Freie Hansestadt Bremen Verfassungsschutzbericht 2021 Der Senator für Inneres VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 3 Verfassungsschutzbericht 2021 4 VORWORT VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Vorwort Das vergangene Jahr mit der Corona-Pandemie stellte auch die Sicherheitsbehörden vor neue Herausforderungen. So sind über 40 % der erfassten politisch motivierten Straftaten der heterogenen Mischszene, die sich im Zusammenhang mit den Protesten gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie gebildet hat, zuzurechnen. Kritik an den Maßnahmen des Bundes und der Länder sind legitime Rechte jedes Bürgers und jeder Bürgerin. Sobald allerdings Äußerungen und Aktivitäten dazu geeignet sind, die Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik zu destabilisieren, ist es die Pflicht des Verfassungsschutzes, frühzeitig auf die Gefahren für unsere Demokratie hinzuweisen. Mit der Schaffung des neuen Phänomenbereichs "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" (siehe Kap. 4) hat er das Spektrum bereits seit seiner Entstehungsphase unter Beobachtung genommen und kommt so seiner Aufgabe als Frühwarnsystem in besonderer Weise nach. Rechtsextremist:innen sowie "Reichsbürger:innen" gelang über die Verbreitung von antisemitisch gefärbten Verschwörungsund Widerstandserzählungen bundesweit der Schulterschluss mit den sogenannten "Querdenkern". Das Zusammenwirken dieses heterogenen Spektrums ist insbesondere auf die Vernetzung im virtuellen Raum zurückzuführen. Diese Entwicklung bestätigt das nach wie vor sehr hohe Bedrohungspotenzial, welches von im virtuellen Raum agierenden rechtsextremistischen Netzwerken und Gruppierungen ausgeht. Die Sicherheitsbehörden der Länder gehen konsequent gegen diese und alle anderen Bestrebungen vor, die Hass und Hetze mit dem Ziel der Radikalisierung verbreiten. Von Teilen der gewaltorientierten linksextremistischen Szene in Bremen geht nach wie vor ein sehr hohes Gewaltpotenzial aus. Der Brandanschlag auf das Raumund Luftfahrtunternehmen OHB in der Silvesternacht 2021/2022 hat dies erneut bestätigt. Hierbei entstand nicht nur ein enormer Sachschaden, zugleich wurde auch die Gefährdung von Menschenleben - insbesondere das des Wachpersonals - billigend in Kauf genommen. Anknüpfend an den Trend des Vorjahres setzte sich die Transformation gerade der salafistischen Szene rasant fort. Begünstigt durch das weitere Andauern des Pandemiegeschehens schafften es die Angehörigen dieser Szene, nicht nur digitaler, sondern auch professioneller zu werden und das vordergründig nicht islamistisch anmutende Angebot stetig zu erweitern, um so immer neue Personenpotenziale zu erschließen. Trotz auf den ersten Blick sinkender Anhängerzahlen verbleibt die vom Salafismus ausgehende Gefahr daher auf einem konstant hohen Niveau. So wird die Arbeit des Verfassungsschutzes durch den Rückzug in digitale sowie private Räume weiter - teils auch gezielt - erschwert. Die Aufklärung solcher Entwicklungen stellt eine sich stetig vergrößernde Herausforderung für den Verfassungsschutz dar. VORWORT VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 5 Die Bedeutung der Arbeit des Verfassungsschutzes hat das Bundesverfassungsgericht gerade erneut bekräftigt. In seiner Entscheidung vom 26. April 2022 zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetz hat es das hohe verfassungsrechtliche Gewicht der betroffenen Schutzgüter herausgestellt und betont, dass der Verfassungsschutz seinen Auftrag nur erfüllen kann, wenn er über nachrichtendienstliche Mittel verfügt, die er verdeckt nutzen kann. Im Einklang mit dieser Rechtsprechung des höchsten deutschen Gerichts gilt es daher, den sich veränderten Gefahren mit den entsprechenden Kompetenzen des Verfassungsschutzes zu begegnen. Der Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2021 gibt ein weiteres Mal umfassend Auskunft über die aktuellen Entwicklungen und Gefahren, die von den extremistischen Bestrebungen für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehen. Sie wollen keine Demokratie, da nur ihre Sicht der Dinge richtig sein kann. Sie lehnen den Rechtsstaat mit seinen Prinzipien ab. Sie verbreiten Hass und Hetze gegen die Repräsentant:innen des Staates und alle Andersdenkenden und vielfach sehen sie zur Durchsetzung ihrer Ziele den Einsatz von Gewalt als legitim an. Sie nehmen schwerste Straftaten in Kauf und rechtfertigen diese mit ihrer extremistischen Weltanschauung. Die Information der Öffentlichkeit über solcherlei Gefahren ist dabei nicht lediglich eine nebensächliche Aufgabe für den Verfassungsschutz, sondern zentraler Bestandteil seines Auftrags. Als wesentlicher Teil der Öffentlichkeitsarbeit legt das Landesamt für Verfassungsschutz mit diesem Bericht abermals eindrucksvoll dar, dass unsere demokratische Ordnung diversen Angriffen aus unterschiedlichen Richtungen ausgesetzt ist. Das Verfassungsschutzamt leistet damit einen entscheidenden Beitrag, damit sich alle Demokrat:innen in unserem Land dieser Gefahren bewusst bleiben und sich aktiv für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung einsetzen können. Für diesen Einsatz möchte ich mich daher herzlich bedanken. Ulrich Mäurer Senator für Inneres Anmerkung: Die Verwendung der geschlechtersensiblen Sprache im folgenden Bericht spiegelt nicht die Geschlechterverhältnisse des jeweiligen Phänomenbereiches wider. 6 INHALT VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Inhaltsverzeichnis Seitenzahl 10 1 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz 13 1.1 Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden 14 1.2 Rechtsgrundlagen und Kontrolle des Verfassungsschutzes 15 1.3 Haushalt und Personal 16 2 Öffentlichkeitsarbeit und Prävention 17 2.1 Öffentlichkeitsarbeit des LfV 18 2.2 Präventionsangebote in Bremen 20 3 Rechtsextremismus 21 3.1 Rechtsextremistisches Weltbild 23 3.2 Rechtsterrorismus 26 3.3 Rechtsextremistische Agitation und Propaganda 29 3.4 Rechtsextremistische Beeinflussung der Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie durch Extremist:innen 30 3.4.1 Demonstrationsgeschehen 30 3.4.2 Rechtsextremistische Beeinflussung der "Corona-Proteste" in Bremen und Bremerhaven 31 3.5 Strukturen und Gruppierungen im Rechtsextremismus 31 3.5.1 "Neue Rechte" 33 3.5.2 "Identitäre Bewegung" 34 3.5.3 AfD - Teilorganisationen "Der Flügel" und "Junge Alternative" 35 3.5.4 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) 36 3.5.5 Partei "Die Rechte" 37 3.5.6 "Der III. Weg" 38 3.5.7 Rechtsextremistische "Mischszene" Bremens INHALT VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 7 42 4 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates 43 4.1 Extremismus eigener Art 43 4.2 "Querdenken"-Bewegung 44 4.3 Bundesweite Proteste 45 4.4 Virtuelle Vernetzung 46 4.5 Verbreitung von Verschwörungsideologien 47 4.6 Zunehmende Radikalisierung 48 4.7 Proteste in Bremen 50 5 "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" 51 5.1 Struktur und Ideologie 52 5.2 Aktivitäten 52 5.3 Gewalt und Affinität zu Waffen 53 5.4 "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" in Bremen 54 5.5 Agitation von "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" während der Corona-Pandemie 56 6 Linksextremismus 57 6.1 Linksextremistisches Weltbild und linksextremistische Strukturen 59 6.2 Gruppierungen des gewaltorientierten Linksextremismus 66 6.3 Aktivitäten gewaltorientierter Linksextremist:innen 68 6.3.1 Proteste gegen Rechtsextremist:innen und Rechtspopulist:innen 70 6.3.2 Proteste gegen "staatliche Repression" 73 6.3.3 "Militante Aktionen" im Begründungszusammenhang "Antimilitarismus" 74 6.3.4 Kampf um bezahlbaren Wohnraum 75 6.3.5 "Klimaproteste" 8 INHALT VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 78 7 Islamismus 81 7.1 Islamistischer Terrorismus 81 7.1.1 Globales Terrornetzwerk "al-Qaida" 82 7.1.2 "Islamischer Staat" (IS) 82 7.1.3 Globale Entwicklungen im islamistischen Terrorismus 84 7.1.4 Islamistischer Terrorismus in Deutschland 85 7.1.5 Jihadistische Szene in Bremen 88 7.2 Salafismus 91 7.2.1 Salafismus im Land Bremen 92 7.2.2 "Islamisches Kulturzentrum Bremen e.V." (IKZ) 93 7.3 Legalistischer Islamismus 94 7.3.1 Muslimbruderschaft 95 7.3.2 "Hizb ut-Tahrir" 96 7.3.3 Saadet Partisi (SP) 96 7.4 Schiitischer Islamismus 96 7.4.1 "Hizb Allah" 99 7.4.2 Sonstiger schiitischer Islamismus 102 8 Auslandsbezogener Extremismus 104 8.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) 110 8.2 "Ülkücü"-Bewegung / "Graue Wölfe" INHALT VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 9 114 9 Unterstützungsaufgaben des LfV 115 9.1 Geheimschutz 117 9.2 Mitwirkung an Zuverlässigkeitsüberprüfungen 118 9.3 Regelanfragen im Bereich des Einbürgerungsund Aufenthaltsrechts 120 Anhang 122 Impressum 10 1 AUFGABEN DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 1 AUFGABEN DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ Seitenzahl 13 1.1 Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden 14 1.2 Rechtsgrundlagen und Kontrolle des Verfassungsschutzes 15 1.3 Haushalt und Personal 1 AUFGABEN DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 11 1 Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz Das Grundgesetz konstituiert die Bundesrepublik Deutschland als wehrhafte Demokratie. Neben weiteren rechtlichen Vorkehrungen bildet die Einrichtung von Verfassungsschutzbehörden hierbei eine wesentliche institutionelle Säule, die verfassungsrechtlich vorgezeichnet ist. Gemäß Art. 73 Grundgesetz besteht die Aufgabe des Verfassungsschutzes im Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung sowie des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder. Die Verfassungsschutzgesetze von Bund und Ländern führen diesen Auftrag näher aus und erläutern, dass auch die Aspekte der Spionageabwehr, des Schutzes der auswärtigen Belange Deutschlands vor Gefährdungen mittels Gewaltanwendung und den Gedanken der Völkerverständigung hierzu gehören. Der für die Arbeit des Verfassungsschutzes zentrale Aspekt der freiheitlich-demokratiFreiheitliche demokratische schen Grundordnung umfasst dabei nach der Rechtsprechung des BundesverfassungsGrundordnung gerichts die tragenden Prinzipien des freiheitlichen Verfassungsstaates: das RechtsGarantie der Menschenwürde staatsund das Demokratieprinzip sowie den Schutz der Menschenwürde, mithin jene Demokratieprinzip fundamentalen Werte und Prinzipien, die für unser Gemeinwesen schlechthin unverRechtsstaatsprinzip zichtbar sind. Bestrebungen, die dagegen gerichtet sind, werden auch als extremistisch bezeichnet. Dieser Begriff ist daher nicht eine Frage des jeweiligen politischen Standpunkts, sondern durch das Grundgesetz und die Verfassungsschutzgesetze für die Arbeit des Verfassungsschutzbehörden vorgegeben. Die Bedrohungen, zu deren Abwehr der Verfassungsschutz seinen Beitrag leistet, können sich dabei mit der Zeit verändern und neue Gefahren treten hinzu. Während der Rechtsund der Linksextremismus ebenso wie der auslandsbezogene Extremismus seit vielen Jahrzehnten für die Gefährdungslage relevant sind, haben später hinzugekommenen Phänomene wie der Islamismus und neuere Entwicklungen wie etwa die "Reichsbürgerbewegung" die Bedrohungslage komplexer werden lassen. Für die Arbeit des Landesamts für Verfassungsschutz ist dabei naturgemäß die Sicherheitslage in der Freien Hansestadt Bremen maßgebend. Insbesondere das Ausmaß der Gewaltorientierung, die im Einzelfall erkennbar wird, ist dabei ein wichtiger Aspekt, der für die Schwerpunktsetzung bei der Beobachtung der Bestrebung entscheidend ist. Vielfach bereiten jedoch auch Bestrebungen im nicht-gewaltorientierten Extremismus das Umfeld für andere, die Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung unterstützen oder befürworten; auch diese müssen daher intensiv in den Blick genommen werden. Neben den extremistischen Gefahren, die je nach einzelner Bestrebung und Phänomenbereich unterschiedlich ausgeprägt sind, herrscht bei anderen Elementen bisweilen Übereinstimmung über die extremistischen Lager hinweg, etwa bei antisemitischen Verhaltensweisen: 12 1 AUFGABEN DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Antisemitismus Antisemitismus stellt einen Arbeitsschwerpunkt des LfV dar. Die Verbreitung von Antisemitismus unter Islamisten, Rechtsund Linksextremisten sowie weiteren Extremisten zeigte sich nicht zuletzt durch die steigende Zahl antisemitischer Vorfälle in den vergangenen Jahren in Deutschland. Der Verfassungsschutz arbeitet mit der 2017 von der "Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken" (IHRA) entwickelten Arbeitsdefinition: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein." (BT-Drs. 19/444, Bremische Bürgerschaft 19/1808) Im Rechtsextremismus gehört die Feindschaft gegenüber Juden zum festen Bestandteil der Ideologie. Im Nationalsozialismus wurde die Ausgrenzung, Vertreibung und Vernichtung von Juden rassistisch begründet, während Antisemitismus bis dahin vor allem religiös und sozial begründet worden war. Entsprechend noch heute existierender und ständig weiter gesponnener Verschwörungsfantasien werden Juden weltweit für politische, soziale und wirtschaftliche Probleme verantwortlich gemacht; es herrscht die Vorstellung, dass ein weltweit vernetztes jüdisches Volk die Fäden im Verborgenen spinnt. Der Verfassungsschutz kann und soll dabei diese Gefahren nicht unmittelbar selbst abwehren, sondern ist damit betraut, entsprechende Informationen zu sammeln und zu analysieren und die Erkenntnisse sodann Dritten zur Verfügung zu stellen. Empfänger dieser Informationen des bremischen Verfassungsschutzes sind einerseits Senat und Bürgerschaft, die insbesondere mit Analysen zur Sicherheitslage in Bremen unterstützt werden. Zum anderen sind andere Behörden wesentliche Abnehmer der Erkenntnisse, insbesondere Polizei und Ordnungsbehörden. Nicht zuletzt ist die allgemeine Öffentlichkeit zentraler Adressat der Erkenntnisse des Verfassungsschutzes; u. a. durch das Veröffentlichen des jährlichen Verfassungsschutzberichtes. Zunehmend werden aber auch weiterführende Erläuterungen nachgefragt, die das LfV auf Nachfrage etwa in Form von Vorträgen gern zur Verfügung stellt. 1 AUFGABEN DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 13 1.1 Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden Der Verfassungsschutz hat eine andere Aufgabe als andere Sicherheitsbehörden, insbesondere als die Polizei. Letztere kann im Regelfall erst dann tätig werden, wenn eine konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder bereits eine Straftat vorliegt. Für die Aufgabe des Verfassungsschutzes, vor extremistischen Bestrebungen zu warnen und darüber zu informieren, käme dies regelmäßig zu spät. Gleichwohl gehen auch von diesen Bestrebungen vielfach konkrete Gefahren aus, sodass eine Zusammenarbeit der unterschiedlichen Behörden unabdingbar ist. Da Verfassungsschutzund Polizeibehörden schon von Verfassungswegen voneinander organisatorisch und inhaltlich getrennt sein müssen, bestehen für die Zusammenarbeit der Behörden jeweils gesetzliche Bestimmungen, u. a. in Form von Vorschriften, die die Informationsübermittlung regeln. Gemeinsame Zentren Als eine besondere Ausprägung der Zusammenarbeit haben sich seit einigen Jahren das "Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum" (GTAZ) für den Bereich des islamistischen Terrorismus und das "Gemeinsame Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum" (GETZ) für die übrigen Phänomenbereiche bewährt. An ihnen sind insbesondere die Polizeibehörden von Bund und Ländern wie auch sämtliche deutsche Nachrichtendienste beteiligt. GTAZ und GETZ tragen dabei zum effizienten Informationsaustausch bei. Bundesamt für GeneralbundesMigration und anwalt Flüchtlinge Bundesamt für BundeskriminalVerfassungsamt schutz 16 Landesämter 16 Landeskriminalämter GTAZ für VerfassungsNIAS schutz PIAS GETZ BundesBundespolizei nachrichtendienst Militärischer Zollkriminalamt Abschirmdienst 14 1 AUFGABEN DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 1.2 Rechtsgrundlagen und Kontrolle des Verfassungsschutzes Wie bei jeder anderen Behörde ist auch für das Handeln des Verfassungsschutzes in jedem Einzelfall eine gesetzliche Grundlage erforderlich. Neben dem Bundesverfassungsschutzgesetz, das bundeseinheitlich auch mit Wirkung für die Länder Aspekte der Zusammenarbeit regelt, ist das bremische Verfassungsschutzgesetz (BremVerfSchG), die zentrale Rechtsgrundlage, die für das Landesamt für Verfassungsschutz wesentliche Aufgaben und Befugnisse normiert. Hinzu treten weitere Gesetze, etwa für den Bereich der Telekommunikationsüberwachung das Artikel-10-Gesetz mit einem bremischen Ausführungsgesetz. In zahlreichen anderen Gesetzen werden dem Verfassungsschutz darüber hinaus Mitwirkungsaufgaben auferlegt, vor allem im Bereich der Sicherheitsoder Zuverlässigkeitsüberprüfungen von Personen, etwa durch das bremische Sicherheitsüberprüfungsgesetz, das Luftsicherheitsgesetz oder das Waffengesetz. Bei der Erfüllung seiner Aufgaben nach diesen Gesetzen unterliegt das Landesamt für Verfassungsschutz dabei der Kontrolle, zum Teil durch besondere Gremien. Neben der allgemeinen Kontrolle, der jede Behörde unterliegt, also einerseits durch die behördeninterne Kontrolle des Senators für Inneres sowie andererseits die externe Kontrolle durch die Gerichte oder z. B. die Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit, treten aufgrund der besonderen Befugnisse des Verfassungsschutzes die Parlamentarische Kontrollkommission und die G 10-Kommission: Parlamentarische Kontrollkommission (PKK) Die PKK besteht aus wenigen Mitgliedern der Bürgerschaft und wird vom Senator für Inneres über die gesamte Tätigkeit des Landesamts für Verfassungsschutz umfassend unterrichtet. Sie kann auch Einsicht in die Unterlagen des Amtes nehmen und Zugang zu seinen Einrichtungen verlangen. Aufgrund dieser eingehenden Unterrichtung über die regelmäßig einer besonderen Vertraulichkeit unterliegenden Informationen tagt sie geheim. Die aktuelle personelle Zusammensetzung der PKK ist auf der Internetseite der bremischen Bürgerschaft verzeichnet, https://www.bremische-buergerschaft.de/ index.php?id=255. G10-Kommission Die G 10-Kommission entscheidet über die Zulässigkeit und Notwendigkeit von Beschränkungsmaßnahmen des Telekommunikationsgeheimnisses. Ihre Kontrolle erstreckt sich auf die gesamte Erhebung, Verarbeitung und Nutzung der entsprechenden Daten. Sie besteht aus drei Personen, die von der Bremischen Bürgerschaft gewählt werden. Mindestens der oder die Vorsitzende besitzt die Befähigung zum Richteramt. Senator Gerichte Bürgerschaft und PKK Datenschutz(Parlamentarische beauftragte Kontrollkommission) Bremer Verfassungsschutz G10-Kommission Medien Innendeputation Bürger:innen 1 AUFGABEN DES LANDESAMTES FÜR VERFASSUNGSSCHUTZ VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 15 1.3 Haushalt und Personal Zur Erfüllung seiner Aufgaben gab das Landesamt für Verfassungsschutz Bremen im Haushaltsjahr 2021 für Personal 3.930.380,31 Euro (2020: 3.728.065,92 Euro) und für Sachmittel 1.200.576,78 Euro (2020: 1.353.169,59 Euro) aus. Die investiven Ausgaben betrugen 516.478,21 Euro (2020: 180.192,44 Euro). Das Gesamtausgabevolumen lag bei 5.647.435,30 Euro (2020: 5.261.427,95 Euro). Das Beschäftigungsvolumen umfasste 72 Vollzeiteinheiten (2020: 72). 16 2 ÖFFENTLICHKEITSARBEIT UND PRÄVENTION VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 2 ÖFFENTLICHKEITSARBEIT UND PRÄVENTION Seitenzahl 17 2.1 Öffentlichkeitsarbeit des LfV 18 2.2 Präventionsangebote in Bremen 2 ÖFFENTLICHKEITSARBEIT UND PRÄVENTION VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 17 2 Öffentlichkeitsarbeit und Prävention 2.1 Öffentlichkeitsarbeit des LfV Die Bekämpfung extremistischer Aktivitäten erfolgt in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext. Aus diesem Grund ist es dem LfV ein besonderes Anliegen, das Wissen des Verfassungsschutzes für die Aufklärung und die freie Meinungsbildung, aber auch für die erfolgreiche Präventionsarbeit anderer Institutionen in Staat und Gesellschaft zur Verfügung zu stellen. Um den Anforderungen an einen modernen Verfassungsschutz gerecht zu werden, legt das Bremer Landesamt großen Wert auf größtmögliche Transparenz. Gleichzeitig gilt es, die Rolle als ein der Vertraulichkeit verschriebener Nachrichtendienst nicht aus den Augen zu verlieren, der in allen Bereichen des Extremismus auch für besonders schutzwürdige Informationen oder Informationsgeber ansprechbar sein muss. Die häufig vertraulich erlangten Informationen zu abstrahieren, um sie dadurch der Öffentlichkeit zugänglich machen zu können, gehört zu den besonderen Aufgaben des LfV. Um der Rolle als "Frühwarnsystem" gerecht zu werden, nutzt das LfV gezielt unterschiedliche Formate, um die Öffentlichkeit über die Erkenntnisse hinsichtlich der Entwicklungen extremistischer Bestrebungen zu informieren. Neben dem hier vorgelegten Jahresbericht 2021, der eine umfassende Zusammenstellung der Aktivitäten unterschiedlicher Organisationen und Personen in allen extremistischen Phänomenbereichen darstellt, werden auch zielgerichtet einzelne Themen im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit aufgegriffen. Hierbei beteiligen sich die Angehörigen des LfV überregional an Vortragsveranstaltungen, Podiumsdiskussionen oder Workshops. Insgesamt bezweckt das LfV durch die unterschiedlichen Formen der Öffentlichkeitsarbeit zu einer tatsachenbasierten Darstellung von extremistischen Erscheinungsformen beizutragen und die Bevölkerung insoweit zu sensibilisieren. Unabdingbare Voraussetzung einer wehrhaften Demokratie ist eine gut informierte Öffentlichkeit, die im Stande ist, extremistischen Ideologen entschieden entgegenzutreten. Vorträge Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit bietet das LfV Vorträge über extremistische Bestrebungen an. In den Vorträgen kann es um aktuelle Entwicklungen und extremisVortragsanfragen: tische Erscheinungsformen im Lande Bremen gehen, jedoch können nach Bedarf auch Haben Sie oder Ihre Institution andere Schwerpunkte gesetzt werden. Die Vorträge richten sich insbesondere an Interesse an einem Vortrag zu Beschäftigte von Behörden, Einrichtungen, Vereinen und Schulen. So werden regeleinem oder mehreren Themenmäßig Schulungen in unterschiedlichen Bereichen der öffentlichen Verwaltung angefeldern im Bereich Extremismus boten, die die Teilnehmenden in die Lage versetzen, extremistische Tendenzen zu und Prävention? Dann kontaktieerkennen und hiermit umzugehen, etwa durch die Vermittlung von Kontakten zu ren Sie uns gerne entweder unter Deradikalisierungsoder Präventionseinrichtungen. office@lfv.bremen.de oder über unsere Rufnummer 0421 5377-0. Im Bereich Islamismus verfolgt das LfV vor allem das Ziel, die öffentliche Debatte über Islam und Islamismus zu versachlichen und die bremische Bevölkerung über islamistische Bestrebungen zu informieren, um auf diese Weise auch einen Beitrag zur Bekämpfung von antimuslimischem Rassismus zu leisten. Beschäftigte von Behörden und zivilgesellschaftlichen Stellen sollen in die Lage versetzt werden, zwischen legitimer Religionsausübung und dem eventuellen Abdriften einer Person in extremistische Kreise zu unterscheiden. Zentrales Anliegen ist es, dabei zu helfen, die Radikalisierung junger Personen frühzeitig zu erkennen und verschiedene Maßnahmen und Meldewege aufzuzeigen, bevor Sicherheitsbehörden aktiv werden müssen. 18 2 ÖFFENTLICHKEITSARBEIT UND PRÄVENTION VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Öffentlichkeitsarbeit und Corona Die durch die Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben im vergangenen Jahr dazu geführt, dass viele der geplanten Veranstaltungen entweder gar nicht oder nicht in der gewohnten Form stattfinden konnten. Gerade in diesen Zeiten, in denen durch die Auswirkungen der Pandemie eine große Verunsicherung innerhalb der Bevölkerung herrscht und Extremisten jeglicher Couleur versuchen, vor allem diese verunsicherten Teile der Gesellschaft für ihre Propagandazwecke zu instrumentalisieren, spielt die Öffentlichkeitsarbeit durch das LfV eine essentielle Rolle bei der Aufklärung und Sensibilisierung der Bevölkerung. Im Bereich der Fortbildungsund Vortragsveranstaltungen wurde daher vermehrt auf die Nutzung digitaler Formate zurückgegriffen, um die entsprechenden Ausfälle zu kompensieren. Die verstärkte Nutzung von Online-Formaten bietet langfristig die Möglichkeit, größere Teile der Bevölkerung zu erreichen, weshalb in Zukunft vermehrt der Ausbau der Online-Angebote durch das LfV vorangetrieben wird. 2.2 Präventionsangebote in Bremen Demokratiezentrum Land Bremen Kontakt: Das Demokratiezentrum Land Bremen koordiniert umfassende Präventionsund BeraSenatorin für Soziales, Jugend, tungsangebote für Betroffene, Ratsuchende und Interessierte zu den Themengebieten Frauen, Integration und Sport Rechtsextremismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sowie islamistischer Referat 22 - Extremismus und Muslim:innenfeindlichkeit. Das Bundesprogramm "Demokratie leben!" Kinderund Jugendförderung bildet die Arbeitsgrundlage. Die Arbeit des Projektverbundes ist an den Förderzielen Demokratiezentrum "Demokratieförderung, Extremismusprävention und Vielfaltgestaltung" ausgerichtet. Dienstsitz: Bahnhofstraße 28 - 31 Postanschrift: Bahnhofsplatz 29 Das Demokratiezentrum fungiert als Erstkontaktstelle und verweist an die Beratungs28195 Bremen stellen im Projektverbund. Das bei freien Trägern der Kinderund Jugendhilfe angesieTel.: 0421 361-996 67 delte Beratungsangebot beruht auf den fachlichen Grundsätzen der Freiwilligkeit und demokratiezentrum@ der Vertraulichkeit, ist niedrigschwellig ausgerichtet und für Ratsuchende kostenfrei. soziales.bremen.de Das Demokratiezentrum koordiniert Unterstützungsangebote für Betroffene rechter www.demokratiezentrum.bremen.de Gewalt und Angebote der Distanzierungsund Ausstiegsberatung, die zivilgesellschaftlich verortet sind. Zum Umgang mit den Phänomenbereichen Rechtsextremismus, islamistischer Extremismus, Muslim:innenfeindlichkeit und weiteren Facetten gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit bietet das Demokratiezentrum Hilfestellungen bzgl. Interventionsmöglichkeiten und Handlungsstrategien. Neben der Koordination der Netzwerkarbeit für die Akteurinnen und Akteure in den Arbeitsfeldern werden Informationsmaterialien entwickelt und Fachveranstaltungen organisiert. Das Angebot der Fachund Beratungsstelle "kitab" richtet sich primär an Eltern und Angehörige von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich möglicherweise in einem Hinwendungsprozess zu religiös begründetem Extremismus befinden. Ebenso leistet "kitab" Fachberatung und Unterstützung für Fachkräfte der Kinderund Kontakt: Jugendhilfe, der sozialen Dienste und weiterer relevanter Berufsfelder, die hinsichtlich www.vaja-bremen.de/teams/ solcher Wahrnehmungen sensibilisiert sind. Die Fachund Beratungsstelle begleitet kitab bei der Distanzierung und bietet Unterstützung für die betroffenen Heranwachsenden. E-Mail: kitab@vaja-bremen.de Je nach Bedarf kann die Beratung auch in türkischer, arabischer und englischer Sprache Tel.: 0157 55 75 30 02 oder erfolgen. "kitab" ist Teil des Projektverbundes des Demokratiezentrums. 0177 69 12 905 2 ÖFFENTLICHKEITSARBEIT UND PRÄVENTION VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 19 Kompetenzzentrum für Deradikalisierung und Extremismusprävention - KODEX In Ergänzung zum Angebot des Demokratiezentrums Bremen koordiniert KODEX Anfragen und Angebote bei der Arbeit mit bereits stark radikalisierten Personen aus den Bereichen des demokratiefeindlichen und gewaltorientierten Islamismus sowie des gewaltorientierten Rechtsextremismus. Für diesen Bereich der sog. tertiären Kontakt: Prävention arbeitet KODEX eng mit der zivilgesellschaftlichen Beratungsstelle LegatoDer Senator für Inneres Disengagement zusammen. Kodex unterstützt sowohl die Vernetzung der Akteure im Referat 313-4 Aufgabenkreis der allgemeinen Extremismusprävention als auch die wissenschaftliche KODEX - Kompetenzzentrum Begleitforschung im Themenfeld Radikalisierung, Deradikalisierung und Ausstieg. für Deradikalisierung und Außerdem bietet KODEX Hilfe bei Qualifizierung und Weiterbildung für diesen Bereich an. Extremismusprävention Contrescarpe 22/24 KODEX versteht sich nicht zuletzt als allgemeiner Ansprechpartner für Fragen rund um 28203 Bremen das Thema Extremismusprävention. Tel.: 0421 361-81679 kodex@inneres.bremen.de www.kodex.bremen.de/ 20 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 3 RECHTSEXTREMISMUS Seitenzahl 21 3.1 Rechtsextremistisches Weltbild 23 3.2 Rechtsterrorismus 26 3.3 Rechtsextremistische Agitation und Propaganda 29 3.4 Rechtsextremistische Beeinflussung der Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie durch Extremist:innen 30 3.4.1 Demonstrationsgeschehen 30 3.4.2 Rechtsextremistische Beeinflussung der "Corona-Proteste" in Bremen und Bremerhaven 31 3.5 Strukturen und Gruppierungen im Rechtsextremismus 31 3.5.1 "Neue Rechte" 33 3.5.2 "Identitäre Bewegung" 34 3.5.3 AfD - Teilorganisationen "Der Flügel" und "Junge Alternative" 35 3.5.4 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) 36 3.5.5 Partei "Die Rechte" 37 3.5.6 "Der III. Weg" 38 3.5.7 Rechtsextremistische "Mischszene" Bremens 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 21 3 Rechtsextremismus Die rechtsextremistische Szene versuchte auch im Jahr 2021 von gesamtgesellschaftlichen Krisen und Konfliktlagen zu profitieren: Bundesweit unterwanderten Teile der Szene aktiv die Proteste, die im Kontext der andauernden Corona-Pandemie stattfanden und trugen so wesentlich zur fortschreitenden Radikalisierung der Protestlage bei. Zudem nutzten Rechtsextremist:innen im Sommer die verheerenden Folgen der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, um sich als Helfer:innen und Unterstützer:innen zu profilieren, während sie gleichzeitig das vermeintliche Staatsversagen anzuprangern versuchten. Das Ausnutzen von Notlagen dient der Verbreitung ihrer demokratieablehnenden Haltung und Propaganda. Rechtsterroristische Täter:innen1 und Kleingruppen bilden weiterhin eine enorme Bedrohung für den demokratischen Rechtsstaat. Die Gefahr, dass sich rechtsterroristische Anschläge wie in Kassel, Halle oder Hanau wiederholen, ist insbesondere in Hinblick auf die dynamische Entwicklung der Szene im Kontext der Corona-Pandemie äußerst ernst zu nehmen. Die Sicherheitsbehörden stehen vor der Herausforderung, sowohl virtuelle als auch realweltliche Radikalisierungsprozesse frühzeitig zu erkennen. 3.1 Rechtsextremistisches Weltbild Rechtsextremismus ist eine Weltanschauung, die sich vor allem gegen die fundamentale Gleichheit aller Menschen richtet (Ideologie der Ungleichheit). Rechtsextremist:innen sind der Überzeugung, dass die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder Rasse über den Wert eines Menschen entscheidet, welchem aufgrund dessen (Grund-) Rechte verwehrt bleiben. Die rechtsextremistische Ideologie besteht aus folgenden Elementen: Fremdenfeindlichkeit Fremdenfeindlichkeit umschreibt eine ablehnende Haltung gegenüber allem, was als fremd und deshalb bedrohlich oder minderwertig empfunden wird. Abgelehnt werden vor allem Ausländer:innen, Personen muslimischen Glaubens, Obdachlose, Behinderte und Homosexuelle. Personen werden aufgrund ihrer religiösen Überzeugung, ethnischen Zugehörigkeit oder Nationalität abgewertet. Während die Ausländerfeindlichkeit die Feindseligkeit gegenüber Ausländer:innen meint, beschreibt die Islamoder Muslimfeindlichkeit die Feindseligkeit speziell gegenüber Personen muslimischen Glaubens. Antisemitismus Antisemitismus meint die Feindschaft gegenüber Personen jüdischen Glaubens, die häufig politisch, kulturell, sozial oder rassistisch begründet ist und vielfach mit Verschwörungsideologien untermauert wird. Die Feindschaft gegenüber Juden ist nach wie vor das verbindende Ideologieelement von Rechtsextremist:innen unterschiedlicher Spektren. 1 Die Verwendung des durchaus umstrittenen Begriffs "Einzeltäter:in" wird dieser Stelle vermieden, da er insofern irreführend ist, als dass die Taten zwar durch allein handelnde Personen ausgeführt werden, die Täter:innen sich aber immer in einem sozialen Umfeld radikalisieren. 22 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Revisionismus Trotz der Erfahrungen Deutschlands während der Zeit des Nationalsozialismus ist der Rechtsextremismus durch Einstellungen geprägt, die geschichtliche Tatsachen leugnen und tendenziell zur Verharmlosung, Rechtfertigung oder gar Verherrlichung nationalsozialistischer Verbrechen einschließlich des Holocausts beitragen. Revisionismus meint die Umdeutung historischer, rechtlicher und wissenschaftlicher Fakten für die eigenen Zwecke. Rassismus Rassismus ist eine Ideologie der Ungleichheit, die sich durch eine menschenfeindliche Abwertung anderer aufgrund deren Zugehörigkeit zu einer vermeintlich homogenen Gruppierung ausdrückt. Beim Rassismus wird aus genetischen Merkmalen der Menschen eine naturgegebene Rangordnung abgeleitet und zwischen "wertvollen" und "minderwertigen" Rassen unterschieden. Nationalismus und Konzept der Volksgemeinschaft Unter Nationalismus ist ein übersteigertes Bewusstsein vom Wert und der Bedeutung der eigenen Nation zu verstehen. Die eigene Nation wird dabei gegenüber anderen als höherwertig eingestuft. Der völkische oder rassistisch geprägte Nationalismus beruft sich darüber hinaus auf das Konzept der Volksgemeinschaft, welches die Verschmelzung eines totalitären Staates mit einer ethnisch homogenen Gemeinschaft vorsieht. In dieser Gemeinschaft sind die Interessen und Meinungen der Einzelnen dem Interesse und dem Wohl der Volksgemeinschaft gänzlich untergeordnet. Konzept des Ethnopluralismus Weltanschauungen, in denen der historische Nationalsozialismus und der völkische Rassismus betont werden, verlieren in der rechtsextremistischen Szene teilweise an Bedeutung. Vertreter:innen eines ethnopluralistischen Weltbildes argumentieren, dass sich Menschen nicht aufgrund ihrer "Rasse" voneinander unterscheiden, sondern anhand ethnischer und kultureller Faktoren. Dem Individuum kommen ausschließlich (Menschen-)Rechte aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einem ethnokulturellen Kollektiv zu. Das Konzept des Ethnopluralismus läuft jedoch ebenso wie das Konzept der Volksgemeinschaft im Wesentlichen auf die Idealvorstellung eines ethnisch homogenen Staates hinaus, in dem sich das Individuum sowohl auf politischer als auch auf gesellschaftlicher Ebene dem Kollektiv unterordnet. Ablehnung von Demokratie und Pluralismus Das Ziel aller Rechtsextremist:innen besteht darin, den demokratischen Rechtsstaat mit seiner pluralistischen Gesellschaftsordnung durch einen ethnisch homogenen Staat oder eine Volksgemeinschaft zu ersetzen. Diese antidemokratischen Vorstellungen stehen im Widerspruch zur Werteordnung des Grundgesetzes und zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Fremdenfeindlichkeit als Grundelement rechtsextremistischen Denkens ist weder mit dem Prinzip der Menschenwürde noch mit dem Prinzip der Gleichheit aller Menschen vereinbar. Das autoritäre Staatsverständnis und das antipluralistische Gesellschaftsverständnis widersprechen sowohl dem Demokratieprinzip, wie z. B. der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität, dem Schutz von Minderheiten oder dem Recht zur Bildung und Ausübung einer Opposition, als auch dem Rechtsstaatsprinzip, wie z. B. der Rechtsbindung der öffentlichen Gewalt, der Kontrolle dieser Bindung durch unabhängige Gerichte sowie dem staatlichen Gewaltmonopol. 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 23 3.2 Rechtsterrorismus Die drei rechtsterroristischen Attentate in Hanau im Februar 2020, in Halle im Oktober 2019 und in Kassel im Juni 2019 zeigen eindrücklich die große Herausforderung, vor der die Sicherheitsbehörden bei der Identifizierung von sich radikalisierenden rechtsterroristischen Täter:innen und Kleingruppen stehen. Über den mutmaßlichen Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke hatte der Verfassungsschutz zum Tatzeitpunkt keine aktuellen Erkenntnisse mehr, obwohl er einen langen Vorlauf in der rechtsextremistischen Szene hatte. Den Attentäter von Halle kannte der Verfassungsschutz nicht, obwohl sein Weltbild eindeutig rassistisch und antisemitisch ist. Ebenso wenig war dem Verfassungsschutz der Attentäter von Hanau vor der Tat bekannt, der ein rechtsextremistisches, rassistisches Weltbild pflegte. Der Verfassungsschutz steht vor der schwierigen Aufgabe, rechtsextremistisch motivierte Personen oder Kleingruppen, die sich im Verborgenen im Internet und in sozialen Netzwerken radikalisieren, jedoch keine (enge) organisatorische Anbindung an die rechtsextremistische Szene aufweisen, in den Fokus zu nehmen. Bei der Identifizierung potenzieller rechtsextremistischer Attentäter:innen besteht zudem die Schwierigkeit, ihr Radikalisierungspotenzial und ihre weitere Entwicklung einzuschätzen und frühzeitig zu prognostizieren. Als Reaktion auf die rechtsextremistisch motivierten Terroranschläge richtete der Senator für Inneres im Jahr 2020 die behördenübergreifende Task Force "Rechten Terror in Bremen verhindern" mit dem Ziel ein, virtuelle und realweltliche Radikalisierungsprozesse frühzeitig zu erkennen und somit das rechtsterroristische Bedrohungspotenzial zu minimieren. Im Rahmen der "Task Force" wurde beim LfV die Analyseeinheit "Hass und Hetze" eingerichtet, die einen personenorientierten Bearbeitungsansatz verfolgt. Vertrauliches Hinweistelefon des LfV Da die Verhinderung rechtsextremistischer Anschläge eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellt, hat das LfV Bremen ein vertrauliches Hinweistelefon geschaltet: Verdächtige Wahrnehmungen können der Telefonnummer 0421-5377-250 mitgeteilt werden. Rassistisch motiviertes Attentat in Hanau Der rechtsterroristische Attentäter Tobias R., der am 19. Februar 2020 an drei Tatorten in Hanau insgesamt zehn Personen ermordete, fünf weitere Personen verletzte und sich im Anschluss an die Tat selbst tötete, handelte aus einer rassistischen, fremdenfeindlichen Motivation heraus, die er in Beiträgen und Videos auf seiner Internetseite darlegte. Rechtsextremistische Ideologieelemente, wie Antisemitismus sowie ein rassistisches und ethnisch-homogenes Weltbild vertritt er ebenfalls in seiner "Botschaft an das gesamte deutsche Volk", mit der er seine Tat zu erklären versuchte. Das 24-seitige Schreiben besitzt starken autobiografischen Charakter und offenbart psychische Probleme des Attentäters. Verschwörungsfantasien sind in seinem Weltbild von zentraler Bedeutung, so glaubt er an die ständige Überwachung durch eine ominöse "Geheimorganisation". 24 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Antisemitisch motiviertes Attentat in Halle Am 9. Oktober 2019 versuchte der Rechtsextremist Stephan B., während des JomKippur-Gottesdienstes mit selbstgebauten Sprengsätzen und Schusswaffen bewaffnet eine Synagoge in Halle zu stürmen, scheiterte jedoch an den verschlossenen Toren. In der Synagoge hielten sich zum Tatzeitpunkt ca. 50 Gläubige auf. Nach der misslungenen Stürmung erschoss er vor der Synagoge eine Passantin und tötete im Anschluss eine weitere Person in einem nahegelegenen türkischen Imbiss. Während seines Fluchtversuchs, bei dem weitere Passanten verletzt wurden, lieferte er sich eine Schießerei mit der Polizei. Der Rechtsextremist Stephan B. wurde am 21. Dezember 2020 vom Oberlandesgericht Naumburg u. a. wegen zweifachen Mordes, vielfachen Mordversuchs und Volksverhetzung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Das Gericht stellte zudem die besondere Schwere der Schuld fest. Seine Tat hatte Stephan B. live per Helmkamera auf einer Gaming-Plattform übertragen und kommentierte sie für die Zuschauer:innen. Ähnlich wie bei einem Ego-Shooter, einem Computerspiel, bei dem der Spielende aus der Ich-Perspektive Mitspielende mit Waffen bekämpft, setzte er sich sog. "Achievements": Gewisse Tathandlungen folgten einem von ihm aufgestellten Punktesystem. Stephan B. hatte im Vorfeld der Tat ein Bekennerschreiben auf Englisch veröffentlicht, in welchem er sein rechtsextremistisches und antisemitisches Weltbild offenbarte. Das Manifest sowie der Tathergang weisen Parallelen zu dem Terroranschlag auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch im März 2019 auf, bei dem insgesamt 51 Menschen getötet und weitere 50 verletzt wurden, sowie den Morden des norwegischen Massenmörders Anders Breivik im Jahre 2011. Die Liveübertragung der Morde sowie der Gaming-Charakter des Tathergangs sind Ausdruck eines neuen rechtsterroristischen Bedrohungspotenzials, welches sich im Verborgenen der virtuellen Welt entwickeln und letztlich in realen Taten münden kann. Über Plattformen und Imageboards werden rechtsextremistische Ideologien und Verschwörungstheorien ausgetauscht und die Täter:innen rechtsterroristischer Anschläge glorifiziert. Mit geringem Aufwand können über das Internet eine enorme Reichweite erzielt und Nachahmungstäter:innen animiert werden. Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) gilt als "Zäsur", denn erstmals ist seit dem Jahr 1945 ein amtierender Politiker durch einen rechtsextremistisch motivierten Anschlag getötet worden. Lübcke wurde am 2. Juni 2019 vor seinem Wohnhaus aus nächster Nähe erschossen. Der Rechtsextremist Stephan E. wurde am 28. Januar 2021 vom Oberlandesgericht Frankfurt wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Gericht stellte die besondere Schwere der Schuld fest, das heißt, dass eine Entlassung auf Bewährung aus der Strafhaft nach bereits 15 Jahren nicht in Betracht kommt. Der Rechtsextremist Stephan E. war über Jahre nicht mehr aktiv in rechtsextremistische Strukturen eingebunden und stand somit nicht im Fokus des Verfassungsschutzes. Der Tatverdächtige radikalisierte sich im Kontext der rechtsextremistischen "AntiAsyl-Agitation" als Reaktion auf die sog. "Flüchtlingskrise" im Jahr 2015. Videound Fotoaufnahmen belegen, dass Stephan E. am 1. September 2018 am sog. "Trauermarsch" in Chemnitz teilnahm. Unter der Vorgabe, man trauere "um die Toten und Opfer der illegalen Migrationspolitik" in Deutschland, kam es bei dieser ausländerfeindlichen Kundgebung zu einem "Schulterschluss" des vermeintlich "patriotischen" Lagers mit Pegida und Teilen der rechtsextremistischen Szene. Lübcke, der sich für die Aufnahme von Geflüchteten in seinem Wahlkreis aussprach, wurde für seine Haltung von Rechtsextremist:innen sowie Personen aus dem islamfeindlichen Spektrum bedroht. Die Tat reiht sich ein in eine Serie von Bedrohungen von Politiker:innen, die 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 25 die Aufnahme von Geflüchteten befürworten. Nach der Tat verhöhnten Rechtsextremist:innen den ermordeten Regierungspräsidenten in sozialen Netzwerken und kündigten weitere Taten an. "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) Die geplante und gezielte Mordserie der rechtsterroristischen Gruppierung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU), die über Jahre kein öffentliches Bekenntnis in direkter oder indirekter Form ablegte, stellt eine Besonderheit in der Geschichte des deutschen Terrorismus dar. Die in den 1970erbis 2000er Jahren in Deutschland existierenden rechtsterroristischen Gruppierungen begingen keine Serienmorde an Personen und auch keine gezielten Tötungen. Im Vergleich zu früheren Gruppierungen im Rechtsterrorismus unterscheidet sich der NSU damit deutlich hinsichtlich seiner Gewaltintensität. Die Mitglieder des NSU lebten rund 13 Jahre im Untergrund und ermordeten in den Jahren 2000 bis 2007 insgesamt zehn Menschen vor allem aus fremdenfeindlichen und rassistischen Motiven. Darüber hinaus beging das Trio mindestens zwei Bombenanschläge und 15 bewaffnete Raubüberfälle. Der von Mai 2013 bis Juli 2018 laufende Strafprozess richtete sich nach dem Selbstmord der beiden Mitglieder der rechtsterroristischen Gruppierung Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos im Jahr 2011 gegen das einzige noch lebende NSU-Mitglied Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer. Das Oberlandesgericht München verurteilte 2018 alle fünf Angeklagten wegen unterschiedlicher Tatvorwürfe im Zusammenhang mit der Mordserie des NSU für schuldig und verurteilte sie zu mehrjährigen Haftstrafen. Am 19. August 2021 wies der Bundesgerichtshof (BGH) die Revision der Hauptangeklagten Zschäpe zurück, wodurch diese nun rechtskräftig als Mittäterin zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden ist. Am 15. Dezember 2021 wies das BGH auch die letzte Revision eines weiteren NSU-Helfers endgültig zurück. Das umfassende und langjährige Verfahren gegen die rechtsterroristische Zelle und ihre Unterstützer wurde somit rechtskräftig abgeschlossen. Rechtsterroristische Kleingruppen Rechtsterroristische Kleingruppen sind neben radikalisierten rechtsterroristischen Täter:innen eine ernstzunehmende Bedrohung für den demokratischen Rechtsstaat, auch weil sie sich häufig nicht aus den bekannten und organisierten rechtsextremistischen Strukturen herausbilden. So bereitete sich beispielsweise die 2017 bekannt gewordene Gruppierung "Nordkreuz" auf einen "Tag X" vor, an dem sie ihre politischen Gegner beseitigen wollte, und hortete dazu Waffen und Munition. Die Mitglieder der Gruppierung "Nordkreuz" gehören der sog. Prepper-Szene an, deren Angehörende sich u. a. durch Einlagerung von Lebensmitteln und Waffen sowie dem Bau von Schutzbauten auf einen möglichen Katastrophenfall vorbereiten. Mit dem Verbot der neonazistischen Organisation "Combat 18 Deutschland" (C18) mit Wirkung vom 23. Januar 2020 wurde erneut seit dem Verbot der "Blood & Honour Division Deutschland" im Jahr 2000 eine international und militant agierende rechtsextremistische Organisation in Deutschland verboten. Am 23. März 2020 verurteilte das Oberlandesgericht Dresden mehrere Mitglieder der rechtsextremistischen Gruppierung "Revolution Chemnitz" zu mehrjährigen Haftstrafen wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Sie hatten den "Systemumsturz" und insbesondere das Ausschalten ihres "politischen Gegners" und staatlicher Repräsentant:innen geplant. Am 23. Juni 2020 wurde mit dem Verbot der rechtsextremistischen Vereinigung "Nordadler" durch das BMI erstmals eine primär im virtuellen Raum agierende Verei- 26 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 nigung verboten. Mitglieder der Gruppierung "Nordadler" nutzten diverse SocialMedia-Plattformen und Chatgruppen, um ihre nationalsozialistische und antisemitische Ideologie zu verbreiten und gezielt jüngere Menschen zu indoktrinieren. Ziel der Vereinigung war u. a. die Rückkehr zu einem NS-Staat. Im April 2021 begann der Prozess gegen Mitglieder der rechtsextremistischen "Gruppe S." (benannt nach ihrem Gründer Werner S.) am Oberlandesgericht Stuttgart. Zuvor wurden am 14. Februar 2020 bundesweit insgesamt 12 Mitglieder der "Gruppe S." wegen des Verdachts der Bildung, Mitgliedschaft und Unterstützung einer rechtsterroristischen Vereinigung unter der Federführung der Generalbundesanwaltschaft festgenommen. Bei den Durchsuchungsmaßnahmen stellte die Polizei scharfe Schusswaffen sowie Hiebund Stichwaffen sicher. Die Mitglieder der "Gruppe S." hatten sich über soziale Netzwerke kennengelernt und sich anschließend getroffen. Die Gruppe plante die Begehung von Anschlägen gegen Politiker:innen, Geflüchtete und Personen muslimischen Glaubens. Durch derartige Anschläge sollten die Bevölkerung und die staatlichen Repräsentant:innen eingeschüchtert werden. Über die Herbeiführung bürgerkriegsähnlicher Zustände zielte die "Gruppe S." auf die Überwindung der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnung ab. Dieses Beispiel verdeutlicht die enorme Bedeutung des Internets für die Vernetzung und Organisation von gewaltorientierten Rechtsextremist:innen. Aus dem gesamten Bundesgebiet schlossen sich gewaltbereite Rechtsextremist:innen zur Umsetzung ihres Vorhabens zusammen. Weder war die Gruppe aus festen rechtsextremistischen Strukturen entstanden noch gab es einen örtlichen Schwerpunkt ihrer Aktivitäten. Die Sicherheitsbehörden stehen insbesondere bei der Identifizierung solcher Zusammenschlüsse gewaltorientierter Rechtsextremist:innen vor großen Herausforderungen. Rechtsextremistischer Anschlag auf das Jugendzentrum "Friese" In der Nacht vom 15. auf den 16. Februar 2020 wurde während eines Konzerts ein Brandanschlag auf das Jugendund Kulturzentrum "Die Friese e.V." im Bremer Steintorviertel verübt. Am Tatort aufgefundene Aufkleber mit "rechten" Inhalten deuteten auf ein politisches Tatmotiv hin. Als Tatverdächtige konnten drei Personen ermittelt werden, die der rechtsextremistischen Szene zugeordnet werden können. In diesem Zusammenhang erwirkte die Staatsanwaltschaft Durchsuchungsbeschlüsse, die am 23. September 2021 vollstreckt wurden. Die Polizei stellte insbesondere Fahnen, Banner und Aufkleber sicher, die das vorhandene nationalsozialistische Gedankengut der Beschuldigten belegen. Die Ermittlungen wegen schwerer Brandstiftung sind noch nicht abgeschlossen. Zum Tatzeitpunkt des Brandes befanden sich mehrere Personen im Gebäude. Die Täter nahmen durch den Anschlag billigend die Gefährdung von Menschenleben in Kauf. Der Anschlag bildet somit einen Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen Angehörenden der rechtsextremistischen Szene und ihren "politischen Gegnern" und verdeutlicht das hohe Gewaltpotenzial, dass von einzelnen Angehörenden der rechtsextremistischen Szene ausgeht. 3.3 Rechtsextremistische Agitation und Propaganda Politischer Gegner als Angriffsziel Bundesweit stehen zahlreiche Parteien, Politiker:innen, Vereine und Initiativen im Fokus rechtsextremistischer Bedrohungen. Neben Droh-E-Mails und -briefen wird auch über die sozialen Netzwerke gegenüber dem "politischen Feind" eine Drohkulisse aufgebaut. Den Adressaten wird dabei nicht selten mit massiver Gewalt und Anschlägen gedroht. Ein:e bisher unbekannte:r Täter:in verschickt seit Anfang des Jahres 2020 zahlreiche Drohbriefe an Empfänger in Bremen und Niedersachsen, welche eine pulverartige 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 27 Substanz enthalten. Adressat:innen dieser Briefe sind Parteien, mehrere Politiker:innen, eine Moschee sowie Vereine, die sich für die Integration von Geflüchteten einsetzen. Die Briefe enthalten rechtsextremistische Inhalte und insbesondere antisemitische Drohungen. Derselben Person werden auch Taten auf Kinderspielplätzen in der Bremer Neustadt zugerechnet, bei denen Messer an Spielgeräten befestigt waren. Juden als Angriffsziel Personen jüdischen Glaubens stellen seit jeher ein Angriffsziel für Rechtsextremist:innen dar. Antisemitische Straftaten gelten generell als extremistisch. Der Großteil der in den vergangenen Jahren begangenen und von der Polizei registrierten antisemitischen Strafund Gewalttaten wurde als "rechts" motiviert eingestuft. Dabei ist zu beachten, dass fremdenfeindliche und antisemitische Straftaten statistisch generell im Bereich der Politisch motivierten Kriminalität ("PMK-Rechts") erfasst werden, wenn der Polizei keine weiterführenden Hinweise zu Tatmotivation oder Täter:in vorliegen. Den Großteil der Straftaten machen Volksverhetzungsund Propagandadelikte aus. So wurden im August 2021 durch unbekannte Täter:innen in der Vegesacker Innenstadt Stolpersteine mit Hakenkreuzen und der Aufschrift "SS" beschmiert. Muslime als Angriffsziel Personen muslimischen Glaubens und ihre Einrichtungen sind seit einigen Jahren ein verstärktes Angriffsziel von Rechtsextremist:innen. Moscheen werden als zentrales Symbol der islamischen Religion und der muslimischen Kultur betrachtet. Straftaten mit islamoder muslimfeindlichen Motiven wies die Polizei erstmals im Jahr 2017 gesondert aus. Darüber hinaus gibt es immer wieder Fälle, in denen Personen muslimischen Glaubens direkt bedroht werden. So verteilten unbekannte Täter:innen im August 2021 in einem Mehrparteienhaus in der Bremer Neustadt ein Flugblatt mit einer Mohammed-Karikatur und dem Schriftzug "Muslime raus aus Deutschland! Oder ihr werdet vergast". Rechtsextremistische Propaganda Das Ziel rechtsextremistischer Propaganda ist die individuelle und kollektive Radikalisierung, indem über gesellschaftspolitische Diskussionen Einfluss auf die Meinung von Einzelpersonen und somit auf Stimmungen in der Gesellschaft genommen wird. Rechtsextremist:innen gelingt es, u. a. mit "weicheren" Formulierungen oder dem Weglassen von verfassungsfeindlichen Positionen, sich in aktuelle politische Diskussionen einzubringen und ihre fremdensowie speziell islamund muslimfeindlichen Positionen zu verbreiten. Der politische Diskurs verändert sich erkennbar dahingehend, dass fremdenund islamfeindliche Positionen offener als noch vor wenigen Jahren vertreten werden. In der politischen Debatte um Asyl und Zuwanderung heben Rechtsextremist:innen die von Geflüchteten begangenen Straftaten hervor. Sie greifen dazu die Sorgen und Ängste vieler Menschen auf, wie die Angst vor einer angeblichen "Überfremdung" oder der vermeintlichen Zunahme von Kriminalität. Das Ziel von Rechtsextremist:innen besteht vor allem darin, die Straftaten von einzelnen Migrant:innen in den Zusammenhang mit der aus ihrer Sicht verfehlten Flüchtlingspolitik der letzten Jahre zu bringen. Hierdurch versuchen sie aufzuzeigen, dass der deutsche Staat unfähig sei, seine Bürgerinnen und Bürger vor kriminellen Geflüchteten und Migrant:innen zu schützen. Dabei betonen die Akteur:innen die soziale Ungerechtigkeit in der Unterstützung für Asylbewerber:innen und "in Not geratene" Deutsche. Rechtsextremist:innen arbeiten hierzu mit diffamierenden Stereotypen: jeder Geflüchtete wird pauschal zum "Vergewaltiger" und jede Person muslimischen Glaubens zu "Terrorist:innen". Mit gezielten Tabubrüchen und dem Zeichnen von Bedrohungsszenarien, für die sie teilweise manipulierte oder verfälschte Informationen heranziehen, versuchen Rechtsextremist:innen, Aufmerksamkeit in der Bevölkerung zu erregen, vorhandene Ängste zu verstär- 28 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 ken und Hass zu schüren. Rechtsextremist:innen propagieren das Szenario einer drohenden "Islamisierung" Deutschlands und thematisieren in diesem Zusammenhang häufig Selbstschutz, Selbstverteidigung sowie das "Recht auf Notwehr". Dabei fallen auch aggressive und beleidigende Äußerungen bis hin zu Mord und Gewaltandrohungen. Neben den typischen Feindbildern dienen insbesondere Bürgerkriegsoder Endzeitszenarien der Rechtfertigung von Gewalttaten. In den Fokus rechtsextremistischer Narrative gerieten in den letzten Jahren sowohl Politiker:innen der "Altparteien" als auch die "Lügenpresse". Den Politiker:innen wird vorgeworfen, "Politik gegen das deutsche Volk" zu betreiben und die Meinungsfreiheit massiv einzuschränken. Das Ziel von Rechtsextremist:innen besteht in der Polarisierung der Gesellschaft, indem sie Misstrauen in der Bevölkerung gegenüber ihren gewählten Vertreter:innen säen. Die "Anti-Asyl Propaganda" rechtsextremistischer Akteur:innen hat somit einen Resonanzraum geschaffen, in dem die Hetze gegen Geflüchtete und Minderheiten als "patriotisch" gilt und ein allgemeines Misstrauen gegenüber den Medien sowie den politischen Repräsentant:innen gehegt wird. Dies wird besonders deutlich im Kontext der Corona-Pandemie (siehe Kapitel 3.4): Vielfach werden die durch die Bundesregierung zur Eindämmung der Pandemie getroffenen Maßnahmen als Belege für die vermeintliche Errichtung einer Diktatur und der Beschneidung der Meinungsund Bewegungsfreiheit ausgelegt. Den Regierenden wird dabei unterstellt, gegen die deutsche Bevölkerung zu agieren. Radikalisierung durch rechtsextremistische Propaganda im Internet Dem Internet kommt bei der Verbreitung rechtsextremistischer Feindbild-Propaganda eine entscheidende Rolle zu. Soziale Netzwerke und Messenger-Dienste wie Facebook, Twitter oder YouTube dienen der rechtsextremistischen Szene zur Kommunikation, Verbreitung von Propaganda, Mobilisierung von Personen für Aktionen und Organisation von Veranstaltungen. Über internationale Plattformen und Imageboards findet eine Vernetzung mit Gleichgesinnten über Ländergrenzen hinaus statt. Zudem vermag sich die rechtsextremistische Szene durch die Nutzung alternativer Plattformen kurzfristig neu aufzustellen und sich flexibel an Verbote und Überwachung anzupassen. So entstehen Parallelangebote und -plattformen über die unzensiert und ohne drohende Accountsperrungen unter dem Deckmantel der Wahrung vermeintlicher Meinungsfreiheit rechtsextremistische Inhalte geteilt werden. Zwar erreichen diese Alternativplattformen meist nicht die gleiche Reichweite wie die etablierten Medienkanäle, dafür kann die extremistische Ideologie über zugangsbeschränkte Bereiche wie geschlossene Chatgruppen oder Spiele-Plattformen jedoch umso offensiver vertreten werden. Besonders problematisch sind Messenger-Dienste wie "Telegram", da hier ein besonders hoher Grad an Anonymität gegeben ist und die Möglichkeiten für eine konsequente Strafverfolgung faktisch eingeschränkt sind. Radikalisierungsprozesse vollziehen sich nicht nur über Szenetreffs und politische Veranstaltungen. Das Internet bietet für viele ein niedrigschwelliges Angebot, da es nicht an lokale Rahmenbedingungen geknüpft ist und eine Vielfalt von Themen und Partizipationsmöglichkeiten bietet. Zudem gewährleistet die Anonymität des Internets ein Engagement ohne öffentliche Stigmatisierung oder gar Repressionen. Rechtsextremist:innen nutzen gezielt die Möglichkeiten der virtuellen Vernetzung, lancieren Kampagnen und streuen Desinformationen. Medienbeiträge werden selektiv und oft verzerrt verbreitet, um Stimmung gegen Geflüchtete, die gewählten Vertreter:innen und politisch Andersdenkende zu machen. Durch die Vernetzung untereinander und die Nutzung eigener "rechter" Medienportale werden Vorurteile geschürt und negative Emotionen verstärkt. Die durch Algorithmen gestützte selektive Themensetzung über soziale Netzwerke fördert die Entstehung von "Echokammern" und "Filterblasen", in denen sich das rechtsextremistische Weltbild unhinterfragt verbreiten und verfestigen kann. Die Entstehung eines Resonanzraums, in dem die eigenen gruppenund menschenfeindlichen Ansichten geteilt und gespiegelt werden, birgt die Gefahr einer 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 29 Parallelwelt, die im Gegensatz zu realweltlichen Kontakten enthemmter und vielschichtiger wirken kann. Diese Entwicklung kann sich beschleunigend auf Radikalisierungsprozesse auswirken. Welche Auswirkungen solche Radikalisierungsverläufe haben können, zeigt das Beispiel des Attentäters von Halle. Stephan B. war Teil einer virtuellen Gemeinschaft, die Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit propagierte und Verschwörungsfantasien verbreitete. Rechtsextremist:innen im öffentlichen Dienst Mit der Verbreitung rechtsextremistischer Positionen gerieten Angehörende des öffentlichen Dienstes im vergangenen Jahr mehrfach in die öffentliche Kritik. Bundesweit gab es Vorfälle, bei denen Polizist:innen und Soldat:innen rechtsextremistische Inhalte in internen Chatgruppen teilten. Beamte sind in einem besonderen Maße verpflichtet, die Werte der demokratischen Staatsund Gesellschaftsordnung zu vertreten, und haben mit der Aufnahme in das Beamtenverhältnis einen Eid auf die freiheitliche demokratische Grundordnung geschworen. Rechtsextremistische Tendenzen und Strukturen im öffentlichen Dienst müssen besonders frühzeitig erkannt und eingedämmt werden. Auf Initiative der Innenministerkonferenz wurde in enger Abstimmung zwischen den Landesämtern für Verfassungsschutz und den zuständigen Polizeibehörden der erste "Lagebericht zu Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden" im Oktober 2020 veröffentlicht. In Bremen wurden in diesem Zusammenhang lediglich Einzelfälle gezählt, in denen sich der Extremismusverdacht letztlich aber nicht erhärtete. Eine Fortschreibung des Lagebildes u. a. unter Hinzunahme des Spektrums der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" befindet sich derzeit in Arbeit. In Bremen wurde mit dem "Gesetz über eine unabhängige Polizeibeauftragte oder einen unabhängigen Polizeibeauftragten für die Freie Hansestadt Bremen" vom 24. November 2020 eine Polizeibeauftragte eingesetzt, die u. a. als Anlaufstelle für Hinweise auf rechtsextremistische Vorfälle innerhalb der Polizeibehörde dienen soll. Die Bremer Berufsfeuerwehr geriet im November 2020 in den Fokus der Sicherheitsbehörden. So hatten Feuerwehrmänner einer Wachschicht an einer Bremer Feuerwehrwache in zeitlichem Zusammenhang mit dem Höhepunkt der "Flüchtlingskrise" im Jahr 2015 in einer internen Chatgruppe menschenund fremdenfeindliche Inhalte geteilt, die bisweilen die Schwelle zum Rechtsextremismus deutlich überschritten. Ein Abschlussbericht der vom Innensenator eingesetzten Sonderermittlerin wurde am 1. Juli 2021 vorgestellt. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, die gegen einen Beamten andauern, haben zwar keine gefestigten rechtsextremistischen Strukturen hervorgebracht. Allerdings zeigte sich deutlich, dass es einer intensiveren gesamtgesellschaftlichen Befassung mit der Verbreitung aber auch Verharmlosung rassistischer Inhalte über Messenger-Dienste bedarf. 3.4 Rechtsextremistische Beeinflussung der Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie durch Extremist:innen Seit dem Frühjahr 2020 kam es bundesweit zu Protesten gegen die Maßnahmen der Bundesund Landesregierungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Die Protestbewegung ist insgesamt sehr heterogen: Neben Friedensaktivist:innen, Esoteriker:innen und sich beispielsweise um ihre finanzielle Existenz sorgenden Bürger:innen demonstrieren auch Rechtsextremist:innen sowie Personen aus dem Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen". Ideologisch gibt es Überschneidungen zwischen der in Teilen extremistischen "Querdenken"-Bewegung und dem Rechtsextremismus. Gemein ist beiden der Bezug auf antisemitisch konnotierte Verschwörungsideologien sowie die Delegitimierung des Staates und seiner Repräsentant:innen (siehe Kapitel 4). Flyer der Partei "III. Weg" Rechtsextremist:innen und "Reichsbürger:innen" gelang es, im Jahr 2021 offensiver 30 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 die bundesweiten Proteste für ihre eigenen Zwecke zu nutzen und ihre demokratiefeindlichen Positionen in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. 3.4.1 Demonstrationsgeschehen Rechtsextremist:innen und Angehörende des Spektrums der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" nutzen die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen gezielt, um Gewalteskalationen zu provozieren. Dies soll das von ihnen verbreitete Widerstandsnarrativ nähren und der Bewegung größeren Zulauf verschaffen. Bei den im Jahr 2020 stattfindenden Großdemonstrationen wurde besonders deutlich, dass Rechtsextremist:innen sowie "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" den Schulterschluss mit den "Anti-Corona-Demonstrant:innen" suchen, um ihre eigene politische Agenda zu verfolgen. Medial besonders eindrucksvoll wurde dies im Rahmen der Demonstration am 29. August 2020 in Berlin deutlich: Während einer Kundgebung gelang es Extremist:innen, die Treppen des Reichstags zu erstürmen. Das gewaltsame Eindringen in das Gebäude des Deutschen Bundestags konnte durch Polizeikräfte knapp verhindert werden. In der Spitze befanden sich bis zu 400 Personen auf den Treppen des Reichstags. Dabei schwenkten Demonstrant:innen u. a. schwarzweiß-rote Reichsflaggen und andere Erkennungszeichen, die verdeutlichten, dass es sich bei den Demonstrant:innen größtenteils um Angehörende aus der rechtsextremistischen Szene sowie dem Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" handelte. Das Beispiel zeigt, wie Extremist:innen die heterogene Protestlage für ihre politischen Zwecke medienwirksam zu instrumentalisieren versuchen, auch ohne die Proteste zu dominieren. Bundesweit kam es während der Kundgebungen Ende 2021 zunehmend zu gezielten Provokationen und gewalttätigen Übergriffen auf Polizist:innen, Medienvertreter:innen und Gegendemonstrant:innen, insbesondere angestachelt von rechtsextremistischen Akteur:innen, die sich an die Spitze der Proteste stellten und Polizeiketten durchbrachen. Dabei blieben glaubhafte Distanzierungen der teilnehmenden bürgerlichen Klientel von den mitlaufenden rechtsextremistischen Gruppierungen aus. Die mangelnde Abgrenzung ist dabei nicht immer gleichzusetzen mit einer vollumfänglichen Übereinstimmung der Teilnehmenden mit der rechtsextremistischen Ideologie, sondern vielmehr Ausdruck der gemeinsamen Ablehnung der Entscheidungen der Bundesregierung. Der als extremistisch einzuschätzende Teil der sog. "Querdenker" teilt jedoch die Delegitimierung des demokratischen Staates und seiner Repräsentant:innen. Die Schaffung von Allianzen und eine öffentlichkeitswirksame Massenmobilisierung scheint den Teilnehmenden der Proteste dabei relevanter zu sein, als eine offen verkündete Abgrenzung zu und Ausgrenzung von rechtsextremistischen Demonstrationsteilnehmenden. 3.4.2 Rechtsextremistische Beeinflussung der "Corona-Proteste" in Bremen und Bremerhaven In Bremen versuchten Angehörende der rechtsextremistischen Szene sowie des Spektrums der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" die seit Mai 2020 stattfindenden Proteste in Teilen zu beeinflussen, um ihre Ablehnung der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie öffentlich kundzutun. Neben der extremistischen Gruppierung "Querdenken 421" nahmen auch einzelne Personen aus dem Umfeld der rechtsextremistischen Partei "Die Rechte", der 2019 verbotenen rechtsextremistischen Gruppierung "Phalanx 18" sowie aus dem Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" an den Kundgebungen teil. 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 31 Die rechtsextremistische Szene versucht weiterhin massiv, die Verunsicherungen innerhalb der Bevölkerung auszunutzen und die Deutungshoheit zu erlangen. Dabei gehen einzelne Akteur:innen bundesweite Allianzen ein, um so breitenwirksam zu agieren. Im Mai 2021 erschienen zwei Musikvideos, die sich in verschwörungsideologischer Manier gegen die Corona-Maßnahmen richteten. Der bereits in der Vergangenheit mit reichsbürgertypischen und verschwörungsideologischen Aussagen auf sich aufmerksam machende Musiker Xavier Naidoo gilt als Hauptinitiator. In dem Video zum Lied "Ich mach da nicht mit" tritt u. a. der Bremer Rapper "Skitekk" auf. Am Ende seines Beitrags ist ein fiktiver Anschlag auf das Bremer Impfzentrum in den Bremer Messehallen zu sehen. An dem zweiten Video von Xavier Naidoo mit dem Titel "Heimat" beteiligt sich der Sänger der rechtsextremistischen Hooligan-Band "Kategorie C" neben weiteren Aktivist:innen aus dem "rechten" und "Reichsbürger:innen"-Spektrum sowie dem verschwörungsideologischen Milieu. Das Video kann als Versuch gewertet werden, die Verbindung der "Querdenken"-Bewegung zur rechtsextremistischen Szene öffentlich zu stärken. Ein weiteres Musikvideo, welches die enge Kooperation von dem Sänger der rechtsextremistischen Hooligan-Band "Kategorie C" und Xavier Naidoo erneut belegt, erschien Ende August 2021. Das Video mit dem Titel "Deutschland krempelt die Ärmel hoch" wurde während eines eigens hierfür geplanten rechtsextremistischen Treffens im Bremen im Juni 2021 gedreht. Einige der Anwesenden trugen szenetypische Tattoos, weitere trugen Kutten von Motorradclubs. Die Teilnehmer waren um ein "martialisches" und "rockermäßiges" Auftreten bemüht und setzten Pyrotechnik ein. Zusätzlich wurde ein Banner, welches für die rechtsextremistische HooliganBand "Kategorie C" warb, an einer Fußgängerbrücke angebracht. Die Polizei stellte Pyrotechnik, mehrere Messer und Schlagwaffen bei den Teilnehmern sicher. Der Text des Liedes verunglimpft die Impfkampagne der Bundesregierung als "miese Propaganda" und zeichnet im Kontext der Bekämpfung der Corona-Pandemie das verschwörungsideologische Bild der Unterdrückung der Bevölkerung durch die Regierenden. Weiterhin wird zum Widerstand gegen die "Feinde Deutschlands" aufgerufen, da diese angeblich mit den "Waffen" "Gesetz und Verbot" gegen die Bevölkerung kämpfen würden. Unterstützt wird dieser Aufruf durch das martialische Auftreten von Rechtsextremisten, Rockern und Bodybuildern, wodurch die Stärke und der Zusammenhalt der Szene aufgezeigt und eine Drohkulisse aufgebaut werden soll. 3.5 Strukturen und Gruppierungen im Rechtsextremismus 3.5.1 "Neue Rechte" Während sich der traditionelle Rechtsextremismus ideologisch vor allem durch seine Bezugnahme auf den historischen Nationalsozialismus und den völkischen Rassismus auszeichnet, propagieren Teile des Rechtsextremismus mit zunehmendem Erfolg eine "modernere" Variante der rechtsextremistischen Ideologie. Statt Rasse sind für die Anhänger:innen der sog. "Neuen Rechten" Ethnie oder Kultur die entscheidenden Kriterien für die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft. So argumentieren die "Identitären" mit dem Konzept des Ethnopluralismus, nach dem die ethnokulturelle Identität eines Volkes ausschließlich durch seine Abschottung zu anderen Völkern erhalten werden könne. Zu den Akteur:innen, die an der Verbreitung ihrer rechtsextremistischen Ansichten in der Gesellschaft starkes Interesse haben, zählen Vertreter:innen der sog. "Neuen Rechten". Bei der "Neuen Rechten" handelt es sich im engeren Sinne um eine Gruppe von Intellektuellen, die sich auf das Gedankengut der Konservativen Revolution der Weimarer Republik beruft und mit einer "Kulturrevolution von rechts" einen grundlegenden politischen Wandel herbeiführen will. Der Begriff wird aber heute vielfach 32 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 weiter gefasst. Inzwischen werden sämtliche Akteur:innen, Institutionen oder Organisationen zur "Neuen Rechten" gezählt, die mit den Schlagworten Ethnie, Identität oder Kultur als Abgrenzungskriterien arbeiten und die ein identitäres Demokratieverständnis oder ein ethnisches Volksverständnis eint. Ihre antidemokratischen Vorstellungen - weil grundsätzlich antipluralistisch und antiindividualistisch - tragen die Anhänger:innen der "Neuen Rechten" auf strategische Weise in die Gesellschaft. Ihr Ziel besteht in der Schaffung eines Klimas, das politische Veränderungen ermöglicht. Sie versuchen sukzessive, politische Werte umzudeuten und gesellschaftlichen Konsens aufzubrechen, wie beispielsweise die über Jahrzehnte von großen Teilen der Bevölkerung mitgetragene Flüchtlingspolitik. Im Rahmen von politischen Diskussionen beabsichtigen sie, die "Grenze des Sagbaren" durch gezielte Tabubrüche stetig zu erweitern. Die sog. "Strategie der Metapolitik" wird gezielt eingesetzt, um "rechte" Positionen "salonfähig" zu machen und in der Gesellschaft bzw. im "vorparlamentarischen Raum" zu verbreiten. Durch die Umdeutung der politischen Diskurse soll langfristig der Nährboden für die erhoffte "politische Wende" vorbereitet werden. Die Argumentationsund Vorgehensweise ist als rechtspopulistisch zu beschreiben. Populismus meint eine Strategie, einen Politikstil oder ein politisches Programm, das auf Emotionen der Bevölkerung eingeht, diese für die eigenen Ziele zu nutzen versucht und vermeintlich einfache und klare Lösungen unter Ausblendung komplexer gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge anbietet. Kern des Rechtspopulismus ist die Bezugnahme auf eine homogene Ethnie, Nation oder ein homogenes Volk. Pluralismus in politischer oder gesellschaftlicher Hinsicht wird entsprechend abgelehnt. So wird das als Einheit verstandene Volk von Ausländer:innen, Geflüchteten, der Bundesregierung oder "politischen Eliten" abgegrenzt und gegeneinander ausgespielt. Bei ihrem Ziel, dem vermeintlich "linksliberalen Mainstream" eine "rechte" Alternative entgegenzusetzen und somit "rechte" Positionen in der bürgerlichen Gesellschaft anschlussfähig zu machen, können die Akteur:innen der "Neuen Rechten" auf ein breit aufgestelltes heterogenes Netzwerk zurückgreifen. Häufig arbeiten sie in Bewegungen, Initiativen oder Netzwerken mit Personen aus dem nichtextremistischen, rechtskonservativen Spektrum zusammen, die sich nicht zwangsläufig selbst der rechtsextremistischen Szene zuordnen lassen. Es entstehen situative Netzwerke, über die sich Personen für (virtuelle) Kampagnen und Aktionen leicht rekrutieren lassen. Im Kampf um den vorpolitischen Raum greifen die Akteur:innen dabei auf ein weit verzweigtes Geflecht aus Verlagen, eigenen Medien und Nachrichtenportalen sowie Publikationen zurück. Als maßgeblicher Akteur und Ideengeber der "Neuen Rechten" hat sich das "Institut für Staatspolitik" (IfS) in den letzten Jahren etabliert. Das IfS wurde im Oktober 2021 von der Verfassungsschutzbehörde Sachsen-Anhalt als gesichert rechtsextreme Gruppierung eingestuft. Mit den IfS-eigenen Publikationen (u. a. die Zeitschriften "Sezession" und "Compact"), Online-Auftritten (u. a. "Sezession im Netz") und als "Akademien" bezeichneten Tagungen wird die Verbreitung der eigenen Ideologie und die Vernetzung innerhalb der "Neuen Rechten" vorangetrieben. Eng mit dem IfS verbunden ist der als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestufte Verein "EinProzent", dessen Ziele die Etablierung einer kulturellen Hegemonie im vorpolitischen Raum und die Etablierung einer rechten Gegenkultur sind. Im Kern stehen dabei die Unterstützung, Bewerbung, Förderung und Finanzierung verschiedenster Organisationen, Gruppierungen und Einzelpersonen im Spektrum der "Neuen Rechten". 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 33 3.5.2 "Identitäre Bewegung" Die im Jahr 2012 gegründete Gruppierung "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) gehört dem Netzwerk der "Neuen Rechten" als zentraler Akteur an. Die IBD ist ein Ableger der französischen rechtsextremistischen Bewegung "Generation Identitaire", die sich 2003 formierte. Die "Identitären" gibt es in mehreren europäischen Ländern. Die Verfassungsfeindlichkeit der IBD wurde mit Beschluss vom 23. Juni 2021 durch das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg bestätigt: Die Bezeichnung der IBD als "gesichert rechtsextrem" wurde als rechtmäßig anerkannt. Die IB steht zunehmend unter Repressionsdruck: Am 3. März 2021 verkündete die französische Regierung das Verbot der "Generation Identitaire". Als Begründung für Logo "Identitäre Bewegung" das Verbot wurden u. a. Verbindungen der "Generation Identitaire" zum Attentäter von Christchurch angeführt, von dem die Gruppe in der Vergangenheit Spenden erhalten habe. Der Rechtsextreme hatte im März 2019 bei Angriffen auf zwei Moscheen in der neuseeländischen Stadt insgesamt 51 Menschen erschossen. Am 7. Juli 2021 ergänzte das österreichische Parlament das sog. "Symbolgesetz", um u. a. ein Verbot der öffentlichen Verwendung der Symbole der "Identitären Bewegung" in Österreich einzuführen. Im Zuge dessen organisierte die IBÖ am 31. Juli 2021 eine Demonstration in Wien unter dem Motto "Gegen das Lambda-Verbot". An der Demonstration nahmen auch etliche Mitglieder der IB aus Deutschland teil. In Deutschland existieren lokale und regionale Gruppierungen der IB. Soziale Netzwerke sind von zentraler Bedeutung für die Gruppierung, da es ihr vor allem um die öffentlichkeitswirksame Inszenierung ihrer politischen Aktionen geht. Daher wurde die IBD durch die Löschung sämtlicher Profile auf Facebook, Twitter und YouTube im Jahr 2018 hart getroffen. Zwar versucht sie seitdem immer wieder, über Alternativ-Plattformen auf ihre Aktionen aufmerksam zu machen, allerdings ist die Reichweitenstärke als sehr gering einzuschätzen. Die derzeitige organisatorische Schwäche der Gruppierung darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die "Identitären" als unmittelbares Produkt und Teil des Netzwerkes der "Neuen Rechten" bedeutend dazu beigetragen haben, den Ethnopluralismus "salonfähig" zu machen sowie den gesellschaftlichen Diskurs nach "rechts" zu verschieben. Viele der ehemaligen Akteur:innen sind mittlerweile in anderen Projekten der "Neuen Rechten" aktiv, etwa im Zeitschriftenund Verlagswesen. In Bremen gründete sich 2012 die "Identitäre Bewegung Bremen" (IBB), die in den vergangenen Jahren keine öffentlich wahrnehmbaren Aktionen mehr durchführte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die "Identitären" in Bremen keine Anhänger:innen mehr hätten. Ideologie des Ethnopluralismus "bei den Identitären" Die "Identität" bildet das prägende Element in der Weltanschauung der Gruppierung. Dazu greift sie auf das Konzept des Ethnopluralismus zurück. Grundlegende Annahme des Ethnopluralismus ist die Verschiedenartigkeit der Völker. Migrationsprozesse würden diese Völkervielfalt bedrohen, Menschen entwurzeln und kulturelle Identitäten vernichten. Die Ethnienvielfalt könne letztlich nur durch die Trennung der Völker bewahrt werden. Ethnopluralist:innen betonen, dass sich Menschen nicht aufgrund ihrer Rasse, sondern aufgrund kultureller, regionaler und geografischer Faktoren unterscheiden. Ihr Ziel sind ethnisch und kulturell homogene Staaten ohne "fremde" Einflüsse. Vor diesem ideologischen Hintergrund lehnen die "Identitären" die Einwanderung - insbesondere von Personen muslimischen Glaubens - nach Deutschland und Flyer der "Identitären" Europa fundamental ab und begreifen sie als Bedrohung. Die islamische Kultur wird als unvereinbar mit den Werten der deutschen oder europäischen Kultur dargestellt. Die "Identitäre Bewegung" fordert eine "identitäre Demokratie", die die Homogenität 34 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 des Volkes voraussetzt und die repräsentative Demokratie ablehnt. Das Konzept des Ethnopluralismus begreift sie somit als Gegenmodell zur bestehenden pluralistischen Gesellschaftsordnung und wendet sich somit von der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ab. Agitation der "Identitären" Das Hauptaugenmerk der Aktionen der "Identitären" liegt seit Jahren auf der vermeintlich staatlich gelenkten "Massenmigration". So zeichnet die IBD im Oktober 2021 für sog. "Grenzgänge" in Sachsen und Brandenburg verantwortlich. Unter dem Motto "Schützt die Grenze - illegale Einwanderung stoppen" sollten mögliche Grenzübertritte verhindert werden. Zudem versuchte die IB über Kampagnen-Arbeit die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren: So wurde im Frühjahr 2021 die Plattform "Rechtsklick" ins Leben gerufen, die das Ziel verfolgt, Bürger über Kampagnen auf einen "patriotischen Widerstand" gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie einzustimmen. 3.5.3 AfD-Teilorganisationen "Der Flügel" und "Junge Alternative" Zum Netzwerk der "Neuen Rechten" zählen sowohl der informelle Personenverbund "Der Flügel" der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) sowie deren Jugendorganisation, die "Junge Alternative" (JA). Der informelle Personenverbund "Der Flügel" steht seit seiner Einstufung zum "Verdachtsfall" Anfang 2019 unter Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Offiziell hat sich der "Flügel" am 30. April 2020 zwar aufgelöst, nach wie vor sind jedoch wesentliche Akteure des Flügels in der AfD aktiv und stärken den völkisch-nationalistisch geprägten Teil der Partei. Jugendorganisation "Junge Alternative" (JA) Die Jugendorganisation der AfD, die "Junge Alternative" (JA) verzeichnete seit 2020 bundesweit einen massiven Mitgliederrückgang und stetigen Bedeutungsverlust, der ihre Handlungsfähigkeit erheblich einschränkte. Nach der Einstufung der JA zum Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes (Verdachtsfall) am 15. Januar 2019 und der damit verbundenen medialen Aufmerksamkeit bemühten sich die Mitglieder der JA, sich bezüglich ihrer öffentlichen Äußerungen zurückzuhalten. Der JA-Bundesvorstand hatte der Jugendorganisation dafür Anfang 2019 Maßnahmen zur Mäßigung Logo "Junge Alternative Bremen" auferlegt, wie z. B. das Verbot der Teilnahme an Aktionen und Kundgebungen der "Identitären Bewegung". Am 17. April 2021 wurde auf dem 10. Bundeskongress der JA ein neuer Bundesvorstand gewählt, dem nun überwiegend Anhänger:innen des "Flügel"-nahen "sozialpatriotischen" Lagers angehören. Der als Teil einer Doppelspitze gewählte Vorsitzende trat kurze Zeit später aus der AfD aus, um einem Parteiausschluss wegen wiederholter rassistischer Äußerungen zuvorzukommen. Am Rande des JA-Bundeskongresses lieferten sich Anhänger:innen der JA verbale Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner. Dabei waren Sprechchöre wie "abschieben, abschieben", "Höcke, Höcke!" und "Multi-Kulti-Endstation" vonseiten der JA-Delegierten zu vernehmen. Dies belegt die ideologische Nähe zum ehemaligen "Flügel". Den 2016 gegründeten Bremer Landesverband der JA beobachtet das LfV seit dem Jahr 2018 als Verdachtsfall. Während sich die JA in Bremen in den Jahren 2017 und 2018 mit einer Reihe an verfassungsfeindlichen Äußerungen in die politische Debatte 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 35 einzubringen versuchte, trat sie seit 2019 kaum noch öffentlich in Erscheinung. Das Aktivitätsniveau des Bremer Landesverbandes wurde zusätzlich durch den Wegzug von Führungsfunktionären geschwächt. In den Jahren 2020 und 2021 entfaltete die Bremer Jugendorganisation keine öffentlichen Aktivitäten, da sie personell wie strukturell derzeit nicht handlungsfähig ist. Dennoch sind einzelne Mitglieder der Bremer JA in der Partei aktiv. 3.5.4 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Im rechtsextremistischen Parteienspektrum steht die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) in Konkurrenz zu den neonazistisch ausgerichteten Parteien "Die Rechte" und "Der III. Weg". Die 1964 gegründete NPD stellt mit rund 3.150 Mitgliedern im Jahr 2021 nach wie vor die mitgliederstärkste der rechtsextremistischen Parteien in Deutschland dar. In den vergangenen Jahren war die NPD bei Wahlen Logo "NPD" durchgängig erfolglos. Das zeigte sich besonders deutlich bei den Bundestagswahlen am 26. September 2021: Hier erreichte die NPD bundesweit 0,0 % Erststimmen und lediglich 0,1 % Zweitstimmen. Die Partei ist bundesweit jedoch weiterhin auf kommunaler Ebene insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern vertreten. Ideologie der Volksgemeinschaft in der NPD Die NPD vertritt offen fremdenfeindliche, rassistische und nationalistische Positionen, was sich auch im Parteiprogramm widerspiegelt. Allen politischen, ökonomischen und sozialen Themenbereichen oder Sachfragen liegt hier das Konzept der ethnisch homogenen Volksgemeinschaft zugrunde und damit ein antiindividualistisches Menschenbild sowie ein identitäres Politikund Staatsverständnis. Die Volksgemeinschaft als Gegenentwurf zur Demokratie gilt für die NPD als alternativloses Konzept. Die Verfassungsfeindlichkeit der NPD bekräftigte das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Verbotsverfahren gegen die NPD im Januar 2017. Das von der Partei propagierte Ziel, den demokratischen Rechtsstaat durch eine ethnisch homogene Volksgemeinschaft zu ersetzen, missachte die Menschenwürde und sei mit dem Demokratieund Rechtsstaatsprinzip unvereinbar. NPD droht Ausschluss aus der staatlichen Parteienfinanzierung Bundesrat, Bundestag und Bundesregierung beantragten 2019 vor dem Bundesverfassungsgericht den Ausschluss der NPD von der staatlichen Parteienfinanzierung. Ein solcher Antrag ist aufgrund einer Grundgesetzänderung möglich geworden, die nach dem Ende des NPD-Verbotsverfahrens 2017 verabschiedet worden war. Nach dem desaströsen Abschneiden der Partei während der Bundestagswahlen 2021 steht ihr nun der weitgehende Verlust öffentlicher Gelder bevor, da sie die Hürden für die staatliche Teilfinanzierung nicht überwinden konnte. Ein Wegfall der staatlichen Parteienfinanzierung würde die NPD, die angesichts der fortwährend schwachen Wahlergebnisse in den letzten Jahren ohnehin weniger als zuvor von der staatlichen Unterstützung profitiert, in ihrer Aktionsund Handlungsfähigkeit weiter einschränken. NPD in Bremen Der Bremer Landesverband der NPD ist in den vergangenen Jahren nicht mehr öffentlich in Erscheinung getreten. Ein Grund für die Passivität des Landesverbandes ist sein Mangel an geeigneten Führungspersonen und die damit verbundene intellektuelle sowie organisatorische Schwäche. Die NPD in Bremen kämpft seit Jahren mit einem Mitgliederrückgang. Die politische Erfolglosigkeit der Bremer NPD zeigte sich zuletzt bei der Wahl zur Bremischen Bürgerschaft im Mai 2019: Die NPD kandidierte lediglich auf kommunaler Ebene und verfehlte dabei ihr Ziel, in die Stadtverordnetenversammlung Bremerhaven einzuziehen. Die NPD ist somit weder auf Kommunalnoch auf Landesebene in Bre- 36 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 men vertreten. Auch bei den Bundestagswahlen im September 2021 erhielt die NPD aus Bremen keine Erststimmen und lediglich 0,1 % (- 0,2 % im Vergleich zu 2017) Zweitstimmen. Angesichts seiner Schwäche spielte der Bremer Landesverband in den vergangenen Jahren keine Rolle innerhalb der rechtsextremistischen Szene Bremens. Neonazis "Neonazi" ist die Kurzform für "Neonationalsozialist:innen". Fälschlicherweise werden die Begriffe "Neonazi" und "Rechtsextremist" häufig synonym verwendet. Neonazis bezeichnen sich selbst häufig als "Freie Kräfte" oder "Freie Nationalisten". Der Neonazismus, der als ein Teilbereich des Rechtsextremismus gilt, ist dadurch gekennzeichnet, dass er in der Tradition des Nationalsozialismus steht. Neonazis vertreten mit ihrer starken Bezugnahme auf die nationalsozialistische Ideologie revisionistische Positionen. Sie greifen zudem die typischen rechtsextremistischen Ideologieelemente wie Fremdenund Islamfeindlichkeit, Rassismus und Nationalismus auf. Ihr Ziel besteht darin, die staatliche Ordnung Deutschlands, die sie als "das System" bezeichnen, durch einen totalitären Führerstaat nationalsozialistischer Prägung mit einer ethnisch homogenen Bevölkerungsstruktur zu ersetzen. Ethnische Vielfalt und Meinungsvielfalt bedrohen die von Neonazis angestrebte "Volksgemeinschaft", die Personen ausländischer Herkunft kategorisch ausschließt und in der sich jedes Individuum dem vorgegebenen Gesamtwillen unterzuordnen hat. Trotz übereinstimmender Grundüberzeugungen ist die neonazistische Szene ideologisch nicht homogen, die verschiedenen Ideologieelemente sind vielmehr je nach Gruppe unterschiedlich stark ausgeprägt. 3.5.5 Partei "Die Rechte" Mit dem im Jahr 2018 gegründeten Landesverband der Partei "Die Rechte" existiert Logo "Die Rechte" eine weitere rechtsextremistische Partei in Bremen. Deren Landesvorsitzender, ein langjähriger Angehöriger der neonazistischen Szene Bremens, hatte zuvor Führungsfunktionen bei der NPD inne. Zuvor hatte es in Bremen von 2013 bis 2015 bereits eine Landesgruppe der Partei "Die Rechte" gegeben. Der Bundesverband der Partei wurde 2012 von Christian Worch gegründet, der ein bekannter Protagonist der neonazistischen Szene ist und von 2012 bis 2017 ihr Bundesvorsitzender war. Die Partei verfügt über mehrere Landesverbände vor allem in Westund Süddeutschland, mehrere Kreisverbände und zählt im Jahr 2021 bundesweit etwa 500 Mitglieder. Den organisatorischen Schwerpunkt der Partei bildet Nordrhein-Westfalen, wo sich ihr aktivster und mitgliederstärkster Landesverband befindet. Zuletzt verlor die Partei bundesweit und auch in Nordrhein-Westfalen zunehmend an Strahlkraft. Auch der Tod der ehemaligen Führungsfigur Siegfried Borchardt ("SSSiggi") am 3. Oktober 2021 wird den Landesverband und somit die Partei langfristig schwächen. "Die Rechte" in Bremen "Die Rechte" ist neonazistisch geprägt, ihre ideologischen Schwerpunkte bilden der Neonationalsozialismus, Antisemitismus und die Fremdenfeindlichkeit. In der zur Gründung des Bremer Landesverbandes veröffentlichten Pressemitteilung wird das Ziel der rechtsextremistischen Partei deutlich, das im Aufbau "nationaler Strukturen" besteht: "Während an der Bürgerweide die Toten Hosen ihre linke Musik spielten, Bürgermeister Carsten Sieling in seinem Größenwahn Bremen als 'Bollwerk gegen den Rechtstrend der Republik' ausrief und knapp 100 politisch Verwirrte im Rahmen der Seebrücken-Aktion in Bremerhaven für unkontrollierte Masseneinwanderung protestierten, setzt sich genau dieser Rechtstrend in unserem Bundesland fort. Zukünftig wird in den Reihen der Partei DIE RECHTE der (Wieder-)Aufbau nationaler 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 37 Strukturen in unserem Bundesland vorangetrieben. (...) Im kleinsten Bundesland der BRD, unserem einstmals schönen Stadtstaat, werden wir die nationale Bewegung wieder in die Offensive bringen. Die Zeit, in der Nationalisten entlang der Weser ihre Gesinnung versteckt haben oder die Öffentlichkeit scheuten, ist vorbei." (Fehler im Original, Internetseite der Partei "Die Rechte": Wir nehmen Kurs: Die Rechte gründet Landesverband in Bremen! 05.08.2018). Der Bremer Landesverband von "Die Rechte" war im Jahr 2021 infolge interner Streitigkeiten und Parteiaustritte kaum handlungsfähig. Die Aktionen der Partei zielten in der Vergangenheit generell auf die Einschüchterung und Provokation ihrer "politischen Gegner" ab. In Anlehnung an die vom Bundesverband und vom nordrheinwestfälischen Landesverband verfolgte Strategie bemühen sich Mitglieder der Partei "Die Rechte" in Bremerhaven um die Markierung "ihres" Territoriums. Der stagnierende Aufbau von Organisationsstrukturen sowie die geringe Mobilisierungsfähigkeit von Gleichgesinnten zu Aktionen führten dazu, dass die Partei mit ihren rechtsextremistischen Positionen weder an größere Teile der Gesellschaft anschlussfähig noch innerhalb der rechtsextremistischen Szene Bremens von Bedeutung ist. 3.5.6 "Der III. Weg" Die neonazistische Partei "Der III. Weg" wurde 2013 gegründet und hat derzeit bundesweit etwa 650 Mitglieder. Die Partei ist überwiegend in den südlichen und östlichen Bundesländern aktiv, entfaltet aber auch darüber hinaus Wirkung. Sie organisiert sich in derzeit 20 regionalen "Stützpunkten", welche den drei Landesverbänden untergeordnet sind. Ideologisch vertritt "Der III. Weg" ein völkisch-nationalistisches Weltbild, welches insbesondere durch einen antipluralistisch-biologistischen Volksbegriff, GeschichtsrevisiLogo "III.Weg" onismus und Antisemitismus geprägt ist. Die Anlehnung an den historischen Nationalsozialismus wird durch die Übernahme von Elementen des "25-Punkte-Programms" der NSDAP in das "Zehn-Punkte-Programm" der Partei besonderes deutlich. Strategisch ist "Der III. Weg" nicht nur als Wahlpartei ausgerichtet, er versteht sich vielmehr als eine ganzheitliche Organisation des "nationalen Widerstandes". Das politische Handeln der Partei basiert auf den drei Säulen "Politischer Kampf", "Kultureller Kampf" und "Kampf um die Gemeinschaft". In Bremen bestehen keine Strukturen der Partei "Der III. Weg". Gleichwohl deuten die Veröffentlichungen und Aktionen der Partei darauf hin, dass die Etablierung von tatsächlichen Parteistrukturen in Bremen und dem Umland beabsichtigt ist. So kam es laut einer Veröffentlichung vom 6. Dezember 2020 auf der Homepage der Partei zum Ende des Jahres 2020 zu einer Veranstaltung im Bremer Umland, die der Vorstellung der Partei, ihrer Struktur und der politischen Ziele diente. Mit der Veranstaltung sei ein "kleiner Schritt zur Verbreitung und Bekanntmachung" der "nationalrevolutionären Bewegung im norddeutschen Raum gesetzt" worden (Homepage "III. Weg", 06.12.2020). Ebenfalls ab Ende des Jahres 2020 führten Mitglieder, Aktivist:innen und Unterstützer:innen der Partei mehrere Aktionen in Bremen durch, die jeweils im Anschluss auf der Homepage der Partei öffentlichkeitswirksam vermarktet wurden. So kam es im Jahr 2021 mehrfach zu Flugblattverteilaktionen, darunter auch von einem Flugblatt mit dem Titel "Das System ist gefährlicher als Corona", in dem die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung von der Partei als Unterdrückungsinstrumente und der demokratische Rechtsstaat per se als "volksfeindlich" dargestellt werden. 38 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Zuletzt bewarb die Partei über ihre Homepage regelmäßig die seit Mitte Dezember 2021 durchgeführten sog. "Spaziergänge" gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, darunter auch diverse Veranstaltungen in Bremen. Sie seien zwar nicht die Organisatoren dieser Proteste, riefen aber dennoch zur Teilnahme auf: "Egal wo, ob jung ob alt, ob geimpft oder ungeimpft, immer mehr Deutsche lassen sich nicht weiter durch diese Corona-Diktatur einschüchtern! Die nationalrevolutionäre Bewegung & Partei "Der III. Weg" wird sich wieder bundesweit an den (Montags)-Protesten gegen die Corona-Zwangsmaßnahmen beteiligen." (Homepage "III. Weg", zuletzt abgerufen am 31.01.2022) 3.5.7 Rechtsextremistische "Mischszene" Bremens In Bremen existiert seit Langem eine "Mischszene" aus aktionsund gewaltorientierten Rechtsextremist:innen und Angehörende anderer gewaltaffiner Szenen wie Hooligans oder Rockern. Das Bedrohungspotenzial liegt dabei weniger in der ideologischen Grundüberzeugung als vielmehr in der hohen Gewaltbereitschaft, die von Personen aus diesen Spektren ausgeht und die mittels rechtsextremistischer Einflussnahme instrumentalisiert werden kann. Rechtsextremist:innen sind vielfach in der Lage, anlassund ereignisbezogen solche gewaltaffinen Gruppierungen zur Begehung von politisch motivierten Straftaten zu mobilisieren. Daher ist auch nicht nur die absolute Zahl der Rechtsextremist:innen maßgebend bei der Darstellung der rechtsextremistischen Bedrohung, sondern zugleich das sonstige gewaltbereite Rekrutierungspotenzial einzubeziehen. Die im Jahr 2019 in Erscheinung getretene und sogleich am 6. November 2019 verbotene rechtsextremistische Gruppierung "Phalanx 18" war ein Exempel dieser "Mischszene": Ihre Mitglieder stammten überwiegend aus der gewaltbereiten Hooligan-Szene und hingen einem rechtsextremistischen Weltbild an. "Nordic 12" In Bremen trat die rechtsextremistische Gruppierung "Bruderschaft Nordic 12", die 2014 aus der Gruppe "Brigade 8 - Bremen Crew" hervorgegangen war, in den verLogo "Nordic 12" gangenen Jahren kaum öffentlich in Erscheinung. Nichtsdestotrotz sind ihre Anhänger:innen weiterhin politisch aktiv. Die sich als "patriotisch" bezeichnende Gruppierung zeigte in Anlehnung an sog. "Outlaw-Motorcycle-Gangs" ein martialisches Erscheinungsbild. "Nordic 12" ist insbesondere um die strategische Vernetzung der rechtsextremistischen Szene Bremens im Kampf gegen das politische "System" bemüht. Rechtsextremistisch beeinflusste Hooligans Die Bremer Hooligan-Szene war jahrelang wegen der Hooligan-Gruppierungen "Standarte Bremen", "City Warriors" und "Nordsturm Brema" sowie der FußballfanGruppierung "Farge Ultras" bundesweit bekannt. Auch wenn einige dieser Bremer Gruppierungen in der Vergangenheit vorgaben, sich aufgelöst zu haben, sind ihre ehemaligen Mitglieder und Anhänger:innen weiterhin aktiv. Die Gruppierungen galten als "rechtsextremistisch beeinflusst", das heißt, dass es sich bei einzelnen Mitgliedern um überzeugte Rechtsextremist:innen handelt. In der Regel sind Hooligans unpolitisch, lediglich ein Teil von ihnen ist rechtsextremistisch oder fremdenfeindlich motiviert. Seit den 1980er-Jahren versuchen Rechtsextremist:innen sowohl Hooligans gezielt abzuwerben und sie für ihre politischen Ziele zu instrumentalisieren als auch die Hooligan-Szene zu unterwandern. 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 39 Rechtsextremistische Musik Musik hat eine wichtige Funktion für die rechtsextremistische Szene, weil die typischen Feindbilder in Liedtexten leicht dargestellt und vermittelt werden können. Um eine breite Zuhörerschaft zu erreichen, verdecken manche rechtsextremistischen Bands ihren ideologischen Hintergrund. Nach wie vor finden Jugendliche den Einstieg in die rechtsextremistische Szene neben sozialen Netzwerken häufig über die Musik. Konzerte bilden eine Gelegenheit für Szene-Treffs und stärken das Zusammengehörigkeitsgefühl. Gleichzeitig vermitteln sie den Jugendlichen einen Erlebnischarakter, auch weil sie häufig konspirativ organisiert sind. Rechtsextremistische Bands Für die rechtsextremistische Szene Bremens sind zurzeit vor allem zwei Bands von Bedeutung. Die 1997 gegründete, bundesweit bekannte und aktive rechtsextremistische Hooligan-Band "Kategorie C - Hungrige Wölfe" (KC), die mittlerweile ihren Schwerpunkt in Niedersachsen hat, gilt seit Jahren als Bindeglied der Hooliganund der rechtsextremistischen Szene, weil sie in beiden Szenen vor allem wegen ihrer gewaltverherrlichenden Lieder beliebt ist und insbesondere mit ihren Konzerten zum Zusammenhalt und zur Mobilisierung der Szene beiträgt. Zwar hatte die Band am 5. Mai 2019 ihren offiziellen Rückzug verkündet, doch im April 2021 gab ihr Frontmann bekannt, dass "Kategorie C" ein Comeback plane. Die im Jahre 1981 in Bremen gegründete rechtsextremistische Band "Endstufe" ist bundesweit eine der ältesten aktiven "Skinhead Bands". Im Jahr 2021 feierte die Band ihr 40-jähriges Bestehen. Ihre gewaltverherrlichenden und fremdenfeindlichen Texte bewegen sich im Graubereich des rechtlich Sagbaren, wodurch sie der Indizierung oder dem Verbot ihrer veröffentlichten Alben entgehen. Gleichzeitig tritt die Band bundesweit und international auf rechtsextremistischen Veranstaltungen auf. Im Jahr 2020 veröffentlichte die Band ein neues Album unter dem Titel "Die Zeit war reif", auf dem sie vor allem unveröffentlichte Lieder aus den Jahren 1981 bis 1983 neu aufgenommen hat. Trotz der im Jahr 2021 immer noch vorherrschenden Corona-Pandemie fanden ab Mitte des Jahres wieder vermehrt Konzerte unter Teilnahme Bremer Bands statt. So trat bspw. "Endstufe" am 4. September 2021 am "Brno Oi Festival" in Brünn, Tschechien auf. Die rechtsextremistische Kampfsportszene Für die gewaltorientierte rechtsextremistische Szene ist Kampfsport seit jeher ein relevantes und elementares Betätigungsfeld, welches in den letzten Jahren eine zunehmende Professionalisierung und Internationalisierung erfahren hat. Durch bundesund europaweite Großveranstaltungen wie den "Kampf der Nibelungen" oder "TIWAZ - Kampf der freien Männer" trägt der Kampfsport zu einer überregionalen Vernetzung der gewaltorientierten rechtsextremistischen Szene bei. Außerdem bildet er u. a. durch den Ticketverkauf für die Veranstaltungen und den Vertrieb von Merchandising-Artikeln ein lukratives Geschäftsmodell für die Szene. Durch seinen Erlebnischarakter dient der Kampfsport zudem der Rekrutierung junger bisher ideologisch nicht gefestigter Personen. Zunehmender Repressionsund Kontrolldruck durch die Behörden sowie die Pandemie haben zumindest im Bereich der Großveranstaltungen im vergangenen Jahr zu starken Einschränkungen geführt, gleichwohl waren aber regionale Kampfsportgruppen aktiv. Während der Großteil der Veranstaltungen aufgrund behördlicher Beschränkungsmaßnahmen abgesagt werden musste, verlagerte sich das größte europäische Kampfsportevent "Kampf der Nibelungen" in den virtuellen Raum: Am 10. Oktober 2020 wurde das Event via Livestream übertragen. Als einer der Sponsoren des Events trat hierbei "Sport-Frei!" in Erscheinung. Hinter diesem OnlineVersandlabel verbirgt sich ein bekannter Bremer Rechtsextremist, der über sehr gute Verbindungen in die rechtsextremistische Szene verfügt. 40 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Personen der gewaltorientierten rechtsextremistischen (Misch-)Szene in Bremen nehmen regelmäßig an Kampfsporttrainings und -veranstaltungen teil. Die Zahl der aktiv an Wettkämpfen teilnehmenden Bremer Rechtsextremisten liegt im unteren einstelligen Bereich. In Bremen existierten unter dem Label "Nordic Fight Club" mehrere Anlaufstellen für Kampfsportler der rechtsextremistischen Szene Bremens. Die Akteur:innen verlagerten ihre Tätigkeiten im vergangenen Jahr vermehrt in den nichtöffentlichen Bereich. "Hammerskins" Die seit Beginn der 1990er-Jahre in Deutschland existierende rechtsextremistische Skinhead-Organisation "Hammerskins" beschäftigt sich vorwiegend mit der Planung und Durchführung rechtsextremistischer Konzerte. Vor dem Hintergrund ihres rassistischen und nationalistischen Weltbildes verfolgt die Organisation das Ziel, alle "weißen nationalen Kräfte" in einer weltweiten "Hammerskin-Nation" zu vereinigen. Die 1988 in den USA gegründeten "Hammerskins" verstehen sich als Elite der rechtsextremistischen Skinhead-Szene und sind straff und hierarchisch organisiert. Die "Hammerskin Nation" ist in nationale Divisionen aufgeteilt, die wiederum in regionale "Chapter" gegliedert sind. In Deutschland gibt es derzeit etwa zehn "Chapter", wobei das "Hammerskin-Chapter Bremen" zu den ältesten gehört. Abgesehen von der Durchführung und Organisation von Konzertveranstaltungen treten die konspirativ agierenden Logo "Hammerskins" "Hammerskins" selten öffentlich in Erscheinung. 3 RECHTSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 41 42 4 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 4 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES Seitenzahl 43 4.1 Extremismus eigener Art 43 4.2 "Querdenken"-Bewegung 44 4.3 Bundesweite Proteste 45 4.4 Virtuelle Vernetzung 46 4.5 Verbreitung von Verschwörungsideologien 47 4.6 Zunehmende Radikalisierung 48 4.7 Proteste in Bremen 4 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 43 4 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates Bundesweit kommt es seit dem Frühjahr 2020 zu Protesten gegen die Maßnahmen der Bundesund Landesregierungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. An den Demonstrationen dieses sehr heterogenen Spektrums beteiligen sich neben Personen aus dem bürgerlichen Spektrum und den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen auch Angehörende der extremistischen "Querdenken"-Bewegung 1, Rechtsextremist:innen sowie Personen aus dem Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" (siehe Kapitel 3 und 5). Konstitutiv für Angehörende des Spektrums der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" ist ein grundsätzliches Misstrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates und in die demokratischen Entscheidungsprozesse sowie der Gebrauch antisemitisch konnotierter Verschwörungsideologien in Teilen. 4.1 Extremismus eigener Art Kritik an den Maßnahmen der Bundesregierung unter Wahrung der Grundsätze der rechtlich zugesicherten Meinungsfreiheit ist Ausdruck der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und wesentlicher Bestandteil des Verfassungsstaates. Werden Proteste und Kundgebungen jedoch durch extremistische Akteure instrumentalisiert und münden diese in eine staatsund sicherheitsgefährdende Delegitimierung und Verächtlichmachung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner Repräsentant:innen, kann hieraus eine Bedrohung für die demokratische Grundordnung erwachsen. Aufgrund dessen haben das Bundesamt und die Landesämter für Verfassungsschutz am 28. April 2021 die Einrichtung eines neuen Phänomenbereichs "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" beschlossen. Die starke Heterogenität der "Querdenken"-Bewegung und die hierdurch entstehende Schwierigkeit der eindeutigen Zuordnung in die bereits seit Langem bekannten extremistischen Phänomenbereiche führten zu dem bundesweiten Konsens, dass sich hier eine neue Form des Extremismus herausbildet - ein Extremismus eigener Art - deren Angehörende wesentliche Bestandteile der demokratischen Grundordnung ablehnen. Die Einrichtung eines neuen Phänomenbereichs ermöglicht eine bundesweit einheitliche, flächendeckende und systematische Beobachtung dieser äußerst dynamischen Bewegung. Die seit Mitte 2020 aufkeimenden Proteste haben deutlich gezeigt, dass es innerhalb der Bevölkerung ein staatsgefährdendes Mobilisierungspotenzial gibt. Bereits während der sog. "Flüchtlingskrise" im Jahr 2015 konnte beobachtet werden, dass ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung empfänglich ist für Verschwörungsideologien, "Fake-News" und "Alternative Fakten" und zunehmend die Legitimation der Bundesregierung infrage stellt. Die Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen der Bundesregierung zur Eindämmung der Pandemie bilden aktuell den Drehund Angelpunkt innerhalb des Spektrums. 4.2 "Querdenken"-Bewegung Zu Beginn der Proteste kristallisierte sich die sog. "Querdenken"-Bewegung bundesweit als zentrale Organisatorin der Proteste gegen die Maßnahmen zur Eindämmung 1 Auch wenn die "Querdenken"-Bewegung zum Ende des Jahres 2022 nicht mehr maßgeblich für die Organisation der Demonstrationen und Proteste verantwortlich ist , wird im Folgenden die Bezeichnung "Querdenker" genutzt , da sich der Begriff als Sammelbegriff für die Proteste gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen in der Öffentlichkeit zu etablieren scheint. 44 4 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 der Corona-Pandemie heraus. Die Bewegung trat zuerst in Stuttgart unter der Bezeichnung "Querdenken 711" in Erscheinung, wobei sich die Zahl auf die Stuttgarter Ortsvorwahl bezieht. In Bremen formierte sich Anfang Juli 2020 entsprechend eine Gruppierung unter dem Namen "Querdenken 421". Im Dezember 2020 stuften mehrere Landesämter für Verfassungsschutz die lokalen Ableger der Gruppierung "Querdenken" als Beobachtungsobjekt ein. Als Begründung führten sie u. a. die direkten Kontakte in das Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" an, aber auch die offensive Verbreitung diverser zum Teil erheblich antisemitisch konnotierter Verschwörungserzählungen wie bspw. der aus den USA stammenden "QAnon"-Verschwörungsideologie. Auch der Bremer Ableger "Querdenken 421" verbreitete in der Vergangenheit antisemitisch konnotierte Verschwörungsideologien. Auf "Querdenken"-Kundgebungen in Bremen wurden außerdem wiederholt Vergleiche gezogen, die die Diktaturen der "NSGewaltherrschaft" und der DDR verharmlosten und gleichzeitig den demokratischen Rechtsstaat verächtlich machten. Mit dem Fortschreiten der Pandemie ging darüber hinaus eine deutliche Radikalisierungstendenz einiger Anhänger:innen der Gruppierung "Querdenken 421" einher. Des Weiteren engagieren sich Personen aus dem Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" offenkundig an zentralen Stellen innerhalb der Gruppe. Im Ergebnis liegen dem LfV tatsächliche Anhaltspunkte vor, die den Verdacht erhärten, dass es sich bei der Gruppierung "Querdenken 421" um eine Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung handelt. Am 3. Mai 2021 stufte das LfV die Gruppierung "Querdenken 421" als Verdachtsfall im Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" ein. Seit Mitte 2021 konnten bundesweit zunehmend Auflösungserscheinungen der "Querdenken"-Gruppierungen festgestellt werden. Sowohl die geringe Mobilisierungsfähigkeit, als auch die internen (Richtungs-)Streitigkeiten sowie der zunehmende Sanktionsdruck durch die Sicherheitsbehörden führten zu einer Zersplitterung des Spektrums. Über den Messenger-Dienst "Telegram" formierten sich neue kleinere Gruppierungen. Die Kundgebungen werden mittlerweile dezentral über diverse Plattformen und Gruppierungen als "Spaziergänge" getarnt angekündigt. 4.3 Bundesweite Proteste Die enorme Dynamik innerhalb des Spektrums und die Unvorhersehbarkeit des Ausmaßes der Mobilisierungsfähigkeit zeigte sich deutlich im Verlauf des Jahres 2021: Während es den Organisator:innen im Sommer 2020 noch gelang, bundesweit mehrere tausend Menschen für die Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zu mobilisieren - wie bspw. am 29. August 2020 in Berlin mit insgesamt fast 40.000 Teilnehmenden und am 7. November 2020 in Leipzig mit ca. 20.000 Teilnehmenden - ließen sich im Zuge der Lockerungen der Maßnahmen ab Mitte 2021 deutlich weniger Teilnehmende mobilisieren. Exemplarisch dafür steht die Demonstration am 28. September 2021. Diese wurde symbolträchtig genau ein Jahr nach der größten Demonstration der Bewegung mit ca. 40.000 Teilnehmenden terminiert, zu der Neuauflage reisten jedoch weniger als 10.000 Teilnehmende an. Demonstrationen der "Corona-Kritiker:innen" werden seit Beginn des Jahres 2021 in aller Regel verboten, da die verordneten Infektionsschutzmaßnahmen während der Kundgebungen absehbar nicht eingehalten werden. Daraus resultierende Maßnahmen der Polizei und Justiz gegen Personen, die sich trotzdem versammeln, wirkten zunehmend abschreckend. Ein weiterer Grund für die sinkenden Teilnehmerzahlen dürfte die schrittweise Rücknahme der Grundrechtseinschränkungen im Zuge der verbesserten Infektionslage seit Pfingsten 2021 sein. 4 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 45 Mit der erneuten Verschärfung des Infektionsgeschehens im Herbst 2021 und der zunehmenden Diskussion um eine mögliche Impfpflicht nahm das Demonstrationsgeschehen wieder rasant zu. Die zuvor primär im virtuellen Raum sichtbare Radikalisierung einzelner "Querdenker" macht sich nun bei den Kundgebungen deutlich bemerkbar: So kam es zuletzt immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen und Ausschreitungen. Die Proteste bis November 2021 erreichten zwar nicht mehr die großen Massen wie noch im Sommer 2020, allerdings zeigte sich eindeutig eine zunehmende Gewaltbereitschaft der Protestierenden, die sich in gewalttätigen Übergriffen gegenüber Polizist:innen, Medienvertreter:innen und Gegendemonstrant:innen äußerte. Die Proteste werden dezentral über diverse Social-Media-Kanäle organisiert, meist als sog. "Spaziergänge" getarnt, um Auflagen zu umgehen. 4.4 Virtuelle Vernetzung Neben öffentlichen Aktionen spielt sich ein Großteil der Agitation des sog. "Querdenken"-Spektrums im digitalen Raum ab. Die sozialen Medien bieten für die Selbstvergewisserung der Anhänger:innen weitgehend abgeschlossene Filterblasen, in denen nur die der eigenen Überzeugung zuträglichen Inhalte geteilt werden. Zur indirekten Legitimierung der eigenen Überzeugungen wird von den "Querdenkern" auf allen Ebenen Misstrauen gegenüber der staatlichen Ordnung, ihren Institutionen und Vertreter:innen geschürt. Kritiker:innen in den Kommentarspalten werden dabei systematisch als "Trolle", "Systemlinge" und "Schlafschafe" verunglimpft und häufig von den Gruppen-Administratoren gesperrt. Es entstehen Echokammern, in denen die eigene Weltsicht hermetisch gegenüber Kritik von außen abgeschottet wird. Die Kommunikation der "Querdenker" verlagerte sich bereits im Verlauf des Jahres 2020 auf den Messenger-Dienst "Telegram", um der vermeintlichen "Zensur" auf großen Plattformen wie Facebook zu entgehen. "Telegram" ist unter Extremist:innen generell beliebt, weil die Plattformbetreiber:innen keine Beschränkungen von extremistischen Inhalten vornehmen.2 Halbwahrheiten, gezielte Desinformation und Verschwörungsmythen finden so ungehindert Verbreitung. Die sog. "Mainstreammedien" werden als "Staatsmedien" und "Lügenpresse" diffamiert und deren Objektivität aberkannt. Mithilfe eines ganzen Universums aus "Querdenker"-Anwält:innen, "Querdenker"-Ärzt:innen, "Querdenker"-Polizist:innen usw. soll den "Fake-News"Kampagnen und Verschwörungsideologien ein seriöser Schein verliehen werden. So wird eine durch Verschwörungsmythen zusammengehaltene umfassende Erzählung verbreitet, die den "Mainstream"-Diskurs generell ablehnt und eine Parallelwelt aus "Alternativen-Fakten" aufbaut. Denn dieser basiere nicht auf Fakten und sei zudem durch "Staatsmedien" gesteuert, deren einziges Ziel darin bestünde, der Bevölkerung die "Wahrheit" vorzuenthalten. Gleichzeitig gelten unter "Querdenkern" Inhalte, die durch unabhängige Faktenchecks als Fake-News entlarvt wurden, als besonders vertrauenswürdig, während die Faktenchecker als "Systemlinge" diffamiert werden. Das hier skizzierte Netzwerk zielt auf eine grundlegende Delegitimierung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ab. Dazu wird seit Beginn des Jahres 2021 noch einmal verstärkt die Opfer-Rolle der "Querdenker" betont, indem beispielsweise Videos vermeintlich ungerechtfertigter Polizeigewalt bei Demonstrationen der "Querdenker" geteilt werden. Vielfach handelt es sich dabei jedoch um legitime polizeiliche Auflösungen von gerichtlich verbotenen Kundgebungen, die von den Demonstrierenden gezielt und provokativ genutzt werden, um solche Bilder zu generieren. 2 Bislang fällt der Messenger-Dienst "Telegram" als vermeintliche Plattform für individuelle Kommunikation nicht unter das "Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG)". 46 4 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Paradoxerweise wähnen sich gerade die in diesen Filterblasen isolierten "Querdenker" im Besitz der vermeintlichen Wahrheit und als "erwacht", während der Rest der Gesellschaft aus "Schlafschafen" bestehe, die in blindem Gehorsam gefangen seien. Diese einfache Freund-Feind-Rhetorik illustriert den Wunsch nach einfachen Antworten in einer komplexen und beängstigenden Situation wie der Pandemie mit all ihren negativen Folgewirkungen. 4.5 Verbreitung von Verschwörungsideologien Unabhängig von der Frage der Einflussnahme von extremistischen Gruppierungen auf die Protestbewegung ließ sich im Verlaufe der Pandemie eine zunehmende Radikalisierung von Teilen der Protestbewegung beobachten. So kursierte im Anschluss an eine Bundestagsabstimmung über das Infektionsschutzgesetz am 21. April 2021 eine namentliche Abstimmungsliste unter dem Namen "Todesliste" in Onlineforen der sog. "Corona-Leugner:innen". Vermehrt verbreiteten Demonstrant:innen zudem Positionen oder Kennzeichen der auf antisemitischen Narrativen basierenden Verschwörungsideologie "QAnon". Exkurs: "QAnon" Die 2017 in den USA entstandene Verschwörungsideologie hat mittlerweile weltweite Verbreitung erfahren. Sie basiert auf der Annahme, dass ein angeblicher hochrangiger Beamter der US-Regierung (mit der höchsten Sicherheitsfreigabe "Q") seine Anhänger:innen in den sozialen Netzwerken mit kryptischen Nachrichten oder Rätseln über Pläne zum Sturz einer vermeintlich existierenden verborgenen Elite - dem "Deep State" ("Staat im Staate") - informieren würde. Vertreter:innen des vermeintlichen "Deep State" seien nach Überzeugung der "QAnon"-Anhänger:innen insbesondere Mitglieder (reicher) jüdischer Familien, die den Lauf der Welt steuerten. Darüber hinaus behaupten Anhänger:innen dieser Verschwörungsideologie, dass der "Deep State" Kinder in einem industriellen Ausmaß missbrauche und töte zur Gewinnung eines euphorisierenden Verjüngungselixiers namens "Adrenochrom". Mit dem Slogan "Save the Children" beziehen sich die Anhänger:innen auf diese vermeintlichen Machenschaften des "Deep State" in der gesamten Welt. Eine weitere, im Kontext der Corona-Maßnahmen populäre Annahme dieser Bewegung unterstellt, in dem Impfserum gegen Covid-19 sei ein Micro-Chip enthalten, der ins Gehirn wandere und dort der Gedankenkontrolle diene. So solle die Weltbevölkerung unterjocht und eine globale Diktatur etabliert oder gefestigt werden. Bei "QAnon" handelt es sich um eine Ideologie, die alles andere als statisch ist, sondern durch die fortwährende Interpretation ihrer Anhänger:innen weiterentwickelt wird und inhaltlich in viele Richtungen flexibel erweiterbar ist. Anschlussfähig ist sie damit auch an andere Verschwörungsideologien. Die Verschwörungsideologie stellt wie andere "Weltverschwörungsfantasien" auf antisemitische Narrative ab und diffamiert und dämonisiert Staat und Politik. Bei den Demonstrationen häufen sich darüber hinaus Aussagen, die die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie mit der diktatorischen Vorgehensweise im Nationalsozialismus oder in der DDR vergleichen und somit den demokratischen Rechtsstaat verächtlich machen. So verwenden die Demonstrierenden zum Beispiel Schlagworte wie "Corona-Diktatur" und vergleichen das Infektionsschutzgesetz mit dem "Ermächtigungsgesetz" der Nationalsozialisten von 1933. Eines der geposteten Plakate trug den Schriftzug "Impfen macht frei" - ein eindeutiger Bezug zu dem Satz "Arbeit macht frei", der in Konzentrationslagern der Nationalsozialisten über dem Ein- 4 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 47 gangstor angebracht war. Außerdem trugen Teilnehmende von "Querdenken"-Kundgebungen immer wieder sog. "Judensterne" mit der Aufschrift "ungeimpft". Mit Wirkung zum 9. Juni 2021 erging durch den Senator für Inneres ein Erlass, der zukünftig die Verwendung des Davidsterns oder ähnliche Symbole, die eine Verharmlosung der Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes darstellen, bei Kundgebungen verbietet. Die Gleichsetzung der eigenen Person oder Gruppe mit den Opfern des nationalsozialistischen Regimes führt zu einer Verharmlosung der während des Nationalsozialismus begangenen Gräueltaten. Gleichzeitig macht der Vergleich der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie mit dem willkürlichen Vorgehen des nationalsozialistischen Regimes die freiheitliche demokratische Grundordnung verächtlich. Dabei verkennen die sog. "Querdenker", dass die Maßnahmen nach höchstrichterlicher Rechtsprechung zur Eindämmung der Corona-Pandemie nicht im Widerspruch zum Grundgesetz stehen oder dieses gar aufheben. So können grundlegende Freiheiten, wie die Versammlungsfreiheit, beschränkt werden, wenn im konkreten Fall ein anderes Grundrecht, konkret das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, schwerer wiegt. Ziel bleibt dabei, im Rahmen einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit und Abwägung der Interessen, eine möglichst weitgehende Verwirklichung der unterschiedlichen Rechte zu ermöglichen. Gerade bei höchstrangigen Grundrechten wie dem Recht auf Leben besteht nicht nur die rechtliche Möglichkeit zu einschneidenden Maßnahmen, sondern zum Teil sogar eine verfassungsrechtliche Verpflichtung zum Gleichsetzung des entsprechenden staatlichen Handeln. Liegen Zweifel bezüglich der Rechtmäßigkeit Infektionsschutzgesetzes mit dem vor, steht allen Betroffenen der Rechtsweg offen. "Ermächtigungsgesetz" 1933 4.6 Zunehmende Radikalisierung Desinformationskampagnen und der zunehmende Einfluss von extremistisch geprägten Akteur:innen können eine verstärkende Wirkung auf einzelne Anhänger:innen der sog. "Querdenken"-Bewegung entfalten und Radikalisierungsprozesse beschleunigen. Insbesondere der zunehmend enthemmte Diskurs über soziale Netzwerke und Messenger-Dienste trägt so zu einem Klima bei, in dem Gewalttaten als vermeintlich legitimer Widerstand möglich erscheinen. Die fortschreitende Radikalisierung einzelner Personen innerhalb des Spektrums zeigte sich in erschreckender Weise am 18. September 2021 in Idar-Oberstein, als der 20-jährige Kassierer einer Tankstelle erschossen wurde, weil er einem Kunden unter Verweis auf die geltende Maskenpflicht den Verkauf von Bier verweigerte. Der Täter gab an, die Corona-Maßnahmen abzulehnen und keinen anderen Ausweg gesehen zu haben, als "ein Zeichen zu setzen". Das Opfer schien dem Täter nach Angaben der Staatsanwaltschaft verantwortlich für die Gesamtsituation zu sein, da es die Regeln durchsetzte. In "Telegram"-Gruppen von Rechtsextremist:innen und dem Spektrum der sog. "Corona-Leugner:innen" wurde die Schuld an dem Mord anschließend vielfach dem Kassierer selbst oder der Politik zugewiesen, da sie die Maßnahmen gegen die Pandemie weiter durchsetze. Eine solche Tat sei nur eine Frage der Zeit gewesen, weil die Maßnahmen die Leute verrückt mache. Alternativ wurde in verschwörungstheoretischer Manier gemutmaßt, der Mord sei eine Aktion "unter falsche Flagge" gewesen, um die Kritiker:innen der Corona-Maßnahmen zu diskreditieren. Zunehmend geraten auch Politiker:innen in den Fokus der Demonstrierenden: Der martialisch anmutende Fackelmarsch vor dem Haus der sächsischen Gesundheitsministerin sowie die über den Messenger-Dienst "Telegram" geäußerten Mordpläne gegen den sächsischen Ministerpräsidenten im Dezember 2021 zeigen, dass Teile der Bewegung zunehmend bereit sind, mit ihrem Protest gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie demokratische und rechtsstaatliche Grenzen zu überschreiten. 48 4 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 4.7 Proteste in Bremen Ab August 2020 übernahm die Gruppierung "Querdenken 421" zunehmend die Organisation der Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in Bremen. An den regelmäßig stattfindenden Demonstrationen beteiligten sich vereinzelt auch Personen aus der rechtsextremistischen Szene, u. a. aus dem Umfeld der rechtsextremistischen Partei "Die Rechte" oder der 2019 verbotenen rechtsextremistischen Gruppierung "Phalanx 18" sowie dem Spektrum der "ReichsLogo "Querdenken 421-Bremen" bürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" (siehe Kapitel 3 und 5). Der Großteil des heterogenen Teilnehmerkreises ist dem bürgerlichen Klientel zuzuordnen, das problematische Äußerungen jedoch hinzunehmen scheint. Auch eine glaubhafte und konsequente Abgrenzung gegenüber Personen des rechtsextremistischen Spektrums findet nicht statt. Bereits bei den Demonstrationen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie 2020 fielen Mitglieder des Organisationsteams der Gruppierung "Querdenken 421" durch Verweise auf die antisemitisch konnotierte QAnonVerschwörungsideologie auf: Bei einer Kundgebung auf dem Bremer Marktplatz am 26. September 2020 prangerte ein Mitglied des Organisationsteams der Gruppierung "Querdenken 421" in verschwörungsideologischer Manier u. a. die angeblich existierende "Finanzelite", die "Weltdiktatur" und "die "Impfmafia" an. Die von dem Redner negativ genutzten Begriffe "Finanzelite" und "Welthochfinanz" werden in der rechtsextremistischen Szene und unter Verschwörungsideologen als antisemitische Chiffre verwendet Bei einer weiteren Kundgebung am 17. April 2021 verbreitete ein Mitglied des Organisationsteams verschwörungsideologische, in Teilen antisemitische, Versatzstücke und Verunglimpfungen, die auf die Delegitimierung des Staates und seiner Institutionen abzielte: Die Regierung sei ein "kriminelles Verbrecherregime" und verfolge einen Gesellschaftsumbau hin zu einer Diktatur. Der "Chef" des Bundesverfassungsgerichts sei ein "CDU-Stiefellecker". An die anwesenden Polizist:innen richtete der Redner einen Appell: "Wenn ihr nicht in einer Diktatur leben wollt, müsst ihre die Seiten wechseln", denn es handle sich um eine "inszenierte Pandemie" (Youtube-Video von "Querdenken 421", 17.04.2021). Die Duldung solcher öffentlichen Verlautbarungen von Mitgliedern der Gruppierung "Querdenken 421" deutet darauf hin, dass innerhalb der Gruppierung antisemitische und verfassungsfeindliche Inhalte widerspruchsfrei geteilt werden. Zwischen März und Juli 2021 meldete "Querdenken 421" etwa einmal im Monat eine Demonstration in Bremen an. Die mit bis zu 700 Teilnehmenden zahlenmäßig größte "Querdenken 421"-Kundgebung fand am 13. März 2021 auf der Bürgerweide unter dem Motto "ES REICHT!" statt. Zeitgleich waren in allen Landeshauptstädten Kundgebungen unter demselben Motto angekündigt. Bei den Demonstrationen war auch eine niedrige zweistellige Zahl Hooligans anwesend. Ein Redner, der der Gruppierung "Querdenken 421" zuzurechnen ist, erklärte in seiner Rede, für Antisemitismus und Faschismus sei kein Platz, aber: "Wir finden die Regierung als faschistisch" (sic!). Später zitierte er ein angebliches Dokument der DDR-Staatssicherheit mit dem Titel "Zersetzungsstrategie". Demnach müsse das Opfer im privaten Umfeld gebrochen werden, damit es keine Kraft mehr für den Widerstand gegen die Regierung habe. Das gleiche passiere heute wieder: Die Regierung versuche "systematisch, den Willen der Bevölkerung zu brechen" (Youtube-Video von "Querdenken 421", 13.03.2021). Einzelne Mitglieder des Bremer Organisationsteams nahmen aufgrund des Rückgangs des Demonstrationsgeschehens in Bremen auch an Kundgebungen in anderen Städten teil, beispielsweise in Oldenburg, Hamburg oder an der bundesweiten Demonstration am 29. August 2021 in Berlin. 4 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 49 Als Reaktion auf den schwindenden Zuspruch veränderte "Querdenken 421" ab Frühjahr des Jahres 2021 die Taktik. Statt größerer angemeldeter Kundgebungen setzte die Gruppe zunehmend auf kleinteilige Aktionen mit Teilnehmerzahlen im einund niedrigen zweistelligen Bereich. Beispielweise wurden im April und Mai mehrere sog. "Spaziergänge" im Bremer Stadtgebiet durchgeführt, bei denen Transparente mit Slogans wie "PLandemie" (am 14. Mai 2021) gezeigt wurden. Die Wortschöpfung "PLandemie" verweist dabei auf die unter den sog. "Querdenkern" verbreitete irrige Annahme, eine "Welt-Elite" oder die Regierenden würden die Corona-Pandemie lediglich inszenieren. Ziel dieser Täuschung sei es, die Demokratie abzuschaffen und in eine "CoronaDiktatur" umzubauen. Auch hier lässt sich wieder ein Argumentationsmuster erkennen, dass auf antisemitischen Vorurteilen und Klischees, wie einer jüdischen "WeltElite", aufbaut. Zudem traf sich am 25. April 2021 eine Gruppe "Querdenker" zum gemeinschaftlichen "Zeitunglesen" an der Schlachte. Bei solchen Aktionen äußerten die Teilnehmende immer wieder ihren Unmut und ihr Unverständnis für das Vorgehen der einschreitenden Polizeikräfte und artikulierten ihr Gefühl, in einer Diktatur zu leben. Die "Querdenken"-Kundgebungen wurden von Beginn an von Gegenprotesten begleitet (siehe Kapitel 6). Am Rande von Demonstrationen und Kundgebungen kam es auch im Jahr 2021 vereinzelt zu Auseinandersetzungen zwischen "Querdenkern" und Gegendemonstrant:innen. Im ersten Halbjahr 2021 unternahmen Linksextremist:innen mehrere "Outing"-Aktionen gegen Aktivist:innen und Mitglieder der Gruppierung "Querdenken 421". Die Stimmung unter den "Querdenken"-Demonstrant:innen wurde im Verlaufe des Jahres zunehmend auch deshalb gereizter, weil die Polizei die staatlichen Auflagen zur Eindämmung der Pandemie konsequent durchsetzte und insbesondere Ordnungswidrigkeiten (Verstöße gegen die Gebote zur Einhaltung der Mindestabstände und des Tragens von Masken) ahndete. Zum Ende des Jahres 2021 fanden vermehrt als "Spaziergänge" deklarierte Kundgebungen in Bremen und Bremerhaven statt. Während sich in Bremen lediglich ein mittleres zweistelliges Teilnehmerpotenzial mobilisieren ließ, gelang es den sog. "Querdenkern" in Bremerhaven, bis zu 400 Teilnehmende zu mobilisieren, darunter zahlreiche Personen aus dem Bremer Umland. 50 5 "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 5 "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" Seitenzahl 51 5.1 Struktur und Ideologie 52 5.2 Aktivitäten 52 5.3 Gewalt und Affinität zu Waffen 53 5.4 "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" in Bremen 54 5.5 Agitation von "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" während der Corona-Pandemie 5 "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 51 5 "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Angehörende des Spektrums der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" beteiligten sich auch im Jahr 2021 an den Protestaktionen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Teile des Spektrums suchten dabei gezielt Anschluss an die sog. "Querdenken"-Bewegung. Diese ist zu einem erheblichen Teil als extremistisch einzustufen, insbesondere aufgrund ihrer Absicht, den freiheitlichen Rechtsstaat zu diskreditieren (siehe Kapitel 4). Neben der Organisation von Demonstrationen und Teilnahme an Kundgebungen beteiligen sich "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" aktiv an der Verbreitung von Fehlinformationen und verschwörungsideologischen Inhalten über soziale Netzwerke und Messenger-Dienste. Ihr Ziel ist es, das Vertrauen der Bürger in die Handlungsfähigkeit des Staates zu unterminieren. Die "Reichsbürger"-Organisation "Geeinte deutsche Völker und Stämme" (GdVuSt) hat der Bundesminister des Innern am 19. März 2020 verboten. Grund hierfür war u. a. deren verfassungsfeindliche und antisemitische Haltung: Anhänger:innen der Organisation sprechen der Bundesrepublik Deutschland ihre Legitimation ab, da diese ein von Juden beherrschtes Firmenkonstrukt sei. Zudem wurden Amtsträger und Beschäftigte staatlicher Institutionen teils massiv bedroht. 5.1 Struktur und Ideologie Das Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" ist ideologisch sowie organisatorisch heterogen. Ihm gehören vor allem Einzelpersonen und kleine Gruppierungen an, die jeweils ihre eigenen Theorien und Argumentationsmuster verfolgen. Bundesweit zählten im Jahr 2021 rund 21.000 Personen zu diesem Spektrum. Die Nicht-Anerkennung der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Rechtsordnung ist das verbindende Element sämtlicher "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen". "Reichsbürger:innen" bestreiten die Legitimität und Souveränität der Bundesrepublik Deutschland und berufen sich in Abgrenzung dazu auf den Fortbestand eines "Deutschen Reiches". Die Reorganisation des "Deutschen Reiches" gehört zu den häufigsten Forderungen von "Reichsbürger:innen", insofern weist ihre Ideologie revisionistische Bezüge auf. Bisweilen unterbleibt aber auch eine Bezugnahme auf die "Reichsidee" und die Personen proklamieren ihre Wohnung oder ihr Grundstück als eigenes Staatsgebiet. Sog. "Selbstverwalter:innen" glauben, durch eine entsprechende Erklärung aus Deutschland "austreten" zu können. Türschild eines "Selbstverwalters" Angehörende des Spektrums sehen das Grundgesetz, Bundesund Landesgesetze sowie Bescheide von Behörden und Entscheidungen von Gerichten als nichtig an und geben sich stattdessen eigene Gesetze oder berufen sich auf ein selbst definiertes Naturrecht. Regelmäßig propagieren "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" Verschwörungsfantasien, die zum Teil antisemitisch konnotiert sind. Explizit rechtsextremistische Positionen vertritt jedoch eher eine Minderheit; zum Teil sind die Ideen auch von sozialistischen Positionen geprägt. Manche Gruppierungen sind zudem esoterisch eingefärbt. 52 5 "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Wenngleich sich das heterogene Spektrum kaum ideologisch einordnen lässt, sind "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" als extremistisch zu bewerten, weil sie die völkerrechtliche Legitimität und Souveränität der Bundesrepublik Deutschland leugnen und sich damit gegen den Bestand des Staates sowie gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung wenden. 5.2 Aktivitäten Die fundamentale Ablehnung der bestehenden Rechtsordnung zeigt sich in besonderem Maße im Verhalten von "Reichsbürger:innen" gegenüber Behörden und deren Beschäftigten. Das Ziel besteht darin, die Funktionsfähigkeit des Staates erheblich zu beeinträchtigen, indem staatliche Institutionen und staatliche Maßnahmen sabotiert werden. Zum Beispiel versenden Angehörende des Spektrums massenhaft Schreiben mit unsinnigen Forderungen an Behörden oder erklären den Mitarbeiter:innen der öffentlichen Verwaltung, dass diese nur Personal der "BRD-GmbH" oder des "BRDSystems" seien, weshalb gerichtliche oder behördliche Entscheidungen rechtswidrig Selbstentworfener Ausweis eines seien. Sie argumentieren häufig in pseudojuristischer Weise und ziehen in ihren Argu"Reichsbürgers" mentationen oft wahlund zusammenhanglos Gesetze und Urteile heran. Im persönlichen Kontakt mit Behördenmitarbeiter:innen zeigen "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" oftmals ein hohes Aggressionspotenzial: Beleidigungen, Bedrohungen und Nötigungen sind vielfach das Mittel der Wahl. Die Übernahme von Fantasieämtern ist ein häufiges Merkmal von "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen", sie sehen sich beispielsweise als "Reichskanzler", "Polizeipräsidenten" oder "Angehörige Preußens" und handeln im Namen von "(Kommissarischen) Reichsregierungen". Dazu fertigen sie Fantasiedokumente wie Führerscheine, Staatsangehörigkeitsausweise oder absurde Rechtsgutachten an. Das heterogene und überwiegend aus Einzelpersonen und kleineren Gruppierungen bestehende Spektrum ist insbesondere über das Internet miteinander verbunden. In den vergangenen Jahren ist eine Zunahme der Aktivitäten von "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" in sozialen Netzwerken zu verzeichnen. Dort mobilisieren Angehörende zum einen Unterstützer für ihre Aktivitäten und verbreiten zum anderen ihre abstrusen Theorien. So veröffentlichen sie beispielsweise ihre Urteilsund Gesetzesinterpretationen, liefern Vorlagen sowie Dokumente für ihre Argumentationslinien und führen vermeintliche Belege für ihre Verschwörungstheorien an. 5.3 Gewalt und Affinität zu Waffen Wenngleich es in den vergangenen Jahren lediglich in Einzelfällen zu konkreten Gewalthandlungen kam, zeigen die Angriffe von "Reichsbürgern" auf Polizisten in Sachsen-Anhalt und Bayern im Jahr 2016, bei denen ein Polizist getötet und mehrere Polizisten durch Schüsse verletzt wurden, das hohe Gewaltpotenzial, das von einzelnen Anhänger:innen dieses Spektrums ausgeht. Viele Angehörende haben eine grundsätzliche Abwehrhaltung gegenüber dem Staat, welche insbesondere bei behördlichen Maßnahmen, die durchweg als unrechtmäßig empfunden werden, zu Widerstandshandlungen führen kann. So rechtfertigten Teile des Spektrums die Gewalttaten 2016 als zwangsläufige "Notwehrhandlungen". 5 "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 53 Bundesweit entzogen die Waffenbehörden in den vergangenen Jahren zahlreichen "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" ihre Waffen. In Bremen veröffentlichte der Senator für Inneres bereits in den Jahren 2016 und 2018 Erlasse zur Entziehung der waffenrechtlichen Erlaubnisse. Darin wird "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" grundsätzlich die charakterliche Eignung zum Führen von Waffen abgesprochen. Vor diesem Hintergrund stehen die Waffenbehörden in Bremen seit geraumer Zeit im ständigen und engen Austausch mit dem Staatsschutz der Polizei Bremen und dem LfV. Liegen Erkenntnisse vor, die den Verdacht begründen, dass eine Person der extremistischen Szene oder einer extremistischen Gruppierung oder Organisation zuzuordnen ist, werden diese Erkenntnisse an die zuständige Waffenbehörde weitergeleitet. Diese verfolgt sodann den Widerruf einer erteilten waffenrechtlichen Erlaubnis. Sofern nachträglich eine Zugehörigkeit von Erlaubnisinhabern zur Szene festgestellt werden kann, wird der Entzug der entsprechenden Berechtigungen in Bremen konsequent durchgesetzt. Im Land Bremen gibt es aktuell keine "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" oder Rechtsextremist:innen mit einer Waffenbesitzkarte. 5.4 "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" in Bremen Das Spektrum der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" in Bremen besteht überwiegend aus Einzelpersonen und Kleingruppen. Im Jahr 2021 umfasste das Personenpotenzial ebenso wie im Vorjahr rund 100 Personen. Die Aktivitäten von "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" in Bremen zeigen sich zum einen in der vielfältigen Propaganda im Internet und in sozialen Netzwerken, die zum Teil antisemitische Verschwörungsideologien oder geschichtsrevisionistische Thesen enthält. Zum anderen sind zahlreiche Bremer Behörden mit den "Anliegen" von "Reichsbürger:innen" beschäftigt, insbesondere die Justiz, das Ordnungsamt und die Steuerverwaltung. Dabei treten "Reichsbürger:innen" u. a. mit Beleidigungsdelikten, Urkundenfälschung oder mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Erscheinung. Angehörende des Spektrums beabsichtigen zum Beispiel, ihren Personalausweis abzugeben, oder verweigern die Zahlung von Gebühren. Sehr häufig stellen sie mit Bezug auf ihre "Reichsideen" auch Anträge auf "Feststellung der deutschen Staatsangehörigkeit" und berufen sich bei der Ausstellung des Dokuments beispielsweise auf die Staatsangehörigkeit des "Königreichs Preußen" oder beantragen Zusätze wie "ist Deutscher mit der Staatsangehörigkeit im Bundesstaat Preußen". Im Kontext der Corona-Pandemie war das Ordnungsamt in Bremen häufig mit szenetypischen Verhaltensweisen konfrontiert. Auf Anhörungen wegen Ordnungswidrigkeiten oder erlassene Bußgeldbescheide reagierten Anhänger:innen des Spektrums, indem sie die gesetzlichen Grundlagen anzweifelten, da es in Deutschland ihrer Auffassung nach kein gültiges Grundgesetz gebe. Häufig beziehen sich die "Reichsbürger:innen" dabei auf die sog. S.H.A.E.F.-Gesetze. Entsprechend dieser Fantasie erachten sie die Bundesrepublik Deutschland nach wie vor als besetzt und schreiben den vom "Oberkommando der Alliierten Expeditionsstreitkräfte" (in englischer Kurzform auch "SHAEF") erlassenen Gesetzen von 1943 weiterhin Gültigkeit zu. Anhänger:innen dieser Fantasie verweisen auf ein Kriegsrecht und die Gerichtsbarkeit durch das US-Militär. Das sog. Ordnungswidrigkeitengesetz sei zudem aufgehoben. Diese kruden Fantasien und falschen Behauptungen untermauern Anhänger:innen dieser Fantasie mit zahlreichen Verweisen auf aus dem Zusammenhang gerissenen Gesetzestexten. 54 5 "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 5.5 Agitation von "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" während der Corona-Pandemie "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" verbreiten ihre kruden Fantasien und falschen Behauptungen hinsichtlich der Corona-Pandemie überwiegend im Internet und in sozialen Netzwerken. Angehörende des Spektrums leugnen entweder die Existenz des Virus oder erachten die Corona-Pandemie als Inszenierung verschiedener Akteur:innen, wie z. B. der Bundesregierung oder der alliierten "Besatzungsmächte", um die Bevölkerung zu unterdrücken oder zu überwachen. Angesichts der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie behaupten Angehörende des Spektrums der "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen", dass diese ausschließlich dem Zweck dienten, der Bevölkerung sukzessive und dauerhaft Grundrechte zu entziehen. Insbesondere die staatlich angeordneten Ausgangsbeschränkungen in den von der Pandemie besonders stark betroffenen Regionen wird von Teilen des Spektrums als eindeutiger Beweis dafür angeführt. Das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes interpretieren Angehörende des Spektrums als die "Verordnung eines Maulkorbs". Mit der grundsätzlichen Kritik und Infragestellung der staatlichen Beschränkungsmaßnahmen zielen "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" darauf ab, das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung und in ihre Handlungsfähigkeit zu untergraben. Vielfach beziehen sich Teile des Spektrums auf die Fragmente der "QAnon"Ideologie (siehe Kapitel 4) und erweitern diese mit den für die "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" konstitutiven Narrativen. Dies ermöglicht dem Spektrum eine Anknüpfbarkeit an unterschiedliche Weltanschauungen und damit eine Ausweitung ihrer Mobilisierungsfähigkeit. Zugleich entstehen so neue Mythen und Erzählungen, die eine Radikalisierung einzelner Anhänger:innen befördern können. Auch die öffentliche Diskussion um die Einführung eines "Immunitätsausweises" sowie einer Impfpflicht wird in den Internetforen von "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" thematisiert. Neben der virtuellen Agitation engagieren sich "Reichsbürger:innen" und "Selbstverwalter:innen" zunehmend bei Protesten und Kundgebungen der "Querdenker" in Bremen und Bremerhaven. Vielfach treten sie dabei als Organisatoren auf und mischten sich unter die Demonstrierenden. Sie nutzen so die Proteststimmung, um ihre Propaganda mit dem Ziel der Delegitimierung der Bundesrepublik Deutschland zu verbreiten. 5 "REICHSBÜRGER:INNEN" UND "SELBSTVERWALTER:INNEN" VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 55 56 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 6 LINKSEXTREMISMUS Seitenzahl 57 6.1 Linksextremistisches Weltbild und linksextremistische Strukturen 59 6.2 Gruppierungen des gewaltorientierten Linksextremismus 66 6.3 Aktivitäten gewaltorientierter Linksextremist:innen 68 6.3.1 Proteste gegen Rechtsextremist:innen und Rechtspopulist:innen 70 6.3.2 Proteste gegen "staatliche Repression" 73 6.3.3 "Militante Aktionen" im Begründungszusammenhang "Antimilitarismus" 74 6.3.4 Kampf um bezahlbaren Wohnraum 75 6.3.5 "Klimaproteste" 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 57 6 Linksextremismus Bundesweit war ebenso wie in den Vorjahren ein hohes Radikalisierungsniveau innerhalb der linksextremistischen Szene festzustellen. Eine zunehmende Gewaltbereitschaft zeigte sich in Teilen der gewaltorientierten linksextremistischen Szene insbesondere in den Aktionsfeldern "Antifaschismus" und "Antirepression". Das zeigen beispielhaft zwei Prozesse gegen gewaltorientierte Linksextremisten: Während der Prozess gegen eine Gruppe um die Leipziger Anarchistin Lina E. im September 2021 in Dresden begann, wurden in Stuttgart zwei gewalttätige Linksextremisten im Oktober 2021 verurteilt. Allen Linksextremist:innen wird zur Last gelegt, vermeintliche und/oder tatsächliche Rechtsextremist:innen tätlich angegriffen und zum Teil lebensbedrohlich verletzt zu haben. Begleitet wurden die Prozesse bundesweit von zum Teil gewaltsamen Solidaritätsbekundungen, Demonstrationen und Resonanzstraftaten der gewaltorientierten linksextremistischen Szene, so auch in Bremen. In Bremen gab es in den vergangenen drei Jahren eine Vielzahl von sog. "militanten Aktionen" der linksextremistischen Szene, die sich vornehmlich in Sachbeschädigungen an Gebäuden und Fahrzeugen sowie in Brandanschlägen auf Fahrzeuge zeigten. Mit 27 Sachbeschädigungen und Brandanschlägen sank zwar die Zahl der "militanten Aktionen" im Vergleich zum Vorjahr, in dem es insgesamt 51 "militante Aktionen" gab. Allerdings deutet sich an, dass sich die Qualität der Taten insgesamt zum Nachteil verändert. Der von gewaltorientierten Linksextremist:innen begangene Anschlag auf das Firmengebäude des Raumund Luftfahrtunternehmens OHB in der Silvesternacht 2021/2022 stellt eine neue Qualität der Gewalteskalation dar, da dabei nicht nur ein enormer Sachschaden entstanden ist, sondern die Gefährdung von Menschenleben - hier insbesondere des Wachpersonals - billigend in Kauf genommen wurde. Einen weiteren Schwerpunkt der gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens bildeten die Proteste gegen die sog. "Querdenker" (siehe Kapitel 4), die seit dem Frühjahr 2020 Kundgebungen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie organisieren. Linksextremist:innen unterstellen den Teilnehmenden dieser Demonstrationen grundsätzlich eine "rechte" und antisemitische Weltanschauung. Neben "Outing-Aktionen" und einschüchternden "Hausbesuchen" bei sog. "Querdenkern" konnte zum Ende des Jahres ein deutlich gesteigertes Aggressionspotenzial bei den Protesten festgestellt werden. Oft konnte ein Aufeinandertreffen von vermeintlichen Rechtsextremist:innen und gewaltorientierten Linksextremist:innen am Rande solcher Demonstrationen nur durch starke Polizeipräsenz verhindert werden. 6.1 Linksextremistisches Weltbild und linksextremistische Strukturen Linksextremist:innen eint das Ziel der Überwindung der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnung und der Errichtung eines herrschaftsfreien oder kommunistischen Systems. Während dogmatische Kommunist:innen die Überwindung des politischen Systems und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft über eine Diktatur des Proletariats unter Führung einer "proletarischen Avantgarde" anstreben, zielen Anarchist:innen, Antiimperialist:innen und Autonome auf die Abschaffung jeglicher Form von "Herrschaftsstrukturen". In der linksextremistischen Ideologie wird die Forderung nach sozialer Gleichheit unter Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates verabsolutiert. Das Ziel soll dabei unter Missachtung der Grundwerte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung erreicht werden und würde grundlegende Prinzipien der Verfassung außer Kraft setzen. Betroffen ist davon nicht nur das in der Verfassung verankerte Rechtsstaatsoder Demokratieprinzip, insbesondere die grundrechtlich geschützten Freiheiten würden dadurch weitgehend außer Kraft gesetzt. 58 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Autonome Autonome erheben den Anspruch, nach eigenen Regeln leben zu können, und streben nach einem hierarchiefreien, selbstbestimmten Leben innerhalb "herrschaftsfreier" Räume. Sie beziehen sich ideologisch vor allem auf anarchistische und kommunistische Theoriefragmente, wobei ihre ideologischen Vorstellungen insgesamt diffus bleiben. Da formelle Strukturen und Hierarchien grundsätzlich abgelehnt werden, ist die autonome Szene stark fragmentiert und besteht hauptsächlich aus losen Personenzusammenschlüssen, die anlassbezogen gegründet werden und sich ebenso kurzfristig wieder auflösen. Autonome Linksextremist:innen erachten ihre Eigenund Selbstständigkeit für so wichtig, dass sie sich in der Regel in keine festen politischen Strukturen integrieren. Teile der autonomen Szene beteiligen sich jedoch an bürgerlich-demokratischen Bündnissen und nutzen diese, um zivilgesellschaftliche Proteste in ihrem Sinne zu radikalisieren und ihre politischen Vorstellungen in die Gesellschaft zu tragen. Mit der Taktik der Bündnispolitik gelingt es Autonomen immer wieder, insbesondere im Bereich "Antifaschismus", mit bürgerlich-demokratischen Gruppen zusammenzuarbeiten, die ihre extremistischen Ansichten im Grunde ablehnen. Ein Teil der autonomen Szene lässt sich inzwischen deutlich von der ursprünglichen autonomen Szene abgrenzen und wird als "postautonom" bezeichnet. Während sich Autonome traditionell insbesondere durch ihre Organisationsfeindlichkeit, Gewaltbereitschaft und Theorieferne auszeichnen, können Postautonome lediglich noch als organisationskritisch, weniger gewaltbereit und oftmals als theoretisch gefestigter beschrieben werden. Ihre gesellschaftliche Isolation wollen sie vor allem dadurch durchbrechen, dass sie eine Scharnierfunktion zwischen gewaltorientierten Linksextremist:innen und gemäßigten, bürgerlichen "Linken" einnehmen. Gewalt als legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung Die Anwendung von Gewalt zur Erreichung politischer Ziele ist dabei einer der strittigsten Punkte innerhalb der linksextremistischen Ideologie. Während der Großteil der Linksextremist:innen auch aus taktischen Gründen auf die konkrete Ausübung von Gewalt verzichtet, ist die Notwendigkeit von Gewalt innerhalb der gewaltorientierten linksextremistischen Szene unumstritten. Zur gewaltorientierten linksextremistischen Szene zählen nicht nur Personen und Gruppierungen, die selbst gewalttätig handeln oder gewaltbereit gegen ihre "politischen Gegner" vorgehen, sondern ebenso diejenigen, die Gewalt unterstützen oder Gewalt befürworten. Die Gewaltorientierung einer Person oder Gruppierung kann sich zum einen aus ihrer ideologischen Ausrichtung und zum anderen aus ihren konkreten Handlungen ergeben. Dazu gehören beispielsweise das Propagieren der Notwendigkeit von Gewalt im Kampf gegen das "politische System" vor einem ideologischen Hintergrund, Appelle an politische Mitstreiter:innen zur Ausübung von Gewalt oder die billigende Inkaufnahme von Gewalttätigkeiten politischer Mitstreiter:innen, etwa mit der Begründung, im Hinblick auf ein politisches Ziel Geschlossenheit der Szene demonstrieren zu wollen. Gewaltorientierte Linksextremist:innen befürworten zur Durchsetzung ihrer politischen Forderungen die Anwendung von Gewalt gegen den Staat, seine Einrichtungen und Repräsentant:innen sowie gegen (vermeintlich) rechtsextremistische Strukturen und Personen. Gewalt wird häufig mit der von Staat und Gesellschaft ausgehenden "strukturellen Gewalt" gerechtfertigt. Gewalt ist in dieser Szene aber nicht nur ein Mittel zur Bekämpfung des "staatlichen Repressionsapparates", sondern zugleich auch ein identitätsstiftendes Merkmal. Viele Angehörende der gewaltorientierten linksextremistischen Szene sehen darin einen Akt der individuellen Selbstbefreiung. Unterschieden werden kann in diesem Zusammenhang die konfrontative Gewalt von den sog. "militanten Aktionen". 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 59 Konfrontative Gewalt Im Rahmen von Demonstrationen führt die hemmungslose Gewalt von Linksextremist:innen regelmäßig zu massiven gewalttätigen Ausschreitungen. Gewalttätige Linksextremist:innen greifen immer wieder Polizist:innen und (vermeintliche) Rechtsextremist:innen gezielt u. a. mit Steinen, Flaschen und pyrotechnischen Gegenständen an. In den vergangenen Jahren zeigten Angehörende der gewaltorientierten linksextremistischen Szene in Auseinandersetzungen mit Polizist:innen und ihren "politischen Gegner:innen" bundesweit ein brutales Vorgehen, welches ein Absenken der Hemmschwelle verdeutlicht, auch schwerste Verletzungen zu verursachen. In diesem Zusammenhang ist häufig die Rede von einer zunehmenden szenedefinierten "Entmenschlichung der politischen Gegner:innen". An gewalttätigen Auseinandersetzungen beteiligen sich neben Linksextremist:innen häufig auch "anpolitisierte" oder gänzlich unpolitische, erlebnisorientierte Jugendliche. Ihnen geht es weniger um konkrete politische und auf Systemüberwindung ausgerichtete Ziele als um den "Erlebnischarakter", der von solchen Ereignissen ausgeht; auch das Ausleben eines Aggressionspotenzials ist vielfach handlungsleitend. "Militante Aktionen" "Militante Aktionen" in Form von Sachbeschädigungen und Brandanschlägen werden von konspirativ agierenden Kleingruppen zumeist nachts durchgeführt. Gebäude und Fahrzeuge von Behörden, Parteien, Unternehmen und auch Privatpersonen werden u. a. durch Steinwürfe und Farbe beschädigt oder in Brand gesetzt. Darüber hinaus richten sich "militanten Aktionen" gezielt gegen Personen. Konspirative Kleingruppen greifen vor allem (vermeintliche) Rechtsextremist:innen vorwiegend in ihrem privaten Wohnumfeld an. Diese gezielten und geplanten Anschläge sollen eine Signalwirkung entfalten. Zum einen geht es den Täter:innen um mediale Resonanz und zum anderen sollen die betroffenen Institutionen oder Personen zu einer Verhaltensänderung genötigt werden. Im Nachhinein werden die Taten oftmals in Selbstbezichtigungsschreiben ideologisch begründet und im Internet veröffentlicht. Unterzeichnet werden die Selbstbezichtigungsschreiben häufig mit fiktiven Gruppennamen. Mit ihrer Einstellung, politische Ziele gewaltsam zu verfolgen, setzen sich gewaltorientierte Linksextremist:innen über das Gewaltmonopol des Staates und den Grundkonsens demokratischer Verfassungsstaaten hinweg, gesellschaftspolitische Veränderungen ausschließlich auf demokratischem Wege herbeizuführen. Daher steht dieser gewaltorientierte Teil der linksextremistischen Szene im Fokus der Beobachtung durch das LfV. 6.2 Gruppierungen des gewaltorientierten Linksextremismus In Bremen kann die linksextremistische Szene zu bestimmten Anlässen, beispielsweise zu Spontandemonstrationen, auch sehr kurzfristig über 200 Personen mobilisieren. Eine maßgebliche Funktion bei der Organisierung von Protesten nehmen in Bremen seit Jahren die beiden postautonomen Gruppierungen "Interventionistische Linke" (IL) und "Basisgruppe Antifaschismus" (BA) ein. Angesichts der seit März 2020 herrschenden Pandemie war insgesamt eine Abnahme von Demonstrationen, Protestaktionen und Veranstaltungen der gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens feststellbar. "Interventionistische Linke" Die "Interventionistische Linke" (IL) gehört zu den postautonomen Gruppierungen, die eine bessere Organisierung der "linken" Szene zur Erreichung ihrer politischen Ziele für notwendig halten. Die Bremer Ortsgruppe der IL war im Jahr 2014 aus der Ortsgruppe der Gruppierung "Avanti - Projekt undogmatische Linke" ("Avanti") herLogo "IL" 60 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 vorgegangen. Die Mehrheit der 1989 gegründeten "Avanti"-Ortsgruppen hatte 2014 ihre Auflösung als selbstständige Organisation und ihren Beitritt zu der seit 2005 bundesweit agierenden IL erklärt. Die IL entwickelte sich damit von einem Netzwerk aus linksextremistischen, aber auch nichtextremistischen Gruppierungen und Einzelpersonen zu einer Organisation mit nunmehr 25 lokalen Ortsgruppen in Deutschland und einer Ortsgruppe in Österreich. Ihre Zielsetzung und Strategie legte die IL 2014 in einem weiterhin gültigen "Zwischenstandspapier" dar: "Da sich auf der Basis patriarchaler und rassistischer Gesellschaftsstrukturen der real existierende Kapitalismus entfalten konnte, ist es für uns zentral, den Kampf für eine befreite Gesellschaft mit dem Kampf gegen all diese Herrschaftsformen zu verbinden. [...] Entscheidend für uns ist - sowohl in der theoretischen Begründung als auch in der Eröffnung praktischer Optionen -, stets auf eine gesamtgesellschaftliche Veränderung abzuzielen." (Internetseite der IL, 11. Oktober 2014). Die IL, die sich selbst als "undogmatische Linke" bezeichnet, bietet damit keine konkrete "Systemalternative", gleichwohl kämpft sie für einen "revolutionären Bruch mit dem nationalen und globalen Kapitalismus" sowie der "Macht des bürgerlichen Staates" (Internetseite der IL, 11. Oktober 2014). Mit der Formulierung, einen Zustand erreichen zu wollen, der dem Kommunismus ähnelt, bleibt ihr Ziel vage. Die Strategie, sich nicht unnötig ideologisch festzulegen, verfolgt die Organisation, um ideologische Differenzen und daraus resultierende Konflikte innerhalb der linksextremistischen Szene zugunsten einer gemeinsamen Organisierung zu überwinden. Die IL bemüht sich seit Jahren, die Handlungsfähigkeit der "linken" Szene durch die Zusammenführung linksextremistischer und nichtextremistischer Aktivist:innen unterschiedlicher ideologischer Prägung in Bündnissen, Initiativen und Kampagnen zu erhöhen. Mit dieser Strategie nimmt die IL eine Scharnierfunktion zwischen linksextremistischen und nichtextremistischen Akteuren ein. Mit bewusst vage gehaltenen Formulierungen bezüglich des Ablaufs und des inhaltlichen Ziels einer Veranstaltung gelang es der IL bei Großereignissen in den vergangenen Jahren wiederholt, eine große Zahl an Nichtextremist:innen in ihre Proteste zu involvieren und sie für ihre politischen Zwecke zu instrumentalisieren. Ein Beispiel ist hier die linksextremistisch beeinflusste Kampagne "Ende Gelände", die von Einzelpersonen und Gruppierungen sowohl des demokratischen als auch des linksextremistischen Spektrums unterstützt wird und deren Aktivitäten von der IL maßgeblich beeinflusst werden. Die in die Proteste der IL eingebundenen Akteur:innen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer ideologischen Ausrichtung, sondern auch in ihrer Einstellung zu Gewalt, die von Ablehnung bis Befürwortung reicht. Das Verhältnis der Gruppierung zu Gewalt kann somit als taktisch beschrieben werden: Einerseits arbeitet sie eng mit gewalttätigen Akteur:innen zusammen, nimmt ihre Gewalttätigkeiten bei Protesten in Kauf und bietet ihnen sogar einen Rahmen dafür. Andererseits vermeidet sie ein offenes Bekenntnis oder Aufrufe zur Anwendung von Gewalt, weil sie damit ihre als notwendig erachtete Zusammenarbeit mit Nichtextremist:innen aufgeben müsste, die Gewalt ablehnen und häufig auch die Zusammenarbeit mit Strafund Gewalttäter:innen. Vor dem Hintergrund insbesondere ihrer gewaltbefürwortenden Einstellung gilt die Gruppierung als gewaltorientiert. Die taktische Einstellung der IL zeigte sich deutlich beim G20-Gipfel 2017 in Hamburg, bei dem sie sich zu keinem Zeitpunkt von den schweren gewaltsamen Ausschreitungen distanzierte, die sich Linksextremist:innen über mehrere Tage mit der Polizei lieferten. Im Vorfeld des G20-Gipfels erläuterte eine Vertreterin der IL: "Ich will in einer Linken sein, die undogmatisch ist. Wir wollen immer prüfen, welches der gerade strategisch richtige Weg ist. [...] Wenn man es ernst meint mit der Vision des guten 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 61 Lebens für alle, muss man auch etwas dafür riskieren. Das funktioniert nicht, wenn sich alle immer nur an die Regeln halten." ("Zeit online", Interview von Sigrid Neudecker mit Emily Laquer: "G20-Gipfel. Ein abgebranntes Auto ist immer noch Sachbeschädigung", 27.04.2017). Nach den schweren gewaltsamen Ausschreitungen beim G20-Gipfel erklärte sie: "Wie käme ich also dazu, Menschen das Recht abzusprechen, sich zu wehren und sich aufzulehnen? Ihnen vorzuschreiben, auf welche Weise sie ihrer Wut und Empörung Ausdruck verleihen dürfen? Vor wem muss ich mich rechtfertigen, wenn in Hamburg irgendwer eine Scheibe einwirft? [...] Und deshalb muss ich immer wieder auf die Gewaltfrage antworten: Nein, ich unterwerfe mich nicht. Nein, ich distanziere mich nicht. Ich weigere mich, harmlos zu sein." ("tageszeitung", Kommentar von Emily Laquer: "Eine verlogene Diskussion", 05.07.2017). "Basisgruppe Antifaschismus" Die 2008 gegründete und kommunistisch ausgerichtete "Basisgruppe Antifaschismus" (BA) ist seit mehreren Jahren eine der aktivsten gewaltorientierten linksextremistischen Gruppierungen in Bremen. Die Gruppierung ist seit 2011 in dem kommunistischen "... ums Ganze!"-Bündnis organisiert. Logo "Basisgruppe Antifa" Das Ziel der BA, die revolutionäre Überwindung des demokratischen Rechtsstaates und die Errichtung einer kommunistischen Gesellschaftsordnung, geht u. a. aus einem anlässlich ihres 10-jährigen Bestehens veröffentlichten Facebook-Eintrag aus dem Jahr 2018 hervor: "Ihr seht, es ist viel passiert. Und noch viel mehr muss passieren, soll das mit diesem ganzen Rumgeprolle von sozialer Revolution und emanzipatorischer Aufhebung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Kommunismus mal wirklich Wirklichkeit werden!" (Facebook-Seite der BA, 12.07.2018). Die verfassungsfeindliche Zielsetzung der Gruppierung erläuterte einer ihrer führenden Aktivisten unter einem Aliasnamen 2017 in einem Interview, das die Bedeutung der linksextremistischen terroristischen Vereinigung "Rote Armee Fraktion" (RAF) für die heutige linksextremistische Szene thematisierte: "Trotzdem ist es natürlich immer noch nötig, diese Gesellschaft revolutionär zu überwinden. Diese Gesellschaft ist auf Ausbeutung angelegt. Eine Linke, die sich grundsätzlich von Gewalt distanziert, ist eine sozialdemokratische Linke. Ich bin Kommunist, ich will diese Gesellschaft überwinden. Für mich ist Gewalt keine Moralfrage, sondern eine taktische. Mich interessiert: Passt das gewählte Mittel inhaltlich zum Zweck meiner Politik?" (Internetseite der BA, Protokoll von Timon Simons aufgezeichnet von Gesa Steeger: "Strategisch bescheuert", 03.09.2017). Die taktische Einstellung des BA-Aktivisten zu Gewalt und seine Betonung, sich als Kommunist von der gewaltablehnenden "sozialdemokratischen Linken" abzugrenzen, zeigt, dass er nicht nur eine gewaltsame Revolution zur Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung als Fernziel für notwendig erachtet, sondern auch die Anwendung von Gewalt in den aktuellen Protesten. Angesichts ihrer zumindest Gewalt befürwortenden Einstellung zählt die Gruppierung zur gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens. Wie bereits im Vorjahr beeinflusste die Corona-Pandemie die linksextremistischen Themenfelder "Antikapitalismus", "Antifaschismus" und "Antirassismus" maßgeblich. Die BA versteht die Corona-Pandemie als Bestätigung und Rechtfertigung für ihren "Kampf gegen den Kapitalismus" und insbesondere die angebliche Krisenhaftigkeit des politischen Systems. Als Zeichen des Protestes gegen die behördlich angeordneten Ausgangsbeschränkungen organisierte die BA im April und im Mai 2021 sog. "Fahrrad-Demonstrationen". Unter dem Motto: "Das Virus geht nicht nachts spazieren, sondern tagsüber arbeiten" (Instagram-Profil der BA Bremen, 04.05.2021) und 62 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 "Solidarischer shutdown statt Ausgangssperre" (Instagram-Profil der BA Bremen, 21.04.2021) mobilisierte sie insgesamt über 300 Teilnehmende. Die Gruppierung engagierte sich außerdem maßgeblich in der Organisation der Gegenproteste zu den ab Mitte 2021 erneut zunehmenden Kundgebungen gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie in Bremen, die in ihren Augen primär von Rechtsextremist:innen organisiert und durchgeführt werden (siehe 5.3). Aktivist:innen der BA unterstützten im Jahr 2021 das "Bremer Bündnis Zwangsräumungen verhindern" bei seinen Protesten, bei denen sich Demonstrant:innen immer wieder körperliche Auseinandersetzungen mit der Polizei lieferten. So hinderten rund 60 Personen die Gerichtsvollzieherin bei einer von der BA mitinitiierten Protestaktion am 13. Juli 2021 gegen die Zwangsräumung einer Wohnung am Eintritt. Die Polizei setzte schließlich die Räumung der Wohnung durch. Im Nachgang werden solche Polizeieinsätze als Beleg für die vermeintlich unverhältnismäßige Repression durch die Polizei angeführt. Die Unterstützung des Bündnisses durch die BA wurde bereits am 10. Juni 2021 in einem Fernseh-Interview mit Radio Bremen deutlich, in dem eine Führungsperson der BA sich wie folgt äußerte: "Wir werden uns von Militanz nicht distanzieren, weil wir die Wut und Emotionen dahinter nachvollziehen können. Unsere Praxis besteht daraus oder darin, das Bündnis gegen Zwangsräumung zu unterstützen." (Beitrag "butenunbinnen", 10.06.2021). Den primär von bürgerlichen Akteur:innen getragenen Protest gegen Gentrifizierung und Zwangsräumungen nutzt die BA strategisch, um den Einsatz von Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele zu normalisieren. "... ums Ganze!"-Bündnis Die linksextremistische Gruppierung "Basisgruppe Antifaschismus" (BA) gehört dem 2006 gegründeten Bündnis "... ums Ganze!" (uG) an, das zurzeit aus neun eigenständig agierenden und lokal verankerten Mitgliedsgruppen besteht, davon eine aus Österreich. Logo "Ums Ganze!" Das Bündnis bezeichnet sich im Untertitel seines Namens als ein "kommunistisches Bündnis" und verweist damit auf seinen ideologischen Hintergrund. Es strebt die Abschaffung und Ersetzung der bestehenden Gesellschaftsordnung durch eine kommunistische Staatsund Gesellschaftsordnung an: "Wir wollen uns nicht mit realpolitischen Forderungen zufrieden geben, wir wollen nicht nach der praktischen Umsetzbarkeit irgendwelcher Reformen fragen, wir sagen klar und deutlich: Uns geht's ums Ganze! Wir wollen die Überwindung des gesellschaftlichen Verhältnisses Kapitalismus als die einzig 'menschenwürdige Lösung' propagieren. Wir wollen unsere Negation dieses Verhältnisses ausdrücken." ("... ums Ganze!": "smash capitalism. fight the g8 summit", Neustadt 2007, Vorwort, S. 3). Das "... ums Ganze!"-Bündnis zählt zur gewaltorientierten linksextremistischen Szene, weil es Gewalt befürwortet. So lobte das Bündnis im Nachgang zum G20-Gipfel 2017 die gewalttätigen Proteste und hob hervor, dass die Blockadeaktion im Hamburger Hafen erst durch die zeitgleichen dezentralen "militanten Aktionen" im Hamburger Stadtgebiet ermöglicht worden seien: "Die Vielfalt der Aktionsform hat sich dabei praktisch ergänzt, auch wenn das einige lieber nicht so laut sagen wollen. Denn ohne militante Aktionen an anderer Stelle, die viel Polizei gebunden haben, wären wohl weder die Blockadefinder noch die Hafenblockade so relativ erfolgreich gewesen." (Internetseite des "... ums Ganze!"-Bündnisses: "Ein Gruß aus der Zukunft", 11.07.2017). Mitglied im bundesweiten kommunistischen "... ums Ganze!"-Bündnis war auch die 2013 gegründete Gruppierung "Antifaschistische Gruppe Bremen" (AGB). Die kommunistisch und antinational ausgerichtete Gruppierung trat im vergangenen Jahr nicht mehr öffentlich in Erscheinung. Die Gruppierung war schwerpunktmäßig in den The- 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 63 menfeldern "Antifaschismus" und "Antirassismus" aktiv und organisierte häufig in Kooperation mit der BA linksextremistische Protestaktionen gegen (vermeintliche) Rechtsextremist:innen in Bremen. "Kämpfende Jugend" Die 2019 gegründete linksextremistische Gruppierung "Kämpfende Jugend Bremen und Hannover" (KJ) hat ihren Aktivitätsschwerpunkt in Bremen. Die kommunistische Gruppierung orientiert sich, laut eigener Aussage, am Marxismus-Leninismus. Anschaulich wird dies in der Gründungserklärung, die mit einem Zitat aus dem Parteiprogramm der "Kommunistischen Partei Deutschland" (KPD) von 1919 beginnt: "Es gilt eine Welt zu erobern und gegen eine Welt anzukämpfen!" (Facebook-Seite der KJ, 24.03.2019). Auch ihre verfassungsfeindlichen Ziele beschreibt die KJ in ihrer Gründungserklärung ausführlich. Sie strebt die Überwindung des demokratischen Rechtsstaates und die Logo "KJ" Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft an: "Wir verstehen uns als kommunistische Gruppe, die sich gegründet hat, um den politischen Entwicklungen und dem bürgerlichen Staat, in dem wir leben, entgegenzutreten. [...] Für uns gibt es keinen ,besseren' oder ,schlechteren' Kapitalismus. Deshalb sagen wir ihm den Kampf an - den Klassenkampf!" (Facebook-Seite der KJ, 24.03.2019). In ihrem "Selbstverständnis", veröffentlicht im März 2019 auf der "noblogs.org"-Seite der Gruppierung, argumentiert die KJ mit der "Kapitalismuskritik" von Karl Marx: "Wir sind Kommunistinnen und Kommunisten. Das heißt, wir verfolgen die Idee einer klassenlosen Gesellschaft, in der es kein Privateigentum an den Produktionsmitteln mehr gibt. [...] Wir sind der Auffassung dass ein System, in dem nicht einige wenige entscheiden, was produziert wird, dem Kapitalismus in jeder Hinsicht überlegen ist. [...] Dem stellen wir ein Wirtschaftsmodell entgegen, in dem kollektiv gewirtschaftet wird. Durch die Abschaffung des Privateigentums und der Vergesellschaftung der Produktionsmittel können diese effizient genutzt werden." (Fehler im Original, Internetseite der KJ, "Selbstverständnis", März 2019). Ihre Ablehnung gegenüber dem parlamentarischen System formuliert die Gruppierung deutlich, von dessen Reformierung hält sie wenig: "Diese Widersprüche können nur überwunden werden, wenn der Kapitalismus überwunden wird. Dies geschieht nicht durch Wahlen, Reformen oder sonstigen bürgerlichen Nonsens, sondern kann nur auf revolutionärem Wege erreicht werden - durch die sozialistische Revolution!" (Facebook-Seite der KJ, 24.03.2019). Die gewaltsame Revolution erachtet die KJ als Voraussetzung für die Errichtung einer klassenlosen, kommunistischen Gesellschaftsform: "Um dies zu verwirklichen und auf den Umsturz dieses Systems hinzuarbeiten, treten wir nun an. [...] Es gilt eine Welt zu erobern! Und wir kämpfen, bis wir diese Welt erobert haben!" (Facebook-Seite der KJ, 24.03.2019). Die Gewaltorientierung der Gruppierung zeigt sich in der Bezugnahme auf das 1966 vom deutschen Philosophen Herbert Marcuse formulierte "Prinzip der Gegengewalt", nach welchem es legitim sei, dass unterdrückte Völker und diskriminierte Minderheiten Gewalt gegen die sie beherrschende Gewalt ausübten, um diese zu brechen: "In diesem Kampf steht uns der bürgerliche Staat als Feind gegenüber. Er ist es, der die bestehenden Ausbeutungsverhältnisse mit Gewalt durchsetzt." (Facebook-Seite der KJ, 24.03.2019). Gewaltorientierte Linksextremist:innen führen das "Prinzip der Gegengewalt" als Narrativ an, um begangene Gewalttaten zu erklären und zu legitimieren. Darüber hinaus statuiert die KJ: "Für uns als kommunistische Gruppe ist der Antifaschismus eins unserer wichtigsten Ideale. Wir treten den Faschisten da entgegen, wo wir sie treffen und werden nicht von ihnen ablassen, ehe sich nicht der letzte Nazi aus unserer Stadt verpisst hat." (Internetseite der KJ, "Selbstverständnis", März 2019). Diese unverhohlene Drohung gegenüber (vermeintlichen) Rechtsextremist:innen kann als weiterer Beleg für die Gewaltorientierung der KJ erachtet werden. Die 64 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Gruppierung formuliert für sich den Anspruch, Theorie und Praxis miteinander verbinden zu wollen. Für die KJ gehört der Marxismus nicht in Lesekreise, sondern auf die Straße. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 veröffentlichte die KJ ein Thesenpapier, in dem sie ihre "kommunistische Sichtweise auf die parlamentarische Demokratie" darlegt: "Jede Form der Partizipation im Parlament, die sich auf die Spielregeln desselben einlässt ist opportunistisch und gehört bekämpft. Der bürgerliche Staat muss zerschlagen werden, sollen die Interessen der Werktätigen zur Geltung kommen." (S. 31; "Demokratie & Proletariat. Eine kommunistische Sichtweise auf die parlamentarische Demokratie" Homepage KJ, 26.09.2021). Die Verfasser:innen schließen eine Beteiligung an der Bundestagswahl aus, da ihre "Wahl (...) nicht einer x-beliebigen bürgerlichen Partei [gilt], sondern dem Kampf für die Diktatur des Proletariats. Wir haben nur eine Wahl. Revolution!" (S. 48; "Demokratie & Proletariat. Eine kommunistische Sichtweise auf die parlamentarische Demokratie" Homepage KJ, 26.09.2021). Unter dem Motto "Gegen die Wahl der Bonzen" rief die KJ zu einer Kundgebung gegen die Bundestagswahl auf. Dem Aufruf folgten am 25. September 2021 ca. 35 Teilnehmende. "Rote Hilfe" Der 1975 gegründete Verein "Rote Hilfe e.V." (RH) unterhält bundesweit etwa 50 Ortsgruppen, eine davon in Bremen. Der Verein hat seinen Sitz in Göttingen, ebenfalls dort befindet sich auch das Archiv der RH ("Hans-Litten-Archiv e.V."). Das Sprachrohr der RH ist die quartalsweise herausgegebene Zeitung "Die Rote Hilfe". Logo "Rote Hilfe" Die RH, die sich als "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation" beschreibt, ist ausschließlich im Bereich der "Antirepressionsarbeit" tätig. Der Verein unterstützt "linke" Strafund Gewalttäter:innen sowohl in politischer als auch in finanzieller Hinsicht, z. B. gewährt er Rechtshilfe, vermittelt Anwälte und Anwältinnen oder übernimmt in Teilen Anwalts-, Prozesskosten und Geldstrafen bei entsprechenden Straftaten. Darüber hinaus betreut der Verein rechtskräftig verurteilte Straftäter:innen während ihrer Haft mit dem Ziel ihrer dauerhaften Bindung an die linksextremistische Szene. Die dabei entstehenden Kosten werden aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanziert. Das Oberverwaltungsgericht Bremen kommt in seiner Entscheidung vom 23. Januar 2018 zu dem Schluss, dass es sich bei der RH nicht um "eine Art 'linke Rechtsschutzversicherung' [handelt]. Ein solches Verständnis [...] widerspräche auch dem eigenen Selbstverständnis" (Beschluss des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen OVG: 1 B 238/17). Die Strafverfolgung von Linksextremist:innen sieht der Verein als "politische Verfolgung" an und unterstellt der Justiz und dem Staat die willkürliche Unterdrückung von Kritiker:innen und Oppositionellen. So erklärte die RH beispielsweise anlässlich der Verurteilung von drei Mitgliedern der linksextremistischen Gruppierung "militante gruppe" (mg), die 2009 mehrere Brandanschläge auf Behörden verübte und zu mehrjährigen Haftstrafen wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verurteilt wurden, ihre Solidarität und forderte: "[...] die sofortige Einstellung aller Verfahren [...] Weg mit dem Gummiparagrafen 129, 129a und 129b! Freiheit für alle politischen Gefangenen!'" (Internetseite "scharf-links", 03.12.2009). Wenngleich die RH selbst nicht gewalttätig agiert, gehört sie aufgrund ihrer gewaltunterstützenden und gewaltbefürwortenden Einstellung zur gewaltorientierten linksextremistischen Szene. Ihre Einstellung zu Gewalt wird deutlich in der Solidarisierung mit der linksextremistischen terroristischen Vereinigung "Rote Armee Fraktion" (RAF). Unter der Überschrift "danach war alles anders ..." heißt es in einem 2013 in der Zeitung "Die Rote Hilfe" 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 65 erschienenen Artikel: "die rote armee fraktion war ein wichtiges und notwendiges projekt auf dem weg zur befreiung, ein projekt, in dem unschätzbare erfahrungen über den kampf in der illegalität gesammelt wurden: die raf hat bewiesen, dass der bewaffnete kampf hier möglich ist. dieses projekt, das konzept stadtguerilla ist gescheitert, raf und widerstand sind hier nicht durchgekommen. Die gründe dafür sind bekannt und müssen für zukünftige bewaffnete projekte berücksichtigt und einbezogen werden. und ein projekt wird folgen ... muss folgen - in welcher form auch immer. nicht als kopie oder reproduktion der raf, das wäre fatal, politisch wie historisch falsch. aber als integraler bestandteil einer neu zu schaffenden sozialrevolutiönären, emazipatorischen organisation oder partei, denn 'die waffe der kritik kann allerdings die kritik der waffen nicht ersetzen. die materielle gewalt muß gestürzt werden durch materielle gewalt'" (Fehler im Original, "Die Rote Hilfe" 2/2013, S. 35 - 40). Ihre das staatliche Gewaltmonopol ablehnende Haltung kam im Rahmen der Proteste gegen den G20-Gipfel 2017 in Hamburg deutlich zum Ausdruck. In einem dazu veröffentlichten Artikel bewerten die Verfasser:innen die heftigen gewalttätigen Ausschreitungen insgesamt positiv, die sich Linksextremist:innen über mehrere Tage mit der Polizei lieferten, und kritisieren zugleich diejenigen, die sich davon distanzierten: "Zu den Auseinandersetzungen nur so viel: Einige demolierte Straßenzüge sind ein umgefallener Sack Reis im Vergleich zur unerträglichen täglichen Gewalt der G20-Staaten. Es ist sicher nicht unsere Aufgabe, uns empört in Distanzierungen zu verstricken, wo es doch eigentlich darum gehen muss, nach den Ursachen der Gewalt zu fragen und die Organisierung des Widerstands voranzubringen. Ja, es war richtig, dass die Bullen am Eindringen in das Stadtviertel gehindert werden konnten." (Internetseite "de.indymedia.org": "G20 - Event, Herausforderung, politische Arena", 07.08.2017). Mit seiner gewaltbefürwortenden Einstellung hat der Verein eine stabilisierende Funktion für die gewaltorientierte linksextremistische Szene, wenn er potenziellen linksextremistischen Gewaltund Straftäter:innen vor Begehung von Taten politische und finanzielle Unterstützung verspricht. Dabei unterstützt er nur solche Taten, die er als "politisch" bewertet. Unter dem Motto "Solidarität ist eine Waffe" bietet die RH einen Legitimationsrahmen für linksextremistische Straftäter:innen und fördert gleichzeitig durch die gemeinsame Abschottung gegenüber staatlichen Behörden den Zusammenhalt der Szene. Entschuldigungen oder Distanzierungen der Täter:innen von linksextremistischen Gewaltdelikten im Verfahren führen regelmäßig zu einem Entzug seiner Unterstützung, hier ein Beispiel: "Abgelehnt haben wir einen Unterstützungsantrag in einem Verfahren wegen Brandstiftung an Autos. Der Antragsteller hat die Vorwürfe eingeräumt, die Sache bereut und einen politischen Zusammenhang abgestritten. Das unterstützen wir nicht." ("Die Rote Hilfe" 3/2011, S. 7). Die RH verweigert nicht nur dann die Kostenübernahme, wenn sich Tatverdächtige von ihrer Tat distanzieren oder zu ihrem Vorteil aussagen, sondern bei jeglicher Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden. Sie entzieht ihre Unterstützung selbst in solchen Fällen, in denen die Kooperation mit den Sicherheitsbehörden eindeutig darauf zielt, den "politischen Gegner:innen" zu schaden, wie ein Fall aus Bremen belegt: "Es liegt eine Mail der OG [Ortsgruppe] Bremen zu einem Fall vor, bei dem die betroffene Person nach einer Auseinandersetzung mit einem AfDler eine Gegenanzeige gestellt hat. Dadurch sind Aussagen seitens des Betroffenen notwendig, was eine Unterstützung in der Regel unmöglich macht. Der Buvo [Bundesvorstand] teilt die Einschätzung der OG Bremen." (Mitgliederrundbrief "Die Rote Hilfe" 3/2011, S. 7). Im Jahr 2021 rief die RH eine bundesweite Kampagne gegen die vermeintliche Kriminalisierung von "Antifaschismus" ins Leben. Der Vorwurf lautet, der Staat würde auf das Erstarken faschistischer Strukturen mit "Kriminalisierung und Verfolgung" antifaschistischer Aktionen reagieren: "Anstatt konsequent gegen Nazis und Rechte vorzuFlyer zur Kampagne 66 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 gehen, diffamiert und bekämpft man die, die für eine solidarische Gesellschaft eintreten, in der alle Menschen ohne Angst gemeinsam unterschiedlich sein können." (Internetseite der Kampagne "Wir sind alle Antifa - Wir sind alle LinX!", abgerufen 02.12.2021). Im Rahmen der Kampagne wurden u. a. zwei gewaltorientierte Linksextremist:innen unterstützt, die im Mai 2021 am Rande einer Demonstration sog. "Querdenker" in Stuttgart Mitglieder einer "rechten" Gewerkschaft angegriffen und drei Männer verletzt hatten, einen von ihnen lebensgefährlich. Am 13. Oktober 2021 wurden die Beschuldigten jeweils zu Haftstrafen von mehreren Jahren verurteilt. Auch die inhaftierte Leipziger Anarchistin Lina E. fand Unterstützung im Rahmen der Kampagne der RH. Exkurs: Prozess gegen Lina E. Die Linksextremistin Lina E. wurde im November 2020 verhaftet. Ihr wird vorgeworfen, eine linksextremistische Vereinigung geleitet zu haben, welche gezielt Rechtsextremist:innen angegriffen und teilweise schwer verletzt haben soll. Das Gerichtsverfahren vor dem Oberlandesgericht Dresden hat am 8. September 2021 begonnen. Seit ihrer Verhaftung solidarisiert sich die linksextremistische Szene im gesamten Bundesgebiet mit Lina E. und ihren Mitangeklagten und fordert ihre Freilassung und die Abschaffung des "Gummiparagraphen SS129a StGB" - Bildung terroristischer Vereinigungen. Höhepunkt der Kampagne war die von der RH organisierte und gewaltsam verlaufende Demonstration unter dem Motto "Wir sind alle Antifaschisten - Wir sind alle LinX" am 18. September 2021 in Leipzig. Die Demonstration endete mit gewalttätigen Ausschreitungen und brennenden Barrikaden. Die Polizei setzte Wasserwerfer ein und wurde dabei wiederum von gewalttätigen Linksextremist:innen mit Steinen beworfen. Der Vorwurf gegenüber den staatlichen Behörden, es ginge in dem Prozess "um eine medial inszenierte Abrechnung mit engagierter linker Politik" (Homepage "Rote Hilfe", 04.09.2021) unterschlägt bewusst die gewalttätigen Handlungen der Täter:innen, die schwerste Verletzungen der Opfer in Kauf nahmen. Diese durch die Protagonist:innen der linksextremistischen Szene propagierte Form der "Selbstjustiz", die als "antifaschistische Arbeit" verharmlost wird, verstößt u. a. gegen Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, da sie die Bestrafung vermeintlicher Rechtsextremist:innen losgelöst von staatlich kontrollierter Rechtsstaatlichkeit und Gerichtsbarkeit durch die Ausübung von Gewalt durchzusetzen versucht. 6.3 Aktivitäten gewaltorientierter Linksextremist:innen Auch im Jahr 2021 standen neben den für Linksextremist:innen zentralen Aktionsund Themenfeld "Antifaschismus" und "Antirepression" die Themen "Gentrifizierung", "Antimilitarismus" und "Klimaschutz" im Fokus der Agitation. Die unterschiedliche Schwerpunktsetzung macht den fortwährenden Anspruch der linksextremistischen Szene deutlich, ihre Weltanschauung zu aktuellen politischen Themen zu propagieren. Hohe Gewaltbereitschaft von Linksextremist:innen Wenngleich Brandanschläge als Form linksextremistischer "Militanz" seit jeher gängige Delikte sind, kann die Anzahl und die Art der Ausübung der Branddelikte als Indiz für eine gesteigerte Gewaltbereitschaft der linksextremistischen Szene gewertet werden. Es ist in der Regel ein weitaus höheres Maß an Gewaltbereitschaft und krimineller Energie erforderlich, um einen Brandsatz zu zünden, als Gegenstände auf eine andere Weise zu beschädigen. Das Risiko, Leib und Leben von Personen zu gefährden, und 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 67 der entstehende Sachschaden sind bei einer Brandstiftung in der Regel ungleich höher als bei Sachbeschädigungsdelikten. Dies findet auch im deutlich höheren Strafrahmen der entsprechenden Delikte seinen Ausdruck. Im Vergleich zum Vorjahr, in dem mit insgesamt 51 Sachbeschädigungen und Brandanschlägen ein Höhepunkt "militanter Aktionen" in Bremen zu verzeichnen war, ging die Anzahl der Taten im Jahr 2021 mit insgesamt 27 "militanten Aktionen" deutlich zurück. Gleichwohl zeigt sich insbesondere in einer in der Silvesternacht 2021/2022 begangenen Brandanstiftung eine neue Qualität, die nicht nur zu einem Sachschaden im hohen sechsstelligen Bereich geführt hat: Mit dem Brandanschlag auf das Firmengebäude des Luftund Raumfahrtunternehmens OHB wurde dabei die Gefährdung von Menschenleben in Kauf genommen, insbesondere eines im Gebäude befindlichen Wachmannes. Im Vergleich zu vorherigen, ähnlich gelagerten Brandanschlägen in den letzten Jahren kam es nach dem Brand bei OHB innerhalb der gewaltorientierten linksextremistischen Szene zu keiner kritischen Auseinandersetzung bzgl. einer möglichen Gefährdung von Menschenleben bei Brandanschlägen. Die Vermittelbarkeit ihrer Taten hat für einen großen Teil der gewaltorientierten linksextremistischen Szene oberste Priorität. Von dieser vormaligen szeneinternen Übereinkunft, dass erstens Unbeteiligte bei Brandanschlägen nicht zu Schaden kommen und zweitens, dass größere Teile der Gesellschaft den Anlass, den Kritikhintergrund und das Ziel einer Tat nachvollziehen können sollen, scheint sich die gewaltorientierte linksextremistische Szene Bremens abgewendet zu haben. Im Gegenteil zeigten die Reaktionen auf die Tat eine unkritische, bisweilen sogar stark verharmlosende Art der Thematisierung des Anschlags. So kommentierte die gewaltorientierte linksextremistische "Basisgruppe Antifaschismus" (BA) auf ihrem Twitter-Kanal einen Tag nach dem Anschlag einen diesbezüglichen Medienbericht mit dem Wort "upsi". Auf die Frage eines Users, ob man das witzig fände, antworteten die Betreiber des Twitter-Kanals der BA: "Schon, ja" (Twitter-Kanal "Basisgruppe Antifa", 01.01.2022). Diese öffentliche Verlautbarung zeigt eindrucksvoll, dass die BA derartige Brandanschläge gutheißt und den Täter:innen ihre Sympathie bekundet. Damit schafft sie ein Klima, in dem die Begehung von Brandanschlägen toleriert und ermöglicht wird. Die Inkaufnahme der konkreten Gefährdung von Menschenleben und die gleichzeitige Befürwortung und Verharmlosung von massiver Zerstörung zugunsten der eigenen politischen Ziele weisen auf eine Radikalisierung von Teilen der gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens hin. Linksextremistische Agitation in der Corona-Pandemie Die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie erschwerten der linksextremistischen Szene im Jahr 2021 die Durchführung von Demonstrationen und Veranstaltungen, ihren "Kampf gegen den Kapitalismus" führte sie jedoch unverändert fort. Neben der Kritik an dessen Anfälligkeit für Krisen wird ihm direkt oder indirekt die Schuld am Ausbruch der Corona-Pandemie gegeben. In einer Erklärung des kommunistischen "... ums Ganze!"-Bündnisses heißt es: "Die Irrationalität des Kapitalismus wird in der Krise umso deutlicher: [...], zeigt der Kapitalismus, dass er für seine Erhaltung über Leichen geht." (Twitter-Kanal des "... ums Ganze!"-Bündnisses, 29.03.2020). "Antikapitalismus" "Antikapitalismus" ist die Basis der linksextremistischen Ideologie. Strukturen und Eigentumsverhältnisse des "Kapitalismus" sind demnach nicht nur Grundlagen für Armut, Hunger und soziale Ungerechtigkeit, sondern darüber hinaus ursächlich für "Faschismus", "Repression", Migrationsströme, ökologische Katastrophen, "Imperialismus" und Krieg. 68 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Proteste gegen sog. "Querdenker" Die gewaltorientierte linksextremistische Szene Bremens organisiert seit Beginn der Demonstrationen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der CoronaPandemie im Mai 2020 einen Teil der Gegenproteste. Den Teilnehmenden solcher Demonstrationen unterstellt die linksextremistische Szene generell eine "rechte" und antisemitische Weltanschauung und hält die Demonstrationen für rechtsextremistisch unterwandert. Zum Teil gab es in Bremen in diesem Zusammenhang Auseinandersetzungen zwischen beiden Lagern, wie zum Beispiel am 17. Dezember 2021: Bereits während einer Kundgebung gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie kam es zwischen Kundgebungsteilnehmenden und den Gegendemonstrant:innen zu gegenseitigen verbalen Provokationen und einer körperlichen Auseinandersetzung. Durch die starke Präsenz der Polizei konnten weitere Zusammenstöße verhindert werden. Nach der Kundgebung hinderten bis zu 90 Personen, darunter gewaltorientierte Linksextremist:innen, eine kleine Personengruppe, die zuvor aufseiten der sog. "Querdenker" demonstriert hatten, am Verlassen eines Lokals im Bremer Steintorviertel. Erst nach mehreren Stunden konnten die vermeintlichen Rechtsextremist:innen das Lokal unter Polizeischutz verlassen. 6.3.1 Proteste gegen Rechtsextremist:innen und Rechtspopulist:innen Im Mittelpunkt der "Antifaschismusarbeit" stehen Proteste gegen Strukturen und Veranstaltungen von (vermeintlichen) Rechtsextremist:innen. Im Rahmen von Demonstrationen und Veranstaltungen kommt es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen gewaltorientierten Linksextremist:innen und gewaltorientierten Rechtsextremist:innen. In den vergangenen Jahren verübten gewaltorientierte Linksextremist:innen immer wieder gewaltsame Übergriffe auf (vermeintliche) Rechtsextremist:innen in Bremen. Aufkleber der linksextremistischen Szene Im Jahr 2019 überfiel eine Gruppe von rund 30 mutmaßlich aus dem linksextremistischen Spektrum stammenden Personen sechs Mitglieder der im selben Jahr verbotenen rechtsextremistischen Gruppierung "Phalanx 18". Mit gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Linksextremist:innen und Rechtsextremist:innen ist in Bremen regelmäßig insbesondere im Zuge von Fußballspielen zu rechnen, wo sich eine rechtsextremistisch beeinflusste Hooligan-Szene und "linke" Fußballfans der Ultra-Szene sowie gewaltorientierte Linksextremist:innen gegenüberstehen. "Antifaschismus" Im Bereich der "Antifaschismusarbeit" ist neben linksextremistischen Organisationen und Gruppen auch eine Vielzahl unterschiedlicher demokratischer Akteur:innen tätig. Mit dem Ziel der Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung geht das Antifaschismusverständnis von Linksextremist:innen jedoch weit über das von Demokrat:innen hinaus. Für Linksextremist:innen stellt die Bekämpfung von rechtsextremistischen Strukturen und Personen nur ein vordergründiges Ziel dar. Ihre tatsächliche Stoßrichtung ist das "bürgerliche und kapitalistische System" und die angeblich ihm zugrunde liegenden faschistischen Wurzeln. Zur Vergrößerung ihres politischen Einflusses und zur Gewinnung neuer Anhänger:innen ist das Bemühen um Bündnisse mit nichtextremistischen Gruppen ein entscheidendes Instrument autonomer "Antifaschismusarbeit". 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 69 Kampagne "Nationalismus ist keine Alternative" (NIKA) Die 2016 ausgerufene Kampagne "Nationalismus ist keine Alternative" (NIKA) richtete sich anfangs vornehmlich gegen die Partei "Alternative für Deutschland" (AfD). Viele Linksextremist:innen halten die Partei für einen Wegbereiter in einen neuen Faschismus, weshalb sie die AfD bekämpfen. Inzwischen ist die Kampagne auf die Bekämpfung von "rechten" Akteur:innen und Strukturen generell ausgeweitet worden. Das über die Bekämpfung von Rechtsextremismus hinausgehende Ziel der beteiligten Gruppierungen, allen voran des kommunistischen "... ums Ganze!"-Bündnisses, liegt in der Diskreditierung und der revolutionären Überwindung des demokratischen Rechtsstaates. Die NIKA-Kampagne ist eine sog. "Mitmachkampagne", die den ideologischen Hintergrund, das "Corporate Design" oder das "Label" vorgibt und auf die bundesweite Beteiligung von Gruppierungen mit eigenen Aktionen setzt. Flyer zur Kampagne In Bremen wird die Kampagne maßgeblich von der im "... ums Ganze!"-Bündnis organisierten linksextremistischen Gruppierungen BA getragen. Unter dem Namen "NIKA Nord-West" arbeitet die Bremer Gruppierung seit 2019 mit linksextremistischen Gruppen aus Niedersachsen und Hamburg zusammen. Die extremistische Ausrichtung des Zusammenschlusses kommt in seiner Gründungserklärung zum Ausdruck. So impliziert das Engagement "gegen rechts" die Überwindung des demokratischen Rechtsstaates: "Unter dem Motto 'Gegen die Festung Europas und ihre Fans' kämpfen wir sowohl gegen die menschenfeindliche kapitalistische Ordnung, als auch gegen ihre scheinbaren rechten Alternativen. Wir wollen linke Forderungen und gesellschaftliche Alternativen jenseits der kapitalistischen Sachzwanglogik sichtbar machen." (Internetseite der NIKA-Kampagne, 14.03.2019). Unter dem Banner der NIKA-Kampagne protestierten Angehörende der gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens in den vergangenen Jahren regelmäßig gegen Veranstaltungen von (vermeintlichen) Rechtsextremist:innen und Parteien. Im Rahmen der Bundestagswahl 2021 riefen Aktivist:innen unter der Parole "It ain't safegegen den autoritären Staat, seine Sicherheitsbehörden und die anderen Faschist:innen" zu Protest-Aktionen sowie zur Sabotage des Wahlkampfes auf (Internetseite NIKA, 08.08.2021). Im Rahmen der NIKA-Kampagne veranstalteten gewaltorientierte Linksextremist:innen sog. "Outing-Aktionen" in Form von Hausbesuchen bei vermeintlichen Angehörenden der sog. "Querdenker"-Bewegung, die für die Szeneangehörenden als rechtsextremistisch und antisemitisch gelten. Die Aktivist:innen sprühten dabei auf den Gehweg vor der Wohnung der Betroffenen die Namen, gefolgt von den Worten "... halt's Maul". Zudem trugen sie ein Banner mit der Aufschrift "Kein Bock auf Querdenken" mit sich und machten per Megaphon und Rauchtopf auf sich aufmerksam. Die Besuche sollten "Querdenker*innen aus der Deckung holen, bis sie nicht mehr ihre rechte und antisemitische Propaganda verbreiten!" (Twitter-Seite NIKA Kampagne, 21.04.2021). Im Nachgang einer derartigen "Outing-Aktion" wurden auf Antrag der Staatsanwaltschaft mehrere richterliche Durchsuchungsbeschlüsse erlassen und die entsprechenden Wohnungen der betroffenen Linksextremist:innen durchsucht. Als Reaktion auf die als unverhältnismäßig empfundene staatliche Maßnahme riefen Angehörende der gewaltorientierten linksextremistischen Szene zu einer "Antirepressionsdemonstration" am 6. November 2021 auf, an der sich über 250 Personen beteiligten. 70 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Linksextremistische "Recherchearbeit" Die "Aufklärungsoder Recherchearbeit" gehört zu den zentralen Aktivitäten der autonomen Szene in der Auseinandersetzung mit der rechtsextremistischen Szene. In diesem Zusammenhang werden Beobachtungen und Informationen über Einzelpersonen, Gruppierungen und Strukturen der "rechten" Szene wie etwa Szeneläden gesammelt. Die Informationen zu Einzelpersonen werden meist in Steckbriefen zusammengefasst und im Rahmen sog. "Outing-Aktionen" in der Nachbarschaft der Betroffenen und im Internet veröffentlicht. In den Steckbriefen werden neben persönlichen Daten, wie z. B. Anschrift, Geburtsdatum oder Beruf, auch weitere Einzelheiten aus dem Privatleben der Betroffenen bekanntgemacht. Ziel dieser Aktionen ist es, vermeintliche Rechtsextremist:innen aus der Anonymität zu holen und ihre politischen Aktivitäten öffentlich zu machen, wobei dies eine Gefahr für die Betroffenen darstellt und insbesondere ihre Persönlichkeitsrechte verletzt. 6.3.2 Proteste gegen "staatliche Repression" "Antirepression" stellt seit jeher einen Aktionsschwerpunkt der gewaltorientierten linksextremistischen Szene dar. Ihre individuelle, soziale oder politische Entfaltung sehen gewaltorientierte Linksextremist:innen durch den Staat und seine "Machtund Repressionsstrukturen" unterbunden, vor allem durch Sicherheitsgesetze, polizeiliche Sicherheitsmaßnahmen oder technische Entwicklungen und digitale Vernetzung. Unter Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols bekämpfen sie die "staatliche Repression". Die Polizei als Handlanger des "kapitalistischen Systems" stellt ein Angriffsziel für gewaltorientierte Linksextremist:innen dar. Ihrem Weltbild entsprechend sei die Polizei für die unverhältnismäßige Niederschlagung von legitimem Protest durch massive Gewalt verantwortlich, was "militanten Widerstand" notwendig mache. Polizist:innen werden nicht als Menschen betrachtet, sondern als personifizierte Hassobjekte. Vor diesem Hintergrund gelten Angriffe auf sie als legitim. Die Hemmschwelle, Aufkleber der linksextremistischen Szene Polizist:innen zu verletzen, ist in den letzten Jahren deutlich gesunken. Das Thema Polizeigewalt und Rassismus beschäftigte die gewaltorientierte linksextremistische Szene Bremens auch im Jahr 2021, nachdem das Thema bereits im Vorjahr im Fokus stand. Weltweit hatte es im Jahr 2020 Proteste nach dem gewaltsamen Tod eines Afroamerikaners während eines Polizeieinsatzes in den USA gegeben. In Bremen war ein psychisch kranker Mann, gebürtiger Marokkaner, im Rahmen eines Polizeieinsatzes im selben Jahr ums Leben gekommen, als dieser mit einem Messer bewaffnet auf einen Polizisten zurannte. Vor diesem Hintergrund hatte es in Bremen im Jahr 2020 diverse Demonstrationen und Kundgebungen gegen Polizeigewalt und Rassismus gegeben. Anlass für weitere Proteste in diesem Zusammenhang im Jahr 2021 war der Tod eines gebürtigen Irakers Anfang März 2021. Der junge Mann verstarb im Krankenhaus in Oldenburg, nachdem er im Polizeigewahrsam aus bislang ungeklärter Ursache in Delmenhorst kollabiert war. Unter dem Motto "Gerechtigkeit für Qosay! Gegen rassistische Polizeigewalt" fand am 5. Juni 2021 eine Demonstration mit bis zu 500 Teilnehmenden in Delmenhorst statt. Zur Demonstration hatte u. a. die BA im Rahmen der NIKA-Kampagne aufgerufen. "Militante Aktionen" Angehörende der gewaltorientierten linksextremistischen Szene Bremens verübten auch im Jahr 2021 eine hohe Zahl an "militanten Aktionen" im Aktionsfeld "Antirepression". Neben der Polizei waren im Jahr 2021 auch weitere Behörden und Unternehmen, die mit dem von der linksextremistischen Szene so bezeichneten "staatlichen Repressionsapparat" zusammenarbeiten, von "militanten Aktionen" betroffen. 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 71 Die Polizei war gleich mehrfach Ziel "militanter Aktionen". Am 1. Mai 2021 setzten unbekannte Täter:innen ein ziviles Fahrzeug der Polizei in Brand und begründeten ihre Tat vor dem Hintergrund der Durchsetzung der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie, konkret der bundesweit geltenden nächtlichen Ausgangssperre im April 2021: "Die Ausgangssperre wird mit einem massiven Aufgebot von Bullen und Objektschutz durchgesetzt, was keine andere Assoziation als die eines Polizeistaats zulässt. [...] Die Ausgangssperre ist folgerichtig im Ausbau eines autoritären nach vermeintlicher Sicherheit lechzenden Kontrollstaats. [...] Eine brennende Zivikarre in der Innenstadt ist für uns ein Zeichen dafür, dass wir leben und widerständig sind. Wir nehmen die Machtund Drohgebärden seitens der Schweine und ihrer Vorgesetzten nicht hin, die immer weiter mit Kompetenzen ausgestattet werden. Eine Karre weniger, die die scheiß Bullen unterm Arsch haben, um rumzuschnüffeln, zu denunzieren, zu bedrohen, zu observieren...". Die Abneigung gegenüber der Polizei wird zudem besonders am Ende des Selbstbezichtigungsschreibens (SBS) deutlich: "Seht diese Direkte Aktion auch als Rache. Für die von Bullen schwer verletzten Freund*innen in Frankfurt, Hamburg und Berlin! Wir stehen an eurer Seite! All Cops Are Targets Operation Qosay K." (Internetseite "endofroad.blackblogs.org", 04.05.2021). Die Parole "All Cops Are Targets" (A.C.A.T.), die alle Polizist:innen - wörtlich übersetzt - zum Zielobjekt erklärt und mit der das Schreiben endet, kann als allgemeiner Aufruf zum Angriff auf Polizist:innen verstanden werden. Die Unterschrift "Operation Qosay K." soll dem Leser glaubhaft machen, dass die Tat in dessen Namen verübt wurde. Bei Qosay K. handelt es sich um einen jungen Iraker, welcher Anfang März 2021 im Krankenhaus in Oldenburg verstorben ist, nachdem er im Polizeigewahrsam in Delmenhorst kollabiert war. Auch die Brandstiftung auf Fahrzeuge der Bremer Bereitschaftspolizei in BremenHuckelriede am 6. Juni 2021 steht im Zusammenhang mit dem Tod des jungen Irakers. Bei dem Brandanschlag brannten vier Fahrzeuge vollständig aus, vier weitere Fahrzeuge wurden durch die Hitzeentwicklung beschädigt. Das einen Tag später veröffentlichte SBS trägt den unmissverständlichen Titel "Wenn Bullen morden muss alles brennen". Die Verfasser:innen machen deutlich, dass sie die Tat aus Rache an dem vermeintlichen "Polizeimord an Qosay K." verübt haben: "Unser Gefühl schreit nach Rache. Rache für Qosay Sadam Khalaf. Aber welche Vergeltung ist angemessen für einen Mord an einem jungen Menschen? Wie viele Bullenfahrzeuge und Wachen Brandanschlag Bereitschaftspolizei müssen brennen?". Das SBS macht die menschenfeindliche Einstellung der VerfasHuckelriede ser:innen gegenüber Polizist:innen deutlich: "Die Bullen ernten unseren Hass, weil sie die Verhältnisse aufrecht erhalten. [...] Die Bullen ernten unseren Hass, weil sie die Verhältnisse verkörpern. Sie tragen die Uniform freiwillig. Sie entwickeln Freude an Machtmissbrauch und Erniedrigung. Sie finden in der legalen Gewaltorgie ihre Verwirklichung. Sie befehlen. Sie gehorchen. Sie morden. [...] Die Stille nach den Morden an Qosay K. Und Mohamed Idrissi dröhnt im Nachklang umso deutlicher. [...] Die Wut gegen die Bullen wächst mit jeder Kontrolle, jeder Schikane, jedem Schlag und jedem Mord.!" (Fehler im Original, Internetseite "endofroad.blackblogs.org", 07.06.2021). Eine Sachbeschädigung wurde am Polizeirevier in der Bremer Neustadt am 9. November 2021 verübt, dabei wurden zwei Fensterscheiben beschädigt und der Schriftzug "ACAB" auf der Hauswand aufgebracht. Im dazugehörigen SBS wird die Tat mit dem Verbot einer geplanten Großdemonstration in Leipzig am 23. Dezember 2021 sowie den kurz zuvor in Bremen stattgefundenen Hausdurchsuchungen begründet: "Ihr könnt linke Demos wie in Leipzig verbieten, ihr könnt in unsere Wohnung reinrockern und uns gewalttätig aus dem Schlaf holen. Aber ihr könnt nicht unsere Verachtung für dieses System und seine Prügelschergen verbieten. Ihr könnt uns mit eurer Gewalt bei uns zu Hause nicht brechen. Ewiger Hass der Polizei!" (Fehler im Original, Internetseite "de.indymedia.org", 09.11.2021). 72 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 In einem am 31. Dezember 2020 auf der Internetplattform "de.indymedia.org" veröffentlichten Beitrag unter der Überschrift "Bundesweiter Aufruf: Subversiv & unkontrollierbar - Für ein offensives Jahr 2021!" riefen unbekannte Verfasser:innen zu "Angriffen auf den Staat, seine Repressionsorgane und Institutionen der Justiz" auf. Weiterhin sagen sie "Knastprofiteur*innen, Ausländerbehörden und privaten Sicherheitsdiensten den Kampf an. Wir wollen die ständigen Angriffe auf uns und unsere Ideen von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität nicht unbeantwortet lassen. Wir wollen die herrschende Ordnung zerstören!" (Internetseite "de.indymedia.org", 31.12.2020). Diesem Aufruf folgend wurde am 4. Januar 2021 ein Brandanschlag auf die "Agentur für Arbeit Bremen-Bremerhaven" verübt. Im entsprechenden Bekennerschreiben beziehen sich die Verfasser:innen auf den genannten Beitrag: "In dem Aufruf "Subversiv und unkontrollierbar" geht es vor allem um den Angriff auf Repressionsorgane wie Bullen und Justiz. Wir verstehen jedoch auch das Jobcenter als wichtiges Standbein deutscher Repressionsbehörden." (Internetseite, "de.indymedia.org", 04.01.2021). Auch im SBS zu einer Sachbeschädigung am Gebäude von Zoll und Bundeswehr am 28. Februar 2021 zitierten die Verfasser:innen aus dem Aufruf und begründeten die Auswahl ihres Ziels folgendermaßen: "Die Knechte vom Zoll sichern bewaffnet die wirtschaftlichen Interessen des Staates. [...] Die sich ausbreitende Repression gegen militante und autonome Strukturen werden wir weiterhin beantworten. Viele Mittel haben wir nicht. Was wir haben schleudern wir diesem Staat und seinen Behörden mit Wucht entgegen." (Internetseite "de.indymedia.org", 01.03.2021). Ein Brandanschlag auf drei Fahrzeuge des Gebäudemanagementunternehmens Dussmann Service am 1. April 2021 richtete sich gegen die Existenz von Gefängnissen und Unternehmen, "die durch ihre Zuarbeit die staatliche Herrschaft am Leben halten". Unbekannte Verfasser:innen konstatierten: "Knäste lösen keine Probleme, sondern sind fester Bestandteil dieser kapitalistischen, rassistischen und sozial-chauvinistischen Gesellschaftslogik." Das Schreiben endet mit den Grüßen "Viel Kraft für die Rigaer94 in Berlin!" und der Forderung "Freiheit für Lina und Freiheit für alle Gefangenen!" (Internetseite "de.indymedia.org", 01.04.2021). Exkurs: "Rigarer94" Die "Rigaer94" steht szeneintern für die Rigaer Straße 94 in Berlin-Friedrichshain. Dabei handelt es sich um ein seit 1990 besetztes Gebäude, welches für die gewaltorientierte linksextremistische Szene ein Symbol im Kampf um die Schaffung und Erhaltung von "autonomen Freiräumen" ist. Gegen eine angekündigte Brandschutzbegehung des Gebäudekomplexes wehrten sich die Bewohner:innen mit der Errichtung von Barrikaden um das Gebäude im Juli 2021. Als sich die Polizei schließlich gewaltsam Zugang zum Gebäude verschaffte, kam es zu schweren Auseinandersetzungen. Einen weiteren Brandanschlag in diesem Zusammenhang verübten unbekannte Täter:innen auf ein Fahrzeug des Multitechnik-Dienstleisters SPIE am 21. September 2021. In ihrem nach der Tat veröffentlichtem SBS mit dem Titel "Erneut Karre von Knastprofiteuren in Bremen abgefackelt" begründen die unbekannten Verfasser:innen, ihre Tat sei "[i]nspiriert von den Gefährt*innen die bereits Anfang des Jahres die Dussmann Service GmbH um drei Fahrzeuge erleichtert haben". SPIE habe sich sowohl als Teil der französischen Atomindustrie als auch durch die Zusammenarbeit mit RWE beim Braunkohleabbau im Hambacher Forst zu einem berechtigten Ziel gemacht. Für die Verfasser:innen sei SPIE aber vor allem ein "Knastprofiteur" und bilde mit seinen Angeboten "die technologische Grundlage, die Knast und Überwachungsstaat erst möglich machen" und sei so "selbst teil der Ordnung, die Knast und andere Organe zur Disziplinierung benötigt, um seine Existenz zu sichern." (Fehler im Original, Internetseite "de.indymedia.org", 23.09.2021). 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 73 6.3.3 "Militante Aktionen" im Begründungszusammenhang "Antimilitarismus" In dem Aktionsund Themenfeld "Antimilitarismus" stehen im Fokus der Kritik zum einen die deutsche Sicherheitspolitik und zum anderen der Einsatz und die Existenz der Bundeswehr. Linksextremist:innen erachten die Bundeswehr als ein "Werkzeug der imperialistischen Unterdrückungspolitik" und betrachten sie und Unternehmen, die mit ihr zusammenarbeiten, als legitimes Ziel "militanter Aktionen". So wurde ein Fahrzeug der Bundeswehr am 7. Dezember 2021 in Brand gesetzt und erlitt Totalschaden, weitere Fahrzeuge wurden beschädigt. In dem dazu veröffentlichten SBS mit dem Titel "Gegen die Grenzen Europas! Bundeswehr Fahrzeuge sind (immer noch) zum Brennen da!" beziehen sich die unbekannten Verfasser:innen auf einen versuchten Brandanschlag zum Nachteil des Luftund Raumfahrtunternehmens OHB am 25. November 2021 in Bremen: "Angespornt durch den Angriff auf den Rüstungskonzern OHB im November in Bremen haben wir uns vorgenommen, den Krieg hier zu bekämpfen." (Internetseite "de.indymedia.org", 08.12.2021). Am 25. November 2021 blieb es allein deshalb bei einem versuchten Brandanschlag, weil die gelegten Brandsätze nicht zündeten. Am Tattag war zu der versuchten Tat ein SBS veröffentlicht worden, in dem die Autor:innen sich dazu bekennen, in der vergangenen Nacht OHB angegriffen und mehrere Autos angezündet zu haben. Im dem SBS heißt es: "Das Unternehmen OHB SE ist einer der größten Akteure im Bereich der Luftund Raumfahrt mit seinem Hauptsitz in Bremen, verdient sein Geld aber an den Toten, mit denen die Bundeswehr und Frontex ihren Weg pflastern." OHB sei "Zulieferer des deutschen Militärs" und würde sich "aktiv an der deutschen Kriegsund Überwachungsmaschinerie" beteiligen: "OHB gibt diesem deutschen Militär dabei nicht nur die Instrumente, die es zum Morden braucht, in die Hände, sondern beteiligt sich selbst auch aktiv daran." Die Verfasser:innen erklären weiter: "Wir haben uns für OHB als Ziel entschieden, da wir die Notwendigkeit sehen, gerade Akteur*innen, die sich in zivilem Gewand geben, während sie gleichzeitig (mit-)verantwortlich für den Tod Tausender sind, in aller Öffentlichkeit sowohl zu markieren, als auch um ihnen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen. Gleichzeitig wollen wir der Unternehmungsleitung sowie den Arbeiter*innen bei OHB sehr deutlich signalisieren, dass wir um die Verknüpfungen zur Bundeswehr und zu Frontex wissen und wollen ihnen aufzeigen, welchen Preis sie dafür zahlen müssen." Das SBS endet mit einem Aufruf: "Hiermit wollen wir auch ganz explizit andere dazu aufrufen, es uns gleich zu tun! Organisiert euch, bereitet euch vor und greift Unternehmen wie OHB, aber auch Rheinmetall und KMW oder die Bundeswehr selbst an! Bekämpft Feuer mit Feuer! Kein Frieden dem Krieg, kein Frieden mit Deutschland!" (Internetseite "de.indymedia.org", 25.11.2021). Einen erheblichen Sachschaden und große mediale Aufmerksamkeit erregte der im Rahmen des Aktionsfeldes "Antimilitarismus" durchgeführte Brandanschlag auf das Luftund Raumfahrtunternehmen OHB in der Silvesternacht 2021/2022: Unbekannten Täter:innen gelang es, das Verwaltungsgebäude des Unternehmens in Brand zu setzen. Das Feuer wurde frühzeitig durch einen Wachmann, der sich zum Tatzeitpunkt im selben Gebäudetrakt aufhielt, entdeckt. Der Sachschaden wird im sechsstelligen Bereich beziffert. Der Brandanschlag in der Silvesternacht bestätigt die seit Jahren zu beobachtende zunehmende Radikalisierung eines Teils der gewaltorientierten linksextremistischen Szene und deren steigende Gewaltbereitschaft: Richtete sich die Mehrzahl der vorangegangenen Brandanschläge zumeist gegen Fahrzeuge, wurde durch den Brandanschlag auf das Firmengebäude erstmals die Gefährdung von Menschenleben billigend in Kauf genommen, ohne kritische Betrachtung und Äußerungen des Bedauerns im Nachhinein. Brandanschlag OHB 74 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 6.3.4 Kampf um bezahlbaren Wohnraum Die Schaffung und Erhaltung von "autonomen Freiräumen", wozu in erster Linie besetzte Häuser oder selbstverwaltete Projekte zählen, ist seit jeher von großer Bedeutung für die linksextremistische Szene. "Autonome Freiräume" und Szeneobjekte gelten in der Szene als Widerstandsstrukturen gegen die Überwachung des "kapitalistischen Herrschaftssystems". Angesichts steigender Mieten und Kaufpreise in Städten und Ballungsräumen hat sich die gesellschaftspolitische Diskussion um bezahlbaren Wohnraum seit mehreren Jahren verschärft. Unter dem Stichwort "Gentrifizierung" wird ein Verdrängungseffekt infolge städtebaulicher Umstrukturierungsmaßnahmen kritisiert, d. h., weniger wohlhabende Bewohner:innen werden durch vermögendere Schichten aufgrund steigender Mieten beispielsweise infolge von Sanierungsmaßnahmen aus bestimmten Stadtteilen verdrängt. Vor diesem Hintergrund bemüht sich die gewaltorientierte linksextremistische Szene bundesweit zunehmend darum, mit ihren Protestaktionen breite Teile der Gesellschaft anzusprechen. Daneben verüben Angehörende der gewaltorientierten linksextremistischen Szene in diesem Zusammenhang Brandanschläge auf Fahrzeuge von Immobilienund Bauunternehmen oder begehen Sachbeschädigungen an sog. Luxusimmobilien sowie an Büros von Immobilienund Bauunternehmen. Hausbesetzungen und ihre Räumungen Das Thema der Erhaltung und Schaffung von "autonomen Freiräumen" war in den vergangenen Jahren wiederholt ein Schwerpunkt der gewaltorientierten linksextremistischen Szene in Bremen, wobei die Hausbesetzungen meist nicht von langer Dauer waren. Eine Ausnahme bildet hier das "Alte Sportamt", das als Veranstaltungsort der "linken" Szene sowohl von Nichtextremist:innen als auch von gewaltorientierten Linksextremist:innen genutzt wird, und in den Jahren 2015 bis 2017 als besetzt galt. Im Oktober 2020 war das ehemalige Möbelhaus "Deters" ("Dete") in der Bremer Neustadt für mehrere Tage von der linksextremistischen Gruppierung "Rosarote Zora" besetzt worden. Für wenige Stunden besetzte die linksextremistische Gruppierung am 15. Juli 2021 die "Dete" erneut, nachdem der Verein, der die Räumlichkeiten nach dem Ende der Besetzung durch die "Rosarote Zora" am 14. Oktober 2020 übernommen hatte, der vom Eigentümer gesetzten Frist zur Räumung des Hauses nachgekommen war. Die "Rosarote Zora" bezeichnet sich selbst als "FLINTA*-Gruppe", was als Abkürzung für Frauen, Lesben, Intersexuelle, Non-Binäre, Trans und A-Gender steht und Möbelhaus "Deters" ("Dete") beschreibt sich als anarchistisch. Ihre Ablehnung des demokratischen Rechtsstaates und vor allem des staatlichen Gewaltmonopols verdeutlichte die Gruppierung in einer am 16. Oktober 2020 veröffentlichten Erklärung: "Wir lehnen den Staat ab, was nicht nur bedeutet, dass wir die Bullenschweine hassen, die uns unsere Häuser und Räume nehmen. Wir lehnen auch staatliche Institutionen, Parteien und Parlamentarier*innen mit deren Arbeit ab." (Twitter-Kanal "Rosarote Zora", 16.10.2020). Mit szenetypischen Parolen unterstreicht die Gruppierung ihre verfassungsfeindliche Ausrichtung und ihre Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols, wie zum Beispiel: "Für uns gilt: Hass den Cops. Hass dem Staat. Hass dem Patriarchat." (Twitter-Kanal der "Rosaroten Zora", 14.10.2020) oder "#ACAT" als Abkürzung für "All Cops Are Targets" (Twitter-Kanal "Rosarote Zora", 11. und 12.10.2020). Am 22. Juni 2021 besetzte die linksextremistische Gruppierung "Rosarote Zora" ein weiteres Gebäude in Bremen-Horn. Ebenso wie die "Dete" gehörte auch dieses Gebäude demselben Immobilienunternehmer. Aufgrund des maroden Zustands des Gebäudes wurde die Besetzung des Gebäudes aus Sicherheitsgründen nach wenigen Stunden abgebrochen. 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 75 "Militante Aktionen" Im Aktionsfeld "Antigentrifizierung" kam es wie bereits im Vorjahr zu Brandanschlägen und Sachbeschädigungen, von denen insbesondere Immobilienund Wohnungsunternehmen betroffen waren. Am 5. Juni 2021 wurden in der Bremer Neustadt die Fensterscheiben und eine Glastür von zwei Immobilienbüros eingeschlagen. Bei einem Geldinstitut wurden ebenfalls mehrere Scheiben zerstört. Zudem wurden Müllcontainer auf die Straße geschoben und einige davon in Brand gesetzt. Die unbekannten Verfasser:innen stellen in dem dazugehörigen SBS die Sachbeschädigungen in die klassischen Begründungszusammenhänge "Antikapitalismus" und "Antigentrifizierung": "Die kapitalistischen Herrschaftsund Machtverhältnisse zeigen sich kaum woanders so klar mit ihrem menschenverachtenden Gesicht wie in der Wohnraumfrage. [...]Widerstand gegen die Räumungen und Verdrängungen heißt für uns aufzubegehren gegen die Stadt der Reichen, gegen explodierende Mieten, Zwangsräumungen, gegen Immobilienkonzerne und andere Profiteur*innen des Wohnungsmarktes. Kurzum gegen die Aufwertung unserer Städte im Sinne des Kapitals." (Internetseite "endofroad.blackblogs.org", 05.06.2021). Am 12. September 2021 wurden Fenster an einem Gebäude des Immobilienunternehmens "Müller & Bremermann" beschädigt. Im dazugehörigen SBS beziehen sich die unbekannten Verfasser:innen auf eine Zwangsräumung am 13. Juli 2021 im Bremer Steintor, welche ihrer Meinung nach "brutal von den Bullen durchgesetzt" wurde (Internetseite "de.indymedia.org", 03.09.2021). Beteiligt war an dieser Aktion das "Bremer Bündnis gegen Zwangsräumung", das von der linksextremistischen Gruppierung BA unterstützt wird. 6.3.5 "Klimaproteste" Proteste für einen besseren Klimaschutz und gegen den bisherigen politischen und gesellschaftlichen Umgang mit der Klimakrise sind seit mehreren Jahren ein Schwerpunktthema der linksextremistischen Szene. In der politischen Diskussion geht es seit mehreren Jahren um die globalen Auswirkungen des Klimawandels, eine Energiewende und die inzwischen beschlossene Stilllegung von Kohlekraftwerken. Linksextremist:innen brachten sich in die politische Diskussion mit der Absicht ein, ihre extremistische Weltanschauung und ihre politischen Ziele zu verbreiten sowie ihre gesellschaftliche Akzeptanz zu vergrößern. Sie erreichten die Zusammenarbeit von linksextremistischen und nichtextremistischen Aktivist:innen in Bündnissen, Initiativen und Kampagnen, wie in der Kampagne "Ende Gelände" (EG). Die 2014 initiierte linksextremistisch beeinflusste Kampagne wird von Gruppierungen und Einzelpersonen sowohl des demokratischen als auch des linksextremistischen Spektrums unterstützt. Die bundesweit agierende linksextremistische Gruppierung IL ist maßgeblich in die Aktivitäten involviert. Im Rahmen der linksextremistisch beeinflussten Kampagne "Ende Gelände" werden Protestaktionen gegen den Braunkohleabbau und gegen die Rodung von Wäldern organisiert, insbesondere des Hambacher Forsts in Nordrhein-Westfalen sowie des Dannenröder Forsts in Hessen. Im Fokus der Kampagne stand im Jahr 2021 der geplante Tagebau "Garzweiler II" im Rheinischen Braunkohlerevier und das nordrhein-westfälische Lützerath, das vor einer Umsiedlung bewahrt werden sollte. Linksextremist:innen aus Bremen reisten im September und Oktober 2021 nach Lützerath, um beim Aufbau von Protest-Infrastruktur zu helfen und sich an den Blockadeaktionen zu beteiligen. 76 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 In Vorbereitung auf eine weitere Massenprotestaktion gegen den geplanten Bau eines Hafen-Terminals für Erdgas im Juli/August 2021 in Brunsbüttel gab es in Bremen im Rahmen der Kampagne Infoveranstaltungen und Aktionstrainings im "Alten Sportamt". Am 5. und 6. Juni 2021 fanden bundesweit dezentrale Aktionstage unter dem Motto: "Sozialund klimagerechte Mobilitätswende jetzt! Autobahnausbau stoppen! #MobilitätswendeJetzt!" (Internetseite Ende Gelände Bund, 17.05.2021) statt. In Bremen gab es in diesem Zusammenhang eine Fahrrad-Demonstration über die Autobahn A281 am 5. Juni 2021, an der ca. 250 Personen teilnahmen. Kommunikation Das Internet ist das wichtigste Kommunikationsmittel der linksextremistischen Szene. Es dient ihr sowohl als Kommunikationsplattform als auch als Medium zur Verbreitung von Propaganda. Die 2017 vom Bundesinnenministerium verbotene Internetseite "linksunten.indymedia" nahm eine zentrale Bedeutung für das gesamte "linke" Spektrum ein. Sie betrieb einen "offenen Journalismus", d. h., jede:r Internetnutzer:in konnte dort ohne redaktionelle Vorgaben und unter Nutzung eines Pseudonyms Beiträge veröffentlichen, die andere Internetnutzer:innen wiederum anonym kommentieren und ergänzen konnten. Am 29. Januar 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht mehrere Klagen gegen das Verbot von "linksunten.indymedia" ab. Die linksextremistische Internetseite "de. indymedia.org" ersetzt in Teilen das verbotene Internetportal. In Bremen gibt es seit 2009 die Internetseite "end of road". Die Betreiber:innen erklärten, dass es sich um ein "antikapitalistisches Projekt" handele und sie "nur Dinge veröffentlichen, die dem Sinne des Projektes entsprechen und eine antifaschistische, autonome und antinationale Grundhaltung haben" (Internetseite "end of road", 06.09.2009). Die veröffentlichten Artikel, Aktionsberichte, Demonstrationsaufrufe und Terminankündigungen spiegeln ein breites Themenspektrum wider. Die Nutzer:innen können die eingestellten Artikel kommentieren und sind darüber hinaus zum Einsenden von Berichten und Terminankündigungen aufgefordert. Die veröffentlichten Titelbild "Interim" 2021 Beiträge stammen jedoch auch aus anderen Medien. Ein zentrales Publikationsorgan ist die in Berlin herausgegebene Szene-Zeitschrift "Interim", die als eine von wenigen autonomen Schriften bundesweite Bedeutung genießt. Die Szene-Zeitschrift dient vor allem dem gewaltbereiten autonomen Spektrum zur Information und Diskussion. In der "Interim" finden sich Beiträge zu aktuellen Themen, aber auch Rechtfertigungen zur Gewaltanwendung sowie Aufforderungen und Anleitungen zu Gewalttaten. Um Strafverfolgungsmaßnahmen zu erschweren, gibt es keine feste Redaktion, auch wird kein Impressum abgedruckt. 6 LINKSEXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 77 78 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 7 ISLAMISMUS Seitenzahl 81 7.1 Islamistischer Terrorismus 81 7.1.1 Globales Terrornetzwerk "al-Qaida" 82 7.1.2 "Islamischer Staat" (IS) 82 7.1.3 Globale Entwicklungen im islamistischen Terrorismus 84 7.1.4 Islamistischer Terrorismus in Deutschland 85 7.1.5 Jihadistische Szene in Bremen 88 7.2 Salafismus 91 7.2.1 Salafismus im Land Bremen 92 7.2.2 "Islamisches Kulturzentrum Bremen e.V." (IKZ) 93 7.3 Legalistischer Islamismus 94 7.3.1 Muslimbruderschaft 95 7.3.2 "Hizb ut-Tahrir" 96 7.3.3 Saadet Partisi (SP) 96 7.4 Schiitischer Islamismus 96 7.4.1 "Hizb Allah" 99 7.4.2 Sonstiger schiitischer Islamismus 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 79 7 Islamismus Beim Islamismus handelt es sich um eine Form des religiös begründeten Extremismus. Islamist:innen berufen sich auf Symbole, Begriffe und Konzepte aus dem Islam, um ihre antidemokratischen politischen Ziele religiös zu legitimieren. Dabei behaupten sie, im göttlichen Auftrag zu handeln und verschleiern damit, dass sie nur ihre jeweilige, zumeist einseitige und undifferenzierte, Interpretation der Religion umzusetzen versuchen. Der Bezug auf Gott ist ein wichtiges Unterscheidungskriterium zu anderen extremistischen Ideologien, etwa dem Rechtsoder Linksextremismus. Islamist:innen behaupten, dass alle Bereiche des menschlichen Lebens von der Religion bestimmt werden müssen. Dies schließt auch die Sphären von Gesetzgebung und politischer Ordnung mit ein. Gleichwohl ist politisches Engagement aus religiöser Perspektive keineswegs grundsätzlich verfassungsfeindlich, sondern von der Religionsfreiheit gedeckt. Erst wenn versucht wird, ein Religionsverständnis durchzusetzen, welches dem Grundgesetz und der darin enthaltenen freiheitlich-demokratischen Grundordnung widerspricht, handelt es sich um eine sog. extremistische Bestrebung, die der Beobachtung durch den Verfassungsschutz bedarf. Dies ist beim Islamismus der Fall. Islamismus bezeichnet demnach eine politische Ideologie, die anstelle des demokratischen Rechtsstaates und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung eine Gesellschaftsund Rechtsordnung vorsieht, welche auf einer islamistischen Interpretation des islamischen Rechts beruht. Das hier im Mittelpunkt stehende "Prinzip der Gottessouveränität" widerspricht dem grundgesetzlich verbrieften "Prinzip der Volkssouveränität". Verfassungswidrigkeit des Islamismus Ablehnung demokratischer Regierungen und Gesetzgebung Absoluter Geltungsanspruch der jeweiligen Interpretation des islamischen Rechts Aktivitäten gegen die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte Implizite Forderung nach sog. Körperstrafen Legitimierung der körperlichen Züchtigung der Ehefrau Ungleichbehandlung von Mann und Frau Ablehnung nichtheteronormativer sexueller Orientierungen und Lebensentwürfe und mindestens implizite Forderung des Verbots bzw. der Sanktion Negierung der Religionsfreiheit (z. B. durch Antisemitismus oder theoretischer Forderung der Todesstrafe für Apostasie, d. h. Abfall vom Glauben) Bei islamistischen Terrorist:innen: Propagieren und/oder Ausüben politischer Gewalt Historisch gesehen hat sich der Islamismus im 20. Jahrhundert in verschiedenen Teilen der muslimischen Welt als antikoloniale Bewegung entwickelt. Die Schwäche dieser Regionen, so die Denkweise der Islamist:innen, läge in der Vernachlässigung der islamischen Pflichten durch die muslimischen Bevölkerungen begründet. Nur wenn der Islam alle Lebensbereiche der Menschen durchdringe und jedwedes Handeln gemäß religiöser Vorgaben ausgerichtet wäre, könne man von einem wahrhaft islamischen Staat sprechen und zu alter Stärke zurückkehren. Der Islamismus arbeitet, genauso wie andere Extremismen, gezielt mit Feindbildern. In der islamistischen Rhetorik sind dies die sog. kuffar ("Ungläubige"), womit suggeriert wird, dass angeblich alle Nicht-Muslim:innen bzw. teilweise auch liberalere muslimische Strömungen den vermeintlich "wahren Muslim:innen" feindlich gegenüberstehen. Hochkomplexe Konflikte in verschiedenen Teilen der Welt sowie Negativerfahrungen von Muslim:innen in Deutschland werden dadurch erklärt, dass die "Ungläubigen" einen Krieg gegen den Islam führen würden und man sich verteidigen müsse. 80 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Diese Form der Komplexitätsreduktion und die Darstellung des eigenen Handelns als Notwehr gegenüber einer vage definierten Gruppe von Feinden findet sich auch bei anderen extremistischen Gruppen. Phänomenübergreifend sind vor allem Menschen jüdischen Glaubens immer wieder Opfer extremistischer Propaganda. Antisemitismus im Islamismus Allen islamistischen Strömungen ist gemein, dass sie Menschen jüdischen Glaubens als Feinde des Islams und der Muslim:innen darstellen. In den negativen Zuschreibungen gegenüber Jüd:innen finden sich viele ideologische Versatzstücke wieder, die aus dem europäischen Antisemitismus übernommen wurden. Dazu gehört die angebliche Hinterlistigkeit "der Juden", ihre vermeintliche Geldgier, die Legende von Jüd:innen als Kindermörder:innen sowie verschwörungsideologische Elemente einer globalen jüdischen Weltherrschaft. Diese Ideologeme werden mit Bezügen zu den islamischen Quellen religiös aufgeladen, wodurch sich der spezifische Charakter des islamistischen Antisemitismus ergibt. Eine tragende Rolle in der Aufrechterhaltung dieses Feindbildes spielt der Nahost-Konflikt. In der Politik Israels gegenüber den Palästinenser:innen sehen Islamist:innen den Beweis dafür, dass das Judentum dem Islam grundsätzlich feindlich gegenüberstehe. In der islamistischen Rhetorik werden Jüd:innen und Bürger:innen Israels zumeist gleichgestellt und das Existenzrecht Israels grundsätzlich infrage gestellt. Ein Wiederaufflammen des Nahost-Konfliktes bietet Islamist:innen daher stets die Chance, legitimen Protest gegen die Gewalteskalation zu unterwandern und für sich zu vereinnahmen. Beispielhaft hierfür steht eine Demonstration in Bremen am 13. Mai 2021. Wenngleich der Großteil der Teilnehmenden nicht dem extremistischen Spektrum zuzuordnen war, kam es vereinzelt zu antisemitischen Sprechchören sowie dem Schwenken einer Flagge der islamistisch-terroristischen Organisation "Palästinensischer Islamischer Jihad". Ebenso wurden bei einem Autokorso in Bremerhaven am 17.05.2021 antisemitische Parolen gerufen. Die Vorfälle verdeutlichen, dass es islamistischen Gruppen gelingt, einen Teil ihrer Ideologeme über ihr Kernklientel hinaus zu verbreiten. Grundsätzlich sind islamistische Gruppen bestrebt, hochemotional aufgeladene Konflikte mit Bezug zur muslimischen Welt für sich zu vereinnahmen, um somit Sympathien und neue Anhänger:innen für die eigene, extremistische Sache zu gewinnen. Es handelt sich beim Islamismus um eine sehr spezifische Interpretation der islamischen Religion in der Moderne. Ihr stehen unzählige andere Interpretationen gegenMuslime über, die mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Auch wenn sie vorgeben, den angeblich "wahren Islam" zu verkünden, dürfen Islamist:innen keinesfalls als alleinige Repräsentanten ihrer Religion angesehen werden, da die überwiegende Mehrheit der Muslim:innen weltweit eine islamistische Islaminterpretation entschieden ablehnt. Islamisten Salafisten Hinzu kommt, dass die islamistische Bewegung in sich selbst nicht homogen ist, sonJihadisten dern sich in diverse Gruppierungen und Strömungen aufspaltet, die zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten entstanden und teilweise untereinander verfeindet sind. Die islamistische Ideologie ist somit einem stetigen Wandel unterworfen. Radikale Ansichten werden Aufgrund dieser erheblichen Unterschiede zwischen den verschiedenen islamistischen nur von einem Bruchteil der Gruppen ist es notwendig, jede von ihnen gesondert zu betrachten. Dabei muss neben Muslim:innen vertreten dem geschichtlichen Hintergrund auch der jeweilige gesellschaftspolitische Kontext beachtet werden, in dem die Gruppe tätig ist. Einige Gruppen waren in ihrer Gründungszeit gewaltorientiert und sind es nun nicht mehr. Andere üben politische Gewalt in ihrer Herkunftsregion aus, nicht jedoch in Deutschland. Andere wiederum versuchen auch in Deutschland ihre Ziele mit Gewalt zu erreichen. Insgesamt ist jedoch nur eine Minderheit innerhalb des islamistischen Spektrums gewaltorientiert. 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 81 Der Verfassungsschutz unterscheidet grundsätzlich zwischen zwei Hauptsträngen im Islamismus: Unter den Begriff "Islamistischer Terrorismus" fallen alle Strömungen, die politische Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele befürworten und anwenden. Unterschieden werden kann hier zwischen islamistisch-terroristischen Organisationen, die ausschließlich in ihren Heimatländern einen bewaffneten Kampf führen, (z. B. die libanesische Organisation "Hizb Allah", die palästinensische "HAMAS" oder die afghanischen "Taleban") und den salafistischen Jihadist:innen, die weltweit einen bewaffneten Kampf führen, (z. B. das Terrornetzwerk "al-Qaida" und der sog. "Islamische Staat"). Der Begriff "Legalistischer Islamismus" beschreibt hingegen Organisationen, welche eine Veränderung der Staatsund Gesellschaftsordnung zugunsten eines islamistischen Staatswesens über die politische Einflussnahme anstreben. Die in Deutschland tätigen "Legalist:innen" lehnen Gewalt ab und bewegen sich im hiesigen Rechtsrahmen, den sie jedoch langfristig zu unterwandern und abzuschaffen versuchen. Beispiele für in Deutschland tätige legalistisch-islamistische Organisationen sind die "Muslimbruderschaft", die "Saadet Partisi" oder die "Hizb ut-Tahrir". Hervorzuheben ist, dass beide Bereiche nicht trennscharf voneinander abzugrenzen sind. Dies liegt daran, dass zum einen die ideologische Ausrichtung und die damit begründete Gewaltaffinität der Anhängerschaft nicht immer eindeutig definiert werden kann. Zum anderen rekrutieren terroristische Gruppen ihre Anhänger:innen häufig aus legalistisch-extremistischen Organisationen. Dies gilt insbesondere für den Salafismus, dessen missionarischer eng mit dem gewaltorientierten Strang verflochten ist. Aus diesem Grund wird dem Salafismus ein eigenes Unterkapitel gewidmet. Insgesamt sind in Deutschland ca. 28.300 Personen der islamistischen Szene zugehörig. In Bremen sind im Jahr 2021 etwa 600 Personen islamistischen Gruppen zuzurechnen. Damit ist die Zahl im Vergleich zum Vorjahr um ca. 10% gesunken. Fluktuationen innerhalb der extremistischen Spektren sind üblich und ein leicht rückläufiger Trend wurde u. a. durch die mit der Corona-Pandemie verbundenen Einschränkungen begünstigt. Auch konnte eine deutliche Zunahme der deutlich schwieriger zu quantifizierenden Online-Aktivitäten unterschiedlicher islamistischer Gruppierungen festgestellt werden. 7.1 Islamistischer Terrorismus Der islamistische Terrorismus lässt sich in national und global ausgerichtete Organisationen unterscheiden. Der global ausgerichtete islamistische Terrorismus ist gleichzusetzen mit dem jihadistischen Salafismus oder kurz Jihadismus. Jihadist:innen erkennen das Nationalstaatsprinzip nicht an und versuchen mittels des Einsatzes terroristischer Gewalt die Regime in der muslimischen Welt zu stürzen, um ein länderübergreifendes Kalifat zu errichten. Anschläge in westlichen Staaten dienen dazu, die dortigen Bevölkerungen einzuschüchtern und die Politik unter Druck zu setzen. Die bekanntesten Organisationen im Jihadismus sind "al-Qaida" und der sog. "Islamische Staat" ("IS"). 7.1.1 Globales Terrornetzwerk "al-Qaida" "Al-Qaida" wandelte sich von einer in den 1980er Jahren in Afghanistan entstandenen streng hierarchischen Organisation zu einem weltweiten Netzwerk von Ablegerorganisationen und Sympathisant:innen. Wenngleich der Regime-Umsturz als Fernziel weiterhin bestehen bleibt, ist "al-Qaida" bestrebt, seine Reputation als schlagkräftigste Terrororganisation durch möglichst spektakuläre Anschläge auch im Westen unter Beweis zu stellen. Während "Kern al-Qaida" im Nachgang zu den Anschlägen Flagge der "al-Qaida" 82 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 vom 11. September 2001 stark geschwächt werden konnte, haben sich seitdem diverse, zunächst lokal agierende, Terrorgruppen der globalen Ideologie "al-Qaidas" angeschlossen. Zu den von der Kernorganisation "al-Qaida" logistisch und finanziell relativ unabhängig agierenden regionalen Gruppen gehören u. a. "al-Qaida auf der arabischen Halbinsel" (AQAH) im Jemen, "ash-Shabab" ("die jungen Menschen") in Somalia, "alQaida im islamischen Maghreb" (AQM) in den Maghrebstaaten, "Jama'a Nusrat ulIslam wa al-Muslimin" (JNIM "Gemeinschaft zur Unterstützung des Islams und der Muslime") im Sahel und "al-Qaida auf dem indischen Subkontinent" (AQIS). In Syrien gibt es mit "Tandhim Hurras ad-Din" (THD, "Organisation Retter der Religion") eine ideologisch eng verflochtene sowie mit "Hay'at Tahrir ash-Sham" (HTS, "Gremium zur Befreiung Syriens") eine eher lose angebundene Ablegerorganisation. 7.1.2 "Islamischer Staat" (IS) Der "IS" ging aus der ehemaligen "al-Qaida"-Ablegerorganisation im Irak hervor. Auch wenn sich die grundsätzliche Ideologie beider Gruppen stark ähnelt, existieren einige subtile Unterschiede. So ist der Hass auf die Schiiten beim "IS" deutlich stärker ausgeprägt und diese werden gezielter angegriffen. Der "IS" ist zudem deutlich kompromissloser gegenüber jeglichen Organisationen, die nicht in Gänze sein Weltbild teilen und sich ihm unterordnen wollen. Muslim:innen, welche die "IS"-Ideologie ablehnen, gelten dem "IS" als Ungläubige, die getötet werden dürfen. Zudem legt der "IS" den Fokus auf schnellstmögliche territoriale Kontrolle, während "al-Qaida" eine In Deutschland Strategie der weltweiten Zellenund Netzwerkbildung verfolgt. verbotene Flagge des "IS" Auch der "IS" verfügt über verschiedene Ableger, wie zum Beispiel in Libyen, Ägypten, Algerien, Nigeria, Jemen und Afghanistan. Diese befinden sich in der Regel in einem starken Konkurrenzverhältnis zu "al-Qaida"-nahen Organisationen. Wenngleich es im Sahel partiell zu einer taktischen Zusammenarbeit kam, ist die jihadistische Szene global betrachtet weiterhin gespalten und von einer Annäherung zwischen beiden Gruppen ist derzeit nicht auszugehen. In Deutschland wurde durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) im Jahr 2015 ein Betätigungsverbot gegen den "IS" erlassen. Demzufolge ist es verboten, Kennzeichen des "IS" öffentlich, in Versammlungen oder zur anderweitigen Verbreitung zu verwenden. 7.1.3 Globale Entwicklungen im islamistischen Terrorismus Trotz der Zerschlagung des sog. "Kalifats" des "IS" bleibt die Organisation sowohl in Syrien als auch im Irak im Untergrund aktiv. 2021 konnte sie dabei das Anschlagsniveau leicht erhöhen. Grundsätzlich sind ihre Kapazitäten für die eigenständige Anschlagsbegehung im Westen derzeit begrenzt. Jedoch ist nicht auszuschließen, dass über die gegenwärtigen Flüchtlingsrouten, z. B. via Belarus, versucht wird, Attentäter:innen nach Europa zu schleusen. Mit "Hay'at Tahrir ash-Sham" (HTS) bleibt weiterhin eine "al-Qaida"-nahe Organisation die dominanteste Kraft in der von Rebell:innen kontrollierten syrischen Provinz Idlib. 2021 hat "HTS" ihre Aktivitäten gegen rivalisierende Gruppen durch Waffengewalt ausgeweitet. Auch wenn die "HTS" bestrebt ist, sich ein liberales Image zu geben und bestreitet, außerhalb Syriens aktiv werden zu wollen, wird sie aufgrund ihrer gewaltorientierten Ideologie und gewaltsamen Methoden in Deutschland weiterhin als Terrororganisation eingestuft. 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 83 Machtergreifung der "Taleban" Das einschneidenste Ereignis 2021 im Bereich islamistischer Terrorismus war die erneute Machtergreifung der "Taleban" in Afghanistan nach 20 Jahren der kriegerischen Auseinandersetzung. Bei den "Taleban" handelt es sich nicht um eine globaljihadistische Gruppierung, sondern um eine islamistische Terrororganisation mit nationaler Ausrichtung. Ihr Ziel eines islamistischen Staates innerhalb der international anerkannten Grenzen Afghanistans konnten die "Taleban" im August 2021 nach jahrelangen Kämpfen unter Einsatz terroristischer Gewalt sowohl gegen einheimische und ausländische Sicherheitskräfte als auch gegen die Zivilbevölkerung erreichen. Allerdings gibt es äußerst enge Bezüge zwischen den "Taleban" und jihadistischen Gruppierungen. Das Verhältnis insbesondere zu "al-Qaida" ist über Jahrzehnte gewachsen. Vor allem das zu den "Taleban" gehörende "Haqqani-Netzwerk" verfügt über enge Kontakte zu verschiedenen jihadistischen Gruppierungen. Auch wenn die "Taleban" bei ihrer Machtergreifung verkündet haben, keine Anschlagsplanungen von afghanischem Territorium aus zu dulden, so muss dieses Bekenntnis aufgrund der Präsenz der eindeutig global-jihadistisch ausgerichteten "al-Qaida" in Zweifel gezogen werden. Dadurch, dass die Geschehnisse in Afghanistan nunmehr schwerer zu überwachen sind, hat sich die globale Gefahr für islamistische Anschläge durch den Machtwechsel erhöht. Zudem hat die Etablierung eines islamistischen Staatswesens in der jihadistischen Szene für eine regelrechte Euphorie gesorgt und könnte zu der Durchführung von Anschlägen motivieren. Den "Taleban" gegenüber feindlich gesinnt bleibt das "IS"Sympathisant:innenspektrum, da mit dem Ableger "Islamischer Staat in Khorasan" in Afghanistan eine Gruppierung besteht, die in einem Konkurrenzverhältnis zu "alQaida" und den "Taleban" steht. Ob Afghanistan ein neues Ziel für jihadistische Ausreisewillige sein wird, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht abschätzen. Radikalisierung über jihadistische Propaganda und Kommunikation im Internet Jihadistische Organisationen nutzen gezielt digitale Formate, um ihre Ideologie zu verbreiten und neue Sympathisant:innen oder sogar Mitglieder zu gewinnen. Dabei versuchen sie, verschiedene Plattformen parallel zu bedienen, um möglichen Einschränkungen zu entgehen. Die bekanntesten Anbieter sozialer Netzwerke, wie YouTube bzw. Google, Facebook und die dazu gehörigen Dienste Instagram und WhatsApp und zunehmend auch Telegram, sind inzwischen bestrebt, jihadistische Inhalte möglichst umgehend zu entfernen. Auch die Initiative der sog. "Joint Action Days", einer Propagandavideo des IS regelmäßigen Maßnahme gegen die Verbreitung extremistischer Online-Inhalte durch EUROPOL, soll Anbieter dabei unterstützen, entsprechende Inhalte zu erkennen und zu löschen. Die Gegenmaßnahmen sind insoweit erfolgreich, als dass Jihadist:innen mittlerweile gezwungen sind, auf unbekanntere Plattformen auszuweichen, welche eine deutlich geringere Reichweite besitzen. Gleichzeitig sind die dortigen Aktivitäten aufgrund technischer Vorkehrungen teilweise nur mit einem erheblichen Aufwand zu überwachen. Das Gleiche gilt für die Kommunikation untereinander über verschlüsselte Chatsysteme. Internetaffine Personen werden somit weiterhin in der Lage sein, die entsprechenden Inhalte zu finden und weiterzuverbreiten. Dies geschieht im Rahmen sog. Radikalisierungsprozesse, bei denen sich die Personen in digitalen Filterblasen befinden, in denen das jihadistische Narrativ einer globalen Verschwörung gegen den Islam permanent heraufbeschworen und weiterverbreitet wird. Existieren für diese Personen keine Deradikalisierungsangebote oder sonstige soziale Kontakte, welche glaubwürdig eine alternative Sichtweise vermitteln können, besteht die Gefahr der Verfestigung einer extremistischen Haltung, welche im schlimmsten Fall in die Begehung eines Terroranschlags münden kann. 84 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 2021 waren sowohl der "IS" als auch "al-Qaida" bestrebt, ihre mehrsprachige Propaganda auch an ein deutsches Publikum zu richten. Dabei droht der "IS" Deutschland mit Anschlägen und ruft potenzielle Einzeltäter:innen dazu auf, selbstständig zur Tat zu schreiten. 2021 erschienen mehrere Propagandavideos des "IS", in denen Deutschland explizit als Anschlagsziel genannt wurde. Man solle sich dabei jeglicher Mittel, etwa Schusswaffen, Messern oder Gifte, bedienen, um einen Anschlag zu begehen. "Al-Qaida" hingegen wendet sich selten explizit an in Deutschland aufhältige Personen. Eine Ausnahme stellen Aufrufe deutschsprachiger Jihadist:innen in Idlib dar, welche dazu aufrufen, nach Syrien auszureisen, um die sog. Gotteskämpfer:innen im Kampf gegen das Regime des syrischen Präsidenten Assad zu unterstützen. 7.1.4 Islamistischer Terrorismus in Deutschland Die Entwicklung des islamistischen Terrorismus in Deutschland war stets von vielen Umbrüchen geprägt. Zunächst haben sich islamistische Terrorist:innen zwar in Deutschland aufgehalten, ihre Anschläge jedoch im Ausland verübt, so wie bei den Attentätern des 11. September 2001 oder der aus Deutschland ausgereisten sog. "foreign fighters" in Bosnien und Tschetschenien. Anfang der 2000er-Jahre mehrten sich Anschlagsversuche in Deutschland, welche jedoch entweder vereitelt werden konnten oder fehlschlugen. In dieser Zeit entwickelte sich eine sog. "Home-Grown-Szene", womit gemeint ist, dass die Attentäter:innen in Deutschland aufgewachsen und sozialisiert wurden. 2011 kam es schließlich zum ersten vollendeten islamistischen Attentat in Deutschland auf den Frankfurter Flughafen. Seitdem entstand zunehmend eine Symbiose zwischen zunächst nach Afghanistan und später nach Syrien ausgereisten Personen und in Deutschland gebliebenen Sympathisant:innen. 2016 kam es in Deutschland zu mehreren Anschlägen; der folgenschwerste war der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin am 19. Dezember. Die unterschiedlichen Profile der Täter:innen bei diesen Anschlägen verdeutlichen das Erfordernis, die verschiedenen Milieus intensiv zu beobachten und die hierfür notwendigen Ressourcen vorzuhalten. Anschläge, Anschlagsplanungen und Gerichtsprozesse im Jahr 2021 2021 kam es, wie auch im Jahr zuvor, zu Attentaten mit jihadistischen Bezügen. Ebenso wie bei einigen Fällen im Jahr 2020 galten einige der in diesem Jahr ausschließlich männlichen Attentäter als psychisch krank, sodass die Einordnung, ob es sich um einen islamistischen Terroranschlag oder einen psychisch bedingten Amoklauf handelt, nicht immer leicht zu treffen ist. Letztlich muss jeder Fall einzeln betrachtet werden. 2021 urteilte ein bayrisches Gericht im Hinblick auf eine Brandserie in Waldkraiburg im Jahr zuvor, dass die Attentate ohne die islamistisch-jihadistische Ideologie nicht denkbar gewesen seien und der als schizophren eingestufte Täter aufgrund seiner Erkrankung eingeschränkt schuldfähig sei. Er wurde zu neuneinhalb Jahren Haft sowie der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus verurteilt. Am 25. Juni 2021 stach ein Mann in der Würzburger Altstadt zuerst in einem Kaufhaus und später auf der Straße mit einem Messer auf Passant:innen ein. Dabei tötete er drei Personen und verletzte fünf weitere schwer. Die Polizei konnte den Täter mittels eines Schusses in dessen Bein an der weiteren Tatausführung hindern. Über ihn ist bekannt, dass er 2015 als Asylsuchender nach Deutschland kam und mehrfach in psychiatrischer Behandlung war. Jihadistische Bezüge ergeben sich dadurch, dass der Täter im Nachgang angegeben haben soll, er habe seinen persönlichen "Jihad" ausgeführt und Zeug:innen berichteten, er habe während des Tathergangs "Allah (Gott) ist groß" gerufen. Weitere Ermittlungen konnten ein extremistisches Motiv jedoch nicht bestätigen. Die Person wurde in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Der Fall verdeutlicht erneut die Schwierigkeit der Zuordnung und gleichzeitig die Gefahr, die aus 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 85 einer Kombination aus jihadistischer Ideologie und einer psychischen Erkrankung resultieren kann. Anders stellt sich die Situation bei den mutmaßlichen Anschlagsvorbereitungen im September 2021 auf eine Synagoge in Hagen dar. Hier lagen konkrete Hinweise vor, dass der mutmaßliche Täter über enge Kontakte in die jihadistische Szene verfügte. Über eine psychische Erkrankung war hingegen nichts bekannt. Dem 16-jährigen Angeklagten wird zur Last gelegt, in einem überwachten Chat einen Anschlag auf eine Synagoge angekündigt und sich über den Bau von Bomben informiert zu haben. Der Täter befindet sich seit dem 15. September 2021 in Untersuchungshaft. Ebenso kam es 2021 zur Verurteilung des Vorsitzenden des 2017 verbotenen Vereins "Deutscher Islamkreis Hildesheim". Das Oberlandesgericht Celle verurteilte den Angeklagten zu mehr als zehn Jahren Haft. Das Urteil gegen den 37-Jährigen erging wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung, Beihilfe zur Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und Terrorismusfinanzierung. Er soll gemeinsam mit drei Mitangeklagten junge Islamist:innen radikalisiert und bei der Ausreise in die vom "IS" beherrschten Gebiete in Syrien und im Irak unterstützt haben. Neben diesen medial stark begleiteten Fällen kam es darüber hinaus zu zahlreichen weiteren Verhaftungen und Strafprozessen im jihadistischen Milieu. Tatvorwürfe waren hier u. a. versuchte Sprengstoffherstellung, Terrorfinanzierung, Verstöße gegen das Außenwirtschaftsgesetz, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Beihilfe zu versuchten Kriegsverbrechen sowie Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen. Dies zeigt, dass sich die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus in Deutschland nach wie vor auf einem hohen Niveau bewegt, selbst wenn dies in der öffentlichen Wahrnehmung nicht mehr derart präsent wahrgenommen wird. Ein ähnliches Fazit kann für Bremen gezogen werden. 7.1.5 Jihadistische Szene in Bremen Auch in Bremen existiert nach wie vor eine Szene, die für die Propagandaaktivitäten terroristischer Organisationen empfänglich ist und vermutlich dazu bereit wäre, Anschläge in der Hansestadt zu verüben. Aus diesem Grund hat die Bearbeitung von jihadistischen bzw. terroristischen Sachverhalten im LfV Bremen eine äußerst hohe Priorität. Zur Verhinderung von Anschlägen erfolgt die Zusammenarbeit mit den Polizeibehörden und Behörden des Verfassungsschutzverbundes. Eine wichtige Einrichtung in diesem Bereich ist das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) in Berlin. Es dient zum Austausch relevanter Informationen in Gefährdungssachverhalten, um auf dieser Grundlage Analysen und Bewertungen vorzunehmen und Gefährdungslagen länderübergreifend zu bewältigen. Jihadistische Verdachtsund Gefährdungssachverhalte Die jihadistische Szene in Bremen unterteilt sich derzeit in zwei Bereiche. Zum einen geht ein erhöhtes Risiko von Kleingruppen und sog. "Lone-Wolf-Akteuren" aus. Die in diesem Zusammenhang beobachteten Personen bilden keine einheitliche Szene. So kann es zwischen Einzelpersonen und Personengruppen zwar Schnittmengen in Form von Kennverhältnissen geben, jedoch gibt es auch isolierte Personen und Kleinstgruppen, die keinerlei Einbettung in hiesige extremistische Strukturen erkennen lassen. Hintergrund und Profile der Personen, welche islamistisch begründete Gewalttaten begehen oder unterstützen wollen, sind höchst unterschiedlich. Neben in Deutschland geborenen und sozialisierten Personen über solche mit eigenen Migrationsbiografien bis hin zu Menschen, welche erst kürzlich zum Islam konvertiert sind, ist das für jihadistische Ideologien empfängliche Personenspektrum äußerst divers. Auch der Radikalisierungsprozess der einzelnen Personen in Bremen ist uneinheitlich. Während insbe- 86 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 sondere jüngere Personen sich oftmals über Online-Quellen wie Youtube-Prediger oder extremistische Telegram-Gruppen radikalisieren, spielen für Extremistinnen mittleren Alters weiterhin die persönliche Vernetzung mit Szenegrößen eine wichtige Rolle. Mit Blick auf die gesamtdeutsche Lage war häufiger zu beobachten, dass insbesondere von solchen Personen ein erhöhtes Gefahrenpotenzial ausgeht, bei denen religiöser Extremismus auf psychische Erkrankungen trifft und es in diesem Zusammenhang zu Gewalttaten oder deren Vorbereitung kommt. Gerade diese Personengruppe ist in besonderem Maße anfällig für emotionalisierende Ereignisse, etwa die Eskalation im Nahost-Konflikt oder die Machtübernahme der "Taliban" in Afghanistan. So können entsprechende Ereignisse zu einem - subjektiv empfundenen - Handlungsdruck bei den Betroffenen führen, auch wenn kein unmittelbarer Bezug zur primär unterstützten Ideologie bzw. Organisation besteht. Der zweite wesentliche Teil der jihadistischen Szene in Bremen umfasst Personen, die terroristische Organisationen im syrischen Bürgerkriegsgebiet unterstützen. Nach der Zerschlagung des sog. "IS"-Kalifats und der Inhaftierung seiner Kämpfer:innen und Unterstützer:innen vor Ort ist die Anzahl der Ausreisen in diese Gebiete zum Zwecke der Teilnahme an Kampfhandlungen deutlich zurückgegangen. Zeitgleich wurden in Deutschland Exekutivmaßnahmen gegen lokale Strukturen durchgeführt und diese so an der offenen Betätigung, insbesondere Personen zu radikalisieren und zur Ausreise zu bewegen, gehindert. Diese Entwicklung führte zu einer Veränderung der Unterstützungshandlungen auch in Bremen. Derzeit ist eine Szene zu beobachten, welche online Spenden sammelt. In den meisten Fällen erfolgen diese Spendenaufrufe, um insbesondere Frauen und Kinder, welche in kurdischen Camps inhaftiert sind, zu unterstützen oder ihnen die Flucht zu ermöglichen. Dass es sich hierbei um Jihadistinnen handelt, welche in der Vergangenheit den sog. "IS" aktiv unterstützt haben und weiterhin dessen Ideologie anhängen, ist diesen Spendensammlern und in Teilen auch den Spendern selbst bewusst. Ob das Spendenaufkommen tatsächlich ausschließlich den Frauen und Kindern zukommt oder auch zur Finanzierung von verbliebenen "IS"-Strukturen in Syrien dient, ist nicht immer eindeutig. Zur Aufklärung über entsprechende Aktivitäten steht das LfV im Austausch mit zivilgesellschaftlichen Akteur:innen und Verbänden und stellt bei Bedarf entsprechendes Informationsmaterial zur Verfügung. Insgesamt kann festgestellt werden, dass im jihadistischen Personenspektrum sowohl männliche als auch weibliche Personen aktiv sind. Während die männlichen Personen oftmals in die Planung und Durchführung von jihadistischen Gewalttaten im Inund Ausland involviert sind, bilden die Frauen ein stabilisierendes Netzwerk, indem sie durch Spendensammlungen, Heiratsvermittlung, Unterstützungen im Radikalisierungsprozess und Bereitstellen einer Infrastruktur die Voraussetzungen für die Existenz und Vernetzung der jihadistischen Szenen schaffen und die auf Gewaltausübung gerichteten Taten so zielgerichtet unterstützen. Bremer Ausreisen nach Syrien und Irak Den Bremer Sicherheitsbehörden sind 33 Personen bekannt, die seit 2014 in die Region Syrien und Irak ausgereist sind, um sich dort agierenden jihadistischen Organisationen, mehrheitlich dem "IS", anzuschließen. Nahezu alle bekannt gewordenen Ausreisesachverhalte aus Bremen lassen klare Bezüge der jeweiligen Personen zu unterschiedlichen Bereichen der salafistischen Szene Bremens erkennen. Nicht in allen Fällen war die Ausreise erfolgreich und teilweise erfolgte eine Festnahme bzw. Abschiebung aus dem syrisch-türkischen Grenzgebiet durch die dortigen Behörden. Sechs der aus Bremen Ausgereisten sollen bereits ums Leben gekommen sein. Im Berichtszeitraum erfolgten keine weiteren Ausreisen. 2021 kam es deutschlandweit zu Rückholaktionen aus den kurdischen Camps und irakischen Gefängnissen. Unter den zurückgeführten Personen befanden sich auch 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 87 zwei Bremerinnen. Eine Person sowie ihre zwei Kinder wurden im Oktober 2021 im Rahmen einer geplanten Rückholaktion zusammen mit sieben weiteren Personen und deren Kindern zurückgeholt. Die Bremerin hielt sich bis zu ihrer Rückreise im Gefangenenlager Roj im Nordosten Syriens auf. Direkt nach ihrer Ankunft in Deutschland wurde ein Haftbefehl vollstreckt. Der Rückkehrerin wird u. a. vorgeworfen, dass sie Mitglied in einer terroristischen Vereinigung im Ausland war. Eine zweite Bremerin wurde, nachdem sie im Irak eine Haftstrafe verbüßt hatte, durch die irakischen Behörden nach Deutschland abgeschoben. Die Rückkehr nach Bremen erfolgte im November 2021. Die Problematik der Rückkehrer:innen spielt wiederkehrend eine herausragende Rolle und stellt eine der größten Herausforderungen für das LfV Bremen im Phänomenbereich Islamismus dar. Nach Syrien ausgereiste Bremer:innen haben für eine gewisse Zeit Anschluss an terroristische Gruppierungen gefunden, mit ihnen sympathisiert und diese teilweise auch durch militärisches oder sonstiges Engagement unterstützt. Es ist daher zu befürchten, dass diese Personen und auch ihre Kinder erheblich ideologisch indoktriniert wurden. Aus diesem Grund sind sie für die deutschen Sicherheitsbehörden nach ihrer Rückkehr nach Deutschland von besonderer Relevanz. Das Ausmaß der Traumatisierung, das der Aufenthalt in den umkämpften Regionen besonders für dort aufgewachsene Kinder mit sich bringt, ist bislang kaum absehbar. In Fällen der Rückkehr ist eine sehr enge Kooperation mit allen beteiligten Behörden unverzichtbar. Das LfV Bremen arbeitet in diesem Bereich im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben eng mit staatlichen und nichtstaatlichen Deradikalisierungsund Beratungsstellen zusammen (siehe Kapitel 2, "KODEX"). Aktuell sind 14 der aus Bremen ausgereisten Personen wieder zurückgekehrt. Darunter befinden sich jedoch auch Personen, deren Einreise nach Syrien fehlgeschlagen ist bzw. durch die Sicherheitsbehörden vereitelt und eine Abschiebung bzw. Rückführung veranlasst wurde. Islamistische nordkaukasische Szene (INS) Unter dem Nordkaukasus wird gemeinhin ein mehrheitlich muslimisches Gebiet im Süden Russlands verstanden, das u. a. Dagestan und Tschetschenien als Republiken der Russischen Föderation umfasst. Historisch betrachtet ist der Nordkaukasus von zahlreichen Konflikten geprägt, die sich in der jüngeren Vergangenheit insbesondere in den beiden Tschetschenienkriegen manifestierten. Während für den ersten Tschetschenienkrieg Unabhängigkeitsbestrebungen der tschetschenischen Bevölkerung und ein separatistischer Kampf gegen die russische Militärpräsenz Auslöser waren, vermischten sich diese im zeitlichen Verlauf mit religiösen Motiven. Salafistische Personen gewannen an Einfluss auf den ursprünglich nicht religiösen Konflikt und verfolgten das Ziel, auch unter Anwendung von Gewalt, einen Gottesstaat in der Region zu etablieren. Fortan fassten verschiedene jihadistische Gruppierungen im Nordkaukasus Fuß und der einstig nationalistische Unabhängigkeitskampf wandelte sich sukzessive in einen regionalen Jihad, der letztlich zum zweiten Tschetschenienkrieg führte. Im Jahr 2007 rief der inzwischen getötete Doku Umarow das kaukasische Emirat aus, das für zahlreiche Terroranschläge verantwortlich gemacht wird und später dem sog. "Islamischen Staat" die Treue schwur. Der Wirkungskreis von Islamist:innen nordkaukasischer Herkunft ist nicht nur auf den Nordkaukasus begrenzt. Zahlreiche Nordkaukasier:innen reisten in die Jihadgebiete in Syrien und im Irak, um sich dort an Kampfhandlungen des sog. "IS" zu beteiligen. Unter den ausländischen Kämpfenden (sog. "foreign fighters") nehmen sie eine herausgehobene Stellung ein, da sie oftmals, den Tschetschenienkriegen geschuldet, auf umfassende militärische Fähigkeiten und Kampferfahrungen aufbauen konnten. So existierte etwa innerhalb des "IS" ein kaukasisch-dominierter Kampfverband namens "Katiba Badr", dem sich in der Vergangenheit auch Tschetschenen aus Bremen 88 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 anschlossen. Am 24. März 2021 wurde einer der Ausgereisten und wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland Verurteilter aus der bremischen Haft heraus in die Russische Föderation abgeschoben. Auch nach dem faktischen Ende des sog. "IS"-Kalifats in Syrien im März 2019 geht weiterhin ein nicht zu unterschätzendes Gefährdungspotenzial von nordkaukasischen Rückkehrenden und Ausreisewilligen aus. Als gut ausgebildete, kampferfahrene und gewaltbereite Einzeltäter oder Kleingruppen können sie radikalisierend auf einzelne Personen in ihrem Umfeld wirken und sich dabei auf die vorhandenen Strukturen der hiesigen Diaspora stützen. Mehrere islamistisch motivierte Gewalttaten der vergangenen Jahre verdeutlichten außerdem, dass von der Anhängerschaft der islamistischen nordkaukasischen Szene vereinzelt auch für westliche Staaten eine reale Gefahr ausgeht. In diesem Zusammenhang ist die Ermordung des französischen Lehrers Samuel Paty am 16. Oktober 2020 zu erwähnen. Der 18-jährigen Täter tschetschenischer Herkunft enthauptete seinen Lehrer auf offener Straße, nach dem dieser im Unterricht Mohammed-Karikaturen behandelt hatte. Zum besonderen Gefährdungspotenzial trägt darüber hinaus die generelle Affinität vieler Anhänger der islamistischen nordkaukasischen Szene zu Waffen und eine oftmals enge Verflechtung mit Strukturen der organisierten Kriminalität bei, die auch in Bremen beobachtet werden konnte. Die islamistische nordkaukasische Szene in Bremen weist keine förmlichen Strukturen oder Führungspersonen auf. Ihre Angehörigen verfügen hier nicht über eine eigene Moschee, sondern besuchen in der Regel wohnortnahe Moscheen anderer Träger (z. B. türkische oder arabische Gemeinden). Hierbei ist teilweise zu beobachten, dass die weitestgehende Abschottung gegenüber Menschen anderer Ethnien in den besuchten Moscheegemeinden und selbst gegenüber anderen Islamisten stringent aufrechterhalten wird. Aufgrund des Fehlens einer zentralen Anlaufstelle kommt dem persönlichen Kontaktspektrum der INS-Anhänger:innen in Bremen eine besondere Bedeutung zu. Das Kontaktspektrum ist häufig durch weitläufige, zum Teil europaweite Netzwerke gekennzeichnet und kann maßgeblichen Einfluss auf potenzielle Radikalisierungsverläufe nehmen. Verbindende Elemente sind hierbei neben der Religion vor allem die ethnische Herkunft und damit verbunden ein traditionelles Werteverständnis, aber auch niedrigschwellige Faktoren, wie etwa eine ausgeprägte Kampfsportaffinität, die in der (islamistischen) nordkaukasischen Szene kulturell und gesellschaftlich seit vielen Jahren gewachsen ist. Auch in Bremen finden regelmäßig Kampfsportveranstaltungen statt, die von Personen der nordkaukasischen Szene organisiert, in sozialen Netzwerken zur Schau gestellt werden und insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene in ihren Bann ziehen. An diesen Veranstaltungen nehmen vereinzelt auch Personen teil, die der salafistischen Szene in Bremen zuzurechnen sind, wodurch die Gefahr besteht, dass jüngere Menschen über den Umweg des Sports auch mit religiös-ideologischen Inhalten in Berührung kommen könnten. 7.2 Salafismus Beim Salafismus handelt es sich um eine besonders fundamentalistische Ausprägung des Islamismus. Ihm werden in Deutschland derzeit ca. 11.900 Personen und in Bremen rund 510 Personen zugerechnet. Eine exakte Bezifferung des salafistischen Personenpotenzials ist aufgrund von strukturellen Besonderheiten der Szene schwierig. So weisen zahlreiche salafistische Personenzusammenschlüsse keine festen Strukturen auf. Gleichzeitig finden sich Salafist:innen in anderen islamistischen Organisationen und Einrichtungen. Salafismus leitet sich vom arabischen Begriff Salafiyya ab, der eine Strömung des Islams bezeichnet, die sich ideologisch an den sog. Salaf as-Salih ("die frommen Altvorderen"), also den ersten drei Generationen der Muslime, orientiert. Salafist:innen 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 89 versuchen deren Lebensweise detailgetreu zu kopieren. Die Anhängerschaft dieser Ideologie ist der Überzeugung, dass Probleme der Gegenwart durch die Rückbesinnung auf den vermeintlich "wahren Ur-Islam" gelöst werden können. Anpassungen der Islamauslegung an veränderte gesellschaftliche und politische Gegebenheiten werden durch die Salafist:innen als "unislamisch" kategorisch abgelehnt und führen - so die Vorstellung - zwangsläufig zum "Unglauben". Die Ideologie des Salafismus lässt sich in eine politische und eine jihadistische Strömung unterteilen. Die gewaltorientierte jihadistische Variante ist gleichzusetzen mit dem im vorherigen Kapitel behandelten islamistischen Terrorismus. Vertreter:innen des politischen Salafismus hingegen stützen sich auf intensive Propagandatätigkeiten, um ihre extremistische Ideologie zu verbreiten sowie politischen und gesellschaftlichen Einfluss zu gewinnen. Diese Missionierungstätigkeit wird von ihnen als da'wa bezeichnet. da'wa-Arbeit da'wa bedeutet wörtlich übersetzt "Ruf" und kann als "Einladung zum Islam" verstanden werden. Einige Muslim:innen sehen es als ihre besondere Pflicht an, andere Menschen über den Islam aufzuklären und sie auf diese Weise zu bekehren. So heißt es im Koran (Sure 16, Vers 125): "Ruf [die Menschen] mit Weisheit und einer guten Ermahnung auf den Weg deines Herrn und streite mit ihnen auf eine möglichst gute Art." Nach islamischer Lehre erfolgt die Bekehrung ohne Androhung oder Anwendung von Gewalt. Insofern sind da'wa-Aktivitäten ohne extremistischen Hintergrund von der Religionsfreiheit gedeckt und für die Arbeit des Verfassungsschutzes entsprechend irrelevant. Eine fundamentalistische Religionsausübung ist nicht zwangsläufig verfassungsfeindlich. Da jedoch der politische Salafismus seiner Islaminterpretation absoluten Geltungsanspruch einräumt, stellt er eine gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtete extremistische Bestrebung dar. So lehnen Salafist:innen die Demokratie als politisches System grundsätzlich ab, da nur Gott Gesetze erlassen dürfe. Des Weiteren verletzen die in der salafistischen Rechtsauffassung vorgeschriebenen Körperstrafen für Kapitalverbrechen, die Legitimierung der körperlichen Züchtigung der Frau und die Beschränkung ihrer Freiheitsrechte sowie die fehlende Religionsfreiheit die im Grundgesetz konkretisierten Grundbzw. Menschenrechte. Salafistische Aktivitäten in Deutschland Die salafistische Szene in Deutschland war lange Zeit maßgeblich über verschiedene überregional vernetzte Vereine organisiert. Diese wurden von ausschließlich männlichen Predigern, sog. "Szenegrößen", geleitet, deren Anhängerschaft weit über die Vereine hinausging. Frauen agieren gemäß der Ideologie im Hintergrund. In den letzten Jahren hat sich die Szene intern in großen Teilen zerstritten und öffentlichkeitswirksame Aktionen gingen weitestgehend zurück. Grund hierfür war zum einen ein interner Disput über die Legitimität des sog. "Islamischen Staats" (IS) und andererseits ein gestiegener Druck durch sicherheitsbehördliche Maßnahmen. So wurden nahezu alle überregional tätigen Vereinigungen durch das BMI verboten. 2021 erfolgte durch die Senatsverwaltung für Inneres und Sport in Berlin das Verbot des Vereins "Jama'atu Berlin" alias "Tauhid Berlin". Die "Jama'atu Berlin" alias "Tauhid Berlin" richte sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und gegen den Gedanken der Völkerverständigung, so die Begründung des Verbots. Die Vereinigung strebte eine Ordnung an, in der Gott der alleinige Souverän und die salafistische Rechtsauffassung das einzig legitime Gesetz ist. Der Staat, die Bundesrepublik Deutschland und seine Vertreter wurden von der "Jama'atu Berlin" alias "Tauhid Berlin" rigoros abgelehnt und die Legitimität staatlicher Institutionen, insbesondere der Polizei und Justiz, 90 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 geleugnet. Die Vereinigung bestand aus einer Frauenund einer Männergruppe, die sich regelmäßig in Privatwohnungen und Parks zu Unterricht und Gebeten trafen. Ihre Ideologie verbreitete die Vereinigung über das Internet und bei Flyerverteilungen im öffentlichen Raum. Ebenfalls 2021 wurde durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat am 5. Mai 2021 der Verein "Ansaar International e.V.", der vordergründig Spenden sammelte, verboten. Laut der dem Verbot zugrunde liegenden Erwägungen verfolgte der Verein gegen die Strafgesetze gerichtete Zwecke und Tätigkeiten und richtete sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung sowie die verfassungsmäßige Ordnung. "Ansaar International e.V." nutzte die gesammelten Spendengelder zur Unterstützung der terroristischen Organisationen "HAMAS" und "Jabhat al-Nusra" und darüber hinaus, um aktiv salafistische Missionierung, insbesondere auch bei Kindern und Jugendlichen, zu betreiben. Insgesamt befindet sich die salafistische Szene in verschiedener Hinsicht in einer Art "Konsolidierungsphase" und sucht für sich selbst nach einer neuen Identität, neuen Führungspersonen und einer neuen Strategie. Teile der Szene scheinen sich auf verschiedenste Weise zu professionalisieren. Salafistische Geschäftstätige versuchen etwa, die Ideologie zur wirtschaftlichen Gewinnerzielung zu instrumentalisieren (z. B. durch den Verkauf von Büchern oder die Gründung von Unternehmen, die salafistisch geprägtes "islamisches Lifestyle-Coaching" anbieten). Die Verknüpfung der Ideologie mit marktwirtschaftlichen und finanziellen Interessen zeigt, dass es auch Personen gibt, die ein langfristiges - zum Teil mutmaßlich nicht primär ideologisch motiviertes - Interesse an der professionellen Verbreitung der salafistischen Ideologie haben. Vor allem über YouTube ist vermehrt eine Vermischung von Inhalten feststellbar, in denen die Vermittlung der salafistischen Ideologie nicht immer auf den ersten Blick erkennbar ist. So geht es u. a. um erfolgreiche Geschäftsführung, Familienplanung und Beratung, Reiseangebote, akademische Weiterbildung oder Tipps und Strategien zur "muslimischen" Persönlichkeitsentwicklung. Dabei existieren sowohl Angebote für Screenshot einer salafistischen Männer als auch für Frauen. Insgesamt ist das Angebot an salafistischen Inhalten im Heiratsvermittlung auf Facebook Internet deutlich angewachsen und von seiner Machart professioneller geworden. Eine Markenbildung im Kontext des salafistischen Weltbildes kann bei Produkten, Seminaren oder anderen Angeboten niederschwellig sowohl für Muslim:innen als auch für potenzielle Konvertit:innen attraktiv wirken. Dies bedeutet, dass Radikalisierung mittelfristig nicht mehr nur durch Islamseminare, Freitagspredigten oder Online-Vorträge vermittelt wird, sondern vermehrt vergleichsweise professionelle Angebote - z. B. Arabisch-Unterrichte oder Persönlichkeitsund Geschäftsberatung - als Türöffner in die Szene verwendet werden könnten. Nachdem die salafistische Szene Anfang der 2000er-Jahre insbesondere eine Protestkultur gegen die Elterngeneration darstellte, wird zunehmend das Phänomen der sog. "salafistischen Sozialisation" sichtbar. Hierbei versuchen salafistische Familien ihre Kinder im Sinne der grundgesetzwidrigen Ideologie zu erziehen. Dabei werden Angebote salafistischer Moscheen genutzt, aber auch im privaten Raum eigens hierfür produzierte Kinderbücher, Hörspiele und Apps verwendet. Die große Gefahr besteht hierbei in der Indoktrinierung von Kindern, welche einer "Angstpädagogik" ausgesetzt sind. Dabei wird ihnen vermittelt, dass ihr alltägliches Umfeld ihnen gegenüber feindlich eingestellt sei. Die Auswirkungen einer salafistischen Weltanschauung äußern sich oft im Kitaund im Schulbereich. In solchen Fällen ist zumeist eine pädagogische Lösung, gegebenenfalls unter Einbeziehung einer zivilgesellschaftlichen Beratungsstelle (Siehe Kapitel 2 "Kitab"), erforderlich. Der Verfassungsschutz steht hierbei beratend zur Seite. Insgesamt ist die salafistische Sozialisation ein Thema von gesamtgesellschaftlicher und nicht nur sicherheitsbehördlicher Tragweite. 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 91 7.2.1 Salafismus im Land Bremen Die salafistische Szene in Bremen zeichnet sich, wie in ganz Westeuropa, durch ihre Heterogenität aus. So existieren klassisch strukturierte Milieus, z. B. innerhalb eines Moscheevereins, aber auch Kleingruppen, lose Personenzusammenschlüsse und Einzelpersonen. Der Bremer salafistischen Szene gehören etwa 510 Anhänger:innen an. Der Großteil lässt sich dem gewaltfreien politischen Salafismus zurechnen. Ungefähr 30 % hängen dem jihadistischen Salafismus an, der unterschiedliche Abstufungen einer Gewaltorientierung aufweisen kann. Diese reichen von gewaltunterstützend bis hin zu gewalttätig. Im Berichtsjahr 2021 ist die Gesamtzahl der Salafist:innen in Bremen zu einem relevanten Teil gesunken. Diese Entwicklung ist auf den stetigen Ausbau bestehender Präventionsnetzwerke und die zielgruppenorientierte Durchführung von Präventionsmaßnahmen aller daran beteiligten Behörden des Landes Bremen in den letzten Jahren zurückzuführen. Ein weiterer Grund für den Rückgang sind die regional und überregional durchgeführten Vereinsverbote sowie weitere Exekutivmaßnahmen und die damit einhergehende Verringerung salafistischer Anschlussmöglichkeiten und -foren, Führungspersonen und missionarischer Aktionen. Außerdem führte der erhöhte Verfolgungsund Aufklärungsdruck der Sicherheitsbehörden zu einem sehr viel vorsichtigeren Verhalten der salafistischen Szene. Radikale Aussagen in der Öffentlichkeit sind kaum noch festzustellen. Vielmehr erfolgt verstärkt ein Rückzug in private Bereiche, wodurch zwar einerseits die Aufklärung erheblich erschwert wird, andererseits aber auch die unmittelbare und sichtbare Reichweite der Ideologieverbreitung vermindert wird, sodass die umfangreichen sicherheitsbehördlichen Bemühungen der letzten Jahre Erfolge mit sich bringen. In den letzten Jahren konnte deutschlandweit festgestellt werden, dass weibliche Personen in der salafistischen Szene an Relevanz gewinnen. In Bremen beträgt der Anteil der Frauen im gesamten salafistischen Personenpotenzial und entsprechend des bundesweiten Trends ca. 15 % und ist in den vergangenen Jahren sukzessive angestiegen. Die Frauen der salafistischen Szene sind nicht nur Ehefrau und Mutter, sondern entfalten in verschiedenen Ausprägungen eigene islamistische Bestrebungen. So ist eine nicht geringe Anzahl von Frauen in die Kriegsgebiete Syrien und Irak ausgereist, um sich dort oftmals, aber nicht ausschließlich, gemeinsam mit Mann und Kindern dem sog. "IS" anzuschließen. Sie unterstützten ihre Ehemänner vor Ort und förderten damit den Erhalt des "IS" in dieser Region. Frauen sind auch im gewaltfreien politischen Salafismus aktiv, indem sie regelmäßige Treffen mit anderen Muslimas veranstalten, die zur Stärkung der bestehenden islamistischen Ideologie und für die weitere Radikalisierung und Vernetzung genutzt werden. Frauen spielen außerdem aufgrund der ihnen im Salafismus im besonderen Maße zugeschriebenen Verantwortung für die Erziehung eine besondere Rolle bei der Indoktrinierung und Radikalisierung von Kindern. So kam es in der Vergangenheit wiederholt vor, dass Frauen ihre Kinder bewusst und gezielt den erheblichen Gefahren und Traumatisierungen in umkämpften Gebieten aussetzten (s.o. "Bremer Ausreisen nach Syrien und Irak"). Die damit einhergehenden Gefährdungen des Kindeswohls sind offensichtlich. Salafistische Frauen halten sich hauptsächlich im häuslichen Umfeld auf, sodass sie ihre Kontakte zu anderen Frauen der Szene primär über das Internet und Social-MediaPlattformen aufbauen und pflegen. Dadurch entsteht ein weit verzweigtes, in Teilen überregionales, digitales Netzwerk, das u. a. regelmäßig zum Sammeln von Spenden genutzt wird. Durch diese Spendensammlungen werden häufig salafistische und jihadistische Organisationen und Einzelpersonen unterstützt, wobei die gute bundesweite und teils internationale Vernetzung besonders auch in der weiblichen salafistischen Szene auffällig ist. 92 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Analog zu den Entwicklungen im Bundesgebiet ist festzustellen, dass auch Bremer Akteur:innen der salafistischen Szene verstärkt im Internet agieren. Social-MediaPlattformen und Messenger-Dienste dienen neben der klassischen Kommunikation auch der Verbreitung salafistischer Inhalte sowie dem Werben neuer Anhänger:innen. In Teilen ersetzt die digitale Vernetzung realweltliche Kennverhältnisse vollständig. Salafistische Prediger erreichen über einen Onlinestream ihrer Predigt einen viel größeren und auch grenzüberschreitenden Adressatenkreis. Wie schon im Vorjahr haben salafistische Protagonist:innen in Bremen ihre Onlineaktivitäten weiterhin massiv ausgebaut. Dies ist zum einen auf die Beschränkungen bedingt durch die Corona-Pandemie zurückzuführen, jedoch wird auch davon ausgegangen, dass die Verantwortlichen die Vorteile der digitalen Kommunikation durch die Erfahrungen in der Pandemie besonders zu schätzen wissen und dementsprechend auch weiter ausbauen und nutzen. Die Möglichkeit, anonym zu bleiben und verschlüsselt kommunizieren zu können, ist aus Sicht der konspirativ agierenden salafistischen User erfreulich, stellt das LfV Bremen jedoch vor erhebliche Herausforderungen. Die Beobachtung salafistischer Bestrebungen im Internet wird weiterhin einen Arbeitsschwerpunkt darstellen. 7.2.2 "Islamisches Kulturzentrum Bremen e.V." (IKZ) Der salafistische Moscheeverein "Islamisches Kulturzentrum Bremen e.V." (IKZ) ist seit seiner Gründung im Jahr 2001 Anlaufstelle für Personen sowohl der salafistischen Szene in Bremen als auch aus dem gesamten Bundesgebiet. Das wöchentlich stattfindende Freitagsgebet wird in der Regel von 400 bis 500 Besucher:innen aufgesucht. Trotz der pandemiebedingten Beschränkungen im Jahr 2021 lag die Besucher:innenanzahl selten darunter. Um pandemiebedingten Vorgaben zu genügen, hat das IKZ im Laufe des Jahres 2021 noch weitere Räumlichkeiten in dem Gebäude angemietet, sodass bei beständiger Besucherzahl Abstandsregeln eingehalten werden konnten. Die hauptsächlich männlichen Besucher weisen nahezu alle Migrationsbiografien auf und stammen größtenteils aus Nordafrika, der Türkei und vom Balkan. In den Vorträgen der durch den Vorstand des "IKZ" eingesetzten Prediger wird weiterhin regelmäßig die salafistische Ausrichtung des Vereins deutlich. Sie richten sich in Teilen gegen zentrale Verfassungsgrundsätze und rufen zu einer bewussten Abund Ausgrenzung gegenüber Nichtmuslim:innen auf. Dies kann auf die Zuhörenden desintegrativ wirken und ggf. bestehende Vorbehalte gegen die Mehrheitsgesellschaft Flyer eines Vortrags im IKZ vergrößern. Auch werden Inhalte grundsätzlich nicht zur Diskussion gestellt, sondern mit einem absoluten Geltungsanspruch vermittelt. Jede alternative Deutung wird als irregeleitet verworfen und somit andersdenkenden Muslim:innen zumindest implizit Unglauben unterstellt, was dem Muster der salafistischen Ideologie entspricht. Aufgrund der Corona-Pandemie weitete das "IKZ" seinen Online-Auftritt weiter aus. Der überwiegende Teil der Freitagspredigten wurde live auf der Facebookbzw. Instagramseite des Vereins übertragen. Damit erreichte das "IKZ" einen noch größeren und nicht nur auf Bremen beschränkten Adressatenkreis. In den Predigten waren, neben gemäßigten religiösen, regelmäßig auch verfassungsfeindliche Inhalte festzustellen. Hierzu gehört die Propagierung der Ungleichwertigkeit von Gläubigen und sog. "Ungläubigen", die Verbreitung antisemitischer Inhalte sowie eine Ablehnung der westlichen Rechtsund Werteordnung. Zudem konnten in einigen Bittgebeten abstrakte Sympathien für islamistisch-militante Gruppierungen sowie die Verherrlichung des Märtyrertums festgestellt werden. Darüber hinaus wurde auch eine Abgrenzung nach Innen (zu liberalen, nicht salafistischen Muslimen) propagiert, wodurch der fundamentalistische Charakter des Salafismus zum Ausdruck gebracht wird. Nur diejenigen, die den Vorgaben des Islamverständnisses des "IKZ" folgen, können nach Auffassung des Vorbeters als Muslime erachtet werden. 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 93 Das "IKZ" führte aufwendige Veranstaltungsreihen in Form von Islam-Seminaren mit regelmäßig wechselnden und u. a. überregionalen Dozenten zu unterschiedlichen religiösen Themen durch. Das "IKZ" beabsichtigt damit, nicht nur das Interesse lokaler, sondern auch auswärtiger Salafist:innen zu wecken, um hierdurch mehr Einfluss auf die bundesweite salafistische Szene sowie den dortigen Diskurs nehmen zu können. Die Vorträge wurden jeweils in arabischer und deutscher Sprache in den Räumlichkeiten des "IKZ" gehalten und zusätzlich auf den Social-Media-Profilen des Vereins zur Verfügung gestellt. Auch wenn diese hauptsächlich religiöser Natur waren, kann durch die Auswahl der eingeladenen Prediger, bei denen es sich mehrheitlich um prominente Akteure der salafistischen Szene handelte, weiterhin die verfassungsfeindliche Orientierung des "IKZ" abgeleitet werden. Ein Gastdozent beispielsweise, der zu den "Fünf Säulen des Islams" referierte, befürwortete in seiner Rezitation einer Prophetenüberlieferung die Anwendung von Gewalt gegenüber Kindern. Seiner Auslegung nach soll der Prophet Mohammed gesagt haben, dass Kinder mit sieben Jahren das Gebet erlernen müssten. Sollten sie es trotzdem im Alter von zehn Jahren noch nicht verrichten können, sei es legitim, die Kinder körperlich zu maßregeln. Hieran wird beispielhaft deutlich, dass das "IKZ" Gewalt gegenüber Kindern nicht nur duldet, sondern auch aktiv propagiert, indem es derartige Auslegungen billigt und verbreitet. Das "IKZ" betreibt in seinen Räumlichkeiten am Breitenweg in Bremen eine hauseigene Bibliothek, die neben arabischsprachiger Literatur auch über eine große Auswahl an deutschsprachigen Büchern verfügt. Es handelt sich u. a. um salafistische Schriften oder Literatur salafistischer Autoren bzw. Verlage aus dem Inund Ausland. Die Bereitstellung solcher Bücher gehört zum da'wa-Konzept des "IKZ" und dient dazu, die salafistische Ideologie weiterzuverbreiten. Während des muslimischen Fastenmonats Ramadan konnte das "IKZ" im April und Mai 2021 aufgrund der Corona-Pandemie kein Fastenbrechen anbieten. Dennoch bemühte sich der Verein um Kontaktpflege zu seinen Besuchern. Neben regelmäßigen Vorträgen online und vor Ort wurden zudem Lebensmittelpakete zum Abholen ausgegeben. Wie auch in den letzten Jahren bot das "IKZ" im Berichtszeitraum Islamunterricht für Männer, Frauen und Kinder unter Beachtung der Geschlechtersegregation an. Die Nachfrage hiernach ist weiterhin hoch und damit besorgniserregend im Hinblick auf die Gefahr der extremistischen Beeinflussung der Teilnehmenden, die von ebendiesem Unterricht ausgeht. 7.3 Legalistischer Islamismus Legalistische Organisationen verfolgen ihr Ziel einer mittelbis langfristigen Beseitigung des in Deutschland auf der freiheitlich-demokratischen Grundordnung beruhenden gesellschaftlichen und politischen Systems vordergründig im Rahmen der geltenden Gesetze. Sie bieten sich als Ansprechpersonen für Behörden, die Politik und zivilgesellschaftliche Einrichtungen an und versuchen, deren Einschätzungen und Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen, um so relevante Fürsprecher und Unterstützer zu gewinnen. Sie inszenieren sich als dialogbereit und distanzieren sich von der jihadistischen Gewalt. Ohne das entsprechende Hintergrundwissen ist es deshalb, nicht zuletzt für auf kommunaler und Stadtteilebene tätige Akteur:innen, äußerst schwierig, die tatsächlichen Absichten dieser Organisationen zu identifizieren. Das LfV Bremen steht daher als Ansprechpartner für staatliche und nicht-staatliche Stellen bereit, um bei entsprechenden Einschätzungen hinsichtlich der möglichen extremistischen Ausrichtung einer Organisation oder Gruppe zu unterstützen. 94 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 7.3.1 Muslimbruderschaft Bei der Muslimbruderschaft handelt es sich um die älteste und bekannteste Organisation des legalistischen Islamismus. Sie wurde 1928 in Ägypten gegründet und ist seitdem in viele weitere Länder der muslimischen Welt expandiert. Sie strebt auf politischem Weg ein Staatssystem islamistischer Natur an, in dem elementare Grundrechte nicht mehr gewährleistet werden. Auch wenn ihr in Teilen der Wissenschaft ein pragmatisches Politikverständnis und die Fähigkeit zum ideologischen Wandel nicht abgesprochen wird, so zeigen Analysen von Aussagen und Publikationen ihrer führenden Vertreter:innen und Institutionen, dass das Religionsverständnis der Muslimbruderschaft nach wie vor erwiesenermaßen extremistisch ist. Insbesondere Frauen und religiösen Minderheiten wären in einem Staat nach den Vorstellungen der Muslimbruderschaft nicht gleichberechtigt. Zudem wäre das Recht auf freie Meinungsäußerung und die sog. negative Religionsfreiheit, d. h. das Recht, einem religiösen Bekenntnis nicht zu folgen, stark eingeschränkt. Auch würde das Recht auf körperliche Unversehrtheit Logo der Muslimbruderschaft aufgrund von der mittelfristigen Einführung von Körperstrafen verletzt. In Europa tritt die Muslimbruderschaft nicht offen auf und verfolgt auch weniger stark ausgeprägt das Ziel der Errichtung eines islamischen Staates. Vielmehr steht die Beeinflussung muslimischer Bevölkerungsgruppen in ihrem Sinne im Vordergrund der Bemühungen. Darüber hinaus versucht die Muslimbruderschaft sich als Interessenvertreterin für die Belange der Muslim:innen zu inszenieren. Hierfür nutzt sie verschiedene Organisationen, wie z. B. "Council of European Muslims" (ehemals "Federation of Islamic Organizations in Europe"), die nach außen jede Verbindung zur Muslimbruderschaft leugnen. In Deutschland gibt es zahlreiche Vereine, die der Muslimbruderschaft zugerechnet werden. Die bekannteste Organisation auf Bundesebene ist die "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e.V.", DMG, (ehemals "Islamische Gemeinschaft in Deutschland"). Sie hat 2019 Klage gegen das BMI aufgrund ihrer Erwähnung im Verfassungsschutzbericht des Bundes erhoben und dabei jede Verbindung zur Muslimbruderschaft abgestritten. Nachdem durch die Klageerwiderung des BMI deutlich wurde, dass das Verfahren keine Aussicht auf Erfolg haben dürfte, hat die DMG die Klage 2021 zurückgenommen. Insgesamt werden der Muslimbruderschaft in Deutschland derzeit 1450 Personen zugerechnet. Aktivitäten von Sympathisant:innen der Muslimbruderschaft in Bremen Im Bundesland Bremen konnten bisher Einzelpersonen festgestellt werden, die mit der Muslimbruderschaft sympathisieren. Es handelt sich bei diesen Personen zu einem überwiegenden Teil um vermeintlich gut integrierte Akademiker mit gefestigten bürgerlichen Lebensentwürfen. Dies passt zu der Geschichte der Organisation, deren Führungspersonen oftmals der gebildeten Mittelschicht entstammten. Das ist insofern bedeutsam, da es zur Strategie der Muslimbruderschaft gehört, sich über angesehene Berufsgruppen Zugang zu gesellschaftlichen Schlüsselpositionen zu verschaffen und darüber Einfluss zu nehmen. Außerdem erreicht die im Vergleich zum Salafismus tendenziell intellektuell forderndere Ideologie der Muslimbruderschaft einen eher gebildeteren Personenkreis und ermöglicht damit ein subtileres Vordringen in muslimische bzw. nichtmuslimische Bereiche der westlichen Gesellschaft. Zwischen den Bremer Anhänger:innen der Muslimbruderschaft bestehen teilweise Kennverhältnisse, es kann jedoch nicht von einer zusammenhängenden Gruppe gesprochen werden, die sich einer Moschee in Bremen zuordnen lässt. Darüber hinaus existieren Bezüge in das Bremer bzw. Bremerhavener Umland, d. h. die Sympathisant:innen der Muslimbruderschaft agieren über die Landesgrenzen Bremens hinaus und vernetzen sich. Zusätzlich belegen Recherchen in den sozialen Medien, dass sich die Bremer Sympathisant:innen der Muslimbruderschaft oft auch für salafistische Inhalte interessieren. Teilweise besuchen sie sogar salafistische Vereine wie etwa das "IKZ". 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 95 7.3.2 "Hizb ut-Tahrir" Die "Hizb ut-Tahrir" (HuT - "Partei der Befreiung") wurde 1953 durch den palästinensischen Islamgelehrten Taqi ad-Din al-Nabhani gegründet. Sie ist eine islamistische Organisation, die länderübergreifend agiert. Die "HuT" versteht den Islam als politisches System und wirbt für die Herstellung eines weltumspannenden Kalifats. Die Vorstellung der "HuT" eines solchen Systems ist mit den Werten einer modernen Demokratie unvereinbar. Die "HuT" selbst bezeichnet die Demokratie offen als "System des Unglaubens" und Wahlen als nicht mit dem Islam vereinbar. Sie vertritt somit klassisch-islamistische Positionen. Das BMI hat die "HuT" 2003 u. a. aufgrund der Befürwortung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Belange sowie mit Blick auf ihren ausgeprägten Antisemitismus aufgrund des Verstoßes gegen den Gedanken der Völkerverständigung verboten. Die "HuT" ist dennoch ständig bestrebt, neue Mitglieder zu werben. In Deutschland bildeten sich auf Social-Media-Plattformen Gruppierungen, die eine ideologische Nähe Logo der Hizb ut-Tahrir zur "HuT" aufweisen und durch öffentlichkeitswirksame Aktionen auffallen. Diese versuchen über verschiedene Veranstaltungen Interessierte gezielt anzusprechen und durch den Aufbau freundschaftlicher Beziehungen potenzielle Sympathisant:innen sukzessive an die Ideologie heranzuführen. Diese Aktivitäten beziehen sich sehr häufig zunächst auf religiöse und weltanschauliche Inhalte, um so den Extremismusbezug zu verschleiern. Die bisherigen Rekrutierungsbemühungen führten zuletzt zu einem starken Anstieg der bundesweiten Mitgliederzahlen auf ca. 700 Personen. Aktivitäten von Sympathisant:innen der Hizb ut-Tahrir in Bremen In Bremen konnte im Sommer 2021 eine Flyerverteilaktion der Gruppierung "Muslim Interaktiv" festgestellt werden, die eine ideologische Nähe zur "HuT" aufweist. "Muslim Interaktiv" wurde im Jahr 2020 gegründet und ist hauptsächlich in verschiedenen Social-Media-Netzwerken aktiv. Die Flyerverteilung fiel in den zeitlichen Kontext der Proteste im Zuge des NahostKonfliktes im Mai 2021, den verschiedene islamistische Gruppen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren versuchten. Das Flyer-Design war identisch mit Plakaten, die bei einer Demonstration von "Muslim Interaktiv" eine Woche zuvor in Hamburg aufgestellt worden waren. Dieser Vorfall ist nur ein Beispiel und verdeutlicht die Bemühungen, welche von Anhänger:innen der "HuT" ausgehen, auch in Bremen für die Organisation und deren Flyer der Gruppierung Vorstellungen zu werben. Für junge Muslim:innen kann es schwer sein zu erkennen, "Muslim Interaktiv" dass es sich um eine islamistische Organisation handelt, da sich diese teilweise auch Themen bedient, die den muslimischen Mainstream betreffen und keinen Extremismusbezug aufweisen. Diese Themenwahl erfolgt systematisch und gezielt zu dem Zweck, Personen zunächst einen unverdächtigen Anlass zur Anbindung an die Organisation zu verschaffen. So werden beispielsweise islamkritische politische Stellungsnahmen benutzt, um sie für die eigene Propaganda zu instrumentalisieren. Verpackt werden solche Inhalte in professionell produzierten Videos, die für junge Menschen besonders ansprechend sind. Die Nähe zur extremistischen "HuT" ergibt sich jedoch über Personenzusammenhänge sowie dem Sprachgebrauch, welcher Parallelen zu weiteren, der "HuT" ideologisch nahestehenden Organisationen, wie "Generation Islam" oder "Realität Islam", aufweist. 96 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 7.3.3 Saadet Partisi (SP) Die "Saadet Partisi" (SP, "Partei der Glückseligkeit") bildet in der Türkei den politischen Ableger der islamistischen "Milli Görüs"-Bewegung, welche auf die Ideologie des türkischen Politikers Necmettin Erbakan zurückgeht. Die SP unterhält im Ausland Vertretungen, u. a. auch in Deutschland. Die Europazentrale ist in Köln angesiedelt. In Bremen stellt der "Saadet Bremen e.V." die hiesige Zweigstelle dar. Ihr sind in etwa 40 Mitglieder zuzurechnen. Die Anhänger:innen beziehen sich in ihren öffentlichen Verlautbarungen regelmäßig auf die Weltanschauung des Necmettin Erbakan oder teilen in den sozialen Medien Beiträge des aktuellen Vorsitzenden der "SP", Temel Karamollaoglu. Im Wesentlichen wird menschengemachte, weltliche Gesetzgebung abgelehnt und die Notwendigkeit einer auf islamischen Grundsätzen und göttlicher Offenbarung basierenden "Gerechten Ordnung" betont, was wesentlichen Aspekten des Demokratieund Rechtsstaatsprinzips widerspricht. Die Durchsetzung dieses Ziels solle gemäß Logo der Saadet Partisi Erbakan stets mit einer milli görüs ("Nationalen Sicht") vorangetrieben werden. Aktivitäten von Sympathisant:innen der "SP" in Bremen In Bremen finden regelmäßig Sitzungen der Mitglieder statt. Nachdem im vergangenen Jahr diverse Veranstaltungen coronabedingt in digitaler Form abgehalten wurden, fanden zuletzt wieder Präsenzveranstaltungen in Bremen, aber auch überregionale Netzwerktreffen statt. Die Bremer SP unterhält diverse Social-Media-Accounts, welche sich zusätzlich in Jugendund Frauenbereiche unterteilen. Im Kontext von Parlamentswahlen in der Türkei betreiben hiesige SP-Vertreter:innen regelmäßig Werbung für die Partei unter den hier lebenden Wahlberechtigten. Im April 2021 gedachte die Bremer SP auf ihren Social-Media-Kanälen dem verstorbenen Gründer der rechtsextremen türkischen "Milliyetci Hareket Partisi" (MHP) Alparslan Türkes (siehe Kapitel 8.2 "Ülkücü-Bewegung"). In Bezug auf den sich im Mai 2021 verschärfenden Nahost-Konflikt wurden auf den Social-Media-Kanälen der Partei einseitige israelkritische Posts veröffentlicht. Vonseiten einzelner Anhänger:innen wurde die Grenze zu israelbezogenem Antisemitismus oftmals überschritten. 7.4 Schiitischer Islamismus Die bisher dargestellten Organisationen und Strömungen sind dem sunnitisch-islamistischen Spektrum zuzuordnen. Jedoch existieren auch im schiitischen Islam verschiedene islamistische Gruppierungen. Viele, jedoch nicht alle, orientieren sich dabei an der islamischen Republik Iran, die durch eine islamistisch-theokratische Staatsform gekennzeichnet ist. Andere wiederum agieren eigenständig und vor allem in einem nationalen Kontext. Auch im schiitischen Islamismus gilt es zwischen gewaltorientierten und legalistischen Strömungen zu unterscheiden. 7.4.1 "Hizb Allah" Die "Hizb Allah" ("Partei Gottes") ist eine libanesische Organisation, die im Jahr 1982 hauptsächlich auf Initiative des Iran nach dem Einmarsch israelischer Truppen in den Libanon gegründet wurde. Seither wird die islamistisch-schiitische Organisation vom iranischen Regime sowohl in finanzieller als auch in materieller Hinsicht unterstützt. Auch ideologisch stellt der "revolutionäre Iran" ein Vorbild für die "Hizb Allah" dar. So war es bis in die 1990er-Jahre das primäre Ziel der "Hizb Allah", eine "islamische Revolution" im Libanon auszulösen, um dadurch einen schiitischen Gottesstaat zu errichten. Aufgrund der politischen Entwicklungen verlor dieses Ziel jedoch an Relevanz. Stattdessen stehen nunmehr der Schutz des libanesischen Territoriums vor israe- 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 97 lischen Militäraktionen und die Zerstörung des Staates Israel, dem die "Hizb Allah" das Existenzrecht abspricht, im Vordergrund. Da sich Israel und Libanon offiziell im Kriegszustand befinden, kam es auch im Jahr 2021 zu Spannungen an der Grenze der Nachbarstaaten. Im Mai erfolgte ein Raketenangriff aus dem Libanon auf Israel, im Juli meldete die israelische Armee, dass sie mit zwei Raketen aus dem Libanon beschossen wurde und reagierte daraufhin mit Artilleriefeuer. Auch im August flog Israel mit Kampfflugzeugen Angriffe auf den Libanon, nachdem erneut Raketen aus dem Libanon israelisches Gebiet trafen. Die "Hizb Allah" verfügt im Libanon über eine Partei, die über eine Fraktion im libanesischen Parlament vertreten und an der Regierung beteiligt ist. Eine seit mittlerweile zwei Jahren vorherrschenden Wirtschaftsund Finanzkrise, bedingt u. a. durch Korruption des politischen Systems, Misswirtschaft sowie hohe Schulden des Landes, führte dazu, dass die libanesische Lira mehr als 90 % ihres Werts verlor und die Inflationsrate bei mehr als 100 % lag. Laut Angaben der UN leben 78 % der libanesischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Hungersnöte, die Folgen der Corona-Pandemie und die folgenschwere Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut im August 2020 setzten die libanesische Regierung zusätzlich unter Druck. Der damalige MinisFlagge der "Hizb Allah" terpräsident Hassan Diab trat aufgrund der Explosion und ihren Folgen zurück und war bis September 2021 nur geschäftsführend im Amt, da sich die politischen Parteien lange nicht auf eine neue Regierung einigen konnten. Im Juli 2021 ersuchte Diab die internationale Gemeinschaft um Hilfe. Westliche Staaten, darunter Deutschland, sowie der Internationale Währungsfonds (IWF) versprachen allerdings nur dann finanzielle Unterstützung, wenn umfassende Reformen vorgenommen würden. Am 10. September übernahmen der neue Ministerpräsident Mikati und dessen Kabinett die Amtsgeschäfte. Daraufhin sagte die internationale Gemeinschaft dem Libanon mehrere hundert Millionen Euro als Unterstützung unter der Bedingung zu, dass die neue Regierung notwendige Reformen tatsächlich umsetzen werde. Wie angespannt die Lage im Land seit der Explosion im Beiruter Hafen ist, zeigte ein Vorfall im Oktober 2021. Dabei eskalierte in Beirut ein Aufmarsch der "Hizb Allah" und ihrer Verbündeten vor dem im christlichen Viertel gelegenen Justizpalast. Dort untersucht der aus Sicht der "Hizb Allah" kritisch gesehene, christliche Ermittlungsrichter Tarek Bitar, die Ursachen der folgenschweren Explosion im Beiruter Hafen. Bitar bezog in seine Ermittlungen auch die mögliche Verantwortung der "Hizb Allah" für die Katastrophe mit ein. Daraufhin forderte die "Hizb Allah" wegen vermeintlich mangelnder Neutralität die Absetzung des Ermittlungsrichters. Bereits dem vorherigen Richter war der Fall entzogen worden, nachdem er Ex-Minister beschuldigte, Verantwortung an der Explosionskatastrophe zu tragen. Während des Aufmarschs kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen, bei denen sechs Menschen starben. Das libanesische Militär war vor Ort, griff allerdings nicht ein. Aktivitäten von Sympathisanten der "Hizb Allah" in Deutschland und Bremen Das primäre Ziel der "Hizb Allah" in Deutschland ist es, Organisationsstrukturen aufzubauen und diese nachhaltig zu etablieren. Zu den besagten Strukturen gehören eigene Moscheevereine, in denen sich ihre Anhängerschaft vorwiegend organisiert. Bundesweit verfügt die Organisation über etwa 1.250 Anhänger:innen. Entgegen der Situation im Libanon beschränken sich die Aktivitäten der "Hizb Allah" in Deutschland vor allem auf die Organisation von bzw. Teilnahme an religiösen Veranstaltungen, Spendensammlungen sowie Demonstrationen. Die deutschen Sicherheitsbehörden gehen weiterhin entschlossen gegen alle Strukturen der Terrororganisation vor. So verkündete das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat am 30. April 2020 ein Betätigungsverbot für die "Hizb Allah". Die 98 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Tätigkeiten der "Hizb Allah" laufen demnach den Strafgesetzen zuwider und richten sich zusätzlich gegen den Gedanken der Völkerverständigung, unabhängig davon, ob sie im Einzelfall als politische, karitative oder terroristische Struktur in Erscheinung tritt. Die schiitische Terrororganisation verfolgt klar antisemitische Ziele, indem sie offen zur gewaltsamen Vernichtung des Staates Israel aufruft, dessen Existenzrecht sie negiert. Durch das Inkrafttreten des Betätigungsverbots ist es untersagt, die Kennzeichen der "Hizb Allah" öffentlich, bei Veranstaltungen oder aber in Schriftsowie Tonund Bildträgern vorzuführen bzw. zu nutzen. Am 19. Mai 2021 verkündete das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat des Weiteren das Verbot der Spendenvereine "Gib Frieden e.V.", "Menschen für Menschen e.V." sowie "Deutsche Libanesische Familie e.V.", da es sich bei den Vereinen um Nachfolgeorganisationen des bereits 2014 verbotenen "Waisenkinderprojekt Libanon e.V."/ "Farben für Waisenkinder e.V." handelt. Am selben Tag wurden Durchsuchungen in insgesamt sieben Bundesländern durchgeführt, darunter auch in Wohnungen von Vereinsfunktionären in Bremen sowie im Bremer Umland. Bei den meisten Funktionär:innen handelte es sich um Personen, die bereits beim "WaisenLogo "Gib Frieden e.V." kinderprojekt Libanon e.V." aktiv waren. Unter dem Vorwand, die gesammelten Spenden würden religiösen und humanitären Zwecken dienen, ging das Geld stattdessen nach den Darlegungen in den Verbotsverfügungen an die sog. "Shahid-Stiftung" der "Hizb Allah" im Libanon. Diese unterstützt systematisch Familien von im Kampf, hauptsächliche gegen Israel, gefallenen "Hizb Allah"-Kämpfern. Die Gewissheit, dass die Angehörigen der Hinterbliebenen finanziell abgesichert sind, kann "Hizb Allah"-Anhänger motivieren, ebenfalls für die Terrororganisation zu kämpfen und dient insgesamt dem Ziel der "Hizb Allah", den Staat Israel zu vernichten. Daraus folgt, dass der Zweck der Spendenvereine gegen den Gedanken der Völkerverständigung verstößt. Die Spenden wurden mithilfe von Bezahlsystemen wie beispielsweise "PayPal", "Western Union" und Bargeldübergaben übermittelt. Zusätzlich vermittelten die Vereine in Deutschland Patenschaften Logo "Menschen für Menschen e.V." für Waisenkinder, um weiteres Geld zu generieren. Die alljährlich stattfindende israelfeindliche Demonstration anlässlich des al-QudsTages in Berlin wurde, wie bereits im Jahr 2020, coronabedingt abgesagt. Dennoch organisierte, ebenfalls wie im Vorjahr, ein norddeutsches Netzwerk schiitischer Islamist:innen und "Hizb Allah"-Sympathisanten am 8. Mai 2021 eine Online-Veranstaltung, an der sich diverse Akteur:innen aus dem Bundesgebiet mit Videobeiträgen beteiligten. In verschiedenen Städten Deutschlands fanden zudem Mahnwachen und andere Aktionen statt, die in die Online-Veranstaltung via Liveschaltungen integriert wurden. Auch in Bremen fand unter dem Motto "PALÄSTINA - Niemals vergessen!" ein Autokorso statt, der auf dem Messegelände startete und durch die Bremer Innenstadt führte. An dem Autokorso nahmen u. a. bekannte Akteur:innen des schiitischislamistischen Spektrums teil. Logo "Deutsche Libanesische Es konnte festgestellt werden, dass die Beteiligten während der Online-Veranstaltung Familie e.V." Israel wiederholt Apartheid unterstellten, Verschwörungsmythen streuten und ein vermeintlich überzogenes Aufbauschen des Themas Antisemitismus propagierten. Es bestätigte sich ein weiteres Mal, dass im Umfeld der Teilnehmenden der al-QudsDemonstrationen anti-israelische und antisemitische Haltungen verbreitet sowie gebilligt werden, wodurch das in der Szene weit verbreitete Feindbild des "Apartheidregimes" Israel weiter geschürt wird. Auffällig an der Veranstaltung war, dass zahlreiche Kinder in den Ablauf integriert wurden. Die Tatsache, dass Kinder in jungen Jahren von Personen des schiitischen Islamismus und "Hizb Allah"-Sympathisant:innen für ihre Zwecke missbraucht werden, zeigt, dass die Szene bestrebt ist, frühzeitig den Nährboden für eine schiitisch-islamistische Radikalisierung zu bereiten und auch Kinder frühzeitig zu binden. 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 99 Die ca. 50 Anhänger:innen der "Hizb Allah" in Bremen sind in dem Verein "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." organisiert. Dieser arabisch-schiitische Kulturverein fungiert als Anlaufstelle für schiitische Muslim:innen in Bremen, insbesondere aus dem Libanon. Der "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." ist bereits seit dem Auftreten des verbotenen Spendenvereins "Waisenkinderprojekt Libanon e.V." in die finanzielle Unterstützung zugunsten der "Hizb Allah" verwickelt. Der Zweck dieses Vereins bestand in erster Linie in der finanziellen Unterstützung der Angehörigen von im Kampf gefallenen "Hizb Allah"-Kämpfern. Zusätzlich ist bekannt, dass auf Veranstaltungen innerhalb der Vereinsräumlichkeiten regelmäßig Geistliche aus dem Libanon mit Redebeiträgen und Gebeten auftreten. Jene religiösen Gelehrten weisen in Teilen Bezüge zur "Hizb Allah" auf. Im Rahmen des oben erwähnten Betätigungsverbotes der "Hizb Allah", durchsuchte die Polizei auch die Vereinsräumlichkeiten des "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." sowie die Privatwohnungen der Vereinsvorsitzenden. Der Vorstand des Vereins bestritt im Nachgang der Durchsuchungen in schriftlichen Stellungnahmen u. a. die Anschuldigung, dass der "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." aufgrund von finanzieller sowie propagandistischer Unterstützung der "Hizb Allah" Teil der verbotenen Organisation sein könnte. Logo "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." Der "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." bietet in der Regel seinen Besucher:innen verschiedene Treffen, Diskussionsveranstaltungen oder gemeinsame religiöse Aktivitäten an. Dies gestaltete sich im Jahr 2021, wie bereits im Vorjahr, aufgrund der vorherrschenden pandemischen Lage schwierig. Der Großteil der Veranstaltungen wurde online abgehalten. Jedoch konnte ein Anstieg von Präsenzveranstaltungen in der zweiten Jahreshälfte verzeichnet werden. Auch das für die Schiit:innen wichtigste religiöse Aschura-Fest anlässlich des Märtyrertodes von Imam Hussain sowie das Fastenbrechen fanden, mit gewissen Einschränkungen, in Präsenz statt. Hervorzuheben ist eine Veranstaltung am 10. Oktober 2021, bei der ein hochrangiger Vertreter des "Islamisches Zentrums Hamburg e.V." (IZH) in dem Bremer Verein als Redner in Erscheinung trat. Es liegen Erkenntnisse vor, dass es sich beim "IZH" sowohl in ideologischer, organisatorischer als auch personeller Hinsicht um einen Außenposten des iranischen Regimes handelt. Insgesamt ist das "IZH" als eine islamistische Bestrebung zu bewerten, die sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet. Gleichzeitig werden dessen Funktionäre als Redner in den "Al-Mustafa Gemeinschaft e.V." geladen und so in die Lage versetzt, ihre Ideologie mit Billigung der Bremer Verantwortlichen auch hier weiterzuverbreiten. 7.4.2 Sonstiger schiitischer Islamismus Neben der "Hizb Allah" beobachtet das Landesamt für Verfassungsschutz Bremen noch andere Bestrebungen im Bereich des schiitischen Islamismus. Dieser stammt ursprünglich aus dem Iran, wo es 1978 und 1979 zu einer Revolution und dadurch zur Etablierung der bis heute bestehenden Islamischen Republik kam. Das politische System Irans besteht einerseits aus gewählten Gremien sowie einem Parlament und weist andererseits eine theokratische Ordnung auf. Jene Ordnung sieht vor, dass der Staat sich auf Gott gegebene Gesetze und somit einzig auf seinen vermeintlichen Willen beruft. Während der Präsident Ebrahim Raisi als Repräsentant der Republik gilt und sich gleichzeitig vor dem Volk verantworten muss, wird der oberste Religionsgelehrte Ayatollah Ali Khamenei als Vertreter des zwölften Imams, der als Mahdi (MessiasGestalt) am Ende der Zeiten zurückkehren soll, angesehen. Diese herausragende Stellung Khameneis erlaubt es ihm, über die Richtlinien in grundlegenden politischen Entscheidungen zu bestimmen. Dieses Prinzip namens velayate faqih ("Herrschaft der Rechtsgelehrten") führte der Gründer der Islamischen Republik, Ayatollah Ruhollah 100 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Khomeini ein und gewährleistet damals wie heute die absolute Herrschaft des Klerus im Iran. Ein theokratisches System ist grundsätzlich nicht mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vereinbar. Der Iran strebt eine Islamisierung der westlichen Nationen, auch "Export der islamischen Revolution" genannt, an und verfolgt dabei eine antiisraelische und generell antiwestliche ausgerichtete Politik. Deutschlandweite Aktivitäten von Anhängern des iranischen Regimes Die iranische Staatsdoktrin erhebt für sich einen Absolutheitsanspruch, der keinen Raum für andere bzw. liberale Wertesysteme lässt. Die Propaganda ist darauf ausgerichtet, in Deutschland lebende schiitische Muslim:innen auf die verfassungsfeindlichen islamistischen Rechtsnormen zu verpflichten, und widerspricht somit den Grundpfeilern der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Daher werden extremistische Bestrebungen von Anhänger:innen des iranischen Regimes vom Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der Fall des Iraner Assadollah A., der als Diplomat an der Botschaft in Wien tätig war. Er plante mit drei weiteren Tatverdächtigen einen Sprengstoffanschlag auf eine Großkundgebung der iranischen Oppositionsorganisation "Nationale Widerstandsrat Iran" (NWRI) in Frankreich. Der im November 2020 begonnene Prozess in Antwerpen gegen Assadollah A. führte am 4. Februar 2021 zu einer inzwischen rechtskräftigen Verurteilung zu 20 Jahren Freiheitsstrafe u. a. wegen versuchten Mordes und der Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Assadollah A. Mitarbeiter des iranischen Geheimdienstes Ministerium für Nachrichtenwesen (MOIS) war und es daher möglich ist, dass der Anschlagsplan auf Anweisung des iranischen Regimes erfolgte. Anhänger des iranischen Regimes in Bremen und Umgebung Ein norddeutsches schiitisch-islamistisches Netzwerk mit Bezügen nach Bremen steht ebenfalls im Fokus der Verfassungsschutzbehörden. Es verfolgt das Ziel, die Ideologie des iranischen Regimes zu verbreiten und dabei Hass auf die vermeintlichen Feinde jenes Regimes, insbesondere Israel sowie den Westen im Allgemeinen, zu schüren. Die Darstellungen der Islamist:innen zielen auf die Etablierung klassischer Feindbilder wie "des zionistischen Regimes" Israel, die USA oder sunnitisch-arabische Regime wie beispielsweise Saudi-Arabien ab. Darüber hinaus sind Homosexuelle und Transsexuelle vermehrt Ziel von Hass und Hetze. Teilweise wird der Zustand einer "homosexualisierten" Gesellschaft heraufbeschworen, die angeblich schlimme Folgen habe. Vorwiegend nutzen die Akteur:innen eigens betriebene Internetforen, Videoplattformen oder soziale Netzwerke, um ihre Propaganda zu verbreiten. Sie greifen in regelmäßigen Abständen tagesaktuelle Nachrichten aus der Politik oder auch religiöse Belange auf und wenden dann ihr Weltbild auf diese Themenfelder an. Es werden vermehrt Themen ausgewählt, die auch nicht-extremistische Muslime ansprechen sollen, wie beispielsweise das Thema Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst, wobei die Debatte einseitig für die eigenen Zwecke instrumentalisiert wird. 2021 wurden sowohl Veranstaltungen in Präsenz als auch online abgehaltene Vortragsveranstaltungen, bei denen die Ideologie des iranischen Ayatollah Khamenei stets eine zentrale Rolle spielte, organisiert. Die norddeutschen Protagonist:innen des schiitischen Islamismus widmeten sich, wie bereits im Jahr zuvor, intensiv der Corona-Pandemie. Vor allem seit der Zulassung der Impfstoffe gegen das Coronavirus und der Debatte um eine allgemeine Impfpflicht wurden vermehrt eigens produzierte Videos, Forenbeiträge sowie Posts in den sozialen Medien im Umlauf gebracht, die Desinformationen und Verschwörungsmythen verbreiteten. Dabei wurden gezielt Personen aus der Politik und dem Gesundheitswesen denunziert, die Wirkung der Impfstoffe systematisch angezweifelt und bewusst Verunsicherung geschürt. Hierdurch gelang es der Szene, nicht nur die schiitische-islamis- 7 ISLAMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 101 tische Community zu erreichen, sondern auch andere Personen, die bisher nicht mit schiitisch-islamistischen Inhalten in Berührung gekommen waren. Die Nutzung entsprechender, gesellschaftlich virulenter Themen erfolgt gezielt, um auch Personen zu erreichen, die üblicherweise nicht mit den religiös-extremistischen Inhalten in Berührung kämen und dient so der Vergrößerung der Szene. Hierbei besteht stets die Gefahr einer weitergehenden Radikalisierung der Konsument:innen auch über eine Thematik wie die Corona-Pandemie, die zu dem Erstkontakt mit dem extremistischen Phänomenbereich geführt hat, hinaus. 102 8 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 8 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS Seitenzahl 104 8.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) 110 8.2 "Ülkücü"-Bewegung / "Graue Wölfe" 8 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 103 8 Auslandsbezogener Extremismus Die Mitte Mai erfolgte Eskalation im Nahost-Konflikt hatte auch Auswirkungen auf das Demonstrationsgeschehen in Deutschland und Bremen. In Bremen gab es aus diesem Anlass fünf Veranstaltungen, die friedlich verliefen. Vereinzelt wurden antiisraelische Aussagen getätigt, so z. B. ein T-Shirt mit der Aufschrift "Boykottiert Produkte israelische Apartheit" gezeigt. Dies lässt auf eine Sympathie mit der "Boykott, Desinvestment & Sanktionen-Bewegung" (BDS) schließen. Unabhängig von diesen Demonstrationen kam es aber zu einer Vielzahl von Delikten mit antiisraelischem Bezug. So wurde z. B. mehrfach die israelische Staatsflagge am Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven entwendet oder die Schule am Leibnizplatz mit einem Graffiti "Fick Israel & die BRD" beschmutzt. Viele der extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug sind mittlerweile bestrebt, ihre Ziele nicht mehr durch offene Agitationen gegen die verfassungsmäßige Ordnung zu erreichen, sondern sich dieser vordergründig sogar anzupassen, um ungestörter auch in der Bundesrepublik agieren zu können. Diese Anstrengungen gehen teilweise so weit, dass durch Verantwortliche der jeweiligen Organisationen dazu aufgerufen wird, sich nicht nur unauffällig und gesetzeskonform zu verhalten, sondern auch über vordergründig demokratisch legitimierte Organisationen bzw. deren Unterwanderung gezielt Einfluss zu nehmen. Hierbei erfolgt keineswegs eine Abkehr von der eigenen, nicht mit der deutschen Verfassung in Einklang zu bringenden, Ideologie der jeweiligen extremistischen Organisation. Durch die gezielte Einflussnahme über demokratische Organisationen soll vielmehr der Eindruck einer vermeintlichen Verfassungstreue erweckt und gezielt Lobbyarbeit für die eigentlichen, extremistischen Ziele betrieben werden, ohne dass eine tatsächliche und offene Hinwendung zur demokratischen Zivilgesellschaft erfolgt oder beabsichtigt ist. Entwicklung extremistischer Organisationen mit Auslandsbezug in Deutschland Die extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug in Deutschland sind stark von Ereignissen und Entwicklungen in ihren Herkunftsländern abhängig. Im Gegensatz zu islamistischen Organisationen orientieren sie sich überwiegend nicht an einer religiöspolitischen Weltanschauung, sondern an weltlichen, politischen Ideologien, auch wenn in Einzelfällen eine gewisse Nähe zu religiösen Anschauungen bestehen kann. Die Zielrichtungen von extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug lassen sich im Wesentlichen in linksextremistische, nationalistische bis nationalistisch-religiöse und ethnisch motivierte Autonomieund Unabhängigkeitsbestrebungen unterteilen. Die extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug agieren nicht autark, sondern meistens als Teil einer "Mutterorganisation" im Herkunftsland oder sind zumindest ideologisch eng mit einer solchen verbunden, wobei der Grad der Einflussnahme bzw. Steuerung durch die "Mutterorganisationen" unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Gesellschaftliche und politische Konflikte aus anderen Teilen der Welt können durch Migration und den Zuzug von Arbeitskräften nach Deutschland importiert werden. Von der Finanzkraft der hier lebenden und arbeitenden Ausländer:innen sowie Menschen mit Migrationshintergrund profitieren auch extremistische Organisationen in den Heimatländern. Vielfach gründeten sie "Exilvereine" in Deutschland. Heute ist Deutschland für extremistische Organisationen mit Auslandsbezug in unterschiedlicher Intensität ein Rückzugsund Rekrutierungsraum und dient ihnen zur Beschaffung von Material und finanziellen Mitteln, die sowohl auf legale als auch auf kriminelle Art und Weise akquiriert werden. Zu den Aufgaben des Landesamtes für Verfassungsschutz gehört die Beobachtung von Bestrebungen, die auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland durch Gewalt gefährden. Dies ist gegeben, wenn ausländische Gruppierungen von hier aus gewalt- 104 8 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 same Aktionen im Heimatstaat unterstützen, etwa durch Aufrufe zur Gewalt oder durch logistisch-finanzielle Hilfe. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung wird durch ausländerextremistische Bestrebungen gefährdet, wenn Kaderstrukturen beabsichtigen, demokratische Grundregeln in Deutschland außer Kraft zu setzen bzw. demokratische Strukturen gezielt zu unterwandern, um ihre Positionen in den politischen Willensbildungsprozess einzubringen. Im Jahr 2020 umfasste das extremistische Personenpotenzial mit Auslandsbezug in Deutschland rund 30.000 Personen, wobei die Gruppierungen aus verschiedenen Herkunftsländern stammen. In Bremen nehmen die zwei türkischen Organisationen "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) und die "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." (ADÜTDF) einen besonderen Stellenwert ein, wobei erstere eher linksextremistisch und die zuletzt genannte eher rechtsextremistisch ausgerichtet ist. 8.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) Die größte Gruppe unter den ausländischen Extremist:innen in Deutschland bildete im Jahr 2021 mit etwa 14.500 Anhänger:innen nach wie vor die verbotene kurdische Organisation PKK. Die PKK sowie ihre Nachfolgeorganisationen sind in Deutschland seit 1993 bzw. 2004 aufgrund vielfältiger, teilweise gewaltsamer Unterstützungshandlungen ihrer hier lebenden Anhänger:innen für die Mutterorganisation verboten. Die EU stuft die PKK seit 2002 als terroristische Organisation1 ein. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat jedoch am 15. November 20182 entschieden, dass die PKK zwischen 2014 und 2017 zu Unrecht auf der sog. EU-Terrorliste geführt wurde. Nach Ansicht des Gerichts habe der EU-Ministerrat nicht hinreichend begründet, weshalb die PKK auf der Liste zu führen sei. Außerdem hätten u. a. die aktuellen Entwicklungen und der Friedensaufruf des PKK-Gründers Abdullah Öcalan zum Newroz-Fest 2013 beachtet werden müssen. Der Antrag auf rückwirkende Streichung von der Terrorliste seit 2002 wurde aber zurückgewiesen. Seit dem Jahr 2019 lag ein neuer, gleichlautender Beschluss seitens des Ministerrats zur Nennung auf der EU-Terrorliste vor, der seitens des EuGH nicht infrage gestellt wurde3. In dem Urteil heißt es: "Im Übrigen wird der Antrag, die Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 des Rates vom 27.12.2001 [...] für die PKK unanwendbar zu erklären, zurückgewiesen." Die kurdischen Extremisten:innen stellen, wie auch im Vorjahr, mit rund 750 Anhänger:innen auch in Bremen die mitgliederstärkste Gruppe unter den extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug dar. Sie organisieren sich überwiegend im "Verein zur Förderung demokratischer Gesellschaft Kurdistans" ("Birati e.V."), der als regionales Ausführungsorgan der PKK fungiert. In den 1990er-Jahren waren im Zusammenhang mit dem Verbot der PKK in Bremen vier "Unterstützervereine" sowie deren Flagge der PKK-Nachfolgeorganisation Nachfolgeorganisationen verboten worden. Die PKK-Anhänger:innen in Bremen grün"KCK" (Koma Civaken Kurdistan) deten jedoch jeweils unmittelbar nach den Verboten neue Vereine. Entwicklung der PKK Die 1978 von dem noch heute amtierenden PKK-Führer Abdullah Öcalan gegründete Organisation erhebt den Anspruch, alleinige Vertreterin aller Kurd:innen zu sein. Die Kurd:innen bilden eine ethnische Volksgruppe, die vorwiegend in der Türkei, jedoch auch im Irak, im Iran und in Syrien lebt. Während das anfängliche Ziel der PKK in der Errichtung eines kurdischen Nationalstaates bestand, kämpft sie nunmehr für die politisch-kulturelle Autonomie der Kurd:innen innerhalb des türkischen Staates. Hierfür 1 EU-Durchführungsverordnung 2021/138 vom 05.02.2021, veröffentlicht im Amtsblatt der Europäischen Union am 08.02.2021 2 EuGH vom 15.11.2018, Az.: T-316/14 3 EuGH vom 15.11.2018, Az.: T-316/14 8 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 105 unterhält sie die "Guerillaverbände der Volksverteidigungskräfte" (HPG). Das von Öcalan 2005 hierzu entwickelte Konzept sieht die Etablierung eines politisch-kulturellen Verbundes der in verschiedenen Staaten lebenden Kurd:innen vor. Der mit Unterbrechungen seit fast 30 Jahren geführte Guerilla-Kampf der PKK gegen den türkischen Staat wurde mit der Proklamation eines "einseitigen Waffenstillstands" durch PKK-Führer Öcalan im März 2013 vorerst beendet. Im Gegenzug wurde der türkische Staat u. a. aufgefordert, den Kurd:innen insbesondere die Gleichstellung als Staatsvolk, die Benutzung der kurdischen Sprache, etwa in Schulen, und mehr SelbstbestimFlagge HPG mung in ihren Siedlungsgebieten einzuräumen. Seit die "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung" (AKP) bei den türkischen Parlamentswahlen im Juni 2015 die absolute Mehrheit verfehlte, ging der türkische Staat erneut härter gegen die PKK vor. In der Folge eskalierte der Konflikt wieder und beide Seiten kündigten die damals seit zwei Jahren währende Waffenruhe faktisch auf. Politischer Arm in Syrien Die kurdische Partei "Partiya Yekitiya Demokrat" (PYD) wurde 2003 in Syrien gegründet und ist die dortige Zweigorganisation der PKK, wenngleich die offene Darstellung dieser Verbindung vermieden wird. Die PYD strebt die Autonomie der Kurd:innen in Syrien an und rief im Januar 2014 in drei von Kurd:innen dominierten Kantonen (Afrin, Kobane und Cizre) eine "Demokratische Autonomie" aus. Die PYD unterhält paramilitärische Einheiten, die sog. "Volksverteidigungseinheiten" (YPG / YPJ), die sich seit Herbst 2012 wiederholt bewaffnete Auseinandersetzungen mit anderen in Nordsyrien agierenden Konfliktparteien lieferten, etwa mit der "Freien Syrischen Armee" und dem "IS". In Europa organisiert die PYD insbesondere Protestveranstaltungen gegen Menschenrechtsverletzungen in Syrien. Die PKK in Deutschland und Europa Zur Unterstützung ihrer Interessen in der Türkei ist die PKK in Europa durch den "Kongress der kurdisch-demokratischen Gesellschaft Kurdistan in Europa" (KCDK-E) vertreten. Einer der Vorsitzenden des KCDK-E ist der Bremer PKK-Funktionär Yüksel Koc. In ihrem selbst als "gewaltfreien Kampf" bezeichneten Vorgehen greift die Organisation auf legale und illegale Strukturen zurück. Regionale Kurdenvereine (sog. Basisvereine) dienen den Anhänger:innen als Informationsund Kommunikationszentren. Diese der PKK nahestehenden Vereine sind in Deutschland unter dem Dachverband der "Konföderation der Gesellschaften Kurdistans in Deutschland" (KON-MED) zusammengeschlossen. KON-MED gehören insgesamt fünf regionale Föderationen an. Für den norddeutschen Raum ist es die "Föderation der kurdischen Gemeinschaft in Norddeutschland" (FED-DEM). Im März 2021 fand die erste FED-DEM-Konferenz, bei welcher Vertreter:innen aus dem gesamten norddeutschen Raum anwesend waren, im Bremer PKK-Verein Birati e.V. statt. Die PKK in Bremen Der Verein "Birati e.V." nimmt als regionales Ausführungsorgan der PKK eine besondere Stellung ein, weil er zu den sog. Zentralvereinen gehört. Er bietet seinen Mitgliedern u. a. soziale und kulturelle Aktivitäten an. Die im Zusammenhang mit der PKK stehenden Aktivitäten nehmen dabei einen breiten Raum ein, etwa Feiern zum Geburtstag Abdullah Öcalans oder zum Jahrestag des Beginns des bewaffneten Kampfes der PKK. Neben den vereinsinternen Veranstaltungen organisieren der Birati e.V. und bremische PKK-Anhänger:innen jährlich auch öffentlichkeitswirksame Aktionen und Demonstrationen, die sich im Jahr 2021, auch aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen, in einem mittleren zweistelligen Bereich bewegt haben und damit Gebäude des "Birati e.V." in Bremen hinter dem Niveau der Vorjahre zurückblieben. Bisher wurde Deutschland vom politischen Arm der PKK intern in ca. 30 Gebiete unterteilt. In einem solchen Gebiet nimmt der jeweils bedeutendste kurdische Verein die Stellung eines "Zentralvereins" ein, alle anderen PKK-nahen Vereine sind meist abhängig von dessen Entscheidungen und Weisungen. In Bremen stehen z. B. der Verein "Förderung der kurdisch-islamischen 106 8 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Kultur e.V." (Trägerverein der "Saidi Kurdi Moschee") und der "Frauenrat Seve e.V." (ehemals "Internationale Fraueninitiative e.V.") in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Zentralverein "Birati e.V.". Jedem Gebiet steht an der Spitze ein Führungsfunktionär vor. Die verantwortlichen Führungsfunktionäre, deren Tätigkeit in aller Regel zeitlich begrenzt ist, agieren zumeist konspirativ und leiten organisationsinterne Anweisungen und Vorgaben zur Umsetzung an nachgeordnete Ebenen weiter. Für die Umsetzung dieser Vorgaben nutzt die PKK überwiegend die örtlichen kurdischen Vereine, die den Anhänger:innen der Organisation als Treffpunkt und Anlaufstelle dienen. Diese Führungsfunktionäre werden regelmäßig wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung verurteilt (SSSS 129a, 129b Strafgesetzbuch). So wurde im Januar 2020 ein ehemaliger Führungsfunktionär für das Gebiet Bremen aufgrund eines solchen Tatverdachtes verhaftet und in der Folge vom Hanseatischen Oberlandesgericht in Hamburg zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft verurteilt. PKK-Funktionär:innen bestimmen das politische Geschehen im "Bremer Volksrat", der auch als "Kurdisches Parlament" bezeichnet wird. Die Einsetzung von "Volksräten" folgt einem von Öcalan 2005 entwickelten Konzept, das letztlich auf die Etablierung eines politisch-kulturellen Verbundes der in verschiedenen Staaten lebenden Kurd:innen abzielt, um die Mitbestimmung aller Kurd:innen zu gewährleisten. Tatsächlich erfolgt die politische Arbeit im "Bremer Volksrat" allerdings nicht nach demokratischen Regeln, sondern ist nach wie vor von autoritären Strukturen geprägt. Im Rahmen einer von der PKK-Führung beschlossenen und den Anhänger:innen vorgegebenen Umstrukturierung sind an die Stelle der bisherigen Vereine wie beispielsweise "Birati e.V." oder "Kurdisch-deutscher Gemeinschaftsverein" in Bremerhaven die "Zentren der demokratischen kurdischen Gesellschaft" (DKTM) getreten. In Bremerhaven und mehreren Bremer Umlandgemeinden wurden "regionale Volksparlamente" eingerichtet. Neben dem "Birati e.V." stellen auch diese "regionalen Volksparlamente" sowie verschiedene weitere Organisationen die Vertreter:innen eines übergeordneten Volksparlaments. Während die Aktivitäten der Bremer PKK-Anhänger:innen bisher hauptsächlich auf Weisungen übergeordneter legaler und illegaler hierarchischer Strukturen zurückzuführen waren, sollten sie laut eigener Ankündigung zukünftig demokratisch strukturiert werden. In der Praxis erfolgten jedoch keine Veränderungen der Entscheidungsprozesse. Diese sind in wesentlichen Teilen nach wie vor undemokratisch und basieren auf einer streng hierarchisch organisierten Kaderstruktur. "Kurdisch-deutscher Gemeinschaftsverein" in Bremerhaven Im Frühjahr 2013 wurde in Bremerhaven der "Kurdisch-deutsche Gemeinschaftsverein" gegründet, der wiederum in einem Abhängigkeitsverhältnis zum "Birati e.V." steht. Die Eintragung in das Vereinsregister Bremen erfolgte am 19. Juni 2014. Die Mitglieder organisieren regelmäßig Feierlichkeiten, bei denen u. a. dem PKK-Führer Öcalan gehuldigt wird. Finanzierung der PKK Die von der PKK in der Türkei über Jahrzehnte geführten Kämpfe sowie ihre politische Gebäude des "Kurdisch-deutschen Arbeit in Europa erfordern erhebliche finanzielle Mittel. Die PKK finanziert sich in ersGemeinschaftsvereins" in Bremerhaven ter Linie durch Spenden, daneben auch aus Veranstaltungserlösen und dem Verkauf von Publikationen. Jedes Jahr ruft die PKK zu einer groß angelegten Spendenkampagne auf, die sie "das Jährliche" nennt, und fordert von ihren Anhänger:innen regelmäßig die Steigerung der Spendeneinnahmen. Die Höhe der Beiträge richtet sich nach dem Jahreseinkommen der Spender. Während von durchschnittlich verdienenden kurdischen Familien mehrere Hundert Euro verlangt werden, erwartet man von erfolgreichen Geschäftsleuten mehrere Tausend Euro. 8 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 107 Auch die diesjährige Spendenkampagne in Bremen stand wieder unter dem Einfluss der Corona-Pandemie, wodurch das Erreichen der gesetzten Spendenziele erschwert wurde. Trotzdem konnten in Bremen Spenden in Höhe eines unteren bis mittleren sechsstelligen Betrages gesammelt werden. Laut Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz sammelte die PKK allein in Deutschland in einem der vergangenen Jahre über 15 Millionen Euro. Die Einnahmen aus Spendengeldern in Deutschland hätten sich in den letzten zehn Jahren nahezu verdreifacht. Protest im Zusammenhang mit den Geschehnissen in der Türkei In Deutschland kam es in den vergangenen Jahren zu zahlreichen Protesten aufgrund aktueller oder vergangener Ereignisse in der Türkei. Die PKK-Führung ruft ihre Mitglieder oftmals deutschlandweit auf, anlassbezogene Veranstaltungen zu organisieren. Teilweise werden hier auch verbotene Symbole der PKK gezeigt. So waren insbesondere verschiedene militärische Operationen der Türkei oftmals Auslöser für Demonstrationen oder Kundgebungen. Hier sind hauptsächlich die Militäroperationen "Olivenzweig" (2018), "Friedensquelle" (2019), "Adlerklaue" (2020) und "Tigerkralle" (2020) zu nennen. Auch im Jahr 2021 fand ab April unter dem Namen "Krallenblitz" eine türkische Militäroffensive mit Schwerpunkt im Nordirak statt, welche sowohl bundesweit als auch in Bremen Reaktionen der PKK-Anhänger:innen auslöste. Allein in Bremen fanden infolge der Militäroperation etwa acht Kundgebungen als Reaktion statt. Haftsituation von Abdullah Öcalan Der Gesundheitszustand des auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKK-Anführers Abdullah Öcalan ist nach wie vor in besonderem Maße dazu geeignet, Stop turkisch Invasion die in Bremen lebende PKK-Anhängerschaft zu emotionalisieren und zu mobilisieren. So werden in diesem Kontext Demonstrationen und verschiedene Aktionen durchgeführt, die sich auch auf die Sicherheitslage in Bremen auswirken. Aktionen anlässlich des 22. Jahrestages der Festnahme Öcalans Nach Angaben der PKK-nahen Nachrichtenagentur "Ajansa Nuceyan a Firate" (ANF) hatte die PKK-Europaführung für den Zeitraum vom 1. bis zum 15. Februar 2021 zu einer Aktionskampagne anlässlich der "Verschleppung Öcalans" aufgerufen. Hintergrund der Kampagne war der 22. Jahrestag der Festnahme des Organisationsgründers und die Forderung nach dessen Freilassung. An der traditionell in Straßburg stattfindenden zentralen Kundgebung beteiligten sich pandemiebedingt deutlich weniger Anhänger:innen als in den Vorjahren. In Deutschland fanden stattdessen dezentrale Kundgebungen statt, so z. B. in Bremen am 13. Februar 2021 mit ca. 280 Teilnehmenden. Über die Kundgebungen hinaus fanden Marschveranstaltungen statt und es fuhren laut ANF 22 Busse/Kleinbusse als mobile "Öcalan-Bibliotheken" durch Europa sowie Australien und Kanada. Diese sollten themenbezogene Bücher und Broschüren verFlyer Demo teilen, um "die Philosophie des kurdischen Vordenkers Abdullah Öcalan" weltweit bekannt zu machen. Am 3. Februar 2021 machte ein "Öcalan-Bus" auch in Bremen halt. Es wurden diverse Bücher Öcalans in deutscher Sprache angeboten. Während der Veranstaltung wurde eine Fahne der Volksverteidigungskräfte (HPG) gezeigt. Die Fahne der HPG fällt unter das PKK-Kennzeichenverbot des Bundesministeriums des Innern. Öcalan Bus 108 8 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Freiheitsschiff für Öcalan Am 9. November 2021 stach von Griechenland aus das "Freiheitschiff für Öcalan" in See. Das Schiff mit 40 Aktivist:innen aus neun Ländern an Bord, darunter der Bremer PKK-Aktivist Yüksel Koc, lief am 12. November in Italien ein. Die Aktivsten wollten an das "Internationale Komplott" gegen Abdullah Öcalan und die kurdische Befreiungsbewegung erinnern (die Verhaftung Öcalans am 15. Februar 1999 in Kenia wird von PKK-Anhänger:innen als "Internationales Komplott" bezeichnet). Man forderte außerdem Öcalans Freilassung, "die Einstellung des von der türkischen Armee mit Chemiewaffen geführten Krieges in Kurdistan" und die Streichung der PKK von der Liste der terroristischen Organisationen in Europa. Nach Angaben von ANF hatte die PKK-Europaführung zum Hintergrund der Aktion mitgeteilt, dass das Schiff am Jahrestag der Ankunft Abdullah Öcalans vor 23 Jahren in Italien eintreffen werde. Großveranstaltungen der PKK Die für Deutschland beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung des Coronavirus hatten auch im Jahr 2021 Auswirkungen auf das Aktionsgeschehen der PKK, sodass es zu einer verringerten Anzahl öffentlicher Veranstaltungen im Vergleich zu den Jahren vor der Pandemie kam. Dennoch gelang es der Organisation, mehrere Großveranstaltungen durchzuführen. Newroz-Feierlichkeiten Anlässlich des kurdischen Newroz-Festes fanden in diesem Jahr diverse dezentrale Veranstaltungen im gesamten Bundesgebiet statt. Auf die sonst übliche zentrale Großveranstaltung wurde, wie bereits im Vorjahr, pandemiebedingt verzichtet. Das Newroz-Fest geht auf eine Legende um einen kurdischen Schmied zurück, der zum Widerstand gegen einen Tyrannen aufgerufen und diesen in der Nacht vom 20. auf den 21. März im Jahr 612 v. Chr. erschlagen haben soll. Daher wird Newroz auch als Fest des Widerstands gegen Tyrannei und als Symbol für den kurdischen Freiheitskampf verstanden. In Bremen fand, als Alternative zu einer großen Newroz-Feier, am 20. März 2021 eine Demonstration mit ca. 450 Teilnehmenden statt. Im Anschluss gab es auf dem Veranstaltungsplatz Livemusik, Tanzdarbietungen und kleine Newroz-Feuer. Während des Aufzuges wurden Flaggen der "Volksverteidigungseinheiten" YPG / YPJ sowie Fahnen Flyer Newroz Bremen mit dem Bild Abdullah Öcalans gezeigt und "Biji Serok Apo" (Es lebe "Apo" - gemeint ist Öcalan als Führer der PKK) skandiert. Das 29. "Internationale Kurdische Kulturfestival" Am 25. September 2021 fand das 29. "Internationale Kurdische Kulturfestival der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) in Landgraaf (Niederlande) in Form einer Großveranstaltung statt. Unter dem Motto "Status für Kurdistan, Freiheit für Abdullah Öcalan" beteiligten sich daran zwischen 7.000 und 8.000 Teilnehmer, darunter ein Großteil aus Deutschland. Auch aus Bremen fuhren mehrere Busse zu dem Festival. Das "Internationale Kurdische Kulturfestival" stellt regelmäßig einen Höhepunkt der kurdischen Großveranstaltungen dar. Neben der von der PKK propagierten "Pflege der kurdischen Kultur" dient es der Organisation zur Verbreitung ihrer politischen BotKurdistan Festival schaften. 8 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 109 Auch in Bremen fand am 27. November 2021 eine Feier anlässlich des Jahrestags der Gründung der PKK (1978) statt. Laut ANF sollen sich die Feiernden in einem mit Bildern des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan und Bildern von Gefallenen geschmückten Raum versammelt haben. Vortragende seien auf den "erfolgreichen Kampf der PKK und die permanenten Angriffe der kapitalistischen Staaten" eingegangen und hätten "den umfassenden Widerstand der Guerilla gegen die türkische Invasion in den südkurdischen Medya-Verteidigungsgebieten" beschrieben. Aufgrund dieses Kampfes stehe der türkische Staat "vor dem Zusammenbruch". Konflikte am Rande von Demonstrationsgeschehen Am 17. Juni 2021 veranstaltete der "Birati e.V." in Bremen anlässlich eines bewaffneten Angriffs mit Todesfolge auf das Parteibüro der HDP in Izmir (Türkei) eine Kundgebung, in deren Verlauf es nach einer verbalen Provokation eines türkischstämmigen Passanten in Richtung der Demonstrationsteilnehmenden zu einer körperlichen Auseinandersetzung kam. Nachdem Polizeibeamt:innen die Beteiligten getrennt hatten, konnten Stichverletzungen an Oberschenkel und Bauch des Passanten festgestellt werden. Er musste stationär behandelt werden. Am 18. Juni 2021 kam es zu einer weiteren Versammlung anlässlich desselben Ereignisses. Ein vorbeifahrender Radfahrer machte mit der bloßen Hand Schießbewegungen in Richtung der Teilnehmenden. Je nach politischer Gemengelage in den Herkunftsregionen der hiesigen PKK-Anhänger (hauptsächlich Türkei und Syrien) scheint deren Emotionalisierungsgrad nach wie vor hoch zu sein. Offensichtlich sind bereits verbale Scharmützel, trotz der Anwesenheit zahlreicher Zeugen im öffentlichen Raum, geeignet, Eskalationen mit Körperverletzungsdelikten herbeizuführen. In der Vergangenheit kam es am Rande von Demonstrationen auch zu wechselseitigen Provokationen zwischen den Anhängern der PKK und Personen des türkisch-rechtsextremistischen Spektrums. Werbung und Rekrutierung für die PKK-Guerilla Die anhaltenden Kampfhandlungen in Syrien und im Irak haben die Bereitschaft der PKK-Anhänger:innen gesteigert, sich für den bewaffneten Kampf rekrutieren zu lassen. Sie folgen u. a. Aufrufen, die von der PKK nahestehenden Medien auf einschlägigen Internetseiten, in (Jugend-)Zeitschriften oder auf Großveranstaltungen wie dem jährlichen kurdischen Kulturfestival verbreitet werden. Auch von den örtlichen Vereinen organisierte sog. "Märtyrerveranstaltungen", bei denen gefallene Guerilla-Kämpfer:innen glorifiziert werden, bereiten den Boden für Rekrutierungen. Im Jahr 2021 wurden in den Räumlichkeiten des "Birati e.V.", wie auch im Vorjahr, trotz coronabedingter Einschränkungen, Gedenkfeiern für die "Märtyrer" veranstaltet, im Rahmen derer u. a. der bewaffnete Kampf glorifiziert wird und deren Durchführung auch mögliche Nachahmer:innen ansprechen soll. Unterstützung der PYD und PKK durch öffentliche Einrichtungen PKK und PYD nutzen nach vorliegenden Erkenntnissen ihre gesellschaftlichen und politischen Kontakte, um gezielt eigene Vertreter:innen in politischen und gesellschaftlichen Strukturen zu etablieren. Langfristige Ziele dieser Bemühungen sind die Aufhebung des PKK-Verbots, die Freilassung des PKK-Führers Öcalan und die Anerkennung der PKK als vermeintlich demokratische Vertretung aller Kurdinnen. Hierbei wird gezielt versucht, die streng hierarchische und antidemokratische Struktur der Kernorganisation zu verschleiern, um ihre Anschlussfähigkeit nicht zu gefährden. 110 8 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 8.2 "Ülkücü"-Bewegung / "Graue Wölfe" Allgemein Die "Ülkücü" ("Idealisten") sind eine türkisch-rechtsextreme Bewegung, deren Ursprünge nahezu 100 Jahre zurückreichen. Sie bezeichnet heute eine Ideologie, die eine nationale Einigung aller Turkvölker in einem einzigen, als ethnisch homogen verstandenen Staat zum Ziel hat. Dieses angestrebte "großtürkische Reich" wird mit dem Begriff "Turan" bezeichnet. Zu Vordenkern der Bewegung werden Nihal Atsiz (1905 - 1975) und der spätere Gründer der türkischen Partei MHP4, Alparslan Türkes (1917 - 1997), gezählt. In der Gründungszeit der MHP zeigte sich vor allem deren Jugendorganisation "Bozkurtlar" ("Graue Wölfe") äußerst gewalttätig. Die "Ülkücü"-Ideologie basiert auf nationalistischen, rassistischen und islamischen bis hin zu islamistischen Elementen und ist in der Gesamtschau antidemokratisch. Der übersteigerte Nationalismus der "Ülkücü"-Bewegung zeigt sich vor allem in der Forderung nach der "Wiedervereinigung" aller Turkvölker in einem Staat "Turan". Die Anhängerschaft geht von einer Überlegenheit des Türkentums gegenüber anderen Völkern und Staaten aus. Auch wenn die verschiedenen (Unter-)Organisationen der "Ülkücü"-Bewegung in ihren Publikationen in der Regel auf offenen Rassismus verzichten, bleiben sie diesem Gedankengut stets verbunden. Die "Ülkücü"-Ideologie ist geprägt von einem Freund-Feind-Denken. Die identitätsstiftenden Feindbilder stützen sich auf rassistische - vornehmlich kurdenfeindliche und antisemitische - Anschauungen. "Innere" Feinde sind traditionell Kurd:innen, Kommunist:innen, linke Oppositionelle sowie die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen, welche von der türkischen Regierung für den 2016 gescheiterten Putschversuch verantwortlich gemacht und in Folge dessen zur Terrororganisation erklärt worden ist.5 Jüd:innen wird in der "Ülkücü"-Ideologie eine negative Sonderstellung zugeschrieben. Dies offenbart sich unter den Anhängern zumeist offen, wenn der Staat Israel durch eine sich wie zuletzt im Mai 2021 verschärfende Lage im Nahost-Konflikt im Fokus steht und stellvertretend für alle Jüd:innen als Feind gebrandmarkt wird. In der Rhetorik der "Ülkücü"-Bewegung wird auch Gewaltbefürwortung deutlich. Die Verherrlichung der kriegerischen Vergangenheit des Osmanischen Reiches und antiker "Turk"-Kriegsherren in Verbindung mit konkreten Territorialansprüchen, die das Staatsgebiet zahlreicher souveräner Staaten umfassen, impliziert eine Neigung zur notfalls gewalttätigen, jedenfalls völkerverständigungswidrigen Durchsetzung der ideologischen Ziele. Die "Ülkücü"-Vereine in Deutschland vermeiden einen zumindest offenen Antisemitismus und geben sich nach außen überwiegend legalistisch und demokratisch. In der Vergangenheit forderten führende Mitglieder, die demokratischen Rechte in Deutschland wahrzunehmen und sich gezielt politisch und gesellschaftlich zu betätigen, um Einfluss auszuüben. In der Vergangenheit wurden Fälle bekannt, in denen Mitglieder örtlicher Ülkücü-Vereine in Integrationsräte gewählt wurden oder Ülkücü-Vereine mit eigener Liste erfolgreich an Integrationswahlen teilgenommen haben.6 Dies darf insoweit nicht als Anerkennung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verstanden werden, sondern als gezielte politische Einflussnahme bzw. Unterwanderung im Sinne einer türkisch-nationalistischen Ideologie. "Ülkücü" sehen sich nicht nur als alleinige Hüter der Ideologie der "Nationalistischen Bewegung" in Deutschland, sondern generell als Hüter türkischer Werte und Kultur. Eine derartige auf Volkszugehörigkeit und übersteigertem Nationalismus gründende Identität kann in einer pluralistisch geprägten Gesellschaft jedoch unterschiedliche Konflikte hervorrufen. Sie führt 4 "Milliyetci Hareket Partisi" - "Partei der Nationalistischen Bewegung" 5 In diesem Zusammenhang wird von türkischer Seite auch der Begriff FETÖ, "Fethullahistische Terrororganisation" verwendet. 6 Vgl. Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage zum Thema "Aktivitäten der rechtsextremen Grauen Wölfe", Drucksache 19/21060 vom 14.07.2020. 8 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 111 nicht zuletzt zu Intoleranz gegenüber anderen Völkern. Dies widerstrebt dem Gedanken der Völkerverständigung, ist gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet und wirkt einer Integration in die deutsche Gesellschaft entgegen. Der "Ülkücü"-Bewegung in Deutschland werden aktuell drei Dachverbände sowie eine freie und unorganisierte Szene zugerechnet: Die "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." (ADÜTDF), die "Föderation der Weltordnung in Europa" (ANF) sowie die "Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V. (ATIB e.V.). Verbände aus dem "Ülkücü"-Spektrum sind bestrebt, sich mit politischen Verantwortungsträgern in der Türkei zu vernetzen, so zuletzt bei einem Treffen der Vorsitzenden diverser türkischer Organisationen aus Deutschland, u. a. ATIB und ADÜTDF, mit Präsident Erdogan im April 2021 in Ankara. Symbolik Um ihre Zugehörigkeit zur "Ülkücü"-Bewegung sowie Gesinnung öffentlich darzustellen, werden im Wesentlichen drei Symbole verwendet. Der graue Wolf (Bozkurt) Der Wolf spielt in der alttürkischen Mythologie eine zentrale Rolle. Je nach Überlieferung existiert zum einen der Mythos eines grauen Wolfes, der das urtürkische Volk der Göktürken aus dem Tal Ergenekon nach der Niederlage gegen die Chinesen im 8. Jahrhundert hinausgeführt haben soll, zum anderen wird von einem kleinen Jungen erzählt, der als einziger Überlebender seines Stammes von einer Wölfin aufgezogen wurde. Ab den 1960er-Jahren spielte der "Graue Wolf" auch auf politischer Ebene eine Rolle. Dieser war Symbol für die 1968 entstandene paramilitärisch ausgebildete Jugendorganisation der extrem nationalistischen türkischen Partei MHP, dem politischen Arm der "Ülkücü". Daher werden innerhalb der "Ülkücü"-Szene auch heute noch junge männliche Anhänger als "Bozkurtlar" (Graue Wölfe) bezeichnet. Ende der Der graue Wolf (Bozkurt) 1970er-Jahre waren die Grauen Wölfe an gewaltsamen Übergriffen gegen linke und linksextremistische Jugendund Studentenorganisationen beteiligt. Im Dezember 1978 organisierten Mitglieder der Grauen Wölfe Gewaltakte in Kahramanmaras (Türkei), bei welchen 150 Aleviten ermordet wurden. Der Wolfsgruß Aufgrund der Verwendung des "Grauen Wolfes" als Symbol verbreitete sich unter MHP-Anhängern das Zeigen des "Wolfsgrußes". Vorwiegend wird dieser mit der rechten Hand geformt und dient den "Ülkücü"-Anhängern" als Begrüßungswie auch Erkennungszeichen. Auch zur Provokation politischer Gegner wird das Zeichen beispielsweise bei Demonstrationen eingesetzt. Der kleine Finger beim Wolfsgruß soll den Türken symbolisieren, der Zeigefinger den Islam. Der beim "Wolfsgruß" entstehende Ring, geformt durch Ring-, Mittelfinger und Daumen steht für die Welt. Der Punkt, an dem sich diese drei Finger treffen, soll als Stempel angesehen werden. Damit soll der "Wolfsgruß" bedeuten, dass die "Grauen Wölfe" der Welt ihre Ansichten und ihren islamischen Stempel aufdrücken wollen. Aufgrund der anhaltenden Diskussionen Der Wolfsgruß über ein mögliches Verbot der "Grauen Wölfe" und der steigenden Bekanntheit dieses Erkennungszeichen erfolgt dessen Verwendung zunehmend zurückhaltender, um eine Identifizierung als Anhänger der Ideologie zu erschweren. Drei Halbmonde Die Symbolik der "Drei Halbmonde" hat ihren Ursprung im Osmanischen Reich. Eine von dessen Kriegsflaggen zeigte die "Drei Halbmonde" auf grünem Hintergrund (die Farbe des Islams). Symbolisch standen die Halbmonde für die drei Kontinente Asien, Afrika und Europa, auf denen sich der Islam durch das Osmanische Reich verbreitet hatte. Die "Drei Halbmonde" auf rotem Grund bilden das Parteilogo der MHP und symbolisieren die Verbundenheit zum Osmanischen Reich. Die "Drei Halbmonde" werden von "Ülkücü"-Anhängern mitunter sichtbar getragen, bspw. in Form von KetDrei Halbmonde 112 8 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 ten, Ringen oder Tätowierungen. Darüber hinaus wurde die Symbolik durch das Sprühen von "cCc" auf Hauswänden in der Öffentlichkeit platziert. ADÜTDF Die Alamanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu (Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland, kurz: ADÜTDF) ist der älteste und mit ca. 7.000 Mitgliedern zugleich anhängerstärkste Dachverband der "Ülkücü"Bewegung in Deutschland und fungiert darüber hinaus als Auslandsorganisation der türkischen "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP), die den politischen Arm der "Ülkücü" (dt.: "Idealisten") in der Türkei darstellt. Die MHP ging einst aus der "Republikanischen Bauern-Volkspartei" hervor und wurde 1969 von ihrem Vorsitzenden Alparslan Türkes in MHP umbenannt. Dieser etablierte anschließend die antikommunistische und nationalistische Ideologie des "Idealismus" (türk.: Ülkücülük). Die "Ülkücü" und deren Mitgliedsvereine bekennen sich nach wie vor zum 1997 verstorbenen MHP-Gründer Alparslan Türkes. Der ehemalige Oberst wird weiterhin uneingeschränkt als ewiger Führer ("Basbug") verehrt. In sozialen Medien präsentieren sich "Ülkücü"-Anhänger mitunter vor dem Grab des Alparslan Türkes' in der Türkei und ADÜTDF zeigen den Wolfsgruß. Einer der ideologischen Vordenker der "Ülkücü"-Bewegung ist Hüseyin Nihal Atsiz. In seinen Schriften finden sich Elemente von Rassismus ("Das Türkentum ist allen anderen Völkern voraus und überlegen") ebenso wie antisemitische Stereotype ("Dennoch betrachten wir [...] den Juden als elenden Geizkragen. Denn wir wissen [...], dass der Jude uns gegenüber durch und durch aus Feindseligkeit besteht.").7 Die MHP gedachte auf ihrem Twitterkanal Atsiz zuletzt am 11.12.2020 anlässlich seines 45. Todestages und fügte ein beliebtes Zitat an: "An dem Tag, wo du 100%iger Türke bist, gehört die Welt dir." Die Ideologie der MHP stützt sich u. a. auf den Gedanken des Panturkismus, einer Vereinigung aller Turkvölker - vom Balkan bis nach Zentralasien - unter der Führung einer "Großtürkei", angelehnt an das Osmanische Reich. Sie sehen die türkische Nation sowohl politisch-territorial als auch ethnisch-kulturell als höchsten Wert an. Prägend für die Bewegung ist ein übersteigerter türkischer Nationalismus mit einer Überhöhung der eigenen Ethnie, teils gepaart mit konservativbis radikal-islamischen Ansichten. Damit einher geht eine Abwertung anderer Ethnien, Bevölkerungsgruppen oder Religionen, wie beispielsweise Kurd:innen, Armenier:innen, Griech:innen und Jüd:innen. Neben der MHP ist die BBP (Große Einheitspartei) eine weitere politische Partei des extrem nationalistischen Spektrums in der Türkei, welche in Form der ANF einen (Europa-)Verband unterhält, dem auch Ortsvereine in Deutschland zuzuordnen sind. Sie ist in ihrem Religionsverständnis deutlich fundamentalistischer ausgerichtet als die MHP. Die ADÜTDF und ihre bundesweiten Mitgliedsvereine, die sog. Ülkü Ocaklari (dt.: "Idealisten-Vereine"), gelten als ein Sammelbecken extrem nationalistischer Personen mit türkischem Migrationshintergrund. Der Dachverband findet seine lokale Vertretung in Bremen und Bremerhaven in dem Verein "Türkische Familienunion in Bremen und Umgebung e.V.". Der Bremer Verein dient als zentraler Treffpunkt der hiesigen organisierten Ülkücü-Szene. Die Mitglieder kommen regelmäßig zusammen, um untereinander den (politischen) Austausch zu suchen, Fastenbrechen zu feiern oder Freitagsgebete abzuhalten. Aufgrund der von den Mitgliedern offen im Internet zur Schau gestellten Ülkücü-Symbolik in Form von Wappen, Fahnen, Bildern und Literatur, welche im Gebäude zu sehen ist, erkennt man jedoch eindeutig die Ausrichtung des Vereins. Organisatorisch ist die ADÜTDF in mehrere Gebiete (türk.: "Bölge") unterteilt. Der Bremer Verein gehört gemeinsam mit Hamburg, Neumünster, Lübeck und Kiel zum Nordverbund (Bölge-Nord), in dessen Rahmen ein enger Kontakt und Austausch besteht. 7 Aus: Zeitschrift "Orhun" vom 15. Juni 1963, 2. Jahr, 17. Ausgabe und in der Zeitschrift Ötüken, 1. Ausgabe im Jahr 1964 Aus: Hüseyin Nihal Atsiz, Makaleler III, 4. Druck 2018. 8 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 113 ATIB 1987 entstand durch eine Abspaltung von der ADÜTDF die ATIB8 (Union der TürkischIslamischen Kulturvereine in Europa), welche einen stärkeren religiösen Fokus aufweist, jedoch ebenso der "Ülkücü"-Bewegung zuzurechnen ist. Vordergründig versteht sich der Verband als Vertreter kultureller, sozialer sowie juristischer Interessen der "türkisch-muslimischen Minderheit", was mit dem Einsatz für Völkerverständigung und Akzeptanz unterschiedlicher Kulturen einhergehen solle. Tatsächlich ist die ATIB jedoch in der "Ülkücü"-Bewegung zu verorten. Wesentliche Elemente ihrer Ideologie basieren auf türkisch-nationalistischen, rassistischen und zum Teil islamistischen Vorstellungen. So schlägt sich bei ATIB-Anhänger:innen ein innerhalb der "Ülkücü"Bewegung vorherrschender übersteigerter Nationalismus in Form von türkisch-natioATIB nalistischen Großmachtfantasien (Staat "Turan") nieder. Dieser findet Ausdruck u. a. in der Glorifizierung historischer osmanischer Eroberungen sowie in der Betonung angeblicher türkischer Überlegenheit, ethnisch sowie politisch-territorial. Anders als die ADÜTDF ist die ATIB versucht, ihre Unabhängigkeit von politischen Parteien in der Türkei zu demonstrieren. Zugleich sucht sie zur Wahrung ihrer Interessen in Deutschland die Nähe zu Verbänden und Einrichtungen. So ist der ATIB-Verband Gründungsmitglied des Zentralrats der Muslime (ZMD). Eine gegen die Zuschreibung als "Ülkücü"-Organisation gerichtete Klage der ATIB gegen den Freistaat Bayern wies das Verwaltungsgericht München 2019 in einem inzwischen rechtskräftigen Urteil ab. Unorganisierte Szene Neben den Mitgliedern der o.g. Vereine bzw. Dachverbände gibt es auch Anhänger:innen, die der Bewegung ideologisch verbunden, jedoch nicht in einem Verein organisiert sind. Diese unorganisierte Bewegung, auch freie Szene genannt, besteht überwiegend aus jüngeren Personen, die insbesondere in den sozialen Netzwerken gegen politische Gegner und Völker agitieren und an das gemeinsame türkische Nationalbewusstsein appellieren. Die Zurschaustellung ihrer zumindest ideologischen Zugehörigkeit zur "Ülkücü"-Bewegung erstreckt sich bspw. auf Social-Media-Posts, in welchen unter Verwendung der o.g. klassischen Symbolik auch nationalistische, rassistische sowie (israelbezogene) antisemitische Stereotype verbreitet werden. Am 18.11.2020 wurde im Deutschen Bundestag mehrheitlich ein Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN angenommen, nach welchem der Einfluss von Ülkücü-Organisationen zurückgedrängt und ein Verbot bestimmter Organisationsstrukturen geprüft werden solle9. Ähnlich positionierte sich auch der Bremer Senat Ende 202010. 8 "Avrupa Türk Islam Birligi" 9 BT-Drucksache 19/24388. 10 Anhang zum Plenarprotokoll der 19. Sitzung der Bremischen Bürgerschaft innerhalb der 20. Wahlperiode, 2518. 114 9 UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 9 UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV Seitenzahl 115 9.1 Geheimschutz 117 9.2 Mitwirkung an Zuverlässigkeitsüberprüfungen 118 9.3 Regelanfragen im Bereich des Einbürgerungsund Aufenthaltsrechts 9 UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 115 9 Unterstützungsaufgaben des LfV Dem LfV obliegt nicht nur die Beobachtung extremistischer Bestrebungen zum Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung, sondern es trägt durch umfangreiche, unterschiedliche Überprüfungsmaßnahmen ebenfalls dazu bei, Sicherheitsrisiken in Behörden oder privaten Unternehmen zu minimieren. Zu den unterschiedlichen Überprüfungen zählen u. a. die Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem Luftsicherheitsgesetz, dem Atomgesetz, dem Sprenggesetz und dem Waffengesetz. Außerdem ist das LfV zentrale Stelle für die Sicherheitsüberprüfungen von Personen in Bremen und Bremerhaven, die im Rahmen ihrer Tätigkeiten Zugang zu sensiblen und vertraulichen Informationen erhalten (Geheimschutz). Die Art, der Umfang und die Maßnahmen einer solchen Sicherheitsüberprüfung richten sich nach dem Verschlusssachengrad, zu dem eine Person Zugang erhalten soll. Diese Sicherheitsüberprüfungen und die damit verbundenen Maßnahmen sind im Bremischen Sicherheitsüberprüfungsgesetz geregelt. 9.1 Geheimschutz Der Schutz geheimhaltungsbedürftiger Informationen ist die zentrale Aufgabe des Geheimschutzes, indem er die materiellen und personellen Voraussetzungen dafür schafft, dass Unbefugte keine Kenntnis von den im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen (Verschlusssachen - VS) erhalten oder in sicherheitsempfindlichen Stellen öffentlicher Einrichtungen beschäftigt werden. Eine Verschlusssache ist hierbei alles - unabhängig von der Darstellungsform (u. a. Schriftstücke, Zeichnungen, Kopien, Filmund Bildmaterial, Speichermedien, elektrische Signale, Geräte und technische Einrichtungen, Bauwerke sowie das gesprochene Wort), was im staatlichen Interesse durch besondere Sicherheitsmaßnahmen vor Unbefugten geheim gehalten werden muss. Die Geheimhaltung von Verschlusssachen dient der Abwehr von Gefahren. Dazu zählen die Gefährdung des Bestandes oder lebenswichtiger Interessen des Bundes oder eines seiner Länder Gefährdung der Sicherheit des Bundes oder eines seiner Länder oder schwerer Schaden für deren Interessen Schädigung oder Nachteile für die Interessen des Bundes oder eines seiner Länder Es handelt sich somit um präventive Maßnahmen zum Schutz des Staates. 116 9 UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Eine Verschlusssache ist 1. STRENG GEHEIM, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte den Bestand oder lebenswichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden kann, 2. GEHEIM, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden oder ihren Interessen schweren Schaden zufügen kann, 3. VS-VERTRAULICH, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder schädlich sein kann, 4. VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder nachteilig sein kann. Materieller Geheimschutz Der materielle Geheimschutz beinhaltet technische und organisatorische Sicherheitsmaßnahmen und regelt u. a. die Aufbewahrung und Verwaltung von VS-Material. Rechtsgrundlage hierfür ist die Verschlusssachenanweisung des Landes Bremen, in der Anforderungen und Vorgaben des materiellen Geheimschutzes konkretisiert werden. So wird darin etwa, jeweils in Abhängigkeit des Geheimhaltungsgrades, auch die Erforderlichkeit von Tresoren und Alarmanlagen geregelt. Das LfV ist zentraler Ansprechpartner für alle bremischen Behörden, die mit VS-Material umgehen. Es berät und unterstützt diese bei der Erfüllung der Anforderungen des materiellen Geheimschutzes. Personeller Geheimschutz Aufgabe des personellen Geheimschutzes ist es, im Rahmen einer Sicherheitsüberprüfung festzustellen, ob Tatsachen dagegensprechen, einer Person eine Vertrauensstellung zu übertragen, in der sie Zugang zu Verschlusssachen hat bzw. ihn sich verschaffen könnte. Eine solche Stellung kann nur Personen übertragen werden, die zuverlässig sind, uneingeschränkt zu den Grundsätzen der freiheitlich demokratischen Grundordnung stehen und bei denen keine Umstände vorliegen, die sie für einen Geheimnisverrat erpressbar machen könnten. Eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit liegt vor, wenn eine Person Zugang zu Verschlusssachen erhält oder sich verschaffen könnte bzw. an einer sicherheitsempfindlichen Stelle einer lebenswichtigen öffentlichen Einrichtung beschäftigt ist. Die Sicherheitsüberprüfung wird nur mit Zustimmung der betroffenen Person durchgeführt. Die Art, der Umfang und die Maßnahmen einer solchen Sicherheitsüberprüfung richten sich nach dem Verschlusssachengrad, zu dem eine Person Zugang erhalten soll. Diese Sicherheitsüberprüfungen und die damit verbundenen Maßnahmen sind im Bremischen Sicherheitsüberprüfungsgesetz geregelt. Arten der Sicherheitsüberprüfungen nach dem (SS 8 Bremisches Sicherheitsüberprüfungsgesetz [BremSÜG]) SS 9 BremSÜG - Einfache Sicherheitsüberprüfung (SÜ1) (Zugang zu VS bis einschließlich VS-VERTRAULICH) SS 10 BremSÜG - Erweiterte Sicherheitsüberprüfung (SÜ2) (Zugang zu VS bis einschließlich GEHEIM) SS 11 BremSÜG - Erweiterte Sicherheitsüberprüfung mit Sicherheitsermittlungen (SÜ3) (Zugang zu VS bis einschließlich STRENG GEHEIM) 9 UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 117 Bei den Überprüfungsarten SÜ2 und SÜ3 werden Ehepartner:innen oder Lebenspartner:innen in die Sicherheitsüberprüfung einbezogen, da sich bei diesen Personen vorliegende Sicherheitsrisiken auch auf die betroffene Person auswirken können. Sicherheitsrisiken liegen gemäß SS 6 BremSÜG vor, wenn tatsächliche Anhaltspunkte 1. Zweifel an der Zuverlässigkeit der betroffenen Person bei der Wahrnehmung einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit begründen, 2. eine besondere Gefährdung durch Anbahnungsund Werbungsversuche fremder Nachrichtendienste, insbesondere die Besorgnis der Erpressbarkeit, begründen oder 3. erhebliche Zweifel am Bekenntnis der betroffenen Person zur freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes oder am jederzeitigen Eintreten für deren Erhaltung begründen. Ein Sicherheitsrisiko kann auch aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte zur Person der Lebenspartnerin oder des Lebenspartners vorliegen. Eine Erkenntnis ist sicherheitserheblich, wenn sich aus ihr ein Anhaltspunkt für ein Sicherheitsrisiko ergibt. 9.2 Mitwirkung an Zuverlässigkeitsüberprüfungen Der Ausschluss von individuellen Sicherheitsrisiken ist nicht nur im Bereich des Geheimschutzes, sondern auch in anderen Arbeitsbereichen von Bedeutung. So sehen u. a. das Luftsicherheitsgesetz und das Bremische Hafensicherheitsgesetz Überprüfungen der in diesen Bereichen in der Regel bei privaten Unternehmen beschäftigten Personen vor. An diesen Zuverlässigkeitsüberprüfungen wirkt das LfV mit, um beispielsweise zu verhindern, dass bei diesen Stellen potenzielle Attentäter beschäftigt werden. Die anhaltend hohe Gefahr terroristischer Anschläge und die zunehmende Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung haben in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass in weiteren Bereichen die Mitwirkung des Verfassungsschutzes an den Zuverlässigkeitsüberprüfungen von beschäftigten Personen erforderlich ist. So ist inzwischen die Mitwirkung bei der Überprüfung von Wachpersonal in bestimmten Einsatzbereichen und bei der Zuverlässigkeitsprüfung für das Erteilen von Waffenerlaubnissen sowie Jagdscheinen und für Sprengstoffberechtigungen gesetzlich vorgeschrieben. Die Bremische Bürgerschaft hat Ende 2020 das Polizeigesetz geändert. In diesem ist erstmalig eine Zuverlässigkeitsprüfung für die Polizeibewerberinnen und -bewerber geregelt, bei der u. a. der Verfassungsschutz beteiligt wird. So soll gewährleistet werden, dass für den Polizeivollzugsdienst in der Freien Hansestadt Bremen ausschließlich Beschäftigte tätig werden und sind, die sich vollumfänglich mit den Grundwerten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung identifizieren und für diese Werte einstehen. Im Jahr 2021 wurden aufgrund dieser neu geschaffenen Gesetzesgrundlage bereits ca. 400 Anfragen dem LfV zur Überprüfung übermittelt. Die Entwicklung zeigt, dass die Mitwirkung des Verfassungsschutzes bei immer mehr sicherheitsempfindlichen Tätigkeiten notwendig ist und gefordert wird. Es ist daher durchaus möglich, dass zukünftig gesetzlich noch weitere Bereiche entsprechende Berücksichtigung finden werden. 118 9 UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 9.3 Regelanfragen im Bereich des Einbürgerungsund Aufenthaltsrechts Zu den anfragestärksten Aufgaben des LfV gehören die Beantwortung von Regelanfragen im Rahmen von Einbürgerungsverfahren und vor der Erteilung von Aufenthaltstiteln. Ein weiterer Schwerpunkt der personenbezogenen Überprüfungen nach dem Aufenthaltsrecht stellen Anfragen in Visumsund Asylkonsultationsverfahren dar. Prozentualer Anteil am Anfrageaufkommen im Berichtsjahr Sonstige Asylverfahren 3,5 % 5,4 % LuftSiG 5,5 % WaffG 6,8 % AufenthaltsVisumverfahren genehmigungen 7,4 % 50,7 % Einbürgerungen 20,6 % Anzahl der Anfragen nach Verfahren 10.000 2020 9.878 2021 8.000 7.831 6.000 4.000 4.813 4.018 2.781 1.066 2.000 1.057 736 668 1.447 1.309 1.338 0 EinbürgeAufenthaltsAsylVisumLuftSiG WaffG Sonstige rungen genehmigunverfahren verfahren gen Im Bereich Sonstige sind u. a. enthalten: Bewachergewerbe, HafenSiG, SprengG. 9 UNTERSTÜTZUNGSAUFGABEN DES LFV VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 119 120 ANHANG VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 ANHANG Seitenzahl 121 Politisch motivierte Kriminalität in Bremen 2019 - 2021 ANHANG VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 121 Politisch motivierte Kriminalität in Bremen 2019 - 2021* Links Stichtag: 31.01.2022 Straftaten 2019 2020 2021 gesamt 127 237 230 Gewaltdelikte 22 26 19 Extremismus 54 77 35 Gewaltdelikte extr. 13 18 7 Rechts Straftaten 2019 2020 2021 gesamt 134 277 211 Gewaltdelikte 3 12 6 Extremismus 117 246 160 Gewaltdelikte extr. 3 11 1 Ausländische Ideologie Straftaten 2019 2020 2021 gesamt 10 9 23 Gewaltdelikte 3 0 4 Extremismus 5 3 10 Gewaltdelikte extr. 1 0 2 Religiöse Ideologie Straftaten 2019 2020 2021 gesamt 2 14 5 Gewaltdelikte 0 2 1 Extremismus 1 11 3 Gewaltdelikte extr. 0 1 1 Antisemitische Straftaten 2019 2020 2021 gesamt 4 45 34 * Die Zahlen der politisch motivierten Kriminalität werden von der Polizei gemeldet. 122 VERFASSUNGSSCHUTZBERICHT 2021 Impressum Herausgeber: Der Senator für Inneres Contrescarpe 22-24 28203 Bremen www.inneres.bremen.de Redaktion: Landesamt für Verfassungsschutz Bremen Postfach 28 61 57 28361 Bremen Tel.: 0421 53 77-0 Fax: 0421 53 77-195 office@lfv.bremen.de www.verfassungsschutz.bremen.de Gestaltung: AlsterWerk MedienService GmbH, Hamburg Fotos: LfV Titelbild: Dienstgebäude des Senators für Inneres und Motive von Bremen Druck: AlsterWerk MedienService GmbH, Hamburg Erscheinungsdatum: 5. Juli 2022