, sich mit politischen Verantwortungsträgern in der Türkei zu vernetzen, so beispielsweise bei einem Treffen der Vorsitzenden diverser türkischer Organisationen aus Deutschland, u. a. ATIB und ADÜTDF, mit Präsident Erdogan im April 2021 in Ankara. Symbolik Um ihre Zugehörigkeit zur "Ülkücü"-Bewegung sowie Gesinnung öffentlich darzustellen, werden im Wesentlichen drei Symbole verwendet. Der graue Wolf (Bozkurt) Der Wolf spielt in der alttürkischen Mythologie eine zentrale Rolle. Je nach Überlieferung existiert zum einen der Mythos eines grauen Wolfes, der das urtürkische Volk der Göktürken aus dem Tal Ergenekon nach der Niederlage gegen die Chinesen im 8. Jahrhundert hinausgeführt haben soll, zum anderen wird von einem kleinen Jungen erzählt, der als einziger Überlebender seines Stammes von einer Wölfin aufgezogen wurde. Ab den 1960er-Jahren spielte der "Graue Wolf" auch auf politischer Ebene eine Rolle. Dieser war Symbol für die 1968 entstandene paramilitärisch ausgebildete Jugendorganisation der extrem nationalistischen türkischen Partei MHP, dem politischen Arm der "Ülkücü". Daher werden innerhalb der "Ülkücü"-Szene auch heute noch junge männliche Anhänger als "Bozkurtlar" (Graue Wölfe) bezeichnet. Ende der 1970er-Jahre waren die Grauen Wölfe an gewaltsamen Übergriffen gegen linke und linksextremistische Jugendund Studentenorganisationen beteiligt. Im Dezember 1978 organisierten Mitglieder der Grauen Wölfe Gewaltakte in Kahramanmaras (Türkei), bei welchen 150 Alevit:innen ermordet wurden. 162 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS Der Wolfsgruß Aufgrund der Verwendung des "Grauen Wolfes" als Symbol verbreitete sich unter MHP-Anhänger:innen das Zeigen des "Wolfsgrußes". Vorwiegend wird dieser mit der rechten Hand geformt und dient den "Ülkücü"-Anhänger:innen als Begrüßungswie auch Erkennungszeichen. Auch zur Provokation politischer Gegner wird das Zeichen beispielsweise bei Demonstrationen eingesetzt. Der kleine Finger beim Wolfsgruß soll den Türken symbolisieren, der Zeigefinger den Islam. Der beim "Wolfsgruß" entstehende Ring, geformt durch Ring-, Mittelfinger und Daumen steht für die Welt. Der Punkt, an dem sich diese drei Finger treffen, soll als Stempel angesehen werden. Damit soll der "Wolfsgruß" bedeuten, dass die "Grauen Wölfe" der Welt ihre Ansichten und ihren islamischen Stempel aufdrücken wollen. Aufgrund der anhaltenden Diskussionen über ein mögliches Verbot der "Grauen Wölfe" und der steigenden Bekanntheit dieses Erkennungszeichen erfolgt dessen Verwendung zunehmend zurückhaltender, um eine Identifizierung als Anhänger der Ideologie zu erschweren. Drei Halbmonde Die Symbolik der "Drei Halbmonde" hat ihren Ursprung im Osmanischen Reich. Eine von dessen Kriegsflaggen zeigte die "Drei Halbmonde" auf grünem Hintergrund (die Farbe des Islams). Symbolisch standen die Halbmonde für die drei Kontinente Asien, Afrika und Europa, auf denen sich der Islam durch das Osmanische Reich verbreitet hatte. Die "Drei Halbmonde" auf rotem Grund bilden das Parteilogo der MHP und symbolisieren die Verbundenheit zum Osmanischen Reich. Die "Drei Halbmonde" werden von "Ülkücü"-Anhängern mitunter sichtbar getragen, bspw. in Form von Ketten, Ringen oder Tätowierungen. Darüber hinaus wurde die Symbolik durch das Sprühen von "cCc" auf Hauswänden in der Öffentlichkeit platziert. ADÜTDF Die "Alamanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu" (Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland, kurz: ADÜTDF) ist der älteste und mit ca. 7.000 Mitgliedern8 zugleich anhängerstärkste Dachverband der "Ülkücü"-Bewegung in Deutschland und fungiert darüber hinaus als Auslandsorganisation der türkischen "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP), die den politischen Arm der "Ülkücü" (dt.: "Idealisten") in der Türkei darstellt. Die MHP ging einst aus der "Republikanischen Bauern-Volkspartei" hervor und wurde 1969 von ihrem Vorsitzenden Alparslan Türkes in 8 Zahl aus dem Jahr 2021; Vgl. Verfassungsschutzbericht Bremen 2021 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 163 MHP umbenannt. Dieser etablierte anschließend die antikommunistische und nationalistische Ideologie des "Idealismus" (türk.: Ülkücülük). Die "Ülkücü" und deren Mitgliedsvereine bekennen sich nach wie vor zum 1997 verstorbenen MHP-Gründer Alparslan Türkes. Der ehemalige Oberst wird weiterhin uneingeschränkt als ewiger Führer ("Basbug") verehrt. In sozialen Medien präsentieren sich "Ülkücü"-Anhänger mitunter vor dem Grab des Alparslan Türkes in der Türkei und zeigen den Wolfsgruß. Einer der ideologischen Vordenker der "Ülkücü"-Bewegung ist Hüseyin Nihal Atsiz. In seinen Schriften finden sich Elemente von Rassismus ("Das Türkentum ist allen anderen Völkern voraus und überlegen") ebenso wie antisemitische Stereotype ("Dennoch betrachten wir [...] den Juden als elenden Geizkragen. Denn wir wissen [...], dass der Jude uns gegenüber durch und durch aus Feindseligkeit besteht.").9 Die Ideologie der MHP stützt sich u. a. auf den Gedanken des Panturkismus, einer Vereinigung aller Turkvölker - vom Balkan bis nach Zentralasien - unter der Führung einer "Großtürkei", angelehnt an das Osmanische Reich. Die türkische Nation wird, wie bereits erwähnt, sowohl politisch-territorial als auch ethnisch-kulturell als höchster Wert betrachtet. Neben der MHP ist die BBP (Große Einheitspartei) eine weitere politische Partei des extrem nationalistischen Spektrums in der Türkei, welche in Form der ANF einen (Europa-)Verband unterhält, dem auch Ortsvereine in Deutschland zuzuordnen sind. Sie ist in ihrem Religionsverständnis deutlich fundamentalistischer ausgerichtet als die MHP. Die ADÜTDF und ihre bundesweiten Mitgliedsvereine, die sog. Ülkü Ocaklari (dt.: "Idealisten-Vereine"), gelten als ein Sammelbecken extrem nationalistischer Personen mit türkischem Migrationshintergrund. Organisatorisch ist die ADÜTDF in mehrere Gebiete (türk.: "Bölge") unterteilt. Der Bremer Verein gehört gemeinsam mit Hamburg, Neumünster, Lübeck und Kiel zum Nordverbund (Bölge-Nord), in dessen Rahmen ein enger Kontakt und Austausch besteht. Die lokale Vertretung in Bremen und Bremerhaven findet sich in dem Verein "Türkische Familienunion in Bremen und Umgebung e.V.". Der Bremer Verein dient als zentraler Treffpunkt der hiesigen organisierten "Ülkücü"-Szene. Die Mitglieder kommen regelmäßig zusammen, um untereinander den (politischen) Austausch zu suchen, Fastenbrechen zu feiern oder Freitagsgebete abzuhalten. Aufgrund der von den Mitgliedern offen im Internet zur Schau gestellten "Ülkücü"-Symbolik in Form von Wappen, Fahnen, Bildern und Literatur, welche im Gebäude zu sehen ist, erkennt man jedoch eindeutig die Ausrichtung des Vereins. 9 Aus: Zeitschrift "Orhun" vom 15. Juni 1963, 2. Jahr, 17. Ausgabe und in der Zeitschrift Ötüken, 1. Ausgabe im Jahr 1964 Aus: Hüseyin Nihal Atsiz, Makaleler III, 4. Druck 2018. 164 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS ATIB 1987 entstand durch eine Abspaltung von der ADÜTDF die ATIB10 (Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa), welche einen stärkeren religiösen Fokus aufweist, jedoch ebenso der "Ülkücü"Bewegung zuzurechnen ist. Vordergründig versteht sich der Verband als Vertreter kultureller, sozialer sowie juristischer Interessen der "türkisch-muslimischen Minderheit", was mit dem Einsatz für Völkerverständigung und Akzeptanz unterschiedlicher Kulturen einhergehen solle. Tatsächlich ist die ATIB jedoch in der "Ülkücü"Bewegung zu verorten. Wesentliche Elemente ihrer Ideologie basieren auf türkischnationalistischen, rassistischen und zum Teil islamistischen Vorstellungen. So schlägt sich bei ATIB-Anhänger:innen ein innerhalb der "Ülkücü"-Bewegung vorherrschender übersteigerter Nationalismus in Form von türkisch-nationalistischen Großmachtfantasien (Staat "Turan") nieder. Dieser findet Ausdruck u. a. in der Glorifizierung historischer osmanischer Eroberungen sowie in der Betonung angeblicher türkischer Überlegenheit, ethnisch sowie politisch-territorial. Anders als die ADÜTDF ist die ATIB versucht, ihre Unabhängigkeit von politischen Parteien in der Türkei zu demonstrieren. Zugleich sucht sie zur Wahrung ihrer Interessen in Deutschland die Nähe zu Verbänden und Einrichtungen. So ist der ATIB-Verband Gründungsmitglied des Zentralrats der Muslime (ZMD). Eine gegen die Zuschreibung als "Ülkücü"-Organisation gerichtete Klage der ATIB gegen den Freistaat Bayern wies das Verwaltungsgericht München 2019 in einem inzwischen rechtskräftigen Urteil ab. Unorganisierte Szene Neben den Mitgliedern der o.g. Vereine bzw. Dachverbände gibt es auch Anhänger: innen, die der Bewegung ideologisch verbunden, jedoch nicht in einem Verein organisiert sind. Diese unorganisierte Bewegung, auch freie Szene genannt, besteht überwiegend aus jüngeren Personen, die insbesondere in den sozialen Netzwerken gegen politische Gegner:innen und Völker agitieren und an das gemeinsame türkische Nationalbewusstsein appellieren. Die Zurschaustellung ihrer zumindest ideologischen Zugehörigkeit zur "Ülkücü"-Bewegung erstreckt sich bspw. auf Social-Media-Posts, in welchen unter Verwendung der o. g. klassischen Symbolik auch nationalistische, rassistische sowie (israelbezogene) antisemitische Stereotype verbreitet werden. Im vergangenen Jahr kam es in den sozialen Medien zu mehreren Bedrohungssachverhalten, welche sich gegen deutsche Politiker:innen und Journalist:innen richteten. Über die Plattform Instagram wurden Direktnachrichten versendet, in welchen die Empfänger:innen mit dem Tod bedroht wurden. Der bzw. die Urheber:innen der Nachrichten sollen in der Türkei ansässig sein und lassen sich im türkisch-nationalistischen 10 "Avrupa Türk Islam Birligi" AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 165 Spektrum verorten. Unter den Betroffenen befanden sich u. a. auch Abgeordnete der Bremer Partei DIE LINKE. Am 18. November 2020 wurde im Deutschen Bundestag mehrheitlich ein Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angenommen, nach welchem der Einfluss von "Ülkücü"-Organisationen zurückgedrängt und ein Verbot bestimmter Organisationsstrukturen geprüft werden solle11. Ähnlich positionierte sich auch der Bremer Senat Ende 202012. 11 BT-Drucksache 19/24388. 12 Anhang zum Plenarprotokoll der 19. Sitzung der Bremischen Bürgerschaft innerhalb der 20. Wahlperiode, 2518. 166 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS 167 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Unterstützungsaufgaben des LfV Anhang 168 UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV 9 Unterstützungsaufgaben des LfV Dem LfV obliegt nicht nur die Beobachtung extremistischer Bestrebungen zum Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung, sondern es trägt durch umfangreiche, unterschiedliche Überprüfungsmaßnahmen ebenfalls dazu bei, Sicherheitsrisiken in Behörden oder privaten Unternehmen zu minimieren. Zu den unterschiedlichen Überprüfungen zählen u. a. die Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem Luftsicherheitsgesetz, dem Atomgesetz, dem Sprenggesetz und dem Waffengesetz. Außerdem ist das LfV zentrale Stelle für die Sicherheitsüberprüfungen von Personen in Bremen und Bremerhaven, die im Rahmen ihrer Tätigkeiten Zugang zu sensiblen und vertraulichen Informationen erhalten (Geheimschutz). Die Art, der Umfang und die Maßnahmen einer solchen Sicherheitsüberprüfung richten sich nach dem Verschlusssachengrad, zu dem eine Person Zugang erhalten soll. Diese Sicherheitsüberprüfungen und die damit verbundenen Maßnahmen sind im Bremischen Sicherheitsüberprüfungsgesetz geregelt. Die Entwicklung und öffentliche Diskussion zeigt, dass eine Überprüfung des Personals in immer mehr Einrichtungen der kritischen Infrastruktur (KRITIS) und sicherheitsempfindlichen Tätigkeiten notwendig ist und gefordert wird. Dabei handelt es sich um Einrichtungen mit herausgehobener Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, deren Ausfall oder Beeinträchtigung für Versorgungsengpässe oder erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit sorgen würden. Die Ausweitung der Überprüfungen auf weitere lebenswichtige, sicherheitsempfindliche Stellen könnte daher mit Beteiligung des Verfassungsschutzes zukünftig an Bedeutung gewinnen. Insbesondere die Energieund Wasserversorgung sind Bereiche, die aufgrund der politischen Entwicklung eines erhöhten Schutzes bedürfen. 9.1 Geheimschutz Der Schutz geheimhaltungsbedürftiger Informationen ist die zentrale Aufgabe des Geheimschutzes, indem er die materiellen und personellen Voraussetzungen dafür schafft, dass Unbefugte keine Kenntnis von den im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen (Verschlusssachen - VS) erhalten oder in sicherheitsempfindlichen Stellen öffentlicher Einrichtungen beschäftigt werden. UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV 169 Eine Verschlusssache ist hierbei alles - unabhängig von der Darstellungsform (u. a. Schriftstücke, Zeichnungen, Kopien, Filmund Bildmaterial, Speichermedien, elektrische Signale, Geräte und technische Einrichtungen, Bauwerke sowie das gesprochene Wort), was im staatlichen Interesse durch besondere Sicherheitsmaßnahmen vor Unbefugten geheim gehalten werden muss. Die Geheimhaltung von Verschlusssachen dient der Abwehr von Gefahren. Dazu zählen die Gefährdung des Bestandes oder lebenswichtiger Interessen des Bundes oder eines seiner Länder Gefährdung der Sicherheit des Bundes oder eines seiner Länder oder schwerer Schaden für deren Interessen Schädigung oder Nachteile für die Interessen des Bundes oder eines seiner Länder Es handelt sich somit um präventive Maßnahmen zum Schutz des Staates. Eine Verschlusssache ist 1. STRENG GEHEIM, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte den Bestand oder lebenswichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden kann, 2. GEHEIM, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden oder ihren Interessen schweren Schaden zufügen kann, 3. VS-VERTRAULICH, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder schädlich sein kann, 4. VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder nachteilig sein kann. Materieller Geheimschutz Der materielle Geheimschutz beinhaltet technische und organisatorische Sicherheitsmaßnahmen und regelt u. a. die Aufbewahrung und Verwaltung von VS-Material. Rechtsgrundlage hierfür ist die Verschlusssachenanweisung des Landes Bremen, in der Anforderungen und Vorgaben des materiellen Geheimschutzes konkretisiert werden. So wird darin etwa, jeweils in Abhängigkeit des Geheimhaltungsgrades, auch die Erforderlichkeit von Tresoren und Alarmanlagen geregelt. Das LfV ist zentraler Ansprechpartner für alle bremischen Behörden, die mit VS-Material umgehen. Es berät und unterstützt diese bei der Erfüllung der Anforderungen des materiellen Geheimschutzes. 170 UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV Personeller Geheimschutz Aufgabe des personellen Geheimschutzes ist es, im Rahmen einer Sicherheitsüberprüfung festzustellen, ob Tatsachen dagegensprechen, einer Person eine Vertrauensstellung zu übertragen, in der sie Zugang zu Verschlusssachen hat bzw. ihn sich verschaffen könnte. Eine solche Stellung kann nur Personen übertragen werden, die zuverlässig sind, uneingeschränkt zu den Grundsätzen der freiheitlich demokratischen Grundordnung stehen und bei denen keine Umstände vorliegen, die sie für einen Geheimnisverrat erpressbar machen könnten. Eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit liegt vor, wenn eine Person Zugang zu Verschlusssachen erhält oder sich verschaffen könnte bzw. an einer sicherheitsempfindlichen Stelle einer lebenswichtigen öffentlichen Einrichtung beschäftigt ist. Die Sicherheitsüberprüfung wird nur mit Zustimmung der betroffenen Person durchgeführt. Die Art, der Umfang und die Maßnahmen einer solchen Sicherheitsüberprüfung richten sich nach dem Verschlusssachengrad, zu dem eine Person Zugang erhalten soll. Diese Sicherheitsüberprüfungen und die damit verbundenen Maßnahmen sind im Bremischen Sicherheitsüberprüfungsgesetz geregelt. Arten der Sicherheitsüberprüfungen nach dem (SS 8 Bremisches Sicherheitsüberprüfungsgesetz [BremSÜG]) SS 9 BremSÜG - Einfache Sicherheitsüberprüfung (SÜ1) (Zugang zu VS bis einschließlich VS-VERTRAULICH) SS 10 BremSÜG - Erweiterte Sicherheitsüberprüfung (SÜ2) (Zugang zu VS bis einschließlich GEHEIM) SS 11 BremSÜG - Erweiterte Sicherheitsüberprüfung mit Sicherheitsermittlungen (SÜ3) (Zugang zu VS bis einschließlich STRENG GEHEIM) Bei den Überprüfungsarten SÜ2 und SÜ3 werden Ehepartner:innen oder Lebenspartner:innen in die Sicherheitsüberprüfung einbezogen, da sich bei diesen Personen vorliegende Sicherheitsrisiken auch auf die betroffene Person auswirken können. Sicherheitsrisiken liegen gemäß SS 6 BremSÜG vor, wenn tatsächliche Anhaltspunkte 1. Zweifel an der Zuverlässigkeit der betroffenen Person bei der Wahrnehmung einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit begründen, 2. eine besondere Gefährdung durch Anbahnungsund Werbungsversuche fremder Nachrichtendienste, insbesondere die Besorgnis der Erpressbarkeit, begründen oder 3. erhebliche Zweifel am Bekenntnis der betroffenen Person zur freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes oder am jederzeitigen Eintreten für deren Erhaltung begründen. UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV 171 Ein Sicherheitsrisiko kann auch aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zur Person der Lebenspartnerin oder des Lebenspartners vorliegen. Eine Erkenntnis ist sicherheitserheblich, wenn sich aus ihr ein Anhaltspunkt für ein Sicherheitsrisiko ergibt. 9.2 Mitwirkung an Zuverlässigkeitsüberprüfungen Der Ausschluss von individuellen Sicherheitsrisiken ist nicht nur im Bereich des Geheimschutzes, sondern auch in anderen Arbeitsbereichen von Bedeutung. So sehen u. a. das Luftsicherheitsgesetz und das Bremische Hafensicherheitsgesetz Überprüfungen der in diesen Bereichen in der Regel bei privaten Unternehmen beschäftigten Personen vor. An diesen Zuverlässigkeitsüberprüfungen wirkt das LfV mit, um beispielsweise zu verhindern, dass bei diesen Stellen potenzielle Attentäter:innen beschäftigt werden. Die zunehmende Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aber auch die anhaltend hohe Gefahr terroristischer Anschläge haben in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass in weiteren Bereichen die Mitwirkung des Verfassungsschutzes an den Zuverlässigkeitsüberprüfungen von beschäftigten Personen erforderlich ist. So ist inzwischen die Mitwirkung bei der Überprüfung von Wachpersonal in bestimmten Einsatzbereichen und bei der Zuverlässigkeitsprüfung für das Erteilen von Waffenerlaubnissen sowie Jagdscheinen und für Sprengstoffberechtigungen gesetzlich vorgeschrieben. Der Einsatz von Personal in sensiblen Bereichen des öffentlichen Dienstes, welches sich vollumfänglich mit den Grundwerten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung identifiziert und für diese Werte einsteht, gewinnt in der öffentlichen Diskussion an Bedeutung. Daher erscheint es immer wichtiger, in diesen Bereichen eine Zuverlässigkeitsüberprüfung mit Beteiligung des Verfassungsschutzes einzuführen. Eine entsprechende Überprüfung wurde vor kurzem bereits für die Polizeibehörden in Bremen geschaffen, mit dem Ergebnis, dass im Jahr 2022 625 Bewerber:innen für den Polizeiberuf im Laufe des Auswahlverfahrens überprüft wurden und somit sichergestellt werden konnte, dass bei ihnen keine Bedenken bezüglich ihrer Zuverlässigkeit bestehen. 172 UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV 9.3 Entwicklung der Regelanfragen Die folgende Grafik zeigt die Gesamtentwicklung der Anfragen an den Bremer Verfassungsschutz der vergangenen fünf Jahre: Gesamtentwicklung der Anfragen an das LfV Bremen 2018 18.964 2019 17.369 2020 20.382 2021 19.575 2022 22.550 0 5.000 10.000 15.000 20.000 Zu den anfragestärksten Aufgaben des LfV gehören die Beantwortung von Regelanfragen im Rahmen von Einbürgerungsverfahren und vor der Erteilung von Aufenthaltstiteln. Ein weiterer Schwerpunkt der personenbezogenen Überprüfungen nach dem Aufenthaltsrecht stellen Anfragen in Visumsund Asylkonsultationsverfahren dar. Prozentualer Anteil am Anfrageaufkommen im Berichtsjahr Sonstige* 4,6 % Polizeibewerber 2,8 % Asylverfahren 3,9 % WaffG 5,9 % LuftSiG 9,5 % Aufenthaltsgenehmigungen 46,3 % Visumverfahren 12,3 % Einbürgerungen 14,7 % * beinhaltet HafenSiG, SprenG und Bewacher UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV 173 Anzahl der Anfragen nach Verfahren 10.000 10.451 2021 9.878 2022 8.000 6.000 4.000 4.018 2.131 3.304 2.780 1.066 1.057 2.000 1.044 886 668 625 1.447 1.338 1.329 103 0 EinbürgeAufentAsylVisumLuftSiG WaffG PolizeiSonstige* rungen haltsverfahren verfahren bewerber genehmigungen In dem Berichtsjahr ist insgesamt ein Anstieg der Anfragezahlen zu verzeichnen. Dieser ist im Bereich der Luftsicherheit maßgeblich auf die Corona-Pandemie zurückzuführen, da nach Abklingen der Pandemie die Flughäfen erneut öffnen konnten und die Neueinstellung von Personal erfolgte. Auch die Erhöhung der Anfragen bei der Visa Beantragung ist auf die wiederkehrende Reiseaktivität nach der Pandemie zu erklären. Zudem ist ein Anstieg der Anfragen im Bewachungsgewerbe ersichtlich. Der Rückgang im Bereich der Einbürgerungen ist auf eine Veränderung in der Verfahrensbearbeitung zurückzuführen. In den folgenden Jahren wird von einem Anstieg der Antragszahlen im Bereich Einbürgerungen ausgegangen. * beinhaltet HafenSiG, SprenG und Bewacher 174 UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV 175 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Öffentlichkeitsarbeit und Prävention Rechtsextremismus Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Linksextremismus Islamismus Auslandsbezogener Extremismus Unterstützungsaufgaben des LfV Anhang 176 ANHANG Politisch motivierte Kriminalität in Bremen 2020 - 2022* Links Stichtag: 31.01.2023 Straftaten 2020 2021 2022 gesamt 237 230 168 Gewaltdelikte 26 19 21 Extremismus 77 35 40 Gewaltdelikte extr. 18 7 5 Rechts Straftaten 2020 2021 2022 gesamt 277 211 284 Gewaltdelikte 12 6 16 Extremismus 246 160 274 Gewaltdelikte extr. 11 1 13 Ausländische Ideologie Straftaten 2020 2021 2022 gesamt 9 23 72 Gewaltdelikte 0 4 1 Extremismus 3 10 16 Gewaltdelikte extr. 0 2 1 Religiöse Ideologie Straftaten 2020 2021 2022 gesamt 14 5 11 Gewaltdelikte 2 1 1 Extremismus 11 3 10 Gewaltdelikte extr. 1 1 1 Antisemitische Straftaten 2020 2021 2022 gesamt 45 34 26 * Die Zahlen der politisch motivierten Kriminalität werden von der Polizei gemeldet. ANHANG 177 178 VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2022 Impressum Herausgeber: Der Senator für Inneres Contrescarpe 22-24 28203 Bremen www.inneres.bremen.de Redaktion: Landesamt für Verfassungsschutz Bremen Postfach 28 61 57 28361 Bremen Tel.: 0421 53 77-0 Fax: 0421 53 77-195 office@lfv.bremen.de www.verfassungsschutz.bremen.de Gestaltung: AlsterWerk MedienService GmbH, Hamburg Fotos: LfV Titelbild: Adobe Stock, Mikhail Markovskiy Rückseite: Adobe Stock, Silke Koch Druck: AlsterWerk MedienService GmbH, Hamburg Erscheinungsdatum: 13. April 2023