VERDACHTSFALL Zusammenfassung................................................................................................................................................ 4 1. Aufgaben, Befugnisse und Kontrolle des Verfassungsschutzes ............................................................... 16 2. Aktuelle Entwicklungen des Extremismus im virtuellen Raum................................................................... 22 2.1 TikTokisierung des Islamismus ..................................................................................................... 23 2.2 Kommunikationsstrategien von Extremisten im Netz .................................................................... 38 3. Rechtsextremismus ........................................................................................................................................ 49 3.1 DER DRITTE WEG ......................................................................................................................... 51 3.2 Die Heimat (ehemals Nationaldemokratische Partei Deutschlands - NPD)..................................... 55 3.3 Rechtsextremistischer Verdachtsfall: Alternative für Deutschland (AfD) Landesverband Brandenburg ...................................................................................................................................... 58 3.4 Junge Alternative Brandenburg (JA Brandenburg) ........................................................................ 68 3.5 Parteiunabhängige Strukturen 1: Zukunft Heimat e.V. ................................................................... 72 3.6 Parteiunabhängige Strukturen 2: COMPACT-Magazin GmbH......................................................... 78 3.7 Parteiunabhängige Strukturen 3: Kameradschaften ...................................................................... 82 3.8 Parteiunabhängige Strukturen 4: Freie Kräfte ................................................................................ 84 3.9 Parteiunabhängige Strukturen 5: Bruderschaften.......................................................................... 86 3.10 Parteiunabhängige Strukturen 6: Kampfsportgruppen................................................................. 91 3.11 Weitgehend unstrukturiertes Personenpotenzial ......................................................................... 94 3.12 Rechtsextremistische Hassmusik................................................................................................ 96 3.13 Immobilien der rechtsextremistischen Szene ............................................................................ 103 4. Reichsbürger und Selbstverwalter .............................................................................................................. 106 5. Verdachtsfall: Anastasia-Bewegung............................................................................................................ 117 6. Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates ....................................................................... 126 7. Linksextremismus ......................................................................................................................................... 131 7.1 Autonome ................................................................................................................................... 135 7.2 Rote Hilfe e.V. ............................................................................................................................. 143 8. Islamischer Extremismus / Islamismus ....................................................................................................... 146 8.1 Salafismus .................................................................................................................................. 155 8.2 Islamistische Nordkaukasische Szene (INS) ................................................................................ 162 8.3 Muslimbruderschaft ("Jama'at al-Ikhwan al-Muslimin"), Deutsche Muslimische Gemeinschaft (DMG) und HAMAS ........................................................................................................................... 167 8.4 Tablighi Jama'at .......................................................................................................................... 174 9. Auslandsbezogener Extremismus............................................................................................................... 177 10. Scientology Organisation ........................................................................................................................... 184 11. Spionageabwehr, Schutz vor Wirtschaftsspionage, Proliferation und Geheimschutz ......................... 187 11.1 Spionageabwehr und Profileration ............................................................................................ 188 2 11.2 Schutz vor Wirtschaftsspionage ................................................................................................ 191 11.3 Materieller Geheimschutz .......................................................................................................... 195 11.4 Personeller Geheimschutz......................................................................................................... 196 12. Verfassungsschutz durch Aufklärung ....................................................................................................... 198 13. Ausstiegsund Distanzierungsprogramm "wageMUT" ........................................................................... 201 3 Zusammenfassung 4 Für das Jahr 2023 ist in nahezu allen extremistischen Phänomenbereichen ein teilweise deutlicher Anstieg der Personenpotenziale1 feststellbar. Neue historische Höchststände erreichen Reichsbürger und Selbstverwalter sowie der Rechtsextremismus. Ebenfalls leicht angestiegen sind der Linksextremismus und der Islamische Extremismus. Der Auslandsbezogene Extremismus verharrt dagegen auf seinem niedrigen Vorjahresniveau. Unter allen Phänomenbereichen stellt der Rechtsextremismus weiterhin das mit Abstand größte Personenpotenzial. Rechtsextremismus ist die größte Bedrohung für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung. Verschärfend kommt hinzu, dass insbesondere rechtsextremistische Akteure das Ziel verfolgen, mit ihrer Ideologie die Mitte der Gesellschaft durchdringen zu wollen. Mit dieser Entgrenzungsstrategie soll das politische System der Bundesrepublik zunächst unterwandert und schließlich im Sinne rechtsextremistischer Positionen fundamental umgestaltet werden. Zu den zentralen Entgrenzungsakteuren zählen in Brandenburg der Verdachtsfall "Alternative für Deutschland Brandenburg" (AfD Brandenburg)2 samt ihrer rechtsextremistischen Jugendorganisation "Junge Alternative für Deutschland Brandenburg" (JA Brandenburg), der neonationalsozialistisch beeinflusste, rechtsextremistische Verein "Zukunft Heimat e.V." (Zukunft Heimat)3 sowie die rechtsextremistische "COMPACT-Magazin GmbH" (COMPACT)4. Dem vom Verfassungsschutzverbund im Jahr 2021 neu eingerichteten Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates können in Brandenburg erneut nur wenige Akteure ausschließlich zugeordnet werden. Deren Inhalte werden bereits von den brandenburgischen Entgrenzungsakteuren sowie vom Milieu der Reichsbürger und Selbstverwalter maßgeblich abgedeckt. Alle Entgrenzungsakteure waren im Jahr 2023 weiterhin bemüht, den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ins Zentrum ihrer Tätigkeiten zu rücken. Hierbei rechtfertigen viele die russische Aggression und kritisieren den Beistand, den Deutschland der Ukraine zur Verteidigung der Freiheit gewährt. Gleichzeitig hat das Thema Zuwanderung in Verbindung mit fremdenfeindlichen Einstellungen wieder an Gewicht gewonnen. Im Zuge des terroristischen Angriffs der islamistischen "HAMAS" auf Israel am 7. Oktober 2023 konnte in Brandenburg eine Zunahme antisemitischer Straftaten festgestellt werden. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat zu einer deutlichen Intensivierung sicherheitsgefährdender russischer Spionageaktivitäten in Deutschland geführt. Gefährdet ist insbesondere der Raum 1 Personenpotenziale beruhen auf Verfassungsschutzerkenntnissen zu Strukturen und Einzelpersonen, die im Zusammenhang mit relevanten extremistischen Aktivitäten stehen. Darüber hinaus liegen Erkenntnisse zu Personen mit extremistischen Bezügen ohne entsprechend relevante Aktivitäten vor. Sie werden daher nicht zwingend bei den Personenpotenzialen berücksichtigt. Diese Personen sind jedoch regelmäßig daraufhin zu überprüfen, ob ihre Aktivitäten ein Niveau erreicht haben, um sie im jeweiligen Phänomenbereich auszuweisen. 2 Bereits im Jahr 2019 wurden die "Junge Alternative Brandenburg" (JA Brandenburg) und "Der Flügel" als Teilstrukturen der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD, Landesverband Brandenburg) vom Verfassungsschutz Brandenburg als Verdachtsfälle für rechtsextremistische Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung eingestuft, da hierfür hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte vorlagen. "Der Flügel" hat nach eigenen Angaben Ende April 2020 seine Aktivitäten bundesweit eingestellt. Seit Juni 2020 ist der brandenburgische "AfD"-Landesverband selbst Verdachtsfall für rechtsextremistische Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Die "JA Brandenburg" wurde im Juli 2023 zur erwiesen rechtsextremistischen Bestrebung hochgestuft. Der "AfD Brandenburg" und der "JA Brandenburg" wurden im Jahr 2023 insgesamt 1.050 Personen zugeordnet ("AfD Brandenburg": 950; "JA Brandenburg": 120, wobei davon 20 wegen Doppelzählung abgezogen werden, was in der Summe dann 1.050 ergibt). Durch die Nicht-Ausweisung aller Mitglieder des brandenburgischen "AfD"-Landesverbandes wird dem Sachverhalt Rechnung getragen, dass es sich bei ihm um einen Verdachtsfall handelt. Die tatsächliche Mitgliederzahl des brandenburgischen "AfD"-Landesverbandes war im Jahr 2023 höher. 3 Der Verein "Zukunft Heimat e.V." wird vom Verfassungsschutz Brandenburg seit dem Frühjahr 2020 als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung beobachtet. 4 Die "COMPACT-Magazin GmbH" wird seit Dezember 2021 sowohl vom Bundesamt für Verfassungsschutz als auch vom Verfassungsschutz Brandenburg als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung beobachtet. 5 Potsdam. Denn dort haben der Bundeskanzler und zwei Bundesministerinnen ihre parteipolitisch-strukturellen Verankerungen. Auch das Präsidium der Bundespolizei und das Einsatzführungskommando der Bundeswehr befinden sich dort. Brandenburg nimmt damit bundesweit eine Sonderrolle ein. Rechtsextremismus Im Jahr 2023 erreichte das rechtsextremistische Personenpotenzial - unter Berücksichtigung des Verdachtsfalls "AfD Brandenburg"5 - mit 3.085 (2022: 2.855) den höchsten Stand in der Geschichte des Landes Brandenburg. Davon entfallen auf den Verdachtsfall "AfD Brandenburg"6 unter Berücksichtigung ihrer rechtsextremistischen Jugendorganisation "JA Brandenburg" 1.050 (2022: 820) Personen. Auf die "AfD Brandenburg"7 selbst entfallen dabei 950, auf die "JA Brandenburg" 120 Personen.8 Die "AfD Brandenburg"9 hat im Berichtsjahr weiterhin hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte dafür geliefert, dass sie schon aufgrund ihrer völkisch-nationalistischen Ausrichtung eine Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (Verdachtsfall) ist. Das gilt umso mehr für die "JA Brandenburg". Deswegen wurde sie im Juli 2023 zur gesichert extremistischen Struktur hochgestuft. Die "AfD Brandenburg"10 macht sich insbesondere bei dem Personenpotenzial rechtsextremistischer Parteien bemerkbar. Alle zusammen verfügten im Jahr 2023 über rund 1.260 Mitglieder (2022: 1.080). Die Mitgliederzahl der Partei "Die Heimat", ehemals "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD), ist auf etwa 140 gesunken (2022: 200). Sie ist, abgesehen von einigen Regionen im Süden des Landes, 5 Vgl. FN 2. 6 Vgl. FN 2. 7 Vgl. FN 2. 8 Bei der Ermittlung der Gesamtsumme wurden 20 Doppelmitgliedschaften abgezogen. 9 Vgl. FN 2. 10 Vgl. FN 2. 6 praktisch handlungsunfähig. Ständige Versuche, sich an Protesten anderer zu beteiligen, konnten den seit 14 Jahren anhaltenden Abwärtstrend nicht stoppen. Sie wird immer mehr zwischen der "AfD Brandenburg"11 und "DER DRITTE WEG" zerrieben. Ihre Jugendorganisation "Junge Nationalisten" orientiert sich daher zunehmend an der Kleinstpartei "DER DRITTE WEG". "DER DRITTE WEG" ist strikt neonationalsozialistisch ausgerichtet und nahm bisher nur aus taktischen Gründen unregelmäßig an Wahlen teil. So will die Kleinstpartei ihren Parteienstatus untermauern, um staatlichen Exekutivmaßnahmen auf Basis des Vereinsrechts zu entgehen. Im Jahr 2023 verfügte "DER DRITTE WEG" über etwa 70 Mitglieder (2022: 60). Er gibt sich elitär, ist sehr gut vernetzt und strebt für die Szene jenseits der "AfD Brandenburg"12 einen ideologisch-organisatorischen Führungsanspruch an. Die szeneuntypische Unterstützung der Ukraine steht dem jedoch im Weg. Die Parteistrukturen werden langsam ausgebaut. Trotz der noch geringen Mitgliederzahl zeigte sich "DER DRITTE WEG" wieder vergleichsweise aktiv und handlungsfähig. 2024 wird die Kleinstpartei sowohl bei den Kommunalwahlen als auch bei den Landtagswahlen voraussichtlich antreten. Das "weitgehend unstrukturierte rechtsextremistische Personenpotenzial" umfasste im Jahr 2023 insgesamt 1.660 Personen (2022: 1.620). Diese Personengruppe wächst seit dem Jahr 2016 kontinuierlich an.13 Damit ist ein erheblicher Teil der dem Verfassungsschutz Brandenburg bekannten Rechtsextremis11 Vgl. FN 2. 12 Vgl. FN 2. 13 Die Subkategorie "weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial" wurde im Verfassungsschutzverbund erstmalig für das Berichtsjahr 2016 ausgewiesen. 7 ten nicht in Parteien und ebenso nicht in parteiunabhängigen Strukturen eingebunden. Trotz allem bestehen Kontaktund Kennverhältnisse. Daher lassen sich aus dieser Gruppe jederzeit Personen mobilisieren. Im Jahr 2023 entfielen auf die Kategorie "Rechtsextremisten in parteiunabhängigen Strukturen" insgesamt 405 Personen (2022: 375). Sie waren in 14 (2022: 14) Personenzusammenschlüssen organisiert. Darunter fallen eine "Kameradschaft", einmal "Freie Kräfte", acht "Bruderschaften", der Verein "Zukunft Heimat", zwei "Kampfsportgruppen" und "COMPACT-Magazin". So unterschiedlich die Organisationsformen auch sein mögen, letztendlich eint alle die rechtsextremistische Ideologie und die Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Hinzu kommen insbesondere bei "Kameradschaften", "Freien Kräften", "Bruderschaften" und "Kampfsportgruppen" die ideologische Ausrichtung am Neonationalsozialismus sowie eine starke Gewaltorientierung. Gleichzeitig markiert die Verstetigung der eher im Hintergrund wirkenden "Bruderschaften" einen inzwischen nahezu abgeschlossenen Strukturwandel der Szene. Denn parallel dazu sind die früher sehr szenedominanten "Kameradschaften" und "Freien Kräfte" als Organisationsform nahezu verschwunden. 1.300 (2022: 1.260) und damit rund 42 Prozent aller dem Verfassungsschutz Brandenburg im Jahr 2023 bekannten Rechtsextremisten gelten als "gewaltorientiert". Parallel dazu sind die Gewaltstraftaten im Bereich "Politisch motivierte Kriminalität - rechts" auf 117 (2022: 90) gestiegen. Die rechtsextremistische Musikszene hat ihre Aktivitäten wie erwartet nach Beendigung der CoronaSchutzmaßnahmen ausgeweitet. Die Zahl der Bands ist im Jahr 2023 auf 26 (2021: 25) leicht gestiegen. Hinzu kommen zusätzlich 13 Liedermacher (2022: 14). Trotz der engen Zusammenarbeit von Polizei und Verfassungsschutz sowie des hohen Drucks der Versammlungsund Ordnungsbehörden, konnten im Jahr 2023 sieben Konzerte (2022: 2) stattfinden. Zusätzlich gab es neun Liederabende (2022: 4). Die Szene ließ Bands und Liedermacher ebenso verstärkt im Rahmen privater Feierlichkeiten auftreten, um 8 staatliche Exekutivmaßnahmen zusätzlich zu erschweren. Der Verfassungsschutz zählte 19 entsprechende Ereignisse (2022: 9). 14 neue Tonträger konnten 2023 (2022: 16) festgestellt werden. Die Sicherheitsbehörden müssen sich auf den Trend einstellen, dass Rechtsextremisten ihre Konzertaktivitäten sowohl intensivieren als auch auffällig häufig ins Private verlagern. Insgesamt betrachtet treten rechtsextremistische Bestrebungen im Süden des Landes weiterhin stärker als in anderen Landesteilen in Erscheinung. Diese Entwicklung beschreibt der Verfassungsschutz seit Jahren und setzt hier - gemeinsam mit Polizei und zivilgesellschaftlichen Akteuren - Schwerpunkte. Im Süden existiert eine über Jahrzehnte gewachsene, verdichtete und verzahnte Mischszene. Zu ihr zählen Neonationalsozialisten, Rocker, Angehörige des Bewachungsgewerbes, Kampfsportler, Hass-Musiker, Parteimitglieder, Bekleidungssowie Musiklabels und Hooligans. Hinzu kommen weitere extremistische Aktivitäten, wie die vom Verein "Zukunft Heimat" und vom Verdachtsfall "AfD Brandenburg"14. 14 Siehe Fußnote 2. 9 Reichsbürger und Selbstverwalter Die Zahl der "Reichsbürger und Selbstverwalter" lag im Jahr 2023 mit 1.000 (2022: 650) sehr deutlich über dem Vorjahreswert. Dieser Anstieg spiegelt die hohe Szenedynamik der letzten Jahre wider. Der Verfassungsschutz Brandenburg hat darauf reagiert und den Personalansatz entsprechend erhöht. Die gerade im Jahr 2022 gestarteten Versuche des "Königreichs Deutschland", in der Uckermark erstmalig feste Strukturen in Brandenburg zu etablieren, sind bisher nicht weiter vorangeschritten. Ein wesentlicher Grund dafür ist die vor Ort überaus agile Zivilgesellschaft. Anastasia-Bewegung Die auf russischen Fantasie-Romanen beruhende Anastasia-Bewegung wird seit Juni 2023 vom Verfassungsschutz Brandenburg als Verdachtsfall für eine extremistische Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung beobachtet. In der Ideologie der Bewegung werden verschwörungserzählerische Elemente mit antisemitischen, geschichtsrevisionistischen und demokratiefeindlichen Vorstellungen vermischt. In Brandenburg entfalten drei Familienlandsitze Aktivitäten. Das Personenpotenzial liegt im unteren bis mittleren zweistelligen Bereich. Strategie und Organisation ähneln teilweise dem "Königreich Deutschland". Ein verstärktes Zusammenrücken kann hier für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden. Linksextremismus Sowohl im bundesweiten Vergleich als auch im Vergleich zum Rechtsextremismus ist der Linksextremismus in Brandenburg deutlich weniger relevant. Das Personenpotenzial stieg 2023 wieder leicht auf 550 (2022: 530) an. Die Zahl gewaltorientierter Autonomer lag erneut bei 200 (2022: 200). Die Gewaltstraftaten im Bereich "Politisch motivierte Kriminalität - links" sind auf elf (2022: 29) deutlich gesunken. In sechs (2022: 7) Kommunen beziehungsweise Regionen waren Strukturen gewaltorientierter Autonomer feststellbar. Die "Rote Hilfe e. V." wuchs deutlich auf und verfügte im Jahr 2023 nach eigenen Angaben über rund 400 (2022: 360) Mitglieder. Das ist ihr höchster jemals in Brandenburg festgestellter Wert. Innerhalb des Linksextremismus behauptet der Verein damit unangefochten seine Rolle als übergreifende, zwischen allen 10 Strömungen vermittelnde Konsensorganisation. Die "Rote Hilfe" kümmert sich unter anderem um Rechtsbeistand für politisch motivierte Straftäter. Daher ist sie als gewaltrechtfertigend und -unterstützend zu bewerten, wenn gleich sie selbst nicht gewalttätig agiert. Die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) hat sich mit ihren nur noch 20 Mitgliedern (2022: 30) für den Weg in die vollständige Bedeutungslosigkeit entschieden. Dort verharrt bereits seit Jahren die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) mit ihren letzten Einzelmitgliedern. 11 Islamischer Extremismus Die Zahl islamischer Extremisten ist seit 2013 kontinuierlich angestiegen. Im Jahr 2023 wurden etwa 220 gezählt (2022: 210). Davon beträgt das salafistische Personenpotenzial rund 170 (2022: 160). Salafismus bildet den geistigen Nährboden für den Jihadismus und sich schnell radikalisierender Einzeltäter. Darunter befinden sich weiterhin etwa 80 Personen (2022: 80) mit Bezügen zur "Islamistischen Nordkaukasischen Szene". Diese sind besonders relevant, da sich Gruppierungen im Kaukasus teilweise dem terroristischen "Islamischen Staat" (IS) zugehörig fühlen. Gleichzeitig steht Brandenburg vor der Herausforderung, Einflussnahme Versuche von Islamisten auf die muslimische Infrastruktur im Land abzuwehren. Hierbei geht die Gefahr nicht nur von Salafisten, sondern vor allem von Legalisten aus den Kreisen der "Muslimbruderschaft" und der extremistischen Missionierungsbewegung "Tablighi Jama'at" aus. Seit Juli 2023 wird das "Islamische Zentrum Fürstenwalde" vom Verfassungsschutz Brandenburg beobachtet. Der Verein agiert gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, verbreitet antisemitische Erzählungen und verneint das Existenzrecht Israels. Ebenso weist er Bezüge zur "Muslimbruderschaft" auf. 12 Auslandsbezogener Extremismus Die Gesamtzahl der auslandsbezogenen Extremisten lag im Jahr 2023 bei rund 80 (2022: 80). Darunter weist die bundesweit mit einem Betätigungsverbot belegte "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) mit etwa 60 (2022: 60) das größte Personenpotenzial auf. Scientology-Organisation Die extremistische Sekte "Scientology-Organisation" (SO) ist seit 1970 in Deutschland aktiv. In Brandenburg wird sie seit 1997 aufgrund eines Beschlusses der Innenministerkonferenz durch den Verfassungsschutz beobachtet. Ausschlaggebend hierfür ist unter anderem, dass die "SO" eine Gesellschaft ohne allgemeine und gleiche Wahlen anstrebt und zudem das demokratische Rechtssystem ablehnt. Seit dem Jahr 2021 findet die "SO" wieder in Verfassungsschutzberichten des Landes Brandenburg Erwähnung, weil ein entsprechendes erhöhtes Erkenntnisaufkommen vorliegt. Das bezieht sich unter anderem auf Aktivitäten von "SO"-Tarnorganisationen wie "The Way To Happiness" und Einzelsachverhalten. Zuverlässigkeitsund Sicherheitsüberprüfungen Neben der Beobachtung extremistischer Bestrebungen wirkt der Verfassungsschutz an Zuverlässigkeitsüberprüfungen mit. Für diese Aufgabe werden Daten von Extremisten und ihren Bestrebungen benötigt. Der Verfassungsschutz erhält sie von anderen Behörden und erhebt sie selbst. Bei Zuverlässigkeitsüberprüfungen werden die entsprechenden Datenbanken abgefragt. So soll beispielsweise verhindert werden, dass dem Verfassungsschutz bekannte Extremisten beruflichen Zugang zum Sicherheitsbereich von Flughäfen erlangen oder Asylunterkünfte bewachen. Dieselbe Überprüfung ist für Personen möglich, die beispielsweise als Sicherheitspersonal bei Fußballspielen eingesetzt werden. Im Jahr 2023 gingen insgesamt 8.918 (2022: 7.800) entsprechende Anfragen beim brandenburgischen Verfassungsschutz ein.15 15 Die Zahl beinhaltet keine Abfragen auf Grundlage des Waffengesetzes. 13 Als Sicherheitsdienstleister wirkt der Verfassungsschutz ebenfalls an den personalintensiven Sicherheitsüberprüfungen mit. Betroffen sind davon Mitarbeiter von etwa 20 Behörden (unter anderem: Polizei, Staatskanzlei und Ministerien, Landtag, Gerichte sowie Staatsanwaltschaften). 335 Sicherheitsüberprüfungen mit unterschiedlichen Überprüfungstiefen (Ü1-Ü3) waren es im Jahr 2023 (2022: 293). 14 Verfassungsschutz durch Aufklärung Informationsangebote des Verfassungsschutzes waren im Jahr 2023 wieder sehr stark nachgefragt. In 105 (2022: 80) teilweise online angebotenen Veranstaltungen wurden Vorträge gehalten. Ebenso stieg die Zahl der Bürger, die daran teilgenommen haben auf 5.180 (2022: 2.400). Es ist die zweithöchste Zahl seit 1990. Damit summiert sich die Zahl solcher Veranstaltungen seit dem Jahr 2008 auf 1.462. Rund 55.100 Interessierte nahmen daran teil. 15 1. Aufgaben, Befugnisse und Kontrolle des Verfassungsschutzes 16 Das Grundgesetz und die Verfassung des Landes Brandenburg garantieren den Bürgern ein sicheres Leben in Freiheit. In unserer freiheitlichen Gesellschaft sind Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Menschenwürde das Fundament des Gemeinwesens und allen staatlichen Handelns. Sie sind daher sowohl in unserer Landesverfassung (Artikel 2 und 7) als auch im Grundgesetz (Artikel 1 und 20) als tragende Strukturprinzipien festgeschrieben. Zusätzlich verbietet das Grundgesetz in Artikel 79, diese Prinzipien anzutasten. In der Gesamtschau ergibt sich daraus die "freiheitliche demokratische Grundordnung". Unser Staat ist somit "das Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt" (BVerfG 2, 1, 12). Um die freiheitliche demokratische Grundordnung als Grundlage unseres Zusammenlebens zu schützen, muss eine Demokratie bereit und in der Lage sein, diese Werte zu verteidigen. Bedrohungen kommen jedoch nicht nur von außen, sondern auch von innen. Das Grundgesetz hat daher verschiedene Schutzmaßnahmen vorgesehen, die als "wehrhafte Demokratie" bezeichnet werden. Vereinigungen, deren Zweck oder deren Tätigkeit sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind gemäß Artikel 9 Grundgesetz verboten. Gehen solche Aktivitäten von Parteien aus, können sie gemäß Grundgesetz Artikel 21 vom Bundesverfassungsgericht verboten werden. Artikel 73 sieht zudem den Verfassungsschutz als Bestandteil der wehrhaften Demokratie vor. Denn Vereinigungssowie Parteiverbote und andere Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung können nur wirksam eingesetzt werden, wenn Öffentlichkeit, Regierung und zuständige staatliche Stellen umfassend über verfassungsfeindliche Bestrebungen unterrichtet sind. Diese Informationen bekommen sie vom Verfassungsschutz. Verfassungsschutz als Frühwarnsystem Es ist Aufgabe des Verfassungsschutzes, Bedrohungen durch politischen Extremismus, Terrorismus oder Spionagetätigkeiten zu erkennen und einzuschätzen, bevor solche Bedrohungen zu einer konkreten Gefahr werden. Entsprechend nimmt der Verfassungsschutz in Deutschlands Sicherheitsarchitektur16 die Rolle eines "Frühwarnsystems" wahr. Dazu sammelt der Verfassungsschutz gemäß SS 3 Absatz 1 Brandenburgisches Verfassungsschutzgesetz (BbgVerfSchG) Informationen über Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben, sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten in der Bundesrepublik Deutschland für eine fremde Macht, Bestrebungen in der Bundesrepublik Deutschland, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Artikel 9 Abs. 2 des Grundgesetzes), insbesondere das friedliche Zusammenleben der Völker (Artikel 26 Abs. 1 des Grundgesetzes) gerichtet sind, wertet sie aus und unterrichtet die Landesregierung sowie andere zuständige Stellen. Anders als die Polizei hat der Verfassungsschutz keine exekutiven Befugnisse: Seine nicht uniformierten und unbewaffneten Mitarbeiter dürfen weder Wohnungen durchsuchen noch Personen festnehmen oder 16 Zur Sicherheitsarchitektur gehören die drei Säulen der Inneren Sicherheit: Polizei, Verfassungsschutz und Katastrophenschutz. Diese gliedern sich jeweils auf den Ebenen der Bundesländer, des Bundes und der Europäischen Union. Ergänzend werden oft die Staatsanwaltschaften miteinbezogen. 17 diese verhören. Sie erstellen vielmehr Lagebilder und Analysen. Diese sind kein Selbstzweck, sondern dienen der frühzeitigen Warnung sowie Information der zuständigen Stellen und ermöglichen damit den Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Unter engen gesetzlichen Voraussetzungen sowie unter Achtung des Trennungsgebots zwischen Polizei und Nachrichtendiensten werden ebenso an Staatsanwaltschaften und Polizei Erkenntnisse übermittelt und so exekutive Maßnahmen unterstützt. Daneben wirkt der Verfassungsschutz beim Sabotageund Geheimschutz mit, beispielsweise durch technische Sicherung von Verschlusssachen oder mittels Sicherheitsüberprüfungen für Personen, die in sicherheitsempfindlichen Bereichen eingesetzt sind. Den Großteil seiner Informationen gewinnt der Verfassungsschutz aus öffentlich zugänglichen Quellen. Daneben ist allerdings auch der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel erforderlich, um die konspirativen Vorgehensweisen sowie geheimen Ziele von Extremisten, Terroristen und fremden Nachrichtendiensten aufzuklären. Diese Mittel, wie "Observation", "Telekommunikationsüberwachung" und "Verdeckt Informationsgebende"17, unterliegen engen gesetzlichen Grenzen und dem strengen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und Kontrolle. Hierzu gehören ebenso neue den erhöhten Sicherheitsgefährdungen und modernen Technologien angepasste Befugnisse. Daher können nun "IMSI18-Catcher" eingesetzt werden, um Standorte, Geräteoder Kartennummern von Mobiltelefonen zu ermitteln (SS 6 Absatz 3 Nummer 11 BbgVerfSchG). Daneben darf der Verfassungsschutz online Informationen erheben, ohne die eigene Identität offen legen zu müssen (SS 6 Absatz 3 Nummer 12 BbgVerfSchG). Der Einsatz dieser nachrichtendienstlichen Mittel ist zur Erfüllung des gesetzlichen Verfassungsschutzauftrages unabdingbar. Insbesondere "Verdeckt Informationsgebende" haben im Bereich des Rechtsextremismus maßgeblich dazu beigetragen, dass brandenburgische Innenminister bislang acht Vereinsverbote erlassen konnten. Mit solchen Verboten wird die Ausbreitung extremistischer Ideologien unterbunden. Der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist eine übergreifende Aufgabe aller Bundesländer und des Bundes. Daher arbeiten alle Verfassungsschutzbehörden eng zusammen, bündeln ihr Fachwissen und tauschen Informationen aus. Dies erfolgt auf allen Organisationsebenen. Zusätzlich wurde der Austausch in den Informationsund Kommunikationsplattformen "Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum" (GTAZ) und "Gemeinsames Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum" (GETZ) institutionalisiert. Der Verfassungsschutz Brandenburg arbeitet nicht losgelöst von rechtsstaatlichen und demokratischen Anforderungen, sondern ist streng an diese gebunden. Als Abteilung des Ministeriums des Innern und für Kommunales unterliegt der Verfassungsschutz der Fachaufsicht durch den Minister und die Staatssekretäre. Die Landesbeauftragte für den Datenschutz hat das Recht auf Akteneinsicht. Sie kontrolliert unabhängig und kontinuierlich, ob die datenschutzrechtlichen Bestimmungen des BbgVerfSchG und des Brandenburgischen Datenschutzgesetzes eingehalten werden. Über die Achtung haushaltsrechtlicher Vorschriften wacht der Landesrechnungshof. Daneben existiert eine "Stabsstelle Innenrevision" beim Verfassungsschutz, die nach anerkannten fachlichen Standards die Arbeit auditiert und der Leitung der Behörde berichtet (SS 2 Absatz 2 BbgVerfSchG). Wie jeder Teil der Exekutive wird auch der Verfassungsschutz durch das Parlament kontrolliert. Neben dem Ausschuss für Inneres und Kommunales übernimmt vor allem die Parlamentarische Kontrollkommission (PKK) diese Funktion: Sie besteht aus höchstens neun Mitgliedern des Landtags. Sowohl Abgeordnete der Regierungsals auch der Oppositionsparteien sind vertreten (SS 24 BbgVerfSchG). Sie wird durch den "Ständigen Bevollmächtigten" (SS 25a BbgVerfSchG) unterstützt. Er kann einzelfallbezogene 17 "Verdeckt Informationsgebende" wurden früher einfach nur "V-Mann" oder "Menschliche Quellen" genannt. 18 IMSI = "International Mobile Subscriber Identity". 18 Untersuchungen durchführen. Die Landesregierung unterrichtet die PKK umfassend über die allgemeine Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde, die Lage und besonders bedeutsame Vorgänge. Die PKK kann verlangen, über Einzelfälle oder sonstige Vorgänge unterrichtet zu werden. Über bestimmte einzelne Maßnahmen, wie beispielsweise den Einsatz von "Verdeckt Informationsgebenden", Observationen oder Telekommunikationsüberwachungen, muss die PKK ebenfalls unterrichtet werden (SS 25 BbgVerfSchG). Die PKK tagt mindestens vierteljährlich (SS 26 Absatz 2 BbgVerfSchG). Neben der PKK gibt es die G10-Kommission, die ebenfalls vom Landtag gewählt wird und Beschränkungen des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses aus Artikel 10 GG vor ihrer Durchführung auf ihre Zulässigkeit und Notwendigkeit überprüft. Sie besteht aus drei weisungsfreien Mitgliedern, wobei die/der Vorsitzende die Befähigung zum Richteramt haben muss. Sämtliche Handlungen des Verfassungsschutzes, die nach Darstellung der Betroffenen in ihre Rechte eingreifen, unterliegen der gerichtlichen Kontrolle. Zudem kontrollieren Medien und Öffentlichkeit den Verfassungsschutz. Alle Bürgerinnen und Bürger können den Verfassungsschutz kontrollieren, indem sie gemäß SS 12 BbgVerfSchG unentgeltlich Auskunft über die zu ihnen beim Verfassungsschutz gespeicherten Daten sowie den Zweck und die Rechtsgrundlage der Speicherung verlangen. Die Auskunft muss erteilt werden, wenn nicht im Ausnahmefall Verweigerungsgründe nach SS 12 Absatz 2 BbgVerfSchG vorliegen. Der Verfassungsschutz Brandenburg in Zahlen Am 31. Dezember 2023 hatte der brandenburgische Verfassungsschutz im Ministerium des Innern und für Kommunales 134 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (2022: 128). Diese Zahl erfasst auch Teilzeitbeschäftigte. Der Verfassungsschutz als eine von sechs Abteilungen im Ministerium des Innern und für Kommunales umfasst sieben Referate: 19 Wie in den vorangegangenen Berichten werden abgeordnete Bedienstete nicht konkret ausgewiesen. In der Abteilung sind 89 Männer und 45 Frauen beschäftigt. Den größten Anteil der Mitarbeiter arbeitet im gehobenen Dienst. An Sachmitteln standen der Verfassungsschutzbehörde im Haushaltsjahr 2023 insgesamt zwei Millionen Euro zur Verfügung. Davon wurden 1.895.633,29 Euro verausgabt. Im Berichtszeitraum 2023 hat der Verfassungsschutz Brandenburg 44.406 Posteingänge über die zentrale Schriftgutverwaltung abgewickelt. Sieben Mal weniger Postausgänge sind im Vergleich versendet worden. 20 Zur Bekämpfung des politischen Extremismus war der brandenburgische Verfassungsschutz 2023 im Internet aktiv. Insgesamt beobachtet die Behörde 287 Internetauftritte. Darunter fallen Profile in sozialen Netzwerken, Messenger-Dienste und Webseiten in verschiedenen Phänomenbereichen. Gegenwärtig sind acht Verfahren (Stand: 12/2023) des Verfassungsschutzes bei Gerichten in Brandenburg anhängig. 21 2. Aktuelle Entwicklungen des Extremismus im virtuellen Raum 22 2.1 TikTokisierung des Islamismus Herausforderung für Staat, Sicherheitsbehörden und unsere Demokratie Am 21. Oktober 2023 beteten aus Solidarität mit Muslimen in Gaza etwa 50 Personen öffentlichkeitswirksam vor dem Brandenburger Tor in Berlin. Dazu hatten Islamisten über soziale Netzwerke aufgerufen. Trotz eines behördlichen Verbots wurde die Aktion durchgeführt. Dabei handelte es sich um eine inszenierte symbolische "Raumnahme" durch Islamisten. In den sozialen Medien gingen die Bilder des öffentlichen Gebets sowohl in der islamistischen Szene als auch bei Islamfeinden viral. Solche Aktionen im Kontext des terroristischen Überfalls der "HAMAS" am 7. Oktober 2023 auf Israel und des Gaza-Konflikts wurden gezielt für soziale Medien inszeniert und verbreitet, um mediale Reichweite zu erzielen und Wirkkraft zu entfalten. Bei der medialen Inszenierung im Islamismus spielt insbesondere die Kurzvideo-Plattform TikTok eine zentrale Rolle. Gerade Islamisten machen sich die Wirkungsweise dieser Kurzvideo-App zunutze. Der Verfassungsschutz nennt diesen Trend die "Tiktokisierung des Islamismus". All dies führt deutlich vor Augen, in welchem Ausmaß mittlerweile soziale Medien mit der analogen Welt interagieren und welche rasanten Dynamiken dadurch in Gang gesetzt werden: gestern noch Israel und Gaza, heute schon die Berliner Sonnenallee, Hamburg, Essen, London oder Paris. Zweifelsohne ist Online-Propaganda von Extremisten kein neues Phänomen und seit Jahren weit verbreitet. Ebenso vollziehen sich Radikalisierungsund Hinwendungsprozesse zum Extremismus meist als ein interaktives Wechselspiel aus virtuellem Raum und analoger Welt. Nichtsdestotrotz kommt der Aufstieg TikToks einer Revolution dieser Entwicklungen gleich. Dieses Videoportal hat in mehrfacher Hinsicht eine neue Qualität. TikTok gilt als wahrer "Brandbeschleuniger" dieser Dynamiken und Radikalisierungsprozesse. Ebenso beschränkt sich der Trend der "TikTokisierung" nicht nur auf den Islamismus. Andere Extremisten nutzen die "Vorzüge" der Plattform ebenso und verbreiten über sie gezielt extremistisches Gedankengut. So beschwor zum Beispiel Martin Sellner - die Leitfigur der "Identitären Bewegung" und metapolitischer Vordenker der "neuen Rechten" - im September 2023 während der Sommerakademie des "Instituts für Staatspolitik" in Schnellroda (Sachsen-Anhalt) einen "TikTok Patriotismus". Ebenso versuchen Linksextremisten, über TikTok die Klimabewegung zu unterwandern und zu radikalisieren. Insge23 samt kann daher von einer "Tiktokisierung des Extremismus" gesprochen werden. Allerdings besitzt dieser Trend im Islamismus im Vergleich zu anderen Phänomenbereichen ein erhebliches Aktivierungspotenzial von Gewaltressourcen. Mit diesem komplexen Wechselspiel zwischen virtuellem Raum und analoger Welt sowie den daraus resultierenden Dynamisierungseffekten und Radikalisierungspotenzialen wird sich dieses Sonderkapitel auseinandersetzen. Worin besteht die Attraktivität von TikTok für (islamische) Extremisten? Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum gerade die Plattform TikTok so attraktiv für Extremisten ist? Die Antwort kann auf zwei Aspekte heruntergebrochen werden: Zum einen wäre da der riesige Nutzerkreis der Kurzvideo-App und die dadurch entstehenden Reichweiten. Zum anderen trägt die Themengebundenheit bei der Auswahl der Videos durch Algorithmen der Plattform erheblich zum Attraktivitätsmoment bei. TikTok schreibt seit der Gründung 2016 durch das chinesische Technologie-Startup ByteDance eine Erfolgsgeschichte. Seit Jahren stellt es eines der am schnellsten wachsende soziale Netzwerke dar und hat YouTube bereits den Rang abgelaufen. Im Jahr 2023 waren weltweit 1,7 Milliarden Nutzer registriert (Prognose 2024: 2 Milliarden) und bei Tweens, also Kindern zwischen acht und zwölf Jahren und Teenagern, ist TikTok die beliebteste Social-Media-App. Im Jahr 2023 nutzte in Deutschland fast jede vierte Person dieses soziale Netzwerk. TikTok ist seit 2021 neben Telegram das beliebteste soziale Medium bei Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren und die drittbeliebteste App nach WhatsApp und Instagram. Laut einer Untersuchung gab fast die Hälfte der befragten Nutzer an, die Plattform täglich oder mehrfach wöchentlich zu nutzen.19 Während der Corona-Pandemie haben sich die Nutzungszeiten gerade bei Kindern und Jugendlichen noch weiter erhöht. Dies liegt einerseits am unkomplizierten Zugang, beispielsweise per Smartphone. Andererseits werden Nutzer durch die Auswahl der vorgeschlagenen Videos in den Bann der App gezogen. Schließlich zeigt der TikTok Algorithmus eine "themengebundene Auswahl" von Inhalten an. Das heißt, Themen werden ausgewählt und letztlich konsumiert, die sich ähneln und Interesse bei den jeweiligen Usern wecken könnten. Dadurch verbringen Nutzer immer mehr Zeit auf TikTok - ein digitales Angebot mit hohem Suchtpotenzial. Daher gilt TikTok auch als "digitale Droge". Hierbei sind gerade Kinder und Jugendliche als die Hauptnutzer von TikTok die primär anvisierte Zielgruppe von Extremisten, also auch von Islamisten und salafistischen Predigern. Analog zu den Dynamiken der Userdaten hat sich die Plattform auch inhaltlich enorm weiterentwickelt. Inzwischen finden sich Kurzvideos zu unzähligen Themenbereichen, an die ebenfalls islamische Extremisten andocken. Dabei nutzen sie neben gesellschaftlich relevanten Debatten insbesondere Agitationsund Mobilisierungsthemen sowie emotionalisierende "Trigger-Ereignisse" wie den derzeitigen GazaKonflikt aus. Damit 'wildern' sie jenseits der eignen islamistischen "Filterblase" und versuchen, in neue Nutzerkreise vorzudringen. Über unverfängliche Themen kann eine erste, meist unerkannte extremistische Ansprache gelingen. In der Konsequenz empfiehlt der Algorithmus immer wieder ähnliche und schließlich extremistischere Inhalte. Die immer noch weit verbreitete Wahrnehmung, TikTok sei eine "Spaß-Plattform" mit bunten lustigen Inhalten, ist mit Blick auf die sich immer weiterverbreitenden extremistischen Inhalte eine ernstzunehmende Gefahr für unsere Demokratie. Wenn es um Radikalisierung von Jugendlichen ging, stand die App 19 Vgl. https://www.ranktracker.com/de/blog/tiktok-by-the-numbers-unveiling-the-fascinating-statistics-behind-the-viral-app/, https://newsroom.tiktok.com/de-de/mau-announcement, (letzter Zugriff am 22.1.2024). Vgl. https://www.kolsquare.com/de/blog/diese-tiktok-statistiken-solltet-ihr-kennen und siehe Brown (2022), (letzter Zugriff am 08.08.2023). Im Jahr 2018 gaben lediglich 8 Prozent der Jugendlichen an, die App regelmäßig zu nutzen (vgl. Statista-Angaben, Social-MediaAtlas 2022 der Agentur Faktenkontor). 24 in der Vergangenheit selten im Fokus der Prävention. Gleichzeitig sind die meisten Erwachsenen, Lehrkräfte und Eltern - selbst oft keine TikTok Nutzer - mit den Inhalten dieser Social-Media-Plattform oft überhaupt nicht vertraut. Deshalb sind sie sich häufig nicht darüber im Klaren, dass Jugendliche und Kinder dort mit extremistischen Ansprachen in Berührung kommen. Zudem lag in den vergangenen Jahren das mediale, gesellschaftliche und politische Augenmerk weniger auf dem Phänomenbereich Islamismus. Gleichzeitig mangelt es vielen Lehrkräften und Eltern an Wissen zu islamistischen Symboliken und Codes sowie zu Anzeichen entsprechender Radikalisierungsprozesse. Von diesen "blinden Flecken" haben Islamisten in den vergangenen Jahren erheblich profitiert. Spätestens seit der Pandemie konnten sie ihre extremistischen Botschaften weitgehend unbemerkt über TikTok an ein immer jünger werdendes Publikum vermitteln. Staatliche Repression und Pandemie: Salafistische Strategiewechsel und Prediger auf TikTok Profiteure dieser Entwicklungen waren insbesondere Salafisten. Gleichermaßen haben ihre Aktivitäten die "TikTokisierung des Islamismus" maßgeblich vorangetrieben. Aufgrund des eigenen strengen Islamverständnisses sind Salafisten vom ausgeprägten Missionierungsdrang beseelt und ermahnen andere Muslime oder Andersgläubige, ihrem strikten Islamverständnis zu folgen. Aufgrund dessen fiel die Szene in den 2010er Jahren durch missionarisch-öffentlichkeitswirksamen Aktivismus sowie kalkulierte Provokationen auf (Großkundgebungen, Koran-Verteilaktionen in Fußgängerzonen (z. B. die später verbotene LIES-Kampagne) und andere Formen der öffentlichen Missionierung und Werbung (Street Da'wa) sowie teils gewaltsame Konfrontationen mit staatlichen Sicherheitsorganen). Dabei bildet der Salafismus den Nährboden und eine Art Vorfeld für den Jihadismus und islamischen Terrorismus. Salafistische Gruppen rekrutierten häufig neue Anhänger und organisierten beispielsweise in vielen Fällen deren Ausreise nach Syrien und Irak zum "IS." Solche "Handlangerdienste" für terroristisch-jihadistische Gruppierungen zogen in den vergangenen Jahren staatliche Repressionsmaßnahmen wie Verbote salafistischer Verein nach sich. Diese Gegenmaßnahmen sowie die Bedingungen der Corona-Pandemie hatten erhebliche Auswirkungen auf die salafistische Szene und ihre Aktionsformen. Daraus folgte ein Strategiewechsel: Weitgehend fand ein Rückzug aus dem Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit statt. Man traf sich in geschlossenen Studienzirkeln und zu Seminaren im engsten Kreis. Nicht wenige folgerten fälschlicherweise daraus, dieses extremistische Problem hätte sich erledigt und würde fortwährend an Bedeutung verlieren. Jedoch gewannen mit dem "Rückzug" aus der Öffentlichkeit das Internet und soziale Medien an Bedeutung für die salafistische Ansprache. Im virtuellen Raum professionalisierte sich die Szene zunehmend. Neben etablierten Plattformen, wie YouTube oder Facebook, auf denen Akteure bereits seit Jahren aktiv waren, eroberten Salafisten TikTok, Instagram und Telegram. Prominente Gesichter der "alten SalafistenGarde", wie Pierre Vogel, Marcel Krass oder Hassan Dabbagh, waren dort aktiv. Allerdings etablierten sich gerade auf TikTok auch neue salafistische Prediger. Aus Salafisten-Predigern werden Influencer-Stars auf TikTok Mit dem Strategiewechsel und der Professionalisierung der Ansprache entwickelten sich seit 2021 in beachtlicher Geschwindigkeit weitgehend unbekannte Salafisten-Prediger zu islamistischen Influencern. So sind beispielsweise Ibrahim El Azzazi (von seinen Anhängern auch Sheikh Ibrahim genannt) oder Abul Baraa auf TikTok zu den "Backstreet Boys" der Szene geworden. Sie erreichen mit Kurzvideos auf ihren Kanälen und weiteren Spiegelkanälen ein jugendliches Millionenpublikum im deutschsprachigen Raum. Abul Baraa zählt zu den bekanntesten Predigern und hat sich im deutschsprachigen Raum mittlerweile zu einer Autorität in Islamfragen entwickelt. Auf TikTok hat er eine große Zahl von Followern. Heute ist er in der Moschee der "DMG" in Braunschweig aktiv, wo er meist alle zwei Wochen auftritt. 25 Zudem ist er bundesweit als Gastprediger in Moscheen aktiv. In seinen Predigten finden sich teils antisemitische Stereotype.20 Abul Baraa und El Azzazi verkörpern einen neuen Typus des salafistischen Predigers. Während früher Prediger eher altmodisch und oft weit entfernt von jugendlichen Lebenswelten waren, wirken dagegen Typen wie El Azzazi und Abul Baraa jung und cool. Um diesen Eindruck zu bewahren, versuchen sie, ihr wahres Alter etwas zu verschleiern. Ebenso sind sie bemüht, durch popkulturelle Referenzen eine Nähe zu jugendlichen Lebenswelten und deren Sprache zu erzeugen. Dieses Image wird durch ihre öffentlich zur Schau gestellten Kontakte zu berühmten Influencern, Rappern oder arabischen Clan-Größen weiterbefördert. Es verschafft ihren extremistischen Haltungen noch mehr Reichweite und trägt zu einer Normalisierung des Islamismus gerade unter Jugendlichen bei und befördert damit Entgrenzungstendenzen. Frage und Antwort-Videos als salafistische Methode Dazu trägt das salafistische Angebot auf TikTok bei. Es funktioniert recht einfach und niederschwellig: Die Kurzvideos wirken für Außenstehende auf den ersten Blick unverfänglich und nicht extremistisch. Jugendliche, oft Muslime, können Fragen zu einer islamkonformen Lebensführung stellen. Diese werden dann von El Azzazi oder Abul Baraa in oft nur 30 bis 40 Sekunden langen Kurzvideos beantwortet. Jugendliche können fast zu allem fragen, was sie beschäftigt. Dadurch müssen die Salafisten-Prediger teils recht abwegige Fragen beantworten. El Azzazi-Auftritt in sozialen Medien Abul Baraa beantwortet islampraktische Fragen Häufig werden Fragen zur Sexualität wie Homosexualität und Beziehungsfragen angesprochen - zum Beispiel: "Wie kann man eine Frau halal21 kennenlernen?" "Wie sollte ein Mann mit einer Frau umgehen, die dauernd rausgehen möchte?" "Darf man seine Ehefrau züchtigen, wenn sie nicht gehorcht?" 20 Vgl. https://www.verfassungsschutz-bw.de/,Lde/Serie+_Salafistische+Netzwerke+im+Wandel_+_+Teil+10_+Ahmad+ABUL+BARAA; https://www.antworten-auf-salafismus.de/salafismus/glossary/?filter-category=5, (letzter Zugriff am 22.1.2024). 21 Mit halal, was mit "erlaubt, statthaft, gesetzmäßig" übersetzt werden kann, werden Handlungen und Dinge bezeichnet, die als islamkonform und islam-rechtlich erlaubt gelten. Alles was nicht ausdrücklich verboten (haram) ist, ist halal. 26 Daneben finden sich zahlreiche Fragen zu einer islamkonformen Lebensführung: "Darf man allgemein nicht als Beamter arbeiten, oder nur nicht als sowas wie Polizist?" oder "Darf man zur Bundeswehr?" "Ist es erlaubt, in einem Laden zu arbeiten, in dem Alkohol verkauft wird?" "Darf eine Frau arbeiten"? "Darf man die Staatsangehörigkeit von nichtmuslimischen Ländern annehmen?" "Darf man ins Schwimmbad gehen?" Solche Fragen beantworten die Salafisten-Prediger recht kompakt - manchmal ohne jede Begründung und stets mit strammen Botschaften versehen. Dabei verkaufen Abul Baraa oder El Azzazi das eigene salafistische Islamverständnis als die allgemeinverbindliche "muslimische Sicht" und richtige Antwort "des Islam" auf alle Lebensfragen. Um dies zu illustrieren, hier einige Beispiele: Auf die Frage, ob man als Beamter oder bei der Polizei tätig sein dürfe, antwortet El Azzazi, dies sei generell im Arbeitsamt oder als Lehrkraft nicht verboten. Allerdings gehe es nur in der Exekutive nicht, da die "Polizei Gesetze durchsetzt, die nicht islamkonform sind oder gegen den Islam sind." Ebenso verneint El Azzazi die Frage, ob ein Muslim Dienst in der Bundeswehr leisten dürfe. Denn es sei "nicht erlaubt, für einen Staat zur Waffe zu greifen und gegebenenfalls zu kämpfen und zu töten, wenn dieser nicht den islamischen Richtlinien und Institutionen untersteht oder diese nicht befürwortet oder diese nicht verteidigt." Abul Baraa antwortete auf eine ähnliche Frage, dass man weder in der Bundeswehr noch in der Polizei Dienst verrichten dürfe, "weil das System ungerecht ist." Ferner ergänzt er: "Auch in unseren Ländern" ist der Dienst bei Bundeswehr und Polizei nicht erlaubt, "weil auch dort das Unrecht herrscht."22 Ebenso sei es grundsätzlich nicht erlaubt, ohne einen triftigen Grund die Staatsangehörigkeit der "Kuffar", der "Ungläubigen", anzunehmen, weil dies eine "Art Loyalitätserklärung" darstelle. Denn man müsse im Kriegsfall für dieses "ungläubige Land, von dem man die Staatsangehörigkeit angenommen hat" unter Umständen gegen ein muslimisches Land kämpfen.23 Und auf die Frage nach dem Schwimmbadbesuch antwortet El Azzazi, dass dies grundsätzlich nicht verboten sei. Sollte dort aber keine Geschlechtertrennung praktiziert werden, Musik erlaubt sein und müssten Männer dort nicht islamkonforme Bekleidung tragen, dann sei dies nicht erlaubt. Da die öffentlichen Schwimmbäder "eigentlich alle diese haram24-Sachen drin" haben, "darf man da nicht hingehen."25 Als ein User wissen wollte, ob eine Frau arbeiten dürfe, erhält er die Antwort, dass dies grundsätzlich zulässig sei, solange "es keine haram-Aspekte gibt in dieser Arbeit" gebe, sie also nicht mit Männern zusammenarbeite, nicht ihr Kopftuch ablegen müsse oder "dort irgendeine haram-Tätigkeit ausführen muss".26 Mit diesem Frage-Antwort-Format docken islamistische Prediger an die traditionell-islamische Form der Fatwa an. Bei der stellt ein Muslim einem Rechtsgelehrten (Mufti) eine islamrechtliche Frage und erhält als Antwort dessen Rechtsmeinung, also ein Rechtsgutachten (Fatwa) dazu. Das wird von den salafistischen Predigern in jugendlicher Form als TikTok-Video-Format nachgeahmt. Auch wenn dies suggerieren 22 Vgl. TikTok Kanal "islam_mert", 8.5.2023; TikTok-Kanal "as_siratofficial", 10.4.2022, (letzter Zugriff am 16.1.2024). 23 Vgl. TikTok Kanal "islamcontent5778ii", 23.10.2023, (letzter Zugriff am 16.1.2024). 24 Der Begriff "haram" kann mit "verboten, tabu, unverletzlich" übersetzt werden und bezeichnet eine Sache oder Handlung, die als tabu belegt oder islamrechtlich als verboten gilt. 25 Vgl. TikTok Kanal "islamcontent5778backup", 22.10.2023, (letzter Zugriff am 16.1.2024). 26 Vgl. TikTok Kanal "islamcontent5778backup", 23.9.2023, (letzter Zugriff 16.1.2024). 27 soll, es handle sich bei den Salafi-Predigern um Rechtsgelehrte, ist ihre Ausbildung mit der eines klassischen islamischen Rechtsgelehrten bei weitem nicht vergleichbar. Trotz dessen gelten sie bei vielen ihrer Follower als islamische Autoritäten. Generell wirkt die Inszenierung in den Videos seriös islamisch, gleichzeitig locker und harmlos sowie in manchen Fällen sogar lustig. Das schafft Vertrauen und bringt den strengen Salafisten-Predigern unzählige Likes, Kommentare sowie eine treue Fangemeinde ein. Dabei erfüllen die Prediger die Rolle des nahbaren Vorbilds und des lässigen "großen Bruders." Gleichzeitig verleihen sie an anderer Stelle mit ihrem manchmal gewollt wirkenden "Gelehrten-Habitus" den Antworten auf oft banale und unwissende Fragen eine übergeordnete, transzendente Würde, fernab der Banalität des Alltags vieler Jugendlicher. Diese Mischung aus lebensweltlicher Nähe und islamisch-moralisch inszenierte Unnahbarkeit scheint die Popularität der Prediger mit zu bedingen. Hinter der lustig und harmlos erscheinenden Fassade stehen jedoch harte extremistische Haltungen und ein restriktives Islambild von Regeln und Verboten. Die Empfehlungen für eine vermeintlich "islamkonforme" Lebensführung transportieren Auffassungen, die mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oft nicht vereinbar sind. Ebenso wird ein desintegratives binäres Denken von "gut" - "böse", "wir" - "die" sowie "wahre Muslime" versus "Ungläubige" vermittelt. Dieses Gedankengut befeuert oft Opfernarrative und propagiert eine soziale Distanz zur deutschen Mehrheitsgesellschaft. Gleichzeitig wird die Überlegenheit des Islam und der Muslime suggeriert. Und es werden frauenverachtende sowie homophobe Meinungen verbreitet.27 All dies dient dem Ziel, Jugendliche schleichend an antidemokratische Einstellungen heranzuführen und von der Demokratie zu entfremden. Dies kann Radikalisierungsprozesse in Gang setzen oder weiter beschleunigen. Salafisten versuchen oftmals ebenfalls diese sich radikalisierenden Nutzer realweltlich an die Szene heranzuführen, um sie weiter an diese zu binden. Von TikTok auf die Straße Das extremistische Handeln der TikTok-Salafisten in den sozialen findet keineswegs in einem "virtuellen Vakuum" statt, sondern wird von ihnen entsprechend in der analogen Welt fortgesetzt. Seit 2022 zeigt sich, dass die Szene vielerorts wieder aktiver geworden ist. So treten salafistische TikTok-Prediger als die Popstars der Szene häufig realweltlich zu gut besuchten Vortragsveranstaltungen bundesweit in Moscheen auf. Dort treffen sie ihre Fans und führen im Internet gewonnene potenzielle Anhänger physisch an die Szene heran. Daneben fungieren diese Prediger als Reiseleiter bei Umra-Pilgerreisen nach Mekka in Saudi-Arabien. Dabei übernehmen sie die ideologische Betreuung, erweitern damit ihren Einfluss in der Szene und nutzen diese Reisen zur weiteren Missionierung der neuen Anhänger. Ebenso findet die salafistische Propaganda in den sozialen Medien häufig ein (meist intendiertes) Echo in der realen Welt. Die Aussagen der salafistischen Influencer können erhebliche Auswirkungen im Lebensalltag für Jugendliche haben. Ein Anhänger brach beispielsweise seine Ausbildung bei REWE ab, nachdem die Frage, ob man dort als Muslim arbeiten dürfe, von den Salafisten-TikTokern verneint wurde. Denn REWE verkaufe Schweinefleisch und Alkohol. Ebenso sei es gemäß "dem Islam" verboten, als Muslim in der Altenpflege zu arbeiten, da man dort fremde Menschen, insbesondere "Ungläubige" waschen müsse. Diese Beispiele geben einen Eindruck, welchen enormen Einfluss die Prediger auf das Alltagsleben und Denken von Jugendlichen auszuüben vermögen. 27 Männer und Frauen hätten nach Ansicht El Azzazis "im Islam" nicht die gleichen Rechte, sondern sie haben "andere Rechte" und jedes Geschlecht habe seine eigenen Rechte und somit hätten Frauen manche Rechte, die Männer nicht hätten und umgekehrt (TikTok Kanal "islamcontent5778ii", 12.10.2023, (letzter Zugriff am 3.1.2024). Ebenso teilen diese salafistischen Prediger die Auffassung, dass ausgelebte Homosexualität "im Islam" verboten sei. 28 Allerdings können die Auswirkungen der salafistischen Propaganda noch drastischer ausfallen und Follower so weit radikalisieren, dass sie Anschläge planen und sogar begehen. So fanden sich auf dem Smartphone eines 14-Jährigen, der als Teil einer dreiköpfigen Jihadisten-Gruppe im Verdacht steht, einen Terroranschlag auf die Wiener Regenbogenparade geplant zu haben, Abul Baraa-Videos. Nach Aussage des Jugendlichen im Polizeiverhör hätten ihn diese Videoinhalte beeinflusst und zur Tat motiviert.28 Islamisten nutzen jedoch auch andere "Trigger-Ereignisse" wie Koranverbrennungen in Schweden, um zu emotionalisieren, zu radikalisieren und letztlich zu Gewaltakten zu mobilisieren.29 Gerade islamistische Gruppen wie "Muslim interaktiv", "Realität Islam" oder "Generation Islam", die der verbotenen Organisation "Hizb ut-Tahrir" (HuT) nahestehen, haben dieses Thema ausgiebig in ihren propagandistischen Online-Aktivitäten aufgegriffen Kundgebung "Muslim Interak v" anlässlich Koranverbrennungen in Schweden und letztlich auf die Straßen gebracht. Das islamistische Netzwerk "Muslim Interaktiv" (MI) verfügt auf TikTok und anderen SocialMedia-Kanälen über fast 100.000 Follower. "MI" organisierte im Februar 2023 über eigene Social-MediaKanäle eine aggressive Großkundgebung in Hamburg. Dort skandierten mehrere Tausend Islamisten (in strikter Geschlechtertrennung) ihre Parolen: "Dem Koran gehört die Zukunft", "Allah erhebt Leute mit diesem Buch und erniedrigt andere" und "Die Gesetzgebung liegt allein bei Allah". Dies war ein beachtlicher medialer Erfolg und führte zur Reichweitenerhöhung. Die Anzahl der "MI"-Follower auf TikTok hat sich seitdem mehr als verdreifacht. Zudem verstehen sich "MI"-Anhänger öffentlichkeitswirksam zu inszenieren. Sie tragen schwarze Kapuzenpullis, auf denen das Logo der Gruppe prangt. Dies ist ein roter Blutstropfen, in dem das Symbol der Kaaba, dem zentralen muslimischen Heiligtum in Mekka, zu sehen ist. Dabei nutzt "MI" mit vulgär-postkolonialistischem Anstrich grundierte Opfernarrative, um ihre islamistischen Botschaften bei Jugendlichen zu verbreiten sowie diese ereignisbezogen zu emotionalisieren und zu mobilisieren. Darin liegen erhebliche Gefahren für unsere Demokratie. Denn die Schlagkraft und das Mobilisierungspotenzial dieser Bewegungen wird häufig unterschätzt. Influencer, Rapper, Clan-Größen als Vorfeld des TikTok-Salafismus In jüngster Zeit ist zu beobachten, dass sich um Islamisten und insbesondere um TikTok-Salafisten, die in den sozialen Medien aktiv sind, eine rege Unterstützer-Szene formiert hat. Sie bildet eine Art mediales Vorfeld. Dazu gehören Rapper, Food-Blogger und rappende TikTok-Influencer. Sie werden fernab des islamischen Extremismus wahrgenommen. Ebenso kommt es auf TikTok vermehrt zu einer Überlappung von salafistischen Predigern mit Akteuren der Bekannter Food-Blogger mit Salafisten-Prediger El Azzazi Organisierten Kriminalität in Gestalt von Berliner Clan-Angehörigen. Der Clan-Chef Arafat Abou Chaker oder dessen Bruder Yasser geben Figuren wie El Azzazi, Abul Baraa oder Pierre Vogel regelmäßig eine Plattform. Sie lassen die Salafisten in ihren Online-Formaten auftreten oder bewerben deren Angebote. Damit wird den TikTok-Salafisten zusätzlich Reichweite "geschenkt" und ihre "Street Credibility" bei Jugendlichen 28 Vgl. https://bmi.gv.at/news.aspx?id=6F4D7034517144666B37303D, https://www.derstandard.de/story/3000000180026/wie-salafistische-influencer-junge-menschen-auf-tiktok-koedern; (letzter Zugriff 12.4.2024). 29 Siehe Kapitel 8. 29 erhöht. Dies trägt letztlich zur Normalisierung des Islamismus und dessen Hauptakteure im Social MediaBereich bei. Nach den "HAMAS"-Massakern vom "7. Oktober 2023" in Israel hat sich dieser Trend potenziert. Beispielsweise teilte Arafat Abou Chaker direkt nach den Massakern ein Posting auf Instagram, das eine Israel-Karte mit unzähligen Markierungen der "HAMAS"-Raketeneinschläge zeigte. Der vermutlich tschetschenisch stämmige Urheber schrieb dazu: "Ich liebe es, so etwas zu sehen." All dies versah er mit einem Herz-Symbol und dem Symbol des "tauhid-Fingers", dem sogenannten "IS"-Gruß. Daneben verbreiteten Abou Chaker und andere weitere "HAMAS"-Propaganda auf ihren Kanälen. Weitergeleitetes Posting Clan-Chef Video-Chat Clan-Chef Arafat Arafat AbouChaker AbouChaker und El Azzazi Nach dem HAMAS-Massaker: Umdeutungen und Antisemitismus als "Bindemittel" der Szene Der 7. Oktober 2023 war insbesondere für Islamisten ein "Trigger-Ereignis" und wurde durch Akteure des Massakers selbst noch weiter eskaliert. Sie verbreiteten Kurzvideos mit abscheulichen Gewaltszenen in den sozialen Medien. Dadurch wurden die Brutalisierung und Sexualisierung dieser Massaker auf eine enthemmte Art und Weise medial inszeniert und zelebriert, wie man es bislang nur vom "IS" kannte. Mit der bewussten Nutzung des virtuellen Raums haben die "HAMAS" und ihre Helfershelfer gezielt dazu beigetragen, die Situation nach dem Terrorüberfall zu dynamisieren, zu emotionalisieren und zu eskalieren. Die TikTok-Salafisten-Prediger taten ihr Übriges und emotionalisierten ebenfalls rund um den Gaza-Konflikt. Beispielsweise erklärte Abul Baraa in einem Video unter Tränen die toten palästinensischen Kinder zu islamischen "Märtyrern" und palästinensische Mütter sollten sagen, "Ich habe sie für dich [Allah] geopfert". Damit wird der terroristische Kampf der "HAMAS" mit dem Verweis auf das Märtyrertum islamisch legitimiert. Durch immense Mobilisierungsaktivitäten von Islamisten, beispielsweise "Hizb utTahrir" (HuT) naher Gruppen, wurde der Überfall der "HAMAS" - nach dem "Trigger-Thema" Koranverbrennungen - ausgenutzt, um auf den Straßen und nun mehr nicht nur im Internet eine Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit zu erlangen. Diese Aktivitäten stellen für die Innere Sicherheit Deutschlands einen alarmierenden Weckruf dar und sehr ernstgenommen werden muss. Am Beispiel des Demonstrationsgeschehens rund um den Gaza-Konflikt werden die Mechanismen, konstituierenden Elemente und Gefahrenpotenziale der "TikTokisierung des Islamismus" somit besonders deutlich. Insbesondere führt dies klar 30 vor Augen, wie rasend schnell und gezielt dabei TikTok-Aktivismus auf die Straße und gleichzeitig analoge Ereignisse zurück in den virtuellen Raum transportiert werden. Bemerkenswert sind hierbei weitere zahlreiche Vorkommnisse. Allen voran eine Demonstration vom 3. November 2023 in Essen. Hierbei mobilisierten erneut "HuT"-nahe Akteure, diesmal in Gestalt der Gruppierung "Generation Islam", eine Menge von etwa 3.000 Demonstranten, die streng nach Geschlecht segregiert durch Essen marschierten.30 In dieser islamistischen Rahmung wird der Gaza-Konflikt zum Stellvertreterkrieg eines globalen Kampfes der Umma (Gemeinschaft aller Muslime) gegen die "Feinde des Islam". Optisch wurde dies auch entsprechend inszeniert: Statt der üblichen Palästinenser-Tücher und -Fahnen, deren Verwendung sich Organisatoren verbeten hatten, wurden schwarze Fahnen mit dem islamischen Glaubensbekenntnis in weißer Schrift geschwenkt. Dies ist die Flagge der "Hizb ut-Tahrir" (HuT), wird aber auch von jihadistischen Gruppierungen verwendet.31 Daneben wurden auf Plakaten Slogans gezeigt, welche die Einführung des Kalifats propagierten: "Das Kalifat ist die Lösung" oder "Eine Ummah, eine Einheit, eine Lösung - Khilafah (d.h. das Kalifat)". Diese Inszenierung kann als unmissverständliche Ablehnung der Bundesrepublik Deutschland und der freiheitlich demokratischen Ordnung verstanden werden. Denn beides müsste für die Errichtung des Kalifats überwunden werden. Demonstration Essen (Nov. 2023) Plakat mit Forderung nach Kalifat auf Demo in Essen (Nov. 2023) Gleichzeitig verbreiteten "HuT" nahe Gruppierungen, wie "Muslim Interaktiv" oder "Generation Islam" in den sozialen Medien verschiedene Memes, die diese islamistische Umdeutung des Gaza-Konflikts symbolisieren und graphisch inszenieren. Beispielsweise fand ein Meme Verbreitung, bei dem der Betrachter durch eine Felsspalte blickt. Deren Umrisse bilden im Verständnis von Islamisten die Form vom "historischen Palästina". Im Inneren dieses verheißungsvoll erleuchteten "Palästina" erblickt man im Vordergrund einen Jugendlichen, der eine "HuT"Flagge beziehungsweise Jihadisten-Fahne schwenkt. Dahinter ist die goldene Kuppel des Felsendoms in Jerusalem zu sehen, der mit der al-Aqsa-Moschee das drittbedeutendste Heiligtum des Islam darstellt. Inmitten des Memes findet sich der Slogan "I stand with THE UMMAH," "Ich stehe an der Seite DER UMMA (d.h. der Gemeinschaft aller Muslime)."32 Diese plakative Darstellung unterstreicht erneut, wie Islamisten versuchen, den regionalen Gaza-Konflikt auf eine globale, gesamtislamische Ebene zu heben. Die "Befreiung" Palästinas solle eine Angelegenheit aller Muslime weltweit und damit der Kampf Pflicht für jeden Muslim sein. Erst dann könne das Endziel, 30 Vgl. https://essen.polizei.nrw/presse/versammlung-pro-palaestina-im-essener-stadtkern (letzter Zugriff am 23. April 2024) 31 Zur Symbolik des schwarzen Banners mit dem Glaubenskenntnis in weißer Schrift siehe im Anhang den Eintrag zu "Symbole, Kennzeichen und Codes des Islamismus." 32 Vgl. X Muslim Interaktiv, Posting vom 9.10.2023, (letzter Zugriff am 16.1.2024). 31 die Schaffung des globalen Kalifats, realisiert werden. Mit dieser Umdeutung versuchen islamistische (insbesondere jihadistische) Akteure, ihre terroristischen Gewalttaten in diesen "Kampf der Gemeinschaft aller Muslime" einzubetten, um den eigenen Terror somit als Teil dieses "Kampfes der Umma" repräsentieren und islamisch legitimieren zu können. Wie eingangs geschildert, inszenierten Islamisten Ende Oktober 2023 vermeintlich aus Solidarität mit Muslimen in Gaza trotz behördlichen Verbots ein öffentliches "Massen-Gebet" vor dem Brandenburger Tor in Berlin. Dazu hatten sie über ihre Social-Media-Kanäle aufgerufen. Das Bild dieser symbolischen "Raumnahme", die sich für viele Außenstehende als friedliche religiöse Zusammenkunft darstellte, ging in den sozialen Medien viral. Dort befeuerte es gleich mehrere extremistische Narrative. Einerseits wurde damit an die islamistische Anhängerschaft eine klar verständliche Machtdemonstration und den symbolischen Herrschaftsanspruch des Islam kommuniziert. So kann auch die Missachtung des behördlichen Verbots der Versammlung verstanden werden. Gleichermaßen wurde damit versucht, Muslime, die keine Berührungspunkte mit Extremismus haben, aber durch den Gaza-Konflikt emotionalisiert sind, zu adressieren und womöglich auf die Gruppierung aufmerksam zu machen. Andererseits verfing die provokante Aktion der Islamisten ebenso auf islamfeindlichen Plattformen, die in dieser Machtdemonstration einen Beleg für die "Islamisierung" und den Herrschaftsanspruch des Islam zu erkennen glaubten. Allerdings blieb es nicht nur bei symbolischen "Raumnahmen". Denn es wurden auch islamistische Gewaltrufe laut. So fand zum Beispiel am 22. Oktober 2023 am Potsdamer Platz in Berlin anlässlich des Gaza-Konflikts eine - von in dieser Zeit unzähligen - nicht genehmigte pro-palästinensische Demonstration statt. Unter den Teilnehmern befand sich ein tschetschenischer Islamist. Während er das Demonstrationsgeschehen inmitten einer Menschenmenge filmte, sprach er seine späteren Zuschauer auf TikTok an, um die Situation für islamistische Propaganda auszunutzen und zu terroristischen Gewalttaten aufzurufen. Im daraus entstandenen TikTok-Video, das auf seinem Kanal verbreitet wurde, hört man den Blogger, wie er aus der Menschenmenge unmittelbar hinter einem Polizeibeamten stehend den Zuschauern seines Videos in tschetschenischer Sprache seine Botschaft zurief. Anfangs erklärte er, dass viele Tschetschenen in Deutschland seit Jahren aktiv für die Unabhängigkeit ihres Landes eintreten und im Untergrund befindliche salafistisch-jihadistische Gruppen unterstützen würden. Und dann rief er: "Kommt her, zeigt Euch [...] Ihr werdet gebraucht! Nicht ich bin es, der Euch benötigt, es ist unsere Umma, die Euch braucht! Zeigt uns hier Eure Bereitschaft, zu sterben und Euren Mut. Die Umma braucht Euch! Kommt her." Die Gesamtinszenierung des Videos und die Gewaltbotschaft direkt hinter einem Polizisten stehend zu äußern, könnte als eine Ablehnung der Staatsmacht und des Rechtstaats in Deutschland verstanden werden, die damit an die Zuschauer des Videos kommuniziert wird. Der Urheber des Videos streut seine extremistischen Haltungen zudem crossmedial - also über verschiedene Kanäle. Neben TikTok nutzt er YouTube und Telegram. Er hetzt offen gegen Tschetschenen, die keine dezidiert islamistische Ausrichtung zeigen und bezeichnet diese als "Ungläubige". Seit dem "HAMAS" Überfall ist zudem zu beobachten, dass viel offener und offensiver Gegner und "Feinde" benannt werden als zuvor. An diesem Beispiel zeigt 32 sich, die "Tiktokisierung des Islamismus" hat die nordkaukasische Gemeinschaft neben anderen längst erreicht. Solche extremistischen Ansprachen und Gewaltaufrufe finden enorme Verbreitung in den sozialen Medien. Sie sind hochgefährlich und können, wie das Video verdeutlicht, aufgrund der Sprachbarrieren in aller Öffentlichkeit "unbemerkt" unmittelbar hinter einem Polizisten gerufen werden. Antisemitische Codes und Chiffren nach dem "7. Oktober" Bei der islamistischen Rahmung des Gaza-Konflikts bildet der Antisemitismus häufig den zentralen "Kitt." Antisemitismus ist ein bestimmendes Element islamistischer Ideologie und Agitation. Als "Bindemittel" und Brückennarrativ vermögen es antisemitische Stereotype, Bande zwischen unterschiedlichen islamistischen Akteuren innerhalb der Szene zu knüpfen sowie Personen außerhalb des islamistischen Spektrums mit extremistischen Botschaften zu erreichen. Im Nahen Osten, aber auch innerhalb von Teilen der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland, finden sich antisemitische Stereotype, die auf unterschiedliche Traditionsstränge zurückgehen. Neben antisemitischen Vorurteilen und Verschwörungserzählungen europäischen Ursprungs, die seit dem späten 19. Jahrhundert im Nahen Osten Verbreitung fanden, existiert ebenso ein islamisch basierter Antisemitismus. Dieser bedient sich historischer Rückgriffe auf die Biographie Mohammeds im 7. Jahrhundert, die Prophetentradition und den Koran. Damit soll gerade im Kontext des Gaza-Konflikts mobilisiert sowie Judenhass, antisemitische Haltungen und Gewalt gegen Juden religiös legitimiert werden. Beim Demonstrationsgeschehen rund um den GazaKonflikt kam es zu einer Reihe antisemitischer Äußerungen, die islamisch basiert sind. Für viele Personen außerhalb der muslimischen Gemeinschaft sind diese chiffrierten Anspielungen oftmals als solche oder als Gewaltaufrufe nicht gleich erkennbar. Beispielsweise ertönte an verschiedenen Orten in Europa bei pro-palästinensischen Demonstrationen der sich reimende Islamisten-Schlachtruf "Chaibar, Chaibar ya yahud jaish Muhammad saufa ya'ud". 33 Was sinngemäß mit: "Juden, erinnert Euch an Chaibar! - das Heer Mohammeds wird zurückkehren" übersetzt werden kann. Diese antisemitische Parole kursiert oft mit Palästina-Bezug in diversen Videos, in Liedern auf Spotify oder auf TikTok - seit dem Überfall der "HAMAS" auf Israel noch wesentlich häufiger als zuvor.34 Diese Parole soll erstmals während der ersten Intifada populär geworden sein und wird gemeinhin dem "HAMAS"-Gründer, Ahmad Yasin (1936-2004), zugeschrieben.35 Die Nennung des Ortsnamens "Chaibar", 33 Beispielsweise wurde der Schlachtruf auf einer Demonstration in Karlsruhe am 10. 10. 2023 dokumentiert: https://www.verfassungsschutz-bw.de/,Lde/Der+Terrorangriff+der+HAMAS+auf+Israel+und+die+Folgen+hierzulande+_+erste+Reaktionen+extremistischer+Szenen+auch+in+Baden-Wuerttemberg, sowie auf einer Demonstration in Wien am 11. 10 2023: X, https://twitter.com/ZaraRiffler/status/1712400207650984418. Bei letzterem Fall wurden auch Videos von der Veranstaltung mit der Parole gedreht und danach über TikTok verbreitet. (letzter Zugriff am 23.04.2024). 34 Zum Beispiel wird die Parole auf Spotify als Electro-Song der Sängerin Faye Sha unter dem Titel "Khaibar Ya Yahud" (Dezember 2023) verbreitet. Darin wird die Parole eingebunden, Allahu Akbar Rufe, die einen Terroranschlag nachahmen sollen und die Stimme einer Nachrichtensprecherin, die darüber berichtet, wie viele Kinder jeden Tag in Gaza getötet werden: Soundcloud-Kanal "Faye Sha". Gleichermaßen gibt es auf TikTok unzählige Kurzvideos mit dem Slogan - meist im Kontext Palästina (siehe z. B. TikTok Kanal "now.e7", 9.2.2024), ebenso auf Instagram. Beispielsweise kursiert dort ein Posting mit der Parole als Titel und einem Video mit der Liste aller Kinder, die in Gaza getötet wurden, Instagram "the.azieramb", 14. Dezember 2023. Daneben findet sich die Parole auf YouTube-Shorts-Videos, z. B. YouTube-Kanal "nyzarar8336", 23.10.2203 (letzter Zugriff 9.2.2024), wo sie als hymnischer Gesang mit einem Bild des Felsendoms mit Palästina-Flagge intoniert wird. 35 In frühen Flugblättern der HAMAS wurde ihr Kampf gegen Israel mit Khaibar verglichen. 33 einer Oasensiedlung in der Nähe von Medina, spielt auf eine militärische Auseinandersetzung des islamischen Propheten Mohammeds mit einem dort ansässigen jüdischen Stamm im Jahr 628 an. Aus diesem Feldzug ging Mohammed als strahlender Sieger hervor, unterwarf den jüdischen Stamm und brachte dessen Oase unter islamische Herrschaft. Die Parole stellt somit einen chiffrierten Gewaltaufruf dar und ist gemeinhin innerhalb einer muslimischen Zuhörerschaft verständlich, die mit dieser frühislamischen Erzählung durchweg vertraut ist. Neben diesem Islamisten-Schlachtruf gab es bei den Demonstrationen für Gaza noch weitere historische Referenzen, die einen chiffrierten, islamisch basierten antisemitischen Gewaltaufruf zum Ausdruck bringen. So hielt zum Beispiel bei einer Demonstration im Oktober 2023 eine Teilnehmerin ein Plakat hoch mit dem Slogan: "Verstehst Du jetzt, weshalb die Bäume und Steine sprechen werden müssen?" Wie auch beim vorangegangenen Beispiel können Außenstehende schwerlich den eigentlichen Sinn dieser Aussage erfassen. Höchstwahrscheinlich klingt diese erst einmal nicht wie ein antisemitischer Mordaufruf mit frühislamischer Referenz. Jedoch werden nicht wenige Muslime diese Anspielung mit sehr großer Wahrscheinlichkeit verstehen, da ihnen das entsprechende Hadith (Ausspruch des islamischen Propheten Mohammed) bekannt ist. Dieses überaus populäre Hadith führen islamistische Akteure insbesondere im Kontext des NahostKonflikts häufig an. So findet es sich beispielsweise in der "HAMAS"-Charta.36 Das Hadith besagt, dass der Jüngste Tag nicht eher kommen werde, bevor Muslime gegen Juden kämpften. Die Muslime würden dabei die Überhand gewinnen und die Juden suchten deshalb hinter Steinen und Bäumen Zuflucht. Die Steine und Bäume würden dann den Muslimen zurufen: "Oh, Diener Gottes, ein Jude versteckt sich bei mir. Komm und töte ihn!"37 Das Demonstrations-Plakat mit seinen harmlos wirkenden Zeilen ist ein verschleierter antisemitischer Aufruf, alle Juden zu töten. Gerade bei vergleichbaren Demonstrationsgeschehen und in vielen Predigten sowie Publikationen ist dieser Verweis zu finden. Zu den Hintergründen eines islamisch basierten Antisemitismus und zum Antisemitismus im Islamismus siehe Einträge auf unserer Website Häufig werden solche Parolen von Polizeikräften und Medienvertretern vor Ort gar nicht als solche wahrgenommen, weil schlicht das Wissen über diese antisemitischen Ausdrucksformen und Chiffren fehlt. Mit der Verbreitung solcher Gewaltfantasien besteht jedoch durchaus die Gefahr, dass sie im Alltag ihren 36 So findet sich diese Referenz in Artikel 7 der Hamas-Charta, vgl. Baumgarten (2006), S. 21; Armin Pfahl-Traughber: Antisemitismus und Antizionismus in der ersten und zweiten Charta der Hamas Eine Fallstudie zur Judenfeindschaft im islamistischen Diskurs, 08.11.2023, https://www.bpb.de/themen/islamismus/dossier-islamismus/36358/antisemitismus-und-antizionismus-inder-ersten-und-zweiten-charta-der-hamas/?p=all (zuletzt aufgerufen am 16.1.2024). 37 Hadith aus der Sammlung Muslim / Bukhari: Sahih [2922/2926]. 34 Niederschlag finden. Ein Indiz dafür ist die dramatische Zunahme einschlägiger Straftaten seit dem 7. Oktober 2023. Das Bundeskriminalamt (BKA) hat im vierten Quartal 2023 eine Zunahme antisemitisch motivierter Straftaten registriert. Insbesondere in den sozialen Medien ist nach den "HAMAS"-Massakern eine Dynamisierung eines ohnehin steigenden Trends beobachtbar. Die Zahl geposteter antisemitischer Memes hat sich vervielfacht. Viele dieser Postings nehmen Bezug zur NS-Diktatur und zum Holocaust. Beispielsweise wurden im Nahen Osten aber auch in Deutschland nach dem 7. Oktober 2023 Postings, wie die Instagram-Anzeige der jordanischen Cafe-Kette "Gosta Coffee" mit fast 240.000 Aufrufen, verbreitet.38 Diese bewirbt ihr neues Produkt "Hologosta" (eine Verbindung aus Holocaust und der Kette "Gosta") mit dem Slogan: "Fühle den arabischen Geschmack." Bei diesem neuen Produkt handelt es sich um einen Kaffee, auf dem sich Marshmallows mit Davidsstern in den Farben Israels befinden. Vor dem Servieren werden diese mit einem Bunsenbrenner, den eine Hand im Handschuh in den palästinensischen Farben hält, eingeschmolzen. Es werden also symbolisch und im Kontext des Holocaust Juden durch Palästinenser verbrannt. Diese Darstellung ist so perfide wie vielsagend, aber durchgehend antisemitisch. Sogar eine Verherrlichung des Holocaust, also der industriellen Massenvernichtung von Juden im Nationalsozialismus, kann herausgelesen werden. Neben solchen Gewaltfantasien mit Holocaust-Bezügen finden sich unzählige Postings islamistischer Akteure oder ihrer Unterstützerszene, die eine Gleichsetzung der NS-Zeit beziehungsweise der Shoah mit den momentanen Vorgängen in Gaza vornehmen. Damit werden "die Juden" zu den Nazis von heute stilisiert. Beispielsweise behauptet ein Meme, das links den Reichsadler mit Hakenkreuz samt Hitler und rechts den Davidsstern mit Netanyahu zeigt, dass die Zahl der täglich in Ausschwitz getöteten Kinder bei 127 lag und die der toten Kinder in Gaza heute bei 178 liege.39 Das impliziert, Gaza sei schlimmer als Ausschwitz. Folglich sei Israel schlimmer als das NSRegime. Damit wird der Holocaust relativiert. Daneben finden sich unzählige Memes, die das Warschauer Ghetto und Gaza gleichsetzen. Ein Meme enthält im arabischen Titel den Begriff "Intifada" für den Aufstand im Warschauer Ghetto, um damit den palästinensischen "Widerstand" der "HAMAS" zu legitimieren.40 38 Später löschte die jordanische Cafe-Kette Gosta das Posting auf Instagram und Facebook und postete stattdessen eine Presseerklärung zum Produkt, siehe Facebook "GostaCoffee&More", 18.11.2023, (letzter Zugriff 15.2.2024). Unabhängig davon wurden diese Postings von anderen Nutzern auf diversen Social-Media-Plattformen verbreitet. 39 Vgl. X, "Ashraf Ali", 6.12.2023, (letzter Zugriff 16.1.2024). 40 Vgl. X, "SeamusMalekafzali", 12.12.2023, (letzter Zugriff 16.1.2024). 35 Gleichermaßen wird mit dem Titel "Germany 1943 = Gaza 2023" ein Bild von Massenerschießungen von Juden während des Zweiten Weltkriegs neben ein Bild gesetzt, welches in Gaza verhaftete Palästinenser zeigt, um auch hier eine Gleichsetzung vorzunehmen.41 Diese Online-Inhalte werden tausendfach geteilt und repostet. Das heizt eine ohnehin stark emotionalisierte Stimmung im Internet und auf den Straßen weiter an. Fazit und Ausblick Zusammenfassend lässt sich feststellen, der Trend zur "TikTokisierung des Islamismus" ist eine enorme Herausforderung für die Gesellschaft, für die Politik sowie für die Sicherheitsbehörden. Online-Propaganda und die Nutzung von sozialen Medien sind für die Verbreitung demokratiefeindlicher und islamistischer Inhalte keine neuen Phänomene. TikTok hat jedoch zu einer enormen Dynamisierung und Potenzierung vieler Prozesse im Wechselspiel von virtuellem Raum und analoger Welt beigetragen. Insbesondere durch die Strategieveränderung der salafistischen Szene, welche ihre Aktivitäten immer mehr in den virtuellen Raum verlagert hat, erzielen salafistische Prediger auf TikTok enorme Reichweiten. Über ihre Kanäle erreichen sie mit ihrer jugendaffinen Ansprache und Inszenierung als islamische Autoritäten und kumpelhafte, große "Brüder" teils ein Millionenpublikum. Aufgrund dieser enormen Reichweiten und einer themengebundenen Auswahl von Videos durch den Algorithmus ist die Kurzvideo-Plattform TikTok äußerst attraktiv. Sie bietet Islamisten die Chance, Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene außerhalb der islamistischen Szene mit ihren extremistischen Ansprachen zu erreichen. Dies geschieht häufig ohne das Wissen des familiären oder schulischen Umfelds der Jugendlichen. Dabei missbrauchen Islamisten die Orientierungssuche vieler Jugendlicher und suggerieren sich als Kompass bei allen Fragen zu islamkonformen Lebensweisen. Dadurch werden viele dieser Jugendlichen, die bislang gar keine Berührung mit islamischem Extremismus hatten, auf TikTok zur leichten Beute. Mit ihrer strategisch ausgefeilten Online-Propaganda befördern die Prediger bei Jugendlichen eine Entfremdung von der Mehrheitsgesellschaft sowie den Werten des demokratischen Rechtsstaats. Solche Radikalisierungen können bis hin zu terroristischen Anschlägen und weiteren einschlägigen Gewalttaten führen. Dabei nutzen Islamisten emotionsgeladene "Trigger-Ereignisse" und Agitationsthemen, wie das "HAMAS"-Massaker in Israel am 7. Oktober 2023 und den Gaza-Konflikt. Dabei führen Social-MediaAktivitäten zu enormen Rückkopplungen in der analogen Welt. In diesem Zusammenhang ist es Islamisten gelungen, das Demonstrationsgeschehen in weiten Teilen zu vereinnahmen und den regionalen Gaza-Konflikt zu einer Angelegenheit aller Muslime, also der weltweiten Umma, islamistisch "umzumünzen", um so zum Kampf aller Muslime gegen den Westen aufzurufen. Endziel ist die Schaffung eines weltweiten Kalifats. Dabei stellen antisemitische Stereotype einerseits ein "Bindemittel" innerhalb der islamistischen Szene dar und andererseits dienen diese Narrative zur Ansprache und Aktivierung von Menschen ohne Berührungspunkte mit dem islamischen Extremismus. So erhalten Islamisten eine politische, soziale und kulturelle Wirkungsmacht, die noch von einem Vorfeld von Rappern, Influencern und Clan41 Vgl. X, "hussain786_fkh", 8.12.2023, (letzter Zugriff 16.1.2024). 36 Größen befördert wird. Damit werden ihre extremistischen Haltungen normalisiert und sie gewinnen im Diskurs die Deutungshoheit. Diese Melange macht den Trend der "TikTokisierung des Islamismus" noch gefährlicher für die Jugend. Durch die angespannte Lage rund um den Gaza-Konflikt sind weiterhin eine zunehmende Mobilisierung und eine mögliche Radikalisierung von Einzelpersonen zu erwarten. Zudem muss zukünftig mit einer Zunahme von Angriffen und Anschlägen auf jüdische Einrichtungen gerechnet werden. Hierbei wird wohl die "TikTokisierung des Islamismus" für diese Prozesse als Katalysator wirken und letztlich als "Brandbeschleuniger" zwischen virtuellem Raum und der analogen Welt fungieren. Dem zu begegnen gleicht einer Herkulesaufgabe. Dafür bedarf es einer starken Vernetzung von staatlichen Akteuren, den Sicherheitsbehörden und Akteuren der Prävention sowie der Zivilgesellschaft als Ganzes. Insbesondere Eltern, Lehrkräfte sowie Betreuer in Jugendeinrichtungen und Sportvereinen müssen für diese Gefahren im Internet und den sozialen Medien weiter sensibilisiert werden um frühzeitig reagieren zu können. Zudem muss die Medienkompetenz von Jugendlichen erhöht und die Online-Prävention weiter ausgebaut werden. Gleichzeitig müssen aber auch sicherheitsbehördliche Kompetenzen, Kapazitäten und Expertise stetig aufwachsen, um mit den rasanten Dynamiken des Extremismus Schritt halten zu können. Im Sinne der wehrhaften Demokratie muss diesen Extremisten weitaus repressiver und präventiver begegnet werden. 37 2.2 Kommunikationsstrategien von Extremisten im Netz Wie verstecken sie Botschaften, beeinflussen Meinungsdiskurse und rekrutieren neue Szeneanhänger? Für Extremisten ist der virtuelle Raum ein Spielfeld ungeahnter Möglichkeiten. Aktiv nutzen sie ihn für ihre feindliche Gesinnung gegen unsere freiheitliche demokratische Gesellschaft. Das Internet hat sich in den vergangenen Jahren zu einem strategischen Umschlagplatz für Propaganda entwickelt. Das umfasst unter anderem die Verbreitung von Propaganda und Desinformationen, Rekrutierung neuer Szeneangehöriger und Kommunikation innerhalb der Szene. Der virtuelle Raum bietet zahlreiche Möglichkeiten sozialer Interaktion. Diese unterliegen anderen Regeln als im realen Leben. So weisen soziale Netzwerke oft kein soziales Korrektiv auf. Personen können ohne Barrieren angesprochen werden. Echokammer42-Effekte werden genutzt und algorithmische Empfehlungssysteme43 werden instrumentalisiert, um Meinungskorridore im virtuellen Raum gezielt zu isolieren. Der virtuelle Raum hat sich zu einem "Ort" entwickelt, an dem der öffentliche Diskurs beeinflusst wird, Ideologien realisiert und radikalisiert werden und Vorbereitungen für Kundgebungen, Szenetreffen oder Angriffe organisiert werden. Für extremistische Gruppierungen und Akteure in Brandenburg ist die Nutzung virtueller Kommunikation ein fester Bestandteil ihrer Vorgehensweise. Seit Jahren ist eine stetige Weiterentwicklung und Professionalisierung zu beobachten.44 Extremisten nutzen die technische Architektur der Plattformen um ihre Ziele umzusetzen. Sie instrumentalisieren Plattformen wie TikTok, Instagram, Facebook und Telegram. TikTok und Telegram ermöglichen dabei einen leichten Zugang zu extremistischen Inhalten. Telegram bietet ein hohes Maß an Anonymität sowie eine geringe Regulierung (so gut wie keine Sperrung von Accounts). Für extremistische Akteure ist das besonders attraktiv. Die Macht der Plattformen und der Reichweite Kommunikation im virtuellen Raum ist eng verknüpft mit Reichweite und Plattformen. Da sich eben Kommunikation im Internet genau darüber verwirklicht. Auf Plattformen werden Inhalte veröffentlicht und durch Reichweite werden sie verbreitet. Die "Junge Alternative Brandenburg" (JA Brandenburg) nutzt entsprechende Plattformen um Inhalte breit zu streuen und bewusst den politischen und gesellschaftlichen Diskurs zu beeinflussen. Am reichweitenstärksten sind die Internetauftritte von Facebook, Instagram und X (ehemals Twitter). Die jeweilige Anzahl der Follower steigt stetig. Das Instagram-Profil der "JA Brandenburg" (ja_brandenburg) hat im bundesweiten Vergleich nach Nordrhein-Westfalen die meisten Follower. Sie teilen regelmäßig Beiträge der "AfD"45, beispielsweise für gemeinsame Veranstaltungen oder zu politischen Themen. Darüber hinaus werden durch Künstliche Intelligenz (KI) generierte Bilder gepostet. Das "COMPACT Magazin" pflegte über längere Zeit mehrere TikTok-Accounts. Mehrfach täglich wurden Kurzvideos veröffentlicht. Auf Grund von Hinweisen des Verfassungsschutzes Brandenburg sperrte TikTok gemeldete Accounts des 42 Der Echokammereffekt beschreibt die Entstehung einer nutzerumgebenden Informationsblase, die Nutzer aufgrund ihres Verhaltens auf einer Internetplattform selbst (un-)bewusst schaffen. Durch das (un-)bewusste Interagieren mit Gruppen, Kanälen oder gleichgesinnten Personen, begeben sich Nutzer in Echoräume, die den eigenen Überzeugungen und Ansichten entsprechen. Studien bestätigen, dass dadurch der Eindruck von Bestätigung durch andere entsteht und extremistische Einstellungen so selbstverständlich werden. 43 Der Filterblaseneffekt beschreibt die Entstehung einer Informationsblase, mit der ein Nutzer aufgrund von plattforminternen Algorithmen umgeben wird (Empfehlungssysteme, News Feed, Timeline, Suchergebnisse). Basierend auf Nutzerdaten wie Standort, Suchverlauf oder Klickverhalten, werden automatisiert Inhalte vorgeschlagen, die den Nutzer vermeintlich interessieren. Dadurch kann es zu einer Abschottung gegenüber Informationen abseits der eigenen Meinung bzw. des eigenen Interesses kommen, was letztlich Radikalisierungsprozesse im virtuellen Raum befördern kann. 44 Vgl. PRIF 10/2018 S. 1. 45 Vgl. FN 2. 38 "COMPACT Magazins". Ebenso nutzt die "AfD Brandenburg"46 sowie der rechtsextremistische Verein "Zukunft Heimat" soziale Netzwerke aktiv um extremistische Haltungen im virtuellen Raum zu verbreiten. Das "Königreich Deutschland" (KRD) aus der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene ist auf vielen Plattformen vertreten. Der selbsternannte König Peter Fitzek nimmt als "Oberster Souverän" innerhalb der pseudostaatlichen Organisation eine zentrale Rolle ein. Er wirkt als Repräsentant des "Königreiches Deutschland" in der Öffentlichkeit. Das zeigt sich mit Blick auf seine regen Aktivitäten in den sozialen Netzwerken. So generiert "KRD" eine hohe Reichweite auf Facebook, Instagram und TikTok. Im Bereich des Linksextremismus wird mehrheitlich die Plattform X (ehemals Twitter) genutzt, um Informationen zu teilen und um sich zu vernetzen und zu mobilisieren. Im Bereich des islamistischen Extremismus in Brandenburg waren im vergangenen Jahr TikTok, Instagram und Telegram die meist verwendeten Plattformen. Im Gegensatz zu anderen Bundesländern gibt es in Brandenburg keine relevanten regionalen Prediger, die über soziale Medien mit großer Reichweite als Multiplikatoren für extremistische Inhalte dienen. Dafür treten immer mehr Einzelakteure in Erscheinung. Sie nutzen Instagram und TikTok zur überregionalen Vernetzung, digitalen Selbstdarstellung unter Verwendung salafistischer Bildsprache und zur Verbreitung von jihadistischem Propagandamaterial. Insbesondere junge Menschen teilen die Bilder auf Instagram, auf dem sie unter anderem mit dem "TauhidFinger" oder waffenähnlichen Gegenständen posieren. Die Bilder werden häufig mit Zitaten islamistischer Terroristen versehen, die den Jihad glorifizieren. Auf TikTok werden Videos mit salafistischen Inhalten geteilt, welche zusätzlich mit "Anasheed"47 des "Islamischen Staates" (IS) unterlegt werden. Zudem wurde Propagandamaterial des "IS" geteilt. Für alle extremistischen Bereiche gleichermaßen ist Fundraising ein relevantes Mittel im virtuellen Raum. Hierbei werden Gelder für verschiedenste Zwecke, oftmals unter Verschleierung der tatsächlichen Zielsetzung, für die Szene gesammelt. Ferner nutzen und bespielen Extremisten alternative Nachrichtenmedien. Als prominente Beispiele sind "COMPACT TV"48 und "KRD-Tube" zu nennen. Aufgrund der Sperrung des YouTube-Kanals des "KRD" entwickelte "KRD" eine eigene Plattform. Nicht nur die Ähnlichkeit in der Bezeichnung, sondern auch das Erscheinungsbild und die Funktionsweise der Homepage, lassen darauf schließen, dass hier eine Videoplattform nach dem Vorbild von YouTube entworfen wurde. Sinn und Zweck ist nicht nur die mögliche Umgehung von Sperrungen durch die Anbieter, sondern auch der gezielte Aufbau einer Parallelstruktur, die jegliche Einflussnahme des Staates minimiert. Bei der Betrachtung der erwähnten Alternativmedien ist auffällig, dass diese versuchen, ein hohes Maß an Professionalität und Seriosität durch das Kopieren bekannter Formate zu suggerieren. Durch die bewusste Anlehnung an traditionelle Nachrichtenformate wird versucht, über die extremistische Ausprägung der Inhalte hinwegzutäuschen. 46 Vgl. FN 2. 47 Anasheed: Der arabische Sprechgesang, welcher üblicherweise die allgemeine Lobpreisung Allahs thematisiert, beinhaltet in diesem Fall die Glorifizierung des bewaffneten Kampfes für Allah und den Tod aller Ungläubigen. 48 Siehe hierzu Kapitel 3. 39 Die Macht der Bilder und Codes - versteckte Botschaften von Extremisten Eine Strategie extremistischer Akteure im virtuellen Raum ist der Einsatz von bearbeiteten Fotos, Videos und Symbolen. Durch Künstliche Intelligenz (kurz: KI) generierte Bilder, Memes, Emojis aber auch scheinbar harmlose Fotos werden verwendet um ideologisierte Inhalte zu verbreiten. Eine Möglichkeit sind vermeintlich humoristische Darstellungen in der Form von Memes. Diese ermöglichen hasserfüllte Ideologie so zu verschleiern, dass das extremistische Gedankengut dahinter erst auf dem zweiten Blick erkennbar wird. Zugleich verleiht der Unterhaltungsfaktor dem Bild eine Art harmlose Hülle, so wie auf dem Meme mit dem telefonierenden Baby.49 Die Abbildungen stehen in der Regel für sich, ohne dass es weitere Erklärungen bedarf. Die rechtsextremistische Szene nutzt Memes gezielt um eine jüngere Zielgruppe anzusprechen und um ihre extremistischen Positionen subtil zu verbreiten. Memes zu generieren, kostet wenig Zeit und Geld. Zudem werden sie häufig bedenkenlos und schnell geteilt, wodurch eine hohe Reichweite mit geringem Zeitund Geldaufwand erreicht werden kann. Im Bereich des Linksextremismus sind humoristische Darstellungen eher untypisch. Ausnahmen sind im Kontext von langfristigen Aktionen festzustellen. So werden Memes zu einer augenscheinlichen "Aufklärung" über verschiedene Sachverhalte genutzt. Durch humoristische oder provokante Darstellungen versucht die Szene komplexe Sachverhalte kurz und prägnant zu veranschaulichen und einen möglichst großen Adressatenkreis zu erreichen. Im Gegensatz zum Rechtsextremismus werden Botschaften nicht subtil, sondern konkret und klar formuliert. Derartige Postings haben das Ziel für realweltliche Aktionen zu mobilisieren, wie zum Beispiel Demonstrationen. So gab es 2023 Postings im Kontext der Proteste gegen das Tesla Werk in Brandenburg. Mit Themen, wie Klimaund Umweltschutz, versuchen Linksextremisten Anschluss an die Mitte der Gesellschaft zu finden. Sie nutzen die regionale Betroffenheit aus, um zum Kampf gegen den Kapitalismus zu mobilisieren. 50 51 Die Nutzung von Memes kann auch bei Islamisten beobachtet werden. Die Szene nutzt Memes in erster Linie zur subtilen Positionierung ihrer ideologischen Ansichten. Durch humoristische Darstellungen wird 49 Vgl. https://www.berufsbildung.nrw.de/cms/upload/hochschultage-bk/2019beitraege/ft15_rechtspopulistische-memes-inwhatsapp_schmitz.pdf, (letzter Zugriff am 3. Januar 2024). 50 Vgl.: Telegram Kanal TeslaDenHahnAbdrehen, gesichert am 26.08.2023, (letzter Zugriff am 11.03.2024). 51 Vgl.: Telegram Kanal TeslaDenHahnAbdrehen, gesichert am 12.10.2023, (letzter Zugriff am 11.03.2024). 40 die radikale Ablehnung der islamistischen Szene gegenüber den als feindlich definierten Gruppen verschleiert, wie zum Beispiel der LGBTQ-Gemeinschaft. Grundsätzlich können Memes eine Anschlussfähigkeit extremistischer Gruppierungen an die gesellschaftliche Mitte fördern. Daher sind ein sensibler Umgang sowie kritisches Hinterfragen von enormer Bedeutung. Eine weitere Möglichkeit extremistische Inhalte im virtuellen Raum zu platzieren, sind durch KI generierte Bilder oder auch manipulierte Videos. Die rechtsextremistische Szene nutzt diese Bilder gezielt um eine jüngere Zielgruppe anzusprechen. Im November 2023 wurde ein Video aus einer Diskothek in Mecklenburg-Vorpommern veröffentlicht. In einem Posting, wie auf dem Bild abgebildet, wird eine Personengruppe gezeigt, die zu Gigi D'Agostinos bekanntem Song L'Amour Toujours "Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!" skandieren. Die rechtsextremistische Szene schnitt die Tonspur dieses Videos und legte sie über verschiedenste Szenarien. So singt Greta Thunberg vermeintlich vor einer Menge plötzlich gut gelaunt "Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!". Ein Prediger, umgeben von einer Menge betender Muslime skandiert "Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!". Der bekannte Berliner Rapper Fler bringt eine Menschenmenge zur Ekstase und ein tanzender Brandenburger Polizist wird ebenfalls Opfer der Kampagne.52 Der Instagram Account "wilhelm_kachel" ist einer der Initiatoren der Kampagne. Sein Account ging im August 2023 online. "wilhelm_kachel" hat sich als einer der ersten Akteure der Neuen Rechten auf die Erstellung von "Memes von rechts" mit Hilfe von KI spezialisiert. Sein Slogan ist "Nichts ist vorbei! Es geht gerade erst los!". Der Inhalt auf seinem Account steigt stetig an. Seit August 2023 veröffentlichte er 373 Beiträge53, deren Likes anhaltend zunehmen. Zudem hat er auf seinem Account den "Patria Laden", den offiziellen Materialversand der "Jungen Alternative Deutschland", verlinkt. Hier können von ihm entworfene Artikel, Poster, Aufkleber oder Tassen erworben werden. "wilhelm_kachel" erklärte in einem Interview mit dem "Heimatkurier" die politische Sinnhaftigkeit von Memes wie folgt. Da: "Depression und Grummeligkeit selten zum Erfolg führen, muss Propaganda oder Marketing meiner Meinung nach die Zuschauer mitreißen und zu einem Einsatz motivieren."54 Die codierte Kommunikation ist eine weitere Strategie im virtuellen Raum. Im politischen Kontext wird es auch als "Dog Whistling" bezeichnet. Durch den Einsatz von spezifischen gruppeninternen Codes soll die beabsichtigte Bedeutung von Inhalten verschleiert werden. Die gemeinsame Nutzung von - für andere unverständlichen - Codes stärkt die Identifikation sowie das Gemeinschaftsgefühl der eigenen Gruppe. Zudem werden hierdurch mögliche strafrechtlich relevante Inhalte verschleiert und so die Sicherheit der Akteure vor Verfolgung durch Strafverfolgungsbehörden und vor Deplatforming erhöht55. Außerdem können mit Hilfe von Codes extremistische Haltungen unkontrolliert weiterverbreitet werden. 52 Vgl.: Instagram Profil "wilhelm_kachel" Posting veröffentlicht am 12.11.2023, (letzter Zugriff am 16.11.2023). 53 Stand 29.11.2023. 54 Vgl. Homepage: Heimatkurier, Interview mit wilhelm_kachel vom 10.08.2023, (letzter Zugriff am 29.11.2023). 55 Deplatforming bezeichnet den Ausschluss bestimmter Nutzer und Gruppen von einer Internetplattform, der durch den jeweiligen Plattformbetreiber veranlasst wird. Die Betreiber von den großen Plattformen bedienen sich mittlerweile verstärkt der Möglichkeit, extremistische Akteure und Gruppierungen zu verweisen. Dies ist aller Wahrscheinlichkeit darauf zurückzuführen, dass der öffentliche und politische Druck im Kontext der Verfolgung von Online-Hass steigt und Community-Richtlinien daher strenger und häufiger durchgesetzt werden. Betroffene extremistische Gruppen wandern regelmäßig zu meist 41 Neben bekannten Zahlencodes wie etwa "88"56, "18"57 oder "444"58 wird unter anderem das "okay-Handzeichen" innerhalb der rechtsextremistischen Szene verwendet. Die eigentlich unverfängliche Geste steht als internationales Zeichen dafür, dass alles in Ordnung ist. Innerhalb der Szene entwickelte sich das Handzeichen sowie das passende Emojicon zum internationalen Code für "white power". Der Ursprung dieser anderweitigen Verwendung des Zeichens geht auf ein 4chan-Forum im Jahr 2017 zurück. Zunächst nur als Scherz gedacht, wurde die Aussage verbreitet, dass das Zeichen eine geheimnisvolle zweite Bedeutung hätte. Das Ziel war es Medien und linke Akteure zu irritieren. Akteure der "JA Brandenburg" verwenden das Zeichen auf Veranstaltungen und im Internet. So nutze die Vorsitzende der "JA Brandenburg", Anna Leisten, gemeinsam mit Paul Klemm von "COMPACT" das Zeichen und verbreitete es über ihre Profile in den sozialen Medien. Mittlerweile ist das Symbol ein Erkennungsmerkmal der gewalttätigen "White Power Bewegung". So zeigte unter anderem der Christ Church Attentäter das Symbol bewusst im Gerichtssaal. Er hat den grausamen Terroranschlag 2019 in Neuseeland auf zwei Moscheen zu verantworten. Die Macht der Gruppe - Volk versus Fremd Vorurteile, Diskriminierungen und Stereotypen können im virtuellen Raum mit einfachen Methoden verstärkt werden. Allein die Betonung einer positiv bewerteten Eigengruppe und das Erschaffen von Fremdgruppen, denen negative Werte zugewiesen werden, hat eine identitätsstiftende Wirkung. Eine Anti-Haltung gegenüber Minderheiten ist Extremisten immanent. Unabhängig ihrer phänomenologischen Verortung machen sie sich diese zu Nutze. Fremde Werte sowie die Fremdgruppe selbst werden als Bedrohung der eigenen Werte definiert. So werden Feindbilder subtil definiert. In der rechtsextremistischen Szene werden Begriffe, wie "das Volk" oder "nationale deutsche Identität" (Eigengruppe) gegenüber "Ausländern" und "Fremden" (Fremdgruppe) gestellt. Dabei spielen Themen, wie Einwanderung und Flüchtlinge, in den sozialen Netzwerken eine entscheidende Rolle. Das Posting eine "Festung Brandenburgs" (Eigengruppe) auf dem Facebook-Account des Verdachtsfall "AfD Brandenburg"59 verdeutlicht dies beispielhaft. Im Posting spricht sich die "AfD Brandenburg"60 gegen neue Asylunterkünfte (Fremdgruppe) in Brandenburg aus. weniger reglementierten und anonymer nutzbaren Alternativplattformen ab. Damit geht in der Regel auch ein Reichweitenverlust einher. 56 Steht zweimal für den achten Buchstaben (H) des Alphabets und wird in der rechtsextremistischen Szene als Synonym für den verbotenen Hitlergruß "Heil Hitler" verwendet. 57 Steht als Code für den ersten (A) und den achten (H) Buchstaben im Alphabet und wird als Synonym für Adolf Hitler in der rechtsextremistischen Szene verwendet. 58 Steht dreimal für den vierten Buchstaben (D) des Alphabets und verschlüsselt die Losung "Deutschland den Deutschen". 59 Vgl. FN 2. 60 Vgl. FN 2. 42 61 In diesem Zusammenhang werden bewusst vermeintliche Bedrohungsszenarien mit Fremdgruppen aufgebaut. Durch wiederkehrende Floskeln und sprachlichen Tabubrüchen werden gezielt Ängste geschürt. Durch das Ansprechen der Emotionsebene entsteht eine vermeintlich persönliche Betroffenheit der Eigengruppe. Eine weitere Strategie ist die Anti-Eliten-Haltung. Die variabel definierte Elite, zumeist die Regierung, wird als feindliche Fremdgruppe definiert. Zugleich wird sie mächtiger als die Eigengruppe wahrgenommen. So wird das Opfernarrativ, die Unterdrückung durch die herrschende Klasse, impliziert. Vor diesem Hintergrund können jegliche, durch die Regierung getroffenen Entscheidungen im öffentlichen Diskurs delegitimiert werden. Besonders greifbar ist die Strategie im Kontext der staatlichen Maßnahmen während der Corona-Pandemie geworden. Das Volk wird als handlungsunfähig gegenüber der Elite definiert. Ängste wurden emotionalisiert. Dadurch gelang es, das Ohnmachtsgefühl der Bevölkerung in Teilen der Gesellschaft in Eliten-Hass zu radikalisieren. Dieser äußerte sich letztlich in Morddrohungen oder konkreten Entführungsplänen. Diesen Vertrauensverlust in die Regierung nutzten Extremisten durch gezielte mediale Kampagnen für sich. Eine ähnliche, wenn nicht identische Strategie nutzen Rechtsextremisten im Kontext der Flüchtlingspolitik. Wiederkehrende Postings zu vermeintlichen Angriffen suggerieren eine stetig steigende Kriminalität durch Migranten und fördern Ängste. Gerade das Herunterbrechen auf den kleinsten sozialen Kernbereich, die Familie, und die Betonung der Schutzwürdigkeit, erzielt dann eine entsprechende Reichweite. Auch der Ukraine-Konflikt und die befürchtete Energiekrise wurden genutzt, um eine Anti-Elite-Haltung zu etablieren. Begrifflichkeiten, wie "Kriegstreiber" für die aktuelle Regierung, fördern diese. Unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen werden gegeneinander ausgespielt. Auf der einen Seite der Mittelstand, der die erhöhten Kosten nicht mehr tragen könne und auf der anderen Seite das Leben von Geflüchteten, das finanziert werden solle. So werden Ängste, die es in der Bevölkerung gibt, ausgenutzt und die "Opferrolle" der Eigengruppe herausgestellt. Vor diesem Hintergrund forderte "DER DRITTE WEG" 2023 die "Grenzgänger-Aktion". Unter dem Motto "Kein zweites 2015 - werde Grenzgänger, schütze deine Heimat!" wurde zum aktiven Schutz der Grenzen aufgerufen. Den staatlichen Stellen wurde das Vertrauen entzogen, illegale Migration eindämmen zu können. Die Polizei wurde als "Taxi mit Blaulicht" abgewertet und Deutsche aufgefordert, die Angelegenheit in die eigene Hand zu nehmen.62 Eine ausgeprägte Einteilung in Eigenund Fremdgruppe, in Verbindung mit der Anti-Eliten-Haltung, ist bei Reichsbürgern und Selbstverwaltern erkennbar. Sie negieren die Existenz der Bundesrepublik Deutschland als legitimen souveränen Staat und erkennen Repräsentanten der Exekutive, Judikative sowie der Legislative kategorisch nicht an. In den vergangenen Jahren konnte eine Vernetzung im virtuellen Raum, überwiegend auf Telegram, beobachtet werden. Als prominentes Beispiel ist das "Königreich 61 Vgl. Facebook-Seite AfD Brandenburg, (letzter Zugriff am 12.11.2023). 62 Vgl. Telegram Kanal "DER DRITTE WEG", (letzter Zugriff am 10.11.2023). 43 Deutschland" zu nennen. Neben einer eigenen Staatsbürgerschaft, eines eigenen Gesundheitssystems sowie eigener Währung ermöglicht das "Königreich Deutschland" seinen Mitgliedern ein isoliertes Leben. Islamisten propagierten 2023 ihre Ablehnung der "Wertediktatur" und der Dominanz der Mehrheitsgesellschaft in erster Linie über die eigene Opferrolle und über die vermeintliche Lenkung der Gesellschaft durch verborgene Kräfte. Mediale Inhalte wurden so dargestellt, dass diese vermeintlich "Islamhass" beinhalten würden, mit dem Ziel die Opferrolle einzunehmen. Antisemitische Inhalte haben auf Grund der Eskalation des Nahost-Konflikts im Jahr 2023 deutlich zugenommen. 63 64 Die Macht der kalkulierten Provokation - gefärbte Meinungsdiskurse Mithilfe von gezielten Tabubrüchen und kalkulierten Provokationen versuchen extremistische Akteure nach und nach Grenzen des Sagbaren und Legitimen zu erweitern. Die Strategie der Entgrenzung wird von Extremisten genutzt um bestehende Haltungen aufzubrechen. Die Beeinflussung des öffentlichen Diskurses wird an der Kampagne der Neuen Rechten im Kontext des "LGBTQ-Pride-Monats" im Juni 2023 deutlich. Alljährlich unterlegen Personen des öffentlichen Interesses, Unternehmen oder Privatpersonen ihre Profilbilder mit Regenbogenflaggen in den sozialen Netzwerken. Damit drücken sie ihre Unterstützung für die Gleichberechtigung der LGBTQ-Gemeinde aus. Im Juni 2023 nutzten Extremisten die Kampagne zur Kreierung eines Gegennarrativs, dem #stolzmonat. Konträr zur Regenbogenflagge gestalteten Akteure der Szene ihre Profilbilder in schwarz, rot, gold.65 Ein weiteres Beispiel der strategischen Unterwanderung eines gesellschaftlich relevanten Diskurses im virtuellen Raum sind Hashtag-Kaperungen. Neben der Besetzung der Hashtags #stolzmonat und #stolzstattpride haben Akteure der Szene zur #stolzmonatHerausforderung aufgerufen. Hierbei mussten online nominierte Profile binnen 72 Stunden 63 Vgl. Telegram Kanal "Politische Bilder", (letzter Zugriff am 12.11.2023). 64 Vgl. Telegram Kanal "Politische Bilder", (letzter Zugriff am 12.11.2023). 65 Vgl. Instagram Account "Junge Alternative Brandenburg", veröffentlicht am 2.6.2023, (letzter Zugriff am 9.11.2023). 44 die deutsche Nationalflagge oder die Farben Schwarz, Rot, Gold anhand von Aktionen in die Öffentlichkeit transportieren. Beispiele hierfür sind das Anbringen von Flaggen oder Transparenten beziehungsweise das Tragen entsprechender Kleidung. Die Aktion sollte fotografiert und anschließend online veröffentlicht werden. Danach konnten weitere Profile nominiert werden.66 Wurde kein Fotobeweis veröffentlicht, sollte der oder die Betreffende eine Spende an eine patriotische Organisation tätigen. Akteure der "JA Brandenburg" haben in diesem Kontext eine Deutschlandfahne an ein Gebäude der Universität Potsdam öffentlichkeitswirksam aufgehängt und anschließend die Aktion in den sozialen Netzwerken verbreitet. Diese Vorgehensweise generiert hohe Reichweite, soll eine vermeintlich queer-feindliche Einstellung in der Bevölkerung suggerieren und durch die Spendenaufforderung wird zusätzlich ein finanzieller Gewinn erzielt. Die Kampagne hat die Ebene der realen Erlebniswelt (Durchführung der Aktion) und die virtuelle Ebene (Weiterverbreitung der Inhalte in den sozialen Medien) bespielt. Die "JA Brandenburg" konnte so ihre LGBTQ-feindliche Haltung im Netz streuen und versucht über Reichweite die Diskurshoheit zu übernehmen. Mit der Berichterstattung in traditionellen Medien über die Kampagne gelang es der "JA Brandenburg" zudem Personen außerhalb ihres eigentlichen Einflussbereichs zu erreichen.67 Im Bereich des extremistischen Islamismus ist zu beobachten, dass Akteure der Szene gezielt diskurskonforme Hashtags, wie zum Beispiel #proudtobegay oder #againstthehate nutzen, um zum einen Sperrungen ihrer Accounts zu umgehen und zum anderen um ihre Reichweite zu erhöhen und so den Meinungsdiskurs still und heimlich zu beeinflussen.68 Auch werden Medienberichte unter anderem genutzt um den Diskurs zu beeinflussen. So wurde unter anderem der im Oktober 2023 in der Süddeutschen Zeitung erschienene Artikel69, in dem über den Gesetzesentwurf zur Novellierung des Bundesverfassungsschutzgesetzes berichtet worden ist, verzerrt und bewusst falsch dargestellt. In einem Posting wurde unterstellt, dass Agenten das Recht bekommen sollen "Privatpersonen heimlich zuzuflüstern, dass jemand radikal sei", wie Vermietern, Arbeitskollegen oder Sporttrainern. Als Beispiel wurde ein "verdächtiger Muslim" genannt, welcher sich um eine Wohnung bemühe. Der Beitrag wurde deutschlandweit von Szeneakteuren in den sozialen Medien verbreitet, darunter auch Akteure der islamistischen Szene Brandenburgs.70 66 Vgl. Instagram Account "Junge Alternative Brandenburg", veröffentlicht am 21.6.2023, (letzter Zugriff am 14.11.2023). 67 Vgl. https://www.rnd.de/panorama/stolzmonat-wie-rechte-den-pride-month-auf-twitter-und-facebook-kapern-wollenCZGCPDETXFGAXNE2WCKI4LBDCQ.html, (letzter Zugriff am 29.11.2023). 68 Vgl. TikTok Kanal "fremder akhi", veröffentlicht am 21.6.2023, (letzter Zugriff am 20.3.2024). 69 Vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/verfassungsschutz-befugnisse-faeser-agenten-folgen-buergern-1.6294133?reduce=true, (letzter Zugriff am 20.03.2023). 70 Vgl. Instagram Account "realitaetislam", veröffentlicht am 31.10.2023, (letzter Zugriff 11.3.2024). 45 Im Rahmen der ausgesprochenen Verbote von pro-palästinensischen Demonstrationen im Nachgang des brutalen Überfalls auf Israel von der "HAMAS" wurde in den sozialen Medien verbreitet, dass alle Personen muslimischen Glaubens durch deutsche Medien dämonisiert würden. Muslime dürften in Deutschland nicht mehr frei ihre Meinung äußern. Der Gesetzesentwurf und das von der Süddeutschen Zeitung angeführte Beispiel eines "verdächtigen Muslims", welcher durch die Übermittlung von Informationen durch den Verfassungsschutz keine Wohnung mehr erhalten würde, wurde von Akteuren als weiterer Beleg einer "islamfeindlichen Politik" gewertet. Subtile Ansprachen - Radikalisierung und Mobilisierung im virtuellen Raum Der virtuelle Raum hat sich in den vergangenen Jahren zur zentralen operationellen Umgebung für Extremismus entwickelt. Eine strikte Trennung von Onlineund Offline-Radikalisierung ist daher nicht mehr möglich.71 Radikalisierung im virtuellen Raum hat weitreichende Konsequenzen für das realweltliche Leben. Online-Radikalisierung beschreibt dabei einen Radikalisierungsprozess, der primär auf die Nutzung des Internets und insbesondere sozialer Medien zurückzuführen ist.72 Der virtuelle Raum wirkt als Katalysator für gesellschaftliche Dynamiken und Diskurse und kann Radikalisierungsdynamiken begünstigen und beschleunigen. Zudem unterliegt der virtuelle Raum keinen vergleichbaren normativen Reglementierungen und Sanktionen wie reale Interaktionen. Dies hat zur Folge, dass sich rechtsfreie Räume entwickeln können. Extremisten nutzen diese Räume gezielt für Propaganda, logistische Planung und Rekrutierung. Subtile Radikalisierung ist eine Strategie im virtuellen Raum, um extremistische Positionen in die Mitte der Gesellschaft zu transportieren und dort zu verankern - ähnlich wie bei der Strategie der Entgrenzung. Das Ziel ist den öffentlichen Diskurs lautlos in die Richtung radikalerer Positionen zu verschieben und neue Szeneanhänger zu gewinnen.73 Die "JA Brandenburg" hat 2023 nicht nur politische Aktivitäten, wie Demonstrationen, beworben sondern vor allem auch alternative Veranstaltungen, wie Bowling-Abende, Kneipen-Turniere, Angelcamps und Aperol-Spritz-Abende. Gemeinsame Aktivitäten und die damit verbundene Kollektivbildung spielt bei der Anbindung an die Szene eine wichtige Rolle. Die bewusst unpolitisch gewählten Aktionsformen ermöglichen einen erleichterten Zugang zu neuen Anhängern. Diese Vorgehensweise ist auch bei anderen Jugendorganisationen zu beobachten. So ruft die "Nationalrevolutionäre Jugend" zur sportlichen Ertüchtigung unter der Überschrift "Vom Ich zum Wir" zu einem Selbstverteidigungskurs auf. Über das Propagieren der Bedeutung eines gesunden Lebensstils und der Ausführung von Ausdauer-, Kraftoder Kampfsport wird versucht, speziell junge Menschen für die Bewegung zu gewinnen. Dies basiert auf einem, von einer rechtsextremistischen Weltanschauung getragenen Körperkult ohne Alkoholund Drogenkonsum und ist ausgelegt auf eine Leistungsund Leidensfähigkeit zur 71 Vgl. Zentrum für Analyse und Forschung, Bericht "Mainstreaming und Radikalisierung in sozialen Medien", 2022, S. 15. 72 Vgl. Zentrum für Analyse und Forschung, Bericht "Mainstreaming und Radikalisierung in sozialen Medien", 2022, S. 15. 73 Vgl. Zentrum für Analyse und Forschung, Bericht "Mainstreaming und Radikalisierung in sozialen Medien", 2022, S. 18. 46 Wehrhaftmachung. Sie will einen Gegenpol zu den geläufigen und trendigen Jugendkulturen des Westens sein, die angeblich Konsum, Selbstdarsteller und "politische Schädlinge" hervorbringt. Die "Nationalrevolutionäre Jugend" soll als attraktive Anlaufstation für junge Menschen dienen. Sport, als wenig kontroverses Thema, und die gezielte Betonung einer sinnhaften Gemeinschaft, bieten generell einen idealen Einstieg in eine extremistische Bewegung wie den "DRITTEN WEG" an. Die Inhalte werden stets in einer proaktiven Form dargestellt. So werden wahrgenommene gesellschaftliche Missstände dem potenziellen Adressaten aufgezeigt und dieser direkt aufgefordert diese durch aktive Bewegung zu beheben "Wenn auch Du bereit bist, etwas zu verändern, so werde Teil unserer nationalrevolutionären Bewegung". Das "KRD" vermittelt in seinen Postings, dass jeder einen Platz innerhalb des Gefüges finden kann, da die Gemeinsamkeit in der Ablehnung des Rechtsstaates Deutschland besteht. Demzufolge spricht "KRD" mit diversen Angeboten ein breites Publikum an. Die Ausrichtung eines Familiencamps zeigt, dass auch gezielt Familien mit Kindern angesprochen werden sollen. Oberflächlich erscheint das "Familiencamp" als unverfängliches Freizeitangebot, das eigentliche Ziel besteht jedoch in der Vermittlung der Ideologie des "KRD". Veranstaltungen wie diese, können eine frühe Beeinflussung von Kindern darstellen. Im Bereich des linksextremistischen Spektrums sind in erster Linie Aufrufe zur Teilnahme an Kundgebungen oder Demonstrationen, beispielsweise im Bereich der Klimapolitik oder als Gegenveranstaltungen zu Aktionen rechter Akteure festzustellen. Zudem teilt die linksextremistische Szene Solidaritätsbekundungen, unter anderem im Kontext der Gerichtsverhandlung um Lina E., im virtuellen Raum um die gegenseitige Unterstützung und Vernetzung zu verdeutlichen. In Hinblick auf den islamistischen Extremismus kann ebenfalls der Aufruf zur gemeinsamen körperlichen Ertüchtigung durch Kampfsport beobachtet werden. Großflächig wurden Mobilisierungsaufrufe zur Teilnahme an Demonstrationen vor dem Hintergrund des Nahost-Konflikts geteilt. Im Jahr 2023 konnte verstärkt festgestellt werden, dass gerade Profile junger weiblicher Personen immer häufiger von Extremisten in sozialen Netzwerken, proaktiv von Akteuren der Szene angeschrieben werden, um sie von ihren radikalen Sichtweisen zu überzeugen. Häufig werden Betroffene zunächst in ein Gespräch über allgemeine islamische Themen auf virtueller Ebene verwickelt. Diese reichen von "richtigem" Verhalten einer Frau im Alltag bis hin zum Tragen eines "Hijabs". Dabei fließen stetig radikalere islamistische Ideologien in das Gespräch ein. Häufig werden, ohne historischen Kontext religiöse Textstellen aus dem Koran zitiert, um die getätigten Aussagen vermeintlich zu legitimieren. Langfristiges Ziel ist es, die jungen Frauen mit Lösungsangeboten für ihre persönlichen Probleme (zum Beispiel Diskriminierungserfahrungen) von ihrem sozialen Umfeld zu isolieren und so weiter in eine Radikalisierungsspirale zu bringen. Trends und Herausforderungen Der virtuelle Raum ist aus technischer Sicht dynamisch und unterliegt rasanten Entwicklungen. Diese sind Chancen und Herausforderungen gleichermaßen. Als prominentestes Beispiel ist die generative KI zu nennen. Das mittlerweile weltweit bekannt Tool "ChatGPT" wurde am 30. November 2022 als Preview veröffentlicht. Aktuell verzeichnet "ChatGPT" etwa 100 Millionen aktive Nutzer pro Woche. Die hohe Nutzerzahl nach nur einem Jahr auf dem Markt verdeutlicht, wie KI verstärkt Einzug in den Alltag hält. Neben Tools zur Generierung von Textinhalten, bergen Produkte zur Bildbearbeitung gerade im Kontext von Deepfakes74 ein hohes Risikopotenzial. Deepfakes sind mit Hilfe von KI manipulierte Bild-, Audiooder Videoaufzeichnungen, die täuschend echt wirken können. Mittels verschiedenster Techniken lässt sich der Eindruck erzeugen, dass Personen bestimmte Dinge getan oder gesagt haben, auch wenn dies nicht der Fall ist. Für extremistische Akteure aber auch für fremde Staaten bietet das eine vergleichsweise einfache Methode, um provokantes Propagandamaterial zu erstellen und Desinformationskampagnen zu 74 Wortkombination aus "Deep Learning" und "Fake". 47 kreieren, um letztlich dem politischen Gegner Schaden zufügen zu können. Generative KI kann so im Extremfall dazu beitragen, den öffentlichen Diskurs zu manipulieren und politische Prozesse zu beeinflussen. Eine weitere Herausforderung neben KI sind Desinformationen. Desinformationen sind bewusst falsche, manipulierte oder täuschende Informationen. Oftmals werden dokumentarische Aufnahmen aus Nachrichten, Zeitungsartikeln oder in den sozialen Medien kursierende Videos mit einem irreführenden, manipulativen Text versehen. Auch können Kopien ganzer Webseiten beobachtet werden, die in der Gestalt eines vermeintlich seriösen Nachrichtenportals Desinformationen verbreiten. Nachrichtenbilder oder dokumentarisches Material sollen angebliche ungefilterte Realitäten abbilden - anders als bei den "Mainstreammedien". Dadurch entsteht der Eindruck, es handele sich um "authentische Informationen". Ihre Wirkung entfalten Desinformationen schließlich, wenn sie durch andere Nutzer aufgegriffen, wiederholt und verbreitet werden. Extremisten werden in Zukunft den virtuellen Raum weiterhin als operationelle Umgebung nutzen. Mit Blick auf die Strategien und der potenziellen Gefahr von Desinformationen und Deepfakes müssen Inhalte stets kritisch hinterfragt und auf ihre Wahrhaftigkeit geprüft werden. Hier sind nicht allein die Sicherheitsbehörden gefragt, sondern vor allem auch Anbieter von Diensten. 48 3. Rechtsextremismus 49 Rechtsextremistisches Personenund Organisationspotenzial in Brandenburg (zum Teil geschätzt) 2021 2022 2023 in Parteien (gesamt) 1.045 1.080 1.260 NPD 210 200 140 DER DRITTE WEG 45 60 70 Verdachtsfall AfD75 790 820 1.050 in parteiunabhängigen Strukturen 395 375 405 weitgehend unstrukturiertes Personenpotenzial 1.600 1.620 1.660 gesamt 3.040 3.075 3.325 Mehrfachmitgliedschaften 210 220 240 Personenpotenzial (nach Abzug von Mehrfachzählungen) 2.830 2.855 3.085 davon76 gewaltorientierte Rechtsextremisten 1.245 1.260 1.300 75 Siehe Fußnote 2. 76 Bezogen auf das "Personenpotenzial" (nach Abzug von Mehrfachzählungen). 50 3.1 DER DRITTE WEG Sitz / Verbreitung Bundesverband: Weidenthal (Rheinland-Pfalz); Verbreitung hauptsächlich in Südund Ostdeutschland Gründung / Bestehen 28. September 2013 in Heidelberg (Baden-Württemberg) Struktur / Repräsentanten Bundesvorsitzender: Matthias Fischer (seit 13. November 2021) Landesvorsitzender Brandenburg: Matthias Fischer (seit 1. April 2023) Die Kleinstpartei "DER DRITTE WEG" hat sich im Land Brandenburg 2023 umstrukturiert. Der brandenburgische Teil des ursprünglichen "Gebietsverbandes Mitte" hat am 1. April 2023 seine Zuständigkeit an den neu gegründeten Landesverband Brandenburg übergeben. Der Landesverband umfasst zwei Stützpunkte: "Uckermark" und "Potsdam/Mittelmark". Personenpotenzial: Mitglieder / Anhänger / Unterstützer In Brandenburg weist "DER DRITTE WEG" ein Potenzial von ca. 70 Personen auf. Das Personenpotenzial ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich angestiegen (2021:45; 2022:60). Der Zuwachs erklärt sich einerseits aus einer aktiven Mitgliederwerbung und andererseits aus Übertritten. Das betrifft im Wesentlichen die Partei "Die Heimat" (ehemals NPD) sowie deren Jugendorganisation "Junge Nationalisten" (siehe Kapitel 3.2). Veröffentlichungen Die Kleinstpartei nutzt aktiv das Internet. Dazu zählen unter anderem die eigene Webseite sowie diverse Profile in sozialen Netzwerken, Videoportalen und Messenger-Diensten. Zudem betreibt sie einen eigenen Internetshop. Dort werden Parteikleidung und vielfältige Propagandamaterialien vertrieben. Kurzportrait / Ziele Mit Beteiligung einzelner ehemaliger NPD-Mitglieder und Neonationalsozialisten aus Rheinland-Pfalz sowie Hessen wurde die Kleinstpartei im Jahr 2013 gegründet. Im Jahr darauf zeichnete sich in Bayern ein Verbot des neonationalsozialistischen Netzwerks "Freies Netz Süd" ab. Daraufhin ist ein Teil der Betroffenen der Kleinstpartei "DER DRITTE WEG" beigetreten, um so staatlichen Verbotsmaßnahmen zu entgehen. Die Aktivisten nutzen gezielt den Schutz des Parteienprivilegs, um ihre neonationalsozialistischen Aktivitäten fortzusetzen. Finanzierung Die Finanzierung erfolgt überwiegend durch Mitgliedsbeiträge und Spenden sowie Verkäufe. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit "DER DRITTE WEG" vertritt ein klar eindeutiges rechtsextremistisches Staatsund Gesellschaftsbild. Insbesondere völkisch-nationalistische Elemente des Nationalsozialismus werden aufgegriffen. Das 1051 Punkte-Programm ist ideologisch scharf an das Gedankengut der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP) angelehnt. Gefordert wird ein "Deutscher Sozialismus", der "fernab von ausbeuterischem Kapitalismus wie gleichmacherischen Kommunismus" sei.77 Die Partei propagiert die "Beibehaltung der nationalen Identität des deutschen Volkes", fordert "die Erhaltung und Entwicklung der biologischen Substanz des Volkes" und die "konsequente Förderung von kinderreichen Familien zur Abwendung des drohenden Volkstodes". Damit wird eine ethnisch homogene Gesellschaft im Sinne des völkischen Nationalismus angestrebt. Ohne Rücksicht auf die Menschenrechte soll dieses Ziel durch die rigide Ausgrenzung aller vermeintlich Fremden verwirklicht werden. Somit handelt es sich bei der Kleinstpartei um eine eindeutig neonationalsozialistische Struktur. "DER DRITTE WEG" agitiert vor allem gegen Flüchtlinge. Er fordert zudem "die Wiederherstellung Gesamtdeutschlands in seinen völkerrechtlichen Grenzen" und verfolgt damit offen revisionistische Gebietsansprüche.78 Die Kleinstpartei pflegt Kontakte zu verschiedenen rechtsextremistischen Organisationen in Europa. Zahlreiche Mitglieder verfügen über eine rechtsextremistische Biografie. Eine besondere Bedeutung für die Partei hat zunehmend der Kampfsport. Dieser dient sowohl der körperlichen Ertüchtigung als auch dem rechtsextremistischen Ideal ständiger Kampfbereitschaft. Lediglich aus taktischen Erwägungen lehnt "DER DRITTE WEG" Gewalt ab. Eine relevante Zielgruppe der Kleinstpartei sind hierbei Jugendliche. Entwicklungen im Berichtszeitraum "Nie waren die Zeiten besser für uns - nutzen wir sie!"79 Dieses Zitat vom Bundesund Landesvorsitzenden Matthias Fischer zeigt, wie "DER DRITTE WEG" die aktuelle politische Lage für die Kleinstpartei einschätzt. Mit der Gründung eines eigenen Landesverbandes in Brandenburg am 1. April 2023 wurden Strukturebenen geschaffen, die Teilnahmen an Wahlen in Brandenburg fördern. Neben Matthias Fischer setzt sich der Landesvorstand aus langjährigen rechtsextremistischen Altkadern zusammen. Die brandenburgischen Parteimitglieder kommen teilweise von "Die Heimat" (ehemals NPD) sowie von der 2006 verbotenen Organisation "Schutzbund Deutschland" und weiteren gefestigten rechtsextremistischen Strukturen. Mit der Absicht 2024 an den Wahlen in Brandenburg teilzunehmen, hielt die Kleinstpartei am 19. November 2023 einen Sonderparteitag ab. Auf diesem wurde über die Landesliste sowie über die Direktkandidaten für die Landtagswahl abgestimmt. In den Wahlkampf schickt die Kleinstpartei ideologisch gefestigte Kandidaten ins Rennen, die in der Prignitz, Ostprignitz-Ruppin, Oberhavel und Uckermark antreten werden. Mitglieder und Sympathisanten der Kleinstpartei traten im Jahr 2023 überwiegend mit Flugblattverteilungen und Infoständen auf. Im Vergleich zum Vorjahr gab es deutlich weniger Kundgebungen. Lediglich in Pritzwalk (Prignitz) wurde eine durchgeführt. Die Teilnehmer skandierten Parolen wie "Wir tragen zu Grabe ein krankes System" und "Überfremdung stoppen!". Neben dem Nordwesten Brandenburgs bildete der regionale Wirkungskreis des Stützpunktes "Uckermark" erneut einen räumlichen Schwerpunkt. Einen maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung haben altbekannte Rechtsextremisten. So wurde die Kleinstpartei von Akteuren der aufgelösten Struktur "Freie Kräfte Prignitz" (FKP), der verbotenen Gruppierung "Weiße Wölfe Terrorcrew" sowie von Rechtsextremisten aus weitgehend unstrukturierten lokalen Szenen unterstützt. Hinzu kamen Rechtsextremisten aus anderen Bundesländern. Darüber hinaus versucht "DER DRITTE WEG" die Expansion im Berliner Umland, insbesondere Oberhavel, Barnim und Dahme-Spree, fortzusetzen. Diese Bemühungen lassen sich ebenfalls in Südbrandenburg feststellen. 77 Internetseite "DER DRITTE WEG": "10 Punkte Programm der Partei DER DRITTE WEG" (letzter Zugriff 17.11.2023). 78 Vgl. ebd. 79 Telegram Kanal "DER DRITTE WEG, 14.10.2023 (letzter Zugriff am 10.11.2023). 52 Inhalte rund um die Ausländerund Flüchtlingspolitik dominierten 2023 die Propaganda der Kleinstpartei. So wurden Themen wie der Anstieg illegaler Einreisen, Unterbringung, Abschiebung, Versorgung, Kriminalität und Integration aufgegriffen. Mit der Unterstützung durch lokale rechtsextremistische Akteure verfolgt die Kleinstpartei das Ziel, mit ihren eindeutigen neonationalsozialistischen Positionen auf Debatten und Proteste Einfluss zu nehmen. So wurden Diskussionen um geplante Flüchtlingsunterkünfte, die im überregionalen oder gar im bundesweiten Pressefokus standen, für Propaganda und Hetze missbraucht. Im Zuge der Debatten neuer Unterkünfte, wie im Wandlitzer Ortsteil Klosterfelde (BAR) und im Potsdamer Stadtteil Golm (P), hat die Kleinstpartei Flyer verteilt um gegen "neue Asylkaschemmen"80, wie sie die Unterkünfte bezeichnen, Stimmung zu machen. Die Kleinstpartei ist bemüht, auch andere gesellschaftlich relevante Themen, wie Wohnungsmarkt, Inflation, Energiekrise und Altersarmut, aufzugreifen. Ihr geht es ausnahmslos um das Anstacheln von Ängsten und um das Verbreiten völkisch-nationalistischer Stereotype. Das offenbart auch der Slogan "Die wahre Krise ist das System!" der 2023 erneut von der Kleinstpartei verwendet wurde, zum Beispiel am 21. Januar 2023 in Pritzwalk (PR). Mit Kundgebungen, Flyerverteilungen und Infoständen beabsichtigt die Partei, sowohl ihren Bekanntheitsgrad als auch ihre Anschlussfähigkeit im ländlichen Raum zu erhöhen. Gedenktage anlässlich der Bombardierung Dresdens (Sachsen) im 2. Weltkrieg und der 1. Mai werden seit Jahren als Aufmarschtermine genutzt. Ebenso ist "DER DRITTE WEG" bestrebt, den Aufbau seiner Jugendorganisation "Nationalrevolutionäre Jugend" (NRJ) voranzutreiben. Bisher liegt der räumliche Schwerpunkt im Raum Cottbus und Burg (SPN). 2023 hat die "NRJ" vornehmlich Flyer verteilt und im Juli einen "Jugendtag" veranstaltet. Am 3. Mai 2023 versuchten "NRJ"-Akteure vor einer Schule in Burg Flyer zu verteilen. Über die Schule wurde zuvor wegen rechtsextremistischer Vorfälle in den Medien berichtet. Die "NRJ" ist ideologisch an die Hitlerjugend angelehnt. Sie verfolgt die Absicht, Jugendliche mittels Sports für sich zu gewinnen. Fitness, Kampfund Kraftsport sowie Gemeinschaftsbildung stehen im Zentrum. Generell geht es um die Herausbildung einer gewaltbejahenden Wehrhaftigkeit. Sie selbst beschreibt sich so: "Unsere Jugendarbeit ist die Alternative zu den auf Profit ausgelegten Freizeitangeboten (...) Eine lebensbejahende Weltanschauung, ein nationalrevolutionäres ganzheitliches Konzept, Jungs und Mädels mit Charakter, das zeichnet unsere Jugend aus. Bei uns ist kein Platz für Selbstdarsteller, Poser, T-Hemd-Fetischisten, Egozentriker und politische Schädlinge".81 Bewertung / Ausblick Die Kleinstpartei "DER DRITTE WEG" konnte in den vergangenen Jahren stabile Strukturen in Brandenburg aufbauen. Mit der Landesverbandsgründung gelang es der Partei, diese 2023 weiterzuentwickeln. Mit dem Parteivorsitzenden Matthias Fischer sind die Kleinstpartei und ihre Akteure bundesweit in der rechtsextremistischen Szene vernetzt. In der Öffentlichkeit verkauft sich die Partei patriotisch, politisch engagiert und diszipliniert. Das oftmals uniformierte Auftreten soll das unterstreichen. "DER DRITTE WEG" steht jedoch für eine rigorose rechtsextremistische Ideologie und verfügt über einen hohen Organisationsgrad aufgrund von einzelnen sehr aktiven Mitgliedern. Die Kleinstpartei ist eine Art Auffangstruktur für gefestigte Rechtsextremisten und ist insbesondere interessant für Rechtsextremisten, die sich am Neonationalsozialismus ausrichten. Sie profitiert derzeit unter anderem vom Bedeutungsverlust der Partei "Die Heimat". Die hohen Anforderungen, die "DER DRITTE WEG" jedoch an sich und seine Mitglieder stellt, werden selten von ihnen sowie von 80 Homepage "DER DRITTE WEG": "In Potsdam-Golm brodelt es - Keine neuen Asylkaschemmen!", 30.03.2023 (letzter Zugriff am 17.11.2023). 81 Homepage "DER DRITTE WEG": "'Der III. Weg' in Dresden und der Sächsischen Schweiz", 30.01.2022 (letzter Zugriff am 17.11.2023). 53 der rechtsextremistischen Szene in Brandenburg erfüllt. Daher wird das Personenpotenzial der Kleinstpartei, abgesehen von geringfügigen Steigerungen, langfristig vermutlich eher niedrig bleiben. Im Jahr 2023 ist es ihr nicht gelungen, die von ihr, proklamierte Führungsrolle, tatsächlich einzunehmen. Die brandenburgischen Strukturen des "DRITTEN WEGES" haben innerhalb der Gesamtpartei, vor allem durch das Agieren des Bundesund Landesvorsitzenden Matthias Fischer, aber an Gewicht gewonnen. Mit Themen wie Zuwanderung und Asyl oder Verteuerungen und Verknappungen versucht die Kleinstpartei, ihre Anschlussfähigkeit ins rechtsextremistische Milieu zu erweitern. Ihr Ziel ist, ihre verfassungsfeindliche Ideologie in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Mit der gezielten Ausnutzung des Parteienstatus sollen staatliche Sanktionsmaßnahmen verhindert und erschwert werden. Auf kommunaler Ebene besitzt der "DRITTE WEG" die Fähigkeit, Wähler des extrem rechten Spektrums für sich zu vereinnahmen. In Erwartung, dieses Wählerpotenzial im Fahrwasser einer rechtspopulistischen Grundstimmung abzuschöpfen, wird die Kleinstpartei zu den 2024 stattfindenden Kommunalwahlen und zur Landtagswahl in Brandenburg antreten. 54 3.2 Die Heimat (ehemals Nationaldemokratische Partei Deutschlands - NPD) Sitz / Verbreitung "Die Heimat" gliedert sich unterhalb der Bundesebene in Landesund Kreisverbände. Die Bundespartei hat ihren Sitz in Berlin. Gründung / Bestehen Die Partei wurde 1964 als Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) gegründet. Im Juni 2023 hat sie sich in "Die Heimat" umbenannt. Ein eigenständiger brandenburgischer Landesverband besteht seit 2003. Struktur / Repräsentanten Bundesvorsitzender: Frank Franz (seit 2014) Landesvorstand "Die Heimat" Brandenburg: Vorsitzender: Klaus Beier (seit 2004) stellv. Vorsitzende: Thomas Gürtler Schatzmeister: Thomas Gürtler (seit 2022) Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Nach der Namensänderung verlor die Partei weitere Anhänger. Es wird davon ausgegangen, dass sich diese Entwicklung in Zukunft fortsetzen wird. Im Land Brandenburg hatte "Die Heimat" zum Ende des Jahres 2023 nur noch rund 140 Mitglieder. Veröffentlichungen Die Partei nutzt eine eigene Webseite für die Darstellung der Aktivitäten, des Personals und der Ziele. Zudem werden verschiedene Projekte und Profile in den sozialen Medien betrieben. Dazu zählen beispielsweise Facebook, Twitter, Instagram und Telegram. Die Akteure vermeiden auf einigen Social-Media-Profilen bewusst, einen direkten Zusammenhang zur Partei herzustellen. Ferner publiziert der Bundesverband das Monatsmagazin "Deutsche Stimme" und der Landesverband Brandenburg veröffentlicht vierteljährlich das Blatt "Zündstoff - Deutsche Stimme für Berlin und Brandenburg". Kurzportrait / Ziele "Die Heimat" (ehemals NPD) ist die älteste rechtsextremistische Partei in der Bundesrepublik Deutschland. Sie vertritt rassistische, antisemitische und revisionistische Positionen. Ihr Ziel ist eine am völkischen Sozialismus orientierte Staatsform, die sie als "wahre Demokratie" bezeichnet. Damit offenbart "Die Heimat" ihre Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus und ihre feindliche Haltung zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Finanzierung Die Partei finanziert sich über Mitgliedsbeiträge, Spenden und - ursprünglich - die staatliche Parteienfinanzierung. Anfang 2024 erging ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das "Die Heimat" von der Parteienfinanzierung wegen erwiesener Verfassungsfeindlichkeit für sechs Jahre ausschließt. 55 Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit "Die Heimat" lehnt die freiheitliche demokratische Grundordnung ab und strebt ihre Beseitigung an. Das gilt beispielsweise für die Unantastbarkeit der Würde des Menschen. "Die Heimat" ordnet diese Würde einem nationalen Kollektivismus unter und strebt einen autoritären Staat an. Die freiheitliche demokratische Grundordnung will sie auf Grundlage ihrer rechtsextremistischen Ideologie durch eine auf Rassismus beruhende "Volksgemeinschaft" ersetzen. Die Idee weist Parallelen zur nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" auf. Die Zugehörigkeit beruht ausschließlich auf ethnischen Abstammungskriterien. Wer diese nicht erfüllt, soll ausgegrenzt und entrechtet werden. Demnach lehnt "Die Heimat" die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz nach Artikel 3 des Grundgesetzes ab. Das Bundesverfassungsgericht entschied am 17. Januar 2017, dass die Partei mangels Potenzialität nicht verboten wird. Das Gericht sah dennoch deutliche verfassungsfeindliche Ziele: "Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) vertritt ein auf die Beseitigung der bestehenden freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtetes politisches Konzept. Sie will die bestehende Verfassungsordnung durch einen an der ethnisch definierten 'Volksgemeinschaft' ausgerichteten autoritären Nationalstaat ersetzen. Ihr politisches Konzept missachtet die Menschenwürde und ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar. Die NPD arbeitet auch planvoll und mit hinreichender Intensität auf die Erreichung ihrer gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Ziele hin. [...] Das Konzept der 'Volksgemeinschaft', die antisemitische Grundhaltung und die Verächtlichmachung der bestehenden demokratischen Ordnung lassen deutliche Parallelen zum Nationalsozialismus erkennen. Hinzu kommen das Bekenntnis zu Führungspersönlichkeiten der NSDAP, der punktuelle Rückgriff auf Vokabular, Texte, Liedgut und Symbolik des Nationalsozialismus sowie geschichtsrevisionistische Äußerungen, die eine Verbundenheit zumindest relevanter Teile der NPD mit der Vorstellungswelt des Nationalsozialismus dokumentieren. Die Wesensverwandtschaft der NPD mit dem Nationalsozialismus bestätigt deren Missachtung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung."82 Die Partei verfolgt ihre Ziele in einer aggressiv-kämpferischen Weise. Dies belegt nicht zuletzt ihre Zusammenarbeit mit gewaltbereiten Neonationalsozialisten und Hooligans. Entwicklungen im Berichtszeitraum Auf dem Bundesparteitag am 3. Juni 2023 im sächsischen Riesa hat sich die "NPD" mit einer Mehrheit von 77% in "Die Heimat" umbenannt. Der Begriff "Heimat" ist mit positiven Attributen verbunden. Der neue Name sollte einen Neustart symbolisieren und das alte "negative NPD-Image" abstreifen. Die Partei versucht sich somit im rechtsextremistischen Spektrum neu zu positionieren. Chancen bei Wahlen werden aus Sicht des brandenburgischen Verfassungsschutzes nicht zugeschrieben. Ferner will sie "fortan als Netzwerker für die (deutsche) Heimat"83 agieren. Nicht alle Mitglieder waren mit den Veränderungen einverstanden. So spaltete sich der Landesverband Hamburg ab. Er bezeichnete "Die Heimat" als neue "BRD-konforme Wahlalternative" und entschloss sich, "weiterhin als NPD fortzuwirken"84. Im Land Brandenburg trat "Die Heimat" im Jahr 2023 öffentlich kaum in Erscheinung. Im März organisierten der Bundesund Landesvorsitzende in Lauchhammer eine Infoveranstaltung unter dem Motto "Fragen? Antworten! Wie weiter NPD?". Nach der Veranstaltung posteten sie ihr selbst gestecktes Ziel: "Die 82 Vgl. Bundesverfassungsgericht: "Kein Verbot der NPD wegen fehlender Anhaltspunkte für eine erfolgreiche Durchsetzung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele", 17.01.2017, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/ DE/2017/bvg17-004.html, (letzter Zugriff am 22.02.2021). 83 Vgl. Homepage NPD Bundesverband: "Der Heimat eine Zukunft geben!", 16.05.2022 (letzter Zugriff am 01.02.2024). 84 Vgl. Homepage NPD Hamburg (letzter Zugriff am 13.11.2023). 56 Öffentlichkeitssowie Netzwerkarbeit muss über das Jahr hinweg intensiv gestaltet werden und auch die Mitgliedergewinnung wieder in den Fokus rücken!"85 Dieses Ziel hat die Partei nicht umsetzen können. Ende Oktober instrumentalisierte der Landesverband die unerlaubten Einreisen über die polnische Grenze für ihre rassistischen Aktivitäten. In drei Gemeinden wurden Kundgebungen organisiert. Nur wenige Teilnehmer fanden sich zusammen, um gegen "staatlich geduldete illegale Grenzübertritte"86 zu agitieren. Auch die Selbstinszenierung der Veranstaltungen in den sozialen Medien hat kaum Anklang gefunden. Insgesamt hat "Die Heimat" im Jahr 2023 weiter an Attraktivität in Brandenburg verloren und auf Grund des Mitgliederschwunds in den vergangenen Jahren stark gelitten. Eine Ausnahme bilden die regionalen Akteure in der Niederlausitz. Sie halten kontinuierlich an der Parteiarbeit fest. Junge Nationalisten (JN) Die Jungen Nationalisten (JN) in Brandenburg wollen die völkisch-elitäre Kaderschmiede der Partei sein. Im März 2023 wurde ein neuer Stützpunkt in Südbrandenburg gegründet. Er versteht sich "als Bindeglied zwischen Berlin und Sachsen" Die brandenburgischen Akteure versuchen so ihr Netzwerk auszubauen und zu festigen.87 Neben verbindlichen Szeneterminen, wie dem rechtsextremistischen "Trauermarsch" anlässlich der Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945, waren insbesondere Aktivitäten in Südbrandenburg festzustellen. So wurde unter anderem ein Neujahrsempfang88 in Lauchhammer ausgerichtet. Zudem organisierten sie eine "NPD"-Infoveranstaltung89 und den JN-Erlebnistag in Südbrandenburg90 im Mai. Lauchhammer war auch Austragungsort des "JN-Fußballturniers" im Juli. Dieses bildete als Vernetzungsevent einen Höhepunkt in der rechtsextremistischen Szene. Natürlich versuchen die "JN" über eine positive Außendarstellung, insbesondere über Social-Media-Kanäle, Jugendliche für ihre Ziele zu begeistern. Dabei dienen Aktionismus und jugendgerechte Sprache sowie Kleidung als Anknüpfungspunkte zur Zielgruppe. Zurzeit fehlen jedoch, wie in der Mutterpartei, charismatische Führungspersonen. Bewertung / Ausblick "Die Heimat" ist eine verfassungsfeindliche Partei. Sie bot sich über Jahre als Schutzschirm für Kameradschaften, Freie Kräfte und andere weniger organisierte Rechtsextremisten an. Diese nutzten den gesetzlichen Schutz des Parteienprivilegs aus, um ungestört ihren neonationalsozialistischen Geschäften nachgehen zu können. Der Landesverband Brandenburg lebt noch von einigen wenigen Multifunktionären. Die Parteiarbeit der Kreisverbände liegt mit Ausnahme des Kreisverbandes Niederlausitz weitgehend brach. Zudem verliert "Die Heimat" zusehends Mitglieder und damit Unterstützung. Der vorangegangene Streit bezüglich der Umbenennung und der Neuorientierung der Partei hat den Landesverband Brandenburg verkleinert. Eine positive Prognose für die im Jahr 2024 stattfindenden Wahlen ist unter den gegebenen Umständen nicht zu erwarten. 85 Vgl. Facebook "Heimat Lauchhammer", 11. März 2023, (letzter Zugriff am 15.11.2023). 86 Vgl. Homepage "Die Heimat", Heimatschützer Grenzfahrt mit Kundgebungen in Eisenhüttenstadt, Neuzelle und Guben (zuletzt abgerufen am 14.11.2023). 87 Vgl. Homepage Junge Nationalisten, Eintrag vom 10. März 203, (zuletzt abgerufen am 30.11.2023). 88 Vgl. Facebook "Schutzzone Niederlausitz", Eintrag vom 6. Januar 2023, (zuletzt abgerufen am 14.12.2023). 89 Vgl. Facebook "Die Heimat", Eintrag vom 11. März 2023, (zuletzt abgerufen am 12.01.2024). 90 Vgl. Homepage Junge Nationalisten, Eintrag vom 18. Mai 2023, (zuletzt abgerufen am 15.11.2023). 57 VERDACHTSFALL 3.3 Rechtsextremistischer Verdachtsfall: Alternative für Deutschland (AfD) Landesverband Brandenburg Sitz / Verbreitung Die "AfD" gliedert sich unterhalb der Bundesebene in Landesund Kreisverbände. Die Bundespartei hat ihren Sitz in Berlin. Der Landesverband Brandenburg hat seinen Sitz in Werder/Havel (Potsdam-Mittelmark). Gründung / Bestehen Gründungsdatum des "AfD Landesverbandes Brandenburg"91 (AfD Brandenburg) ist der 28. April 2013. Seit 2014 ist die "AfD Brandenburg" im Landtag vertreten. Bei der Landtagswahl 2019 erhielt sie 23,5 Prozent der Zweitstimmen. Derzeit verfügt sie über 24 Abgeordnete. Struktur / Reichweite Landesvorstand der "AfD Brandenburg" laut Webseite92: Vorsitzende: Birgit Bessin stellv. Vorsitzende: Rene Springer, Andreas Galau Ehrenvorsitzender: Alexander Gauland (Landesvorsitzender 2014-2017) Struktur des Landesverbandes: Der Landesverband unterhält in allen 14 Landkreisen und allen vier kreisfreien Städten Kreisverbände. Personenpotenzial: Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Die "AfD"93 verfügt in Brandenburg über insgesamt rund 2140 Mitglieder (Stand 11/2023)94. Bei etwa 950 ist von einer rechtsextremistischen Einstellung auszugehen. Veröffentlichungen Der Landesverband, seine Untergliederungen sowie relevante Mitglieder der Partei sind online mit eigenen Webseiten, in relevanten Internetforen und den sozialen Medien vertreten. Die "AfD Brandenburg"95 verfügt unter anderem über einen eigenen YouTube-Kanal (1.940 Abonnenten), eine Facebook-Seite mit etwa 28.600 Followern, einen Twitter-Kanal mit etwa 2.200 Followern, einen Telegram-Kanal mit 647 Abonnenten und einen TikTok-Kanal mit 11.900 Followern.96 Kurzportrait / Ziele Anfang 2013 hat sich die "AfD" im Zusammenhang mit der Diskussion um den Euro-Rettungsschirm gegründet. Ihre ursprüngliche Ausrichtung war die einer nationalliberalen Wirtschaftspartei. Von Anfang an traten jedoch Personen aus dem rechtspopulistischen bis rechtsextremistischen Spektrum der Partei 91 Vgl. FN 2. 92 Vgl. Homepage AfD Brandenburg, (letzter Zugriff am 26.10.2023). 93 Vgl. FN 2. 94 Vgl. Facebook "Birgit Bessin", Eintrag vom 12.12.2023, (letzter Zugriff am 23.02.2024). 95 Vgl. FN 2. 96 Abonnentenund Follower-Zahlen auf YouTube, Facebook, Twitter, Telegram und TikTok beziehen sich auf den Standvom 26.10.2023. VERDACHTSFALL bei.97 Ab dem Jahr 2017 fingen diese Strömungen an, die "AfD Brandenburg"98 zu prägen. Heute dominieren sie den Landesverband mit völkisch-nationalistischen Konzepten und streben eine ethnisch homogene Gemeinschaft an. Finanzierung Die "AfD Brandenburg"99 finanziert sich über staatliche Parteienfinanzierung, über Mitgliedsbeiträge sowie über Spenden. Grund für die Beobachtung als Verdachtsfall / Verfassungsfeindlichkeit Gemäß SS 3 Abs. 1 Nr. 1 Brandenburgisches Verfassungsschutzgesetz (BbgVerfSchG) hat der Verfassungsschutz Brandenburg den Auftrag, Informationen über Personenzusammenschlüsse zu sammeln und auszuwerten, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass in diesen verfassungsfeindlichen Bestrebungen verfolgt werden. In Parteien oder ihren Teilorganisationen werden verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt, wenn sie darauf gerichtet sind, die in SS 4 Abs. 2 BbgVerfSchG genannten Verfassungsgrundsätze durch politisch bestimmte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen (SS 4 Abs. 1 Nr. 3 BbgVerfSchG). Für den Landesverband Brandenburg liegen hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor. Er wurde ab 2017 zunehmend von der, inzwischen formell aufgelösten "AfD"-Sammlungsbewegung "Der Flügel", dominiert. Der Landesverband Brandenburg propagiert ein Politikkonzept, das primär auf die Ausgrenzung und Verächtlichmachung von Ausländern, Migranten, insbesondere Muslimen und politisch Andersdenkenden gerichtet ist. Die Staatsbürgerschaft von muslimischen Deutschen wird in Frage gestellt, ebenso und besonders das Aufenthaltsund Asylrecht. Bei konsequenter Umsetzung der von der Partei propagierten Positionen drohen Massenabschiebungen, rechtliche Ungleichbehandlung und Diskriminierung. Tragende Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung werden zur Disposition gestellt. Der Fortbestand eines ethnisch homogenen Volkes gilt als höchster Wert und der Einzelne wird im Wesentlichen als Träger des Deutschtums angesehen. "Kulturfremde" Nicht-Deutsche gelten als kaum oder gar nicht integrierbar. Ihnen soll eine Bleibeperspektive konsequent verwehrt werden.100 Charakteristisch für die "AfD Brandenburg"101 ist zudem, dass sich führende Mitglieder aktiv um die Vernetzung mit dem rechtsextremistischen Spektrum bemühen und so die Entgrenzung des Rechtsextremismus aktiv vorantreiben. Diese Protagonisten sehen sich als Teil einer "Bewegung", zu der andere rechtsextremistische Organisationen beziehungsweise rechtsextremistische Strukturen, wie das "Institut für Staatspolitik" (IfS), der Verein "Zukunft Heimat e. V.", das Magazin "COMPACT", die "Identitäre Bewegung" (IB) und "Ein Prozent" gehören. Entwicklungen im Berichtszeitraum 97 Vgl. Lewandowsky, Marcel: "Alternative für Deutschland (AfD)", in Decker, Frank und Viola Neu (Hrsg.): "Handbuch der deutschen Parteien", 3. Auflage, Wiesbaden 2017, S. 161-170. 98 Vgl. FN 2. 99 Vgl. FN 2. 100 Diese Einschätzung wird durch ein Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts vom 28. Mai 2020 zum "Flügel" innerhalb der AfD bestätigt (vgl. VG Berlin, Beschluss v. 28.05.2020, Az. VG 1 L 97/20, S. 17f.). Das Gericht hält in seiner Urteilsbegründung fest, dass "tatsächliche Anhaltspunkte von hinreichendem Gewicht dafür [bestehen], dass zentrale politische Vorstellung des Flügels der Erhalt des deutschen Volkes in seinem ethnischen Bestand ist und ethnisch "Fremde" nach Möglichkeit ausgeschlossen bleiben sollen". Die Richter schlussfolgern unmissverständlich: "Ein dergestalt völkischabstammungsmäßiger Volksbegriff verstößt gegen die Menschenwürde." 101 Vgl. FN 2. VERDACHTSFALL Seit Juni 2020 stuft die Verfassungsschutzbehörde Brandenburg den "AfD Landesverband Brandenburg"102 als Beobachtungsobjekt im Status eines Verdachtsfalles ein. Eine Klage dazu ist seit 2021 anhängig. Als Reaktion auf diese Einstufung erfolgte seitens des Landesverbandes weder eine inhaltliche Distanzierung von verfassungsfeindlichen Positionen noch von erwiesenen Rechtsextremisten in der Partei. Vielmehr inszeniert sich die Partei als "Opfer". Es wird seitdem regelmäßig unterstellt, die Landesregierung wolle sich mit Hilfe des Verfassungsschutzes unliebsamer politischer Konkurrenz entledigen. 2021 und 2022 hat die "AfD Brandenburg"103 Themen wie die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung und den russischen Angriffskrieg in der Ukraine als Hauptinhalte ihrer Agitation genutzt. 2023 ist das Thema Migration wieder verstärkt in den Vordergrund gerückt worden, um das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland zu diskreditieren und zu unterminieren. Der politische Gegner aber auch der Staat und seine Repräsentanten werden zum Beispiel pauschal als "Erfüllungsgehilfen fremder Mächte"104 diffamiert, die bewusst gegen die Interessen des deutschen Volkes handeln würden. Ein Ziel dieser immer wieder nebulös betitelten "fremden Mächte" soll angeblich ein Bevölkerungsaustausch sein. In das Narrativ fließen Elemente von älteren und neueren, zum Teil auch antisemitischen Verschwörungsideologien ein. So wird versucht, das politische System der Bundesrepublik Deutschland grundlegend zu delegitimieren.105 Wesentliche Ereignisse im Berichtszeitraum Im Jahr 2023 formuliert der "AfD"-Landesverband Brandenburg106 auf dem Parteitag vom 22. bis 23. April 2023 seinen Machtanspruch. Die damalige Landesvorsitzende der Partei, Birgit Bessin, sprach sich für das Ziel aus, nach den Landtagswahlen 2024 Regierungsverantwortung übernehmen zu wollen. "Wir wollen die Politik im Land maßgeblich mitbestimmen. Wir wollen nächstes Jahr in Brandenburg Regierungsverantwortung".107 Im Zuge der auf dem Parteitag verabschiedeten Friedens-Resolution offenbarte Birgit Bessin Motivation und Ziel des Machtanspruchs. Dabei griff sie das bewährte Narrativ der "fremden Macht" auf. "Deutschland muss den Kurs der Unterwerfung unter Interessen raumfremder Mächte beenden und sich seiner nationalen Identität wieder bewusstwerden!"108 Die Wahl der Delegierten zum Bundesparteitag der "AfD" weist deutlich auf zwei konkurrierende Lager innerhalb der "AfD Brandenburg"109 hin. Beide Lager sind extremistisch. Mit dem Lager rund um HansChristoph Berndt, Dennis Hohloch und Rene Springer wurden drei Akteure auf die vordersten Plätze der Delegiertenlisten gewählt, die dem Lager rund um Birgit Bessin entgegenstehen.110 Birgit Bessin schaffte es selbst erst im zweiten Wahlgang auf die Listen.111 102 Vgl. FN 2. 103 Vgl. FN 2. 104 Vgl. VSB 2022. 105 Vgl. VSB 2022. 106 Vgl. FN 2. 107 Vgl. https://www.tagesspiegel.de/potsdam/brandenburg/afd-will-in-brandenburg-regieren-kampfansage-auf-landesparteitag-in juterbog-9704360.html (letzter Zugriff 26.10.2023). 108 Ebd. 109 Vgl. FN 2. 110 Vgl. Facebook "AfD Potsdam Mittelmark", gepostet am 23.4.2023, (letzter Zugriff am 26.10.2023). 111 Vgl. ebd. VERDACHTSFALL Deutlich wird die Konkurrenz der beiden Lager innerhalb der "AfD Brandenburg"112 insbesondere durch die Kandidatur für den "Listenplatz 1" zur Landtagswahl 2024. Mit Hans-Christoph Berndt113 und Birgit Bessin114 konkurrieren jeweils die führenden Köpfe der zwei Lager um den Spitzenplatz. Dabei versucht Birgit Bessin sich die Unterstützung des Landesvorstandes zu sichern. Zum Unterstützerfeld gehört unter anderem noch die Landesvorsitzende der rechtsextremistischen "Junge Alternative Brandenburg" Anna Leisten. Auch der ehemalige Landesvorsitzende und führende Protagonist der 2020 aufgelösten Parteistruktur "Der Flügel", Andreas Kalbitz, gehört zum Umfeld von Birgit Bessin. Seine Mitgliedschaft in der "AfD" wurde 2020 vom damaligen Bundesvorstand annulliert, weil er bei seiner Aufnahme in die Partei seine früheren Mitgliedschaften bei der verbotenen rechtsextremistischen "Heimatreuen Deutschen Jugend" und der Partei "Die Republikaner" verschwiegen haben soll. Seine Versuche, auf dem Rechtsweg den Weg zurück in die Partei zu erstreiten, scheiterten. Nichtsdestotrotz ist Andreas Kalbitz - auch ausdrücklich als Mitglied der Landtagsfraktion der "AfD" - häufig bei Veranstaltungen der "AfD Brandenburg"115 vertreten und erhält dort immer wieder eine Bühne für sich und seine extremistische Agenda. Die starke Verwobenheit mit der Ideologie und den Protagonisten der ehemaligen "AfD"-Parteistruktur "Der Flügel" wurde in Brandenburg am 7. September 2023 in Oranienburg beispielhaft deutlich. Die Veranstaltung, in Form einer Kundgebung, kann als Unterstützungsveranstaltung für Birgit Bessin gesehen werden. Der Rechtsextremist Björn Höcke, der thüringische Landessprecher der "AfD" und das Gesicht des ehemaligen "Flügels", trat dort unter anderem auf. Auch Björn Höcke hat in seinem bekannten Duktus Positionen, die auf eine Delegitimierung der Strukturen des demokratischen Systems der Bundesrepublik Deutschland sowie der politisch Verantwortlichen hinauslaufen, geäußert. Wie Birgit Bessin zuvor beim Landesparteitag bezeichnete auch er in seiner Rede die Bundesrepublik Deutschland als "fremdgesteuert".116 Inhaltlich unterscheidet sich die Gruppe um Hans-Christoph Berndt nicht vom Lager um die Landesvorsitzende Birgit Bessin. Allerdings propagiert sein Lager einen anderen Politikstil und drängt auf eine Professionalisierung. Er will vor allem die kommunale Basis stärken sowie konsequent die Machtfrage zu Gunsten der "AfD" stellen. Wichtig für diese Protagonisten ist die Verflechtung von Parteiarbeit und außerparlamentarischen Aktivitäten gemeinsam mit Vertretern der verfassungsschutzrelevanten Neuen Rechten. Hans-Christoph Berndt betreibt sein Netzwerk, um sich Unterstützung zu sichern, aber auch, weil er die Partei als eine "Bewegung" betrachtet. Er suchte deshalb vorzugsweise die Nähe zu Bürgerinitiativen117 und zu rechtsextremistischen Akteuren wie dem Verein "Institut für Staatspolitik" (IfS)118. So war Hans-Christoph Berndt beispielsweise auf dem Podium beim "IfS"Sommerfest 2023. Der Verein "IfS" gilt als extremistischer "Think Tank" der "Neuen Rechten" und ist unter anderem bekannt dafür, den führenden Protagonisten eine Bühne für ihre extremistische Ideologie zu geben.119 Zudem wird HansChristoph Berndt als das Gesicht des rechtsextremistischen Vereins "Zukunft Heimat" in der Szene wahrgenommen.120 Berührungsängste zum rechtsextremistischen Vorfeld sind bei der "AfD Brandenburg"121 grundsätzlich gering. Insbesondere Plattformen von alternativen Medien nutzen "AfD"-Akteure gern für ihre medialen Auftritte. So äußerte sich Hans-Christoph Berndt beispielsweise in einem Interview mit dem Heimatkurier:" 112 Vgl. FN 2. 113 Vgl. Facebook "Hans-Christoph Berndt", gepostet am 29.08.2023, (letzter Zugriff am 26.10.2023). 114 Vgl. https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2023/08/kampfkandidatur-um-platz-eins-auf-afd-landesliste.html , letzter Zugriff am 26.10.2023. 115 Vgl. FN 2. 116 Vgl. Facebook "AfD Brandenburg", gepostet am 25.9.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 117 Vgl. Facebook "Hans-Christoph Berndt", gepostet am 2.5.2023, (letzter Zugriff am 27.10.2023). 118 Vgl. Facebook "Hans-Christoph Berndt", gepostet am 9.7.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 119 Vgl. YouTube, veröffentlicht am 12.10.2023, (letzter Zugriff 30.10.2023). 120 Vgl. Facebook "Hans-Christoph Berndt", gepostet am 4.10.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 121 Vgl. FN 2. VERDACHTSFALL [...] Ohne Vorfeld und metapolitischen Vorbehalt sind wir keine Alternative für Deutschland. Ich habe die AfD immer als Teil einer übergreifenden Volksbewegung verstanden: Das Bedeutet: Leute aus dem Vorfeld beschäftigen, Infrastruktur wie die Mühle in Cottbus aufbauen und unterstützen, alternative Medien und Verlage in Anspruch nehmen und immer argwöhnisch bleiben, dass die Partei nicht zum Selbstzweck wird. [...]".122 Führende Akteure der Partei suchen bewusst Kontakt zu intellektuellen neurechten Vorfeld-Organisationen123 und deren Theoretikern wie Benedikt Kaiser.124 So solidarisierte sich die Partei mit dem Verein "Ein Prozent", der vom Bundesamt für Verfassungsschutz 2023 als erwiesen rechtsextremistisch eingestuft wurde.125 Beim Landesparteitag der "AfD Brandenburg"126 in Jüterbog wurde am Stand der "JA Brandenburg" Informationsmaterial der rechtsextremistischen "Identitären Bewegung" ausgelegt.127 Auch der oben bereits erwähnte Auftritt von Hans-Christoph Berndt beim rechtsextremistischen Verein "IfS" spricht dafür, dass Akteure der "AfD Brandenburg"128 bewusst die Nähe zum rechtsextremistischen Vorfeld suchen. Zudem gibt es eine rege und anhaltende Zusammenarbeit mit dem rechtsextremistischen "Compact Magazin". Ein Mitglied des Landesvorstands der "AfD Brandenburg"129 trat beispielsweise am 8. Oktober 2023 im Rahmen einer Sendung von "Compact TV" auf, um geschichtsrevisionistisch und ahistorisch die Bundesrepublik Deutschland mit der DDR gleich zusetzen .130 Ebenfalls trat Birgit Bessin am Anfang des Berichtsjahres am 2. Februar 2023 beim "Compact Magazin" auf.131 Die Zusammenarbeit zwischen Partei und Vorfeld ist eng und geht über gemeinsame Auftritte hinaus. So gibt es unter anderem Beschäftigungsverhältnisse von Akteuren aus dem Vorfeld innerhalb der Partei beziehungsweise in den Fraktionen. Obwohl das mehrfach Gegenstand öffentlicher Berichterstattung war, hält die Partei an den Beschäftigungen fest. Ein Beispiel ist die Beschäftigung des Herausgebers eines neu-rechten Ökomagazins und ehemaligen Aktivisten der rechtsextremen "Identitären Bewegung".132 Zudem nutzt die "AfD Brandenburg"133 Immobilien im rechtsextremistischen Milieu, unter anderem für eigene Veranstaltungen. Hans-Christoph Berndt gilt als Hauptfinanzier des rechtsextremistischen Szeneobjekts "Mühle Cottbus".134 Außerdem wurden Veranstaltungen der "AfD" im "Deutschen Haus" in Burg (SPN) (Siehe dazu Kapitel 3.13) abgehalten.135 Der Inhaber der Immobilie zählt zu den führenden Akteuren der rechtsextremistischen Mischszene in Cottbus und Umgebung. Im Zuge der von der "AfD Brandenburg"136 initiierten Proteste gegen Corona-Schutzmaßnahmen haben einzelne Protagonisten der Partei eine enge Bindung in die verfassungsschutzrelevante Delegitimierer122 Vgl. Homepage Heimatkurier, Wie weiter mit der AfD im Gespräch mit Christoph Berndt, veröffentlicht 15.07.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 123 Vgl. YouTube, www.youtube.com/watch?v=cDPe9blFpgzl veröffentlicht 08.09.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 124 Vgl. X, Account "Ben Filter", veröffentlicht 31.5.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 125 Vgl. Telegram "Lars Schieske", gepostet am 27.4.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 126 Vgl. FN 2. 127 Vgl. X, www.twitter.com/IbDoku/status/1651136588598968320, gepostet am 26.4.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 128 Vgl. FN 2. 129 Vgl. FN 2. 130 Vgl. YouTube, veröffentlicht am 8.10.203, (letzter Zugriff 27.10.2023). 131 Vgl. Homepage COMPACT, Ausländergewalt an Senioren, veröffentlicht am 1.2.2023, (letzter Zugriff am 27.10.2023). 132 Vgl. www.taz.de/Die-AfD-und-die-Identitaeren/!5955016/, veröffentlich 4.9.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 133 Vgl. FN 2. 134 Vgl. Facebook "AfD Brandenburg", gepostet am 16.4.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 135 Vgl. Facebook "AfD-Ortsverband-Lübbenau-Spreewald", gepostet am 16.10.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 136 Vgl. FN 2. VERDACHTSFALL Szene aufgebaut. So wurde speziell der Kontakt zum Musiker und Aktivisten "Björn Banane" 2023 intensiviert.137 Dieser delegitimiert im reichsbürgertypischen Duktus das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland. "Björn Banane" sieht die "AfD" als Vehikel für die Umsetzung der eigenen politischen Ziele, weshalb er die Zusammenarbeit mit der "AfD" in einer Rede als "taktische Kriegsführung" beschreibt.138 Dass die "AfD Brandenburg"139 diesem Verständnis grundlegend folgt, zeigt auch das enge Verhältnis zur Jugendorganisation der Partei "Junge Alternative" (JA). Selbst nach der Einstufung des Landesverbandes "JA Brandenburg" als erwiesen rechtsextremistisch, hält der Landesverband der "AfD Brandenburg"140 sein enges Verhältnis zur Jugendorganisation aufrecht.141 Was nicht zuletzt an der Zusammenarbeit zwischen Bessin und Leisten deutlich wird.142 Der Umgang mit der Causa Leisten143 zeigt, dass der Landesvorstand der "AfD Brandenburg"144 seiner Linie treu bleibt und sich selbst gegenüber dem eigenen Bundesvorstand hinter seine extremistischen Akteure stellt. Genauso wurde bereits mit dem Fall Kalbitz145 im Jahr 2020 umgegangen. Dass sich eine Radikalisierung des AfD-Landesverbands abzeichnet, lässt sich auch an der Begründung verdeutlichen, mit der ein langjähriges Landesvorstandsmitglied seinen Posten im Landesvorstand niederlegte: "[...] dass ich nicht mehr in der Lage bin, eine Mehrheit von Euch von den Notwendigkeiten zu überzeugen, die sich dadurch ergeben, dass wir versuchen, uns mit Aussicht auf Erfolg gegen den VS zu wehren. Bei dieser Sachlage erscheint mir eine weitere Mitarbeit im Landesvorstand wenig sinnvoll zu sein, weshalb ich mit sofortiger Wirkung mein Amt als Beisitzer im LaVo BB niederlege. [...]"146 Allgemeine Entwicklungen im Berichtszeitraum Insbesondere in der ersten Hälfte des Berichtsjahres war der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und seine Folgen ein zentrales Thema der "AfD Brandenburg"147. Im Laufe des Berichtsjahres verlagerte sich der Schwerpunkt zusehends auf Migration. Die "AfD Brandenburg"148 verfolgt mit dem Mittel der ständigen und massiven Infragestellung staatlicher Vorgehensweisen, welche auf demokratisch legitimierten Prozessen beruhen, die Delegitimierung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung an sich. Das Handeln der gewählten Regierung und der Mehrheit der im Parlament vertretenden Parteien wird häufig als Verrat am eigenen Volk diffamiert. Unter anderem wird das Narrativ einer Verschwörung von globalistischen, amerikanischen Eliten zur Errichtung einer Weltregierung genutzt. 137 Vgl. YouTube, www.youtube.com/watch?v=5AOCpEcaiQ, veröffentlicht am 13.10.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 138 Vgl. YouTube, www.youtube.com/watch?v=Jng4BvDMw3l, veröffentlicht am 4.7.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 139 Vgl. FN 2. 140 Vgl. FN 2. 141 Vgl. Facebook "AfD Brandenburg", gepostet am 12.07.2023, letzter Zugriff am 27.10.2023. 142 Vgl. Facebook "Birgit Bessin", gepostet am 30.08.2023, (letzter Zugriff am 27.10.2023). 143 Die "White-Power" Geste der Landesvorsitzende der "JA Brandenburg" führte zu erheblichen Spannungen in den AfD Strukturen. Eine vom AfD Bundesverband geforderte befristete Ämtersperrung wurde vom brandenburgischen Landesverband nicht durchgesetzt. (siehe dazu Kapitel 3.4). 144 Vgl. FN 2. 145 Kalbitz Mitgliedschaft in der AfD wurde 2020 vom damaligen Bundesvorstand annulliert, weil er bei seiner Aufnahme in die Partei seine früheren Mitgliedschaften bei der verbotenen rechtsextremistischen "Heimattreuen Deutschen Jugend" und der Partei "Die Republikaner" verschwiegen haben soll. Insbesondere die AfD Fraktion im Landtag Brandenburg stellte sich mit übergroßer Mehrheit öffentlich hinter Andreas Kalbitz und nahm ihn bereits am 18. Mai 2020 als Parteilosen wieder in ihren Reihen auf. Zugleich rief der Landesverband zur Unterstützungskampagne gegen den Bundesvorstand auf. (siehe dazu VSB 2020). 146 Vgl. www.rbb24.de/politik/beitrag/2023/08/roman-reusch-afd-landesvorstand-brandenburg-ruecktritt.html, veröffentlicht am 3.8.2023, (letzter Zugriff am 27.10.2023). 147 Vgl. FN 2. 148 Vgl. FN 2. VERDACHTSFALL Ein Beitrag eines "AfD"-Bundestagsabgeordneten aus Brandenburg, der das "Forum of Young Global Leaders" als "Kaderschmiede einer antidemokratischen globalen Elite" bezeichnet, greift gängige Elemente verschiedener Verschwörungserzählungen auf. In diesem Zusammenhang wird verschwörungsideologisch zum Beispiel vom "Great Reset" gesprochen. Weltweite Krisen sind nach dieser Vorstellung Teile des Plans mächtiger politischer und finanzieller Eliten zur angeblichen Errichtung einer Weltherrschaft. So wird behauptet: "Die ständige Wiederholung bestimmter Narrative und Schlagworte ist ein eingespieltes Mittel der politischen Propaganda. Politiker nutzen es, die Marketingund Kommunikationsabteilungen globaler Konzerne, die Meinungsmacher in Verlagen und Medienhäusern wollen nicht darauf verzichten. Eine Erzählung, die uns mit großem Werbeaufwand und enormen finanziellen Mitteln verkauft werden soll, ist die von 'unserer Demokratie'. ... Unsere Demokratie - das ist heute keine Volksherrschaft, kein repräsentativer Volkswille, sondern das genaue Gegenteil: die Herrschaft einer kleinen global vernetzten Elite, die sich gegen die Interessen der Völker und Nationalstaaten richtet und auch bereit ist, diese gegeneinander auszuspielen, um die eigenen Interessen effektiver durchsetzen zu können. In den letzten Jahren sind die Vertreter dieser globalen Elite immer sichtbarer geworden. Immer öfter präsentieren die und ungeniert ihre antidemokratischen Pläne: Great Reset, totale Digitalisierung und künstliche Intelligenz, globale Impfallianz, menschengemachter Klimawandel und Klimaneutralität, Transformation traditioneller Völker und gewachsener Gemeinschaften, globaler Migrationspakt, Gentechnik, digitale Währungsexperimente und grenzlose Geldschöpfung. Sie wollen Mensch und Gesellschaft grundlegend ändern."149 Die "AfD Brandenburg"150 meint, das elitäre, angeblich undemokratische "Forum of Young Global Leaders", gegründet von Klaus Schwab, sei ein "abgeschotteter Machtzirkel". Die Vernetzung von jüngeren Politikern in Regierungsverantwortung deutet die "AfD Brandenburg" als Versuch einer angeblichen Weltelite, ihren vermeintlichen globalen Einfluss beziehungsweise ihre Macht dauerhaft abzusichern. Auch Rechtsextremisten vertreten oft die Erzählung einer Weltverschwörung, die dann etwa von der angeblich von Juden dominierten Wall Street getragen ist. Nicht immer arbeiten diese Darstellungen offen mit Antisemitismus. So werden antisemitische Bezüge verschleiert, unter anderem durch Begriffe wie Finanzelite, Globalisten, Wall Street und imperiale Kräfte. Offener Antisemitismus und antisemitische Codes, wenn sie als solche erkennbar werden, verstoßen gegen die Menschenwürde (gleiche Behandlung aller Religionen; keine Diskriminierung aufgrund einer Religionszughörigkeit), die durch die freiheitliche demokratische Grundordnung geschützt ist. "AfD"-Akteure docken an diese herkömmlichen rechtsextremistischen Verschwörungserzählungen an. Insbesondere beim Thema Ukraine-Krieg wurde der Standpunkt, Deutschland sei kein souveräner Staat, sondern vielmehr fremdbestimmt, manifestiert. Hans-Christoph Berndt skizzierte in seiner Gastrede am 6. März 2023 in Zittau (Sachsen) die von der "AfD Brandenburg"151 häufig vertretende Täter-Opfer-Umkehr und negierte Deutschlands Souveränität: "[...] Der russische Angriff am 24.02. kam nicht aus dem Nichts. Er hatte eine lange Vorgeschichte der planmäßigen Eskalation durch die NATO und durch die USA. Und die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine und die Kappung der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland sind nicht im deutschen Interesse. Und Bundeskanzler Scholz hat sich bei seinem Besuch in den USA jüngst nicht wie ein deutscher Bundeskanzler, sondern wie ein kleiner Vasall verhalten. [...]"152 Auch die Landesvorsitzende Birgit Bessin vertrat diese Position auf der Friedensdemonstration am 16. April 2023 in Cottbus deutlich und forderte: "[...] dass Deutschland seinen Kurs der Unterwerfung unter 149 Vgl. https://www.freilich-magazin.com/welt/kaderschmiede-einer-anti-demokratischen-globalen-elite, veröffentlicht am 10.3.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 150 Vgl. FN 2. 151 Vgl. FN 2. 152 Vgl. Odysee "GoloVideoproduktionen", veröffentlicht am 6.3.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). VERDACHTSFALL den Interessen fremder Mächte beenden muss und sich seiner nationalen Identität wieder bewusstwerden muss. [...]" 153 Neben dem verschwörungstheoretischen Narrativ einer "volksverneinenden Elite"154 wird die Bundesrepublik immer wieder in die Nähe diktatorischer Regime gerückt. Dabei wurden überwiegend Gleichsetzungen mit der DDR vorgenommen. In einer Rede am 26. April 2023 in Mittenwalde (LDS) behauptete ein Mitglied des Deutschen Bundestag aus Brandenburg, dass alle Politiker und Parteien, außer der "AfD", nicht im Interesse des deutschen Volkes handeln würden. Er weckte Erinnerungen an die SEDDiktatur und sprach von "[...] der nationalen Front, mit diesen Einheitsparteien, diesen Blockparteileuten. Da sind ja alle vertreten, die nicht patriotisch sind, alle vertreten, die nicht die Interessen unseres Volkes vertreten, sondern die Interessen anderer."155 Konkurrierende etablierte Parteien und demokratische Akteure werden diskreditiert und als eigentliche Bedrohung für Demokratie und Volk diffamiert. Hans-Christoph Berndt formuliert es im antipluralistischen Duktus wie folgt: "[...] Wenn es besser werden soll in Deutschland, müssen wir die Macht der volksverneinenden Eliten und ihrer Parteien, die sich den Staat zur Beute gemacht haben, überwinden - wir müssen sie übertrumpfen. Ins Positive gewendet heißt das, wer dafür sorgen will, dass Deutschland ein demokratischer und sozialer Nationalstaat bleibt und eine Friedensmacht wird, der braucht politische Macht. [...] Und die einzige relevante Partei in Deutschland, die sich gegen die Zerstörung unseres Nationalstaats wendet und die sich zur Friedensmacht Deutschland bekennt - die AfD [...].".156 Diese Haltung legitimiert die Denunzierung und die Kriminalisierung politischer Gegner. Ein Bundestagsabgeordneter aus Brandenburg erfreute sich beispielsweise im Rahmen einer Demonstration am 3. Oktober 2023 in Cottbus an der Vorstellung der Inhaftierung führender Politiker und offenbarte zugleich eine ablehnende Haltung gegenüber demokratischen Prozessen und der Rechtsstaatlichkeit: "[...] ich freue mich schon, wenn diese Ampel-Regierung aus den Ämtern gejagt wird und wenn Lauterbach und Scholz endlich dasitzen wo sie hingehören, nämlich im Knast, liebe Freunde. [...]"157 Grundsätzlich bleibt sich die "AfD Brandenburg"158 dem Duktus treu, dass Regierung und etablierte Parteien angeblich Volk und Heimat verraten, gar - so ein AfD-Politiker auf Facebook - "volksverachtende Gesellschaftszerstörer" seien.159 Ferner wurden fremdenfeindliche Positionen vom Landesverband und seinen Akteuren aggressiv artikuliert. Abwertende und diffamierende Äußerungen, wie "Fachkräfte des Todes"160 oder "TschetschenenTerror"161, fanden ihren Platz im fremdenfeindlichen Jargon der "AfD"-Protagonisten. Um die Empfänglichkeit für die fremdenfeindlichen Ressentiments in der breiten Gesellschaft zu steigern, bedienten sie das bereits lang etablierte Narrativ eines angeblich bewusst geplanten "Bevölkerungsaustauschs". Außerdem behaupteten "AfD"-Akteure, dass es eine grundsätzliche Bedrohungslage für besonders Schutzbedürftige, wie Kinder und Frauen, durch männliche Migranten gäbe. Dabei wurden plakativen Formulierungen, wie "Grenzschutz ist Frauenschutz"162 oder "Wer schützt unsere Kinder?" verwendet.163 Auch 153 Vgl. Facebook AfD Brandenburg, gepostet am 16.4.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 154 Vgl. Diesen Begriff verwendete Christoph Bernd: Odysee "GoloVideoproduktionen", veröffentlicht am 6.3.2023, (letzter Zugriff 1.03.2023). 155 Vgl. Facebook Kotre, gepostet am 29.4.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 156 Vgl. Odysee "GoloVideoproduktionen", veröffentlicht am 6.3.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 157 Vgl. YouTube, veröffentlicht am 4.10.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 158 Vgl. FN 2. 159 Vgl. Facebook "Volker Nothing AfD", veröffentlicht am 11.10.2023, (letzter Zugriff am 12.10.2023). 160 Vgl. Facebook "Birgit Bessin", gepostet am 26.1.2023, (letzter Zugriff am 27.10.2023). 161 Vgl. Facebook "Hannes Gnauck", veröffentlicht am 16.2.2023, (letzter Zugriff am 27.10.2023). 162 Vgl. Facebook "AfD LOS", veröffentlicht am 2.6.2023, (letzter Zugriff am 27.10.2023). 163 Vgl. Telegram Kanal "Dennis Hohloch", veröffentlicht am 6.4.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). VERDACHTSFALL Schlagwörter der verfassungsschutzrelevanten Neuen Rechten wie "Remigration"164 und "Festung Deutschland"165 wurden bewusst genutzt. Diese wurden ursprünglich durch die rechtsextremistische "Identitäre Bewegung" in den deutschsprachigen Diskursraum eingebracht. Insbesondere dient "Remigration" als Projektionsfläche und kann als solcher unterschiedliche - sowohl verfassungskonforme wie verfassungsfeindliche - Ziele beinhalten. Der Begriff "Remigration" erlebte eine enorme mediale Aufmerksamkeit und einen damit einhergehenden Bedeutungszuwachs auf Grund der Berichterstattung Anfang 2024 über die Veranstaltung vom 25. und 26. November 2023 im Hotel Adlon166 in Potsdam. Gekennzeichnet war diese Veranstaltung von einem Zusammenwirken verschiedener Akteure des entgrenzten Rechtsextremismus. Während der Veranstaltung hat unter anderem der österreichische Rechtsextremist und führende Kopf der "Identitären Bewegung", Martin Sellner, einen Vortrag über "Remigration" gehalten. Als ideologischer Stichwortgeber und Vordenker betreibt er die Verschiebung des migrationspolitischen Diskurses in Richtung einer Normalisierung rechtsextremer Positionen seit Jahren.167 In der Neuen Rechten finden sich unter "Remigration" diverse Maßnahmen subsumiert, die auf die Herstellung einer ethno-homogenen Gemeinschaft durch Abschiebung zielen. Im Zusammenhang insbesondere mit einem ethno-kulturellen Volksverständnis im fremdenfeindlichen Kontext, wie ihn auch die "AfD Brandenburg"168 vertritt, steht der Begriff gleichwohl diametral gegen Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Eingebettet sind diese Begriffe in der Verschwörungserzählung des "Bevölkerungsaustauschs". Dieser Begriff wiederum dient immer häufiger als Ersatz für "Umvolkung". Die alle beschreiben einen vermeintlich bewusst herbeigeführten Austausch der autochthonen Bevölkerung. Demnach stellt der Landesverband rhetorische Fragen, wie: "Bald fremd im eigenen Dorf?"169. Um sie zugleich durch Formulierungen wie "Invasion"170, "Migrationslawine"171 oder "Ethno-Krieg"172 zu bejahen. So äußerte sich der Landtagsfraktionsvorsitzende der Partei, Hans-Christoph Berndt, wie folgt: "Ich wünschte mir so sehr, ich glaube wir alle wünschten uns so sehr, in dem Punkt hätte Haldenwang recht. Es wäre so schön, wenn der Bevölkerungsaustausch tatsächlich eine Verschwörungstheorie wäre. Aber jeder der mal nach Berlin gefahren ist oder mittlerweile in jeder größeren Stadt und jeder mittleren Stadt im Osten weiß, es ist nicht so. Und wer das nicht glaubt, soll nach Moabit fahren, nach Neukölln fahren, am besten mit einem öffentlichen Verkehrsmittel, und dann weiß er, was los ist."173. Das fremdenfeindliche, ethnopluralistische Verständnis von "Volk" wird durch folgende Aussagen von Hans-Christoph Berndt deutlich: "[...] dieser Angriff darauf, dass wir sagen, ein Volk ist nicht das Gleiche, wie jemand, der in einem Gebiet wohnt und Staatsbürger eines Landes ist, das ist auch ein Angriff der eingeordnet ist in den übergeordneten Angriff auf unsere Identität, nämlich den Angriff auf unsere Familien, in den Angriff auf unsere sexuelle Identität, also die neue woke Ideologie. [...] Dieser Angriff auf alles was uns Bindung verschafft, auf alle unseren natürlichen Bindungen: Volk, Familie, Geschlecht. Alles das wird infrage gestellt und angegriffen. [...] Der Mensch kann nur existieren im Zusammenhang mit anderen Menschen. [...] Wir halten an unseren Volksbegriff fest und wir weisen es zurück, dass man behauptet, Staatsbürgerschaft ist gleich Volk, das ist Unsinn und gefährlich. [...]"174. Kritik am eigenen ethnischen 164 Vgl. Facebook "AfD Brandenburg", gepostet am 4.1.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 165 Vgl. Facebook "AfD Brandenburg", gepostet am 30.3.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 166 Das Hotel Adlon wird vom Verfassungsschutz Brandenburg aktuell nicht als Szeneobjekt bewertet. 167 Vgl. VSB 2021 und VSB 2022. 168 Vgl. FN 2. 169 Vgl. Facebook "Birgit Bessin", gepostet am 14.3.2023, (letzter Zugriff am 27.10.2023). 170 Vgl. YouTube, www.youtube.com/watch?v=hAaFdWG-dcM, veröffentlicht am 4.10.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 171 Vgl. Facebook "AfD LOS", gepostet am 4.7.2023, (letzter Zugriff am 27.10.2023). 172 Vgl. Facebook "WilkoMoellerMdL", gepostet am 8.1.2023, (letzter Zugriff am 27.10.2023). 173 Vgl. Facebook "AfD Bitterfeld-Wolfen", gepostet am 8.8.2023, (letzter Zugriff 27.10.2023). 174 Ebd. VERDACHTSFALL Volksbegriff wird als Angriff bewertet und zugleich wird das ethnische Volk als Konkurrenz zum Volksbegriff des Grundgesetzes positioniert. Dem Bundesverfassungsgericht folgend kennt das Grundgesetz einen ausschließlich an ethnischen Kategorien orientierten Begriff des Volkes allerdings nicht. Die "AfD Brandenburg"175 stigmatisiert immer wieder pauschal Migranten und macht sie beispielsweise für soziale und strukturelle Probleme im Land verantwortlich. 2023 etablierte sich besonders das Vorurteil, dass Migranten den Deutschen Wohnungen wegnehmen würden, beziehungsweise Migration ursächlich für den Wohnungsmangel wäre. Probleme mit multiplen Ursachen werden mit Losungen wie "Abschiebung schafft Wohnraum"176 auf eine ideologisierte Hauptursache gezielt verkürzt. In solchen Narrativen kommen Migranten fast ausschließlich als "kriminelle Ausländer" vor. Selbstjustiz und Gewaltszenarien werden mitunter als Wehrhaftigkeit und Selbstverteidigung verklärt. So rief der Kreisvorsitzende der "AfD Cottbus" dazu auf, sich wehrhaft zu machen, insbesondere zur Verteidigung gegenüber Migranten: "[...] bis eine neue Regierung diese Maßnahmen umsetzt, sollte für jeden deutschen Jugendlichen klar sein: Macht Sport, werdet wehrhaft und bildet Gemeinschaft, um euch im Ernstfall verteidigen zu können. [...]".177 Bewertung / Ausblick Die innerparteilichen Lager der "AfD Brandenburg"178 um Birgit Bessin und Hans-Christoph Berndt kristallisieren sich mit Blick auf die Landtagswahlen 2024 zunehmend weiter heraus. Beide Lager betreiben gemeinsam Fundamentalopposition, lehnen die freiheitliche demokratische Grundordnung ab und streben eine weitgehend ethnisch homogene Gesellschaft an. Beide pflegen intensive Kontakte zum politischextremistischen Vorfeld. Eine Nähe zu rechtsextremistischen Akteuren stellt dabei keinerlei Problem für beide dar. Hans-Christoph Berndt unterhält insbesondere Kontakte zur rechtsextremistischen Denkfabrik der verfassungsschutzrelevanten Neuen Rechten, während Birgit Bessin vor allem durch Anna Leisten Kontakt zum aktivistischen Vorfeld rund um die rechtsextremistische "JA Brandenburg" hat. Allein der politische Stil unterscheidet die Lager. Das Lager um Hans-Christoph Berndt strebt eine stärkere "basisdemokratische Verankerung" an, um sich als wählbare Alternative im kommunalpolitischen Raum zu präsentieren. Während Birgit Bessin den bereits von Andreas Kalbitz geprägten hierarchisch autoritären Politikstil weiterverfolgt. Der Landesparteitag in Jüterbog im März und April 2024, der sich über insgesamt drei Wochenenden erstreckte, hat das innerparteiliche Spannungsverhältnis vorerst aufgelöst und nach außen das Bild neugewonnener Einigkeit erzeugen können. Zum neuen Parteivorsitzenden wurde Rene Springer gewählt, als Spitzenkandidat für die Landtagswahl tritt die Partei mit Hans-Christoph Berndt an. Die Themenschwerpunkte des Landesbandes "AfD Brandenburg"179 werden sich dadurch voraussichtlich nicht verschieben, allerdings steht eine noch stärkere Verzahnung und Zusammenarbeit mit rechtsextremistischen Akteuren aus dem sogenannten "Vorfeld" zu erwarten. 175 Vgl. FN 2. 176 Vgl. YouTube, www.youtube.com/watch?v=diT99aG2jus, veröffentlicht am 26.01.2023, (letzter Zugriff am 27.10.2023). 177 Vgl. Facebook "JeanPacal.Hohm", gepostet am 22.03.2023, (letzter Zugriff am 27.10.2023). 178 Vgl. FN 2. 179 Vgl. FN 2. 3.4 Junge Alternative Brandenburg (JA Brandenburg) Sitz / Verbreitung Die "Junge Alternative für Deutschland" (JA Deutschland) gliedert sich unterhalb der Bundesebene in 16 Landesverbände. Der Bundesverband hat seinen Sitz in Berlin. Der Landesverband der "JA Brandenburg" hat seinen Sitz in Potsdam. Die "JA Brandenburg" unterhält landesweit Strukturen. Gründung / Bestehen Das Gründungsdatum des Landesverbandes der "JA Brandenburg" ist der 12. Juli 2014. Seit dem 18. April 2015 ist der Landesverband die offizielle Jugendorganisation des Landesverbandes Brandenburg der "Alternative für Deutschland" (AfD).180 Struktur / Reichweite Landesvorstand der "JA Brandenburg" 2023: Vorsitzende: Anna Leisten, Franz-Sebastian Dusatko Stellv. Vorsitzender: Stefan Pfau Struktur des Landesverbandes: Laut der "JA Brandenburg" verfügt die Jugendorganisation über acht "Botschafter", die organisatorisch für einzelne Landkreise zuständig sind.181 Personenpotenzial: Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Das Personenpotenzial des Landesverbandes Brandenburg liegt eigenen Angaben zufolge etwa bei 120 Mitgliedern (2022: 120). Veröffentlichungen Die "JA Brandenburg" ist in den sozialen Medien regelmäßig aktiv. Einige Mitglieder verfügen über eigene Auftritte in sozialen Netzwerken. Der in den Jahren 2020 und 2021 produzierte Podcast wurde im Berichtsjahr 2023 nicht fortgesetzt. Kurzportrait / Ziele Die "JA Brandenburg" ist inhaltlich und personell eng mit ihrer Mutterpartei - dem "AfD"-Landesverband Brandenburg182 - verbunden. Genau wie in der "AfD" dominieren in der brandenburgischen Jugendorganisation völkisch-nationalistische Konzepte, mit denen eine ethnisch homogene Gemeinschaft angestrebt wird. Laut "AfD"-Bundessatzung (SS 17a Abs. 2 Satz 1) dient die "JA" der Partei als "Innovationsmotor". Laut SS 1 Absatz 3 ihrer eigenen Satzung hat die "JA Brandenburg" das Ziel, die Weltanschauung der "AfD Brandenburg"183 in ihrem Wirkungskreis zu vertreten und zu verbreiten.184 Finanzierung 180 Vgl. Fußnote 2. 181 Vgl. Homepage Junge Alternative Brandenburg, ohne Datum (letzter Zugriff am 17.02.2024). 182 Vgl. Fußnote 2. 183 Vgl. FN 2. 184 Satzung der Jungen Alternative für Deutschland, Landesverband Brandenburg vom 19. Januar 2020. 68 Die "JA Brandenburg" finanziert sich über Mitgliedsbeiträge und Spenden. Grund für die Beobachtung Die "JA Brandenburg" wird vom Verfassungsschutz Brandenburg seit dem 12. Juli 2023 als gesichert extremistische Bestrebung eingestuft. Die Einstufung als Verdachtsfall für eine extremistische Bestrebung erfolgte bereits am 15. Januar 2019. Trotz allem wurden in den vergangenen Jahren systematisch und wiederkehrend Verstöße gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung festgestellt. Die "JA Brandenburg" verletzt bewusst zentrale Grundprinzipien der Menschenwürde (Artikel 1 Absatz 1 GG). Sie verbreitet gezielt Feindbilder und schürt in der Bevölkerung Ressentiments gegen Migranten. Die Anhaltspunkte für eine extremistische Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung haben sich sowohl inhaltlich als auch quantitativ verfestigt. Die "JA Brandenburg" wurde im Jahr 2023 zur gesichert extremistischen Bestrebung hochgestuft, weil die Erkenntnisse über ihre Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung bis zur entsprechenden Gewissheit verdichtet wurden. Die "JA Brandenburg" vertritt eine fremdenfeindliche Haltung, die auf dem Konzept des Ethnopluralismus basiert. Ihre Vorstellungen eines ethnisch definierten und ethnisch homogenen deutschen Volkes werden in vielen ihrer Äußerungen deutlich. Das ethnisch-abstammungsmäßige Volksverständnis widerspricht dem des Grundgesetzes und ist Ausdruck einer völkischen Sichtweise. Diese Auffassung äußert sich unter anderem in der Behauptung eines vermeintlich aktiv betriebenen "Großen Austauschs".185 Dieser Begriff umschreibt die Vorstellung, dass das heimisch angestammte Volk durch Zuzug von Ausländern unterzugehen drohe und in seiner Existenz gefährdet sei. Zudem nutzt die "JA Brandenburg" fremdenfeindliche Thesen, wie zum Beispiel die Unterstellung, dass Migranten eine Neigung zu Gewaltstraftaten hätten und eine dauerhaft anhaltende Bedrohung für Deutschland seien.186 Entwicklungen im Berichtszeitraum Das verfassungsfeindliche Weltbild der "JA Brandenburg" zeigte sich 2023 beispielgebend an der Teilnahme einer "Remigrationsdemo"187 am 29. Juli 2023 in Wien. Die Landesvorsitzende Anna Leisten sowie weitere Mitglieder der "JA Brandenburg" waren vor Ort. Organisiert wurde die Demonstration von der rechtsextremistischen "Identitären Bewegung". Auf der Kundgebung wurde offen für "Remigration" geworben. "Remigration" zielt vor dem Hintergrund eines ethnisch-abstammungsmäßigen Volksbegriffs der Jungen Alternative Brandenburg darauf ab, eine Umkehr des demografischen Prozesses zu bewirken durch die Rückführung von Migranten in ihre Herkunftsländer. Dabei wird bewusst offengelassen, ob "Remigration" auch Staatsbürger mit Migrationshintergrund einschließen soll. Anna Leisten äußerte sich im Vorfeld der Demonstration der "Identitären Bewegung" in einem Video wie folgt: "Wir erleben, dass unsere Städte nicht mehr so sind, wie wir sie einmal kannten, und wir erleben den Bevölkerungsaustausch, der uns Tag für Tag begegnet."188 Damit greift Anna Leisten die Verschwörungserzählung vom "Großen Austausch" auf. Die Erzählung vermittelt, dass eine weiße Mehrheitsbevölkerung aufgrund eines "geheimen Plans" durch nicht-weiße Einwanderer gezielt ausgetauscht werde. Sie gilt als rassistische und antisemitische Verschwörungsideologie und wird innerhalb der rechtsextremistischen Szene häufig genutzt, um Ressentiments zu schüren. Die "JA Brandenburg" fordert letztlich die Begründung und Herstellung eines ethnisch-kulturellen Kollektivs jenseits des Staatsbürgerbegriffs des Grundgesetzes. In diesem Kontext ist der Begriff der "Remigration", wie ihn die "JA Brandenburg" verwendet, zu lesen und zu verstehen. Die "JA Brandenburg" adaptiert die ideellen, ästhetischen und aktionistischen Vorstellungen der personell 185 Vgl. VG Köln, Urteil vom 8.3.2022, 13 K 208/20, juris, Rn. 277. 186 Vgl. Pressemitteilung des Ministeriums des Innern und für Kommunales Brandenburg vom 12.07.2023. 187 Vgl. Telegram Kanal "Filmkunstkollektiv", 30.07.2023 (letzter Zugriff am 31.07.2023). 188 Vgl. YouTube, Kanal filmkunstkollektiv vom 30.07.2023 (letzter Zugriff am 31.07.2023). 69 stark rückläufigen "Identitären Bewegung" und hält sich an die auf dem Bundesparteitag 2022 durch Björn Höcke gesetzte Parole: "Mehr IB wagen und niemals JU werden".189 Die Verbindungen der "JA Brandenburg" zu anderen rechtsextremistischen Organisationen wurde 2023 ausgebaut. Trotz eines geltenden Unvereinbarkeitsbeschlusses der "AfD" nahm Anna Leisten, Landesvorsitzende der "JA Brandenburg" und Beisitzerin im Bundesvorstand, gemeinsam mit weiteren Mitgliedern an der "Remigrationsdemo" teil, die von der rechtsextremistischen "Identitären Bewegung" organisiert wurde. Der Unvereinbarkeitsbeschluss dient eigentlich zur Regelung der Abgrenzung von extremistischen Parteien, Vereinen und Verbänden. Anna Leisten veröffentlichte stattdessen einen Beitrag auf X (ehemals Twitter) mit der Frage, ob die "JA" "ebenfalls eine Remigrationstour durch Deutschland planen solle."190 Damit wird deutlich, dass die "JA Brandenburg" die ideologischen Forderungen der "Identitären Bewegung" zu eigen macht. Ebenso wird deutlich, dass der Unvereinbarkeitsbeschluss nur Makulatur ist, da die "JA Brandenburg" inhaltlich dieselben Thesen wie die "Identitäre Bewegung" vertritt. Zudem ist die "JA Brandenburg" in einem Netzwerk zahlreicher Vereinigungen des neurechten und rechtsextremistischen Spektrums tätig. So trat Anna Leisten am 17. Juli 2023 unter anderem wiederholt als Studiogast beim rechtsextremistischen "COMPACT-Magazin" auf. Darüber hinaus setzt die "JA Brandenburg" vermeintlich harmlose Botschaften als codierte Inhalte ein. Ziel ist, ihr Gedankengut in der Mitte der Gesellschaft zu platzieren. So nutzte Anna Leisten scheinbar als Erkennungsmerkmal das "White Power Symbol" in sozialen Netzwerken.191 Drei abgespreizte Finger der Hand sollen ein "W" symbolisieren und der zusammengeführte Daumen zum Zeigefinger stehen für ein "P". Es ist ein rechtsextremistisches Hasssymbol der "White Power Bewegung". Die hat sich dem weltweiten Kampf der angeblich überlegenen "weißen Rasse" gegen "minderwertige Rassen" verschrieben. Als weiteres Beispiel für die Verschleierung extremistischer Positionen der "JA Brandenburg" ist die Kommunikation in Form von Emojis. Anna Leisten postete die Überschrift "Trainingslager Ostfront 2025"192 in Verbindung mit den Symboliken eines Totenkopfs, eines Stahlhelms sowie eines Adlers zur Darstellung eines sportlichen Wettkampfs in den sozialen Medien. Diese geschichtsvergessende Darstellung des deutsch-sowjetischen Kriegsschauplatzes der "Ostfront" verharmlost deutlich die Gräueltaten des NSRegimes. Verstöße der "JA Brandenburg" gegen das Demokratieprinzip können auf Grund von Diffamierungen gegenüber der Bundesrepublik Deutschland belegt werden. Bei einer Kundgebung der "JA Deutschland" am 10. Februar 2023 in Berlin wurde die Volkssouveränität der Bundesrepublik pauschal in Abrede gestellt. Die Mehrheit der Teilnehmenden sowie sämtliche Redner waren dabei dem Landesverband Brandenburg zuzuordnen.193 Der Vorwurf, die Bundesrepublik sei nie ein souveräner Staat gewesen und sei es auch heute noch nicht, spricht den demokratischen Charakter Deutschlands eindeutig ab. Bereits bei der Eröffnungsrede der Kundgebung am 10. Februar 2023 in Berlin verkündete die Landesvorsitzende Anna Leisten in ihrer Ansprache, dass sich die Versammlung "gegen die US-Globalisten"194 richte. Sie stellte damit die vermeintliche Rolle Deutschlands als fremdbestimmter Erfüllungsgehilfe von US-Interessen heraus. Diese Behauptung wurde vom damaligen stellvertretenden Vorsitzenden der "JA Brandenburg" am Rande der Veranstaltung bestätigt. Auf die Aussage eines Interviewers des rechtsextremistischen "COMPACT-Magazins", "dass die BRD eben kein souveräner Staat ist, dass sie immer noch ein besetztes Land ist", antwortete er mit den Worten: "Genauso ist es".195 Weiterhin führte ein ehemaliges 189 Vgl. Twitter, Kanal Junge Alternative für Deutschland vom 15.10.2022 (letzter Zugriff am 16.10.2022) 190 Vgl. X Kanal @annaleisten vom 8.7.2023 (letzter Zugriff am 12.10.2023). 191 Vgl. Instagram Kanal anna.herta.marie vom 9.8.2022 (letzter Zugriff am 12.7.2023). 192 Vgl. Instagram Kanal anna.herta.marie vom 29.5.2023 (letzter Zugriff am 14.11.2023). 193 Vgl. YouTube Kanal avosTV, 13.2.2023 (letzter Zugriff am 15.2.2023). 194 Ebd. 195 Ebd. 70 Vorstandsmitglied, derzeit persönlicher Referent eines Bundestagsabgeordneten, aus: "dass das Verhältnis der Bündnisfreundschaft zwischen der Bundesrepublik und den USA etwa dem Verhältnis eines Dieners zu seinem Herrn entspricht."196 Die Bundesrepublik hat am 3. Oktober 1990 ihre volle Souveränität erhalten. Die Legitimität und Souveränität in verschwörungsideologischer Manier anzuzweifeln und die Bundesrepublik sowie Parteien pauschal als "Erfüllungsgehilfen einer Besatzungsmacht"197 zu verunglimpfen, dient der Verächtlichmachung staatlicher Repräsentanten. Diese Aussagen sollen allein das Vertrauen der Bevölkerung in das politische System und seine Demokratie untergraben. Als Jahresabschluss organisierte die "JA Brandenburg" gemeinsam mit dem rechtsextremistischen Musiklabel "Sub Version Production" am 29. Dezember 2023 einen Liederabend in Hoppegarten. Als musikalischer Beitrag trat unter anderem Andy Habermann (Frontsänger der rechtsextremistischen Band "Wutbürger") auf. Die Veranstaltung zog Rechtsextremisten aller Couleur an und hatte einen kooperierenden Vernetzungscharakter der klassischen rechtsextremistischen Szene aus dem Umfeld der Partei "Die Heimat" und dem Umfeld des "Dritten Wegs" mit Akteuren aus dem Umfeld der "verfassungsschutzrelevanten Neuen Rechten" um die "JA Brandenburg", "COMPACT" sowie Unterstützern von "alternativen Medien".198 Bewertung / Ausblick Die "JA Brandenburg" ist im Sinne ihrer rechtsextremistischen Ideologie gefestigt. Sie vertritt nach wie vor fremdenund flüchtlingsfeindliche Positionen und will auf eine ethnisch homogene Gemeinschaft hinaus, die klar im Widerspruch zum Grundgesetz steht. Die Aktionen zur "White Power Bewegung" führten im August 2023 sogar zu erheblichen Spannungen innerhalb der "AfD". Ein Landesvorstandsmitglied der "AfD Brandenburg"199 regte ein Parteiausschlussverfahren gegen Anna Leisten an. Der Vorschlag hatte allerdings keine Mehrheit bekommen. In Folge trat das Mitglied von seinem Amt im Landesvorstand Brandenburg zurück. Eine vom "AfD"-Bundesverband geforderte befristete Ämtersperre wurde vom "AfD"-Landesverband200 nicht durchgesetzt. Der Landesvorstand der "AfD Brandenburg"201 beschloss letztendlich die mildeste Parteiordnungsmaßnahme, eine Abmahnung gegen Anna Leisten.202 Auch nach der Hochstufung der "JA Brandenburg" im Juli 2023 zur gesichert rechtsextremistischen Bestrebung ist keine inhaltliche beziehungsweise ideologische Veränderung des Landesverbandes sichtbar. Zudem ist davon auszugehen, dass die "JA Brandenburg" ihren Wirkungsbereich in den sozialen Medien und auf der "Straße" mit Blick auf die anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg weiter ausweiten wird. 196 Ebd. 197 Vgl. YouTube avosTV, veröffentlicht am 13.2.2023 (letzter Zugriff am 15.2.2023). 198 Vgl. FLICKR, Album Pressefuchs, 2023.12.29. Hoppegarten-Jahresabschlussparty-Junge Alternative Brandenburg. 199 Vgl. FN 2. 200 Vgl. FN 2. 201 Vgl. FN 2. 202 Vgl. MSN.com Warum die AfD die Chefin der Jungen Alternative in Brandenburg abmahnt vom 8.8.2023. 71 3.5 Parteiunabhängige Strukturen 1: Zukunft Heimat e.V. Sitz / Verbreitung Der Verein "Zukunft Heimat e.V." (kurz "Zukunft Heimat") ist in Golßen (LDS) ansässig. In der Öffentlichkeit tritt der Verein meistens jedoch in Cottbus auf. Gründung / Bestehen Der Verein wurde 2015 unter anderem von Hans-Christoph Berndt203 gegründet. Struktur / Repräsentanten Der frühere Vereinsvorsitzende Hans-Christoph Berndt gilt auch heute noch als das Gesicht von "Zukunft Heimat". Zugleich steht Hans-Christoph Berndt der brandenburgischen AfD204-Landtagsfraktion vor. Somit entsteht eine politische Verbindung, die beiderseits gewünscht und ausgenutzt wird. Neben Straßenprotesten ist der Verein vor allem im Internet und auf sozialen Netzwerken aktiv. So nutzt er zum Beispiel Facebook (rund 18.300 Abonnenten), Twitter (rund 4.200 Follower), Instagram (rund 2.400 Abonnenten) und einen Telegram-Kanal (rund 1.400 Abonnenten).205 Dem Verein wurde ab dem Jahr 2017 die Gemeinnützigkeit entzogen. An "Zukunft Heimat" geleistete Spenden sind steuerlich nicht absetzbar. Personenpotenzial: Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Der Verein hat ein Personenpotenzial von etwa 80 Mitgliedern. Kurzportrait / Ziele "Zukunft Heimat" verfolgt das Ziel, mit Aktionen wie zum Beispiel Kundgebungen und Demonstrationen das Thema der vermeintlichen "Überfremdung" Deutschlands und Europas in die Öffentlichkeit zu tragen. Der frühere Vereinsvorsitzende Hans-Christoph Berndt sieht "Zukunft Heimat" als Teil einer politischen Vorfeld-Bewegung und als Bestandteil eines neurechten Netzwerkes. Hierzu zählen neben der "AfD"206 unter anderem der rechtsextremistische Verein "Ein Prozent e.V.", das rechtsextremistische "COMPACTMagazin"207 und das wiedereröffnete rechtsextremistische Szeneobjekt "Die Mühle" in Cottbus.208 Zudem tritt der Verein durch öffentliche Diffamierungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Erscheinung. Er versucht breite Teile der Bevölkerung im Raum Cottbus anzusprechen. Mit einem vermeintlich bürgerlichen Auftreten trägt "Zukunft Heimat" dazu bei, rechtsextremistische Inhalte zu bagatellisieren und gesellschaftlich anschlussfähig zu machen. Der Verein nutzt bewusst die Strategie der "Entgrenzung des Rechtsextremismus"209 um bürgerliche Milieus erfolgreich für sich zu gewinnen. So gelang es dem Verein in der Vergangenheit Demonstranten aus verschiedenen rechtsextremistischen und bürgerlichen Milieus gemeinsam zu mobilisieren. Darüber hinaus veranstaltete der Verein zusammen mit dem rechtsextremistischen Szeneobjekt "Die Mühle"210 zahlreiche Vortragsveranstaltungen, Stammtische und Feste in Cottbus. An diesen nahmen führende Persönlichkeiten des neurechten Spektrums 203 Verweis auf Verdachtsfall AfD-MdL. 204 Vgl. FN 2. 205 Die Abonnentenund FollowerZahlen in den sozialen Medien beziehen sich auf den Stand vom 20.10.2021. 206 Vgl. FN 2. 207 Siehe Kapitel 3.6. 208 Vgl. YouTube-Video mit Hans-Christoph Berndt vom 2.9.2019 (letzter Zugriff am 13.11.2019). Anmerkung: Das Video unterliegt derzeit einer privaten Zugangsbeschränkung. 209 Die Normen unserer politischen und gesellschaftlichen Kultur sollen durch die bewusste Verwendung rechtsextremistischer Sprache verändert werden. 210 Vgl. 3.13. 72 und der "AfD"211 teil. "Zukunft Heimat" versucht die Stadt Cottbus als einen bundesweiten Vernetzungsund Verschmelzungsort für rechtsextremistische Strukturen zu etablieren. Finanzierung Der Verein finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge und Spenden. Die von "Zukunft Heimat" genutzte Immobilie "Mühle Cottbus" wurde unter anderem von der rechtsextremistischen Organisation "Ein Prozent" finanziert und unterstützt.212 Sie listet die "Mühle" in Cottbus als einen von sieben "Orten des Widerstandes" in Deutschland und Österreich auf.213 Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Auf Demonstrationen, Veranstaltungen und im Internet verbreitet der Verein rassistische, antisemitische sowie islamund fremdenfeindliche Thesen. Vor allem Migranten und Geflüchtete werden pauschal als "Invasoren"214 oder auch als "Wirtschaftskriminelle"215 diffamiert. Migration wird dabei als "Volksaustausch"216 verstanden, die in erster Linie dazu diene, die Bevölkerung in Deutschland zu ersetzen. Schlagworte wie "Volksaustausch", "Umvolkung" oder "Volkstod" sind in rechtsextremistischen Kreisen aufgrund der Verschwörungserzählung des "Großen Austausches" weit verbreitet. Der "Große Austausch" besagt, dass die weiße Mehrheitsbevölkerung aufgrund eines "geheimen Plans" angeblicher "globalistischer Eliten" durch nicht-weiße - vor allem muslimische - Einwanderer gezielt ausgetauscht werden soll. Wie gefährlich die Verbreitung dieser Verschwörungserzählung und damit einhergehenden Bedrohungsszenarien sind, zeigen rechtsterroristische Anschläge der letzten Jahre. Ein Beispiel hierfür ist der Terrorangriff von Christchurch (Neuseeland), bei dem am 15. März 2019 mehr als 50 Menschen muslimischen Glaubens ermordet wurden. Der Attentäter verbreitete im Internet ein Manifest, welches den Titel "The Great Replacement" - zu Deutsch "Der Große Austausch" - trug. Der Rückgriff auf diese Verschwörungserzählung hat in der rechtsextremistischen Szene des Landes Brandenburg einen langen Vorlauf. So verbreitete beispielsweise in den beginnenden 2010er-Jahren die "Widerstandsbewegung Südbrandenburg" im Rahmen ihrer "Volkstod-Kampagne" diese Erzählung. Zentrale Akteure der 2012 verbotenen neonationalsozialistischen "Widerstandsbewegung Südbrandenburg", die auch unter dem Namen "Spreelichter" bekannt war, sind bis heute bei "Zukunft Heimat" aktiv. Der Verein versucht die Menschen durch "bürgerliche" Aktionen zu erreichen. Zugleich ist der Verein aufgrund seiner engen Zusammenarbeit mit der "AfD"217 bestrebt, die eigene verfassungsfeindliche Ideologie ins Parlament zu tragen. Zentrale Akteure des Vereins verunglimpfen die freiheitliche demokratische Grundordnung und stellen diese in Abrede. Dabei greifen sie auf geschichtsrevisionistische Vergleiche zurück, um die freiheitliche demokratische Grundordnung zu delegitimieren und zum "Widerstand" gegen die vermeintliche "Diktatur" aufzurufen. Führende Politikerinnen und Politiker demokratischer Parteien werden zu Feindbildern des 211 Vgl. FN 2. 212 Vgl. Homepage "Ein Prozent e.V.", Cottbus die Mühle ist eröffnet, veröffentlicht am 19.6.2018, (letzter Zugriff am 14.11.2023). 213 Vgl. Homepage "Ein Prozent e.V.", Patrioten brauchen Freiraum, veröffentlicht am 12.9.2023, (letzter Zugriff am 14.11.2023). 214 Vgl. YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=hAaFdWG-dcM, veröffentlicht am 4.10.2023, (letzter Zugriff 20.10.2023). 215 Vgl. YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=hAaFdWG-dcM, veröffentlicht am 4.10.2023, (letzter Zugriff 20.10.2023). 216 Vgl. YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=4m3ShaMhLXc-, (letzter Zugriff 25.7.2019). 217 Vgl. FN 2. 73 "deutschen Volkes" erklärt. Exponiertes Symbol dieser aggressiven Ablehnung ist die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, die beispielsweise als "Diktatorin" diffamiert wird. Bekannte Politiker werden zudem als "Volksverräter, die für die Morde, Übergriffe und Islamisierung hier in Deutschland verantwortlich sind" oder als "Wiedergeburt von Stasi-Chef Erich Mielke" verächtlich gemacht.218 So forderte beispielsweise der damalige Vereinsvorsitzende Hans-Christoph Berndt 2019 öffentlich, den "Widerstand fort[zu]setzen, aus[zu]weiten, solange bis wir diejenigen, die Heimat und Identität zerstören, aus ihren Ämtern verjagt haben".219 Dies zeigt zum einen die Ablehnung demokratischer Prozesse, deren Kernbestandteil es ist, politische Amtsträger abzuwählen und nicht zu "verjagen". Zum anderen zeigt sich hier wieder das Narrativ des "Volksaustauschs" und eine vermeintliche Bedrohung der eigenen kollektiven Identität. Ein weiterer Grund für die Beobachtung des Vereins ist die enge Vernetzung und Verschmelzung mit weiteren rechtsextremistischen Strukturen. So engagieren sich führende Köpfe des entgrenzten Rechtsextremismus für den Verein. Hierzu zählen zum Beispiel Neonationalsozialisten der verbotenen Vereinigung "Widerstandsbewegung Südbrandenburg" sowie Vertreter des rechtsextremistischen "Institut für Staatspolitik"220 aus Schnellroda (Sachsen-Anhalt). Ebenfalls treten ehemalige Aktivisten der rechtsextremistischen "Identitären Bewegung" für den Verein öffentlich in Erscheinung und unterstützen unter anderem die Medienarbeit. Zusätzlich erfährt "Zukunft Heimat" breite Unterstützung vom völkisch-nationalistischen Lager der "AfD".221 Diese nutzen Veranstaltungen und Demonstrationen des Vereins zur Verbreitung ihrer rechtsextremistischen Ideologie. Der Verein "Zukunft Heimat" fungiert als länderübergreifendes Scharnier zwischen unterschiedlichen rechtsextremistischen Akteuren: von der gewaltbereiten Hooliganund Kampfsportszene bis hin zu den führenden Köpfen des intellektuellen Rechtsextremismus und der "AfD".222 Entwicklungen im Berichtszeitraum Im Berichtsjahr 2023 trat "Zukunft Heimat" besonders mit der Demonstration am 3. Oktober in Cottbus in Erscheinung. Die Kundgebung zeigt die ideologische Manifestierung rechtsextremistischer Positionen des Vereins. So nutzte er die Veranstaltung, um fremdenfeindliche Ressentiments zu befeuern. Migranten und Geflüchtete wurden als "Wirtschaftskriminelle"223 und mehrfach als "Invasoren"224 bezeichnet. Zudem machte Hans-Christoph Berndt Migranten gezielt für Missstände in der Gesellschaft verantwortlich: "[...] Und wir sehen es, wir sehen es in Cottbus, wir sehen es in Luckau, wir sehen es in Fürstenwalde. Wir sehen es in jedem Park, wir sehen es in jeder Bahn, wir sehen es in jedem Gefängnis, wir sehen es überall, wir sehen eine unglaubliche Invasion von Menschen in diesem Land und wir spüren in einer unglaublichen Weise die dramatischen Folgen dieser Invasion. Wir spüren es an Haushalten, an Kommunen die Pleite sind. Wir sehen und spüren es an einer immensen Wohnungsnot, an einem Wohnungsmangel. Und ich habe heute gelesen, dass Berlin 1000 dieser Flüchtlinge genannten Invasoren in Hotels 218 Vgl. YouTube Video vom 3.2.2018 (letzter Zugriff am 14.04.2021). 219 Vgl. YouTube Video mit Hans-Christoph Berndt, 15.7.2019 (letzter Zugriff am 13.11.2019). Anmerkung: Das Video wurde gelöscht. 220 Das Institut für Staatspolitik wird durch das Bundesamt für Verfassungsschutz als gesichert rechtsextremistisch beobachtet sowie durch den Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt als Beobachtungsobjekt geführt. 221 Vgl. FN 2. 222 Vgl. FN 2. 223 Vgl. YoutTube, https://www.youtube.com/watch?v=hAaFdWG-dcM, veröffentlicht am 4.10.2023, (letzter Zugriff 20.10.2023). 224 Ebd. 74 unterbringen will. [...] Und wir sehen die dramatischen Folgen dieser Invasion eben auch an der Verwahrlosung des öffentlichen Raums und an dem Herrschaftsgebaren dieser Migranten die angeblich Schutzsuchende sein sollen. [...]" [sic!]225 Zentrale Schlagwörter der verfassungsschutzrelevanten Neuen Rechten wurden in Redebeiträgen verwendet, wie zum Beispiel "Bevölkerungsaustausch"226 und "Remigration"227. Diese Begriffe beziehen sich auf ein ethnisch-homogenes Volksverständnis, das vom Verein vertreten wird. So äußerte sich HansChristoph Berndt auf der Kundgebung wie folgt: "Wir haben uns 1989 von der DDR losgesagt, nicht damit wir in den 2020er Jahren in einem multikulturellen und multikriminellen Sumpf in der BRD versinken. Deutschland ist das Land der Deutschen und Deutschland soll das Land der Deutschen bleiben. Dafür stehen wir. Und deshalb noch einmal unsere Forderung: Grenzen schließen! Migration stoppen und Remigration!"228 Hierbei beschreibt Hans-Christoph Berndt sein ethnisch-homogenes Volksverständnis unter anderem durch die sinngemäße Widergabe der rechtsextremistischen völkischen Losung "Deutschland den Deutschen". Folge des ethnopluralistischen Volksverständnisses und der Erzählung vom "Großen Austausch" ist, dass Flüchtlinge oder Menschen mit Migrationshintergrund oder einer anderen ethnischen Zugehörigkeit, in ihre "Heimatländer" zurückgeführt werden sollen, um das deutsche Volk in seinem ethnokulturellen Bestand zu erhalten. Ausschlaggebend dabei ist nicht die deutsche Staatsbürgerschaft, sondern eine vermeintliche ethnische Zugehörigkeit. Vor diesem Hintergrund ist der Begriff der "Remigration" zu lesen und zu verstehen. Zudem stellte der Verein die freiheitliche demokratische Grundordnung in Abrede und diffamierte die Bundesrepublik auf der Veranstaltung wie folgt: "BRD der 2020er Jahre [...] schlimmer als die DDR der 1980er Jahre"229. Führende Politiker demokratischer Parteien wurden im NS-Duktus als "Vaterlandsverräter" denunziert und kriminalisiert.230 Die Vorstellung einer Inhaftierung eines führenden Politikers sowie die Art der Ablösung der jetzigen Regierung offenbart die ablehnende Haltung gegenüber demokratischen Prozessen und Rechtsstaatlichkeit: "[...] Ich freue mich schon, ich freue mich schon, wenn diese AmpelRegierung aus den Ämtern gejagt wird und wenn Lauterbach und Scholz endlich da sitzen wo sie hingehören, nämlich im Knast, liebe Freunde. [...]"231 Die Demonstration in Cottbus verdeutlicht die Scharnier-Funktion, die der Verein innerhalb der rechtsextremistischen Szene Brandenburgs einnimmt. Ein Ziel ist die Entgrenzung des Rechtsextremismus mit rechtsextremistischen Losungen, wie die sinngemäße Wiedergabe von "Deutschland den Deutschen"232 oder dem Ausruf "Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen"233. Ein weiteres Ziel ist die Verschmelzung verschiedener Milieus. Die Teilnehmer in Cottbus waren eine Melange aus der bürgerlichen Mitte und aus der rechtsextremistischen Szene. Es waren unter anderem bekannte Akteure der verbotenen neonationalsozialistischen "Widerstandsbewegung Südbrandenburg" und der rechtsextremistischen Partei "Die Heimat" anwesend. Im Jahr 2023 setzte "Zukunft Heimat" weiterhin auf Propaganda im Internet. Die sozialen Netzwerke des Vereins entwickelten sich zu Echo-Kammern, die zur Radikalisierung beitragen könnten. So teilte der Verein im Laufe des Berichtsjahrs eine Vielzahl von Beiträgen rechtsextremistischer Akteure, wie zum Beispiel von der rechtsextremistischen Organisation "Ein Prozent"234, vom rechtsextremistischen "Institut 225 Ebd. 226 Ebd. 227 Ebd. 228 Ebd. 229 Ebd. 230 Ebd. 231 Ebd. 232 Ebd. 233 Ebd. 234 Vgl. Telegram Kanal "Zukunft Heimat", veröffentlicht am 3.9.2023, (letzter Zugriff 20.10.2023). 75 für Staatspolitik."235 und von der rechtsextremistischen Partei "Freie Sachsen".236 Des Weiteren verbreitete der Verein Meldungen und Berichte anderer Medien. Zudem wurden im Laufe des Jahres immer wieder Veranstaltungen im rechtsextremistischen Szeneobjekt "Mühle Cottbus" beworben, unter anderem die Veranstaltung mit Akteuren der verfassungsschutzrelevanten Neuen Rechten zum Jahresanfang.237 Die Wirkung des Radikalisierungsraums wird insbesondere in den Kommentarspalten der sozialen Netzwerke des Vereins sichtbar. Demokratiefeindliche User-Kommentare unter den Beiträgen von Zukunft Heimat werden vom Verein weder gelöscht, noch moderiert oder kommentiert. So wurde unter einem Beitrag zur Landratswahl im Landkreis Dahme-Spreewald offen die demokratische Wahl in Abrede gestellt, indem eine Vielzahl von Usern für die nachfolgende Stichwahl pauschal von Wahlbetrug ausgegangen sind.238 Unter einem anderen Beitrag des Vereins, wurde die Rechtsstaatlichkeit beziehungsweise die Unabhängigkeit der Gerichte verneint. So kommentiert ein User: "Ich hoffe das in baldiger Zukunft die Richter und Scheffen die diese Urteile fällen zur Rechenschaft gezogen wereden. Ich möchte mal das Urteil sehen, wenn es die Großmutter vom Richter rgewesen wäre...was für ein lächerliches Land sind wir geworden." 239 Ein weiterer User antwortet darauf: "[...] im Gegensatz zu anderen Länder sind unsere Richter etc. nicht unabhängig." [alle Fehler im Original]240 Ferner war "Zukunft Heimat" bemüht seine Netzwerke zu anderen Akteuren der Szene aufrecht zu halten. Dabei spielte insbesondere Hans-Christoph Berndt eine tragende Rolle für den Verein. So trat er im Rahmen des Sommerfestes des rechtsextremistischen "Instituts für Staatspolitik" zum Beispiel sichtbar mit Kleidung von "Zukunft Heimat" auf.241 Auf der Demonstration am 3. Oktober entsendete er Grüße an die rechtsextremistische "PEGIDA"-Bewegung nach Dresden.242 Und der Schulterschluss zur "AfD Brandenburg"243 lässt sich zum einen durch Partei-Akteure wie Hans-Christoph Berndt und Jean-Pascal Hohm festmachen und zum anderen an der Propaganda, die in den sozialen Netzwerken konsequent sowohl von Parteimitgliedern als auch von Akteuren des Vereins mitund untereinander geteilt wurden. Bewertung / Ausblick Im Jahr 2023 agierten der Verein "Zukunft Heimat" und seine Akteure deutlich zurückhaltender als in den Jahren zuvor. Er konzentrierte sich punktuell auf ausgewählte Ereignisse in der Öffentlichkeit. Dabei hat der Verein organisatorisch vor allem die Position des Initiators eingenommen und sich inhaltlich wieder verstärkt auf das Thema Migration eingelassen. Die öffentlichen Auftritte zeigen, dass der Verein an seinen verfassungsfeindlichen Zielen und Parolen festhält. Die Manifestierung verfassungsfeindlicher Positionen wird durch die anhaltendenden Kontakte zu anderen Rechtsextremisten deutlich. "Zukunft Heimat" vertritt öffentlich stigmatisierende und ausgrenzende Positionen zu Migranten. Es ist davon auszugehen, dass der Verein weiterhin versucht, gesellschaftspolitische Themen zu instrumentalisieren, um die Entgrenzung des Rechtsextremismus gezielt voranzutreiben. Der Verein bleibt neben dem rechtsextremistischen Verdachtsfall "AfD Brandenburg"244 einer der zentralen Akteure des entgrenzten Rechtsextremismus in Brandenburg. "Zukunft Heimat" soll als Bewegung neben der Partei politisch mobilisieren und weitere Teile der Bevölkerung ansprechen. Nicht ohne Grund 235 Vgl. Telegram Zukunft Heimat, veröffentlicht am 4.7.2023, (letzter Zugriff 20.10.2023). 236 Vgl. Telegram Zukunft Heimat, veröffentlicht am 10.10.2023, (letzter Zugriff 20.10.2023). 237 Vgl. Telegram Zukunft Heimat, veröffentlicht am 6.3.2023, (letzter Zugriff 20.10.2023). 238 Vgl. Facebook Zukunft Heimat, veröffentlicht am 8.10.2023, (letzter Zugriff 20.10.2023). 239 Vgl. Facebook Zukunft Heimat, veröffentlich am 13.10.2023, (letzter Zugriff am 20.10.2023). 240 Vgl. Facebook Zukunft Heimat, veröffentlich am 13.10.2023, (letzter Zugriff am 20.10.2023). 241 Vgl. X, Sezession im Netz, veröffentlicht am 8.7.2023, (letzter Zugriff 20.10.2023). 242 Vgl. YouTube, https://www.youtube.com/watch?v=hAaFdWG-dcM, veröffentlicht am 4.10.2023, (letzter Zugriff 20.10.2023). 243 Vgl. FN 2. 244 Vgl. FN 2. 76 ist der Vorsitzende der "AfD"245-Landtagsfraktion weiterhin das Gesicht und führendes Mitglied von "Zukunft Heimat", obwohl er aus taktischem Kalkül seinen Vorsitz im Verein im Jahr 2021 abgeben hatte. Zukünftig ist davon auszugehen, dass der Verein neben dem "Institut für Staatspolitik" eine entscheidende Rolle bei der Vernetzung, der Entgrenzung und nicht zuletzt der Verschmelzung der verschiedenen rechtsextremistischen Organisationen in Brandenburg einnehmen wird. 245 Vgl. FN 2. 77 3.6 Parteiunabhängige Strukturen 2: COMPACT-Magazin GmbH Sitz / Verbreitung Die "COMPACT-Magazin GmbH" (kurz: "COMPACT") hat seit dem Jahr 2022 ihren offiziellen Sitz in Falkensee (HVL). Dort wird das monatlich erscheinende "COMPACT-Magazin" verlegt. Hinzu kommen diverse Sonderhefte. Die Printprodukte des Magazins werden bundesweit sowie im Ausland vertrieben. Daneben ist das Unternehmen in sozialen Medien aktiv und unterhält eine eigene Webseite. Dort werden digitale Fassungen der Magazin-Ausgaben vertrieben und weitere Beiträge sowie Videos veröffentlicht.246 Gründung / Bestehen Die Printausgabe des "COMPACT-Magazins" erscheint seit dem Jahr 2010. Chefredakteur ist Jürgen Elsässer. Struktur / Reichweite Eigenen Angaben zufolge lag die monatliche Auflage des "COMPACT-Magazins" zwischenzeitlich bei etwa 40.000 Exemplaren.247 Daneben wird ein eigener YouTube-Kanal mit dem Namen "COMPACT TV" betrieben. Er verfügt über rund 228.000 Abonnenten. Zudem ist "COMPACT" in den sozialen Medien auf X (ehemals Twitter, etwa 36.360 Follower), vk.com (etwa 3.100 Abonnenten) und Telegram (etwa 55.200 Abonnenten) aktiv.248 Darüber hinaus verfügt das Magazin über eine eigene Webseite. Des Weiteren richtet "COMPACT" seit 2012 jährliche "Konferenzen für Souveränität" aus. Dort treten Personen aus dem rechtsextremistischen, neurechten und verschwörungsideologischen Milieu auf. Die Konferenzen dienen dem inhaltlichen Austausch und der Vernetzung. Personenpotenzial: Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Im Berichtsjahr 2023 schrieben sechs offizielle Redakteure und eine Reihe an Gastautoren regelmäßig für die Printausgaben des Magazins. Weitere Personen beschäftigt die GmbH im Bereich Veranstaltungen, Versand und Technik. Zudem treten in der Sendung "COMPACT TV" regelmäßig Personen aus der rechtsextremistischen Szene auf. Veröffentlichungen Das "COMPACT-Magazin" ist erstmals im Dezember 2010 erschienen und wird seit Mai 2011 monatlich publiziert. Neben der monatlichen Printausgabe erscheinen in regelmäßigen Abständen die Sonderausgaben "COMPACT Spezial" und "COMPACT Geschichte". Zusätzlich erscheinen unregelmäßig "COMPACT Edition" und "COMPACT Aktuell". Kurzportrait / Ziele "COMPACT" beschreibt sich selbst als "oppositionelles" Medium, das folgendes Ziel hat: "Wir wollen das Regime stürzen."249 Es lebt eine selbst verkündete "Fünf-Finger-Strategie" und sieht sich als Teil eines Netzwerkes. So schrieb "COMPACT" im Jahr 2018: "Alle zusammen in großer Einheit: Pegida, IB, AfD, Ein Prozent, Compact! Fünf Finger, alle kann man einzeln brechen, aber alle zusammen sind eine Faust!".250 Im Sinne dieser Strategie bietet "COMPACT" rechtsextremistischen und verschwörungsideologischen Akteuren eine Plattform zur Verbreitung ihrer extremistischen Themen. Ziel von "COMPACT" 246 In die Bewertung der COMPACT GmbH werden alle Publikationsformate des Magazins sowie Social-Media-Auftritte berücksichtig. Bei der Verwendung des Namens COMPACT sind entsprechend alle Publikationsformen eingeschlossen. 247 Vgl. COMPACT 08/2020, S. 8. 248 Die Abonnentenund Follower-Zahlen in den sozialen Medien beziehen sich auf den Stand von Oktober 2023. 249 Vgl. COMPACT-TV: "COMPACT-Einzigartig in der Medienwelt" vom 13.06.2023 (letzter Zugriff am 09.10.2023). 250 Vgl. COMPACT 01/2018, S. 52. 78 ist, eine rechtsextremistische Verschiebung des politischen Diskurses herbeizuführen. Dafür werden Verschwörungserzählungen, Falschinformationen sowie Bedrohungsszenarien genutzt und mit beliebigen Fakten vermischt. Für das Magazin sind verschiedene rechtsextremistische Autoren tätig, unter anderem der österreichische Rechtsextremist Martin Sellner von der "Identitären Bewegung".251 Finanzierung "COMPACT" finanziert sich unter anderem aus Erlösen der Zeitschriftenverkäufe, einer "Clubmitgliedschaft", einem Web-Shop, Spenden und Werbeeinnahmen von YouTube. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Das zentrale Ziel von "COMPACT" ist, die demokratisch legitimierte Regierung der Bundesrepublik Deutschland durch einen Sturz des vermeintlichen "Regimes" zu entmachten. Anschließend soll das demokratische durch ein identitäres System ersetzt werden. Um den anvisierten Umsturz zu erreichen, ruft "COMPACT" unter anderem zur Selbstjustiz und zum Widerstand auf. Solche Verlautbarungen stehen klar im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Darüber hinaus fordert "COMPACT" eine Ungleichbehandlung von Muslimen. Diese stehen neben Migranten und Geflüchteten im besonderen Fokus von "COMPACT". Sie werden in einer Menschenwürde verletzenden Weise ausgegrenzt, verächtlich gemacht, kriminalisiert oder anderweitig herabgewürdigt. "COMPACT" baut so ein extremistisches Freund-Feind-Schema auf: "Ganz zweifellos werden wir in eine bürgerkriegsähnliche Situation hineinschlittern. Die Zugewanderten aller Herren Länder werden irgendwann Milizen bilden und schließlich ganze Städte kontrollieren. Wer soll sich dem entgegenstellen? ,Unsere Polizei'? Die in Berlin bereits heute einen multiethnischen Anteil von 37% aufweist? Lachhaft. Sie werden im Ernstfall ihresgleichen kein Haar krümmen."252 Des Weiteren ist Antisemitismus, zum Beispiel in Form von Verschwörungserzählungen mit antisemitischen Chiffren, ein zentrales Stilmittel von "COMPACT". So beschreibt "COMPACT" die EU und die UN beispielsweise als "Attrappen-Institution der Hochfinanz"253, womit "COMPACT" althergebrachte antisemitischen Verschwörungsmythen aus der Zeit des Nationalsozialismus bedient. Diese Strategie zielt darauf ab, Sprache mit nationalsozialistischem Bezug zu normalisieren und somit den Nationalsozialismus selbst zu relativieren. Beispielsweise verwendet "COMPACT" den Begriff "atomarer Holocaust".254 "Holocaust" bezeichnet jedoch ein singuläres Ereignis. Den Begriff anderweitig zu verwenden, führt zu einer bewussten Verharmlosung der industriellen Ermordung der Juden im "Dritten Reich". Weitere Beispiele für eine angestrebte Normalisierung des NS-Sprachgebrauchs ist die wiederholte Benutzung von Begriffen wie "Umvolkung" und "Herrenmenschen".255 Entwicklungen im Berichtszeitraum Neben migrationsfeindlichen Narrativen und geschichtsrevisionistischen Inhalten war der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine das bestimmende Thema der Berichterstattung von "COMPACT" im Berichtszeitraum. Seit Beginn des Kriegs am 24. Februar 2022 verbreitet "COMPACT" über zahlreiche virtuelle Kanäle sowie seinen Printmedien gezielt Desinformationen, Verschwörungsnarrative und geschichtsrevisionistische Positionen. Zudem macht sich "COMPACT" teilweise die Propaganda der russischen Regierung zu eigen. 251 Für weitere Informationen zur "Identitären Bewegung" siehe Verfassungsschutzbericht Bund 2022, S. 73-75. 252 Vgl. COMPACT 03/2023, S. 20. 253 Vgl. COMPACT 08/2019, S. 3. 254 Vgl. COMPACT 04/2019, S. 3. 255 Vgl. COMPACT-Geschichte Nr. 9: "Dresden 1945", 2020, S.29 ff., S. 46 ff., S. 51 ff., S. 69-82. 79 Im Schulterschluss mit Akteuren aus dem Rechtsextremismus richtete "COMPACT" am 12. August 2023 eine Veranstaltung in Sachsen-Anhalt unter dem Motto "COMPACT - Sommerfest - Für Frieden und Freiheit" aus und veröffentlichte die Rede Jürgen Elsässers nachträglich im Internet.256 Der Chefredakteur Jürgen Elsässer solidarisierte sich mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Er agitierte gegen die NATO und wünschte sich einen Kriegserfolg der russischen Armee, weit über die Ukraine hinaus: "[...] Ich für meinen Teil kann das dementieren, ich bin kein Putin-Versteher, sondern ich bin ein PutinUnterstützer. Ich will, dass vor allem die NATO und die USA, die Briten und unsere polnischen Nachbarn ordentlich eine auf den Sack kriegen in der Ukraine. Ich freue mich, dass in diesen letzten zwei, drei Tagen die russischen Truppen große Geländegewinne in der Nordukraine bei Kupjansk erzielt haben, denn ich weiß, jeden Kilometer, den die russischen Truppen vorrücken, kommt der Tag der deutschen Freiheit näher." Bezogen auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj wird sich bei "COMPACT" wie folgt geäußert: "Er fordert Kampfjets. Er will mit schweren Kampfpanzern nach Russland gehen, und er hat geächtete Waffen gefordert, Phosphor und Streumunition. Ich vergleiche diesen Mann ganz klar mit einem Adolf Hitler."257 Derartige Verunglimpfungen des ukrainischen Präsidenten sowie die ständige Täter-Opfer-Umkehr gehören zum Rechtfertigungsnarrativ des russischen Angriffskriegs und legen offen, dass "COMPACT" Moskaus Kriegsrhetorik vollständig verinnerlicht hat. Zudem werden in zahlreichen Beiträgen die Vereinigten Staaten von Amerika sowie ihre Verbündeten im Kriegsgeschehen als Aggressor dargestellt: "Mit der Aggression gegen Russland haben sich die USA und ihre Verbündeten offensichtlich übernommen [...] Drei Viertel der Menschheit will Frieden und ist bereit, den Brandstiftern in Washington und Warschau, in London und Kiew die Kriegsfackel aus der Hand zu schlagen."258 Die beschriebene Dämonisierung der USA geht bei "COMPACT" mit einem verschwörungsideologisch aufgeladenen Antiamerikanismus einher. So wird unter anderem im Beitrag "Kommandozentrale der Ostfront" auf eine eigene Reportage verwiesen, die beweisen soll, dass die USA Sabotagen an beiden Nordstream Gasleitungen verübt haben sollen. Auch spricht "COMPACT" der Bundesrepublik Deutschland ihre Souveränität ab: "Die Luftwaffenbasis Ramstein ist das frechste Symbol der US-Fremdherrschaft über Deutschland. Von hier wird die Aggression gegen Russland exekutiert, ohne dass die Bundesregierung Einspruch erhebt."259 In einer Rede im Juli 2023 formulierte der Chefredakteur des Magazins Jürgen Elsässer es ähnlich: "Jedenfalls wir sind kein souveräner Staat. Wir sind immer noch ein besetztes Land".260 Bezogen auf den Sozialstaat hat "COMPACT" ebenfalls klare Vorstellungen, wie dieser aufgebaut und wer berücksichtigt werden soll: "Sozialstaat geht nur national [...] manche, die schon da sind, die werden sagen, ohne Kohle gehe ich zurück nach Arabien oder in die Türkei oder irgendwo hin [...] Erst müssen wir die Bande loswerden und dann können wir das Soziale umbauen".261 In dieser Aussage manifestiert sich das "Feindbild von Ausländern". "COMPACT" geht es weniger um den Sozialstaat, sondern um eine Verunglimpfung von Migranten. 256 COMPACT-TV: Elsässer: "Warum ich Putin-Fan bin" vom 14.8.2023 (letzter Zugriff am 9.10.2023). 257 Vgl. COMPACT 04/2023, S. 35. 258 Vgl. COMPACT 05/2023, S. 3. 259 Vgl. COMPACT 02/2023, S. 50. 260 Vgl. Elsaesser zieht vom Leder: Ami go home! vom 11.7.2023 (letzter Zugriff am 17.11.2023) 261 Vgl. 10 Fragen an Jürgen Elsässer beim Vortrag in Saarbrücken am 1. Juli 2023 vom 8.07.2023 (letzter Zugriff am 17.11.2023). 80 Nach dem grausamen terroristischen Überfall der HAMAS am 7. Oktober 2023 auf Israel äußerte "COMPACT" sich im November 2023 wie folgt: "Sind wir wegen des Holocausts moralisch verpflichtet, an der Seite Israels, zu kämpfen und zu sterben'? Nein, denn unsere Vorväter, die man damit belasten könnte, sind längt tot [...] Müssen wir Israel verteidigen, weil der Islam der ganzen westlichen Welt den Kampf angesagt hat? Wiederum nein, denn die arabische Welt ist traditionell deutschfreundlich [...] Im Übrigen und vor allem gilt: Wir müssen unsere Grenzen schließen. Wir lassen keinen mehr rein, auch keine Palästinenser und Juden. Macht das unter euch aus".262 Diese Passage veranschaulicht "COMPACT"s israelfeindliche und antisemitische Haltung. Des Weiteren verfolgt COMPACT-Chefredakteur Elsässer mit Blick auf Ostdeutschland offenbar separatistische Überlegungen. Am 3. Oktober 2023 stellte er als Redner im thüringischen Gera die Frage, ob die DDR als "Deutsches Demokratisches Reich" in einem vom Westen der Republik abgespaltenem Ostdeutschland wiedergegründet werden solle. Den AfD-Rechtsextremisten Höcke wünsche er sich dafür als "Reichskanzler". "Gemischte deutsch-russische Bataillone" sollen "an der Oder" Deutschland "gegen die Polen verteidigen". Und "Elon Musk kann einen Raketenbahnhof in Penemünde errichten".263 Bewertung / Ausblick Die Aneignung und Weiterverbreitung russischer Propaganda zeigt das extremistische Potenzial "COMPACTs" vor allem mit Blick auf den außenpolitischen Diskurs. Gleichermaßen wird offenbar, wie Rechtsextremisten gezielt versuchen, von Spekulationen bis zu Verschwörungsideologien sämtliche ihnen in die Hände spielenden Geschichten aufzugreifen und für die eigenen verfassungsfeindlichen Ziele zu nutzen. "COMPACT" tritt im Rahmen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine als Agitator auf. Das Magazin verbreitet über seine zahlreichen Medienformate aggressiv Desinformation, Verschwörungserzählungen und prorussische Propaganda. Dabei werden gezielt Narrative der russischen Regierung übernommen und mit eigenen Verschwörungserzählungen angereichert. Ziel ist es, den vermeintlich totalitär agierenden deutschen Staat und den Westen ganz allgemein als Feindbild zu präsentieren. "COMPACT" versucht seit dem Krieg in der Ukraine mit einer noch schärferen Tonart, Ängste zu schüren und diese zu instrumentalisieren. Ziel der "COMPACT-Magazin GmbH" wird künftig sein, ideologisch für nicht-extremistische Milieus anschlussfähig zu sein. "COMPACT" wird versuchen, neben dem rechtsextremistischen Stammklientel auch politisch linksorientierte Kreise in Zukunft zu bedienen. Aufgrund der verhältnismäßig großen Reichweite "COMPACTs" besteht die Gefahr, dass das Magazin zu gesellschaftlichen Verwerfungen und zur politischen Destabilisierung in Deutschland beitragen kann. Um dem entgegen zu treten muss die Reichweite des extremistischen Magazins minimiert werden. Die Löschung des TikTok-Kanals der "COMPACT-Magazin GmbH" auf Anregung des Verfassungsschutzes Brandenburg ist dabei nur ein erster Schritt.264 "COMPACT" erzielt erhebliche Einnahmen aus dem Verkauf des Magazins sowie aus Werbeinnahmen etwa bei YouTube und Spenden. Solange diese Geldeinnahmen bestehen, wird das Magazin seine Reichweite zur Verbreitung von Hassbotschaften weiter nutzen können. 262 Vgl. COMPACT 11/2023, S. 3. 263 Vgl. u. a. You Tube: "03.10.2023 Gera Tag der deutschen Freiheit" (letzter Zugriff: 27.2.2024). 264 Vgl. Verfassungsschutz Brandenburg: "TikTok setzt COMPACT vor die Tür", https://mik.brandenburg.de/mik/de/start/service/presse/pressemitteilungen/detail-pm-und-meldungen/~21-02-2023-tiktok-setzt-compact-vor-die-tuer (letzter Zugriff 20.3.2023). 81 3.7 Parteiunabhängige Strukturen 3: Kameradschaften Sitz / Verbreitung In Brandenburg existiert im Jahr 2023 eine Kameradschaft, welche im nördlichen Brandenburg agiert. Gründung / Bestehen Kameradschaften entstanden als Reaktion auf Verbote rechtsextremistischer Organisationen in den 1990er Jahren. Rechtsextremisten glaubten, dass sie sich durch diese Art der Zusammenschlüsse einem vereinsrechtlichen Verbotsverfahren entziehen könnten. Struktur / Repräsentanten Der Wirkungskreis von Kameradschaften ist für gewöhnlich lokal oder regional begrenzt. Oft spiegelt sich dies in der Namensgebung wider. Innerhalb der Kameradschaften besteht eine Übereinkunft zu gemeinsamem politischem Aktivismus auf der Basis rechtsextremistischer Grundorientierung. Ihre Binnenstrukturen sind in der Regel streng hierarchisch aufgebaut. Letztlich ist das Selbstverständnis der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP), die sich nie nur als Partei, sondern immer auch als Bewegung verstanden hat, das historische Vorbild für Kameradschaften. Personenpotenzial: Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Rechtsextremistische Kameradschaften haben noch ca. 30 Mitglieder im Land Brandenburg. Kurzportrait / Ziele Bei Kameradschaften handelt es sich um Gruppierungen, die insbesondere auf lokaler Ebene agieren. Überwiegend treten sie durch Teilnahme an regionalen oder überregionalen ausländerfeindlichen Veranstaltungen und Demonstrationen in Erscheinung. Bisweilen sind sie in die Organisation und Durchführung rechtsextremistischer Musikveranstaltungen eingebunden. Ihr Auftreten ist aktionsund erlebnisorientiert. Rechtsbrüche werden billigend in Kauf genommen, beziehungsweise bewusst angestrebt. Finanzierung Kameradschaften finanzieren sich in erster Linie aus sich selbst heraus, beispielsweise durch Mitgliedsbeiträge. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Kameradschaften bekennen sich zur nationalsozialistischen Weltanschauung und zeichnen sich durch die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt aus. Sie überhöhen sich als "politische Soldaten". Vermeintlich Fremde und auch politische Gegner gelten als Feinde, denen das Existenzrecht abgesprochen wird. Damit wird Gewalt gegen diese legitimiert. Ideologische Grundlage ist ein rassenbiologisch geprägtes, völkisches Menschenbild und die Vorstellung einer antipluralistischen Gesellschaft sowie eines autoritären Staates. Kameradschaften huldigen nationalsozialistischen Gallionsfiguren wie Horst Wessel und Rudolf Heß. Sie glorifizieren NS-Organisationen wie die Wehrmacht sowie die Waffen-SS und führen Traditionen aus der Zeit des Nationalsozialismus fort. Insbesondere begehen sie "Szene"-Feiertage, die sie als "Heldengedenktage" missdeuten. Die Szene feiert beispielsweise Hitlers Geburtstag. 82 Entwicklungen im Berichtszeitraum "Kameradschaft Märkisch Oder Barnim" (KMOB) Die "Kameradschaft Märkisch Oder Barnim" (KMOB) ist in Bad Freienwalde (MOL) verortet. Sie verfügt dort über eine Liegenschaft, welche als Treffort für Szeneveranstaltungen dient.265 Bereits 2010 verkündete die Gruppierung ihre Selbstauflösung. Allerdings sind seither weiterhin Aktivitäten feststellbar. Dabei spielt innere Betriebsamkeit eine wichtigere Rolle als Aktionen mit Außenwirkung. Bewusst nutzten die Mitglieder 2014 das Parteienprivileg des Grundgesetzes, um einem möglichen Verbot zu entgehen. Sie traten geschlossen in die Partei "DIE RECHTE" ein und bildeten den "Kreisverband Märkisch-OderlandBarnim". Auf diese Weise konnten sie ihr Label KMOB beibehalten. Zum 31. Januar 2018 verließen die Mitglieder dann geschlossen wieder die Partei. Seither führt KMOB ihren selbsterklärten "Kampf um Deutschland" und gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung erneut als Kameradschaft fort. Trotz dieser Ankündigung sind öffentliche Auftritte der KMOB auch im Jahr 2023 nicht bekannt geworden. Bewertung / Ausblick Das antiquierte Konzept "Kameradschaft" hat in den vergangenen Jahren für brandenburgische Rechtsextremisten massiv an Bedeutung verloren. Öffentliche Aktionen und Auftritte finden quasi nicht mehr statt. Nur noch wenige Akteure verfolgen das Konzept und bekennen sich zu den kaum anschlussfähigen Strukturen. Diese alten Kameradschaften finden kaum noch einen Platz zwischen den streng hierarchisch organisierten Bruderschaften, den eher informellen Netzwerken und den weitgehend lose organisierten "Freien Kräften", die bewusst auf Strukturen verzichten. Häufig sind es bereits jahrzehntelang aktive Mitglieder, die an der Struktur festhalten, ohne dabei noch Anspruch auf Mobilisierungen oder Breitenwirkung zu entfalten. Unattraktiv sind herkömmliche Kameradschaften unter anderem aufgrund ihrer nicht vorhandenen Anschlussfähigkeit selbst innerhalb der rechtsextremistischen Szene, ihrer Nichtpräsenz in den sozialen Medien und ihrer geringen Ausstrahlung. Staatliche Repressionen und Vereinsverbote haben zudem Wirkung gezeigt. Andere Organisationsformen - insbesondere im Spektrum der "Neuen Rechten" - haben aufgrund ihres jugendaffinen Auftretens eine höhere Anziehungskraft auf heranwachsende Rechtsextremisten. 265 Für weiterführende Informationen zu Immobilien der rechtsextremistischen Szene siehe Kap. 3.13. 83 3.8 Parteiunabhängige Strukturen 4: Freie Kräfte Sitz / Verbreitung "Freie Kräfte" sind ausschließlich im nordwestlichen Brandenburg vertreten. Gründung / Bestehen Mitte der 1990er Jahre entwickelten Neonationalsozialisten das Konzept der "Freien Kräfte" als Reaktion auf zahlreiche auch gegen rechtsextremistische Kameradschaften gerichtete Vereinsverbote. Struktur / Repräsentanten Angehörige "Freier Kräfte" nutzen diese Organisationsform insbesondere, um sich von rechtsextremistischen Parteistrukturen oder eher hierarchisch organisierten Kameradschaften abzugrenzen. Eine Organisationshierarchie mit zentraler Führungsebene wird von "Freien Kräften" bewusst abgelehnt. Untereinander sind "Freie Kräfte" gut vernetzt. Der Begriff kommt bei Neonationalsozialisten zunehmend nur noch unverbindlich zur Anwendung, um das eigene parteiungebundene Konzept zu verdeutlichen. Personenpotenzial: Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Rechtsextremistische "Freie Kräfte" haben noch etwa 15 Mitglieder im Land Brandenburg. Kurzportrait / Ziele Als "Freie Kräfte" bezeichnen sich Neonationalsozialisten, die sich bewusst außerhalb von rechtsextremistischen Parteien, Vereinen und anderen festen Strukturen wie Kameradschaften verorten. Sie sind in der Regel lokal organisiert, rekrutieren neue Mitglieder über lokale Themen, die sie aktionsund erlebnisorientiert vermarkten. Rechtsbrüche werden billigend in Kauf genommen, beziehungsweise bewusst angestrebt. Finanzierung Die Finanzierung erfolgt teilweise durch Mitgliedsbeiträge. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit "Freie Kräfte" sind neonationalsozialistisch orientiert und gewaltbereit. Vermeintlich Fremde und politische Gegner gelten als Feinde, denen das Existenzrecht abgesprochen wird. Damit wird Gewalt gegen Personen legitimiert. Die ideologische Grundlage ist ein rassenbiologisch geprägtes, völkisches Menschenbild und die Vorstellung einer antipluralistischen Gesellschaft sowie eines autoritären Staates. Darüber hinaus glorifizieren sie wie rechtsextremistische Kameradschaften nationalsozialistische Verbrecher. Entwicklungen im Berichtszeitraum Im Berichtsjahr 2023 sind nur noch die "Freien Kräfte Neuruppin/Osthavelland" aktiv. "Freie Kräfte Neuruppin/Osthavelland" (FKN/O) Die 2009 gegründeten "Freie Kräfte Neuruppin/Osthavelland" (FKN/O) sind mit rund 15 Mitgliedern noch immer eine aktive rechtsextremistische Gruppierung im Nordwesten des Landes Brandenburg. Seit über 14 Jahren sind sie fest in der neonationalsozialistischen Szene der Landkreise Ostprignitz-Ruppin und Havelland verankert. Die Gruppierung ist im Internet aktiv, organisiert eigene Aktionen und nimmt an 84 überregionalen rechtsextremistischen Veranstaltungen teil. Die "FKN/O" sind mit dem weitgehend unstrukturierten Personenpotenzial der regionalen rechtsextremistischen Szene eng verzahnt.266 Eigene Veranstaltungen haben die "FKN/O" 2023 nicht organisiert. Im Laufe des Jahres 2023 hielten sich selbst die Aktivitäten auf der Facebook-Seite 2023 auf einem niedrigen Niveau. Die Themenfelder umfassten die Flüchtlingspolitik und Aufrufe zur Teilnahme für rechtsextremistische Demonstrationsveranstaltungen. Mehrfach wurde sich zudem geschichtsrevisionistisch geäußert. So wurde am 17. August 2023 ein Post aus Anlass des Todes von Rudolf Hess eingestellt, der diesen als ermordeten Friedensaktivisten verklärt.267 Die veröffentlichten Beiträge konnten jedoch kein nennenswertes Kommentaraufkommen generieren. In der Gesamtbewertung sind 2023 nur sporadisch und anlassbezogene Aktivitäten der "Freien Kräfte" festzustellen. Bewertung / Ausblick Die "Freien Kräfte" waren in Brandenburg zuletzt wenig innovativ in ihren Aktionsformen. Es handelt sich um ein organisatorisches Auslaufmodell. Dies wird dadurch deutlich, dass nach der formellen Selbstauflösung der "Freien Kräfte Prignitz" (FKP) im Jahr 2020 keine Neugruppierungen und strukturellen Fortführungsbestrebungen in der Organisationsform "Freie Kräfte" erfolgten. Ein signifikanter Anstieg der Aktivitäten ist im kommenden Jahr nicht zu erwarten. Dennoch gilt es weiterhin zu beobachten, ob und inwieweit "Freie Kräfte" ihre extremistischen Aktivitäten wieder verstärken beziehungsweise in andere Strukturen verlagern. 266 Für weiterführende Informationen zum "weitgehend unstrukturierten Personenpotenzial" siehe Kapitel 3.12. 267 Vgl. Facebookseite Freie Kräfte Neuruppin, (letzter Zugriff am 15.12.2023). 85 3.9 Parteiunabhängige Strukturen 5: Bruderschaften Sitz / Verbreitung Bruderschaften sind verteilt im gesamten Land Brandenburg vertreten. Bisweilen verfügen Bruderschaften über Immobilien, die für interne Treffen und Feierlichkeiten genutzt werden. Gründung / Bestehen Das Phänomen rechtsextremistischer Bruderschaften ist nicht neu. Bereits 1982 gründete sich beispielsweise in Ostberlin die rockerähnliche Gruppierung "Vandalen - Ariogermanische Kampfgemeinschaft". Die "Vandalen" sind bis heute in die rechtsextremistische Musikszene eingebunden. Bruderschaften sind wie eine "Outlaw Motorcycle Gang" (OMCG)268 organisiert und ähneln durch das einheitliche Tragen von Kutten im Auftreten klassischen Rockerclubs. In den vergangenen Jahren traten rechtsextremistische Bruderschaften verstärkt in Erscheinung. Damit werden anscheinend nach und nach die eher rückläufigen Organisationsmodelle "Freie Kräfte" und "Kameradschaft" abgelöst. Struktur / Repräsentanten In Bruderschaften ahmen Rechtsextremisten den klassischen Rocker-Lifestyle nach. Mitglieder tragen bei Szeneveranstaltungen Lederkutten mit entsprechenden Symbolen und Schriftzügen. Häufig werden die hierarchischen Strukturen der Rocker-Clubs übernommen. So haben beispielsweise einige rechtsextremistische Bruderschaften wie die "Barnimer Freundschaft" die rockertypische Unterscheidung in "Prospects" (Anwärter) und "Fullmember" (Vollmitglieder) übernommen. Rituale, Sprachcodes, Symbole, Outfits und Strukturen werden demnach kopiert. Personenpotenzial: Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Bruderschaften verfügen über etwa 85 Mitglieder in Brandenburg. Kurzportrait / Ziele Ziel der Rechtsextremisten ist es, durch die Bildung rockerähnlicher Clans einen vermeintlich elitären Zirkel zu schaffen. Die Aufnahme als Mitglied auf Probe und der Aufstieg zum Vollmitglied sind häufig mit festen Ritualen verbunden. Auf diese Weise soll eine verschworene Gemeinschaft von "Brüdern" geschaffen werden, die sich auch rein äußerlich durch das Tragen einer Art Vereinsuniform abgrenzt. Die strengen Hierarchien und klaren Regeln der "OMCG" passen hervorragend zu den autoritären Führerfantasien mancher Rechtsextremisten. Das martialische Auftreten und die kameradschaftlich-brüderliche Verbundenheit der Rocker fügen sich in die Welt von Neonationalsozialisten ein. Rechtsextremistische Bruderschaften meiden in der Regel öffentliche Auftritte. Kutten und sonstige Erkennungsmerkmale werden meistens nur bei internen Veranstaltungen und Konzerten getragen. Im Gegensatz zu "OMCG" verzichten Bruderschaften somit auf öffentliche Machtdemonstrationen. Dies mag zum einen daran liegen, dass es vielen Gruppierungen schlichtweg an Masse mangelt. Zum anderen treibt rechtsextremistische Bruderschaften die Sorge um, durch ihre Uniformierung zu leicht als "Verein" identifiziert und damit Gegenstand vereinsrechtlicher Exekutivmaßnahmen zu werden. Daher haben Bruderschaften bisher kaum öffentliche, politische Aktionen umgesetzt. Die Gemeinschaft soll voll und ganz im Zentrum stehen. Eine gefestigte Ideologie, beziehungsweise gezielte Meinungsäußerungen zu speziellen Themen, wie man es von vielen "Freien Kräften" oder Kameradschaften kennt, sind nachrangig. Die Bruderschaften wollen vornehmlich nach innen wirken, weniger nach außen. 268 Als "Outlaw Motorcycle Gang" (OMCG) werden in erster Linie polizeilich relevante Rockergruppierungen bezeichnet. Vgl. auch: Homepage Bundeskriminalamt: "Unsere Aufgaben, Deliktsbereiche, Rockerkriminalität" (letzter Zugriff am 24.02.2022). 86 Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Mitglieder rechtsextremistischer Bruderschaften vertreten vorrangig nationalsozialistische Positionen. Szene-Musik ist von besonderer Bedeutung. Sie dient der Rekrutierung und dem Ideologietransfer. Besonders bei rechtsextremistischen Musikveranstaltungen werden menschenverachtende Liedtexte gesungen, die bei öffentlichen Veranstaltungen gelegentlich und bei im Geheimen stattfindenden Konzerten nahezu immer mit offenen Bekundungen zum Nationalsozialismus wie "Sieg Heil"oder "Heil Hitler"-Rufen einhergehen. Die Mitglieder von Bruderschaften nehmen insbesondere an rechtsextremistischen Veranstaltungen mit Erlebnischarakter (beispielsweise Konzerte, Liederabende oder Clubabende) teil. Entwicklungen im Berichtszeitraum Folgende Bruderschaften waren für den Berichtszeitraum 2023 im Land Brandenburg von Bedeutung: "AO Strausberg" (AO SRB) Die Gruppierung "AO Strausberg" umfasst etwa zehn Rechtsextremisten aus der Region Strausberg (MOL), die nach dem Verbot der "ANSDAPO" ("Alternative Nationale Strausberger Dart-, Piercingund Tattoo-Offensive") im Jahr 2005 von einigen ehemaligen Mitgliedern gegründet wurde. Das Clubhaus befindet sich in Strausberg. Unter anderem führt die Gruppe hier Szeneveranstaltungen wie Feiern und Liederabende durch. Gute Kontakte hält die "AO Strausberg" zu rechtsextremistischen Gruppierungen wie der "Barnimer Freundschaft", der "Bruderschaft H8" und den "Vandalen" (Berlin). Die Aktivitäten beschränken sich in der Regel auf den regionalen Raum sowie auf Szeneund Privatveranstaltungen. Öffentliche Auftritte bleiben nach wie vor selten. Im Jahr 2023 sind weiterhin keine öffentlich wahrnehmbaren Aktivitäten bekannt geworden. "Barnimer Freundschaft" (BF25) Die "Barnimer Freundschaft" (BF25) ist ein Personenzusammenschluss von etwa zehn Rechtsextremisten aus der Region Bernau (BAR). Das Clubhaus der "Barnimer Freundschaft" befindet sich in Wandlitz (OT-Klosterfelde, BAR). Die Gruppierung pflegt gute Kontakte zu den rechtsextremistischen Gruppierungen "Northsidecrew", "AO Strausberg", "Bruderschaft H8", "Turonen"/ "Garde 20" (Thüringen), "Vandalen" (Berlin) sowie zu den regionalen Strukturen der Partei "Die Heimat" (ehemals NPD) im Raum Barnim und Berlin. Die "BF25" besteht seit etwa 2006. Die Finanzierung wird vermutlich durch Mitgliedsbeiträge und Erlöse aus Szeneveranstaltungen (zum Beispiel für Aktivitäten im Security-Bereich) sichergestellt. An rechtsextremistisch geprägten Veranstaltungen nehmen Mitglieder als Gruppe erkennbar teil. Sie setzen sich durch ihre Lederkutten mit aufgenähten Logos, die uniformähnlich sind, in Szene. Einzelne Mitglieder der "BF25" zeigen zudem Interesse an Kampfsport. So wurde beispielsweise im Jahr 2020 eine Veranstaltung im Rahmen des rechtsextremistischen "Kampfes der Nibelungen" in Firmenräumen eines führenden Mitglieds der "BF25" ausgerichtet. Im Jahr 2023 fanden keine öffentlich wahrnehmbaren Aktivitäten der Gruppierung statt. 87 "Bruderschaft H8" (H8) Die "Bruderschaft H8" ist eine Gruppierung von etwa zehn Rechtsextremisten aus der Region Strausberg (MOL), die nach dem Verbot der "ANSDAPO" von einigen ehemaligen Mitgliedern gegründet wurde. Zu rechtsextremistischen Gruppierungen wie der "Barnimer Freundschaft", den "Vandalen" (Berlin) und den "Turonen"/ "Garde 20" (Thüringen) bestehen gute Kontakte. Die "H8" finanziert sich vermutlich aus Mitgliedsbeiträgen. Sie verfügt über kein bekanntes Clubhaus. Die Aktivitäten beschränken sich in der Regel auf den regionalen Raum und auf Szeneveranstaltungen. Politische Aktivitäten oder öffentliche Auftritte der Mitglieder waren im Jahr 2023 nicht feststellbar. "Brigade 8 - Chapter Spreewald" (B8) Die ursprünglich in Schleswig-Holstein gegründete "Brigade 8" verfügt bundesweit über regionale "Chapter". Seit 2017 existiert das "Chapter Spreewald" in Brandenburg. Es besteht aus mehr als 15 Mitgliedern, welche hauptsächlich aus der Region Cottbus sowie aus Frankfurt (Oder) stammen. Aufgrund polizeilicher Maßnahmen im Jahr 2021 gingen die Aktivitäten in den vergangenen Jahren deutlich zurück. Vermutlich mit dem Ziel, weitere behördliche Aufmerksamkeit von ihrem Clubsowie Wohnhaus eines Mitgliedes in Neupetershain (OSL) abzulenken. Zudem ist die "Brigade 8 - Chapter Spreewald" bemüht, eine neue Immobilie für größere Szeneveranstaltungen zu etablieren. "Hammerskin-Nation" (HSN) Die "Hammerskin-Nation" (HSN) ist eine international agierende Organisation, die Ende der 1980er Jahre in den USA gegründet wurde und sich als Elite der rechtsextremistischen Skinhead-Szene versteht. Aktivitäten in Deutschland sind seit Anfang der 1990er Jahre bekannt. Die "HNS" ist der rechtsextremistischen Musikszene zugehörig und organisiert Konzerte. Ideologisch wird das Ziel verfolgt, die "weiße Rasse" zu beschützen und alle rechtsextremistischen weißen Skinheads weltweit zu vereinigen. Ihr Symbol der gekreuzten Zimmermannshämmer vor einem Zahnrad steht für die "weiße Arbeiterklasse", die sich dem rassistischen Leitsatz der Bewegung des US-amerikanischen Rechtsextremisten David Lane verpflichtet sieht. Lanes "14 words" lauten: "We must secure the existence of our people and a future for white children".269 Das ideologische Hauptziel ist die "Reinhaltung der weißen Rasse". In Brandenburg existierte bereits seit 2012 die "Crew 38 Brandenburg" als "HNS""Supporter-Gruppierung". 2017 stieg die "Crew 38" zu einem vollwertigen "HNS"-Mitglied auf. Die Gruppierung durfte sich seitdem "Hammerskin-Chapter Brandenburg" nennen sowie die "Hammerskin"-Symbolik tragen. Das Chapter konnte dadurch weitere Kontakte zu rechtsextremistischen Organisationen, Bands und Personen in Deutschland, Europa und vor allem in den USA aufnehmen. Das "Hammerskin-Chapter Brandenburg" umfasst etwa zehn Mitglieder. Die nutzten in den vergangenen Jahren einen Kleingarten in Rathenow (HVL) sowie ein Privatgrundstück eines Angehörigen der "Hammerskins" in Gransee (OHV). Für größere Events werden unauffällige und neutrale Objekte angemietet. Das Bundesministerium des Innern und für Heimat hat den Verein "Hammerskins Deutschland" einschließlich des regionalen Chapter "Brandenburg" und die Teilorganisation "Crew 38" am 19. September 2023 verboten. Im Rahmen des Verbotes wurden mehrere Objekte in Brandenburg durchsucht. Das Vereinsvermögen, Devotionalien und andere vom Verbot betroffene Gegenstände wurden sichergestellt beziehungsweise beschlagnahmt. 269 "Wir müssen die Existenz unseres Volkes und eine Zukunft für unsere weißen Kinder sichern". 88 "Kameradschaft Kommando Werwolf" (KSKW) Die "Kameradschaft Kommando Werwolf" (KSKW) rekrutiert sich schwerpunktmäßig aus dem rechtsextremistischen Milieu in Frankfurt (Oder) und Beeskow (LOS). Vermutlich gründete sich die "KSKW" im Jahr 2010. Ihre Aktivitäten beschränken sich seither auf den regionalen Raum und auf Szeneveranstaltungen. Engere Kontakte und Kennverhältnisse bestehen zur "Barnimer Freundschaft", "Brigade 8", "Bruderschaft H8" und "AO Strausberg". Ein wichtiges Betätigungsfeld der Gruppe sind rechtsextremistische Musikveranstaltungen. Zudem unterhält die "KSKW" Beziehungen zu den rechtsextremistischen Bands "Feuer Frei", "Frontfeuer" und "Projekt 8.8". Die "KSKW" gehört trotz des Namens "Kameradschaft" zu den rechtsextremistischen Bruderschaften. Auffälliger Weise tragen ihre Mitglieder bei Szeneveranstaltungen die für Bruderschaften typischen Lederkutten mit entsprechenden Symbolen und Schriftzügen. In den vergangenen Jahren versuchte die "KSKW" rechtsextremistische Konzerte durchzuführen. Über ein eigenes Szeneobjekt verfügt die Gruppierung seit dem Jahr 2020 nicht mehr. Politische Aktivitäten oder öffentliche Auftritte der Mitglieder waren im Jahr 2023 nicht feststellbar. "Märkische Skinheads 88" (MS88) Die "Märkischen Skinheads 88" (MS88) sind seit 2011 bekannt. Sie stammen aus der Region Oberhavel. Die etwa zehn Mitglieder umfassende Gruppierung ist an der Organisation und Durchführung von szenetypischen Musikveranstaltungen (wie zum Beispiel der "Whisky & Rebellen"-Musiktour) beteiligt. Die "MS88" haben Kontakte zu anderen rechtsextremistischen Gruppen. Dazu zählen unter anderem die "Barnimer Freundschaft", die "Northsidecrew" und die rechtsextremistischen Bands "Hausmannskost", "D.S.T." (Berlin) sowie "Helle & die RAC'ker" (MV). Zudem pflegen die "MS88" Umgang zu rechtsextremistischen Liedermachern wie "Helle" (MV) und zu Szene-Vertrieben wie "Rebel Records" in Cottbus. Darüber hinaus existieren Verbindungen zu den "Velten Skinheads" und "Die Heimat" (ehemals NPD). Die "MS88" finanzieren sich vermutlich durch die Organisation rechtsextremistischer Konzerte und Liederabende. Politische Aktivitäten oder öffentliche Auftritte der Mitglieder waren im Jahr 2023 nicht feststellbar. "Wolfsschar Brandenburg" Die Bruderschaft "Wolfsschar" wurde nach eigenen Angaben im Juni 2021 gegründet. Sie ist in die Chapter "Magdeburg", "Berlin" und "Brandenburg" unterteilt. Dem Chapter "Brandenburg" mit Sitz in Frankfurt (Oder) gehören etwa zehn Personen an. Die "Wolfsschar Brandenburg" besteht vornehmlich aus Mitgliedern und Unterstützern der rechtsextremistischen Partei "Die Heimat" (ehemals NPD). Im November 2022 ermittelte der Staatsschutz Frankfurt (Oder) gegen Mitglieder der Bruderschaft "Wolfsschar" wegen des Verdachts der Volksverhetzung sowie des Landfriedensbruchs. Am 11. Februar 2023 reisten Mitglieder der "Bruderschaft Wolfsschar" nach Budapest zur Gedenkveranstaltung "Tag der Ehre", die von ungarischen Behörden im Vorfeld verboten wurde. Die "Wolfsschar Brandenburg" erzeugt durch ihr uniformiertes Auftreten in Form von bedruckten T-Shirts bei Veranstaltungen eine öffentliche Wahrnehmbarkeit. Sie versucht seit ihrer Gründung rechtsextremistisches und rassistisches Gedankengut in den öffentlichen Diskurs einzubringen. Die Ideologie ist überwiegend von der rechtsextremistischen Partei "Die Heimat" (ehemals NPD) geprägt. Bewertung / Ausblick Bruderschaften werden weiterhin ihren festen Platz in der rechtsextremistischen Szene des Landes Brandenburg einnehmen, da sich diese Organisationsstruktur etabliert und für die Szene bewährt hat. Scheinbar haben die klassischen Rocker-Clubs wie "Hells Angels" oder "Gremium MC" kein Problem mit dem 89 Auftreten der Neonationalsozialisten in Kutten. Zukünftig werden Bruderschaften in der rechtsextremistischen Szene weiter und verstärkt mitmischen, insbesondere bei der Organisation von rechtsextremistischen Rockkonzerten sowie als Personal in Security-Firmen bei Veranstaltungen. 90 3.10 Parteiunabhängige Strukturen 6: Kampfsportgruppen Sitz / Verbreitung Rechtsextremistische Kampfsportgruppen sind in Brandenburg überwiegend im Süden vertreten. Gründung / Bestehen Rechtsextremistische Kampfsportgruppierung in Brandenburg sind seit 2008 bekannt. Das Phänomen wurde im Verfassungsschutzverbund erstmalig durch den Verfassungsschutz Brandenburg beschrieben. Struktur / Repräsentanten Anhänger rechtsextremistischer Kampfsportgruppierungen sind häufig der Fußballhooliganszene und dem Kampfsport-, Securityund Türstehermilieu zuzuordnen. Außerdem gibt es Überschneidungen mit Rocker-Gruppen. Personenpotenzial: Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Rechtsextremistischen Kampfsportgruppen in Brandenburg werden etwa 125 Mitglieder, beziehungsweise Anhänger, zugerechnet. Kurzportrait / Ziele Im rechtsextremistischen Weltbild hat die Vorbereitung auf einen "Endkampf" und den "Tag X" eine besondere Bedeutung. Die Ausübung von Kampfsport entspricht der Überzeugung, sich für den angestrebten Zusammenbruch der staatlichen Ordnung zu wappnen und ist somit Ausdruck einer aggressiv-kämpferischen Haltung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Rechtsextremisten beschwören dabei vermeintliche soldatische Tugenden, wie "Härte", "Unerbittlichkeit", "Selbstüberwindung" und "Wehrhaftigkeit". Sie erheben sich über alle Menschen, die sie als minderwertige Volksfeinde ausmachen und denen sie Angst einflößen wollen. Die vermeintlich rassische Überlegenheit spiegelt sich im nationalsozialistischen Zerrbild des Übermenschen wider. Ein vermeintlicher "Volksgesundungsgedanke" spielt in der Ideenwelt der Rechtsextremisten eine besondere Rolle. Dies äußert sich unter anderem in einer zunehmenden Orientierung an gesunder Ernährung, Bioprodukten bis hin zu einer "Straight Edge"-Lebensweise270; was wiederum Anschluss an Teile der Gesellschaft und Jugendkulturen ermöglicht. Finanzierung Rechtsextremistische Kampfsportgruppierungen finanzieren sich durch Mitgliedsbeiträge, Sponsoring und der Organisation von Szeneveranstaltungen. Zusätzliche Einnahmen werden mit Security-Einsätzen und Tätigkeiten im Türsteher-Milieu erworben. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Neben körperlicher Fitness verbinden Rechtsextremisten den Kampfsport ideologisch mit neonationalsozialistischen, rassistischen, fremdenfeindlichen und antisemitischen Positionen. Hinzu kommt ein hohes Gewaltpotenzial. Um das rechtsextremistische Verständnis von "Männlichkeit" in diesem Kontext zu vermitteln, werden Selbstüberwindung, Härte, Disziplin und Kampfbereitschaft als identitätsstiftende Tugenden des "politischen Soldaten" propagiert. Der "Kampf" wird als ständige Lebensart einer "deutschen Rasse" betrachtet, über den die Zukunftsfähigkeit des deutschen Volkes gesichert werden soll. Entwicklungen im Berichtszeitraum 270 "Straight Edge" ist ein Lebensstil ohne Alkohol, Zigaretten und sonstige Drogen. 91 Black Legion / "Kampfgemeinschaft Cottbus" Die "Kampfgemeinschaft Cottbus" ist eine lose Gruppierung von Rechtsextremisten aus dem gewaltbereiten Hooligan-, Kampfsport-, Securityund Türstehermilieu. Die Mitglieder stammen überwiegend aus Cottbus und dem Landkreis Spree-Neiße. Die Gruppierung besteht aus mehr als 100 Personen. Sie entwickelte sich in Cottbus und Umgebung zum Sammelbecken für Rechtsextremisten mit hohem Gewaltpotenzial. Nach der Auflösung von "Inferno Cottbus" Mitte 2017 suchten deren führende Akteure neue Betätigungsfelder und vertieften ihre schon vorhandene Allianz mit den teilweise aus dem Türsteherund Securitymilieu stammenden Protagonisten des rechtsextremistischen Labels "Black Legion". Bilder und Texte der "Kampfgemeinschaft Cottbus" werden über dieses Bekleidungslabel veröffentlicht. Kampfund Kraftsport stehen bei den rechtsextremistischen Akteuren für Wehrhaftigkeit sowie für den Kampf gegen den politischen Gegner und dienen zusätzlich der Rekrutierung. Die Gruppierung konzentriert sich im Hintergrund auf die Ausdehnung der Szene sowie auf die wirtschaftliche Verfestigung in der Region. Szenemitglieder betreiben daher einige gastronomische Betriebe. Zudem sind sie insbesondere im Sicherheitsgewerbe aktiv. Im Mai 2023 waren mehrere Personen, die der rechtsextremen Kampfsportszene in Brandenburg zugerechnet werden, bei der "European Fight Night" (EFN) in Budapest und betrieben einen eigenen Verkaufsstand. Northsidecrew Die "Northsidecrew" (NSC) ist ein rechtsextremistischer Kampfsportverein mit knapp 20 Mitgliedern. Die Kampfsportgruppe verfügt inzwischen mit Lübben (LDS) und Gröden (EE) über zwei Ableger. Neben der bekannten ehemaligen Diskothek "Players" in Lübben (LDS) betreibt die "NSC" in Gröden (EE) ebenfalls eigene Trainingsund Clubräume. Die "NSC" ist in der regionalen rechtsextremistischen Szene Südbrandenburgs besonders mit der rechtsextremistischen Fußballhooligan-Szene vernetzt. Zudem hält sie Kontakte zu den Bruderschaften "Barnimer Freundschaft" und "Märkische Skinheads 88". Weiterhin verfügt sie über gute Kontakte in die europäische rechtsextremistische Kampfsportszene. Der Verein führt in unterschiedlichen Abständen SzeneVeranstaltungen mit mehreren Dutzend Teilnehmern in seinen Trainingsräumen durch. Durch die Gründung des "NSC"-Ablegers in Gröden (EE) und der damit einhergehenden Etablierung einer weiteren Szene-Immobilie rücken die rechtsextremistischen Szenen Südbrandenburgs und Nordsachsens noch enger zusammen. Mitglieder der "NSC" nahmen im Februar 2023 am "Tag der Ehre" in Budapest teil. Die jährlich stattfindende Veranstaltung wird maßgeblich von Angehörigen des ungarischen "Blood & Honour"-Netzwerkes organisiert. Beim Aufmarsch wird gefallenen ungarischen und deutschen Soldaten gedacht, die bei der Befreiung von Budapest 1945 gefallen sind. Insbesondere der positive Bezug auf die Waffen-SS und deren Glorifizierung nimmt eine bedeutende Rolle ein. An der "European Fight Night" im Mai 2023 in Budapest nahm ein Mitglied der "NSC" als Kämpfer teil. Bewertung / Ausblick "Kämpfe ohne Regeln" sind grundsätzlich dazu geeignet, Gewalt zu enthemmen. "Tag X"-Phantasien und Vorstellungen eines vermeintlichen "Volkstodes" können insbesondere in dieser Szene zum aggressiven Handlungsdruck bis hin zu schweren Straftaten führen. So kann das Aggressionspotenzial von Rechtsextremisten, die in körperlicher Auseinandersetzung geschult sind, sich zunehmend erhöhen. Ferner nut92 zen Rechtsextremisten den Kampfsport als Rekrutierungsfeld für Jugendliche. Das konsequente behördliche Einschreiten gegen rechtsextremistische Kampfsportveranstaltungen sowohl im Inland als auch im benachbarten Ausland führte in den vergangenen Jahren zu einer Resignation und Verunsicherung der Szene. Diese Entwicklung könnte künftig dazu führen, dass die Szene längere Fahrstrecken für entsprechende Veranstaltungen in Kauf nehmen wird, da die Gefahr von Verboten im Inland oder in Grenznähe zu groß erscheint. Im Ausland glauben sich die Akteure sicherer vor Verboten und Exekutivmaßnahmen des Staates. 93 3.11 Weitgehend unstrukturiertes Personenpotenzial Sitz / Verbreitung Das weitgehend unstrukturierte Personenpotenzial ist im gesamten Land Brandenburg verbreitet. Personenpotenzial: Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Zum Personenpotenzial werden insgesamt 1.660 Personen in Brandenburg gezählt. Kurzportrait / Ziele Das weitgehend unstrukturierte rechtsextremistische Personenpotenzial ist in der Zusammensetzung sehr heterogen und bildet folglich keine geschlossene Szene. Hierunter fallen alle organisationsungebundenen Rechtsextremisten, wie zum Beispiel subkulturell geprägte Rechtsextremisten, Gewalttäter, Internet-Aktivisten, rechtsextremistische Skinheads, regelmäßige Besucher von rechtsextremistischen Demonstrationen oder Konzerten sowie Personen in informellen Kleinstgruppen, die bislang keine Außenwirkung entfalten konnten. Hinzu kommen Personen, die nicht mehr für eine rechtsextremistische Gruppierung aktiv sind, die sich zugleich aber nicht von ihrer Gesinnung gelöst haben. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Personen, die dem weitgehend unstrukturierten Personenpotenzial zugeordnet werden, sind zumeist wiederholt durch rechtsextremistische (Gewalt-)Straftaten oder durch die Teilnahme an rechtsextremistischen Veranstaltungen, wie Szenekonzerten und Demonstrationen, in Erscheinung getreten. Personen, die im Internet durch fremdenfeindliche, menschenverachtende und rassistische Äußerungen auffallen oder sich offen zum Nationalsozialismus bekennen, werden ebenfalls erfasst. Aus Sicht der Sicherheitsbehörden geht vom weitgehend unstrukturierten Personenpotenzial eine besondere Bedrohung aus, da Personen aus diesem Spektrum überproportional häufig (Gewalt-)Straftaten begehen. Die fehlende Anbindung an feste Strukturen erschwert die Beobachtung. Eine hohe anlassbezogene Handlungsdynamik ist kennzeichnend. Das weitgehend unstrukturierte Personenpotenzial ist ein Nährboden für allein handelnde Täter ("lone-actor terrorist"). Entwicklungen im Berichtszeitraum Anhaltend hohe Zahlen bei politisch motivierten (Gewalt-)Straftaten, rechtsextremistisch beeinflusste Demonstrationen sowie rechtsextremistische Äußerungen in sozialen Netzwerken ließen das Personenpotenzial im weitgehend unstrukturierten Rechtsextremismus in den vergangenen Jahren kontinuierlich ansteigen, so auch 2023. Rechtsextremistische Verschwörungsfantasien und Bedrohungsszenarien dienen als Narrative, mit denen sich verschiedene rechtsextremistische Ideologien und Feindbilder verknüpfen lassen. Veranstaltungen gegen geplante Flüchtlingsunterkünfte sowie Proteste gegen Migrationszuzug bildeten 2023 für das weitgehend unstrukturierte rechtsextremistische Personenpotenzial thematisch die Basis. Diese Proteste boten zugleich Anknüpfungspunkte zu parteigebundenen Rechtsextremisten. Hervorzuheben sind unter anderem die von der Kleinstpartei "DER DRITTE WEG"271 organisierten Aktivitäten, an denen sich neben Rechtsextremisten des weitgehend unstrukturierten Personenpotenzials auch Protagonisten der "Freien Kräfte Neuruppin/Osthavelland" (FKN/O) und der aufgelösten "Freien Kräfte Prignitz" (FKP) beteiligt haben.272 So konnte sich der "DER DRITTE WEG" bei seiner am 21. Januar 2023 in Pritzwalk (Prignitz) abgehaltenen Kundgebung auf dieses Klientel stützen. 271 Für weiterführende Informationen zur Kleinstpartei "DER DRITTE WEG" siehe Kapitel 3.1. 272 Kundgebung am 21.01.2023 in Pritzwalk. 94 Bewertung / Ausblick Das Internet bietet Rechtsextremisten, die dem weitgehend unstrukturierten Personenpotenzial zugerechnet werden, eine offene und kaum zu kontrollierende Bühne für menschenverachtende, antisemitische und rassistische Hass-Kommentare. Solche Formen der Onlineradikalisierung bergen die große Gefahr, rechtsextremistische Gewaltphantasien real werden zu lassen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen, mit Blick auf Migrationsbewegungen, dem anhaltenden Ukraine-Russland-Krieg und dem aufgeflammten Gaza-Konflikt, ist davon auszugehen, dass das unstrukturierte Personenpotenzial genügend Themen zur Radikalisierung finden wird. Zudem muss damit gerechnet werden, dass das weitgehend unstrukturierte Personenpotenzial in den kommenden Jahren weiterhin kontinuierlich ansteigen wird und zunehmend eine zerfaserte, heterogene Bewegung darstellt. Unabhängig davon werden Teile des unstrukturierten Personenpotenzials in Brandenburg wie schon in der Vergangenheit auch weiterhin durch rechtsextremistische Konzerte und Großveranstaltungen lose in der Szene gehalten. 95 3.12 Rechtsextremistische Hassmusik Sitz / Verbreitung Rechtsextremistische Hassmusiker sind vor allem im Süden und im Osten des Landes Brandenburg vertreten. Gründung / Bestehen Die Musikszene besteht seit den 1990er-Jahren. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer 26 Bands (2022: 25) 13 Liedermacher (2022: 14) Kurzportrait / Ziele Rechtsextremistische Musik ist das verbindende und identitätsstiftende Element der Szene. Sie ist häufig der erste Berührungspunkt Jugendlicher mit dem Rechtsextremismus. Dabei dient die Musik als Vehikel, um das Gedankengut zu transportieren. Die verschiedenen Versatzstücke der Ideologie werden in der Musik in griffigen Parolen und Slogans verpackt. Die Bandbreite der Liedtexte ist entsprechend groß. Sie reicht von antisemitischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Inhalten über germanische Mythologie bis hin zu antidemokratischer und systemfeindlicher Agitation und der Verherrlichung des NS-Regimes. Musik ist Teil einer rechtsextremistischen Erlebniswelt und dient der ideologischen Orientierung ihrer meist jungen Hörer. Von Liedermachern und Rap-Versuchen abgesehen, wird überwiegend Skinheadmusik und Rechtsrock gespielt. Insbesondere die zumeist konspirativ vorbereiteten und durchgeführten Konzerte haben eine immense Bedeutung für den inneren Zusammenhalt der Szene. Der Musik fällt damit eine gemeinschaftsstiftende Funktion zu. Sie hat sich als probates Lockmittel erwiesen, um neue Anhänger an das rechtsextremistische Weltbild heranzuführen. Zudem sind rechtsextremistische Musikveranstaltungen und der Handel mit Tonträgern sowie Devotionalien gute Möglichkeiten, Geld für den politischen Kampf einzunehmen. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Musik von Rechtsextremisten dient der Verherrlichung von Gewalt sowie des Nationalsozialismus. Bands sowie Liedermacher verbreiten - teils offen, teils verdeckt - rechtsextremistische, antisemitische sowie fremdenfeindliche Propaganda. Die Musiker hetzen zudem gegen politische Gegner und stacheln zu Gewalt an. Auf Konzerten kommt es immer wieder zu strafbaren Handlungen. Oft werden verbotene nationalsozialistische Parolen gerufen oder der verbotene Hitler-Gruß gezeigt. Rechtsextremistische Musik ist somit gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet. Entwicklungen im Berichtszeitraum Wie vom brandenburgischen Verfassungsschutz erwartet, nahmen die Aktivitäten der rechtsextremistischen Musikszene nach dem Ende der Pandemie und den damit einhergehenden Schutzmaßnahmen wieder spürbar zu. Dieses gilt für das Jahr 2023 insbesondere für Musikveranstaltungen. Die Zahlen der rechtsextremistischen Bands und Liedermacher blieben indes nahezu unverändert. Im Jahr 2023 wurden in Brandenburg 26 Bands (2022: 25, 2021: 24) und 13 Liedermacher (2022: 14, 2021: 19) gezählt. Hierbei handelt es sich um folgende Akteure: Rechtsextremistische Bands: 1. Aryan Brotherhood (A.B.); Potsdam 2. Barbaren; LOS 3. Burn Down; Potsdam 96 4. Confident of Victory (C.O.V.) und S.U.D. (Sturm und Drang) sowie das Projekt UNSAID; OSL 5. Frontalkraft (FK); Cottbus 6. Frontfeuer; LOS 7. Feuer Frei; ohne regionale Zuordnung, einige Bandmitglieder kommen aus LOS 8. Handstreich inklusive Bandprojekte Natürlich und Motivation; Potsdam 9. Hausmannskost (HMK); Cottbus 10. Lost Souls; Potsdam 11. Macht und Ehre; HVL, (Neuaufnahme 2023 / Zuzug aus einem anderen Bundesland) 12. Old School Rockerz (Old School Rockers); BAR 13. Projekt 8.8; LOS 14. Raritäten; BAR, vormals Exempel 15. Resolut; LOS 16. Skrew You; LOS 17. SPN-S; SPN, kurzzeitig Unbeugsam 18. Spreewehr; ohne regionale Zuordnung 19. Stahlhelm; TF 20. Stonehammer; LOS 21. Sons of Odin; LOS 22. Sturm & Stille; OHV 23. Skindogs; LOS 24. Uwocaust und Helfershelfer beziehungsweise Uwocaust und RAConquista inklusive Bandprojekt Blutrein; Potsdam, vormals Uwocaust und alte Freunde 25. Wutbürger; BAR 26. Volkstroi; LOS, (Wiederaufnahme) Von der nachfolgenden Band wurden im Jahr 2023 keine Aktivitäten festgestellt: Drag Pipes Brotherhood; OHV, Rechtsextremistische Liedermacher: 1. AK -Solingen 47; Cottbus (Wiederaufnahme für 2023) 2. Andy Habermann (Frontmann der Band Wutbürger); BAR 3. Bloody 32; Cottbus 4. Brenner; SPN 5. Fylgien; UM 6. Griffin; LOS 7. ICMEK; OHV 8. Martin; Potsdam 9. Der M.; Frankfurt (Oder) 10. Sten; Cottbus 11. Thomas; OSL (Neuaufnahme für 2023) 12. Type; andere Schreibweisen Thype oder TyPe; EE 13. Varghona; OHV Von den nachfolgenden Liedermachern wurden im Jahr 2023 keine Aktivitäten festgestellt: Erik; OSL, Paul (teilweise Bartender IB); Cottbus, Son of the Wind (S.o.W.); BAR 97 Durch den Wegfall der Beschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie stiegen Konzertaktivitäten der rechtsextremistischen Szene im Jahr 2023 stark an. So konnten im Land Brandenburg sieben Konzerte (2022: 2, 2021: 2) durchgeführt werden. Zwei Konzerte wurden im Vorfeld verhindert (2022: 1, 2021: 0). Darüber hinaus wurde, wie in den vorrangegangenen Jahren, vermehrt auf private Veranstaltungen ausgewichen. Szenekonzerte 2023 im Land Brandenburg 4. März Forst (SPN): bis zu 130 Teilnehmer; "Brigade 8 - Chapter Spreewald" war Organisator; Auftritt mehrerer Liedermacher, wie zum Beispiel "Type" (EE), sowie Bands 3. Juni Forst (SPN): "Brigade 8 - Chapter Spreewald" war erneut Organisator; Auftritt mehrerer Liedermacher, wie der thüringische Liedermacher "Hoffnungsträger", sowie Bands 8. Juli Eisenhüttenstadt (LOS): bis zu 50 Teilnehmer; Ausrichterin Bruderschaft "Wolfsschar"; Auftritt der sächsischen Bands "Thematik 25" und "Volksnah" 9. September Gröditsch (LDS): Black Metal Konzert (Überschneidungen zur NS-Black MetalSzene) 16. September Forst (SPN): Polizei verhinderte im Vorfeld Konzert; "Brigade 8 - Chapter Spreewald" war der Organisator; Band "Kategorie C" (Niedersachsen) und der Liedermacher "Hoffnungsträger" (Thüringen) sollten auftreten; circa 60 Teilnehmer waren bereits angereist; am selben Abend Ersatz-Konzert in Sachsen mit der der Band "Kategorie C" vor knapp 60 Teilnehmern 20. Oktober Forst (SPN): etwa 100 Teilnehmer; Auftritt der regionalen Bands "SPN/S" (SPN), "Hausmannskost" (Cottbus) und "Spreewehr" 21. Oktober Fürstenwalde (LOS): ein Konzert wurde im Vorfeld untersagt und somit verhindert 2. Dezember Lauchhammer (OSL): rund 130 Teilnehmer; Konzertorganisation von Personen mit Bezügen zur Partei "Die Heimat"; Auftritt der Band "Uwocaust" (Potsdam) sowie einer Band aus Sachsen 29. Dezember Hönow (MOL): etwa 100 Teilnehmer; Organisation durch "Junge Alternative Brandenburg" sowie das Musiklabel "Sub Version Production"; Auftritt mehrerer Liedermacher, wie zum Beispiel Andy Habermann (BAR) Szenetypische Liederabende 2023 im Land Brandenburg Eine vergleichbare Entwicklung wie bei den Konzerten ist 2023 auch bei den Liederabenden festzustellen gewesen. So wurden insgesamt neun Liederabende im Jahr 2023 in Brandenburg durchgeführt (2022: 4, 2021: 3). Zudem konnte ein Liederabend verhindert werden. 21. Januar Cottbus: 30 Teilnehmer in der "Mühle"; Auftritt des Rappers "Bloody 32" (Cottbus) 27. Januar Landkreis Oberhavel: Organisatoren örtliche Rechtsextremisten; Auftritt eines Liedermachers 15. April Kutzerow (UM): Auftritt Liedermacher "Hoffnungsträger" (Thüringen) 98 22. April Heinersbrück (SPN): Organisatorin "Brigade 8 - Chapter Spreewald"; polizeilich untersagt; geplante Auftritte von Liedermacher "Varghona" (OHV), "Eidstreu" (Sachsen-Anhalt) und "Sonderkommando Elbe" (Sachsen) 6. Mai Lauchhammer (OSL): Organisatoren "Junge Nationalisten" von der Partei "Die Heimat" im Rahmen des "JN-Erlebnistags in Süd-Brandenburg"; Auftritt von vier Liedermachern; Teilnahme des Vertriebs "OPOS Records" (Lindenau, OSL) war ebenso angekündigt 3. Juni Land Brandenburg: Auftritt Liedermacher "Visionär" (Sachsen-Anhalt) 22. Juli Grünewald (OSL): bis zu 80 Teilnehmer; Organisation durch Personen mit Bezug zur Partei "Die Heimat" beziehungsweise deren Jugendverband "Junge Nationalisten"; Auftritt Liedermacher "Kavalier" (Sachsen) 5. September Lauchhammer (OSL): Organisation durch Personen mit Bezug zur Partei "Die Heimat" beziehungsweise deren Jugendverband "Junge Nationalisten" 16. September Wittenberge (PR): Auftritt mehrerer Liedermacher 49. Kalenderwoche Land Brandenburg: Auftritt einer Liedermacherin Szenetypische Feiern 2023 im Land Brandenburg Wie bereits in den Vorjahren fanden neben "klassischen" rechtsextremistischen Musikformaten wie Konzerten und Liederabenden erneut szenetypische Feiern273 mit musikalischer "Untermalung" statt. 2023 wurden insgesamt 19 (2022: 9, 2021: 8) entsprechende Ereignisse registriert. Dazu können folgende Angaben gemacht werden: 14. Januar Landkreis Oberspreewald-Lausitz: Neujahrsempfang regionaler Akteure der Partei "Die Heimat" beziehungsweise ihres Jugendverbands "Junge Nationalisten"; Auftritt Liedermacher "Kavalier" (Sachsen) Februar Südbrandenburg: Auftritt Band "SPN-S" (SPN) Februar Landkreis Märkisch-Oderland: bis zu 40 Teilnehmer; unter anderem Auftritt Band "Resolut" (LOS) 36. Kalenderwoche (Wochenende) bei Prenzlau (UM): Geburtstagsfeier für einen 95-Jährigen und Feier zum 20-jährigen Bestehen einer Kameradschaft; Auftritt Liedermacher Frank Rennicke (Bayern). 2. Oktober Alt Krüssow (PR): Wahlkampfveranstaltung Partei "DER DRITTE WEG"; Auftritt Liedermacherin "Varghona" (OHV) sowie Liedermacher "FreilichFrei" (Sachsen) November Havelland: Auftritt unter anderem eines Liedermachers aus Mecklenburg-Vorpommern 273 Das Veranstaltungsformat "szenetypische Feier" mit Live-Musik entspricht dann nicht einem Konzert, wenn wesentliche Elemente einer kommerziellen Veranstaltung fehlen. 99 Dezember Land Brandenburg: Auftritt regionaler Band bei Feier der "AO Strausberg" 30. Dezember Südbrandenburg: Jahresabschlussfeier der Partei "Die Heimat" mit Liedermacher "Thomas" (OSL) 30./31. Dezember Bereich Eisenhüttenstadt (LOS): Feier der "Wolfsschar" mit Liedermacher "Hoffnungsträger" (Thüringen) Musikveranstaltungen 2023 außerhalb Brandenburgs mit Beteiligung brandenburgischer Bands und Liedermacher 4. Februar Hoyerswerda (Sachsen): Geburtstagsfeier eines Cottbuser Rechtsextremisten mit Auftritt mehrerer Bands, darunter "Hausmannskost" (Cottbus) 18. Februar Halle (Sachsen-Anhalt): Auftritt Liedermacher "Type" (EE) mit "Bronso" (SachsenAnhalt); paralleler Mitschnitt der CD "Bronso & Type Live in Halle/Saale Balladenabend 18.02.2023" 23. September Italien: mehrere hundert Teilnehmer; Liedermacher Griffin (LOS) trat bei Konzert zur Erinnerung an den 30 Jahre zuvor verstorbenen Rechtsextremisten Ian Stuart Donaldson274 auf 3./4. November: Band "Hausmannskost" (Cottbus) trat in Portugal vor bis zu 500 Teilnehmern auf Tonträger Die Produktion neuer Tonträger (einschließlich der Beteiligung an Tonträgern anderer Bands und an CDSamplern) lag im Jahr 2023 mit 14 Veröffentlichungen (2022: 16, 2021: 16) etwas unter dem Niveau der Vorjahre. Lfd. Nr. Bandname / LiederTitel Art Hersteller macher 1 Aryan Brotherhood Weiße Kraft CD OPOS Records (Lindenau, OSL) 2 Confident of Victory Löwengleich CD OPOS Records (Lindenau, OSL) 3 Bloody 32 Die frühen Jahre Kapitel 2 CD Sub Version Production (Cottbus) 274 Verschiedene Gruppierungen der "Blood & Honour-Bewegung" sowie der rechtsextremistischen Musikszene organisieren jährlich im Zusammenhang mit dem Todestag von Donaldson Memorialkonzerte. Vor dem Hintergrund, dass die "Blood & Honour Division Deutschland" im September 2000 verboten wurde, weil sich die Aktivitäten der Organisation gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung richteten, finden derartige Konzerte zumeist nicht in Deutschland statt. Donaldson war Kopf der englischen White-Power-Band "Skrewdriver" und ist bis heute für viele Rechtsextremisten ein Idol. Seine Texte handelten unter anderem vom vermeintlichen Überlebenskampf der "weißen Rasse". Donaldsons rechtsextremistisches Erbe sowie der Gedanke von "Blood & Honour" werden von Rechtsextremisten weiterhin gelebt. Obwohl die Wenigsten von ihnen Ian Stuart live erlebt haben dürften. 100 4 Blutrein Ahnenkampf CD PC Records (Chemnitz, Sachsen) 5 Frontalkraft Ab heute frei CD Rebel Records (Cottbus) 6 Raritäten Reiht Euch ein CD ONE-EIGHT-VERSAND (Höchstberg, RheinlandPfalz) 7 Type Geh immer deinen Weg CD Heimdall Versand (Wittenberg, Sachsen-Anhalt) 8 Volkstroi Die Rote / unvergessen CD Eigenproduktion 9 Bronso & Type (SplitLive in Halle/Saale BallaCD Eigenproduktion CD) denabend 18.02.2023 10 Hass schürender Lärm Hass schürender Lärm Vol. CD Das Zeughaus (Apolda, Vol. 4 ( Sampler, u.a. 4 Thüringen) mit Macht & Ehre) 11 Der Osten rockt gegen Der Osten rockt gegen CD Rebel Records (Cottbus) Kommunismus Live - Kommunismus Live - Grüsse aus dem GastGrüsse aus dem Gasthof hof Staupitz (Sampler, Staupitz u.a. Hausmannskost und Frontfeuer) 12 Europa in Waffen Europa in Waffen III. Weg Materialvertrieb ( Sampler, u.a. mit (Weidenthal, RheinlandSons of Odin) Pfalz) 13 Ahnenblut Barrikade OPOS Records (Lin(unterstützt von Stan denau, OSL) von Frontalkraft) 14 P.O.R.N.O.275 Stadt ohne Lichter Oldschool Records (Bad (u.a. mit Beteiligung Grönenbach, BY) von Uwocaust) Produktion und Vertrieb von Tonträgern erfolgen meist über rechtsextremistische Musiklabels. Sie stellen Aufnahmetechnik zur Verfügung und verkaufen Tonträger über das Internet und in Geschäften. Wie in den letzten Jahren waren "One People One Struggle Records" (OPOS Records) in Lindenau (OSL), "Rebel Records" mit dem Laden "The Devils Right Hand Store" in Cottbus sowie das ebenfalls in Cottbus ansässige Label "Sub Version Production" für die brandenburgische Szene 2023 wichtige Auflaufpunkte. Gleiches gilt für "PC Records" aus Chemnitz (Sachsen). Die Vertriebe versorgen die Szene regelmäßig mit neuer Ware, beispielsweise mit limitierten Sonderausgaben. So wurden 2023 bereits veröffentlichte CDs erneut als Schallplatten herausgebracht. Das gilt für den Tonträger "WUT" der Band "Barbaren" (LOS) sowie den Tonträger "SKINDOGS" der gleichnamigen Band aus dem Landkreis Oder-Spree. Folgende rechtsextremistische Vertriebsund Tonträgerproduktionsstrukturen waren 2023 im Land Brandenburg aktiv: Boxing Connection - Label 23, Cottbus: Textillabel 275 (P.atriotisch O.rientierte R.adikal N.onkonforme O.pposition). 101 Erik & Sons (Erik and Sons bzw. EAS Versand), Königs Wusterhausen (LDS): Textillabel ESE-Sound (ESE Sound Shop), Bremen und Cottbus: Vertrieb K.S. Versand (Knochensack), Steinhöfel (LOS): Vertrieb OPOS Records mit Textillabel "Greifvogel Wear", Lindenau (OSL): Label, Vertrieb Rebel Records und "18Vinyl" mit Textillabel "Black Legion Wear", Cottbus: Label, Vertrieb, Ladengeschäft Sub Version Production, Cottbus: Label, Vertrieb Die nachfolgenden Vertriebe haben ihre Aktivitäten eingestellt oder sind nicht mehr aufrufbar: Exzess Records, Strausberg (MOL): Label, Vertrieb Fourth Time Clothing Brand, Teltow (PM): Textillabel Superbolle, Bestensee (LDS): Vertrieb Bewertung / Ausblick Wie seitens des brandenburgischen Verfassungsschutzes erwartet wurde, sind die Zahlen für rechtsextremistische Konzerte, Liederabende sowie sonstiger Musikveranstaltungsformate nach Beendigung der Pandemie stark angestiegen. Diese Entwicklung ist damit zu erklären, dass innerhalb der Szene ein großer Nachholbedarf an derartigen Veranstaltungen besteht. Konzerte stärken nicht nur das "Gemeinschaftsgefühl" innerhalb der Szene, sondern spielen vor allem dringend benötigte Einnahmen für den "politischen Kampf" in die Kassen. Aus diesem Grund ist davon auszugehen, dass auch der Trend zur Produktion rechtsextremistischer Tonträger weiter anhalten wird. Gleichzeitig wird rechtsextremistische Szenemusik über das klassische neonationalsozialistisch geprägte Milieu hinaus immer anschlussfähiger. Insbesondere bei den Konzerten am 2. Dezember 2023 in Lauchhammer (OSL) sowie am 29. Dezember 2023 in Hönow (MOL) wurde die Vernetzung zwischen Neonationalsozialisten, rechtsextremistischen Vertriebsstrukturen sowie rechtsextremistischen Parteien deutlich. Mit Blick auf die Einwohnerzahl kommt aus Brandenburg noch immer die wohl umtriebigste rechtsextremistische Hassmusikszene Deutschlands. Die Zahl der Bands bewegt sich seit Jahren konstant auf hohem Niveau. Dies gilt auch für die Zahl der Liedermacher, auch wenn hier im Jahre 2023 ein weiterer Rückgang zu verzeichnen war. Nach wie vor ist die Gefahr des Verbots beziehungsweise der Auflösung von Konzerten durch die Polizei im Land Brandenburg hoch. Denn die Organisatoren müssen in solchen Fällen mit enormen Verlusten rechnen. Daher war in den vergangenen Jahren grundsätzlich ein Ausweichen auf andere Bundesländer sowie eine deutliche Zunahme von Liederabenden festzustellen. Sie sind mit weniger Aufwand vorzubereiten und durchzuführen. Die Gefahr finanzieller und materieller Verluste durch Verbote oder Veranstaltungsauflösungen ist hier deutlich geringer. 2023 wich die Szene noch stärker als in den Vorjahren auf kleinere und einfachere Feiern mit musikalischer Umrahmung von Liedermachern und Bands aus. Diese "szenetypischen Feiern" lassen sich unkomplizierter als Konzerte oder Liederabende durchführen und dürften deshalb auch zukünftig für die Szene von wachsender Bedeutung sein. Hinzu kommt im Land Brandenburg eine breit aufgestellte Label-Struktur, die beständig für TonträgerNachschub sorgt. Hier nimmt Brandenburg für die gesamte rechtsextremistische Szene Deutschlands weiterhin eine gefährliche Sonderrolle ein und bleibt mit seinen Bands, Liedermachern und Labels zentraler Taktgeber für das Hassmusikgeschehen. 102 3.13 Immobilien der rechtsextremistischen Szene Extremistische Aktivitäten, wie Feiern, Konzerte und Schulungen, erfordern Strukturen, Organisation und Räumlichkeiten. Vor allem gastronomische Einrichtungen, die für einen begrenzten Zeitraum ungestört genutzt werden können, sind begehrt. Diese werden jedoch nur in Ausnahmefällen für explizit rechtsextremistische Szenetreffen angemietet. Meist erfolgt die Anmietung unter Vorspiegelung falscher Tatsachen oder durch Personen, die aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes nicht als Szeneangehörige erkennbar sind. Vermeintlich "unpolitische" Veranstaltungen oder Geburtstagsfeiern entpuppen sich so erst im Nachgang als rechtsextremistisch. Im Zusammenhang mit solchen Veranstaltungen kommt es immer wieder zu Straftaten wie dem Verbreiten und Verwenden von Kennzeichen verbotener oder verfassungswidriger Organisationen (SSSS 86, 86a StGB). Für Vermieter, in deren Räumlichkeiten das geschieht, kann das einen erheblichen Imageschaden nach sich ziehen. Extremistische Aktivitäten gestalten sich in einer eigenen Immobilie deutlich leichter. Extremistische Parteien und Gruppierungen sind daher immer auf der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten oder Grundstücken, die sich möglichst im Eigentum eines Anhängers oder eines Sympathisanten befinden. Derartige Liegenschaften werden auch in einer Mischnutzung für Wohnzwecke und als politischer Anlaufpunkt genutzt. Immobilien der rechtsextremistischen Szene werden hier berücksichtigt, wenn Rechtsextremisten über eine uneingeschränkte grundsätzliche Zugriffsmöglichkeit verfügen, etwa in Form von Eigentum, Miete, Pacht (das heißt Eigentumsoder Besitzverhältnis) oder durch ein Kennund Vertrauensverhältnis zum Objektverantwortlichen. Ebenso müssen die Immobilien wiederkehrend politisch zielund zweckgerichtet durch Rechtsextremisten genutzt werden. Diese Kriterien sind bundesweit abgestimmt.276 Beim Erwerb von Immobilien verfolgen Extremisten oft das Ziel, ein "regionales Zentrum" zu bilden. So können Veranstaltungen, Parteitage und Ähnliches ohne größere Einschränkungen durchgeführt werden. Das gilt ebenso für die Herstellung und Verbreitung von Propagandamaterialien wie szenetypische Tonträger und Bekleidung. Im Land Brandenburg wurden im Jahr 2023 folgende Immobilien von Rechtsextremisten genutzt: Bad Freienwalde (Märkisch-Oderland) Der ehemalige Vorsitzende des mittlerweile aufgelösten Landesverbandes der rechtsextremistischen Kleinpartei "DIE RECHTE" besitzt in Bad Freienwalde (Märkisch-Oderland) ein Einfamilienhaus mit ausgebautem Nebengelass. Diese Räumlichkeit wird szeneintern als "Sturmlokal" bezeichnet. Es dient samt Grundstück der "Kameradschaft Märkisch Oder Barnim" als Treffort und wird für Szeneveranstaltungen genutzt. Bestensee (Dahme-Spreewald) Das rechtsextremistische Vertriebslabel "Superbolle" hat in Bestensee seinen Sitz. 276 Vgl. Deutscher Bundestag: Drucksache 19/10043 vom 09.05.2019, S. 2. 103 Brandenburg an der Havel, OT Kirchmöser Der völkisch-rechtsextremistische "Bund für Gotterkenntnis (Ludendorff) e.V." besitzt einen Vierseitenhof, der in unregelmäßigen Abständen als Liegenschaft für Szenetreffen, wie dem "Völkischen Maitanz" im Mai 2022, genutzt wird. Burg (Spree-Neiße) Nach dem Kauf eines Gastronomiebetriebes durch einen bekannten Rechtsextremisten wies der Verfassungsschutz Brandenburg bereits 2020 darauf hin, dass diese Immobilie besondere logistische Voraussetzungen für die Durchführung rechtsextremistischer Veranstaltungen bietet. Diese Nutzung findet nunmehr statt. So wurde die Lokalität 2022 für eine Veranstaltung von Akteuren aus dem Bereich der verfassungsschutzrelevanten Neuen Rechten zur Verfügung gestellt. Am 29. Oktober 2023 erfolgte die dauerhafte Schließung. Cottbus Die vorübergehend geschlossene "Mühle Cottbus" wurde auch 2023 als Veranstaltungsort von Vertretern des rechtsextremistischen Vereins "Zukunft Heimat" genutzt. Cottbus In Cottbus hat das rechtsextremistische Musiklabel "Rebel Records" seinen Sitz. Der Betreiber unterhält an derselben Adresse zudem den Szeneladen "The Devils Right Hand Store", in dem unter anderem die rechtsextremistische Bekleidung der Marke "Black Legion" verkauft wird. Forst (Lausitz) In Forst wurde ein Gewerbeobjekt durch Mitglieder der "Brigade 8" als Veranstaltungsort für Szeneveranstaltungen genutzt. Gröden (Elbe-Elster) Ein Ableger der rechtsextremistischen Kampfsportgruppierung "Northsidecrew" unterhält in Gröden (ElbeElster) Clubund Trainingsräume, die neben dem Kampfsporttraining für Szene-Veranstaltungen genutzt werden. Königs Wusterhausen (Dahme-Spreewald) Das rechtsextremistische Bekleidungslabel "Erik & Sons" hat in Königs Wusterhausen (Dahme-Spreewald) seinen Sitz und vertreibt von dort seine Bekleidung. 104 Lauchhammer (Oberspreewald-Lausitz) Die rechtsextremistische Jugendorganisation der Partei "DIE HEIMAT", die "Jungen Nationalisten" (JN), nutzen eine in Lauchhammer ansässige Gaststätte für Szeneveranstaltungen. Lindenau (Oberspreewald-Lausitz) Das rechtsextremistische Musiklabel "OPOS - Records" sitzt im selben Gebäude wie eine Gaststätte im Ort Lindenau (Oberspreewald-Lausitz). Beide Geschäfte werden von einem bekannten Rechtsextremisten geführt. Lübben (Dahme-Spreewald) Der rechtsextremistische Kickbox-Verein "Northsidecrew" unterhält in Lübben (Dahme-Spreewald) in der ehemaligen Diskothek "Players" seine Trainingsund Clubräume. Rathenow (Havelland) Bei der Liegenschaft in Rathenow (Havelland) handelt es sich um einen Kleingarten, der wiederholt durch die lokale rechtsextremistische Szene für Veranstaltungen, wie interne Feiern oder Liederabende, genutzt wird. Steinhöfel (Oder-Spree) In der Ortschaft Steinhöfel (Oder-Spree) hat der rechtsextremistische "Knochensack Versand" seinen Geschäftssitz. Strausberg (Märkisch-Oderland) In Strausberg (Märkisch-Oderland) betreibt die rechtsextremistische Gruppierung "AO Strausberg" einen Clubraum in einem Garagenkomplex, in welchem Szenefeiern und Clubabende veranstaltet werden. Wandlitz OT Klosterfelde (Barnim) Im Wandlitzer Ortsteil Klosterfelde (Barnim) unterhält die rechtsextremistische Gruppierung "Barnimer Freundschaft" ihr Clubhaus auf einem ehemaligen Industriegelände. Die Immobilie wird weiterhin für Szenefeiern und Clubabende genutzt. 105 4. Reichsbürger und Selbstverwalter 106 Sitz / Verbreitung Reichsbürger und Selbstverwalter sind bundesweit aktiv. Gründung / Bestehen 1985 wurde die erste "Kommissarische Reichsregierung" (KRR) in Berlin gegründet. In Brandenburg wurden seit dem Jahr 2000 immer wieder Gruppierungen aktiv. Struktur / Repräsentanten Das Spektrum ist strukturarm und heterogen. Neben aktuell sieben Hauptgruppierungen existieren in Brandenburg kleinere Personenzusammenschlüsse, regionale Netzwerke und Einzelpersonen. Die Szene wandelt sich ständig und organisiert sich immer wieder neu. Sie ist durch persönliche Kennverhältnisse mit zum Teil hoher Aktivitätsentfaltung im Internet gekennzeichnet. Es kommt regelmäßig zu Streitigkeiten und Zerwürfnissen, sodass sich Gruppierungen auflösen und neue, zum Teil Splittergruppen, entstehen. Somit unterliegt die Szene einer hohen Fluktuation. Eine übergeordnete, einheitliche Struktur, welcher eine größere Bedeutung zugemessen werden kann, ist nicht vorhanden. Personenpotenzial: Mitglieder / Anhänger / Unterstützer In Brandenburg gibt es rund 1.000 Anhänger, die mehrheitlich keiner festen Organisation angehören. Der starke Anstieg gegenüber dem Vorjahr (2022: 650) ist vor allem einer ressourcenintensiven Aufhellung des Dunkelfeldes geschuldet. Bei dem Milieu der Reichsbürger und Selbstverwalter handelt es sich überwiegend um Einzelpersonen und Angehörige örtlich loser Szenen. Rund zehn Prozent der Personen weisen Überschneidungen zum Rechtsextremismus auf. Sie sind insbesondere dort dem Rechtsextremismus zuzuordnen, wo sich Versatzstücke antisemitischer und nationalsozialistischer Denkmuster wiederfinden. Entwicklungen im Berichtszeitraum Die nachfolgenden Gruppierungen entfalteten regelmäßige - auch überregionale - Aktivitäten: Königreich Deutschland Vaterländischer Hilfsdienst (VHD) - Preußisches Institut - Bismarcks Erben - Ewiger Bund Indigenes Volk Germaniten Provinz Brandenburg - Freistaat Preußen Freistaat Preußen / Staatenbund Deutsches Reich Geeinte deutsche Völker und Stämme (verboten) Internationales Zentrum für Menschenrecht Veröffentlichungen In der Regel verfügen solche Gruppierungen über eigene Internetauftritte und bieten unter anderem Fantasiepapiere und teilweise Schriftsätze zum Download an. Daneben existieren Vernetzungsplattformen im Internet und ein vielfältiges Angebot an zumeist geschlossenen Foren in den sozialen Netzwerken. Einzelne Autoren und Autorenzusammenschlüsse aus dem verschwörungsideologischen Milieu veröffentlichen gezielt Monografien für Angehörige und Sympathisanten der Szene. Eine der Hauptveröffentlichungen ist "Die 'BRD-GmbH' oder zur völkerrechtlichen Situation in Deutschland und den sich daraus ergebenden Chancen für ein neues Deutschland". Verfasser ist ein Aktivist der verbotenen Gruppierung "Geeinte deutsche Völker und Stämme". Im Jahr 2023 stellte er das benannte Buch auch bei mindestens einer Reichsbürger-Veranstaltung im Land Brandenburg vor. 107 Kurzportrait / Ziele "Reichsbürger und Selbstverwalter" sind in ihrer heutigen Ausprägung ein relativ junges Phänomen. Eine Teilmenge vertritt revisionistische, antisemitische sowie ausländerfeindliche Ansichten und ist damit dem Rechtsextremismus zuzurechnen. Sie berufen sich auf den Fortbestand des Deutschen Reiches in unterschiedlichen Formen und eine angeblich fehlende Legitimation der Bundesrepublik Deutschland. Sie behaupten, Deutschland habe keine gültige Verfassung und sei damit als Staat nicht existent oder das Grundgesetz habe mit der Wiedervereinigung 1990 seine Gültigkeit verloren. Daraus folgern einige, dass alle Deutschen staatenlos seien. Daher fühlen sie sich auch nicht verpflichtet, den in der Bundesrepublik geltenden Gesetzen Folge zu leisten. Außerdem verneinen sie die Rechtmäßigkeit deutscher Gerichte und Verwaltungen. Die Bundesrepublik sei nur ein Unternehmen ("GmbH"), eine Scheinbehörde oder eine übergangsweise von den Alliierten eingesetzte Verwaltung. Selbstverwalter definieren beispielsweise ihre Wohnung, ihr Haus oder ihr Grundstück als souveränes Staatsgebiet, auf dem ihre eigene "Staatsordnung" gelte. Ihr Grundstück markieren sie mitunter durch eine (Grenz-)Linie und erfinden eigene "Staatswappen". Daher berufen sich Selbstverwalter in der Regel auf ein selbst definiertes Naturrecht, geben "Lebenderklärungen" ab und fühlen sich ebenso nicht an Gesetze gebunden. Sehr oft steckt der Versuch dahinter, sich Steuern, Bußgelder oder sonstiger finanzieller Verpflichtungen zu entledigen. Vorbild für diesen Teil der Szene sind die "Souveränen Bürger" (Sovereign Citizens) oder "Freemen" aus den USA. Ähnlich wie diese gründen "Selbstverwalter" seit einigen Jahren "Gemeinden", "Staaten" und andere Fantasiegebilde. "Reichsbürger und Selbstverwalter" sind zudem stark von Verschwörungsideologien beeinflusst. Das kann die Grundlage für weitergehende Radikalisierungsprozesse sein. Gerichte, Finanzämter, Polizei sowie andere Behörden werden seit Jahren in ihrer Arbeitsweise behindert. "Reichsbürger und Selbstverwalter" schrecken dabei nicht vor Einschüchterungsversuchen, Bedrohungen und Gewalt zurück. Seit Dezember 2016 wird das Milieu auf waffenrechtliche Erlaubnisse hin überprüft, um diese - wo immer möglich - zu entziehen und so den legalen Waffenbesitz in der Szene zu unterbinden. "Reichsbürger und Selbstverwalter" sind eine Bestrebung mit erheblichem Gewaltpotenzial und werden daher seitens des brandenburgischen Verfassungsschutzes mit besonderer Intensivität beobachtet. Diese Schwerpunktsetzung führte 2023 bei den "Reichsbürgern und Selbstverwaltern" unter anderem zu einer deutlichen Aufhellung des Dunkelfeldes. Finanzierung "Milieumanager"277 in der Szene der "Reichsbürger und Selbstverwalter" finanzieren sich insbesondere durch den Verkauf von Fantasiepapieren, Autokennzeichen sowie Büchern und bieten sowohl Seminare als auch Vorträge an. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Ideologie und Aktivitäten von "Reichsbürgern und Selbstverwaltern" richten sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung sowie den Bestand der Bundesrepublik Deutschland und sind somit verfassungsfeindlich. Für "Reichsbürger und Selbstverwalter" stellt die bestehende politische und soziale Ordnung etwas fundamental Schlechtes dar. Sie soll durch eine grundlegende Umwälzung zugunsten eines anderen Systems überwunden werden. "Reichsbürger und Selbstverwalter" sehen sich als Gefan277 Milieumanager sind Personen, die aus eigennützigen Zwecken ein Interesse daran haben, dass die Unterstützung für das politische System der Bundesrepublik nachlässt. Politische Krisensituationen sind ihre Geschäftsgrundlage. Sie suchen die Öffentlichkeit, halten Vorträge und schüren Ängste. Damit verdienen sie ihr Geld, denn sie verkaufen "Rechtsund Steuerberatung", Seminarplätze, Geldanlagen, Bücher, Zeitschriften und andere Medien. Zudem nutzen sie das Internet, um ihren Umsatz zu erhöhen. 108 gene oder Unterdrückte in einem ihnen fremden Feindstaat und verfolgen eine darauf ausgerichtete Widerstandsstrategie. Dazu gehört beispielsweise die Gründung von "Staatenbünden". Deren Fantasie-Verfassungen dokumentieren deutlich, wie fundamental dieses Milieu die freiheitliche demokratische Grundordnung ablehnt. Der extremistische Charakter von "Reichsbürgern und Selbstverwaltern" zeigt sich zudem in der Einstellung zur Gewalt. Die Androhung "reaktiver" Gewalt ist im Milieu weit verbreitet. Zudem zeigt sich eine große Affinität zu den verschiedensten Verschwörungsfantasien, zum Beispiel in Bezug auf die CoronaPandemie und den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Entwicklungen im Berichtszeitraum Strukturierte Organisationsformen: "Königreich Deutschland" Aufgrund seiner in den zurückliegenden Jahren starken Expansion hat sich das selbsternannte "Königreich Deutschland" (KRD) zu einer der größten und aufgrund seiner professionellen Medienarbeit zugleich zu einer der bekanntesten Gruppierungen innerhalb des Milieus der "Reichsbürger und Selbstverwalter" entwickelt. Die verfassungsfeindliche Ausrichtung der Gruppierung wurde bereits 2009 deutlich, als Peter Fitzek zunächst den Verein "NeuDeutschland" gründete. Er war der Vorläufer zum im Jahre 2012 ausgerufenen "Königreich Deutschland". Beide Strukturen standen beziehungsweise stehen unter Führung des selbsternannten Monarchen Peter Fitzek. Dieser zeigt sich offen im Umgang mit rechtsextremistischen Akteuren, verbreitet antisemitische Verschwörungserzählungen und ist vor allem am Geld seiner Anhänger interessiert. Neben dem Hauptsitz der Gruppierung in Lutherstadt Wittenberg (Sachen-Anhalt) verfügt das "KRD" mittlerweile über drei weitere Standorte in Sachsen. Hierbei handelt es sich um das Schloss Bärwalde im Landkreis Görlitz, das Wolfsgrüner Schlösschen im Erzgebirgskreis sowie das Kanzleilehngut Halsbrücke im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge. Zudem erwarb das "KRD" im Jahre 2023 noch einen Standort in Bad Lauterberg (Niedersachsen). Peter Fitzek und seine Anhänger haben mit ihrer Expansion in den zurückliegenden Jahren ihren Einflussbereich durchaus vergrößert. Eigenen Angaben zufolge zählte das "KRD" zum Ende des Berichtszeitraums etwa 5.800 "Staatszuund -angehörige". Hierbei ist jedoch zu beachten, dass das "KRD" voraussichtlich sämtliche Personen, die jemals an einer Veranstaltung der Gruppierung teilgenommen haben, in diese Zählung mit aufnimmt. Die Zahl der tatsächlichen Anhänger liegt demnach niedriger. Darüber hinaus behauptet das "KRD", über etwa 600 Betriebe zu verfügen, welche die Einnahmen für den Fantasiestaat generieren würden. Auch wenn diese Zahl zu hoch angesetzt sein dürfte, wird an dem Umstand, dass Handwerker und Dienstleistungsunternehmer ihre Firmen in das "KRD" "verlagern", deutlich, dass Peter Fitzeks leere Versprechungen, wie zum Beispiel die eines steuerfreien Staates, in solchen Kreisen verfängt. Dieser Irrglaube kam 2023 einzelnen Gewerbetreibenden teuer zu stehen. So gingen die deutschen Behörden im März 2023 beispielsweise gegen eine seinerzeit im Land Brandenburg gemeldete Podologin vor, die ihre Dienste in ihrer Berliner Praxis gezielt Kunden des "KRD" anbot. Das "KRD" wird von den Verfassungsschutzbehörden beobachtet, weil die Gruppierung die Rechtsund Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland leugnet. Die gesellschaftspolitischen Vorstellungen des "KRD" stehen den im Grundgesetz verbrieften Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung klar entgegen. So gibt es in der absoluten Monarchie des "KRD" beispielsweise keine Gewaltteilung. Unmissverständlich heißt es in Artikel 10 der "KRD-Verfassung": Der auf Lebenszeit gewählte "König untersteht während seiner Amtszeit nicht der Gerichtsbarkeit."278 278 Vgl. Homepage Königreich Deutschland: Verfassung / Version 2021, ohne Datum (letzter Zugriff am 20.11.2023). 109 Das "KRD" zielt mit der Schaffung eigener pseudostaatlicher Parallelstrukturen darauf ab, für seine Anhänger eine Alternative zum Gesellschaftssystem der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik zu etablieren. Hierfür propagiert das "KRD" zum Beispiel ein eigenes "Staats"-Gebiet, eine eigene Verfassung, ein separates Bankenund Zahlungssystem mit der Pseudo-Währung "E-Mark" sowie ein "KRD"-spezifisches Einzelhandelsnetzwerk mit dem Online-Marktplatz "KadaRi" ("Kauf das Richtige"). Die Aufzählung belegt, dass es dem "KRD" - und vor allem dessen selbsternannten "Obersten Souverän" Peter Fitzek - neben der politischen Komponente insbesondere um das Geld seiner Anhänger geht. Die Haupteinnahmequellen zur Finanzierung der Strukturen und Aktivitäten des "KRD" sind einerseits Spenden und Vermögensübertragungen der Staatszuoder -angehörigen sowie andererseits hohe Seminargebühren und der Vertrieb kostenpflichtiger Vortragsveranstaltungen. Die dabei generierten Einnahmen investierte das "KRD" zuletzt vor allem in den Erwerb von Immobilien und landwirtschaftlich nutzbaren Flächen, um so das vermeintliche Staatsgebiet und den eigenen Einflussbereich zu vergrößern. Konkret sollen auf diese Weise sogenannte "Gemeinwohldörfer" des "KRD" entstehen, in denen die "KRD"-Anhänger autark siedeln und sich selbst versorgen. Um diese Vorstellung Realität werden zu lassen, wirbt das "KRD" gezielt um neue Anhänger und Investoren. Deren Anwerbung erfolgt zumeist über "Unternehmerseminare" oder Veranstaltungen, wie den regelmäßigen "Tagen der offenen Tür". Hiergegen gehen die bundesdeutschen Behörden konsequent vor. So wurde eine im September 2023 vom "KRD" angekündigte Jubiläumsveranstaltung am Standort Bärwalde (Sachsen) von der Gemeinde Boxberg wegen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit untersagt. Das KRD bewirbt sein Autarkieprojekt in Sachsen - auch in Lychen (UM) steht die Lebensmittelversorgung im Zentrum. 279 Auch in Brandenburg verdichteten sich seit Ende 2022 erste Erkenntnisse, denen zufolge das "KRD" in Lychen (OT Rutenberg, UM) Fuß fassen konnte. Ein "KRD"-Anhänger erwarb eine Hofanlage samt Scheune im Dorfkern. Des Weiteren versuchte das "KRD", im Rahmen seiner "Gemeinwohldorf"-Kampagne eine finanziell angeschlagene Genossenschaft in seinen Einflussbereich zu ziehen. Diese verfügt über rund 40 Hektar Land und entspricht damit den Investitionsprinzipien des "KRD", die darauf abzielen, sich Ländereien zur autarken Lebensmittelversorgung anzueignen. Allerdings gerieten diese Bemühungen 2023 offensichtlich ins Stocken. Gründe hierfür dürften unter anderem der starke zivilgesellschaftliche 279 Vgl. Homepage Königreich Deutschland: "Video: Das erste professionelle Autarkieprojekt im KRD", v. 1.6.2023 (letzter Zugriff am 20.11.2023). 110 Widerstand vor Ort sowie die umfangreiche Medienberichterstattung über die Entwicklungen in Lychen gewesen seien. Auch die frühzeitige Aufklärungsarbeit des Mobilen Beratungsteams des "Brandenburgischen Instituts für Gemeinwesenberatung - demos" sowie des brandenburgischen Verfassungsschutzes haben hierzu einen Beitrag geleistet. In Konsequenz des öffentlichen Drucks erklärten die Beteiligten der "Naturscheune" im Mai 2023 in einem "Statement", "die bisherige Art der Zusammenarbeit mit dem KRD [...] auszusetzen". Zugleich verzichteten sie aber auf eine vollständige Beendigung der Kooperation mit dem "KRD". Auch eine klare Distanzierung von der verfassungsfeindlichen Ausrichtung des "KRD" ließ die Stellungnahme vermissen. Der brandenburgische Verfassungsschutz konstatiert daher, dass das "KRD" weiterhin seine Bestrebungen in Lychen (Uckermark) verfolgen wird. Bestätigt wird diese Annahme unter anderem durch Äußerungen Peter Fitzeks. In einem ARD-Interview im Juli 2023 wurde dieser konkret nach seinen Plänen für Rutenberg (UM) befragt. Hierzu erklärte Peter Fitzek: "Meine Pläne für Rutenberg sind weiterhin, unser Angebot aufrecht zu erhalten, sodass die Menschen, wenn sie sich dazu bekennen wollen, entscheiden können: Jawoll, jetzt wollen wir es! Wenn sie es nicht wollen, habe ich Geduld und warte. Der Leidensdruck im System der wächst doch. Also arbeiten doch alle für mich, sage ich mir." 280 Wie oben dargestellt, ist das "KRD" auf die permanente Gewinnung neuer Einnahmequellen konzentriert. Abschließend wird daher nochmals darauf verwiesen, dass die Übernahme von Wirtschaftsbetrieben ein wesentlicher Baustein des "königlichen" Finanzierungsund Realisierungskonzeptes ausmacht. Das "KRD" wirbt offensiv um Gewerbetreibende mit der vermeintlichen Aussicht auf ein "steuerfreies Wirtschaftssystem", "verminderte Sozialabgaben" sowie ein "autarkes und geschlossenes zinsfreies Geldsystem". Bislang liegt in Brandenburg die Anzahl der "KRD"-Betriebe im niedrigen zweistelligen Bereich. So bekannte sich im August 2023 die Inhaberin einer Heilpraktiker Praxis in Golzow (Potsdam-Mittelmark) offen zu ihrer "KRD"-Angehörigkeit. Auch eine "Energietherapeutin" in Blankenfelde-Mahlow (Teltow-Fläming) weist auf ihrer Homepage darauf hin, dass "für die Dauer der Geschäftsbeziehung [...] eine temporäre Zugehörigkeit zum Gemeinwohlstaat Königreich Deutschland" bestehen würde und der Kunde/die Kundin damit die Verfassung, die Gesetze und die Gerichtsbarkeit des "KRD" nutzen würde, die bei rechtlichen Streitigkeiten erstrangig zu wählen seien. Hieran wird deutlich, dass das "KRD" seine Expansionsbestrebungen auch in Brandenburg weiter vorantreibt. Strukturierte Organisationsformen: "Vaterländischer Hilfsdienst" Wie alle Reichsbürgergruppierungen erkennt der "Vaterländische Hilfsdienst" (VHD), der zusätzlich unter den Bezeichnungen "Preußisches Institut", "Bismarcks Erben" und "Ewiger Bund" firmiert, weder die Bundesrepublik noch deren Exekutivbefugnisse an. Ziel von "Bismarcks Erben" ist die Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit des Deutschen Kaiserreiches im Rechtsstand vom 27. Oktober 1918. Die Gruppierung beabsichtigt somit die Errichtung eines monarchistischen Systems in Anlehnung an die Reichsverfassung. Ein solches System ist - insbesondere aufgrund der Stellung des Kaisers - nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar, weshalb der "VHD" eine extremistische Reichsbürgergruppierung darstellt. Gegründet wurde die Gruppierung "Bismarcks Erben" im Sommer 2018 von Sascha Hagemann aus Mecklenburg-Vorpommern. Sascha Hagemann hat die Funktion des "Generaldirektors" inne. Das wichtigste Element von "Bismarcks Erben" ist aktuell der "Vaterländische Hilfsdienst". Dieser wurde 2019 gegründet und stellt im engeren Sinne die aktive Gruppierung dar. Der "VHD" soll perspektivisch zur "Ausübung von Staatsgewalt" und als "Ordnungsmacht" eingesetzt werden.281 Dazu soll die Gruppierung eine 280 Vgl. Y-Kollektiv: Anwohner schlagen Alarm: Kein Reich! Kein König! Keine Sekte, v. 24.7.2023, aufrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=d9oH5DCBse8 (letzter Zugriff: 20.11.2023). 281 Vgl. Homepage Vaterländischer Hilfsdienst: "Broschüre - Vaterländischer Hilfsdienst / Leitfaden. Informationen. Gesetze.", S. 8, ohne Datum (letzter Zugriff am 20.11.2023). 111 eigene "Verwaltung" des Deutschen Reiches errichten, auf die sich ein in sein Amt zurückkehrender Kaiser stützen könnte. Zu diesem Zweck baut der "VHD" zunächst ein "Meldestellennetz" in Deutschland auf, durch welches sich deutsche Staatsangehörige vernetzen und ihre jeweiligen Gemeinden reorganisieren können. Um das politische System nach Vorbild des Kaiserreichs wiedererlangen zu können, ist Angaben des "VHDs" zufolge eine Reorganisation der Bundesstaaten vonnöten. Der "VHD" gliedert sich daher in insgesamt 24 "Armeekorpsbezirke", die sich geographisch an den historischen Armeekorpsbezirken von 1914 orientieren. Eine vom "VHD" im Internet veröffentlichte Karte zeigt diese Aufteilung und die jeweiligen Bezeichnungen mit römischen Ziffern. Der "III. Armeekorpsbezirk" betrifft dabei das Gebiet Berlin/Brandenburg.282 Die Mitgliederzahl des "VHD" lag im Jahre 2023 in Brandenburg im unteren bis mittleren zweistelligen Bereich. Während der "VHD" in seinen Anfangsjahren in Brandenburg zumeist nur durch das Verteilen von Broschüren und Flugblättern aufgefallen ist, kann für die zurückliegenden Jahre ein stetiger Zuwachs des Aktivitätsniveaus konstatiert werden. So fanden 2023 wieder regelmäßig realweltliche Treffen der "VHD"-Anhänger in Brandenburg statt. Der "III. Armeekorpsbezirk" ist dabei im bundesweiten Vergleich mittlerweile einer der aktivsten. Eigenen Angaben zufolge sollen 2023 in Brandenburg etwa zehn Treffen des "VHD" stattgefunden haben. Darunter waren mehrheitlich "Hilfsdiensttreffen", auf denen - teilweise unter Teilnahme des "Generaldirektors" Hagemann - organisatorische Angelegenheiten besprochen wurden. Zudem fanden seitens des selbsternannten III. Armeekorpsbezirks mehrere "Arbeitstreffen" in der Staatsbibliothek in Berlin statt. Ziel der dortigen Arbeitseinsätze war es, diverse Amtsblätter aus den Jahren 1914 bis 1918 zu digitalisieren. Laut "VHD" sei dies wichtig, da diese Amtsblätter den letzten gültigen Rechtsstand im Kriegsund Belagerungszustand im Deutschen Reich darlegen und somit als rechtliche Grundlage der Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit dienen würden. Hieran wird deutlich, dass insbesondere der "III. Armeekorpsbezirk" eine Führungsrolle innerhalb des "VHD" aufweist. 282 Vgl. Homepage Vaterländischer Hilfsdienst: "Die Armeekorpsbezirke", ohne Datum (letzter Zugriff am 20.11.2023). 112 Arbeitstreffen des "III. Armeekorpsbezirks" in der Staatsbibliothek 283 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass der "VHD" im Jahre 2023 für die ersten Folgen eines neuen Videoformats gezielt Aktivisten aus dem "III. Armeekorpsbezirk" ausgewählt hat. In den beiden Videos stellen zwei Personen aus Berlin und Brandenburg unter der Überschrift "Das Einsteigerprogramm" dar, wie sie ihren Weg zum "VHD" gefunden hätten. In der für den "VHD" typischen Ablehnung sämtlicher politischer Parteien erklärt im ersten Video eine männliche Person, aus Unzufriedenheit mit der "DVU" und "Die Heimat" (ehemals NPD) nun im "Vaterländischen Hilfsdienst" aktiv zu sein.284 Während die ideologische Nähe zwischen rechtsextremistischen Parteien und dem Reichsbürgermilieu durchaus bekannt ist, so überrascht das zweite Video des "Einsteigerprogramms" damit, dass der "VHD"-Anhänger erklärt, zuvor bei der "Antifa" aktiv gewesen zu sein.285 Unabhängig davon, wie glaubhaft die letzte Aussage tatsächlich ist, so muss dennoch festgestellt werden, dass der "VHD" 2023 eine der aktivsten Reichsbürgergruppierungen in Brandenburg darstellt. Strukturierte Organisationsformen: "Indigenes Volk Germaniten" Die Gruppierung "Indigenes Volk Germaniten" wird aufgrund ihrer Ideologie den Reichsbürgern zugerechnet. Die "Germaniten" übernehmen zum Teil deren Argumentation, insbesondere zur vermeintlichen Illegitimität der Bundesrepublik. Sie gehen aber nicht vom Fortbestehen des Deutschen Reiches aus. Vielmehr betrachten sie sich als indigenes Volk, weshalb sie ihren eigenen Staat gründen wollen. "Germaniten" sind bisher deutschlandweit vornehmlich dadurch auffällig geworden, dass sie die Arbeit von Gerichtsvollziehern behindern und Gerichtsverhandlungen gestört haben. In Brandenburg fiel die Gruppierung, die ihre Ursprünge in der Nähe von Stuttgart (Baden-Württemberg) hat, insbesondere durch den massenhaften Versand umfangreicher pseudojuristischer Schreiben an Behörden auf. Diese Schreiben sind inhaltlich von Verschwörungsideologien rund um eine ethnokulturelle Identität der selbsternannten "[Autochthonen] Nachfahren der germanischen Vorfahren" gekennzeichnet. 286 Auch wenn das Bundesverwaltungsgericht bereits im Mai 2017 eindeutig urteilte, dass es das vermeintliche "Indigene Volk Germaniten" nicht anerkennt und somit "die Inanspruchnahme von Sonderrechten für die Gruppierung und ihre Angehörigen nach internationalem oder nationalem Recht" ausgeschlossen ist287, agiert die Gruppierung weiterhin unter Bezugnahme auf genau diese vermeintlichen Rechte. In Brandenburg existiert mindestens eine "Mission", welche als eine Ortsgruppe der "Germaniten" angesehen werden kann. Die "Mission Potsdam" umfasst etwa zehn Mitglieder. Die weiteren brandenburgischen "Germaniten" sind demgegenüber lose organisiert. Im Berichtszeitraum wurde beobachtet, dass in einschlägigen Telegram-Gruppen bundesweit Vorträge der "Germaniten" angekündigt wurden - so auch in Brandenburg. Darüber hinaus war im Jahr 2023 in Brandenburg gegenüber den Vorjahren ein deutlicher Anstieg der oben erwähnten Schreiben an staatliche Stellen festzustellen. Hierbei war zu konstatieren, dass einige ehemalige Mitglieder der verbotenen Gruppierung "Geeinte deutsche Völker und Stämme" (GdVuSt) sich nun zu den "Germaniten" bekennen. Dieser Schritt ist damit zu erklären, dass die naturrechtlich geprägten Ideologiekonzepte der "Germaniten" und der "GdVuSt" beachtliche Parallelen aufweisen. 283 Vgl. Homepage Vaterländischer Hilfsdienst III. Ak.-Bezirk: "Aktuelle Meldungen im III. Ak.-Bezirk.", v. 17.2.2023 (letzter Zugriff am 20.11.2023). 284 Vgl. Homepage Vaterländischer Hilfsdienst: "Das Einsteigerprogramm", v. 1.7.2023 (letzter Zugriff am 20.11.2023). 285 Vgl. Homepage Vaterländischer Hilfsdienst: "Das Einsteigerprogramm Teil 2", v. 24.08.2023 (letzter Zugriff am 20.11.2023). 286 Vgl. Homepage Germaniten: "Geschichtlicher Hintergrund - Wo kommen wir her?", ohne Datum (letzter Zugriff am 20.11.2023). 287 Beck online: "BVerwG stellt klar: Keine Anerkennung eines "Indigenen Volkes Germaniten", v. 19.5.2017 (letzter Zugriff am 20.11.2023). 113 Strukturierte Organisationsformen: "Provinz Brandenburg - Freistaat Preußen / Stadtgemeinde Cottbus" Die Kleinstgruppierung "Provinz Brandenburg - Freistaat Preußen" mit Sitz in Cottbus, welche sich selbst in ihren Veröffentlichungen auch als "Stadtgemeinde Cottbus" bezeichnet, fällt regelmäßig mit revisionistischen und antisemitischen Schreiben auf. Diese Schreiben publiziert die Gruppierung zum einen auf ihrer eigenen Webseite. Zum anderen werden die Schreiben zahlreich an Verwaltungen des Landes und des Bundes versendet. So sind im Jahr 2023 eine Anzahl von Schreiben im unteren zweistelligen Bereich bekannt geworden. Empfänger waren unter anderem die brandenburgischen Landtagsabgeordneten, der Staatspräsident der Volksrepublik China oder die Gouverneure und Regierungen der Staaten von Amerika.288 Als ihren politischen Auftrag sieht die Gruppe "die Reorganisation der Provinz Brandenburg" an. 289 Ihre Zurechenbarkeit zum Milieu der "Reichsbürger und Selbstverwalter" wird unter anderem daran deutlich, dass die "Provinz Brandenburg" die Bundesrepublik Deutschland samt ihrer Verfassungsorgane ablehnt und stattdessen nach ihrer Einschätzung die "letzte völkerrechtskonform entstandene sowie zugleich humanitärste und fortschrittlichste Verfassung der Welt, nämlich die des Freistaats Preußen vom 30. November 1920"290 wieder einführen möchte. Die extremistische Ideologie der "Provinz Brandenburg" beziehungsweise der "Stadtgemeinde Cottbus" wird einerseits an der Verbreitung rechtsextremistischer Verschwörungstheorien, wie der eines angeblichen "Völkermords an den Deutschen", deutlich. Andererseits liegen aus dem Berichtzeitraum auch klare Belege für die Zuordnung zur Reichsbürgerszene vor. So richtete die Gruppierung beispielsweise im Mai 2023 eine "Petition an den Landtag, warum das Grundgesetz für die BRD, in Brandenburg keine Geltung" habe.291 Auch wenn der Personenzusammenschluss verhältnismäßig viele Schreiben in Umlauf bringt, so ist die Anzahl der Angehörigen im einstelligen Bereich zu verorten. Strukturierte Organisationsformen: "Freistaat Preußen / Staatenbund Deutsches Reich" Die Gruppierung "Freistaat Preußen / Staatenbund Deutsches Reich", welche auch unter dem sperrigen Namen "Freistaat Preußen / Administrative Regierung und Rechteinhaber des Präsidiums des Deutschen Reiches" bekannt ist, ist ebenso wie die "Provinz Brandenburg" zahlenmäßig sehr klein. Sie unterhält aus dem südlichen Brandenburg heraus jedoch weiterhin Beziehungen zu Gruppierungen im gesamten Bundesgebiet. Die Gruppe gründete unter anderem eine "Zentralverwaltung" mit Sitz in Rheinland-Pfalz und ein "Auswärtiges Amt Freistaat Preußen" in Fürstlich Drehna bei Luckau (Landkreis Dahme-Spree), womit sie auch in Brandenburg vertreten ist. Gleichwohl ist festzustellen, dass der "Freistaat Preußen / Staatenbund Deutsches Reich" im Berichtszeitraum stark an Aktivität eingebüßt hat. So wurden auf der eigenen Webseite für 2023 nur noch vereinzelte "Amtsblätter" und ein einzelnes Schreiben an den Botschafter der Republik Polen zum Thema "Reparationszahlungen" veröffentlicht. Die Übersendung der Amtsblätter an öffentliche Stellen in Brandenburg ist parallel dazu merklich zurückgegangen.292 Strukturierte Organisationsformen: "Geeinte deutsche Völker und Stämme" Im Landkreis Oberhavel wurde 2017 die Gruppierung "Geeinte deutsche Völker und Stämme" (GdVuSt) ins Leben gerufen. Deren Anhänger verschickten eine Vielzahl an Schreiben an staatliche Stellen. Die 288 Vgl. Homepage "Provinz Brandenburg - Freistaat Preußen": "Allgemein", ohne Datum (letzter Zugriff am 20.11.2023). 289 Vgl. Homepage "Provinz Brandenburg - Freistaat Preußen": "Unser Auftrag", ohne Datum (letzter Zugriff am 20.11.2023). 290 Ebd. 291 Vgl. Homepage "Provinz Brandenburg - Freistaat Preußen": "Petition an den Landtag, warum das Grundgesetz für die BRD, in Brandenburg keine Geltung hat", v. 28.05.2023 (letzter Zugriff am 20.11.2023). 292 Vgl. Homepage "Freistaat Preußen / Staatenbund Deutsches Reich": "Bekanntmachungen", ohne Datum (letzter Zugriff: 20.11.2023). 114 Gründerin wohnte zu der Zeit in Berlin und war einige Jahre zuvor schon in der Region um die niedersächsische Stadt Melle aktiv. Dort organisierte sie mit dem Verein "Landmark" verschwörungsideologisch geprägte Veranstaltungen. Die Gruppierung "Geeinte deutsche Völker und Stämme" vertrat bis zu ihrem Verbot 2020 die Auffassung, es gäbe eine "Staatsform im höchsten Recht". Dies sei "der Naturstaat, der im engen und harmonischen Zusammenhang mit dem Grund und Boden steht, auf dem er wirkt. Ein freier Zusammenschluss von Menschen die sich ihrer Zusammengehörigkeit bewusst sind und unter Achtung der Natur diesen Staat auf dessen Boden errichtet haben."293 An anderer Stelle hieß es auf der ehemaligen Webseite der Gruppierung: "Gemeinsam haben wir schon viel erreicht. In ganz Deutschland haben sich zahlreiche Menschen zusammengeschlossen, sich die Rechte am Boden zurück geholt und Gebiete wieder ins höchste Recht gehoben."294 Am 19. März 2020 wurde der Verein vom Bundesinnenminister verboten und die oben genannte Gründerin wurde im April 2022 inhaftiert. Damit wurde erstmals ein überregional aktiver Personenzusammenschluss aus dem Milieu der "Reichsbürger und Selbstverwalter" aufgelöst. Konsequenterweise fanden am Tag des Verbots in Brandenburg und in neun weiteren Bundesländern Hausdurchsuchungen statt. Dass sich einzelne Personen im Nachgang des Verbotes nicht an dieses hielten, wurde 2023 unter anderem daran deutlich, dass im Juli bei sechs weiteren Mitgliedern der "Geeinten deutschen Völker und Stämme" entsprechende Hausdurchsuchungen erfolgten. Hierbei waren die Landkreise Potsdam-Mittelmark und Oberhavel betroffen. Es ist davon auszugehen, dass die verbliebenen Mitglieder ihre Aktivitäten im Rahmen anderer ideologisch nahestehender Organisationen, wie den "Germaniten", weiterverfolgen könnten, um sich so staatlichen Maßnahmen zu entziehen. Dieser Entwicklungstrend könnte dadurch untermauert werden, dass im Jahr 2023 zwar keine unmittelbaren öffentlichen Nachfolgeaktivitäten der Gruppierung festgestellt wurden, sehr wohl aber Übertritte zu den "Germaniten" zu verzeichnen waren. Strukturierte Organisationsformen: "Internationales Zentrum für Menschenrecht" Das "Internationale Zentrum für Menschenrecht" (IZMR) mit Hauptsitz in Stade (Niedersachsen) wird von einem bundesweit bekannten, seit vielen Jahren aktiven Reichsbürger geführt. Das "IZMR" tritt auch unter anderen Bezeichnungen, wie zum Beispiel "Amt für Menschenrechte", "Gerichthof der Menschen" oder "Zentralrat Europäischer Bürger", auf. Die Organisation spricht in reichsbürgertypischer Manier der Bundesrepublik Deutschland staatliche Hoheitsrechte ab und diskreditiert geltendes Recht als Unrecht. Die Anhänger des "IZMR" verstehen die Organisation als staatlichen Akteur und berufen sich dabei auf ein vermeintlich universales Naturrecht. In Brandenburg gibt es nur vereinzelte Anhänger der Organisation. Daher wurde zur Rekrutierung neuer Mitglieder Ende April 2023 eine zweitägige Vortragsveranstaltung in Templin (Uckermark) organisiert. Das Programm setzte sich aus pseudojuristischen Inhalten zusammen.295 Die Teilnehmerzahl lag im zweistelligen Bereich. Lose Organisationsformen der "Reichsbürger und Selbstverwalter" Neben den aufgeführten Zusammenschlüssen haben sich in vielen Teilen Brandenburgs kleinere, unstrukturierte regionale "Reichsbürger"-Milieus herausgebildet. Die Mehrheit dieses unstrukturierten 293 Vgl. Homepage "Geeinte deutsche Völker und Stämme", ohne Datum (letzter Zugriff 2020). Anmerkung: Vor dem Hintergrund des Verbots der Gruppierung ist deren Homepage nicht mehr abrufbar. 294 Ebd. 295 Vgl. Telegram-Kanal IZMR: "Tagesordnungspunkt 22. und 23.04.2023", 15.04.2023 (letzter Zugriff am 20.10.2023). 115 Milieus eint die Ablehnung der Bundesrepublik Deutschland. Immer wieder lässt sich in diesen unstrukturierten Milieus die Bildung loserer Netzwerke beobachten, die über die Grenzen der Bundesländer hinweg miteinander kooperieren. Sie halten teilweise in sozialen Netzwerken, mit eigenen Videokanälen oder Internetpräsenzen zueinander Kontakt. Seit Jahren werden immer wieder Aktivitäten von Reichsbürgern in der Öffentlichkeit bekannt. Im Jahr 2023 gelang es der Szene vereinzelt durch überregionale Mobilisierungen - unter anderem auch in den losen Milieuformen - Anhänger zu eigenen Demonstrationen auf die Straße zu bringen. Beispielhaft sei dabei auf eine Demonstration unter dem Motto "Das Große Treffen der Bundesstaaten" am 19. August 2023 in Magdeburg (Sachsen-Anhalt) verwiesen. An der Veranstaltung nahmen mehrere hundert Reichsbürger teil, welches einmal mehr die Größe der Szene verdeutlicht. Auch in Brandenburg ist das Personenpotenzial insbesondere in den losen Organisationsformen ansteigend. Deutlich wurde das beispielsweise anhand des zurückliegenden Zensus, zu dem eine Vielzahl von Reichsbürgern und Selbstverwaltern erklärten, aufgrund ihrer Ablehnung der Bundesrepublik nicht teilzunehmen. Gleichermaßen war im Jahr 2023 ein weiterhin hohes Aufkommen an reichsbürgertypischen Schreiben an kommunale Behörden, insbesondere im östlichen und südlichen Brandenburg, festzustellen. Hier gelang es dem brandenburgischen Verfassungsschutz im Berichtszeitraum durch einen verstärkten Ressourceneinsatz das Dunkelfeld des Reichsbürger-Milieus weiter aufzuhellen. Generell ist festzuhalten, Reichsbürger stören gezielt Gerichtsverhandlungen und behindern Vollzugsmaßnahmen. Durch Proteste gegen Corona-Schutzmaßnahmen hat die Szene, ebenso wie zuletzt durch prorussische Proteste im Zusammenhang mit dem russischen Überfall auf die Ukraine, neue Akteure gewonnen. Besonders alarmierend war im November 2023 ein mehrtägiger SEK-Einsatz im Milower Land (Havelland), bei dem aus einem offensichtlich prorussischen Selbstverwalter-Haushalt gezielt auf Polizeibeamte geschossen wurde. Die Überprüfung der Social-Media-Kanäle von einem der Täter stützt die Einordnung ins extremistische Selbstverwalter-Milieu. Anzumerken sind zudem das sehr hohe Mobilisierungspotenzial sowie die gegenseitige Unterstützungsbereitschaft in der Szene. Dies zeigte sich bei Gerichtsverhandlungen gegen Anhänger der Szene, die zum Teil nur mit erheblichem Einsatz von Sicherheitspersonal durchgeführt werden können. Insbesondere werden "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" durch Widerstandshandlungen gegen Vollstreckungsbeamte auffällig. So verweigern sie sich zum Beispiel bei polizeilichen (Verkehrs-)Kontrollen. Bewertung / Ausblick Die Reichsbürgerideologie ist insgesamt dazu geeignet, dass sich Personen in ein geschlossenes verschwörungstheoretisches Weltbild verstricken. Im Zuge dessen kann aus Staatsverdrossenheit Staatshass werden. Insbesondere die Expansionsbestrebungen des selbsternannten "Königreichs Deutschland" sowie das verhältnismäßig hohe Aktivitätsniveau des in Brandenburg und Berlin verorteten "III. Armeekorpsbezirks" des "Vaterländischen Hilfsdiensts" gilt es weiter genau zu beobachten. Aktionismus und Aggression in Teilen der Szene verstärken sich gegenseitig, sodass es zu Radikalisierungseffekten kommt. Dies kann, wie im November 2023 im Milower Land (Havelland), bis zur offenen Gewaltanwendung führen. Die virale Verbreitung der Reichsbürger-Fantasien wird sich weiterhin fortsetzen und Sympathisanten für Aktivitäten mobilisieren. "Steckbrieflich" gesuchte Staatsanwälte und Vorsteher von Finanzämtern in Brandenburg sind erschreckende Beispiele für diese Tendenzen. Vor diesem Hintergrund bewertet der brandenburgische Verfassungsschutz die "Reichsbürger und Selbstverwalter" als Bestrebung mit teilweise erheblichem Gefahrenpotenzial. 116 VERDACHTSFALL 5. Verdachtsfall: Anastasia-Bewegung VERDACHTSFALL Im Juni 2023 verkündete der brandenburgische Verfassungsschutz die Verdachtsfalleinstufung der "Anastasia-Bewegung". Dieser Schritt wurde vollzogen, da hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass es sich bei der "Anastasia-Bewegung" um eine Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung handelt. Die verfassungsfeindlichen Ziele der "Anastasia-Bewegung" werden in erster Linie in der gleichnamigen Buchreihe "Anastasia" des russischen Autors Wladimir Nikolaevich Megre deutlich.296 In den Büchern werden verschwörungserzählerische Elemente mit antisemitischen, geschichtsrevisionistischen und demokratiefeindlichen Vorstellungen vermischt. Zumindest Teile der Buchreihe sind somit mit dem Demokratie-, Rechtsstaatsund Menschenwürdeprinzip des Grundgesetzes unvereinbar. Vor diesem Hintergrund ist die Einstufung der "Anastasia-Bewegung" als Verdachtsfall konsequent, da sich die Bewegung klar der Verbreitung der extremistischen Ideologien aus den Büchern verschrieben hat. Darüber hinaus ist auffällig, dass eine Vielzahl der Akteure der "Anastasia-Bewegung" mit anderen extremistischen Milieus und Gruppierungen, wie dem Rechtsextremismus und der Reichsbürger-Szene, vernetzt sind. Die "Anastasia-Bewegung" vertritt als dezentral organisierte Gruppierung sektenähnliche, verschwörungstheoretische, neuheidnische und rechtsextremistische Glaubenssätze. Die ideologische Grundlage für die Anhänger der "Anastasia-Bewegung" stellt, wie oben bereits angedeutet, das zehnbändige Werk "Anastasia" des russischen Autors Wladimir Nikolaevich Megre, der eigentlich Wladimir Pusakow heißt, dar.297 In diesem Roman schildert der Autor seine Begegnung mit Anastasia - also der Hauptfigur des Werkes. Diese tritt in den Büchern als Vertreterin des fiktiven Volkes der "Weden" auf und lebt als Einsiedlerin in der russischen Taiga. Die Darstellung wirkt wie ein Erfahrungsbericht, sodass dem Leser eine reale Begegnung suggeriert wird. Dabei gewinnt die Geschichtserzählung durch zwei Aspekte an Dynamik. Einerseits vertieft Wladimir Nikolaevich Megre im Verlauf der Erzählung seine persönliche Beziehung zu der fiktiven Anastasia, dahingehend, dass sie sogar ein gemeinsames Kind zeugen.298 Andererseits wird er von Anastasia zu einem Lebenswandel überzeugt. Während er zu Beginn des Werkes als erfolgreicher Unternehmer ein liberales Leben mit Konsum und Freizügigkeiten führte, stellt ihm Anastasia ein idealisiertes Leben in Tradition des wedrussischen Volkes vor. Dieses Volk soll vor rund einer Million Jahren großflächig in Asien und Europa traditionell im Einklang mit der Natur auf Familienlandsitzen gelebt haben. Die Vertreter dieser Volksgruppe sowie Anastasia selbst sollen dabei über metaphysische Fähigkeiten verfügt haben. Dazu zählen zum Beispiel die Telepathie und ein Heilstrahl zur Behandlung von Krankheiten.299 Die Erzählung transportiert damit einen Konflikt zweier Gesellschaftsmodelle. Während das eine Modell, welches in den Büchern klar abgelehnt wird, für ein modernes Leben nach westlichem Vorbild steht, symbolisiert das von Anastasia propagierte Modell ein angeblich naturverbundenes, antimodernes und zugleich technologiefeindliches Leben, das von vermeintlich traditionell-heidnische Riten und Symbole getragen wird. Hierbei werden zudem rassistische Lehren verbreitet, um den angeblichen Einfluss der "Telegonie" zu überwinden. So wird von Wladimir Nikolaevich Megre auf Grundlage überholter und pseudowissenschaftlicher Vererbungslehre argumentiert, dass einer Frau durch den ersten sexuellen Kontakt mit einem Mann dessen Blutsund Geistesstempel aufgedrückt würde, sodass ein späteres Kind von einem anderen Mann sowohl den Genotyp als auch den Phänotyp des ersten Mannes aufweisen würde.300 296 Vgl. MIK Brandenburg: "Extremistische Siedlungsbestrebung in Brandenburg - Anastasia-Bewegung als Verdachtsfall eingestuft", v. 8.6.2023 (letzter Zugriff am 22.11.2023). 297 Vgl. Roepke, Andrea/Speit, Andreas: Völkische Landnahme. Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos, Ch. Links Verlag Berlin 2019, S. 143. 298 Vgl. Schenderlein, Laura: Demokratiefeindliche Fabelwelten. Die Anastasia-Bewegung im Land Brandenburg zwischen Esoterik und Rechtsextremismus, in: Mitteilungen der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle, Ausgabe 8 (2020). S. 5. 299 Vgl. Pöhlmann, Matthias: Rechte Esoterik. Wenn sich alternatives Denken und Extremismus gefährlich vermischen, Verlag Herder GmbH Freiburg im Breisgau 2021, S. 205. 300 Megre, V.: Anastasia, Die Bräuche der Liebe (Band 8.2), S. 38. VERDACHTSFALL Megres Hauptfigur - Anastasia im Wald 301 301 Entnommen aus: Megre, V.: Anastasia, Tochter der Taiga (Band 1). VERDACHTSFALL Ideologie: Wahrheit versus Täuschung Mit der Einführung des wedrussischen Volkes verbindet Wladimir Nikolaevich Megre eine geschichtsrevisionistische und verschwörungstheoretische Ideologie, die mit dem Demokratie-, Rechtsstaatsund Menschenwürdeprinzip unvereinbar ist. Dabei führt er einen dreiteiligen Epochenzyklus ein. Die erste und erstrebenswerte Zeitepoche, der Wedismus, begann mit dem Aufkommen der Weden und ist mit einer Dauer von 990.000 Jahren die längste. Idealisiert wird dabei die Verbindung zwischen Menschen und Gott. Im 6. Band heißt es dazu: "Im wedischen Zeitalter ist Gott der Wegweiser des Menschen."302 In Band 8.1 hat Wladimir Nikolaevich Megre einen Gesetzesentwurf veröffentlicht, in dem eine zeitgenössische Umsetzung jener Gesellschaft im Sinne dieser fiktiven Geschichtserzählung skizziert wird. Dabei sollen Siedlungen mit über 150 einheitlich ausgestalteten Familienlandsitzen entstehen. Ziel dieser Landsitze soll ein naturverbundenes und autarkes Leben sein, sodass zeitgenössische Themen, wie Ökologie und Nachhaltigkeit, die Anschlussfähigkeit bis in die Mitte der Gesellschaft ebnen. Wladimir Nikolaevich Megre hält dazu aber fest: "Es ist nicht gestattet, ein Grundstück zur Errichtung eines Familienlandsitzes Ausländern und Staatenlosen zu übertragen."303 Hieran wird der extremistische Charakter des Familienlandsitzprinzips letztlich deutlich, da der Gesetzentwurf den Grundstückserwerb von der nationalen Zugehörigkeit abhängig macht. Dieses kommt einer systematischen Diskriminierung gleich. Darüber hinaus erscheint das Thema Bildung und Schule als zentraler Bestandteil der Familienlandsitzsiedlung. Dazu wird in der Buchreihe das Schulkonzept nach der Schetinin-Pädagogik befürwortet und herkömmliche Erziehungsund Beschulungsmethoden als Entfremdung vom Natürlichen und als Realitätsverzerrung angesehen.304 Michail Petrowitsch Schetinin war ein russischer Pädagoge und Begründer des Lyzeums, einer Waldschule im südrussischen Tekos. Seine Pädagogik fußt auf militärischem Drill und esoterischspirituellen Inhalten.305 An das wedische Zeitalter schließt das bildhafte Zeitalter mit einer Dauer von 9.000 Jahren an. Hier sei die Menschheitsgeschichte an einem Wendepunkt gewesen, denn sechs Menschen - die im weiteren Verlauf als Priester bezeichnet werden - setzten sich zum Ziel, die Menschheit zu beherrschen. Einer der sechs Priester, ein Oberpriester, hält sich dabei für den "[...] obersten Führer der menschlichen Gesellschaft [...]"306. Diese Priester unter Führung des Oberpriesters fungieren als Gegner der Wedrussen und ihr Herrschaftsmodell wird von Wladimir Nikolaevich Megre äquivalent zu modernen Gesellschaften nach westlichem Vorbild dargestellt. Aktuell soll laut dem Autor die Epoche des Okkultismus vorherrschen. Mit einer Dauer von 1.000 Jahren stellt sie die dritte und kürzeste Epoche dar. Sie beschreibt die Herrschaft des Oberpriesters über die Menschen mit diversen Herrschaftsund Manipulationsinstrumenten, sodass Wladimir Nikolaevich Megre von "Sklaven" spricht.307 Die Demokratie wird als ein solches Täuschungsinstrument der Priester verächtlich gemacht: "Und die Menschen in den hochentwickelten demokratischen Ländern wählen Parlamente und Präsidenten mit der Mehrheit der Stimmen. Wählen?! Völliger Unsinn! Völlige Illusion! Es gibt keine Wahlen! Kein einziges Mal, in keinem Staat, der als demokratisch gilt und zivilisiert gilt, war je das Volk an der Macht. Und die Wahlen? Sie sind völlig illusorisch! [...] Somit ist die moderne Demokratie eine Illusion der Menschenmassen. Ihr Glaube an einen irrealen Aufbau der Gemeinschaft, eine nicht reale, illusorische Welt. [...] Die Demokratie ist die gefährlichste Illusion, der eine große Zahl von Menschen unterliegen."308 302 Megre, V.: Anastasia, Das Wissen der Ahnen (Band 6), S. 116. 303 Megre, V.: Anastasia, Neue Zivilisation (Band 8.1), S. 176. 304 Megre, V.: Anastasia, Tochter der Taiga (Band 1), S. 88 und 92; Megre, V.: Anastasia, Raum der Liebe (Band 3), S. 134137. 305 Vgl. Broschüre: Lyzeum / Integrierte Persönlichkeitsbildung von Kindern und Jugendlichen. Pilotentwicklung des Bildungsmodells "Schule des 21. Jahrhunderts" von 2019. 306 Megre, V.: Anastasia, Das Wissen der Ahnen (Band 6), S. 165. 307 Megre, V.: Anastasia, Das Wissen der Ahnen (Band 6), S. 205-208. 308 Megre, V.: Anastasia, Das Wissen der Ahnen (Band 6), S. 268 ff. VERDACHTSFALL Dem Judentum und Personen jüdischen Glaubens kommt dabei eine besondere Rolle als Instrument und Träger der Manipulation zu. Die biblische Erzählung, wonach Moses die Israeliten aus der ägyptischen Sklaverei befreite, wird dahingehend umgedeutet, als dass das Judentum von Wladimir Nikolaevich Megre nicht als Religion, sondern als verfälschte Weltanschauung beschrieben wird. Moses wird als Opfer und Träger der Manipulation des Oberpriesters dargestellt. Bei der Befreiung aus Ägypten habe er mit der Heilsgeschichte vom "auserwählten Volk" ein Instrument an die Hand bekommen, um das jüdische Volk zu lenken. Wladimir Nikolaevich Megre beschreibt dies wie folgt: "Der Priester Moses führt auf Anweisung des Oberpriesters das Volk Israel aus Ägypten. Dem Volk wird ein herrliches Leben im gelobten Land versprochen, das von Gott für das Volk Israel vorbereitet wurde. Man erklärt, das jüdische Volk ist das von Gott auserwählte. Die verlockende Nachricht erregt die Geister, und ein Teil des Volkes folgt Moses. Vierzig Jahre führt er die Menschen von einem Ende der Wüste zum anderen. Die Helfer des Priesters halten ständig Predigten, sprechen vom auserwählten Volk und zwingen es Städte zu bekämpfen und zu plündern und alles in Seinem Namen, im Namen Gottes. [...] [Der] größte Teil des jüdischen Volkes [...] und Moses selbst wurden zum Werkzeug in den Händen des Oberpriesters. Sie sind seine Soldaten, die er verpflichtete, seiner Eigenliebe zu Gefallen, die Macht über die Menschen der ganzen Erde zu ergreifen."309 Bei der Beschreibung des jüdischen Volkes als Helfer und Handlanger der Priester vermischt der Autor unterschiedliche Formen des Antisemitismus. Dabei wird teils auf traditionelle antisemitische Verschwörungstheorien zurückgegriffen, in denen Jüdinnen und Juden als gierige, wohlhabende und einflussreiche politische Akteure dargestellt werden: "Von einem, der nicht sehr reich sei, versuchten sie, wenigstens etwas wegzunehmen, und bei einem Reichen seien sie bestrebt, ihn ganz und gar zu ruinieren. Das bestätigt die Tatsache, dass viele Juden wohlhabend sind und sogar auf die Regierung Einfluss nehmen können."310 Im siebten Band werden klar rassistische Vorstellungen in Bezug auf Jüdinnen und Juden kommuniziert, in dem ihnen ein spezifisches Aussehen zugeschrieben wird. Wladimir Nikolaevich Megre skizziert bei einem Besuch eines Waisenhauses, das folgende Gespräch mit dem Leiter der Einrichtung: "'Das ist Sonja. Sie besucht die erste Klasse', erzählte mir der Direktor. 'Sie geht immer alleine. Sie rechnet fest damit, dass sie schon bald von einer jüdischen Familie adoptiert wird.' 'Wie kommt sie denn auf eine jüdische Familie? Das Mädchen sieht doch nicht wie eine Jüdin aus. Sie ist hellblond und, ich würde eher sagen, sie wäre eine Ukrainerin.'"311 Besonders offensichtlich wird der Antisemitismus im sechsten Band der Anastasia-Buchreihe. Mit einer vor allem im Rechtsextremismus verbreiteten Schuldumkehr deutet Wladimir Nikolaevich Megre die menschenverachtenden Verbrechen des Nationalsozialismus im Rahmen des Holocausts als gerechtfertigte Bestrafungsmaßnahme am jüdischen Volk: "Es sind sogar Dokumente erhalten geblieben, wie man in den Jahren jenes Krieges Juden [...] in Ofen verbrannt, mit Gas vergiftet und in Gemeinschaftsgräbern lebendig begraben hat. Nicht einer, nicht Hunderte, nicht Tausende Menschen kamen um, es waren Millionen, die in diesem kurzen Zeitraum brutal ermordet wurden. Historiker halten Hitler für schuldig. Aber wer war zu einer anderen Zeit schuld: im Jahr 1113, Kiewer Rus. [...] Da das schon mehr als ein Jahrtausend geschieht, kann man den Schluss ziehen, dass das jüdische Volk vor den Menschen Schuld hat."312 Anhänger der "Anastasia-Bewegung" verweisen im Zusammenhang mit Antisemitismus oftmals auf vermeintlich entlastende Stellen in den Büchern. Dieses betrifft beispielsweise die folgende Passage aus dem siebten Band: "Übergriffe auf Juden finden seit Jahrtausenden statt, und ich bin in meinen Berichten immer bemüht, ausschließlich historische Fakten ohne eine subjektive Bewertung zu verwenden. Ich verfolge dabei nur ein Ziel - die Vermeidung des nächsten, in verschiedenen Ländern gleichzeitig geplanten, 309 Megre, V.: Anastasia, Das Wissen der Ahnen (Band 6), S. 170-172. 310 Megre, V.: Anastasia, Das Wissen der Ahnen (Band 6), S. 174. 311 Megre, V.: Anastasia, Die Energie des Lebens (Band 7), S. 133. 312 Megre, V.: Anastasia, Das Wissen der Ahnen (Band 6), S. 172-174. VERDACHTSFALL großflächigen Übergriffs auf die Juden."313 Kontextlos kann das Zitat als vermeintliche Entlastung angesehen werden. Allerdings ist bei der Bewertung stets zu beachten, dass Wladimir Nikolaevich Megre beim Verfassen der Buchreihe unter anderem auf die Reaktionen seiner Leser zu bereits veröffentlichten Bänden eingegangen ist. Daher kann davon ausgegangen werden, dass dieses vermeintliche Bekenntnis im siebten Band nur getroffen wurde, um einen Teil der Leser, die den Antisemitismus der vorherigen Bände identifiziert haben, zu beschwichtigen. Von den konkreten Inhalten und zuvor getroffenen Aussagen distanzierte sich der Autor jedoch zu keinem Zeitpunkt. Aus diesem Grund ist klar festzustellen, dass die Anastasia-Ideologe eindeutig antisemitische Züge trägt. Entwicklungen im Berichtszeitraum Dem Verfassungsschutz Brandenburg sind derzeit etwa fünf Familienlandsitze und -siedlungen bekannt, von denen jedoch nur drei Aktivitäten entfalten. Das Personenpotenzial liegt im unteren bis mittleren zweistelligen Bereich. Einige Anhänger dürften aufgrund ihrer Technologiefeindlichkeit nur im lokalen Raum Präsenz haben. Allerdings zeigen mediale Inhalte auf, dass die gesamte Bewegung über eine durchaus hohe Reichweite selbst im deutschsprachigen Raum verfügt. So kommen diverse Kanäle und Gruppen auf Telegram auf hunderte oder gar tausende Mitglieder und Abonnenten.314 Goldenes Grabow Die größte Bestrebung und eines der bekanntesten Siedlungsprojekte, das "Goldene Grabow", befindet sich in der Ortschaft Grabow bei Blumenthal in Heiligengrabe (Ostprignitz-Ruppin). Derzeit wird davon ausgegangen, dass die Siedlung aus einzelnen größeren Familien besteht.315 Als Anführer des Siedlungsvorhabens gelten die Bewohner des Familienlandsitzes "Landolfswiese", die zugleich Geschäftsführer des Unternehmens "Goldenes Grabow Dorferneuerung EWIV"316 sind. Das Unternehmen wurde 2014 im Handelsregister aufgenommen und dient als Organisationsgrundlage für den Landerwerb. Anhänger und Sympathisanten der Buchreihe können sich für einen Probelandsitz bewerben, um die Lebensvorstellung der Bücher zu verwirklichen.317 Das Gewaltpotenzial der Gruppierung, wie auch der gesamten "Anastasia-Bewegung", wird weiterhin als niedrig eingeschätzt. Dennoch ist die persönliche Vernetzung der Anhänger des "Goldenen Grabows" mit anderen extremistischen Gruppierungen, insbesondere mit anderen Anastasia-Siedlungen, bekannt. Erste Aktivitäten der Gruppierung in Grabow gehen auf den Zeitraum 2010 bis 2012 zurück. Dabei sollen erste Lesertreffen im Ort abgehalten und Siedlungsvorhaben besprochen worden sein.318 Nach der Gründung der "Goldenes Grabow Dorferneuerung EWIV" setzte eine Expansionsphase ein. Diese drückte sich durch eine aktive Internetpräsenz, die Ausrichtung öffentlichkeitswirksamer Veranstaltungen, wie den "Anastasia-Festspielen", sowie zunehmende Landkäufe und einer geplanten Schulgründung aus.319 Wappen des Goldenen Grabow 320 313 Megre, V.: Anastasia, Die Energie des Lebens (Band 7), S. 103. 314 Vgl. bespielhaft: Telegram-Kanal "Anastasia Familienlandsitz" oder Telegram-Kanal "Urahnenerbe" (letzter Zugriff am 22.11.2023). 315 Vgl. Homepage "Garten Weden": "Landfreikauf Goldenes Grabow" 10.12.2014 (letzter Zugriff am 17.10.2023). 316 EWIV steht dabei für eine "Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung". 317 Vgl. Homepage "Garten Weden": "Landfreikauf Goldenes Grabow" 10.12.2014 (letzter Zugriff am 17.10.2023). 318 Schenderlein, Laura: Demokratiefeindliche Fabelwelten. Die Anastasia-Bewegung im Land Brandenburg zwischen Esoterik und Rechtsextremismus, in: Mitteilungen der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle, Ausgabe 8 (2020). S. 11. 319 Vgl. u.a. Homepage "Garten Weden": "Landfreikauf Goldenes Grabow" 10.12.2014 (letzter Zugriff am 17.10.2023). 320 Entnommen der ehemaligen Homepage "Landolfswiese" (nicht mehr online verfügbar). VERDACHTSFALL Neben der extremistischen Ideologie der "Anastasia-Bewegung" finden sich beim "Goldenen Grabow" weitere verfassungsfeindliche Anhaltspunkte. So riefen Anhänger der Gruppe im Jahr 2015 im Zusammenhang mit der Flüchtlingsdebatte unter Verwendung verschwörungstheoretischer Argumentationen zur Gründung einer "Dorfwehr" auf.321 Hierbei stellten sie das Gewaltmonopol des Staates und somit auch das Rechtsstaatsprinzip offen infrage. Der öffentliche Druck führte in den zurückliegenden Jahren zur zunehmenden Abschottung der Gruppe. Die Schulgründung konnte nicht realisiert werden. Öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen wurden seit 2019 ebenso wie die zuvor aktiv gepflegten Internetauftritte eingestellt. 2021 wurde das Ende des Siedlungsprojektes bekanntgegeben. Daher waren für das Jahr 2023 keine öffentlichen Veranstaltungen zu verzeichnen. Allerdings äußerte im Juni 2023 ein führender Anhänger des "Goldenen Grabow", dass das Ziel weiterhin die Erneuerung des Dorfes sei und "[e]in Teil dieser Idee ist der Aufbau von Familienlandsitzen."322 Dementsprechend kann davon ausgegangen werden, dass die Gruppierung weiterhin aktiv ist. Urahnenerbe Germania Das "Urahnenerbe Germania" ist vermutlich die älteste und zugleich die öffentlich aktivste "AnastasiaBestrebung" in Brandenburg. Trotz der Ähnlichkeit des Namens sieht sich die Organisation nicht in der Nachfolge der nationalsozialistischen Forschungsgemeinschaft "Deutsches Ahnenerbe e. V.". Allerdings wird die Ura-Linda-Chronik, eine literarische Fälschung, die von Herman Wirth 1933 ins Deutsche übersetzt und propagiert wurde, als reale historische Quelle behandelt, sodass zumindest eine inhaltliche Nähe zum nationalsozialistischen Ahnenerbe besteht.323 Daran wird deutlich, dass das "Urahnenerbe Germania" nicht nur als Multiplikator der Ideen der "Anastasia-Bewegung" agiert, sondern als ein zentraler Ideologe im deutschsprachigen Raum anzusehen ist. Allem voran die offen kommunizierte Verbindung slawisch-arischer Vorstellungen des russischen Esoterikers Alexander Hinewitsch mit der AnastasiaBuchreihe sind hier hervorzuheben, denn dadurch werden auch nationalsozialistische Symbole verbreitet.324 Der Familienlandsitz des "Urahnenerbes Germania" liegt zwar im brandenburgischen Liepe (Barnim), jedoch kommuniziert die Gruppierung über den gesamten deutschsprachigen Raum. In Brandenburg selbst liegt das Personenpotenzial daher nur im einstelligen Bereich. Vortragsveranstaltungen, der Vertrieb von Publikationen sowie der Verkauf alternativmedizinischer Apparaturen sind die hauptsächlichen Finanzierungsquellen der Organisation. Die Artikel werden über eigene Webseiten, Social-Media-Plattformen325 und auf Veranstaltungen beworben. Einige dieser Vortragsveranstaltungen fanden 2023 im Raum Potsdam statt. Inhaltlich behandeln die Veranstaltungen esoterisch-spirituelle, verschwörungstheoretische und geschichtsrevisionistische Inhalte. Aber auch neue beziehungsweise alternative Gesellschaftsmodelle und ein Leben nach Vorbild der Anastasia-Ideologie werden hier propagiert.326 Eine jährlich immer wieder stattfindende mehrtägige Veranstaltung ist die "Ahnenreise" auf die Inseln Rügen und Vilm. Neben den üblichen Vortragsinhalten sieht das Programm dort auch Wanderungen zu vermeintlich sakralen oder energetisch aufgeladenen Orten vor.327 321 Schenderlein, Laura: Demokratiefeindliche Fabelwelten. Die Anastasia-Bewegung im Land Brandenburg zwischen Esoterik und Rechtsextremismus, in: Mitteilungen der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle, Ausgabe 8 (2020). S. 11. 322 Köpsell, Lena: Mein Nachbar, der Reichsbürger, in: Märkische Allgemeine Zeitung vom 24.06.2023, S. 5. 323 Vgl. Homepage "Urahnenerbe Germania": Sinnbild, ohne Datum (letzter Zugriff am 18.10.2023). 324 Leber, Sebastian: Gesellschaft Außen Öko, innen Hass, in: Tagesspiegel Online vom 3.12.2020, URL: tagesspiegel.de/gesellschaft/aussen-oko-innen-hass-4214677.html (letzter Zugriff am 19.10.2023). 325 Vgl. u.a. Telegram-Kanal "Urahnenerbe Germania" (letzter Zugriff am 18.10.2023). 326 Vgl. Telegram-Kanal "Urahnenerbe Germania": Beitrag vom 4.2.2023 (letzter Zugriff am 6.2.2023). 327 Vgl. Homepage "Urahnenerbe Germania": Treffen, ohne Datum (letzter Zugriff am 5.6.2023). VERDACHTSFALL Die Verwendung nationalsozialistischer Symbolik erfolgt im Kontext vermeintlich mythologischer Darstellungen. Die thematische Breite veranschaulicht die Vernetzungsmöglichkeiten des "Urahnenerbes Germania" - vor allem mit esoterischen und alternativmedizinischen Milieus. Dadurch können die vom "Urahnenerbe Germania" verbreiteten rassistischen, völkischen und nationalsozialistischen Vorstellungen in ein ursprünglich unpolitisches beziehungsweise nicht-extremistisches Milieu getragen werden. Seit 2017 zeigen sich zudem Bezüge zum Milieu der "Reichsbürger und Selbstverwalter". Die Vernetzung des "Urahnenerbes Germania" wurde Ende 2022 durch die Verbindung zum selbsternannten "Königreich Deutschland"328 deutlich. Laut der Webseite versteht sich das Unternehmen als "[ein] Betrieb im KRD".329 Zukünftig kann davon ausgegangen werden, dass das "Königreich Deutschland" zunehmend als Vernetzungsplattform von Anhängern der "Anastasia-Bewegung" weiter genutzt werden wird. Oase Goldammer Die "Oase Goldammer" wird als Naturprojekt seit 2013 von einer einzelnen Person in Werder/Havel (Potsdam-Mittelmark) betrieben. Die rund 8.000 m2 große Fläche wird eigenen Angaben zufolge teilweise bewirtschaftet und in Teilen der Natur belassen.330 Als prägendes Leitbild wird unter anderem die Idee der Familienlandsitze aus der Anastasia-Buchreihe angegeben. Dazu wird auf pseudowissenschaftliche und esoterische Ansätze, wie einer "wahre[n] Astrologie" und der Notwendigkeit, "altes und neues Wissen miteinander in Vernunft und Harmonie in einer neuen Gesellschaft zu vereinen", hingewiesen.331 Im weiteren Internetauftritt werden Verbindungen zu Ideen anderer verfassungsschutzrelevanter Phänomenbereiche deutlich. Zur Hochphase der Corona-Pandemie wurden auf der Internetseite Texte veröffentlicht, die Bezüge zum Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" aufweisen. Dabei heißt es unter anderem: "Gerade hier in Mitteldeutschland sind Feigheit und Anschwärzen teils brutal anerzogen worden. In der DDR aufgewachsen, ist mir das vollkommen klar. Mit Blick auf den Westen kann ich aber sagen: Da hat man seit 2020 doch sehr gut aufgeholt, teils sogar überholt. So viel Lust auf den 'Erlebnispark Diktatur' hatte ich dort nicht erwartet."332 Darüber hinaus konnten dem Impressum Inhalte entnommen werden, die dem Spektrum der "Reichsbürger und Selbstverwalter" zuzurechnen sind. So wird die Bundesrepublik Deutschland als "Bundessozialistische Republik DEUTSCHLAND ("Vereinigtes Wirtschaftsgebiet", siehe GG für die verfassungslose BRD)" und das Finanzamt Brandenburg als "FinanzVERWALTUNG (kein Amt): Brandenburg" bezeichnet. Die EU wird als "handelsrechtlicher Verein" betitelt.333 Weitere Familienlandsitze 328 Für weiterführende Informationen zum "Königreich Deutschland" siehe Kapitel 4 "Reichsbürger und Selbstverwalter". 329 Vgl. Homepage "Urahnenerbe Germania": Treffen, ohne Datum (letzter Zugriff am 5.6.2023). 330 Vgl. Homepage "Oase Goldammer": Naturprojekt Oase Goldammer, Teil 3 (Aufteilung und Nutzung), ohne Datum (letzter Zugriff am 20.10.2023). 331 Homepage "Oase Goldammer": Naturprojekt Oase Goldammer, Teil 2 (Leitbilder), ohne Datum (letzter Zugriff am 20.10.2023). 332 Homepage "Oase Goldammer": Alternativen zur Systemkrise: Konzepte für ein nachhaltiges Leben, ohne Datum (letzter Zugriff am 19.10.2023). 333 Homepage "Oase Goldammer": Impressum & Nutzungsbestimmungen, ohne Datum (letzter Zugriff am 19.10.2023). VERDACHTSFALL Neben den drei oben ausführlich dargestellten Familienlandsitzen sind dem brandenburgischen Verfassungsschutz noch zwei weitere bekannt. Von diesen gehen jedoch seit einigen Jahren keine merklichen Aktivitäten mehr aus. Hierbei handelt es sich einerseits um den Familienlandsitz "Steinreich" (Landkreis Dahme-Spreewald) sowie um das "Traumland Lychen" (Uckermark). Bewertung / Ausblick Die weitere Entwicklung der "Anastasia-Bewegung" in Brandenburg ist in einigen Aspekten offen. Die zunehmende Sensibilisierung der Bevölkerung spricht gegen ein hohes Mitgliederwachstum bis in die gesellschaftliche Mitte hinein. Allerdings darf die ideologische Anschlussfähigkeit der "Anastasia-Bewegung" nicht unterschätzt werden. Dieses gilt insbesondere gegenüber dem rechtsextremistischen Spektrum, dem Milieu der "Reichsbürger und Selbstverwalter" sowie den Akteuren des Phänomenbereichs "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates". Im Rahmen alternativer Milieus, in denen bereits verschwörungstheoretische und demokratiefeindliche Ideen zirkulieren, dürfte die "Anastasia-Bewegung" weiterhin einzelne Anhänger rekrutieren können. Vor allem die vielfältigen Themen, wie Pädagogik, Esoterik und Spiritualität, sowie die Fragen nach Identität, Heimat und Migration, die in der AnastasiaBuchreihe und unter deren Anhängerschaft breit diskutiert werden, berühren zentrale Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Hieran bleibt zu beobachten, ob sich weitere Familienlandsitze in Brandenburg gründen und etablieren werden. Es ist generell davon auszugehen, dass sich einzelne Akteure der "Anastasia-Bewegung" weiterhin mit Extremisten der Phänomenbereiche "Reichsbürger und Selbstverwalter" sowie "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" ideologisch und personell vernetzen werden. Das "Königreich Deutschland" könnte da zukünftig mit seinen Plattformen im Internet eine noch relevantere Rolle einnehmen. 6. Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates 126 Mit Beginn der Durchsetzung staatlicher Beschränkungsmaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung während der Corona-Pandemie kam es in Deutschland zu einer breiten gesellschaftspolitischen Debatte und legitimen Protestaktionen von Bürgern, die den Maßnahmen kritisch gegenüberstanden. Diese Bürger haben von der im Grundgesetz verbrieften Meinungsfreiheit und dem Recht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch gemacht, die neben weiteren Artikeln des Grundgesetzes als Abwehrrechte der Gesellschaft gegen den Staat konzipiert wurden und die Freiheit der Bürger vor staatlichen Übergriffen sichern. Politische Versammlungen, friedliche Proteste und die freie Meinungsäußerung gehören zum Wesen einer freiheitlichen Demokratie. Der Schutz dieser Grundrechte ist eine maßgebliche Richtschnur der Verfassungsschutzbehörden. Im Zuge der Protestbewegungen gegen die Corona-Politik haben sich seit 2020 jedoch zunehmend Gruppierungen gebildet und radikalisiert, die in Teilen durch strafrechtlich relevantes Verhalten und durch Verachtung und Ablehnung von wesentlichen Verfassungsgrundsätzen auffielen. Vor dem Hintergrund eines zum Teil gewalttätigen Protestgeschehens wurde im April 2021 der Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" mit dem Beobachtungsobjekt "Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates" eingerichtet. Prägend und handlungsleitend für diesen Phänomenbereich ist die Virulenz von Verschwörungstheorien. Generell zielen die diesem Phänomenbereich zugeordneten Akteure darauf ab, das Vertrauen in das staatliche System zu erschüttern sowie dessen Funktionsfähigkeit zu beeinträchtigen. Dieses versuchen sie zu erreichen, indem sie unter anderem zu Widerstandshandlungen gegen die staatliche Ordnung aufrufen, staatliche oder öffentliche Institutionen (zum Beispiel der Gesundheitsfürsorge) mittels Sachbeschädigungen sabotieren, staatlichen Institutionen und ihren Vertretern die Legitimität absprechen, demokratisch gewählte Repräsentanten des Staates verächtlich machen, zum Ignorieren gerichtlicher Anordnungen und Entscheidungen aufrufen. Diese Verhaltensweisen stehen im Widerspruch zu elementaren Verfassungsgrundsätzen wie dem Demokratieoder dem Rechtsstaatsprinzip. Daher ergibt sich die Zuständigkeit des Verfassungsschutzes Brandenburg nach SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 BbgVerfSchG. Das Protestund Demonstrationsgeschehen der Akteure des Phänomenbereichs "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" konzentrierte sich 2023 vor allem auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine sowie auf die "Aufarbeitung" der staatlichen Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie. Mit dem Eintreten einer Vielzahl von Lockerungen der Corona-Schutzmaßnahmen ab Ende März 2022 verlor die Pandemie als alleiniges Thema für die Akteure deutlich an Mobilisierungspotenzial und Anschlussfähigkeit. Aus diesem Grund griffen sowohl die Protestaktionen als auch die entsprechenden Internetkanäle des Phänomenbereichs den Krieg in der Ukraine und die damit verbundenen Themenkomplexe, wie Energiesicherheit, Waffenlieferungen und Inflation auf, um so für ihr eigentliches Ziel - den Sturz des bestehenden politischen Systems - neue Anhänger zu rekrutieren. Diese Entwicklung setzte sich 2023 weiter fort. Gleichwohl griffen einzelne Akteure der Szene die Pandemie inhaltlich erneut auf, um die politischen Verantwortlichen für die aus ihrer Sicht diktatorischen Corona-Schutzmaßnahmen zur Rechenschaft zu ziehen. Hierbei schreckten 2023 auch brandenburgische Akteure des Phänomenbereichs "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" nicht vor offener Gewaltandrohung zurück. Nachdem es im April 2022 in neun Bundesländern, darunter auch in Brandenburg, zu Durchsuchungen und Festnahmen kam, erhob der Generalbundesanwalt im Januar 2023 Anklage gegen fünf Personen, denen unter anderem vorgeworfen wird, "eine inländische terroristische Vereinigung gegründet oder sich 127 darin mitgliedschaftlich betätigt zu haben".334 Auf der Anklagebank sitzt in Koblenz, wo der Prozess seit Mai 2023 geführt wird, auch eine Person aus Brandenburg, die dem Phänomenbereich der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" zugerechnet werden kann. Die Angeschuldigten sollen geplant haben, bürgerkriegsähnliche Zustände herbeizuführen, um die Bundesregierung und die parlamentarische Demokratie zu stürzen. Bemerkenswert ist, dass weitere Ermittlungen ergaben, dass die Gruppe beabsichtigt haben soll, anschließend "ein autoritär geprägtes Regierungssystem nach dem Vorbild des Deutschen Kaiserreichs [zu etablieren]"335. An diesem Beispiel wird einmal mehr deutlich, wie stark die verschwörungsideologisch geprägten Phänomenbereiche "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates", "Reichsbürger und Selbstverwalter" sowie "Rechtsextremismus" miteinander verwoben sind. Entwicklungen im Berichtszeitraum Im Jahr 2023 waren in Brandenburg erneut Extremisten an Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen sowie gegen die deutsche Unterstützung für die Ukraine beteiligt. Die Teilnehmerzahlen und die Häufigkeit der Proteste war 2023 im Vergleich zu den Vorjahren deutlich rückläufig. Nichtsdestotrotz gab es im Berichtszeitraum in diversen brandenburgischen Städten regelmäßige Proteste, so zum Beispiel in Frankfurt (Oder) und in Falkensee (Havelland). Nachdem im April 2023 die letzten Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus in Deutschland ausgelaufen sind, wird in der demokratischen Gesellschaft breit über die Lehren aus der Pandemiezeit debattiert. Hieran knüpfen auch die Akteure des Phänomenbereichs "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" an. Ihnen geht es mit ihrer "Aufarbeitung" aber in erster Linie darum, den Staat und seine Repräsentanten verächtlich zu machen. Hierbei kommt es vielfach zur Gleichsetzung demokratisch legitimierter Entscheidungen mit Diktaturen wie dem NSoder DDR-Regime. Unter Bezugnahme auf die in der Szene verbreitete Argumentation, dass die Bundesrepublik Deutschland in der Pandemie diktatorisch geführt worden sei, verbreitete der brandenburgische Szenekanal "Freie Brandenburger" im März 2023 auf Telegram eine vermeintliche "Liste der Schande", welche "an die krassesten Polizeieinsätze 2020/2021" während der "Corona-Diktatur" erinnern soll. Konkret heißt es in der Ankündigung auf Telegram: "Seit die Corona-Maßnahmen weitestgehend abgeschafft wurden, scheinen viele Bürger die dystopische Realität, in der wir 2020 bis 2022 gefangen waren, erfolgreich verdrängt zu haben. Doch eine 'Liste der Schande' [...] ruft den Schrecken dieser Zeit zurück ins Gedächtnis: Hier wurden 75 Einsätze der Polizei gesammelt, die verdeutlichen, mit welcher Härte die Polizei die sinnlosen und diktatorischen Corona-Maßnahmen der Regierung durchsetzte."336 334 Vgl. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof: Anklage gegen fünf mutmaßliche Mitglieder einer terroristischen Vereinigung erhoben, 23.01.2023 (letzter Zugriff am 21.11.2023). 335 Ebd. 336 Vgl. Telegram Kanal "Freie_Brandenburger_Official", 25.03.2023 (letzter Zugriff am 21.11.2023). 128 Die Polizei stellt für viele Akteure des Phänomenbereichs "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" ein klares Feindbild dar. So drohte beispielsweise der brandenburgische Szene-Aktivist und ehemalige Party-Musiker "Björn Banane" (Künstlername) der Polizei auf einer Kundgebung am 16. Januar 2023 in Falkensee öffentlich mit Konsequenzen. In einem von "Björn Banane" selbst verbreiteten Video ist zu sehen, wie er in Falkensee ausführt: "Euch werden wir vor Gerichte stellen. Das gilt für alle Politiker, die mitgemacht haben, alle Impfärzte [...] wie Lehrer, die Kinder gequält haben, wie Bürgermeister, Behördenchefs und leider auch viele Polizisten. [...] Mit diesen Menschen werden wir uns nochmal vor Gerichten treffen und dann wird es nicht mehr bei unserm Freund [...] klingeln [...], sondern dann wird es bei diesen Polizisten irgendwann mal klingeln und der Türrahmen wird nachgeben, weil das wird dann die neue Polizei sein, die hier für Rechtsstaatlichkeit sorgt".337 "Björn Banane" aus dem Landkreis Potsdam Mittelmark ist unter den Akteuren des Phänomenbereichs "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" mittlerweile nicht nur wegen der Produktion seiner Lieder bekannt. Er hat sich insbesondere im Jahr 2023 zum Gesicht der Szene entwickelt. Er war einerseits auf einer Vielzahl von Szene-Veranstaltungen - vor allem im Raum Berlin-Brandenburg - persönlich vor Ort und ist andererseits in anderen extremistischen Milieus anschlussfähig geworden. So zeigte sich der Musiker im Mai 2023 gemeinsam mit dem aus der "AfD"338 ausgeschlossenen Andreas Kalbitz auf einer Demonstration der "Freien Sächsischen Jugend" in Freital (Sachsen). Zugleich trat er mehrfach bei Veranstaltungen der als Verdachtsfall eingestuften brandenburgischen "AfD"339 auf, unter anderem am 16. September 2023 beim "AfD"340-Sommerfest in Brandenburg an der Havel. Auch vor der Verbreitung reichsbürgertypischer Ideologien macht der Musiker keinen Halt. Auf einer Kundgebung am 3. Juli 2023 in Altenburg (Thüringen) erklärte er seinen Zuhörern zunächst, dass die Deutschen "der kleine Staatsstiefellecker von Amerika sind. [...] Und die Amis regieren uns und die Amis [...] versuchen, uns zumindest in den 3. Weltkrieg zu ziehen".341 Hieran anknüpfend erklärte "Björn Banane" anschließend unmissverständlich, dass die Bundesrepublik "eine Firma ist und kein souveräner Staat."342 In seiner Person wird die oben beschriebene Überschneidung zwischen den Phänomenbereichen "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates", "Reichsbürger und Selbstverwalter" sowie "Rechtsextremismus", deren ideologischer Kitt vor allem Verschwörungstheorien bilden, deutlich. Aktivisten des Phänomenbereichs "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" waren 2023 in Brandenburg an zwei gezielten Aktionen der Szene bei Veranstaltungen im Rahmen des Bürgermeisterwahlkampfs in Falkensee (Havelland) aktiv. Zunächst störten am 30. Mai 2023 mehrere Personen der Szene einen Auftritt der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock zur Unterstützung einer der Kandidatinnen in der Stadthalle Falkensee. Aufgrund diverser Zwischenrufe, mit Aussagen wie "Sie sind eine Volksverräterin!", wurden die Personen von der weiteren Veranstaltung ausgeschlossen. Nur wenige Tage später, am 2. Juni 2023, gelang es der Szene ein Europafest der SPD, welches unter Beteiligung des Bundeskanzlers Olaf Scholz neben der Stadthalle in Falkensee ausgerichtet wurde, massiv zu stören. Anhand der von "Björn Banane" und weiteren bekannten Akteuren der Szene lautstark geschrienen Parolen - wie zum Beispiel "Kriegstreiber! / "Stellvertreter der USA" / "Volksverräter!" - wird deutlich, dass im Jahr 2023 vor allem die klare Positionierung pro Russland in Bezug auf den Angriffskrieg gegen die Ukraine eines der bestimmenden Themen im Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" war. 337 Vgl. Telegram Kanal "Björn Banane", 16.01.2023 (letzter Zugriff am 21.11.2023). 338 Siehe Fußnote 2. 339 Siehe Fußnote 2. 340 Siehe Fußnote 2. 341 Vgl. You Tube Kanal "Björn Banane": Björn Banane in Altenburg, 04.07.2023 (letzter Zugriff am 21.11.2023). 342 Ebd. 129 Bewertung / Ausblick Die Gefahr, die von radikalisierten verschwörungsideologisch geprägten Milieus ausgeht, haben die Verfassungsschutzbehörden im Rahmen der Einführung des Phänomenbereichs "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" verdeutlicht. Nachdem in den Jahren 2020 und 2021 vor allem die Instrumentalisierung der Corona-Schutzmaßnahmen im Zentrum des Agierens dieses Milieus stand, kamen in den Jahren 2022 und 2023 im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine neue Themen hinzu. Diese wurden gleichermaßen verschwörungsideologisch aufgeladen, um das Vertrauen in das politische System der Bundesrepublik Deutschland zu erschüttern und zugleich dessen Funktionsfähigkeit zu beeinträchtigen. Im Berichtszeitraum hat das gesamte Milieu der "Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates" jedoch deutlich an Bedeutung eingebüßt. Zwar berücksichtigt der Verfassungsschutz Brandenburg, dass die charakteristische Orientierung an Verschwörungsideologien nach wie vor ein anhaltendes Radikalisierungspotenzial in sich birgt. Gleichermaßen ist aber auch zu konstatieren, dass sowohl die Teilnehmerzahlen als auch die Häufigkeit der Proteste 2023 im Vergleich zu den Vorjahren rückläufig waren. Darüber hinaus sind es mittlerweile überwiegend Einzelakteure, die den Phänomenbereich prägen. Es bleibt daher abzuwarten, ob es der Szene über den Themenkomplex "Krieg in der Ukraine" hinaus dauerhaft gelingen wird, neue Anhänger zu rekrutieren. Zwar zeichnet sich der Phänomenbereich durch eine hohe Kommunikationsfreudigkeit aus. Jedoch mangelt es an einer eigenen klaren Ideologie, die langfristig für eine entsprechende Bindungskraft sorgen könnte. Wie im Fall des Musikers "Björn Banane" dargelegt, erscheint es möglich, dass sich führende Akteure anderen extremistischen Milieus zuwenden, um mittelfristig dort aktiv zu werden. Der Verdachtsfall "AfD"343 erscheint dabei durchaus als attraktives Auffangbecken. Daher geht der Verfassungsschutz Brandenburg davon aus, dass der Phänomenbereich "Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates" in Zukunft eher an Bedeutung sowie Relevanz verlieren wird. 343 Siehe Fußnote 2. 130 7. Linksextremismus 131 7. Einleitung Linksextremismus Für den Verfassungsschutz ist "Linksextremismus" ein Oberbegriff für alle gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Bestrebungen, die auf einer Verabsolutierung von Freiheit und Gleichheit beruhen. Diese Bestrebungen haben sich zum Ziel gesetzt, die bestehende Rechtsund Gesellschaftsordnung zugunsten eines kommunistischen oder anarchistischen Systems zu überwinden. Linksextremistische Gruppierungen bekämpfen auf verschiedenen Wegen das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland. Anarchistische Gruppierungen lehnen grundsätzlich jede Form von Herrschaft ab. Aus ihrer Sicht unterwerfen sich die Bürger einem verächtlichen Zwangsakt, wenn sie Gesetze eines Staates akzeptieren. Menschliche Freiheit könne es nur nach der Abschaffung des Staates und der Errichtung einer herrschaftsfreien Gesellschaft geben. Dem folgend lehnen Anarchisten sogar demokratische Gesellschaftsformen ab und setzen diese mit autoritären Regimen gleich. Aus diesem Grund wollen sie die Bundesrepublik und ihre Institutionen zerschlagen. Hierbei wird von einigen Gruppen auch der Einsatz von Gewalt als ein legitimes Mittel befürwortet. Anarchisten richten sich damit einerseits gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung sowie andererseits gegen den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder. Eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz ist daher durch den Gesetzgeber vorgegeben. Autonome bilden mit Abstand die größte Gruppe im gewaltorientierten Linksextremismus. Weniger theoriegeleitet als Anarchisten streben diese pragmatisch nach der Schaffung von "Freiräumen", um sich der geltenden Rechtsordnung zu entziehen. Hierbei schrecken sie auch nicht vor dem Einsatz von Gewalt zurück. Autonome Szenen bilden sich primär in Großund Universitätsstädten. Meist verfügt die jeweilige Szene über einen zentralen Anlaufpunkt, um den sich ein Geflecht von Kleingruppen, Einzelpersonen und lokalen Ablegern überregionaler oder bundesweiter Organisationen sowie Strukturen formiert. Dogmatische Linksextremisten führen ihre Ideologie im Wesentlichen auf die Theorien kommunistischer Vordenker wie Marx, Engels oder Lenin zurück. Verbindendes Element ist das gemeinsame Ziel einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, die langfristig durch einen allumfassenden Umbau von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in eine "klassenlose" kommunistische Gesellschaft überführt werden soll. Diese kommunistischen Gruppierungen setzen sich für einen revolutionären Bruch mit den Eigentumsund demokratischen Machtverhältnissen ein. Sie streben hierfür zunächst die Errichtung einer "Diktatur des Proletariats" unter der uneingeschränkten Führungsrolle einer kommunistischen Partei an. Bereits dieser Alleinvertretungsanspruch einer einzelnen Partei nach Vorbild der ehemaligen DDR beziehungsweise der Sowjetunion steht klar im Widerspruch zu allen in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verankerten Prinzipien. Zu den dogmatischen Linksextremisten zählen Parteien wie die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) und die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD). Die linksextremistische Szene in Brandenburg lässt sich in drei maßgebliche Kategorien einteilen. Hierbei handelt es sich erstens um dogmatische Linksextremisten in linksextremistischen Parteien, zweitens um parteiunabhängige beziehungsweise parteiungebundene Strukturen sowie drittens um ein weitgehend unstrukturiertes linksextremistisches Personenpotenzial. 132 Linksextremistisches Personenund Organisationspotenzial in Brandenburg (zum Teil geschätzt) 2021 2022 2023 Parteien: "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) 40 30 20 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) EP344 EP EP Parteiunabhängige bzw. parteiungebundene Strukturen - "Rote Hilfe e. V." (RH) - 360 (EA345) 360 (EA) 400 (EA) Weitgehend unstrukturiertes linksextremistisches Personenpotenzial - Autonome - 240 200 200 Sonstige linksextremistische Bestrebungen 50 30 20 Mehrfachmitgliedschaften 70 100 100 Gesamtzahl der Linksextremisten (nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften) 630 530 550 Wie der vorangestellten Tabelle zu entnehmen ist, unterscheiden sich die Personenpotenziale der drei Kategorien erheblich. Während die beiden kommunistischen Parteien DKP und MLPD in Brandenburg kaum noch (aktive) Mitglieder haben, verharrt das unstrukturierte linksextremistische und überwiegend gewaltorientierte Personenpotenzial der Autonomen auf dem Vorjahresniveau. Dies korrespondiert mit dem im Vergleich zum Bundestrend anhaltend niedrigen Aktionsund Mobilisierungsniveau der linksextremistischen Gruppierungen in Brandenburg. Der linksextremistische Verein "Rote Hilfe e.V." veröffentlichte in seinen Presseprodukten einen Mitgliederzuwachs. Beide kommunistischen Parteien befinden seit Jahren in einer fortgesetzten Abwärtsspirale. Die schwachen Parteistrukturen in Brandenburg, anhaltende ideologische Klüfte zu populäreren linksextremistischen Gruppierungen, dogmatische Alleinvertretungsansprüche sowie der hohe Altersdurchschnitt der wenigen Mitglieder verhindern Zuwächse und eine politische Wahrnehmbarkeit.346 Unter sonstigen linksextremistischen Bestrebungen in Brandenburg werden diejenigen Gruppierungen zusammengefasst, die nicht unter eine der drei obigen Kategorien fallen. Dazu zählen zum Beispiel anarchistische Kleinund Kleinstgruppen, wie die anarchistisch-syndikalistische "Freie Arbeiterinnenund Arbeiter-Union" (FAU)347 oder die trotzkistische "Gruppe ArbeiterInnenmacht" (GAM)348, die in Brandenburg jedoch kaum Öffentlichkeitswirkung entfalten. Thematisierten die meisten linksextremistischen Bestrebungen im Land Brandenburg Jahr 2022 in ihren Aktionen vor allem den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und in der zweiten Jahreshälfte die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen des Kriegs auf Deutschland, erfolgte 2023 wieder 344 EP = Einzelpersonen. 345 EA = Eigenangabe des Beobachtungsobjektes. 346 Siehe Berichterstattung der Verfassungsschutzberichte der Vorjahre. 347 Vgl. Ausführungen zur FAU in den Verfassungsschutzberichten 2022 der LfV Brandenburg sowie des BfV, Kapitel Linksextremismus. 348 Vgl. Ausführungen zur GAM im Verfassungsschutzbericht 2022 des BfV, Kapitel Linksextremismus. 133 eine Zuwendung auf eher traditionelle linksextremistische Themenfelder mit zunehmenden Anteilen des Klimaschutzes. Mit dem Angriff der palästinensischen islamistisch-terroristischen "HAMAS" auf Israel am 7. Oktober 2023 zeigten sich die tiefgreifenden ideologischen Differenzen zwischen und innerhalb einzelner linksextremistischen Bestrebungen noch deutlicher als bei dem Thema des russischen Überfalls auf die Ukraine. Im autonomen linksextremistischen Lager dominiert eine pro-israelische Position. Im dogmatischen Linksextremismus verfestigt sich die Tendenz, Partei für die palästinensische Seite zu ergreifen, auch wenn viele Gruppierungen das Vorgehen der "Hamas" verurteilen. In der Landeshauptstadt Potsdam versuchten Linksextremisten des postautonomen Spektrums beharrlich auch 2023 neue Bündnisformen zu entwickeln und sodann als Plattform zu nutzen. Trotz anfänglicher Vernetzungen ließen sich zivilgesellschaftliche Adressaten bislang nicht auf derartige Vereinnahmungsversuche ein. Neue und vor allem jüngere aktionsorientierte Akteure konnten kaum gewonnen werden. Im Folgenden soll ein genauerer Blick auf die beiden bedeutendsten extremistischen Akteure im brandenburgischen Linksextremismus geworfen werden. Hierbei handelt es sich um Autonome und den Verein "Rote Hilfe e. V.". 134 7.1 Autonome Sitz / Verbreitung Autonome Szenen finden sich landesweit in größeren Städten wie Potsdam und Cottbus aber auch in Kleinstädten wie Finsterwalde (Elbe-Elster), Neuruppin (Ostprignitz-Ruppin) und Teltow (Potsdam-Mittelmark). Gründung / Bestehen Seit dem Ende der 1970er Jahre entwickelten sich in der Bundesrepublik nach der Studentenbewegung von 1968 sowie den Aktivitäten der "Sponti-Szene"349 lokale autonome Szenen. Nach der Wiedervereinigung schlossen sich auch in Brandenburg Personen zu derartigen Gruppierungen zusammen. Struktur / Repräsentanten Der autonome Linksextremismus stellt weder in Organisationsstruktur noch hinsichtlich Ideologie und Strategie eine homogene Struktur dar. Politische Weltanschauungen und Methoden zur Erreichung dieser unterscheiden sich zwischen regionalen Szenen ebenso wie innerhalb lokaler Bündnisse und Gruppen. Autonome haben ein ambivalentes, eher pragmatisches Verhältnis zu festen Gruppenstrukturen. Die brandenburgischen Szenestrukturen sind somit zumeist nur lokal verankert und nicht dauerhaft in überregionale Bündnisse eingebunden. Im Zusammenhang mit szenetypischen Großveranstaltungen und aus der Notwendigkeit als geschlossene Einheit zu wirken, kommt es jedoch zu zeitlich befristeten Kooperationen mit anderen linksextremistischen Gruppierungen. Eine längerfristige Vernetzung und der Aufbau fester autonomer Strukturen scheitern häufig an der geringen Verweildauer einzelner Mitglieder in der Szene.350 Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Dem aktiven Personenpotential der autonomen Szene im Land Brandenburg können etwa 200 Personen zugerechnet werden. Veröffentlichungen Die autonome Szene in Brandenburg berichtet über ihre Aktivitäten zumeist im Internet. Hierfür werden einschlägige Szene-Portale ebenso wie Blogs und soziale Netzwerke genutzt. Kurzportrait / Ziele Die autonome Szene besteht aus lokalen Personenzusammenschlüssen, deren Ziel die Überwindung des politischen Systems in Deutschland ist. Obwohl die autonome Szene zumeist kein in sich geschlossenes Weltbild vertritt, orientiert sie sich klar an anarchistischen Ideologien. So lehnen Autonome sowohl Staaten als auch Parlamentarismus als illegitime Herrschaftsapparate beziehungsweise -formen grundlegend ab. Bei genauerer Betrachtung fällt zudem auf, dass die autonome Szene vor allem durch eine "Anti-Haltung" geprägt ist. Autonome wissen zwar sehr genau, was sie politisch ablehnen und bekämpfen; eine konkrete Ausgestaltung der von ihnen angestrebten "herrschaftsfreien Gesellschaft" bleiben sie jedoch schuldig. 349 Als "Spontis" wurden in den 1970er und 1980er Jahren politisch linksorientierte Gruppen bezeichnet, deren Grundidee es war, mit einer "Spontaneität der Massen" für eine revolutionäre Überwindung des bestehenden Systems zu kämpfen. Hierfür besetzte die "Sponti-Szene" zum Beispiel Häuser oder rief zu wilden Streiks in Betrieben auf. 350 Homepage Bundeszentrale für politische Bildung: "Die internationale Vernetzung von Linksextremisten", 12.3.2018 (letzter am Zugriff 02.12.2022). 135 Die autonome Szene organisiert ihren politischen Kampf mit unterschiedlichen, zum Teil bis weit in die politische Mitte anschlussfähigen Themen. Im Zentrum stehen Aktionsfelder wie "Antifaschismus", "Antirassismus", "Antimilitarismus", "Kurdistansolidarität", "Klima" sowie "Antirepressions-" und "Antigentrifizierungsarbeit". Unter dem Begriff "Antifaschismus" verstehen Linksextremisten etwas Anderes als Demokraten. Einerseits wollen sie den Kampf - teils wörtlich - gegen Personen und Gruppen führen, die sie der rechtsextremistischen Szene zurechnen. Andererseits wollen sie gegen das kapitalistische System und seine Repräsentanten kämpfen. Kapitalismus verstehen sie dabei nicht nur als Wirtschaftssondern als ein allumfassendes Herrschaftssystem. Das hier abgebildete heutige Symbol der "Antifa"351 steht somit nicht für eine einzelne Organisation, sondern eher für die Botschaft, dass es bei der "Antifaschistischen Aktion" nicht um zivildemokratisches Engagement gegen Rechtsextremismus geht, sondern gerade um die Abgrenzung vom "bürgerlichen" und zivildemokratischen Engagement gegen Rechtsextremismus. Die autonome Szene nimmt ihren "Kampf gegen den Faschismus" sowie das "Zerschlagen des Systems" durchaus wörtlich. Gewalt wird als legitimes politisches Mittel angesehen und gezielt eingesetzt. Hauptziele autonomer Gewaltstraftaten sind einerseits Vertreter staatlicher Behörden, allen voran Polizeibeamte. Andererseits richtet sich autonome Gewalt gegen Rechtsextremisten oder gegen Personen, die von der autonomen Szene als solche klassifiziert werden. Mithilfe von Aktionsbündnissen und Kampagnen versuchen Autonome, tagespolitische Themen aufzugreifen. Diese sollen perspektivisch in der linksextremistischen Szene verankert werden, um somit ihre Szene-Isolation zu überwinden und ihre Anschlussfähigkeit an das demokratische Spektrum voranzutreiben. Themen, die weit oben auf der politischen Agenda stehen, wie aktuell etwa "Klimaschutz", werden als Aktionsfelder vereinnahmt. Ziel ist, die Deutungshoheit zu gewinnen, die demokratische Klimabewegung zu radikalisieren und einen allumfassenden Systemwandel linksextremistischer Prägung durchzusetzen. Auch das Themenfeld "Antifaschismus" bildet eine inhaltliche Klammer für weite Teile des linksextremistischen (und zugleich auch demokratisch-linken) Spektrums - auch über Differenzen der sehr heterogenen und oft zerstrittenen Akteure hinweg. Unter Gentrifizierung wird allgemein die soziale Verdrängung ansässiger Menschen durch wohlhabendere Bevölkerungsschichten verstanden. Diesem vor allem in städtischen Ballungszentren anzutreffenden Prozess kann nach Auffassung der autonomen Szene ebenfalls nur durch die Überwindung des Kapitalismus wirksam begegnet werden. Dabei erhalten Hausbesetzungen mit dem Ziel der Eroberung und Aneignung "herrschaftsfreier Rückzugsräume" eine symbolische Wirkung. Diese sollen bis weit in die gesellschaftliche Mitte reichende Sympathien erzeugen. Hieran wird deutlich, dass Autonome oftmals nur einfache monokausale Erklärungsansätze für komplexere Themen liefern. Zudem sind klare Feindbilder bei Extremisten typisch anzutreffende Denkmuster. Die "Kurdistansolidarität" ist ein weiteres althergebrachtes Agitationsfeld brandenburgischer Linksextremisten - vor allem in Potsdam und Cottbus. Dabei versuchen Linksextremisten durch die Teilnahme an 351 Vgl. Jahresbericht der Verfassungsschutzbehörde des Landes Brandenburg 2022 sowie Jahresbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz 2022, S.134 f. 136 Demonstrationen Bündnisse mit kurdischen Aktivisten und Anhängern der PKK sowie YPG zu schmieden.352 Das im nördlichen Syrien gelegene kurdische Gebiet "Rojava" ist ein verklärter Sehnsuchtsort für Linksextremisten, die dort auf kurdischer Seite vereinzelt in den bewaffneten Kampf ziehen. Den im Kampf Getöteten wird in einigen linksextremistischen Gruppierungen ein Märtyrerstatus zugeschrieben. Mit dem Aufkommen neuer beziehungsweise wiederholt aufflammender militärischer Auseinandersetzungen, wie dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine sowie dem Überfall der terroristischen "HAMAS" auf Israel und damit verbundenen Gegenreaktionen, gewinnt das Aktionsfeld "Antimilitarismus" wieder zunehmend an Bedeutung. Ziel von Aktionen gewaltorientierter Linksextremisten sind dabei insbesondere Rüstungsunternehmen und ihre Zulieferbetriebe, die Bundeswehr, politische Parteien und Entscheidungsträger. Finanzierung Die autonome Szene finanziert sich maßgeblich durch Spenden und Einnahmen aus der Organisation von Szeneaktivitäten, wie zum Beispiel Konzerten. Mitgliedsbeiträge gibt es nicht. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Das politische Fernziel der Autonomen ist die Überwindung der gegenwärtigen Staatsund Gesellschaftsordnung zugunsten einer "herrschaftsfreien Gesellschaft". Zentrale und die diversen Spektren verbindende Ideologie ist die Ablehnung parlamentarischer und rechtsstaatlicher Strukturen sowie die Negierung des staatlichen Gewaltmonopols. Dafür befürwortet der Großteil der Szene den gezielten Einsatz von Gewalt. Gewalt ist für Autonome Ausdruck der Unversöhnlichkeit mit den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen oder der "Preis", den die in ihren Augen Verantwortlichen für die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Ordnung zahlen müssen. Die politische Fassade des kapitalistischen Systems sei der liberal-demokratische Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, welchen es zu Gunsten eines kommunistischen oder anarchistischen Systems zu überwinden gelte. Die jeweiligen Einzeltaten hatten 2023 für sich genommen kaum revolutionären oder staatsgefährdenden Charakter. Vielmehr sollen vor allem Gewalttaten als revolutionärer Beitrag der Autonomen in der Summe politische Symbolkraft entfalten. In separaten Bekennerschreiben werden Begründungszusammenhänge formuliert und oft lediglich konstruiert, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen und um Gewalt zu legitimieren. Aus diesen Gründen richten sich Autonome eindeutig gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Folglich ergibt sich die Zuständigkeit nach SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 des Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes. Entwicklungen im Berichtszeitraum Seit 2019 konnte die autonome Szene in Brandenburg ihre Anhängerschaft nicht mehr vergrößern. Derzeit wird das aktive und relevante Personenpotenzial auf rund 200 Personen geschätzt. Dieser Rückgang hängt unter anderem mit der Auflösung lokaler Kleinstrukturen zusammen, die nach dem Ende der Corona-Pandemie keine neuen Aktionen entfalten konnten. Feste und hierarchische Organisationsstrukturen existieren weiterhin nicht. Die Szene wird seit vielen Jahren durch lokale, heterogene, autonome Gruppierungen mit volatilen Aktionsniveaus geprägt. Der Versuch postautonomer Akteure, hier vor allem die Berliner "Interventionistische Linke"353, in Brandenburg langfristige, größere Bündnisse aufzubauen, scheiterte bislang. Aufgrund ihrer örtlichen Schwerpunkte lassen sich Autonome vorwiegend als "Großstadt-Phänomen" beschreiben. Demnach sind sie im Land Brandenburg vornehmlich in Potsdam und Cottbus aktiv. Jedoch weisen ebenso Kleinstädte wie zum Beispiel Finsterwalde (Elbe-Elster), Oranienburg (Oberhavel), Neuruppin (Ost-Prignitz), Teltow, Stahnsdorf und Kleinmachnow (alle drei PotsdamMittelmark) eine aktivere beziehungsweise im Jahresverlauf 2023 wieder aktivierte autonome Szene auf. 352 Für weitere Informationen zur PKK und YPG siehe das Kapitel 9 "Auslandsbezogener Extremismus". 353 Vgl. Jahresberichte des Verfassungsschutzes Berlin. 137 Die Szene rekrutiert sich vor allem aus dem studentischen Milieu. Viele junge Aktivisten sind zunächst nicht wegen einer geschlossenen linksextremistischen Weltanschauung oder gar fundamentaler gesellschaftlicher Umwälzungspläne in Kontakt mit Autonomen geraten. Vielmehr haben sie den Wunsch, nach einer gerechten und weltoffenen Gesellschaft. Die Anziehungskraft des linksextremistischen Milieus resultiert offenbar weniger aus der Attraktivität der Ideologie als vielmehr aus einem Gruppenund Identifikationsgefühl. Bei ihren Aktionen verlassen Autonome oft den demokratischen und rechtsstaatlichen Rahmen. Die direkte körperliche Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner oder der Polizei erleben vor allem jungen Aktivisten als sinnstiftende Erfahrung.354 Junge Szeneangehörige werden sowohl durch die langjährige Anhängerschaft in autonomen Gruppen und im besonderen Maße durch den Verein "Rote Hilfe e.V."355, der politisch motivierten Straftätern Rechtsbeistand gewährt, radikalisiert und instrumentalisiert. Die autonome Szene professionalisierte sich in den vergangenen Jahren mit internen Demonstrations-, Blockadeund Kampfsporttrainings. Entsprechende Verhaltensweisen (Durchbruch von Polizeiketten, Verhalten nach Festnahmen, Maßnahmen zur Identitätsverschleierung) werden trainiert, um diese in der "Antirepressionsarbeit", im Kampf gegen Rechtsextremisten sowie bei Klimaprotesten, wie im Rahmen der linksextremistisch beeinflussten Kampagne "Ende Gelände", einzusetzen. Neben anderen Städten etablierte sich auch Potsdam als Austragungsort für Kampfsportevents und Workshops356. Linksextremisten versuchen durch Kampfsportveranstaltungen eine überregionale Vernetzung voranzutreiben, um neue Anhänger zu rekrutieren, zu radikalisieren und sie im Kampf zu professionalisieren. Dabei wird Kampfsport gern als Selbstverteidigung gegen eine (vermeintliche) Bedrohung durch den politischen Gegner von der Szene inszeniert. Ferner können erlernte Techniken in Demonstrationslagen und in "antifaschistischen Aktionen" offensiv eingesetzt werden. Die Aggressivität einiger Linksextremisten zeigt sich bei Überfällen, die mit einer erheblichen Brutalität ausgeführt wurden.357 Das regelmäßige Üben und Ausüben von physischer Gewalt senkt Hemmschwellen sukzessive und führt zu militanten Gewohnheiten. Autonome Gruppierungen in Brandenburg Mit einem Gesamtpotenzial von etwa 100 Personen existieren in Potsdam mehrere kleinere autonome Gruppierungen in losen zusammenhängenden Strukturen. Die zweitgrößte relevante autonome Szene Brandenburgs mit einem Potenzial von etwa 30 Personen existiert in Cottbus, gefolgt von Finsterwalde mit einer autonomen Szene von rund 20 Personen. Aktionsfeld "Antifaschismus" Das Aktionsfeld "Antifaschismus" bildet in Brandenburg den Schwerpunkt linksextremistischer Agitation. Grundsätzlich nutzt die autonome Szene Camps, Festivals und ähnliche Veranstaltungen, um sich unter dem Label Antifaschismus zu vernetzen. Anlassbezogen schließen sich immer wieder Teile des linksextremistischen Spektrums zu regionalen und überregionalen Bündnissen zusammen. Wichtigster Gegner ist dabei die AfD358. Wie in den Vorjahren kam es auch 2023 zu Straftaten zum Nachteil von Repräsen354 Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz: "Linksextremismus - Erscheinungsformen und Gefährdungspotenziale", Köln 2016, S. 21. 355 Für weitere Informationen zu dem linksextremistischen Verein "Rote Hilfe e.V." siehe Kap. 7.2. 356 siehe Verfassungsschutzbericht der Jahre 2018 bis 2020 und BMI: "Radikalisierung im gewaltorientierten Linksextremismus." 22.07.2020, https://www.innenministerkonferenz.de/IMK/DE/termine/to-beschluesse/20210616-18/analyse.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (letzter Zugriff am 28.02.2024). 357 Vgl. Darstellungen in den Verfassungsschutzberichten der Vorjahre sowie den Prozess des OLG Dresden gegen die Gruppierung um Lina E. 358 Vgl. FN 2. 138 tanten dieser Partei und ihrer Einrichtungen. Dazu zählten unter anderem Sachbeschädigungen an Parteibüros und Veranstaltungslokalitäten, tätliche Angriffe auf Parteimitglieder sowie Sachbeschädigungen insbesondere an privaten Fahrzeugen von AfD-Funktionären. In gezielten Kampagnen wird gegen Vermieter mobilisiert, die Veranstaltungsorte an die AfD vermieten. Ebenso sind Unternehmen betroffen, die der Partei eine entsprechende Logistik zur Verfügung stellen. Diese Form der politischen Intervention wurde mit Hilfe des Meldeportals "Verpetz die AfD" seit 2020 intensiviert. Aktionsfeld "Antigentrifizierung" Autonome versuchen in Potsdam im Aktionsfeld "Antigentrifizierung" das Thema des angespannten Wohnungsmarktes und der steigenden Mietpreise zu besetzen. Ziel ist, die Thematik mit der Systemfrage zu verknüpfen und damit Sympathien innerhalb der Bevölkerung zu erzielen. So auch Anfang Mai 2023 im Rahmen eines durch zivilgesellschaftliche Gruppen organisierten "Stadtund Klimacamps", bei der kurzfristig (zwar eher symbolisch) jedoch medienwirksam das zum Abriss vorgesehene Plattenbaugebäude Staudenhof in der Potsdamer Innenstadt besetzt wurde. Darüber hinaus gelang es der Szene 2023 nicht, an frühere Aktionen im Rahmen der europaweit ausgerufenen "Housing Action Days"359 anzuknüpfen. 2022 und 2023 fanden keine entsprechenden Aktionen weder in Potsdam noch im Land Brandenburg statt. Aktionsfeld "Antirepression" Die aggressive Grundhaltung autonomer Gruppen richtet sich nicht nur gegen den politischen Gegner, sondern auch gegen staatliche Organe, wie die Polizei, Behörden oder Abgeordnete des Landtags. Ihnen wird vorgeworfen, im Rahmen ihrer staatlichen Funktion Repression auszuüben und einen Überwachungsstaat zu schaffen. Insbesondere in der Debatte um vermeintliche "Polizeigewalt" im Zusammenhang mit Exekutivmaßnahmen gegen die linksextremistische Szene gelingt es Autonomen, Anschluss an das bürgerliche Spektrum zu finden. Mit dem diskreditierenden Narrativ, das staatliche Repression willkürlich stattfinde, versuchen Linksextremisten den bürgerlichen Protest gegen staatliche Organe für sich zu instrumentalisieren. Im Jahr 2021 beginnend wurden mehrere Prozesse gegen militante Linksextremisten im Jahr 2023 vor Gericht weitergeführt. In Folge schufen Linksextremisten Großkampagnen, die sich gegen das Justizsystem und die Polizei mit Slogans wie etwa "Das System ist kriminell - Nicht der Widerstand" richteten. Beispielhalft sind die Demonstrationen und Proteste im Zusammenhang mit dem Prozess gegen die "Antifa-Ost-Gruppierung" um Lina E. und drei weiteren Linksextremisten. Lina E. und drei weitere Männer wurden Ende Mai 2023 vom Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Dresden wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, beziehungsweise wegen ihrer Unterstützung, zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Sie sollen zwischen 2018 und 2020 in unterschiedlicher Beteiligung Rechtsextreme überfallen haben. Neben der Solidarität mit den Angeklagten werden innerhalb der Szene Erzählungen hinsichtlich "der Verstrickungen von Faschist:innen im Staat" sowie "die Kriminalisierung von Antifaschismus" verbreitet. Auch die sich im Jahr 2020 in Potsdam gegründete Organisation "Red & Anarchist Skinheads Potsdam" (RASH Potsdam360) solidarisierte sich mit der von Linksextremisten bundesweit betriebenen Kampagne "Free Lina" sowie anderer von der "Roten Hilfe e. V."361 orchestrierten Solidaritätskampagnen gegen die 359 Vgl. https://perspektive-online.net/2023/03/hier-finden-die-housing-action-days-2023-statt/ (letzter Zugriff am 15.11.2023) 360 Dabei handelt es sich um eine eigenständige RASH-Sektion, die sich aus der 2018 aufgelösten "RASH Berlin-Brandenburg" und den "Scortesi beim SV Babelsberg 03" heraus gründete. Die Gruppierung beschreibt sich selbst als einen Zusammenschluss von Menschen, die sich mit der Idee von RASH, einer "antifaschistischen und antikapitalistischen Gegenkultur", verbunden fühlen. Ihre Aufgabe sehen die Mitglieder unter anderem in der aktiven Unterstützung sozialer Kämpfe in Potsdam. Sowohl Symbolik als auch Ausdrucksweise sind Anhaltspunkte für die Aktivität von Linksextremisten innerhalb der Gruppierung. 361 Für weitere Informationen zu dem linksextremistischen Verein "Rote Hilfe e.V." siehe Kap. 6.2. 139 Verurteilung von Linksextremisten sowie die Anwendung des SS 129 des Strafgesetzbuches (Bildung krimineller Vereinigungen). Auch wenn das Organisationsund Mobilisierungsniveau der Brandenburger linksextremistischen Szene nicht sehr hoch ist, ist vor allem der Verflechtungsraum um Berlin der Aktionsraum für linksextremistische Täter aus Berlin. Für die linksextremistische Szene Brandenburgs und den vorwiegend aus Berlin stammenden Unterstützern ist das in direkter Nachbarschaft zum Flughafen BER in Schönefeld (DahmeSpreewald) geplante Einund Ausreisezentrum das zentrale Hassobjekt. Gleichwohl gab es trotz umfangreicher Mobilisierung auf szenetypischen Portalen kaum konkrete Beteiligungen an Demonstrationen gegen den "Abschiebeknast" und gegen die als "Abschiebeparteien" diffamierten Parteien SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Aktionsfeld "Antimilitarismus" Trotz der anhaltenden Aufrufe auf der vom Verfassungsschutz als linksextremistisch eingestuften Webseite "Indymedia" und auf anderen einschlägigen Webseiten "die Rüstungsindustrie anzugreifen"362, konnte auf diesem traditionellen Aktionsfeld das Niveau des Vorjahres nicht erreicht werden. Auf der beworbenen Internetseite ist eine Liste mit Adressdaten von mehreren Unternehmen (geordnet nach Produzenten, Zulieferern, Logistik, Forschung, Finanzierung, Legitimierung), die nach Darstellung der Autoren in Zusammenhang mit deutschen Waffenexporten stünden und somit Linksextremisten als potentielle Anschlagsziele dienen würden. Daher hat der Verfassungsschutz Brandenburg im Rahmen seiner Zuständigkeit im Bereich Wirtschaftsschutz gemeinsam mit der Polizei des Landes Brandenburg potentiell betroffene Firmen im Land sensibilisiert. Aktionsfeld "Kurdistansolidarität" Erneut waren 2023 seitens brandenburgischer Linksextremisten Solidaritätsbekundungen und Spendenaktionen im Zusammenhang mit Kurdistan und der extremistischen "PKK" zu vernehmen. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Gelder nicht nur in zivile Projekte, sondern auch in den bewaffneten Kampf fließen werden.363 Pressestatements insbesondere der "PKK"-eigenen Medien364 über Solidaritätsveranstaltungen in Deutschland sind stark von der "PKK"-Ideologie durchdrungen. In Potsdam ist der Märtyrerkult um getötete ausländische Kämpfer der "PKK" in der linksextremistischen Szene mittlerweile fest etabliert. Jährlich wird, auch mit Unterstützung der "Roten Hilfe", dem Tod eines brandenburgischen Linksextremisten gedacht. Dieser war im Dezember 2018 laut übereinstimmenden Berichten extremistischer Medien bei einem türkischen Luftangriff in Kurdistan ums Leben gekommen. Zu Jahrestagen finden "musikalische Gedenken" statt. Der Verstorbene wird neben anderen mit Terroristen wie Ulrike Meinhoff gleichgesetzt.365 Versuche der Einflussnahme von Linksextremisten auf die Klimabewegung Im Jahr 2023 versuchten Linksextremisten bundesweit erneut, ihren Einfluss in Klima-Aktionsbündnissen auszubauen. Dieses gilt ebenso für Bündnisse, die sich gegen Infrastrukturprojekte wie den Bau von Autobahnen oder Flughäfen richten. Derartige Themenfelder haben gerade bei Jugendlichen eine große Anziehungskraft. Vor allem postautonome Gruppierungen forcieren seit Jahren die Öffnung der klassischen linksextremistischen Themenfelder für Argumente des Klimaschutzes. Bei der Organisation von Aktionen nehmen Postautonome weiterhin eine dominierende Stellung ein. Im Gegensatz zu Autonomen versuchen Postautonome durch langfristig angestrebte Kampagnen die gesellschaftliche Isolation von Linksextremisten zu durchbrechen und breit angelegte gesellschaftliche 362 Vgl. Indymedia, 3.4.2022 (letzter Zugriff am 7.1.2023). 363 Vgl. Kapitel 9 Auslandsbezogener Extremismus. 364 Siehe Abschnitt "Veröffentlichungen" im Kapitel 9 Auslandsbezogener Extremismus. 365 Vgl. Kapitel 9 Auslandsbezogener Extremismus und Indymedia, Beitrag vom 12.12.2022 (letzte Zugriffe 19.12.2022). 140 Protestbewegungen von innen heraus zu radikalisieren. Sie sehen sich als Scharnier zwischen militanten Autonomen und gemäßigten Linken. Daher wird von Postautonomen die Gewaltfrage nach rein strategischen Erwägungen beantwortet. Neben anderen Themenfeldern eignen sich aus ihrer Sicht besonders Umweltkampagnen aufgrund der hohen gesellschaftlichen Bedeutung und Aktualität dazu, die Grenzen zwischen extremistischem und demokratischem Protest zu verwischen und demokratische Aktivisten zu radikalisieren. Einer der linksextremistischen Hauptakteure in der Klimabewegung ist hierbei die "Interventionistische Linke" (IL). Für sie ist die Kampagne "Ende Gelände" aufgrund ihres Bekanntheitsgrades und der Verortung im zivilgesellschaftlichen Spektrum von entscheidender Bedeutung. Daher agiert die "IL" gemeinsam mit Umweltgruppen im Rahmen von "Ende Gelände". Anhaltspunkte für eine Beeinflussung von Linksextremisten existieren im Bundesgebiet für verschiedene Ortsgruppen von "Ende Gelände".366 In Brandenburg gelang es der "IL" trotz entsprechender Expansionsbemühungen bislang nicht, eine Ortsgruppe zu etablieren. Grundsätzlich zeigen sich in den aktuellen Entwicklungen und im gesellschaftlichen Diskurs jedoch Tendenzen der Entgrenzung des Linksextremismus in die Klimaschutzbewegung hinein. Gleichzeitig ergibt sich bei einigen selbsternannten Klimaschützern eine zunehmende Akzeptanz für extremistische Positionen sowie Mittel. Das Jahr 2022 brachte mit der Gruppierung "Letzte Generation" eine in ihrer Aktionsfrequenz, Flexibilität und Kompromisslosigkeit bundesweit einzigartige und in sich sehr heterogene Klimaschutzgruppierung hervor, die auch 2023 bundesweit auf einem hohen Aktionsniveau agierte. Entwicklungen in den heterogenen Klimaschutzbewegungen und deren Aktionsformen werden durch die Verfassungsschutzbehörden anhand der öffentlichen Berichterstattung mit Blick auf mögliche Einflussnahmen extremistischer Gruppierungen aufmerksam zur Kenntnis genommen und einer fortlaufenden Bewertung unterzogen. Eine systematische Einflussnahme von Linksextremisten auf brandenburgische Klimaaktivisten und deren Bündnisse kann nur in den seltensten Fällen beobachtet werden. Bewertung / Ausblick Autonome in Brandenburg werden sich weiterhin in den gesellschaftlichen und politischen Aktionsfeldern betätigen, von denen sie sich Anschlussfähigkeit und politische Wirksamkeit im Sinne ihres Fernziels, der Errichtung einer herrschaftsfreien Gesellschaft, erhoffen. Den Anhängern geht es um die Behebung echter oder vermeintlicher Missstände sowie um umwälzende Veränderungen der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Der seit 2020 zu verzeichnende Rückgang linksextremistischer Demonstrationen lässt sich für 2022 und 2023 nicht mehr mit der Corona-Pandemie erklären. Gleichwohl werden die sonst üblichen Proteste einerseits durch Sachbeschädigungen sowie andererseits durch Veröffentlichungen in Szenemedien kompensiert. Zu den Hauptaktionsfeldern "Antifaschismus", "Antirepression", "Kurdistansolidarität" und "Antikapitalismus" rücken Themen wie "Klimaschutz" und "Antimilitarismus" derzeit wieder verstärkt ins Zentrum linksextremistischer Debatten. Dabei dienen die aktuellen Krisen Linksextremisten als weitere Belege für die Fehlentwicklungen des kapitalistischen Systems und zur Propagierung eines allumfassenden Systemwechsels. Jedoch verhindert das "Finden gemeinsamer Positionen", größere Teile in der Gesellschaft zu erreichen. Die Bundeslage zeigt eine Verstetigung der Gewaltbereitschaft einzelner linksextremistischer militanter Kleingruppen. Diese Strukturen richten sich trotz der teilweisen Missbilligung von Szeneangehörigen mit schwersten Gewalttaten gegen politische Gegner, gegen Unternehmen und gegen Repräsentanten des als "faschistisch" verunglimpften Staates, hier vor allem Polizeibeamte. Jedoch konnte der Trend einer zunehmenden militanten Aktivität linksextremistischer Kleinstgruppen in Deutschland vorerst gestoppt 366 Der Berliner Verfassungsschutz stufte die Berliner Ortsgruppe 2020 als linksextremistisch ein. 141 werden. Dies liegt nicht zuletzt an der Verunsicherung der linksextremistischen Szene durch das "AntifaOst-Verfahren" beim OLG Dresden. Erkenntnisse zu brandenburgischen Akteuren an entsprechenden Gewaltstraftaten liegen nicht vor. Mit der Fokussierung auf das Themenfeld Klimaschutz kristallisieren sich als bevorzugte Angriffsziele unter anderem Parteien und (globale) Wirtschaftskonzerne, wie TESLA, heraus, denen aufgrund ihrer Politik oder ihrer (geschäftlichen) Aktivitäten eine Mitverantwortung für vermeintliche soziale und politische Problemfelder national und international zugeschrieben wird. Die Straftaten gegen die von der Szene ausgemachten Feindbilder werden sich auch künftig überwiegend im Bereich objektbezogener (massiver) Sachbeschädigungen und Brandstiftungen bewegen, wobei Art und Qualität sich teilweise deutlich unterscheiden können. Linksextremistische Sabotageakte werden sich dabei wiederholt auch gegen Infrastruktureinrichtungen (Bahn, Strom, Telekommunikation) richten mit dem Ziel, den "kapitalistischen Alltag" zu beeinträchtigen. Hingegen erscheint die Unterwanderung bereits bestehender und die Initiierung neuer Bündnisse durch lokale Linksextremisten wahrscheinlich. Hierbei besteht die Gefahr einer Ausweitung bisheriger Zusammenschlüsse gegen Rechtspopulisten und Rechtsextremisten auf andere Themenfelder. Linksextremisten werden versuchen, mit Angehörigen oder Gruppierungen aus dem demokratischen Spektrum zu kooperieren und so ihren Einfluss auszuweiten. Diese Mitwirkung in zivilgesellschaftlichen Bündnissen gründet sich auf Gemeinsamkeiten in den Zielvorstellungen beispielsweise in der Sozialund Flüchtlingspolitik, bei denen extremistische Positionen gerade nicht im Vordergrund stehen. Das von Linksextremisten in diesen Bündnissen verfolgte Ziel ist es allerdings, sich etwa in der Organisation von Demonstrationen zu engagieren, eigene extremistische (Um)Deutungen einzubringen, mittelfristig die Deutungshoheit zu gewinnen und somit langfristig demokratische Bewegungen zu radikalisieren. All dies dient dem übergeordneten Ziel, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu überwinden. Größtes Hemmnis bei diesem Vorgehen wird die Überwindung eigener interner ideologischer Konflikte, die Vermittlung klarer Botschaften aber auch der Wettbewerb um die Deutungshoheit mit anderen Kräften wie beispielsweise Rechtsextremisten sein. 142 7.2 Rote Hilfe e.V. Sitz / Verbreitung Der Verein "Rote Hilfe e. V." (RH) hat seinen Sitz in Göttingen (Niedersachsen) und verfügt bundesweit über 50 Ortsgruppen mit deutlich mehr als 13.000 Mitgliedern. Im Jahr 2023 waren vier Ortsgruppen in Brandenburg ansässig. Diese befinden sich in Cottbus, Königs Wusterhausen (Dahme-Spreewald), Potsdam und Strausberg (MärkischOderland). Gründung / Bestehen Der Vorläufer der heutigen "Rote Hilfe e. V." in Deutschland ist die "Rote Hilfe Deutschlands" (RHD).367 Die "Rote Hilfe e.V." wurde 1975 unter Bezug auf die "RHD" gegründet. Seit den 1990er Jahren ist der Verein in Brandenburg aktiv. Struktur / Repräsentanten Die "RH" hat eine bundesweite, stark formalisierte Organisationsstruktur. Das wichtigste Gremium der "RH" ist der Bundesvorstand. Dieser wird alle zwei Jahre auf einer Delegiertenkonferenz neu gewählt und hat den Auftrag, die Arbeit auf Bundesebene zu koordinieren und vor allem die finanziellen Mittel zu verwalten. Unterhalb des Bundesvorstandes gliedert sich der Verein in 50 Ortsgruppen, die nach sechs Regionen gemäß der Postleitzahlengebiete (Nord, Ost-Nord, Ost-Süd, West, Mitte, Süd) geordnet sind. Zur Struktur der "RH" gehört das in Göttingen ansässige "Hans-Litten-Archiv e. V." (HLA) und der in Kiel ansässige "Literaturvertrieb Rote Hilfe e. V.". Die brandenburgischen Ortsgruppen richten sich mit ihren juristischen Unterstützungsangeboten in erster Linie an die linksextremistischen Strukturen in ihren Regionen. Zum Teil gibt es deutliche personelle Überschneidungen zwischen lokaler autonomer Szene mit der jeweiligen "RH"-Ortsgruppe. Da die größte linksextremistische Szene Brandenburgs in Potsdam ansässig ist, überrascht es nicht, dass sich auch die größte Ortsgruppe der "RH" in der Landeshauptstadt wiederfindet. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Die "RH" machte 2023 eigene Angaben zur Größe ihrer Ortsgruppen. Demnach soll es in Brandenburg rund 400 Mitglieder geben. Veröffentlichungen Die "RH" berichtet über ihre Aktivitäten zum einen auf ihrer Homepage und zum anderen in ihrer quartalsweise erscheinenden "Rote Hilfe Zeitung". Darüber hinaus gibt der Verein Flyer und Broschüren zum Umgang mit staatlichen Einrichtungen heraus. Einzelne Ortsgruppen verfügen zudem über eigene Internetpräsenzen. Kurzportrait / Ziele Linksextremisten bewerten die Verfolgung der von ihnen begangenen Straftaten zumeist als "staatliche Repression". Auf diese Weise soll die Bundesrepublik Deutschland als Unrechtsstaat verunglimpft werden, der rücksichtslos und unverhältnismäßig gegen politische Akteure aus dem linken Spektrum vorgehe. Auf diese angeblichen Missstände versucht die "RH" mit "Antirepressionsarbeit" aufmerksam zu 367 Am 1. Oktober 1924 gründete sich die "Rote Hilfe Deutschlands" (RHD) als KPD-nahe Organisation. 143 machen. Die von Strafverfolgung Betroffenen werden sowohl durch persönlichen Beistand als auch finanziell unterstützt. Der Verein vermittelt Anwälte, übernimmt Gerichtskosten und trägt sogar verhängte Geldstrafen anteilig. Die "RH" ist aufgrund ihrer Größe und der ihr zur Verfügung stehenden Finanzmittel eine der bedeutendsten Gruppierungen im linksextremistischen Aktionsfeld "Antirepression". Obwohl der Verein selbst nicht gewalttätig agiert, ist das Angebot jedoch gezielt an gewaltorientierte Linksextremisten gerichtet, indem Straftäter juristisch und finanziell unterstützt werden. Darüber hinaus organisieren die einzelnen Ortsgruppen der "RH" für inhaftierte Linksextremisten regelmäßig Solidaritätskampagnen. So sollen Verurteilte während ihrer Haftzeit in der linksextremistischen Szene gehalten werden. Somit deckt der Verein nicht nur das gesamte Spektrum der linksextremistischen "Antirepressionsarbeit" ab, sondern muss sich durch seinen juristischen Beistand für gewaltbereite Linksextremisten letztlich deren politische Ziele und Methoden zurechnen lassen. Die "RH" stellt mit deutlicher Sprache klar: "Jede und Jeder, die sich am Kampf beteiligen, soll das in dem Bewußtsein tun können, daß sie auch hinterher, wenn sie Strafverfahren bekommen, nicht alleine dastehen [sic]."368 Diese Haltung zeigt, dass die "RH" nicht nur eine Förderin der gewaltbereiten linksextremistischen Szene ist, sondern die Gewalt selbst als probates Mittel der politischen Auseinandersetzung rechtfertigt. Finanzierung Die "RH" finanziert sich maßgeblich aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Die "RH" definiert sich in ihrer Satzung als "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation", die ihre juristischen Unterstützungsangebote "unabhängig von Parteizugehörigkeit oder Weltanschauung"369 anbietet. Vor diesem Hintergrund gewährt der Verein regelmäßig auch gewaltbereiten Linksextremisten seine Hilfe. Durch sein Versprechen, nach der Begehung von Straftaten juristischen und finanziellen Beistand zu leisten, sichert der Verein das Handeln gewalttätiger Linksextremisten ab. Aus genau diesem Grund agiert er letztlich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Folglich ergibt sich die Zuständigkeit nach SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 des Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes. Entwicklungen im Berichtszeitraum Die von der "RH" veröffentlichte Mitgliederzahl in Brandenburg von rund 400 verteilt sich in etwa so auf die vier Ortsgruppen: Potsdam mit 250 Mitgliedern, Königs Wusterhausen (Dahme-Spreewald) mit 50 Mitgliedern, Strausberg (Märkisches-Oderland) mit 60 Mitglieder und Cottbus mit 40 Mitgliedern. Die "RH" beschreibt sich selbst als "eine Solidaritätsorganisation, die politisch Verfolgte aus dem linken Spektrum unterstützt".370 Damit suggeriert sie bereits in der Selbstdarstellung, dass es angeblich eine staatlich angeordnete politische Verfolgung in der Demokratie gäbe. Da sie sich grundsätzlich für alle "Linken" einsetzt, kommt ihr eine Scharnierfunktion innerhalb der linksextremistischen Szene zu. Dieser Funktion wird die "RH" auch auf ihrer eigenen Webseite mit Artikeln, die den Zusammenhalt innerhalb der heterogenen linken Szene stärken sollen, gerecht. Im veröffentlichten "Plädoyer für Zusammenhalt, mehr Größe und gegen Kleinlichkeit" vom Juli 2020 wird dazu aufgerufen, inhaltliche Gräben und Widersprüche zu überwinden, um den "Repressionsorganen [nicht in] vorauseilendem Gehorsam die Arbeit ab[zunehmen]".371 Durch dieses umfassende Engagement 368 Vgl. Homepage Rote Hilfe Bundesverband: "Wer ist die Rote Hilfe", ohne Datum (letzter Zugriff am 23.11.2023). 369 Vgl. Homepage Rote Hilfe Bundesverband: "Über uns", ohne Datum (letzter Zugriff am 23.11.2023). 370 Ebd. 371 Vgl. Homepage Rote Hilfe Bundesverband: "Das sind keine Linken", 16.7.2020 (letzter Zugriff am 23.11.2023). 144 innerhalb der "linken Szene" kommt der "RH" ein weitreichender Einfluss in selbiger zu. Außerdem trägt sie maßgeblich zu ihrer Professionalisierung bei. Beispielsweise verbreitet sie szenetypisches Know-how. Dazu zählen beispielsweise Tipps zum Verhalten bei Ermittlungsverfahren, Zeugenaussagen oder Hausdurchsuchungen. Darüber hinaus organisiert sie Vorträge, Filmabende, Kundgebungen, Demonstrationen und "Solipartys".372 Das primäre Betätigungsfeld der "RH" ist die Verteidigung und die Beratung linksextremistischer Straftäter. Der Grundsatz einer möglichen finanziellen oder juristischen Hilfe ist an die Bedingung einer kategorischen Aussageund Kooperationsverweigerung gegenüber Polizei und Staatsanwaltschaft geknüpft. So wird in unterschiedlichen Artikeln, die die Solidarisierung mit Straftätern thematisieren, dazu aufgerufen, die Aussage zu verweigern. Für den Fall, dass dieser Aufforderung nicht nachgekommen wird, indem der Täter beispielsweise Reue zeigt oder sich gar für seine Tat entschuldigt, wird eine Unterstützung im Strafverfahren abgelehnt oder zurückgenommen. Folglich spielt das Handlungsfeld der "Antirepression" in jeder Ausgabe der "Roten Hilfe Zeitung" sowie auf den verschiedenen Internetauftritten des Vereins die zentrale Rolle. Polizisten werden durchgängig als "Cops" und "Bullen" bezeichnet und Staatsanwaltschaft und Gerichte als "Klassenjustiz" diskreditiert. Schwere Straftaten von Linksextremisten werden bagatellisiert, die angebliche Repression des Staates in den Vordergrund gestellt und strafrechtliche Ermittlungsbefugnisse, gemäß SSSS 129 des Strafgesetzbuches, als "Gesinnungsparagraphen" diffamiert sowie deren Abschaffung wiederholt gefordert.373 So auch in Erklärungen der "RH" zur Solidarität mit und gegen die Kriminalisierung von Klima-Aktivisten. Dabei forderte sie: "Lasst euch nicht einschüchtern, haltet eure Wohnungen und digitalen Geräte sauber. Klimaschutz und politischer Aktivismus ist wichtiger denn je!"374 Mit diesen Solidaritätsbekundungen als auch mit Vorträgen zu den Themen "Gegen die Klimabewegung Präventivhaft und SS129, Repression in Brandenburg"375 versucht sie sich als Anwalt der Klimabewegung zu etablieren und diese gleichzeitig zu radikalisieren. Ähnliche Solidaritätsbekundungen äußerte die "RH" bereits im Zusammenhang mit früheren Besetzungsaktionen von Klimaaktivisten im Lausitzer Tagebaugebiet. Bewertung / Ausblick Der Verein "Rote Hilfe e. V." ist in Brandenburg gemessen an der Einwohnerzahl und der sonstigen Schwäche der linksextremistischen Szene Brandenburgs mit vier Ortsgruppen und rund 400 Mitgliedern stark vertreten. Die "RH" schlägt Brücken innerhalb der ideologisch stark fragmentierten linksextremistischen Szene als auch zu Gruppierungen der Klimaschutzbewegung376 und wird als Konsensorganisation akzeptiert. Das verschafft ihr über das linksextremistische Spektrum hinaus Reputation. In Teilen der bürgerlichen politischen Linken gehört es weiterhin zum politischen Habitus, sich zur Mitgliedschaft in der "RH" zu bekennen. 372 Vgl. Homepage der RH-Kampagne "Aktiv werden" (ohne Datum) und Infoveranstaltung "Was tun wenns brennt" [sic!] der OG Königs Wusterhausen im Mai 2023 (letzter Zugriff am 21.11.2023). 373 Vgl. "Die Rote Hilfe Zeitung", 3/2020, S. 16 f. (letzter Zugriff am 23.11.2023). 374 Vgl. Homepage Rote Hilfe Potsdam, Beiträge vom 14.12.2022, 27.02.2023 und 16.5.2023 (letzter Zugriff am 23.11.2023). 375 Vgl. Homepage Rote Hilfe Königs Wusterhausen (letzter Zugriff am 22.11.2023). 376 Vgl. Webseite Bundesvorstand Rote Hilfe: "Haft und Meldeauflagen gegen Klimaaktivist*innen nach Jänschwalde-Blockade." 23.9.2022 (letzter Zugriff am 12.1.2023). 145 8. Islamischer Extremismus / Islamismus 146 Der Verfassungsschutz benutzt die Begriffe "islamischer Extremismus" und "Islamismus" für einen religiös motivierten Extremismus. Dieser ist deutlich abzugrenzen vom Islam als Weltreligion. Die Ausübung des Islam fällt in den Bereich der Religionsfreiheit und ist durch Artikel 4 des Grundgesetzes garantiert. Dagegen verkörpert der Islamismus eine politisch-religiöse Ideologie. Deren Anhänger wollen die existierende Staats-, Rechtsund Gesellschaftsordnung gemäß ihrem Islamverständnis in einen totalitären "Gottesstaat" umformen. Somit zielen sie auf die Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ab und sind daher verfassungsfeindlich. Das Ziel islamisch-extremistischer Bestrebungen ist die Schaffung einer aus ihrer Sicht unveränderlichen, gottgewollten Ordnung. Diese wäre nicht-pluralistisch verfasst und alleinig auf den religiösen Normen und Gesetzen der Scharia basierend. Zudem sei sie jeder anderen von Menschen geschaffenen Ordnung überlegen. Daher vertreten Islamisten die Auffassung, dass Gott der einzige legitime Gesetzgeber und Richter sei ("Gottessouveränität"). Daraus leiten sie die Einheit von Staat und Religion (arab.: al-Islam din wa daula) ab, in welcher eine Gewaltenteilung nicht mehr existiert und religiöse Normen und Gesetze alle Lebensbereiche beherrschen. Dementsprechend verunglimpfen islamische Extremisten den demokratischen Rechtsstaat basierend auf der "Volkssouveränität" als "von Menschen geschaffene Gesetze." Gesetze erachten sie als "Götzendienst" (Shirk) und daher als unislamisch. Ihre Ordnung soll strikt den extremistisch ausgelegten islamischen Rechtsnormen unterworfen werden. In der Rechtsfindung soll ausschließlich auf religiöse Quellentexte, wie Koran und Sunna, zurückgegriffen werden. Sie streben ein totalitäres, antipluralistisches System an und argumentieren auf Grundlage einer ihnen eigenen Interpretation des theologischen Konzepts vom Glauben an die Einheit und Einzigartigkeit Gottes (Tauhid). Die im Koran enthaltenen Inhalte beziehen sich auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch (beispielsweise gottesdienstliche Handlungen) sowie auf die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen. Dazu zählen unter anderem das Erbrecht, der Umgang mit anderen Religionsgemeinschaften und Vorgaben, die als "strafrechtliche Normen" dienen. Dazu zählen Strafen für Handlungen, die als Verfehlung gegen die "gottgewollte" islamische Ordnung wahrgenommen werden. Wie und in welchem Umfang die Strafen angewandt werden sollten, ist ein zentraler Bestandteil islamisch-extremistischer Diskurse. So werden in einigen Ländern, die die Scharia als einzige Rechtsquelle erachten, beispielweise als Unzucht (Zina) verstandene Handlungen, wie außerehelicher oder homosexueller Geschlechtsverkehr, aber auch das Austreten aus der islamischen Glaubensgemeinschaft (Apostasie, arab.: Ridda), mit dem Tod bestraft. Diebstahlsdelikte werden etwa mit Abtrennen von Gliedmaßen geahndet. Auch kritische Äußerungen zum Islam bewerten islamische Extremisten als blasphemische Äußerungen, die zu bestrafen seien. All dies ist unvereinbar mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. In der folgenden Übersicht werden diese Gegensätze anschaulich gegenübergestellt: freiheitliche demokratische Grundordnung islamisch-extremistisches Gesellschaftskonzept Volkssouveränität Souveränität Gottes (Tauhid) Gewaltenteilung Gewaltenkonzentration Rechtsstaatlichkeit und parlamentarische Willkürherrschaft durch islamisch-extremistische NorGesetze men, die auf religiösen Rechtsquellen (Koran und Sunna) beruhen und sich menschlicher Erwägungen o- der Veränderung entziehen universelle Menschenrechte und MenVerneinung beziehungsweise Einschränkung etwa der schenwürde Rechte auf körperliche Unversehrtheit, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und Gleichberechtigung von Frauen und Minderheiten sowie Antisemitismus pluralistische Gesellschaftsordnung Monismus, homogene und Minderheiten ausschließende Gesellschaftsordnung 147 Wahlprinzip als konstituierendes Element Spektrum von der konsequenten Ablehnung von Wahder Demokratie len, bis hin zu Akzeptanz/Teilnahme an Wahlen, mit dem Ziel, politische Macht zu erlangen und ein islamisch-extremistisches Gesellschaftssystem umzusetzen Trotz des ideologischen Korsetts dieser oben genannten Merkmale, die für die islamisch-extremistische Ideologie prägend sind, existiert eine Vielzahl von ideologischen Strömungen und Gruppierungen. Diese unterscheiden sich unter anderem hinsichtlich ihrer religiösen Grundannahmen, Strategien, politischen Mittel und geographischen Orientierungen. Die deutschen Sicherheitsbehörden unterscheiden zwischen legalistischen, gewaltorientierten und jihadistischen Islamisten. Legalisten versuchen langfristig und zunächst innerhalb des gesetzlichen Rahmens, Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen, um diese schrittweise und möglichst unbemerkt umzuformen. Zu den angewandten Strategien zählen zum Beispiel karitative Dienste, Angebote in der Jugendund Erwachsenenbildung, Spendenaktionen, Vereinsgründungen sowie die Unterwanderung bestehender Institutionen und Organisationen. Legalisten heben hervor, zur Umsetzung ihrer Ziele keine Gewalt anwenden zu wollen. Trotz allem verfolgen sie extremistische Ziele und streben nach der Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zunächst mit politischen Mitteln. Dabei weisen legalistisch-islamistische Gruppierungen durchaus ein ambivalentes und oftmals strategisches Verhältnis zur Anwendung von Gewalt auf. Es kann von Ablehnung bis zur Befürwortung reichen. Vertreter des legalistischen Islamismus in Deutschland sind etwa die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V." (IGMG), die der Muslimbruderschaft nahestehende "Deutsche Muslimische Gemeinschaft" (DMG) oder die transnationale Missionierungsbewegung "Tablighi Jama'at" (TJ). Gewaltorientierte islamische Extremisten wenden hierzulande eher selten Gewalt an, sondern nutzen Deutschland als Rückzugsraum. Jedoch rechtfertigen sie Gewalt, die ihren gesellschaftlichen oder politischen Zielen dient. Am Beispiel der terroristischen Organisationen "HAMAS" und "Hizbullah" wird das besonders deutlich. Die "HAMAS"377 ist seit dem 2. November 2023 und die "Hizbullah"378 seit dem 30. April 2020 in Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegt. Beide nutzten bislang Deutschland vor allem als Rückzugsraum für die Akquirierung von Geldern, um damit ihren Kampf gegen Israel zu finanzieren. Beide Organisationen kennzeichnet ein unverhohlener Antisemitismus, der regelmäßig auch in Deutschland artikuliert wird. Wahlen werden von Anhängern und Unterstützern beider Gruppen nur zu einem gewissen Grad als Mittel der politischen Einflussnahme betrachtet. Denn schließlich streben sie einen totalitären Staat islamistischer Prägung ohne Wahlen an. Beide Organisationen verfügen im Nahen Osten über militante Strukturen und verüben dort terroristische Anschläge. Für Jihadisten ist der Einsatz von Waffengewalt das zentrale Instrument zur Erreichung ihrer politischen Ziele. Sie interpretieren das durchaus vielschichtige religiöse Konzept des Jihad (wörtlich: Anstrengung), welches auch nicht gewaltorientierte Facetten aufweist, sehr selektiv als Pflicht jedes Muslims zum bewaffneten Kampf gegen "Ungläubige" (Kafir, im Plural: Kuffar). So werden Gewaltakte gegen einzelne Menschen, Gruppen oder Staaten legitimiert. Anhänger der 377 Vgl. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2023/11/exekutiv3-2311.html, (letzter Zugriff am 14.2.2023). 378 Vgl. Bundesministerium des Innern und für Heimat: "Betätigungsverbot für Terrororganisation 'Hizb Allah' in Deutschland", v. 30.4.2020, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2020/04/betaetigungsverbot-hizb-allah.html (letzter Zugriff am 21.1.2022). 148 terroristischen Gruppierungen "Al-Qaida" (AQ) und "Islamischer Staat"379 (IS) gehören zu dieser Kategorie. Für Brandenburg von besonderer Bedeutung ist das Personenpotenzial der "Islamistischen Nordkaukasischen Szene" (INS), deren Angehörige teilweise dem Kaukasischen Emirat (KE) angehörten, welches 2015 offiziell eine Provinz des "IS" wurde. Aus den dargelegten ideologischen Grundlagen des islamischen Extremismus ergibt sich die Zuständigkeit des Verfassungsschutzes Brandenburg für die legalistisch orientierten Gruppierungen aus SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummern 1 und 4 des Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes. Für gewaltorientierte und jihadistische Gruppen folgt die Zuständigkeit aus SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummern 1, 3 und 4 des Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes. Aktuelle Entwicklungen im Islamismus Das Jahr 2023 ist im Vergleich zum Vorjahr von einer sich deutlich verschärfenden Sicherheitslage durch den islamistischen Terrorismus geprägt. Zu Jahresbeginn boten wiederholte Koranverbrennungen durch einen Schweden irakischer Abstammung ein zentrales Motiv für Hassbotschaften islamistischer Propaganda und für Aufrufe zu Anschlägen gegen "den Westen." Die Koranverbrennungen führten zu teils gewaltsamen Protesten in Skandinavien sowie in der islamisch geprägten Welt (zum Beispiel Irak, Iran, Pakistan, Libanon und Türkei). Hierzulande nutzte diese Ereignisse das islamistische Netzwerk "Muslim Interaktiv" (MI) aus dem Umfeld der "Hizb ut-Tahrir" (HuT), um für die eigenen Zwecke zu mobilisieren. So veranstaltete die Gruppierung im Februar 2023 eine große Protestkundgebung gegen die Koranverbrennungen unter dem Motto "Der Koran ist die Zukunft" in Hamburg. Äußerungen von festgenommenen Personen, deren Attentate vereitelt wurden, zeigen, wie stark das Thema radikalisiert. Neben dem GazaKonflikt nannten sie die Koranverbrennungen als Impulsgeber für ihre Anschlagsmotive. Zeitgleich intensivierte eine Teilorganisation des "IS", der Islamische Staat Provinz Khorasan (ISPK), ihre Bemühungen, Anschläge in Europa auszuführen. Die bereits angespannte Sicherheitslage wurde durch die menschenverachtenden Massaker der islamistischen Terrororganisation "HAMAS" vom "7. Oktober" im vergangenen Jahr weiter verschärft. Israelische Zivilisten - Männer, Frauen, Kinder und älteren Menschen - wurden brutal ermordet, geschändet und verschleppt. Der "HAMAS"-Terror und der Gaza-Konflikt bieten Islamisten aller Couleur ein willkommenes Agitationsthema. Vorhandene antisemitische Narrative und israelfeindliche Stereotype können so aktiviert werden und auf ein von allen Islamisten beständig verbreitetes Feindbild zugespitzt werden: "der Kampf der Muslime gegen die Juden". Dieses trägt ein erhebliches Radikalisierungspotential in sich. Im Nachgang zu den "HAMAS"-Massakern in Israel hat das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) am 2. November 2023 die Terrororganisation "HAMAS" und das internationale Netzwerk "Samidoun" verboten, um deren Wirken in Deutschland konsequent zu unterbinden.380 Am 23. November 2023 erfolgten Exekutivmaßnahmen gegen beide Organisationen in fünf Bundesländern. Nur kurz zuvor war ein Schlag gegen antisemitische, schiitisch-islamistische Vereine gelungen. Am 16. November 2023 wurden die Räumlichkeiten des "Islamischen Zentrum Hamburg" (IZH) und weitere schiitische Vereine durchsucht, die im Verdacht stehen, die "Hizbullah" zu unterstützen beziehungsweise vom totalitären "Gottesstaat" Iran vereinnahmt wurden.381 Beide Akteure verneinen das Existenzrecht Israels. 379 Hierbei ist anzumerken, dass der "Islamische Staat" mit seiner Selbstbezeichnung zwar eine Staatlichkeit für sich in Anspruch nimmt, diese jedoch nicht (mehr) besteht. Für Details zum "IS" siehe unter anderem die Kapitel 8.2 und 8.3. 380 Vgl. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2023/11/vereinsverbot-hamas-samidoun.html., (letzter Zugriff am 14.2.2023). 381 Vgl. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2023/11/izh-1611-2.html., (letzter Zugriff am 14.2.2023). 149 Durch die HAMAS-Massaker und den Gaza-Konflikt ist eine Dynamik mit einem erheblichen Mobilisierungsmoment entstanden, aus dem Radikalisierungsprozesse von Einzelpersonen und mögliche Gewaltakte erwachsen können. Deshalb versuchen Islamisten seitdem, dass daraus erwachsende Demonstrationsgeschehen für sich zu vereinnahmen und an die Spitze einer Protestbewegung zu stellen. Ferner ist die mediale Inszenierung symbolischer Raumnahmen durch Islamisten und die Umdeutung des NahostKonflikts vom regionalen Konflikt hin zum globalen Kampf der "Umma" (Gemeinschaft aller Muslime) gegen "den Westen" von Bedeutung. Dabei forderten Islamisten in Deutschland beispielsweise die Wiedereinführung eines Kalifats, um die globale "Umma" wieder zu vereinen und rechtzuleiten. Die Gefährdung jüdischer Einrichtungen in Deutschland hat sich sowohl durch geplante als auch durch spontane Anschläge von islamistischen Terroristen erhöht. Am 14. Dezember 2023 wurden vier mutmaßliche "HAMAS"-Mitglieder - drei davon in Berlin - festgenommen. Sie werden verdächtigt, unter Anleitung eines Führungskaders der "Al-Qassam-Brigaden" einen Anschlag auf jüdische Einrichtungen in Deutschland geplant zu haben. Hierzu sollen sie auf der Suche nach einem Waffendepot in Europa gewesen sein, welches vorher konspirativ durch die HAMAS angelegt wurde.382 Der brandenburgische Verfassungsschutz hat bereits vor den "HAMAS"-Massakern vom "7. Oktober" als Frühwarnsystem funktioniert und ein Zeichen gegen die radikalisierende und menschenverachtende Ideologie der "HAMAS" gesetzt. Am 12. Juli 2023 wurde das "Islamische Zentrum Fürstenwalde al-Salam e. V." (LOS) öffentlich als gesichert extremistische Bestrebung eingestuft. Dadurch sollten gerade die Kommune, Gläubige und die Zivilgesellschaft vor Ort Klarheit im Umgang mit dem Verein erhalten. Der Verein und der zugehörige Gebetsraum werden der islamistischen Muslimbruderschaft und der terroristischen "HAMAS" zugeordnet. Im vierten Quartal 2023 wurde ein deutlicher Anstieg der antisemitischen Straftaten in Deutschland verzeichnet - darunter Sachbeschädigungen, Volksverhetzungen und Schmierereien an Häusern (Stand Dezember 2023). Auch in Brandenburg stieg die Zahl antisemitischer Straftaten an. Die salafistische Szene in Deutschland hat nach einer vermeintlichen Phase der Stagnation in jüngster Zeit wieder an Dynamik gewonnen. Der Salafismus bildet den ideologischen Nährboden für den Jihadismus von Terrororganisationen wie "IS" und "Al-Qaida". Bundesweit scheint die Szene wieder nach mehr Sichtbarkeit zu streben. Aktivitäten im Rahmen der öffentlichen Missionierung ("Street-da'wa") und salafistische Ansprachen an Infoständen erfahren offenbar eine Renaissance. Ebenso wurde wieder stärker auf bewährte Aktionsformen (z. B. Vorträge und Seminare in Moscheen) gesetzt. Hierbei lässt sich zudem eine stärkere Verzahnung zwischen sozialen Medien und realweltlich-analogem Raum beobachten. In den vergangenen Jahren wurde das salafistische Online-Angebot professionalisiert und ausgebaut. Salafistische Influencer und bekannte Prediger verbreiten so den Salafismus ungefiltert bei Jugendlichen. Das Internet ist der bedeutendste Rekrutierungsraum der salafistischen Szene. Ausreisen radikalisierter Personen in ausländische Kampfgebiete stellen eine weitere Gefährdung für die Sicherheit Deutschlands dar. Nach ihrer Rückkehr gelten sie als Idole und könnten zu Terrorakten in Deutschland anstiften. Zugleich nutzten Jihadisten und potenzielle Attentäter die Fluchtund Migrationsrouten aus der Ukraine über Osteuropa, um unerkannt nach Deutschland einzureisen. Weder die Ukraine noch Afghanistan scheinen bislang eine Strahlkraft für europäisch stämmige Jihadisten entfaltet zu haben. Dennoch ist Afghanistan zum Schauplatz für den Kampf verfeindeter islamistischer Gruppen um die Vorherrschaft im Land geworden. Denn die Regierung der Taliban wird von im Untergrund operierenden "IS"-Strukturen massiv bekämpft (zu ISPK siehe unten). Dabei besteht die Gefahr, dass sich in Afghanis382 Vgl. https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/14981/5672684, (letzter Zugriff am 14.2.2023). 150 tan erneut ein Rückzugsraum für jihadistische Terrororganisationen etablieren könnte, welcher die Möglichkeit zur jihadistischen Rekrutierung, Ausbildung und Reorganisation bietet. Bereits jetzt scheinen die Taliban erneut "Al-Qaida"-Veteranen zu erlauben, sich unbehelligt in Afghanistan aufzuhalten. Insbesondere die Verankerung der jihadistischen Gruppe "Islamischer Staat - Provinz Khorasan" (ISPK) in Afghanistan ist zu einer Gefahr für die aktuelle Sicherheitslage in Deutschland geworden. Ihr primäres Ziel ist der Sturz der Taliban und die Sicherung eines eigenen Einflussgebiets. Seit dem Abzug westlicher Streitkräfte aus Afghanistan im Sommer 2021 und der Machtübernahme durch die Taliban hat der "ISPK" in Afghanistan dutzende Anschläge auf Sicherheitskräfte der Taliban und die Zivilbevölkerung verübt. Eine Verstetigung des ISPK in Afghanistan birgt die Gefahr, dass dieser seine Anschlagstätigkeit über Afghanistan und Pakistan hinaus in weitere Nachbarstaaten oder sogar auf Ziele in Europa und Deutschland intensiviert. Dabei ist zu befürchten, dass die Gruppierung auf bereits bestehende jihadistische Netzwerke in Europa und Deutschland zurückgreift, um verstärkt Anschlagsziele im Westen ins Visier zu nehmen. Diese Gefahr führt der Fall der ausgehobenen "ISPK"-Terrorzelle in Nordrhein-Westfalen und in den Niederlanden im Juli 2023 vor Augen. Der "ISPK" hat ein größeres mediales Angebot in verschiedenen Sprachen aufgebaut, darunter das Magazin "Voice of Khurasan" sowie zahlreiche Audiound Videobotschaften. Darin ruft die Gruppierung ihre Anhänger dazu auf, weltweit Anschläge zu verüben. Diese Inhalte richten sich an ein breites Publikum und sollen oftmals allein agierenden Einzeltätern als "Terrorhandbuch" dienen. Daneben geht nach dem militärischen Zusammenbruch des "Islamischen Staates" im Irak und Syrien eine erhebliche Bedrohung für die Innere Sicherheit in Deutschland von ehemaligen "IS"-Kämpfern und Anhängern der Terrororganisation aus. Einerseits lebt die "IS"-Ideologie durch bereits bestehende und fortlaufend publizierte Terrorpropaganda zum Beispiel in "IS"-Online-Magazinen weiter. Andererseits werden "IS"-Kämpfer weiterhin versuchen, aus den Jihad-Gebieten nach Deutschland zurückkehren. Insgesamt mehr als 1.150 Personen waren aus Deutschland ausgereist, um für den "IS" zu kämpfen. Darunter auch viele Frauen, die sich aktiv der Terrororganisation angeschlossen hatten. Deren Kinder haben mehrere Jahre im Kalifat gelebt und sind mit menschenverachtender Ideologie aufwuchsen, stellen ein Sicherheitsrisiko und eine gesellschaftliche Herausforderung dar. Einige dieser Personen sind derzeit immer noch in kurdischen Gefangenenlagern, wie beispielsweise im Lager al-Hol, interniert. Allerdings gelingt es einigen Jihadisten durch Freilassung, Freikauf oder - wie in der Vergangenheit geschehen - bei Gefangenenaufständen aus den Lagern zu entkommen und sich unbemerkt aus den Kampfregionen nach Europa und Deutschland abzusetzen. Die unerkannte Einreise kampferfahrener Jihadisten, darunter auch Anhänger der "Islamistischen Nordkaukasischen Szene" (INS), birgt vielfältige sicherheitspolitische Gefahren. Zum einen könnten sie aufgrund der erworbenen militärischen Expertise unmittelbar an der Vorbereitung und Durchführung von Anschlägen hierzulande beteiligt sein. Zum anderen besteht die Gefahr, dass die unerkannt eingereisten Jihadisten aufgrund ihrer Milieu-Reputation eine Strahlkraft insbesondere in die salafistische Szene in Deutschland entfalten. Wenn sie hierzulande ungehindert ihre Ideologie verbreiten, könnten sie zur weiteren Radikalisierung von Szeneangehörigen beitragen. Neben Rückkehrern aus Kampfgebieten stellen Haftentlassungen von bereits zurückgekehrten Jihadisten oder Gefährdern aus dem Strafvollzug stellen Sicherheitsbehörden vor große Herausforderungen. Nach Medienberichten sollen im Frühjahr 2024 bundesweit zahlreihe islamistische Gefährder aus der Haft entlassen werden. Innerhalb der nächsten vier Jahre wird schätzungsweise etwa ein Drittel der aktuell Inhaftierten den Strafvollzug verlassen.383 In vielen Fällen distanzieren sich Betroffene nicht von jihadistischen 383 Vgl. https://www.bka.de/SharedDocs/Bilder/DE/Arbeitsbereiche/Fachabteilungen/TE_Grafik.html (Stand: April 2023). Von den aktuell erfassten Islamisten befinden sich nach Angaben des Bundeskriminalamtes derzeit 92 in Haft, 203 weitere Gefährder halten sich zurzeit im Ausland auf und 210 Gefährder halten sich demnach frei in Deutschland auf. Daneben liegt die Zahl 151 Ideologien, nutzen die Zeit im Strafvollzug zur weiteren Vernetzung und versuchen, ihre extremistische Ideologie in Haftanstalten unter den Mithäftlingen zu verbreiten, um diese anzuwerben und zu radikalisieren. Islamistische Anschläge im Jahr 2023 Die Zahl weltweit verübter islamistischer Terroranschläge verblieb im Jahr 2023 auf einem hohen Niveau. Weltweit waren drei Regionen (Pakistan und Afghanistan; Ostafrika; westliche Sahelzone, wie Burkina Faso und Mali) besonders vom jihadistischen Terror betroffen. Seit 2012 überziehen Terrormilizen, die dem "IS" oder "al-Qaida" nahestehen, diese Region mit einer Welle von Gewalt. In Ländern wie Burkina Faso gewinnen diese jihadistischen Terrororganisationen immer mehr an Einfluss und kontrollieren fast ein Drittel des Landes.384 Ebenso wurde Israel bereits vor dem 7. Oktober 2023 von einer Reihe von Anschlägen heimgesucht (rund 14% aller Anschläge weltweit). Dabei handelte es sich primär um niederschwellige Gewalttaten, wie Messerangriffe, Auto-Attacken oder Schusswechsel mit meist geringer Opferzahl. Im Jahr 2023 kam es wieder zu islamistischen Gewalttaten in Europa und Deutschland. In der nordfranzösischen Stadt Arras tötete am 14. Oktober ein 20-jähriger Tschetschene mit einem Messer einen Lehrer und verletzte zwei weitere Personen lebensgefährlich. Der Täter wurde von den Behörden bereits als islamistischer Gefährder geführt. Am 2. Dezember kam es zu einer weiteren Messerattacke eines aus dem nordkaukasischen Inguschetien stammenden Islamisten in der Nähe des Pariser Eiffelturms. Der Täter, der kurz zuvor der Terrororganisation "Islamischer Staat" die Treue geschworen hatte, tötete einen deutschen Touristen und verletzte zwei weitere Menschen. In einem Bekennervideo gab der Pariser Attentäter an, er könne es nicht ertragen, dass Muslime in Afghanistan und Palästina umgebracht würden. In Brüssel fuhr Mitte Oktober 2023 ein tunesisch-stämmiger Islamist mit einem Maschinengewehr bewaffnet auf einem Motorroller durch die Innenstadt und tötete zwei schwedische Fußballfans. Eine weitere Person wurde schwer verletzt. In einem Bekennervideo gab er an, im Auftrag des "IS" gehandelt zu haben. Vermutlich war die Nationalität der Opfer sehr bewusst gewählt, da Schweden aufgrund der Koranverbrennungen seit längerer Zeit durch islamistische Gruppen bedroht wurde. In Deutschland verübte Anfang April 2023 ein syrischer "IS"-Anhänger in der Duisburger Altstadt einen Messerangriff auf einen Passanten. Das Opfer starb an den Folgen. Damit wollte der Täter nach eigener Aussage einen Beitrag zum weltweiten Jihad leisten. Weniger als zwei Wochen danach verübte derselbe Täter abermals eine Messerattacke in einem Fitnessstudio in Duisburg. Er verletzte mehrere Männer lebensgefährlich und fügte einem Ersthelfer Stichverletzungen zu. Das OLG Düsseldorf verhängte gegen den Täter eine lebenslange Freiheitsstrafe. Auch nach seinen Taten ist er nach eigenen Angaben weiterhin dazu entschlossen, "Ungläubige" zu töten, da er dies als seine Glaubenspflicht sieht. Diese Beispiele führen konkret vor Augen, dass in Deutschland und Europa weiterhin eine abstrakt hohe Gefährdungslage im Bereich islamistischer Terrorismus existiert. Durch die jüngsten Entwicklungen im "relevanter Personen", das heißt Personen, die etwa schwere politisch motivierte Straftaten unterstützen, im Bereich Islamismus bei 504 Personen. 384 Vgl. https://www.swp-berlin.org/assets/afrika/publications/policybrief/MTA_PB22_2024_Quidelleur_Distributing_Weapons_and_War_on_Terror_in_Burkina_Faso.pdf; https://reliefweb.int/report/world/global-terrorism-index-2023. 152 Nachgang des HAMAS-Massakers vom "7. Oktober" und die darauffolgenden Militäroperationen im Gazastreifen gestaltet sich die Lage zunehmend dynamisch. Damit haben verschiedene islamistische Akteure ein starkes Mobilisierungsthema gewonnen, das an die jeweils eigene Zielstellung anschlussfähig ist. Aus dem jihadistischen Spektrum, wie dem selbsternannten "Islamischen Staat" und "al-Qaida", erfolgten in jüngster Zeit vermehrt Aufrufe zu Attentaten gegen israelische und jüdische Ziele sowie gegen Unterstützer Israels im Westen. Dies hat die terroristische Bedrohungslage weiter erhöht. Die hohe Gefährdungslage durch islamistische Terroristen spiegelt sich einerseits in den islamistischen Gefährdern in Deutschland und andererseits in der hohen Anzahl der vom Generalbundesanwalt eingeleiteten Ermittlungsverfahren zwischen Januar und Ende September 2023 mit Bezug zum islamistischen Terrorismus wider.385 Diese haben sich mit 356 Verfahren im Vergleich zum Vergleichszeitraum des Vorjahres fast verdoppelt. Gleichwohl verhinderten die deutschen Sicherheitsbehörden mehrere Anschläge. Ein für Brandenburg einschlägiges Beispiel ist die eines Ende November 2023 afghanisch-stämmigen 15-Jährigen aus Nordrhein-Westfalen und ein 16-Jährigen tschetschenisch-stämmigen Jugendlichen mit russischer Staatsbürgerschaft aus Wittstock, Brandenburg (OPR). Gegen beide wurde Haftbefehl wegen der Vorbereitung eines islamistischen Terroranschlags erlassen. Sie gelten als "IS"-Sympathisanten und sollen mutmaßlich einen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt Anfang Dezember 2023 und die anschließende Ausreisegeplant haben. Ebenso vereitelte das Einschreiten der Sicherheitskräfte im Januar 2023 einen geplanten Anschlag in Castrop-Rauxel (NW) zu einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Dabei wurde eine Wohnung gestürmt und ein polizeibekannter 25-Jähriger und dessen älterer Bruder festgenommen. Ersterer soll einen Giftbomben-Anschlag mit Cyanid geplant haben, um eine große Zahl argund wehrloser Menschen zu töten. Der iranische Staatsbürger aus Castrop-Rauxel soll Anhänger einer sunnitischen islamistischen Terrorgruppe sein. Bereits im September 2022 wurden erste Exekutivmaßnahmen gegen Sympathisanten des ISPK in Deutschland durchgeführt und im März gegen diese Anklage erhoben386. Im Juli 2023 wurden Mitglieder einer neun-köpfigen, zentralasiatischen ISPK-Terrorzelle in Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden verhaftet. Sie hätten sich zu einer terroristischen Vereinigung zusammengeschlossen und seit April 2022 Spenden zur Terrorfinanzierung gesammelt. Die Gruppe plante einen Sprengstoffanschlag mit dem Ziel, in Deutschland ein Attentat im Sinne des "IS" zu verüben. Nachdem auch in den Vorjahren Verbindungen des afghanischen ISPK zu Terrorgruppen in Europa zu beobachten waren, besteht weiterhin die Gefahr, dass der ISPK diese Netzwerke nutzt, um Attentäter zu rekrutieren und bei Anschlägen anzuleiten. Zudem verdeutlicht das Agieren der ausgehobenen Zelle, wie jihadistische Gruppen Flüchtlingsund Migrationsrouten gerade in Osteuropa (Ukraine) nutzen, um unbemerkt nach Deutschland zu gelangen.387 Neben diversen Anschlagsplanungen stellt die Terrorfinanzierung durch Islamisten in Europa eine erhebliche Bedrohung dar. Denn diese Gelder können zur Unterstützung von Terrororganisationen, zur Finan385 Vgl. Drucksache 20/9486 (bundestag.de), (letzter Zugriff am 14.3.2024). 386 Vgl. Der Generalbundesanwalt - 2023 - Anklage gegen ein mutmaßliches Mitglied sowie einen mutmaßlichen Unterstützer der ausländischen terroristischen Vereinigung "Islamischer Staat (IS)" erhoben, (letzter Zugriff am 14.3.2023). 387 Vgl. Der Generalbundesanwalt - 2023 - Festnahme von sieben mutmaßlichen Mitgliedern einer islamistischen terroristischen Vereinigung, Der Generalbundesanwalt - 2023 - Haftbefehle gegen sieben mutmaßliche Mitglieder einer islamistischen terroristischen Vereinigung in Vollzug gesetzt, (letzter Zugriff am 14.3.2024). 153 zierung von Anschlägen oder etwa für den Freikauf von IS-Kämpfern aus Gefangenenlagern genutzt werden. Den Sicherheitsbehörden gelang beispielsweise im Mai 2023 ein großer Aufklärungserfolg gegen ein bundesweites Netzwerk zur IS-Terrorfinanzierung.388 Aufgrund der dynamischen Gemengelage bleibt Deutschland im Fokus islamistisch motivierter Einzeltäter und gut organisierter terroristischen Netzwerke, wie dem "ISPK". Dieser leitet Attentäter aus dem Ausland an. Insbesondere geht eine konstant hohe Bedrohung von sich in kürzester Zeit radikalisierenden jungen Erwachsenen aus. Diese begehen ohne langfristige Planung, allein und mit einfachsten Mitteln Anschläge. Islamistische Terroristen und deren Propaganda werden sich in Zukunft vorrangig "weiche Ziele", wie beispielsweise Weihnachtsmärkte, jüdische Einrichtungen oder Sportereignisse für Anschlagsvorhaben auswählen. Islamistisches Personenpotenzial in Brandenburg Islamistisches Personenpotenzial in Brandenburg 2021 2022 2023 Islamische Extremisten 210 210 220389 davon Legalisten und 50 50 50 Organisationen gewaltorientierter Islamisten davon Salafisten 160 160 170 davon Angehörige der 80 80 80 INS390 Das islamistische Personenpotenzial ist in Brandenburg im Vergleich zum Vorjahr um 10 auf 220 (2022: 210) gestiegen. Wie bereits im Jahr zuvor äußerten sich auch 2023 einzelne Islamisten in Brandenburg über soziale Medien offen antisemitisch und israelfeindlich. Dies nahm im vierten Quartal deutlich zu. Dabei sind neben Akteuren der "Islamistischen Nordkaukasischen Szene" auch Funktionäre des "Islamischen Zentrum al-Salam e. V. Fürstenwalde" zu nennen. Letztere wurde vom Verfassungsschutz Brandenburg im Juli 2023 als erwiesen extremistische Bestrebung öffentlich benannt. Ein Teil der salafistisch geprägten "Islamistisch Nordkaukasischen Szene" (INS) nutzt Brandenburg weiterhin als Rückzugsraum. Allerdings suchen insbesondere Jugendliche Orientierung in der Ideologie des globalen Jihadismus, wie der Fall vom November 2023 aus Wittstock (OPR) verdeutlicht. 388 Vgl. Der Generalbundesanwalt - 2023 - Festnahmen von sieben mutmaßlichen Unterstützern der ausländischen terroristischen Vereinigung "Islamischer Staat" (IS) sowie bundesweite Durchsuchungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Beteiligung an einem internationalen IS-Finanzierungsnetzwerk, (letzter Zugriff am 14.3.2024). 389 Die Zahl der gewaltbereiten Islamisten liegt für das Jahr 2023 weiterhin wie in den Jahren zuvor im mittleren zweistelligen Bereich. Dieses Personenpotenzial ist nahezu ausschließlich dem Salafismus zuzurechnen. 390 Die Angehörigen der "Islamistischen Nordkaukasischen Szene" (INS) sind ein Teil des salafistischen Personenpotenzials. 154 8.1 Salafismus Sitz / Verbreitung Salafistische Akteure versuchen, auf die religiöse Infrastruktur muslimischer Gemeinden Einfluss zu nehmen und eigene Strukturen aufzubauen. Dem Verfassungsschutz Brandenburg sind bislang einzelne Personenzusammenschlüsse bekannt, in denen aktiv eine salafistische Ideologie verbreitet wird. Bisher liegen keine Erkenntnisse zu umfassend salafistisch geprägten Gebetsräumen in Brandenburg vor. Gründung / Bestehen Salafismus ist ein Sammelbegriff für verschiedene ideologische Strömungen. Diese sind aus dem sunnitischen Islam hervorgegangen. Sie eint das Bestreben, einen ursprünglichen und möglichst unverfälschten Islam auszuleben. Dieser orientiert sich am Idealbild, einer islamischen Frühzeit der ersten drei Generationen von Muslimen, den "frommen Altvorderen" (al-salaf al-salih). Davon leitet sich auch der Begriff "Salafismus" ab. Die islamischen Gesellschaftsund Religionsvorstellungen der ersten drei Generationen von Muslimen (etwa 7. bis 9. Jahrhundert) gelten für alle - auch nichtextremistische - Muslime als ein nachahmenswertes Ideal. Salafisten versuchen, die in den religiösen Quellen enthaltenen Aussagen umfassend, sehr strikt und wortwörtlich im Kontext des 21. Jahrhunderts anzuwenden. Der Wunsch und das Streben zum "ursprünglichen", "unverfälschten" und "wahren" Islam zurückzukehren, stellt kein neues Phänomen in der langen und vielfältigen islamischen Geistesgeschichte dar. Die heutige salafistische Bewegung entwickelte sich maßgeblich im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts im Nahen Osten. Diese ist in besonderem Maße von verschiedenen zeitgenössischen Gelehrten, die in dem Königreich SaudiArabien geboren oder ausgebildet wurden, geprägt worden. Eng verknüpft mit dem Salafismus und dessen Anspruch, die eigene religiöse Praxis aus einem wortwörtlichen Verständnis der religiösen Quellen (Koran und Prophetenüberlieferung/Sunna) abzuleiten, ist der maßgeblich auf die Anwendung von Gewalt orientierte Jihadismus. Die ideologischen Wurzeln dieser Bewegung liegen vorrangig in Ägypten und der Golfregion der 1960er und 1970er Jahre. Geprägt war diese Periode einerseits von der militärischen Konfrontation mit Israel und andererseits von der Erfahrung islamistischer Bewegungen mit autoritären Staaten, die dem "arabischen Sozialismus" anhingen. Dieser sollte säkular orientiert sein und einen Gegenentwurf zu traditionell-islamischen Lebensentwürfen darstellen. Für konservativ-islamistische Bewegungen, wie die Muslimbruderschaft, kam dies der Abkehr vom Islam und einer Beseitigung einer islamischen Gesellschaftsordnung gleich. Zudem waren sie einer massiven staatlichen Verfolgung und Repression ausgesetzt. Daraus entstand der Wunsch, die als "unislamisch" und tyrannisch verstandenen Regierungen ihrer Länder - auch mit Mitteln der Gewalt - zu beseitigen. Mit dem wortwörtlichen Verständnis der religiösen Quellen entwickelten islamistische Vordenker wie Sayyid Qutb ein militantes Konzept des "Jihad" (wörtlich: Anstrengung), mit dem Ziel, den bewaffneten Kampf gegen die und den Umsturz der "unislamischen", despotischen Regierungen und Herrscher der arabischen Länder zu legitimieren. Ein weiterer zentraler Auslöser für die Herausbildung des Jihadismus war der sowjetische Einmarsch in Afghanistan im Jahr 1979. Damit war letztlich auch der Aufstieg der terroristischen Organisation "Al-Qaida" verbunden. All dies wirkte sich maßgeblich auf die Entwicklung und Verbreitung des Jihadismus als eine transnationale Ideologie aus. Die Entstehung der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) ist eine weitere Zäsur in der jüngeren Geschichte des global operierenden Jihadismus. Der "IS" nahm während der 2000er Jahre seinen Anfang und fand seinen vorläufigen Höhepunkt 2014, als sich zentrale Akteure von der Terrororganisation "Al-Qaida" lossagten und ein eigenes "Islamisches Kalifat" - also einen islamischen "Gottesstaat" - ausriefen. Hierdurch fand erstmals eine international ausgerichtete terroristische Agenda in einem territorialen, staatsähnlichen Gebilde regional ihren Niederschlag. 155 Struktur / Repräsentanten Salafistische Akteure agieren in Deutschland zumeist in losen Netzwerken oder innerhalb einer Vereinsstruktur, die ihnen den Zugang zu den benötigten Ressourcen (Räumlichkeiten, finanzielle Mittel, Rekrutierung neuer Mitglieder) vereinfacht. In Deutschland existiert bislang weder ein "Dachverband" für salafistische Strukturen noch eine Form der politischen Vertretung, beispielsweise durch eine Partei. In Brandenburg existieren einzelne salafistisch orientierte Kleingruppen sowie eine Vielzahl von Einzelpersonen, die dem Salafismus zugeordnet werden können. Eine umfassende Vernetzung von Salafisten in Brandenburg ist bislang nur für die "Islamistisch Nordkaukasische Szene" (INS)391 bekannt. Auch eine einheitliche Predigerszene existiert in Deutschland nicht. Einzelne salafistische Prediger betätigen sich jedoch im Bundesgebiet als salafistische Multiplikatoren. Beispiele hierfür sind der in NordrheinWestfalen geborene Pierre Vogel, der in Leipzig tätige Hassan Dabbagh, der aus Bayern stammende Ibrahim El-Azzazi oder der Berliner Prediger Abul Baraa (bürgerlicher Name: Ahmad Armih). In Brandenburg traten salafistische Prediger aus anderen Bundesländern bislang nur vereinzelt auf. (siehe dazu auch Kapitel 2.1) Personenpotenzial: Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Im Jahr 2023 stieg das salafistische Personenpotenzial im Land Brandenburg leicht auf 170 Personen im Vergleich zum Vorjahresniveau (2022: 160). Die salafistischen Expansionsbemühungen lassen erwarten, dass zukünftig weitere salafistische Akteure und Strukturen in Brandenburg festgestellt werden könnten. Salafismus trägt zur Bildung einer identitätsstiftenden Subkultur bei. Die spricht vor allem Jugendliche an und äußert sich beispielsweise in einer eigenen Sprache, Symbolik sowie im Kleidungsstil. Zentrales Element ist die für eine Jugendkultur typische Abgrenzung von "etablierten Autoritäten". Die Mitglieder der Szene bezeichnen sich als "Brüder" und "Schwestern". In ihr finden sie nicht selten eine Ersatzfamilie. Salafistische Prediger werden zu Idolen und zum Teil als Influencer im Internet wie Popstars gefeiert. Für Salafisten und andere islamistische Akteure sind Minderjährige eine relevante Zielgruppe. Veröffentlichungen Da es sich beim Salafismus um keine homogene Ideologie und bei seinen Vertretern um keine einheitlich agierende Gruppe handelt, existiert eine größere ideologische Bandbreite sowie eine Vielzahl salafistischer Schriften. Teilweise wurden die Werke ins Deutsche übersetzt und werden nun im deutschsprachigen Raum verlegt. Zudem werden sie im Internet sowie als Druckexemplar gegen eine geringe Gebühr oder sogar kostenfrei zur Verfügung gestellt. Die darin enthaltenen Aussagen zu gesellschaftspolitischen Fragen propagieren oft eine Distanz zur Mehrheitsgesellschaft, wirken desintegrativ und sind häufig verfassungsfeindlich. Hinzu kommen Ideologien der Ungleichheit und gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit sowie antisemitisches Gedankengut. Oftmals relativieren oder befürworten diese Schriften sogar religiös motivierte Gewalt. Um Kinder oder Jugendliche vor salafistischen Inhalten zu schützen, werden diese Schriften von der "Bundezentrale für Kinderund Jugendmedienschutz" (BzKJ) indiziert. Bislang betraf das jedoch nur wenige Schriften, die dem Salafismus zuzuordnen sind. Betroffen sind beispielsweise der salafistische Autor Abdulrahman Al-Sheha mit "Die Frau im Schutz des Islam", "Missverständnisse über Menschenrechte im Islam" und "Die Botschaft des Islam". Bei weiteren indizierten Publikationen handelt es sich um "Fiqh für Anfänger" von Wahid Abdulsalam Baly und "Die Religion der Wahrheit" von Abdulrahman Bin Hammad al-Omari. Weitere Indizierungen betreffen Tonträger, etwa Nasheeds deutscher IS-Kämpfer, in denen zu Hass und Gewalt aufgerufen wird. 391 Für weitere Informationen zur "Islamistisch Nordkaukasischen Szene" (INS) siehe Kapitel 8.2. 156 Soziale Medien und Netzwerke spielen in den vergangenen Jahren eine immer wichtiger werdende Rolle bei der Vernetzung und Verbreitung salafistischer Propaganda sowie bei der Rekrutierung. Insbesondere Videos auf TikTok dienen als "Türöffner" für den Kontakt mit der salafistischen Szene und führen Interessierte an extremistische Inhalte heran. Als Beispiel können hierfür die reichweitenstarken Salafisten-Prediger Ibrahim El-Azzazi und Abul Baraa genannt werden. Kurzportrait / Ziele Salafisten versuchen die Religion von vermeintlich verbotenen Neuerungen zu "reinigen". Sie lehnen generell theologische, gesellschaftliche und normative Neuerungen des Islam ab. Nach ihrem Verständnis ist der "wahre" Islam seit der islamischen Frühzeit unveränderlich derselbe geblieben und alle Abweichungen davon sind unzulässige Neuerungen. Deshalb wenden sich Salafisten beispielsweise gegen den demokratischen Rechtsstaat und verunglimpfen das Grundgesetz als "menschengemachtes Gesetz", das einer islamisch legitimierten Rechtsund Gesellschaftsordnung entgegensteht, welche alleinig auf den Prinzipien der "Scharia" beruht. Aus diesem Grund ist das übergeordnete Ziel von Salafisten, "die" Scharia buchstabengetreu anzuwenden. Unter Scharia versteht man die Gesamtheit aller islamischer Normen und Rechtsvorschriften, welche aber nicht in einem "Gesetzbuch" kodifiziert vorliegen. Die Scharia soll als alleinige Richtschnur für individuelles und gemeinschaftliches Handeln dienen. Andere, nicht auf dem Islam beruhende Normenund Rechtssysteme lehnen Salafisten strikt ab. Darum zielt das Handeln von Salafisten in letzter Konsequenz darauf ab, den bestehenden Rechtsstaat und die freiheitliche demokratische Grundordnung zu überwinden. An deren Stelle möchten sie eine umfassende islamische Ordnung salafistischer Prägung etablieren. Das heißt, am Ende steht stets die Errichtung eines mit der "Scharia" konformen totalitären Staats-, Gesellschaftsund Rechtssystems in Form eines "Gottesstaats" bzw. das "Kalifat". Das käme der Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gleich. Innerhalb des Salafismus unterscheiden deutsche Sicherheitsbehörden zwischen zwei Ausrichtungen: dem "politischen Salafismus" und dem "jihadistischen Salafismus". Politische Salafisten zielen darauf ab, die Gesellschaft in einem langfristigen Prozess in einen totalitären "Gottesstaat" zu verwandeln. Sie verzichten dabei vordergründig auf Gewalt und bedienen sich gesellschaftlich akzeptierter Einflussmöglichkeiten. In Predigten, Schulungsveranstaltungen und Missionierungsarbeit werden sowohl andere Muslime als auch Andersgläubige aufgefordert, sich den Salafisten anzuschließen und sich aktiv für den Aufbau einer Gesellschaft einzusetzen, die salafistischen Vorstellungen entspricht. Hierfür sind sie sowohl in der realen Welt als auch im virtuellen Raum aktiv. Selbst wenn sie ihr verfassungsfeindliches Islamverständnis nicht gesamtgesellschaftlich umsetzen können, wird dies häufig in kleinerem Maßstab praktiziert, wie zum Beispiel innerhalb der Familie. Im Gegensatz dazu vertreten jihadistisch orientierte Salafisten die Überzeugung, die Anwendung von Waffengewalt sei nicht nur gerechtfertigt, um die eigenen Ziele zu verwirklichen, sondern der Jihad gegen "Ungläubige" und gegen "Feinde des Islam" stelle sogar eine religiöse Verpflichtung dar. Häufig versuchen sie diese Pflicht zum militanten Jihad noch mehr Nachdruck zu verleihen, indem sie diesen als "sechste Säule des Islam" bezeichnen.392 392 Jihadisten riefen in der Vergangenheit zur vermeintlichen "Verteidigung des Islam" oder der Befreiung angeblich unterdrückter Muslime auf. Diese verkündete Opferrolle von Muslimen ist ein wesentlicher Bestandteil in ihrer Rechtfertigung, selbst Gewalt auszuüben: Sie stellen den bewaffneten Kampf gegen die vermeintlichen Unterdrücker - meist Israel und "der Westen" oder arabische Staaten - als "Verteidigung" von Muslimen oder "des" Islam dar. Sie argumentieren, dieser Kampf sei eine religiös verpflichtende kollektive Aufgabe aller Muslime. Jihadistische Akteure forderten in der Vergangenheit auch 157 Allerdings sollte die Unterscheidung zwischen politischem und jihadistischem Salafismus nicht als absolute oder trennscharfe Kategorisierung verstanden werden. Die Übergänge sind oft fließend. So nehmen politische Salafisten oftmals ein ambivalentes Verhältnis zur Gewalt ein: Sie rechtfertigen, unterstützen oder heißen Gewalt gut, auch wenn sie diese nicht zwangsläufig selbst anwenden. Politische Salafisten befürworten etwa die Anwendung von Körperstrafen, wie Amputationen von Gliedmaßen als Strafe für Diebstahl. Auch fordern sie zur Tötung von Personen auf, die aus ihrer Sicht den Islam beleidigt, gegen seine Normen verstoßen oder die Religion verlassen haben (Apostasie). Daher ist der politische Salafismus mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung unvereinbar und bildet ganz wesentlich den Nährboden für die Hinwendung einer Person zu einem jihadistischen Islamverständnis. Finanzierung Die Finanzierung salafistischer Gruppen erfolgt maßgeblich über Spenden aus dem Inoder Ausland. Die Sammlungen werden etwa über religiöse Vereine, Spendenorganisationen oder Einzelpersonen koordiniert und durchgeführt. Darüber hinaus finanzieren sich einzelne salafistische Akteure zunehmend durch eine wirtschaftliche Betätigung eigenständig und machen sich dadurch von externen Geldern unabhängig. Dabei helfen unter anderem der Erwerb und die Nutzung von Immobilien, Werbeeinnahmen auf Streamingdiensten oder der Betrieb von Online-Shops, in denen szenetypische Kleidung, Literatur, Lebensmittel oder andere Artikel des Alltagsbedarfs verkauft werden. Die von ihnen angebotenen Dienstleistungen - wie Seminare oder Pilgerreisen, vor allem nach Mekka - nutzen sie sowohl für die Verbreitung ihrer extremistischen Weltanschauung als auch zur Finanzierung ihrer Bestrebungen. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Der Salafismus ist sowohl eine islamistische Ideologie als auch eine fundamentalistische Gegenkultur mit einem rückwärtsgewandten Lebensstil gegen die westliche Gesellschaft und Lebensweise. Der politische sowie der jihadistische Salafismus vertreten eine verfassungsfeindliche Ideologie. Demokratie wird von Salafisten als falsche "Religion" und die Teilnahme an Wahlen als "Götzendienst" und Unglaube betrachtet. Gesetze können demnach nur von Gott, als einzig legitimem Gesetzgeber ("Gottessouveränität"), aber niemals von einem gewählten Gesetzgeber ("Volkssouveränität") erlassen werden. Somit seien von Menschen beschlossene Gesetze "Vielgötterei". Weitere Forderungen salafistischer Akteure sind eine rigide Geschlechtertrennung im öffentlichen und privaten Raum. Sie lehnen eine gemeinsame schulische Erziehung von Jungen und Mädchen und die Berufstätigkeit von Frauen ab beziehungsweise binden diese an die Erlaubnis eines männlichen Familienmitglieds. Salafistische Akteure befürworten zudem Gewalt gegen Frauen und rechtfertigen dies mit dem Koran. Wichtiger Bestandteil eines salafistischen Islamverständnisses ist die gezielte Abwertung und Entmenschlichung von Personen, die kein salafistisches Weltbild vertreten. Damit einher geht, dass Salafisten Andersgläubigen grundlegende Rechte absprechen. Hierbei handelt es sich beispielsweise um das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder das Recht auf Eigentum. So erklärten in jüngerer Vergangenheit salafistische Akteure Menschen für vogelfrei und riefen zu deren Ermordung auf, weil sie den islamischen Glauben abgelegt haben. Ein salafistisches Islamverständnis kann die Hemmschwelle, Gewalt anzuwenden, maßgeblich senken. Somit ist dieses Verständnis geeignet um religiös motivierte Gewalttaten im Inund Ausland auszulösen. zur Teilnahme am bewaffneten Kampf auf, mit dem Ziel, in den eroberten Gebieten ein islamisches Staatswesen zu etablieren. Sie argumentierten, dieser Kampf sei eine "individuelle Pflicht" und beließen es daher nicht bei einem "abstrakten" Gewaltaufruf, sondern richteten diesen konkret an jeden einzelnen Muslim. 158 Diese Vorstellungen sind unvereinbar mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Insgesamt geht vom Salafismus eine Gefährdung für die Innere Sicherheit in Deutschland aus. Der Verfassungsschutz ist daher gemäß SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummern 1, 3 und 4 des Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes zuständig. Entwicklungen im Berichtszeitraum Die Struktur des Salafismus in Brandenburg zeichnet sich weiterhin durch einzelne salafistisch orientierte Kleingruppen und vor allem radikalisierte Einzelpersonen aus. Es liegen keine Erkenntnisse zu rein salafistisch geprägten Gebetsräumen in Brandenburg vor. Predigten und Unterweisungen in kleineren Gruppen werden für eine Kernklientel im privaten Raum angeboten. Eine umfassende Vernetzung von Salafisten ist bislang nur für die "Islamistisch Nordkaukasische Szene" (INS) bekannt.393 Nach wie vor orientieren sich die Akteure an der salafistischen Szene in Berlin und nutzen dort einschlägige Gebetsräume. Der Berliner Verfassungsschutz führt in seinen Berichten der vergangenen Jahre mehrere salafistische Moscheen und Vereine auf, die auch von brandenburgischen Akteuren genutzt werden. Verbote salafistischer Gruppierungen wurden 2023 in Brandenburg nicht umgesetzt.394 Allerdings kam es zu mehreren Ermittlungsverfahren und einzelnen polizeilichen Exekutivmaßnahmen gegen Personen mit jihadistischer Ideologie. Einzelne Personen, die dem kriminellen Clan-Milieu zuzurechnen sind, suchen zunehmend Orientierung im Salafismus. Einige davon wohnen in Brandenburg und verbreiten seit den Angriffen der Terrororganisation "HAMAS" am 7. Oktober 2023 auf Israel antisemitischen Äußerungen in den sozialen Medien. Antisemitismus ist ein bedeutendes Element islamistischer und so auch salafistischer Ideologie. Gerade junge Akteure der "INS" verbreiten Inhalte mit antisemitischer Bildsprache sowie palästinensischen Opfernarrativen in sozialen Medien. Keiner der bekannteren salafistischen Prediger und Influencer ist in Brandenburg wohnhaft. Gleichwohl geht von ihnen im virtuellen Raum ein erhebliches Radikalisierungspotenzial für den gesamten deutschsprachigen Raum aus. Sie adressieren eine jüngere Zielgruppe über kurze, einfach verständliche und authentische Videos und Live-Chats. Obwohl diese Art der Kommunikation häufig auch viele triviale Inhalte abbildet, werden gezielt salafistische Identitätspolitik vermittelt sowie Szenepersönlichkeiten angepriesen. Einzelne Salafisten starteten parallel klassische Aktionsformen wie Missionierungsarbeit im öffentlichen Raum oder Infostände in einer Fußgängerzone (Street Da'wa). Die Kampagne "Was danach?" wird vom Salafisten Pierre Vogel beworben und ist mit der salafistischen "DMG Braunschweig" vernetzt.395 Dabei sollen nach Aussage von Pierre Vogel Millionen von Flyern und Broschüren verteilt werden. Auf dem Instagram-Kanal der Kampagne wurde im August 2023 die Bestellung von 300 Broschüren in Eberswalde (BAR) vermerkt. Weitere Handlungen wurden in Brandenburg bislang nicht festgestellt. In Brandenburg lässt sich der Trend beobachten, dass in den sozialen Medien sowohl islamistische als auch nicht-extremistische islamischen Inhalte produziert, konsumiert und verbreitet werden. Die Inhalte im Internet transportieren zum Teil Kernelemente salafistischer Ideologie. Minderjährige in Deutschland kommen durch familiäre Prägung oder soziale Medien mit salafistischen und anderweitig islamistischen Einstellungen in Berührung. Häufig vertreten sie diese Haltungen aktiv. So wurden im Berichtsjahr 2023 an Brandenburger Schulen Einzelfälle bekannt, in denen Jugendliche sich radikal-islamisch und gewaltverherrlichend äußerten. 393 Die INS wird hier nicht weiter beschrieben. Für weitere Informationen zur "Islamistisch Nordkaukasischen Szene" (INS) siehe Kapitel 8.2. 394 Siehe dazu VSB 2021. 395 Die "Deutschsprachige Muslimische Gemeinschaft e.V." in Braunschweig (DMG Braunschweig) ist Beobachtungsobjekt des niedersächsischen Verfassungsschutzes. 159 Bewertung / Ausblick Salafistische Bestrebungen als Nährboden für jihadistisch-orientierte Gewalttaten werden weiterhin langfristig von enormer Bedeutung für Sicherheitsbehörden bleiben. Dies zeigt die hohe Anzahl jihadistisch motivierter Anschläge oder Anschlagsversuche in Deutschland und Europa. Ein erheblicher Anteil davon wurde von Jugendlichen und jungen Erwachsenen begangen. Sie handelten - gleichwohl teils losgelöst und ohne Bekenntnis zu einer festen terroristischen Organisation - dennoch im Geiste einer jihadistischen Ideologie.396 Sich nahezu eigenständig radikalisierende Akteure, zu deren Ideologisierung und wachsender Gewaltbereitschaft extremistische Inhalte im Internet beitragen, stellen dabei eine besondere Gefahr dar. Zudem sind sie schwer zu identifizieren. Treibende Kraft der Radikalisierung können dabei neben persönlichen Faktoren wie einer psychischen Erkrankung oder der Konsum von Online-Propaganda auch stark emotionalisierende und polarisierende "Trigger-Ereignisse", wie etwa der Gaza-Konflikt oder Koranverbrennungen in Skandinavien, darstellen. Sie sind ein Radikalisierungskatalysator und können Anlass für terroristische Taten sein. In diesem Zusammenhang sind vor allem jüdische Einrichtungen und Personen Ziel von Anfeindungen und Angriffen. Diese Tendenz wird sich wahrscheinlich im Jahr 2024 fortsetzen. Darüber hinaus stellen die Einreise von Attentätern, der Aufbau von Netzwerken - aktuell vor allem des "Islamische Staat Provinz Khorasan" (ISPK) (Kapitel 8) und die Rückkehr von "IS"-Kämpfern ein erhebliches Bedrohungspotential für die öffentliche Sicherheit dar. Die Identifizierung und Bearbeitung dieser Personen bleibt somit eine Kernaufgabe der Sicherheitsbehörden. Ebenso werden Verbindungen zwischen kriminellen und salafistisch-jihadistischen Gruppen fortlaufend geprüft. Im Jahr 2023 wurden in Deutschland zahlreiche Personen aus der Haft entlassen, die aufgrund salafistisch motivierter Straftaten inhaftiert waren. Es ist schwer einzuschätzen, ob sie nach ihrer Entlassung weiterhin eine extremistische Agenda verfolgen oder sich außerhalb der islamistischen Szene ein neues Leben aufbauen werden. Sicherheitsbehörden sind dabei gemeinsam mit Justiz und Vollzugseinrichtungen gefragt, diese extremistischen Straftäter nach der Haftentlassung weiterhin im Blick zu behalten. Im virtuellen Raum ist die Aktivität von in Deutschland lebenden Salafisten ungebrochen hoch. Neu aufkommende Medien und Plattformen werden zur Vernetzung, zur Verbreitung von Propagandamaterial oder auch für Spendenaktionen genutzt. Der Trend zur Online-Ansprache und der Online-Rekrutierung wird sich in den kommenden Jahren wahrscheinlich weiter verstärken. Auf den ersten Blick beginnen solche Anwerbungsgespräche mit unverfänglichen Fragen zur Religion und Lebensweise. Einen anderen Missionierungsansatz haben die Da'wa-Aktivitäten im realen Leben mit Kampagnen wie "Was Danach". Mit Hilfe von gesamtgesellschaftlichen Präventionsangeboten kann solchen Kampagnen aktiv entgegengetreten werden. Perspektivisch wird der weitere Zuzug von Muslimen das Bedürfnis nach Moscheen und Gebetsräumen in Brandenburg steigen lassen. Bestehende oder neugegründete Moscheen waren in jüngerer Vergangenheit immer wieder Ziel von Übernahmeversuchen lokaler oder fremder salafistischer Akteure. In den vergangenen Jahren konnten einzelne Auftritte salafistischer Prediger aus Berlin in Brandenburg festgestellt werden. Eine Verfestigung ihres Wirkens konnte unterbunden werden. Weitere Auftritte salafistischer Prediger aus Berlin sind in Zukunft in Brandenburg wahrscheinlich. Gleichzeitig werden die Berliner Gebetsräume auch Anziehungspunkte für viele salafistische Einzelpersonen aus Brandenburg bleiben. Weiterhin besteht in Deutschland die Gefahr einer Radikalisierung hier lebender Kinder und Jugendlicher, etwa in salafistischen Familienverbänden oder extremistisch geprägten Einrichtungen. Den nach Deutschland zurückgekehrten IS-Frauen entzogen die Jugendämter wegen Kindswohlgefährdung oftmals das Sorgerecht. Allerdings wurden diese Kinder häufig im Sinne der IS-Ideologie von ihren Eltern 396 Für weiterführende Informationen hierzu siehe Einleitung zu Kapitel 8. 160 erzogen und im IS-Bildungsapparat indoktriniert und teils brutalisiert. Darüber hinaus sind besonders unbegleitete minderjährige Flüchtlinge besonders gefährdet, sich zu radikalisieren. Minderjährige sind für Salafisten und andere islamistische Akteure eine sehr wichtige Zielgruppe. Salafistische Multiplikatoren, wie Imame, Erzieher oder Eltern, versuchen gezielt, ihre verfassungsfeindlichen Haltungen zu übertragen. Der geistige Missbrauch von Minderjährigen wird besonders bei jihadistischen Gruppierungen deutlich. Diese binden Kinder gezielt in ihre terroristischen Aktivitäten ein und erziehen sie zu gewaltbereiten und fanatisierten Kämpfern. Damit verwehren Jihadisten Kindern ihre Rechte, etwa auf freie Entfaltung oder personelle Selbstbestimmung, was letztlich das Kindeswohl gefährdet. In diesem Zusammenhang wird deutlich, warum Minderjährige unter der Kontrolle jihadistischer Gruppen immer wieder als Selbstmordattentäter oder als Täter in menschenverachtenden Hinrichtungsvideos agieren. Zur Abwendung von Gefahren sowie für das Wohl der Minderjährigen selbst muss daher weiterhin eine enge Zusammenarbeit aller Sicherheitsbehörden mit staatlichen sowie zivilgesellschaftlichen Trägern forciert werden. Eine Sensibilisierung des sozialen Umfelds für Verhaltensauffälligkeiten im Kontext einer salafistischen Sozialisation ist somit ausgesprochen wichtig für die Bereiche Prävention und Deradikalisierung. 161 8.2 Islamistische Nordkaukasische Szene (INS) Sitz / Verbreitung Die "Islamistische Nordkaukasische Szene" (INS) verfügt über Einzelpersonen und Personennetzwerke in Deutschland. Gründung / Bestehen Die "INS" ging aus einer Bewegung hervor, die seit der Unabhängigkeitserklärung der "Tschetschenischen Republik Itschkerien" nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 besteht. Ursprünglich war sie eine Organisation mit einer nationalistisch-separatistischen Ausrichtung. Nach und nach gewann der Salafismus im Kampf für die Unabhängigkeit für die "Tschetschenische Republik Itschkerien" eine immer größere Bedeutung. Als Konsequenz daraus gründete sich 2007 das "Kaukasische Emirat" (KE) im Nordkaukasus mit zunächst lokaler und später globaler jihadistischer Agenda. 2015 legten Führungskader des "KE" den Treueeid für den "Kalifen" des "Islamischen Staates" (IS) ab. Das "KE" wurde so organisatorisch unbedeutend und ging weitestgehend als "Kaukasus-Provinz" in den "IS" auf. Viele jihadistische nordkaukasische Kämpfer schlossen sich dem "IS" an. Struktur / Repräsentanten In Brandenburg bestehen keine gefestigten Strukturen der "INS" mit erkennbarer Hierarchie. Hiesige Akteure sind jedoch deutschlandweit durch intensive Kennund Unterstützungsverhältnisse vernetzt, die teils bis ins Ausland reichen. Personenpotenzial: Mitglieder / Anhänger / Unterstützer In Brandenburg wurden 2023 erneut circa 80 Personen (2022: 80) der "Islamistischen Nordkaukasischen Szene" zugerechnet. Ein größerer Teil gilt als gewaltbereit. Veröffentlichungen Derzeit sind aus Brandenburg keine eigenen Veröffentlichungen bekannt. Hiesige "INS"-Anhänger verbreiten jedoch Propaganda des russischsprachigen Online-Magazins "Istok" (ISTOK), das dem "IS" zuzurechnen und auch an nordkaukasische Leser adressiert ist. Kurzportrait / Ziele Trotz der Fragmentierung der "Islamistischen Nordkaukasischen Szene" eint sie die konsequente Ablehnung der Russischen Föderation. Nach dem Scheitern der nationalistischen Unabhängigkeitsbewegung in Tschetschenien und unter dem gewachsenen Einfluss salafistischer und wahhabitischer397 Ideologie während der beiden Tschetschenienkriege in den 1990erund 2000er-Jahren versuchte die "INS" in ihrer Heimatregion, ihre politischen Forderungen mittels terroristischer Anschläge durchzusetzen. Teile der heutigen Bewegung bekennen sich auch in Brandenburg zum terroristischen "Islamischen Staat" und damit zum global orientierten Jihadismus. Andere Teile streben primär die Errichtung eines von Russland unabhängigen "Gottesstaats" mit salafistisch-wahhabitischer Prägung an. Finanzierung 397 Als "Wahhabismus" wird die religiöse "Staatsdoktrin" Saudi-Arabiens bezeichnet, die ein strikt konservatives Islamverständnis verkörpert. Aufgrund ideologischer Parallelen sowie einem anhaltenden Ideenaustausch zwischen Wahhabiten und Salafisten finden sich heute zwischen den beiden Strömungen viele Überscheidungen. Zentrales Unterscheidungsmerkmal ist die Loyalität des Wahhabismus gegenüber dem saudischen Königshaus. 162 Anhänger der "INS" finanzieren sich unter anderem durch allgemeine Kriminalität. Einzelmitglieder verfügen über Kontakte in kriminelle Strukturen. Dabei verhalten sie sich höchst konspirativ. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Im Jahr 2007 rief der damalige Anführer der "Tschetschenischen Republik Itschkerien", Dokku Umarov, ein den gesamten Nordkaukasus umfassendes "Kaukasisches Emirat" aus.398 Als zunehmend islamistisch geprägte Nachfolgeorganisation zur Sezessionsbewegung der "Tschetschenischen Republik Itschkerien" versuchte das "Kaukasische Emirat" in der Folgezeit, durch militante Überfälle und terroristische Anschläge die nordkaukasischen Regionen zu vereinen. Ziel war es, einen unabhängigen Staat zu gründen, dessen Herrschaftsform sich an einem islamischen Kalifat orientiert. Da die beanspruchten Gebiete399 unter der Verwaltung der Russischen Föderation standen, versuchten die islamistischen Rebellen um Dokku Umarov mit Einsatz von terroristischen Mitteln die Russische Föderation zum Rückzug aus der Kaukasusregion zu zwingen. Mitglieder des "Kaukasischen Emirates" sind für zahlreiche Anschläge und Geiselnahmen mit vielen Todesopfern verantwortlich. Aufbauend auf länger bestehende Verbindungen zwischen der Unabhängigkeitsbewegung und dem internationalen Jihadismus richtete Dokku Umarov das "Kaukasische Emirat" stärker als Teil einer globaljihadistischen Bewegung aus - mit klaren Bezügen zur damals noch führenden Terrororganisation "AlQaida". Bereits im Jahr 2012 reisten Kämpfer des "Kaukasischen Emirats" nach Syrien, um an Kampfhandlungen teilzunehmen. Im Juni 2013 wurde das "KE" durch das Bundesministerium der Justiz als ausländische terroristische Vereinigung eingestuft und die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung ausgesprochen. Im Jahr 2015 gründeten Führungskader des "KE" eine dem "Islamischen Staat" zugehörige Organisation aus nordkaukasischen Kämpfern. Diese schworen dem damaligen "Kalifen" des "IS", Abu Bakr al-Baghdadi, ihre Treue. Dieser Schwur führte zur faktischen Auflösung des "Kaukasischen Emirats" und zum Anschluss an den "IS". Nichtsdestotrotz existieren lokale Strukturen jihadistischer Prägung im Nordkaukasus fort. Nordkaukasische Islamisten kämpfen auch für andere jihadistische Organisationen in Syrien, wie der "AlNusra-Front" und deren Nachfolgeorganisation "Hai'at Tahrir al-Sham" (HTS). Islamistische Nordkaukasier gelten als sehr umfassend geschulte, erfahrene Kämpfer, Logistiker und Ausbilder. Mit dem Niedergang des "IS" nahm die Beteiligung der nordkaukasischen Kämpfer an Kampfhandlungen in den Grenzgebieten zwischen Irak, Syrien und der Türkei stark ab. Die "INS" wird in Brandenburg auf der Grundlage des SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummern 1, 3 und 4 des Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes beobachtet. Entwicklungen im Berichtszeitraum Derzeit lebt in Brandenburg schätzungsweise eine größere vierstellige Anzahl von Migranten aus dem Nordkaukasischen Raum. Hiervon werden 80 Personen der "INS" zugeordnet. Nur der extremistische Teil der Diaspora wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Grundsätzlich ist die Lebenssituation vieler Nordkaukasier von einer unklaren Integrationsperspektive geprägt: Zum einen betonen "INS"-Anhänger einen internen Wertekodex, der vom Gewohnheitsrecht der Herkunftsregion geprägt ist, sowie die ethnische Abschottung der Szene. Zum anderen werden Nordkaukasier oftmals nicht als Flüchtlinge anerkannt. Da kein Rechtsgrund für eine Anerkennung als Flüchtling vorliegt, wird meist nur ein Duldungsstatus zuerkannt. Weil eine Rückkehr in die russische Förderation nach Tschetschenien häufig ausgeschlossen ist und im Fall der jüngeren Generation gegebenenfalls gar nicht mehr erwünscht ist, schwindet zugleich die 398 Ein Emirat stellt eine Verwaltungseinheit eines Kalifats dar. 399 Bestehend aus den Republiken Tschetschenien, Dagestan, Inguschetien, Adygien und Nord-Ossetien der Russischen Föderation. 163 Wirkkraft nationalistischer Rhetorik in der Diaspora. Als Identitätsanker und Triebfeder für eine Radikalisierung dient dann bisweilen der Salafismus. Radikalisierungsfördernd wirken familiäre oder finanzielle Probleme, Frusterfahrungen oder Probleme in der Identitätsfindung. Wichtige Szenemerkmale sind eine hohe Affinität zum Kampfsport und Waffen, kriminelle Aktivitäten in Verbindung mit hoher Gewaltbereitschaft sowie eine berufliche Orientierung hin zu (vergleichsweise leicht zu erhaltenden) Tätigkeiten im Bewachungsgewerbe. Diese Aktivitäten werden auch mit kulturellen Werten verbunden: Respekt, Durchsetzungsfähigkeit sowie Angriffsund Verteidigungsbereitschaft. Aber auch Solidarität und Zusammenhalt innerhalb der Gruppe sind für das Selbstverständnis ihrer Mitglieder wichtig. Diese Werte entsprechen dabei einem tschetschenischen Männlichkeitsbild. Denn die "INS" ist eine stark von Männern geprägte Szene.400 Zu diesem Bild gehört prinzipiell auch finanzieller Erfolg. In nordkaukasischen kriminellen Strukturen mit Bezügen nach Brandenburg finden sich auch Angehörige der "INS". Bundesweit spielen Nordkaukasier in der islamisch-extremistischen Szene nach wie vor aufgrund ihrer eher kleinen Anzahl eine untergeordnete Rolle. In Brandenburg hingegen stellen sie einen großen Teil des gewaltbereiten salafistischen Personenpotenzials dar. Eine Organisationsstruktur, wie etwa durch Vereinsnetzwerke, wurde weiterhin nicht festgestellt. Die "INS" ist in Brandenburg eine informelle Struktur, deren Anhängerschaft sich aus teils langfristigen Kennverhältnissen und ideologischer Identifikation ergibt. Der Aufbau der Szene lässt sich als weit gefasstes Netzwerk mit einzelnen Untergruppen abbilden, weniger als eine geeinte, hierarchische Pyramidenstruktur. Gleichwohl gibt es Führungspersönlichkeiten. Innerhalb der Szene bestehen eine große ethnisch-kulturelle Homogenität sowie kollektive Erfahrungen und Erinnerungen, die mit der Verfolgung und Repression durch den russischen Staat verbunden sind. All dies führt immer noch zu einer ausgeprägten Abschottung. Gerade die ältere Generation der "INS" sieht Brandenburg vorrangig als strategischen Rückzugsraum und hängt eher der Idee eines von Russland unabhängigen tschetschenischen Staates an. Ihre Ideologie gibt sie an jüngere "INS"-Anhänger weiter. Allerdings ist bei diesen eine Orientierungsverlagerung zu beobachten: Jüngere greifen aufgrund ihres ideologischen Selbstverständnisses noch immer tschetschenisch-separatistische Ideen auf, sind aber grundsätzlich deutlich stärker auf eine global-islamistische Ideologie ausgerichtet. Diese macht einen integralen Bestandteil ihrer Jugendkultur aus. Beispielhaft hierfür ist der Fall eines heranwachsenden Nordkaukasiers aus Brandenburg, welcher vergangenes Jahr festgenommen wurde. Er soll an der Planung eines Anschlags gegen einen Weihnachtsmarkt in Deutschland beteiligt gewesen sein (siehe Kapitel 8.0). Für die Bewertung der Sicherheitslage in Brandenburg muss eine verstärkte ideologische Umorientierung hin zu einem global operierenden Jihadismus unter Vorzeichen des "IS" ins Zentrum gerückt werden. Denn in Brandenburg sympathisiert ein bedeutender Teil der "INS" und insbesondere der jüngere Teil der Bewegung mit der jihadistischen "IS"-Ideologie. Dabei stellen gerade soziale Medien eine wichtige Triebfeder dar. Insbesondere junge "INS"-Anhänger sind für diese extremistischen Ansprachen empfänglich. Sie empfinden ihre Lebenssituation nicht selten als frustrierend und befinden sich möglicherweise in einer Phase der Selbstfindung, Selbstvergewisserung und Empfänglichkeit für Selbstpräsentation. Besonders der "Islamische Staat" (IS) setzt auf einen "Medien-Jihad", um hier anzusetzen und neue Mitglieder zu rekrutieren. Die IS-Ideologie wird durch islamistische Nordkaukasier mit tschetschenisch-separatistischen Elementen in eigenen medialen Inhalten miteinander verknüpft und in Sozialen Medien verbreitet. Innerhalb der Szene sind etwa die tschetschenische Geschichte (zum Beispiel der historische Widerstandskampf gegen Russland) oder auch Statussymbole wie Waffen, Luxusautos oder Markenkleidung relevant. Trotz einer zunehmenden globalen Orientierung bildet die Rückbesinnung auf die tschetschenische Geschichte weiterhin die wichtigste Bezugsgröße für die Gruppenzugehörigkeit sowie deren Zusammenhalt. Dabei wird insbesondere auf historische Narrative der tschetschenischen Geschichte Bezug genommen, 400 Auch Frauen sind Mitglieder der INS. Sie nehmen aber entsprechend der Vorstellungen der Gruppe eine weniger präsente Rolle ein. 164 die den militanten Widerstandskampf gegen Russland und dessen Heldenfiguren verkörpern. So sind die kämpfenden Sufi-Scheichs, die das Ideal des frommen Kämpfers verkörpern, sehr lebendig in der Erinnerungskultur und werden auch - obwohl der Salafismus dem mystisch orientierten Sufismus ablehnend gegenübersteht - in die Internet-Ikonographie und in die Meme-Kultur integriert. In der Selbstidentifikation spielt - trotz einer Anschlussfähigkeit an den globalen Jihadismus und die weltweite islamische Gemeinschaft - die tschetschenische Identität weiterhin eine zentrale Rolle. Zudem sympathisieren viele islamistisch orientierte Nordkaukasier auch weiterhin mit dem faktisch nicht mehr existenten "Kaukasischen Emirat". Dabei gilt die Aufmerksamkeit nicht nur der historischen Vergangenheit, sondern eben auch der russischen und tschetschenischen Gegenwart. Die Beziehungen der nordkaukasischen Diaspora in die Herkunftsregion sind immer noch stark. So werden auf der einen Seite die Politik und heimische Medien verfolgt, auf der anderen Seite werden aus der Herkunftsregion massive Einflussnahme und Repression ausgeübt. Zudem wird die Diaspora, darunter auch Anhänger der "INS", gezielt durch politische Morde eingeschüchtert. Hier kann beispielhaft der von Russland zu verantwortende Mord im Berliner Kleinen Tiergarten vom August 2019 genannt werden, dessen Täter später zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde.401 Daneben wurde im Jahr 2021 ein Anschlag auf einen in Deutschland lebenden Tschetschenen vereitelt. Der Täter ist durch das OLG München 2023 zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt worden.402 Solche Taten befördern eine weitere Abschottung der Szene. Das in der Herkunftsregion historisch gewachsene und teils berechtigte Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen sowie deren pauschale Ablehnung werden durch die Einflussnahme und Repression des Kadyrow-Regimes vorangetrieben. Gleichwohl ist dem Regime daran gelegen, die eigene Anhängerschaft in der Diaspora zu stärken. Darüber hinaus wurde der terroristische Angriff der "HAMAS" auf Israel vom 7. Oktober 2023 sowohl in der internationalen als auch in der brandenburgischen "INS" aggressiv thematisiert. Herausstechendes Beispiel aus der jüngeren Generation ist der Fall eines heranwachsenden Nordkaukasiers aus Brandenburg, welcher am 28.11.2023 verhaftet wurde. Er soll zusammen mit einem weiteren Jugendlichen aus Nordrhein-Westfalen in Anschlagsvorbereitungen involviert gewesen sein. Diese überregionale Bezugnahme auf den Nahost-Konflikt lässt sich als Anzeichen für die bereits beschriebene sich wandelnde Orientierung innerhalb der "INS" verstehen. Anders als erwartet, fand der Ukraine-Krieg vergleichsweise verhaltenes Interesse. Auch wenn es sich um einen Krieg gegen den Erzfeind Russland handelt und Nordkaukasier auf beiden Seiten kämpfen, ist unter den "INS"-Anhängern in Brandenburg keine Massenmobilisierung zur Ausreise festgestellt worden. Bewertung / Ausblick Auf Grund des Umstandes, dass die "INS" als ein weit verzweigtes Netzwerk personell flexibel ist und dynamisch auf Ereignisse reagieren kann, ist ihre zukünftige Entwicklung ambivalent zu sehen. Im Hinblick auf die Orientierung dieser extremistischen Bestrebung sind zwei parallele Entwicklungen beobachtbar: Einerseits ist der regionale Bezug zum Nordkaukasus weiterhin Strukturmerkmal der "INS", andererseits vollzieht sich eine fortschreitende Hinwendung zum globalen Jihadismus. Der globale Jihadismus spricht vor allem jüngere "INS"-Anhänger an. Die Gefahr, die von ihnen ausgeht, wird in einer Reihe von Terrorakten deutlich, wie beispielsweise durch die Enthauptung des Lehrers Samuel Paty (Oktober 2020, Frankreich) und einer Messerattacke (Mai 2018, Frankreich), die von tschetschenischen Islamisten begangen wurden, deutlich. Auch der islamistisch motivierte Mordanschlag auf einen Lehrer fast auf den Tag genau drei Jahre später (Oktober 2023, nordfranzösischen Arras) stand im Zusammenhang mit dem "IS". In diesen Fällen hatten sich junge Menschen im Sinne der IS-Ideologie 401 Vgl. https://gesetze.berlin.de/perma?d=KORE248172022. 402 Bei ihm handelt es sich um den Bruder des in Schweden wohnhaften Tumso A. Dieser gilt als prominenter Gegner des Kadyrow-Regimes. Er war 2020 selbst Ziel eines Anschlags, konnte den Angreifer allerdings überwältigen. 165 radikalisiert und gemordet. Der Fall des Jugendlichen aus Wittstock (OPR) ist exemplarisch für die jihadistische Radikalisierung in Brandenburg. Teile der nordkaukasischen Diaspora verfügen zudem über eine rasche Mobilisierungsfähigkeit, etwa im Falle von Konflikten mit anderen Gruppen. Es ist zu erwarten, dass dies auch auf "INS"-Anhänger zutrifft.403 Eine Herausforderung für die Sicherheitsbehörden stellt die Verbindung krimineller mit islamistischen Strukturen in der nordkaukasischen Diaspora dar. Eine Kooperation könnte begünstigend für beide Seiten wirken. Es ist daher möglich, dass sich Strukturen verfestigen, aus denen eine immer dichtere Gemengelage aus Kriminalität und Islamismus entsteht. Vor dem Hintergrund der sich vollziehenden Hinwendung zum globalen Jihadismus ist auch eine Öffnung der "INS" für andere Ethnien oder das Agieren von "INS"-Anhängern innerhalb weiterer salafistischer Netzwerke möglich. Zugleich könnte diese Entwicklung von Mobilisierungskampagnen vorangetrieben werden, die nachdrücklich eine Relevanz bestimmter Themen für die Gesamtheit "aller Muslime" weltweit ("die "Umma") herausstellen. Solche Themen sind etwa der Nahost-Konflikt, eine vermeintliche weltweite Verfolgung und Unterdrückung von Muslimen oder die vermeintliche oder tatsächliche Diskriminierung von Muslimen in Deutschland, etwa durch Rechtsextremisten. Dadurch könnte sich die Präsenz, von der bislang eher auf Abschottung bedachten "INS", in der Öffentlichkeit erhöhen. 403 So sind die Ausschreitungen in Rheinsberg im Jahr 2020 zwar nicht der "INS" zuzurechnen; jedoch zeigen diese Ereignisse, dass Teile der Diaspora schnell aktionsfähig sein können - eine Fähigkeit, die auch in der "INS" vorhanden ist. 166 8.3 Muslimbruderschaft ("Jama'at al-Ikhwan al-Muslimin"), Deutsche Muslimische Gemeinschaft (DMG) und HAMAS Sitz / Verbreitung Die "Muslimbruderschaft" (MB) ist heute als transnationale Bewegung nicht nur in allen arabischen Ländern, sondern nach eigenen Angaben in 70 Staaten weltweit vertreten. Je nach Land und vorgefundenen Rahmenbedingungen haben sich die Ableger der "MB" organisatorisch wie strukturell unterschiedlich entwickelt. Alle eint jedoch die gemeinsam geteilte islamisch-extremistische Ideologie. Der Verein "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e.V." (DMG) fungiert als deutscher Ableger der "MB" mit Hauptsitz in Berlin. Ebenso ist Ende der 1980er Jahre im Gazastreifen die "HAMAS" als palästinensischer Ableger der "MB" hervorgegangen. Die Terrororganisation "HAMAS" ist in den palästinensischen Autonomiegebieten und dem Gaza-Streifen zu verorten.404 Mitglieder und Unterstützer der "HAMAS" finden sich jedoch auch in Europa, wo sie in Vereinen und weit verzweigten Vereinsgeflechten organisiert sind. In Deutschland ist die "Palästinensische Gemeinschaft in Deutschland" (PGD) die bedeutendste Organisation für Anhänger und Mitglieder der "HAMAS". Gründung / Bestehen Die "MB" wurde 1928 von Hassan Al-Banna in Ägypten gegründet. Ideologie, Agenda und Aktionsformen dienten zahlreichen islamistischen Organisationen weltweit als Vorbild. Aus der "MB" sind unzählige Ableger in anderen Staaten hervorgegangen. Dazu zählen die etwa 1960 in Deutschland gegründete "Islamische Gemeinschaft in Süddeutschland" - 1982 in "Islamische Gemeinschaft in Deutschland" (IGD) und 2018 in "Deutsche Muslimische Gemeinschaft" (DMG) umbenannt. Struktur / Repräsentanten Auf lokaler Ebene sind Mitglieder der Muslimbruderschaft in allen Ländern ähnlich organisiert: kleine oft konspirativ agierende zellenartige Gruppen - die als "Usra" (dt.: Familie) bezeichnet werden - sind zentraler Bestandteil der Organisationsform. Sie sind streng hierarchisch organisiert und haben nur wenig Kontakt zu anderen Zellen, was den "Muslimbrüdern" ermöglichte, die staatliche Repression in Ägypten der 1950er Jahre zu überstehen. Die "Usra"-Zellen bewährten sich und sind heute noch von hoher Relevanz, etwa bei der Rekrutierung neuer "Muslimbrüder". Über soziale Angebote oder Unterstützungsleistungen, zum Beispiel Bildungsangebote, Wettbewerbe oder Stipendien, werden potenzielle Mitglieder angelockt, schrittweise indoktriniert und in "die Familie" aufgenommen und können dann in der Hierarchie aufsteigen. Diese neuen Muslimbrüder gründen wiederum neue "Familien". So konnte im Laufe der Zeit eine zugleich hierarchische Struktur mit internationaler Vernetzung geschaffen werden, die über zahlreiche lokale Ableger verfügt. Dies lässt sich exemplarisch an der Präsenz der "MB" in Deutschland erläutern. Die wichtigste Repräsentanz der "Muslimbruderschaft" in Deutschland ist die "DMG". Darüber hinaus hat die "MB" ein Netzwerk von Vereinen, Verbänden, Moscheen und informellen Gruppen ("Usra"-Zellen) geschaffen, was die Basis für die ideologische und organisatorische Verbreitung der "MB"-Ideologie in Deutschland darstellt. Für Außenstehende ist der ideologische und strukturelle Bezug zur "DMG" bzw. zur "MB" kaum erkennbar, da er von "Muslimbrüdern" negiert und aktiv verschleiert wird. Weitere der "MB" in Deutschland nahestehende Gruppierungen sind: die in Frankfurt/Main (Hessen) ansässige Organisati404 Für weiterführende Informationen zur Unterscheidung zwischen den Kategorien "legalistischer Islamismus", "gewaltorientierter Islamismus" und "Jihadismus" siehe Kapitel 8. 167 onen "Rat der Imame und Gelehrten in Deutschland" (RIGD). Dies ist ein Zusammenschluss von Funktionären der "MB" und "MB"-naher Einrichtungen in Deutschland. Ebenso ist hier das "Europäische Institut für Humanwissenschaft" (EIHW) zu nennen, welches als "Kaderschmiede" für "MB"-Funktionäre dient. Die "MB" übt über ein international verflochtenes Netzwerk von Moscheen, Dachverbänden, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Instituten und regionalen Vereinen ideologischen und politischen Einfluss aus. Beispielhaft hierfür ist der "Rat der europäischen Muslime" ("Council of European Muslims", CEM, ehemals "Föderation islamischer Organisationen in Europa", FIOE). Der "CEM" hat seinen Sitz in Brüssel (Belgien) und dient als europäisches Sammelbecken für "MB"-Organisationen. So ist auch zu verstehen, dass die "DMG" ein Gründungsmitglied des "CEM" ist. Die ebenfalls in Brüssel ansässige "FEMYSO" ("Forum of European Muslim Youth and Student Organizations") führt als europäischer Dachverband die Jugendarbeit der zahlreichen "MB"-Jugendorganisationen auf nationaler Ebene zusammen. Einige andere europäische Dachorganisationen verbreiten die Ideologie der "MB", wie etwa der aus Irland operierende "Europäische Fatwa-Rat" ("European Council for Fatwa and Research", ECFR). Mit dem "FatwaAusschuss in Deutschland" (FAD) verfügt dieser über einen deutschen Ableger. Beide Gremien präsentieren sich als Autorität und Ansprechpartner zu religiösen und alltagspraktischen Fragen, womit sie versuchen das Denken und Handeln von Muslimen in Europa gemäß der "MB"-Ideologie zu prägen. In Deutschland tritt die "DMG" vor allem bei größeren Veranstaltungen öffentlichkeitswirksam auf. Dabei betonen Angehörige der "Muslimbruderschaft" im Allgemeinen und Akteure der "DMG" im Besonderen stets die vermeintliche Verfassungskonformität ihrer jeweiligen Organisation und streiten jedwede strukturelle oder ideologische Verbindung zur "Muslimbruderschaft" vehement ab. Der ehemalige Vorsteher der Karlsruher "Annur-Moschee", die vom Verfassungsschutz Baden-Württemberg als "MB"-nah eingeschätzt wird, folgte El-Zayat an die Spitze der "DMG". Nun ist er amtierender Präsident des "Rates der europäischen Muslime" (CEM, ehemals FIOE). Der aktuelle "DMG"-Präsident Khallad Swaid war zuvor Vorsitzender des "Forum of European Muslim Youth and Student Organizations" (FEMYSO). Eine weitere prägende Figur der "MB" war der aus Ägypten stammende Yusuf al-Qaradawi (1926-2022). Er ist für viele Sympathisanten und Anhänger der "MB" eine der wichtigsten geistigen Führungspersönlichkeiten der "MB". Al-Qaradawi, der aus dem Golf als Fernseh-Mufti im Satellitenfernsehen seine Auffassung einem Millionenpublikum vermittelte, war ebenso Gründer und Vorsitzender des "Europäischen Fatwa-Rates" (ECFR) und trug somit maßgeblich zur Verbreitung der "MB"-Ideologie bei. Die "HAMAS" als "Dach-Organisation" ist mittels verschiedener Unterorganisationen im politischen, sozialen und militärischen Bereich organisiert und aktiv. Den militärischen Flügel der "HAMAS" bilden die "alQassam-Brigaden". Diese wurden erstmals 2001 durch die EU als Terrororganisation gelistet. 2003 erfolgte die Aufnahme der gesamten "HAMAS" auf die EU-Terrorliste. 2023 erfolgte das Betätigungsverbot der "HAMAS" in Deutschland. In diesem Zusammenhang ist auf mehrere Urteile des Bundesverwaltungsgerichtes zu verweisen, in denen festgestellt wird, dass sich jedwede Betätigung der "HAMAS" dem Primat des Kampfes gegen den Staat Israel unterwirft, unabhängig davon, ob sie vorgeblich einen gesellschaftspolitischen, militärischen oder einen sozial-karitativen Zweck verfolgt. Die "HAMAS" ist in Deutschland in Vereinsstrukturen tätig, die ihre Verbindung zur "HAMAS" aber nur selten Preis geben. So wurden die Vereine "al-Aqsa e.V." im Jahr 2002 und "YATIM Kinderhilfe e.V." 2005 in Deutschland verboten. Sie fungierten als Spendensammelvereine der "HAMAS". Die "Palästinensische Gemeinschaft in Deutschland" (PGD) ist die bedeutendste Organisation für Anhänger und Mitglieder der "HAMAS" in Deutschland. In Brandenburg geht eine gesichert extremistische Bestrebung im Sinne der "MB" und "HAMAS" vom "Islamischen Zentrum Fürstenwalde al-Salam e.V." (IZF) und der angeschlossenen "al-Salam-Moschee" aus. Die Vereinsund Öffentlichkeitsarbeit können der Ideologie und Methodik der "MB" sowie "HAMAS" zugeordnet werden. Der Verein handelt im Sinne dieser islamistischen, antisemitischen und gewaltbefürwortenden Organisationen. Er ist daher der Bestrebung der "MB" und der "HAMAS" zuzuordnen. Das "IZF" und die ihm zuzurechnenden Führungspersonen richten sich gegen die freiheitliche demokratische 168 Grundordnung, verbreiten antisemitische Narrative, verneinen das Existenzrecht Israels und befürworten den bewaffneten Kampf gegen den Staat Israel. Personenpotenzial: Mitglieder / Anhänger / Unterstützer In Brandenburg werden 30 Personen dem Spektrum der "MB"/"HAMAS" zugerechnet. Weitere hier tätige Einzelpersonen weisen Bezüge zu Strukturen und Funktionären der "MB" in Deutschland und der "HAMAS" auf. Dazu kommen Beeinflussungsversuche durch externe Akteure aus "MB"und "HAMAS"-nahen Zentren. Veröffentlichungen Die "MB", "MB"-nahe Akteure und die "HAMAS" betreiben international zahlreiche Verlage, TV-Sender, Internetseiten sowie Auftritte in sozialen Netzwerken. Diese sind zum Teil deutschsprachig. Das Spektrum der Inhalte reicht von allgemeinen nachrichtenähnlichen Sendungen, über Propaganda - wie etwa der Glorifizierung getöteter ("HAMAS-") Kämpfer oder ideologisch aufgeladene "Bildungsangebote" speziell für Kinder - bis hin zu religiösen Formaten. Diese breit gefächerte mediale Präsenz ist problematisch, da in Deutschland lebende Muslime nicht nur das deutschsprachige Medienangebot in Anspruch nehmen. Vielmehr konsumieren sie ebenso zumeist im Ausland produzierte arabisch-sprachige Programminhalte, welche hoch ideologisiert sowie von Propaganda und Fehlinformationen durchsetzt sind. Diese Inhalte können zur Radikalisierung hier lebender Muslime beitragen. Kurzportrait / Ziele Die "MB" stellt die älteste sowie - was Ideologie und Aktionsformen anbelangt - die einflussreichste islamisch-extremistische Bewegung sunnitischer Prägung dar. Hassan Al-Banna, der Gründer der "MB", lehnte die Dominanz Großbritanniens in seinem Heimatland Ägypten ab. Vehement wandte er sich gegen den Einfluss westlich-säkularer Staatsund Gesellschaftsmodelle sowie per se gegen eine als "westlich" diffamierte Lebensweise. Als traditionelles Gegenmodell zum "Westen" sowie als Quelle für ein Wiedererstarken der islamischen Welt propagierte Hassan Al-Banna die Rückbesinnung auf die Wurzeln des Islam. Zudem setzte er sich unter dem Motto "Der Islam ist die Lösung" (al-Islam huwwa al-hall) für die Errichtung einer "islamischen Ordnung" (Nizam islami) ein. Dieses sollte auf Koran und Sunna beruhen und als ein "allumfassendes und zu jederzeit geltendem System" alle Lebensbereiche bestimmen. Diesen umfassenden Absolutheitsanspruch verdeutlicht auch die Behauptung der "Muslimbrüder", der Islam sei Religion und Staatsordnung (al-Islam din wa dawla) zugleich und beide Sphären seien nicht voneinander trennbar. Dies würde bei Umsetzung bedeuten, dass das interpretierte, den "Muslimbrüdern" eigene Islamverständnis sowohl Richtschnur für das öffentliche, als auch das private Leben wird. Um dieses Ziel zu verwirklichen, strebten die "Muslimbrüder" unter Hassan al-Banna eine Islamisierung der ägyptischen Gesellschaft "von unten" an. Dies sollte vorrangig durch Bildungsarbeit und karitative Angebote erreicht werden. Danach sollte die Regierung durch einen islamischen Staat auf Grundlage der Scharia abgelöst werden. Die Geschichte der "MB" ist in der arabischen Welt von einem Wechselspiel aus Verfolgung und Tolerierung geprägt, wobei sich die Organisation über die Zeit als nachhaltig widerstandsfähig erwiesen hat. In den 1950erund 1960er-Jahren zwangen Repressalien unter dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser zahlreiche dort lebende "Muslimbrüder" ins Exil, so auch nach Westeuropa. Dies hatte unter anderem eine Weiterverbreitung des Gedankengutes der "MB" zur Folge. So gründete sich unter anderem ein deutscher Ableger. Zur gleichen Zeit erfolgte eine ideologische Radikalisierung in Teilen der Bewegung. Eine Schlüsselfigur hierbei ist Sayyid Qutb. Er gilt als ein wesentlicher Vordenker des Jihadismus. Seiner Auslegung nach seien die Herrscher der zeitgenössischen arabischen Regime, wie das nasseristische Ägypten, keine Muslime, sondern befänden sich im Zustand der "Ignoranz" (Jahiliyya). Deshalb sei 169 es legitim, diese mit Gewalt zu stürzen und sogar die Pflicht aller Muslime, diese vermeintlich unislamischen Zustände zu beseitigen. Bis heute üben Sayyid Qutbs Schriften großen Einfluss auf verschiedene islamistische, insbesondere gewaltbefürwortende Gruppierungen aus. Trotz des später postulierten formalen Gewaltverzichts durch die "MB" gab es immer wieder anderweitige Äußerungen verschiedener "Muslimbrüder". Zudem werden etwa gewaltsame Aktionen und der Einsatz terroristischer Mittel gegen den Staat Israel und dort lebende Menschen befürwortet oder auch die Todesstrafe für Homosexualität eingefordert. In Deutschland verfolgt die "DMG" eine konspirative und über Generationen hinweg ausgerichtete Strategie der Einflussnahme im politischen und gesellschaftlichen Raum im Sinne der "MB"-Ideologie. Die Organisation und ihre Anhänger bieten sich insbesondere der Politik und der Zivilgesellschaft als Dialogpartner an. Dabei geben sie sich als vermeintlich verfassungskonforme, tolerante und demokratische Akteure aus, die ihr Recht auf soziale Teilhabe wahrnehmen möchten. Dabei wenden sie eine Doppelstrategie an und leugnen oder verschleiern ideologische oder programmatische Bezüge zur "MB". Kritische Betrachtungen ihrer islamistischen Netzwerke, Aktivitäten oder Motivationen versuchen sie, als islamfeindlich zu diskreditieren und sich somit dem kritischen Dialog zu entziehen. Die im Gazastreifen entstandene Terrorgruppe "HAMAS" gründete sich als palästinensischer Zweig der "MB". "HAMAS" bedeutet im Arabischen "Eifer" oder "Begeisterung". Gleichzeitig bildet der Name das Akronym für "Harakat al-Muqawama al-islamiya" ("Islamische Widerstandsbewegung"). Sie zielt auf die Errichtung eines islamistischen Staates auf dem gesamten Gebiet Palästinas, worunter die "HAMAS" das israelische Staatsgebiet versteht und somit das Existenzrecht Israel verneint. Um dies zu erreichen, ist die "HAMAS" vor Ort in Politik, im Bildungssektor und in sozialkaritativen Einrichtungen tätig. Sie propagiert den "bewaffneten Widerstand" als Kernelement im Kampf gegen die "israelische Besatzung" und nutzt dafür Milizen, beziehungsweise militärische Kampfverbände, die al-Qassam-Brigaden. Sie verübten unter anderem Selbstmordattentate in Israel und waren verantwortlich und maßgeblich an den terroristischen Anschlägen in Israel im Oktober 2023 beteiligt. Die "HAMAS" wird in Deutschland und der EU als terroristische Organisation bewertet. Im Verfassungsschutzverbund wird sie dem Phänomenbereich der gewaltorientierten islamistischen Organisationen zugeordnet. Finanzierung "DMG" und "HAMAS" finanzieren sich größtenteils über interne und externe Spenden. Hinzu kommen der "MB" zuzurechnende Organisationen. Sie geben vor, als gemeinnützige Vereine etwa im Rahmen von sozialen Projekten tätig zu sein und bemühen sich, auf diesem Weg staatliche Fördermittel zu erlangen. Es wird zum Teil auch über eigene Geschäftszweige Geld generiert. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Die "Muslimbruderschaft" sowie an der "MB" orientierten Organisationen lehnen säkulare, demokratische Staatssysteme ab, insbesondere deren Rechtsordnungen und akzeptieren demokratischen Systeme nur als Übergangsstadien. Sie wollen in allen Ländern, in denen sie präsent sind, mittelbis langfristig einen an der Scharia ausgerichteten Staat islamistischer Prägung errichten. In dieser Staats-, Gesellschaftsund Rechtsordnung sind die Volkssouveränität, eine politische Opposition oder das Prinzip der Gewaltenteilung nicht vorgesehen. Die Gleichheit vor dem Gesetz, die vom Grundgesetz gewährten Grundrechte sowie der Schutz von Minderheiten wären aufgehoben. Gewalt wird als Mittel zur Durchsetzung dieses Ziels nicht ausgeschlossen. In Bezug auf den Nahost-Konflikt und den anhaltenden Kampf gegen das Existenzrecht Israels werden Gewalttaten, etwa in Form von Selbstmordattentaten, auch gegen Zivilisten legitimiert und befürwortet. Die "MB" und die ihr nahestehenden Organisationen sind stark von einer judenfeindlichen Grundhaltung geprägt. Die teilweise im Ausland zu beobachtenden Parteigründungen 170 und die damit verbundenen Teilnahmen an Wahlen sind daher als taktisches Manöver der "MB" auf dem Weg zur erwünschten Übernahme der Macht beziehungsweise der Abschaffung demokratischer Strukturen und Prozesse zu verstehen. Eine Beobachtung der "MB" durch den Verfassungsschutz erfolgt auf Grundlage der Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und den Gedanken der Völkerverständigung nach SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummern 1 und 4 des Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes. Als MB-Ableger ist die "HAMAS" bedeutend von ihrer islamistischen Grundideologie, ihrem Aktivismus und von ihren Strategien geprägt. Anders als die "MB" ist die "HAMAS" aufgrund ihrer palästinensischen Prägung jedoch stark auf die Region Palästina/Israel und den Nahost-Konflikt ausgerichtet. Sie profitiert maßgeblich vom Fortbestehen des Konflikts. Die Organisation ist eine gewaltorientierte, islamistische und terroristische Organisation, die einen islamistisch geprägten Staat auf dem Territorium des Staates Israel etablieren will, Israel das Existenzrecht abspricht und aktiv mit Waffengewalt bekämpft. Sie agiert daher gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Die "HAMAS" und ihre Akteure nutzen Deutschland und auch Brandenburg als Rückzugsraum, unterstützen von hier aus ihre terroristischen Aktivitäten im Ausland und gefährden damit auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland. Eine Beobachtung erfolgt auf Grundlage dieser Bestrebungen in Deutschland nach SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummern 1, 3 und 4 des Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes. Entwicklungen im Berichtszeitraum In Brandenburg existieren Einzelakteure der "MB", welche oftmals Bezüge zu Berliner Gebetsräumen aufweisen und Einfluss im Sinne der "MB" auf Gemeinden im Berliner Umland ausüben. Im Berichtszeitraum konnten in Brandenburg einzelne Personennetzwerke festgestellt werden, die Bezüge zur "Muslimbruderschaft" und "HAMAS" aufweisen und im Sinne dieser extremistischen Organisationen tätig waren und weiterhin sein werden. Im Jahr 2023 wurde das "Islamischen Zentrum Fürstenwalde al-Salam e.V." öffentlich als extremistische Bestrebung eingestuft. Dies zeigt die wachsende Gefahr die vom Islamismus ausgeht. In Brandenburg wurden 2023 Spendensammlungen der "Barmherzigen Hände e.V." (NRW) festgestellt. Der Verein diente als Anlaufstelle für Anhänger und Sympathisanten der "HAMAS". Auch das "IZF" warb für Spendenkampagnen des Vereins. Die Sicherheitslage in Deutschland und Brandenburg war im letzten Quartal 2023 maßgeblich durch den terroristischen Angriff der "HAMAS" am 7. Oktober auf Israel geprägt. Die HAMAS töte rund 1.200 Menschen und nahm mehr als 200 Geiseln. Die meisten Opfer waren Zivilisten. Die "HAMAS" verfolgte das Ziel, Israelis wahllos zu ermorden und zu terrorisieren. Dabei filmten die Terroristen ihre grausamen Taten und verbreiteten diese Aufnahmen weltweit über die sozialen Netzwerke. In den Tagen und Wochen danach zeigte sich, wie perfide die "HAMAS" ihren terroristischen Großangriff instrumentalisieren und inszenieren konnte. Im Kern erfolgte eine Täter-Opfer-Umkehr. Die diente dem Zweck, zahlreiche ihrer Anhänger und Unterstützer ihrer Gräueltaten weltweit zu mobilisieren. Die Strategie der Terroristen ging auf und führte - wie schon in den Jahren zuvor - zu zahlreichen israelfeindlichen Protesten. Damit einher gingen entsprechende Gefährdungen für die Innere Sicherheit, Straftaten und offen bekundeter Antisemitismus. Damit wird auch der Zweck verfolgt, den gesellschaftlichen Diskurs zu Gunsten der "HAMAS" zu beeinflussen und neue Anhänger zu generieren. Funktionäre der "Muslimbruderschaft" im Nahen Osten begrüßten im Herbst 2023 die Angriffe der "HAMAS" auf Israel und forderten die Palästinenser auf, die "HAMAS" in ihrem Kampf gegen Israel zu mit allen erdenklichen Mitteln zu unterstützen.405 Distanzierungen der "DMG" zum Attentat sind nicht bekannt. Der Schutz jüdischen Lebens in Deutschland oder in Israel scheint für die "DMG" somit nicht von Belang zu sein. 405 Vgl. https://www.washingtoninstitute.org/sites/default/files/pdf/zelin-islamist-responses-hamas-attack-Oct2023.pdf, (zuletzt abgerufen am 4.12.2023). 171 Die dargestellten Entwicklungen verschärfen die Sicherheitslage hierzulande und bedrohen jüdisches Leben in Deutschland und in Brandenburg. Denn unmittelbar nach den Angriffen der "HAMAS" kam es in verschiedenen deutschen Städten zu Versammlungen, in denen Freudenbekundungen und Zustimmung für die menschenverachtenden Massaker öffentlich zum Ausdruck gebracht wurden. Zwar konnten Versammlungen oder Äußerungen mit strafrechtlicher Relevanz durch staatlichen Eingriff zeitnahe unterbunden werden. Sehr häufig wurden diese als Solidaritätsbekundung mit den leidenden Zivilisten in Gaza deklariert. In deren Rahmen waren aber durchaus klar anti-israelische und antisemitische Äußerungen festzustellen, die teilweise von extremistischen Gruppen initiiert, unterstützt oder befürwortet wurden. Insbesondere Juden und ihre Einrichtungen sahen sich in Deutschland vermehrt Anfeindungen sowie gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt oder waren gar - wie im Falle einer Synagoge in Berlin Mitte Oktober 2023 - Ziel eines Brandanschlags. Auch in Brandenburg stieg die Anzahl antisemitischer Äußerungen und Straftaten und brandenburgische Islamisten beteiligten sich an der Verbreitung antisemitischer Propaganda. Jedoch konnten in Brandenburg keine antisemitisch oder islamistisch geprägten Demonstrationen wie in Berlin oder in Nordrhein-Westfalen festgestellt werden. Brandenburgische Islamisten beteiligten sich jedoch an Demonstrationen in Berlin. Das "IZF" äußerte sich nicht offiziell zum Konflikt. Gleichwohl waren in den sozialen Medien zu Beginn des Krieges einschlägige Äußerungen eines Funktionärs festzustellen.406 Dieser äußerte sich bereits in der Vergangenheit klar antisemitisch und stellte das Existenzrecht Israels in Frage. Als Konsequenz wurde im November 2023 ein Betätigungsverbot der islamistischen "HAMAS" und das Vereinsverbot der "Samidoun"-Bewegung erlassen.407 Es erfolgten 21 Durchsuchungen in fünf Bundesländern.408 Brandenburg war davon nicht betroffen. Bewertung / Ausblick In Ägypten ist die "MB" seit September 2013 verboten und wurde als Terrororganisation eingestuft. Der nach einem Militärputsch an die Macht gelangte Präsident Al-Sisi wird weiterhin Repressionen gegen die "MB" und ihre Anhänger in Ägypten fortsetzen. Die daraus resultierende Migrationsbewegung von "MB"Anhängern wird somit Auswirkungen auf die weitere Entwicklung legalistischer Strukturen in Europa, Deutschland und auch in Brandenburg haben. Diese Entwicklung kann mittelund langfristig zu zunehmenden Aktivitäten und Einfluss von Multiplikatoren der "MB"-Ideologie führen, da der Mangel an religiöser Infrastruktur in dem Flächenland Brandenburg hiesige (nicht-extremistische) muslimische Gemeinden für Einflussversuche anfällig macht. Staatliche Stellen haben in den vergangenen Jahren vermehrt versucht, den Einfluss der "MB", "MB"naher Akteure und von Personen aus dem gewaltorientierten Spektrum, wie "Hizbullah" oder "HAMAS", zurückzudrängen. Dennoch werden die Anhänger bemüht sein, ihre Bestrebungen fortzusetzen und ihren Einfluss unter Muslimen auszubauen. Akteure wie die "MB" werden weiterhin versuchen, sich als Vertreter eines angeblich gemäßigten Islam ("Islam der Mitte") in der Politik und der Zivilgesellschaft als Ansprechpartner anzudienen. In Brandenburg werden Akteure, die der "MB"/ "HAMAS" nahestehen, weiterhin versuchen ihre Ideologie in muslimischen Gemeinden und Gebetsräumen, wie auch unter neu angekommenen Muslimen und in Familien zu verbreiten. Beispielhaft hierfür ist das 2018 gegründete "Islamische Zentrum Fürstenwalde al-Salam e. V.". Im Juni 2023 ist das "IZF" als gesichert extremistische Bestrebung vom Ministerium des Innern und Kommunales des Landes Brandenburg öffentlich eingestuft worden. 364 Samidoun wird der eher säkular ausgerichteten, extremistischen "Volksfront zur Befreiung Palästinas" (PFLP) zugerechnet. 407Vgl. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2023/11/exekutiv3-2311.html., (zuletzt abgerufen am 4.12.2023). 172 Die Ereignisse im Kontext des weiter eskalierenden Nahost-Konflikts werden Einfluss auf die hiesige Sicherheitslage sowie den gesellschaftspolitischen Diskurs ausüben und an Intensität zunehmen. Derzeit ist keine nachhaltige Entspannung der militärischen Konfrontation erkennbar. Extremistische und terroristische Akteure werden weiterhin versuchen, das Leid der Menschen in Israel und in den palästinensischen Autonomiegebieten zu instrumentalisieren. Angehörige und Sympathisanten von "MB" und "HAMAS" werden daher weiterhin polarisierende Botschaften über soziale und über althegebrachte Medien verbreiten. Dabei werden sie versuchen, sich als Sprachrohr aller Palästinenser und aller Muslime zu inszenieren. Seit dem terroristischen Angriff der "HAMAS" auf Israel am 7. Oktober 2023 bleibt zudem abzuwarten, ob ein grundsätzlicher Strategiewechsel der "HAMAS" hin zu Terroranschlägen in Deutschland und Europa vollzogen wird. Der Nahost-Konflikt wird zukünftig weiterhin als Mobilisierungsthema und Brandbeschleuniger für verschiedene problematische Entwicklungen in Deutschland wirken: Kooperation extremistischer Akteure: Antisemitismus dient oft als "kleinster gemeinsamer Nenner" für unterschiedliche islamistische Organisationen und Ideologien. Das ermöglicht Allianzen von Extremisten über ideologische Differenzen hinweg und erleichtert Kooperationen. Anschlussfähigkeit und Verfestigung islamistischer und antisemitischer Narrative in öffentlichen Debatten: Islamisten nutzen sehr geschickt gesellschaftspolitisch relevante Themen und vermischen sie mit ihren religiösen und identitätspolitischen ideologischen Ansätzen. Ziel ist, ein möglichst breites Spektrum von Muslimen zu erreichen. Insbesondere durch Emotionalisierung von Debatten tragen sie ihre islamistischen Botschaften in nichtextremistische Bevölkerungsteile. So versuchen sie, eine Debattenhoheit zu erringen. Sie wollen Diskurse in ihrem Sinne verschieben und die gesellschaftliche Polarisierung vorantreiben, um generell Muslime von der Mehrheitsgesellschaft zu entfremden. Somit können sie Personen radikalisieren, zu denen sie sonst keinen oder nur schweren Zugang bekommen hätten. Die Agitation im Kontext des Nahost-Konflikts sowie die Verbreitung antisemitischer Haltungen durch Islamisten sind ein Paradebeispiel dafür. Dabei besteht sowohl die Herausforderung, extremistische Narrative und die von Islamisten verbreiteten Desund Falschinformationen zu entlarven und Gegenstellung zu beziehen, als auch die Werte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung für alle hier lebenden Menschen gleichermaßen zu wahren und zu schützen. Radikalisierung und Verschärfung der Sicherheitslage: Extremisten verfügen über ausgefeilte Kommunikationsstrategien. Insbesondere regionale Konflikte mit hohem Emotionalisierungsund Mobilisierungspotential, wie der im Nahen Osten, versuchen Islamisten mit identitären und religiös-politischen Inhalten zusätzlich aufzuladen. Umso mehr diese Konflikte eskalieren und das Leid der Menschen in der Region steigt, je mehr können sie als "Trigger-Ereignisse" hierzulande genutzt werden. Gezielte Propaganda und Meinungsmanipulation sowie eine "Täter-Opfer-Umkehr" können erheblich dazu beitragen, dass sich mehr Menschen radikalisieren und die Hemmschwelle, Gewalt anzuwenden, sinkt. Daher geht eine abstrakte Anschlagsgefahr in Deutschland nicht nur von Akteuren und Sympathisanten der "HAMAS" aus. Insbesondere jihadistische Organisationen, wie "al-Qaida", der "Islamische Staat" o- der ihnen nahestehende Akteure rufen zu Anschlägen durch hier lebende Einzelpersonen oder Kleingruppen auf und geben hierfür detaillierte Anweisungen und Hilfestellungen. 173 8.4 Tablighi Jama'at Sitz / Verbreitung Die globale sunnitische Missionierungsbewegung "Tablighi Jama'at" (kurz TJ; zu Deutsch: "Gemeinschaft der Missionierung und Verkündung") besteht aus mehreren Strömungen. Als deren internationales Zentrum gilt die Stadt Lahore in Pakistan. Das europäische Zentrum liegt in Dewsbury/Großbritannien. In Deutschland gibt es keine offiziellen Niederlassungen. Die TJ ist hinsichtlich ihrer Anhänger und Reichweite eine der bedeutendsten islamistischen Vereinigungen weltweit. Eine genaue Größe der weltweiten Anhängerschaft ist aufgrund der eher losen Struktur schwer zu ermitteln. Regionale Schwerpunkte für Aktivitäten bilden Indien und Pakistan sowie weite Teile Zentralasiens. In den dortigen Gesellschaften stellt die TJ eine nicht zu unterschätzende religiöse wie kulturelle Kraft dar. Je nach Land und vorgefundenen Rahmenbedingungen haben sich die TJ-Strukturen unterschiedlich entwickelt. Diese nutzen ihre Anbindungen an ein internationales Netzwerk überwiegend, um den weltweiten Austausch der Bewegung zu fördern, so auch in Deutschland. Des Weiteren eint die TJ ihre islamistische Ideologie, ihre normativen Verhaltensprinzipien und ihre gemeinsamen Handlungsstrategien. Gründung / Bestehen Die TJ entstand 1926 im damaligen Britisch-Indien als islamische Reformbewegung. Auslöser dafür war insbesondere die Zunahme säkularer Einflüsse sowie westliche Gesellschaftsvorstellungen, denen das Land vor dem Hintergrund der Hegemonie europäischer Kolonialmächte ausgesetzt war. Die TJ beabsichtigt, als sozial-kulturelle Gegenbewegung auf Graswurzelebene Muslime wieder auf den Islam zu besinnen und diesen von vermeintlich geistigen Verunreinigungen und "unislamischen" Neuerungen zu "reinigen". Struktur / Repräsentanten In Deutschland organisiert sich die TJ zumeist in regionalen Führungszirkeln, den "Schuras409". Damit koordinieren zentrale szenebekannte Akteure über informelle Kontaktnetzwerke in einem hierarchisch aufgebauten Gefüge die Arbeit der Bewegung. Diese Struktur ist wiederum mit globalen Netzwerken verbunden. Personenpotenzial: Mitglieder / Anhänger / Unterstützer In Brandenburg wird eine niedrige zweistellige Zahl der TJ zugerechnet. Es liegen Hinweise zu Einzelpersonen und Gruppen vor, welche der Ideologie der TJ anhängen und diese teils auch missionarisch verbreiten. Es gibt sowohl ethnisch homogene TJ-Gruppen als auch solche, die heterogen sind. Das wirkt sich auch auf den angesprochenen Personenkreis oder die für die Bestrebung genutzten Orte aus. Veröffentlichungen Es sind keine Veröffentlichungen bekannt. 409 Der Begriff "Schura" bezieht sich auf Ratsversammlungen der frühislamischen Geschichte. 174 Kurzportrait / Ziele Das Islamverständnis der TJ orientiert sich strikt an einem idealisierten Frühislam. Ihre Anhänger sollen den Islam möglichst genau auf die Art und Weise verstehen und praktizieren, wie es den ersten Generationen der frühen Muslime zugeschrieben wird. Durch die Fokussierung auf Bildung sowie einen rigiden Verhaltensund Kleidungskodex eines jeden einzelnen TJ-Anhängers soll die idealisierte islamische Frühzeit nachgeahmt werden. Auf Grund dieses wortwörtlichen fundamentalistischen Ansatzes sind zuweilen methodische und äußerliche Parallelen zu Anhängern eines salafistischen Islamverständnisses festzustellen. Es handelt sich jedoch um unterschiedliche extremistische Strömungen, mit weitestgehend voneinander unabhängigen Entstehungsgeschichten und Referenzpersonen. Zentrales ideologisches und strategisches Ziel der TJ ist die Missionierungstätigkeit, die von jedem TJAngehörigen erwartet wird. Alle Muslime und islamischen Gesellschaften, die nicht dem TJ-Islamverständnis folgen, sollen durch eine missionarische Ansprache von ihren vermeintlich unzulänglichen Islamauslegungen und ihrer mangelnden Frömmigkeit "befreit" werden. Die TJ propagiert dabei eine wörtliche Auslegung von Koran und Sunna. Das Ziel ist eine Anwendung eines vermeintlich "reinen" und "ursprünglichen" Islam. Dies führt in letzter Konsequenz zu einer Abwertung und Ausgrenzung von Frauen und Nicht-Muslims sowie zu einer Ablehnung säkularer Prinzipien und demokratischer Verfahren. Schwerpunkte der Aktivitäten in Brandenburg sind insbesondere die Missionierung, Schulung sowie die ideologische Festigung. Finanzierung Die TJ finanziert sich unter anderem über Spenden ihrer Mitglieder. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Die Ziele der TJ sind mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar. Das von TJ-Angehörigen langfristig verfolgte Ziel ist die Errichtung einer islamisch-extremistischen Ordnung auf Basis der Scharia. Andere nicht auf dem Islam beruhende Werteoder Normensysteme werden abgelehnt. Des Weiteren sind Ideologie und Akteure der TJ maßgeblich durch eine wörtliche Auslegung von Koran und Sunna, Ausgrenzung und Herabsetzung Andersdenkender sowie Diskriminierung von Frauen geprägt. Die Ablehnung demokratischer, rechtsstaatlicher und damit weltlicher Prinzipien sowie die polarisierende Unterscheidung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen widersprechen elementar der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die Ideologie der TJ begünstigt die Entstehung von Parallelgesellschaften und befördert zugleich individuelle Radikalisierungsprozesse. Eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz erfolgt auf Grundlage der Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung nach SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummern 1 und 4 des Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes. Entwicklungen im Berichtszeitraum Aktivitäten in der Öffentlichkeit von TJ-Anhängern reduzierten sich in den Jahren 2021 und 2022 in Brandenburg vermutlich pandemiebedingt. Dem Verfassungsschutz Brandenburg wurden 2022 nur einzelne Aktivitäten von TJ-Gruppen in öffentlichen und nichtöffentlich zugänglichen Räumlichkeiten bekannt. Im Jahr 2023 wurden keine Aktivitäten von TJ-Personen und Gruppen festgestellt. Ihre Anlaufpunkte sind zumeist muslimische Versammlungsorte, wie Gebetsräume oder Sammelunterkünfte. Hier findet die TJ ihre primären Zielgruppen: Muslime, die ihrem Glauben vermeintlich unzureichende Aufmerksamkeit schenken, sowie orientierungslose zumeist junge Gläubige. Darüber hinaus erfolgen Straßenansprachen. Zielgruppe für die Missionsarbeit sind häufig Nicht-Muslime. Für ideologische Schulungen und Gottesdienste werden Privatwohnungen, Vereinsräume in Untermiete oder eigene angemietete Räumlichkeiten 175 genutzt. Gelegentlich kann dadurch eine unübliche Nutzung etwa von Wohnraum durch Außenstehende wahrgenommen werden. Bewertung / Ausblick Mit Blick auf das Bundesgebiet ist die TJ unverändert bemüht, an Reichweite und Einfluss zu gewinnen. Insbesondere die Ausweitung missionarischer Aktivitäten und die Gewinnung von Anhängern stehen hier im Fokus. In Brandenburg werden TJ-Strukturen sowie mit ihr sympathisierende Einzelpersonen weiterhin daran interessiert sein, neue Anhänger für ihre Gruppierung zu gewinnen. Hierunter fallen insbesondere die oben benannten Zielgruppen. Das rigide Auftreten der TJ erschwert dabei oftmals die Gewinnung neuer Anhänger. Ihr hoher optischer Wiedererkennungswert erleichtert es, öffentliche Aktivitäten der TJ zu identifizieren. Das hohe Mobilisierungspotenzial unter Anhängern und ihr starkes Sendungsbewusstsein können dazu führen, dass die vorhandenen Akteure weiterhin überregional in TJ-Strukturen eingebunden bleiben und so ihre Bestrebung aufrechterhalten. Darüber hinaus ist es wahrscheinlich, dass es den bislang kleinen brandenburgischen TJ-Strukturen trotz des regiden Auftretens gelingen wird, weitere Anhänger zu gewinnen und an sich zu binden. Der Zugang zu Ressourcen (Räumlichkeiten und Adressaten von Missionierungsbemühungen) sowie vorhandene Sprachbarrieren sind begrenzende Faktoren bei der Missionstätigkeit und Mitgliedergewinnung. 176 9. Auslandsbezogener Extremismus 177 In den in Deutschland bedeutendsten extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug finden sich Ideologieelemente aus dem Rechtsund Linksextremismus. Zudem umfasst der Bereich Organisationen, die separatistische Bestrebungen in ihren Heimatländern verfolgen - dort oftmals auch durch den Einsatz von Gewalt und Terror. Innenund außenpolitische Konflikte in den jeweiligen Herkunftsländern bestimmen ebenso wie Vorgaben der dortigen zentralen Organisationseinheiten Politik, Strategie und Aktionen der extremistischen Strukturen in Deutschland. Damit verstoßen extremistische Organisationen mit Auslandsbezug gegen den Gedanken der Völkerverständigung und gefährden hierzulande die innere Sicherheit. Deutschland ist für diese Organisationen ein Rückzugsraum und dient der Rekrutierung neuer Aktivisten, der Finanzierung der Organisationen sowie der politischen Agitation. Im Land Brandenburg sind extremistische Bestrebungen mit Auslandsbezug weiterhin von untergeordneter Bedeutung. Im Vergleich zu den anderen extremistischen Phänomenbereichen bewegt sich die Zahl der in Brandenburg wohnhaften und aktiven Anhänger seit Jahren auf einem relativ niedrigen Niveau. Mit etwa 80 Personen lag das Gesamtpotenzial auslandsbezogener extremistischer Gruppierungen in Brandenburg 2023 auf dem gleichen Niveau wie im Vorjahr. Die meisten dieser Personen verfügen über einen Migrationshintergrund. Personenpotenziale auslandsbezogener extremistischer Gruppierungen in Brandenburg410 2021 2022 2023 Linksextremisten411 85 70 70 davon PKK/ Nebenorganisationen 80 60 60 Nationalistische Extremisten412 10 10 10 gesamt 95 80 80 Eine mittelbare Gefährdung der Inneren Sicherheit in Deutschland erwächst vor allem aus den aktuell virulenten innenund außenpolitischen Konflikten der Türkei sowie der Entwicklungen im Nahen Osten nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Von herausgehobener Bedeutung sind einerseits die linksextremistische "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) aufgrund gewalttätiger Aktionen in der Heimatregion sowie die marxistisch-leninistisch ausgerichtete "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C), die sich für den Aufbau eines sozialistischen 410 Islamische Extremisten werden im vorherigen Kapitel behandelt. 411 Hierunter werden neben der PKK vor allem linksextremistische Organisationen aus der Türkei, wie zum Beispiel die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C), die "Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) oder die "Marxistische Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) gefasst. Auch säkulare palästinensische Organisationen, wie die "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP) und ihre Unterstützungsgruppierungen fallen unter diese Kategorie. 412 Hierzu zählen vor allem die Mitte des 20. Jahrhunderts in der Türkei entstandene rechtsextremistische "Ülkücü"-Bewegung (zu Deutsch "Idealisten"-Bewegung) sowie extremistische Sikh-Organisationen mit Sitz in Pakistan, wie "Babbar Khalsa International" (BKI) und "Babbar Khalsa Germany" (BKG). Diese verfolgen in ihrem Heimatland Indien separatistische Bestrebungen. 178 Gesellschaftssystems in der Türkei offen zum bewaffneten Kampf bekennt. Andererseits ist die rechtsextremistische türkische "Ülkücü"-Bewegung von hoher Relevanz. Sie ist geprägt von einer zum Teil militant nationalistischen, antisemitischen und rassistischen Ideologie, deren Bandbreite von neuheidnischen Elementen bis in den Randbereich des Islamismus reicht. In Brandenburg sind keine regionalen Strukturen dieser extremistischen Gruppierungen mit Auslandsbezug feststellbar. Es sind vielmehr Einzelpersonen, die für die genannten Gruppierungen aktiv werden. Sie orientieren sich meistens nach Berlin, wo bereits entsprechende Organisationsstrukturen vorhanden sind. Die linksextremistische "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) ist die einzige auslandsbezogene extremistische Organisation, die über ein relevantes Personenpotenzial verfügt. Im Jahr 2023 wurden ihr und ihren Nebenorganisationen in Brandenburg gleichbleibend wie im Vorjahr etwa 60 Personen zugerechnet. Säkulare palästinensische Organisationen, wie die "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP), die offen antisemitisch agierende transnationale politische Kampagne "Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen" (BDS) oder auch das palästinensische Netzwerk Samidoun413 sind in Brandenburg nicht aktiv, beziehungsweise entfalten bislang keine öffentliche Relevanz. Die Organisationen sind im Zuge der Anschläge der Terrororganisation "Hamas"414 gegen Israel Anfang Oktober 2023 vermehrt in den Fokus gerückt. Einzelpersonen dieser Gruppierungen, die in Brandenburg wohnhaft sind, orientieren sich hauptsächlich an den historisch gewachsenen Organisationen in Berlin. 413 Betätigungsverbot des BMI vom 2.11.2023. 414 siehe Kapitel Islamischer Extremismus 8 179 "Arbeiterpartei Kurdistans" (Partiya Karkeren Kurdistan - PKK) und unterstützende Organisationen Sitz / Verbreitung Der Hauptsitz der in den vergangenen Jahrzehnten vielfach umbenannten415 "PKK" liegt im Nord-Irak. Ihre Führungsstrukturen in Europa (derzeit "Kongress der kurdischen demokratischen Gesellschaft in Europa" - KCDK-E) befinden sich vorwiegend in den westlichen Nachbarländern Deutschlands. Die "PKK" sieht sich als einzige legitime Interessenvertretung der Kurden. Die Partei ist deutschlandweit die mitgliederstärkste extremistische Organisation mit Auslandsbezug. Gründung / Bestehen Im November 1978 gründete sich die "PKK" als eine revolutionäre Partei mit einem von marxistisch-leninistischen sowie nationalen Grundsätzen geprägten Manifest. Die Anwendung militärischer und terroristischer Gewalt ist ein zentrales Element innerhalb der "PKK"-Strategie. In Europa und damit auch in Deutschland verzichtet die Organisation derzeit weitgehend auf Gewaltanwendung. Struktur / Repräsentanten Die höchsten Entscheidungsgremien der "PKK" sind die "Vereinigten Gemeinschaften Kurdistans" (KCK) mit dem Präsidenten Abdullah Öcalan und den Vorsitzenden Cemil Bayik und Bese Hozat sowie die "Generalversammlung des Volkskongresses Kurdistans" (KONGRA-GEL). Die Strukturen folgen dem Kaderprinzip und sind an einer autoritären Führung ausgerichtet. Die "PKK" hat Deutschland in 31 Gebiete mit jeweils einem zumeist konspirativ agierenden Führungsfunktionär an der Spitze eingeteilt. Für die Umsetzung ihrer Vorgaben nutzt die Partei überwiegend örtliche kurdische Vereine als Treffpunkte und Anlaufstellen. Als Dachverband dieser Vereine fungiert die "Konföderation der Gesellschaften Mesopotamiens in Deutschland" (KON-MED).416 Im Land Brandenburg ist keine derartige Struktur vertreten. Das Gebiet Brandenburgs steht unter dem Einfluss der "PKK"-Strukturen in Berlin und in Sachsen. Die als Neugründungen bezeichneten Umstrukturierungen der vergangenen Jahre sollen nach außen Rechtskonformität der "PKK" in Deutschland vermitteln. Jedoch haben sie nichts mit einer inhaltlichen Neuausrichtung oder der Etablierung demokratischer Strukturen zu tun, sondern dienen dem Zweck, die "PKK" dem internationalen Verfolgungsdruck zu entziehen. Tatsächlich sind die europäischen Strukturen weder organisatorisch selbstständig noch ideologisch oder personell unabhängig von der "PKK" im Nordirak.417 Die "PKK" versucht mithilfe von Massenorganisationen, in denen Anhänger nach sozialen Kriterien oder nach Berufsund Interessengruppen organisiert sind, möglichst alle Lebensbereiche abzudecken und ihren Alleinvertretungsanspruch für alle Kurden zu zementieren. Die "Komalen Ciwan"/ "Tevgera Ciwanen Soresger" (TCS) ist die Jugendorganisation der PKK und bildet ein großes Mobilisierungspotenzial für zahlreiche Veranstaltungen der Organisation. Ihre Anhänger rekrutieren Nachwuchs für den bewaffneten Kampf in den kurdischen Siedlungsgebieten und begehen in 415 Mehrfach vorgenommene Umbenennungen der PKK (Teil-)Organisationen: "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" ("Kongreya Azadi u Demokrasiya Kurdistane" - KADEK) "Volkskongress Kurdistans" ("Kongra Gele Kurdistan" - KONGRA GEL) "Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan" ("Koma Komalen Kurdistan" - KKK) "Union der Gemeinschaften Kurdistans" ("Koma Civaken Kurdistan" - KCK). 416 "Konfederasyona Civaken Mezopotamyaye li Elmanyaye" (KON-MED). 417 Vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 28.10.2010, https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=en&sid=7223b184dd06a6707ea4e42f4f4a1929&nr=54773&pos=0&anz=43 (letzter Zugriff am 1.12.2022). 180 Deutschland Straftaten oder üben militante Aktionen gegen staatliche türkische Einrichtungen oder türkische Rechtsextremisten aus. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Das für den Verfassungsschutz relevante und aktive Personenpotential der "PKK" und ihrer Teilorganisationen wird in Brandenburg auf rund 60 geschätzt. Veröffentlichungen Die wichtigsten bundesweit vertriebenen Publikationen der "PKK" und ihrer Nebenorganisationen sind "Serxwebun" (Unabhängigkeit), "Yeni Özgür Politika" (Neue Freie Politik), "Sterka Ciwan" (Stern der Jugend), "Newaya Jin" (Erlebnisse der Frauen), "Kurdistan Report" sowie "Ajansa Nuceyan a Firate" (ANF). Hinzu kommen einige Fernsehsender, wie zum Beispiel "Sterk TV", "Ronahi TV" oder "MedNuce TV". Des Weiteren ist die "PKK" über eine Vielzahl von Webseiten im Internet aktiv. Über das Video-Portal "Gerila TV" werden speziell Inhalte über den bewaffneten Kampf der Organisation sowie erfolgten Operationen veröffentlicht. Vor allem die deutschsprachige Version der "ANF"-Homepage stellt ein wichtiges Sprachrohr für die Organisation in Deutschland dar. Auf der Webseite wird täglich über aktuelle Ereignisse und Vorkommnisse in den kurdischen Siedlungsgebieten berichtet. Kurzportrait / Ziele Zentrale Ziele der "PKK" sind die Anerkennung der kurdischen Identität sowie eine politische und kulturelle Autonomie unter Aufrechterhaltung nationaler Grenzen in den kurdischen Siedlungsgebieten, vor allem in der Türkei und verstärkt auch in Syrien. Daneben konzentrieren sich die politischen Forderungen der "PKK" auf die Freilassung ihres seit 1999 inhaftierten Gründers Abdullah Öcalan418, beziehungsweise auf die Verbesserung seiner Haftbedingungen. Wie oben bereits dargestellt wurde, ist die Anwendung von Gewalt Teil der politischen Strategie der "PKK". Ein wesentlicher Schwerpunkt der "PKK"-Aktivitäten in Deutschland ist die logistische und finanzielle Unterstützung der Gesamtorganisation. Diesem Zweck dienen Spendenkampagnen und Großveranstaltungen, die auch dazu genutzt werden, weitere Anhänger für die Parteiarbeit und für den aktiven Guerillakampf zu gewinnen. Die Aktivisten der "PKK" in Deutschland fordern daher beispielsweise die Aufhebung des im Jahr 1993 gegen die Organisation verfügten Betätigungsverbots. Mobilisierend wirkt für die "PKK" derzeit weniger ihre ursprüngliche marxistisch-leninistische Ideologie, sondern vielmehr ihre rigiden Wertund Moralvorstellungen sowie ihre Eigeninszenierung als alleinige Vertreterin kurdischer Interessen. Finanzierung Die Finanzierung der militärischen und politischen Aktivitäten der "PKK" erfolgt insbesondere über die kurdische Diaspora in Europa. Kurden spenden sowohl freiwillig als auch unter Druck. In den jährlichen Spendenkampagnen ("kampanya") kommen bundesweit viele Millionen Euro zusammen. Hinzu treten Erlöse aus Zeitschriftenund Devotionalienverkäufen sowie Eintrittsgelder bei Großveranstaltungen. Dabei wirken sich im 30. Jahr des "PKK"-Betätigungsverbotes die nach wie vor militärisch ausgetragenen Konflikte in den kurdischen Autonomiegebieten zwischen der Türkei und den Guerillaeinheiten der "PKK" ebenso förderlich auf die Spendenbereitschaft aus, wie die anhaltende Sorge um die Haftsituation und den Gesundheitszustand Öcalans. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit 418 Abdullah Öcalan ist Anführer und Gründungsmitglied der "PKK" und wird seit seiner Verhaftung im Februar 1999 auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmarameer festgehalten. 181 Aufgrund ihres auch in Deutschland gewalttätigen Vorgehens wurde die "PKK" am 26. November 1993 vom Bundesinnenminister mit einem vereinsrechtlichen Betätigungsverbot belegt.419 Seit 2002 ist sie von der Europäischen Union als terroristische Organisation gelistet. 2014 wurde diese Einstufung bekräftigt. Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 28. Oktober 2010 wird die "PKK" in Deutschland als terroristische Vereinigung im Ausland eingestuft. Damit können ihre Mitglieder nach SSSS 129a und b Strafgesetzbuch strafrechtlich verfolgt werden, was ein höheres Strafmaß und den Einsatz weitergehender Ermittlungsmaßnahmen ermöglicht. Bereits aufgrund des Gewaltbezuges der Organisation ergibt sich die Zuständigkeit des Verfassungsschutzes Brandenburg nach SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummern 3 und 4 BbgVerfSchG. Entwicklungen im Berichtszeitraum Wesentliches Kampagnenthema der "PKK" war auch 2023 die Aufhebung des Verbots der Partei. Anlässlich des 30. Jahrestags des "PKK"-Verbots zeigten bundesweite Veranstaltungen unter dem Motto "PKKVerbot aufheben - Demokratie stärken!" die Vernetzung zwischen auslandsbezogenem Extremismus und Linksextremismus. An der Demonstration am 18. November 2023 in Berlin nahmen mehr als 4.000 Personen teil. Das äußerst heterogene Spektrum reichte vom direkten "PKK"-Umfeld bis zu Organisationen der deutschen linksextremistischen Szene. Aus dem Spektrum des Linksextremismus riefen unter anderem die postautonome "Interventionistische Linke" (IL) und das Bündnis "Rheinmetall Entwaffnen" zur Teilnahme an der Demonstration auf.420 Linksextremisten unterstützen seit jeher die sozialistische Vision des "PKK"-Gründers Öcalan, dessen Autonomiebestrebungen und die Forderungen, dass "PKK"-Verbot aufzuheben. Deutsche Linksextremisten helfen unter anderem, "PKK"-Propaganda zu verbreiten und begehen Straftaten in Solidarität mit dem "kurdischen Volk" und der "PKK" in Deutschland. Im Gegenzug versuchen Linksextremisten, Kurdinnen und Kurden für andere linksextremistische Aktionsfelder zu gewinnen.421 Mittelbar unterstützt dies auch die "PKK" bei der Rekrutierung deutscher Staatsangehöriger für den bewaffneten Kampf.422 Seit Juni 2013 haben sich rund 300 Personen aus Deutschland in die kurdischen Siedlungsund Kampfgebiete im Südosten der Türkei, im Nordirak und in Nordsyrien begeben. Von den Ausgereisten sind mittlerweile rund 150 Personen nach Deutschland zurückgekehrt. Von den Ausgereisten sind mehr als 30 Personen in den Kampfgebieten ums Leben gekommen. Die verschiedenen "PKK"-Guerillaeinheiten berichten regelmäßig über den Tod ihrer gefallenen Kämpfer, vor allem, wenn es "Internationalisten" betrifft. Die "PKK" nutzt das propagandistische Potenzial ihrer getöteten ausländischen Kämpfer und instrumentalisiert deren Tod regelmäßig für eigene Zwecke. Die gefallenen "Internationalisten" werden von der Organisation dabei in gleicher Weise als "Märtyrer" verehrt, wie ihre kurdischen Kämpfer. Der Märtyrerkult der Organisation dient sowohl der Motivation der eigenen Anhänger als auch der Rekrutierung von neuen Unterstützern beziehungsweise Aktivisten und potenziellen "Freiheitskämpfern".423 So erinnert die linksextremistische Szene alljährlich an den Tod eines aus Potsdam stammenden Kämpfers, der durch einen 419 Das Verbot gilt auch für die umbenannten Strukturen der "PKK". 420 Vgl. https://www.verbot-aufheben.org/am-18-november-auf-die-strasse-gegen-das-verbot-der-pkk/ (letzter Zugriff am 21.11.2023). 421 Für Informationen zu linksextremistischen Aktionsfeldern siehe Kap. 6.1. 422 Zu diesem Zweck werden professionelle Videos für den deutschsprachigen Raum erstellt. 2019/20 wurde über Internetprofile von STERK TV das Video "Der Weg der Freiheit" veröffentlicht. Der in Deutschland produzierte Film richtet sich auf Deutsch, Türkisch und Kurdisch an junge Heranwachsende in Deutschland. In der Produktion werden die Kriegsleiden der kurdischen Zivilbevölkerung, der Mythos von den gefallenen deutschen Kämpfern und das Fernziel des sozialistischen, kurdischen Utopie-Staats "Rojava" propagiert. 423 Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz: "Rekrutierung von Kämpfern für die PKK in Deutschland.", Stand: Dezember 2022, https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/hintergruende/DE/auslandsbezogener-extremismus/rekrutierung-vonkaempfern-fuer-die-pkk-in-deutschland.html (letzter Zugriff am 13.11.2023). 182 türkischen Luftangriff ums Leben gekommen sein soll und stellt ihn bei Aufrufen und Verlautbarungen in eine Reihe mit der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof.424 Bewertung / Ausblick Die türkische Intervention in Syrien und die teilweise massiven militärischen Aktionen der türkischen Armee in kurdischen Siedlungsgebieten haben sich bereits in den Vorjahren stark auf die Strategie und die Aktivitäten der "PKK" und ihrer Teilorganisationen in Deutschland ausgewirkt. Das militärische Vorgehen der Türkei ist weiterhin geeignet, "PKK"-Anhänger auch in Deutschland zu mobilisieren. Darüber hinaus sind die Jahrestage des Betätigungsverbots und der Festnahme Öcalans sowie dessen Haftbedingungen und Gesundheitszustand Themen, die "PKK"-Anhänger stark emotionalisieren und zu politischen Aktivitäten veranlassen. Obwohl Linksextremisten die "PKK" in Deutschland offen unterstützen und in den Medien regelmäßig über die geopolitische Lage in den Kurdengebieten berichtet wird, hat die "PKK" auch nach Aufhebung pandemiebedingter Versammlungsbeschränkungen keine Trendwende in der Mobilisierung erreicht. Trotz propagandistischer Verlautbarungen bleiben die realen Teilnehmerzahlen an den traditionellen jährlich wiederkehrenden (Groß-)Veranstaltungen der "PKK" in Deutschland weit hinter den Mobilisierungen vor der Pandemie zurück. Zusätzlich entziehen die Entwicklungen in Nahost im Nachgang des Angriffs der Terrororganisation "HAMAS" auf Israel die zum 30. Jahrestag des Betätigungsverbotes der "PKK" erhoffte öffentliche Aufmerksamkeit für die Forderung einer Verbotsaufhebung. Dennoch wird sich die Partei zukünftig weiter bemühen, größere Menschenmengen für ihre Ziele zu gewinnen, medienwirksame Aktionen zu veranstalten und Kämpfer zu rekrutieren. Zudem wird die "PKK" in Deutschland weiterhin Geld zur Finanzierung und Aufrechterhaltung der Organisationsstrukturen sowie für den bewaffneten Kampf sammeln und versuchen, über Schulungen und Vorträge zu feministischen und ökologischen Themen Jugendliche und Studierende zu erreichen. Auch wenn die "PKK" in Deutschland und dem übrigen Westeuropa aus politisch-taktischen Erwägungen auf Gewalt verzichtet, hat sie der Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen Interessen nicht generell abgeschworen. Die politische Lobbyarbeit der "PKK" wird zukünftig ein wichtiges Aktionsfeld in Deutschland bleiben. Ihre vorrangigen Ziele sind dabei die Aufhebung des gegen sie seit 1993 bestehenden Betätigungsverbotes und die Generierung von Finanzmitteln über Spenden. Hierdurch erhofft sich die "PKK", zumindest von Teilen der deutschen Gesellschaft und Politik als Ansprechpartner für die Belange der Kurden anerkannt zu werden. Solange die "PKK" jedoch ihre extremistischen und terroristischen Aktivitäten in der Türkei, einschließlich der darauf gerichteten Unterstützungsund Vorbereitungshandlungen in Europa, fortsetzt und in Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegt ist, wird sie dem Beobachtungsauftrag der Verfassungsschutzbehörden unterfallen. 424 Vgl. indymedia (letzter Zugriff 13.11.2023). 183 10. Scientology Organisation 184 Die rechtliche Grundlage für die Beobachtung der "Scientology Organisation" ("SO") durch die Verfassungsschutzbehörde des Landes Brandenburg ist materiell-rechtlich unverändert. Es bleibt nach wie vor Aufgabe der Verfassungsschutzbehörde die "SO" zu beobachten, da die Ziele der "SO" öffentlich wahrnehmbar unverändert fortbestehen. Die "SO"-Ideologie sieht eine Gesellschaft ohne allgemeine und gleiche Wahlen vor und lehnt das demokratische Rechtssystem ab. In dem angestrebten totalitären scientologischen Weltstaat haben wesentliche Grundrechte, wie das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit oder das Recht auf Gleichbehandlung, keinen Platz. Damit ist sie eine Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. In Brandenburg wird die SO seit 1997 aufgrund eines Beschlusses der Innenministerkonferenz durch den Verfassungsschutz beobachtet. Im Jahr 2008 wurde die Verfassungsfeindlichkeit der "SO" unter anderem durch das Oberverwaltungsgericht Münster festgestellt425. Die "SO" wurde 1954 gegründet und ist international organisiert. Sie besteht aus einer verflochtenen Struktur aus Glaubensgemeinschaft, Wirtschaftsunternehmen und Vereinen mit Hauptsitz in Los Angeles in den Vereinigten Staaten von Amerika. Von dort aus werden die wirtschaftlichen und machtpolitischen Ziele, die auf den US-amerikanischen Schriftsteller L. Ron Hubbard zurückzuführen sind, verfolgt. Die Organisation ist streng hierarchisch strukturiert. Jede Filiale beziehungsweise "Mission" tritt nach außen rechtlich selbständig auf. Diese Form der Organisationsstruktur ist der Garant für die "orthodoxe" Religionsausübung, wie es die Schriften L. Ron Hubbards verlangen. Die "SO" bezeichnet sich daher selbst als Religion und ist in einigen Staaten als Religion rechtlich anerkannt worden, darunter Argentinien, Australien, Kolumbien, Portugal und die Schweiz. In den USA hat die "SO" lediglich den Status als NGO (Non-profit-Organisation). Den Status einer Religion beziehungsweise einer Kirche hat die "SO" in Deutschland nicht. Für das Land Brandenburg existiert keine lokal eigenständige Organisation. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Betreuung der hier lebenden Mitglieder vor allem von der Berliner Niederlassung übernommen wird. Im Wesentlichen hat sich an den Akteuren und Strukturen mit Auswirkungen auf Brandenburg im Berichtszeitraum nichts geändert. Einzelne Mitglieder der "SO" arbeiten als "Field Staff Member" (FSM)426 und sind für die Werbung und zeitweise Betreuung neuer Mitglieder sowie für die Verbreitung von Scientology-Publikationen zuständig. Daneben existieren in Brandenburg Unternehmen, die zum "World Institute of Scientology" (WISE)427 gehören. Ihr Ziel ist, Lizenzverträge zu verkaufen und langfristig die Wirtschaft zu unterwandern. Damit soll die scientologische Ideologie im Unternehmenskontext verbreitet und ein entsprechender Umbau der Gesellschaft vorangetrieben werden. Insgesamt konnte keine erkennbare Zunahme der Aktivitäten von "SO"-Mitgliedern gegenüber dem Vorjahr festgestellt werden. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, dass die "SO" mit Blick auf ein zunehmend aufgeklärteres Klientel nicht vordergründig Anwerbungsversuche unter direktem Hinweis auf L. Ron Hubbard und seine Ideologie unternimmt. Hier kommt wie bisher die Verwendung von Propagandamaterial wie zum Beispiel der Leitfaden "The Way to Happiness" ("Der Weg zum Glücklichsein") zum Einsatz. Mit diesem wird Interessierten ein Ausweg aus vermeintlich persönlichen Zwangslagen und Schwächen vorgetäuscht. Das eigentliche Ziel ist jedoch die dann folgende, immer weitergehende Einbindung in scientologische Abläufe und Kurse. Die Organisation schreckt nicht davor zurück, ihre Metho425 Vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 12.02.2008, Az. 5 130/05. 426 Bezeichnung von freien "SO"-Mitarbeitern, ohne direkte arbeitsrechtliche Anbindung an eine "SO"-Organisationseinheit. 427 WISE ist ein weltweiter Verband von Scientology-Firmen, die gezielt Managementmethoden und -techniken verwenden, die auf den Lehren von L. Ron Hubbard basieren. 185 den bei Kindern und Jugendlichen anzuwenden. Zu diesem Zweck versucht sie entsprechend kindgerechte Publikationen, die inhaltlich denen für Erwachsene ähnelt, zu verbreiten. Ein Beispiel hierfür ist die Kinderbroschüre "Wie man gute Entscheidungen trifft". Dass Schülerinnen und Schüler in den Fokus von Scientologen geraten, war auch in Brandenburg in den vergangenen Jahren zu beobachten. Die Verfassungsschutzbehörde schaut in diesen Fällen ganz besonders aufmerksam hin, um zu verhindern, dass zum Beispiel Lehrkräfte an Schulen den Unterricht an den "Studiertechniken" von L. Ron Hubbart ausrichten, um auf diesem Wege die scientologische Lehre unter Schülern zu verbreiten. Die wirtschaftlich selbständigen Mitglieder der "SO" in Brandenburg verbreiten nach wie vor die von L. Ron Hubbard entwickelten Managementund Verkaufslehren insbesondere in Dienstleistungssektoren (unter anderem der Immobilienbranche). Zumindest bei finanzstarken Unternehmen mit "SO"-Bezug ist von einer Zugehörigkeit zum "World Institute of Scientology" (WISE) auszugehen. 186 11. Spionageabwehr, Schutz vor Wirtschaftsspionage, Proliferation und Geheimschutz 187 11.1 Spionageabwehr und Profileration Spionage bezeichnet das heimliche Beschaffen nichtöffentlicher Informationen oder geschützten Wissens durch eine fremde staatliche Macht. Viele Staaten setzen in Deutschland ihre Nachrichtendienste ein, um politische, militärische und wirtschaftliche Informationen zu gewinnen. Die Spionageabwehr ist somit eine wesentliche Aufgabe der brandenburgischen Verfassungsschutzbehörde, die in enger Zusammenarbeit mit anderen Verfassungsschutzbehörden auf Bundesund Landesebene Spionageaktivitäten aufdecken und verhindern soll. Auch im Jahr 2023 zählten insbesondere die Russische Föderation, die Volksrepublik China, der Iran und die Türkei zu den vorherrschenden Akteuren in Bezug auf Spionageaktivitäten in Deutschland. Die Russische Föderation fokussiert sich seit Beginn des Ukraine-Krieges verstärkt darauf, über ihre Nachrichtendienste Informationen zu politischen Entwicklungen, Entscheidungsträgern und politischen Strategien der Bundesrepublik zu erlangen. Russische Nachrichtendienste setzen dabei auf raffinierte Beschaffungsmethoden. Hierzu zählen unter anderem Versuche, in Informationssysteme einzudringen, Daten von staatlichen Stellen zu extrahieren und die Telekommunikation zu überwachen. Da im Berichtsjahr zahlreiche russische Diplomaten ausgewiesen wurden, die in Wirklichkeit als Agenten auf abgetarnten Dienstposten an der Botschaft tätig waren, wurden russische Nachrichtendienste zu einer Anpassung ihres Modus Operandi gezwungen. Es ist davon auszugehen, dass der Bedeutungsverlust der klassischen Spionagetätigkeiten durch Botschaftsangehörige durch eine stärkere Nutzung von Illegalen oder reisenden Nachrichtendienstoffizieren kompensiert werden konnte. Ebenfalls muss angenommen werden, dass eine stärkere Fokussierung auf technische Aufklärung durch verdeckte Operationen im Cyberraum die Folge ist. Definitiv bleibt Deutschland als wichtiges Unterstützerland der Ukraine und bedeutender Waffenlieferant ein zentrales Aufklärungsziel russischer Nachrichtendienste. Daher liegt der Fokus in der Spionageabwehr im Land Brandenburg nicht nur auf der Enttarnung von Agenten, sondern ebenso auf der systematischen Aufklärung von Strukturen, Aktivitäten, neuen Arbeitsmethoden und Zielrichtungen russischer Nachrichtendienste. Besondere Bedeutung nimmt hierbei das Thema hybride Bedrohungen ein, mit denen Russland versucht, Einfluss in Deutschland und anderen westlichen Ländern zu gewinnen. Hierzu gehören gezielte Desinformationskampagnen über staatlich kontrollierte Medien sowie die Verbreitung von falschen oder irreführenden Informationen über populäre Soziale Medien. Der Einsatz von Bots, gefälschten Profilen und Deepfakes zur Verbreitung von Inhalten und Manipulation von Trends ist ein weiterer Bestandteil dieser Strategie. Zudem gibt es zahlreiche sicherheitsrelevante Sichtungen von Drohen. Das gilt insbesondere für den Raum Potsdam, Standorten der Landesregierung sowie sonstigen Bundeswehrstandorten im Land Brandenburg. Besondere Bedeutung nimmt hierbei das Thema hybride Bedrohungen ein, mit denen Russland versucht, Einfluss in Deutschland und anderen westlichen Ländern zu gewinnen. Hierzu gehören gezielte Desinformationskampagnen über staatlich kontrollierte Medien sowie die Verbreitung von falschen oder irreführenden Informationen über populäre Soziale Medien. Der Einsatz von Bots und gefälschten Profilen zur Verbreitung von Inhalten und Manipulation von Trends ist ein weiterer Bestandteil dieser Strategie. 188 Politische oder soziale Spannungen in Deutschland werden gezielt genutzt, um Meinungsverschiedenheiten zu verstärken und das Vertrauen in politische Institutionen zu untergraben. Das kann die Schaffung und Verbreitung von Verschwörungstheorien einschließen, um das Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen zu verstärken und die gesellschaftliche Stabilität zu beeinträchtigen. Zusätzlich werden Angriffe auf politische Institutionen, wie Cyberangriffe auf politische Parteien oder Regierungsbehörden, durchgeführt, um sensible Informationen zu stehlen oder das Vertrauen in demokratische Prozesse zu erschüttern. Das Land Brandenburg dürfte schon deshalb im besonderen Aufklärungsfokus russischer Dienste stehen, da einige Mitglieder des Bundeskabinetts aus dem Bundesland Brandenburg stammen und dort politisch sowie strukturell fest verankert sind. Das Vorgehen fremder Nachrichtendienste wird daher vom brandenburgischen Verfassungsschutz intensiv betrachtet. Hierbei werden alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen, um den gesetzlichen Auftrag zu erfüllen und die Sicherheit der Gesellschaft zu gewährleisten. Die oben genannten nachrichtendienstlichen Methoden und Ziele sind jedoch nicht ausschließlich auf Russland beschränkt. Auch China verfolgt durch Spionage eine Vielzahl von politischen, wirtschaftlichen und strategischen Zielen. Ein bedeutendes Ziel ist der Erwerb von Technologien und Innovationen, um Chinas Wirtschaftsund Technologiestandpunkt zu stärken. Dies geschieht durch Industriespionage, Cyberangriffe und Diebstahl von Geschäftsgeheimnissen. Zugleich strebt China wirtschaftliche Vorteile an, insbesondere im Handel, bei Investitionen und dem Zugang zu Ressourcen. Die chinesische Spionage zielt darauf ab, die industrielle Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, indem Informationen über Geschäftsgeheimnisse und Technologien gesammelt werden. Militärische Modernisierung ist ein weiteres Ziel, wobei China versucht, Informationen über die militärischen Entwicklungen anderer Länder zu erlangen. Ebenfalls ist die Ressourcensicherung ist ein weiteres Motiv, um den dauerhaften Zugang zu Rohstoffen und Energiequellen zu gewährleisten. Die Beschleunigung von Forschung und Entwicklung in Schlüsselbereichen sowie die Überwachung und Kontrolle politischer Oppositionsgruppen gehören ebenfalls zu den Zielen. Neben den hybriden Formen der Einflussnahme und Informationsbeschaffung, einschließlich Desinformationskampagnen und Cyberangriffen, sind Human Intelligence (HUMINT) und Social Engineering wichtige Methoden nachrichtendienstlicher Stellen. Im Gegensatz zur klassischen Informationsgewinnung durch den langwierigen Aufbau menschlicher Quellen (HUMINT) werden durch Social Engineering - also durch die Ausnutzung menschlicher Eigenschaften wie Hilfsbereitschaft, Vertrauen, Angst oder Respekt vor Autorität - kurzfristig Informationen von Personen durch entsprechende Manipulation gewonnen. Diese Strategie der Kontaktaufnahme, oft unter Verwendung gefälschter Identitäten, nimmt weiterhin zu und wird verstärkt genutzt. Eine sorglose Handhabung persönlicher Daten in sozialen Netzwerken und veraltete Schutzmechanismen in Unternehmen erleichtern den Zugang für Spione. HUMINT bleibt trotz des damit verbundenen hohen Aufwands und Entdeckungsrisikos weiterhin eine prioritäre Methode für ausländische Nachrichtendienste zur Informationsbeschaffung. Dies zeigt sich unter anderem auch in dem Urteilsspruch gegen den britischen Staatsbürgers David S., der am 17. Februar 2023 durch den Londoner Strafgerichtshof Old Bailey zu 13 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. David S. wurde im August 2021 an seinem Wohnort in Potsdam wegen des Verdachts der geheimdienstlichen 189 Agententätigkeit festgenommen und anschließend nach Großbritannien ausgeliefert. Das britische Gericht sah es als erwiesen an, dass David S. als Ortskraft an der britischen Botschaft in Berlin interne Informationen an den Militärattache der russischen Botschaft übermittelt und dafür Geld erhalten hat. In Deutschland wurde im vergangenen Jahr vor allem die Festnahme von Thomas H. im August 2023 wegen mutmaßlicher geheimdienstlicher Agententätigkeit medienöffentlich. Als Beschäftigter des Bundesamts für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr soll er sich laut Generalstaatsanwaltschaft an die Russische Botschaft in Berlin und das Russische Generalskonsulat in Bonn gewandt haben, um eine "Zusammenarbeit" anzubieten. Ebenfalls für Aufsehen sorgte die Verhaftung von Carsten L., einem Referatsleiter beim BND, der über einen Mittelsmann geheimhaltungsbedürftige Informationen an einen russischen Nachrichtendienst übermittelt haben soll. In beiden Fällen steht ein Urteilsspruch aus. Proliferationsabwehr Auch im Rahmen der Proliferationsabwehr intensivieren die Verfassungsschutzbehörden vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine ihre Bemühungen. Unter Proliferation versteht man die Verbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen sowie Kenntnissen, um solche Produkte herstellen zu können. Die illegale Beschaffung solcher Güter in Deutschland wird von den Verfassungsschutzbehörden in enger Kooperation mit anderen Sicherheitsorganen sorgfältig überwacht und effektiv unterbunden. Neben den klassischen Proliferationsgütern hat die Aufklärung im Bereich der Dual-Use-Güter zugenommen. Darunter werden Waren, Technologien oder Software verstanden, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können. Diese Güter haben legitime zivile Anwendungen, können jedoch ebenso für militärische oder sicherheitsrelevante Zwecke verwendet werden. Beispiele für Dual-Use-Güter umfassen fortschrittliche Technologien in den Bereichen Chemie, Biologie, Informatik, Elektronik, Luftund Raumfahrt sowie Telekommunikation. Aufgrund ihres potenziellen Missbrauchs für militärische oder sicherheitsrelevante Aktivitäten stehen Dual-Use-Güter oft im Fokus internationaler Exportbeschränkungen. Entsprechende Exportkontrollen sollen sicherstellen, dass Dual-Use-Güter nicht in Bereiche gelangen, in denen sie für illegitime oder gefährliche Zwecke verwendet werden könnten, wie beispielsweise die Herstellung von Massenvernichtungswaffen oder militärischen Technologien. Ein präventiver Schwerpunkt liegt auf der Sensibilisierung von Unternehmen und Forschungseinrichtungen im Hinblick auf die Thematik der Proliferation. 190 11.2 Schutz vor Wirtschaftsspionage Ausländische Nachrichtendienste und staatliche Organisationen fremder Mächte intensivieren ihre Bemühungen, das Wissen und die damit verbundenen Innovationen der deutschen Wirtschaft gezielt auszuspähen. So soll ein Vorteil im internationalen Wettbewerb um Macht und Einfluss erlangt werden. Besonders im Fokus stehen Emerging Technologies (EMT)428. EMT wie Quantentechnologie, Künstliche Intelligenz, Hyperschalltechnik, Überwachungstechnologien oder Biotechnologie können sich wirtschaftlich, politisch und sozial auswirken. Zudem haben sie oft ein hohes militärisches Potenzial. Auch hochinnovative und technologieorientierte Branchen, wie die Informationsund Kommunikationstechnologie, die Luftund Raumfahrttechnik, Rüstungstechnologie sowie die Automobilindustrie von Wirtschaftsspionage sind gefährdet. Wirtschaftsspionage kann für Unternehmen existenzbedrohlich sein, da sie wichtige Geschäftsgeheimnisse wie technologische Innovationen, Produktionsprozesse, Finanzdaten und Kundeninformationen verlieren können. Dies gilt auch für Cyber-Angriffe. In den vergangenen Jahren wurde eine ernstzunehmende Zunahme von Cyber-Angriffen festgestellt. Hackerangriffe, sei es Cyberspionage oder Konkurrenzausspähung, können ganze Betriebe und Behörden handlungsunfähig machen sowie langfristige wirtschaftliche Schäden verursachen. Im schlimmsten Fall könnten Insolvenzen durch den illegalen Abfluss von Know-how drohen. Der brandenburgische Verfassungsschutz agiert daher als Sicherheitspartner der Unternehmen. Frühzeitig informiert die Behörde über Maßnahmen der präventiven Spionageabwehr und sensibilisiert vor Gefahren von Cyberangriffen und Ausspähversuchen. Diese Sensibilisierung erstreckt sich nicht nur auf Wirtschaftsunternehmen und Forschungseinrichtungen, sondern auch auf Regierungsstellen und Parlamente. Dabei werden Kenntnisse über Methoden und Ziele von Angriffen vermittelt sowie Unterstützung bei der Initiierung geeigneter Sicherheitsmaßnahmen angeboten. Das Angebot umfasst nicht nur den Schutz vor Spionage, sondern auch die Proliferationsabwehr429 und den Sabotageschutz430. Die Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg zählt zu den erfolgreichsten Start-Upund Innovationszentren Deutschlands und weist bundesweit die höchste Forschungsdichte auf. Das beinhaltet ein erhebliches Innovationspotenzial für ansässige Unternehmen. Daher wird mit einer weiteren Zunahme von Spionageangriffen auf Unternehmen in Brandenburg zu rechnen sein. Ein Schlüsselfaktor für den Erfolg der Region ist das Wissen aus wissenschaftlichen Einrichtungen, das durch Forschung und Entwicklung einen wesentlichen Beitrag zur Volkswirtschaft leistet. Dieses schützt der Verfassungsschutz durch seine Präventionsarbeit. Seit dem Beginn des Russland-Ukraine-Krieges warnen Sicherheitsbehörden regelmäßig vor schwerwiegenden Schäden im Bereich der Kritischen Infrastrukturen (KRITIS) und KRITIS-nahen Unternehmen, die für ein funktionierendes Gemeinwesen wesentlich sind. Obwohl sich diese Befürchtungen vorerst nicht bewahrheiteten, ist aufgrund der geopolitischen Lage mit Operationen russischer Nachrichtendienste zu rechnen. Diese werten systematisch öffentlich zugängliche Informationen aus, um Schwachstellen in der kritischen Infrastruktur zu identifizieren, die für physische und cybergestützte Sabotagehandlungen genutzt werden können. Solche Handlungen könnten die Vorbereitung komplexer Sabotagemanöver beinhalten, die sogar zu Versorgungsengpässen führen könnten. Ebenso ist die Störung der öffentlichen Sicherheit oder ein Versuch der politischen Einflussnahme auf diesem Wege nicht ausgeschlossen. Vor 428 Der englische Begriff "Emerging Technologies" lässt sich am ehesten mit "aufkommende Technologien" übersetzen. Diese Technologien sind in der Regel noch nicht realisiert. Es ist aber davon auszugehen, dass sie in absehbarer Zukunft Einfluss auf die wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung einer Gesellschaft haben werden. 429 Proliferationsabwehr verhindert die illegale Beschaffung von Gütern, Technologie und Wissen, die zur Entwicklung und Herstellung von Massenvernichtungswaffen und deren Trägersystemen eingesetzt werden können. 430 Sabotageschutz bezeichnet die Gesamtheit von Maßnahmen, die geeignet sind, den Ausfall von für das Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbaren lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen durch Sabotageakte zu verhindern. 191 diesem Hintergrund bietet der brandenburgische Verfassungsschutz umfassende Unterstützungsund Beratungsangebote für die genannten Stellen an. Aktuelle Entwicklungen in der Cyberabwehr (Cyberspionage) Cyberbedrohungen nehmen inzwischen eine herausragende Rolle ein. Die rasante Verbreitung schädlicher Software stellt eine ernsthafte Gefahr für die Integrität digitaler Systeme und damit für das Funktionieren unserer Demokratie dar. Besonders hoch ist die Bedrohung für "Kritische Infrastrukturen" (KRITIS), zu denen lebenswichtige Sektoren wie Energie, Wasser, Gesundheitswesen und Telekommunikation gehören. Erneut wurden im Berichtszeitraum komplexere Cyberangriffe auf IT-Infrastrukturen, insbesondere von Konzernen, öffentliche Stellen und KRITIS-Betreiber, in Deutschland registriert. Grafik mit Keyfacts zu Cyberangriffen 2023; LfV BB 2024 431432433 Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 ist eine Verschärfung der aktuellen Gefährdungssituation im weltweiten Cyberraum eingetreten. Cyberangriffe, die nach Einschätzung der deutschen Cyberabwehrbehörden aus Russland stammen, werden als Teil einer gezielten hybriden Kriegsführung gegen staatliche und nichtstaatliche Akteure in der Ukraine eingesetzt. Es besteht die Möglichkeit von Kollateralschäden auch in Brandenburg, insbesondere für Betreiber kritischer Infrastrukturen. Zudem besteht die Gefahr, dass kriminelle Hackergruppen im Auftrag der Russischen Föderation gezielt Cyberangriffe auf Staaten durchführen, welche die Ukraine unterstützen. Deutschland und Brandenburg können hierdurch direkt betroffen sein. Mit Blick auf die Vielfalt der Angriffsvektoren434 aus dem Cyberraum war 2023 für die Cyberabwehr ein weiteres Rekordjahr. Dabei wurden im Schwerpunkt KI-generierte Angriffe, Dark-Net-Toolkits und Malware-as-a-Service als Angriffsmittel erkannt. Die nachfolgende Darstellung über aktuelle Entwicklungen, 431 Vgl. Sophos "The State of Ransomware 2023", Seite 9 432 Vgl. BSI "Die Lage der IT-Sicherheit in Deutschland", Seite 30 433 Vgl. https://www.watchguard.com/wgrd-news/blog/there-was-cyberattack-every-39-seconds-2023 434 Angriffsvektor bezeichnet eine bestimmte Technik oder einen bestimmten Weg, um einen Angriff auf ein IT-System durchzuführen. Cyberakteure nutzen Angriffsvektoren zur Kompromittierung fremder Rechner und Systeme, (zuletzt abgerufen am 12.01.2024). 192 Methoden und Perspektiven in der Cyberspionage basiert auf kontinuierlicher Beobachtung und Erkenntnissen der deutschen Nachrichtendienste. Methoden und Technologien in der Cyberspionage Botnetze Mitte 2023 informierte das Bundesamt für Verfassungsschutz über die Gefahren von spionageunterstützenden Aktivitäten, ausgehend von Botnetzen im Zusammenhang mit SOHO-Geräten (Small Office and Home-Office). Zeitgleich bearbeitete der Verfassungsschutz Brandenburg Einzelfälle, welche die Nutzung von SOHO-Geräten in Brandenburg durch ausländische Nachrichtendienste beziehungsweise staatlich gelenkte Hackergruppierungen bestätigten. Bei solchen Angriffen werden bekannte Schwachstellen von SOHO-Geräten, die über längere Zeiträume nicht gepatcht wurden, ausgenutzt. Sobald ein SOHO-Gerät infiziert ist, können eigene Daten oder Daten Dritter über das Gerät zur Verschleierung der Identität der Angreifer an eine Gruppe von Servern übertragen werden. Insofern ist es wichtig, SOHO-Geräte stets zu aktualisieren und Produkte, die von Herstellern nicht mehr unterstützt werden, auszutauschen. Hacktivisten: NoName057(16) Mutmaßliche Operationsbasis: Russland Angriffsziele: Banken/Finanzdienstleister, KRITIS und Behörden von NATO-Mitgliedsstaaten sowie Einrichtungen in der Ukraine Überblick: NoName057(16) ist eine pro-russische Hacktivistengruppe, die im März 2022 auftauchte und im Jahr 2023 Tausende von DDoS-Angriffen (Distributed Denial of Service) gegen Einrichtungen auf der ganzen Welt verübt hat, wobei der Schwerpunkt auf Einrichtungen in der Ukraine und Westeuropa lag. Die Motivationen der Gegner konzentrieren sich durchweg auf die Unterstützung der russischen Ziele in der Ukraine. Nach Ankündigungen westlicher Hilfe für die Ukraine werden häufig DDoS-Angriffe als Vergeltungsmaßnahme angeführt. NoName057(16) hat ein eigenes Angriffs-Toolkit "DDoSia" entwickelt, welches unter anderem über soziale Netzwerke verteilt wird und die Beteiligung von Freiwilligen an DDoS-Kampagnen voraussetzt. Supply-Chain-Angriffe Die Bedrohungen durch Supply-Chain-Angriffe sind im Vergleich zum Vorjahr unverändert hoch. SupplyChain-Angriffe sind Angriffe, bei denen Hacker oder staatliche Akteure versuchen, das Netzwerk eines Unternehmens oder einer öffentlichen Stelle einzudringen, indem sie sich Zugang über einen Dritten verschaffen, der bereits Teil des Netzwerks ist. Es ist möglich, dass Dritte dabei direkt mit dem Betroffenen zusammenarbeiten. Aktuelle Supply-Chain-Angriffe stellen eine neue Art der Bedrohung dar, da sie gezielt auf marktführende Softwarehersteller und -zulieferer abzielen, um über die Verbreitung legitimer Software flächendeckenden Zugang zu Netzwerken von Betroffenen zu erlangen. Hauptsächlich wird der Quellcode von wichtigen 193 Technologien geändert oder Mechanismen in einem Softwareprodukt angepasst, mit dem Ziel, später Schadsoftware einzubringen. Das bekannteste Beispiel im Jahr 2023, mit Auswirkungen auf Brandenburg, ist ein Supply-Chain-Angriff durch Microsoft Azure. Hacker konnten dabei einen Signaturschlüssel von Microsoft stehlen, um Zugangsberechtigungen für Outlook Web Access und Outlook.com zu erhalten. Dies ermöglichte ihnen, unter anderem E-Mails und deren Anhänge von Benutzerkonten fast aller Microsoft-Cloud-Dienste zu laden. In bestimmten Fällen existierte sogar ein ungehinderter Zugriff auf Cloud-Anwendungen. Phishing In der Vergangenheit war besonders eine Gruppe namens "GHOSTWRITER" als Urheber solcher Phishing-Angriffe tätig. Sie führt seit 2017 Cyberangriffe und Desinformationskampagnen durch. Im Vorfeld der bevorstehenden Landtagswahl 2024 wird von einer Intensivierung und Eskalation ihrer Aktivitäten sowie von vermehrten Desinformationsoperationen ausgegangen. "GHOSTWRITER" führt Phishing-Angriffe auf E-Mail-Konten politische Entscheidungsträger und anderweitig politisch aktiven Personen in Deutschland durch. Brandenburg war im Jahr 2023 quantitativ ein Schwerpunkt dieser Angriffe. Es wird angenommen, dass GHOSTWRITER bereits vor den Attacken Social-Engineering-Maßnahmen angewendet hat. Die Angreifer nutzen öffentlich zugängliche Daten, um beispielsweise auf E-Mail-Adressen möglicher Opfer zuzugreifen. Im nächsten Abschnitt versenden sie gezielt Phishing-Mails. Die Angreifer fälschen häufig den Absender von E-Mails, um den Empfänger davon zu überzeugen, dass diese E-Mails echt sind. Zurzeit werden hauptsächlich die E-Mail-Adressen "mailing@gmx.de" oder "mailing@t-online.de" als Absenderadressen genutzt. Es besteht jedoch die Möglichkeit, dass auch Benutzer anderer E-Mail-Anbieter in den Mittelpunkt der Angriffskampagne geraten sind. Aufgrund mehrerer solcher Phishing-Attacken im Jahr 2023 hat der Verfassungsschutz Brandenburg im ganzen Land umfassende Sensibilisierungsmaßnahmen bei politisch aktiven Personen sowie entsprechenden Stellen durchgeführt und Handlungsempfehlungen gegeben. Die Cyberabwehr geht davon aus, dass solche Angriffe auch in Zukunft stattfinden werden. Betroffene können den Verfassungsschutz ist in solchen Fällen ständig ansprechen. Perspektive Aufgrund der zunehmenden Digitalisierung aller Bereiche und der damit verbundenen Abhängigkeit von IT-gestützten Prozessen in kritischen Infrastrukturen sowie der Komplexität von IT-Lösungen wird die Wahrscheinlichkeit von Cyber-Angriffen weiterhin steigen, insbesondere durch staatliche Akteure und staatlich finanzierte Cyberkriminelle. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine verschärft diese Situation. Daher wird der Verfassungsschutz Brandenburg seine Fähigkeit, Cyberangriffe zu analysieren und branchenspezifische Präventionsmaßnahmen anzubieten, ausbauen. Zusätzlich wird die Kooperation mit anderen Partnern sowohl im Verfassungsschutzverbund als auch innerhalb des Landes intensiviert. 194 11.3 Materieller Geheimschutz Der Begriff "Verschlusssachen" (VS) bezieht sich auf Informationen von öffentlichem Interesse, deren Enthüllung die Sicherheit der Menschen und die unseres freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats gefährden könnte. Verschlusssachen (VS) können schriftliche Dokumente, Bildmaterial, gesprochene Worte und andere Informationsquellen umfassen. Die Klassifizierung in die gesetzlich vorgeschriebenen Geheimhaltungsgrade "VS-Nur für den Dienstgebrauch", "VS-Vertraulich", "Geheim" und "Streng Geheim" erfolgt aufgrund der jeweiligen Inhalte. Die beiden erstgenannten Geheimhaltungsgrade kommen am häufigsten vor. Der damit verbundene Geheimschutz umfasst sowohl materielle als auch personelle Aspekte. In Bezug auf andere Behörden und Einrichtungen handelt der Verfassungsschutz als Sicherheitsdienstleister. Die Handhabung von Verschlusssachen wird durch die Verschlusssachenanweisung (VSA) des Landes Brandenburg geregelt, die im Jahr 2021 aktualisiert wurde. Die Neufassung war unter anderem notwendig, um den elektronischen Umgang mit Verschlusssachen zu berücksichtigen. Die VSA umfasst nun Sicherheitsmaßnahmen, die sich aus der Nutzung tragbarer IT-Geräte wie Smartphones oder Smartwatches am Arbeitsplatz ergeben. Der materielle Geheimschutz umfasst technische und organisatorische Maßnahmen zur Verhinderung unbefugter Kenntnisnahme von Verschlusssachen. Der Verfassungsschutz berät und unterstützt dabei andere Behörden und geheimschutzbetreute Unternehmen. Die VSA bildet dafür die Grundlage. Die Bearbeitung von Verschlusssachen erfolgt heutzutage weitgehend im Bereich computerunterstützter Informationstechnologien. Dabei ergreift der Verfassungsschutz entsprechende Maßnahmen, um die Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität (Unverfälschtheit) der Daten zu schützen. Vor der Übermittlung werden die Daten verschlüsselt. Und aufgrund ihrer hohen Schutzbedürftigkeit erfolgt die Speicherung nach strengen Maßgaben, die über die des IT-Grundschutzes des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik hinausgehen. Ein regelmäßig überprüftes und angepasstes IT-Sicherheitskonzept bildet hierfür die Grundlage. 195 11.4 Personeller Geheimschutz Zuverlässigkeitsüberprüfungen Der Verfassungsschutz ist an der Zuverlässigkeitsüberprüfung von Personen beteiligt, welche in speziellen Sicherheitsbereichen beschäftigt werden sollen beziehungsweise bereits sind oder die als Jäger oder Sportschütze eine waffenrechtliche Erlaubnis beantragen wollen oder bereits im Besitz dieser Erlaubnis sind. Die wichtigsten Rechtsgrundlagen dafür sind das Luftsicherheits-, das Atom-, das Sprengstoff-, das Waffenund das Jagdgesetz. Zusätzlich fällt der Abfrage des nachrichtendienstlichen Informationssystems zur Prüfung der Zuverlässigkeit nach der Gewerbeordnung ebenfalls eine wichtige Rolle zu, da Bewachungsaufgaben privater Wachschutzfirmen sehr stark an Bedeutung gewonnen haben. Gerade in Bezug auf den Schutz spezieller Objekte beziehungsweise von Großveranstaltungen hat die Ordnungsbehörde bei Prüfung der Zuverlässigkeit des Beschäftigten die zuständige Verfassungsschutzbehörde im Rahmen der Mitwirkung einzubinden. 2023 gingen insgesamt 30.003 (2022: 29.543) Anfragen im Rahmen von Zuverlässigkeitsüberprüfungen ein, darunter: 6.239 (2022: 5.167) gemäß Luftsicherheitsgesetz, 98 (2022: 116) gemäß Atomgesetz, 976 (2022: 896) gemäß Sprengstoffgesetz und 1.605 (2022: 1.621) gemäß Gewerbeordnung für das Bewachungsgewerbe. Darüber hinaus wurde der Verfassungsschutz in 21.085 Überprüfungen gemäß Waffenund Jagdgesetz (2022: 21.570) angefragt. Überprüfung im Rahmen aufenthaltsrechtlicher Angelegenheiten Im Rahmen gesetzlich vorgesehener Überprüfungen auf Hinweise zum Extremismus oder Terrorismus wirkt der Verfassungsschutz mit. Hierunter zählen aufenthaltsrechtliche Beteiligungsverfahren (SS 73 Absatz 3 AufenthG), Einbürgerungsanfragen (SS 37 Absatz 2 StAG), Visa(SS 73 Absatz 1 AufenthG) und Asylkonsultationsverfahren (SS 73 Absatz 1a und 3a AufenthG). Diese Aufgabe betrifft vor allem Migrantinnen und Migranten und hat im Umfang zugenommen. Sicherheitsüberprüfungen Eine Person, die Zugang zu Verschlusssachen-Vertraulich (VS-Vertraulich) oder höher eingestuften Verschlusssachen erhalten soll oder sich verschaffen kann, ist zuvor einer Sicherheitsüberprüfung nach dem Brandenburgischen Sicherheitsüberprüfungsgesetz (BbgSÜG) zu unterziehen. So sieht es die Verschlusssachenanweisung für Behörden des Landes Brandenburg (VSA BB) vor. Unter Verschlusssachen fallen sämtliche sicherheitssensible Informationen, deren Kenntnisnahme im staatlichen Interesse einer besonderen Geheimhaltung bedürfen. Diese besonders zu schützenden Informationen sollen naturgemäß nur bestimmten Personen zugänglich sein. Hierzu werden in materieller und personeller Hinsicht entsprechende Vorkehrungen getroffen. Ein wesentlicher Bestandteil des Verschlusssachenschutzes ist in personeller Hinsicht die Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen nach dem Brandenburgischen Sicherheitsüberprüfungsgesetz. Die Sicherheitsüberprüfung wird nur mit Zustimmung und Einwilligung der zu überprüfenden und gegebenenfalls der einzubeziehenden Person(en) durchgeführt. Die Behörde, in der die Person sicherheitsempfindlich eingesetzt werden soll, beauftragt die Sicherheitsüberprüfung beim Personellen Geheimschutz des Verfassungsschutzes Brandenburg. Die Art der Sicherheitsüberprüfung (Ü1 / Ü2 / Ü3) richtet sich nach der Einstufung und der Anzahl der Verschlusssachen, zu denen eine Person künftig Zugang haben darf oder sich verschaffen kann. Nach den durchgeführten Überprüfungsmaßnahmen spricht der Verfassungsschutz Brandenburg eine Empfehlung über den Abschluss der Sicherheitsüberprüfung aus. 196 Das Verfahren soll mit Blick auf die Geheimhaltungsbedürftigkeit sensibler Informationen ein mögliches Sicherheitsrisiko erkennen. Hierunter fallen zum Beispiel Zweifel an der Zuverlässigkeit, eine besondere Gefährdung durch Anbahnungsoder Werbungsversuche fremder Nachrichtendienste und Zweifel am Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Ein Sicherheitsrisiko schließt die Betrauung mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit aus. Solche Anhaltspunkte können selbstverschuldet sein (Straftaten, finanziell bedenklicher Lebensstil) oder beim Lebenspartner bestehen, sofern dieser in eine Sicherheitsüberprüfung eingezogen ist. Das könnte beispielsweise ein Ehepartner mit einer erheblichen Anzahl an Straftaten sein. In solchen Fällen kann es unter Umständen wegen vorliegender Sicherheitsrisiken zur Ablehnung kommen. Im Jahr 2023 wirkte der Verfassungsschutz Brandenburg an insgesamt 335 (2022: 293) Sicherheitsüberprüfungen mit. Die Überprüfungen wurden für mehr als 20 Behörden des Landes Brandenburg durchgeführt. Die Wichtigsten sind Polizei, Staatskanzlei, andere Ministerien, Landtag, Gerichte sowie Staatsanwaltschaften. 197 12. Verfassungsschutz durch Aufklärung 198 Unsere Demokratie ist verwundbar. Deswegen trägt der Verfassungsschutz Erkenntnisse über Extremisten zusammen. Diese Erkenntnisse sind nicht für den Tresor bestimmt. Vielmehr dienen sie den Sicherheitsbehörden, den Verwaltungen aber auch den Bürgern und damit der gesamten Gesellschaft. So trägt der Verfassungsschutz dem Anspruch Rechnung, als effektives Frühwarnsystem der wehrhaften Demokratie zu dienen. Vorträge, Teilnahmen an Podiumsdiskussionen, Info-Stände auf Großveranstaltungen, eigene Fachtagungen, Kooperationen und diverse Publikationen sind wesentliche Aufklärungsinstrumente des brandenburgischen Verfassungsschutzes, um über extremistische Phänomenbereiche und Wirtschaftsschutz zu informieren. Im Jahr 2023 waren es 105 (2022: 80) Vorträge mit rund 5.180 (2022: 2.400) Teilnehmern. Zurückgelegt wurden dafür 14.295 Kilometer. Manche Vorträge wurden jedoch nur online gehalten. Damit summiert sich die Zahl solcher Veranstaltungen seit dem Jahr 2008 auf 1.462. Rund 55.100 Interessierte nahmen daran teil. Und die kommen aus dem gesamten Spektrum unserer Gesellschaft: Schüler, Auszubildende, Studenten, Parteimitglieder, Gewerkschafter, Vereinsmitglieder, Verwaltungsbedienstete, Justizangehörige, Schöffen, Polizisten, Soldaten, Erzieher, Lehrer, einfach nur interessierte Bürger und noch viele mehr. Fortgesetzt wurde die seit dem Jahr 2008 bestehende Zusammenarbeit im Rahmen der "Oranienburger Reihe". Zu dieser Kooperation zählen die "Koordinierungsstelle Tolerantes Brandenburg", "demos - Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenberatung", der "Städteund Gemeindebund", der "Landkreistag", die "Hochschule der Polizei", die "Brandenburgischen Kommunalakademie" und das "Niederlausitzer Studieninstitut für kommunale Verwaltung". Hierbei standen zwei Veranstaltungen mit insgesamt 400 Teilnehmern im Zentrum. Zum einen gab es am 14. September 2023 die Fachtagung "Vom Querulanten bis zum Staatsfeind - aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen", welche sich in Potsdam mit Reichsbürgern und Selbstverwaltern befasste. Zum anderen wurde am 30. November 2023 in Oranienburg die Fachtagung "Tschetschenen und die nordkaukasische Gemeinschaft in Brandenburg: Praxiserfahrungen, Herausforderungen und Unterstützungsangebote für Kommunen und Behörden" ausgerichtet. Beide Veranstaltungen waren schnell überbucht, so dass die Anmeldelisten leider frühzeitig geschlossen werden mussten. Die Kooperationspartner haben damit seit 2008 insgesamt 51 ganztägige Veranstaltungen für rund 2.700 kommunale Entscheidungsträger angeboten. Die Reihe wird 2024 fortgesetzt. Darüber hinaus bietet der Verfassungsschutz Brandenburg teilweise in Kooperation mit anderen Verfassungsschutzbehörden auch eigene Tagungen an. Mit einem Festsymposium feierte der brandenburgische Verfassungsschutz am 27. April 2023 in der Investitionsbank des Landes Brandenburg sein 30jähriges Bestehen. Anlass war der Beschluss des Verfassungsschutzgesetzes durch den Landtag im Jahr 1993. Das Festsymposium widmete sich dem Thema "Geopolitische Zeitenwende in Europa - unsere wehrhafte Demokratie im Krisenmodus". Sicherheitsexperten, Politiker und Journalisten diskutierten mit den rund 200 Teilnehmern über die Folgen des Angriffskrieges auf die Ukraine und die damit einhergehende Beeinflussung auf extremistische Bestrebungen. Ministerpräsident Woidke erklärte in seinem Grußwort: "Brandenburg setzt sich zur Wehr gegen Hass und Hetze - die größte Gefahr droht uns dabei vom Rechtsextremismus. Hier wird es weiter nur Null Toleranz geben. Gemeinsam kämpfen wir für Freiheit, Menschenwürde und die Werte unseres Grundgesetzes. Ich danke dem Verfassungsschutz daher auch für seine Kooperation mit der Koordinierungsstelle 'Tolerantes Brandenburg'. Als Partner und moderner Dienstleister für unsere Gesellschaft steht der Verfassungsschutz für Aufklärung, Information und präzise Lageeinschätzungen. Für unsere Sicherheitsarchitektur ist er ein unverzichtbarer Bestandteil." Innenminister Stübgen sagte in seiner Festrede: "Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Auswirkungen auf unsere Innere Sicherheit. Spionageaktivitäten nehmen zu, ebenso ist unsere Infrastruktur zusätzlichen Angriffen ausgesetzt. Anhänger Putins tragen totalitäres Gedankengut und russische Kriegspropaganda bis in die Mitte unserer Gesellschaft. Wir müssen unsere Demokratie mit aller Entschiedenheit gegen ihre Feinde verteidigen. Der Schutz unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist 199 daher ohne Verfassungsschutz völlig undenkbar." Jörg Müller, Leiter des brandenburgischen Verfassungsschutzes, ergänzte: "Die größte Bedrohung für unsere wehrhafte Demokratie war und ist der Rechtsextremismus. Das Personenpotenzial des Rechtsextremismus bewegt sich aktuell auf dem zweithöchsten Niveau in der Geschichte Brandenburgs. Der Verfassungsschutz hat sich immer als Frühwarnsystem unserer Demokratie verstanden. Das ist heute umso wichtiger, als große Teile der rechtsextremistischen Szene von Putin elektrisiert sind." Seit dem Jahr 2005 nahmen somit rund 3.680 Interessierte an den insgesamt 22 Fachtagungen des brandenburgischen Verfassungsschutzes teil. Die zwischenzeitlich unterhaltene gemeinsame Kooperation mit allen anderen ostdeutschen Verfassungsschutzbehörden ruht aktuell jedoch. 200 13. Ausstiegsund Distanzierungsprogramm "wageMUT" 201 Mit der Einführung des Ausstiegsund Distanzierungsprogramms "wageMUT" am 1. Januar 2023 ist der brandenburgische Verfassungsschutz seinem gesetzlichen Auftrag nachgekommen, verfassungsfeindlichen Bestrebungen durch Angebote zum Ausstieg aus dem Extremismus entgegenzuwirken.435 Damit leistet "wageMUT" einen Beitrag zur Reduzierung extremistischer Bestrebungen und entsprechenden Strafund Gewalttaten. Programminhalt Das Programm bietet Szeneangehörigen (multi-)professionelle Unterstützung bei der Eingliederung beziehungsweise Wiedereingliederung in die demokratische Gesellschaft an. Voraussetzung ist der Wille Betroffener, sich aus ihrem extremistischen Umfeld zu lösen. Neben der kritischen Auseinandersetzung mit der extremistischen Vergangenheit und dem individuellen Radikalisierungsprozess bietet das Programm Unterstützung im Alltag nach dem Motto "Hilfe zur Selbsthilfe" an. Diese umfasst unter anderem: o Vertrauliche, vorurteilsfreie und wertschätzende Beratung o Aufzeigen (neuer/alternativer) schulischer oder beruflicher Perspektiven o Aufbau neuer (nicht-extremistischer) Sozialkontakte o Unterstützung im Umgang mit Behörden, bei der Suche nach Arbeit, Wohnung und ähnliches o Vermittlung von spezifischen Beratungsangeboten zu Themen wie beispielsweise Schulden, Sucht, Erziehung und Familie, Beruf/Ausbildung Zielgruppe Das Angebot richtet sich an Rechtsund Linkextremisten, an Reichsbürger und Selbstverwalter sowie an Angehörige des Bereichs Delegitimierung des Staates. Grundsätzlich sind Freiwilligkeit, Gesprächsbereitschaft und Motivation maßgeblich und Voraussetzung für die Aufnahme in das Ausstiegsprogramm. Darüber hinaus bietet "wageMUT" auch Beratung für besorgte Angehörige, Freunde, Kolleginnen und Kollegen an. Zugang zum Programm Grundsätzlich können alle ausstiegswilligen Personen unverbindlich und bei Bedarf anonym Kontakt mit "wageMUT" aufnehmen. Möglich ist dies über eine Telefonhotline, die E-Mail-Adresse des Programms, 435 Vgl. Brandenburgisches Verfassungsschutzgesetz, SS 5 Abs. 2. 202 ein Kontaktformular auf der Homepage des Ausstiegsprogramms436 oder über die allgemeine Erreichbarkeit des Verfassungsschutzes. Die Ausstiegsbegleiter von "wageMUT" warten jedoch nicht nur, bis Betroffene auf sie zukommen. Ein wichtiger Teil der Arbeit ist ebenso die proaktive Fallakquise, also das aktive Zugehen auf Extremisten. Auch hier erweist sich die Anbindung des Ausstiegsprogramms an den Verfassungsschutz als vorteilhaft. Schließlich ist er stets über aktuelle Entwicklungen in den extremistischen Szenen informiert und kann somit bei Hinweisen auf erste Distanzierungen entsprechend handeln. Sowohl im konkreten Ausstiegsprozess als auch in der Fallakquise greift das Ausstiegsprogramm auf ein weitreichendes Netzwerk aus Sicherheitsbehörden sowie auf Akteure der Präventionslandschaft des Landes Brandenburg zurück. Ablauf der Ausstiegsbegleitung Ein Ausstiegsprozess verläuft in der Regel sehr individuell und kann mitunter über mehrere Jahre andauern. Zunächst geht es um den Aufbau einer vertraulichen und tragfähigen Arbeitsbeziehung zwischen der ausstiegswilligen Person und der Ausstiegsbegleitung. Danach sollen persönliche Einstiegsmotive in die Szene und extremistische Einstellungsmuster besprochen und analysiert werden. Dies beinhaltet zum Beispiel historische, politische oder kulturelle Themen, aber auch die Aufarbeitung des eigenen Radikalisierungsprozesses. Die kritische Auseinandersetzung mit der extremistischen Vergangenheit zielt darauf ab, Impulse für eigene Reflexionsund Bewusstwerdungsprozesse zu setzen. Den Kern der Ausstiegsbegleitung bilden daher regelmäßige persönliche Gespräche sowie verhaltenstherapeutische und sozialpädagogische Interventionen. Die Stabilisierung der persönlichen Lebensverhältnisse ist eine wesentliche Grundlage für einen erfolgreichen Ausstieg. Personen, die sich aus einer extremistischen Szene lösen möchten, sehen sich in der Regel mit vielfältigen Problemlagen konfrontiert. Arbeitslosigkeit, Veränderungen des sozialen Umfeldes, Freizeitgestaltung oder auch die HerausReflexionsund Abwendung von forderung, den Alltag plötzlich allein bewältigen Bewusstextremistischer werdungsSzene zu müssen, können Stolpersteine beim Aufbau prozesse eines Lebens außerhalb der gewohnten Struktur sein. Stabilisierung Zukunftspersönlicher perspektiven Langfristig sollen die Programmteilnehmer befäLebensentwickeln verhältnisse higt werden, eigene Zukunftsperspektiven zu entwickeln, neue Lösungsideen mit der nötigen Abkehr von Unterstützung zu erarbeiten und diese schrittGewalt weise umzusetzen. Dabei gilt, dass die Ausstiegbegleiter lediglich zu einer Veränderung ermutigen oder andere Wege aufzeigen können. Die Veränderung des Verhaltens und der Einstellung jedoch liegt in der Verantwortung der ausstiegswil436 Vgl. www.mik.brandenburg.de/wagemut (zuletzt abgerufen am 12.3.2024). 203 ligen Betroffenen selbst. Grundsätzlich endet die Ausstiegsbegleitung, wenn eine erfolgreiche Abwendung von der extremistischen Szene erfolgt ist, extremistische Handlungsmuster abgelegt wurden, eine Abkehr von der Gewalt eingetreten ist sowie im Idealfall ein Gefühl der Zugehörigkeit zur Gesellschaft entstanden ist. Kontakt zu "wageMUT": Homepage: www.mik.brandenburg.de/wagemut Telefon (Montag - Freitag | 9-17 Uhr): 0151 / 159 357 36 E-Mail: wagemut@mik.brandenburg.de 204