Zusammenfassung................................................................................................................................................ 3 1. Aufgaben, Befugnisse und Kontrolle des Verfassungsschutzes ............................................................... 14 2. Aktuelle Entwicklungen im Cyber-Extremismus .......................................................................................... 18 3. Rechtsextremismus ........................................................................................................................................ 34 3.1 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) ...................................................................................................... 36 3.2 DER DRITTE WEG ....................................................................................................................................................... 41 3.3 Parteiunabhängige Strukturen 1: Kameradschaften ...................................................................................................... 45 3.4 Parteiunabhängige Strukturen 2: Freie Kräfte ............................................................................................................... 47 3.5 Parteiunabhängige Strukturen 3: Bruderschaften ......................................................................................................... 50 3.6 Parteiunabhängige Strukturen 4: Zukunft Heimat e.V. .................................................................................................. 54 3.7 Parteiunabhängige Strukturen 5: Identitäre Bewegung Deutschland ............................................................................ 58 3.8 Parteiunabhängige Strukturen 5: Kampfsportgruppen .................................................................................................. 61 3.9 Weitgehend unstrukturiertes Personenpotenzial ........................................................................................................... 64 3.10 Rechtsextremistische Hassmusik ................................................................................................................................ 65 3.11 Immobilien der rechtsextremistischen Szene .............................................................................................................. 72 3.12 Rechtsextremistischer Verdachtsfall: Alternative für Deutschland (AfD) - Landesverband Brandenburg .................. 74 3.13 Rechtsextremistischer Verdachtsfall: Junge Alternative für Deutschland (JA) - Landesverband Brandenburg ......... 81 3.14 Rechtsextremistischer Verdachtsfall: COMPACT-Magazin ......................................................................................... 85 4. Reichsbürger und Selbstverwalter ................................................................................................................ 89 5. Linksextremismus ........................................................................................................................................... 96 5.1 Autonome .................................................................................................................................................................... 101 5.2 Rote Hilfe e.V. ............................................................................................................................................................. 112 6. Islamischer Extremismus / Islamismus ....................................................................................................... 118 6.1 IM FOKUS: Islamismus im ländlichen Raum - Aktuelle Entwicklungen ...................................................................... 126 6.2 Muslimbruderschaft ("Jamiyat al-Ikhwan al-Muslimin")................................................................................................ 130 6.3 Salafismus ................................................................................................................................................................... 133 6.4 Islamistische Nordkaukasische Szene (INS) ............................................................................................................... 139 6.5 Tablighi Jama'at .......................................................................................................................................................... 143 7. Auslandsbezogener Extremismus ............................................................................................................... 146 8. Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, Proliferation und Geheimschutz ................................................... 152 8.1 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz und Proliferation ................................................................................................ 153 8.2 Materieller Geheimschutz ............................................................................................................................................ 157 8.3 Personeller Geheimschutz .......................................................................................................................................... 158 9. Verfassungsschutz durch Aufklärung ......................................................................................................... 159 2 Zusammenfassung 3 Zusammenfassung Für das Jahr 2020 sind in den Phänomenbereichen Rechtsextremismus und Islamischer Extremismus erneut Anstiege der Personenpotenziale1 feststellbar. Die Zahlen im Linksextremismus, Auslandsbezogenen Extremismus sowie bei den Reichsbürgern und Selbstverwaltern sind im Gegensatz dazu leicht rückläufig. Die Gesamtsituation stellt Sicherheitsbehörden und Zivilgesellschaft weiterhin vor besondere Herausforderungen. Das gilt insbesondere für politische Bestrebungen, welche den Rechtsextremismus mit der Mitte der Gesellschaft verzahnen wollen. Mit dieser Entgrenzungsstrategie soll die Gesellschaft im Sinne rechtsextremistischer Ideologien durchdrungen, beeinflusst und schließlich umgestaltet werden. Die zentralen Entgrenzungsakteure in Brandenburg sind der Verdachtsfall "Alternative für Deutschland" (AfD)2, der neonationalsozialistisch beeinflusste und erwiesen rechtsextremistische Verein "Zukunft Heimat"3 sowie der Verdachtsfall "COMPACT-Magazin"4. Rechtsextremismus Im Jahr 2020 erreichte das rechtsextremistische Personenpotenzial unter Berücksichtigung des Verdachtsfalls AfD5 mit 2.860 (2019: 2.765) den höchsten Stand in der Geschichte des Landes Brandenburg und ist damit zum siebten Mal in Folge angestiegen. Auf die AfD6 (inklusive ihrer Jugendorganisation "Junge Alternative für Deutschland") entfallen hierbei 780 (2019: 670) Personen. Die Gründe, welche im Juni 2020 dazu führten, dass der Landesverband als Verdachtsfall eingestuft wurde, bestehen unvermindert fort.7 1 Personenpotenziale beruhen auf Verfassungsschutzerkenntnissen zu Strukturen und Einzelpersonen, die im Zusammenhang mit relevanten extremistischen Aktivitäten stehen. Darüber hinaus liegen Erkenntnisse zu Personen mit extremistischen Bezügen ohne entsprechend relevanten Aktivitäten vor. Sie werden daher nicht zwingend bei den Personenpotenzialen berücksichtigt. Diese Personen sind jedoch regelmäßig daraufhin zu überprüfen, ob ihre Aktivitäten ein Niveau erreicht haben, um sie im jeweiligen Phänomenbereich auszuweisen. 2 Die AfD-Teilstrukturen "Junge Alternative für Deutschland" (JA) und "Der Flügel" waren bereits im Jahr 2019 Verdachtsfälle des brandenburgischen Verfassungsschutzes. Seit Juni 2020 ist der gesamte brandenburgische Landesverband der "Alternative für Deutschland" (AfD) Verdachtsfall des brandenburgischen Verfassungsschutzes, da hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorliegen. "Der Flügel" hat nach eigenen Angaben Ende April 2020 seine Aktivitäten bundesweit eingestellt. 3 Der Verein "Zukunft Heimat" wird vom Verfassungsschutz Brandenburg seit dem Frühjahr 2020 als erwiesen rechtsextremistische Bestrebung beobachtet. 4 Das COMPACT-Magazin ist seit dem Jahre 2020 Verdachtsfall des brandenburgischen Verfassungsschutzes, da hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorliegen. 5 Siehe FN 2. 6 Die AfD-Teilstrukturen "Junge Alternative für Deutschland" (JA) und "Der Flügel" waren bereits im Jahr 2019 Verdachtsfälle des brandenburgischen Verfassungsschutzes. Seit Juni 2020 ist der gesamte brandenburgische Landesverband der "Alternative für Deutschland" (AfD) Verdachtsfall des brandenburgischen Verfassungsschutzes, da hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorliegen. "Der Flügel" hat nach eigenen Angaben Ende April 2020 seine Aktivitäten bundesweit eingestellt. Die 670 Personen im Jahre 2019 ergaben sich aus den beiden AfD-Teilstrukturen JA (30) und "Der Flügel" (640). Die 780 Personen im Jahr 2020 ergeben sich aus dem 40-prozentigen "Flügel"-Potenzial (680) der brandenburgischen AfD-Gesamtmitgliedschaft, der JA (50) sowie weiteren 50 als extremistisch eingestuften Personen. Den Zahlen liegt somit eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung zugrunde. Dieser Maßstab wurde angelegt, da es sich um einen Verdachtsfall handelt. Anderslautende Aussagen aus der Spitze des brandenburgischen Landesverbandes über einen noch höheren Anteil des "Flügels" können somit nicht unmittelbar in Personenpotenziale umgerechnet werden. 7 Dem AfD-Landesverband sind extremistische Positionierungen von AfD-Funktionären zuzurechnen, die insbesondere die Menschenwürde und das Demokratieund Rechtsstaatsprinzip verletzen. Der Einfluss des nach eigenen Angaben aufgelösten "Flügels" auf die Gesamtpartei ist in Brandenburg besonders stark ausgeprägt. Es existiert zudem nachweislich eine personelle und strukturelle Verflechtung der brandenburgischen AfD mit anderen rechtsextremistischen Strukturen. 4 Die AfD8-Mitglieder machen sich insbesondere bei dem Personenpotenzial rechtsextremistischer Parteien bemerkbar. Alle rechtsextremistischen Parteien zusammen verfügten im Jahr 2020 über rund 1.075 Mitglieder (2019: 970). Die Mitgliederzahl der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) ist auf 250 gesunken (2019: 260). Sie ist praktisch handlungsunfähig. Versuche, sich an Protesten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen zu beteiligen, konnten den Abwärtstrend nicht stoppen. 8 Siehe FN 6. 5 "DER DRITTE WEG" ist massiv neonationalsozialistisch ausgerichtet und beansprucht den Parteienstatus. Die Motivation zur gelegentlichen Teilnahme an Wahlen ist rein taktischer Natur. Die Organisation hofft, vereinsrechtlichen Exekutivmaßnahmen unter dem Schutzschirm des Parteienprivilegs entgehen zu können. Im Jahr 2020 verfügte "DER DRITTE WEG" über 45 Mitglieder (2019: 40). Er gibt sich elitär, ist innerhalb der Szene gut vernetzt und strebt einen ideologisch-organisatorischen Führungsanspruch an. Trotz der geringen Mitgliederzahl zeigte sich "DER DRITTE WEG" vergleichsweise umtriebig und handlungsfähig. Im Zentrum der Aktivitäten standen im Jahr 2020 die Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen. Das "weitgehend unstrukturierte rechtsextremistische Personenpotenzial" umfasste im Jahr 2020 insgesamt 1.585 Personen (2019: 1.565). Damit ist ein erheblicher Teil der dem Verfassungsschutz Brandenburg bekannten Rechtsextremisten nicht in Parteien oder parteiunabhängigen Strukturen eingebunden. Trotz allem bestehen Kontaktund Kennverhältnisse. Daher lassen sich aus dieser Gruppe jederzeit Personen für Aktivitäten von Parteien oder anderen Strukturen mobilisieren. 6 Im Jahr 2020 entfielen auf die Kategorie "Rechtsextremisten in parteiunabhängigen Strukturen" insgesamt 410 Personen (2019: 380). Sie waren in 16 (2019: 15) Personenzusammenschlüssen organisiert: unverändert zwei "Kameradschaften", unverändert zwei "Freie Kräfte", acht "Bruderschaften" (2019: 7), unverändert zwei "Vereine" und unverändert zwei "Kampfsportgruppen". So unterschiedlich die Organisationsformen auch sein mögen, letztendlich eint alle die rechtsextremistische Ideologie und die Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Hinzu kommt bei vielen die ideologische Ausrichtung am Neonationalsozialismus. 1.285 und damit 45 Prozent aller dem Verfassungsschutz Brandenburg im Jahr 2020 bekannten Rechtsextremisten gelten als "gewaltorientiert" (2019: 1.280). Erneut rückläufig waren dagegen Gewaltstraftaten im Bereich "Politisch motivierte Kriminalität - rechts". Im Jahr 2020 wurden 69 entsprechende Delikte registriert (2019: 90). Im aktuellen Bundestagswahljahr kann hier ein erneuter Anstieg nicht ausgeschlossen werden. Die rechtsextremistische Musikszene konnte trotz der Corona-Schutzmaßnahmen ihre Aktivitäten eingeschränkt aufrechterhalten. Die Zahl der Bands blieb hoch und stieg auf 24 (2019: 22). Hinzu kommen zusätzlich 18 Liedermacher (2019: 17). Aufgrund des hohen und erfolgreichen Drucks der Sicherheitsbehörden, insbesondere der Polizei, und den pandemiebedingten Einschränkungen konnte im Jahr 2020 nur noch ein Konzert (2019: 4) stattfinden. Die Zahl der Liederabende ist auf fünf gefallen (2019: 14). Die Veröffentlichung neuer Tonträger lag bei 13 (2019: 18). Wenn die Infektionslage überwunden sein wird, ist mit einer deutlichen Zunahme der Konzertaktivitäten zu rechnen. Aufgrund des erfolgreichen Repressionsdrucks werden diese jedoch weiterhin eher außerhalb Brandenburgs stattfinden. 7 Insgesamt betrachtet, treten rechtsextremistische Bestrebungen im Süden des Landes weiterhin stärker als in anderen Landesteilen in Erscheinung. Diese Entwicklung beschreibt der Verfassungsschutz seit Jahren und setzt hier - gemeinsam mit Polizei und zivilgesellschaftlichen Akteuren - Schwerpunkte. Im Süden existiert eine gewachsene, verdichtete und verzahnte Mischszene. Zu ihr zählen Neonationalsozialisten, Rocker, Angehörige des Bewachungsgewerbes, Kampfsportler, Hass-Musiker, Parteimitglieder, Bekleidungssowie Musiklabels und Hooligans. Hinzu kommen weitere extremistische Aktivitäten, wie die vom Verein "Zukunft Heimat" und vom Verdachtsfall AfD.9 Reichsbürger und Selbstverwalter Die Zahl verfassungsschutzrelevanter "Reichsbürger und Selbstverwalter" ist im Jahr 2020 auf 570 leicht gesunken (2019: 600). Linksextremismus Sowohl im bundesweiten Vergleich als auch im Vergleich zum Rechtsextremismus ist der Linksextremismus in Brandenburg deutlich weniger relevant. Nachdem das Personenpotenzial über mehrere Jahre kontinuierlich aufwuchs, war es im Jahr 2020 mit 640 (2019: 650) leicht rückläufig. Die Zahl gewaltorientierter Autonomer lag unverändert bei 240. Die Gewaltstraftaten im Bereich "Politisch motivierte Kriminalität - links" haben sich auf 12 halbiert (2019: 24). In unverändert 14 Kommunen beziehungsweise Regionen waren gewaltorientierte Autonome aktiv. Die "Rote Hilfe e. V." zählte im Jahr 2020 unverändert 360 Mitglieder. Das ist weiterhin ihre höchste jemals in Brandenburg festgestellte Mitgliederzahl. 9 Siehe FN 6. 8 Innerhalb des Linksextremismus behauptet die "Rote Hilfe" damit unangefochten ihre Rolle als übergreifende, zwischen allen Strömungen vermittelnde Konsensorganisation. Sie kümmert sich unter anderem um Rechtsbeistand für politisch-motivierte Straftäter. Daher ist sie als gewaltrechtfertigend und -unterstützend zu bewerten, wenngleich sie selbst nicht gewalttätig agiert. Die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) verharrt mit unverändert 50 Mitgliedern in der vollständigen Bedeutungslosigkeit. 9 Islamischer Extremismus Die Zahl islamischer Extremisten steigt seit dem Jahr 2013 kontinuierlich an. Im Jahr 2020 wurden 200 gezählt (2019: 190). Der Zuwachs ist auf ein steigendes salafistisches Personenpotenzial zurückzuführen. Hinzu kommt die Ausdehnung islamistisch-legalistischer Bestrebungen, die zuvor nicht in Brandenburg aktiv waren. Rund 70 Personen weisen Bezüge zur "Islamistischen Nordkaukasischen Szene" auf. Diese sind relevant, denn Gruppierungen im Kaukasus hatten sich teilweise der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) unterstellt. Eine erhöhte Gefährdung ergibt sich nach wie vor daraus, dass in den letzten Jahren unter Ausnutzung der Flüchtlingsmigration auch islamische Extremisten nach Deutschland gekommen sind. Darunter solche, die über Kampferfahrung als Jihadisten verfügen. Durch den militärischen Zusammenbruch des terroristischen "Islamischen Staats" versuchen zudem diejenigen nach Deutschland zurückzukehren, die zuvor aus Deutschland ausgereist waren, um sich dem IS oder anderen Terrororganisationen anzuschließen. Gleichzeitig steht Brandenburg vor der Herausforderung, Einflussnahmeversuche von Islamisten auf die noch sehr überschaubare muslimische Infrastruktur im Land abzuwehren. 10 Auslandsbezogener Extremismus Das größte Personenpotenzial im Bereich auslandsbezogener Extremismus weist in Brandenburg die bundesweit mit einem Betätigungsverbot belegte "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) auf. Im Jahr 2020 wurden ihr rund 80 Personen zugerechnet (2019: 90). Die Gesamtzahl der auslandsbezogenen Extremisten betrug im Jahr 2020 insgesamt 95 (2019: 105). Zuverlässigkeitsund Sicherheitsüberprüfungen Neben der Beobachtung extremistischer Bestrebungen wirkt der Verfassungsschutz an Zuverlässigkeitsüberprüfungen mit. Für diese Aufgabe werden Daten von Extremisten benötigt. Der Verfassungsschutz erhält sie von anderen Behörden oder erhebt sie selbst. Diese Daten werden erfasst und ständig gepflegt. Bei Zuverlässigkeitsüberprüfungen werden diese Daten abgefragt. So soll beispielsweise verhindert werden, dass dem Verfassungsschutz bekannte Extremisten beruflichen Zugang zum Sicherheitsbereich von Flughäfen erlangen oder Asylunterkünfte bewachen. Dieselbe Überprüfung ist für Personen möglich, die beispielsweise als Sicherheitspersonal bei Fußballspielen eingesetzt werden. Im Jahr 2020 gingen insgesamt 9.436 entsprechende Anfragen beim brandenburgischen Verfassungsschutz ein (2019: 7.773). Das ist der höchste Stand seit Beginn der statistischen Erfassung. 11 Mit der Schließung des Flughafens in Tegel sind die wichtigen Zuverlässigkeitsüberprüfungen gemäß Luftsicherheitsgesetz für den Flughafen in Schönefeld absehbar fast ausschließlich vom brandenburgischen Verfassungsschutz durchzuführen. Hier ist für die Zukunft mit deutlichen Steigerungen zu rechnen. Als Sicherheitsdienstleister wirkt der Verfassungsschutz ebenfalls an den personalintensiven Sicherheitsüberprüfungen mit. Betroffen sind davon Mitarbeiter von etwa 20 Behörden (unter anderem: Polizei, Staatskanzlei und Ministerien, Landtag, Gerichte sowie Staatsanwaltschaften). 308 Sicherheitsüberprüfungen waren es im Jahr 2020 (2019: 267). 12 Verfassungsschutz durch Aufklärung Informationsangebote des Verfassungsschutzes waren im Jahr 2020 pandemiebedingt weniger nachgefragt. In 31 teilweise online angebotenen Veranstaltungen wurden Vorträge gehalten (2019: 80). Rund 810 Bürger nahmen teil (2019: 3.100). Damit summiert sich die Zahl solcher Veranstaltungen seit 2008 auf insgesamt 1.240 mit etwa 45.900 Zuhörern. 13 1. Aufgaben, Befugnisse und Kontrolle des Verfassungsschutzes 14 1. Aufgaben, Befugnisse und Kontrolle des Verfassungsschutzes Das Grundgesetz und die Verfassung des Landes Brandenburg garantieren den Bürgern ein sicheres Leben in Freiheit. In unserer freiheitlichen Gesellschaft sind Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Menschenwürde die Pfeiler des Gemeinwesens und das Fundament staatlichen Handelns. Sie sind so wichtig, dass sie sowohl in unserer Landesverfassung (Artikel 2 und 7) als auch im Grundgesetz (Artikel 1 und 20) als tragende Strukturprinzipien festgeschrieben sind. Zusätzlich verbietet das Grundgesetz in Artikel 79, diese Prinzipien anzutasten. In der Gesamtschau ergibt sich daraus die "freiheitliche demokratische Grundordnung". Unser Staat ist somit "das Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt" (BVerfG 2, 1, 12). Um die freiheitliche demokratische Grundordnung als Grundlage unseres Zusammenlebens zu schützen, muss eine Demokratie bereit und in der Lage sein, diese Werte zu verteidigen. Bedrohungen kommen jedoch nicht nur von außen, sondern auch von innen. Das Grundgesetz hat daher verschiedene Schutzmaßnahmen vorgesehen, die als "wehrhafte Demokratie" bezeichnet werden. Vereinigungen, deren Zweck oder deren Tätigkeit sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, sind gemäß Artikel 9 Grundgesetz verboten. Gehen solche Aktivitäten von Parteien aus, können sie gemäß Grundgesetz Artikel 21 vom Bundesverfassungsgericht verboten werden. Artikel 73 sieht zudem den Verfassungsschutz als Bestandteil der wehrhaften Demokratie vor. Denn Vereinigungssowie Parteiverbote und andere Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung können nur wirksam eingesetzt werden, wenn Öffentlichkeit, Regierung und zuständige staatliche Stellen umfassend über verfassungsfeindliche Bestrebungen unterrichtet sind. Diese Informationen bekommen sie vom Verfassungsschutz. Verfassungsschutz als Frühwarnsystem Es ist Aufgabe des Verfassungsschutzes, Bedrohungen durch politischen Extremismus, Terrorismus oder Spionagetätigkeiten zu erkennen und einzuschätzen, bevor die Bedrohung zu einer konkreten Gefahr wird. Entsprechend nimmt der Verfassungsschutz in Deutschlands Sicherheitsarchitektur10 die Rolle eines "Frühwarnsystems" wahr. Dazu sammelt der Verfassungsschutz gemäß SS 3 Absatz 1 Brandenburgisches Verfassungsschutzgesetz (BbgVerfSchG) Informationen über Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben, sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten in der Bundesrepublik Deutschland für eine fremde Macht, Bestrebungen in der Bundesrepublik Deutschland, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Artikel 9 Abs. 2 des Grundgesetzes), insbesondere das friedliche Zusammenleben der Völker (Artikel 26 Abs. 1 des Grundgesetzes) gerichtet sind, wertet sie aus und unterrichtet die Landesregierung sowie andere zuständige Stellen. 10 Zur Sicherheitsarchitektur gehören die drei Säulen der Inneren Sicherheit: Polizei, Verfassungsschutz und Katastrophenschutz. Diese gliedern sich jeweils auf den Ebenen der Bundesländer, des Bundes und der Europäischen Union. Ergänzend werden oft die Staatsanwaltschaften miteinbezogen. 15 Anders als die Polizei hat der Verfassungsschutz keine exekutiven Befugnisse: Die nicht uniformierten und unbewaffneten Mitarbeiter dürfen weder Wohnungen durchsuchen noch Personen festnehmen, sondern erstellen Lagebilder und Analysen. Diese sind kein Selbstzweck, sondern dienen der frühzeitigen Warnung und Information der zuständigen Stellen und ermöglichen damit den Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Unter engen gesetzlichen Voraussetzungen und unter Achtung des Trennungsgebots zwischen Polizei und Nachrichtendiensten werden ebenso an Staatsanwaltschaften und Polizei Erkenntnisse übermittelt und so exekutive Maßnahmen unterstützt. Daneben wirkt der Verfassungsschutz beim Sabotageund Geheimschutz mit, beispielsweise durch technische Sicherung von Verschlusssachen oder mittels Sicherheitsüberprüfungen für Personen, die in sicherheitsempfindlichen Bereichen eingesetzt sind. Den Großteil seiner Informationen gewinnt der Verfassungsschutz aus öffentlich zugänglichen Quellen. Daneben ist allerdings auch der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel erforderlich, um die konspirativen Vorgehensweisen und die geheimen Ziele von Extremisten, Terroristen und fremden Nachrichtendiensten aufzuklären. Diese Mittel, wie "Observation", "Telekommunikationsüberwachung" und "Verdeckt Informationsgebende"11, unterliegen engen gesetzlichen Grenzen und dem strengen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Hierzu gehören auch neue den erhöhten Sicherheitsgefährdungen und modernen Technologien angepasste Befugnisse. Nun darf ein "IMSI12-Catcher" eingesetzt werden, um Standort, Geräteoder Kartennummer eines Mobiltelefons zu ermitteln (SS 6 Absatz 3 Nummer 11 BbgVerfSchG). Daneben darf der Verfassungsschutz online Informationen erheben, ohne die eigene Identität offen legen zu müssen (SS 6 Absatz 3 Nummer 12 BbgVerfSchG). Der Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist übergreifende Aufgabe aller Bundesländer und des Bundes. Daher arbeiten alle Verfassungsschutzbehörden eng zusammen, bündeln ihr Fachwissen und tauschen Informationen aus. Dies erfolgt auf allen Organisationsebenen. Zusätzlich wurde der Austausch in den Informationsund Kommunikationsplattformen "Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum" (GTAZ) und "Gemeinsames Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum" (GETZ) institutionalisiert. Der Verfassungsschutz Brandenburg arbeitet nicht losgelöst von rechtsstaatlichen und demokratischen Anforderungen, sondern ist streng an diese gebunden. Als Abteilung des Ministeriums des Inneren und für Kommunales unterliegt der Verfassungsschutz der Fachaufsicht durch den Minister und die Staatssekretäre. Die Landesbeauftragte für den Datenschutz hat das Recht auf Akteneinsicht. Sie kontrolliert unabhängig und kontinuierlich, ob die datenschutzrechtlichen Bestimmungen des BbgVerfSchG und des Brandenburgischen Datenschutzgesetzes eingehalten werden. Über die Achtung haushaltsrechtlicher Vorschriften wacht der Landesrechnungshof. Daneben existiert eine "Stabstelle Innenrevision" beim Verfassungsschutz, die nach anerkannten fachlichen Standards die Arbeit auditiert und der Leitung der Behörde berichtet (SS 2 Absatz 2 BbgVerfSchG). Wie jeder Teil der Exekutive wird auch der Verfassungsschutz durch das Parlament kontrolliert. Neben dem Ausschuss für Inneres und Kommunales übernimmt vor allem die Parlamentarische Kontrollkommission (PKK) diese Funktion: Sie besteht aus höchstens neun Mitgliedern des Landtags. Sowohl Abgeordnete der Regierungsals auch der Oppositionsparteien sind vertreten (SS 24 BbgVerfSchG). Sie wird durch den "Ständigen Bevollmächtigten" (SS 25a BbgVerfSchG) unterstützt, der einzelfallbezogene Untersuchungen durchführen kann. Die Landesregierung unterrichtet die PKK umfassend über die allgemeine Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde, die Lage und besonders bedeutsame Vorgänge. 11 "Verdeckt Informationsgebende" wurden früher einfach nur "V-Mann" oder "Menschliche Quellen" genannt. 12 IMSI = "International Mobile Subscriber Identity". 16 Die PKK kann verlangen, über Einzelfälle oder sonstige Vorgänge unterrichtet zu werden. Über bestimmte einzelne Maßnahmen, wie beispielsweise den Einsatz von "Verdeckt Informationsgebenden", Observationen oder Telekommunikationsüberwachungen, muss die PKK ebenfalls unterrichtet werden (SS 25 BbgVerfSchG). Die PKK tagt mindestens vierteljährlich (SS 26 Absatz 2 BbgVerfSchG). Neben der PKK gibt es die G10-Kommission, die ebenfalls vom Landtag gewählt wird und Beschränkungen des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses aus Artikel 10 GG vor ihrer Durchführung auf ihre Zulässigkeit und Notwendigkeit überprüft. Sie besteht aus drei weisungsfreien Mitgliedern, wobei die/der Vorsitzende die Befähigung zum Richteramt haben muss. Sämtliche Handlungen des Verfassungsschutzes, die nach Darstellung der Betroffenen in ihre Rechte eingreifen, unterliegen der gerichtlichen Kontrolle. Die Medien und die Öffentlichkeit kontrollieren den Verfassungsschutz als "vierte Gewalt". Alle Bürgerinnen und Bürger können den Verfassungsschutz kontrollieren, indem sie gemäß SS 12 BbgVerfSchG unentgeltlich Auskunft über die zu ihnen beim Verfassungsschutz gespeicherten Daten sowie den Zweck und die Rechtsgrundlage der Speicherung verlangen. Die Auskunft muss erteilt werden, wenn nicht im Ausnahmefall Verweigerungsgründe nach SS 12 Absatz 2 BbgVerfSchG vorliegen. Der Verfassungsschutz Brandenburg in Zahlen Am 31.12.2020 hatte der brandenburgische Verfassungsschutz im Ministerium des Inneren und für Kommunales 119 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (2019: 101). Diese Zahl erfasst auch Teilzeitbeschäftigte. Wie in den vorangegangenen Berichten werden abgeordnete Bedienstete nicht ausgewiesen. An Sachmitteln standen der Verfassungsschutzbehörde im Haushaltsjahr 2020 insgesamt 1,69 Millionen Euro zur Verfügung. Davon wurden 1,69 Millionen Euro verausgabt. 17 2. Aktuelle Entwicklungen im Cyber-Extremismus 18 Vom "Tiefen Staat" und "Netzwerken der Eliten" - Eine Analyse extremistischer Verschwörungstheorien im Internet und in der Realwelt Das brandenburgische Innenministerium hat 2020 einen umfangreichen Maßnahmenplan gegen Rechtsextremismus und Hasskriminalität entwickelt, um der weiteren Zunahme rechtsextremistischer und fremdenfeindlicher Einstellungen entgegenzuwirken. Ein zentrales Element ist dabei die noch stärkere Berücksichtigung extremistischer Gefahren im Internet und deren Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben. Aus diesem Grund widmet sich der brandenburgische Verfassungsschutz in seinen Jahresberichten nunmehr in einem jeweils gesonderten Kapitel den aktuellen Entwicklungen im Cyberextremismus. Während im Verfassungsschutzbericht 2019 vor allem neue Onlinestrategien der Rekrutierung und Radikalisierung von Rechtsextremisten im Mittelpunkt standen13, sollen im vorliegenden Kapitel die im Jahre 2020 wichtigsten Verschwörungstheorien analysiert werden. Diese Notwendigkeit ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass sich entsprechende Verschwörungserzählungen immer stärker und schneller über das Internet verbreiten. Konkret sollen daher folgende Fragestellungen beantwortet werden: Welche extremistischen und damit verfassungsschutzrelevanten Verschwörungstheorien wurden im Jahre 2020 besonders verbreitet? Inwiefern nahmen diese Verschwörungstheorien Bezug auf die Corona-Pandemie? Auf welchen Online-Kanälen wurden diese Inhalte verbreitet sowie beworben? Wo waren derartige Verschwörungstheorien außerhalb des Internets sichtbar? Verschwörungstheorien - Eine Begriffsbestimmung Bevor eine Darstellung extremistischer Verschwörungstheorien rund um die Corona-Pandemie möglich ist, soll zunächst erläutert werden, was darunter zu verstehen ist. Hierbei ist anzumerken, dass es für den Begriff bislang keine allgemeingültige Definition gibt. Vielmehr liegt eine Vielzahl zum Teil sehr ähnlicher Begriffsbestimmungen vor. Diejenige der Universität Münster wird aufgrund ihrer Kürze und Präzision für diesen Text grundlegend sein. Nach Prof. Schlipphak, Michael Bollwerk und Prof. Back ist eine Verschwörungstheorie ein "Narrativ [= Erzählung] über eine geheime Gruppe an böswilligen Akteuren, die einen verborgenen Plan zur Erhaltung oder zum Ausbau eigener Macht verfolgen".14 Diese Definition verdeutlicht, dass es sich bei Verschwörungstheorien keinesfalls um Theorien nach wissenschaftlichen Standards handelt. Aus diesem Grund kann der Begriff "Verschwörungstheorie" durchaus als irreführend bezeichnet werden. Denn Anhänger von Verschwörungstheorien belegen ihre Behauptungen nicht empirisch, sondern ideologisch.15 Aus diesem Grund werden Verschwörungstheorien vollkommen zurecht auch als "Verschwörungsideologien", "Verschwörungsmythen", "Verschwörungserzählungen" oder "Verschwörungsfantasien" bezeichnet.16 13 Vgl. Brandenburgischer Verfassungsschutz: "Verfassungsschutzbericht des Landes Brandenburg 2019", S. 29 ff. 14 Schlipphak, Bernd, Michael Bollwerk und Mitja Back: "Der Glaube an Verschwörungstheorien: Zur Rolle von Länderkontexten und Eigenart der Verschwörungstheorie", ohne Datum, https://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/aktuelles/schwerpunkte/epidemien/thema07_verschwoerung.html (letzter Zugriff am 15.12.2020). 15 Für eine Darstellung der Problematik des Begriffs "Verschwörungstheorie" sowie eines Überblicks über die bekanntesten Verschwörungstheorien und dem Umgang mit diesen siehe: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg: "Verschwörungstheorien - Warum sind sie so verbreitet und was kann man dagegen tun?", 07.2020, https://www.lpbbw.de/verschwoerungstheorien#c45624 (letzter Zugriff am 15.12.2020). 16 In diesem Beitrag wird trotz seiner inhaltlichen Unschärfe bewusst der Begriff "Verschwörungstheorien" benutzt, da er im gesellschaftlichen Diskurs am häufigsten verwendet wird. 19 Darüber hinaus ist anzumerken, dass der Verfassungsschutz nur Bestrebungen beobachtet, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder eines der weiteren im Verfassungsschutzgesetz benannten Schutzgüter richten. Somit ist nicht jede Verschwörungstheorie extremistisch und damit verfassungsschutzrelevant. Gleichwohl fällt auf, dass eine Vielzahl von Verschwörungstheorien insbesondere antisemitische Bezüge aufweisen17 und damit inhaltlich im Bereich der Verfassungsfeindlichkeit zu verorten sind. Antisemitismus als verbindendes Element extremistischer Verschwörungstheorien Wie das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) in einem im August 2020 veröffentlichten Lagebild darlegt, finden sich in allen extremistischen Phänomenbereichen Ausprägungen des Antisemitismus. Relevanz und Formen des Antisemitismus fallen zwischen den Extremismen jedoch stark unterschiedlich aus. So sind antisemitische Einstellungen vor allem für den Rechtsextremismus, insbesondere für den Neonationalsozialismus18 von prägender Bedeutung. Der Potsdamer Politologe Prof. Botsch fasst unter Antisemitismus "sämtliche Formen von Hass, Vorurteilen und Ressentiments gegen Juden"19 zusammen. Ebenso können von Antisemitismus auch Menschen betroffen sein, "die von Antisemiten als Juden [...] oder als deren vermeintliche oder tatsächliche Unterstützer"20 angesehen werden. Wie oben bereits angedeutet, gibt es unterschiedliche ideologische Ausprägungen des Antisemitismus. Der Politikwissenschaftler Prof. Pfahl-Traughber unterscheidet beispielsweise sechs solcher Erscheinungsformen, von denen vor allem der religiöse Antisemitismus eine erschreckend lange Geschichte aufweist.21 Erste Belege eines religiös begründeten Antijudaismus als Vorstufe zum Antisemitismus finden sich bereits im Neuen Testament. Hieran anknüpfend entwickelte sich seit dem Mittelalter im christlichen Teil der Welt eine der verbreitetsten antisemitischen Verschwörungstheorien. Dabei handelt es sich um die Ritualmordlegende, der zufolge Juden für rituelle Zwecke christliche Kinder töten und anschließend deren Blut trinken würden. Diese um das 12. Jahrhundert herum entstandene Verschwörungstheorie ist in seinen Grundzügen identitätsstiftend für die im Jahr 2020 relevanteste Online-Verschwörungstheorie namens "QAnon". "QAnon" - Eine Verschwörungstheorie über den "Tiefen Staat" und gefolterte Kinder Bei "QAnon" handelt es sich um eine Verschwörungstheorie, die sich seit Oktober 2017 im Internet schrittweise entwickelt hat. Ausgangspunkt der mittlerweile auch in Deutschland verbreiteten Verschwörungstheorie war ein Beitrag auf dem Imageboard "4chan"22, welcher eine angeblich unmittelbar bevorstehende Verhaftung von Hillary Clinton ankündigte. Obwohl die ehemalige US-Außenministerin und gegen Donald Trump unterlegene US-Präsidentschaftskandidatin nie verhaftet wurde, veröffentlichte der Verfasser in den Folgejahren regelmäßig vergleichbare Beiträge auf einschlägigen Imageboards. 17 Vgl. Landeszentrale für politische Bildung Brandenburg: "Verschwörungstheorien", 08.2018, https://www.politische-bildung-brandenburg.de/lexikon/verschwoerungstheorien (letzter Zugriff am 15.12.2020). 18 Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz: "Lagebild Antisemitismus", 2020, S. 85. 19 Botsch, Gideon: "Von der Judenfeindschaft zum Antisemitismus. Ein historischer Überblick", 07.07.2014, https://www.bpb.de/apuz/187412/von-der-judenfeindschaft-zum-antisemitismus (letzter Zugriff am 15.12.2020). 20 Bundesamt für Verfassungsschutz: "Lagebild Antisemitismus", 2020, S. 11. 21 Pfahl-Traughber, Armin: "Ideologische Erscheinungsformen des Antisemitismus", 24.07.2007, https://www.bpb.de/apuz/30327/ideologische-erscheinungsformen-des-antisemitismus?p=all (letzter Zugriff am 15.12.2020). Anmerkungen: Neben dem religiösen Antisemitismus unterscheidet Prof. Pfahl-Traughber die Erscheinungsformen sozialer Antisemitismus, politischer Antisemitismus, rassistischer Antisemitismus, sekundärer Antisemitismus und antizionistischer Antisemitismus. 22 Bei Imageboards, wie "4chan" oder "8kun", handelt es sich um Internetforen, in denen sich verschiedene Subkulturen auf anonymen Wege austauschen. Da auf Imageboards nahezu keine inhaltliche Intervention seines der Webseitenbetreiber stattfindet, werden auf ihnen auch massenhaft fremdenfeindliche, antisemitische und gewaltverherrlichende Inhalte verbreitet. 20 Um für seine Anhänger in diesen grundsätzlich anonymen Internetforen erkennbar zu sein, unterzeichnet der bis heute unbekannte Autor seine Beiträge zumeist mit dem Buchstaben "Q". Aus eben diesem Grund wird die Verschwörungstheorie als "QAnon" bezeichnet. Die Kerninhalte von "QAnon" werden in einem auch in Deutschland von diversen Verschwörungstheoretikern verbreiteten Video mit dem Titel "Q - Der Plan die Welt zu retten" dargelegt.23 Demnach gebe es sowohl in den USA als auch in der restlichen Welt einen "Deep State" (zu Deutsch: "Tiefen Staat"), der unter anderem die Banken und die Regierungsadministrationen gezielt unterwandert habe. Die Akteure dieses "Tiefen Staates", die auch als "Kabale"24 bezeichnet werden, hielten die Weltbevölkerung mit Hunger, Krieg und Armut in ihrer Abhängigkeit und bündelten damit sämtliche politische Macht in ihren Händen. An dieser Darstellung wird deutlich, dass "QAnon" die eingangs darlegte Definition einer Verschwörungstheorie vollumfänglich erfüllt, da es sich zweifelsfrei um ein "Narrativ über eine geheime Gruppe an böswilligen Akteuren, die einen verborgenen Plan zur Erhaltung oder zum Ausbau eigener Macht verfolgen",25 handelt. Wie der Titel des Mitte 2018 veröffentlichten Videos "Q - Der Plan die Welt zu retten" bereits andeutet, existiert eine Idee, wie gegen die vermeintliche Weltherrschaft vorgegangen werden könne. Nach Auffassung der "QAnon"-Bewegung gebe es einige aufrichtige Geheimdienstmitarbeiter, die gemeinsam mit dem damaligen US-Präsidenten Donald Trump beabsichtigten, den "Tiefen Staat" von innen zu zerstören und die Kabale zu entmachten. Der "Deep State" - das Feindbild der "QAnon"-Bewegung Bei diesem Plan, den "Deep State" zu zerschlagen, kommt dem anonymen "Q" die Rolle eines Apologeten zu, der als Verteidiger seiner Ideologie Außenstehende für den Kampf rekrutiert und ihnen vermeintlich exklusive Geheimerkenntnisse übermittelt. So sind die "Q"-Anhänger davon überzeugt, dass dessen Signatur eine "Anlehnung an die 'Q Clearance', die höchste Freigabestufe für geheime Informationen des US-Energieministeriums"26, sei und "Q" somit einen direkten Zugang zu brisanten Inhalten besäße. 23 Vgl. Youtube-Video: "Q - Der Plan die Welt zu retten", 01.08.2018 (letzter Zugriff am 16.12.2020). 24 "Kabale" ist ein veraltetes Wort für das aus dem Lateinischen stammende "Intrige". "Kabalen" sind demnach Intriganten. Sie verfolgen die Strategie, anderen Schaden zuzufügen und gegeneinander aufzuhetzen. 25 Definition nach: Schlipphak, Bernd, Michael Bollwerk und Mitja Back: "Der Glaube an Verschwörungstheorien: Zur Rolle von Länderkontexten und Eigenart der Verschwörungstheorie", ohne Datum, https://www.uni-muenster.de/Religion-undPolitik/aktuelles/schwerpunkte/epidemien/thema07_verschwoerung.html (letzter Zugriff am 15.12.2020). 26 Huesmann, Felix: "Qanon - der Aufstieg einer gefährlichen Verschwörungstheorie", 11.04.2020, https://www.rnd.de/politik/qanon-der-aufstieg-einer-gefahrlichen-verschworungstheorie-ORTPE4D5YRFRZKVTMJBTFADJTY.html (letzter Zugriff am 16.12.2020). 21 Mit diesem vermeintlichen Geheimwissen ausgestattet, hat besagter "Q" seit Oktober 2017 etwa 5.00027 seiner als "Q-Drops" bezeichneten Beiträge veröffentlicht. In diesen oftmals äußerst kryptisch formulierten Anweisungen finden sich auch Belege für antisemitische Bezüge. Beispielhaft kann hierbei auf die von "Q" verbreitete Erzählung verwiesen werden, wonach eine angebliche jüdischen Weltverschwörung mit dem Ziel im Gange sei, eine "Neue Weltordnung" (kurz NWO) zu schaffen.28 So beinhaltet ein "Q-Drop" vom 12. November 2017 die antisemitische Chiffre einer "New World Order" beziehungsweise "NWO". Darin heißt es rätselhaft "Families combined (TRI) = NWO". Unter den drei "kombinierten Familien" verstehen die "QAnon"-Anhänger ebenso wie weitere Verschwörungstheoretiker das Königshaus Saudi-Arabiens sowie die jüdisch-stämmigen Familien Rothschild und Soros.29 Hieran wird deutlich, warum die Bezeichnung "Neue Weltordnung" in diesem Zusammenhang auch ohne direkte Bezugnahme auf das Judentum als antisemitisch zu bezeichnen ist. "New World Order" - Antisemitischer "Q-Drop" vom 12. November 2017 Anhand des obenstehenden Beitrags vom 12. November 2017 lässt sich zudem eine weitere Auffälligkeit der "Q-Drops" aufzeigen. Diese sind häufig als offene Fragen formuliert und sollen die Anhänger dazu animieren, selbst nach Antworten zu "recherchieren". In was für einer Filterblase die Debatten über die von "Q" aufgeworfenen Fragen dann stattfinden, zeigt die ebenfalls auf dem Bild eingeblendete Reaktion. Auf die mit einem verschwörungsorientierten Unterton gestellte "Frage", welche Nation alle anderen dominiere und beeinflusse, gibt ein Nutzer die Antwort: "Das ist einfach. Israel". Das erklärte Ziel der "QAnon"-Bewegung ist es, die vermeintlich unwissende Mehrheit der Gesellschaft aus ihrem Schlaf aufzuwecken, damit sie sich an der Zerstörung des "Tiefen Staates" beteiligt. Für dieses "Große Erwachen" (auf Englisch "Great Awakening") sollen die "Q-Drops" eine Richtschnur geben. Ebenso sollen die "QAnon"-Anhänger mit ihren Recherchen zur weiteren "Theoriebildung" selbst beitragen. Genau hieran wird eine Besonderheit von "QAnon" gegenüber bisherigen Verschwörungstheorien deutlich. "QAnon" gibt seinen Anhängern nicht nur den Glauben, im Besitz exklusiven Wissens zu sein. Ideologisch bietet "QAnon" zudem die Möglichkeit sämtliche bekannte Verschwörungstheorien unter einem Dach zu vereinen, weshalb es sich nach Auffassung des brandenburgischen Verfassungsschutzes daher um eine verfassungsfeindliche Meta-Verschwörungstheorie handelt. 27 Stand vom 28.01.2021. 28 Baldauf, Johannes: "Jüdische Weltverschwörung, UFOs und das NSU-Phantom", 14.10.2015, https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/210327/juedische-weltverschwoerung-ufos-und-das-nsu-phantom (letzter Zugriff am 16.12.2020). 29 Vgl. Homepage "Qlobal-Change": "Q-Themengebiete", ohne Datum (letzter Zugriff am 15.03.2021). 22 "The Great Awakening" - Bild aus einem "Q-Drop" vom 12. April 2020 Wie ein roter Faden zieht sich durch diese Meta-Verschwörungstheorie der Antisemitismus. Auf einschlägigen "QAnon"-Webseiten, wie dem deutschsprachigen Blog "Qlobal-Change", wird regelmäßig kolportiert, dass einflussreiche Politiker, allen voran der ehemalige US-Präsident Bill Clinton und dessen Ehefrau Hillary Clinton, Kinder in unterirdischen Verließen foltern und ermorden ließen. Dies geschehe, um anschließend das Blut der Kinder zu trinken oder aus ihren Körpern das Stoffwechselprodukt Adrenochrom zu entnehmen. Angeblich würden die "Kabale" das kindliche Adrenochrom anschließend selbst einnehmen, um damit den Alterungsprozess des eigenen Körpers zu stoppen.30 So haarsträubend diese Fantastereien auch klingen mögen, so unübersehbar sind ebenso die Parallelen zur oben erwähnten antisemitischen Ritualmordlegende.31 Die inzwischen weltweit agierenden "QAnon"-Anhänger transferieren hier uralte antisemitische Stereotype in ihre neuartige Meta-Verschwörungstheorie. Genau das macht die "QAnon"-Bewegung so gefährlich. In den USA kam es bereits mehrfach zu Gewaltstraftaten, bei denen sich die Täter darauf beriefen, die vermeintlich entführten Kinder aus den Fängen der "Kabale" befreien zu wollen.32 30 Vgl. beispielhaft Homepage "Qlobal-Change": "Kindliches Adrenochrom: Die Unsterblichkeitsdroge der Wahl der globalistischen Kabale", 06.04.2020 (letzter Zugriff am 16.12.2020). 31 Butter, Michael: "Antisemitische Verschwörungstheorien in Geschichte und Gegenwart", 26.11.2020, https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/321665/antisemitische-verschwoerungstheorien (letzter Zugriff am 16.12.2020). 32 Vgl. Amadeu Antonio Stiftung: "QAnon in Deutschland - de:hate report#1", S. 17 ff., 02.12.2020, https://www.amadeuantonio-stiftung.de/publikationen/qanon-in-deutschland/ (letzter Zugriff am 13.01.2021). 23 "Andrenochrom: Die Unsterblichkeitsdroge des Teufels" - Post auf "Qlobale-Change" vom 6. April 2020 "QAnon" in Deutschland - Ein Blick auf die Verbreitung im Internet Auch wenn die Mehrheit der "QAnon"-Inhalte aus den USA stammen, gewann die Verschwörungstheorie seit Anfang 2020 auch in Deutschland zunehmend an Bedeutung. Diese Feststellung ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass Verschwörungstheorien gerade in Krisenzeiten auf ein erhöhtes Maß an Resonanz stoßen. Folglich dürften der Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 und die damit einhergehenden Konsequenzen für das Leben der Menschen die Vermittelbarkeit von Verschwörungstheorien begünstigt haben. Es ist davon auszugehen, dass hiervon auch "QAnon" in Deutschland profitiert hat. Eine führende Rolle in der Bekanntmachung der "QAnon"-Ideologie in Deutschland spielt der ehemalige Wirtschaftsjournalist Oliver J.. Von den Philippinen aus verbreitet J. bereits seit mehreren Jahren über das Internet Verschwörungstheorien und nimmt dabei regelmäßig Bezug auf "QAnon". In seinem Video "Adrenochrom - die Beweise: Was CIA-Akten enthüllen" folgt er beispielsweise dem von den "QAnon"Anhängern vertretenen Adrenochrom-Mythos, welcher - wie oben erwähnt - auf der antisemitischen Ritualmordlegende beruht. In einer anderen Aufnahme freut sich J. über einen "Q-Drop", in welchem vermeintlich bevorstehende Verhaftungen angekündigt werden, die sich gegen Vertreter des "Tiefen Staates" richten. Derartige Clips konnte J. lange auf einem eigenen Kanal auf dem weltweit größten Videoportal "YouTube" veröffentlichen. Nachdem dieser Kanal am 22. Oktober 2020 gesperrt wurde, wich er noch stärker auf kleinere Alternativplattformen, wie "lbry.tv", "odysee" und "BitChute", aus. 24 Hierbei ist anzumerken, dass die Reichweiten derartiger Alternativplattformen zwar deutlich hinter denen großer Portale zurückbleiben. Zugleich besteht aber die Gefahr, dass eine Radikalisierung einzelner Personen auf den Alternativplattformen verschärft werden könnte, da extremistische Ideologien dort noch präsenter und zumeist unwidersprochen aufzufinden sind. Um diesem "Filterblasen-" beziehungsweise "Echokammer-Effekt" konsequent entgegenzuwirken, ist parallel zu den Sperrungen auf großen Plattformen eine kontinuierliche Aufklärung über extremistische Kanäle auf den Alternativplattformen nötig. "QAnon"-Inhalte finden sich beispielsweise auffällig häufig auf "Telegram". Dieser Onlinedienst hat sich in den USA und im deutschsprachigen Raum als Hauptkommunikationsmittel der "QAnon"-Bewegung etabliert. Zumeist nehmen die entsprechenden Telegram-Kanäle bereits in ihrer Bezeichnung Bezug auf die Verschwörungstheorie. Diese heißen beispielsweise "Q-Faktor Germany", "Blutgruppe Q" oder "QQanal Germany". Der reichweitenstärkste Telegram-Kanal mit "QAnon"-Inhalten in deutscher Sprache heißt "Qlobal-Change" und gehört zu dem oben bereits erwähnten Internetblog. Ende 2020 hatte dieser Kanal mehr als 150.000 Mitglieder. Internationales "QAnon"-Netzwerk bei Telegram: "Qlobal-Change" Wie der Telegram-Kanal von "Qlobal-Change" selbst bekannt gibt, greifen "QAnon"-Anhänger verstärkt auf das alternative Videoportal "odysee" zurück. Gleiches gilt für die Alternativplattform "BitChute", wo neben "odysee" nahezu täglich der "X22-Report" veröffentlicht wird. Hierbei handelt es sich um eine Art "Nachrichtensendung" der bekanntesten US-amerikanischen "QAnon"-Vertreter. Oftmals wird der "X22Report" zeitnah von deutschen "QAnon"-Anhängern übersetzt und anschließend über eine Vielzahl von Internetkanälen geteilt. Dass auch Brandenburgerinnen und Brandenburger an der Verbreitung von "QAnon"-Inhalten im Internet beteiligt sind, zeigte 2020 eine Facebook-Gruppe namens "Eberswalder Initiative für DemQkratie und Freiheit!". In dieser offensichtlich von Personen aus dem Raum Eberswalde (BAR) eingerichteten Gruppe hieß es am 29. Oktober 2020, es würden demnächst "viele sehr verstörende Wahrheiten ans Tageslicht 25 über Kindesmißbrauch und -Pornographie in den höchsten Kreisen von Gesellschaft und Politik"33 kommen. Als vermeintlichen Beleg seiner Aussage fügte der Autor an, er habe diese Information "gerade bekommen von Qanon 2020".34 Nachrichtenformat der "QAnon"-Anhänger: die "X22-Reports" bei "BitChute" und "odysee" "QAnon" in Deutschland - Der Weg aus dem Internet auf die Straße Im Jahr 2020 blieben Bekenntnisse zu "QAnon" indes nicht auf den Online-Raum begrenzt. Vielmehr wurden den brandenburgischen Sicherheitsbehörden auch außerhalb des Internets mehrere öffentliche Bezugnahmen auf die Verschwörungstheorie bekannt. So sind ab September 2020 beispielsweise in Hennigsdorf (OHV) und Königs Wusterhausen (LDS) Verkehrsschilder mit einem schwarzen Balken beklebt worden, sodass aus der Ziffer Null der Buchstabe "Q" wurde. Noch deutlicher bekannten sich am 14. November 2020 in Potsdam mehrere dem Reichsbürger-Milieu zuzuordnende Demonstranten zu "QAnon". Auf einer Versammlung, die von einem bekannten Reichsbürger-Aktivsten unter dem Motto "Heimath und Weltfrieden" angemeldet wurde, waren diverse Anstecker und Kleidungsstücke mit der Aufschrift "QAnon - Where We Go One, We Go All" zu sehen. Hierbei handelt es sich um den zentralen Schlachtruf der "QAnon"-Bewegung, welcher in etwa mit "Einer für alle - alle für einen" übersetzt werden kann. Oftmals nutzen die "QAnon"-Anhänger den Slogan in der abgekürzten Version "WWG1WGA". "QAnon"-Fanartikel - Vergleichbare Kleidung trugen Teilnehmer am 14. November 2020 in Potsdam 33 Facebook-Seite Eberswalder Initiative für DemQkratie und Freiheit!, 29.10.2020 (letzter Zugriff am 14.12.2020). 34 Ebd. 26 Die Demonstration am 14. November 2020 ist ein Beleg dafür, dass die Meta-Verschwörungstheorie von "QAnon" in unterschiedlichen Spektren über das Internet hinaus anschlussfähig ist. Dies gilt indes nicht nur für das Milieu der Reichsbürger und Selbstverwalter. Auch bei den Kundgebungen der "Querdenker" waren die Verschwörungstheorie und ihre Anhängerschaft stark präsent. Bei "Querdenken" handelt es sich um ein Netzwerk regionaler Gruppierungen, das sich im Jahre 2020 gründete und seitdem Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen organisiert. Ende 2020 bestand in Brandenburg nur ein lokaler Ableger mit der Bezeichnung "Querdenken 334" in Strausberg, von dem jedoch keine nennenswerten Aktivitäten ausgingen.35 Die Führung innerhalb des Netzwerkes hat "Querdenken 711" aus dem Raum Stuttgart inne. Diese Gruppierung mobilisierte im August 2020 für zwei Großversammlungen in Berlin. Sowohl am 1. August 2020 als auch am 29. August 2020 beteiligten sich klar erkennbare "QAnon"-Anhänger an den Protesten und verbreiteten auf diesem Wege ihre verschwörungstheoretischen Ideologien. Dass dieser Umstand für die Veranstalter kein Problem darstellte, wird einerseits daran deutlich, dass am 1. August 2020 in unmittelbarer Nähe zur Bühne - und somit für die Organisatoren direkt einsehbar - über Stunden eine riesige "QAnon"-Flagge geschwenkt wurde. Andererseits griff einer der Hauptverantwortlichen von "Querdenken 711" in seiner Eröffnungsrede das Motto und die Ideologie von "QAnon" direkt auf, indem er unmissverständlich ausführte: "Where We Go One, We Go All - meine eigene Interpretation: Wenn wir uns vereinen, dann entsteht eine Kraft, die unaufhaltbar ist. [...] Für mich steht das Q für das englische Wort question, eine Gruppe von Fragestellern, die uns zum Nachdenken und Recherchieren anregen." Ein solch deutliches Bekenntnis lässt nur den Schluss zu, dass "QAnon"-Anhänger und ihre verfassungsfeindliche MetaVerschwörungstheorie bei "Querdenken" stets willkommen sind und offenbar als fester Bestandteil dieser Bewegung verstanden werden. Eine solche "QAnon"-Flagge wehte am 1. August 2020 direkt vor der "Querdenken"-Bühne. 35 Die "Querdenken"-Bewegung ist aufgrund noch geringer regionaler Relevanz und Strukturen derzeit kein eigenständiger Beobachtungsgegenstand des brandenburgischen Verfassungsschutzes. Die Schwerpunkte der "Querdenken"-Bewegung liegen bislang außerhalb Brandenburgs. Der Verfassungsschutz Brandenburg teilt jedoch ausdrücklich die Einstufungen der Gruppierung durch andere Verfassungsschutzbehörden. Die Protest-Funktion der "Querdenken"-Bewegung wird in Brandenburg vielmehr von der AfD (rechtsextremistischer Verdachtsfall) und nahestehenden Strukturen breit wahrgenommen. Zur AfD siehe auch FN 6. 27 Die "QAnon"-Aktivisten waren jedoch nicht die einzigen extremistischen Strukturen, die sich an den Versammlungen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen beteiligten. Bei den im August 2020 unter anderem von "Querdenken" in Berlin organisierten Protesten waren zudem bekannte Vertreter der rechtsextremistischen "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD)36 sowie der neonationalsozialistischen Kleinstpartei "DER DRITTE WEG"37 anwesend. Gleiches gilt für Reichsbürger und Selbstverwalter, die vor allem anhand der Vielzahl von Reichsflaggen und dem Überwinden der Absperrungen am Bundestag erkennbar waren. Darüber hinaus wurde auf den "Querdenken"-Versammlungen mehreren Verschwörungstheoretikern eine direkte Bühne geboten. Sogar der eingangs erwähnte Oliver J. wurde am 1. August 2020 per Videobotschaft von den Philippinen aus zugeschaltet. Ebenso ist festzuhalten, dass sich die Beteiligung extremistischer Akteure an den Protesten der "Querdenken"-Bewegung nicht nur für Berlin belegen lässt. Auch bei einer Demonstration des Duisburger Ablegers "Querdenken 203", die am 28. November 2020 in Frankfurt (Oder) stattfand, konnten sowohl Reichsbürger als auch Rechtsextremisten und "QAnon"-Anhänger ausgemacht werden. Zudem war in Frankfurt (Oder) - ebenso wie in Berlin - das als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestufte COMPACT-Magazin38 Bestandteil der Proteste. Da COMPACT bereits seit Längerem als Sprachrohr verschiedenster Verschwörungstheorien agiert, soll im Folgenden die Rolle des in Werder (PM) verlegten Magazins noch etwas detaillierter analysiert werden. COMPACT - ein Superspreader für Verschwörungstheorien Bei COMPACT39 handelt es sich um ein seit Dezember 2010 erscheinendes Printmedium, welches sich selbst als "Magazin für Souveränität" bezeichnet. Neben der gedruckten Ausgabe betreibt COMPACT mehrere Internetpräsenzen, von denen vor allem der "YouTube"-Kanal "COMPACT TV" verhältnismäßig hohe Zugriffsraten verzeichnet. Darüber hinaus publiziert COMPACT regelmäßig Sonderhefte zu einzelnen Themen. So erschien im April 2020 das Sonderheft "COMPACT Aktuell" mit dem Titel "Corona - Was uns der Staat verschweigt!". COMPACT-Aktuell aus April 2020 wittert eine "Corona-Verschwörung" 36 Vgl. Homepage NPD Bundesverband: "Freiheit ist an keine Partei gebunden! (DS-TV Reportage)", 06.08.2020 (letzter Zugriff am 13.01.2021). 37 Vgl. Homepage "DER DRITTE WEG": "Liveticker direkt aus Berlin", 28.08.2020 (letzter Zugriff am 13.01.2021). 38 Zu COMPACT siehe auch Kapitel 3.14 sowie FN 4. 39 Siehe FN 4. 28 Der verschwörungstheoretisch anmutende Duktus des Titels zieht sich dabei wie ein roter Faden durch große Teile des Sonderhefts und die darauffolgenden monatlichen Magazine. Eingangs sei hier auf den Text "Der hysterische Hygienestaat" verwiesen. In dem Beitrag wird das erste Bevölkerungsschutzgesetz vom 27. März 2020 als "ein neues Ermächtigungsgesetz"40 bezeichnet und dem Robert-Koch-Institut zugleich die Rolle als "eine Art Politbüro neben der Regierung"41 zugewiesen. Mit derartigen Bezugnahmen auf den Nationalsozialismus und den Kommunismus beabsichtigt COMPACT42, durch eine gezielte Verächtlichmachung demokratischer Institutionen und Prozesse die Legitimität des politischen Systems der Bundesrepublik in Frage zu stellen. Hierfür greifen die Autoren des Magazins regelmäßig auch auf extremistische Verschwörungstheorien zurück und tragen damit zu deren Verbreitung bei. Vor dem Hintergrund, dass das Magazin eigenen Angaben zufolge eine monatliche Auflage von etwa 40.000 Stück hat43, ist dieser Umstand besonders alarmierend. Das Magazin hat sich demnach zu einer Art "Superspreader" für Verschwörungstheorien entwickelt. Konkret waren im Jahre 2020 vor allem zwei Themenkomplexe im Fokus des COMPACT-Magazins.44 Hierbei handelt es sich einerseits um die Verunglimpfung der Infektionsschutzmaßnahmen als Ausfluss einer vermeintlichen "Corona-Diktatur". Andererseits widmete sich COMPACT in Anlehnung an die antisemitische "QAnon"-Ritualmord-Verschwörungstheorie der Aufdeckung angeblicher "KinderschänderNetzwerke der Eliten". Auch wenn diese beiden Themenkomplexe inhaltlich zunächst einmal keine Schnittmengen aufzuweisen scheinen, werden sie bei COMPACT miteinander verknüpft. So würden laut COMPACT vor allem im Hintergrund agierende Machteliten das Corona-Virus zur Steigerung des eigenen politischen Einflusses beziehungsweise des persönlichen Reichtums nutzen. Zum anderen würden diese Kreise unter dem Schutz von Staat und Politik ihren pädophilen Neigungen ohne strafrechtliche Konsequenzen nachgehen. Bill Gates und John Podesta - Die Feindbilder von COMPACT Wie die oben bezifferte Auflage nahelegt, erreicht das COMPACT-Magazin45 offensichtlich einige Teile der Gesellschaft. In Abgrenzung zu anderen Szene-Publikationen will COMPACT explizit die breite Masse bedienen. Der Chefredakteur hielt 2019 in einem Interview fest: "Meine Zielgruppe ist die Friseuse".46 Daher setzt COMPACT stilistisch weniger auf tiefgreifende, ideologische Abhandlungen, sondern auf knappe - mit Verschwörungstheorien angereicherte - Textbeiträge sowie auf viele Bilder. Im Zusammenhang mit den beiden dargelegten Themen finden sich bei COMPACT47 vor allem zwei Feindbilder. So wird Bill Gates als vermeintlicher Hauptnutznießer der Corona-Pandemie dargestellt und zugleich auf der Titelseite der Juni-Ausgabe zum "Impfdiktator" erklärt. Im Zusammenhang mit dem angeblichen Pädophilenring aus US-Politikern und Hollywood-Schauspielern wurde unter anderem der ehemalige Stabschef im Weißen Haus, John Podesta, in mehreren COMPACT-Heften abgelichtet. 40 COMPACT Aktuell - Corona,15.04.2020, S. 77. 41 Ebd. 42 Siehe FN 4. 43 Vgl. COMPACT 08/2020, S. 8. 44 Siehe FN 4. 45 Siehe FN 4. 46 Fuchs, Christian und Paul Middelhoff: "Das Netzwerk der Neuen Rechten. Wer sie lenkt, wer sie finanziert und wie sie die Gesellschaft verändern", Hamburg, 2019, S. 46. 47 Siehe FN 4. 29 COMPACT Nr. 06/2020 schürt Angst vor einer Impfdiktatur In beiden Fällen greift COMPACT48 hier gezielt verschwörungstheoretische Inhalte auf. Bei John Podesta handelt es sich dabei um die sogenannte "Pizzagate-Affäre", die als eine Vorläufer-Verschwörungstheorie von "QAnon" angesehen werden kann. Nach Auffassung der Anhänger der "Pizzagate-Affäre" ginge aus gestohlenen E-Mails der US-Demokraten hervor, dass Podesta zu seiner Zeit als Wahlkampfmanager von Hillary Clinton regelmäßig pädophile Chiffren benutzt hätte.49 Hieraus leiten die Verschwörungstheoretiker - ebenso wie COMPACT50 - einen Beleg für das vermeintliche "Pädophilennetzwerk" im Umfeld der Familie Clinton ab. Im Fall von COMPACT gipfelte dieser Verschwörungsglaube 2020 sogar darin, dass Podesta einerseits zum möglichen Entführer der 2007 in Portugal verschwundenen Madeline McCann erklärt wurde.51 Andererseits zieht COMPACT in Zweifel, dass der ehemalige Sänger der Band Linkin Park, Chester Bennington, im Jahre 2017 Selbstmord beging. Stattdessen wird in der August-Ausgabe 2020 behauptet, dass Podesta Benningtons Vater und zugleich dessen Peiniger sein könnte, da der Musiker im Kindesalter vergewaltigt wurde.52 Als vermeintliche "Belege" dieser abstrusen Fantastereien legten die COMPACT-Autoren53 ein Portrait Podestas neben ein Phantombild, welches im Fall der vermissten Madeline McCann erstellt wurde. Ebenso legten sie ein Portrait Podestas neben eine Aufnahme Benningtons. Im Untertitel heißt es ganz im Sinne der "Pizzagate"-Verschwörungstheorie: "Wie aus dem Gesicht geschnitten - Chester Bennington (l.) und John Podesta: Ist der frühere Sänger von Linkin Park der Sohn des Clinton-Vertrauten? Möglicherweise wurde ihm dies zum Verhängnis".54 Nicht nur in Bezug auf John Podesta, sondern auch im Zusammenhang mit Bill Gates greift COMPACT55 auf bekannte Behauptungen aus verschwörungstheoretischen Kreisen zurück. Beispielsweise fragte das Magazin 2020 unter der Überschrift "Big Bill beherrscht die Welt": "Aber will der Mann aus Seattle in dieser Krisensituation wirklich helfen oder bastelt er lediglich an einem neuen Monopol - an einem, das wirklich die ganze Welt umfasst?"56 Diese Frage dürfte letztlich rhetorischen Charakter tragen. 48 Siehe FN 4. 49 Vgl. Aisch, Gregor, Jon Huang und Cecilia Kang: "Dissecting the #PizzaGate Conspiracy Theories", 10.12.2016, https://www.nytimes.com/interactive/2016/12/10/business/media/pizzagate.html (letzter Zugriff am 13.01.2021). 50 Vgl. COMPACT 07/2020, S. 18 f. 51 Vgl. COMPACT 07/2020, S. 17. 52 Vgl. COMPACT 08/2020, S. 15. 53 Siehe FN 4. 54 COMPACT 08/2020, S. 15. 55 Siehe FN 4. 56 COMPACT 06/2020, S. 17. 30 COMPACT führt in seinem "Corona-Sonderheft" aus, dass Gates seine Spenden an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) an die Durchführung weltweiter Impfkampagnen knüpfe.57 Diese Bedingung formuliere Gates deshalb, weil er über seine Stiftung Pharmakonzerne sponsere und somit aus der Pandemie individuelles Kapital schlagen möchte.58 Diese ebenfalls von Nicht-Extremisten vorgetragene Kritik wird von COMPACT schließlich um eine weitere und verschwörungstheoretisch entscheidende Deutungsebene ergänzt. Denn neben den vermeintlich finanziellen Anreizen gehe es dem Microsoft-Gründer gleichermaßen um eine politische Agenda. So erklärt der aus Brandenburg stammende Verschwörungstheoretiker und Extremist Attila Hildmann in einem in der Juni-Ausgabe 2020 abgedruckten Interview mit COMPACT: "Das Ziel ist, eine globale Regierung zu errichten. Wir sehen aktuell tatsächlich schon eine Art Weltregierung in Gestalt der WHO. [...] Bill Gates fühlt sich über seine Stiftung zum Diktator der ganzen Welt berufen".59 Mit solchen "Corona-Diktatur"-Erzählungen trägt COMPACT60 unmissverständlich zur Verbreitung rechtsextremistischer Globalisierungskritik bei, wie sie beispielsweise auch von der "Identitären Bewegung", der neonationalsozialistischen Kleinstpartei "DER DRITTE WEG" oder vom Verein "Zukunft Heimat" vertreten wird. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie bringt COMPACT zudem Verschwörungstheorien über George Soros in Umlauf. So sollen Soros und Gates mit ihrem gesundheitspolitischen Agieren letztlich an der Etablierung einer "One World"-Politik arbeiten61, die unter anderem drauf ausgerichtet sei, Nationalstaaten und ihre Bevölkerungen zu überwinden. Vor genau diesem Hintergrund gilt der US-amerikanische Finanzinvestor Soros - ebenso wie aufgrund seiner jüdischen Herkunft - seit vielen Jahren als personifiziertes Feindbild bei Verschwörungstheoretikern und Rechtsextremisten. Hieran wird einmal mehr deutlich, dass sich COMPACT in seinen Texten kontinuierlich Verschwörungstheorien bedient, um damit weiterhin in extremistischen Milieus anschlussfähig zu sein. COMPACT als Bindeglied zwischen extremistischen und verschwörungstheoretischen Milieus Hierfür greift das COMPACT-Magazin62 auf eine Strategie zurück, die den Sicherheitsbehörden bereits aus dem Bereich der Reichsbürger und Selbstverwalter bekannt ist. Letztlich fällt COMPACT eine Art Milieumanagement-Funktion63 zu, die darin besteht, die Szene zu erweitern, zu stabilisieren und Gelder zu generieren. Aus diesem Grund öffnete sich COMPACT beispielsweise gegenüber Reichsbürgern, "Querdenkern" und "QAnon"-Anhängern. Dass diese Vorgehensweise durchaus Erfolg hatte, zeigt sich unter anderem daran, dass COMPACT-Cover immer wieder bei "Querdenken"-Protesten zu sehen waren. Diese Ausweitung des eigenen Spektrums ist einmal mehr Beleg für die selbsterklärte "Fünf-FingerStrategie" der "Neuen Rechten". Nach dieser Strategie bilden "Pegida, IB, AfD, Ein Prozent und Compact [...] eine Faust!"64 Diese kann der Staat nicht nur nicht brechen, sondern diese kann auch zuschlagen. 57 Vgl. COMPACT Aktuell - Corona, 15.04.2020, S. 51 ff. 58 Vgl. COMPACT 06/2020, S. 12 ff. 59 COMPACT 06/2020, S. 25. 60 Siehe FN 4. 61 Vgl. beispielhaft COMPACT Aktuell - Corona, 15.04.2020, S. 53 f. 62 Siehe FN 4. 63 Für weiterführende Informationen zur Rolle von Milieumanagern im Zusammenhang mit dem Phänomenbereich "Reichsbürger und Selbstverwalter" siehe: Hüllen, Michael und Heiko Homburg: "'Reichsbürger' zwischen zielgerichtetem Rechtsextremismus, Gewalt und Staatsverdrossenheit", in: Wilking, Dirk (Hg.): "'Reichsbürger' - Ein Handbuch", 3. Auflage, Potsdam, 2017, S. 39 f. Das Handbuch steht auf der Homepage des brandenburgischen Ministeriums des Innern und für Kommunales als kostenloser Download zur Verfügung: https://mik.brandenburg.de/mik/de/start/service/publikationen/detail/~31-12-2017-handbuch-reichsbuerger-3-auflage 64 COMPACT 01/2018, S. 52. 31 COMPACT Nr. 09/2020 über "QAnon" und die vermeintliche "Corona-Diktatur" Das obenstehende Titelbild steht sinnbildlich für das Milieumanagement des COMPACT-Magazins.65 Zwar steht unter dem überdimensional großen "Q" der Untertitel "Querdenker - Stürzt die Freiheitsbewegung die Corona-Diktatur?". Nichtsdestotrotz wird an dieser Stelle bewusst mit dem Erkennungszeichen der "QAnon"-Bewegung gespielt. Insofern überrascht es nicht, dass der Verschwörungstheorie unter der Überschrift "Q und seine Cyberkrieger" in dem Heft letztlich auch eine Bühne geboten wird. COMPACT resümiert, dass es für die von den "QAnon"-Anhängern verbreitete Adrenochrom-Theorie zwar "bislang keine hiebund stichfesten Beweise gibt".66 Zugleich stünde aber der zweite Teile der "QAnon"-Verschwörungstheorie, nämlich "die Existenz pädophiler Netzwerke, in die hochrangige Kreise aus Politik, Justiz und Showbiz verstrickt sind, außer Frage".67 Vor diesem Hintergrund folgt das unmissverständliche Fazit: "Vollkommen aus der Luft gegriffen, sind die Ansichten der QAnons also nicht".68 Diese positive Bezugnahme auf die antisemitische Meta-Verschwörungstheorie von "QAnon" belegt nochmals eindrücklich, weshalb das COMPACT-Magazin seit dem Jahre 2020 beim brandenburgischen Verfassungsschutz zurecht als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft ist. Zugleich wird hieran deutlich, dass COMPACT - gerade in Zeiten der Pandemie - bestrebt ist, verschwörungstheoretische und verfassungsfeindliche Inhalte salonfähig zu machen und somit letztlich im gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu verankern. Diese gezielte Entgrenzung des Rechtsextremismus ist eine gefährliche Strategie, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet ist. Zusammenfassung und Ausblick Die Grundannahme, dass Verschwörungstheorien gerade in Krisenzeit einen Aufmerksamkeitszuwachs erfahren, hat sich 2020 im Zuge der Corona-Pandemie durchaus bestätigt. Aus Sicht des brandenburgischen Verfassungsschutzes ist dabei besonders alarmierend, dass gerade solche Verschwörungstheorien an Bedeutung gewonnen haben, die extremistische Inhalte transportieren. Für das Jahr 2020 gilt dieses in erster Linie für den starken Anstieg deutschsprachiger "QAnon"-Inhalte sowie die gezielte Verächtlichmachung demokratischer Entscheidungsprozesse im Rahmen der Pandemie-Bekämpfung. 65 Siehe FN 4. 66 COMPACT 09/2020, S. 23. 67 Ebd. 68 Ebd. 32 Nicht ohne Grund wurde der von Verschwörungstheoretikern und Extremisten inflationär verwendete Begriff einer vermeintlichen "Corona-Diktatur" zum Unwort des Jahres 2020 erklärt. Parallel dazu zeigt die Auswertung, dass in Internetforen entwickelte Verschwörungstheorien, allen voran die angebliche "Pizzagate-Affäre" sowie "QAnon", nicht auf den virtuellen Raum begrenzt bleiben. Auch in Brandenburg gab es im Jahre 2020 öffentliche Bekundungen zu "Q" und seinen teilweise gewalttätigen Anhängern. Insbesondere auf den Großdemonstrationen der Organisation "Querdenken" zeigte sich, dass im Kampf gegen die angebliche "Corona-Diktatur" nicht nur Rechtsextremisten und Reichsbürger geduldet werden. Ebenso haben dort die "QAnon"-Bewegung und das COMPACT-Magazin69 ihre festen Plätze. Vor dem Hintergrund seiner nicht unerheblichen Reichweite wirkt das in Brandenburg verlegte COMPACT-Magazin70 dabei als ideologischer Superspreader, der Verschwörungstheorien eine milieuübergreifende Plattform bietet, sie bündelt, verstärkt und zielgerichtet weiterverbreitet. Aus diesem Grund muss für das Jahr 2020 konstatiert werden, dass insbesondere die Demonstrationen von "Querdenken" als auch die Veröffentlichungen von COMPACT entscheidend dazu beitrugen, die "QAnon"-Verschwörungstheorie in Deutschland aus der reinen Internetblase zu holen. Dieser überaus besorgniserregenden Entwicklung gilt es nun, mit entsprechender Aufklärungsarbeit entgegenzuwirken. Hierbei ist die gesamte Gesellschaft gefordert. Zudem müssen insbesondere die Sicherheitsbehörden der diesen Verschwörungserzählungen innewohnenden Gewaltorientierung mit großer Aufmerksamkeit und Entschiedenheit begegnen. Schließlich geht es hier um Menschen, die sich teilweise vollständig von der Wirklichkeit abgekoppelt haben sowie in jedem und allem nur noch das Wirken finsterer sowie bösartiger Mächte erkennen wollen. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass von solchen Personen schwere Gewaltstraftaten ausgehen, weil sie für sich keine anderen Formen des Handelns mehr erkennen können. Sie glauben, sie müssten zu einer Art finalem Schlag ausholen. Solche Fälle gab es bereits in den USA. Auch der Attentäter von Hanau (Hessen) muss in diesem Kontext betrachtet werden. 69 Siehe FN 4. 70 Siehe FN 4. 33 3. Rechtsextremismus 34 3. Rechtsextremismus Rechtsextremistisches Personenund Organisationspotenzial in Brandenburg (zum Teil geschätzt) 2018 2019 2020 in Parteien (gesamt) 320 970 1.075 NPD 280 260 250 DER DRITTE WEG 30 40 45 Verdachtsfall AfD71 670 780 in parteiunabhängigen Strukturen 335 380 410 weitgehend unstrukturiertes Personenpotenzial 1.125 1.565 1.585 gesamt 1.780 2.915 3.070 Mehrfachmitgliedschaften 105 150 210 Personenpotenzial (nach Abzug von Mehrfachzählungen) 1.675 2.765 2.860 davon gewaltorientierte Rechtsextremisten72 1.235 1.280 1.285 71 Die AfD-Teilstrukturen "Junge Alternative für Deutschland" (JA) und "Der Flügel" waren bereits im Jahr 2019 Verdachtsfälle des brandenburgischen Verfassungsschutzes. Seit Juni 2020 ist der gesamte brandenburgische Landesverband der "Alternative für Deutschland" (AfD) Verdachtsfall des brandenburgischen Verfassungsschutzes, da hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vorliegen. "Der Flügel" hat nach eigenen Angaben Ende April 2020 seine Aktivitäten bundesweit eingestellt. Die 670 Personen im Jahre 2019 ergaben sich aus den beiden AfD-Teilstrukturen JA (30) und "Der Flügel" (640). Die 780 Personen im Jahr 2020 ergeben sich aus dem 40-prozentigen "Flügel"-Potenzial (680) der brandenburgischen AfD-Gesamtmitgliedschaft, der JA (50) sowie weiteren 50 als extremistisch eingestuften Personen. Den Zahlen liegt somit eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung zugrunde. Dieser Maßstab wurde angelegt, da es sich um einen Verdachtsfall handelt. Anderslautende Aussagen aus der Spitze des brandenburgischen Landesverbandes über einen noch höheren Anteil des "Flügels" können somit nicht unmittelbar in Personenpotenziale umgerechnet werden. 72 Bezogen auf das "Personenpotenzial (nach Abzug von Mehrfachzählungen)". 35 3.1 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Sitz / Verbreitung Die NPD gliedert sich unterhalb der Bundesebene in Landesund Kreisverbände. Die Bundespartei hat ihren Sitz in Berlin. Gründung / Bestehen Die NPD wurde 1964 gegründet. Ein eigenständiger brandenburgischer Landesverband besteht seit 2003. Struktur / Repräsentanten Bundesvorsitzender: Frank Franz (seit 2014) Landesvorstand der NPD Brandenburg: Vorsitzender: Klaus Beier (seit 2004) stellv. Vorsitzende: Thomas Gürtler und Thomas Salomon Schatzmeisterin: Aileen Rokohl Struktur des Landesverbandes: insgesamt elf Kreisverbände; 12 Mandate in Kommunalvertretungen des Landes Brandenburg Ergänzende Informationen: Der Lausitzer Ronny Zasowk ist seit 2014 stellvertretender Vorsitzender der Bundespartei, Klaus Beier nimmt das Amt des Bundesgeschäftsführers der NPD wahr. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Im Land Brandenburg hatte die NPD 2020 nur noch knapp 250 Mitglieder (2019: 260). Damit hielt der seit einigen Jahren feststellbare Rückgang der Mitgliederzahlen weiter an. Veröffentlichungen Publikationen des Bundesverbandes: Magazin "Deutsche Stimme" (monatlich) Parteizeitung für die NPD "Stimme Deutschlands" Publikation für Brandenburg: "Zündstoff - Deutsche Stimme für Berlin und Brandenburg" Web-Angebote: Bundesverband: npd.de Landesverband: npd-brandenburg.de Die Partei und ihre (brandenburgische) Regionalverbände betreiben diverse Projekte und Profile in den sozialen Medien, zum Beispiel auf Facebook, Twitter und Telegram. Hierbei wird zuweilen vermieden, einen direkten Zusammenhang mit der Partei erkennen zu lassen. 36 Kurzportrait / Ziele Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) ist die älteste rechtsextremistische Partei in der Bundesrepublik. Sie vertritt rassistische, antisemitische und revisionistische Positionen. Ihr Ziel ist eine am völkischen Sozialismus orientierte, von ihr als "wahre Demokratie" bezeichnete, Staatsform. Damit offenbart die NPD ihre Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus und ihre Gegnerschaft zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Finanzierung Staatliche Parteienfinanzierung (Verfahren anhängig beim BVerfG), Mitgliedsbeiträge und Spenden Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Die NPD lehnt die freiheitliche Demokratie in Deutschland ab und strebt ihre Beseitigung an. Wesentliche Prinzipien des Grundgesetzes werden von ihr verworfen. Das gilt beispielsweise für die unantastbare Würde des Menschen. Die NPD ordnet diese Würde einem nationalen Kollektivismus unter. Sie strebt einen autoritären Staat an, in dem die freiheitliche demokratische Grundordnung ihre Geltung verliert. An deren Stelle will sie auf Grundlage ihrer rechtsextremistischen Ideologie eine auf Rassismus beruhende "Volksgemeinschaft" setzen, die Parallelen zur nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft" aufweist. Die Zugehörigkeit beruht ausschließlich auf ethnischen Abstammungskriterien. Wer diesen nicht genügt, soll ausgegrenzt und damit entrechtet werden. Demnach lehnt die NPD die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz nach Art. 3 des Grundgesetzes ab. Im Jahr 2020 setzte die Partei ihre gegen Migranten und insbesondere gegen Muslime sowie Flüchtlinge gerichtete Hetze fort. Damit einher geht das Schüren von Ängsten vor einer angeblichen Überfremdung. Das Bundesverfassungsgericht entschied am 17. Januar 2017, dass die NPD mangels Potenzialität nicht verboten wird. Das Gericht sah dennoch deutliche verfassungsfeindliche Ziele: "Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) vertritt ein auf die Beseitigung der bestehenden freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtetes politisches Konzept. Sie will die bestehende Verfassungsordnung durch einen an der ethnisch definierten 'Volksgemeinschaft' ausgerichteten autoritären Nationalstaat ersetzen. Ihr politisches Konzept missachtet die Menschenwürde und ist mit dem Demokratieprinzip unvereinbar. Die NPD arbeitet auch planvoll und mit hinreichender Intensität auf die Erreichung ihrer gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Ziele hin. [...] Das Konzept der 'Volksgemeinschaft', die antisemitische Grundhaltung und die Verächtlichmachung der bestehenden demokratischen Ordnung lassen deutliche Parallelen zum Nationalsozialismus erkennen. Hinzu kommen das Bekenntnis zu Führungspersönlichkeiten der NSDAP, der punktuelle Rückgriff auf Vokabular, Texte, Liedgut und Symbolik des Nationalsozialismus sowie geschichtsrevisionistische Äußerungen, die eine Verbundenheit zumindest relevanter Teile der NPD mit der Vorstellungswelt des Nationalsozialismus dokumentieren. Die Wesensverwandtschaft der NPD mit dem Nationalsozialismus bestätigt deren Missachtung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung."73 Die Partei verfolgt ihre Ziele in einer aggressiv-kämpferischen Weise. Dies belegt nicht zuletzt ihre Zusammenarbeit mit gewaltbereiten Neonationalsozialisten und Hooligans. 73 Bundesverfassungsgericht: "Kein Verbot der NPD wegen fehlender Anhaltspunkte für eine erfolgreiche Durchsetzung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele", 17.01.2017, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/ DE/2017/bvg17-004.html, (letzter Zugriff am 22.02.2021). 37 Entwicklungen im Berichtszeitraum Die NPD unterhielt im Jahr 2020 in Brandenburg nach eigener Darstellung folgende Kreisverbände: Barnim, Dahmeland, Havel-Nuthe, Lausitz, Niederlausitz, Oberhavel, Märkisch-Oderland, Oderland, Potsdam, Prignitz-Ruppin und Uckermark.74 Aus brandenburgischer Perspektive ist festzustellen, dass sich der seit Jahren anhaltende Mitgliederschwund zugleich in einem starken Rückgang des Aktivitätsniveaus der hiesigen NPD widerspiegelt. Auch wenn es zwischen den aktuell elf NPD-Kreisverbänden im Land Brandenburg hierbei durchaus Unterschiede gibt, so trat die Partei 2020 insgesamt öffentlichkeitswirksam kaum in Erscheinung. Diese Beobachtung gilt insbesondere für die Kreisverbände Dahmeland, Havel-Nuthe und Märkisch Oderland sowie für den Stadtverband Potsdam. Diese Regionalverbände der NPD sind 2020 nur mit sporadischen Veröffentlichungen auf Facebook in Erscheinung getreten. Diese Internetbeiträge wiesen zudem oftmals nicht einmal einen regionalen Bezug auf. Auch der Kreisverband Oberhavel konnte 2020 keine nennenswerten Aktivitäten entfalten, obwohl die Partei dort sowohl im Kreistag des Landkreises Oberhavel als auch in drei Stadtverordnetenversammlungen75 vertreten ist. Demgegenüber kam es seitens des Kreisverbandes Barnim zumindest zu vereinzelten realweltlichen Aktivitäten. Im Rahmen der NPD-Kampagne "Schafft Schutzzonen" soll es im Juni und Juli 2020 zu angeblichen "Spaziergängen" durch Bernau (BAR) gekommen sein.76 Ziel der seit 2018 bundesweit laufenden "Schutzzonen-Kampagne" ist es, einer vermeintlich ausufernden Kriminalität von Migranten durch "nationale Streifen" zu begegnen. Ein mit der Barnimer NPD vergleichbares Aktivitätsniveau wiesen 2020 auch die Kreisverbände Lausitz und Niederlausitz auf. So nahmen einige Mitglieder beider Verbände am 15. Januar 2020 an einer Kranzniederlegung anlässlich des 75. Jahrestags der Bombardierung der Stadt Cottbus teil. Zudem organisierte der Kreisverband Niederlausitz am Tag zuvor den Vortrag eines Holocaustleugners, der unter anderem zum Zweiten Weltkrieg sowie einer vermeintlichen "Umvolkung" in Deutschland referierte. Die traditionell offenen Verbindungen zwischen der NPD und neonationalsozialistischen Strukturen zeigen sich vor allem noch in den nördlichen Kreisverbänden der NPD Brandenburg. Sowohl im Kreisverband Uckermark als noch stärker im Kreisverband Prignitz-Ruppin gibt es klare Überschneidungen zwischen der örtlichen NPD und Neonationalsozialisten. Diese Feststellung gilt ganz besonders für die personellen Überschneidungen zwischen den neonationalsozialistischen "Freien Kräften Neuruppin/Osthavelland" (FKN/O)77 und dem NPD-Stadtverband Neuruppin (OPR), der dem Kreisverband Prignitz-Ruppin untergeordnet ist. So organisierten NPD Neuruppin und FKN/O beispielsweise im Nachgang einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Tschetschenen am 28. Juli 2020 unter der Parole "Abschiebehaft statt Straßenschlacht" gemeinsam eine Versammlung in Rheinsberg (OPR).78 Diese Kundgebung war 2020 die wahrnehmbarste Aktion der NPD im Land Brandenburg, welches einmal mehr die aktuelle Schwäche der Partei kennzeichnet. 74 Die Kreisverbände sind dabei nicht immer deckungsgleich mit den brandenburgischen Landkreisen und den kreisfreien Städten. Die regionale Verteilung stellt sich wie folgt dar: Barnim (BAR), Dahmeland (LDS & TF), Havel-Nuthe (HVL, PM & Brandenburg an der Havel), Lausitz (Cottbus & SPN), Niederlausitz (OSL & EE), Oberhavel (OHV), Märkisch-Oderland (MOL), Oderland (Frankfurt (Oder) & LOS), Potsdam (P), Prignitz-Ruppin (OPR & PR) und Uckermark (UM). 75 Hierbei handelt es sich um die Stadtverordnetenversammlungen in Oranienburg, Kremmen und Velten (alle OHV). 76 Vgl. beispielhaft Facebook-Seite Schutzzone Barnim, 17.06.2020 (letzter Zugriff am 22.02.2021). 77 Für weitere Informationen zu den FKN/O siehe Kapitel 3.4. 78 Vgl. Facebook-Seite NPD Neuruppin, 28.07.2020 (letzter Zugriff am 24.02.2021). 38 Auch wenn die Beschränkungen im Rahmen der Corona-Pandemie die Ausrichtung öffentlicher Veranstaltungen 2020 erschwert haben, ändert dieses nichts am generellen Rückgang des Aktivitätslevels der brandenburgischen NPD. Insgesamt konnte die NPD Brandenburg ihren personellen und strukturellen Abwärtstrend auch 2020 nicht stoppen. Diese Einschätzung scheint mittlerweile auch von führenden Parteimitgliedern erkannt worden zu sein. Mit Manuela Kokott hat offensichtlich eine der wenigen verbliebenen NPD-Mandatsträger die Partei und ihren Kreisverband Oderland verlassen. So wird Kokott im Ratsinformationssystem der Gemeinde Spreenhagen (LOS) mittlerweile als parteilos geführt, obwohl sie ihr Mandat 2019 für die NPD errang.79 Unabhängig von ihrem zunehmenden Bedeutungsverlust gelang der brandenburgischen NPD im Jahre 2020 ein symbolischer Erfolg vor dem brandenburgischen Verfassungsgericht. Gemeinsam mit dem als rechtsextremistischen Verdachtsfall eingestuften brandenburgischen Landesverband der "Alternative für Deutschland" (AfD)80 klagte die NPD gegen das brandenburgische Paritätsgesetz.81 Gleichwohl konnte die NPD hieraus politisch kein Kapital schlagen. Vielmehr versucht die Partei über neue Projekte ihre Programmatik, ihre Themen und politischen Forderungen einer breiteren Öffentlichkeit - zum Teil - subtil schmackhaft zu machen. Ein Beispiel stellt das im Oktober 2020 initiierte "YouTube"-Projekt "AVOS-TV" dar. Unter Vermeidung direkter Bezüge zur Partei und angetreten mit dem Anspruch "Politik, Wirtschaft und Kultur aus patriotischer Sicht"82 darzustellen, soll die Sendung "P[R]OSITION" "jeden Freitag über die Geschehnisse in Deutschland, Europa und der Welt berichten und analysieren".83 Während die Moderatorin eine Brandenburgerin mit lange bekanntem NPD-Vorlauf ist, wird als Herausgeber und inhaltlich Verantwortlicher Frank Franz - der NPD-Bundesvorsitzende - genannt. Die bislang erzielte Reichweite dürfte jedoch weit hinter den Erwartungen zurückbleiben. Nur eines der elf Videos wies mehr als 1.000 Zugriffe auf.84 Wie andere rechtsextremistische Organisationen versuchte die NPD, die Anti-Corona-Proteste des Jahres 2020 bewusst für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Hierfür dockte sie unter anderem an die "Querdenken"-Bewegung an und rief ihre Mitglieder und Anhänger zur Teilnahme an deren Protesten auf. Am 29. August 2020 nahmen beispielsweise mehrere NPD-Funktionäre an einer Berliner Demonstration von "Querdenken" teil. Das von der NPD-Zeitung betriebene Format "Deutsche Stimme TV" titelte im Vorfeld der Veranstaltung "Unsere Freiheit ist unverhandelbar!"85 Durch eine stetige Berichterstattung über die Proteste versuchte die NPD ganz subtil, rechtsextremistisches Gedankengut anschlussfähig zu machen. Schließlich verzichtete sie zumeist auf einen offenen und direkten Bezug zur Partei. Junge Nationalisten (JN) Die "Jungen Nationalisten" (JN) befinden sich auf Bundesebene und im Land Brandenburg in einer tiefen Krise. Öffentlich ist die Jugendorganisation der NPD quasi kaum mehr in Erscheinung getreten. Im Januar 2018 führten die JN ihren Bundeskongress in Riesa (Sachsen) durch. Nichts weniger als ein kompletter Neustart war das Ziel. Verdeutlicht wurde dies unter anderem durch eine Umbenennung der Jugendorganisation. Aus den langjährigen "Jungen Nationaldemokraten" wurden die "Jungen Nationalisten". 79 Vgl. Rats-Informationssystem der Gemeinde Spreenhagen, http://www.amt-spreenhagen.org/cms/ris/ti-4/index.php (letzter Zugriff am 22.02.2021). 80 Siehe FN 6. 81 Vgl. Verfassungsgericht des Landes Brandenburg: "Paritätsgesetz verfassungswidrig", 23.10.2021, https://verfassungsgericht.brandenburg.de/verfgbbg/de/presse-statistik/pressemitteilungen/detail/~23-10-2020-paritaetsgesetz-verfassungswidrig (letzter Zugriff am 22.02.2021). 82 YouTube-Kanal "Avos TV" (letzter Zugriff am 22.02.2021). 83 Ebd. 84 Stand: 4. März 2021. 85 Homepage NPD Brandenburg, 28.08.2020 (letzter Zugriff am 22.02.2021). 39 In Brandenburg fiel der erst 2014 gegründete Landesverband im Jahr 2016 fast vollständig in sich zusammen. Die JN Brandenburg waren jedoch 2020 bemüht, bemerkbar zu werden. Ihrem Anspruch, eine völkisch-elitäre Kaderschmiede der NPD zu sein, wurden die JN aber nicht annähernd gerecht. Zu einer Wiederbelebung der Aktivitäten in Brandenburg hat dieser erhoffte aber vollständig gescheiterte Neuanfang jedenfalls nicht geführt. Neben obligatorischen Szeneterminen, wie dem Trauermarsch zum 13. Februar 2020 in Dresden und dem seit einigen Jahren stattfindenden "Tag der politischen Gefangenen", nahmen brandenburgische JN-Aktivisten an mehreren kleineren rechtsextremistischen Veranstaltungen teil. Im Februar 2020 beteiligten sich beispielsweise zwei Protagonisten an einer rechtsextremistisch motivierten Wandertour zum "Tag der Ehre" im ungarischen Budapest. Einziger Höhepunkt der brandenburgischen JN im Jahre 2020 war ein im Juli ausgerichtetes "nationales Fußballturnier". Getreu dem Motto "ein gesunder Geist in einem gesunden Körper" versuchten die JN mittels Sport als szenestärkendes und -bindendes Element eine Vielzahl überregional angereister Rechtsextremisten für die gemeinsamen Ziele zu begeistern.86 Gleichwohl mussten die JN 2020 auch wegen der Pandemiebeschränkungen zurückstecken. Der ursprünglich für Mai 2020 geplante Europakongress musste abgesagt werden.87 Nichtsdestotrotz versucht die Jugendorganisation, wieder aktiver zu werden. Allerdings fehlen wie in der Mutterpartei charismatische und begeisterungsfähige Personen. Bewertung / Ausblick Die NPD ist eine verfassungsfeindliche Partei. Sie bot sich über Jahre als Schutzschirm für Kameradschaften und andere Rechtsextremisten an. Diese nutzten die Möglichkeit sehr intensiv, unter dem gesetzlichen Schutz des Parteienprivilegs ihren neonationalsozialistischen Geschäften in der NPD nachzugehen. Im Mittelpunkt der Parteiarbeit stand 2020 die Opposition gegen die pandemiebedingten Einschränkungen. Nennenswerte Erfolge erzielte die NPD aber nicht. Der Landesverband der NPD lebt weiterhin von einigen wenigen Multifunktionären. Schon der Ausfall eines Aktivpostens kann zur Stagnation ganzer Kreisverbände führen. Zudem verliert die NPD durch die sich stramm neonationalsozialistisch gebende Organisation "DER DRITTE WEG" und durch die AfD88 zusehends an Attraktivität. 86 Vgl. Homepage Junge Nationalisten, 20.07.2020 (letzter Zugriff am 22.02.2021). 87 Vgl. Facebook-Seite "4. JN-Europakongress", 28.06.2020 (letzter Zugriff am 22.02.2021). 88 Siehe FN 6. 40 3.2 DER DRITTE WEG Sitz / Verbreitung Bundesverband: Weidenthal (Rheinland-Pfalz); Verbreitung hauptsächlich in Südund in Ostdeutschland Gründung / Bestehen 28. September 2013 in Heidelberg Struktur / Repräsentanten Bundesvorsitzender: Klaus Armstroff; Vorsitzender "Gebietsverband Mitte": Matthias Fischer (auch stellvertretender Bundesvorsitzender) Struktur im Land Brandenburg: Zuständig für das Land Brandenburg ist der "Gebietsverband Mitte". Die drei von der Partei in Brandenburg genannten Stützpunkte "Uckermark", "Mittelmark (Havel)" und "Potsdam/Mittelmark" sind Bestandteile dieses Gebietsverbands. Ergänzende Informationen: Entgegen dem klassischen Parteiaufbau mit Landesund Kreisverbänden unterhält die den Parteienstatus beanspruchende Organisation "DER DRITTE WEG" aufgrund ihrer kleinen Basis unterhalb der Bundesebene nur vier Gebietsverbände. In diesen sind unterschiedliche regionale Stützpunkte aktiv. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Im Land Brandenburg hat "DER DRITTE WEG" etwa 45 Mitglieder. Die Tendenz ist dabei leicht ansteigend. Veröffentlichungen Web-Angebote: der-dritte-weg.info sowie diverse Profile in sozialen Netzwerken und auf Videoportalen Kurzportrait / Ziele Die Kleinstpartei wurde zunächst unter Beteiligung einzelner ehemaliger NPD-Mitglieder und Neonationalsozialisten aus Rheinland-Pfalz sowie Hessen gegründet. 2014 zeichnete sich in Bayern ein Verbot des neonationalsozialistischen Netzwerks "Freies Netz Süd" ab. Daraufhin ist ein Teil der Betroffenen ebenfalls der Kleinstpartei "DER DRITTE WEG" beigetreten, um staatlichen Verbotsmaßnahmen zu entgehen. Die Aktivisten nutzen also gezielt den Schutz des Parteienprivilegs, um ihre neonationalsozialistischen Aktivitäten fortzusetzen. Finanzierung Überwiegend durch Mitgliedsbeiträge und Spenden Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit "DER DRITTE WEG" vertritt ein klar rechtsextremistisches Staatsund Gesellschaftsbild. Insbesondere völkisch-nationalistische Elemente des Nationalsozialismus werden aufgegriffen. Sein 10-Punkte-Programm ist ideologisch an das Gedankengut der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP) angelehnt. Gefordert wird darin ein "deutscher Sozialismus". 41 Die Partei propagiert die "Beibehaltung der nationalen Identität des deutschen Volkes", fordert "die Erhaltung und Entwicklung der biologischen Substanz des Volkes" und die "konsequente Förderung von kinderreichen Familien zur Abwendung des drohenden Volkstodes". Angestrebt wird eine ethnisch homogene Gesellschaft im Sinne des völkischen Nationalismus. Ohne Rücksicht auf die Menschenrechte soll dieses Ziel durch die rigide Ausgrenzung aller vermeintlich Fremden verwirklicht werden. Somit handelt es sich bei der Partei um eine offen neonationalsozialistische Struktur. "DER DRITTE WEG" agitiert vor allem gegen Flüchtlinge. Er fordert zudem "die Wiederherstellung Gesamtdeutschlands in seinen völkerrechtlichen Grenzen" und verfolgt damit offen revisionistische Gebietsansprüche. Lediglich aus taktischen Erwägungen lehnt "DER DRITTE WEG" Gewalt ab. Zahlreiche Mitglieder verfügen über eine rechtsextremistische Biografie. Die Kleinstpartei pflegt dementsprechend Kontakte zu verschiedenen rechtsextremistischen Organisationen in Europa, wie beispielsweise zur "Goldenen Morgenröte" ("Chrysi Avgi", Griechenland) und dem "Asow Regiment" (Ukraine).89 Eine besondere Bedeutung haben für die Partei zunehmend Engagements im Bereich Kampfsport. Dieser dient sowohl der körperlichen Ertüchtigung als auch der Herstellung von Wehrhaftigkeit. Entwicklungen im Berichtszeitraum In Brandenburg unterhielt "DER DRITTE WEG" im Jahr 2020 nach eigener Darstellung die drei Stützpunkte "Uckermark", "Mittelmark (Havel)" und "Potsdam/Mittelmark". Alle gehören zum "Gebietsverband Mitte". Auch der Stützpunkt "Mittelmark (Havel)" wird seit einiger Zeit wieder auf der Partei-Webseite aufgeführt. Hiermit wird eine größere Parteibasis und tiefere Verwurzelung im kommunalen Raum vorgetäuscht. Mitglieder und Sympathisanten der Partei traten im Jahr 2020 zumeist mit Flugblattverteilungen und Infoständen öffentlich in Erscheinung. Einen Schwerpunkt bildeten die regionalen Wirkungskreise der beiden Stützpunkte "Uckermark" und "Potsdam/Mittelmark". Im Windschatten von "Querdenken" und im Schulterschluss mit anderen rechtsextremistischen Gruppierungen hat sich die Partei 2020 thematisch der Corona-Pandemie verschrieben. Fast sämtliche Aktionen waren geprägt vom Kampf gegen das verhasste System der Bundesrepublik Deutschland sowie gegen die vermeintlich unverhältnismäßigen Corona-Beschränkungen. So versuchte die Kleinstpartei neben vielen anderen rechtsextremistischen Akteuren die von "Querdenken" am 28. August 2020 in Berlin organisierten Proteste zu vereinnahmen. "DER DRITTE WEG" warb nicht nur für die Veranstaltung, sondern war mit Aktivisten selbst vor Ort. Unter dem Slogan "Das System ist gefährlicher als Corona!" wurde auf der Partei-Webseite sogar ein Liveticker zur Demonstration geschaltet.90 In diesem wurde die vermeintliche "Erstürmung" der Reichstagstreppe euphorisch kommentiert: "Diese Bilder werden sicherlich um die Welt gehen. Das Volk holte sich kurzzeitig den Reichtsag zurück" (Fehler im Original). Mit massenhaft verteilten Flugblättern, Postkarten und anderen Werbemitteln agitierte die Kleinstpartei massiv gegen den demokratischen Rechtsstaat. "DER DRITTE WEG" fabulierte vom "maroden Zustand" des Systems, verknüpfte die Pandemie mit ausländerfeindlichen und antisemitischen Ressentiments, warf den "herrschenden" Politikern Planlosigkeit und die Einschränkung der Bürgerrechte zum Zwecke des Machtausbaus vor. Dieses gipfelte schließlich wieder einmal in der für die Splitterpartei größenwahnsinnigen Forderung "Deutscher Sozialismus Jetzt!"91 89 Das ukrainische Asow Regiment ist ein paramilitärisches Freiwilligenbataillon, welches gegen prorussische Separatisten im Osten des Landes eingesetzt wird. Es wurde von nationalistischen Politikern gegründet. Es erlangte Bekanntheit unter anderem wegen rechtsextremistischer Positionen vieler seiner Angehöriger, der Verwendung entsprechender Symbole sowie Kontakten zu Rechtsextremisten anderer Länder. 90 Homepage "DER DRITTE WEG": Liveticker direkt aus Berlin", 28.08.2020 (letzter Zugriff am 22.02.2021). 91 Homepage "DER DRITTE WEG": Corona-Krise: System ist am Ende, 03.04.2020 (letzter Zugriff am 22.02.2021). 42 Konsequent und konsistent argumentiert die Partei jedoch nicht. Während sie die Eindämmungsmaßnahmen als völlig überzogen und Vorstufe zur Diktatur anprangerte, schrieb sie noch Anfang April 2020 angesichts der katastrophalen pandemischen Entwicklung in Italien: "Doch auch die deutsche Politik hat versagt. Durch ein zögerliches Eingreifen konnte sich das Virus in unserem Land verbreiten. Am Kölner Rosenmontag feierten mehr als eine Million Menschen auf der Straße, bayerische Schulkinder verbrachten ihre Ferien in Südtirol und in Österreich beim Skifahren, als die Krise bereits in aller Munde war. Da Erkrankungen nicht immer als solche erkennbar sind und viele Infizierte nur leichte oder gar keine Symptome zeigen, war die Ausbreitung nicht mehr aufzuhalten. Alle Maßnahmen, die von der Bundesregierung nun ergriffen wurden und werden kommen daher zu spät."92 Die offensichtliche Opposition gegen jedwede politische Handlungsoption nur um der Opposition willen teilt "DER DRITTE WEG" dabei mit einer Vielzahl rechtsextremistischer Organisationen. Reale Lösungsansätze hat er allerdings nicht zu bieten. In einem Ende 2020 veröffentlichten "10-Punkte-Programm zur Beendigung der Corona-Krise"93 wird die Ideologie der Partei besonders deutlich. Die Gefahr durch das Virus wird hierin verharmlost, staatlichem Handeln Inkompetenz unterstellt und altbekannte Forderungen nach nationaler Abschottung einmal mehr erhoben. Wie wenig Menschenleben für die rechtsextremistische Partei zählen wird unter Punkt 4 "Volkswirtschaft und Volksgesundheit bewahren" offenkundig: Im Zuge der Bekämpfung einer Pandemie ist immer zwischen Beibehaltung der Volksgesundheit und Erhaltung der Wirtschaftskraft abzuwägen. Jede Krankheit fordert (Todes-)Opfer. Der Schaden für einen Volkskörper durch das Herunterfahren einer Volkswirtschaft bzw. einzelner Wirtschaftszweige ist so vehement, daß dies in keinem Verhältnis zu den aktuellen Todeszahlen durch Covid-19 steht und somit absolut unverhältnismäßig ist."94 Kurz zusammengefasst: Wirtschaft geht vor Leben und der "Volkskörper" im nationalsozialistischen Duktus wird zum absoluten Maßstab. Allerdings trafen die pandemiebedingten Einschränkungen auch die Aktivisten der Kleinstpartei selbst. Veranstaltungen und Demonstrationen konnten nicht so durchgeführt werden, wie es sich "DER DRITTE WEG" erhoffte. Das alljährlich stattfindende, fast schon traditionelle Heldengedenken mit einem Aufmarsch in Wunsiedel (Bayern) musste 2020 abgesagt werden. Ebenso konnten die größeren Wintersonnenwendfeiern nicht stattfinden. Stattdessen verlegte sich "DER DRITTE WEG" in Brandenburg 2020 auf heimlich vorbereitete und regional durchgeführte Events.95 Indes verfehlten diese kleinteiligen Aktionen die gewünschte Aufmerksamkeit und mediale Reichweite wie die eines Fackelmarsches in Wunsiedel deutlich. Die einzige größere Demonstration, welche die Kleinstpartei im Jahr 2020 durchführen konnte, fand am 3. Oktober in Berlin statt. Etwa 300 Rechtsextremisten aus verschiedenen Bundesländern und dem Ausland fanden sich in Berlin Hohenschönhausen ein und erfuhren erheblichen zivilgesellschaftlichen Gegenwind. 92 Ebd. 93 Homepage "DER DRITTE WEG": 10-Punkte-Programm zur Beendigung der Corona-Krise, 30.11.2020 (letzter Zugriff am 22.02.2021). 94 Ebd. 95 Vgl. Homepage "DER DRITTE WEG": Heldengedenken in Mitteldeutschland, 18.11.2020 (letzter Zugriff am 22.02.2021). 43 Sein elitäres Gehabe versuchte "DER DRITTE WEG" im Berichtszeitraum mittels Vernetzungen mit der intellektuell-publizistischen "Neuen Rechten" zu untermauern. Als Beispiel soll hier Folge 34 des periodischen Audiopodcasts "Revolution auf Sendung" angeführt werden. Thema waren die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise und die Kapitalismuskritik von "Rechts".96 Gast der Sendung war ein zentraler Akteur des rechtsextremistischen Verlagsund Blogprojekts "Metapol / Gegenstrom", einem selbst ernannten Think-Tank der "Neuen Rechten".97 Er trat unter dem unter dem Decknamen Peter Steinborn auf. Die vorangestellte Selbstvorstellung des Gasts lässt indes auf einen altbekannten brandenburgischen Rechtsextremisten aus dem ehemaligen Führungszirkel der Jungen Nationalisten schließen. Brandenburgische Mitglieder von "DER DRITTE WEG" waren 2020 erneut bundesweit aktiv. Sie nahmen an szenerelevanten Treffen und Demonstrationen teil. Matthias Fischer und weitere Parteimitglieder aus Brandenburg waren zudem bei extremistischen Veranstaltungen im europäischen Ausland zugegen. So nahm einige von ihnen zum wiederholten Male am "Marsch der Ehre" in Budapest (Ungarn) teil. Bewertung / Ausblick "DER DRITTE WEG" verfügt mit Matthias Fischer über einen ideologisch geschulten Parteikader, der den Aufbau und die Festigung seiner Kleinstpartei weiter gezielt vorantreiben wird. Der hohe Organisationsgrad der einzelnen Mitglieder gepaart mit dem oftmals uniformierten Auftreten in der Öffentlichkeit soll ein heimatverbundenes, politisch engagiertes und diszipliniertes Bild vermitteln. Die hohen Anforderungen, die "DER DRITTE WEG" an sich und seine Mitglieder stellt, werden von der rechtsextremistischen Szene in Brandenburg nur selten erfüllt. Das Personenpotenzial der Partei wird deshalb weiter gering bleiben. Obwohl es der Kleinstpartei bisher nicht gelang, die beanspruchte Führungsrolle innerhalb der "nationalen Bewegung" zu übernehmen, so steigt ihr Einfluss auf die rechtsextremistische Szene dennoch kontinuierlich an. Im Vergleich zur NPD und anderen parteifernen Szenestrukturen verfügt "DER DRITTE WEG" über ein auffällig hohes Aktionismus-Potenzial, die strikteste Organisation und eine rigorose rechtsextremistische Ideologie. Insofern ist die Kleinstpartei für aktive insbesondere am Neonationalsozialismus ausgerichtete Rechtsextremisten anschlussfähig. "DER DRITTE WEG" stellt damit weiterhin in erster Linie eine Auffangstruktur für Hardcore-Rechtsextremisten dar. Mit der Ausnutzung des Parteienstatus sollen staatliche Sanktionsmaßnahmen erschwert werden. 96 Vgl. Revolution auf Sendung: #34 - Im Gespräch mit Peter Steinborn von Metapol, 27.08.2020 (letzter Zugriff am 22.02.2021). 97 Für weiterführende Informationen zu "Metapol / Gegenstrom" siehe Verfassungsschutzbericht des Landes Brandenburg 2018, S. 51 ff. 44 3.3 Parteiunabhängige Strukturen 1: Kameradschaften Sitz / Verbreitung Kameradschaften sind eher im nördlichen Brandenburg vertreten. Gründung / Bestehen Kameradschaften entstanden als Reaktion auf Verbote rechtsextremistischer Organisationen in den 1990er Jahren. Rechtsextremisten glaubten, dass sie sich durch diese Art der Zusammenschlüsse einem vereinsrechtlichen Verbotsverfahren entziehen könnten. Struktur / Repräsentanten Der Wirkungskreis von Kameradschaften ist für gewöhnlich lokal oder regional begrenzt. Oft spiegelt sich dies in der Namensgebung wider. Innerhalb der Kameradschaften besteht eine Übereinkunft zu gemeinsamer politischer Arbeit auf der Basis rechtsextremistischer Grundorientierung. Ihre Binnenstrukturen sind in der Regel streng hierarchisch aufgebaut. Letztlich ist das Selbstverständnis der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP), die sich nie als Partei, sondern immer als Bewegung verstanden hat, das historische Vorbild für Kameradschaften. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Rechtsextremistische Kameradschaften haben noch 30 Mitglieder im Land Brandenburg. Kurzportrait / Ziele Bei Kameradschaften handelt es sich um Gruppierungen, die insbesondere auf lokaler Ebene agieren. Überwiegend treten sie durch Teilnahme an regionalen oder überregionalen asylfeindlichen Veranstaltungen und Demonstrationen in Erscheinung. Bisweilen sind sie in die Organisation und Durchführung rechtsextremistischer Musikveranstaltungen eingebunden. Ihr Auftreten ist aktionsund erlebnisorientiert. Rechtsbrüche werden billigend in Kauf genommen beziehungsweise bewusst angestrebt. Finanzierung Kameradschaften finanzieren sich in erster Linie aus sich selbst heraus, beispielsweise durch Mitgliedsbeiträge. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Kameradschaften bekennen sich zur Weltanschauung des historischen Nationalsozialismus und zeichnen sich durch die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt aus. Sie überhöhen sich als "politische Soldaten". Vermeintlich Fremde und auch politische Gegner gelten als Feinde, denen das Existenzrecht abgesprochen wird. Damit wird Gewalt gegen "Fremde" beziehungsweise "Feinde" legitimiert. Ideologische Grundlage ist ein rassenbiologisch geprägtes, völkisches Menschenbild und die Vorstellung einer antipluralistischen Gesellschaft sowie eines autoritären Staates. Kameradschaften huldigen nationalsozialistischen Gallionsfiguren wie Horst Wessel und Rudolf Heß. Sie glorifizieren NS-Organisationen wie die Wehrmacht sowie die Waffen-SS und führen Traditionen aus der Zeit des Nationalsozialismus fort. Insbesondere begehen sie "Szene"-Feiertage, die sie als "Heldengedenktage" missdeuten. Die Szene feiert beispielsweise Hitlers Geburtstag. 45 Entwicklungen im Berichtszeitraum "Kameradschaft Märkisch Oder Barnim" (KMOB) Die "Kameradschaft Märkisch Oder Barnim" (KMOB) ist in Bad Freienwalde (MOL) verortet. Bereits 2010 verkündetete die Gruppierung ihre Selbstauflösung. Allerdings sind fortlaufend Aktivitäten feststellbar. Bewusst nutzten die Mitglieder 2014 das Parteienprivileg des Grundgesetzes, um einem möglichen Verbot zu entgehen. Sie traten geschlossen in die Partei "DIE RECHTE" ein und bildeten den "Kreisverband Märkisch-Oderland-Barnim". Auf diese Weise konnten sie ihr Label KMOB beibehalten. Zum 31. Januar 2018 verließen die Mitglieder dann geschlossen wieder die Partei. Seither führt KMOB ihren "Kampf um Deutschland" und gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung erneut als Kameradschaft fort. Trotz dieser Ankündigung sind zumindest öffentliche Auftritte der KMOB im Jahr 2020 nicht bekannt geworden. "Identitärer Aufbruch" Von der Gruppierung "Identitärer Aufbruch" wurden bereits seit Frühjahr 2019 keine Aktivitäten mehr festgestellt. Bewertung / Ausblick Das antiquierte Konzept "Kameradschaft" hat mittlerweile selbst für Brandenburger Rechtsextremisten massiv an Bedeutung verloren. Öffentliche Aktionen und Auftritte finden quasi nicht mehr statt. Nur noch wenige Akteure verfolgen das Konzept und bekennen sich zu den kaum anschlussfähigen Strukturen. Kameradschaften finden kaum noch einen Platz zwischen den streng hierarchisch organisierten Bruderschaften, den eher informellen Netzwerken und den weitgehend lose organisierten "Freien Kräften", die bewusst auf Strukturen verzichten. Unattraktiv sind herkömmliche Kameradschaften unter anderem aufgrund ihrer nicht vorhandenen Massenkompatibilität, ihrer Nichtpräsenz in den sozialen Medien und ihrer geringen Ausstrahlung. Staatliche Repressionen und Vereinsverbote haben zudem in den letzten Jahren Wirkung gezeigt. Andere Organisationsformen - insbesondere im Spektrum der "Neuen Rechten" - haben aufgrund ihres jugendaffinen Auftretens eine höhere Anziehungskraft auf junge Rechtsextremisten. 46 3.4 Parteiunabhängige Strukturen 2: Freie Kräfte Sitz / Verbreitung "Freie Kräfte" sind insbesondere im nordwestlichen Brandenburg vertreten. Gründung / Bestehen Mitte der 1990er Jahre entwickelten Neonationalsozialisten das Konzept der "Freien Kräfte" als Reaktion auf zahlreiche auch gegen Kameradschaften gerichtete Vereinsverbote im Rechtsextremismus. Struktur / Repräsentanten Angehörige "Freier Kräfte" nutzen diese Organisationsform insbesondere, um sich von rechtsextremistischen Parteistrukturen oder eher hierarchisch organisierten Kameradschaften abzugrenzen. Eine Organisationshierarchie mit zentraler Führungsebene wird von "Freien Kräften" bewusst abgelehnt. Untereinander sind "Freie Kräfte" gut vernetzt. Der Begriff kommt bei Neonationalsozialisten zunehmend nur noch unverbindlich zur Anwendung, um das eigene parteiungebundene Konzept zu verdeutlichen. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Rechtsextremistische "Freie Kräfte" haben etwa 30 Mitglieder im Land Brandenburg. Kurzportrait / Ziele Als "Freie Kräfte" bezeichnen sich Neonationalsozialisten, die sich bewusst außerhalb von rechtsextremistischen Parteien, Vereinen und anderen festen Strukturen wie Kameradschaften verorten. Sie sind in der Regel lokal organisiert, rekrutieren neue Mitglieder mit lokalen populistischen Themen, die sie aktionsund erlebnisorientiert vermarkten. Rechtsbrüche werden billigend in Kauf genommen beziehungsweise bewusst angestrebt. Finanzierung Die Finanzierung erfolgt teilweise durch Mitgliedsbeiträge. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit "Freie Kräfte" sind neonationalsozialistisch orientiert und gewaltbereit. Vermeintlich Fremde und politische Gegner gelten als Feinde, denen das Existenzrecht abgesprochen wird. Damit wird Gewalt gegen "Fremde" beziehungsweise "Feinde" legitimiert. Ideologische Grundlage ist ein rassenbiologisch geprägtes, völkisches Menschenbild und die Vorstellung einer antipluralistischen Gesellschaft sowie eines autoritären Staates. Darüber hinaus glorifizieren sie wie rechtsextremistische Kameradschaften nationalsozialistische Verbrecher. Entwicklungen im Berichtszeitraum Folgende "Freie Kräfte" waren im Berichtsjahr 2020 in Brandenburg aktiv: "Freie Kräfte Prignitz (FKP)" Die Mitglieder der "Freien Kräfte Prignitz" (FKP) stammen aus dem Landkreis Prignitz. Sie gründeten sich um das Jahr 2014 herum und erklärten im Juli 2020 ihre formelle Selbstauflösung. Anlass hierfür war ein Anfang Juli 2020 durchgeführter Polizeieinsatz gegen Mitglieder der Gruppierung. Diese sollen Anschlagsplanungen gegen Personen mit Migrationshintergrund und Ausspähversuche von Polizeiangehörigen unternommen haben. 47 Es wurden hierbei Kommunikationsund Speichermedien sowie Hiebund Stichwaffen, Waffenteile und Munition sichergestellt. Trotz erklärter Selbstauflösung ist davon auszugehen, dass die guten und engen Kennverhältnisse der Akteure dieser neonationalsozialistischen Gruppierung fortbestehen. Aktivitäten der Gruppierung sind seit der Auflösung indes nicht mehr öffentlich wahrnehmbar. Bei den FKP handelt sich um einen gut vernetzten Zusammenschluss von ungefähr zwölf Personen, die in der rechtsextremistischen Szene verwurzelt sind. Der Gruppierung steht eine Immobilie zur Verfügung, die sie als Szeneobjekt nutzt. Die ehemalige Gaststätte im Ortsteil Roddan der Gemeinde Legde/Quitzöbel (PR) wurde im Jahr 2017 von einem führenden Akteur der FKP erworben. Zur Etablierung als Veranstaltungsobjekt für Szenefeiern und -treffen wurde die Immobilie umgebaut. Während in der Vergangenheit dort mitunter Liederabende und andere Veranstaltungen durchgeführt wurden, wurden im Jahr 2020 keine Ereignisse festgestellt. Das Objekt war Gegenstand der oben erwähnten polizeilichen Maßnahmen. Die FKP pflegten einen engen Kontakt zu den "Freien Kräften Neuruppin/Osthavelland". Angehörige beider Gruppierungen besuchten gemeinsame Szeneveranstaltungen, wie zum Beispiel rechtsextremistische Demonstrationen und Konzerte. Bis zur Selbstauflösung war die FKP mit einer eigenen FacebookSeite im Internet vertreten. Die dort veröffentlichten Beiträge thematisierten zumeist tendenziös die Flüchtlingsund Migrationspolitik. Zudem waren sie dazu geeignet, zur Hetze aufzustacheln. Darüber hinaus verbreitete die FKP auf Facebook regelmäßig Ankündigungen rechtsextremistischer Veranstaltungen. Bis zu den im Frühjahr 2020 verfügten Maßnahmen zum Schutz vor der Corona-Pandemie riefen die FKP unter anderem zur Teilnahme an dem ursprünglich am 25. März 2020 geplanten "Tag der politischen Gefangenen" auf. Ebenfalls widmeten sie sich typischen Aktivitäten der rechtsextremistischen Szene, wie dem Aktionstag "Schwarze Kreuze". Ließen in der Gesamtschau der letzten drei Jahre die Aktivitäten der FKP etwas nach, so kamen diese ab Ende Juli 2020 aufgrund durchgeführter Polizeimaßnahmen zum Erliegen. "Freie Kräfte Neuruppin/Osthavelland" (FKN/O) Die 2009 gegründeten "Freie Kräfte Neuruppin/Osthavelland" (FKN/O) sind mit etwa 15 Mitgliedern noch immer eine der aktivsten rechtsextremistischen Gruppierung im Nordwesten des Landes Brandenburg. Seit über zehn Jahren sind sie fest in der neonationalsozialistischen Szene der Landkreise OstprignitzRuppin und Havelland verankert. Die Gruppierung ist im Internet aktiv, organisiert eigene Aktionen und nimmt an überregionalen rechtsextremistischen Veranstaltungen teil. Die FKN/O sind mit den "Freien Kräften Prignitz" eng verzahnt. Charakteristisch für die FKN/O ist zudem ihre enge Verbindung zur NPD Brandenburg, insbesondere zum NPD-Kreisverband Prignitz-Ruppin sowie zum Stadtverband Neuruppin (OPR). Der ehemalige NPD-Stadtverordnete, Dave Trick, ist gleichzeitig bei den FKN/O aktiv. Ein Themenschwerpunkt der FKN/O ist die Flüchtlingspolitik. 2020 wurden auf ihrer Facebook-Seite fortwährend Beiträge über Straftaten, die mutmaßlich von Geflüchteten oder Tschetschenen begangen wurden, veröffentlicht. Die Beiträge waren geeignet, Hetze gegen die genannten Personengruppen zu begünstigen. Dies spiegelt sich bei Facebook beispielsweise in den Kommentaren von Nutzern der FKN/OSeite wider, die zu den Beiträgen in extrem abwertender Art und Weise Stellung beziehen. Im Jahr 2020 ist das Kommentaraufkommen allerdings zurückgegangen. Die FKN/O nutzten ihre Facebook-Seite zudem für Teilnahmeaufrufe an rechtsextremistischen Demonstrationen, wie für den "Tag der politischen Gefangenen" am 8. August 2020 in Hennigsdorf (OHV). Darüber hinaus organisierten die FKN/O im Nachgang einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Tschetschenen am 28. Juli 2020 unter der Parole "Abschiebehaft statt Straßenschlacht" eine Versammlung in Rheinsberg (OPR).98 Die Maßnahmen zum Schutz vor der Corona-Pandemie hemmten jedoch die Aktivitäten der FKN/O. In der Gesamtschau sind für das Jahr 2020 somit rückläufige Aktivitäten festzustellen. 98 Vgl. Facebook-Seite FKN/O, 28.07.2020 (letzter Zugriff am 23.02.2021). 48 Bewertung / Ausblick Die "Freien Kräfte" waren in Brandenburg zuletzt wenig innovativ in ihren Aktionsformen. Offensichtlich handelt es sich um ein organisatorisches Auslaufmodell. Ein signifikanter Anstieg der Aktivitäten ist nicht zu erwarten. Dennoch gilt es weiterhin zu beobachten, ob und inwieweit sie ihre extremistischen Aktivitäten wieder verstärken. 49 3.5 Parteiunabhängige Strukturen 3: Bruderschaften Sitz / Verbreitung Bruderschaften sind im gesamten Land Brandenburg vertreten. Bisweilen verfügen Bruderschaften über Immobilien, die für interne Treffen und Feierlichkeiten genutzt werden. Gründung / Bestehen Das Phänomen rechtsextremistischer Bruderschaften ist nicht neu. Bereits 1982 gründete sich beispielsweise in Ostberlin die rockerähnliche Gruppierung "Vandalen - Ariogermanische Kampfgemeinschaft". Sie ist wie eine "Outlaw Motorcycle Gang" (OMCG)99 organisiert und ähnelt durch das einheitliche Tragen von Kutten im Auftreten einem klassischen Rockerclub. Die "Vandalen" sind bis heute in die rechtsextremistische Musikszene eingebunden. In den letzten Jahren treten rechtsextremistische Bruderschaften jedoch verstärkt in Erscheinung und scheinen damit nach und nach die eher rückläufigen Organisationsmodelle "Freie Kräfte" und "Kameradschaft" abzulösen. Struktur / Repräsentanten In Bruderschaften ahmen Rechtsextremisten den klassischen Rocker-Lifestyle nach. Mitglieder tragen bei Szeneveranstaltungen Lederkutten mit entsprechenden Symbolen und Schriftzügen. Häufig werden die hierarchischen Strukturen der Rocker-Clubs übernommen. So haben beispielsweise einige rechtsextremistische "Bruderschaften", wie die "Barnimer Freundschaft", die eigentlich rockertypische Unterscheidung in "Prospects" (Anwärter) und "Fullmember" (Vollmitglieder) übernommen. Rituale, Sprach-Codes, Symbole, Outfits und Strukturen werden demnach kopiert. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Die Bruderschaften im Land Brandenburg haben etwa 85 Mitglieder. Kurzportrait / Ziele Ziel der Rechtsextremisten ist es, durch die Bildung rockerähnlicher Clans einen vermeintlich elitären Zirkel zu schaffen. Die Aufnahme als Mitglied auf Probe und der Aufstieg zum Vollmitglied sind häufig mit bestimmten Ritualen verbunden. Auf diese Weise soll eine verschworene Gemeinschaft von "Brüdern" geschaffen werden, die sich auch rein äußerlich durch das Tragen einer Art Vereinsuniform abgrenzt. Die strengen Hierarchien und klaren Regeln der OMCG passen dabei hervorragend mit den autoritären Führerfantasien mancher Rechtsextremisten zusammen. Das martialische Auftreten und die kameradschaftlich-brüderliche Verbundenheit der Rocker fügen sich in die Welt von Neonationalsozialisten ein. Gemeinsam ist allen rechtsextremistischen Bruderschaften, dass sie gemeinschaftliche, öffentliche Auftritte eher meiden. Kutten und sonstige Erkennungsmerkmale werden insbesondere bei internen Veranstaltungen und Konzerten getragen. Auf öffentliche Machtdemonstrationen, wie es bei OMCG üblich ist, wird für gewöhnlich verzichtet. Dies mag zum einen daran liegen, dass es vielen Gruppierungen schlichtweg an Masse mangelt. Zum anderen treibt die rechtsextremistischen Bruderschaften die Sorge um, durch ihre Uniformierung zu leicht als "Verein" identifiziert und damit Gegenstand vereinsrechtlicher Exekutivmaßnahmen zu werden. 99 Als "Outlaw Motorcycle Gang" (OMCG) werden in erster Linie polizeilich relevante Rockergruppierungen bezeichnet. Vgl. auch: Bundeskriminalamt: Rockerkriminalität, https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/ Rockerkriminalitaet/rockerkriminalitaet_node.html (letzter Zugriff am 24.02.2021). 50 Dies dürfte auch der Grund dafür sein, dass Bruderschaften sich bisher kaum zu öffentlichkeitswirksamen politischen Aktionen durchringen konnten. Die Gemeinschaft soll voll und ganz im Zentrum stehen. Eine gefestigte Ideologie beziehungsweise gezielte Meinungsäußerungen zu speziellen Themen - wie man es von vielen "Freien Kräften" oder Kameradschaften kennt - sind nachrangig. Die Bruderschaften wollen vornehmlich nach innen wirken, weniger nach außen. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Mitglieder rechtsextremistischer Bruderschaften vertreten rassistische, nationalistische und antisemitische Positionen. Szene-Musik ist von besonderer Bedeutung. Sie dient der Rekrutierung und dem Ideologietransfer. Besonders bei rechtsextremistischen Musikveranstaltungen werden menschenverachtende Liedtexte gesungen, die bei öffentlichen Veranstaltungen gelegentlich und bei im Geheimen stattfindenden Konzerten nahezu immer mit offenen Bekundungen zum Nationalsozialismus wie "Sieg Heil"oder "Heil Hitler"-Rufen einhergehen. Die Mitglieder von Bruderschaften nehmen insbesondere an rechtsextremistischen Veranstaltungen mit Erlebnischarakter (beispielsweise Konzerte, Liederabende, Clubabende) teil. Entwicklungen im Berichtszeitraum Folgende Bruderschaften waren im Berichtszeitraum 2020 im Land Brandenburg aktiv: "AO Strausberg" (AO SRB) Die "AO Strausberg" ist eine Gruppierung von etwa zehn Rechtsextremisten aus der Region Strausberg (MOL), die nach dem Verbot der ANSDAPO ("Alternative Nationale Strausberger Dart-, Piercingund Tattoo-Offensive") im Jahr 2005 von einigen ehemaligen Mitgliedern gegründet wurde. Das Clubhaus befindet sich in Strausberg. Unter anderem führt die Gruppe hier Szeneveranstaltungen wie Feiern und Liederabende durch. Gute Kontakte hält die "AO Strausberg" zu rechtsextremistischen Gruppierungen wie der "Barnimer Freundschaft", der "Bruderschaft H8" und den "Vandalen" (Berlin). Die Aktivitäten beschränken sich in der Regel auf den regionalen Raum und auf Szeneveranstaltungen. Öffentliche Auftritte bleiben selten. Im Jahr 2020 sind keine öffentlich wahrnehmbaren Aktivitäten bekannt geworden. "Barnimer Freundschaft" (BF25) Die "Barnimer Freundschaft" (BF25) ist ein Personenzusammenschluss von etwa zehn Rechtsextremisten aus der Region Bernau (BAR). Das Clubhaus der "Barnimer Freundschaft" befindet sich in Wandlitz (OT Klosterfelde, BAR). Die Gruppierung pflegt gute Kontakte zu den rechtsextremistischen Gruppierungen "Northsidecrew", "AO Strausberg", "Bruderschaft H8", "Turonen"/"Garde 20" (Thüringen), "Vandalen" (Berlin) sowie den regionalen NPD-Strukturen im Raum Barnim und Berlin. Die BF25 besteht seit etwa 2006. Die Finanzierung wird vermutlich durch Mitgliedsbeiträge und Erlöse aus Szeneveranstaltungen (zum Beispiel für Aktivitäten im Bereich Security) sichergestellt. An rechtsextremistisch geprägten Veranstaltungen nehmen Mitglieder als Gruppe erkennbar teil. Sie setzen sich durch ihre Lederkutten mit aufgenähten Logos, die uniformähnlich sind, in Szene. So suggerieren sie Macht und Selbstbewusstsein. Im Jahr 2020 hat sich die Gruppierung mit öffentlichen Auftritten jedoch zurückgehalten. Einzelne Mitglieder der BF25 zeigen zudem Interesse an Kampfsport. So wurde beispielsweise eine Veranstaltung im Rahmen des rechtsextremistischen "Kampfes der Nibelungen" in Firmenräumen eines führenden Mitglieds der BF25 ausgerichtet. 51 "Bruderschaft H8" (H8) Die "Bruderschaft H8" ist eine Gruppierung von etwa zehn Rechtsextremisten aus der Region Strausberg (MOL), die nach dem Verbot der "ANSDAPO" von einigen ehemaligen Mitgliedern gegründet wurde. Zu rechtsextremistischen Gruppierungen wie der "Barnimer Freundschaft", den "Vandalen" (Berlin) und den "Turonen"/"Garde 20" (Thüringen) bestehen gute Kontakte. Die H8 finanziert sich vermutlich aus Mitgliedsbeiträgen. Sie verfügt über kein bekanntes Clubhaus. Die Aktivitäten beschränken sich in der Regel auf den regionalen Raum und auf Szeneveranstaltungen. Politische Aktivitäten oder öffentliche Auftritte der Mitglieder wurden 2020 nicht bekannt. "Brigade 8 - Chapter Spreewald" (B8) Die in Schleswig-Holstein gegründete rechtsextremistische Bestrebung "Brigade 8" verfügt über regionale Ableger, die als "Chapter" bezeichnet werden. In Brandenburg existiert seit 2017 das "Chapter Spreewald", das aus über 15 Mitgliedern besteht, welche hauptsächlich aus Frankfurt (Oder) und der Region Cottbus stammen. Das größte und bedeutendste Chapter ist "Eastside" in Mücka (Sachsen). Dort nahm das "Chapter Spreewald" häufiger an Szeneveranstaltungen teil, da es über kein eigenes bekanntes Clubhaus verfügt. "Burgunden Schwedt/Oder" Von den "Burgunden Schwedt/Oder" wurden 2020 keine Aktivitäten festgestellt. "Hammerskin-Nation" (HSN) Die "Hammerskin-Nation" (HSN) ist eine international agierende Organisation, die Ende der 1980er Jahre in den USA gegründet wurde und sich als Elite der rechtsextremistischen Skinhead-Szene versteht. Aktivitäten in Deutschland sind seit Anfang der 1990er Jahre bekannt. Die "Hammerskin-Nation" ist der rechtsextremistischen Musikszene zugehörig und organisiert Konzerte. In Brandenburg existiert seit 2017 mit dem "Hammerskin-Chapter Brandenburg" (HS) eine eigene Untergruppe mit etwa zehn Mitgliedern. Das "Hammerskin-Chapter Brandenburg" nutzt einen Kleingarten in Rathenow (HVL) als Treffpunkt für kleine Veranstaltungen und Feiern. Für größere Events werden unauffällige und "neutrale" Objekte angemietet. In Brandenburg existierte bereits seit 2012 die "Crew 38 Brandenburg" als Supporter-Gruppierung der Hammerskins. 2017 stieg die "Crew 38" zu einem vollwertigen Mitglied der "Hammerskin-Nation" auf. Die Gruppierung darf sich seitdem "Hammerskin-Chapter Brandenburg" nennen und die "Hammerskin"Symbolik tragen. Das Chapter konnte dadurch weitere Kontakte zu rechtsextremistischen Organisationen, Bands und Personen in Deutschland, Europa und vor allem in den USA aufnehmen. Die "Hammerskin-Nation" verfolgt das Ziel, die "weiße Rasse" zu beschützen und alle rechtsextremistischen weißen Skinheads weltweit zu vereinigen. Ihr Symbol der gekreuzten Zimmermannshämmer vor einem Zahnrad steht für die "weiße Arbeiterklasse", die sich dem rassistischen Leitsatz der Bewegung des US-amerikanischen Rechtsextremisten David Lane verpflichtet sieht. Lanes "14 words" lauten: "We must secure the existence of our people and a future for white children".100 Das ideologische Hauptziel ist die "Reinhaltung der weißen Rasse". 100 "Wir müssen die Existenz unseres Volkes und eine Zukunft für unsere weißen Kinder sichern." 52 Die "Hammerskins" finanzieren sich durch Mitgliedsbeiträge und durch Einnahmen aus Musikveranstaltungen. So fand am 12. September 2020 im Land Brandenburg ein "National Officers Meeting" (NOM) statt. Etwa 60 Hammerskins aus dem Bundesgebiet nahmen an dem konspirativ ausgerichteten Treffen teil. Für 2021 ist nicht mit einem Rückgang an Mitgliederzahlen und Aktivitäten der Gruppierung zu rechnen. Die Struktur ist seit Jahrzehnten gefestigt und die Mitglieder sind ideologisch überzeugte Rechtsextremisten. Bisher erzielen die "Hammerskins" jedoch keine besonders hohe Außenwirkung, da sie aufgrund ihres elitären Selbstanspruches zumeist unter sich bleiben. "Kameradschaft Kommando Werwolf" (KSKW) Die "Kameradschaft Kommando Werwolf" (KSKW) rekrutiert sich schwerpunktmäßig aus dem rechtsextremistischen Milieu in Frankfurt (Oder) und Beeskow (LOS). Vermutlich gründete sich die KSKW im Jahr 2010. Ihre Aktivitäten beschränken sich seither auf den regionalen Raum und auf Szeneveranstaltungen. Engere Kontakte und Kennverhältnisse bestehen zur "Barnimer Freundschaft 25", "Brigade 8", "Bruderschaft H8" und "AO Strausberg". Ein wichtiges Betätigungsfeld der Gruppe sind rechtsextremistische Musikveranstaltungen. Zudem unterhält die KSKW Beziehungen zu den rechtsextremistischen Bands "Feuer Frei", "Frontfeuer" und "Projekt 8.8". Die KSKW gehört trotz des Namens "Kameradschaft" zu den rechtsextremistischen Bruderschaften. Auffälliger Weise tragen ihre Mitglieder bei Szeneveranstaltungen die für Bruderschaften typischen Lederkutten mit entsprechenden Symbolen und Schriftzügen. In den letzten Jahren versuchte die KSKW rechtsextremistische Konzerte durchzuführen. Über ein eigenes Szeneobjekt verfügte die Gruppierung im Jahr 2020 nicht mehr. "Märkische Skinheads 88" (MS88) Die "Märkischen Skinheads 88" (MS88) sind seit 2011 bekannt. Die Gruppierung stammt aus der Region Oberhavel. Die etwa zehn Mitglieder umfassende rechtsextremistische Gruppierung ist an der Organisation und Durchführung von szenetypischen Musikveranstaltungen beteiligt. Die MS88 haben Kontakte zu anderen rechtsextremistischen Gruppen, wie der "Barnimer Freundschaft", der "Northsidecrew" und zu rechtsextremistischen Bands wie "Hausmannskost", "D.S.T." (Berlin) sowie "Helle & die RAC'er" (MV). Zudem pflegen die MS88 Umgang zu rechtsextremistischen Liedermachern, wie "Helle" (MV), und zu Szene-Vertrieben, wie "Rebel Records" in Cottbus. Darüber hinaus existieren Verbindungen zu den "Velten Skinheads". Die MS88 finanzieren sich vermutlich durch die Organisation rechtsextremistischer Konzerte und Liederabende. Neben der jährlichen "Whisky & Rebellen"-Musiktour organisierten sie im Jahre 2020 unter anderem ein Konzert für den 1. Mai. Dieses Konzert ist aufgrund der Corona-Pandemie jedoch verschoben worden. Erfahrungsgemäß werden die MS88 weiterhin an Musikveranstaltungen im Land Brandenburg sowie in Sachsen teilnehmen und an der Organisation mitwirken. Bewertung / Ausblick Bruderschaften werden weiterhin ihren festen Platz in der rechtsextremistischen Szene des Landes Brandenburg haben. Mittlerweile haben sich diese Strukturen etabliert. Scheinbar haben die klassischen Rocker-Clubs wie Hells Angels oder Gremium MC kein Problem mit dem Auftreten der Neonationalsozialisten in Kutten. Zukünftig werden diese Gruppierungen in der rechtsextremistischen Szene weiter und verstärkt mitmischen, insbesondere bei der Organisation von rechtsextremistischen Rockkonzerten oder als Security bei Veranstaltungen. 53 3.6 Parteiunabhängige Strukturen 4: Zukunft Heimat e.V. Sitz / Verbreitung Der Verein "Zukunft Heimat e.V." ist in Golßen (LDS) ansässig. Öffentlichkeitswirksam tritt der Verein jedoch zumeist in Cottbus in Erscheinung. Gründung / Bestehen Der Verein wurde im Jahre 2015 unter anderem von Hans-Christoph Berndt gegründet. Struktur / Repräsentanten Der Verein wird eigenen Angaben zufolge von Hans-Christoph Berndt und Anne Haberstroh vertreten. Neben den Straßenprotesten ist er vor allem auf Facebook (etwa 19.000 Abonnenten) und Twitter (ca. 3.900 Follower) aktiv. Des Weiteren verfügt der Verein über einen Instagram-Account (etwa 2.250 Abonnenten) und einen nicht ganz so stark frequentierten Telegram-Kanal (etwa 500 Abonnenten).101 Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Der Verein hat etwa 80 Mitglieder. Kurzportrait / Ziele Ziel des "Zukunft Heimat e.V." (kurz "Zukunft Heimat") ist es, mit Demonstrationen und anderen öffentlichkeitswirksamen Aktionen gegen eine vermeintliche "Überfremdung" Deutschlands und Europas mobil zu machen. Ebenfalls tritt der Verein durch öffentliche Diffamierungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Erscheinung. Der Vereinsvorsitzende Hans-Christoph Berndt, der zugleich die brandenburgische Landtagsfraktion der "Alternative für Deutschland" (AfD)102 leitet, sieht "Zukunft Heimat" als Teil einer Bewegung sowie als Bestandteil eines neurechten Netzwerkes. Hierzu zählen unter anderem der als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestufte Verein "Ein Prozent e.V.", das als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestufte COMPACT-Magazin103 und das rechtsextremistische Szeneobjekt "Die Mühle" in Cottbus.104 Der Verein versucht, breite Teile der Bevölkerung im Raum Cottbus anzusprechen. Mit einem vermeintlich bürgerlichen Auftreten trägt "Zukunft Heimat" dazu bei, rechtsextremistische Inhalte zu normalisieren und gesellschaftlich anschlussfähig zu machen. In einem ersten Schritt soll so eine weitere Entgrenzung des Rechtsextremismus in Form einer dauerhaften Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Kultur im Sinne rechtsextremistischer Ideologie erreicht werden. Hieran anknüpfend sollen letztlich rechtsextremistische Akteure mit der Mitte der Gesellschaft verschmelzen. In der Vergangenheit konnte der Verein sogar einmal rund 3.000 Demonstranten aus verschiedenen rechtsextremistischen und bürgerlichen Milieus mobilisieren und somit die Entgrenzung des Rechtsextremismus vorantreiben. Darüber hinaus veranstaltete der Verein zusammen mit dem rechtsextremistischen Szeneobjekt "Die Mühle" diverse Vortragsveranstaltungen, Stammtische und Feste in Cottbus. An diesen nahmen unter anderem führende Persönlichkeiten des neurechten Spektrums und der AfD105 teil. Hiermit versucht "Zukunft Heimat", die Stadt Cottbus als einen bundesweiten Vernetzungsund Verschmelzungsort für rechtsextremistische Strukturen zu etablieren. 101 Die Abonnentenund Followerzahlen in den Sozialen Medien beziehen sich auf den Stand vom 26.02.2021. 102 Siehe FN 6. 103 Siehe FN 4. Für weitere Informationen zum COMPACT-Magazin siehe zudem Kapitel 3.14. 104 Vgl. YouTube-Video mit Hans-Christoph Berndt vom 02.09.2019 (letzter Zugriff am 13.11.2019). Anmerkung: Das Video unterliegt derzeit einer privaten Zugangsbeschränkung. 105 Siehe FN 6. 54 Finanzierung Der Verein finanziert sich durch Mitgliedsbeiträge und Spenden. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Auf Demonstrationen, Veranstaltungen und im Internet verbreitet der Verein rassistische, antisemitische sowie islamund fremdenfeindliche Thesen. Vor allem Migranten und Geflüchtete werden pauschal als "Invasoren" oder auch als "kriminelle Gäste" diffamiert. Migration wird dabei als "Volksaustausch" verstanden, die in erster Linie dazu diene, die Bevölkerung in Deutschland zu ersetzen. Schlagworte wie "Volksaustausch", "Umvolkung" oder "Volkstod" sind in rechtsextremistischen Kreisen aufgrund des Verschwörungsmythos' des "Großen Austausches" weit verbreitet. Der "Große Austausch" besagt, dass die weiße Mehrheitsbevölkerung aufgrund eines "geheimen Plans" angeblicher "globalistischer Eliten" durch nicht-weiße - vor allem muslimische - Einwanderer gezielt ausgetauscht werden soll. Wie gefährlich die Verbreitung dieses Verschwörungsmythos und der damit einhergehenden Bedrohungsszenarien ist, zeigen rechtsterroristische Anschläge der letzten Jahre. Ein Beispiel hierfür ist der Terrorangriff von Christchurch (Neuseeland), bei dem am 15.03.2019 über 50 Menschen muslimischen Glaubens ermordete wurden. Der Attentäter verbreitete im Internet ein Manifest, welches den Titel "The Great Replacement" - zu Deutsch "Der Große Austausch" - trug. Der Rückgriff auf diesen Verschwörungsmythos hat in der rechtsextremistischen Szene des Landes Brandenburg einen langen Vorlauf. So bediente sich beispielsweise in den beginnenden 2010er Jahren die "Widerstandsbewegung Südbrandenburg" im Rahmen ihrer "Volkstod-Kampagne" dieser Erzählung. Zentrale Akteure der 2012 verbotenen neonationalsozialistischen "Widerstandsbewegung Südbrandenburg", die auch unter dem Namen "Spreelichter" bekannt war, sind bis heute bei "Zukunft Heimat" aktiv. Der Verein versucht die Menschen durch "bürgerliche" Aktionen zu erreichen. Zugleich ist der Verein aufgrund seiner engen Zusammenarbeit mit der AfD106 bestrebt, die eigene verfassungsfeindliche Ideologie ins Parlament zu tragen. Des Weiteren verunglimpfen zentrale Akteure des Vereins "Zukunft Heimat" die freiheitliche demokratische Grundordnung und stellen diese in Abrede. Dabei greifen sie auf geschichtsrevisionistische Vergleiche zurück, um die freiheitliche demokratische Grundordnung zu delegitimieren und zum "Widerstand" gegen die vermeintliche "Diktatur" aufzurufen. Führende Politikerinnen und Politiker demokratischer Parteien werden zu Feindbildern des "deutschen Volkes" erklärt. Exponiertes Symbol dieser aggressiven Ablehnung ist Bundeskanzlerin Angela Merkel, die beispielsweise als "Diktatorin" und "FDJ-Sekretärin" diffamiert wird. Bekannte Politiker werden zudem als "Volksverräter, die für die Morde, Übergriffe und Islamisierung hier in Deutschland verantwortlich sind" oder als "Wiedergeburt von Stasi-Chef Erich Mielke" verächtlich gemacht107. So forderte beispielsweise der Vereinsvorsitzende Hans-Christoph Berndt 2019 öffentlich den "Widerstand fort[zu]setzen, aus[zu]weiten, solange bis wir diejenigen, die Heimat und Identität zerstören, aus ihren Ämtern verjagt haben"108. Dies zeigt zum einem die Ablehnung demokratischer Prozesse, deren Kernbestandteil es ist, politische Amtsträger abzuwählen und nicht zu "verjagen". Zum anderen zeigt sich hier wieder das Narrativ des "Volksaustauschs" und eine vermeintliche Bedrohung der eigenen kollektiven Identität. 106 Siehe FN 6. 107 Vgl. YouTube-Video vom 03.02.2018 (letzter Zugriff am 14.04.2021). 108 Vgl. YouTube-Video mit Hans-Christoph Berndt vom 15.07.2019 (letzter Zugriff am 13.11.2019). Anmerkung: Das Video wurde gelöscht. 55 Ein weiterer Grund für die Beobachtung des Vereins ist die enge Vernetzung und Verschmelzung mit weiteren rechtsextremistischen Strukturen. So engagieren sich führende Köpfe des entgrenzten Rechtsextremismus für den Verein. Hierzu zählen zum Beispiel Neonationalsozialisten der verbotenen Vereinigung "Widerstandsbewegung Südbrandenburg" sowie Vertreter des als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuften "Instituts für Staatspolitik" aus Schnellroda (Sachsen-Anhalt). Ebenfalls treten ehemalige Aktivisten der rechtsextremistischen "Identitären Bewegung"109 für den Verein öffentlich in Erscheinung und unterstützen ihn unter anderem in der Medienarbeit. Zusätzlich erfährt "Zukunft Heimat" breite Unterstützung von Akteuren der formal aufgelösten, rechtsextremistischen AfD110-Parteistruktur "Der Flügel". Diese nutzen Veranstaltungen und Demonstrationen des Vereins zur Verbreitung ihrer rechtsextremistischen Ideologie. Der Verein "Zukunft Heimat" fungiert als länderübergreifendes Scharnier zwischen unterschiedlichen rechtsextremistischen Akteuren: von der gewaltbereiten Hooliganund Kampfsportszene bis hin zu führenden Köpfen des intellektuellen Rechtsextremismus und der AfD.111 Entwicklungen im Berichtszeitraum Im Berichtsjahr 2020 nutzte "Zukunft Heimat" vor allem die Corona-Pandemie und die zu ihrer Bekämpfung damit einhergehenden Beschränkungen, um zu Protesten gegen die parlamentarische Demokratie und ihre Vertreter zu mobilisieren. Im Vergleich zu den früheren Protesten gegen die Flüchtlingspolitik erreichten die Demonstrationen des Jahres 2020 jedoch nicht annährend das gleiche Mobilisierungspotenzial. Selbst ein Auftritt des AfD-Landesvorsitzenden aus Thüringen112, Björn Höcke, brachte am 30. Oktober 2020 nur etwa 350 Personen in Cottbus auf die Straße. Des Weiteren waren im Jahr 2020 Personen aus dem Umfeld des Vereins und der AfD113 an unangemeldeten Versammlungen in Cottbus beteiligt. Beispielhaft sei hier auf eine Aktion am 14. November 2020 in der Cottbuser Innenstadt verwiesen, bei der die Beteiligten Stilelemente der verbotenen "Widerstandsbewegung Südbrandenburg" verwendeten. Begleitet wurde die unangemeldete Versammlung vom rechtsextremistischen Verdachtsfall COMPACT-Magazin.114 Darüber hinaus mobilisierte "Zukunft Heimat" zu überregionalen Demonstrationen der Gruppierung "Querdenken 711"115 in Berlin und Leipzig (Sachsen). Zudem meldeten Vertreter des Vereins einen "Schweigemarsch" am 22. November 2020 in Cottbus an. Das Szeneobjekt "Die Mühle" schloss nach Ausbruch der Corona-Pandemie. In dem Objekt fanden ab März 2020 keine Veranstaltungen mehr statt. 109 Für weitere Informationen zur "Identitären Bewegung" siehe Kapitel 3.7. 110 Siehe FN 6. 111 Siehe FN 6. 112 In Thüringen wurde der AfD-Landesverband bereits im März 2020 als rechtsextremistischer Verdachtsfall vom dortigen Verfassungsschutz eingestuft. 113 Siehe FN 6. 114 Siehe FN 4. 115 Die Organisationsstrukturen von "Querdenken 711" und seiner regionalen Ableger werden vom baden-württembergischen Verfassungsschutz seit Dezember 2020 beobachtet. 56 Bewertung / Ausblick Obwohl die Mobilisierung des Vereins bei Kundgebungen und Demonstrationen gesunken ist, bleibt "Zukunft Heimat" neben dem rechtsextremistischen Verdachtsfall AfD Brandenburg116 einer der zentralen Akteure des entgrenzten Rechtsextremismus in Brandenburg. Der vom Vorsitzenden der AfD-Landtagsfraktion117 geleitete Verein soll als Bewegung neben der Partei politisch mobilisieren und die Bevölkerung ansprechen. Zukünftig ist davon auszugehen, dass der Verein einerseits seine Stellung in der rechtsextremistischen beziehungsweise neurechten Szene festigen wird. Andererseits dürfte "Zukunft Heimat" neben dem "Institut für Staatspolitik"118 weiterhin eine entscheidende Rolle in der Vernetzung, Entgrenzung und letzten Endes der Verschmelzung verschiedener rechtsextremistischer Organisationen einnehmen. 116 Siehe FN 6. 117 Siehe FN 6. 118 Das "Institut für Staatspolitik" wird als rechtsextremistischer Verdachtsfall unter anderem vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachtet. 57 3.7 Parteiunabhängige Strukturen 5: Identitäre Bewegung Deutschland Sitz / Verbreitung Die "Identitäre Bewegung" (IB) ist eine europaweite Bestrebung. Eigenen Angaben zufolge unterhält sie in Deutschland 16 Regionalgruppen. Unterhalb der Regionalgruppen ist die "Identitäre Bewegung" in Ortsgruppen gegliedert.119 Auch wenn im Land Brandenburg aktuell keine feste Ortsgruppe besteht, so sind zumindest Aktivitäten in regionalen Kleingruppen feststellbar. Gründung / Bestehen In Brandenburg ist die "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) seit 2014 aktiv. Struktur / Repräsentanten Die IBD organisiert sich in gut vernetzten Kleingruppen. Diese sind auch in Brandenburg aktiv. Nachdem der ehemalige Regionalleiter der "Identitären Bewegung Berlin-Brandenburg" aus Cottbus fortgezogen ist, gibt es seit 2019 jedoch keine Person mehr, welche die Gruppierung in Brandenburg in der Öffentlichkeit repräsentiert. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Etwa 20 in Brandenburg Kurzportrait / Ziele Die "Identitäre Bewegung" ist ein aktionsorientiertes und stark internetbasiertes Netzwerk, das europaweit aktiv ist. Ihren Ursprung hat sie im "Bloc identitaire", einer aus verschiedenen regionalen Gruppen entstandenen politischen Bewegung in Frankreich, die den "Neuen Rechten" zugerechnet wird. Die Anhänger vertreten ethnopluralistische Ideen. Unter "identitär" verstehen sie, ihre jeweils eigene regionale, nationale und kulturelle Herkunft gegen Einflüsse von außen zu verteidigen und Traditionen zu bewahren. Am 10. Oktober 2012 gründete sich die IBD als Facebook-Gruppe. Knapp fünf Jahre später, am 4. Juli 2017, gab die IB Berlin-Brandenburg die Gründung der Ortsgruppe Cottbus bekannt. In den letzten Jahren wurden europaweit immer wieder Konten der "Identitären Bewegung" und die ihrer bekanntesten Akteure auf Sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter gesperrt. Die YouTube-Kanäle der IBD (26.700 Abonnenten) und der IB Berlin-Brandenburg (2.920 Abonnenten) existieren demgegenüber weiterhin. Der YouTube-Kanal der IB Berlin-Brandenburg wurde jedoch seit zwei Jahren nicht mehr aktualisiert. Die "Identitäre Bewegung" ist ansonsten europaweit auf den Nachrichtendienst Telegram ausgewichen, auf dem sie etwa 8.300 Abonnenten hat.120 Auf Instagram tritt die Gruppierung indes nicht mehr unter ihrem Namen in Erscheinung. Sie betreibt dort aber seit November 2020 unter anderem den Account "heimwaertshessen", auf dem Aktionen der IBD und professionelle Videos verbreitet werden. Finanzierung Die IB Berlin-Brandenburg wurde in der Vergangenheit von dem rechtsextremistischen Verdachtsfall "Ein Prozent e.V." unterstützt. 119 Vgl. Homepage "Identitäre Bewegung": Aktiv werden, ohne Datum (letzter Zugriff am 01.03.2021). 120 Die Abonnentenund Followerzahlen auf YouTube und Telegram beziehen sich auf den Stand vom 01.03.2021. 58 Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Die "Identitäre Bewegung" verbindet einen vehementen systemkritischen Antiliberalismus mit dem Ethnopluralismus. Der Liberalismus wird in seiner Gesamtheit abgelehnt. Statt der bestehenden freiheitlichen demokratischen Grundordnung wird eine identitäre Demokratie gefordert. Ziel der "Identitäre Bewegung" ist die Schaffung ethnopluralistischer Staaten. Die Ideologie des Ethnopluralismus unterscheidet sich im Kern nicht von rassistisch-biologistischen Konzepten. Grundlage des Ethnopluralismus ist vordergründig zwar kein biologischer Rassismus, da hier auf eine Hierarchisierung einzelner Gruppen verzichtet wird. Jedoch umfasst das Konzept die Idee einer untrennbaren und unveränderlichen Einheit zwischen Ethnie, Kultur und Staat. Nach diesem Konzept können Migranten nie Teil eines (Staats-)Volkes werden. Ein solches Konzept verstößt deshalb gegen die Menschenwürde.121 Zur Durchsetzung des Ethnopluralismus propagiert die IB einen Stopp der vermeintlichen Masseneinwanderung und Islamisierung Europas und Deutschlands. Dieses soll unter anderem durch eine Schließung der Grenzen sowie durch eine "Re-Migration", also die "Rückführung" der Migranten in deren "Heimatländer" geschehen. Als legitimes Mittel zur Durchsetzung dieser Forderung gilt der "Identitären Bewegung" gewaltfreier, regelmäßiger Aktivismus. Die Grenzen zwischen gewaltfreiem und gewaltvollem Aktivismus verlaufen bei der "Identitäre Bewegung" jedoch fließend. Ihr Aktivismus geht bewusst an die Grenzen des gewaltfreien Widerstandes. Dabei maßt sie sich, wie beispielsweise 2017 mit der Kampagne "Defend Europe", hoheitliche Aufgaben an. Darüber hinaus verbreitet die IBD, wie eine ganze Reihe rechtsextremistischer Gruppierungen, die Verschwörungserzählung des "Großen Austauschs".122 Darauf hat auch der Attentäter des rechtsextremistischen Terroranschlags von Christchurch (Neuseeland) Bezug genommen. Dieser spendete zuvor dem Kopf der "Identitären Bewegung", Martin Sellner, Geld. Die IBD distanziert sich zwar plakativ vom historischen Nationalsozialismus. Ihre rassistische Doktrin des Ethnopluralismus sowie ihr kollektivistischer Grundsatz, das Individuum mit seinen Menschenrechten der Nation unterzuordnen, sind unvereinbar mit den Werten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. In der fortwährenden IBD-Agitation werden Ausländer und Geflüchtete teilweise pauschal diffamiert und verächtlich gemacht. In der Bevölkerung werden so irrationale Ängste hervorgerufen und Ablehnungen gegenüber Migranten gezielt geschürt. Somit trägt die IBD aktiv zur Schaffung eines fremdenfeindlichen Klimas bei. Ihre Aktionen und Veröffentlichungen sind in der Gesamtschau als rassistisch sowie islamfeindlich zu bewerten. Bundesweit haben mehrere Mitglieder der IBD eine rechtsextremistische Vergangenheit. Die Gruppierung versucht jedoch von Beginn an die Verbindung und Vernetzung einzelner Mitglieder in die neonationalsozialistische Szene zu verschleiern und sich vordergründig von solchen Gruppierungen zu distanzieren. Am 11. Juli 2019 stufte das Bundesamt für Verfassungsschutz die IBD als gesichert rechtsextremistische Bestrebung ein. Diese Entscheidung beruhte insbesondere auf dem rechtsextremistischen Hintergrund einiger Aktivisten der Gruppierung sowie deren Anti-Asyl-Agitation im Zusammenhang mit der Migrationsbewegung. Entwicklungen im Berichtszeitraum Aktuell lassen sich in Brandenburg nur noch IBD-Kleingruppen beobachten. Diese treten kaum öffentlich in Erscheinung und beteiligen sich selten an überregionalen beziehungsweise bundesweiten Aktionen. Im Jahr 2020 wurden lediglich zwei medienwirksame Aktionen in Brandenburg durchgeführt. Im August 2020 fand das Bundeslager der IBD in Großräschen (OSL) statt. Hierbei ließ sich eine Kooperation mit Akteuren des Reichsbürger-Milieus beobachten. So wurde der Veranstaltungsort von einem bekannten brandenburgischen Reichsbürger zur Verfügung gestellt. 121 Vgl. VG Berlin, Beschluss v. 28.05.2020, Az. VG 1 L 97/20, S. 17 f. 122 Für weiterführende Informationen zur Verschwörungserzählung des "Großen Austauschs" siehe das Kapitel zum Verein "Zukunft Heimat e.V." (Kap. 3.6). 59 An dem Bundeslager nahmen führende Köpfe der "Identitären Bewegung" aus Deutschland und Österreich teil. Das professionelle Propagandavideo, welches die "Identitäre Bewegung" anschließend ins Netz stellte, erinnert mehr an neonationalsozialistische Organisationen. Das Video zeigt junge Männer beim Lagerfeuer, beim Fahnenappell, Schwimmen, Abseilen aus mehreren Metern Höhe und beim Nahkampf. Des Weiteren zeigt das Video die Aktivisten im Rahmen von Schulungen, was voraussichtlich den "intellektuellen Charakter" der Gruppierung unterstreichen soll. Auffällig ist zudem die Abwesenheit von Aktivistinnen und die damit einhergehende männerbündische Ästhetik des Videos. Denn bis dahin war die "Identitäre Bewegung" meistens bemüht, ihre "Postergirls"123 zentral mit in Szene zu setzen. Kampfsport als politische Betätigung betreiben unter anderem Extremisten wie die JN, DER DRITTE WEG und bestimmte linksextremistische Gruppierungen. Es handelt sich hierbei um gewaltorientierte Vorbereitungshandlungen für Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner. Das steht im Widerspruch zur vermeintlichen "gewaltfreien" Haltung der IBD. Des Weiteren kam es im Sommer 2020 zu einer Aktion auf dem Potsdamer Universitätscampus. Dort hatten mehrere IBD-Anhänger ein Transparent mit dem Schriftzug "Multikulti ist gescheitert" auf dem Dach eines Universitätsgebäudes angebracht. Das daraus entstandene Video wirkt jedoch wenig professionell. Im Vergleich zum Jahr 2019 kam es zu einem leichten Anstieg der Mitgliederzahlen in Brandenburg. Hintergrund ist der Zuzug von Mitgliedern aus Berlin. In Cottbus hat die IBD mit dem in Szenekreisen bekannten Rapper "Bloody 32" zudem einen Unterstützer, der tief in der rechtsextremistischen Szene vernetzt ist. Bewertung / Ausblick Bundesweit ist im Jahr 2020 ein Rückgang der IBD-Aktivitäten zu verzeichnen gewesen. Letztlich ist das Konzept der Gruppierung gescheitert. Zu keiner Zeit konnte sie bundesweit mehr als 600 Mitglieder an sich binden, weshalb von einer "Bewegung" keine Rede sein kann. Allerdings lässt sich beobachten, dass einige ihrer Akteure aus dem Raum Cottbus sich anderen rechtsextremistischen Strukturen angeschlossen haben. Dies gilt beispielsweise für den rechtsextremistischen Verein "Zukunft Heimat e.V." sowie für die rechtsextremistischen Verdachtsfälle "Junge Alternative für Deutschland" (JA) und "Alternative für Deutschland" (AfD)124. Die Gruppierung versucht mit professionellem Videomaterial (Einsatz von Drohnen) und entsprechender Medienarbeit (Untermalung eigener Filme mit dramatischer Musik, Nutzung von Filtern) gezielt "identitäre Werte" zu vermitteln. Hier werden bewusst Verbindungen zur altgriechischen Mythologie gezogen. So sieht sich die "Identitären Bewegung" einmal mehr in der Tradition der "Männer von Sparta" und verweist in ihrem Propaganda-Video auf die "Hopliten". Diese waren "freie Männer" in der Antike, die ihre Ausrüstung selbst finanzierten und im Kriegsfall bereit waren, ihr Gebiet zu verteidigen. Die Formation, in der die "Hopliten" kämpften, nennt sich "Phalanx", genau wie das in Rostock (Mecklenburg-Vorpommern) ansässige IBD-Bekleidungslabel. 123 Vgl. Fink, Anna Giulia und Katharina Mittelstaedt: Die Postergirls der neuen Rechten,15.04.2018, https://www.derstandard.de/story/2000077899548/die-postergirls-der-neuen-rechten (letzter Zugriff am 22.03.2021). 124 Siehe FN 6. 60 3.8 Parteiunabhängige Strukturen 5: Kampfsportgruppen Sitz / Verbreitung Rechtsextremistische Kampfsportgruppen sind in Brandenburg eher im südlichen Teil des Landes vertreten. Gründung / Bestehen Die gegenwärtig älteste rechtsextremistische Kampfsportgruppierung in Brandenburg stammt aus dem Jahr 2008. Das Phänomen wurde im Verfassungsschutzverbund erstmalig durch Brandenburg beschrieben. Struktur / Repräsentanten Die Anhänger von rechtsextremistischen Kampfsportgruppierungen entstammen häufig dem Fußballhooligan-, Kampfsportsowie dem Securityund Türstehermilieu. Es bestehen Überschneidungen mit Rocker-Gruppen. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer etwa 125 Mitglieder bzw. Anhänger im Land Brandenburg Kurzportrait / Ziele Im rechtsextremistischen Weltbild hat die Vorbereitung auf einen "Endkampf" und den "Tag X" eine besondere Bedeutung. Die Ausübung von Kampfsport entspricht der Überzeugung, sich für den angestrebten Zusammenbruch der staatlichen Ordnung zu wappnen und ist somit Ausdruck einer aggressiv-kämpferischen Haltung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Rechtsextremisten beschwören dabei vermeintliche soldatische Tugenden, wie "Härte", "Unerbittlichkeit", "Selbstüberwindung" und "Wehrhaftigkeit". Sie erheben sich über alle Menschen, die sie als minderwertige Volksfeinde ausmachen und denen sie Angst einflößen wollen. Die vermeintlich rassische Überlegenheit spiegelt sich im nationalsozialistischen Zerrbild des Übermenschen wider. Ein vermeintlicher "Volksgesundungsgedanke" spielt in der Ideenwelt der Rechtsextremisten eine Rolle. Dies äußert sich unter anderem in einer zunehmenden Orientierung an gesunder Ernährung, Bioprodukten bis hin zu einer "Straight Edge"-Lebensweise125; was wiederum Anschluss an bestimmte Teile der Gesellschaft und Jugendkulturen ermöglicht. Finanzierung Rechtsextremistische Kampfsportgruppierungen finanzieren sich durch Mitgliedsbeiträge, Sponsoring und die Organisation von Szeneveranstaltungen. Zusätzliche Einnahmen fallen durch Security-Einsätze sowie Tätigkeiten im Türsteher-Milieu an. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Neben körperlicher Fitness verbinden Rechtsextremisten den Kampfsport mit neonationalsozialistischer Ideologie und vertreten rassistische, fremdenfeindliche und antisemitische Positionen gepaart mit einem hohen Gewaltpotenzial. Um das rechtsextremistische Verständnis von "Männlichkeit" in diesem Kontext zu vermitteln, werden Selbstüberwindung, Härte, Disziplin und Kampfbereitschaft als identitätsstiftende Tugenden des "politischen Soldaten" propagiert. Der "Kampf" wird als ständige Lebensart der deutschen Rasse betrachtet, über den die Zukunftsfähigkeit des deutschen Volkes gesichert werden soll. 125 "Straight Edge" ist ein Lebensstil ohne Alkohol, Zigaretten und sonstige Drogen. 61 Entwicklungen im Berichtszeitraum "Kampfgemeinschaft Cottbus" Die "Kampfgemeinschaft Cottbus" ist eine lose Gruppierung von Rechtsextremisten aus dem gewaltbereiten Hooligan-, Kampfsport-, Securityund Türstehermilieu. Die Mitglieder stammen überwiegend aus Cottbus und dem Landkreis Spree-Neiße. Die Gruppierung besteht aus über 100 Personen. Sie entwickelte sich in Cottbus und Umgebung zum Sammelbecken für Rechtsextremisten mit hohem Gewaltpotenzial. Nach der Auflösung von "Inferno Cottbus" Mitte des Jahres 2017 suchten deren führende Akteure neue Betätigungsfelder und vertieften ihre schon vorhandene Allianz mit den teilweise aus dem Türsteherund Securitymilieu stammenden Protagonisten des rechtsextremistischen Labels "Black Legion". Bilder und Texte der "Kampfgemeinschaft Cottbus" werden über dieses Bekleidungslabel veröffentlicht. Kampfund Kraftsport stehen bei den rechtsextremistischen Akteuren nicht nur für Wehrhaftigkeit und den Kampf gegen den politischen Gegner, sondern dienen ebenfalls der Rekrutierung. Die Gruppierung konzentriert sich derzeit im Hintergrund auf die Verbreiterung und wirtschaftliche Verfestigung in der Region. Vermutlich nicht beabsichtigtes Aufsehen erregten im Jahr 2020 der Kauf einer Gaststätte sowie die Pacht eines Hotels durch Szeneangehörige im touristisch geprägten Burg (Spreewald) (SPN). Die Immobilien, teilweise durch eine Sparkasse vollfinanziert, wurden durch Szeneangehörige frequentiert. Sie sind, neben anderen Geschäften, Teil eines wirtschaftlichen Netzwerks, welches zusehends wächst und dabei immer undurchsichtiger wird. Northsidecrew Die "Northsidecrew" (NSC) ist ein rechtsextremistischer Kampfsportverein. Die Gruppierung hat sich vermutlich Ende des Jahres 2019 vergrößert und einen Ableger in der kleinen Ortschaft Gröden (EE) gegründet. Neben der bekannten ehemaligen Diskothek "Players" in Lübben (LDS) betreibt die NSC in Gröden (EE) ebenfalls eigene Trainingsund Clubräume. Durch den Aufwuchs gehören der Gruppierung nun knapp 20 Personen an. Die NSC ist in der regionalen rechtsextremistischen Szene Südbrandenburgs besonders mit der rechtsextremistischen Fußballhooligan-Szene sowie darüber hinaus beispielsweise mit der "Barnimer Freundschaft" und den "Märkischen Skinheads 88" gut vernetzt. Weiterhin verfügt sie über gute Kontakte in der europäischen rechtsextremistischen Kampfsportszene. Der Verein führt in unterschiedlichen Abständen Szene-Veranstaltungen in seinen Trainingsräumen mit mehreren Dutzend Teilnehmern durch. Durch die Gründung des Ablegers in Gröden (EE) rücken die rechtsextremistischen Szenen Südbrandenburgs und Nordsachsens vermutlich noch enger zusammen. Dadurch, dass der Ableger sogar bereits über eine Immobilie verfügt, besteht die Gefahr der Etablierung eines weiteren rechtextremistischen Hotspots in der Region. 62 Bewertung / Ausblick Es ist davon auszugehen, dass sich das Aggressionspotenzial von Rechtsextremisten, die in körperlicher Auseinandersetzung geschult sind, zunehmend erhöht. "Kämpfe ohne Regeln" können zu einer Enthemmung der Gewalt führen. "Tag X"-Phantasien und die Vorstellungen eines vermeintlichen "Volkstodes" können insbesondere in dieser Szene zu einem aggressiven Handlungsdruck bis hin zu schweren Straftaten führen. Zudem nutzen Rechtsextremisten den Kampfsport als Rekrutierungsfeld für Jugendliche. Darüber hinaus haben sich Kampfsportveranstaltungen zu Großevents der Szene entwickelt. Ein Teil der Erlöse wird für Szeneveranstaltungen zur Verfügung gestellt. Auf diese Weise entsteht ein szeneinterner Geldkreislauf, welchen es weiterhin zu beobachten gilt. Größe und Gewaltpotenzial haben zu einer dominanten Stellung im nicht parteigebundenen rechtsextremistischen Spektrum Südbrandenburgs geführt. 63 3.9 Weitgehend unstrukturiertes Personenpotenzial Sitz / Verbreitung Das weitgehend unstrukturierte Personenpotenzial ist im gesamten Land Brandenburg verbreitet. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer 1.585 Personen im Land Brandenburg Kurzportrait / Ziele Das weitgehend unstrukturierte rechtsextremistische Personenpotenzial umfasst in Brandenburg rund 1.585 Personen. Die Zusammensetzung ist sehr heterogen. Hierunter fallen alle organisationsungebundenen Rechtsextremisten, wie zum Beispiel subkulturell geprägte Rechtsextremisten, Gewalttäter, Internet-Aktivisten, die keiner Organisation zugeordnet werden können, rechtsextremistische Skinheads, regelmäßige Besucher von rechtsextremistischen Demonstrationen oder Konzerten sowie Personen in informellen Kleinstgruppen, die keine Außenwirkung entfalten. Das weitgehend unstrukturierte Personenpotenzial bildet folglich keine geschlossene Szene. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Personen, die dem weitgehend unstrukturierten Personenpotenzial zugeordnet werden, sind zumeist (wiederholt) durch rechtsextremistische (Gewalt-)Straftaten oder durch die Teilnahme an rechtsextremistischen Veranstaltungen, wie Szenekonzerten und Demonstrationen, in Erscheinung getreten. Personen, die im Internet durch fremdenfeindliche, menschenverachtende und rassistische Äußerungen auffallen oder die sich offen zum Nationalsozialismus bekennen, werden hierunter gefasst. Aus Sicht der Sicherheitsbehörden geht vom weitgehend unstrukturierten Personenpotenzial eine besondere Bedrohung aus, da Personen aus diesem Spektrum überproportional häufig (Gewalt-)Straftaten begehen. Die fehlende Anbindung an feste Strukturen erschwert die Beobachtung dieser Personengruppe. Eine hohe anlassbezogene Gruppendynamik ist kennzeichnend. Das weitgehend unstrukturierte Personenpotenzial ist ein Nährboden für radikalisierte Einzeltäter. Entwicklungen im Berichtszeitraum Anhaltend hohe Zahlen bei politisch motivierten (Gewalt-)Straftaten sowie rechtsextremistisch beeinflusste Demonstrationen, zum Beispiel gegen die Corona-Schutzmaßnahmen, ließen das Personenpotenzial im weitgehend unstrukturierten Rechtsextremismus im Jahr 2020 erneut anwachsen. Besonderen Vorschub leisteten hierfür rechtsextremistische Verschwörungsideologen. Diesen stand während der Corona-Pandemie eine größere Bühne zur Verfügung. Bewertung / Ausblick Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen ist davon auszugehen, dass das unstrukturierte Personenpotenzial nicht weiter anwachsen wird. Es droht vielmehr eine Strukturierung der Szene durch diverse Agitatoren. Diese nutzen die durch die Pandemie bedingten Ängste aus, um in sozialen Netzwerken und auf Demonstrationen die Demokratie zu delegitimieren und für ihre verfassungsfeindlichen Ziele Personal zu rekrutieren. Unabhängig davon werden Teile des unstrukturierten Personenpotenzials ferner durch rechtsextremistische Konzerte und Großveranstaltungen über viele Jahre lose in der Szene gehalten. Das Internet bietet Rechtsextremisten, die dem weitgehend unstrukturierten Personenpotenzial zugerechnet werden, eine offene und kaum zu kontrollierende Bühne für menschenverachtende und rassistische Hass-Kommentare. Solche Formen der Onlineradikalisierung bergen die große Gefahr, rechtsextremistische Gewaltphantasien real werden zu lassen. 64 3.10 Rechtsextremistische Hassmusik Sitz / Verbreitung Rechtsextremistische Hassmusiker sind vor allem im Süden und im Osten des Landes Brandenburg vertreten. Gründung / Bestehen Eine entsprechende Musikszene besteht seit den 1990er Jahren. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer 24 Bands (2019: 22 Bands) 18 Liedermacher (2019: 17 Liedermacher) Kurzportrait / Ziele Rechtsextremistische Musik ist das verbindende und identitätsstiftende Element der Szene. Sie ist häufig der erste Berührungspunkt Jugendlicher mit dem Rechtsextremismus. Dabei dient die Musik als Vehikel, um das rechtsextremistische Gedankengut zu transportieren. Die verschiedenen Versatzstücke der Ideologie werden in der Musik in griffigen Parolen und Slogans verpackt. Die Bandbreite der Liedtexte ist entsprechend groß. Sie reicht von antisemitischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Inhalten über germanische Mythologie bis hin zu antidemokratischer und systemfeindlicher Agitation und der Verherrlichung des NS-Regimes. Musik ist Teil einer rechtsextremistischen Erlebniswelt und dient der ideologischen Orientierung ihrer meist jungen Hörer. Von wenigen Liedermachern und Rap-Versuchen abgesehen, wird überwiegend Skinheadmusik und Rechtsrock gespielt. Insbesondere die zumeist konspirativ vorbereiteten und durchgeführten Konzerte haben eine immense Bedeutung für den inneren Zusammenhalt der Szene. Der Musik kommt damit eine gemeinschaftsstiftende Funktion zu. Sie hat sich als probates Lockmittel erwiesen, um neue Anhänger an das rechtsextremistische Weltbild heranzuführen. Zudem sind rechtsextremistische Musikveranstaltungen und der Handel mit Tonträgern sowie Devotionalien eine gute Möglichkeit, Geld für den politischen Kampf einzunehmen. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Musik von Rechtsextremisten dient der Verherrlichung von Gewalt sowie des Nationalsozialismus. Bands sowie Liedermacher verbreiten - teils offen, teils verdeckt - rechtsextremistische, antisemitische sowie fremdenfeindliche Propaganda. Die Musiker hetzen zudem gegen politischen Gegner und stacheln zu Gewalt an. Auf Konzerten kommt es immer wieder zu strafbaren Handlungen. Oft werden verbotene nationalsozialistische Parolen gerufen und Grußformen wie etwa der verbotene Hitler-Gruß gezeigt. Rechtsextremistische Musik ist somit gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet. Entwicklungen im Berichtszeitraum Auch im Corona-Jahr 2020 war die rechtsextremistische Musikszene in Brandenburg einschränkt aktiv. Die Zahl der rechtsextremistischen Bands und Liedermacher hat sich sogar leicht erhöht. Im Jahr 2020 wurden in Brandenburg 24 Bands (2019: 22; 2018: 23) und 18 Liedermacher (2019: 17; 2018: 14) gezählt. Hierbei handelt es sich zunächst um folgende Bands: 65 1. Aryan Brotherhood (A.B.); Potsdam 2. Burn Down; Potsdam 3. Confident of Victory (C.O.V.); OSL 4. Exzess; MOL 5. Frontalkraft (FK); Cottbus 6. Frontfeuer; LOS 7. Feuer Frei; ohne regionale Zuordnung, einige Bandmitglieder kommen aus LOS 8. Handstreich inklusive Bandprojekte Natürlich und Motivation; Potsdam 9. Hausmannskost (HMK); Cottbus 10. Old School Rockerz (Old School Rockers); BAR 11. Projekt 8.8; LOS 12. Raritäten; BAR, vormals Exempel 13. Skrew You; LOS 14. SPN-S; SPN, kurzzeitig Unbeugsam 15. Stahlhelm; TF (wieder aktiv 2020) 16. Stonehammer; LOS 17. Sons of Odin; LOS 18. Skindogs; LOS 19. Uwocaust und Helfershelfer beziehungsweise Uwocaust und RAConquista inklusive Bandprojekt Blutrein; Potsdam, vormals Uwocaust und alte Freunde 20. Volkstroi; LOS 21. Werwölfe Brandenburgs; ohne regionale Zuordnung (Neuaufnahme für 2020) 22. Wutbürger; BAR 23. Band aus Südbrandenburg; OSL 24. Band aus dem Landkreis LOS Von folgenden aus Brandenburg stammenden Liedermachern wurden 2020 Aktivitäten festgestellt: 1. AK - Solingen (47); Cottbus 2. Anna; Südbrandenburg 3. Björn (teilweise Brusi oder Herr B.!); Frankfurt (Oder) 4. Bloody 32; Cottbus 5. Brenner; SPN 6. Fylgien; UM 7. Griffin; LOS 8. Hähnel beziehungsweise Jörg Hähnel; TF 9. Hotte; ohne regionale Zuordnung 10. Martin; Potsdam 11. Luitgard; ohne regionale Zuordnung 12. Der M.; Frankfurt (Oder) 13. Paul (teilweise Bartender IB); Cottbus 14. Paladin; MOL 15. Son of the Wind (S.o.W.); BAR 16. Sten; Cottbus 17. Liedermacher aus Südbrandenburg 18. Liedermacher aus der Uckermark; (Neuaufnahme für 2020) 66 Obwohl Rockmusik noch immer das bestimmende Genre innerhalb der rechtsextremistischen Hassmusik ist, haben in den letzten Jahren Rap und Hiphop an Bedeutung gewonnen. Wie schon in den vergangenen Jahren machte 2020 etwa der Rapper "Bloody 32" unverändert weiter Musik. Seine Lieder werden durch das in Cottbus ansässige Label "Sub Version Production" an die Hörerschaft verbreitet. "Sub Version Production" erfährt dabei Unterstützung vom rechtsextremistischen Musiklabel "Rebel Records" und vom Textillabel "Black Legion Wear" (beide Cottbus). Ein Beispiel für den hohen Stellenwert des Rechtsrocks innerhalb der Szene ist die aus Werneuchen (BAR) stammende Band "Wutbürger". Der brandenburgische Verfassungsschutz machte im November 2019 erstmals auf den rechtsextremistischen Charakter der "Wutbürger" aufmerksam.126 Anschließend kam es zu weiteren Personalveränderungen in der Band. So gelang es den "Wutbürgern" im Jahre 2020 mehrere Rechtsextremisten mit langjähriger Musikerfahrung zu verpflichten, weshalb die Personalrochaden eindeutig als Professionalisierung und ideologische Verfestigung zu bewerten sind. Entsprechend selbstbewusst kündigt die Band auf ihrer Webseite an: "Wir schießen scharf - mit unser'n Liedern".127 Vor allem wegen der Beschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie und wegen des anhaltend hohen Drucks der Sicherheitsbehörden blieben die Konzertaktivitäten der rechtsextremistischen Szene im Jahr 2020 auf einem sehr niedrigen Niveau. Letztlich konnte im Land Brandenburg nur ein Konzert (2019: 4, 2018: 4) durchgeführt werden. 2020 wurden keine Konzerte im Vorfeld verhindert (2019: 3; 2018: 2). Zudem wurde ein geplantes Konzert aufgrund der pandemiebedingten Beschränkungen von den Organisatoren selbst abgesagt. Szenekonzerte 2020 im Land Brandenburg Am 1. Februar 2020 fand im Landkreis Oberspreewald-Lausitz ein Konzert mit etwa 150 Teilnehmern statt. Hierbei traten mehrere Bands auf. Im Oktober 2020 sollte ein rechtsextremistisches Konzert im Süden des Landes Brandenburg stattfinden. Aufgrund der pandemiebedingten Beschränkungen wurde das Konzert von den Organisatoren jedoch abgesagt. Ein Ersatzkonzert wurde nicht bekannt. Szenetypische Liederabende 2020 im Land Brandenburg Trotz der Corona-Pandemie fanden im Jahr 2020 in Brandenburg fünf Liederabende statt (2019: 14; 2018: 8): 24. Januar 2020 mit etwa 60 Teilnehmern im Landkreis Oberhavel; Auftritt mehrerer Liedermacher, unter anderem aus Sachsen im Januar 2020 in Südbrandenburg vor 60 Personen mit mehreren Liedermachern im März 2020 in Gramzow (UM); Auftritt eines Liedermachers vor etwa 30 bis 40 Teilnehmern Ende August / Anfang September 2020 in Prenzlau (UM); Auftritte mehrerer Liedermacher vor etwa 40 Teilnehmern Liederabend am 3. Oktober 2020 in Südbrandenburg; Auftritte von "Freilich Frei" (Sachsen) und weiteren Liedermachern vor etwa 50 Teilnehmern 126 Vgl. Brandenburgischer Verfassungsschutz: Rechtsextremist leitet Bauausschuss in Werneuchen, 20.11.2019, https://mik.brandenburg.de/mik/de/start/service/presse/pressemitteilungen/detail/~20-11-2019-rechtsextremist-leitet-bauausschuss (letzter Zugriff am 03.03.2021). 127 Vgl. Homepage "Wutbürger" (letzter Zugriff am 03.03.2021). 67 Wie bereits erwähnt, ist der starke Rückgang von Konzerten und Liederabenden im Jahr 2020 auf die mit der Corona-Pandemie einhergehenden Beschränkungen zurückzuführen. Vor diesem Hintergrund wich die rechtsextremistische Szene vereinzelt auf kleine Privatfeiern mit musikalischer "Untermalung" aus. So trat im Mai 2020 beispielsweise ein rechtsextremistischer Liedermacher in der Uckermark vor einem kleinen Publikum auf.128 Zudem gaben am 25. September 2020 in Templin (UM) mehrere rechtsextremistische Musiker zum 40. Geburtstag eines bekannten brandenburgischen Liedermachers ein kleines Konzert. Vor den pandemiebedingten Beschränkungen konnten brandenburgische Rechtsextremisten aus den Landkreisen Spree-Neiße, Cottbus und Oberhavel jedoch noch ein Konzert am 18. Januar 2020 in Staupitz (Sachsen) durchführen. Daran nahmen bis zu 230 Besucher teil. Unter anderem trat die brandenburgische Band "Confident of Victory" (OSL) auf. Darüber hinaus fand nach einer Lockerung der pandemiebedingten Beschränkungen am 12. September 2020 in Thüringen ein szenebekannter "Liederabend für kranke Kinder und deren Angehörige" statt. Hieran beteiligten sich die Band "Frontalkraft" sowie der Liedermacher "Sten" (beide Cottbus). Dieser Liederabend fand in den vergangenen Jahren immer wieder mit Unterstützung aus dem Land Brandenburg statt. Auf der Veranstaltung soll sich namentlich bei "OPOS Records" (OSL), "Rebell Records" (Cottbus), "Toitonicus" (HVL), "Marci" (MOL), "Paladin" (MOL), "Fylgien" (UM) und "Frontalkraft" (Cottbus) bedankt worden sein.129 Abschließend bleibt anzumerken, dass die rechtsextremistische Bruderschaft "Märkische Skinheads 88" (MS88; OHV) auch 2020 an der Organisation rechtsextremistischer Konzerte und Liederabende beteiligt war. Neben der jährlichen "Whisky & Rebellen"-Musiktour organisierten sie im Jahre 2020 unter anderem ein Konzert für den 1. Mai. Es wurde jedoch aufgrund der Corona-Pandemie verschoben. Gleiches galt für ein auf den 19. Dezember 2020 terminiertes Konzert der Cottbuser Band "Confident of Victory". Auch die Produktion neuer Tonträger (einschließlich der Beteiligung an Tonträgern anderer Bands und an CD-Samplern) ist im Jahre 2020 mit 13 Veröffentlichungen (2019: 18; 2018: 10) gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen. Lfd. Nr. Bandname Titel Art Hersteller 1 Aryan BrotherGesunder Hass CD PC Records (Chemnitz, hood Sachsen) 2 Bloody 32 Lockdown EP/ Sub Version Production Mini (Cottbus) CD 3 Bloody 32 Die frühen Jahre - Kapitel CD Sub Version Production Eins (Cottbus) 4 Handstreich Fehler CD PC Records (Chemnitz, Sachsen) 5 Fylgien Seelenerwachen CD PC Records (Chemnitz, Sachsen) 6 Projekt 8.8 Gott mit uns CD PC Records (Chemnitz, Sachsen) 7 Oldschool Rockerz Hinterhof RAC 'n Roll (Live) CD unbekannt 128 Das Veranstaltungsformat entspricht nicht den Definitionen eines "Liederabends" im Sinne des Verfassungsschutzes. 129 Vgl. Telegram-Kanal Fylgien, 16.10.2020 (letzter Zugriff am 03.03.2021). 68 8 Stahlhelm Vom Blute Rein CD Stahlhelm Records Eigenproduktion 9 Wutbürger Meilenstein CD Sub Version Production (Cottbus) 10 Uwocaust und Alte Blutgruppe CD PC Records (Chemnitz, Freunde Sachsen) 11 unter anderem mit Never say die (Sampler) CD PC Records (Chemnitz, Uwocaust und HelSachsen) fershelfer, Skrew You 12 unter anderem mit Sampler Punikoff hört rein CD OPOS Records (LinFeuer Frei Vol. 2 (Sampler) denau, OSL) 13 unter anderem mit Hoffnungsträger II (Sampler) CD SLV Verlagswesen Frontfeuer, Werwölfe Brandenburgs Der Rückgang der Tonträgerproduktionen in 2020 hatte jedoch keinen Einfluss auf die Qualität und Schärfe, mit der rechtsextremistische Musiker ihre menschenverachtende Ideologie in ihren Texten transportieren. Beispielhaft sei hierfür auf die oben aufgeführte CD "Gesunder Hass" der Band "Aryan Brotherhood" aus Potsdam verwiesen. Dieser 2020 erschienene Tonträger wird von "PC Records" aus Chemnitz (Sachsen) wie folgt beworben: "Aggressive und doch extrem gemütliche 'hau drauf' Musik, so melden sich 'AB' nach 3 Jahren zurück. [...] Passend dazu 'wetzt Uwocaust die Messer', oder genauer gesagt seine Stimmbänder, denn er verzichtet auf die kleinen Sentimentalitäten vergangener Veröffentlichungen und besinnt sich wieder auf die derbe Lyrik alter Tage. Eine kleine Priese Wahnsinn, dunkler Humor und eine große Portion Wut, so lassen sich die Texte wohl am besten beschreiben [...] also VORSICHT! Diese angriffslustige Produktion steht bereit, nicht nur eurer Nachbarschaft den Schlaf zu rauben, also Regler auf ANSCHLAG!" Bereits der Titel des Tonträgers und die Wortwahl der Werbung machen klar, an welche Käuferschicht sich die Musik richtet. Die Band "Aryan Brotherhood" will mit ihren rechtsextremistischen und gewaltbereiten Texten eindeutig die neonationalsozialistischen Teile der Szene ansprechen. Wie im oben genannten Beispiel von "Wutbürger" interpretiert ebenso "Uwocaust" - Sänger der Band "Aryan Brotherhood" - Musik und Texte als Waffe ein. Gezielt werden Stimmbänder als Messer bezeichnet und Lautstärkeregler als Anschlag tituliert. Die unmissverständlich am Nationalsozialismus ausgerichtete Ideologie von "Aryan Brotherhood" wird unter anderem am vierten Lied des besagten Tonträgers deutlich. Dieses trägt den Titel "W.A.W.", welches in der rechtsextremistischen Szene eine weitverbreitete Abkürzung für die Chiffre "Weißer Arischer Widerstand" ist. Hiermit einhergehend werden in dem Lied die rassistischen "Volk und Vaterland" - Fantasien der Neonationalsozialisten bedient. Wie dem im Booklet abgedruckten Text zu entnehmen ist, werden diejenigen Personen, die zu einer vermeintlichen "weißen arischen Gemeinschaft" gehören, dazu aufgerufen, gewalttätigen Widerstand gegen das bestehende politische System zu leisten. Dass dieser Widerstand einen klaren ideologischen Bezug zum Nationalsozialismus haben soll, wird in dem Booklet überdies an einem Bild eines jungen Mädchens deutlich, die eine Schirmmütze der Wehrmacht trägt. 69 Die Produktion und der Vertrieb von Tonträgern erfolgen meist über rechtsextremistische Musiklabels. Sie stellen Aufnahmetechnik zur Verfügung und verkaufen Tonträger über das Internet und in Ladengeschäften. Wie in den letzten Jahren waren "PC Records" in Chemnitz (Sachsen) und "Rebel Records" mit dem Ladengeschäft "The Devils Right Hand Store" in Cottbus für die brandenburgische Szene ein wichtiger Auflaufpunkt. Ein weiterer einflussreicher Vertrieb ist "One People One Struggle Records" (OPOS Records) in Lindenau (OSL). Zuletzt ist mit Sub Version Production aus Cottbus ein weiterer Vertrieb dazu gestoßen. Folgende rechtsextremistische Vertriebsund Tonträgerproduktionsstrukturen waren 2020 im Land Brandenburg aktiv: Erik & Sons (Königs Wusterhausen, LDS): Textillabel Exzess Records (Strausberg, MOL): Label, Vertrieb Fourth Time Clothing Brand (Teltow, PM): Textillabel KOAL (Südbrandenburg): Kleinhändler K.S. Versand (Knochensack) (Steinhöfel vormals Bad Saarow, LOS): Vertrieb Opos Records mit Textillabel "Greifvogel Wear" (Lindenau, OSL): Label, Vertrieb Rebel Records mit Textillabel "Black Legion Wear" sowie dem Sondervertrieb "18Vinyl" (Cottbus): Label, Vertrieb, Ladengeschäft ("18Vinyl" Neuaufnahme für 2020) Sub Version Production (Cottbus): Label, Vertrieb Superbolle (Bestensee, LDS): Vertrieb Neben dem bereits benannten Vertrieb "PC Records" aus Chemnitz (Sachsen) soll abschließend mit dem "SLV Verlagswesen" ein weiteres rechtsextremistisches Label für Tonträger benannt werden, die zwar nicht in Brandenburg ansässig ist, aber dennoch Hassmusiker aus Brandenburg verlegt. Ideologisch ist die 2020 beim "SLV Verlagswesen" erschienene CD "Hoffnungsträger II" ebenso neonationalsozialistisch ausgelegt, wie der oben dargestellte Tonträger "Gesunder Hass" von "Aryan Brotherhood" (Potsdam). Auch das "SLV Verlagswesen" bedient sich bei seinen Produkten nationalsozialistischer Symbolik. Beispielhaft sei auf das Hakenkreuz im Logo sowie den "SS-Totenkopf" auf dem CD-Cover zu "Hoffnungsträger II" verwiesen. An dem Sampler beteiligten sich mit "Frontfeuer" (LOS) und "Werwölfe Brandenburgs" zwei Bands aus dem Land Brandenburg. Bewertung / Ausblick Rechtsextremistische Musik bleibt selbst in diesem schwierigen Corona-Jahr 2020 ein starkes Bindemittel in der rechtextremistischen Musikszene. Konzerte werden jedoch ein wichtiger Bestandteil der rechtsextremistischen Erlebniswelt bleiben und nach Überwindung der Pandemie wieder deutlich zunehmen. Denn es besteht ein großer Nachholbedarf an Veranstaltungen, die das "Gemeinschaftsgefühl" stärken und nebenbei Geld in die Kassen spielen. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass auch der Trend zur Produktion rechtsextremistischer Tonträger weiter anhalten wird. Gerade unter Pandemiebedingungen stellt der Verkauf von CDs eine besonders wichtige Einnahmequelle für die rechtsextremistische Szene dar. Mit Blick auf die Einwohnerzahl kommt aus Brandenburg noch immer die wohl umtriebigste rechtsextremistische Hassmusik(er)szene Deutschlands. Die Zahl der Bands bewegt sich seit Jahren konstant auf einem hohen Niveau. Parallel wächst die Zahl der Liedermacher stetig. Nach wie vor ist die Gefahr des Verbots beziehungsweise der Konzertauflösung hoch. Dieses führt zu enormen Verlusten der Organisatoren. Daher ist seit einigen Jahren grundsätzlich eine deutliche Zunahme von Liederabenden festzustellen. Sie sind mit weniger Aufwand vorzubereiten und durchzuführen. Die Gefahr finanzieller und materieller Verluste durch Verbote oder Konzertauflösungen ist hier deutlich geringer. 70 Hinzu kommt im Land Brandenburg eine breit aufgestellte Label-Struktur, die beständig für TonträgerNachschub sorgt. Hier nimmt Brandenburg also für die gesamte rechtsextremistische Szene Deutschlands eine gefährliche Sonderrolle ein. Es ist mit seinen Bands, Liedermachern und Labels quasi zentraler Taktgeber für das Hassmusikgeschehen. Hieran hat auch die Corona-Pandemie nichts geändert. 71 3.11 Immobilien der rechtsextremistischen Szene Politische Arbeit und der Kontakt innerhalb der Szene gestalten sich mit einer eigenen Immobilie deutlich leichter. Extremistische Parteien und Gruppierungen sind immer auf der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten oder Grundstücken, die sich möglichst im Eigentum eines Anhängers oder eines Sympathisanten befinden. Derartige Liegenschaften dienen in erster Linie dem Aufbau und der Verfestigung der Szene-Infrastruktur. Die Anforderungen an die Objekte sind vielfältig und unterscheiden sich je nach Anlass. Bei der vorliegenden Erfassung fanden nur Immobilien Berücksichtigung, bei denen Rechtsextremisten über eine uneingeschränkte grundsätzliche Zugriffsmöglichkeit verfügen, etwa in Form von Eigentum, Miete, Pacht (das heißt Eigentumsoder Besitzverhältnis) oder durch ein Kennund Vertrauensverhältnis zum Objektverantwortlichen. Weitere Erfassungskriterien sind die politisch zielund zweckgerichtete sowie die wiederkehrende Nutzung durch Rechtsextremisten. Diese Kriterien sind bundesweit abgestimmt.130 Bad Freienwalde (MOL) Der ehemalige Vorsitzende des mittlerweile aufgelösten Landesverbandes der rechtsextremistischen Kleinpartei "DIE RECHTE" besitzt in Bad Freienwalde (MOL) ein Einfamilienhaus mit ausgebautem Nebengelass. Diese Räumlichkeit wird szeneintern als "Sturmlokal" bezeichnet. Es dient samt Grundstück der "Kameradschaft Märkisch Oder Barnim" als Treffort und für Szeneveranstaltungen. Cottbus Der "Bürgertreffpunkt e.V." unterhielt im Jahr 2020 das Ladenlokal "Die Mühle" in der Cottbuser Innenstadt. Hier fanden rechtsextremistische Veranstaltungen, insbesondere Vorträge von Vertretern der "Neuen Rechten" und vom rechtsextremistischen Verein "Zukunft Heimat", statt. Cottbus In Cottbus hat das rechtsextremistische Musiklabel "Rebel Records" seinen Sitz. Der Betreiber unterhält unter selbiger Adresse zudem den Szeneladen "The Devils Right Hand Store", in dem unter anderem die rechtsextremistische Bekleidung der Marke "Black Legion" verkauft wird. Gröden (EE) Ein Ableger der rechtsextremistischen Kampfsportgruppierung "Northsidecrew" unterhält in Gröden (EE) Clubund Trainingsräume, die neben dem Kampfsporttraining für Szene-Veranstaltungen genutzt werden. Königs Wusterhausen (LDS) Das rechtsextremistische Bekleidungslabel "Erik & Sons" hat in Königs Wusterhausen (LDS) seinen Sitz und vertreibt von dort seine Bekleidung. Legde/Quitzöbel OT Roddan (PR) Die ehemalige Gaststätte in dem kleinen Ortsteil Roddan der Gemeinde Legde/Quitzöbel (PR) wurde von Mitgliedern der "Freien Kräfte Prignitz" zu einem Veranstaltungsobjekt für Szenefeiern und -treffen umgebaut. Am 3. Juli 2020 fanden hier polizeiliche Durchsuchungsmaßnahmen statt. In deren Folge löste sich die Gruppierung am 20. Juli 2020 selbst auf. 130 Vgl. Deutscher Bundestag: Drucksache 19/10043 vom 09.05.2019, S. 2. 72 Lindenau (OSL) Das rechtsextremistische Musiklabel "OPOS - Records" hat seinen Sitz in einer Gaststätte im Ort Lindenau (OSL). Beide Geschäfte werden von einem bekannten Rechtsextremisten geführt. Lübben (LDS) Der rechtsextremistische Kickbox-Verein "Northsidecrew" unterhält in Lübben (LDS) in der ehemaligen Diskothek "Players" seine Trainingsund Clubräume. Das Objekt wurde auch im Jahr 2020 für Feiern mit rechtsextremistischem Charakter genutzt. Rathenow (HVL) Bei der Liegenschaft in Rathenow (HVL) handelt es sich um einen Kleingarten, der wiederholt durch die lokale rechtsextremistische Szene für Veranstaltungen, wie interne Feiern oder Liederabende, genutzt wird. Steinhöfel (LOS) In der Ortschaft Steinhöfel (LOS) hat der rechtsextremistische "Knochensack Versand" seinen Geschäftssitz. Strausberg (MOL) In Strausberg (MOL) betreibt die rechtsextremistische Gruppierung "AO Strausberg" ihr Clubhaus in einem Garagenkomplex, in welchem Szenefeiern und Clubabende veranstaltet werden. Wandlitz OT Klosterfelde (BAR) Im Wandlitzer Ortsteil Klosterfelde (BAR) unterhält die rechtsextremistische Gruppierung "Barnimer Freundschaft" ihr Clubhaus auf einem ehemaligen Industriegelände. Die Immobilie wird weiterhin für Szenefeiern und Clubabende genutzt. So stellte die Polizei am 20. Juni 2020 etwa 35 Rechtsextremisten auf dem Gelände fest, die sich vermutlich zu einer Sonnenwendfeier trafen. 73 VERDACHTSFALL 3.12 Rechtsextremistischer Verdachtsfall: Alternative für Deutschland (AfD) - Landesverband Brandenburg Sitz / Verbreitung Die AfD gliedert sich unterhalb der Bundesebene in Landesund Kreisverbände. Die Bundespartei hat ihren Sitz in Berlin. Der Landesverband Brandenburg hat seinen Sitz in Werder / Havel (PM). Gründung / Bestehen Gründungsdatum des AfD-Landesverbandes Brandenburg ist der 28. April 2013. Seit 2014 ist die AfD im Landtag Brandenburg vertreten. Bei der Landtagswahl 2019 erhielt sie 23,5 Prozent der Zweitstimmen und verfügt derzeit über 23 Abgeordnete. Struktur / Reichweite Landesvorstand der AfD Brandenburg laut Webseite: Vorsitzender: N. N. stellv. Vorsitzende: Birgit Bessin, Daniel Freiherr von Lützow Ehrenvorsitzender: Alexander Gauland (Landesvorsitzender 2014-2017) Ergänzende Informationen: Landesvorsitzender war seit November 2017 Andreas Kalbitz, der als Beisitzer seit 2017 auch dem Bundesvorstand der AfD angehörte. Andreas Kalbitz und Björn Höcke waren - bis zu deren selbsterklärter Auflösung Ende April 2020 - die zentralen Führungsfiguren der erwiesen extremistischen AfD-Teilstruktur "Der Flügel". Am 15. Mai 2020 beschloss der Bundesvorstand der AfD die Annullierung der Parteimitgliedschaft von Andreas Kalbitz mit der Begründung, Kalbitz habe beim Eintritt in die Partei seine Mitgliedschaften in rechtsextremistischen Organisationen verschwiegen. Dagegen klagte Kalbitz bislang erfolglos. Seit der Annullierung seiner Parteimitgliedschaft ist der Posten des brandenburgischen AfD-Landesvorsitzenden vakant. Struktur des Landesverbandes: Der Landesverband unterhält in allen 14 Landkreisen und allen vier kreisfreien Städten Kreisverbände. Hinzu kommen 60 Ortsverbände. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Die AfD verfügt in Brandenburg über insgesamt rund 1.700 Mitglieder. Bei etwa 730 ist von einer rechtsextremistischen Einstellung auszugehen.131 Veröffentlichungen Der Landesverband, seine Untergliederungen sowie relevante Mitglieder der Partei sind online mit eigenen Webseiten, in relevanten Internetforen und den Sozialen Medien vertreten. Die AfD Brandenburg verfügt unter anderem über einen eigenen YouTube-Kanal (1.230 Abonnenten), eine Facebook-Seite mit etwa 26.150 Abonnenten und einen Twitter-Kanal mit etwa 2.150 Followern.132 131 Siehe FN 6. 132 Die Abonnentenund Followerzahlen auf YouTube, Facebook und Twitter beziehen sich auf den Stand vom 29.04.2021. 74 VERDACHTSFALL Kurzportrait / Ziele Anfang 2013 hat sich die AfD unter anderem im Zusammenhang mit der Diskussion um den Euro-Rettungsschirm gegründet. Ihre ursprüngliche Ausrichtung war die einer nationalliberalen Wirtschaftspartei. Von Anfang an traten jedoch Personen aus dem rechtspopulistischen bis rechtsextremistischen Spektrum der Partei bei.133 Ab dem Jahr 2017 fingen diese Strömungen an, den brandenburgischen AfD-Landesverband zu prägen. Heute dominieren sie den Landesverband mit völkisch-nationalistischen Konzepten und streben eine ethnisch homogene Gemeinschaft an. Finanzierung Staatliche Parteienfinanzierung, Mitgliedsbeiträge und Spenden Grund für die Beobachtung als Verdachtsfall / Verfassungsfeindlichkeit Gemäß SS 3 Abs. 1 Nr. 1 Brandenburgisches Verfassungsschutzgesetz (BbgVerfSchG) hat der Verfassungsschutz Brandenburg den Auftrag, Informationen über Personenzusammenschlüsse zu sammeln und auszuwerten, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass in diesen verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt werden. In Parteien oder ihren Teilorganisationen werden verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt, wenn sie darauf gerichtet sind, die in SS 4 Abs. 2 BbgVerfSchG genannten Verfassungsgrundsätze durch politisch bestimmte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen (SS 4 Abs. 1 Nr. 3 BbgVerfSchG). Für den Landesverband Brandenburg liegen hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor. Er wird seit 2017 zunehmend von der, inzwischen formell aufgelösten, AfD-Sammlungsbewegung "Der Flügel" dominiert. Der Landesverband Brandenburg propagiert ein Politikkonzept, das primär auf die Ausgrenzung, Verächtlichmachung und weitgehende Rechtlosstellung von Ausländern, Migranten, insbesondere Muslimen, und politisch Andersdenkenden gerichtet ist. Dieses verletzt alle Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Der Fortbestand eines ethnisch homogenen Volkes wird als höchster Wert angesehen. Der einzelne Deutsche wird im Wesentlichen als Träger des Deutschtums definiert. "Kulturfremde" Nicht-Deutsche gelten als kaum integrierbar. Ihnen soll eine Bleibeperspektive konsequent verwehrt werden. Ziel ist ein ethnisch homogenes Volk, welches keiner "Vermischung" ausgesetzt sein soll.134 Diese Einschätzung wird durch flüchtlingsund muslimfeindliche Positionen innerhalb des AfD-Landesverbandes untermauert. Die Staatsbürgerschaft von muslimischen Deutschen wird in Frage gestellt. Ihnen drohen bei konsequenter Umsetzung der von der Partei propagierten Positionen Massenabschiebungen. Mittels einer aggressiven Wortwahl wird die von Migranten ausgehende Kriminalität krass überzeichnet. Befürworter einer liberalen Migrationspolitik werden zudem entwürdigend beschimpft. Ihre politische Haltung wird etwa mit einer Geisteskrankheit gleichgesetzt. Führende AfD-Vertreter wenden sich zudem zunehmend gegen das Demokratieund das Rechtsstaatsprinzip. 133 Vgl. Lewandowsky, Marcel: "Alternative für Deutschland (AfD)", in Decker, Frank und Viola Neu (Hrsg.): "Handbuch der deutschen Parteien", 3. Auflage, Wiesbaden 2017, S. 161-170. 134 Diese Einschätzung wird durch ein Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts vom 28. Mai 2020 zum "Flügel" innerhalb der AfD bestätigt (vgl. VG Berlin, Beschluss v. 28.05.2020, Az. VG 1 L 97/20, S. 17f.). Das Gericht hält in seiner Urteilsbegründung fest, dass "tatsächliche Anhaltspunkte von hinreichendem Gewicht dafür [bestehen], dass zentrale politische Vorstellung des Flügels der Erhalt des deutschen Volkes in seinem ethnischen Bestand ist und ethnisch "Fremde" nach Möglichkeit ausgeschlossen bleiben sollen". Die Richter schlussfolgern unmissverständlich: "Ein dergestalt völkischabstammungsmäßiger Volksbegriff verstößt gegen die Menschenwürde." 75 VERDACHTSFALL Charakteristisch für den Landesverband Brandenburg ist zudem, dass sich führende Mitglieder aktiv um die Vernetzung mit dem rechtsextremistischen Spektrum bemühen und so die Entgrenzung des Rechtsextremismus aktiv vorantreiben.135 Diese Protagonisten sehen sich als Teil einer "Bewegung", zu der andere rechtsextremistische Organisationen beziehungsweise rechtsextremistische Verdachtsfälle, wie das "Institut für Staatspolitik" (IfS), der Verein "Zukunft Heimat e. V.", das Magazin COMPACT, die "Identitäre Bewegung" (IB) und "Ein Prozent", gehören. Entwicklungen im Berichtszeitraum Seit Juni 2020 stuft die Verfassungsschutzbehörde Brandenburg den AfD Landesverband Brandenburg als Beobachtungsobjekt im Status eines Verdachtsfalles ein. Als Reaktion auf diese Einstufung erfolgte seitens des Landesverbandes weder eine inhaltliche Distanzierung von verfassungsfeindlichen Positionen noch von erwiesenen Rechtsextremisten in der Partei. Vielmehr inszenierte sich die Partei als "Opfer". Es wird seitdem regelmäßig unterstellt, die Landesregierung wolle sich mit Hilfe des Verfassungsschutzes unliebsamer politischer Konkurrenz entledigen. Gleichzeitig werden abstruse Vergleiche mit der Überwachung der Opposition in der DDR gezogen. Es wird beispielsweise behauptet, die Beobachtung erinnere "an dunkelste Zeiten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts".136 Wesentliche Ereignisse im Berichtszeitraum Die Situation im AfD-Landesverband Brandenburg wurde im Jahr 2020 neben der eigenen Verdachtsfalleinstufung durch drei weitere Ereignisse wesentlich geprägt: 1. Zunächst erfolgte die Einstufung der völkisch-nationalistischen Parteistruktur "Der Flügel" als erwiesen extremistische Bestrebung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) am 12. März 2020. Unmittelbar davon betroffen war der damalige Landesvorsitzende Andreas Kalbitz als einer von zwei "Flügel"-Hauptprotagonisten. Im Nachgang zur BfV-Pressekonferenz verkündete der Bundesvorstand am 20. März 2020, er verlange die Auflösung des "Flügels" bis zum 30. April 2020. Weitere Maßnahmen wurden indes nicht getroffen. Eine inhaltliche Distanzierung von "Flügel"-Positionen beziehungsweise der Ausschluss einflussreicher "Flügel"-Aktivisten fand zunächst nicht statt. Am 21. März 2020 verkündete der "Flügel" via Facebook seine Auflösung. Dieser Eintrag wurde jedoch schnell wieder gelöscht. Denn in einem Interview mit der Publikation "Sezession" vom "Institut für Staatspolitik" relativierte Björn Höcke die Auflösung noch am gleichen Tag. Er erklärte sinngemäß, dass eine formelle Auflösung des "Flügels" irrelevant sei.137 Dessen Positionen wären nämlich inzwischen in weiten Teilen von der Partei übernommen worden. Höcke kündigte im selben Interview an, dass er gemeinsam mit Kalbitz und allen "politikfähigen Angehörigen" des "Flügels" die Aktivitäten fortsetzen werde.138 Eine solche Fortführung ist innerhalb des brandenburgischen Landesverbandes offensichtlich die Parteilinie. Laut dem AfD-Landtagsabgeordneten Dennis Hohloch zähle sich ein Großteil der ostdeutschen AfD-Mitglieder selbst zum Flügel beziehungsweise dessen Positionen zugehörig.139 Dies belegt, dass sowohl der Personenzusammenschluss "Der Flügel" als auch der bisherige politische Kurs weiterverfolgt werden sollen. 135 Für weiterführende Informationen zur gezielten Entgrenzung des Rechtsextremismus siehe den Bereich "Aktuelle Entwicklungen" in diesem Kapitel. 136 Facebook-Seite von Dennis Hohloch, 15.06.2020 (letzter Zugriff am 11.05.2021). 137 Vgl. "Sezession": ""Über den Flügel hinaus" - ein Gespräch mit Björn Höcke", 21.03.2020 (letzter Zugriff am 11.05.2021). 138 Ebd. 139 Vgl. rbb: "Brandenburg aktuell", 24.03.2020 (letzter Zugriff am 11.05.2021). 76 VERDACHTSFALL 2. Das zweite wichtige Ereignis für den Landesverband Brandenburg war die Annullierung der Parteimitgliedschaft des Landesvorsitzenden und "Flügel"-Protagonisten Andreas Kalbitz am 15. Mai 2020 durch den AfD-Bundesvorstand aus formalen Gründen. Ausschlaggebend war der parteiinterne Streit über die vom BfV belegte "Jahrzehnte andauernde Verwurzelung Kalbitz' im organisierten Rechtsextremismus".140 Kalbitz leugnet diese. Eine inhaltliche Distanzierung von den politischen Positionen Kalbitz' fand mit der Annullierung seiner Mitgliedschaft in keiner Weise statt. Vielmehr äußerten der rechtsextremistische Verdachtsfall "Junge Alternative für Deutschland" (JA) sowie die Anhänger des angeblich aufgelösten rechtsextremistischen "Flügels" massive Kritik am Bundesvorstand. Insbesondere die AfDFraktion im Landtag Brandenburg stellte sich mit übergroßer Mehrheit öffentlich hinter Andreas Kalbitz und nahm ihn bereits am 18. Mai 2020 als Parteilosen wieder in ihren Reihen auf.141 Zugleich rief der Landesverband zu einer Unterstützungskampagne gegen den Bundesvorstand auf. Auch wenn Kalbitz vordergründig nicht mehr mit Leitungsfunktionen in der Partei betraut war und den Fraktionsvorsitz im August 2020 niederlegte, agierte er weiterhin in gewohnter Art und Weise. 3. Das dritte einschneidende Ereignis für die AfD Brandenburg war 2020 die Corona-Pandemie. Mit dem Abflauen der Infektionszahlen der ersten Welle entschied sich die Gesamtpartei, alle Schutzmaßnahmen anzugreifen. Die Gefährlichkeit des Virus wurde konsequent bestritten und das Regierungshandeln in der Krise als Mittel zur dauerhaften Einschränkung der Grundrechte denunziert. Die seitens der Partei verwendeten Narrative verlagerten sich seitdem deutlich von der zuvor jahrelange propagierten "Umvolkung" nun hin zu einer angeblichen "Corona-Diktatur". Allgemeine Entwicklungen im Berichtszeitraum Im Zusammenhang mit den Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie knüpfen Vertreter der AfD Brandenburg seit 2020 zunehmend an Verschwörungserzählungen an. Sie unterstellen, dass es nicht um Gesundheitsschutz gehe, sondern dass die Pandemie missbraucht würde, um die Demokratie in Deutschland einzuschränken beziehungsweise abzuschaffen. Die Tonart verschärft sich dabei zusehends. Immer wieder tauchen Gleichsetzungen der politischen Situation in der Bundesrepublik mit totalitären Überwachungssystemen auf. Diese Gleichsetzung von Demokratie und Überwachungsstaat betreiben sowohl AfD wie auch andere Protagonisten des entgrenzten Rechtsextremismus, wie der Verein "Zukunft Heimat e.V.", zum Teil aufeinander aufbauend. In Anlehnung an den Roman "1984" von George Orwell beschwor am 5. Mai 2020 eine Demonstration von "Zukunft Heimat e. V." das Zerrbild eines allmächtigen Kontrollapparates. Auf der in Cottbus unter dem Motto "COVID1984" durchgeführten Versammlung sprach unter anderem der AfDLandtagsabgeordnete Hans-Christoph Berndt von einer "neuen Normalität des Überwachungsstaates", an die man sich gewöhnen solle. Die Art und Weise, wie hier von einem Parlamentarier den demokratischen Institutionen diktatorische Absichten unterstellt werden, verdeutlicht das dahinter stehende Ziel, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu delegitimieren.142 140 Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz: "Fachinformation: Einstufung des "Flügel" als erwiesen extremistische Bestrebung", 12.03.2020 (letzter Zugriff am 11.05.2021). 141 Vgl. beispielhaft Facebook-Seite von Dennis Hohloch, 15.05.2020 (letzter Zugriff am 11.05.2021). 142 Vgl. YouTube-Video mit Hans-Christoph Berndt vom 05.05.2020 (letzter Zugriff am 11.05.2021). 77 VERDACHTSFALL Neben Berndt sprach auf der Versammlung ein aus Sachsen angereister PEGIDA-Aktivist. Dieser setzte in seiner Rede in geschichtsverfälschender Art und Weise die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mit der Einführung des nationalsozialistischen "Ermächtigungsgesetzes"143 im März 1933 gleich. Er schwadronierte: "Damals Ermächtigungsgesetz, heute Außerkraftsetzung der Grundrechte".144 Mit dieser Gleichsetzung ist der PEGIDA-Aktivist indes nicht alleine. Auch führende Vertreter der AfD Brandenburg griffen diese Verschwörungserzählung 2020 wiederholt auf. So behauptete am 13. Mai 2020 der brandenburgische AfD-Landtagsabgeordnete Daniel Freiherr von Lützow, dass die politische Situation durch die Änderungen am Infektionsschutzgesetz "irgendwie [...] dann doch wie 1933"145 zu deuten seien. Am 10. Juni 2020 legte Freiherr von Lützow nach, indem er die deutsche Gesetzgebung zusätzlich in der Tradition einer kommunistischen Diktatur sieht. Der AfD-Politiker fragt: "Hat sich mal einer die Mühe gemacht und geguckt wie viele Gesetze in den letzten 10 Jahren angepasst und geschafft wurden? Tut das mal und ihr werdet beim genauen Hinschauen sehen, wie eine Diktatur aufgebaut wird! Einst bei den Genossen gelernt, jetzt perfektioniert und ausgeführt."146 Neben den Änderungen am Infektionsschutzgesetz griffen Teile der AfD Brandenburg weitere Entscheidungen im Rahmen der Pandemiebekämpfung unter Bezugnahme auf den Nationalsozialismus auf. So teilte der AfD-Stadtverband Müncheberg (MOL) auf seiner Facebook-Seite einen Beitrag, der den Holocaust mit den Maßnahmen gegen das Corona-Virus gleichsetzt und auf diese Weise die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden relativiert.147 Hieran wird deutlich, dass die AfD Brandenburg ihre Agitation im Jahre 2020 klar auf die Verächtlichmachung der Demokratie und ihrer Institutionen konzentrierte. Hierfür griff die Partei vor allem auf die Entwicklung der Pandemie zurück. Diese Feststellung bedeutet indes nicht, dass die AfD 2020 auf die Verbreitung fremdenund flüchtlingsfeindlicher Positionen gänzlich verzichtet hätte. Wie in den Jahren zuvor spielte dabei die Verwendung ethnopluralistischer Narrative eine entscheidende Rolle. Der Ethnopluralismus ist gekennzeichnet von der Annahme einer untrennbaren und unveränderlichen Einheit zwischen Ethnie, Kultur und Staat. Diese Ideologie unterscheidet sich im Kern nicht von rassistisch-biologistischen Konzepten. Grundlage des Ethnopluralismus ist vordergründig zwar kein biologischer Rassismus, da hier auf eine Hierarchisierung einzelner Gruppen verzichtet wird. Nichtsdestotrotz können nach diesem Konzept beispielsweise Migranten nie Teil eines (Staats-)Volkes werden. Die Ideologie des Ethnopluralismus verstößt deshalb klar gegen die Menschenwürde.148 Der Rückgriff auf derartige Positionen lässt sich beispielsweise anhand einer Protestveranstaltung im September 2020 in Cottbus nachweisen. Die von einem AfD-Landtagsabgeordneten angemeldete Demonstration fand vor dem Hintergrund einer Messerattacke statt, bei der ein pakistanischer Asylbewerber ein Zufallsopfer in der Cottbuser Straßenbahn angriff. In seinem Redebeitrag trat der Anmelder sogar offen rassistisch auf und behauptete: 143 Die Gleichsetzung mit dem "Ermächtigungsgesetz" vom 24. März 1933 entbehrt jeder Grundlage. Das "Ermächtigungsgesetz" übertrug alle relevanten parlamentarischen Kompetenzen auf die nationalsozialistische Regierung. Von ihr beschlossene Gesetze durften sogar von der Verfassung abweichen. Das Parlament der Weimarer Republik hatte sich damit selbst abgeschafft und so die Grundlage für die nationalsozialistischen Rassengesetze, Angriffskriege und die industrielle Vernichtung von Menschen geschaffen. 144 Vgl. YouTube-Video mit Hans-Christoph Berndt vom 05.05.2020 (letzter Zugriff am 11.05.2021). 145 Facebook-Seite von Daniel Freiherr von Lützow, 13.05.2020 (letzter Zugriff am 11.05.2021). 146 Facebook-Seite von Daniel Freiherr von Lützow, 10.06.2020 (letzter Zugriff am 11.05.2021). 147 Vgl. Facebook-Seite AfD Müncheberg, 01.11.2020 (letzter Zugriff am 30.04.2021). 148 Vgl. VG Berlin, Beschluss v. 28.05.2020, Az. VG 1 L 97/20, S. 17 f. 78 VERDACHTSFALL "Unser ganzes Stadtviertel, unser ganzes Bild von Brandenburg, unser ganzes Deutschland hat sich ja massiv geändert. So wer mit offenen Augen durch die Stadt geht wird sehen, dass Menschen hier hergekommen sind, die schon rein optisch nicht hierher passen."149 Ergänzend hierzu bezeichnete auf der gleichen Veranstaltung eine brandenburgische AfD-Funktionärin - ganz im Sinne einer ethnopluralistischen Lesart - Asylbewerber und Flüchtlinge als "illegale kulturfremde Einwanderer".150 Die AfD-Politikerin ging in ihrer Rede sogar so weit, zu behaupten, dass die deutsche Justiz bewusst rechtsstaatliche Verfahren für Zuwanderer beugt: "In Deutschland werden Verbrecher belohnt, vorausgesetzt der Verbrecher ist nicht in Deutschland aufgewachsen [...] Justizia trägt in Deutschland keine Augenbinde mehr, Justizia schaut sich die Angeklagten vorher genau an. Gehört er zu jenen, die schon länger hier leben, dann muss er in der Regel mit der ganzen Härte des Gesetzes rechnen. Kommt der Täter jedoch aus einem Land mit einer archaischen und menschenverachtenden Kultur, die dem Mittelalter sehr ähnlich ist, dann erhalten die Täter mit hoher Sicherheit einen Migrationsbonus. Ich sage ganz deutlich, die Richter suchen nach jeder möglichen Begründung, um den Opfern eine Mitschuld zu geben und dem Täter aus einem fremden Land seine angebliche Unwissenheit als Entlastung anzurechnen."151 Auf ethnopluralistische Argumentationen griff am 11. September 2020 auch der thüringische AfD-Landesvorsitzende Björn Höcke auf einer Veranstaltung des AfD-Kreisverbandes Märkisch-Oderland in Hönow (MOL) zurück. Der Mitbegründer des rechtsextremistischen "Flügels" strebt eine ethnisch homogene Gesellschaft an, zu der nur Personen eines bestimmten Kulturkreises Zugang erhalten dürfen. Höcke führte aus: "[...] unsere Identität wird durch unkontrollierte millionenfache Zuwanderung von kulturfremden Migranten ja in Windeseile unterhöhlt und ausgehöhlt und ist vielleicht schon in Bälde unwiederbringlich verloren."152 Neben ethnopluralistischen Positionen verbreitete die AfD Brandenburg 2020 gleichermaßen die rechtsextremistische Verschwörungstheorie einer angeblich gezielten "Umvolkung" Deutschlands. Eine Gedenkveranstaltung zum Jahrestag des Mauerfalls am 9. November 2020 nahm beispielsweise der AfDKreisverband Dahme-Spreewald zum Anlass, das politische System der Bundesrepublik mit dem der DDR gleichzusetzen. Zusätzlich wurde ein Bogen von der Flüchtlingskrise bis zu einer angeblichen von den Regierenden "geplanten Umvolkung" gespannt. Demnach hätten die Deutschen das Recht auf eine ethnisch homogene Gemeinschaft, welche jedoch aufgrund von Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten bedroht sei.153 Die dargelegten fremdenfeindlichen Positionen werden jedoch nicht nur von der AfD alleine vertreten. Die Partei wirkt als Teil einer - auch außerparlamentarischen - Bewegung zu der Gruppierungen wie die rechtsextremistische "Identitäre Bewegung" sowie die rechtsextremistischen Verdachtsfälle "Ein Prozent" und COMPACT gehören. Das COMPACT - Magazin154 beschrieb diese strukturübergreifende Zusammenarbeit bereits 2018 als eine "Fünf-Finger-Strategie", der folgendes Selbstverständnis zugrunde liegt: "Alle zusammen in großer Einheit: Pegida, IB, AfD, Ein Prozent, Compact! Fünf Finger, alle kann man einzeln brechen, aber alle zusammen sind eine Faust!".155 149 Vgl. YouTube-Video zum AfD-Protest in Cottbus, September 2020 (letzter Zugriff am 11.05.2021). 150 Ebd. 151 Ebd. 152 Facebook-Seite AfD Kreisverband Märkisch-Oderland, 12.09.2020 (letzter Zugriff am 14.09.2020). 153 Vgl. Facebook-Seite Alternative für Deutschland / Dahme-Spreewald, 09.11.2020 (letzter Zugriff am 15.12.2020). 154 Siehe FN 4. 155 COMPACT 01/2018, S. 52. 79 VERDACHTSFALL Diese "Faust" wird in Brandenburg zudem durch eine enge Zusammenarbeit der AfD mit dem Verein "Zukunft Heimat e. V." gebildet. Dieses gilt sowohl ideologisch als auch personell, denn der Vorsitzende des Vereins, Hans-Christoph Berndt, steht zugleich seit 2020 der brandenburgischen AfD-Landtagsfraktion vor. Darüber hinaus arbeiten führende Mitglieder der AfD Brandenburg mit den Organisatoren von PEGIDA zusammen. So tritt der eben benannte Hans-Christoph Berndt regelmäßig bei den fremdenfeindlichen Kundgebungen in Dresden (Sachsen) auf - zuletzt am 23. November 2020. Zudem ist Berndts Amtsvorgänger, der ehemalige brandenburgische AfD-Fraktionsvorsitzende Andreas Kalbitz, gern gesehener Gast und Redner in Dresden. Beispielsweise nahm Kalbitz gemeinsam mit anderen Landtagsabgeordneten der AfD Brandenburg an der 200. Versammlung von PEGIDA am 17. Februar 2020 teil.156 Im Vorfeld der Veranstaltung, auf der unter anderem Björn Höcke sprach, erläuterte Kalbitz gegenüber der Zeitung "Junge Freiheit" die Zusammenarbeit mit PEGIDA. "Pegida Dresden ist ein wichtiger Baustein im Netzwerk der Bürgerbewegungen im Umfeld der AfD [...] Das gleiche [gilt] für Initiativen wie 'Zukunft Heimat' oder 'Ein Prozent' [...] Die Anwesenheit von Björn Höcke und mir ist auch ein Dankeschön für die wichtige Unterstützung im Ostwahlkampf".157 Hieran wird einerseits deutlich, wie stark die AfD - insbesondere mit ihrem brandenburgischen Landesverband - innerhalb der Strukturen der Neuen Rechten vernetzt ist. Zugleich zeigt sich eine steuernde Rolle der Partei innerhalb dieses Netzwerkes. Vor allem in Brandenburg wirkt die AfD nicht nur im Landtag, sondern auch im außerparlamentarischen Bereich auf eine zunehmende Entgrenzung des Rechtsextremismus hin. Hierbei handelt es sich um eine Strategie zur gezielten Auflösung klarer Grenzen zwischen dem extremistischen und dem demokratischen Spektrum. Ziel ist es, rechtsextremistische Ideologien über einen mittelbis langfristigen Prozess im politischen Diskurs zu verankern und damit gesamtgesellschaftlich anschlussfähig zu machen. Dieser Umstand belegt einmal mehr, dass zur AfD Brandenburg hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz vorliegen. Bewertung / Ausblick Die selbst erklärte Auflösung des "Flügels" und die Annullierung der Parteimitgliedschaft ihres Landesvorsitzenden haben in der AfD Brandenburg 2020 zu keiner Veränderung ihrer völkisch-nationalistischen Ausrichtung geführt. Im Gegenteil: Mit Hans-Christoph Berndt hat die Partei einen weiteren Rechtsextremisten als Vorsitzenden ihrer Landtagsfraktion bekommen. Die AfD sieht sich in Brandenburg weiterhin als Bewegungspartei und wird auch in Zukunft mit anderen rechtsextremistischen Strukturen kooperieren. Dabei geht sie immer mehr dazu über, die Demokratie aggressiv anzugreifen, in Abrede zu stellen und letztlich zu delegitimieren. Der Posten des Landesvorsitzenden ist zwar gegenwärtig noch vakant und hätte bereits Anfang 2021 turnusgemäß neu besetzt werden müssen. Es ist aber schon jetzt zu erwarten, dass auch hier ein Anhänger des völkisch-nationalistischen "Flügels" gewählt werden wird. Dieses ist unter anderem deshalb wahrscheinlich, weil die gemäßigten Partei-Anhänger seit geraumer Zeit öffentlich kaum noch präsent sind. Die aktuellen Entwicklungen seit Ende 2020 lassen erwarten, dass der "verflügelte" brandenburgische Landesverband versuchen wird, seine extremistischen Positionen auf der Bundesebene zu verankern. Die bereits gegenwärtig erheblichen Spannungen zwischen Landespartei und Bundesvorstand dürften sich nach der Bundestagswahl 2021 entladen. Selbst eine von führenden Parteifunktionären erwogene Spaltung der Partei ist denkbar. 156 Vgl. Facebook-Seite von Hans-Christoph Berndt, 17.02.2020 (letzter Zugriff am 18.02.2020). 157 Junge Freiheit: "Pegida feiert Jubiläumsdemo mit Höcke", 17.02.2020, https://jungefreiheit.de/politik/deutschland/2020 /pegida-feiert-jubilaeumsdemo-mit hoecke/?fbclid=IwAR0AyvYESiPSQ2qeZExGgPCxYwZZOEg4vtgZ_m1KqzUwOJI8 5J1P-_NL-b4 (letzter Zugriff am 11.05.2021). 80 VERDACHTSFALL 3.13 Rechtsextremistischer Verdachtsfall: Junge Alternative für Deutschland (JA) - Landesverband Brandenburg Sitz / Verbreitung Die "Junge Alternative für Deutschland" (JA) gliedert sich unterhalb der Bundesebene in 15 Landesverbände. Der Bundesverband hat seinen Sitz in Berlin. Der brandenburgische Landesverband hat seinen Sitz in Potsdam. Die JA unterhält in Brandenburg landesweite Strukturen. Gründung / Bestehen Gründungsdatum des JA-Landesverbandes Brandenburg ist der 12. Juli 2014. Seit dem 18. April 2015 ist der Landesverband offizielle Jugendorganisation des AfD-Landesverbandes Brandenburg.158 Struktur / Reichweite Landesvorstand der JA Brandenburg laut Webseite: Vorsitzender: Jan Hornuf stellv. Vorsitzende: Anna Leisten, Franz-Sebastian Dusatko Struktur des Landesverbandes: Die JA Brandenburg verfügt über zehn "Botschafter", die laut Internetseite der JA organisatorisch für einzelne Landkreise zuständig sind. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Der Landesverband verfügt über etwa 50 Mitglieder. Veröffentlichungen Der Landesverband ist im Internet mit einer eigenen Website und in den Sozialen Medien vertreten. Einige Mitglieder der JA verfügen zudem über eigene Auftritte in Sozialen Medien. Seit Dezember 2020 produziert der Landesverband darüber hinaus einen eigenen Podcast. Kurzportrait / Ziele Die JA Brandenburg ist inhaltlich und personell eng mit ihrer Mutterpartei - dem AfD-Landesverband Brandenburg159 - verbunden. Genau wie bei der AfD dominieren in der brandenburgischen Jugendorganisation völkisch-nationalistische Konzepte, die eine ethnisch homogene Gemeinschaft anstreben. Laut AfD-Bundessatzung (SS 17a Abs. 2 Satz 1) dient die JA der Partei als "Innovationsmotor". Finanzierung Mitgliedsbeiträge und Spenden 158 Siehe FN 6. 159 Siehe FN 6. 81 VERDACHTSFALL Grund für die Beobachtung als Verdachtsfall / Verfassungsfeindlichkeit In Bezug auf die "Junge Alternative für Deutschland" liegen sowohl inhaltlich als auch numerisch hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor, dass es sich bei der Jugendorganisation der AfD160 um einen Verdachtsfall handelt. Sie richtet sich gegen die Garantie der Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz. Eine gründliche politikwissenschaftliche und juristische Analyse der Aussagen der JA zeigt, dass sie auf den Vorrang eines ethnisch homogenen Volksbegriffs abzielt. Diejenigen, die dieser ethnisch geschlossenen Gemeinschaft nicht angehören, macht die JA in offensichtlicher Weise verächtlich. Es liegen zudem deutliche Anhaltspunkte für eine migrationsund insbesondere islamfeindliche Haltung der JA vor. Dieser wird mit aggressiver Rhetorik Nachdruck verliehen. So forderte die JA zeitweise eine generelle abendliche Ausgangssperre für alle männlichen Flüchtlinge. Eine über reine Islamkritik drastisch hinausgehende Islamfeindlichkeit tritt in vielen Redebeiträgen zutage, in denen immer wieder vor einem "Bevölkerungsaustausch" durch Muslime gewarnt wird. Vor diesem Hintergrund urteilte das Berliner Verwaltungsgericht in einer Entscheidung vom 28. Mai 2020, dass "tatsächliche Anhaltspunkte von hinreichendem Gewicht dafür vor[liegen], dass Landesverbände und exponierte Vertreter der [JA] kontinuierlich gegen Ausländer, vornehmlich muslimischen Glaubens, agitieren, diese pauschal diffamieren und verächtlich machen"161. Die Kammer sieht hierdurch die Menschenwürde klar verletzt. Die JA richtet sich weiterhin gegen das Demokratieprinzip. Den Verfassungsschutzbehörden liegen zahlreiche pauschal diffamierende Aussagen über die Regierung und das gesamte politische System vor. In der Gesamtschau stellen sich diese als Verächtlichmachung des Parlamentarismus dar, ohne dass von Seiten der JA eine den verfassungsrechtlichen Vorgaben pluralistischer Willensbildung entsprechende Alternative benannt wird. Entwicklungen im Berichtszeitraum Verglichen mit der AfD162 verfügt die JA in Brandenburg nur über wenige Mitglieder. Öffentlich aktiv wird in der Regel nur eine kleine Funktionärsgruppe. Die führenden Mitglieder der brandenburgischen JA unterstützten 2020 weiterhin offen den völkisch-nationalistischen Kurs des AfD-Landesverbandes163 und dessen Protagonisten. Besonders deutlich wurde dieses in der Debatte um die Parteimitgliedschaft von Andreas Kalbitz. Nachdem der Bundesvorstand dem damaligen AfD-Landesvorsitzenden die Mitgliedschaft entzog, kam es seitens der JA Brandenburg zu Ergebenheitsadressen an den führenden Funktionär des rechtsextremistischen "Flügels". Zusätzlich veröffentlichte die JA Brandenburg einen Aufruf, der als virtueller Pranger für diejenigen AfD-Bundesvorstände bezeichnet werden kann, die am 15. Mai 2020 für die Annullierung der Mitgliedschaft von Andreas Kalbitz gestimmt hatten. Die JA kündigte an, sich "die Namen [der vermeintlichen Verräter] für die außerordentliche Bundesvorstandswahl"164 zu merken. Mit dieser Stellungnahme positioniert sich der vermeintliche "Innovationsmotor der AfD" deutlich und unterstützt einen Neonationalsozialisten. Mit derartigen Drohungen liegt die JA zudem klar auf Linie des rechtsextremistischen "Flügels", nach der, wie "Flügel"Frontmann Björn Höcke es im März 2020 forderte, unbliebsame Mitglieder "auszuschwitzen" sind. 160 Siehe FN 6. 161 VG Berlin, Beschluss v. 28.05.2020, Az. VG 1 L 95/20, S. 15 f. 162 Siehe FN 6. 163 Siehe FN 6. 164 Facebook-Seite Junge Alternative Brandenburg, 16.05.2020 (letzter Zugriff am 11.05.2021). 82 VERDACHTSFALL Die brandenburgische JA bemüht sich jedoch nicht nur um eine enge Zusammenarbeit mit der Mutterpartei, sondern ist ebenfalls mit anderen Strukturen der "Neuen Rechten" in Brandenburg vernetzt. So nutzte die JA Brandenburg 2020 beispielsweise das rechtsextremistische Szeneobjekt "Die Mühle" in Cottbus. Konkret wurde auf "Die Mühle" für den Strukturaufbau, die Organisation von Veranstaltungen sowie zur Mitgliedergewinnung zurückgegriffen. Neben führenden JA-Vorstandsmitgliedern waren am 6. Februar 2020 bei einer gemeinsamen Veranstaltung die AfD165-Landtagsabgeordneten Andreas Kalbitz, Daniel Freiherr von Lützow und Hans-Christoph Berndt in der "Mühle" anwesend. Hans-Christoph Berndt vertrat gleichzeitig den rechtsextremistischen Verein "Zukunft Heimat".166 Am 30. Oktober 2020 organisierte die JA Brandenburg zudem einen Diskussionsabend mit zwei neurechten Publizisten. Hierbei handelte es sich unter anderem um einen Autoren der Zeitschrift "Sezession" des "Instituts für Staatspolitik" (IfS).167 Der Einladungstext zu der Veranstaltung verdeutlicht einmal mehr, wie sehr die JA der Idee einer vermeintlich deutschen oder "weißen" Identität in einer homogenen Gemeinschaft nahesteht. In der Ankündigung auf Facebook hieß es: "Wenn die großen Ereignisse und Themen unserer Tage - Migrationskrise, Islamisierung, Weißenund Deutschfeindlichkeit, Genderideologie, Klimakrise, Energiewende, Grundeinkommen etc. - eines beweisen, dann ist dies die Bedeutung der Identitäten und des Sozialen im gesellschaftlichen Diskurs. Wer sind wir? Wer gehört zu uns? Wie können wir in dieser Gesellschaft wieder echte Gemeinschaft finden?"168 An der Veranstaltung nahmen unter anderem Aktivisten der JA Berlin, Sachsen und Sachsen-Anhalt teil. Zudem war ein Vertreter des rechtsextremistischen Verdachtsfalls "Ein Prozent" präsent, dem die JA Brandenburg ausdrücklich für seine Anwesenheit dankte.169 Die Diskussionsveranstaltung war 2020 indes nicht die einzige geplante Zusammenarbeit der brandenburgischen JA mit Vertretern des IfS. Bei dem in Schnellroda (Sachsen-Anhalt) ansässigen "Institut" handelt es sich um eine verfassungsfeindliche Bestrebung der "Neuen Rechten", die sich selbst als intellektuelle Strategieschmiede versteht.170 Führender Kopf ist Götz Kubitschek. Am 28. März 2020 sollte eine gemeinsame Veranstaltung der JA Brandenburg und der "Sezession" im Raum Teltow-Fläming stattfinden. Anlass war der 125. Geburtstag von Ernst Jünger. Als Redner waren unter anderem Andreas Kalbitz und Götz Kubitschek angekündigt.171 Die Veranstaltung wurde aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie erst am 6. Oktober 2020 unter Beteiligung weiterer JA-Landesverbände in einem brandenburgischen Restaurant durchgeführt. Unter dem Motto "Der unbekannte Soldat, der Arbeiter, der Anarch - Jüngers Jahrhundertfiguren" richtete letztlich die JA Berlin die Jubiläumsveranstaltung im Gedenken an Ernst Jünger aus. Das Veranstaltungsformat verdeutlicht den permanenten Schulterschluss zwischen Organisationen der Neuen Rechten, die sich hier holzschnittartig einer ideologischen Lesart Jüngers bedient. So sollen die eigenen antiliberalen und nationalistischen Positionen der JA durch Aussagen aus den früheren Phasen Jüngers, wie etwa "Ich hasse die Demokratie wie die Pest", intellektuell gestärkt werden.172 165 Siehe FN 6. 166 Vgl. Facebook-Seite Junge Alternative Brandenburg, 08.02.2020 (letzter Zugriff am 11.05.2021). 167 Das "Institut für Staatspolitik" ist ebenso wie die JA als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft. 168 Facebook-Seite Junge Alternative Brandenburg, 06.10.2020 (letzter Zugriff am 11.05.2021). 169 Facebook-Seite Junge Alternative Brandenburg, 14.11.2020 (letzter Zugriff am 11.05.2021). 170 Vgl. Weiß, Volker: "Die autoritäre Revolte. Die Neue Rechte und der Untergang des Abendlandes", Stuttgart, 2017, S. 72. 171 Vgl. "Sezession": "Netzfundstücke (44) - Jünger, Innere Emigration, Donovan", 29.02.2020 (letzter Zugriff am 11.05.2021.) 172 Facebook Junge Alternative Brandenburg vom 29.03.2020 (zuletzt abgerufen am 06.05.2021). 83 VERDACHTSFALL Bewertung / Ausblick Die JA Brandenburg vertritt ideologisch geschlossen seit jeher die Linie des rechtsextremistischen "Flügels" und steht weiterhin zu dem 2020 aus der AfD173 ausgeschlossenen Neonationalsozialisten Andreas Kalbitz. Änderungen von diesem Kurs sind nicht zu erwarten. Im Gegenteil ist festzustellen, dass die JA Brandenburg im Bundesverband eine führende Rolle anstrebt und den Verband somit noch tiefer in den Extremismus treiben will. Vor diesem Hintergrund wirkt die JA weniger als "Innovationsmotor", sondern vielmehr als "Radikalisierungsmotor" der AfD. 173 Siehe FN 6. 84 VERDACHTSFALL 3.14 Rechtsextremistischer Verdachtsfall: COMPACT-Magazin Sitz / Verbreitung Die Zeitschrift "COMPACT - Magazin für Souveränität" (kurz COMPACT-Magazin) wird in Werder an der Havel (PM) von der COMPACT Magazin GmbH verlegt. Es wird bundesweit sowie im Ausland vertrieben. Gründung / Bestehen Das COMPACT-Magazin erscheint seit dem Jahre 2010. Chefredakteur ist Jürgen Elsässer. Struktur / Reichweite Eigenen Angaben zufolge lag die monatliche Auflage des COMPACT-Magazins 2020 bei etwa 40.000 Exemplaren.174 Neben der Zeitschrift wird ein eigener YouTube-Kanal mit dem Namen "COMPACT TV" betrieben. Er verfügt über rund 149.000 Abonnenten. Zudem ist COMPACT in den sozialen Medien auf Twitter (etwa 30.000 Follower), vk.com und Telegram (etwa 54.000 Abonnenten) aktiv.175 Darüber hinaus verfügt das Magazin über eine eigene Webseite. Des Weiteren richtet COMPACT seit 2012 jährliche "Konferenzen für Souveränität" aus. Dort treten Personen aus dem neurechten und verschwörungsideologischen Milieu auf. Die Konferenzen dienen dem inhaltlichen Austausch und der Vernetzung. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Im Berichtsjahr 2020 schrieben sechs offizielle Redakteure und eine Reihe an Gastautoren regelmäßig für das Magazin. Veröffentlichungen Das COMPACT - Magazin ist erstmals im Dezember 2010 erschienen und wird seit Mai 2011 monatlich publiziert. Neben der monatlichen Printausgabe erscheinen in regelmäßigen Abständen die Sonderausgaben "COMPACT Spezial" und "COMPACT Geschichte". Zusätzlich erscheint unregelmäßig die "COMPACT Edition". Kurzportrait / Ziele COMPACT beschreibt sich selbst als "oppositionelles" Medium, dass sich als Ziel gesetzt hat, "zum Sturz des Regimes beizutragen".176 Das Magazin verfolgt eine selbst begründete "Fünf-Finger-Strategie" und sieht sich als Teil eines Netzwerkes. So schrieb COMPACT im Jahr 2018: "Alle zusammen in großer Einheit: Pegida, IB, AfD, Ein Prozent, Compact! Fünf Finger, alle kann man einzeln brechen, aber alle zusammen sind eine Faust!".177 Im Sinne dieser Strategie bietet das COMPACT-Magazin rechtsextremistischen und verschwörungsideologischen Akteuren eine Plattform zur Verbreitung ihrer extremistischen Themen. 174 Vgl. COMPACT 08/2020, S. 8. 175 Die Abonnentenund Followerzahlen auf YouTube, Twitter und Telegram beziehen sich auf den Stand vom 19.02.2021. 176 COMPACT 05/2018, S. 29. 177 COMPACT 01/2018, S. 52. 85 VERDACHTSFALL Ziel der Zeitschrift ist eine rechtsextremistische Verschiebung des politischen Diskurses. Dafür bedient sie sich Verschwörungserzählungen, Falschinformationen und Bedrohungsszenarien, welche in den veröffentlichten Beiträgen mit Fakten vermischt werden. Für das Magazin sind verschiedene rechtsextremistische Autoren, unter anderem von der "Identitären Bewegung", tätig.178 Finanzierung Das COMPACT-Magazin finanziert sich unter anderem aus Erlösen der Zeitschriftenverkäufe, einem Web-Shop, Spenden und YouTube-Werbeeinnahmen. Grund für die Beobachtung als Verdachtsfall / Verfassungsfeindlichkeit Das zentrale Ziel des COMPACT-Magazins ist, die demokratisch legitimierte Regierung der Bundesrepublik Deutschland durch einen Sturz des vermeintlichen "Regimes" zu entmachten. Anschließend soll das demokratische System durch ein identitäres "Staatsbild" ersetzt werden. Um den anvisierten Umsturz zu erreichen, ruft COMPACT unter anderem zur Selbstjustiz und zum Widerstand auf. Solche Verlautbarungen stehen klar im Widerspruch zum Rechtsstaatsund zum Demokratieprinzip der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Darüber hinaus fordert COMPACT eine Ungleichbehandlung von Muslimen. Diese stehen neben Migranten und Geflüchteten im besonderen Fokus des Magazins. Die genannten Personengruppen werden in einer die Menschenwürde verletzenden Weise ausgegrenzt, verächtlich gemacht, verspottet oder anderweitig herabgewürdigt. Des Weiteren ist Antisemitismus, zum Beispiel in Form von Verschwörungserzählungen mit antisemitischen Chiffren, ein zentrales Element des Magazins. So beschreibt COMPACT die EU und die UN beispielsweise als "Attrappen-Institution der Hochfinanz"179, womit sich das Magazin klassisch antisemitischen Verschwörungsmythen aus der Zeit des Nationalsozialismus bedient. Diese Strategie zielt letztlich darauf ab, Sprache mit nationalsozialistischem Bezug zu normalisieren und somit den Nationalsozialismus selbst zu relativieren. Beispielsweise verwendet COMPACT den Begriff "atomarer Holocaust".180 "Holocaust" bezeichnet jedoch ein singuläres Ereignis. Den Begriff anderweitig zu verwenden führt zu einer bewussten Verharmlosung der industriellen Vernichtung der Juden im Dritten Reich und spricht dem Holocaust diese Singularität ab. Weitere Beispiele für eine angestrebte Normalisierung des NS-Sprachgebrauchs sind Begriffe wie "Sturmtruppe", "Blitzkrieg", "Lügenpresse" "Umvolkung" und "Herrenmenschen". COMPACT bietet seinen Lesern zudem vermeintliche Neudeutungen historischer Ereignisse an. Beispielsweise werden Deutsche als "Opfer des 2. Weltkrieges" dargestellt.181 Mit den Publikationen und Konferenzen soll letztlich eine neue revisionistische Geschichtsschreibung etabliert werden, um rechtsextremistische Positionen anschlussfähig zu machen. Dabei geht das COMPACT-Magazin soweit, dass es eine vermeintliche "Hochfinanz", die "Wall-Street" sowie das "angloamerikanischen Finanzkapital" für den Ausbruch des 1. Weltkrieges182 und den späteren Aufstieg Hitlers in Deutschland mitverantwortlich macht. Die "Hochfinanz" sowie das "internationale Finanzkapital und die Wall-Street" sollen den Aufstieg Hitlers und der NSDAP mitfinanziert haben.183 178 Für weitere Informationen zur "Identitären Bewegung" siehe Kapitel 3.7. 179 COMPACT 8/2019, S. 3. 180 COMPACT 4/2019, S. 3. 181 Vgl. COMPACT-Geschichte Nr. 9: "Dresden 1945", 2020, S.29 ff., S. 46 ff., S. 51 ff., S. 69-82. 182 Vgl. COMPACT 8/2019, S. 61. 183 COMPACT-Geschichte Nr. 11: "Wer finanzierte Hitler? Das dunkle Geheimnis der Wallstreet", 2020, S. 15 f. 86 VERDACHTSFALL In der Ausgabe von Dezember 2020 heißt es in Bezug auf das Sonderheft "COMPACT-Geschichte Wer finanzierte Hitler? Das dunkle Geheimnis der Wallstreet": "Entgegen der herrschenden Geschichtswissenschaft, die zwischen Kollektivschuldthese und "Kohleund Stahlbaronen" schwankt, legen wir gesicherte Dokumente über die entscheidende Rolle des angloamerikanischen Finanzkapitals vor [...]".184 Diese Aussage ist nicht nur historisch falsch und geschichtsrevisionistisch, sondern ebenfalls antisemitisch, da es sich bei Begriffen wie "angloamerikanisches Finanzkapital" um antisemitische Chiffren handelt. Diese lassen sich im rechtsextremistischen Milieu leicht entschlüsseln. Somit behauptet das COMPACT-Magazin, dass Juden und Jüdinnen den Aufstieg des nationalsozialistischen Regimes und damit letzten Endes den Weg in den Holocaust selbst mitfinanziert hätten. Dieses zeigt auf zynische Art und Weise, wie anhand von Geschichtsrevisionismus eine Täter-Opfer-Umkehr stattfindet. Vor dem Hintergrund der hier aufgezeigten Erkenntnisse stufte der brandenburgische Verfassungsschutz im April 2020 das COMPACT-Magazin als rechtsextremistischen Verdachtsfall ein. Entwicklungen im Berichtszeitraum Aufgrund der Corona-Pandemie und den damit einhergehenden Versammlungsbeschränkungen fand im Jahr 2020 keine "COMPACT-Konferenz" statt. Jedoch nutzte das Magazin die Gelegenheit, Proteste gegen die Beschränkungen im Zuge der Pandemie medial aufzubereiten und für sich ideologisch und ökonomisch zu nutzen. Dafür suchte das Magazin bewusst die Nähe zu rechtsextremistischen Akteuren innerhalb dieser Protestbewegung und verschaffte ihnen Reichweite. So dokumentierte COMPACT beispielsweise die Querdenken-Proteste in Berlin, Leipzig (Sachsen) und Frankfurt (Oder). Hierbei ließ das Magazin Rechtsextremisten zu Wort kommen, indem es ihnen eine Plattform bot. Des Weiteren begleitete das Magazin regelmäßig Proteste des rechtsextremistischen Vereins "Zukunft Heimat e.V."185 in Cottbus und übertrug AfD186-Veranstaltungen auf seinem YouTube-Kanal, darunter solche, die der AfD-Teilstruktur "Der Flügel" zuzuordnen sind. Darüber hinaus lässt sich im Berichtszeitraum auf inhaltlicher Ebene eine Radikalisierung des Magazins beobachten. So spricht das Magazin der parlamentarischen Demokratie ihre Legitimität ab, indem diese seit Beginn der Pandemie nur noch als "Corona-Diktatur" bezeichnet wird. Hierauf aufbauend bezeichnete COMPACT die 2020 beschlossenen Gesetze und Verordnungen gegen die Ausbreitung des Virus regelmäßig als "Ermächtigungsgesetze". Diese bewusst gewählte Wortwahl delegitimiert nicht nur das Handeln von demokratischen Institutionen, sondern stellt das politische System der Bundesrepublik zugleich in eine Reihe mit dem Nationalsozialismus. Auf diese Weise trug COMPACT 2020 einerseits zur Verunglimpfung des freiheitlichen Rechtsstaats und andererseits zu Geschichtsrevisionismus und zur Relativierung des Nationalsozialismus bei. Das Magazin bedient sich zudem vermehrt der Verschwörungserzählungen von "QAnon". COMPACT brachte 2020 insgesamt vier Ausgaben heraus, die sich schwerpunktmäßig damit befassten und diese Erzählungen somit verbreiteten.187 184 Compact 12/2020, S. 8. 185 Für weitere Informationen zum rechtsextremistischen Verein "Zukunft Heimat e.V." siehe Kapitel 3.6. 186 Siehe FN 6. 187 Für eine ausführliche Darstellung zu "QAnon" siehe Kapitel 2. 87 VERDACHTSFALL Bewertung / Ausblick Die Protestentwicklungen während der Corona-Pandemie haben verdeutlicht, welchen Einfluss Verschwörungserzählungen und Falschinformationen auf Teile der Bevölkerung haben können. Publikationen und mediale Formate, wie das COMPACT-Magazin, bergen daher die Gefahr, durch ihre Bedrohungsszenarien, Verschwörungserzählungen und das Verfestigen von Feindbildern Teile der Bevölkerung zu radikalisieren. Zudem schaffen sie verschwörungsideologische Echokammern, welche keine ausdifferenzierte Betrachtung von Ereignissen zulassen. Eine animierende Wirkung auf potenzielle Gewalttäter ist denkbar. Es ist davon auszugehen, dass COMPACT die Pandemie weiter nutzen wird, um das demokratische System und die Gesellschaft zu destabilisieren. Dieses wird mit der Hoffnung verbunden, "zum Sturz des Regimes beizutragen". Seitens des Magazins dürften daher auch zukünftig alle Akteure unterstützt werden, die diesem Ziel dienlich sein könnten. Darunter fallen beispielsweise Akteure der nach AfD188-Angaben aufgelösten Parteistruktur "Der Flügel", wie Andreas Kalbitz oder Björn Höcke, sowie Rechtsextremisten in der AfD, wie Hans-Christoph Berndt. 188 Siehe FN 6. 88 4. Reichsbürger und Selbstverwalter 89 4. Reichsbürger und Selbstverwalter Sitz / Verbreitung Reichsbürger und Selbstverwalter sind bundesweit aktiv. Gründung / Bestehen 1985 wurde die erste "Kommissarische Reichsregierung" (KRR) in Berlin gegründet. In Brandenburg wurden seit dem Jahr 2000 immer wieder einzelne Gruppierungen aktiv. Struktur / Repräsentanten Obgleich Gruppierungen innerhalb des Spektrums bestehen, lässt sich dieses zusammenfassend als strukturarm und heterogen beschreiben. Neben fünf Hauptgruppierungen existieren in Brandenburg kleinere Personenzusammenschlüsse, regionale Netzwerke und Einzelpersonen. Die Szene wandelt sich ständig und organisiert sich immer wieder neu. Sie ist durch persönliche Kennverhältnisse mit zum Teil hoher Aktivitätsentfaltung im Internet gekennzeichnet. Es kommt regelmäßig zu Streitigkeiten und Zerwürfnissen, sodass sich Gruppierungen auflösen und neue, zum Teil Splittergruppen, entstehen. Somit unterliegt die Szene einer hohen Fluktuation. Eine übergeordnete, einheitliche Struktur, welcher eine größere Bedeutung zugemessen werden kann, ist nicht vorhanden. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Bundesweit ist das Personenpotenzial der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene leicht gestiegen und lag im Jahr 2020 bei circa 20.000. In Brandenburg gibt es rund 570 Anhänger, die mehrheitlich keiner festen Organisation angehören. Es handelt sich überwiegend um Einzelpersonen und Angehörige örtlich loser Szenen. Rund zehn Prozent weisen Überschneidungen zum Rechtsextremismus auf. 90 Im Berichtszeitraum entfalteten in Brandenburg die nachfolgenden Gruppierungen regelmäßige - auch überregionale - Aktivitäten: Provinz Brandenburg - Freistaat Preußen Freistaat Preußen/Administrative Regierung und Rechteinhaber des Präsidiums des Deutschen Reiches Geeinte deutsche Völker und Stämme DIENSTSTELLE - 1/76 Preußisches Institut - Bismarcks Erben - Ewiger Bund (Vaterländischer Hilfsdienst) Veröffentlichungen In der Regel verfügen solche Gruppierungen über eigene Internetauftritte und bieten unter anderem Fantasiepapiere und teilweise Schriftsätze zum Download an. Daneben existieren Vernetzungsplattformen im Internet und ein vielfältiges Angebot an zumeist geschlossenen Foren in den sozialen Netzwerken. Einzelne Autoren und Autorenzusammenschlüsse aus dem verschwörungsideologischen Milieu veröffentlichen gezielt Monografien für die Angehörigen und Sympathisanten der Szene. Eine der Hauptveröffentlichungen ist der Titel "Die 'BRD-GmbH' oder zur völkerrechtlichen Situation in Deutschland und den sich daraus ergebenden Chancen für ein neues Deutschland". Der Verfasser ist ein Aktivist aus der Gruppierung "Geeinte deutsche Völker und Stämme". Der "Argo-Verlag" aus Marktoberndorf in Bayern bietet darüber hinaus mit dem "Magazin 200plus" eine Zeitschrift an, die sich an "Reichsbürger und Selbstverwalter" wendet. Kurzportrait / Ziele "Reichsbürger und Selbstverwalter" in ihrer heutigen Ausprägung sind ein relativ junges Phänomen. Eine Teilmenge vertritt revisionistische, antisemitische sowie ausländerfeindliche Ansichten und ist damit dem Rechtsextremismus zuzurechnen. Sie berufen sich auf den Fortbestand des Deutschen Reiches in unterschiedlichen Formen und eine angeblich fehlende Legitimation der Bundesrepublik Deutschland. Sie behaupten, Deutschland habe keine gültige Verfassung und sei damit als Staat nicht existent oder das Grundgesetz habe mit der Wiedervereinigung 1990 seine Gültigkeit verloren. Daraus folgern einige, dass alle Deutschen staatenlos seien. Daher fühlen sie sich auch nicht verpflichtet, den in der Bundesrepublik geltenden Gesetzen Folge zu leisten. Außerdem verneinen sie die Rechtmäßigkeit deutscher Gerichte und Verwaltungen. Die Bundesrepublik sei nur ein Unternehmen ("GmbH"), eine Scheinbehörde oder eine übergangsweise von den Alliierten eingesetzte Verwaltung. "Selbstverwalter" berufen sich in der Regel auf ein selbst definiertes Naturrecht, geben "Lebenderklärungen" ab und fühlen sich ebenso nicht an Gesetze gebunden. Sehr oft steckt der Versuch dahinter, sich Steuern, Bußgelder oder sonstiger finanzieller Verpflichtungen zu entledigen. Vorbild für diesen Teil der Szene sind die "souveränen Bürger" (Sovereign Citizens) oder "Freemen" in den USA. Ähnlich wie diese gründen "Selbstverwalter" seit einigen Jahren "Gemeinden", "Staaten" und andere Fantasiegebilde. "Reichsbürger und Selbstverwalter" sind zudem stark von Verschwörungsideologien beeinflusst. Das kann die Grundlage für weitergehende Radikalisierungsprozesse sein. Gerichte, Finanzämter, Polizei und andere Behörden werden seit Jahren in ihrer Arbeitsweise behindert. "Reichsbürger und Selbstverwalter" schrecken dabei nicht vor Einschüchterungsversuchen, Bedrohungen und Gewalt zurück. Seit Dezember 2016 wird das Milieu auf waffenrechtliche Erlaubnisse hin überprüft, um diese - wo immer möglich - zu entziehen und so den legalen Waffenbesitz in der Szene zu unterbinden. "Reichsbürger und Selbstverwalter" sind eine Bestrebung mit erheblichem Gewaltpotenzial. 91 Finanzierung "Milieumanager"189 in der Szene der "Reichsbürger und Selbstverwalter" finanzieren sich durch den Verkauf von Fantasiepapieren, Autokennzeichen sowie Büchern und bieten sowohl Seminare als auch Vorträge an. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Ideologie und Aktivitäten von "Reichsbürgern und Selbstverwaltern" richten sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung sowie den Bestand der Bundesrepublik Deutschland und sind somit verfassungsfeindlich. Für "Reichsbürger und Selbstverwalter" stellt die bestehende politische und soziale Ordnung etwas fundamental Schlechtes dar. Sie soll durch eine grundlegende Umwälzung zugunsten eines anderen Systems überwunden werden. "Reichsbürger und Selbstverwalter" sehen sich als Gefangene oder Unterdrückte in einem ihnen fremden Feindstaat und verfolgen eine darauf ausgerichtete Widerstandsstrategie. Dazu gehört beispielsweise die Gründung von "Staatenbünden". Deren FantasieVerfassungen dokumentieren deutlich, wie fundamental dieses Milieu die freiheitliche demokratische Grundordnung ablehnt. Der extremistische Charakter der "Reichsbürger und Selbstverwalter" zeigt sich zudem in der Einstellung zur Gewalt. Die Androhung "reaktiver" Gewalt ist im Milieu weit verbreitet. Zudem zeigt sich eine große Affinität zu den verschiedensten Verschwörungsfantasien, zum Beispiel in Bezug auf die Corona-Pandemie. Entwicklungen im Berichtszeitraum Strukturierte Organisationsformen der "Reichsbürger und Selbstverwalter" Die Gruppierung "Provinz Brandenburg - Freistaat Preußen" mit Sitz in Cottbus ist eine Nachfolgeorganisation des "Freistaats Preußen", der seinerzeit eine der größten Vereinigungen des "Reichsbürger"-Milieus in Deutschland war. Nach einer polizeilichen Maßnahme und internen Auseinandersetzungen spaltete sich der "Freistaat Preußen" im Frühjahr 2017. Ein kleiner Teil der Mitglieder gründete den "Freistaat Preußen - Deutsches Reich". Der verbliebene Teil nennt sich seitdem "Provinz Brandenburg - Freistaat Preußen". Zu den mit der "Provinz Brandenburg - Freistaat Preußen" verbundenen Strukturen gehören die "Stadtgemeinde Cottbus" sowie der "Verein zur Förderung des Rechtssachverstandes in der Bevölkerung - Brandenburg" (RSV-Brandenburg). Die Gruppierung fällt regelmäßig mit revisionistischen und antisemitischen Äußerungen auf. In einem am 6. Mai 2020 veröffentlichten "Appell der Preußen", der unter anderem an die Botschaft der Volksrepublik China verschickt wurde, heißt es, man klage "gegen den von Ihren Regierungen zur Verwaltung der ahnungslosen Deutschen eingesetzten oder und geduldeten BUND, welcher gegen die Deutschen Völker und insbesondere uns Preußen Krieg führt. Es ist uns bekannt, daß es keinen Friedensvertrag gibt (...) Wir stellen fest, daß durch den BUND das Coronavirus benutzt wird, um die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen (...) Nach unseren Informationen, ist das der erste Auftakt (...) Das erfüllt alle Kategorien eines Angriffskrieges."190 189 Milieumanager sind Personen, die aus eigennützigen Zwecken ein Interesse daran haben, dass die Unterstützung für das politische System der Bundesrepublik nachlässt. Politische Krisensituationen sind ihre Geschäftsgrundlage. Sie suchen die Öffentlichkeit, halten Vorträge und schüren Ängste. Damit verdienen sie ihr Geld, denn sie verkaufen "Rechtsund Steuerberatung", Seminarplätze, Geldanlagen, Bücher, Zeitschriften und andere Medien. Zudem nutzen sie das Internet, um ihren Umsatz zu erhöhen. 190 Homepage "Provinz Brandenburg - Freistaat Preußen": "Appell der Preußen", 06.05.2020 (letzter Zugriff am 12.04.2021). 92 Die "Provinz Brandenburg - Freistaat Preußen" verunglimpft auf ihren Internetseiten zudem die repräsentative Demokratie und wirbt demgegenüber für ein identitäres Politikverständnis. Dieses antidemokratische Konzept geht von einer strikten Einheit der Regierenden und Regierten aus und zielt auf die Schaffung eines homogenen Volkes ab. Dieses ist typisch für viele "Reichsbürger und Selbstverwalter". Die Bundesrepublik Deutschland bezeichnen sie als "BRD-GmbH" und staatliche Institutionen als deren (Unter)Firmen. Dabei beziehen sich die Szeneangehörigen auf unterschiedlichste historische und völkerrechtliche Zustände Deutschlands und nehmen wilde Interpretationen vor: "Seit mindestens 1000 Jahren werden die Deutschen mental kastriert (...) Begehren die Deutschen auf? Nein. Ob Frau oder Mann, es sind keine Eier mehr vorhanden."191 In Teilen bedient die Reichsbürgerszene geschichtsrevisionistisches und antisemitisches Gedankengut: "Dann haben sie die Juden abgeholt, weil sie den Deutschen den heiligen Krieg erklärt haben (...) Zum Schluß kam die Welt in der Deutschen Länder und hat das deutsche Volk (...) schrecklich massakriert (...) und hält sie bis heute (...) im Zustand eines offenen Arbeitslagerstrafvollzugs (...) in einer Diktatur der Parteien."192 Einige Personen, die im Geflecht rund um den ehemaligen "Freistaat Preußen" aktiv waren, haben den "Freistaat Preußen / Administrative Regierung und Rechteinhaber des Präsidiums des Deutschen Reiches" gegründet. Sie unterhalten vom südlichen Brandenburg aus Beziehungen zu Gruppierungen mit ähnlichen Namen im gesamten Bundesgebiet. Dazu zählen unter anderem der "Volksstaat Bayern", der "Volksstaat Württemberg", der "Bundesstaat Sachsen" oder der "Bundesstaat Baden". Teilweise verschicken diese Zusammenschlüsse gemeinsame "Amtsblätter / Anordnungen" an Verwaltungen in ganz Deutschland. Der "Freistaat Preußen / Administrative Regierung und Rechteinhaber des Präsidiums des Deutschen Reiches" ist dabei besonders aktiv. Im Landkreis Oberhavel wurde 2017 die Gruppierung "Geeinte deutsche Völker und Stämme" ins Leben gerufen. Die Gründerin wohnt in Berlin und war einige Jahre zuvor schon in der Region um die niedersächsische Stadt Melle aktiv. Dort organisierte sie mit dem Verein "Landmark" verschwörungsideologisch geprägte Veranstaltungen. Die Gruppierung "Geeinte deutsche Völker und Stämme" vertrat bis zu ihrem Verbot 2020 die Auffassung, es gäbe eine "Staatsform im höchsten Recht". Dies sei "der Naturstaat, der im engen und harmonischen Zusammenhang mit dem Grund und Boden steht auf dem er wirkt. Ein freier Zusammenschluss von Menschen die sich Ihrer Zusammengehörigkeit bewusst sind und unter Achtung der Natur diesen Staat auf dessen Boden errichtet haben."193 An anderer Stelle hieß es auf der ehemaligen Webseite der Gruppierung: "Gemeinsam haben wir schon viel erreicht. In ganz Deutschland haben sich zahlreiche Menschen zusammengeschlossen, sich die Rechte am Boden zurück geholt und Gebiete wieder ins höchste Recht gehoben."194 Die Aktivisten der "Geeinten deutschen Völker und Stämme" sind in Berlin sowie den brandenburgischen Landkreisen Oberhavel und Potsdam-Mittelmark nach wie vor aktiv. Dokumentiert sind antisemitische Äußerungen der Gruppierung, Solidarisierungen mit Holocaustleugnern, die Gründung einer "Gebietskörperschaft Oranienburg" (Landkreis Oberhavel) und Interviews mit dem rechtsextremistischen "Volkslehrer". 191 Homepage "Provinz Brandenburg - Freistaat Preußen": "Die Kastration der Deutschen und das Geldsystem" 10.04.2020 (letzter Zugriff am 12.04.2021). 192 Homepage "Provinz Brandenburg - Freistaat Preußen": "Preisrätsel zum 3. Reich", 02.10.2020 (letzter Zugriff am 12.04.2021). 193 Homepage "Geeinte deutsche Völker und Stämme", ohne Datum (letzter Zugriff 2020). Anmerkung: Vor dem Hintergrund des Verbots der Gruppierung ist deren Homepage nicht mehr abrufbar. 194 Ebd. 93 Am 19. März 2020 wurde der Verein vom Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat verboten. Damit wurde erstmals ein überregional aktiver Personenzusammenschluss aus dem Milieu der "Reichsbürger und Selbstverwalter" aufgelöst. Konsequenterweise fanden am Tag des Verbots in Brandenburg und neun weiteren Bundesländern Hausdurchsuchungen statt. Erfahrungsgemäß werden die betroffenen Personen ihre Aktivitäten aufgrund ihrer ideologischen Verfestigung jedoch voraussichtlich fortsetzen. Die "DIENSTSTELLE 1/76 - Vereinigung zur operativen Aufklärung, Ermittlung und Enttarnung der Richtlinie 1/76 des MfS der DDR" geht auf einen Aktivisten im Landkreis Dahme-Spreewald zurück. Er ist Teil eines Netzwerks aktiver "Reichsbürger und Selbstverwalter" in Nordund Ostdeutschland. Der Selbstverwalter und verurteile Gewalttäter Adrian U. aus Reuden (Sachsen-Anhalt) gehört ebenso wie die "Othala-Rechtsmanufaktur" zu diesem Umfeld. "Kommissarische Reichsregierungen" (KRR) haben für die Szene insgesamt in den letzten Jahren an Bedeutung verloren, jedoch sind immer wieder einzelne Aktivitäten zu verzeichnen. In Brandenburg war in den letzten Jahren nur die Gruppierung "Die Exil-Regierung Deutsches Reich" aus dem Milieu der klassischen "KRR" oder "Exilregierungen" aktiv. "Die Exil-Regierung Deutsches Reich" hat sich 2012 von der jahrelang die Szene dominierenden "Exilregierung Deutsches Reich" abgespalten. Sie lehnt die bestehende politische Ordnung fundamental ab und möchte die Demokratie durch eine kaiserliche Monarchie ablösen. Bis dahin sieht sich die Gruppierung selbst als "legitime Regierung der Deutschen" an. In der Region BerlinBrandenburg sind ihre Aktivitäten, wie beispielsweise die regelmäßigen "Funktionsträgertreffen", in den letzten Jahren jedoch immer mehr zurückgegangen. Seit 2018 wurden keine Veranstaltungen mehr durchgeführt und die Aktivitäten von "Die Exil-Regierung Deutsches Reich" sind weitgehend zum Erliegen gekommen. Lose Organisationsformen der "Reichsbürger und Selbstverwalter" Neben diesen Zusammenschlüssen haben sich in vielen Teilen Brandenburgs kleinere, unstrukturierte regionale "Reichsbürger"-Milieus herausgebildet. Die Mehrheit dieses unstrukturierten Milieus eint die Ablehnung der Bundesrepublik Deutschland. Immer wieder lässt sich in diesen unstrukturierten Milieus die Bildung loserer Netzwerke beobachten, die über die Grenzen der Bundesländer hinweg miteinander kooperieren. Sie halten teilweise in sozialen Netzwerken, mit eigenen Videokanälen oder Internetpräsenzen zueinander Kontakt. Seit einigen Jahren werden zunehmend Aktivitäten der "Reichsbürger" in der Öffentlichkeit bekannt. So waren Reichsbürger am 29. August 2020 bei der zeitweisen Erstürmung der Reichstagstreppen in Berlin maßgeblich beteiligt. Ihnen geht es zum Beispiel um Demonstrationen oder Störungen bei Gerichten und Behinderungen von Vollzugsmaßnahmen. Trotz der querulatorischen Auffälligkeiten verhielt sich die "Reichsbürgerszene" in Brandenburg bislang hauptsächlich verbal aggressiv. Bemerkenswert sind zudem das sehr hohe Mobilisierungspotenzial sowie die gegenseitige Unterstützungsbereitschaft innerhalb der Szene. Dies zeigte sich bei Gerichtsverhandlungen gegen Anhänger der Szene, die zum Teil nur mit erheblichem Einsatz von Sicherheitspersonal durchgeführt werden konnten. 94 Bewertung / Ausblick Aktionismus und Aggression in Teilen der Szene der "Reichsbürger und Selbstverwalter" verstärken sich, sodass es zu Radikalisierungseffekten kommt. Die Corona-Pandemie wirkt hier als Beschleuniger. Die virale Verbreitung der Reichsbürger-Fantasien wird sich weiterhin fortsetzen und Sympathisanten für Aktivitäten mobilisieren. "Steckbrieflich" gesuchte Staatsanwälte und Vorsteher von Finanzämtern in Brandenburg sind erschreckende Beispiele für diese Tendenzen. Vor diesem Hintergrund bewertet der brandenburgische Verfassungsschutz die "Reichsbürger und Selbstverwalter" als Bestrebung mit teilweise erheblichem Gefahrenpotenzial. Hinzu kommt der erst Ende 2020 in Erscheinung getretene "Vaterländische Hilfsdienst". Dahinter steht ein Netzwerk, das zudem unter den Bezeichnungen "Preußisches Institut - Bismarcks Erben" beziehungsweise "Ewiger Bund" - vor allem im Internet - auftritt. Die weitere Entwicklung dieser Strukturen gilt es zu beobachten. 95 5. Linksextremismus 96 5. Linksextremismus Linksextremistische Gruppierungen bekämpfen auf verschiedenen Wegen das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland. Auch im Jahr 2020 waren sie in unterschiedlicher Intensität im Land Brandenburg aktiv. Für den brandenburgischen Verfassungsschutz ist "Linksextremismus" eine Sammelbezeichnung für alle gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Bestrebungen, die auf einer Verabsolutierung von Freiheit und Gleichheit beruhen. Diese Bestrebungen haben sich zum Ziel gesetzt, die bestehende Rechtsund Gesellschaftsordnung zugunsten eines kommunistischen oder anarchistischen Systems zu überwinden. Kommunistische und anarchistische Gruppierungen setzen sich dabei gleichermaßen für einen revolutionären Bruch mit den Eigentumsund demokratischen Machtverhältnissen ein. Kommunistische Gruppierungen streben hierfür zunächst die Errichtung einer "Diktatur des Proletariats" unter der uneingeschränkten Führungsrolle einer kommunistischen Partei an. Diese Partei soll einen allumfassenden Umbau von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft vorantreiben und den Übergang in eine klassenlose Gesellschaft vorbereiten. Ein solcher Alleinvertretungsanspruch einer einzelnen Partei steht beispielsweise klar im Widerspruch zu dem in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verankerten Recht auf Opposition, dem Parteienpluralismus und der Gewaltenteilung. In Brandenburg sind derzeit zwei linksextremistische Parteien aktiv. Es handelt sich zum einen um die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) sowie zum anderen um die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD). Beide vertreten vehement den eben erwähnten Alleinvertretungsanspruch und streben ganz konkret ein totalitäres System nach Vorbild der ehemaligen DDR beziehungsweise der Sowjetunion an. Anarchistische Gruppierungen lehnen grundsätzlich jede Form von Herrschaft ab. Aus ihrer Sicht unterwerfen sich die Bürger einem verächtlichen Zwangsakt, wenn sie Gesetze eines Staates akzeptieren. Menschliche Freiheit könne es nur nach der Abschaffung des Staates und der Etablierung einer herrschaftsfreien Gesellschaft geben. Dem folgend lehnen Anarchisten autoritäre Regime ab und setzten demokratische Staaten mit ihnen sogar gleich. Aus diesem Grund wollen sie die Bundesrepublik und ihre Institutionen zerschlagen. Hierbei wird von einigen Gruppen auch der Einsatz von Gewalt als ein legitimes Mittel befürwortet. Anarchisten richten sich damit einerseits gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung sowie andererseits gegen den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder. Eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz ist daher durch den Gesetzgeber vorgegeben. Die linksextremistische Szene lässt sich in drei maßgebliche Kategorien einteilen. Hierbei handelt es sich erstens um die oben bereits genannten Parteien, zweitens um parteiunabhängige beziehungsweise parteiungebundene Strukturen sowie drittens um ein weitgehend unstrukturiertes linksextremistisches Personenpotenzial. 97 Linksextremistisches Personenund Organisationspotenzial in Brandenburg (zum Teil geschätzt) 2018 2019 2020 Parteien: Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 50 50 50 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) EP195 EP EP Parteiunabhängige bzw. parteiungebundene Strukturen - Rote Hilfe e. V. (RH) - 305196 360 360 Weitgehend unstrukturiertes linksextremistisches Personenpotenzial - Autonome - 240 240 240 Sonstige linksextremistische Bestrebungen 65 60 50 Mehrfachmitgliedschaften 50 70 70 Gesamtzahl der Linksextremisten (nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften) 620 650 640 Wie der vorangestellten Tabelle zu entnehmen ist, unterscheiden sich die Personenpotenziale der drei Kategorien erheblich. Während die beiden kommunistischen Parteien DKP und MLPD in Brandenburg kaum noch Mitglieder haben, konnte der linksextremistische Verein "Rote Hilfe e. V." seit Jahren einen Personenzuwachs verzeichnen. Diese Entwicklung kam 2020 bei der "Roten Hilfe" jedoch zum Erliegen. Darüber hinaus gelang es den gewaltorientierten Autonomen 2020 einmal mehr ihr Personenpotenzial auf konstantem Niveau zu halten. Die fortschreitende Bedeutungslosigkeit der linksextremistischen Parteien hält an. Die DKP besitzt zwar in Brandenburg mehrere feste Ortsvereine, jedoch gelingt es diesen nicht, junge Menschen an sich zu binden. Die Partei ist noch immer mehrheitlich von starren Altkadern geprägt. In Anbetracht der organisatorischen Schwäche sowie der inhaltlichen Zersplitterung erscheint es äußerst unwahrscheinlich, dass die DKP zeitnah neue Mitglieder für die von ihr angestrebte Revolution gewinnen kann. 195 EP = Einzelpersonen. 196 Die Zahl beruht auf Eigenangaben der RH (Mitgliederrundbrief 3/2018). 98 Das gilt erst recht für die MLPD, die eine kommunistische Herrschaftsordnung mit Elementen des Stalinismus und Maoismus anstrebt. Im Gegensatz zur DKP verfügt sie in Brandenburg über gar keine Strukturen. Lediglich einige wenige Parteimitglieder haben hier ihren Wohnsitz. Zudem ist der Mitgliederstamm der MLPD von einer anhaltenden Überalterung gekennzeichnet. Der starke ideologische Dogmatismus (Anspruch, den "wahren Sozialismus" verwirklichen zu wollen) und die damit verbundene starke Indoktrination der Mitglieder haben den Ruf der Partei verfestigt, eine "politische Sekte" zu sein. Neue Mitglieder zieht das kaum an. Letztlich muss festgehalten werden, dass sich die kommunistischen Parteien in Brandenburg schon seit Jahren in einer Abwärtsspirale befinden. Die schwachen bis gar nicht vorhandenen Parteistrukturen sowie der hohe Altersdurchschnitt der wenigen Mitglieder verhindern Zuwächse und eine politische Wahrnehmbarkeit. Gegen diesen Trend scheint die DKP seit 2020 verstärkt mit Kundgebungen anzukämpfen, auf denen auch aktuelle Themen aufgegriffen werden. So versuchte die Potsdamer Ortsgruppe die Corona-Pandemie für politische Ziele zu nutzen und forderte beispielsweise "Hilfe aus China für das EvB-Klinikum in Potsdam".197 Daneben wurden auch klassische Themen wie Solidarität und Frieden mit Russland und China sowie Abrüstung und der NATO-Austritt propagiert. Derartigen Forderungen wandte sich am 14. November 2020 ebenfalls die Ortgruppe Strausberg (MOL) auf einer öffentlichen Versammlung zu.198 Die Cottbuser Ortsgruppe huldigte zudem 2020 offen der totalitären SED-Vergangenheit, indem sie der ehemaligen DDR zum 71. Geburtstag "gratulierte": "Heute vor 71 Jahren - am 7. Oktober 1949 - wurde ein Staat gegründet, der frei war von der würdelosen Entmenschlichung namens Hartz IV, frei von Kriegstreiberei. Ein Staat, der nicht von Superreichen, Banken und Konzernen regiert wurde. Sein Wappen ist ein Gütesiegel, Hammer und Zirkel im Ährenkranz. Alles Gute zum 71ten #DDR!" 199 Unter sonstigen linksextremistischen Bestrebungen werden diejenigen Gruppierungen zusammengefasst, die nicht unter eine der drei obigen Kategorien fallen. Dazu zählen zum Beispiel anarchistische Kleingruppen, wie die "Freie Arbeiterinnenund Arbeiter-Union" (FAU). Im März 2018 gründete sich in Potsdam erstmals eine eigenständige Ortsgruppe der FAU in Brandenburg. Eigenen Angaben zufolge sieht sie ihre Aufgabe zunächst darin, "über die Grundlagen und alltäglichen Werkzeuge anarchosyndikalistischer Gewerkschaftsarbeit"200 in Potsdam zu informieren. Die FAU Potsdam war 2020 vor allem im studentischen Spektrum der Landeshauptstadt aktiv.201 Der Anarchosyndikalismus will mittels anarchistischer Gewerkschaften die bestehende Gesellschaftsordnung revolutionär überwinden und ein herrschaftsfreies System errichten. Von der ebenfalls im Jahre 2018 gegründeten Gruppierung "Die Plattform - Anarchokommunistische Organisation" wurden 2020 in Brandenburg indes öffentlich keine Aktivitäten bekannt. Von Seiten der linksextremistischen Szene gab es 2020 eine Vielzahl ideologischer Bewertungen, Protestaufrufe sowie Anweisungen zum Umgang mit den Corona-Schutzmaßnahmen. Derartige Stellungnahmen fanden sich auf überregionalen Szene-Portalen wie "indymedia". Gleichermaßen wurden sie auch von brandenburgischen Linksextremisten verbreitet. Die meisten linksextremistischen Gruppierungen griffen dabei auf das Narrativ zurück, das kapitalistische System und der staatliche Repressionsapparat seien nun an ihre Grenzen gekommen. 197 Facebook-Seite DKP Potsdam & Umland, 31.03.2020 (letzter Zugriff am 21.01.2021). Anmerkung: Die Abkürzung "EvB" steht für Ernst von Bergmann, dem Namensgeber des Potsdamer Klinikums. 198 Vgl. Facebook-Seite DKP Brandenburg, 15.11.2020 (letzter Zugriff am 21.01.2021). 199 Facebook-Seite DKP Cottbus, 07.10.2020 (letzter Zugriff am 21.01.2021). 200 Homepage "FAU Stadtsektion Potsdam": "Die Stadtsektion Potsdam stellt sich vor!", ohne Datum (letzter Zugriff am 21.01.2021). 201 Vgl. Homepage "Kritische Einführungswochen": "Vortrag: Organisierte Arbeit? - mit der FAU Potsdam", ohne Datum (letzter Zugriff am 16.02.2021). 99 So wurden beispielsweise eine angebliche Neoliberalisierung des Gesundheitssystems und die Einschränkung des öffentlichen Lebens angeprangert und all dies zugleich als Transformationsprozess hin zu einem Überwachungsstaat bewertet. Des Weiteren zielte die linksextremistische Kritik darauf, dass die ergriffenen Schutzmaßnahmen insbesondere sozial schwächere Teile der Gesellschaft treffen würden. Trotz der Einschränkungen waren 2020 für die meisten linksextremistischen Bestrebungen sowohl die innere Vernetzung als auch die Kooperation mit zivilgesellschaftlichen Gruppen in Zeiten der Krise wichtig. Von der überwiegenden Mehrzahl der Akteure wurden die gesundheitlichen Risiken von Corona anerkannt. Als Maßstab des eigenen Handels können nach linksextremistischer Auffassung aber nicht die staatlichen Verordnungen, wie Ausgangssperren und Kontaktverbote, gelten. Vor diesem Hintergrund wurde die selbstbestimmte eigene Abwägung zwischen dem gesundheitlichen Selbstschutz und der Notwendigkeit, die eigenen Kämpfe weiterzuführen, betont. Für den brandenburgischen Raum gilt, dass es im Jahre 2020 zwar zahlreiche Aufrufe zu politischen Aktionen gab, sich die Aktivitäten jedoch im bundesweiten Vergleich in Grenzen hielten und teilweise in den privaten oder auch virtuellen Raum verlagert wurden. Im Folgenden soll ein genauerer Blick auf die beiden bedeutendsten extremistischen Akteure im brandenburgischen Linksextremismus geworfen werden. Hierbei handelt es sich um gewaltorientierte Autonome und den Verein "Rote Hilfe e. V.". 100 5.1 Autonome Sitz / Verbreitung Autonome Szenen finden sich landesweit in größeren Städten wie Potsdam, Cottbus, Finsterwalde (EE) und Frankfurt (Oder). Gründung / Bestehen Ab dem Ende der 1970er Jahre entwickelten sich in der Bundesrepublik nach der Studentenbewegung von 1968 sowie den Aktivitäten der "Sponti-Szene"202 lokale autonome Szenen. Nach der Wiedervereinigung schlossen sich auch in Brandenburg Personen zu derartigen Gruppierungen zusammen. Struktur / Repräsentanten Die brandenburgischen Szenestrukturen sind zumeist nur lokal verankert und nicht dauerhaft in überregionale Bündnisse eingebunden. Im Zusammenhang mit szenetypischen Großveranstaltungen kam es jedoch bereits mehrfach zu zeitlich befristeten Kooperationen mit anderen linksextremistischen Gruppierungen. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer Der autonomen Szene werden im Land Brandenburg weiterhin etwa 240 Personen zugerechnet. Veröffentlichungen Die autonome Szene in Brandenburg berichtet über ihre Aktivitäten zumeist über das Internet. Hierfür werden einschlägige Szene-Portale ebenso wie Blogs und soziale Netzwerke genutzt. Kurzportrait / Ziele Die autonome Szene besteht aus lokalen Personenzusammenschlüssen, deren Ziel die Überwindung des politischen Systems in Deutschland ist. Obwohl die autonome Szene zumeist kein in sich geschlossenes Weltbild vertritt, orientiert sie sich klar an anarchistischen Ideologien. So lehnen Autonome zum Beispiel Staaten als illegitime Herrschaftsapparate grundlegend ab. Bei genauerer Betrachtung fällt zudem auf, dass die autonome Szene vor allem durch eine "Anti-Haltung" geprägt ist. Autonome wissen zwar sehr genau, was sie politisch ablehnen und bekämpfen; eine konkrete Ausgestaltung der von ihnen angestrebten "herrschaftsfreien Gesellschaft" bleiben sie jedoch schuldig. Die autonome Szene organisiert ihren politischen Kampf in unterschiedlichen, zum Teil bis weit in die politische Mitte anschlussfähigen, Themen. Im Zentrum stehen Aktionsfelder wie "Antifaschismus", "Antirassismus" sowie "Antirepressions-" und "Antigentrifizierungsarbeit". Unter dem Begriff "Antifaschismus" verstehen Linksextremisten etwas anderes als Demokraten: einerseits den Kampf - teils wörtlich - gegen Personen und Gruppen, die sie der rechtsextremistischen Szene zurechnen. Andererseits fällt darunter aber auch der Kampf gegen das kapitalistische System und seine Repräsentanten. Diese doppelte Bedeutung des Begriffes "Antifaschismus" ist darauf zurückzuführen, dass Linksextremisten davon überzeugt sind, dass der Faschismus dem Kapitalismus innewohne. 202 Als "Spontis" wurden in den 1970er und 1980er Jahren politisch linksorientierte Gruppen bezeichnet, deren Grundidee es war, mit einer "Spontaneität der Massen" für eine revolutionäre Überwindung des bestehenden Systems zu kämpfen. Hierfür besetzte die "Sponti-Szene" zum Beispiel Häuser oder rief zu wilden Streiks in Betrieben auf. 101 Daher sei das auf der freiheitlichen demokratischen Grundordnung beruhende politische System der Bundesrepublik Deutschland in seinem Kern selbst nur eine Spielart des Faschismus, da es mit der Sozialen Marktwirtschaft auf einer kapitalistischen Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung basiere. Autonome glauben daher, dass ein Sieg über den Faschismus letztlich nur durch eine Zerschlagung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung möglich sei. Folglich ist nicht jeder Antifaschist ein Demokrat.203 Dieser Argumentation folgend ist der Kapitalismus für Autonome auch in anderen Aktionsfeldern der Hauptgrund gesellschaftlicher Probleme. So wird dem deutschen Staat ein struktureller Rassismus gegenüber Personen nichtdeutscher Herkunft unterstellt. Der Grund für den angeblichen Rassismus deutscher Behörden ist nach Ansicht der autonomen Szene eine kapitalistische "Verwertungslogik" in der Migrationsund Flüchtlingspolitik. Demnach seien keine humanitären, sondern ausschließlich wirtschaftliche Kriterien entscheidend für die Zuwanderung nach Deutschland. Unter Gentrifizierung wird allgemein die soziale Verdrängung ansässiger Menschen durch wohlhabendere Bevölkerungsschichten verstanden. Diesem vor allem in städtischen Ballungszentren anzutreffenden Prozess kann nach Auffassung der autonomen Szene nur durch die Überwindung des Kapitalismus wirksam begegnet werden. Dabei erhalten Hausbesetzungen mit dem Ziel der Eroberung und Aneignung "herrschaftsfreier Rückzugsräume" eine symbolische Wirkung. Diese sollen bis weit in die gesellschaftliche Mitte reichende Sympathien erzeugen. Hieran wird deutlich, dass Autonome für die Lösung oftmals komplexer Probleme nur einfache monokausale Erklärungsansätze liefern. Eindimensional konstruierte Feindbilder sind bei Extremisten typisch anzutreffende Denkmuster. Mithilfe von Aktionsbündnissen und Kampagnen versuchen Autonome, tagespolitische Themen aufzugreifen, sie perspektivisch in der linksextremistischen Szene zu verankern, um somit ihre Anschlussfähigkeit an das demokratische Spektrum voranzutreiben. Themen, die weit oben auf der politischen Agenda stehen, wie etwa "Klimaschutz" und "Kohleausstieg", werden als Aktionsfeld vereinnahmt. Ziel ist es, die Deutungshoheit zu gewinnen, die demokratische Klimabewegung zu radikalisieren und einen allumfassenden Systemwandel linksextremistischer Prägung durchzusetzen. "Kurdistansolidarität" ist ein weiteres althergebrachtes Agitationsfeld brandenburgischer Linksextremisten - vor allem in Potsdam und Cottbus. Dabei versuchen Linksextremisten durch die Teilnahme an Demonstrationen Bündnisse mit kurdischen Aktivisten und Anhängern der PKK und YPG zu schmieden.204 Das im nördlichen Syrien gelegene kurdische Gebiet "Rojava" ist zudem ein Sehnsuchtsort für Linksextremisten, die dort vereinzelt auf kurdischer Seiten in den bewaffneten Kampf ziehen. Den im Kampf Getöteten wird in einigen linksextremistischen Gruppierungen ein Märtyrerstatus zugeschrieben. Die autonome Szene nimmt ihren "Kampf gegen den Faschismus" und das "Zerschlagen des Systems" durchaus wörtlich. Gewalt wird als legitimes politisches Mittel angesehen und gezielt eingesetzt. Hauptziele autonomer Gewaltstraftaten sind einerseits Vertreter staatlicher Behörden, allen voran Polizeibeamte. Andererseits richtet sich autonome Gewalt gegen Rechtsextremisten oder gegen Personen, die von der autonomen Szene als rechtsextremistisch klassifiziert werden. 203 Der Terminus Antifaschismus wurde über Jahrzehnte hinweg missbräuchlich verwendet, instrumentalisiert und damit diskreditiert. Das Landesamt für Verfassungsschutz Hamburg erörtert sowohl die demokratischen als auch extremistischen Wurzeln des Begriffs. Siehe dafür: Landesamt für Verfassungsschutz Hamburg: Antifaschismus. Hintergründe und Analyse zur Definition und Rezeption, https://www.hamburg.de/contentblob/13365896/697d9f70e3d488994b65bca9dd29194f/ data/antifaschismus-hintergruende-und-analyse-zur-definition-und-rezeption.pdf, (letzter Zugriff am 21.01.2021). 204 Für weitere Informationen zur PKK und YPG siehe das Kapitel 7 "Auslandsbezogener Extremismus". 102 Finanzierung Die autonome Szene finanziert sich maßgeblich durch Spenden und Einnahmen aus der Organisation von Szeneaktivitäten, wie zum Beispiel Konzerten. Mitgliedsbeiträge gibt es nicht. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Das politische Fernziel der Autonomen ist die Überwindung der gegenwärtigen Staatsund Gesellschaftsordnung zugunsten einer "herrschaftsfreien Gesellschaft". Hierfür befürwortet der Großteil der Szene den gezielten Einsatz von Gewalt. Gewalt ist für die Autonomen Ausdruck der Unversöhnlichkeit mit den Verhältnissen oder der "Preis", den die Verantwortlichen für die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Ordnung zahlen müssen. Aus diesen Gründen richten sich Autonome eindeutig gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Folglich ergibt sich die Zuständigkeit des Verfassungsschutzes Brandenburg nach SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 des Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes. Entwicklungen im Berichtszeitraum Wie schon 2019 konnte die autonome Szene in Brandenburg ihre Anhängerschaft nicht mehr vergrößern. So stagniert das Personenpotenzial auch im Jahr 2020 bei ca. 240 Anhängern. Bis auf wenige Ausnahmen gilt weiterhin eine klare Absage an feste und hierarchische Organisationsstrukturen. Die Szene wird seit vielen Jahren durch lokale, allerdings in sich nicht sehr homogene autonome Gruppierungen geprägt. Allerdings versuchen mittlerweile postautonome Akteure in Brandenburg langfristige, größere Bündnisse aufzubauen. Aufgrund ihrer örtlichen Schwerpunkte lassen sich Autonome vorwiegend als "Großstadt-Phänomen" beschreiben. Demnach sind sie in Brandenburg vornehmlich in Potsdam und Cottbus aktiv. Allerdings weist auch eine Kleinstadt wie Finsterwalde (EE) eine aktive autonome Szene auf. Daneben existieren noch in Frankfurt (Oder), Neuruppin (OPR), Prenzlau (UM), Bernau, Eberswalde (beide BAR), Oranienburg (OHV), Teltow, Stahnsdorf, Kleinmachnow (alle drei PM), Forst (SPN) und dem Westhavelland (HVL) autonome Szenen. Die Szene rekrutiert sich vor allem aus dem studentischen Milieu. Das Interesse für die autonome Szene hat verschiedene Ursachen. Ein wichtiger Beweggrund für die Unterstützung der autonomen Szene kann die Begegnung mit der "rechten" Szene, wie Rechtspopulisten oder Rechtsextremisten, sein. Viele junge Aktivisten sind zunächst nicht wegen einer geschlossenen linksextremistischen Weltanschauung oder gar fundamentaler gesellschaftlicher Umwälzungspläne in Kontakt mit Autonomen geraten. Vielmehr haben sie den Wunsch, nach einer gerechten und weltoffenen Gesellschaft. Bei ihren Aktionen verlassen Autonome oft den demokratischen und rechtsstaatlichen Rahmen. Die direkte körperliche Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner oder der Polizei erleben diese jungen Aktivisten als sinnstiftende Erfahrung.205 Körperliche Auseinandersetzungen mit der Polizei sind keine Seltenheit und werden noch durch Aufrufe, wie "Schluss mit Sozialpartnerschaft und Co-Management! Haben wir keine Angst vor stärkeren Klassenauseinandersetzungen, sondern suchen wir sie!"206, gefördert und teilweise gefordert. Junge Szeneangehörige werden sowohl durch langjährige Anhänger der Autonomen und im besonderen Maße durch den Verein "Rote Hilfe e.V."207, der politisch motivierten Straftätern Rechtsbeistand gewährt, radikalisiert und instrumentalisiert. 205 Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz: "Linksextremismus - Erscheinungsformen und Gefährdungspotenziale", Köln 2016, S. 21. 206 Homepage "Kommunistischer Aufbau": "Der "Lockdown Light" trifft die Arbeiter:Innenklasse mit voller Wucht", 04.11.2020 (letzter Zugriff am 21.01.2021). 207 Für weitere Informationen zu dem linksextremistischen Verein "Rote Hilfe e.V." siehe das folgende Unterkapitel 5.2. 103 Die autonome Szene professionalisiert sich seit Jahren mit internen Demonstrations-, Blockadeund Kampfsporttrainings. Ebenso werden Maßnahmen zur Verschleierung der Identitäten in Schulungen gelehrt. Entsprechende Verhaltensweisen werden trainiert, um diese in der Antirepressionsarbeit, dem Kampf gegen den Faschismus sowie den Klimaprotesten - unter anderem im Rahmen von "Ende Gelände" - einzusetzen. Allerdings konnten Großevents, wie etwa Kampfsportoder Vernetzungsveranstaltungen, im Jahre 2020 nicht stattfinden. Autonome in Brandenburg Mit einem Gesamtpotenzial von etwa 100 Personen ist die autonome Szene Potsdam die größte im Land Brandenburg. In der Landeshauptstadt existieren viele kleinere Gruppierungen, die nur lose zusammenhängende Strukturen aufweisen. Die Gruppen treffen sich in unregelmäßigen Abständen in Szenetreffs und - objekten. Eine der aktivsten Potsdamer Gruppierungen ist die "Emanzipatorische Antifa Potsdam" (eap). Neben dem "Antifaschismus" sind Autonome in Potsdam insbesondere im Aktionsfeld "Antigentrifizierung" aktiv. Sie positionierten sich beispielsweise klar gegen die am 9. Oktober 2020 durchgeführte Räumung des besetzten Berliner Szeneobjekts "Liebig 34". Ebenso wurde am 29. März 2020 ein "Housing Action Day" in Potsdam ausgerufen, mit dem Ziel einer Beschlagnahme von möblierten Wohnungen. Besetzungen wie im Vorjahr fanden 2020 indes nicht statt. Für Autonome sind besetzte Häuser und autonome Hausprojekte "Rückzugs-" und "herrschaftsfreie Räume", in denen ungestört Aktionen gegen den politischen Gegner oder die Polizei geplant werden können. Dennoch versucht die linksextremistische Szene Sympathie unter den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt zu bekommen. Dazu instrumentalisiert sie öffentlich Themen, wie Mietensteigerung und Wohnraumknappheit, und verknüpft diese mit der Systemfrage. Sie versucht zudem, über Proteste gegen den Wiederaufbau der Garnisonkirche Einfluss zu gewinnen. Die Kirche steht in ihren Augen sinnbildlich für preußischen Militarismus und Nationalsozialismus. Die zweitgrößte autonome Szene Brandenburgs existiert in Cottbus. Sie verfügt über ein Potenzial von etwa 35 Personen und unterhält enge Kontakte zu den autonomen Szenen in Forst (SPN) und Finsterwalde (EE). In Cottbus existieren einschlägige Szenetreffs, die der Vernetzung dienen. Der seit 2018 in Cottbus aktive "Kommunistische Aufbau" orientiert sich - ähnlich wie die DKP - an einem geschlossenen marxistisch-leninistischen Weltbild.208 Anders als die überalterte Partei versucht der "Kommunistische Aufbau" durch moderne Aktionsformen junge Menschen für sich zu gewinnen. Die Gruppierung wirkt dabei sowohl ideologisch als auch aktivistisch auf die Cottbuser Szene ein. Auch 2020 verbreitete sie ihre verfassungsfeindlichen Botschaften. Bereits im Frühjahr zu Beginn der Corona-Pandemie versuchte der "Kommunistische Aufbau" das Thema zu besetzen und rief zu Demonstrationen am "Tag der Arbeit" auf: "Unser Widerstand kann nicht warten bis Corona ausgestanden ist. [...] Gerade den 1. Mai müssen wir als Chance begreifen, uns der neuen Situation anzupassen, die richtigen Kampfmittel zu identifizieren und trotz allem am 1. Mai mit Roten Fahnen auf die Straßen zu gehen".209 In weiteren Veranstaltungen hat die Gruppierung das Narrativ verbreitet, dass die Corona-Pandemie und deren Folge dem Kapitalismus systemisch immanent seien. Folglich propagierte der "Kommunistische Aufbau" eine Revolution als einzigen möglichen Lösungsweg.210 208 Vgl. Homepage "Kommunistischer Aufbau": "Programmatisches Selbstverständnis", ohne Datum (letzter Zugriff am 21.01.2021). 209 Homepage "Kommunistischer Aufbau": "Aktionen am 1. Mai", 17.04.2020 (letzter Zugriff am 21.01.2021). 210 Vgl. Facebook-Seite "Kommunistischer Aufbau": "Die Krise hat System", 21.09.2020 (letzter Zugriff am 21.01.2021). 104 Die autonome Szene in Finsterwalde (EE) greift unverändert auf ein Personenpotenzial von 25 Personen zurück. Daneben existiert ein breites subkulturell geprägtes Umfeld, das aktionsabhängig mobilisiert werden kann. In Finsterwalde kommt es seit vielen Jahren häufig zur Konfrontation zwischen Angehörigen der linken und der rechten Szene. Besonders die Partei "Alternative für Deutschland" (AfD)211 wird immer wieder von der autonomen Szene ins Visier genommen und bekämpft. Das autonome Milieu in Finsterwalde, hier vor allem die "Proletarische Autonomie Finsterwalde" (PAF), ist landesund bundesweit vernetzt. Die aufgrund des Hochschulstandorts stark studentisch geprägte autonome Szene in Frankfurt (Oder) ist im Jahr 2020 durch keine Taten herausragender Bedeutung in Erscheinung getreten. Die Stadt wurde am 28. November 2020 Schauplatz einer bundesweit organisierten "Querdenker"-Demonstration. Zu einer Gegendemonstration hatten auch Linksextremisten mobilisiert. Antifaschismus Das Aktionsfeld "Antifaschismus" bildet in Brandenburg einen Schwerpunkt linksextremistischer Agitation. Anlassbezogen schließen sich immer wieder Kräfte zu regionalen und überregionalen Bündnissen zusammen. Wichtigster Gegner ist dabei die AfD.212 Daher ist es nicht verwunderlich, dass es - wie in den Vorjahren - auch 2020 zu teils erheblichen Straftaten zum Nachteil von Repräsentanten dieser Partei und deren Einrichtungen gekommen ist. Dazu zählten Sachbeschädigungen an ihren Veranstaltungsorten und Parteibüros wie auch tätliche Angriffe auf Parteimitglieder sowie Brandanschläge auf Pkws. Das Aktionsniveau der linksextremistischen Szene gegen die AfD verbleibt in Brandenburg weiterhin auf einem hohen Niveau. Die Kampagnen "Nationalismus ist keine Alternative" (NIKA) und "Kein Raum der AfD" mobilisierten 2020 erneut gegen Hotels und Restaurants, welche in Brandenburg die AfD bewirteten.213 Diese Form der politischen Intervention wurde durch die Schaffung des Meldeportals "Verpetz die AfD" 2020 sogar noch intensiviert. Im Jahr 2020 konnte kein Rückgang der Angriffe auf Büros der AfD214 im Land Brandenburg verzeichnet werden. Mehrere Sachbeschädigungen wurden beispielsweise in der zweiten Jahreshälfte gegen das AfDBüro in Elsterwerda (EE) verübt. Somit bleibt die Zahl der neun Angriffe gegen Parteibüros auf einem hohen Niveau (2019: 15). In anderen Bundesländern lässt sich zunehmend eine Personalisierung der Gewalt gegen Repräsentanten der AfD festmachen. Richteten sich die Angriffe in der Vergangenheit primär gegen Büros oder Geschäftsstellen der AfD, so zielen diese in jüngster Zeit auch auf die Privatsphäre von AfD-Mitgliedern oder Parteiunterstützern ab. Dieser Trend ist vor allem in Ballungsräumen mit starker linksextremistischer Szene zu beobachten und in diesem Ausmaß noch nicht in Brandenburg zu konstatieren. Hingegen ist im Jahr 2020 eine rückläufige Tendenz der politisch linksmotivierten Gewaltstraftaten zu verzeichnen. Insgesamt wurden 12 linksmotivierter Gewaltstraftaten gezählt (2019: 24). 211 Siehe FN 6. 212 Siehe FN 6. 213 Vgl. beispielhaft Homepage "Kein Raum der AfD": "AfD raus aus dem Alten Steuerhaus", 06.09.2020 (letzter Zugriff am 21.01.2021). 214 Siehe FN 6. 105 Neben den bereits bekannten Netzwerken gründete sich Anfang des Jahres die Organisation "Red & Anarchist Skinheads Potsdam" (RASH Potsdam) neu. Dabei handelt es sich um eine eigenständige RASH-Sektion, die sich aus der 2018 aufgelösten "RASH Berlin-Brandenburg" und den "Scortesi beim SV Babelsberg 03" heraus gründete. Die Gruppierung beschreibt sich selbst als einen Zusammenschluss von Menschen, die sich mit der Idee von RASH, einer "antifaschistischen und antikapitalistischen Gegenkultur", verbunden fühlen. Ihre Aufgabe sehen die Mitglieder unter anderem in der aktiven Unterstützung sozialer Kämpfe in Potsdam.215 Sowohl Symbolik als auch Ausdrucksweise sind Anhaltspunkte für die Aktivität von Linksextremisten innerhalb der Gruppierung. Neben der AfD216 sind auch andere rechtsextremistische Akteure im Fokus linksextremistischer Aktionen. Beispielsweise organisierte die "Emanzipatorische Antifa Potsdam" am 8. August 2020 eine Kundgebung unter dem Motto "Nie wieder Faschismus" gegen einen Aufmarsch der "Freien Kräfte Neuruppin/Osthavelland". Auf der von Linksextremisten aus Brandenburg und Berlin genutzten Vernetzungsplattform "RASH - Subkultur und Widerstand" wurde am 23. März 2020 zudem dazu aufgerufen, "Nazis [anzuhusten]".217 Einen weiteren Handlungsschwerpunkt stellen Outing-Aktionen zur aggressiven Diskreditierung und Einschüchterung von tatsächlichen oder vermeintlichen Rechtsextremisten dar. Dabei werden persönliche Daten der Akteure in Erfahrung gebracht und in Form von Flugblättern, Plakaten oder Internetartikeln veröffentlicht. Ziel solcher Aktionen ist, den politischen Gegner einzuschüchtern, bloß zu stellen und zur Aufgabe zu bewegen. Beleidigungen beziehungsweise Bedrohungen bis hin zu Körperverletzungen können im Weiteren folgen und gelten szeneintern als bewährte antifaschistische Mittel. Grundsätzlich nutzt die autonome Szene Camps, Festivals und ähnliche Veranstaltungen, um sich zu vernetzen und das Aktionsniveau hoch zu halten. Allerdings wurde 2020 aufgrund der Pandemie von zahlreichen Veranstaltungen abgesehen. Bis auf wenige Demonstrationen und Gegenveranstaltungen agierte die Szene eher zurückhaltend im öffentlichen Raum. Um dennoch die Kontakte untereinander nicht zu verlieren, wurden unzählige Internetauftritte absolviert und öffentliche Aufrufe publiziert. Die linksextremistische Szene nutzte die Pandemie, um sich im Hintergrund noch besser als bisher zu vernetzen und sich gegenseitig zu informieren. Folglich verbirgt sich dahinter die Gefahr, dass die intern erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten zu einem späteren Zeitpunkt eingesetzt werden. Aktionsfeld "Antirepressionen" Die aggressive Grundhaltung autonomer Gruppen richtet sich nicht nur gegen den politischen Gegner, sondern auch gegen staatliche Organe, wie die Polizei, Behörden oder Abgeordnete des Landtags. Ihnen wird vorgeworfen, im Rahmen ihrer staatlichen Funktion Repression auszuüben und einen Überwachungsstaat zu schaffen. Insbesondere in der Debatte um vermeintliche "Polizeigewalt" im Zusammenhang mit Exekutivmaßnahmen gegen die linksextremistische Szene gelingt es Autonomen, Anschluss an das bürgerliche Spektrum zu finden. Damit versuchen Linksextremisten, den bürgerlichen Protest gegen staatliche Organe für sich zu instrumentalisieren. Polizeibeamte gelten Linksextremisten als Ausdruck des vermeintlich faschistischen Staates, weswegen sie von der Szene regelmäßig als "FaschistInnen in Uniform"218 diffamiert werden. Im Jahr 2020 intensivierten Linksextremisten ihre "Antirepressionsarbeit" dahingehend, dass sie die Auseinandersetzung über die Corona-Schutzmaßnahmen und damit verbundenen Einschnitte in persönliche Freiheitsrechte instrumentalisierten. 215 Vgl. Facebook-Seite "RASH Potsdam", 04.01.2020 (letzter Zugriff am 21.01.2021). 216 Siehe FN 6. 217 Facebook-Seite "RASH - Subkultur und Widerstand", 23.03.2020 (letzter Zugriff am 17.02.2021). 218 Vgl. Homepage "indymedia": "Bericht zum 13.12.2020 in Leipzig-Connewitz", 15.12.2020 (letzter Zugriff am 16.12.2020). 106 Aktuelle Beispiele für die Verurteilung polizeilichen und gerichtlichen Handelns als Repression sind die "SoliKundgebung: GK-Gegner vor Gericht" am 4. Dezember 2020219 und der am 13. Dezember 2020 veranstaltete "Infotag zur Abschaffung der Polizei".220 Im Aufruf zur Kundgebung zum 4. Dezember 2020 heißt es: "Der Widerstand gegen die Garnisonkirche lässt sich nicht kriminalisieren. Auch nicht von einer antidemokratischen Clique aus Rechtsnationalen, Preussenfetischist*innen und eitlen Machtmenschen in Kirche und Staat!"221 Ergänzend hierzu wurde der vermeintliche "Infotag zur Abschaffung der Polizei" gezielt am 13. Dezember terminiert. Denn die Zahlenkombination "1312 "steht für die auch in der linksextremistischen Szene verbreitete Losung "ACAB" (All Cops are Bastards; zu Deutsch: Alle Polizisten sind Bastarde). Die Veranstaltung wurde durch eine linksextremistische Kleingruppe namens "anarchistisch-kommunistische potsdamer doktorand*innen und studierendenunion" (akpdsu*) mit gewaltverherrlichenden Videos gegen die Polizei beworben. Viele Veranstaltungen in den auch von brandenburgischen Linksextremisten genutzten Potsdamer Örtlichkeiten wurden 2020 eingestellt. Dennoch fanden vereinzelt realweltliche Aktionen in geringem Umfang statt. So wurde am 4. April 2020 auf der von Linksextremisten genutzten Homepage "inforiot" ein Text mit dem Artikel "Mundschutz heißt nicht Maulkorb" veröffentlicht. Darin heißt es im Zusammenhang mit einer Protestaktion vom 3. April 2020 in der Potsdamer Innenstadt: "Wir müssen auf die Erhaltung unserer Grundund Freiheitsrechte bestehen. Sie sind hart erkämpft worden. Die jetzigen Beschränkungen zeigen uns: Sie bilden den Kern unseres Alltagshandels. Die aktuelle Notgesetzgebung ist ein Dammbruch. Sie schafft Präzedenzfälle und ebnet den Weg für einen autoritären Staat, der uns kontrolliert und von niemandem mehr kontrolliert werden kann. Ordnungsamt und Polizei handeln rechtswidrig, willkürlich, rassistisch, chauvinistisch? Berichtet eure Erfahrungen mit den Hashtags #CoronaPolizei &#Potsdam".222 Teile des gewaltorientierten Spektrums weiteten 2020 das Aktionsfeld "Antirepression" auf Unternehmen aus, die ihrer Auffassung nach eine Art "Repressionsinfrastruktur" bieten. Hierbei handelt es sich um Firmen, die Produkte für die Verarbeitung personenbezogener Daten entwickeln. Darüber hinaus konzentrierten sich 2020 einzelne Gruppierungen auf militante Aktionen gegen Einrichtungen und Akteure der digitalen Infrastruktur. So wurde durch eine linksextremistische "Vulkangruppe" im April 2020 ein Brandanschlag auf das Heinrich-Hertz-Institut in Berlin verübt, da es an der Einwicklung einer "Corona-App" beteiligt gewesen sein soll. In einem auf dem Szene-Portal "indymedia" veröffentlichten Selbstbezichtigungsschreiben heißt es: "Wir erteilen der sogenannten Corona-App eine Absage und sind in Vorleistung gegangen. Wir haben heute, um jeder weiteren Aufweichung der Grundrechte und dem Ausbau der Überwachungsmaßnahmen entgegenzuwirken, einen Schacht mit Kommunikationskabeln, die u.a. das "Heinrich-Herz-Institut" versorgen, in Brand gesetzt".223 Ebenso wurde im Jahr 2020 auf "indymedia" zur Zerstörung von 5G-Funkmasten aufgerufen. Aktionsfeld "Kurdistansolidarität" Erneut waren 2020 seitens brandenburgischer Linksextremisten Sympathien und Solidaritätsbekundungen im Zusammenhang mit Kurdistan und der PKK zu vernehmen. So wird der kurdische Unabhängigkeitskampf einerseits durch Ausreisen von Aktivisten in das Kriegsgebiet als auch durch "Soli-Aktionen" wie Spendensammlungen unterstützt. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Gelder nicht nur in zivile Projekte, sondern auch in den bewaffneten Kampf fließen. 219 Vgl. Homepage "Rotes Potsdam": "Soli-Kundgebung: GK-Gegner vor Gericht", ohne Datum (letzter Zugriff am 21.01.2021). 220 Vgl. Homepage "Rotes Potsdam": "Infotag zur Abschaffung der Polizei", ohne Datum (letzter Zugriff am 21.01.2021). 221 Vgl. Homepage "Rotes Potsdam": "Soli-Kundgebung: GK-Gegner vor Gericht", ohne Datum (letzter Zugriff am 21.01.2021). 222 Homepage Inforiot: "Mundschutz heißt nicht Maulkorb", 04.04.2020 (letzter Zugriff: 21.01.2021). 223 Homepage "indymedia": "[B] Dokumentation: Shut down the power! Digitale Zurichtung sabotiert.", 14.04.2020 (letzter Zugriff am 21.01.2021). 107 In Brandenburg wurden im Jahr 2020 Aktionen und Veranstaltungen mit Bezug zur von Linksextremisten beeinflussten bundesweite Kampagne "Rise up for Rojava" (#RiseUp4Rojava) durchgeführt. So wurde im November 2020 in Neuruppin (OPR) eine "Woche der Solidarität und des Widerstandes" ausgerufen, um gegen deutsche Kriegsbeteiligungen zu protestieren und die Aufhebung des PKK-Verbots zu fordern. In diesem Zusammenhang wurden politische Parolen auf mehrere Fassaden in Neuruppin geschrieben.224 Versuche der Einflussnahme von Linksextremisten auf die Klimabewegung Aufgrund der hohen gesellschaftlichen Bedeutung, welche Klima-, Strukturwandel und Kohleausstieg beispielsweise in der Lausitz haben, versuchten Linksextremisten 2020 erneut, ihren Einfluss in entsprechenden Aktionsbündnissen auszubauen. Dieses gilt ebenso für Bündnisse, die sich gegen Infrastrukturprojekte wie den (Weiter-)Bau von Autobahnen oder Flughäfen richten. Derartige Themenfelder entfalten gerade bei Jugendlichen eine große Anziehungskraft. Als neuer bundesweiter Hotspot etablierten sich Proteste gegen den Ausbau der A49 bei Marburg (Hessen). Diese Entwicklung nahmen Linksextremisten bundesweit zum Anlass, gemeinsam zu Protesten sowie Massenaktionen aufzurufen. Grundlegend ist festzustellen, dass eine Tendenz weg von einem festen Aktionsort - insbesondere dem Lausitzer und dem Rheinische Braunkohlerevier - hin zu dezentral organisierten, über das Jahr verteilten und teils gleichzeitig stattfindenden Aktionen im gesamten Bundesgebiet zu beobachten ist. Hierbei taten sich vor allem Postautonome hervor. Im Gegensatz zu Autonomen versuchen Postautonome durch langfristig angestrebte Kampagnen die gesellschaftliche Isolation von Linksextremisten zu durchbrechen und breit angelegte gesellschaftliche Protestbewegungen von innen heraus zu radikalisieren. Sie sehen sich als Scharnier zwischen militanten Autonomen und gemäßigten Linken. Daher wird bei Postautonomen die Gewaltfrage nach rein strategischen Erwägungen beantwortet. Neben anderen Themenfeldern eignen sich aus der Sicht Postautonomer besonders Umweltkampagnen aufgrund der hohen gesellschaftlichen Bedeutung und Aktualität dazu, die Grenzen zwischen extremistischem und demokratischem Protest zu verwischen und demokratische Aktivisten zu radikalisieren. Einer der Hauptakteure der verschiedensten Proteste im Hinblick auf die Klimabewegung ist die "Interventionistische Linke" (IL). Für sie ist die Kampagne "Ende Gelände" aufgrund ihres Bekanntheitsgrades und der Verortung im zivilgesellschaftlichen Spektrum von entscheidender Bedeutung. Aus diesem Grund agiert die IL beispielsweise gemeinsam mit Umweltgruppen im Rahmen von "Ende Gelände". Anhaltspunkte für eine Beeinflussung von Linksextremisten existieren im Bundesgebiet für einzelne Ortsgruppen von "Ende Gelände". Allerdings kann bislang keine systematische Einflussnahme von Linksextremisten auf die Potsdamer Ortsgruppe festgestellt werden, auch wenn sich die Ortsgruppe medial zunehmend Botschaften von Linksextremisten bedient. Expansionsbemühungen postautonomer Gruppen, wie etwa der IL, nach Brandenburg sind allerdings zu beobachten. So organisierte die Kampagne "Ende Gelände" 2020 mit direkter Unterstützung der IL - dem stärksten linksextremistischen Netzwerk postautonomer Gruppen - Großaktionen zivilen Ungehorsams für den Klimaschutz. Im Internet wurde von "Ende Gelände" unter dem Motto "Kohleverlängerung verhindern, Kohleausstieg jetzt!" bundesweit zu dezentralen Aktionen für den 27. und 28. Juni 2020 aufgerufen. Der Protest richtete sich vorrangig gegen die finanziellen Kompensationen der Betreibergesellschaften. Im Aufruf heißt es: "Lasst uns den Widerstand gegen das Kohleverlängerungsgesetz auf die Straße zu tragen. Nehmt am dezentralen Aktionswochenende teil, organisiert Aktionen und lasst uns überall, wo diese Krise produziert wird, aktiv werden - am 27./28. Juni und so lange, bis dieses Gesetz vom Tisch ist"(sic).225 224 Vgl. Homepage Inforiot: "'Go In' in Neuruppin", 05.11.2020 (letzter Zugriff am 21.01.2021). 225 Homepage "Ende Gelände": "Kohleverlängerung verhindern, Kohleausstieg jetzt!", 21.06.2020 (letzter Zugriff am 21.01.2021). 108 Tatsächlich fanden bereits einen Tag vorher, am 26. Juni 2020 Aktionen in der Lausitz und dem Rheinischen Tagebaugebiet statt. Die Besetzung eines Baggers in Jänschwalde (SPN) wurde durch die Mitglieder der Ortsgruppe "Ende Gelände Berlin" durchgeführt. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass bislang nur wenige brandenburgische Linksextremisten im Aktionsfeld Klimapolitik aktiv sind. Der überwiegende Teil der Aktionen ist vielmehr auf überregionale Akteure - insbesondere aus Berlin - zurückzuführen. Doch nicht nur Aktionen gegen Energieunternehmen und gegen Rodungen von Wäldern rückten 2020 stärker ins Visier von Postautonomen und Autonomen, sondern auch wichtige Infrastrukturprojekte, wie die Inbetriebnahme des Flughafens BER. Zu dessen Eröffnung am 31. Oktober 2020 wurden daher Aktionen unterschiedlichster Gruppen, wie etwa des Aktionsbündnisses "Am Boden bleiben", durchgeführt. Wie in zahlreichen anderen Fällen warben die Berliner Ortsgruppe von "Ende Gelände" und die "Interventionistische Linke" zeitnah für die Proteste im Rahmen der BER-Eröffnung. Es ist daher davon auszugehen, dass sich Linksextremisten an den Aktionen vor Ort beteiligten. Zudem führten Linksextremisten 2020 kurze öffentlichkeitswirksame Aktionen gegen die Waldrodungen in Grünheide (LOS) durch. Dort errichtet der US-amerikanische Autohersteller TESLA eine Fabrik. Über die Aktionen wurde auf "indymedia" berichtet. Bewertung / Ausblick Autonome in Brandenburg werden sich weiterhin in den gesellschaftlichen und politischen Aktionsfeldern betätigen, von denen sie sich Anschlussfähigkeit und politische Wirksamkeit im Sinne ihres Fernziels, der Errichtung einer herrschaftsfreien Gesellschaft, erhoffen. Ihren Anhängern geht es grundlegend nicht nur um die Behebung von echten oder vermeintlichen Missständen, sondern um umwälzende Veränderungen der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Hierbei folgen Autonome der Annahme, dass allein im Kapitalismus die Gründe für Armut und soziale Ungerechtigkeiten, Klimawandel, Krieg, Flucht und Migration lägen, zumal dem Kapitalismus letztlich der Faschismus innewohne. Staatliche Repression und Rechtsextremismus seien somit letztlich Instrumente zur Sicherung der sozial ungerechten Herrschaftsund Eigentumsverhältnisse. Die politische Fassade des kapitalistischen Systems sei der liberal-demokratische Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland, welchen es zu Gunsten eines kommunistischen oder anarchistischen Systems zu überwinden gelte. Folglich stehen Autonome außerhalb der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Inwiefern durch die Maßnahmen zur Einschränkung des öffentlichen Lebens im Zuge der Corona-Pandemie und den daraus resultierenden sozialen, wirtschaftlichen und politischen Folgen dauerhaft die Aktionsfelder "Antirepression" und "Antikapitalismus" im Fokus von Linksextremisten in Brandenburg bleiben werden, bleibt abzuwarten. Denn es ist festzustellen, dass ein Rückgang realweltlicher linksextremistischer Aktivitäten, insbesondere im ersten Halbjahr 2020, zu verzeichnen war. Gleichwohl wurden die sonst üblichen Proteste einerseits durch Sachbeschädigungen sowie andererseits durch Veröffentlichungen in Szenemedien kompensiert. So wurde beispielsweise vor dem Aufbau eines vermeintlichen "Bullenstaats" gewarnt: "Die StaatsBullen Willkür nimmt von Tag zu Tag zu. Die Berichterstattungen vermitteln immer mehr das Bild von Wir gegen das Virus. Jedoch steht das Wir nicht für uns alle, sondern für das verschissene System in dem wir leben. Neue Bußgelder und Gesetze werden erlassen. Hauptsache die Menschen haben Angst raus zu gehen. Sodass Unruhen schon im Keim zerschlagen werden".226 226 Homepage "La Datscha": "Deckmantel 'Notstandsgesetze'", 01.04.2020 (letzter Zugriff am 22.01.2021). 109 Die Bundeslage zeigt, dass sich insgesamt ein Anstieg der Gewaltbereitschaft einzelner linksextremistischer militanter Kleingruppen abzeichnet. Diese Strukturen richten sich immer häufiger - trotz der teilweisen Missbilligung von Teilen der Szene - mit schwersten Gewalttaten gegen Repräsentanten des Staates und gegen Unternehmen. Beispielhaft hierfür steht etwa ein Angriff auf den Hamburger Innensenator, welcher mit seinem Kind in einem Dienstfahrzeug sitzend am 13. Dezember 2019 von vermummten Linksextremisten attackiert wurde. Auch die in den Jahren 2019 und 2020 durch die "Revolutionären Aktionszellen" (RAZ) verschickten Drohbriefe und Anschlagsvorbereitungen gegen Unternehmer und Politiker belegen die gewachsene Gewaltbereitschaft einzelner linkextremistischer Gruppierungen. Darüber hinaus wird immer noch aus Demonstrationsgeschehen heraus massive Gewalt gegen die Polizei angewandt. So versammelten sich am Abend des 4. September 2020 in unmittelbarer Reaktion auf eine Räumung mehrerer besetzter Häuser rund 200 bis 300 Personen im Leipziger Stadtteil Connewitz (Sachsen). Aus der Gruppe wurden Einsatzkräfte der Polizei mit Flaschen und Pflastersteinen angriffen. Zudem wurde eine nahgelegene Polizeiwache mit Steinen und Farbbeuteln beschädigt. Im weiteren Verlauf der Ausschreitungen blockierten vermummte Randalierer zudem Straßenbahnschienen mit brennenden Barrikaden und bewarfen Polizeibeamte mit Steinen. Somit wird linksextremistische Gewalt in Deutschland zunehmend aggressiver, gezielter und personenorientierter. Schwere Körperverletzungen der Opfer bis hin zum möglichen Tod werden billigend in Kauf genommen. Bislang konnten noch keine brandenburgischen Akteure ausgemacht werden, die zu diesem Spektrum zählen. Allerdings ist durch eine überregionale Vernetzung mit Gruppen in Großstädten wie Berlin und Leipzig eine Radikalisierung brandenburgischer Einzelpersonen nicht auszuschließen. Autonome und Postautonome werden weiterhin versuchen, bereits bestehende zivilgesellschaftliche Kampagnen und Bündnisse in Deutschland zu unterwandern. Dabei haben sie es besonders auf Umweltbündnisse und deren Aktivisten abgesehen. Sie werden beispielsweise weiter über das Bündnis "Ende Gelände" versuchen, Kontakte zu nichtextremistischen Klimaaktivisten zu knüpfen, um diese in ihrem Sinne zu radikalisieren. Während Autonome zunehmend integraler Bestandteil der Kampagne werden und an Einfluss gewinnen, gelingt das den dogmatischen Linksextremisten von der MLPD und der DKP nicht. Eine zunehmend stärkere Kooperation linksextremistischer und demokratischer Akteure in der Klimabewegung ist beabsichtigt. Inwiefern sich eine solche Entwicklung auch in Brandenburg vollziehen wird, hängt letztlich davon ab, ob die "Interventionistische Linke" oder andere postautonome Gruppen hier Fuß fassen können. Bislang gibt es noch keine Ortsgruppe der IL in Brandenburg. Hingegen erscheint die Unterwanderung bereits bestehender und die Initiierung neuer Bündnisse durch lokale Linksextremisten wahrscheinlich. Hierbei handelt es sich einerseits um Zusammenschlüsse gegen Rechtspopulisten und Rechtsextremisten sowie andererseits um Bündnisse in der Kurdistansolidarität. Die Vernetzung des autonomen Milieus hat sich 2020 durch die realweltlichen Beschränkungen insbesondere im digitalen Raum intensiviert. Plattformen wie Facebook und Twitter werden mittlerweile selbst von linksextremistischen Parteien genutzt. Und natürlich mobilisiert dort ebenso die autonome Szene. Auf dem Blog "inforiot" wurde im März 2020 ergänzend dazu aufgerufen, "die Kämpfe" in neuen Kommunikationskanälen aktiv weiterzuführen und statt Demonstrationen "direkte Aktionen" durchzuführen. 110 Es wird argumentiert: "Diese Wut ist Zündstoff. Sie kann der Anfang sein, um menschenverachtende Strukturen zu zerschlagen und solidarische Alternativen zum Kapitalismus zu denken, zu diskutieren und umzusetzen (...) Es ist die Aufgabe der radikalen Linken, hier anzusetzen. Wir rufen daher dazu auf, jetzt solidarische Alternativen zu diskutieren und voran zu treiben!"227 Bedingt durch die öffentliche Debatte über Maßnahmen zur digitalen Nachverfolgung des Corona-Virus standen 2020 einmal mehr die Themen Verschlüsselung und Datensicherheit im Zentrum linksextremistischer Debatten. Ziel der Szene bleibt, durch anonymisierte Berichte im Internet eine "freie Gegenöffentlichkeit" zu etablieren. Hierbei werden auch gewaltverherrlichende Beiträge auf einschlägigen Szene-Portalen veröffentlicht. Die Verknappung von Wohnraum und der Kampf gegen die damit verbundene Neugestaltung der Städte wird voraussichtlich ein weiteres zentrales Anliegen der autonomen Szene bleiben. Daher dürften Hausbesetzungen weiterhin als adäquates Instrument angesehen werden. Zudem bleibt der Wiederaufbau der Garnisonkirche in Potsdam ein Agitationsschwerpunkt. 227 Homepage "inforiot": "Corona: Radikale Kritik jetzt! Raus aus der Angststarre!", 24.03.2020 (letzter Zugriff am 22.01.2021). 111 5.2 Rote Hilfe e.V. Sitz / Verbreitung Der Verein "Rote Hilfe e. V." (RH) hat seinen Sitz in Göttingen (Niedersachsen). Die RH hat bundesweit etwa 50 Ortsgruppen. Im Jahr 2020 waren vier davon in Brandenburg ansässig. Diese befinden sich in Cottbus, Königs Wusterhausen (LDS), Potsdam und Strausberg (MOL). Die Ortsgruppe in Neuruppin (OPR) hat sich offensichtlich im Laufe des Jahres 2019 aufgelöst. Gründung / Bestehen Der Verein wurde 1975 gegründet. Seit den 1990er Jahren ist er in Brandenburg aktiv. Struktur / Repräsentanten Das wichtigste Gremium der RH ist der Bundesvorstand. Dieser wird alle zwei Jahre auf einer Delegiertenkonferenz neu gewählt und hat den Auftrag, die Arbeit des Vereins auf Bundesebene zu koordinieren und vor allem die finanziellen Mittel zu verwalten. Unterhalb des Bundesvorstandes gliedert sich der Verein in etwa 50 Ortsgruppen. Die brandenburgischen Ortsgruppen richten sich mit ihren juristischen Unterstützungsangeboten in erster Linie an die linksextremistischen Strukturen in ihren Regionen. Zum Teil gibt es deutliche personelle Überschneidungen zwischen lokaler autonomer Szene und der jeweiligen RH-Ortsgruppe. Da die größte linksextremistische Szene Brandenburgs in Potsdam ansässig ist, überrascht es nicht, dass sich auch die größte Ortsgruppe der RH in der Landeshauptstadt wiederfindet. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer 360 Veröffentlichungen Die RH berichtet über ihre Aktivitäten zum einen auf ihrer Homepage und zum anderen in ihrer quartalsweise erscheinenden "Rote Hilfe Zeitung". Darüber hinaus gibt der Verein Flyer und Broschüren zum Umgang mit staatlichen Behörden heraus. Einzelne Ortsgruppen verfügen zudem über eigene Internetpräsenzen, so zum Beispiel die Ortsgruppen aus Cottbus, Königs Wusterhausen (LDS) und Potsdam. Kurzportrait / Ziele Linksextremisten deuten die Verfolgung der von ihnen begangenen Straftaten zumeist als "staatliche Repression". Auf diese Weise soll die Bundesrepublik Deutschland als Unrechtsstaat dargestellt werden, der rücksichtslos und unverhältnismäßig gegen politische Aktivisten aus dem linken Spektrum vorgehe. Auf diese angeblichen Missstände versucht die RH mit "Antirepressionsarbeit" aufmerksam zu machen. Die von Strafverfolgung betroffenen Aktivisten werden sowohl durch persönlichen Beistand als auch finanziell unterstützt. Der Verein vermittelt Anwälte, übernimmt Gerichtskosten und trägt sogar verhängte Geldstrafen anteilig. Die RH ist aufgrund ihrer Größe und der ihr zur Verfügung stehenden Finanzmittel eine der bedeutendsten Gruppierungen im linksextremistischen Aktionsfeld "Antirepression". 112 Obwohl der Verein selbst nicht gewalttätig agiert, richtet er zumindest sein Angebot gezielt an gewaltorientierte Linksextremisten, indem er Straftäter juristisch und finanziell unterstützt. Darüber hinaus organisieren die einzelnen Ortsgruppen der RH für inhaftierte Linksextremisten regelmäßig Solidaritätskampagnen. Auf diesem Wege sollen die Verurteilten während ihrer Haftzeit in der linksextremistischen Szene gehalten werden. Somit deckt der Verein nicht nur das gesamte Spektrum der linksextremistischen "Antirepressionsarbeit" ab, sondern muss sich durch seinen juristischen Beistand für gewaltbereite Linksextremisten letztlich deren politische Ziele und Methoden zurechnen lassen. Die RH stellt klar: "Jede und Jeder, die sich am Kampf beteiligen, soll das in dem Bewußtsein tun können, daß sie auch hinterher, wenn sie Strafverfahren bekommen, nicht alleine dastehen."228 Diese Haltung zeigt, dass die RH nicht nur eine Förderin der gewaltbereiten linksextremistischen Szene ist, sondern die Gewalt selbst als probates Mittel der politischen Auseinandersetzung rechtfertigt. Finanzierung Die RH finanziert sich maßgeblich aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Die RH definiert sich in ihrer Satzung als "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation", die ihre juristischen Unterstützungsangebote "unabhängig von Parteizugehörigkeit oder Weltanschauung" anbietet. Vor diesem Hintergrund gewährt der Verein regelmäßig auch gewaltbereiten Linksextremisten seine Hilfe. Durch sein Versprechen nach der Begehung von Straftaten juristischen und finanziellen Beistand zu leisten, sichert der Verein das Handeln gewalttätiger Linksextremisten ab. Aus genau diesem Grund agiert er letztlich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Folglich ergibt sich die Zuständigkeit des Verfassungsschutzes Brandenburg nach SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 des Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes. Entwicklungen im Berichtszeitraum Die RH ist die einzige linksextremistische Organisation in Brandenburg, die in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen ist. Im Jahr 2020 stagnierte die Mitgliederzahl erstmals bei 360 auf hohem Niveau (2018: 305, 2019: 360). Die Ortsgruppe Neuruppin (OPR) hatte sich bereits 2019 aufgelöst. Andere Ortsgruppen, insbesondere die Potsdamer, konnten einen Mitgliederzuwachs verzeichnen.229 In Brandenburg existieren vier Ortsgruppen: Potsdam mit ca. 200 Mitgliedern, die Ortsgruppe Königs Wusterhausen (LDS) mit ca. 55 Mitgliedern, die Ortsgruppe Strausberg (MOL) mit 45 Mitgliedern sowie die Ortsgruppe Cottbus, die ebenso ca. 45 Mitglieder umfasst. Darüber hinaus ist vor allem in der Region um Neuruppin (OPR) noch mit einzelnen Mitgliedern zu rechnen. Die RH beschreibt sich selbst als "eine Solidaritätsorganisation, die politisch Verfolgte aus dem linken Spektrum unterstützt".230 Da sie sich grundsätzlich für alle "Linken" einsetzt, kommt ihr eine Scharnierfunktion innerhalb der linksextremistischen Szene zu. Dieser Funktion wird die RH auch auf ihrer eigenen Webseite mit Artikeln, die den Zusammenhalt innerhalb der heterogenen linken Szene stärken sollen, gerecht. 228 Homepage Rote Hilfe Bundesverband: "Wer ist die Rote Hilfe", ohne Datum (letzter Zugriff am 22.01.2021). 229 Seit der Ausgabe 03/2019 findet die Ortsgruppe Neuruppin (OPR) in der "Roten Hilfe Zeitung" keine Erwähnung mehr. 230 Homepage Rote Hilfe Bundesverband: "Über uns", ohne Datum (letzter Zugriff am 25.01.2021). 113 In einem im Juli 2020 veröffentlichten "Plädoyer für Zusammenhalt, mehr Größe und gegen Kleinlichkeit" wird dazu aufgerufen, inhaltliche Gräben und Widersprüche zu überwinden, um den "Repressionsorganen [nicht in] vorauseilendem Gehorsam die Arbeit ab[zunehmen]".231 Durch dieses umfassende Engagement innerhalb der "linken Szene" kommt der RH ein weitreichender Einfluss in selbiger zu. Außerdem trägt sie maßgeblich zur ihrer Professionalisierung bei. Beispielsweise verbreitet sie szenetypisches Know-how, wie zum Beispiel Tipps zum Verhalten bei Ermittlungsverfahren, Zeugenaussagen oder Hausdurchsuchungen. Darüber hinaus organisiert sie Vorträge, Filmabende, Kundgebungen, Demonstrationen und "Solipartys". 232 Das primäre Betätigungsfeld der RH ist jedoch die Verteidigung und Beratung linksextremistischer Straftäter. Bundesweit gab die Organisation nach eigenen Berichten allein im ersten Halbjahr 2020 mindestens 136.106 Euro dafür aus, Mitglieder finanziell oder juristisch zu unterstützen. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden eigenen Angaben zufolge 233 Anträge auf Unterstützung behandelt.233 Der Grundsatz einer möglichen finanziellen oder juristischen Hilfe ist an die Bedingung einer kategorischen Aussageund Kooperationsverweigerung gegenüber Polizei und Staatsanwaltschaft geknüpft. So wird in unterschiedlichen Artikeln, die die Solidarisierung mit Straftätern thematisieren, dazu aufgerufen, die Aussage zu verweigern. Für den Fall, dass dieser Aufforderung nicht nachgekommen wird, indem der Täter beispielsweise Reue zeigt oder sich gar für seine Tat entschuldigt, wird eine Unterstützung im Strafverfahren abgelehnt oder zurückgenommen. So erging es unter anderem einem Aktivisten, der im August 2019 an einer Sitzblockade teilnahm und die Polizisten während der Räumung als "Hurensöhne" bezeichnete. Im Zuge des Verfahrens entschuldigte sich der Betroffene bei der Polizei und zahlte 200 Euro Schadensersatz. In der Vereinszeitung "Rote Hilfe" wird in diesem Fall sehr deutlich gemacht, dass diese "demütige Haltung gegenüber der Polizei (...) im Angesicht der regelmäßig auftretenden Polizeigewalt nicht angemessen"234 sei. Aus diesem Grund wurde der Antrag seitens der RH abgelehnt. An dem Beispiel wird deutlich, dass die Agitation des Vereins darauf abzielt, das strafrechtliche Abschreckungspotenzial zu mindern und die Legitimität des demokratischen Verfassungsstaates infrage zu stellen. Das Handlungsfeld der "Antirepression" spielt in jeder Ausgabe der "Roten Hilfe Zeitung" sowie auf den verschiedenen Internetauftritten des Vereins eine zentrale Rolle. Die Öffentlichkeitsarbeit der RH dient dazu, die eigene Propaganda sowie die von Linksextremisten verübten Straftaten zu verharmlosen. Beispielsweise wird der drastische Anstieg von politisch linksmotivierten Straftaten und linksextremistischen Aktionen durch die RH damit begründet, dass der "Repressionsapparat" in letzter Zeit keine Gelegenheit ausgelassen hätte, "Gesetze zu verschärfen, womit [...] mehr und mehr Handlungen als Straftat gewertet [würden], die vorher keine waren".235 Hierdurch wird ein selbst definierter Legitimationsrahmen für die Begehung von Strafund Gewalttaten geschaffen und zunehmend erweitert. Folglich verwundert es nicht, dass die RH ihren Solidarisierungsrahmen vergrößert hat und nunmehr sogar einen Tatverdächtigen unterstützt, der im Zuge eines versuchten Tötungsdelikts angeklagt ist. Die Tat ereignete sich am 16. Mai 2020 am Rande einer Demonstration der "Querdenker". Der Tatverdächtige soll zusammen mit weiteren Personen ein Mitglied des Vereins "Zentrum Automobil e.V." angegriffen und schwer verletzt haben.236 231 Homepage Rote Hilfe Bundesverband: "Das sind keine Linken", 16.07.2020 (letzter Zugriff am 25.01.2021). 232 Homepage der RH-Kampagne "Solidarität verbindet": "Tag der politischen Gefangenen. Sonderzeitung und Veranstaltungen zum 18. März", 04.02.2020 (letzter Zugriff am 25.01.2021). 233 Vgl. "Die Rote Hilfe", 2/2020, S. 4 sowie "Die Rote Hilfe", 3/2020, S. 4. 234 "Die Rote Hilfe", 3/2020, S. 6. 235 Ebd., S. 3. 236 Vgl. u.a. Polizeipräsidium Stuttgart: "Nach Schlägen auf Demoteilnehmer Zeugen gesucht", 19.05.2020, https://www.presseportal.de/blaulicht/pm/110977/4601510 (letzter Zugriff am 31.01.2021). 114 Hierbei ist anzumerken, das "Zentrum Automobil" wird aufgrund seiner politischen Ausrichtung als Gegner angesehen. Die bei dem Tatverdächtigen im Nachgang des Angriffs durchgeführte Hausdurchsuchung wurde seitens der RH als "repressive Maßnahme" verurteilt und "die sofortige Einstellung der Verfahren, die Rückgabe der beschlagnahmten Gegenstände sowie die Freilassung des inhaftierten Aktivisten"237 gefordert. Zudem zeigt sich die RH solidarisch mit den Beschuldigten im "RAZ-MIEZE-Verfahren".238 Diese sollen Drohbriefe an zahlreiche Politiker, hochrangige Behördenmitarbeiter und Betriebe des Personennahverkehrs versendet haben. Die Briefe waren teilweise mit Drohmitteln, wie einer 9mm Gaspatrone, versehen. Auch der brandenburgische Innenminister erhielt einen solchen Drohbrief. Darüber hinaus sollen die Tatverdächtigen für versuchte Brandanschläge auf die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg (Bayern) sowie auf den Wohnsitz des Fleischfabrikanten Clemens Tönnies verantwortlich sein. Die im Zuge des Verfahrens durchgeführten Hausdurchsuchungen wurden seitens der RH wiederum als "Repressionsakt" des Staates tituliert. Die Taten der Beschuldigten wurden hingegen einmal mehr verharmlost: "Dieses Verfahren macht wieder einmal deutlich, dass offenbar nahezu alles, was auch nur nach widerständiger Praxis aussieht, in den repressiven Staatsapparaten eine nahezu manische Angst hervorruft".239 Dieses Vorgehen wird auch im Zuge der Solidarisierung mit einer Beschuldigten verfolgt, die am 6. November 2020 unter anderem wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer linksextremistischen kriminellen Vereinigung festgenommen wurde.240 Die Beschuldigte wird verdächtigt, Anführerin einer Gruppe zu sein, die gezielt Anschläge gegen Leib und Leben vermeintlicher Mitglieder der rechten Szene plant und durchführt. Auch hier werden schwere Straftaten bagatellisiert und die angebliche Repression des Staates in den Vordergrund gestellt.241 Das Verfahren wird seitens der RH darüber hinaus dazu instrumentalisiert, wiederholt eine Abschaffung der Paragraphen 129a und 129b des Strafgesetzbuchs als "Gesinnungsparagraphen" zu fordern242: "Und wieder wird das ganze Repertoire der Repressionsbehörden ausgepackt, um gegen antifaschistische Zusammenhänge vorzugehen. Dafür muss auch der berüchtigte Gesinnungsparagraf 129 herhalten, um die Latte der Ermittlungen und Tatvorwürfe möglichst hoch zu hängen. Während rechte Corona-Leugner marodierend durch Leipzig ziehen können, werden hier mehre Personen kriminalisiert, um die linke Bewegung einzuschüchtern. An Lina soll dabei offensichtlich ein besonderes Exempel statuiert werden."243 237 Homepage Rote Hilfe Bundesverband: "Rote Hilfe verurteilt Hausdurchsuchungen und U-Haft in Baden-Württemberg", 06.07.2020 (letzter Zugriff am 25.01.2021). 238 Die Abkürzungen stehen für die Gruppenbezeichnungen "Revolutionäre Aktionszellen" (RAZ) und "Militante Zelle" (MIEZE). 239 Homepage Rote Hilfe Berlin: "Solidarität mit den Beschuldigten im MIEZE-Verfahren", 08.11.2020 (letzter Zugriff am 25.01.2021). 240 Vgl. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof: "Festnahme und Durchsuchungen wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer linksextremistischen kriminellen Vereinigung u.a.", 06.11.2020, https://www.generalbundesanwalt.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/Pressemitteilung-vom-06-11-2020.html (letzter Zugriff am 25.01.2021). 241 Bähr, Sebastian: "'Ein Bedrohungsszenario wird aufgebaut'. Rote-Hilfe-Bundesvorstandsmitglied Anja Sommerfeld zum 129er-Verfahren gegen die Antifaschistin Lina E.", 17.11.2020, https://www.neues-deutschland.de/artikel/ 1144570.antifaschismus-ein-bedrohungsszenario-wird-aufgebaut.html (letzter Zugriff am 25.01.2021). 242 "Die Rote Hilfe", 3/2020, S. 16 f. 243 Homepage Rote Hilfe Bundesverband: "Festnahme in Leipzig: Freiheit für Lina!", 08.11.2020 (letzter Zugriff am 25.01.2021). 115 Ebenso wie im Vorjahr hat die RH 2020 ihre juristische und öffentliche Unterstützung für Aktivisten aus dem Umfeld der linksextremistischen Organisation "Kommunistische Partei der Türkei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) sowie für kurdische Aktivisten fortgesetzt.244 Während sich die Ortsgruppen der RH in Potsdam, Cottbus und Strausberg (MOL) weitgehend klandestin verhalten, haben sich die Akteure in Königs Wusterhausen (LDS) im Jahr 2020 durch eine Aktion zum "1. Mai" auch für die Abschaffung der Paragraphen 129 a/b des Strafgesetzbuches eingesetzt und sich mit den angeklagten Extremisten solidarisiert. In der zweiten Jahreshälfte folgten weitere Aktionen für die Abschaffung der Paragraphen im Zusammenhang mit der Anklage linksextremistischer Akteure des "Roten Aufbaus Hamburg". Ein Bekennerschreiben wurde sowohl auf der neuen Webseite der RH-Ortsgruppe Königs Wusterhausen (LDS) als auch auf der von Linksextremisten genutzten Plattform "indymedia" eingestellt. Darin heißt es: "In der Nacht vom Mittwoch (23.09.) auf Donnerstag (24.09.) haben Genoss*innen eine Solidaritätsaktion durchgeführt. Zum einen wurde auf die katastrophale Lage der Geflüchteten im griechischen Lager Moria aufmerksam gemacht und zum handeln aufgerufen - zum andern wurde Stellung gegen die staatlichen Angriffe auf Genoss*innen und vermeintliche Mitglieder des Roten Aufbaus Hamburgs, in Form von Hausdurchsuchungen und einem 129-Ermittlungsverfahren, bezogen. Die Transparente wurden an zentralen Orten in Königs Wusterhausen aufgehängt. Die beiden Transparente waren mit folgenden Losungen beschriftet: 'Es brennt schon lange. Evakuierung von Moria - sofort! Internationale Solidarität aufbauen. Smash Capitalism!''Solidarität mit dem Roten Aufbau Hamburg! Weg mit SS129 a/b!'" (sic)245 Darüber hinaus erfolgten 2020 Solidarisierungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Bereichen. Beispielsweise wurden Aktivisten unterstützt, die im "Elbchaussee-Prozess" wegen ihrer Straftaten beim G20-Gipfel 2017 in Hamburg verurteilt wurden. Daher mobilisierte die Ortsgruppe in Königs Wusterhausen (LDS) für den 28. November 2020 zu einer Solidaritätsdemonstration in Berlin. Diese Versammlung sollte Teil eines dezentralen Aktionstages der Kampagne "Gemeinschaftlicher Widerstand" sein.246 Außerdem kritisierte die RH vermeintliche "Sonderhaftbedingungen", denen Linke wegen ihrer Aktivitäten im Zusammenhang mit der Rodung des Dannenröder Waldes (Hessen) ausgesetzt seien. Dieses Aktionsfeld wird dazu genutzt, die angeblich besonders ausgeprägte Gewalt der Polizisten zu betonen und deren Eingriffe als fern von rechtsstaatlichen Handlungsmaximen darzustellen. So erklärte ein Mitglied des Bundesvorstands der RH in einer Stellungnahme: "Es ist nur großem Glück zu verdanken, dass der brutale Polizeieinsatz im Dannenröder Wald noch keine Todesopfer gefordert hat. Wir erleben, dass die Polizei täglich rücksichtsloser agiert und ihr Einsatz immer häufiger und mit erschreckender Systematik Menschenleben gefährdet."247 Gleichwohl wird die Gewalt seitens der Waldbesetzer gegen Unternehmen und die Polizei nicht thematisiert. 244 Vgl. Homepage Rote Hilfe Bundesverband: "Ein politischer Schauprozess", 04.08.2020 (letzter Zugriff am 25.01.2021) sowie Homepage Rote Hilfe Bundesverband: "Freiheit für Yilmaz Acil!", 23.09.2020 (letzter Zugriff am 25.01.2021). 245 Homepage "indymedia": "KW: Solidaritätsaktion - Evakuierung von Moria sofort & für die Genoss*innen vom Roten Aufbau Hamburg", 25.09.2020 (letzter Zugriff am 25.01.2021). 246 Vgl. Homepage Rote Hilfe Königs Wusterhausen: "Samstag, 28.11.2020, 15 Uhr: Demonstration gegen Repression in Berlin", 22.11.2020 (letzter Zugriff am 25.01.2021). 247 Homepage Rote Hilfe Bundesverband: "Polizei und Justiz gefährden Menschenleben: Wiederholte Abstürze im Dannenröder Wald", 22.11.2020 (letzter Zugriff am 25.01.2021). 116 Bewertung / Ausblick Trotz der Auflösung der Ortsgruppe Neuruppin (OPR) konnte die RH in Brandenburg ihre Gesamtmitgliederzahl im Jahre 2020 bei 360 Personen halten. Dieses ist auf einen fortschreitenden Mitgliederzuwachs in Potsdam und Königs Wusterhausen (LDS) zurückzuführen. Somit setzte sich die brandenburgische Entwicklung 2020 nicht nennenswert von dem leichten Mitgliederanstieg auf Bundesebene ab. Die RH schlägt Brücken in der ideologisch stark fragmentierten linksextremistischen Szene und wird als Konsensorganisation akzeptiert. Das verschafft ihr weit über das linksextremistische Spektrum hinaus Reputation. In Teilen der bürgerlichen politischen Linken gehört es weiterhin zum politischen Habitus, sich zur Mitgliedschaft in der RH zu bekennen. Besonders hervorzuheben ist im Berichtszeitraum, dass sich die RH nunmehr offensiv mit Straftätern und militanten Gruppen solidarisiert, welche versuchte Tötungsdelikte begangen haben und in ihrer Militanz bis zum Äußersten bereit sind. Die vermutlich weiterhin anhaltenden Demonstrationen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie bieten ebenso großes Konfliktpotenzial. Dieses gilt sowohl für mögliche Auseinandersetzungen zwischen der rechtsextremistischen und der linksextremistischen Szene, als auch für Konfrontationen mit staatlichen Institutionen. Zudem ist zukünftig mit weiteren Aktionen von Linksextremisten im Rahmen ihrer Klimaproteste zu rechnen. Im Zuge dessen ist zu erwarten, dass die RH weiter an Einfluss, auch in das bürgerliche Spektrum hinein, gewinnt und ihre Strukturen ausbauen wird. Die Rote Hilfe ist mittlerweile ein wichtiger Teil der Aktionen des Bündnisses "Ende Gelände". 117 6. Islamischer Extremismus / Islamismus 118 6. Islamischer Extremismus / Islamismus Der Verfassungsschutz benutzt die Begriffe "islamischer Extremismus" und "Islamismus" für einen religiös motivierten Extremismus. Dieser ist deutlich abzugrenzen vom Islam als Weltreligion. Die Ausübung des Islam fällt in den Bereich der Religionsfreiheit und ist durch Artikel 4 des Grundgesetzes garantiert. Dagegen gleicht der islamische Extremismus einer politisch-religiösen Ideologie. Deren Anhänger wollen Staat und Gesellschaft gemäß ihrem Islamverständnis in einen totalitären Gottesstaat umformen. Somit zielen sie auf die Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ab und sind daher verfassungsfeindlich. Ziel islamisch-extremistischer Bestrebungen ist die Schaffung einer aus ihrer Sicht unveränderlichen, gottgewollten Ordnung. Diese sei jeder von Menschen geschaffenen Ordnung überlegen. Islamisten vertreten die Auffassung, dass Gott der einzige legitime Herrscher, Souverän, Richter und Gesetzgeber sei. Daraus leiten sie die Einheit von Staat und Religion (arab.: al-Islam din wa daula) ab, in welcher eine Gewaltenteilung nicht mehr existiert. Dementsprechend betrachten islamische Extremisten von Menschen geschaffene Werte und Gesetze als unislamisch, da die von ihnen angestrebte Ordnung strikt den extremistisch ausgelegten islamischen Rechtsnormen unterworfen werden soll. Sie greifen in der Normenfindung verstärkt auf religiöse Quellentexte, wie Koran und Sunna, zurück. Sie streben ein totalitäres, antipluralistisches System an und argumentieren auf Grundlage einer ihnen eigenen Interpretation des theologischen Konzepts vom Glauben an die Einheit und Einzigartigkeit Gottes (Tauhid). Die im Koran enthaltenen Inhalte beziehen sich sowohl auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch (z.B. gottesdienstliche Handlungen) als auch auf die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen. Dazu zählen unter anderem das Erbrecht, der Umgang mit anderen Religionsgemeinschaften und Vorgaben, die im weitesten Sinne als strafrechtliche Normen bezeichnet werden können. Zu Letzteren zählen Strafen für Handlungen, die als Verfehlung gegen die islamische "gottgewollte" Ordnung wahrgenommen werden. Wie und in welchem Umfang die "Hadd"-Strafen angewandt werden sollten, ist ein zentraler Bestandteil islamisch-extremistischer Diskurse. So werden in einigen Ländern, deren Rechtssysteme an islamischen Quellentexten ausgerichtet sind, beispielweise als Unzucht (Zina) verstandene Handlungen, wie außerehelicher oder homosexueller Geschlechtsverkehr, aber auch das Austreten aus der islamischen Glaubensgemeinschaft (Apostasie, arab.: Ridda), mit dem Tod bestraft. Diebstahlsdelikte werden etwa mit Abtrennen von Gliedmaßen geahndet. Auch kritische Äußerungen zum Islam bewerten islamische Extremisten als blasphemische Äußerungen, die zu bestrafen seien. All dies ist unvereinbar mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. 119 In der folgenden Übersicht werden diese Gegensätze anschaulich gegenübergestellt: freiheitliche demokratische Grundislamisch-extremistisches Gesellschaftskonzept ordnung Volkssouveränität Souveränität Gottes (Tauhid) Gewaltenteilung Gewaltenkonzentration Rechtsstaatlichkeit und parlamentariWillkürherrschaft durch islamisch-extremistische Normen, sche Gesetze welche auf religiösen Rechtsquellen, wie Koran und Sunna, beruhen und sich menschlicher Erwägungen oder Veränderung entziehen universelle Menschenrechte und Verneinung beziehungsweise Einschränkung etwa der Menschenwürde Rechte auf körperliche Unversehrtheit, Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und Gleichberechtigung von Frauen und Minderheiten Antisemitismus Pluralistische Gesellschaftsordnung Monismus, homogene und Minderheiten ausschließende Gesellschaftsordnung Wahlprinzip als konstituierendes EleSpektrum von der konsequenten Ablehnung von Wahlen, ment der Demokratie bis hin zu Akzeptanz und Teilnahme an Wahlen, mit dem Ziel, politische Macht zu erlangen und ein islamisch-extremistisches Gesellschaftssystem umzusetzen Trotz des scheinbar engen ideologischen Korsetts dieser oben genannten Merkmale, die für die islamischextremistische Ideologie prägend sind, existiert eine Vielzahl von ideologischen Strömungen und Gruppierungen. Diese unterscheiden sich unter anderem hinsichtlich ihrer religiösen Grundannahmen, Strategien, politischen Mittel und geographischen Orientierungen. Am syrischen Bürgerkrieg wird beispielsweise deutlich, dass sie sich teilweise auch gegenseitig bekämpfen. Die deutschen Sicherheitsbehörden unterscheiden zwischen legalistischen, gewaltorientierten und jihadistischen Islamisten. Legalisten versuchen langfristig und zunächst innerhalb des gesetzlichen Rahmens, Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu nehmen, um diese schrittweise und möglichst unbemerkt umzuformen. Zu den angewandten Strategien zählen zum Beispiel karitative Dienste, Angebote in der Jugendund Erwachsenenbildung, Spendenaktionen, Vereinsgründungen und die Unterwanderung bestehender Institutionen und Organisationen. Legalisten heben hervor, zur Umsetzung ihrer Ziele keine Gewalt anzuwenden. Dennoch streben sie nach der Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit politischen Mitteln. Vertreter des legalistischen Islamismus in Deutschland sind etwa die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG), die der Muslimbruderschaft nahestehende "Deutsche Muslimische Gemeinschaft" (DMG) oder die transnationale Missionierungsbewegung "Tablighi Jama'at" (TJ). Gruppierungen des legalistischen Islamismus weisen insgesamt ein ambivalentes Verhältnis zur Anwendung von Gewalt auf, das von Ablehnung bis zur Befürwortung reicht. 120 Gewaltorientierte islamische Extremisten wenden in Deutschland eher selten Gewalt an. Jedoch rechtfertigen sie Gewalt, die ihren gesellschaftlichen oder politischen Zielen dient. An der im Konflikt um Palästina seit vielen Jahren beteiligten terroristischen "HAMAS" und an der seit 30. April 2020 in Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegten terroristischen "Hizb Allah"248 wird das besonders deutlich. Diese nutzen Deutschland als Rückzugsraum für die Akquirierung von Geldern, um mit diesen den Kampf gegen Israel zu finanzieren. Beide Organisationen kennzeichnet ein unverhohlener Antisemitismus, der regelmäßig auch in Deutschland artikuliert wird. Zwar werden Wahlen von den Anhängern und Unterstützern beider Gruppen als Mittel der politischen Einflussnahme akzeptiert. Jedoch nur so lange, wie diese demokratischen Mittel dem eigentlichen Ziel, der Errichtung eines islamischen Staats, nicht im Wege stehen. Beide Organisationen verfügen im Nahen Osten über militante Strukturen und verüben dort terroristische Anschläge. Für Jihadisten ist der Einsatz von Waffengewalt das zentrale Instrument zur Erreichung ihrer politischen Ziele. Sie interpretieren das durchaus vielschichtige und auch nicht gewaltorientierte religiöse Konzept des Jihad (wörtlich: Anstrengung) selektiv als Pflicht zum bewaffneten Kampf gegen "Ungläubige" (Kafir, im Plural: Kuffar). So werden Gewaltakte gegen einzelne Menschen, Gruppen oder Staaten legitimiert. Anhänger der terroristischen Gruppierungen "Al-Qaida" (AQ) und des sogenannten "Islamischen Staats"249 (IS) gehören zu dieser Kategorie. Für Brandenburg von besondere Bedeutung ist das Personenpotenzial der "Islamistischen Nordkaukasischen Szene" (INS), deren Angehörige teilweise dem Kaukasischen Emirat (KE) angehörten, welches 2015 offiziell eine Provinz des IS wurde. Aus den dargelegten ideologischen Grundlagen des islamischen Extremismus ergibt sich die Zuständigkeit des Verfassungsschutzes Brandenburg für die legalistisch orientierten Gruppierungen aus SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummern 1 und 4 des Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes. Für gewaltorientierte und jihadistische Gruppen folgt die Zuständigkeit aus SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummern 1, 3 und 4 des Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes. Aktuelle Entwicklungen im Islamismus Die Covid-19-Pandemie prägte 2020 das politisch-gesellschaftliche Geschehen weltweit und löste auch bei islamistischen Akteuren unterschiedliche Reaktionen aus. Das Spektrum reichte dabei von neutraler Berichterstattung und dem Verweis auf islamische Hygienevorschriften, über Warnhinweise und antisemitische Verschwörungsmythen bis hin zu Drohungen gegen "den Westen" und "Ungläubige". Viele Islamisten deuteten das Virus als "göttliche Prüfung", welcher mit besonderer Glaubensanstrengung begegnet werden müsse. Zudem wurde das Narrativ250 verbreitet, dass das Virus als "Strafe Gottes" für die "Ungläubigen" zu verstehen sei. Damit sind ebenso die Teile der Muslime gemeint, die nicht einer islamistischen Ideologie folgen. 248 Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat: "Betätigungsverbot für Terrororganisation 'Hizb Allah' in Deutschland", 30.04.2020, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2020/04/betaetigungsverbot-hizb-allah.html (letzter Zugriff am 26.01.2021). 249 Hierbei ist anzumerken, dass der "Islamische Staat" mit seiner Selbstbezeichnung zwar eine Staatlichkeit für sich in Anspruch nimmt, diese jedoch nicht (mehr) besteht. Für weitere Informationen zum IS siehe unter anderem die Kapitel 6.3 und 6.4. 250 Der Begriff Narrativ beschreibt eine sinnoder identitätsstiftende Botschaft beziehungsweise Erzählung. 121 Insbesondere in der ersten Hälfte des Jahres 2020 wurden Veranstaltungen, Freitagspredigten und Reiseaktivitäten eingestellt. Dafür war eine Intensivierung der Kommunikation auf alternativen, digitalen Kommunikationsplattformen feststellbar. In der zweiten Jahreshälfte konnte demgegenüber ein Anstieg von Aktionen im öffentlichen und medialen Raum verzeichnet werden. Das ist einerseits auf die im Sommer eingeleitete Lockerung der Versammlungsbeschränkungen zurückzuführen sowie andererseits auf die in Frankreich erfolgte Wiederveröffentlichung von Karikaturen, die den muslimischen Propheten Muhammad zeigen. Letzteres rief auch in Deutschland Reaktionen hervor. Ebenso machten Islamisten 2020 in Deutschland keinen Halt vor tödlichen Attentaten. Im Jahr 2020 riefen Islamisten vereinzelt zu Anschlägen oder gar der gezielten Verbreitung des Corona-Virus unter "Ungläubigen" auf. Generell lässt sich feststellen, dass die Covid-19-Pandemie bisher einen begrenzten Einfluss auf den islamistischen Terrorismus in Europa hatte. Jedoch ist wahrscheinlich, dass die Auswirkungen der Krise, wie zum Beispiel finanzielle Unsicherheit, Isolation oder gesteigerter Online-Konsum während der Lockdown-Phasen, langfristig als Push-Faktoren zu einer Radikalisierung beitragen können. Trotz der militärischen Niederlage und der Zerschlagung des ehemaligen "Kalifats" gilt das transnationale Netzwerk des "Islamischen Staates" (IS) unverändert als die weltweit einflussreichste jihadistische Organisation. Der IS betätigt sich nunmehr als terroristische Untergrundorganisation und ruft seine Anhänger dazu auf, weltweit Anschläge zu verüben. Die zentrale Strategie - ein islamisch-extremistisches Gegenmodell zu demokratisch-liberalen Verfassungsstaaten zu schaffen, den sozialen Frieden zu stören und Terror zu verbreiten - hat sich indes nicht verändert. Das wirkt sich auch auf die Sicherheitslage in Deutschland und Europa aus, denn der territoriale Zerfall des IS hat strukturelle und personelle Verdrängungseffekte zur Folge. Viele ehemalige IS-Kämpfer haben die unmittelbaren Kampfgebiete verlassen, zahlreiche von ihnen wurden in kurdischen Gefangenenlagern interniert. Eine Rückkehr dieser kampferfahrenen Islamisten, darunter auch Familien-Angehörige und Anhänger der "Islamistischen Nordkaukasischen Szene" (INS), sorgt in ganz Europa für sicherheitspolitische Herausforderungen. Eine große Bedrohung für die Innere Sicherheit stellt zudem die mögliche Einreise von Personen dar, die sich nach dem Zerfall des IS aus der Region absetzen, ohne dass ihr Aufenthalt dort oder ihre Beteiligung am IS den europäischen Behörden bekannt ist. Diese könnten entweder direkt an der Vorbereitung und Durchführung von Anschlägen oder an der Radikalisierung insbesondere salafistischer Szenen in Deutschland mitwirken. Besonders bei gewaltaffinen Akteuren dürfte dieser Personenkreis gefragt sein, weil ehemalige Kämpfer und anderweitig am IS Beteiligte eine hohe Milieu-Reputation besitzen. Es besteht die Gefahr, dass mit den unerkannten Rückkehrern auch ihre Ideologie ungehindert in Deutschland eindringt und sich radikalisierend auf hiesige Szeneakteure auswirkt. Schlimmstenfalls könnten sich dadurch neue jihadistische Zellen bilden oder sich ideologisierte Einzelpersonen zu Gewaltakten mit leicht zu beschaffenden Tatmitteln entschließen. Doch auch die von den Strafverfolgungsbehörden und der Justiz erfolgreich erkannten und zur Rechenschaft gezogenen Rückkehrer versuchen, ihre Ideologie gerade in Haftanstalten weiter zu verbreiten. Die Strafverfolgung, Deradikalisierung und Integration dieser Personen stellt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar und bedarf einer Intensivierung. Darüber hinaus werden Deutschland und andere europäische Länder langfristig vor der großen gesamtgesellschaftlichen Aufgabe stehen, angemessen auf Rückkehrer zu reagieren, die ihre Kinder gezielt im Sinne der jihadistischen Ideologie erzogen haben und weiterhin erziehen wollen. Eine besondere Herausforderung stellt zudem der strafrechtliche Umgang mit zurückkehrenden Frauen dar. Viele von ihnen sind aus einer jihadistischen Motivation ausgereist. Auch wenn sie sich nicht direkt an Kampfhandlungen beteiligt haben, so haben sie den IS logistisch und propagandistisch unterstützt. Dies gilt es in Gerichtsverfahren aufzuarbeiten und rechtlich zu würdigen. 122 Jihadistische Anschläge im Jahr 2020: Die Zahl weltweiter islamistischer Terroranschläge blieb auch im Jahr 2020 hoch. Ein Großteil der Anschläge wurde in den bekannten Konfliktregionen im Nahen Osten, insbesondere in Syrien, sowie in Zentralasien, vor allem in Afghanistan, verübt. Darüber hinaus ist das Phänomen des internationalen islamistischen Terrorismus in verschiedenen Ländern Afrikas stark ausgeprägt, unter anderem in der Demokratischen Republik Kongo, in Nigeria, in Somalia und in der Sahel-Zone. Derzeit ist keine Beruhigung in den betroffenen Regionen absehbar, wie der "Fragile States Index" (FSI), der jährlich in der renommierten Zeitschrift "Foreign Policy" anhand quantitativer und qualitativer Indikatoren bestimmt wird, verdeutlicht.251 Eine Vielzahl von Faktoren spielt dabei den Terroristen in die Hände, welches ein Grund für die Beharrlichkeit ihrer Strukturen darstellen dürfte. Hierzu zählen beispielsweise politisch schwache Führungen ohne ausreichende Legitimität, Bürgerkriege, wirtschaftlicher Niedergang, Flucht sowie demografischer Druck und militärische Interventionen fremder Staaten. Während 2019 eher eine rückläufige Tendenz jihadistischer Anschläge im Vergleich zu vorherigen Jahren festzustellen war, nahmen die Anschläge in Europa in 2020 wieder deutlich zu. Insbesondere in der zweiten Jahreshälfte kam es zu einer Serie von islamistisch motivierten Terrorakten in Europa, die besonders Frankreich trafen. Bei einigen Anschlägen war ein direkter Zusammenhang zur Diskussion über die (Wieder-) Veröffentlichung der Muhammad-Karikaturen gegeben. Generell setzt sich die Entwicklung fort, dass Anschläge von Einzeltätern mit einfachen Waffen - meist Messer oder Fahrzeuge - verübt werden. Bei vielen Taten in 2020 gab es zudem keine Hinweise darauf, dass ein jihadistisches Netzwerk, wie der IS, im Hintergrund die Anschläge in Auftrag gegeben oder koordiniert hat. So kam es nur in seltenen Fällen zu einem Anschlagsbekenntnis durch den IS. Dennoch war offenkundig, dass ein Großteil der Taten von der Ideologie des IS geprägt war. Im Folgenden werden einige Beispiele aus dem Inund Ausland exemplarisch dargestellt: Ein 22-Jähriger attackierte am 3. Januar 2020 südlich von Paris in der Gemeinde Villejuif (Frankreich) mehrere Menschen mit einem Messer. Ein Mensch wurde getötet, zwei weitere verletzt. Während der Tat soll er "Allahu akbar" (zu Deutsch: "Allah ist groß" beziehungsweise "Gott ist groß") gerufen haben. Der Täter wurde von der Polizei erschossen. Er soll zwei Jahre zuvor zum Islam konvertiert sein und schwere psychische Probleme gehabt haben. Der Mann war den Sicherheitsbehörden nicht als Islamist bekannt. Am 2. Februar 2020 verletzte ein 20-Jähriger in einer belebten Londoner (Großbritannien) Einkaufsstraße drei Personen mit einem Messer. Der von der Polizei erschossene Angreifer war ein kurz zuvor aus dem Gefängnis entlassener Islamist. Er war 2018 zu drei Jahren Haft verurteilt worden, da er Material für einen islamistisch motivierten Anschlag gesammelt und Propaganda verbreitet hatte. Der IS reklamierte die Tat für sich. 251 Vgl. The Fund For Peace: "Fragile States Index Annual Report 2020", 08.05.2020 (letzter Zugriff am 22.10.2020). 123 Zwischen Mitte April und Anfang Mai 2020 wurden im oberbayerischen Waldkraiburg Anschläge auf mehrere Objekte türkischstämmiger Inhaber verübt - darunter Geschäfte und eine Moschee. Sechs Menschen wurden verletzt. Der mutmaßliche 25-jährige Attentäter ist nach eigener Darstellung Anhänger des IS. Als Tatmotiv soll er seinen Hass auf Türken und seine antitürkische Gesinnung angegeben haben. Türken sehe er unter anderem als Feinde des IS an. Dem Attentäter, der weitere Anschläge geplante haben soll, wird neben schwerer Brandstiftung und gefährlicher Körperverletzung auch versuchter Mord vorgeworfen. In der englischen Stadt Reading wurden am 20. Juni 2020 bei einem Messerangriff in einem Park drei Menschen getötet und drei weitere schwer verletzt. Ein 25-jähriger Flüchtling aus Libyen wurde kurz darauf in der Nähe festgenommen und die Tat von der Polizei als terroristisch eingestuft. Am 25. September 2020 wurden in Paris (Frankreich), in der Nähe des ehemaligen Gebäudes des Satiremagazins "Charlie Hebdo", zwei Journalisten bei einem Messerangriff verletzt. Die Attacke wurde vom französischen Innenminister als islamistischer Terrorakt eingestuft. Kurz nach der Tat wurde als Hauptverdächtiger ein 18-Jähriger festgenommen, der in Pakistan geboren wurde und der Polizei wegen anderer Delikte bekannt sei. Bei der Auswertung seines Mobiltelefons stießen die Behörden auf ein Video, in welchem der Täter "Charlie Hebdo" und die Muhammad-Karikaturen aufgreift. In der Innenstadt Dresdens (Sachsen) kam es am 4. Oktober 2020 zu einem Messerangriff auf zwei Touristen. Der Täter tötete einen Mann und verletzt dessen Partner schwer. Die Ermittler gehen davon aus, dass die Tat einen islamistischen Hintergrund hat. Bei dem Tatverdächtigen handelt es sich um einen 20 Jahre alten Syrer, der als gewaltbereiter Extremist bekannt war. Er erhielt unter anderem wegen Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat sowie der Rekrutierung für den IS eine Gefängnisstrafe von über zwei Jahren. Ende September 2020 - und somit erst kurz vor dem Messerangriff - endete diese Haftstrafe. Am 16. Oktober 2020 wurde in der Pariser Vorortgemeinde Conflans-Sainte-Honorine (Frankreich) der Lehrer Samuel Paty durch einen 18-jährigen Islamisten tschetschenischer Herkunft auf offener Straße enthauptet. Der 47 Jahre alte Lehrer hatte im Unterricht Anfang Oktober 2020 das Recht auf Meinungsfreiheit thematisiert. Dabei nutzte er die aus der Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" bekannten Muhammad-Karikaturen, woraufhin er bedroht wurde. Nach der Tat erschossen Polizisten den Angreifer bei dem Versuch, ihn zu verhaften. Zudem nahmen sie im Anschluss mehrere Verdächtige aus dem Umfeld des Täters fest. In den Morgenstunden des 29. Oktober 2020 attackierte ein 21-jähriger Tunesier drei Kirchgänger in der Basilika Notre-Dame im französischen Nizza mit einem Messer. Hierbei starben zwei Frauen und ein Mann. Der Angreifer soll mehrmals "Allahu akbar" geschrien haben und wurde bei seiner Festnahme verletzt. Die Ermittler gehen von einem terroristischen Hintergrund aus. In der Innenstadt von Wien (Österreich) kam es am Abend des 2. November 2020 zu einem Anschlag, welcher dem IS zugerechnet wird. Ein 20-jähriger Österreicher mit nordmazedonischen Wurzeln tötete vier Menschen, 23 weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Der Täter griff seine Opfer mit einer Langwaffe, einer Pistole sowie einer Machete an. Darüber hinaus trug er eine Attrappe eines Sprengstoffgürtels. Bei einem Schusswechsel mit Polizeibeamten wurde der Islamist getötet. Der IS reklamierte die Tat für sich und teilte mit, ein "Sohn des Kalifats" habe die Attacke verübt. Die Ermittler gehen Hinweisen nach, dass der Attentäter einem länderübergreifenden Netzwerk des IS angehört haben könnte. Im April 2019 war er zu einer Haftstrafe verurteilt worden, da er unter anderem versucht hatte, sich nach Syrien zum IS abzusetzen. 124 Eine 28-jährige Schweizerin griff am 24. November 2020 in einem Kaufhaus in Lugano (Schweiz) mit einem Messer zwei Frauen an, von denen eine leicht und die zweite schwer verletzt wurde. Nach Angaben der Bundespolizei handele es sich um einen terroristisch motivierten Angriff. Die mutmaßliche Täterin wurde festgenommen. Sie soll bereits 2017 vergeblich versucht haben, nach Syrien auszureisen. Diese Auflistung zeigt einmal mehr, das Gefahrenpotenzial des islamistischen Terrorismus in Deutschland und Europa bleibt hoch. Allerdings konnten im Jahr 2020 in der Bundesrepublik auch zahlreiche Anschläge verhindert werden, da potenzielle Attentäter im Vorfeld durch sicherheitsbehördliche Maßnahmen erkannt und festgenommen wurden. Ein Beispiel ist die Aufdeckung einer mutmaßlichen IS-Terrorzelle. So wurde im April 2020 an verschiedenen Orten in Nordrhein-Westfalen eine Gruppe von vier Tadschiken festgenommen. Deren Mitglieder wollten gemeinsam mit einem sich in Untersuchungshaft befindlichen Islamisten hierzulande Terroranschläge mit bereits beschafften Schusswaffen begehen. Hierfür soll die Gruppe bereits Aufträge seitens des IS erhalten haben. Das deutlich gestiegene Anschlagsgeschehen in Europa im Jahr 2020 verdeutlicht, dass die Aufmerksamkeit, die dem islamistischen Terrorismus im Zuständigkeitsbereich der staatlichen Sicherheitsvorsorge zukommt, einer unverändert hohen Priorität bedarf. Insbesondere die Bedrohung von sich in kürzester Zeit radikalisierenden jungen Erwachsenen, welche ohne langfristige Planung und direkte Anleitung durch eine jihadistische Gruppierung wie den IS mit einfachsten Waffen zur Tat schreiten wollen, wird weiterhin konstant hoch bleiben. Hinzu treten die Gefahren, welche von psychisch labilen Personen oder Islamisten, die in der Vergangenheit an der Ausreise in ein Kampfgebiet scheiterten, ausgehen. Hinzu kommen die Gefahren, welche von Rückkehrern aus Kriegsgebieten ausgehen. Islamistisches Personenpotenzial in Brandenburg Islamistisches Personenpotenzial in Brandenburg 2018 2019 2020 Islamische Extremisten 180 190 200252 davon Legalisten und 50 40 40 Organisationen gewaltorientierter Islamisten davon Salafisten 130 150 160 davon Angehörige der 65 70 70 INS253 Die Zahl der islamischen Extremisten in Brandenburg ist im Jahr 2020 leicht von 190 auf 200 Personen gestiegen. Dieser Zuwachs ist auf ein steigendes Salafismuspotenzial sowie auf die Expansion bislang nicht in Brandenburg aktiver legalistischer Bestrebungen, wie der "Tablighi Jama'at", zurückzuführen. Obwohl der Anteil islamischer Extremisten unter den Muslimen in Brandenburg damit sehr klein ist, werden vermehrt Personen mit Migrationshintergrund von islamischen Extremisten für ihre Ziele instrumentalisiert. Zudem steigt auch die den brandenburgischen Sicherheitsbehörden bekannte Zahl der Fälle von Konvertiten ohne Migrationshintergrund, die sich dem islamischen Extremismus zuwenden. 252 Die Zahl der gewaltbereiten Islamisten liegt für das Jahr 2020 im mittleren zweistelligen Bereich. Dieses Personenpotenzial ist nahezu ausschließlich dem Salafismus zuzurechnen. 253 Die Angehörigen der "Islamistischen Nordkaukasischen Szene" (INS) sind ein Teil des salafistischen Personenpotenzials. 125 6.1 IM FOKUS: Islamismus im ländlichen Raum - Aktuelle Entwicklungen Wie schon im Vorjahr waren 2020 in Brandenburg weniger muslimische Gebetsraumeinrichtungen zu verzeichnen. Monetäre, organisatorische sowie rechtliche Notwendigkeiten erschwerten vielerorts das Vorhaben von Muslimen, ihrer Religion feste Strukturen zu geben. Der Trend der Jahre 2015 bis 2018, in denen die entsprechende Infrastruktur wuchs, wird sich vermutlich weiter verlangsamen, aber aufgrund der nach wie vor vorhandenen Nachfrage nicht zum Erliegen kommen. Die Kontaktund Versammlungsbeschränkungen, welche im Laufe des Jahres 2020 zur Eindämmung der Corona-Pandemie erlassen wurden, haben wie so vieles auch das Praktizieren der islamischen Kultur in Brandenburg eingeschränkt. Für Gebetsräume konnten weniger Spenden akquiriert werden. Die Betreiber sind dadurch zunehmend mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert. Dies könnte dazu führen, dass sogar bereits etablierte Gebetsräume schließen müssen. Es besteht dann die Gefahr, dass extremistische Einzelpersonen oder Organisationen aus anderen Bundesländern in diese entstehenden Lücken stoßen. Denn diese Akteure verfügen oftmals über entsprechende Mittel und das Wissen, wie solche Räume etabliert oder bestehende übernommen werden können. In Brandenburg steigt der Anteil von Muslimen an der Gesamtbevölkerung an. Trotz allem ist das Land bislang nur in geringerem Maße vom Islamismus betroffen. Nur ein Bruchteil fühlt sich von islamisch-extremistischen Überzeugungen angezogen oder sympathisiert mit ihnen. Nach bisherigen Erkenntnissen erfolgt derzeit eine Radikalisierung meistens in Privaträumen und in einschlägigen Online-Foren sozialer Netzwerke oder in Chat-Gruppen von Messenger-Diensten. Wenn sich Muslime in Gebetsräumen radikalisieren, dann überwiegend in bekannten, einschlägigen Szeneobjekten. Diese liegen meistens in Berlin. Derartige Moscheen spielen als realweltliche Anlaufstellen eine bedeutende Rolle bei der Verfestigung persönlicher Beziehungen und können zudem bei entsprechenden Angeboten, wie Religionsunterricht oder Seminaren zur Ideologie, zu einer Verankerung in islamistischen Strukturen beitragen. Bei einer Radikalisierung im lokalen Kontext stellen insbesondere charismatische Prediger oder bereits radikalisierte Personen eine Gefahr dar. In Gebetsräumen können sie ihre Zielgruppen ansprechen sowie ihre ideologischen Botschaften verbreiten. Der Islamismus fordert somit auch die muslimischen Gemeinden in Brandenburg heraus. Diese sind als Akteure und Ansprechpartner vor Ort wichtig, um eine gemäßigte theologische Deutung durchzusetzen. Dass allein die muslimischen Gemeinden Gläubige von einem Prozess der Radikalisierung oder gar überzeugte Extremisten von ihrem Weg abbringen könnten, ist allerdings eher unwahrscheinlich. Hierzu bedarf es eines langen Atems der Sicherheitsbehörden, der staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteure auf kommunaler Ebene sowie der Kompetenz von Deradikalisierungsexperten. Vor dem Hintergrund eines Zuwachses an Muslimen und einer immer noch lückenhaften sowie wenig gefestigten muslimischen Infrastruktur sind im Umfeld brandenburgischer Gebetsräume nach wie vor drei Entwicklungen zu erkennen, die eine Ausbreitung des islamischen Extremismus befördern können. 1) Expansionen bereits gefestigter islamistischer Strukturen aus dem Brandenburger Umland Seit 2017 breiten sich nicht in Brandenburg ansässige Vereinigungen aus, die Bezüge zum legalistischen Islamismus aufweisen. Als Beispiel können Vereinigungen und Imame gelten, die der islamisch-extremistischen "Muslimbruderschaft" (MB) nahestehen. Diese nutzen die erhöhte regionale Nachfrage nach religiösen Angeboten aus, um sich lokalen muslimischen Gemeinden anzudienen und die bestehenden Lücken auf der Angebotsseite zu füllen. 126 Hierbei ist die "Sächsische Begegnungsstätte" (SBS) als Beispiel anzuführen, welche 2017 in Brandenburg an der Havel einen Gebetsraum aufbaute, sich allerdings nach ihrer Demaskierung durch den Verfassungsschutz selbst auflöste. Eine nachhaltige Auswirkung der Akteure und Strukturen, welche der aufgelösten SBS zuzurechnen sind, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr ausgemacht werden. Daneben existieren muslimbrudernahe Prediger, welche - ausgehend von Berliner Gebetsräumen - Einfluss auf im Berliner Umland befindliche Gemeinden ausüben. Ein weiterer Akteur im Feld des legalistischen Islamismus ist die "Tablighi Jama'at" (kurz TJ; zu Deutsch: "Gemeinschaft der Missionierung und Verkündung"). Die TJ ist eine transnationale Missionierungsbewegung, die langfristig die Errichtung einer islamistischen Ordnung anstrebt. Ihr strenges Islamverständnis ist geprägt durch die wörtliche Auslegung von Koran und Sunna sowie durch eine rigide Orientierung an der tradierten Lebensweise der Prophetengeneration. Hierbei handelt es sich um Fixpunkte für eine angestrebte islamische Gesellschaftsordnung. Dieses System umfasst beispielsweise die Diskriminierung der Frau, die Abgrenzung gegenüber Nicht-Muslimen sowie die Ablehnung säkularer Prinzipien und demokratischer Verfahren. Konkret konnte 2020 in der Stadt Rathenow (HVL) eine der TJ nahestehende Gruppe beobachtet werden, die sich durch ein hohes Sendungsbewusstsein auszeichnet. Diese Gruppe versuchte durch Missionierungsund Gebetsaktivitäten ihre Ideologie in die lokale muslimische Gemeinde hineinzutragen, um dort an Einfluss und Reichweite zu gewinnen. Neben dem Aktivitätsschwerpunkt in Rathenow selbst nahmen zentrale Personen der Gruppe an Missionierungsreisen ("Jama'ats") teil, welche typisch für TJ-Akteure sind. Diese Reisen dienen dem Zweck, die Glaubensvorstellungen der TJ zu verbreiten und andererseits die Frömmigkeit der TJ-Anhänger zu stärken. Die idealen Zielgruppen beider Aktivitätsformen stellen im Rathenower Fall insbesondere "orientierungslose" muslimische Jugendliche sowie Personen aus Zentralasien dar. Diese beachten aus Sicht der TJ-Anhänger ihre Glaubensregeln unzureichend und müssen daher auf den vermeintlich "richtigen Weg" geführt werden. Ebenso zählen möglicherweise vereinzelt auch Konvertiten zu den Adressaten dieser Missionierungsarbeit. Besagte Bemühungen stießen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft in Rathenow größtenteils auf Widerstand. Dieses ist unter anderem auf das rigide Auftreten und die radikalen Ansichten der TJ zurückzuführen. Hiervon zeigte sich die TJ-Gruppierung aber bislang wenig abgeschreckt, was eine unveränderte Fortführung der Aktivitäten zur Folge hatte. Vor diesem Hintergrund war es wichtig, dass die kommunalen Akteure in Rathenow umgehend auf diese Entwicklungen aufmerksam gemacht wurden. Hierdurch konnten zeitnah Maßnahmen, mit dem Ziel das Wirken der TJ-Gruppierung weiter einzudämmen, eingeleitet werden. Dieses ist umso wichtiger, weil sich - wie für TJ-nahe Bestrebungen typisch - auch bei der Rathenower Gruppe eine Anbindung an überregionale Netzwerke nachzeichnen lässt. Anschläge auf Leib und Leben sind von diesen Vereinigungen aktuell in Deutschland nicht zu befürchten. Sie streben jedoch eine islamisch-extremistische Gesellschaftsordnung an, die mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar ist. Unter dem Deckmantel der Hilfsbereitschaft wollen die "Legalisten" die Lebenssituation der Geflüchteten ausnutzen, um neue Anhänger zu gewinnen. Damit geht von legalistischen Islamisten langfristig eine erhebliche Gefahr aus. Denn es besteht das Risiko, dass sich extremistische Parallelkulturen bilden, welche im Gegensatz zur hiesigen Rechtsund Werteordnung stehen. Eine solche Entwicklung wäre nur schwerlich umkehrbar und würde extremistischen Bestrebungen - möglicherweise auch gewaltbereiten Islamisten - weiteren Vorschub leisten. 127 2) Pushund Pullfaktor Berlin Im Jahr 2020 versuchten vereinzelt Berliner Vertreter des politischen Salafismus ihren Einfluss in Brandenburg geltend zu machen. Hierzu kommt es beispielsweise, wenn lokale muslimische Gemeinden Islamisten aus Berlin um Unterstützung beim Aufbau und Betrieb eines Gebetsraums bitten. Teilweise werden die brandenburgischen Gemeinden auch direkt von den Berliner Akteuren angesprochen. Ob der ideologische Hintergrund und die politische Absicht der Berliner Islamisten der entsprechenden Gemeinde vor Ort bekannt oder eher unbekannt ist, lässt sich im Nachhinein meistens nicht mit Sicherheit feststellen. Während die Vertreter legalistischer Vereinigungen und Organisationen aus Berlin versuchen, nach Brandenburg zu expandieren, ziehen die islamistischen Zentren in Berlin gleichzeitig Personen aus Brandenburg an, die für die islamisch-extremistische Ideologie offen sind. Es ist eine kleine Minderheit, die sich oft in ihrem lokalen Gebetsraum nicht ausreichend repräsentiert fühlt und sich gerne von einem streng-orthodoxen oder gar extremistisch geprägten Islamverständnis leiten lassen möchte. Vor Ort in den brandenburgischen Städten verfügen sie oftmals nur über geringen Einfluss. Für diese Personen wirkt Berlin schon aufgrund seiner zentralen Lage sowie eines vielfältigen Angebots an unterschiedlichen Ausrichtungen des Islams samt den dazugehörigen Szenen wie ein Magnet. Bislang hat dieser Anziehungseffekt zwar noch zu keinen nachhaltigen islamisch-extremistisch geprägten Strukturen in Brandenburg geführt. Hervorzuheben sind jedoch die Anhänger der "Islamistischen Nordkaukasischen Szene" (INS) in Brandenburg, welche nordkaukasisch geprägte Moscheen und Kulturvereine in Berlin zur Vernetzung nutzen. Hier besteht grundlegend das Risiko, dass Einzelpersonen mit einer entsprechenden Ausrichtung ihre ideologischen Ansichten in Brandenburg verbreiten, weil sie hier ihren Lebensmittelpunkt haben und sehr wahrscheinlich die hiesigen Gebetsräume weiter besuchen werden. Es ist demnach möglich, dass islamisch-extremistische Organisationen diese Personen zukünftig als Sprungbrett für den Aufbau ihrer Strukturen oder zur Unterwanderung bestehender Strukturen in Brandenburg nutzen könnten. 3) Übernahmeversuche und spalterische Tendenzen durch extremistische Akteure gegen etablierte Gebetsräume Seit 2019 versuchen orthodoxe bis extremistische "Newcomer" - hierbei handelt es sich um Personen aus den Kernländern der Migrationsbewegung wie Syrien, Irak und Afghanistan - schon vorhandene Moscheevereine "feindlich" zu übernehmen oder die Übernahme beziehungsweise Einflussnahme vorzubereiten. Die Vorgehensweise dieser oppositionellen Kleingruppen folgt dabei in der Regel einem Muster. Beispielsweise werden etablierte Moscheevereine herausgefordert, indem ihre Amtsführung und eine vermeintlich "falsche" Islamauslegung bemängelt und kritisiert werden. Das passiert in der Regel nicht plötzlich. Vielmehr bringt die oppositionelle Kleingruppe mit der Zeit ihre politischen und religiösen Positionen ein, kritisiert oder diskreditiert den Imam und den Moscheevorstand und beschleunigt so den Aufbau eines Unterstützernetzwerkes. Auf diese Art und Weise wollen die "Newcomer" nach und nach Ämter und später den ganzen Vorstand des Moscheevereins übernehmen. Eine solche Entwicklung kann Moscheegemeinden oder lokale muslimische Gemeinschaften spalten. Zudem birgt sie die Gefahr, dass sich am Ende tatsächlich eine fundamentale oder extremistische Islamauslegung durchsetzt. Bislang waren solche "Übernahmen" in Brandenburg allerdings nicht nachhaltig erfolgreich. Als Konsequenz hieraus kann es jedoch zur Einrichtung eines zweiten extremistisch beeinflussten Gebetsraumes oder eines kleinen, sich in privaten Räumen treffenden "Gebetszirkels" vor Ort kommen, in dem die extremistischen "Spalter" die Agenda vorgeben. 128 Nicht nur muslimische Gemeinden haben im Jahr 2020 ihre religiösen Onlineangebote ausgebaut, sondern auch Islamisten, darunter insbesondere salafistische Akteure. Diese haben im Jahr 2020 digitale Formate als Ersatz oder Ergänzung zu realweltlichen Treffen verstärkt genutzt, um so möglichst viele Personen zu beeinflussen und ihnen ein Gegenangebot zu etablierten Gebetsräumen zu unterbreiten. So entstanden im digitalen Raum gefestigte, durch Salafisten beeinflusste, Gruppen, denen mittlerweile auch in Brandenburg lebende Personen angehören. Es besteht die Gefahr, dass in diesen abgeschotteten Online-Sphären Radikalisierungsprozesse einsetzen oder verstärkt werden. 129 6.2 Muslimbruderschaft ("Jamiyat al-Ikhwan al-Muslimin") Sitz / Verbreitung Die ägyptische Muslimbruderschaft (MB) hat ihren Hauptsitz in Kairo. Der Verein "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V." (DMG) fungiert als deutscher Ableger der MB mit Hauptsitz in Köln. Die extremistische MB ist heute als pan-islamistische Bewegung nicht nur in allen arabischen Ländern, sondern nach eigenen Angaben in 70 Staaten weltweit vertreten. Je nach Land und vorgefundenen Rahmenbedingungen - Repression, Partizipation oder (informeller) Toleranz - haben sich die Ableger der MB organisatorisch wie strukturell unterschiedlich entwickelt. Sie eint aber unverändert die gemeinsam geteilte islamisch-extremistische Ideologie. Gründung / Bestehen Die MB wurde 1928 in Ägypten gegründet und ist in Deutschland seit den 1960er Jahren aktiv. Struktur / Repräsentanten Die MB ist in Deutschland mit verschiedenen Gruppierungen vertreten, die in das international verflochtene Netzwerk eingebunden sind. Als wichtigste Repräsentanz fungiert die Dachorganisation "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V." (DMG), ehemals "Islamische Gemeinschaft in Deutschland" (IGD). Sie gehört zu den Gründungsmitgliedern der "Föderation islamischer Organisationen in Europa" (FIOE), welche als europäisches Sammelbecken für MB-Organisationen gilt. Die in Brandenburg kurze Zeit aktive "Sächsische Begegnungsstätte" (SBS) galt als muslimbrudernah. Die DMG verfügt über keine Gebetsräume in Brandenburg. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer In Brandenburg haben Einzelpersonen Bezüge zu Strukturen und Funktionären der deutschen MB. Dazu kommen Einflussnahmeversuche von Akteuren aus muslimbrudernahen Zentren in Berlin. Es ist davon auszugehen, dass einzelne Personennetzwerke mit Bezug zur MB in Brandenburg bestehen. Veröffentlichungen Die MB unterhält diverse Internetseiten und Auftritte in sozialen Netzwerken. Diese sind zum Teil deutschsprachig. Kurzportrait / Ziele Die MB stellt die älteste und ideengeschichtlich wichtigste islamisch-extremistische Massenbewegung sunnitischer Prägung dar. Hassan Al-Banna, der Gründer der MB, lehnte das damalige politische System in Ägypten, eine von der britischen Kolonialmacht gestützte konstitutionelle Monarchie, ebenso ab wie westliche Staatsund Gesellschaftsformen und säkulare Ideologien. Als Alternative sowie Quelle für das Wiedererstarken der Muslime propagierte Al-Banna die Errichtung eines "islamischen Systems" ("nizam islami") sowie die Rückbesinnung auf die Wurzeln des Islams. Für die MB ist dieses "islamische System", welches auf Koran und Sunna beruht, ein allumfassendes System zur Lösung jedes gesellschaftlichen Problems. Es ist somit auch ein politisches Konzept. Als Fernziel steht die Ablösung der Regierungen der jeweiligen Heimatstaaten durch einen islamischen Staat auf Grundlage der Scharia. 130 Al-Banna wandte sich mittels seines Aktionismus direkt an die muslimischen Massen und reagierte unmittelbar auf deren soziale, materielle und religiöse Bedürfnisse. Die MB entwickelte sich daher innerhalb weniger Jahre zu einer streng hierarchisch organisierten, politischen Massenbewegung, welche vielschichtige soziale, karitative und ökonomische Aktivitäten entfaltete. Trotz klarer hierarchischer Führung setzte sie von Anfang an auf eine "Graswurzel-Islamisierung" entlang missionarischer und pädagogischer Ansätze zur kulturell-ideologischen Durchdringung der Gesellschaft. Die Geschichte der MB ist geprägt von einem Wechselspiel aus Verfolgung und Tolerierung, wobei sich die Organisation als nachhaltig widerstandsfähig erwiesen hat. In den 1950er und 1960er Jahren zwangen Repressalien unter dem ägyptischen Präsidenten Nasser zahlreiche dort lebende Muslimbrüder ins Exil, so auch nach Westeuropa. Das hatte unter anderem eine Weiterverbreitung des Gedankengutes zur Folge, dessen Ausdruck auch die Gründung eines deutschen Ablegers war. Des Weiteren setzte eine ideologische Radikalisierung in Teilen der Bewegung ein. Als Schlüsselfigur ist hier Sayyid Qutb zu nennen. Qutb gilt als ein wesentlicher Vordenker des gewaltorientierten Jihads. Seiner Auslegung nach sei es die Pflicht aller Muslime, die unislamischen Zustände zu beseitigen - auch unter Einsatz von Gewalt. Über die MB hinaus haben Qutb und seine Schriften bis heute großen Einfluss, besonders auf gewaltbefürwortende Gruppierungen. Innerhalb der MB war und ist Qutb nach wie vor umstritten. Die im Gazastreifen gegründete terroristische HAMAS entstammt dem palästinensischen Zweig der MB. Finanzierung Die MB finanziert sich über Spenden, im arabischen Raum zum Teil auch über eigene Geschäftszweige und vereinzelte staatliche Unterstützung. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Die Muslimbruderschaft hat die Umgestaltung der Länder mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung in Staaten mit islamistischer Regierungsform auf Grundlage der Scharia als langfristiges Ziel. Gewalt wird zur Durchsetzung dieses Ziels in der Endphase nicht ausgeschlossen, ist aber kein vorrangiges Mittel. Die MB lehnt säkulare, demokratische Staatssysteme, insbesondere deren Rechtsordnungen, ab und akzeptiert sie nur als Übergangsstadien. Die teilweise im Ausland zu beobachtenden Parteigründungen und die damit verbundenen Teilnahmen an Wahlen sind daher nur als taktisches Manöver der MB auf dem Weg zur erwünschten Übernahme der Macht zu bewerten. Eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz erfolgt auf Grundlage der Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und den Gedanken der Völkerverständigung nach SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummern 1 und 4 des Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes. Entwicklungen im Berichtszeitraum In der Vergangenheit hat die aus Sachsen heraus nach Brandenburg expandierte muslimbrudernahe "Sächsische Begegnungsstätte" (SBS) als wichtigste legalistische Organisation in Brandenburg gewirkt. Die SBS ist nicht mehr aktiv. Eine nachhaltige Auswirkung der Akteure oder Strukturen, welche der aufgelösten SBS zuzurechnen sind, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr ausgemacht werden. Daneben existieren Einzelakteure, welche - ausgehend von Berliner Gebetsräumen - Einfluss auf Gemeinden im Berliner Umland ausüben. Es ist davon auszugehen, dass einzelne Personennetzwerke mit Bezug zur Muslimbruderschaft in Brandenburg bestehen. 131 In Deutschland tritt der Verein "Deutsche Muslimische Gemeinschaft" (DMG) nur bei größeren Veranstaltungen öffentlichkeitswirksam auf. Er beruft sich stets auf Verfassungskonformität der Organisation und distanziert sich von Verbindungen zur Muslimbruderschaft. Jedoch verfolgt die DMG eine an der Ideologie der Muslimbruderschaft ausgerichtete, gewaltfreie Strategie der Einflussnahme im politischen und gesellschaftlichen Raum. Bewertung / Ausblick In Brandenburg sind Einzelpersonen und kleinere Personennetzwerke unverändert daran interessiert, die Ideologie der MB auf ausgemachte Zielgruppen, wie muslimische Gemeinden, Gebetsräume sowie Geflüchtete, zu übertragen. Entsprechend will die MB Einfluss auf diese Strukturen oder Gruppen ausüben. Es ist davon auszugehen, dass diese Entwicklung anhalten wird. In Deutschland wird die DMG weiterhin bemüht sein, ihren Einfluss unter Muslimen auszubauen und als Ansprechpartnerin eines angeblich gemäßigten Islams ("Islam der Mitte") für Politik und Gesellschaft in Erscheinung zu treten. In jüngster Zeit haben staatliche Akteure vermehrt versucht, den Einfluss der DMG einzuschränken oder gar zurückzudrängen. In Ägypten ist die MB seit September 2013 verboten und als Terrororganisation eingestuft. Der nach einem Militärputsch an die Macht gelangte Präsident Al-Sisi wird vermutlich mittelfristig an den Repressionen gegen die MB festhalten. Inwiefern durch diese Repression ein neues Zentrum der MB außerhalb Ägyptens entstehen wird, bleibt abzuwarten. Denn auch in einigen anderen nahöstlichen Ländern besteht ein Verfolgungsdruck gegenüber Anhängern der jeweiligen MB-Ableger. 132 6.3 Salafismus Sitz / Verbreitung Salafistische Akteure versuchen, auf die hiesige religiöse Infrastruktur Einfluss zu nehmen und eigene Strukturen aufzubauen. Dem Verfassungsschutz Brandenburg sind bislang einzelne Personenzusammenschlüsse bekannt, in denen aktiv eine salafistische Ideologie verbreitet wird. Es liegen jedoch bisher keine Erkenntnisse zu insgesamt salafistisch geprägten Gebetsräumen in Brandenburg vor. Gründung / Bestehen Salafismus ist ein Sammelbegriff für verschiedene ideologische Konzepte sunnitischer Prägung, die sich in ihrem Bestreben, einen ursprünglichen und möglichst unverfälschten Islam auszuleben, sehr stark an der islamischen Frühzeit orientieren. Zwar gelten die Gesellschaftsund Religionsvorstellungen der ersten muslimischen Generationen (etwa 7. bis 9. Jahrhundert) vielen - auch nichtextremistischen - Muslimen als Ideal. Salafisten hingegen versuchen, die in den religiösen Quellen enthaltenen Aussagen umfassend und wortwörtlich in einem zeitgenössischen Kontext anzuwenden. Während der Wunsch und das Streben nach einer ursprünglichen und möglichst reinen Religion kein neues Phänomen in der langen und vielfältigen Geschichte muslimischer Gesellschaften ist, entwickelte sich die hier beschriebene salafistische Bewegung maßgeblich im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts im Nahen Osten. In besonderem Maße prägten sie verschiedene zeitgenössische Gelehrte, die in dem Königreich Saudi-Arabien geboren oder ausgebildet wurden. Eng verknüpft mit dem Salafismus und dem damit verbundenen Anspruch, religiöse Quellen wörtlich umzusetzen, ist der maßgeblich auf die Anwendung von Gewalt ausgerichtete Jihadismus. Sein theologisches Grundkonstrukt entstand in Ägypten und in der Golfregion in den 1960er und 1970er Jahren, als regionale Akteure - im Kontext des arabischen Sozialismus und der Kriege mit Israel - einen theologischen und gesellschaftlichen Gegenentwurf zu etablieren versuchten. In ihrem Wunsch, die als unislamisch und unterdrückerisch verstandenen Regierungen ihrer Länder zu beseitigen und eine islamische Gesellschaft zu schaffen, reduzierten sie zunehmend religiöse Quellen und Konzepte, wie etwa das sehr unterschiedlich verstandene Konzept des "Jihad" (wörtl.: Anstrengung) und entwickelten darauf aufbauend religiös legitimierte Gewaltkonzepte. Auf dieser Grundlage propagierten sie den Kampf gegen ihre Regierungen und Herrscher der arabischen Länder. Ein weiterer zentraler Moment in der Entwicklung des Jihadismus war der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan 1979 und der damit verbundene Aufstieg der terroristischen "Al-Qaida"-Organisation. All dies wirkte sich maßgeblich auf die Entwicklung und Verbreitung des Jihadismus als eine transnationale Ideologie aus. Die Entstehung der terroristischen Organisation "Islamischer Staat" (IS) ist eine weitere Zäsur in der jüngeren Geschichte des internationalen islamistischen Terrorismus. Sie nahm während der 2000er Jahre ihren Anfang und fand ihren vorläufigen Höhepunkt 2014, als sich zentrale Akteure von der bis dato bestehenden Anbindung an die Terrororganisation "Al-Qaida" lösten und ein "Islamisches Kalifat" - einen "Islamischen Staat" - ausriefen. Hierdurch fand erstmals eine international ausgerichtete terroristische Agenda ihren Niederschlag in einem regionalen, staatenähnlichen Gebilde. Dabei ist zu betonen, dass die staatsähnlichen Strukturen des IS zwar mittlerweile territorial zerschlagen wurden, die terroristische Agenda und die Netzwerke der IS-Angehörigen aber nach wie vor existieren und weiterhin eine Bedrohung für Menschen innerhalb und außerhalb Deutschlands darstellen. 133 Struktur / Repräsentanten Salafistische Akteure agieren in Deutschland zumeist in losen Netzwerken oder innerhalb einer Vereinsstruktur, die ihnen den Zugang zu den benötigten Ressourcen (Räumlichkeiten, finanzielle Mittel, Rekrutierung neuer Mitglieder) vereinfacht. In Deutschland existiert weder ein "Dachverband" für salafistische Strukturen, noch eine Form der politischen Vertretung, beispielsweise durch eine Partei. Auch eine einheitliche Predigerszene gibt es in Deutschland nicht. Einzelne Prediger betätigen sich jedoch überregional und über die Landesgrenzen hinaus als salafistische Multiplikatoren. Beispiele hierfür sind der in Nordrhein-Westfalen geborene Pierre Vogel, der in Leipzig tätige Hassan Dabbagh oder der in Berlin ansässige Ahmad Armih. Salafistische Prediger aus anderen Bundesländern wurden in Brandenburg bislang nur vereinzelt festgestellt. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer In Brandenburg haben salafistische Strukturen noch keine solche Wahrnehmbarkeit wie in einigen anderen Bundesländern erreicht. Jedoch sind in den letzten Jahren die Zahlen auch hier konstant gestiegen. Der Verfassungsschutz Brandenburg rechnet aktuell 160 Personen (2019: 150) der hiesigen salafistischen Szene zu. Der generell für Deutschland festzustellende Trend, dass sich Szeneakteure aus der Öffentlichkeit zurückziehen und sich stattdessen in konspirativen Zirkeln sowie im Internet betätigen, setzte sich auch 2020 fort. Salafismus übt insbesondere auf Jugendliche und junge Erwachsene Anziehungskraft aus. Anerkennung und das Gefühl, zu einer besonderen Gemeinschaft zu gehören, trägt zu der Bildung einer identitätsstiftenden Subkultur bei. Diese äußert sich beispielsweise in einer eigenen Sprache, Symbolik und einem Kleidungsstil. Zentrales Element ist zudem die für eine Jugendkultur typische Abgrenzung von etablierten Autoritäten. Die Mitglieder der Szene bezeichnen sich als "Brüder" und "Schwestern" und finden in ihr nicht selten eine Ersatzfamilie. Salafistische Prediger werden zu Idolen und zum Teil wie Popstars gefeiert. Minderjährige und Kinder im Besonderen sind für Salafisten und andere islamistische Akteure von großer Bedeutung für ihre verfassungsfeindlichen Ziele. Salafistische Multiplikatoren, wie Imame, Erzieher oder Eltern, versuchen gezielt ihre gesellschaftsund verfassungsfeindlichen Standpunkte auf Minderjährige als kommende Generation zu übertragen. Denn diese sind aufgrund des Fehlens einer gefestigten Persönlichkeitsstruktur besonders anfällig für Indoktrinierungsversuche. Der Missbrauch von Minderjährigen wird besonders bei jihadistischen Gruppierungen deutlich. Diese binden Kinder gezielt in ihre terroristischen Aktivitäten ein und erziehen sie zu gewaltbereiten und fanatisierten Kämpfern. Aus diesem Grund agierten Minderjährige unter der Kontrolle jihadistischer Gruppen immer wieder als Selbstmordattentäter oder als Täter in Hinrichtungsvideos. Auch in salafistischen Familienverbänden in Deutschland werden Kinder radikalisiert. So wurden in der Vergangenheit hierzulande bereits mehrere islamistisch motivierte Gewalttaten durch Minderjährige verübt.254 254 2016 griff in Hannover (Niedersachsen) beispielsweise eine damals 16-Jährige zwei Polizisten mit einem Messer in Tötungsabsicht an und verletzte diese schwer. Die Täterin gab an, mit der Attacke den IS zu unterstützen. 134 Veröffentlichungen Da es sich beim Salafismus um keine homogene Ideologie und bei ihren Vertretern um keine einheitlich agierende Gruppe handelt, gibt es unzählige Schriften salafistischer Ideologen, die teilweise auch auf Deutsch verlegt werden. Sie werden im Internet sowie als gedruckte Exemplare gegen eine geringe Gebühr oder sogar kostenfrei zur Verfügung gestellt. Die darin enthaltenen Aussagen zu gesellschaftspolitischen Vorstellungen sind oft desintegrativ und verfassungsfeindlich. Nicht selten sind sie durchsetzt mit antisemitischem Gedankengut und relativieren oder befürworten religiös motivierte Gewalt. Einen Beitrag um Kinder oder Jugendliche vor salafistischen Inhalten zu schützen, leistet die "Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien" (BPjM). Sie entscheidet darüber, inwiefern einzelne Medien geeignet sind, Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu eigenständigen und gemeinschaftsfähigen Personen negativ zu beeinträchtigen. Kommt die BPjM zu dem Schluss, dass sich Inhalte jugendgefährdend auswirken können, kann sie die entsprechenden Werke indizieren und eine ungehinderte Verbreitung einschränken. Bislang wurden nur wenige Schriften, die dem Phänomenbereich Islamismus zuzuordnen sind, durch die BPjM indiziert. Darunter befinden sich beispielsweise Schriften des salafistischen Autors Abdulrahman AlSheha, darunter "Die Frau im Schutz des Islam", "Missverständnisse über Menschenrechte im Islam" und "Die Botschaft des Islam". Bei weiteren indizierten Publikationen handelt es sich um "Fiqh für Anfänger" des Autors Wahid Abdulsalam Baly und "Die Religion der Wahrheit" von Abdulrahman Bin Hammad al-Omari. Kurzportrait / Ziele Salafisten versuchen, die Religion von vermeintlich verbotenen Neuerungen (Bid'a) zu reinigen und lehnen in diesem Zusammenhang die historisch begründete theologische, gesellschaftliche und normative Diversifizierung des Islam ab. Dies zeigt sich exemplarisch in ihrer Ablehnung, das religiöse Rechtsverständnis einzelner Muslime an den vier sunnitischen Rechtsschulen mit ihren unterschiedlichen Rechtsgrundlagen und Rechtsnormen auszurichten. Vielmehr argumentieren Salafisten, dass das Verstehen und das Ausleben des Islam ausschließlich auf Koran und Sunna, also auf der Überlieferung über Aussprüche und Taten des muslimischen Propheten Muhammad, beruhen dürften. Das grundlegende Ziel von Salafisten ist es, "die" Scharia - als nicht in einem Gesetzeswerk zusammengefasste Gesamtheit islamrechtlicher Vorgaben - wortwörtlich anzuwenden und somit zur Richtschnur für individuelles und gemeinschaftliches Handeln zu machen. Andere, nicht auf dem Islam beruhende Werteoder Normensysteme werden abgelehnt. Nicht selten wirken Salafisten gar auf deren Abschaffung hin. Entsprechend zielt das Handeln von Salafisten in letzter Konsequenz auf die völlige Umgestaltung von Staat, Rechtsordnung und Gesellschaft, also auf die Zerschlagung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ab. Am Ende soll die Errichtung eines mit der Scharia konformen Gesellschaftssystems - ein "Gottesstaat" beziehungsweise "Kalifat" - stehen. Deutsche Sicherheitsbehörden unterscheiden zwischen zwei Ausrichtungen: dem "politischen Salafismus" und dem "jihadistischen Salafismus". Politische Salafisten zielen darauf ab, die Gesellschaft in einem langfristigen Prozess zu verändern und bedienen sich dabei auch vorhandener, gesellschaftlich akzeptierter Einflussmöglichkeiten: In Predigten, Schulungsveranstaltungen und Missionierungsarbeit (Da'wa) werden sowohl Muslime als auch Nicht-Muslime aufgefordert, sich aktiv für den Aufbau einer Gesellschaft einzusetzen, die ihren salafistischen Vorstellungen entspricht. 135 Hierfür nutzen sie sowohl die analoge Realwelt, als auch den digitalen Raum. Ihr verfassungsfeindliches Islamverständnis wird oftmals bereits in kleinerem Maßstab umgesetzt, etwa innerhalb der Familie. Darüber hinausgehend wird die Überzeugung, die Anwendung von Waffengewalt sei nicht nur gerechtfertigt, sondern stelle sogar eine religiöse Verpflichtung dar, insbesondere von jihadistisch orientierten Salafisten vertreten.255 Für sie ist die Anwendung von Waffengewalt zentraler Bestandteil ihres Islamverständnisses. Die Einteilung zwischen politischem und jihadistischem Salafismus ist jedoch nicht als absolute oder trennscharfe Kategorisierung zu verstehen, da die Übergänge fließend sind. So nehmen politische Salafisten oftmals ein ambivalentes Verhältnis zur Gewalt ein, in dem sie Gewalt zwar rechtfertigen, diese aber nicht zwangsläufig selbst anwenden. Politische Salafisten befürworten etwa die Anwendung von Körperstrafen, wie Amputationen von Gliedmaßen als Strafe für Diebstahl, oder fordern zur Tötung von Personen auf, die aus ihrer Sicht den Islam beleidigt oder gegen seine Normen verstoßen haben. Es ist daher festzuhalten, dass der politische Salafismus ganz wesentlich den Nährboden in der Entwicklung einer Person hin zu einem jihadistischen Islamverständnis bildet. Finanzierung Die Finanzierung erfolgt maßgeblich über Spenden aus dem Inoder Ausland. Die Sammlungen werden etwa über religiöse Vereine, Einzelpersonen oder Spendenorganisationen koordiniert und durchgeführt. Darüber hinaus finanzieren sich Salafisten eigenständig über Online-Shops, in denen szenetypische Kleidung, Literatur, Lebensmittel oder andere Artikel des Alltagsbedarfs verkauft werden. Die von ihnen angebotenen Dienstleistungen - wie Seminare oder die Veranstaltung von Reisen - nutzen sie dabei sowohl für die Verbreitung ihrer extremistischen Weltanschauung als auch zur Finanzierung ihrer Bestrebungen. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Der Salafismus ist eine fundamentalistische islamistische Ideologie und zugleich eine extremistische Gegenkultur mit einem rückwärtsgewandten Lebensstil. Sowohl der politische als auch der jihadistische Salafismus vertreten eine verfassungsfeindliche Ideologie: Demokratie wird von Salafisten als falsche "Religion" und die Teilnahme an Wahlen als "Götzendienst" (Taghut) betrachtet. Gesetze können demnach nur von Gott, aber niemals von einem gewählten Gesetzgeber erlassen werden. Somit seien von Menschen beschlossene Gesetze eine Gotteslästerung. Weitere Forderungen salafistischer Akteure sind etwa eine rigide Trennung von Mann und Frau sowohl in der Moschee als auch im öffentlichen und privaten Raum. Sie lehnen eine gemeinsame schulische Erziehung von Jungen und Mädchen sowie die Berufstätigkeit von Frauen ab oder binden diese an die Entscheidung eines männlichen Familienmitglieds. Dem Ehemann wird zudem das Recht zugeschrieben, seine Frau oder Frauen zu schlagen. Wichtiger Bestandteil eines salafistischen Islamverständnisses ist die gezielte Abwertung und Entmenschlichung von Personen, die kein salafistisches Weltbild haben. Damit einher geht, dass Salafisten Andersgläubigen grundlegende Rechte absprechen. 255 Jihadisten riefen in der Vergangenheit zur vermeintlichen "Verteidigung des Islam" oder der Befreiung angeblich unterdrückter Muslimen auf. Diese verkündete Opferrolle von Muslimen ist ein wesentlicher Bestandteil in ihrer Rechtfertigung, selbst Gewalt auszuüben: Sie stellen den bewaffneten Kampf gegen die vermeintlichen Unterdrücker - meist Israel und "der Westen" oder arabische Staaten - als "Verteidigung" von Muslimen oder "dem" Islam dar. Sie argumentieren, dieser Kampf sei eine religiös verpflichtende kollektive Aufgabe der Muslime (fard kifaya). Jihadistische Akteure forderten in der Vergangenheit auch zur Teilnahme am bewaffneten Kampf auf, mit dem Ziel, in den eroberten Gebieten ein islamisches Staatswesen zu etablieren. Sie argumentierten, dieser Kampf sei eine "individuelle Pflicht" (fard ayn) und beließen es daher nicht bei einem "abstrakten" Gewaltaufruf, sondern richteten diesen konkret an jeden einzelnen Muslim. 136 Hierbei handelt es sich beispielsweise um das Recht auf körperliche Unversehrtheit oder das Recht auf Besitz. So erklärten in jüngerer Vergangenheit salafistische Akteure Menschen für vogelfrei und riefen zu deren Ermordung auf, weil sie aus dem Islam in eine andere Religion konvertierten oder ihre islamische Glaubenszugehörigkeit auf einem anderen Weg ablegen wollten. Ein salafistisches Islamverständnis kann also auch maßgeblich dazu beitragen, die Hemmschwelle in der Anwendung von Gewalt zu senken und ist somit geeignet, religiös motivierte Gewalttaten im Inund Ausland hervorzurufen. Diese Vorstellungen sind unvereinbar mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Insgesamt geht vom Salafismus eine Gefährdung für die Innere Sicherheit in Deutschland aus. Der Verfassungsschutz ist gemäß SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummern 1, 3 und 4 des Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes zuständig. Entwicklungen im Berichtszeitraum In Brandenburg konnten in der jüngeren Vergangenheit einzelne salafistisch orientierte Kleingruppen festgestellt werden. Eine umfassende Vernetzung von Salafisten in Brandenburg ist bislang nicht bekannt. Nach wie vor orientieren sich hiesige Akteure auch in die salafistische Szene nach Berlin. Der Berliner Verfassungsschutz führte in seinen Berichten der letzten Jahre mehrere Moscheen und Vereine auf, die der salafistischen Szene zuzurechnen sind oder durch salafistische Akteure als Anlaufstellen genutzt werden. Bedingt durch den Zuzug von Personen muslimischen Glaubens steigt der Bedarf an Moscheen und Gebetsräumen in Brandenburg und damit die Gefahr, dass sie von salafistischen Predigern als neue Missionierungsorte ausgewählt werden könnten. So konnten in der Vergangenheit vereinzelt salafistische Prediger in Brandenburg festgestellt werden. Auch nach der territorialen Zerschlagung des IS findet eine Indoktrinierung von Minderjährigen im Sinne der gewaltverherrlichenden Ideologie des IS statt. Dieses gilt insbesondere in Lagern, die in den ehemals vom IS besetzten Gebieten liegen. Hier befinden sich noch tausende Frauen und ihre Kinder, von denen sich viele nach wie vor der Ideologie des IS zugehörig fühlen. Es ist zu beobachten, dass die dortigen Kinder zahlreich und ungestört weiterhin im Sinne des IS erzogen werden. Salafistische Einstellungen werden auch in Deutschland von Minderjährigen übernommen und aktiv vertreten. Dieses zeigte sich nicht zuletzt im Kontext des Karikaturenstreits Ende 2020, als an vielen deutschen Schulen der Ermordung eines französischen Lehrers gedacht werden sollte. Der Lehrer hatte im Rahmen eines Unterrichts über Meinungsfreiheit Karikaturen des Propheten Muhammad gezeigt, was einen 18-jährigen Islamisten dazu veranlasste, den Lehrer auf offener Straße bei Paris (Frankreich) zu enthaupten. Im Bundesgebiet wurden anschließend mehrere Fälle bekannt, in denen Schüler eine Gedenkminute für das Opfer verweigerten oder die Ermordung des Lehrers sogar rechtfertigten. Im Vergleich zum Vorjahr hat die Anzahl jihadistisch motivierter Anschläge 2020 in Europa erheblich zugenommen. Eine Vielzahl davon wurde durch Jugendliche und junge Erwachsene begangen. Sie handelten - gleichwohl häufig losgelöst und ohne Bekenntnis zu einer festen terroristischen Organisation - dennoch im Geiste einer jihadistischen Ideologie. 137 Bewertung / Ausblick Salafistische Bestrebungen als Nährboden für islamistisch orientierte Gewalttaten werden weiterhin von großer Bedeutung für die Sicherheitsbehörden bleiben. Sich nahezu eigenständig radikalisierende Akteure, zu deren Ideologisierung und wachsender Gewaltbereitschaft etwa extremistische Inhalte im Internet beitragen, stellen dabei eine besondere Gefahr dar. Sind diese zuvor nicht anderweitig auffällig geworden, etwa durch Szenekontakte oder auffällige Verhaltensänderungen im sozialen Umfeld, wird die Erkennung ihrer Radikalisierung erheblich erschwert. Daher rückt die Ideologisierung, Rekrutierung und Vernetzung von Salafisten im digitalen Raum für die Sicherheitsbehörden immer stärker in den Fokus. Durch den territorialen Niedergang des IS und das massive militärische Vorgehen gegen die verbliebenen jihadistischen Organisationen in Syrien, wie beispielsweise der "Hai'at Tahrir al-Sham" (HTS), ist zwar die Zahl derer, die aus Deutschland mit dem Ziel ausreisen, sich dortigen Terrorgruppen anzuschließen, erheblich zurückgegangen. Jedoch bestehen der Jihadismus und die terroristischen Organisationen wie der IS ideologisch fort. Sie verfügen nach wie vor über tausende Anhänger und Sympathisanten, welche die terroristische Agenda unterstützen und dafür kämpfen. Nicht weniger bedrohlich sind Einzelpersonen, welche einer jihadistischen Ideologie folgen - allerdings weitestgehend unabhängig von einer Terrororganisation selbstermächtigt agieren. Dies verdeutlichten zahlreiche Anschläge in Europa im Jahr 2020, denen kein Bekenntnis zu einer jihadistischen Organisation vorausging. Daher ist es nicht auszuschließen, dass sich Personen auch weiterhin zu solchen Anschlägen motiviert sehen. Von besonderer Bedeutung für deutsche Sicherheitsbehörden wird weiterhin die Frage sein, wie mit Personen verfahren wird, die in die Kampfgebiete ausgereist waren, um sich terroristischen Organisationen anzuschließen. Nicht wenige davon wurden nach der Zerschlagung des IS-Kalifats vor Ort interniert und sind es noch. Das betrifft insbesondere die Ehefrauen beziehungsweise Witwen der Terroristen und ihre (Weisen)Kinder. Möglicherweise haben diese Personen in den Lagern eine weitere Radikalisierung erfahren, die es einzuschätzen gilt. Der Blick der Sicherheitsbehörden wird zukünftig zudem stärker auf Personen liegen müssen, die aufgrund salafistisch motivierter Straftaten inhaftiert wurden und in absehbarer Zeit aus der Haft entlassen werden. Bei diesen Personen ist schwer einzuschätzen, ob sie nach ihrer Entlassung weiterhin ihre extremistische Agenda verfolgen oder sich desillusioniert ein neues Leben in Deutschland aufbauen wollen. Weiterhin werden die Sicherheitsbehörden und die deutsche Gesellschaft vor große Herausforderungen im Umgang mit Minderjährigen gestellt, die im ehemaligen IS-Territorium jihadistisch erzogen wurden oder dort traumatische Erfahrungen, etwa während ihres Aufenthaltes in Gefangenenlagern, machten. Aber auch in Deutschland besteht nach wie vor die Gefahr einer Radikalisierung hier lebender Kinder und Jugendlicher, etwa in salafistischen Familienverbänden oder anderen extremistisch geprägten Bildungseinrichtungen. Eine besonders anfällige Gruppe stellen hierbei die unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten dar. Sie leben häufig in einem instabilen sozialen Umfeld und könnten sich deshalb auf der Suche nach Geborgenheit, Halt und Anerkennung der salafistischen Szene zuwenden. Zur Abwendung von Gefahren sowie für das Wohl der Minderjährigen selbst muss daher weiterhin eine enge Zusammenarbeit aller Sicherheitsbehörden mit staatlichen sowie zivilgesellschaftlichen Trägern forciert werden. Eine Sensibilisierung des sozialen Umfelds für Verhaltensauffälligkeiten im Kontext einer salafistischen Sozialisation ist somit ausgesprochen wichtig für die Bereiche Deradikalisierung und Prävention. 138 6.4 Islamistische Nordkaukasische Szene (INS) Sitz / Verbreitung Die "Islamistische Nordkaukasische Szene" (INS) verfügt über Einzelmitglieder in Deutschland. Gründung / Bestehen Die INS besteht seit der Unabhängigkeitserklärung der Tschetschenischen Republik "Itschkerien" nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 (ursprünglich als vorwiegend separatistische Organisation). Im Kampf für die Unabhängigkeit gewann der Salafismus eine immer größere Bedeutung. Als Konsequenz dieser Entwicklung gründete sich 2007 das "Kaukasische Emirat" (KE) im Nordkaukasus mit zunächst lokaler und später globaler jihadistischer Agenda. Seit circa 2015 ist das "KE" im Zuge des Ausrufs eines "Islamischen Staats" (IS) in der Bedeutungslosigkeit versunken. Viele jihadistische nordkaukasische Kämpfer schlossen sich dem IS an. Struktur / Repräsentanten In Brandenburg bestehen keine gefestigten Strukturen mit erkennbarer Hierarchie. Hiesige Akteure unterhalten jedoch deutschlandweit intensive Kennund Unterstützungsverhältnisse, die bis ins Ausland reichen. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer In Brandenburg wurden 2020 circa 70 (2019: 70) Personen der "Islamistischen Nordkaukasischen Szene" zugerechnet. Veröffentlichungen Derzeit sind in Brandenburg keine Veröffentlichungen bekannt. Kurzportrait / Ziele Trotz der Fragmentierung der "Islamistischen Nordkaukasischen Szene" eint sie die konsequente Ablehnung der Russischen Föderation. Nach dem Scheitern der ethno-nationalistischen Unabhängigkeitsbewegung in Tschetschenien und unter dem gewachsenen Einfluss salafistischer und wahhabitischer256 Ideologie während der Tschetschenienkriege versucht die INS ihre politischen Forderungen mittels terroristischer Anschläge durchzusetzen. Teile der Bewegung bekennen sich zum terroristischen "Islamischen Staat" und damit auch zum global orientierten Jihadismus. Finanzierung Anhänger der INS finanzieren sich unter anderem durch allgemeine Kriminalität. Einzelmitglieder verfügen auch über Kontakte in die organisierte Kriminalität. Dabei verhalten sie sich höchst klandestin. 256 Als "Wahhabismus" wird die Staatsreligion beziehungsweise die "Staatsdoktrin" Saudi-Arabiens bezeichnet. 139 Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Als stärker islamistisch geprägte Nachfolgeorganisation zur Sezessionsbewegung der "Tschetschenischen Republik Itschkerien" versuchte das "Kaukasische Emirat" im Nordkaukasus durch militante Überfälle und terroristische Anschläge die Kaukasusprovinzen zu vereinen. Ziel war es, einen unabhängigen Staat zu gründen, dessen Herrschaftsform sich an einem islamischen Kalifat orientiert. Im Jahr 2007 proklamierte der Führer des "Kaukasischen Emirats" Dokku Umarov die "Republik Itschkerien" als den Teil eines den gesamten Nordkaukasus umfassenden "Islamischen Emirats"257. Da die beanspruchten Gebiete258 unter der Verwaltung der Russischen Föderation stehen, versuchten die islamistischen Rebellen um Umarov mit Einsatz von terroristischen Mitteln die Russische Föderation zum Rückzug aus der Kaukasusregion zu zwingen. Zahlreiche Anschläge und Geiselnahmen mit vielen Todesopfern gehen auf das Konto des "Kaukasischen Emirates". Aufbauend auf lange bestehenden Verbindungen zwischen der Unabhängigkeitsbewegung und dem internationalen Salafismus richtete Umarov das "Kaukasische Emirat" stärker als Teil einer global-jihadistischen Bewegung aus, mit klaren Bezügen zur damals noch führenden Terrororganisation "Al-Qaida". Bereits im Jahr 2012 reisten Kämpfer des "Kaukasischen Emirats" nach Syrien, um an Kampfhandlungen teilzunehmen. Im Juni 2013 wurde das "KE" durch das Bundesministerium der Justiz als ausländische terroristische Vereinigung eingestuft und die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung ausgesprochen. Im Jahr 2015 gründeten Führungskader des "KE" eine dem "Islamischen Staat" zugehörige Organisation aus nordkaukasischen Kämpfern. Diese schworen dem damaligen Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, ihre Treue. Dieser Schwur führte zur faktischen Auflösung des "Kaukasischen Emirats". Nichtsdestotrotz existieren lokale Strukturen jihadistischer Prägung im Nordkaukasus fort. Nordkaukasische Islamisten kämpfen auch für andere jihadistische Organisationen in Syrien, wie der "AlNusra Front" und deren Nachfolgeorganisation "Hai'at Tahrir al-Sham" (HTS). Die nordkaukasischen Islamisten gelten als sehr umfassend ausgebildete, erfahrene Kämpfer und Logistiker. Ihr im Kampf erworbenes Wissen geben sie auch an andere Rekruten weiter. Die INS wird in Brandenburg auf der Grundlage des SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummern 1, 3 und 4 des Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes beobachtet. Sie gefährdet die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland durch Gewaltanwendung und darauf ausgerichtete Vorbereitungshandlungen. Entwicklungen im Berichtszeitraum Bundesweit spielen Nordkaukasier in der islamisch-extremistischen Szene eine untergeordnete Rolle. In Brandenburg hingegen stellen sie einen großen Teil des gewaltbereiten salafistischen Personenpotenzials dar. Feste Strukturen konnten sich allerdings in Brandenburg bislang nicht etablieren. Derzeit lebt in Brandenburg eine größere vierstellige Anzahl von Migranten nordkaukasischer Herkunft. Diese Personen werden regelmäßig mit großer Mehrheit nicht als Flüchtlinge anerkannt, allerdings kehren auch nur wenige von ihnen nach Russland zurück. Ein patriarchales Wertesystem und sozialisierte Gewalterfahrungen führen bei nordkaukasische Migranten auch in Deutschland zu Gewalttaten. Das oftmals archaische und patriarchale Werteverständnis vieler Nordkaukasier sowie eine gewachsene Bedeutung des Salafismus im nordkaukasischen Raum wirken sich zudem nachteilig auf die Integration aus und befördern die Herausbildung einer abgeschotteten Parallelgesellschaft. Dies schafft Anknüpfungspunkte für jihadistisches Gedankengut. 257 Ein Emirat stellt eine Verwaltungseinheit eines Kalifats dar. 258 Bestehend aus den Republiken Tschetschenien, Dagestan, Inguschetien, Adygea, und Nord-Ossetien der Russischen Föderation. 140 Durch die mangelhafte Integration finden junge Nordkaukasier oftmals nur Anstellungen im Bewachungsgewerbe und zwar in den Teilen der Branche, die nordkaukasisch kontrolliert sind. Hierbei kommen sie auch in Kontakt mit der allgemeinen und organisierten Kriminalität innerhalb der Diaspora. Die Kombination der oben genannten Faktoren zeigt sich in Brandenburg in gewaltsamen Auseinandersetzungen innerhalb der nordkaukasischen Szene, in Konflikten mit anderen Asylbewerbern bis hin zu Sympathien für salafistische Bestrebungen. Zudem kommt es auch zu Auseinandersetzungen mit der lokalen Bevölkerung. Die am 23. Juli 2020 in Rheinsberg (OPR) verübten Gewalttätigkeiten zweier Personengruppen - eine davon nordkaukasischer Herkunft - sowie die am Folgetag herbeigeführte Mobilisierung von mehr als 100 Nordkaukasiern stellen eine Herausforderung für die Sicherheitsbehörden dar. Nur durch massive Polizeipräsenz vor Ort konnte eine weitere Eskalation vermieden werden. Dem Aufruf waren primär Tschetschenen aus Brandenburg und Berlin, aber auch Einzelpersonen aus anderen Bundesländern, gefolgt. Auch wenn in diesem Fall hinter der spontanen Mobilisierung innerhalb der nordkaukasischen Diaspora keine islamistische Motivation gestanden hat, folgten auch Einzelmitglieder der INS dem Aufruf nach Rheinsberg (OPR). Während die ältere Generation immer noch an der Vorstellung eines unabhängigen Tschetscheniens festhält, zeigt sich bei den jüngeren Nordkaukasiern zunehmend eine Umorientierung zu salafistischen Bestrebungen. Diese geht meist in Richtung der global-jihadistischen Ideologie des IS. Diese Entwicklung ist zentral für die Bewertung der Sicherheitslage in Brandenburg. Die Tatsache, dass Nordkaukasier bei Anschlagsplanungen in Europa bislang kaum in Erscheinung getreten sind, sprechen für eine auf den Kaukasus orientierte Agenda. Demgegenüber belegten die in der Hochphase des IS feststellbaren Reisebewegungen der INS-Anhänger sowie deren Treueschwur auf den IS eher eine globale Agenda. Mit den Anschlägen auf den Boston Marathon (USA / 2013) und dem Messerangriff in Paris (Frankreich / 2018) waren erstmals auch tschetschenische Personen unmittelbar an Terroranschlägen außerhalb von Kriegsgebieten im Namen des IS aktiv. In beiden Fällen waren die Täter junge im Ausland aufgewachsene Tschetschenen, die sich zu Jihadisten entwickelt hatten. Eben diesem Täterprofil ist der Anschlag am Nachmittag des 16. Oktober 2020 in einem Vorort von Paris zuzurechnen, bei dem ein 18-jähriger Tschetschene den französischen Lehrer Samuel Paty enthauptete. Der Täter wurde danach auf der Flucht von der Polizei erschossen. Er begründete seine Tat damit, dass der Lehrer im Unterricht Muhammad-Karikaturen gezeigt und somit den muslimischen Propheten beleidigt habe. Die aufgeführten Anschläge sind Belege für eine zunehmende Orientierung junger Nordkaukasier an global agierenden jihadistisch-terroristischen Gruppierungen. Auch einige Personen aus Brandenburg hatten sich in den letzten Jahren dem IS in Syrien angeschlossen. Entsprechend weit verzweigte INS-Verbindungen kennzeichnen die in Brandenburg beobachteten nordkaukasischen Islamisten. Sie verfügen über ein nationales und internationales Netzwerk von Kennund Unterstützungsverhältnissen. Unter den insgesamt 70 bekannten Personen sind Kämpfer der älteren Generation. Einige haben im Nordkaukasus für das "Kaukasische Emirat" gekämpft und waren danach in Afghanistan, im Irak und Syrien aktiv. Eine geringe Anzahl ist nach nur teilweise bestätigten Angaben in Syrien gefallen oder nach Europa zurückgekehrt, jedoch aktuell nicht in Brandenburg aufhältig. Andere betätigten sich als Werber und Schleuser, um weitere Anhänger der Organisation in Kampfgebiete zu bringen oder Geldmittel zu akquirieren. Vor den bekannten Ausreisen war eine starke räumliche Anbindung an einschlägige Moscheevereine in Berlin zu beobachten. Darüber hinaus hatten sich einige Personen bereits vor ihrer Einreise nach Deutschland in extremistischen Koranschulen im Ausland radikalisiert. 141 Ein offensives Propagieren der eigenen Ideologie ist in Brandenburg nicht zu beobachten. Vielmehr agieren die Personen konspirativ und im Privaten. Vereine oder Moscheen, die als Treffpunkte dienen könnten, sind in Brandenburg nicht bekannt. Zunehmend haben die sozialen Medien eine wichtige Rolle eingenommen, um sich über die Heimat zu informieren und untereinander in Kontakt zu bleiben. Die nordkaukasische Diaspora - darunter auch die Anhänger der INS - wird zunehmend durch gezielte politische Morde verunsichert. Hierdurch kann in Deutschland eine die öffentliche Sicherheit gefährdende Dynamik entfacht werden. Im Februar 2020 wurde beispielsweise der gebürtige Tschetschene Imran A. in einem Hotel in Lille (Frankreich) ermordet aufgefunden. A. hatte sich zuvor in einem Video kritisch über den tschetschenischen Präsident Ramsan Kadyrow geäußert. Unmittelbar vor dieser Tat wurde zudem der bekannte tschetschenische Blogger und Kadyrow-Kritiker Tumso A. in seiner schwedischen Wohnung angegriffen. Darüber hinaus wurde im Juli 2020 ein weiterer 43 Jahre alter Tschetschene in Wien (Österreich) erschossen. Er hatte die tschetschenische Regierung um Kadyrow öffentlich angeprangert. Bewertung / Ausblick Das "Kaukasische Emirat" existiert nicht mehr und die Führungskader sind in IS-Unterorganisationen aufgegangen. Damit treten lokale nordkaukasische Konflikte innerhalb der Russischen Föderation in den Hintergrund, während bei jungen Nordkaukasiern die ideologische Ausrichtung hin zum Salafismus und zum globalorientierten Jihadismus des IS deutlicher wird. Diese Umorientierung sowie die unterschiedlichen Gruppierungen mit ihren jeweiligen ideologischen Ausrichtungen, Interessensund Motivlagen erschweren eine Prognose. Mehrere tausend Nordkaukasier haben in Syrien gekämpft. Sie gelten aufgrund ihrer ausgeprägten militärischen Fähigkeiten als erfahrene Kämpfer. Bislang ist noch nicht absehbar, wie sich diese Kämpfer nach dem Niedergang des IS verhalten werden. Es ist abzusehen, dass Anhänger der INS zunehmend in anderen bewaffneten Konflikten, wie etwa in der Ukraine, in den Kampf ziehen werden. Eine Rückkehr nach Russland ist angesichts der starken Repressalien, die durch das Regime des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow drohen, unwahrscheinlich. Es ist vielmehr anzunehmen, dass ehemalige Kämpfer weiterhin als Flüchtlinge getarnt nach Europa kommen werden. Da Brandenburg bereits über eine große tschetschenische Gemeinde verfügt, ist ein weiterer Zuzug islamistisch oder gar jihadistisch orientierter Nordkaukasier nicht auszuschließen. Im Jahr 2020 sind eine Vielzahl islamistisch motivierter Anschlagsplanungen in Deutschland aufgedeckt beziehungsweise vereitelt worden. Perspektivisch könnten Rückkehrer als charismatische Einflusspersonen mit Vorbildfunktionen neue Dynamiken unter den jüngeren Nordkaukasiern in Deutschland auslösen. Auch wenn Brandenburg und Deutschland in der Vergangenheit vor allem als Rückzugsräume der INS galten, zeigt die Enthauptung eines Lehrers in Frankreich, dass die heranwachsende Generation alte Loyalitäten und die primäre Feindschaft gegenüber Russland zu Gunsten einer globalen jihadistischen Ideologie hinter sich lässt. Hierdurch gelten westliche Gesellschaften als potenzielles Ziel von Anschlägen. Die aktuellen Terrorangriffe können gewaltbereite jihadistische Akteure, wie die INS, insbesondere aber irrational handelnde Einzeltäter zu Nachahmungstaten motivieren. Maßgeblich für die Gefährdungseinschätzung bleibt ebenso die Lage in Russland und dessen weiteres Vorgehen im Inund Ausland, zum Beispiel im Nordkaukasus und in Syrien. 142 6.5 Tablighi Jama'at Sitz / Verbreitung Die globale Missionierungsbewegung "Tablighi Jama'at" (kurz TJ; zu Deutsch: "Gemeinschaft der Missionierung und Verkündung") besteht aus mehreren Strömungen. Als dessen internationales Zentrum gilt die Stadt Lahore in Pakistan. Das europäische Zentrum liegt in Dewsbury, Großbritannien. In Deutschland gibt es keine offiziellen Niederlassungen. Die TJ ist heute hinsichtlich ihrer Anhänger und Reichweite eine der bedeutendsten islamistischen Vereinigungen. Genaue Zahlen über die Höhe der Anhängerschaft sind aufgrund der eher losen Struktur kaum zu ermitteln. Zudem verfügt die Bewegung weltweit über Gefolgschaft. Schwerpunkte der Aktivitäten bilden Indien und Pakistan sowie weitere Teile Zentralasiens. In diesen Regionen stellt die TJ ein nicht zu unterschätzendes religiöses wie kulturelles Mosaikelement innerhalb der dortigen Gesellschaften dar. Je nach Land und vorgefundenen Rahmenbedingungen haben sich TJ-Strukturen unterschiedlich entwickelt. Sie eint in der Regel, so auch in Deutschland, eine Anbindung an ein internationales Netzwerk, welches einen weltweiten Austausch der Bewegung fördert. Des Weiteren eint die TJ ihre islamistische Ideologie, normative Verhaltensprinzipien und gemeinsame Handlungsstrategien. Gründung / Bestehen Die TJ entstand 1926 im damaligen Britisch-Indien als islamische Reformbewegung. Auslöser hierfür war insbesondere die Zunahme säkularer Einflüsse und Gesellschaftsvorstellungen vor dem Hintergrund der Hegemonie europäischer Kolonialmächte. Die TJ beabsichtigte, als Gegenbewegung auf Graswurzelebene die Muslime wieder auf den Islam zu besinnen und diesen von vermeintlich geistigen wie kulturellen Verunreinigungen zu "säubern". Struktur / Repräsentanten In Deutschland organisiert sich die TJ zumeist in regionalen Führungszirkeln, den "Schuras". Zentrale szenebekannte Akteure koordinieren über informelle Kontaktnetzwerke in einem hierarchisch aufgebauten Gefüge die Arbeit der Bewegung. Diese Struktur ist wiederum mit globalen Netzwerken verbunden. Mitglieder / Anhänger / Unterstützer In Brandenburg besteht in der Stadt Rathenow (HVL) eine TJ-Gruppe. Neben einem einstelligen Kern an Mitgliedern besteht eine niedrige zweistellige Zahl an Anhängern und Unterstützern. Die zentralen Akteure der Gruppe sind an ein überregionales TJ-Netzwerk angeschlossen. Des Weiteren lassen sich in Brandenburg anderenorts Einzelpersonen ausmachen, die eine Nähe zur TJ aufweisen. Veröffentlichungen Derzeit sind in Brandenburg keine Veröffentlichungen bekannt. 143 Kurzportrait / Ziele Die TJ orientiert sich strikt an einem archaischen Islamverständnis. Ihre Anhänger wollen den Islam möglichst genau auf die Art und Weise praktizieren und leben, wie sie es sich von den ersten Muslimen vorstellen. Ziel dieser globalen Graswurzelbewegung ist demnach eine Rückbesinnung auf die Ursprünge des Islam. Hierfür sollen die Muslime von vermeintlich unzulänglichen Islamauslegungen und fehlender Frömmigkeit "befreit" werden. Die TJ propagiert dabei eine wörtliche Auslegung von Koran und Sunna. Dies bedeutet beispielsweise die massive Ausgrenzung der Frau, die Abgrenzung gegenüber Nicht-Muslimen sowie die Ablehnung säkularer Prinzipien und demokratischer Verfahren. Schwerpunkte der hiesigen Aktivitäten sind insbesondere die Missionierung, die Gewinnung neuer Anhänger und deren Schulung sowie ideologische Festigung. Finanzierung Die TJ finanziert sich unter anderem über Spenden ihrer Mitglieder. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Die Ziele der TJ sind mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar. Denn sie zielt langfristig auf die Errichtung eines totalitären Gottesstaats unter der Herrschaft des muslimischen Scharia-Rechtssystems ab. Des Weiteren prägen die TJ eine wörtliche Auslegung von Koran und Sunna, die Ausgrenzung Andersdenkender sowie die Diskriminierung von Frauen. Die Ablehnung demokratischer, rechtsstaatlicher und damit weltlicher Prinzipien sowie die polarisierende Unterscheidung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen in Verbindung mit einem starken Missionierungsgedanken begünstigt zudem Parallelgesellschaften und befördert individuelle Radikalisierungsprozesse. Eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz erfolgt auf Grundlage der Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung nach SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummern 1 und 4 des brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes. Entwicklungen im Berichtszeitraum In Brandenburg besteht in der Stadt Rathenow (HVL) eine TJ-Gruppe, die versucht, vor Ort Einfluss auf die muslimische Gemeinschaft zu erlangen. Ihre führenden Mitglieder nehmen an überregionalen Missionierungsreisen teil und bringen sich aktiv in das Netzwerk der bundesländerübergreifende TJ-Szene ein. Dort werden bundesweite Kampagnen geplant, organisatorische Entscheidungen getroffen und die Missionierungsarbeit koordiniert. Auf kommunaler Ebene wurden deshalb Informationsund Sensibilisierungsveranstaltungen mit dem Ziel durchgeführt, das Wirken der TJ-Gruppierung in Rathenow zu begrenzen. Des Weiteren konnten 2020 in Brandenburg vereinzelt Angehörige von TJ-Kleingruppen bei ihrer Missionierungsarbeit (Da'wa) beobachten werden. Diese Kleingruppen bestehen in der Regel aus Personen, die nicht in Brandenburg gemeldet sind, aber das Land als Ziel ihrer Missionierungsarbeit ausgesucht haben. Vereinzelt finden sich auch brandenburgische Muslime in diesen Gruppen wieder. Anlaufpunkt der Aktivitäten sind muslimische Versammlungsorte, zumeist Gebetsräume oder Sammelunterkünfte. Hier findet die TJ ihre primären Zielgruppen: Muslime, die ihrem Glauben vermeintlich unzureichende Aufmerksamkeit schenken, sowie orientierungslose, zumeist junge, Gläubige. Ebenso können Nicht-Muslime Adressaten der Missionierung werden. Darüber hinaus erfolgen Straßenansprachen und es werden Privatwohnungen für Gebete und Missionierungen genutzt. 144 Bewertung / Ausblick Mit Blick auf das Bundesgebiet ist die TJ unverändert bemüht, an Reichweite und Einfluss zu gewinnen. Insbesondere die Ausweitung missionarischer Aktivitäten und die Gewinnung von Anhängern stehen hier im Fokus. In Brandenburg werden TJ-Strukturen sowie mit ihr sympathisierende Einzelpersonen auch in Zukunft daran interessiert sein, neue Anhänger für ihre Islamauslegung zu gewinnen. Hierunter fallen insbesondere die oben benannten Zielgruppen. Das rigide Auftreten der TJ erschwert dabei glücklicherweise oftmals deren Anschlussfähigkeit. Der Eifer der Bewegung sowie ein starkes Sendungsbewusstsein können jedoch dazu führen, dass sich in Brandenburg die Narrative der TJ in kleineren Gruppen zukünftig verfangen könnten. Hier stehen mittelfristig vermutlich vor allem Persisch sprechende Muslime im Mittelpunkt der brandenburgischen TJ-Strukturen. 145 7. Auslandsbezogener Extremismus 146 7. Auslandsbezogener Extremismus Personenpotenziale auslandsbezogener extremistischer Gruppierungen in Brandenburg 259 2018 2019 2020 Linksextremisten 100 95 85 Davon PKK/ Nebenorganisationen 90 90 80 Nationalistische Extremisten 15 10 10 gesamt 115 105 95 Extremistische Bestrebungen mit Auslandsbezug sind im Land Brandenburg nach wie vor von untergeordneter Bedeutung. Im Vergleich zu den anderen extremistischen Phänomenbereichen bewegt sich die Zahl brandenburgischer Anhänger seit Jahren auf einem relativ niedrigen Niveau. Im Jahr 2020 gehörten nur etwa 95 (2019: 105) Personen solchen Organisationen an. Die meisten davon verfügen über einen Migrationshintergrund. Deutschland ist für dieses Personenspektrum ein Rückzugsraum und dient der Rekrutierung neuer Aktivisten, der Finanzierung der Organisationen sowie der politischen Agitation. Im Land Brandenburg sind keine Strukturen extremistischer Gruppierungen mit Auslandsbezug feststellbar. Es sind vielmehr Einzelpersonen, die für diese Gruppierungen aktiv werden. Sie orientieren sich meistens nach Berlin, weil dort bereits entsprechende Organisationsstrukturen vorhanden sind. Die in Deutschland bedeutendsten extremistischen Organisationen mit Auslandsbezug erwachsen aus den innenund außenpolitischen Konflikten der Türkei. Hierbei wird zwischen Rechtsund Linksextremisten unterschieden. Die linksextremistische Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ist die einzige auslandsbezogene extremistische Organisation im Land Brandenburg, die über ein relevantes Personenpotenzial verfügt. Im Jahr 2020 wurden ihr und ihren Nebenorganisationen etwa 80 Personen (2019: 90) zugerechnet. 259 Islamische Extremisten werden im vorherigen Kapitel behandelt. 147 "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) / "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL) und unterstützende Organisationen Sitz / Verbreitung Der Hauptsitz der vielfach umbenannten PKK liegt im Nord-Irak. Die Vertretung in Europa erfolgt vor allem durch Kader der CDK ("Koordinasyon Civata Ekolojik - Demokratik a Kurd Li Ewropa"). Gründung / Bestehen Im November 1978 gründete sich die PKK als eine revolutionäre Partei. Struktur / Repräsentanten Die höchsten Entscheidungsgremien der PKK sind die "Vereinigten Gemeinschaften Kurdistans" (KCK) mit dem Präsidenten Abdullah Öcalan260 und den Vorsitzenden Cemil Bayik und Bese Hozat sowie die "Generalversammlung des Volkskongresses Kurdistans" (KONGRA-GEL). Als Schwesterpartei der PKK in Nordsyrien fungiert die PYD ("Partei der Demokratischen Union"). Die Strukturen folgen dem Kaderprinzip und sind an einer autoritären Führung ausgerichtet. Die PKK hat Deutschland in Regionen eingeteilt. Für ihre Vorgaben nutzt sie überwiegend die örtlichen kurdischen Vereine, die Anhängern der Organisation als Treffpunkt und Anlaufstelle dienen. Im Laufe des Jahres 2019 gingen alle Befugnisse des Dachverbandes "Demokratisches Gesellschaftszentrum der KurdInnen in Deutschland e.V." (NAV-DEM), welcher den Anspruch erhob, eine demokratische Massenorganisation zu sein, auf die im Mai 2019 gegründete "Konföderation der Gesellschaften Mesopotamiens in Deutschland" (KON-MED)261 über. Folgerichtig wurde NAV-DEM im Januar 2020 beim Amtsgericht in Düsseldorf aufgelöst. Tatsächlich sind die Strukturen von KON-MED weder organisatorisch selbstständig noch ideologisch oder personell unabhängig von der PKK im Nordirak.262 Mitglieder / Anhänger / Unterstützer 80 Veröffentlichungen Die wichtigsten Publikationen sind "Serxwebun" (Unabhängigkeit), "Yeni Özgir Politika" (Neue Freie Politik), "Sterka Ciwan" (Stern der Jugend), "Newaya Jin" (Erlebnisse der Frauen), "Kurdistan Report" sowie "Firat News Agency" (ANF). Hinzu kommen einige Fernsehsender, wie zum Beispiel "Nuce TV", "STERK TV", "Ronahi TV" oder "Mednuce". Des Weiteren ist die PKK über eine Vielzahl von Webseiten im Internet aktiv. Kurzportrait / Ziele Die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) sieht sich als einzige legitime Interessenvertretung der Kurden. In den vergangenen Jahrzehnten hat sie sich immer wieder umbenannt (KADEK, KONGRA-GEL, KKK beziehungsweise KCK). Ursprünglich trat sie für die Errichtung eines unabhängigen Staates "Kurdistan" ein und versuchte, ihre Ziele mit militärischen Mitteln und terroristischen Anschlägen zu erreichen. 260 Abdullah Öcalan ist der Gründer der PKK. 261 Vgl. Homepage Yeni Özgir Politika, 31.05.2019 (letzter Zugriff am 13.01.2020). 262 Urteil des Bundesgerichtshofs vom 28.10.2010, https://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py? Gericht=bgh&Art=en&sid=7223b184dd06a6707ea4e42f4f4a1929&nr=54773&pos=0&anz=43 (letzter Zugriff am 28.01.2021). 148 Nach der Inhaftierung ihres Gründers Abdullah Öcalan im Jahr 1999 wurde öffentlich nur noch eine kulturelle Autonomie der kurdischen Gebiete angestrebt. Im Zuge der territorialen Veränderungen im Nahen Osten seit dem Arabischen Frühling propagiert die PKK jedoch wieder zunehmend Forderungen nach einem länderübergreifenden föderalen Verbund aller Kurden. Finanzierung Die Finanzierung der militärischen und politischen Aktivitäten der PKK erfolgt insbesondere über die kurdische Diaspora in Europa. Kurden spenden sowohl freiwillig als auch unter Druck an die Strukturen der PKK und deren Ableger in Nordsyrien. In den jährlichen Spendenkampagnen kommen bundesweit viele Millionen Euro zusammen. Hinzu treten Erlöse aus Zeitschriftenund Devotionalienverkäufen sowie Eintrittsgeldern von Großveranstaltungen. Grund für die Beobachtung / Verfassungsfeindlichkeit Aufgrund ihres auch in Deutschland gewalttätigen Vorgehens wurde die PKK am 26. November 1993 vom Bundesinnenminister mit einem vereinsrechtlichen Betätigungsverbot belegt. Seit 2002 ist sie von der Europäischen Union als terroristische Organisation gelistet. 2014 wurde diese Einstufung bekräftigt. Nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 28. Oktober 2010 wird die PKK in Deutschland als terroristische Vereinigung im Ausland eingestuft. Damit können ihre Mitglieder nach SSSS 129a und b Strafgesetzbuch strafrechtlich verfolgt werden, was ein höheres Strafmaß und den Einsatz weitergehender Ermittlungsmaßnahmen ermöglicht. Bereits aufgrund des Gewaltbezuges der Organisation ergibt sich die Zuständigkeit des Verfassungsschutzes Brandenburg nach SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummern 3 und 4 BbgVerfSchG. Entwicklungen im Berichtszeitraum Anfang des Jahres 2020 mobilisierten PKK-Aktivisten europaweit für Großkundgebungen, so zum Beispiel in Paris263 und in Straßburg264 (beide Frankreich). In Deutschland wurden verschiedene "Märsche", bei denen sich PKK-Aktivisten aus mehreren Städten in Richtung Straßburg bewegten, organisiert.265 Wie in den Jahren zuvor kam es im März 2020 in verschiedenen deutschen Städten zu Kundgebungen aus Sorge um den Gesundheitszustand Öcalans. Dieser verbüßt nach wie vor auf der im Marmarameer gelegenen Gefängnisinsel Imrali (Türkei) eine lebenslange Freiheitsstrafe. Anlass der Kundgebungen war die Meldung, dass auf Imrali am 27. Februar 2020 ein Feuer ausgebrochen war. Späteren Berichten zufolge war Öcalan nicht durch das Feuer gefährdet.266 Am 05. Dezember 2020 demonstrierten PKK-Aktivisten in Stuttgart (Baden-Württemberg) für die Freilassung Öcalans. Grundsätzlich waren durch die behördlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie auch die Aktivitäten der PKK-nahen Akteure in Deutschland beschränkt. So wurde aufgrund der behördlichen Maßnahmen eine der jährlichen zentralen Großveranstaltungen der PKK abgesagt: das kurdische Neujahrsfest "Newroz" am 21. März 2020 in Frankfurt (Hessen). Ursprünglich wollten dort PKK-Aktivisten aus ganz Europa zusammenkommen, um ihren politischen Forderungen Nachdruck zu verleihen. 263 Hierbei handelte es sich um eine Kundgebung zum siebten Jahrestag der Ermordung von drei Aktivistinnen. 264 Hierbei handelte es sich um eine Kundgebung zum Jahrestag der Festnahme des Organisationsgründers Öcalan. 265 Vgl. Homepage "ANF Deutsch": "Kurdische Aktivisten am Grenzübergang Kehl festgenommen", 15.02.2020 (letzter Zugriff am 25.01.2021). 266 Vgl. Homepage "ANF Deutsch": "Feuer auf Imrali: Anwälte fordern sofortigen Zugang", 27.02.2020 (letzter Zugriff am 25.01.2021). 149 Demgegenüber fand der alljährliche "Lange Marsch" statt. Er wurde unter dem Motto "Für die Freiheit Abdullah Öcalans - Zusammen erheben" vom 5. bis 11. September 2020 in mehreren Etappen von Hannover (Niedersachsen) nach Hamburg durchgeführt. Seit Beginn der türkischen Militäraktionen im März 2018 gegen die PYD und deren militärischen Arm "Yekineyen Parastina Gel" (YPG; zu Deutsch "Volksverteidigungseinheiten") bestimmen diese Kampfhandlungen in Nordsyrien die PKK-Aktivitäten deutschlandund europaweit. Dieses gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass sich die kurdischen Kampfverbände aus der für sie bedeutenden Stadt Afrin zurückziehen mussten. Anlässlich der am 15. April 2020 erfolgten türkischen Angriffe auf das Flüchtlingscamp Mexmur (Irak) sowie auf Stellungen der PKK kam es europaweit zu vereinzelten Kundgebungen, so auch in Deutschland. Am 27. Mai 2020 ist der hochrangige PKK-Funktionär Kasim Engin bei einem türkischen Luftangriff ums Leben gekommen.267 Im Juni intensivierten türkische Einheiten ihre militärischen Operationen gegen die kurdischen Stellungen im Nordirak. Mit Beginn der türkischen Militäroperation "Adlerklaue" erfolgten massive Luftangriffe, wobei eine Vielzahl von Zielen zerstört wurde und die türkischen Streitkräfte weiter vorrücken konnten. Anhänger der PKK reagierten daraufhin einmal mehr mit Protesten.268 So fanden seit Mitte Juni 2020 zahlreiche Demonstrationen in deutschen Großstädten statt, zum Beispiel in Dresden (Sachsen), Hamburg, Hannover (Niedersachsen), München (Bayern), Köln oder Düsseldorf (beide Nordrhein-Westfalen). Daran beteiligten sich neben PKK-Aktivisten auch Personen aus dem linksextremistischen Spektrum.269 Ebenso solidarisierten sich Linksextremisten im November 2020 mit der PKK und forderten eine Aufhebung des PKKVerbots. In Brandenburg kam es im Jahr 2020 zu vereinzelten Sachbeschädigungen, welche Sympathien für die PKK zum Ausdruck brachten. Beispielhaft hierfür stehen Aktionen gegen Bankfilialen in Neuruppin im Rahmen der "Internationalen Woche der Solidarität und des Widerstandes" des Bündnisses "Riseup4Rojava" im November 2020.270 Linksextremisten unterstützen seit jeher die sozialistische Vision des PKK-Gründers Öcalan und seine Autonomiebestrebungen. Sie wollen Kurden für andere linksextremistische Aktionsfelder gewinnen. Besonders hervor trat in der öffentlichen Mobilisierung die internationale Kampagne "RiseUp4Rojava", die in Deutschland von linksextremistischen Organisationen, wie der "Roten Hilfe" und der "Interventionistischen Linken"271, unterstützt wird. Mehrere auf Seiten der YPG kämpfende Deutsche haben in den letzten Jahren in den kurdischen Autonomiegebieten im Nordosten Syriens - die auch als "Rojava" bezeichnet werden - bereits ihr Leben verloren.272 Nach Behördenschätzungen sind seit Juni 2013 mehr als 270 Personen aus Deutschland mit dem Ziel ausgereist, der PKK in den umkämpften Gebieten beizustehen.273 267 Vgl. Homepage "ANF Deutsch": "PKK gibt den Tod von Kasim Engin bekannt", 08.06.2020 (letzter Zugriff am 25.01.2021). 268 Vgl. Homepage "ANF Deutsch": "Kurdische Verbände rufen zum Protest auf", 15.06.2020 (letzter Zugriff am 25.01.2021). 269 Vgl. Homepage "ANF Deutsch": "Bundesweite Proteste gegen türkische Angriffe", 20.06.2020 (letzter Zugriff am 25.01.2021). 270 Vgl. Homepage "ANF Deutsch": "'Go In' in Neuruppin", 05.11.2020 (letzter Zugriff am 05.02.2021). 271 Vgl. beispielhaft Twitter IL, 28.08.2020 (letzter Zugriff am 05.02.2021). 272 Bekannt gewordene getötete YPG-Kämpfer sind Jakob R. (Siyar Gabar) im Dezember 2018, Sahra H. (Sara Dorsin) im April 2019 und Konstantin G. (Andok Cotkar) im Oktober 2019. 273 Bundesamt für Verfassungsschutz: "Tod für die PKK: Immer wieder sterben auch deutsche Guerillakämpfer für die verbotene Terrororganisation", November 2019, https://www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/newsletter/ newsletter-archive/bfv-newsletter-archiv/bfv-newsletter-2019-03-archiv/bfv-newsletter-2019-03-thema-06, (letzter Zugriff am 17.01.2020). 150 Bewertung / Ausblick Die türkische Intervention in Syrien hatte sich bereits 2019 stark auf die Strategie und die Aktivitäten der PKK und ihrer Teilorganisationen in Deutschland ausgewirkt. Das militärische Vorgehen der Türkei ist weiterhin geeignet, PKK-Anhänger zu mobilisieren. Die türkischen Militäroperationen im Juni 2020 zogen ebenso Kundgebungen nach sich. Darüber hinaus sind der Jahrestag der Festnahme Öcalans sowie dessen Haftbedingungen und Gesundheitszustand Themen, die PKK-Anhänger stark emotionalisieren und zu politischen Aktivitäten veranlassen. Im Gegensatz zum Jahr 2019 wurden im Berichtszeitraum jedoch keine Selbstverbrennungen vorgenommen. Obwohl Linksextremisten die PKK in Deutschland offen unterstützen und in den Medien regelmäßig über die geopolitische Lage in den Kurdengebieten berichtet wird, hat die PKK keine Trendwende in der Mobilisierung erreicht. Dennoch wird sie sich zukünftig weiter bemühen, größere Menschenmengen für ihre Ziele zu gewinnen, medienwirksame Aktionen zu veranstalten, Kämpfer zu rekrutieren und Geld für den Krieg zu sammeln. Als Katalysatoren wirken dabei Sorgen um den Gesundheitszustand von Abdullah Öcalan sowie teilweise massive militärische Aktionen der türkischen Armee in kurdischen Siedlungsgebieten. Die Corona-Pandemie hat es der PKK in Deutschland erschwert, mittels Großveranstaltungen auf ihre Belange aufmerksam zu machen. Dies könnte den Trend zu rückläufigen Teilnehmerzahlen bei PKK-Veranstaltungen noch verstärken. Inwiefern durch die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Corona-Pandemie die Möglichkeiten der Spendensammlung für die Zwecke der PKK behindert werden, bleibt abzuwarten. Auch wenn die PKK in Deutschland und dem übrigen Westeuropa aus politisch-taktischen Erwägungen auf Gewalt verzichtet, hat sie der Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen Interessen nicht generell abgeschworen. Die Rekrutierung junger Menschen in Deutschland für den bewaffneten Kampf hält dabei an. Zu diesem Zweck werden zunehmend professionelle Videos für den deutschsprachigen Raum erstellt. Am 7. November 2019 wurde über Internetprofile von STERK TV das Video "Der Weg der Freiheit" veröffentlicht. Der in Deutschland produzierte Film richtet sich auf deutsch, türkisch und kurdisch an junge Heranwachsende in Deutschland. In der Produktion werden die Kriegsleiden der kurdischen Zivilbevölkerung, der Mythos von den gefallenen deutschen Kämpfern und das Fernziel des sozialistischen, kurdischen Utopie-Staats "Rojava" propagiert. So sollen Heranwachsende - insbesondere solche mit Verbindungen ins linksextremistische Milieu - weiter radikalisiert und für den bewaffneten Kampf der PKK begeistert werden. Begünstigend für diese Entwicklung ist auch die Verbreitung von alltäglichen Gebrauchsgegenständen und Devotionalien, welche die Person Öcalan und den bewaffneten Kampf der PKK für eine sozialistische Utopie glorifizieren. In der Gesamtschau ergibt sich daher auch weiterhin für den brandenburgischen Verfassungsschutz der Auftrag der Beobachtung nach SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummern 3 und 4 BbgVerfSchG. 151 8. Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, Proliferation und Geheimschutz 152 8.1 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz und Proliferation Der brandenburgische Verfassungsschutz arbeitet intensiv mit den anderen Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern zusammen. Zudem tauscht er sich eng mit dem Bundesnachrichtendienst (BND), dem Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst (BAMAD) und dem Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) aus. Es gibt - unter Beachtung des Trennungsgebotes zwischen Polizei und Verfassungsschutz - darüber hinaus eine gute Zusammenarbeit mit der Landesund Bundespolizei sowie mit dem Zollkriminalamt. Spionage bezeichnet das Beschaffen und Erlangen nicht-öffentlich zugänglicher Informationen oder geschützten Wissens durch eine fremde staatliche Macht. Nach wie vor setzen viele Staaten ihre Nachrichtendienste ein, um Informationen im politischen, militärischen und wirtschaftlichen Bereich auf diesem Weg zu gewinnen. Spionage stellt für sie ein effektives Mittel zur Sicherung unlauterer Interessensvorteile dar. Wirtschaftsschutz ist der präventive Bereich im Rahmen der Abwehr von Wirtschaftsspionage. Unter Zuhilfenahme ihrer Nachrichtendienste oder anderer staatlicher Organisationen versuchen Staaten das Know-how unserer heimischen Wirtschaft auf illegale Weise abzuschöpfen. Weiterhin sind in diesem Zusammenhang auch die Cyberabwehr (Abwehr elektronischer Angriffe mit nachrichtendienstlichem Hintergrund), der Schutz "Kritischer Infrastruktur" (KRITIS)274, der Sabotageschutz und die Proliferationsabwehr275 als Aufgabengebiete zu nennen. Die Spionageabwehr gehört zu den wesentlichen Aufgaben des brandenburgischen Verfassungsschutzes. Sie zielt darauf ab, Spionageaktivitäten gegnerischer Nachrichtendienste aufzuklären und zu verhindern. Aus diesem Grund sammelt die Spionageabwehr Informationen über geheimdienstliche Aktivitäten und wertet sie aus. Allerdings geht es nicht nur um die Enttarnung von Agenten, sondern auch um die Aufklärung von Strukturen, Aktivitäten, Arbeitsmethoden und Zielrichtungen fremder Dienste. Heutzutage verschwimmen die Grenzen zwischen eindeutig staatlich gelenkter Spionage und kriminellen Aktivitäten jedoch immer mehr. Im Gegensatz zu früher bedienen sich staatliche Nachrichtendienste oft anderer Organisationen oder krimineller Vereinigungen. So lässt sich die tatsächliche Herkunft des Angreifers verschleiern oder die "Beute" teilen. Da sich in einigen Staaten die Nachrichtendienste teilweise selbst finanzieren, agieren sie wie kriminelle Akteure und bedienen sich entsprechender Mittel, um sich die benötigten Ressourcen zu beschaffen. Zu den Hauptakteuren der Spionageaktivitäten in der Bundesrepublik Deutschland zählen die Russische Föderation, die Volksrepublik China und der Iran. Zusätzlich ist die Türkei zu nennen, die schwerpunktmäßig Oppositionelle ausspäht. Darüber hinaus sind weitere fremde Nachrichtendienste in Deutschland aktiv. Ausländische Nachrichtendienste betreiben Spionage sowohl mit offener als auch mit verdeckter Informationsbeschaffung, wie etwa klassischer Agentenführung. Den größten Teil der Informationen erlangen sie durch die Auswertung öffentlich zugänglicher Quellen, wie Zeitungen, Internet und Datenbanken, sowie durch die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen oder wissenschaftlichen Projekten. 274 KRITIS: Kritische Infrastrukturen sind Organisationen oder Einrichtungen, die von wesentlicher Bedeutung für die Aufrechterhaltung wichtiger gesellschaftlicher Funktionen, der Gesundheit, der Sicherheit und des wirtschaftlichen oder sozialen Wohlergehens der Bevölkerung sind. Hierzu zählen beispielsweise: Energie, Wasser, Informationstechnik und Telekommunikation, Gesundheit, Ernährung, Staat und Verwaltung, Transport, Verkehr, Finanzen und Versicherungen sowie Medien und Kultur. 275 Proliferationsabwehr ist die Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und/oder Gütern, die zu deren Herstellung dienen. 153 Besonders sensible und deshalb auch entsprechend geschützte Informationen versuchen sie, mit geheimen Beschaffungsmethoden zu gewinnen. So versuchen sie, in Informationssysteme einzudringen und die Telekommunikation zu überwachen oder Agenten im Zielobjekt einzusetzen. Botschaften, Handels-, Reiseund Presseagenturen dienen ausländischen Nachrichtendiensten als Stützpunkte, um von dort aus Spionage zu betreiben. Neben der klassischen Informationsbeschaffung versuchen fremde Nachrichtendienste durch Propaganda und Desinformationen Einfluss auszuüben. Insbesondere probieren die russischen Nachrichtendienste über staatlich gelenkte Medien, soziale Netzwerke und über staatliche Institutionen das westliche Bündnis zu schwächen. Über diese Kanäle werden in Deutschland und den anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union oder der NATO gesellschaftliches Misstrauen und negative Stimmungen geschürt. Besonders die sozialen Netzwerke machen es fremden Nachrichtendiensten leicht, potenzielle Zielpersonen ausfindig zu machen, sie anzusprechen und nachrichtendienstlich zu nutzen. Diese Strategie der Kontaktaufnahme, oft auch mittels gefälschter Identität (Social-Engineering)276, nimmt zu und wird auch in Zukunft verstärkt von fremden Nachrichtendiensten genutzt werden. Als Wirtschaftsstandort mittlerer Größe mit innovativen Wachstumsfeldern ist Brandenburg ein attraktives Ziel fremder Nachrichtendienste. Ein zusätzlicher Anziehungspunkt für ausländische Dienste ist die Bundeshauptstadt Berlin im Zentrum des Bundeslandes. Darüber hinaus verfügt die Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg über die bundesweit größte Forschungsdichte mit einem entsprechenden Innovationspotenzial, an dem auch die in der Region ansässigen Unternehmen partizipieren. Vor diesem Hintergrund werden in Brandenburg gemäß dem gesetzlichen Auftrag in SS 3 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 des Brandenburgischen Verfassungsschutzgesetzes Informationen gesammelt und ausgewertet, um geheimdienstliche Tätigkeiten zu verhindern beziehungsweise aufzuklären. Grundsätzlich sind die Arbeitsweisen fremder Nachrichtendienste im Wesentlichen gleich - wenn auch die Gewichtung einzelner Punkte, wie der Einsatz von "Technik", die Finanzausstattung, die Intensität oder die Quantität, durchaus variieren. Eine der häufigsten Methoden ist die Informationsgewinnung im Rahmen staatlicher oder wissenschaftlicher Veranstaltungen, wie zum Beispiel bei Delegationsbesuchen, Tagungen, Messen, Kongressen oder Symposien. Wie in der klassischen Spionage setzen fremde Nachrichtendienste hierbei auf "Social-Engineering", um an sensible Informationen einzelner Unternehmen oder staatlicher Stellen zu gelangen. Bei den von den Nachrichtendiensten ausgewählten Zielpersonen handelt es sich oftmals um arglose und zugleich hilfsbereite Mitarbeiter beziehungsweise Behördenvertreter. Ebenso nimmt die fremde Wirtschaftsspionage Wissenschaftler und hochkarätige Manager ins Visier. Zur Bekämpfung derartiger Vorgehensweisen bietet der brandenburgische Verfassungsschutz eine Fülle präventiver Maßnahmen an. Im Mittelpunkt steht dabei die Sensibilisierung brandenburgischer Unternehmen für die Probleme und Folgen der Wirtschaftsspionage. Hierfür steht der Verfassungsschutz des Landes Brandenburg mit individuellen Vortragsveranstaltungen, Podiumsdiskussionen sowie vertraulichen Gesprächen der Wirtschaft aktiv zur Seite. Seine Angebote beziehen sich dabei nicht nur auf die Bekämpfung von Wirtschaftsspionage, sondern gleichermaßen auf Cyberund Proliferationsabwehr, Sabotageschutz und den Schutz der "Kritischen Infrastruktur". 276 "Social Engineering" ist eine Strategie der sozialen Manipulation, um mittels eines persönlichen Vertrauensverhältnisses geheime Informationen von einer Zielperson zu bekommen. Oft wird unter gefälschter Identität Kontakt aufgenommen. 154 Vor etwa 25 Jahren begann eine elektronische Revolution. Von Beginn an war diese Entwicklung von einem starken nachrichtendienstlichen Interesse begleitet. Zunehmend wurden Dienstleistungen, wie die normale Briefpost, das Telefax oder auch das Festnetztelefon, fast vollständig von E-Mail, WhatsApp, Skype und anderen IPbasierten Dienstleistungen abgelöst. Dies eröffnete auch den Geheimdiensten völlig neue Mittel und Wege. Grundsätzlich brachte diese Entwicklung sowohl für Unternehmen als auch für jeden einzelnen Bürger wirtschaftliche Vorteile und größere Freiheiten. Electronic-Banking, Online-Shopping und E-Government machen für Verwaltung, Unternehmen und Bürger das Leben leichter. Mit dem rasanten technischen Fortschritt gehen jedoch ernstzunehmende Risiken einher. Die Gefahr der Ausspähung vertraulicher und geheim zu haltender Informationen, die, wenn sie in falsche Hände geraten, zu erheblichen Schäden bis hin zur totalen Abhängigkeit führen können, ist nicht zu unterschätzen. Die Corona-Pandemie hat im Jahr 2020 auch zu tiefgreifenden Veränderungen in Behörden und Unternehmen geführt. Der Informationsund Erfahrungsaustausch findet seit Beginn der Pandemie fast ausschließlich digital in Form von Videound Telefonschaltkonferenzen statt. Wo es möglich ist, arbeiten Angestellte von zuhause. Durch diese Veränderungen haben sich auch die Angriffsflächen für Cyberattacken und damit die Bedrohungslage durch Cyberspionage und Cybersabotage vergrößert. Um die damit verbundenen Gefahren möglichst gering zu halten, sollten Mitarbeiter über die entsprechenden Risiken umfassend informiert und sensibilisiert werden. Leider "helfen" viele Zielpersonen oder Unternehmen unfreiwillig bei der Ausspähung vertraulicher und geheim zu haltender Informationen. Es gilt höchste Vorsicht, wenn Kontaktanfragen oder verlockende Jobangebote ungefragt an eine oder mehrere Personen herangetragen werden. Ein sehr freizügiger Umgang mit persönlichen Daten in sozialen Netzwerken und oftmals veraltete Schutzmechanismen in den Unternehmen machen es den Tätern zudem sehr leicht, an ihr Ziel zu gelangen. 80 % der Täter sind bei dem ausgespähten Unternehmen oder der ausgespähten Behörde selbst tätig (sogenannte Innentäter). Oft ist es den Betroffenen nicht klar, dass sie Informationen weitergeben. Zum Teil werden Innentäter aber für ihr Handeln bezahlt oder erpresst. In diesen Fällen hilft vor allem die Sensibilisierung im Vorfeld, welche beim brandenburgischen Verfassungsschutz, wie oben geschildert, einen wichtigen Stellenwert hat. Die Teilbereiche Spionageabwehr, Wirtschaftsspionage, Sabotageschutz, Proliferation, Cyberabwehr und Wirtschaftsschutz haben heutzutage durch die informationstechnische Entwicklung viele Gemeinsamkeiten aufzuweisen. Bei der Analyse der nachrichtendienstlich gesteuerten Cyberangriffe zeigt sich in der Regel eine hohe informationstechnische Qualität. So werden zum Beispiel unbekannte Sicherheitslücken in Softwareprodukten ausgenutzt. Andererseits weisen "Spear-Phishing"-Angriffe einen im Vorlauf auf einzelne Personen ausgerichteten intensiven Rechercheeinsatz auf, in dessen Ergebnis dem Opfer individuell zugeschnittene unauffällige E-Mails mit versteckter Schadsoftware zugespielt werden. 155 Darüber hinaus sind breit angelegte Cyberattacken ein weit verbreitetes und zuweilen auch erfolgversprechendes Mittel der Spionage fremder Nachrichtendienste. Aus diesem Grund werden sie in allen Bereichen eingesetzt. Insbesondere die "Hidden Champions"277 sind aus Sicht der Spionageabwehr besonders gefährdet. Der jährliche Schaden für die deutsche Volkswirtschaft beläuft sich auf eine Höhe von etwa 50 bis 70 Milliarden Euro. Laut Bundeskriminalamt und Bundesamt für Verfassungsschutz kann sogar mit einem dreistelligen Milliardenbetrag gerechnet werden. Die hohe Dunkelziffer im Cyber-Bereich lässt sich dadurch erklären, dass Delikte aus Angst vor Nachahmern, Scham oder der Sorge vor Rufschädigung nicht angezeigt werden oder schlichtweg nicht bemerkt werden. Durch Sicherheitspartnerschaften, wie zum Beispiel mit den Industrieund Handelskammern, durch eine Zusammenarbeit mit Universitäten und durch die enge Kooperation mit anderen Sicherheitsbehörden wird seitens des brandenburgischen Verfassungsschutzes gewährleistet, eine möglichst breite Front gegen Angreifer zu bilden und diese kontinuierlich weiterzuentwickeln. Die dargestellten Bedrohungen sind auch im Land Brandenburg akut und dessen sollte sich die Gesellschaft bewusst sein. Das Vorgehen fremder Nachrichtendienste wird auch in Zukunft vom Verfassungsschutz Brandenburg sehr ernst genommen. Hierbei werden alle notwendigen Schritte unternommen, um dem gesetzlichen Auftrag gerecht zu werden und die Gesellschaft zu schützen. 277 "Hidden Champions" sind Unternehmen, die in ihrer Branche zwar zu den Weltmarktführern gehören, aber in der Öffentlichkeit oftmals kaum bekannt sind, da ihr Jahresumsatzes unter 3 Milliarden liegt. 156 8.2 Materieller Geheimschutz "Verschlusssachen" sind im öffentlichen Interesse geschützte Informationen, deren Preisgabe die Sicherheit der Menschen und die unseres freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats gefährden würde. Schriftstücke, Bildmaterialien, das gesprochene Wort und weitere Informationsträger können Verschlusssachen sein. Die Einstufung in die gesetzlich vorgesehenen und bundesweit einheitlich definierten Geheimhaltungsgrade - "VS-Nur für den Dienstgebrauch", "VS-Vertraulich", "Geheim" und "Streng Geheim" - richtet sich nach dem Inhalt. Am häufigsten sind die beiden erstgenannten Geheimhaltungsgrade. Der damit verbundene Geheimschutz erfolgt in materieller sowie personeller Hinsicht. Gegenüber anderen Behörden und Einrichtungen wirkt der Verfassungsschutz hier insgesamt als Sicherheitsdienstleister. Der materielle Geheimschutz umfasst technische und organisatorische Maßnahmen gegen die unbefugte Kenntnisnahme von Verschlusssachen. Bei der entsprechenden Umsetzung unterstützt der Verfassungsschutz andere Behörden und geheimschutzbetreute Unternehmen. Grundlage dafür ist die Verschlusssachenanweisung des Landes Brandenburg. Sie enthält Regelungen zur Aufbewahrung und Weitergabe von Verschlusssachen. Die Bearbeitung von Verschlusssachen erfolgt heutzutage fast ausschließlich im Bereich computergestützter Informationstechniken. Auch hierbei ergreift der Verfassungsschutz entsprechende Maßnahmen zum Schutz der Vertraulichkeit, Verfügbarkeit und Integrität (Unverfälschtheit) der Daten. Vor einer Übermittlung werden sie verschlüsselt. Auch die Speicherung erfolgt aufgrund der sehr hohen Schutzbedürftigkeit nach strengen Maßgaben. Sie sind höher als die des IT-Grundschutzes des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik. Grundlage dafür ist ein IT-Sicherheitskonzept. Es wird regelmäßig auf Wirksamkeit geprüft und neu angepasst. 157 8.3 Personeller Geheimschutz Zuverlässigkeitsüberprüfungen Der Verfassungsschutz ist an Zuverlässigkeitsüberprüfungen beteiligt. Die wichtigsten Rechtsgrundlagen dafür sind das Luftsicherheits-, das Atomund das Sprengstoffgesetz. Zusätzlich fällt der Abfrage des nachrichtendienstlichen Informationssystems zur Prüfung der Zuverlässigkeit nach der Gewerbeordnung ebenfalls eine wichtige Rolle zu. Bewachungsaufgaben privater Dienstleister haben generell an Bedeutung und Komplexität gewonnen, insbesondere im Hinblick auf den Schutz spezieller Infrastrukturen oder von Großveranstaltungen. Die zuständige Ordnungsbehörde hat zur Prüfung der Zuverlässigkeit des Beschäftigten die unbeschränkte Auskunft aus dem Bundeszentralregister und eine Stellungnahme der für den Wohnort zuständigen Polizeibehörde einzuholen. Je nach Einsatzart ist darüber hinaus auch der Verfassungsschutz über Personenerkenntnisse anzufragen. 2020 gingen insgesamt 9.436 (2019: 7.773) Anfragen im Rahmen von Zuverlässigkeitsüberprüfungen ein: davon 5.675 (2019: 6.069) gemäß Luftsicherheitsgesetz, 59 (2019: 82) gemäß Atomgesetz, 480 (2019: 302) gemäß Sprengstoffgesetz und 3.222 (2019: 1.320) auf der Grundlage der Gewerbeordnung für das Bewachungsgewerbe. Sicherheitsüberprüfungen Rechtliche Grundlage für Sicherheitsüberprüfungen ist das "Brandenburgische Sicherheitsüberprüfungsgesetz" (BbgSÜG). Es gibt die Voraussetzungen und das Verfahren vor. So soll festgestellt werden, ob ein vorgesehener Geheimnisträger nach seinem bisherigen Verhalten prognostisch geeignet ist, mit übertragenen Verschlusssachen vertraulich umzugehen (SS 1 BbgSÜG). Die Art der Sicherheitsüberprüfung (Ü1 / Ü2 / Ü3) richtet sich nach der Einstufung und der Anzahl der Verschlusssachen, zu denen eine Person künftig Zugang haben darf oder sich diesen Zugang verschaffen kann. Anhaltspunkte, die gemäß SS 7 Absatz 1 BbgSÜG dem erfolgreichen Abschluss einer Sicherheitsüber-prüfung entgegenstehen, sind: Zweifel an der Zuverlässigkeit bei der Wahrnehmung einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit; eine besondere Gefährdung durch Anbahnungsoder Werbungsversuche fremder Nachrichtendienste; oder Zweifel am Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Solche Anhaltspunkte können selbstverschuldet sein (Straftaten, finanziell bedenklicher Lebensstil) oder beim Lebenspartner bestehen, sofern dieser in eine Sicherheitsüberprüfung einbezogen ist. Das könnte beispielsweise ein Ehepartner mit einer erheblichen Anzahl an Straftaten sein. In solchen Fällen kann es unter Umständen wegen vorliegender Sicherheitsrisiken zur Ablehnung kommen. Im Jahr 2020 wirkte der Verfassungsschutz Brandenburg beim Abschluss von insgesamt 308 (2019: 267) Sicherheitsüberprüfungen mit. In Brandenburg betrifft das Mitarbeiter von etwa 20 Behörden. Polizei, Staatskanzlei und Ministerien, Landtag, Gerichte sowie Staatsanwaltschaften. 158 9. Verfassungsschutz durch Aufklärung 159 9. Verfassungsschutz durch Aufklärung Unsere Demokratie ist verwundbar. Deswegen trägt der Verfassungsschutz Erkenntnisse über Extremisten zusammen. Diese Erkenntnisse verstauben nicht in Tresoren. Vielmehr dienen sie den Sicherheitsbehörden, den Verwaltungen, aber auch den Bürgern und damit der gesamten Gesellschaft. So trägt der Verfassungsschutz dem Anspruch Rechnung, als effektives Frühwarnsystem der wehrhaften Demokratie zu dienen. Vorträge, Teilnahmen an Podiumsdiskussionen, Info-Stände auf Großveranstaltungen und eigene Fachtagungen, das sind wesentliche Aufklärungsinstrumente des brandenburgischen Verfassungsschutzes, um über extremistische Phänomenbereiche und Wirtschaftsschutz zu informieren. Mit Blick auf die CoronaSchutzmaßnahmen konnten die entsprechenden Aktivitäten jedoch nicht das Niveau der Vorjahre halten. Im Jahr 2020 nahmen an den teilweise per Video-Stream gehaltenen 31 Vorträgen (2019: 80) knapp 810 (2019: 3.100) Bürgerinnen und Bürger teil. In Kontakt kamen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes dabei mit Schülern, Lehrern, Soldaten, Polizisten, Firmen, Gemeindevertretern, Justizbediensteten, Schöffen, kommunalen Bediensteten und anderen. Damit summiert sich die Zahl solcher Veranstaltungen seit dem Jahr 2008 auf 1.240. Rund 45.900 Zuhörer wurden in diesem Zeitraum gezählt. Auffällig ist: Schulen rufen wieder stärker die Expertise des Verfassungsschutzes ab. Anlässe waren Vorkommnisse wie die Nutzung und Weiterverbreitung rechtsextremistischer Inhalte in Gruppen-Chats, beispielsweise per WhatsApp. Aufgrund der Corona-Lage blieb das Verfassungsschutz-Infomobil in der Garage. Darunter litt im Jahr 2020 auch die erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Aktionsbündnis "Tolerantes Brandenburg", demos - Brandenburgisches Institut für Gemeinwesenberatung, dem Städteund Gemeindebund, dem Landkreistag, der Hochschule der Polizei und der Brandenburgischen Kommunalakademie. Die Kooperationspartner haben seit 2008 insgesamt 47 ganztägige Veranstaltungen für etwas mehr als 2.200 kommunale Entscheidungsträger angeboten. Diese Reihe soll 2021 jedoch fortgesetzt werden. Die Fachtagungen, die der Verfassungsschutz Brandenburg selbst oder in Kooperation mit anderen Verfassungsschutzbehörden jährlich durchführt, litten ebenso unter der Corona-Lage. Die für das Jahr 2020 im Verbund mit den Verfassungsschutzbehörden Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen geplante Veranstaltung musste leider abgesagt werden. Die Kooperation wird aber fortgesetzt. 160