Verfassungsschutzbericht 2013 Verfassungsschutzbericht 2013 4 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Erreichbarkeit Senatsverwaltung für Inneres und Sport Abteilung Verfassungsschutz Klosterstraße 47, 10179 Berlin Telefon 030 90129-440 Fax 030 90129-844 info@verfassungsschutz-berlin.de www.verfassungsschutz-berlin.de Pressestelle 030 90129-565 Vertrauliches Telefon 030 90129-400 Deutsch/Englisch 030 90129-401 Türkisch 030 90129-402 Arabisch Herausgeber Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Abteilung Verfassungsschutz Redaktionsschluss April 2014 Abdruck gegen Quellenangabe gestattet, Belegexemplar erbeten. Hinweis Dieser Verfassungsschutzbericht erwähnt nicht alle Beobachtungsobjekte des Berliner Verfassungsschutzes. Vorwort 5 Vorwort Berlin ist als Hauptstadt das Zentrum der deutschen Politik. Zugleich ist Berlin auch der Ort, wo Bürgerinnen und Bürger am häufigsten von ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch machen. Mehr als 4 800 Demonstrationen gab es 2013 in Berlin - fast alle verliefen zum Glück friedlich. Doch auch Extremisten nutzen die vielen symbolträchtigen Orte Berlins immer wieder für ihre Belange und stellen somit die Sicherheitsbehörden vor eine große Herausforderung. Der Verfassungsschutz leistet im Zusammenspiel mit der Polizei einen wichtigen Beitrag dafür, als eine Art Seismograph, die Stimmungen im Vorfeld von Demonstrationen und Veranstaltungen aufzunehmen und zu bewerten. Sei es der 1. Mai oder Aktivitäten und Demonstrationen im Zusammenhang mit der Flüchtlingsproblematik - immer wieder versuchen Linksund Rechtsextremisten, Themen für sich zu nutzen und andere Gruppen für sich zu instrumentalisieren. In der linksextremistischen Szene Berlins - und hier sprechen wir nach wie vor überwiegend von den Autonomen - hat die Gewalt wieder zugenommen. Auf Polizisten geworfene Brandsätze in Kreuzberg, die schwere Gesichtsverletzung eines Polizisten in Hellersdorf und der Schädelbruch eines Rechtsextremisten in Mitte zeugen davon, dass die Hemmschwelle zur Gewaltanwendung gegen den politischen Gegner und vor allem Polizeibeamte weiter sinkt. Anschläge auf den Bahnverkehr und den Mobilfunk machen deutlich, dass auch mit Sabotageakten an zentralen Infrastrukturen der Stadt gerechnet werden muss. Öfter als in den Vorjahren wurde bewusst darauf verzichtet, Demonstrationen bei der Versammlungsbehörde anzumelden, um sich mehr Möglichkeiten für ein schwer berechenbares militantes Handeln zu eröffnen. Auch wenn die autonome Szene tendenziell nicht wächst, so bleibt das Mobilisierungspotenzial ungebrochen. Zu bestimmten Anlässen und Themen wie "1. Mai", "Gentrifizierung" und "Flüchtlingsproblematik" schaffen es Linksextremisten, über ihr eigenes Perso- 6 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 nenpotenzial hinaus Menschen auf die Straße zu bringen. Die polizeiliche Doppelstrategie aus Kommunikation und Konsequenz hat wesentlich dazu beigetragen, dass es bei der traditionellen 1. Mai-Demonstration inzwischen überwiegend friedlich bleibt. Die Autonomen verlegen sich daher immer öfter auf militante Aktionen abseits solcher Großveranstaltungen. Auch in der rechtsextremistischen Szene Berlins war das alles überragende Thema im vergangenen Jahr die Debatte um gestiegene Flüchtlingszahlen und die Suche nach Standorten zur Unterbringung von Flüchtlingen und Asylsuchenden. Hierin fanden sie einen Anknüpfungspunkt, um ihre fremdenfeindlichen und rassistischen Positionen zu transportieren. Ängste und Sorgen der Bevölkerung wurden aufgegriffen und fremdenfeindliche Stimmungsmache betrieben: "Keine neuen Heime", "Asylbetrüger abschieben" oder schlicht "Ausländer raus" waren Parolen, die man schon seit Jahren von Rechtsextremisten kennt. Sie hatten auch die Hoffnung, ein Thema gefunden zu haben, mit dem sie Personen über das rechtsextremistische Spektrum hinaus ansprechen wollten. Eine anonym und sich betont bürgerlich gebende "Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf" steuerte die Kampagne. Unter diesem Dach konnten sich Berliner Rechtsextremisten aller Spektren versammeln und zudem ihre Gesinnung und Herkunft unter dem Label einer "Bürgerinitiative" tarnen und verharmlosen. Ob das der Szene jedoch Zulauf bescheren wird, bleibt abzuwarten. Wichtig ist es, die Entwicklung weiterhin im Auge zu behalten. Im Dezember wurde nach langer Vorarbeit der Verbotsantrag gegen die NPD beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. Auf 250 Seiten ist die Wesensverwandtschaft der Partei mit dem historischen Nationalsozialismus belegt. 250 Seiten voller rassistischer und antisemitischer Äußerungen, in denen die wahre Haltung der NPD gegenüber unserer Grundordnung mehr als deutlich wird. Ich bin optimistisch, dass das Verfahren für unser Land erfolgreich verlaufen wird und wir ein deutliches Zeichen für die "wehrhafte Demokratie" setzen. Im Bereich des Ausländerextremismus und des Islamismus war der Syrienkonflikt das übergeordnete Thema. Bundesweit sind in den vergangenen Monaten mehr als 320 Menschen - vor allem junge Männer - nach Syrien ausgereist. Allein aus Berlin waren es mehr als 50. Sie haben sich häufig "turbo-radikalisiert", von ihren Familien abgeschottet und sich auf den Weg in das Bürgerkriegsland gemacht. Auch wenn nicht alle mit dem Ziel "Jihad" dorthin reisen, so bleibt die Entwicklung hochgefährlich. Besonders die Rückkehrer müssen die Sicherheitsbehörden im Blick haben. Vorwort 7 Beunruhigend waren die Meldungen über das Ausmaß der NSA-Tätigkeiten in Deutschland - damit hatte wohl niemand gerechnet. Es bleibt nun abzuwarten, ob der Bundestagsuntersuchungsausschuss hier weiterführende Aufklärung bringen wird. Deutlich wurde in den vergangenen Monaten in jedem Fall: Spionage ist kein Delikt-Relikt aus dem Kalten Krieg. Hier muss der Staat weiter abwehrbereit sein. Berlin arbeitet bei dieser Aufgabe sehr eng mit dem Bund zusammen. Der Berliner Verfassungsschutz wird weiterhin über die Gefahren für die freiheitliche Grundordnung aufklären. Dieser Jahresbericht gibt Ihnen einen guten Überblick über die wichtigsten Aufgaben und Herausforderungen. Denn Information ist der erste und wichtigste Schritt, um die Bedrohungen für unsere Demokratie zu erkennen und ihnen entgegen zu wirken. Frank Henkel Senator für Inneres und Sport 8 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Inhaltsverzeichnis I Verfassungsschutz Berlin 13 Struktur 14 Gesetzliche Grundlagen 15 Aufgaben und Befugnisse 15 Entwicklungen in der Rechtsprechung und Gesetzesnovellierungen 15 Kontrolle 17 Arbeitsweise 18 Für Bürger und Politik: Die Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes 24 Inhaltsverzeichnis 9 II Aktuelle Entwicklungen in den Beobachtungsfeldern 27 1 Islamismus 28 1.1 Ideologie des Islamismus 28 1.2 Personenpotenzial Islamismus 31 1.3 Themenschwerpunkt Syrien 33 1.3.1 Islamistische Akteure in Syrien 34 1.3.2 Gefährdungslage durch Syrien-Konflikt 37 1.3.3 "Sham-Center" - "Social Jihad" und jihadistische Syrien-Propaganda 40 1.4 Entwicklung im transnationalen islamistischen Terrorismus 43 1.4.1 "Homegrown-Terrorismus" - Anschläge in Boston und London 43 1.4.2 Russland im Fokus wegen der Olympischen Winterspiele 2014 45 1.4.3 Kern-"al-Qaida" und ihre Regionalorganisationen 46 1.4.4 Jihadistische Internetpropaganda trägt zur Gefährdung bei 50 1.4.5 Verurteilungen und Strafverfahren 56 1.5 Salafistische Bestrebungen 59 1.5.1 Gefährdung durch Anschlagsplanungen 60 1.5.2 Der Syrien-Konflikt als beherrschendes Thema von Salafisten 61 1.5.3 Salafistische Propaganda in Berlin 63 1.5.4 "Tabligh-i Jama'at"/"Jama'at-i Tabligh" (TJ) 64 1.6 Regional gewaltausübende und gewaltbefürwortende islamistische Gruppen 65 1.6.1 "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS) 66 1.6.2 "Hizb Allah" ("Partei Gottes") 67 1.7 Legalistischer Islamismus 69 1.7.1 "Muslimbruderschaft" (MB)/"Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) 69 1.7.2 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) 72 2 Rechtsextremismus 74 2.1 Ideologie des Rechtsextremismus 74 2.2 Personenpotenzial und Straftaten 76 2.3 Aktuelle Entwicklungen und Strukturen 79 2.4 Der Berliner Rechtsextremismus im Zeichen der Flüchtlingsdebatte 80 2.4.1 Die "Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf" als Motor fremdenfeindlicher Stimmungsmache 81 10 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 2.5 Aktionsorientierter Rechtsextremismus 87 2.5.1 Netzwerk "Freie Kräfte" zwischen Konspiration und Parteiarbeit 87 2.5.2 Selbstbezogene Musikszene 94 2.6 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus 96 2.6.1 Berliner NPD: Mit Aktionismus gegen strukturelle und personelle Mängel 97 2.6.2 NPD verstrickt sich in interne Machtkämpfe 101 2.6.3 "Die Rechte": Alte Neonazis in neuem Parteigewand 105 2.6.4 "Pro Deutschland" auf Provokationstour 108 2.7 Diskursorientierter Rechtsextremismus 111 2.7.1 "Reichsbürgerbewegung" sucht die Öffentlichkeit 111 3 Linksextremismus 113 3.1 Ideologie und Historie 113 3.2 Personenpotenzial und Straftaten 116 3.3 Aktuelle Entwicklungen 119 3.3.1 "Anarchos" auf der Suche nach Militanz 119 3.3.2 "Antifas" (re)politisieren den 1. Mai 127 3.3.3 Anschläge von Autonomen führen zu staatlichen Reaktionen 134 3.3.4 "Postautonome" radikalisieren von innen 143 3.4 Zusammenfassung und Fazit 153 4 Extremistische Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 157 4.1 Ideologien extremistischer Bestrebungen ausländischer Organisationen 157 4.2 Personenpotenzial und Straftaten 158 4.3 Arbeiterpartei Kurdistans - PKK ("Partiya Karkeren Kurdistan") 159 4.3.1 Überblick 159 4.3.2 Themenschwerpunkt Syrien 161 4.3.3 Attentat von Paris 164 4.3.4 Demonstration gegen PKK-Verbot in Berlin 166 Inhaltsverzeichnis 11 4.4 Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - DHKP-C ("Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi") 167 4.4.1 Selbstmordanschlag auf US-Botschaft in Ankara 167 4.4.2 Durchsuchungsmaßnahmen in Berlin 168 4.4.3 Urteil des Kammergerichts Berlin 169 5 "Scientology Organisation" (SO) 170 6 Spionageabwehr 173 7 Geheimund Sabotageschutz 176 7.1 Geheimschutz in der Wirtschaft 177 7.2 Mitwirkung bei Einbürgerungsverfahren und sonstigen gesetzlich vorgeschriebenen Überprüfungen 178 8 Wirtschaftsschutz 181 III Anhang 187 Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin 188 Extremistische Organisationen und Gruppierungen 200 Personenund Sachregister 203 Bildernachweise 210 Publikationen des Verfassungsschutzes 212 12 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 I Verfassungsschutz Berlin 14 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Struktur Verfassungsschutzbehörde für das Land Berlin ist die Senatsverwaltung für Inneres und Sport. Die Aufgaben werden durch die Abteilung II wahrgenommen: Abteilung II Verfassungsschutz Abteilungsleiter ÖAG Öffentlichkeitsarbeit/ Gremien Referat II A Referat II B Referat II C Referat II D Referat II E Grundsatz Rechtsextremismus Islamistischer Linksextremismus Beschaffung Recht Mitwirkung, Terrorismus/ Spionageabwehr Verwaltung Wirtschaftsschutz AusländerInformationstechnik extremismus Während das Grundsatzreferat II A Querschnittsaufgaben wie Verwaltung, Recht und Informationstechnik abdeckt, sind die Auswertungsreferate II B, II C und II D für die Analyse und Bewertung von Informationen zuständig. Das Referat II E beschafft Informationen mit nachrichtendienstlichen Mitteln. Für die Aufgaben des Verfassungsschutzes standen 2013 Haushaltsmittel in Höhe von 10,41 Mio. Euro und 196,85 Stellen zur Verfügung. Gesetzliche Grundlagen 15 Gesetzliche Grundlagen Aufgaben und Befugnisse Die Arbeit des Verfassungsschutzes ist hinsichtlich der Aufgabenstellungen, der Befugnisse und der Kontrollverfahren im Grundgesetz und in Einzelgesetzen festgeschrieben. 1 Von Bedeutung sind hier: * das Grundgesetz (GG), Artikel 73 und 87, * das Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin (VSG Bln),2 * das Gesetz zur Beschränkung des Postund Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz) sowie das Gesetz zur Ausführung des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz, * das Bundesverfassungsschutzgesetz, * das Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz (BSÜG). Entwicklungen in der Rechtsprechung und Gesetzesnovellierungen Novellierung des G 10 Gesetzes Das Artikel 10-Gesetz (G 10) wurde zum 1. August 2009 novelliert. Der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung wurde mit SS 3a G 10 sowie mit SS 3b G 10 der Schutz zeugnisverweigerungsberechtigter Personen aufgenommen. Entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts regelt SS 3a G 10 den Schutz des Kernbereichs privater Lebensführung bei Beschränkungen nach SS 1 Abs. 1 Nr. 1 G 10.3 1 Detaillierte Darstellungen sowie Gesetzestexte sind auf der Internetseite des Berliner Verfassungsschutzes unter www.verfassungsschutz-berlin.de/Grundlagen eingestellt. 2 Der vollständige Gesetzestext ist im Anhang abgedruckt und kann auf der Internetseite des Berliner Verfassungsschutzes unter www.verfassungsschutz-berlin.de abgerufen werden. 3 Vgl. zur "akustischen Wohnraumüberwachung" BVerfG 2 BvR 543/06 vom 11.5.2007 und zur so genannten "Online-Durchsuchung" BVerfG 1 BvR 370/07 vom 27.2.2008. 16 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Eine Beschränkungsmaßnahme (Telekommunikationsoder Postüberwachung) ist nach der Neufassung unzulässig, wenn die Annahme besteht, dass durch sie allein Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst werden. Bestehen insoweit Zweifel, darf nicht "live" mitgehört und nur eine automatische Aufzeichnung fortgesetzt werden. Diese Aufzeichnungen sind unverzüglich einem Mitglied der G 10-Kommission zur Entscheidung über die Verwertbarkeit oder Löschung der Daten vorzulegen. Weiterhin sieht SS 3 a G 10 ein Verwertungsverbot und Löschungsgebot vor. Ein solches Verwertungsverbot und Löschungsgebot regelt SS 3b G 10 für nach SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 4 Strafprozessordnung (StPO) zeugnisverweigerungsberechtigte Personen (SS 53a StPO gilt entsprechend). Beschränkungen sind bei voraussichtlichen Erkenntnissen, die diesen Zeugnisverweigerungsrechten unterliegen, im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu prüfen und gegebenenfalls zu unterlassen oder einzuschränken. Keine Anwendung findet SS 3b G 10 auf Personen, die selbst nach SS 3 Abs. 1 G 10 verdächtig sind. Gesetzliche Grundlagen 17 Kontrolle Die Verfassungsschutzbehörde unterliegt bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben einer Kontrolle auf mehreren Ebenen: Öffentliche Kontrolle Revision durch Bürger und Kontrollinstanz Medien der Leitung der Senatsverwaltung für Inneres und Sport Datenschutz Allgemeine Beauftragter für parlamentarische Datenschutz und Kontrolle durch das Informationsfreiheit Abgeordnetenhaus Debatten, Aktuelle Stunden, Parlamentarische Anfragen, Petitionen Abteilung II Verfassungsschutz Gerichtliche Besondere parlamenKontrolle tarische Kontrolle durch VerwaltungsAusschuss für Vergerichte fassungsschutz / ggf. Untersuchungsausschuss G10-Kommission Vertrauensperson Kontrolle von Eingrifdes Ausschusses für fen in das Postund Verfassungsschutz Fernmeldegeheimnis nach Art. 10 GG 18 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Arbeitsweise Der Verfassungsschutz Berlin hat laut Verfassungsschutzgesetz Berlin (VSG Bln) die Aufgabe, den Senat und das Abgeordnetenhaus, andere zuständige staatliche Stellen und die Öffentlichkeit über Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung zu unterrichten.4 Die Behörde beschafft Informationen, analysiert sie und unterrichtet Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit über ihre Erkenntnisse. Definition Extremismus Der Verfassungsschutz beobachtet extremistische Bestrebungen. Der Begriff Extremismus bezeichnet kein einheitliches Phänomen, sondern ist eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Bestrebungen, "die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen".5 Die verfassungsmäßige Grenze des politischen Handelns ist in der Bundesrepublik Deutschland eindeutig festgelegt. Anlässlich des Verbots der "Sozialistischen Reichspartei" (SRP) bestimmte das Bundesverfassungsgericht 1952 den Kern des demokratischen Verfassungsstaates, die freiheitliche demokratische Grundordnung. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind zu rechnen: * die Achtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, vor allem des Rechtes der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, * die Volkssouveränität, * die Gewaltenteilung, * die Verantwortlichkeit der Regierung, * die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, 4 Vgl. SSSS 1, 5 und 6 VSG Bln. 5 Uwe Backes / Eckhard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 4. Auflage, Bonn 1996, S. 45. Arbeitsweise 19 * die Unabhängigkeit der Gerichte, * das Mehrparteienprinzip, * die Chancengleichheit aller politischen Parteien, * das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.6 Die Verfassungsschutzbehörden verwenden den Extremismusbegriff seit Anfang der 1970er Jahre in Abgrenzung zu dem Begriff des Radikalismus. Während extremistische Positionen die Grenze der verfassungsmäßigen Ordnung überschreiten, bezeichnet der Radikalismus Auffassungen, die zwar grundlegende systemoppositionelle Positionen vertreten, die sich aber mit ihrer fundamentalen Kritik innerhalb der Grenzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewegen. Informationsbeschaffung Bei der Informationsbeschaffung ist zwischen offenen und verdeckt erhobenen Informationen zu unterscheiden. Der Verfassungsschutz erhält einen hohen Anteil seiner Informationen aus allgemein zugänglichen Veröffentlichungen und Veranstaltungen. Nachrichtendienstliche Mittel dürfen nach dem VSG Bln eingesetzt werden, wenn verfassungsfeindliche Bestrebungen weitgehend konspirativ agieren und sich wegen der Abschottung auf andere Weise keine Informationen gewinnen lassen. Nach den Vorgaben des VSG Bln darf der Einsatz dieser Mittel nur erfolgen, wenn sie im Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachverhalts stehen. Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel kommt deshalb erst dann in Betracht, wenn die anderen Mittel der Nachrichtenbeschaffung erschöpft sind, d.h. wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Zu den nachrichtendienstlichen Mitteln zählen der Einsatz von Vertrauenspersonen (so genannten V-Personen, die aus Beobachtungsobjekten berichten),7 die Observation sowie die Überwachung des Postund Fernmeldeverkehrs, deren besonders enge rechtliche Voraussetzungen im Gesetz 6 Vgl. BVerfG 2, 1 ff.; BVerfG 5, 85 ff.; SS 6 VSG Bln. 7 Die Informationsbeschaffung durch V-Personen ist von großer Bedeutung für die Gewinnung von Informationen über verfassungsfeindliche, insbesondere gewaltbereite, Organisationen. Der Einsatz von V-Personen steht in einem Spannungsfeld: Einerseits bedarf es des Schutzes der freiheitlichen Demokratie, andererseits der Beschaffung von Informationen durch Mitglieder extremistischer Organisationen. V-Personen sind Privatpersonen, die in der Regel der zu beobachtenden verfassungsfeindlichen Organisation angehören oder ihr nahe stehen. Sie berichten über deren Strukturen und Aktivitäten. Der Gesetzgeber hat dieses Mittel der Informationsbeschaffung den Verfassungsschutzbehörden zugewiesen (SS 8 Abs. 2 Nr. 1 VSG Bln). Aufgrund der besonderen Sensibilität der Maßnahme sind dem Einsatz von V-Personen aber enge rechtsstaatliche Grenzen gesetzt. Voraussetzung beim Einsatz von V-Personen ist die Vertraulichkeit (so genannter Quellenschutz). 20 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 zu Artikel 10 GG geregelt sind. Zur Bekämpfung gewalttätiger, insbesondere terroristischer Bestrebungen dürfen Anfragen an Luftverkehrsunternehmen, Telekommunikationsanbieter und Kreditinstitute gestellt werden. Gerade zur Aufklärung islamistischer terroristischer Netzwerke kann es erforderlich sein, Flüge festzustellen, Finanzierungsströme aufzuklären und Telefonverbindungsdaten zur Feststellung von Kontakten zu erlangen. Wegen der Eingriffstiefe dieser Befugnisse wurde die Umsetzung 2005 auf Bundesebene evaluiert. Danach wurden die Regelungen als erfolgreich und angemessen bewertet. Auf der Grundlage dieser Evaluation hat der Bundesgesetzgeber im so genannten Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz diese Instrumente nicht nur für weitere fünf Jahre bestätigt, sondern auch Voraussetzungen für ihren Einsatz je nach Eingriffstiefe differenziert. Zudem wurde der Anwendungsbereich ausgeweitet. Die Anfragen können vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) nunmehr auch eingesetzt werden, wenn schwerwiegende Gefahren abzuwehren sind und es um extremistische Bestrebungen geht, die auf Gewalt gerichtet sind. 2011 wurden die Vorschriften auf Bundesebene erneut evaluiert. In der Folge wurden die Befugnisse im Wesentlichen bestätigt, teilweise effektiver ausgestaltet. Informationsbearbeitung Die durch die Informationsbeschaffung gesammelten Rohdaten müssen gefiltert, systematisiert und analysiert werden. Dabei kommt der Informationstechnik für die Verarbeitung großer Datenmengen eine wichtige Rolle zu. Als bundesweite Verbunddatei existiert für die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder das "Nachrichtendienstliche Informationssystem" (NADIS). Hierüber ist es möglich abzufragen, ob Daten zu einer Person bei einer Verfassungsschutzbehörde erfasst sind.8 Soweit dies zur Aufklärung von sicherheitsgefährdenden oder geheimdienstlichen Tätigkeiten von rechtsextremistischen oder von gewaltorientierten Bestrebungen erforderlich ist, dürfen auch Textdateien oder erweiterte Erkenntnisse ausgetauscht werden. Ende 2013 waren für Berlin 32 510 Datensätze im NADIS gespeichert (2012: 31 385). Der überwiegende Anteil dieser Datensätze entfällt auf die Sicherheitsund Zuverlässigkeitsüberprüfungen, die mit ausdrücklicher Zustimmung der betroffenen 8 Die Speicherungsgrundlagen sowie die Speicherungsdauer sind in den SSSS 11 - 17 VSG Bln. geregelt. Arbeitsweise 21 Personen erfolgen. Die übrigen verteilen sich auf die Aufgabenbereiche Spionageabwehr, Islamismus, Ausländer-, Rechtsund Linksextremismus. Für die Auswertung der Daten spielt die präzise Definition von Analysebegriffen etwa zur Risikobewertung und die Entwicklung von Instrumenten wie die computergestützte geografische Analyse eine wichtige Rolle. Durch letztere können lokale Schwerpunkte herausgearbeitet werden (vgl. "Im Fokus"-Studien "Rechte Gewalt in Berlin" und "Linke Gewalt in Berlin" sowie zahlreiche Lageanalysen).9 Informationsweitergabe Die Informationsweitergabe an andere Behörden ermöglicht es diesen, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr dieser Gefahren zu ergreifen. Die Zusammenarbeit mit anderen Behörden geschieht auf Grundlage der Regelungen des VSG Bln über die Informationsweitergabe.10 Neben repressiven Maßnahmen dient auch die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Extremismus dem Schutz der Demokratie. Die Unterrichtung der Öffentlichkeit ist deshalb als Aufgabe im VSG Bln festgeschrieben.11 Zusammenarbeit mit anderen Behörden Bei der Weitergabe von Erkenntnissen über Personen wird danach unterschieden, ob es sich um Sicherheitsbehörden, andere öffentliche Stellen oder ausländische Institutionen handelt. * Bei der Zusammenarbeit im Verfassungsschutzverbund besteht eine Informationspflicht für alle anfallenden Erkenntnisse, die für die Aufgabenerfüllung der anderen Behörden erforderlich sind (SS 19 VSG Bln). * Die Zusammenarbeit mit Polizei und Staatsanwaltschaft wird durch besondere Übermittlungsbefugnisse flankiert. Wenn es zur Verhinderung und Verfolgung von Straftaten im Zusammenhang mit extremistischen Bestrebungen erforderlich ist, müssen Erkenntnisse weitergegeben werden (SS 21 VSG Bln), sofern dem keine Übermittlungsverbote (SS 28 VSG Bln) entgegen stehen. * An andere öffentliche Stellen dürfen Erkenntnisse über Personen insbesondere übermittelt werden, wenn sie die Informationen zum Schutz vor verfassungs- 9 Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Rechte Gewalt in Berlin. Berlin 2004, Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Rechte Gewalt in Berlin 2003 bis 2006. Berlin 2007, Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Linke Gewalt in Berlin. Berlin 2009. 10 Vgl. speziell SSSS 18 - 25 VSG Bln. 11 Vgl. SS 5 VSG Bln. 22 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 feindlichen Bestrebungen benötigen oder wenn es zur Aufgabenerfüllung der Verfassungsschutzbehörde erforderlich ist (SS 22 VSG Bln). * Besondere Beschränkungen gelten für die Weitergabe personenbezogener Informationen an Personen und Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs oder an ausländische Stellen (SSSS 23, 24 und 25 VSG Bln). Angesichts der anhaltenden Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus haben die Innenminister und -senatoren die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren ausgebaut. 2004 hat das "Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum" (GTAZ) in Berlin-Treptow seine Arbeit aufgenommen. Neben Experten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), des Bundeskriminalamtes (BKA), des Bundesnachrichtendienstes (BND), des Generalbundesanwalts (GBA) sowie ausländischer Partnerdienste sind die Länder mit Verbindungsbeamten der Polizei und der Verfassungsschutzbehörden dort vertreten. Das GTAZ ermöglicht, Informationen zum islamistischen Terrorismus umgehend gemeinsam zu analysieren und die operativen Maßnahmen abzustimmen. Gerade bei der Bewältigung besonderer Gefährdungslagen wie anlässlich der Bundestagswahl 2009 hat sich die Institution bewährt. Ende 2006 trat das Gesetz zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizei und Nachrichtendiensten in Kraft.12 Von besonderer Bedeutung ist die Anti-Terror-Datei (ATD). Sie dient dem Erkenntnisaustausch zu Personen, die dem internationalen Terrorismus mit Bezug zur Bundesrepublik Deutschland zugerechnet werden. Das "Gemeinsame Internet-Zentrum" (GIZ) wurde im Januar 2007 eingerichtet. In ihm arbeiten Mitarbeiter von BfV, BKA, BND, MAD und GBA zusammen, um ihr Expertenwissen in der Beobachtung islamistischer Aktivitäten im Internet zu bündeln. Die stetig wachsende Zahl islamistischer Webseiten belegt die zunehmende Bedeutung des Internets für militante Islamisten, die dieses Medium vor allem als Propagandaund Rekrutierungsinstrument intensiv nutzen. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die Analyse und Bewertung entsprechender Webseiten für die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus an Bedeutung. 12 Gesetz zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder vom 22.12.2006. Arbeitsweise 23 Nach der Aufdeckung der Gruppierung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) und ihrer Taten wurde analog zum Arbeitsgebiet islamistischer Terrorismus auch im Rechtsextremismus eine Intensivierung der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden auf den Weg gebracht. Im Dezember 2011 wurde bereits das "Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus" (GAR) eingerichtet, das im Wechsel beim BKA in Meckenheim und dem BfV in Köln tagt. Es dient der engeren Koordination und Kooperation zwischen den Nachrichtendiensten und den Polizeibehörden von Bund und Ländern und ging im Herbst 2012 in dem neuen "Gemeinsamen Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum" (GETZ) für alle Phänomenbereiche auf. Eine Verbunddatei Rechtsextremismus (RED) für Polizeibehörden und Nachrichtendienste sowie eine "Koordinierte Internetauswertung Rechtsextremismus" (KIAR) nahm ebenfalls 2012 ihren Betrieb auf. 24 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Für Bürger und Politik: Die Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes Die Information von Politik und Öffentlichkeit über Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung ist die Aufgabe des Berliner Verfassungsschutzes, die im Verfassungsschutzgesetz an erster Stelle genannt wird. Als das Landesamt für Verfassungsschutz im Jahr 2000 aufgelöst und die Abteilung II bei der Senatsverwaltung für Inneres und Sport gegründet wurde, war es politischer Konsens, dass der Öffentlichkeitsarbeit ein gewichtiger Stellenwert eingeräumt wird. Diesen Auftrag erfüllen wir seitdem mit großem Engagement. Wir informieren Senat, Parlament und die Öffentlichkeit über aktuelle Entwicklungen in den Beobachtungsfeldern - so weitgehend und intensiv wie möglich. Dem Verfassungsschutz sind selbstverständlich in der Art und im Umfang seiner offenen Informationen Grenzen gesetzt. Oftmals werden die politische Leitung und die parlamentarischen Kontrollgremien in vertraulicher oder nicht-öffentlicher Sitzung über gravierende Ereignisse und Entwicklungen informiert. Gleichwohl sind wir bestrebt, interessante und bemerkenswerte Aktivitäten und Veränderungen in den Extremismusspektren auch der Öffentlichkeit mitzuteilen. Sei es in wissenschaftlichen Analysen oder knappen "Aktuellen Meldungen" im Internet - dem Thema angemessen, informieren wir aktuell und präzise. Weil wir dazu beitragen, die gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit dem Extremismus zu führen, leistet der Verfassungsschutz einen aktiven Beitrag zur Prävention, indem er hinsichtlich extremistischer Hintergründe und Entwicklungen sensibilisiert. Wir informieren aber nicht nur in unterschiedlichen Publikationen und über das Internet. Wir halten auch Vorträge für Bildungseinrichtungen und interessierte Organisationen. Zudem veranstaltet der Berliner Verfassungsschutz Symposien zu den verschiedenen Themen. Für Bürger und Politik: Die Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes 25 Dies sind die Formate der Öffentlichkeitsarbeit im Einzelnen: Publikationen Der Berliner Verfassungsschutz hat mehrere Publikationsreihen entwickelt, um dem unterschiedlichen Informationsbedarf gerecht zu werden. Alle Publikationen können schriftlich bestellt werden und sind im Internet abrufbar. * Verfassungsschutzberichte: Den umfassendsten Überblick über die einzelnen Beobachtungsfelder geben die jährlichen Verfassungsschutzberichte. Sie informieren über das aktuelle Geschehen im extremistischen Spektrum, über die ideologischen Grundlagen der Extremismusfelder sowie über die wichtigsten in Berlin vertretenen extremistischen Gruppierungen. * Reihe "IM FOKUS": Die Reihe behandelt einzelne Themenkomplexe des Extremismus wie rechte oder linke Gewalttaten oder Phänomene des Islamismus. Auch eine Broschüre zu Scientology liegt vor. Stärker als im Verfassungsschutzbericht steht die Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Forschung im Vordergrund. * Reihe "INFO": Die "INFO"-Reihe bietet praxisnahe kompakte Informationen über Erscheinungsformen des Extremismus. Neu im Programm ist die "INFO"-Broschüre "Rechtsextremismus in Berlin". Sie befasst sich mit der Entwicklung und dem Strukturwandel des Rechtsextremismus der letzten zehn Jahre in der Stadt. * Lageund Wahlanalysen: Diese Reihe bietet kurze Analysen zu Detailthemen. * "Lupe": Die Broschüre "Verfassungsschutz - nehmen Sie uns unter die Lupe" gibt Basisinformationen über Aufgaben und Befugnisse, Arbeitsfelder und Vorgehensweisen des Verfassungsschutzes. Veranstaltungsarbeit Der Berliner Verfassungsschutz hat am 18. Dezember ein Symposium mit dem Thema "Gewalt von rechts - Herausforderung für Politik und Gesellschaft" im Abgeordnetenhaus von Berlin veranstaltet. Experten aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft kamen hier zusammen und diskutierten Möglichkeiten zur Bekämpfung rechtsextremistischer Gewalt. Darüber hinaus hat der Berliner Verfassungsschutz zahlreiche Vortragsveranstaltungen durchgeführt. Dabei wurde gleichermaßen über die Extremismusfelder, die der Verfassungsschutz beobachtet, als auch über die Arbeitsweise des Nachrich- 26 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 tendienstes informiert. Die Vortragsveranstaltungen wurden insbesondere von Polizei und Justiz sowie von schulischen und außerschulischen Bildungsträgern angefragt. Gremienarbeit Der Berliner Verfassungsschutz beteiligt sich in der Gremienarbeit am Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen. So nimmt er am Berliner Islamforum teil. Zudem ist er im "Berliner Beratungsnetzwerk" gegen Rechtsextremismus vertreten und hat am Aufbau des ressortübergreifenden Berliner "Verbundes gegen Sekten" mitgewirkt, der von der Sektenleitstelle der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft koordiniert wird. Internet Über den Internetauftritt können unter www.verfassungsschutz-berlin.de aktuelle Meldungen, Informationen über die Grundlagen der Verfassungsschutzarbeit sowie die Veranstaltungen des Verfassungsschutzes Berlin und alle Publikationen abgerufen werden. Bürgerund Hinweistelefon Das Bürgertelefon als Teil der Öffentlichkeitsarbeit nimmt Ihre Hinweise oder Fragen gerne entgegen. Zu erreichen sind wir unter der Telefonnummer 030 90129-440 oder unter der E-Mail-Adresse info@verfassungsschutz-berlin.de. Daneben haben wir ein vertrauliches Telefon für Hinweise, z.B. zur Aufklärung des islamistischen Terrorismus, an den Berliner Verfassungsschutz eingerichtet: - 030 90129-400 (in deutscher Sprache) - 030 90129-401 (in türkischer Sprache) - 030 90129-402 (in arabischer Sprache) Die Anschlüsse sind werktags von 9.00 bis 15.00 Uhr von sprachkundigen Mitarbeitern besetzt. Außerhalb der genannten Zeiten ist ein Anrufbeantworter geschaltet. Darüber hinaus können auch vertrauliche E-Mails an die Adressen info@verfassungsschutz-berlin.de oder aman@verfassungsschutz-berlin.de gesendet werden. II Aktuelle Entwicklungen in den Beobachtungsfeldern 28 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 1 Islamismus 1.1 Ideologie des Islamismus Islamismus lässt sich als Versuch politischer Bewegungen des 20. Jahrhunderts definieren, den Islam zu ideologisieren und dort, wo dies möglich ist, eine islamistische Herrschaftsordnung zu errichten oder die Gesellschaft zu islamisieren. Islamisten begreifen den Islam insofern nicht allein als Religion, sondern als Herrschaftsideologie und als Gesellschaftssystem. Sie versuchen, ihre Vorstellungen auf legalem Wege oder gewaltsam durchzusetzen. Das zentrale Ideologem des Islamismus ist die Behauptung, dass der Islam nicht allein "Religion und Welt" verkörpere, sondern darüber hinaus eine unteilbare Einheit von "Religion" und "Politik" bilde. Dem hieraus abgeleiteten politischen Anspruch versuchen Islamisten mit dem Slogan, der Islam sei "Religion und Staat" (Arabisch: "al-islam din wa-daula"), Nachdruck zu geben. Dieses ca. 100 Jahre alte Schlagwort wird in Bilddarstellungen häufig mit Koran (für Religion) und Schwert (für Politik) symbolisiert. Kennzeichnend für einige islamistiIslamismus sche Gruppen ist ferner die FavorisieDer Islamismus ist eine politische rung frühislamischer und mittelalterIdeologie der Neuzeit und steht für licher Herrschaftskonzepte - etwa ein die Ideologisierung der islamischen globales Kalifat, in dem die FührungsReligion. Er erhebt den Anspruch, person (Kalif) zugleich die weltliche der Islam sei nicht nur Religion, sonund die religiöse Herrschaft ausübt. dern gleichzeitig HerrschaftsideoloDarüber hinaus begreifen Islamisten gie und Gesellschaftsordnung. Verdie islamische Rechtsund Werteordbunden wird dieser Anspruch mit der nung Scharia nicht allein als ein Recht, Forderung nach Anwendung der islasondern als ein politisches und gemischen Rechtsund Werteordnung sellschaftliches Ordnungsprinzip. So Scharia als politisches und gesellwerben sie mit dem Schlagwort der schaftliches Ordnungsprinzip. "Anwendung der Scharia" meist für Trotz ideologischer Gemeinsamkeieine vollständige Umsetzung der Be- Islamismus 29 stimmungen des islamischen Rechts. ten der verschiedenen islamistischen 1 Schließlich versuchen insbesondere Strömungen, existieren verschiedegewaltorientierte islamistische Grupne, zum Teil konkurrierende Konpen, Gewalt durch Bezüge auf die Rezepte, die von einer Ablehnung der ligion zu legitimieren. Hierbei reduDemokratie bis zur Beteiligung an zieren sie den Begriff des Jihad (wörtl. Wahlen reichen. Bemühung) vorrangig auf die BedeuErhebliche Unterschiede bestehen tung von Kampf und kriegerischer im Bereich der Gewaltorientierung. Handlung und verstehen ihn nicht - Während legalistische Islamisten wie im islamischen Recht fixiert - als entweder nie gewaltorientiert waeine vorrangig zum Zwecke der Verren oder der Gewalt inzwischen abteidigung muslimischen Territoriums geschworen haben, gibt es Gruppen, zulässige Methode. Zudem wird der die zur Durchsetzung ihrer Ziele Gevermeintlich offensive Jihad zu einer walt befürworten oder anwenden. individuellen Pflicht jedes Muslims erZum Islamismus gehört auch der klärt. Salafismus in seiner politischen und Trotz gemeinsamer ideologischer jihadistischen Ausprägung. Hier finMerkmale folgen die islamistischen den sich aktuell die radikalsten AufGruppen keinem einheitlichen Konfassungen innerhalb des islamistizept. Der Islamismus umfasst vielschen Spektrums. mehr unterschiedliche bis konkurrierende Vorstellungen und Agenden, die meist von den differierenden politischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Herkunftsländer bestimmt werden. So verketzern einige etwa Demokratie als vermeintlich unislamisch, während andere sich an Wahlen in ihren Heimatländern beteiligen. Insofern gibt es keinen "Einheits-Islamismus". Abgesehen von den terroristischen Netzwerken um "al-Qaida" existiert auch nicht so etwas wie eine "islamistische Internationale". Gewaltorientierung In der Frage des Einsatzes von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele bestehen zwischen den Organisationen erhebliche Unterschiede. Das Spektrum reicht von der Ablehnung jeglicher Gewaltanwendung bis zur pseudoreligiösen Legitimation von Terrorismus. Zwei Hauptgruppen sind zu unterscheiden: Die erste und von der Anzahl her größte Kategorie bilden die nicht-gewaltorientierten Islamisten, die auch als "legalistische Islamisten" bezeichnet werden. Hierzu gehören Gruppen, die entweder nie gewaltorientiert waren (etwa die türkische "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs" (IGMG), oder die - häufig nach langen Phasen des Terrorismus 30 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 - der Gewalt inzwischen abgeschworen haben (etwa die arabische "Muslimbruderschaft", MB). Das Fehlen der Gewaltorientierung gilt insbesondere für die deutschen Ableger der "legalistischen Islamisten". Die zweite Kategorie bilden die gewaltorientierten Islamisten, die sich wiederum in drei Unterkategorien einteilen lassen. Zur ersten Unterkategorie gehören Gruppen, die Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele zwar befürworten, selbst aber vorrangig keine Gewalt ausüben. Dies betrifft etwa die in Deutschland seit Januar 2003 mit einem Betätigungsverbot belegte "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung", HuT). Zur zweiten Unterkategorie gehören Gruppen, die ihre terroristischen Aktivitäten vorrangig auf den Nahen Osten beschränken. Dies gilt etwa für die libanesische "Hizb Allah" ("Partei Gottes") und die palästinensische "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS). Die dritte Unterkategorie gewaltorientierter Islamisten bilden schließlich transnational agierende Terrornetzwerke. Hierzu gehört in erster Linie das Netzwerk "al-Qaida" ("die Basis"), von dem inzwischen mehrere feste regionale Zweige existieren. Zu den transnationalen terroristischen Netzwerken gehören auch die nicht fest mit "al-Qaida" verbundenen Organisationen wie die "Islamische Jihad-Union" (IJU), von denen sich die "Deutschen Taliban Mujahidin" (DTM) abgespalten haben. Salafismus Innerhalb des islamistischen Spektrums erweist sich der Salafismus in seiner politischen und jihadistischen Ausprägung als die zurzeit dynamischste Bewegung - sowohl in Deutschland als auch auf internationaler Ebene. Salafismus bezeichnet eine unbedingte Orientierung an der muslimischen Urgesellschaft vor 1 400 Jahren, wie sie im siebten Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel existierte. Salafisten glauben, in den religiösen Quellen des Islam ein detailgetreues Abbild dieser idealisierten islamischen Frühzeit gefunden zu haben und versuchen, die Gebote Gottes wortgetreu in die Tat umzusetzen. Dies mündet häufig in die wörtliche Auslegung des Koran sowie der Sunna (wörtl. Brauch), der Tradition des Propheten und Religionsstifters Muhammad (570-632). Die Schriftgläubigkeit von Salafisten und ihr meist wortgetreues Verständnis religiöser Texte können dazu führen, dass von ihnen frühislamische Herrschaftsund Rechtsformen befürwortet werden. Diese sind mit den Werten unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar. Islamismus 31 Im Gegensatz zu den übrigen islamistischen Gruppen in Deutschland, die wie die IGMG, MB, "Hizb Allah", HAMAS und HuT mehrheitlich nicht salafistisch ausge- 1 richtet sind, verkörpert der Salafismus eine eher traditionelle Islamismus-Variante. Hierzu gehört neben der strikten Orientierung an der Gesellschaftsform des ersten muslimischen Gemeinwesens in Medina (gegr. 622) auch ein Exklusivanspruch des eigenen Islam-Verständnisses gegenüber jeglichen anderen Islam-Interpretationen. So versuchen Salafisten, die Scharia meist in ihrer ursprünglichen Form durchzusetzen und beharren darauf, dass sämtliche ihrer Bestimmungen zeitlos seien und keinesfalls an heutige Umstände angepasst werden dürften. Insbesondere Muslime werden von Salafisten aufgefordert, salafistische IslamInterpretationen zu übernehmen und entsprechende Vorschriften minutiös zu befolgen. Hierzu schreiben sie ein umfassendes Regelwerk vor. Dieses betrifft das Tragen so genannter "islamischer Kleidung" und die Übernahme alltäglicher Handlungen aus der Zeit des Propheten wie auch das Befolgen einer strikten Geschlechtertrennung und die Abgrenzung von einer nicht-muslimischen Umwelt. Hierzu gehört vor allem die - von den meisten anderen islamistischen Gruppen so nicht praktizierte - Diffamierung als "Ungläubige" ("kuffar"). Diese zielt bei Salafisten nicht allein auf Juden und Christen, sondern auch auf jene Muslime, die ihre politischen und gesellschaftlichen Auffassungen nicht teilen. Entsprechend gibt es einschlägige Aufforderungen zur Kontaktvermeidung und zum Abbruch der Beziehungen zu sämtlichen so genannten "Ungläubigen", Warnungen vor dem Zusammenleben von Nicht-Muslimen und Muslimen sowie die Zurückweisung jeglicher Integrationskonzepte. 1.2 Personenpotenzial Islamismus Innerhalb des islamistischen Spektrums wird eine erste Unterteilung auf der Grundlage der Gewaltorientierung der Organisationen vorgenommen. Zu den gewaltorientierten Organisationen zählen die Kategorien transnationaler islamistischer Terrorismus, Teile des Salafismus sowie regional gewaltausübende und gewaltbefürwortende Islamisten. Die legalistischen Organisationen dagegen lehnen Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele ab. Transnationale terroristische Netzwerke wie "al-Qaida" bzw. "Mujahidin-Netzwerke" oder das "Islamische Emirat Kaukasus" agieren äußerst klandestin, haben unterschiedlich ausgeprägte Organisationsstrukturen und sind teilweise untereinander vernetzt. Das Personenpotenzial jihadistischer Netzwerke in Deutschland ist quantitativ kaum zu erfassen. 32 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Das Personenpotenzial im Salafismus hat zwischen 2012 und 2013 von bundesweit 4 500 auf 5 500 Personen stark zugenommen. In Berlin ist eine Zunahme von 400 auf 500 Personen zu verzeichnen. Damit ist der Salafismus auch 2013 die am dynamischsten wachsende Form des Islamismus in der Bundesrepublik Deutschland. Neben den Terrornetzwerken und den Salafisten gibt es regional gewaltausübende islamistische Organisationen und gewaltbefürwortende islamistische Gruppen. Regional gewaltausübende Organisationen agieren vor allem im Nahen Osten terroristisch. Sie verhalten sich in Deutschland in der Regel zurückhaltend und größtenteils gewaltfrei. Daneben existieren islamistische Gruppen, die Gewalt befürworten, selbst aber kaum gewaltausübend in Erscheinung traten. Das Personenpotenzial der regional gewaltausübenden islamistischen Organisationen ist in Berlin 2013 leicht gestiegen. Bundesweit stieg die Zahl der gewaltbefürwortenden islamistischen Gruppen. Die legalistischen islamistischen Gruppierungen "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) und "Muslimbruderschaft" (MB) stellen mit ca. 3 000 Anhängern das größte Personenpotenzial. Davon sind die türkischen Islamisten, die in der IGMG organisiert sind, mit ca. 2 900 Personen die große Mehrheit. Das Personenpotenzial der MB in Berlin ist 2013 leicht gestiegen. Islamismus 33 Personenpotenzial Islamismus* 1 Berlin Bund 2012 2013 2012 2013 Transnationaler islamistischer Terrorismus 50 40 500 20013 unterteilt nach den Personenpotenzialen einzelner Personenzusammenschlüsse: keine gekeine gekeine gekeine geal-Qaida/Mujahidin-Netzwerke sicherten sicherten sicherten sicherten Zahlen Zahlen Zahlen Zahlen Islamisches Emirat Kaukasus 50 40 500 200 Salafistische Bestrebungen 400 500 4 500 5 500 Regional gewaltausübende und gewaltbefür385 405 2 450 2 500 wortende islamistische Gruppen unterteilt nach den Personenpotenzialen einzelner Personenzusammenschlüsse: Regional gewaltausübende Gruppen, davon: 300 320 1 250 1 250 Hizb Allah 250 250 950 950 HAMAS 50 70 300 300 Gewaltbefürwortende Gruppen, davon: 85 85 1 200 1 250 Hizb ut-Tahrir (HuT) 35 35 300 300 Sonstige 50 50 900 950 Legalistischer Islamismus 3 000 3 020 32 300 32 300 Muslimbruderschaft (MB) / IGD 100 120 1 300 1 300 IGMG 2 900 2 900 31 000 31 000 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. 1.3 Themenschwerpunkt Syrien Der Syrien-Konflikt bildet im diesjährigen Bericht über islamistische Bestrebungen und terroristische Aktivitäten den Themenschwerpunkt. Damit soll der Entwicklung Rechnung getragen werden, dass große Teile des Phänomenbereiches Islamismus, insbesondere auch des Salafismus, vom aktuellen Geschehen in Syrien beeinflusst werden.13 Der Konflikt in Syrien steht inzwischen für die kriegerische Eskalation zwischen einem diktatorischen Regime und einer Oppositionsbewegung, die mit friedlichen Protesten im Zuge des "Arabischen Frühlings" Anfang 2011 begann und zunächst von zivilen Akteuren und einem Streben nach Demokratisierung des Landes getragen wurde. Die säkular und demokratisch orientierten Kräfte des syrischen Widerstandes sind deutlich schwächer geworden, wohingegen eine Vielzahl unter13 In den Berliner Verfassungsschutzberichten der Vorjahre wurde auf Bundesebene das Personenpotenzial der "Nordkaukasischen Separatistenbewegung" (NKSB) dargestellt. Dieses umfasst neben den Anhängern des "Islamischen Emirats Kaukasus" auch die Anhänger der "Tschetschenischen Republik Itschkeria"(CRI). 34 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 schiedlicher islamistisch motivierter Gruppen zunehmend den Kampf gegen das Assad-Regime dominiert. Der Konflikt trägt nunmehr Grundzüge eines "modernen Stellvertreterkriegs", in dem geopolitische und geostrategische Interessen zahlreicher Akteure, auch der Supermächte, wirksam sind, die erhebliche Potenziale zur Destabilisierung der Region bergen und die Findung einer politischen Lösung erschweren. Die Konfliktlinien innerhalb Syriens verlaufen dabei zunehmend entlang ethnischer und konfessioneller Zugehörigkeiten. Zu den innerislamischen Gegenspielern zählen die schiitische Führungsmacht Iran, die um ihren Verbündeten Syrien bangt und die Schwächung der schiitischislamistischen Hizb Allah im Libanon fürchtet sowie Saudi-Arabien und Qatar, Kernländer des sunnitisch-islamischen Konservatismus und Unterstützer des sunnitischen Widerstands. Türkische Interessen werden schließlich durch kurdische Autonomiebestrebungen in Nordsyrien nach dem Vorbild der kurdisch dominierten Provinzen im Nordirak berührt. Der Bürgerkrieg hat bis Ende 2013 mindestens 130 000 Opfer gefordert und zu einer humanitären Katastrophe geführt. Zur Bewältigung millionenstarker Flüchtlingsströme in die Nachbarländer Syriens durch die internationale Gemeinschaft trägt auch Deutschland bei. Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Deutschland hat der Syrien-Konflikt vor allem wegen der Beteiligung von Islamisten aus Deutschland auf Seiten der islamistischen und jihadistischen Gegner des Assad-Regimes. Diese Islamisten dringen meist über die schwer zu kontrollierende Grenze der Türkei nach Syrien ein und wollen dort an der Errichtung eines islamistischen Staatswesens mitwirken. 1.3.1 Islamistische Akteure in Syrien Am syrischen Bürgerkrieg sind auf beiden Seiten des Konflikts islamistische Akteure beteiligt, darunter Ableger transnationaler terroristischer Netzwerke, eher syrische Zusammenschlüsse von Islamisten und Jihadisten wie die "Islamische Front" und regional orientierte Islamisten wie die libanesische "Hizb Allah". Hinzu treten eine Vielzahl weiterer Akteure, insbesondere die "Freie Syrische Armee" (FSA), die ideologisch der - eigentlich gewaltfreien - Muslimbruderschaft nahesteht, sowie die nichtislamistische kurdische PYD14. Das Mitund Gegeneinander dieser Kräf14 Vgl. S. 163. Islamismus 35 te und Bündnisse hat zu einer äußerst instabilen und unübersichtlichen Lage im Land geführt, unter der vor allem die Zivilbevölkerung leidet. 1 Teilorganisationen der "al-Qaida" in Syrien Bereits 2011 hatte sich die "Unterstützungsfront für das syrische Volk" (Arab.:"Jabhat an-Nusra li-ahl asch-Scham", JaN) als islamistischer Flügel des Widerstands formiert. Anfänglich griff die JaN überwiegend militärische Ziele an und stimmte ihr Vorgehen weitgehend mit dem Generalstab der "Freien Syrischen Armee" (FSA) ab, ohne ihr Ziel, die Errichtung einer salafistischen Ordnung in Syrien, aus dem Blick zu verlieren. Teilorganisationen der "al-Qaida" in Syrien Zum transnationalen Netzwerk der Kern-"al-Qaida" zählen regionale Zweige, von denen im Berichtsjahr zwei zu den Akteuren im syrischen Bürgerkrieg zählten. Die im Irak seit 2003 unter verschiedenen Namen operierende "al-Qaida im Irak" bezeichnete sich seit Oktober 2006 als "Islamischer Staat Irak" (ISI) und seit April 2013 als "Islamischer Staat von Irak und Großsyrien" (ISIG). Sie hat das Ziel, die irakische und syrische Regierung sowie Schiiten und Kurden zu bekämpfen und verübte auch 2013 eine Vielzahl schwerster Anschläge. Ende Januar 2014 veröffentlichte der Führer der Kern-"al-Qaida" Aiman al-Zawahiri eine Verlautbarung, in der er erklärte, dass zwischen der Kern-"al-Qaida" und dem ISIG keine Verbindung mehr bestehe und sie fortan unabhängig agiere. Es handelte sich um den ersten Ausschluss einer vormals festen Teilorganisation des "al-Qaida"-Netzwerkes, die als Reaktion auf den Streit mit der syrischen JaN erfolgte. Bereits 2011 wurde in Syrien die "Jabhat an-Nusra li-Ahl asch-Scham" (JaN, "Unterstützungsfront für das syrische Volk") gegründet. Seit einem Streit mit dem ISIG um die Führung des jihadistischen Widerstands in Syrien gilt auch die JaN als Ableger der "al-Qaida". Zu den weiteren Teilorganisationen der al-Qaida siehe S. 48f. 36 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Im April 2013 kam es zum Zerwürfnis zwischen "Islamischer Staat Irak" (ISI) und der JaN. Der Führer des ISI, Abu Bakr al-Baghdadi, erklärte, die eigene Organisation fortan in "Islamischer Staat von Irak und Großsyrien" (ISIG)15 umzubenennen, um den eigenen Führungsanspruch über den Irak hinaus auch auf Syrien auszudehnen. Der Führer der JaN, Abu Muhammad al-Jaulani, erklärte, sich nicht dem ISIG unterzuordnen und richtete seinen Treueeid an den Führer der Kern-"alQaida", Aiman al-Zawahiri. Im Ergebnis gehörten bis Ende 2013 mit ISIG und JaN zwei Teilorganisationen des "al-Qaida"Netzwerkes zu den jihadistischen Akteuren in Syrien, die einander bekämpfen und vielfach auch gegen eine nichtsalafistische Bevölkerung terroristisch agieren. Die "Islamische Front" Eine ganze Reihe jihadistischer Gruppen, die nicht der "al-Qaida" angehören, ihr aber ideologisch nahestehen, hatten sich im Herbst 2013 zur "Islamischen Front" (IF) unter der militärischen Führung von Zahran Aloush zusammengeschlossen. Im Dezember hat die IF erklärt, nicht länger mit dem Generalstab der FSA zu kooperieren, womit der einstige Hauptakteur des nichtjihadistischen Widerstands weiter an Bedeutung verlor. Beteiligung der libanesischen "Hizb Allah" am Bürgerkrieg in Syrien Anfang Mai verdichteten sich Hinweise für eine Beteiligung bewaffneter Kräfte der schiitisch-islamistischen "Hizb Allah" am syrischen Bürgerkrieg auf der Seite Assad-treuer Regierungstruppen. Aus Anlass der Kämpfe um die Stadt al-Kusair gab der Generalsekretär der "Hizb Allah", Hassan Nasrallah, in einer Fernsehansprache am 30. April an, es sei normal, der syrischen Armee jede mögliche und notwendige Hilfe im Kampf gegen die Terroristen anzubieten. Die anfängliche Bekundung, eine nahe al-Kusair lebende libanesische Minderheit schützen zu wollen sowie spätere Angaben, man wolle in Damaskus heilige Stätten der Schiiten beschützen, konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass die "Hizb Allah" dauerhaft zur Kriegspartei wurde. 15 In den Medien wird der ISIG vielfach auch "ISIS" abgekürzt, das finale "S" steht dabei für das arabische "Sham", d.h. "Großsyrien". Islamismus 37 In einem Interview Mitte November mit dem arabischen Fernsehsender Al-Jazeera bekräftigte Hassan Nasrallah erneut seine Sichtweise, dass die "Hizb Allah" so- 1 lange wie nötig an der Seite der Armee des syrischen Präsidenten Assad kämpfen werde. Bereits in einem Interview gegenüber dem parteieigenen Fernsehsender al-Manar Mitte Oktober hatte er das Feindbild zum wiederholten Mal präzisiert: "die Freunde Syriens werden es [d.h. Syrien] nicht in die Hände der USA, Israels und der Takfiri16 fallen lassen". Zudem wird immer wieder über eine Unterstützung des Assad-Regimes durch das iranische Militär berichtet. 1.3.2 Gefährdungslage durch Syrien-Konflikt Zu den zentralen Herausforderungen aller deutschen Sicherheitsbehörden Mujahidin / Jihadisten gehört die stark steigende Zahl von Der Begriff Mujahidin, auch JihadisIslamisten aus Deutschland, die mit ten genannt, bezeichnet gewaltbedem mutmaßlichen Ziel Syrien ausgereite Islamisten, die ideologisch dem reist sind, um dort als Jihadisten den Salafismus zuzurechnen sind. Die BeKampf gegen das Assad-Regime zu ungriffe Mujahidin und Jihadisten (Sinterstützen. gular: Mujahid bzw. Jihadist) werden bei gleicher Bedeutung unterschiedDie Beteiligung von Ausländern am sylich verwendet: Der eingedeutschte rischen Bürgerkrieg ist nicht auf IslaBegriff Jihadist bezeichnet Personen misten aus Deutschland beschränkt. mit einem Europabezug; Mujahidin In einer im Dezember erschienenen stehen im Regelfall für Personen Studie17 wird die Gesamtzahl der am aus dem muslimisch-orientalischen Kampf oder an UnterstützungshandRaum. Geprägt wurde der Begriff lungen in dem Krieg beteiligten AusMujahidin für Islamisten gleich welländer von Ende 2011 bis Dezember cher Herkunft, die an Kampfeinsät2013 von 3 300 auf bis zu 11 000 gezen etwa in Afghanistan, Bosnien, schätzt. Diese sind weit überwiegend Tschetschenien oder im Kaschmir islamistisch orientiert und sollen zu teilgenommen haben. Das Entstehen etwa 70 Prozent aus Ländern des Nader Mujahidin geht auf den Afghahen und Mittleren Ostens stammen. 16 Takfiri: Muslime, die andersdenkende Muslime zu Ungläubigen erklären (Arab.: takfir) und diese auch mit Gewalt bekämpfen. 17 Vgl. International Centre for the Study of Radicalisation (ICSR), London: Aaron Y. Zelin & Sami David u. a.: "ICSR Insight: Up to 11,000 foreign fighters in Syria; steep rise among Western Europeans" vom 17.12.2013, abgerufen unter icsr.info am 8.1.2014. Die Zahlen beziehen sich auf Personen, die sich im Kriegsgebiet befinden, dort inhaftiert oder getötet wurden oder in ihre Ausreiseländer zurückgekehrt sind. 38 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Die Gesamtzahl der beteiligten Ausnistan-Krieg zurück, als sich ab 1979 länder aus westeuropäischen Staaten Freiwillige dem - unter dem Motto beläuft sich nach der Studie auf bis zu des Jihad geführten - Krieg gegen die 1 900 Personen und hat sich seit April sowjetische Besatzung anschlossen. 2013 etwa verdreifacht. In Personen, In rechtsfreien Räumen Afghanisdie sich am bewaffneten Kampf betans bot sich ein ideales Umfeld für teiligt haben und in ihre Ausreiseländie ideologische Schulung und terroder zurückkehren, wird international ristische Ausbildung der Mujahidin. übereinstimmend eine besondere GeDie Terroraktivitäten der Mujahidin fährdung gesehen. richteten sich ab 1992 vor allem auch gegen Ägypten und Algerien, nachDen deutschen Sicherheitsbehörden dem sich Veteranen aus Afghanistan lagen zum Jahresende Erkenntnisse zu den dortigen militant-islamistischen mehr als 240 Islamisten18 vor, die sich Gruppen angeschlossen hatten. von Deutschland aus auf eine Reise in Richtung Syrien begeben haben, meist über die Türkei. Nicht in allen Fällen ist ein tatsächlicher Aufenthalt in Syrien belegbar. In gleicher Weise bedingen die Kriegswirren, dass vielfach unsicher ist, mit welchem Ziel die Reise erfolgte: einer aktiven Beteiligung am bewaffneten Kampf, sonstiger Unterstützungsleistungen oder humanitärer Hilfe. Unter den ausgereisten Islamisten aus Deutschland, davon etwa 25 aus Berlin, überwiegen junge Männer bis 25 Jahre, darunter zahlreiche Konvertiten. Etwa 60 Prozent von ihnen sind Deutsche oder verfügen daneben über eine zweite Staatsbürgerschaft. Ausgereist sind jedoch auch mehrere Minderjährige sowie etwa ein Dutzend junge Frauen, die ihre Ehemänner begleiteten. In einer Reihe von Fällen konnten Pläne, in denen Anhaltspunkte für eine jihadistische Motivation der Ausreise vorlagen, durch passbeschränkende Maßnahmen unterbunden werden. Anzumerken ist jedoch, dass für eine Einreise in die Türkei, z. B. auf dem Luftweg, für deutsche Staatsbürger lediglich ein Personalausweis erforderlich ist. Äußerungen in sozialen Netzwerken sowie Informationen in und Kommentare zu Filmsequenzen auf Videoplattformen scheinen in einer Reihe von Fällen eine unmittelbare Nähe deutscher Jihadisten zu Kampfhandlungen zu belegen. Mehrfach konnten auch entsprechende Vorbereitungsund Unterstützungshandlungen im Vorfeld erkannt werden. So gelang an einer Autobahnraststätte in Baden-Würt18 Die Entwicklung dieser Personenzahl verläuft unverändert sehr dynamisch. Bereits Ende März 2014 hatte sich die Anzahl der Ausgereisten auf 320 erhöht. Die Zahl der aus Berlin ausgereisten Islamisten ist im ersten Quartal 2014 auf etwa 50 Personen angewachsen. Islamismus 39 temberg Mitte November die Festnahme eines 23 Jahre alten Libanesen aus Stuttgart und eines 37 Jahre alten Afghanen. Die beiden Jihadisten waren beim Kauf 1 eines hochwertigen Nachtsichtgeräts für Scharfschützen in einem Geschäft für Jagdausrüstung aufgefallen. Ihre Festnahme erfolgte mutmaßlich auf dem Weg nach Syrien, in ihrem Fahrzeug befanden sich neben dem Nachtsichtgerät Tarnkleidung, Medikamente und Werkzeug. Bis Jahresende sind mehrere Dutzend Islamisten nach Deutschland zurückgekehrt. Bei etwa 15 Personen gilt als sicher, dass sie sich aktiv am bewaffneten Widerstand in Syrien beteiligt haben. Diese Personen erfordern eine hohe Aufmerksamkeit aller Sicherheitsbehörden, da von ihnen neue Gefährdungen ausgehen könnten. Sie verfügen potenziell über eine militärische Ausbildung und sind in hohem Maße radikalisiert und gewaltbereit. Mit ihrem in der jihadistischen Szene hoch angesehenen "Veteranenstatus" könnten sie die Bildung terroristischer Kleinzellen befördern. Mehrere Todesfälle unter deutschen Salafisten in Syrien Von den nach Syrien ausgereisten Personen mit Bezügen nach Deutschland sind bis Jahresende einige im syrischen Bürgerkrieg umgekommen. Meist ist nicht klar, ob ihr Tod Folge einer aktiven Beteiligung an Kampfhandlungen war. Als einen der ersten traf es im Januar mit 31 Jahren den Deutsch-Tschetschenen Aslanbek F., der wahrscheinlich an einer Schussverletzung starb. Er hatte wenige Wochen zuvor noch in Kiel gelebt und sich in Syrien den Regimegegnern angeschlossen. In Frankfurt a.M. soll der gebürtige Nordafrikaner mit dem Kampfnamen "Abu Handala al-Maghribi" gelebt haben, der Mitte August bei Kämpfen gegen das syrische Regime umkam. Obgleich bislang nicht identifiziert, weisen Foreneinträge im Internet darauf hin, dass er sich einer jihadistischen Gruppe angeschlossen hatte. Im Oktober starb bei einem Luftangriff auf ein Dorf unweit der türkischen Grenze der 26 Jahre alte Deutsch-Türke Burak K., ein ehemaliger Fußballer des deutschen Jugendnationalteams. Mit erst 16 Jahren soll "Enes", ein Schüler aus Hessen, Anfang Dezember in Aleppo umgekommen sein, wenige Tage nach seiner Ankunft. Ende November wurde der 20jährige Mustafa B. in Frankfurt a.M. festgenommen. Die Staatsanwaltschaft Frankfurt a.M. ermittelt gegen ihn wegen der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Mustafa B. soll im syrischen Bürgerkrieg jihadistische Gruppen unterstützt haben. Nach seiner Rückkehr über die Türkei wurde er festgenommen. 40 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 1.3.3 "Sham-Center" - "Social Jihad" und jihadistische Syrien-Propaganda Seit Mitte 2013 existiert eine bislang unbekannte Gruppe deutschsprachiger Jihadisten, die sich unter dem Titel "Sham-Center" zu einem Propagandanetzwerk zusammengeschlossen hat und ideologisch der "al-Qaida" nahesteht. Die Gruppe, laut eigenen Aussagen mit Bezügen in die Region um die syrische Hafenstadt Latakia, spielt mit ihrer Namensgebung auf die Region "Sham" (deutsch: "Großsyrien") an, deren historische Ausdehnung neben dem heutigen Syrien vor allem den Libanon und Teile des Irak umfasst. Die Neuerung in der Propagandaarbeit des "Sham-Centers" liegt in der bisher nicht gekannten Form der Nutzung unterschiedlicher Mediendienste im Internet, die mit verschiedenen Medienformaten breit bedient werden. Neben einer klassischen Website werden Kanäle auf Videoplattformen, Auftritte in sozialen Netzwerken, ein Blog sowie Kurznachrichtendienste angeboten. Die Macher des "Sham-Center" haben hierfür den Begriff "Social Jihad" geprägt. In einem Interview Mitte September erklärte ein Propagandist die Vorgehensweise des "Social Jihad": "Social Jihad ist für uns das Ermöglichen des Vernetztseins zwischen Presseund Medienabteilung der Mujahidin und der Außenwelt, so wie du es eben aus den sozialen Netzwerken kennst. Wo auch immer du auf der Welt dich befindest, kannst du hautnah dabei sein." Die inhaltliche Bandbreite der jihadistischen Propaganda umfasst neben der Dokumentation von Kämpfern und Kampfhandlungen die Lebensgeschichten gefallener "Märtyrer" sowie das Leid der syrischen Zivilbevölkerung. Im Oktober erschien ein deutschsprachiges Video mit dem Titel "Sham Center - Die Biographie von Muslim". Es illustriert mit deutschen Untertiteln und ins Deutsche übersetzten Interviewpassagen die "jihadistische Karriere" eines in Georgien geborenen Mannes mit Kampfnamen "Abu Waleed", der in Syrien zum Kommandeur einer Jihadisten-Gruppe wurde. Einst hatte ihn die Sowjetarmee ausgebildet. Später schloss er sich den Mujahidin in Tschetschenien an. Die Propagandabotschaft ist deutlich: Auch Nichtaraber können es im Jihad in Syrien weit bringen, wie das Vorbild "Abu Waleed" zeigt. Es würde sich auch für Rekruten aus Deutschland lohnen, ihm nachzueifern. Der "Social Jihad" des "Sham-Center" zielt auf ein stärkere Vernetzung und direkte Interaktion mit radikalisierten Muslimen und erhöht derart die Geschwin- Islamismus 41 digkeit, mit der auf Ereignisse propagandistisch reagiert werden kann. Jihadistische Propaganda wird nicht mehr primär in geschlossenen Foren und Netzwerken 1 verbreitet, sondern findet unmittelbar in frei zugänglichen Internetmedien statt. Dieser permanente Zugang zu jihadistisch aufbereiteten Informationen über den Syrien-Konflikt zielt auch auf emotionale Betroffenheit ab und ist deshalb in besonderer Weise radikalisierungsfördernd. Vom Propagandisten zum Jihadisten - Denis Cuspert in Syrien Der Berliner Ex-Rapper und Jihad-Propagandist Denis Cuspert19 zählt zu den Deutschen, die sich dem Kampf gegen das Assad-Regime in Syrien angeschlossen haben. Nach dem Verbot der Vereinigung "Millatu Ibrahim" war Cuspert zunächst im Juni 2012 nach Ägypten ausgereist und soll sich zeitweise in Libyen aufgehalten haben. Vor seiner Ausreise hatte er in einem "Abschiedsvideo" allen Deutschen und der deutschen Regierung den Krieg erklärt und seinen Tod angekündigt. Auch die zehnte Ausgabe des Internetmagazins "Inspire"20 reagiert auf seine Popularität unter deutschen Jihadisten. In der Rubrik "Zitate von Freund und Feind" wird Denis Cuspert als Vertreter von "Millatu Ibrahim" gezeigt, als er sich in Nordafrika aufhielt. Der Eintrag zitiert ihn, man bräuchte keine feigen und hasenfüßigen Gelehrten, die Haft und Strafverfolgung fürchteten und Angst vor dem Tod hätten; diese sollten schweigen und die Kanzel verlassen. Unter dem Kampfnamen "Abu Talha al-Almani" hatte sich Cuspert in Syrien einer jihadistischen Gruppe angeschlossen. Mutmaßlich war er dort an Kampfhandlungen beteiligt, wie Internetmedien nahelegen. Im August erlitt Cuspert bei einem Bombenangriff im Raum Aleppo schwere Kopfverletzungen; zeitweise soll er im Koma gelegen haben. Kurz vor seiner Verwundung rief er Ende Juli in einem Video zu Selbstmordattentaten auf und textete in einem Kampflied (nashid) mit dem Titel "Al-Jannah Al-Jannah" (deutsch: "Das Paradies, das Paradies"), selbst den "Märtyrertod" anzustreben: 19 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2012. Berlin 2013, S. 43 f. 20 Vgl. S. 52. 42 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 "... ich zünd' die Bombe inmitten der Menge, drück auf den Knopf, al-Jannah al-Jannah, mitten im Zentrum oder in der U-Bahn, drück auf den Knopf, al-Jannah al-Jannah ..." Diese Aussagen, die unverkennbar auch Zivilisten zu legitimen Zielen erklären, trugen dazu bei, dass das Bundeskriminalamt öffentlich vor Cuspert warnte, da er verdächtig war, Terroranschläge gegen westliche Einrichtungen und Interessen zu planen. Seit Cusperts weitgehender Genesung wurden mehrere Propagandabotschaften bekannt, in denen er sich an Muslime in Deutschland wandte und sie aufforderte, das Land zu verlassen und sich den Jihadisten in Syrien anzuschließen. Mohamed Mahmoud und Reda Seyam Der einstige Protagonist des im Juni 2012 in Deutschland verbotenen salafistischen Netzwerkes "Millatu Ibrahim", Mohamed Mahmoud, wurde im März unweit der syrischen Grenze mit einem gefälschten Reisepass festgenommen und befindet sich seither in türkischer Haft. Mahmoud hatte sich vor dem Vollzug seiner Ausweisung aus Deutschland im Frühjahr 2012 nach Ägypten abgesetzt, um dort eine Gruppe deutscher Salafisten um sich zu scharen. Mutmaßlich wollte er sich in Syrien jihadistischen Gruppen anschließen. Auch der lange in Berlin lebende Islamist Reda Seyam hat sich in das syrische Bürgerkriegsgebiet begeben. Die Anwesenheit des deutschen Staatsbürgers ägyptischer Herkunft belegt ein Video des Nachrichtensenders al-Jazeera vom August, in dem über die Geiselnahme einer Gruppe Frauen und Kinder durch eine jihadistische Splittergruppe unweit der syrischen Hafenstadt Latakia berichtet wird. In dem Video fungiert Reda Seyam als Kameramann des Senders und filmt den Aufsager eines al-Jazeera-Reporters. Welche Rolle Reda Seyam in den Kämpfen um Syrien einnimmt, bleibt unklar. Islamismus 43 1.4 Entwicklung im transnationalen 1 islamistischen Terrorismus Der transnationale islamistische Terrorismus wird von Aktivitäten der Kern-"alQaida" und ihren regionalen Ablegern dominiert. Diese Zweige destabilisieren in unterschiedlicher Weise ihre Kerngebiete mit Anschlägen, haben aber wiederholt gezeigt, dass sie auch zu Angriffen außerhalb ihrer Aktionsräume fähig sind, die in zahlreichen Fällen auch westliche Bürger und Interessen betrafen. Zu den Aktivitäten des transnationalen islamistischenTerrorismus zählt jedoch seit Jahren auch eine rege Propagandatätigkeit. Zu den häufig wiederkehrenden Inhalten jihadistischer Propaganda zählt die Forderung an radikalisierte Muslime, sich dem Jihad in den vermeintlich vom Westen angegriffenen Ländern anzuschließen, oder aber den Weg des "individuellen Jihad" zu beschreiten. Dieser "individuelle Jihad" kommt ohne jede Anbindung an Terrornetzwerke aus und bezeichnet den Auftrag an einen bis zur Gewaltausübung Radikalisierten, sich das Ziel für seine Terrortat selbst zu suchen. 1.4.1 "Homegrown-Terrorismus" - Anschläge in Boston und London Für die besondere Gefährdung, die auch in westlichen Ländern von radikalisierten Einzeltätern oder Kleinstzellen ausgeht, stehen 2013 exemplarisch terroristische Anschläge in den Vereinigten Staaten und in England. Am 15. April explodierten im Zielbereich des Stadtmarathons der US-Metropole Boston mit tausenden Teilnehmern und Zuschauern kurz nacheinander zwei Rucksackbomben, die drei Personen töteten, darunter ein Kind, und mehr als 260 Menschen verletzten. Täter waren die Brüder tschetschenischer Herkunft Dschochar und Tamerlan Tsarnajew, 19 und 26 Jahre alt. Bei der tagelangen Verfolgung der beiden starben Tamerlan Tsarnajew und ein Polizist, weitere Personen wurden verletzt. Die Brüder, die sich schon lange in den USA aufhielten, hatten sich über mehrere Jahre hin radikalisiert, insbesondere über jihadistische Propaganda im Internet. Der überlebende Dschochar erklärte Ermittlern, dass er und sein Bruder die Anleitung zum Bau der Sprengsätze aus Druckkochtöpfen mit einer Beimischung von Metallteilen dem englischsprachigen Jihad-Magazin "Inspire" entnommen hätten, das vom jemenitischen Zweig der "al-Qaida" herausgegeben wird. Mit der Tat wollten sie Vergeltung an den USA üben, denen sie einen 44 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 "Krieg gegen den Islam" in Irak und Afghanistan unterstellten. Das Verfahren gegen Dschochar Tsarnajew dauert an.21 Am 22. Mai wurde ein 25jähriger eng"Homegrown-Terroristen" lischer Soldat unweit seiner Kaserne Bei "Homegrown-Terroristen" hanim Londoner Stadtteil Woolwich von delt es sich um radikalisierte Muslizwei Jihadisten zunächst angefahren me oder um radikalisierte Konverund dann mit Hiebund Stichwaffen titen. Obwohl diese zumeist jungen ermordet. Die beiden Täter, 22 und 28 Personen in europäischen Ländern Jahre alt, sind britische Staatsbürger geboren und aufgewachsen sind, nigerianischer Herkunft und waren in bekämpfen sie diese mit terroristiihrer Jugend vom Christentum zum Isschen Mitteln und zielen dabei auslam konvertiert. Mindestens einer der drücklich auch auf Zivilisten ab. Für Täter hatte seit Jahren Veranstaltuneine Reihe internationaler Terrorakgen führender Islamisten in England te sind "Homegrown-Terroristen" besucht. Beide wollten mit der Tat die verantwortlich, z. B. für die AnschläBeteiligung der britischen Armee an ge von Madrid (2004) und London Einsätzen in islamischen Ländern rä(2005). Auch die 2010 wegen Anchen. Im Februar 2014 wurden sie in schlagsplanungen in Düsseldorf London zu lebenslanger Haft verurverurteilten vier Mitglieder der so teilt, ohne Reue gezeigt zu haben. genannten "Sauerland-Gruppe" waBei beiden Anschlägen ließen sich keiren "Homegrown-Terroristen", die ne Einbindungen der Täter in terrorissich in Deutschland radikalisiert hatische Strukturen feststellen. Derart ben. Für einen "Homegrown-Terroisoliert agierende Einzelpersonen und risten", der als Einzeltäter handelte, Kleinstzellen sind für Sicherheitsbesteht der Fall Arid U.22, der sich durch hörden nur schwer zu erkennen. Hinsalafistische Propaganda im Internet zu kommen die Geschwindigkeit der so stark radikalisierte, dass er 2011 Radikalisierung, die in Einzelfällen nur am Frankfurter Flughafen den erswenige Monate beträgt und die Wahl ten islamistisch motivierten Terror"weicher" Ziele in der Öffentlichkeit, anschlag in Deutschland beging, bei die sich nicht vollständig schützen lasdem Menschen getötet wurden. sen. 21 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 21 f. und Verfassungsschutzbericht 2012. Berlin 2013, S. 30 f. Islamismus 45 1.4.2 Russland im Fokus wegen der 1 Olympischen Winterspiele 2014 Für eine erhöhte Gefährdung der Olympischen Winterspiele im Februar 2014 im russischen Sotschi sprachen zunächst mehrere Anschläge im russischen Kernland. Ende Oktober hatte eine Selbstmordattentäterin aus der nordkaukasischen Teilrepublik Dagestan ihren Sprengsatz in einem Bus in Wolgograd gezündet und dabei sechs Menschen getötet und weitere verletzt. In Pjatigorsk, etwa 270 km von Sotschi entfernt, tötete eine Autobombe im Dezember drei Personen. Ende Dezember kam es zu zwei weiteren Selbstmordanschlägen in Wolgograd, zunächst auf den Hauptbahnhof der Großstadt inmitten starken Reiseverkehrs und am Folgetag auf einen Linienbus unweit eines Marktes. Bei diesen beiden Anschlägen, verübt von kaukasischen Selbstmordattentätern, starben mindestens 34 Menschen, zahlreiche wurden verletzt. "Islamisches Emirat Kaukasus" Zu den Mujahidin gehören auch die Kämpfer des 2007 gegründeten "Islamischen Emirats Kaukasus" im südlichen Russland. Auch dieses Netzwerk tschetschenischer Mujahidin steht "al-Qaida" nahe. Die Gruppe hatte sich zunächst auf Tschetschenien beschränkt, weitete aber ihre bewaffneten Operationen auf den Nordkaukasus und auf Russland aus. So verübten im März 2010 kaukasische Selbstmordattentäterinnen Anschläge auf die Moskauer Metro. Der selbsternannte "Emir der kaukasischen Völker", Doku Umarov, der Anfang 2014 getötet wurde, forderte, die "Feinde der Muslime" aus sämtlichen früheren muslimischen Territorien zu vertreiben. Im Januar 2014 wurden zwei Propagandabotschaften einer bislang unbekannten Gruppe "Ansar al-Sunna" ("Unterstützer der [Propheten-]tradition") bekannt, die dem "Islamischen Emirat Kaukasus" angehören soll. Der Anfang 2014 getötete Führer des "Islamischen Emirats Kaukasus", Doku Umarov, hatte Mitte 2013 in einer Videobotschaft mit Terrorakten gegen die Olympischen Winterspiele gedroht. Als Reaktion auf die Anschläge wurden die Sicherheitsmaßnahmen am Austragungsort Sotschi weiter verschärft. 46 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 1.4.3 Kern-"al-Qaida" und ihre Regionalorganisationen Unter der Führung des Ägypters Aiman al-Zawahiri zeigt sich Kern-"al-Qaida" unverändert lebensfähig, obgleich sich 2013 keine Terrorangriffe direkt der Führungsebene des Terrornetzwerkes zuschreiben lassen. Im Vergleich zum Vorjahr scheint die Führung des Netzwerkes in der Lage, bei einer tendenziell abnehmenden Zahl an Propagandabotschaften den Syrien-Konflikt für sich nutzen zu können. Abzuwarten bleibt der Fortgang des Konfliktes zwischen al-Zawahiri und dem Führer der seit Januar 2014 unabhängig agierenden "al-Qaida im Irak und Großsyrien" (ISIG), Abu Bakr al-Baghdadi, um die ideologische Führung des jihadistischen Kampfes in Syrien. Kern-"al-Qaida" Im Zentrum des transnationalen islamistischen Terrorismus steht die von Usama Bin Ladin Ende der 1980er Jahre gegründete Organisation "al-Qaida" ("Die Basis"), die sich vermutlich Mitte der 1990er Jahre mit militanten Teilen zweier ägyptischer Gruppen zu einem transnationalen Netzwerk zusammenschloss. Bin Ladin wurde 2011 von US-Einheiten in Pakistan getötet. Nachfolger wurde sein langjähriger Vertreter Aiman al-Zawahiri. Programmatische Grundlage der weltweiten Anschläge von "al-Qaida" war der von Bin Ladin 1998 unterzeichnete Aufruf der "Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler". Darin war die Tötung von Amerikanern zur individuellen Pflicht eines jeden Muslims erhoben und als Ziel die Verdrängung der USA von der Arabischen Halbinsel genannt worden. Statt Anschlägen der Kern-"al-Qaida" standen seit 2004 Terrorakte von Regionalorganisationen des "al-Qaida"Netzwerkes, eigenständig operierender Kleingruppen oder radikalisierter Einzeltäter ("Homegrown-Terroristen") im Vordergrund. Obgleich die genaue Personenstärke nicht zu beziffern ist, wurde auch 2013 die Führung der Kern-"al-Qaida" durch Militäraktionen personell geschwächt. Durch den Angriff einer US-Drohne in Waziristan starb im April der Palästinenser Abu Ubaidah al-Maqdisi, Mitglied der Shura, des Führungszirkels von "al-Qaida". Er galt als "Geheimdienstchef" des Netzwerkes, der die Kontakte zu anderen jihadistischen Gruppen steuerte. Diese hatte er in einer Propagandabotschaft 2010 zu Geiselnahmen aufgefordert. Bei einem Zugriff der US-Armee in Libyen gelang Anfang Oktober die Festnahme von Abu Anas al-Libi, Führungsmitglied der Kern-"alQaida" und wichtiger Computerexperte. Der gebürtige Libyer war bereits in den Islamismus 47 1990er Jahren Gefolgsmann von Usama Bin Ladin und soll zu den Hintermännern der Anschläge auf US-Botschaften in Tansania und Kenia 1998 zählen. Im Zuge 1 des libyschen Bürgerkrieges war al-Libi in sein Heimatland gereist. Wiederholt haben in den vergangenen Jahren aufgefundene Schriftstücke, darunter solche aus dem Haus des getöteten Usama Bin Ladin, strategische Planungen der Kern-"al-Qaida" gegen westliche Länder offenbart. Mehrfach zeigte sich, dass Jihadisten mit dem Auftrag, Terroranschläge auszuführen, in ihre Ausreiseländer zurückgeschickt wurden. Bislang konnten in Deutschland derartige Pläne vereitelt werden, wie sie beispielhaft die "Düsseldorfer Zelle"22 verfolgte. Das wahrscheinliche Festhalten der Kern-"al-Qaida" an solchen Plänen ist einer der Gründe für die unverändert hohe abstrakte Bedrohung, die von der Organisation und ihren terroristischen Ablegern für Deutschland und deutsche Interessen im Ausland ausgeht. Die weiterhin hohe personenbezogene Gefährdung von Angehörigen westlicher Staaten im Ausland, insbesondere durch Teilorganisationen der "al-Qaida", belegen zahlreiche Attentate, bei denen auch deutsche Staatsbürger zu Tode kamen. "Al-Shabab": Anschlag auf Einkaufszentrum in Kenia Die somalische "Bewegung der jungen Mujahidin", "al-Shabab", die seit Februar 2012 fester Regionalzweig der "al-Qaida" in Ostafrika ist, war 2013 für den folgenschwersten Angriff einer Teilorganisation der "al-Qaida" verantwortlich. Am 21. September wurde das bei Ausländern beliebte "Westgate"-Einkaufszentrum in der kenianischen Hauptstadt Nairobi von einer mutmaßlich vierköpfigen bewaffneten Gruppe gestürmt. In den belebten Läden töteten die Terroristen jeden, der ihnen nicht Muslim zu sein schien, auch Frauen und Kinder. Erst am vierten Tag konnten kenianische Sicherheitskräfte die Kontrolle über das Gebäude erlangen, das teilweise zerstört wurde. Obgleich viele Details des Anschlags bislang unklar sind, gilt als sicher, dass mindestens 67 Menschen starben, darunter mehr als ein Dutzend Ausländer, auch aus westlichen Staaten. Etwa 300 Menschen wurden verletzt. Zu den Tätern und Planern des Anschlags sollen auch Jihadisten mit Bezügen zu westlichen Staaten zählen. Ermittlungen weisen einem 23 Jahre alten norwegisch-somalischen Doppelstaatler eine Führungsrolle zu. Zum Führungspersonal der "al-Shabab" zählt auch der aus Bonn stammende Konvertit Andreas "Ahmed Khaled" M., der sich seit 2011 in Somalia aufhalten soll. Seine Einbindung in die Anschlagsplanungen gilt als wahrscheinlich. 22 Vgl. S. 58. 48 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Das Motiv des Anschlags liegt in der Beteiligung der kenianischen Armee an der militärischen Mission der Afrikanischen Union in Somalia (AMISOM), der es gelungen war, "al-Shabab" zurückzudrängen und wichtige Städte zu erobern. Weitere Anschläge der "al-Shabab" richteten sich gegen Polizeistationen und ein Restaurant in der Hauptstadt. Sie forderten Dutzende Menschenleben und Verletzte. "Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" destabilisiert den Jemen Zunehmende Schlagkraft hat der jemenitische Zweig der "al-Qaida" entwickelt, die "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH). Trotz hoher personeller Verluste, auch infolge des Einsatzes von US-Drohnen, hat die Destabilisierung des Jemen zugenommen. Die Terroraktivitäten der AQAH blieben 2013 auf den Jemen beschränkt, bei zahlreichen Anschlägen auf Sicherheitskräfte und öffentliche Einrichtungen sowie Geiselnahmen waren mehrfach gezielt westliche Ausländer betroffen. Beim schwersten Anschlag der AQAH am 5. Dezember stürmten Jihadisten das Gelände des Verteidigungsministeriums und töteten neben Armeeangehörigen in dem dortigen Militärkrankenhaus auch Zivilisten, Ärzte und Krankenschwestern. Mindestens 52 wurden getötet, darunter auch zwei deutsche Entwicklungshelfer und etwa 200 Menschen verletzt. Wenig später entschuldigte sich der Militärchef der AQAH für den Angriff und bot für die zivilen Opfer eine Entschädigungszahlung an. Er erklärte, ein Jihadist hätte entgegen den Anweisungen das Krankenhaus gestürmt, eigentliches Ziel sei jedoch ein auf dem Gelände vermuteter Kontrollraum für den Einsatz von US-Drohnen im Jemen gewesen. Gleichfalls in Sanaa wurde am 6. Oktober ein deutscher Bundespolizist, der als Sicherheitsmann der Deutschen Botschaft arbeitete, vor einem Supermarkt erschossen, mutmaßlich bei einem gescheiterten Entführungsversuch durch Jihadisten der AQAH. Regionalorganisationen der "al-Qaida" (ohne ISIG und JaN) Zum transnationalen Netzwerk der Kern-"al-Qaida" zählen regionale Zweige, die sich seit 2003 herausgebildet und der Führung des Netzwerkes die Treue geschworen haben. Zu den regionalen Zweigen von "al-Qaida" gehört seit 2007 die "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM). Sie ging aus der algerischen "Groupe Salafiste pour la Predication et le Combat" (GSPC) hervor. AQM hat sich zum zentralen Gewaltakteur im Mahgreb und im westlichen Sahel entwickelt, der verstärkt auch westliche Ausländer angreift. Islamismus 49 Die "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) entstand 2009 durch die 1 Fusion des jemenitischen und des saudischen "al-Qaida"-Zweiges. Die AQAH hat sich zu einer schlagkräftigen Terrororganisation besonders im Jemen entwickelt und kontrolliert verschiedene Gebiete. Angriffe auf den internationalen Luftverkehr zeigten bis 2010 auch eine transnationale Ausrichtung. Seit 2012 ist auch die somalische "Bewegung der Mujahidin-Jugend", arabisch kurz "al-Shabab" fester Teil des "al-Qaida"-Netzes. Sie entwickelte sich seit 2006 zur stärksten Terrororganisation in Somalia. "Al-Shabab" ist auch für Angriffe und Entführungen westlicher Ausländer sowie für Attentate in der Region, besonders in Kenia verantwortlich. Die Zugehörigkeit der nigerianischen Terrororganisation "Boko Haram" zum Netzwerk der "al-Qaida" ist bislang nicht bestätigt worden, obwohl ihr Führer Schekau dies bereits 2012 in einer Botschaft erklärte. "Boko Haram" (deutsch: "Lateinschrift ist verboten"), gegründet nach 2001, kämpft für die Einführung der Scharia in Nigeria und verfügt über Verbindungen zur AQM. Der Terror der "Boko Haram" gegen Zivilisten und staatliche Akteure destabilisiert großräumig den Norden Nigerias. "Al-Qaida im islamischen Maghreb" vermehrt außerhalb des Maghreb aktiv Die AQM ist unverändert der zentrale Gewaltakteur im Maghreb und im westlichen Sahelraum. Mehrfach wurden bei Operationen von Armeen verschiedener Staaten der Region, teils mit französischer Beteiligung, Führungspersonen der AQM getötet. Dennoch zeigt sich das Terrornetzwerk unverändert handlungsfähig. Bereits im Januar hatte eine Abspaltung der AQM unter der Führung von Mokhtar Belmokhtar den schwersten Anschlag einer "al-Qaida"-nahen Gruppe im Maghreb verübt. Am 16. Januar drangen 32 Mujahidin in das Gelände einer Gasförderanlage im algerischen In Amenas ein, unweit der libyschen Grenze. Die Terroristen des Kommandos "Al-Muwaqi'un bil-Dam" ("Die mit Blut Unterzeichnenden") nahmen auf dem weitläufigen Areal mehr als 800 Personen als Geiseln, darunter über 100 ausländische Mitarbeiter mehrerer internationaler Konzerne. Der Angriff erfolgte als Reaktion auf den französischen Militäreinsatz in Mali, dessen unverzügliche Beendigung die Geiselnehmer forderten. Während der Militäraktionen gegen die Angreifer konnten bis zum 19. Januar hunderte Geiseln fliehen oder befreit werden. Algerisches Militär tötete die meisten Terroristen, drei sollen festgenommen worden sein. Dennoch starben 39 Ausländer aus neun Staaten, darunter allein 50 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 sechs Briten und drei US-Bürger. Berichte von Überlebenden verdeutlichen, dass die Mujahidin gezielt nach westlichen nicht-muslimischen Personen suchten und einheimisches Personal verschonten. Die ausländischen Opfer waren teilweise hingerichtet worden. Zur Strategie der AQM gehören Bündnisse und begrenzte Kooperationen mit anderen Terrororganisationen und regionalen Kleingruppen in Westafrika. Mehrere Anschläge des Netzwerkes, die deutlich über den Maghreb als Kernraum des Terrornetzwerkes hinausgehen und zahlreiche Opfer unter Militärs und Zivilisten forderten, tragen erheblich zur Destabilisierung der Region bei. Zahlreiche Geiselnahmen insbesondere westlicher Ausländer, fester Bestandteil der Terroraktivitäten nicht nur der AQM, belegen auch die Bedrohungslage für ausländische Interessen im westlichen Sahelraum. 1.4.4 Jihadistische Internetpropaganda trägt zur Gefährdung bei Die Bundesrepublik bleibt weiterhin regelmäßig Gegenstand jihadistischer Internetpropaganda. Die Zahl der Thematisierungen Deutschlands in der Propaganda terroristischer Organisationen und Netzwerke hat insgesamt eher abgenommen. Dennoch existiert auf Videoplattformen und in sozialen Netzwerken und Foren ein breites Spektrum an Propaganda in deutscher Sprache und mit DeutschlandBezug. Auffällig ist der hohe Anteil an Propagandabotschaften, die zu einer Teilnahme am Jihad aufrufen und mit ihrer radikalisierenden Wirkung auf Islamisten in Deutschland zur Gefährdung beitragen. Die stark angestiegene Zahl an Islamisten, die in Richtung Syrien ausgereist sind, um sich mutmaßlich dem Kampf gegen das Assad-Regime anzuschließen, kann als Hinweis darauf gewertet werden, dass die jihadistische "Ausreisepropaganda" die gewünschte Wirkung entfaltet. Botschaften von Aiman al-Zawahiri Die Botschaften des "al-Qaida"-Führers Aiman al-Zawahiri haben 2013 ein breites Themenspektrum abgedeckt, wie z. B. den 65. Jahrestag der Staatgründung Israels, den 46. Jahrestag des Sechs-Tage-Krieges und die Ereignisse um die Absetzung des Präsidenten der Muslimbruderschaft, Muhammad Mursi, in Ägypten. Dabei bemüht sich die Propaganda von al-Zawahiri unverändert, zwei Ziele gleichermaßen zu bedienen: zum einen, den "Arabischen Frühling" als Erfolg der "al-Qaida" umzudeuten und zum anderen, die ideologische Führerschaft innerhalb des Netz- Islamismus 51 werkes und seiner Zweige zu behalten. Direkte Drohungen gegen Deutschland hat al-Zawahiri nicht ausgesprochen, als Teil der "westlichen" Staatengemeinschaft 1 gehört Deutschland aus der Sicht der "al-Qaida" jedoch unverändert zu den Ländern, denen ein "Kampf gegen die Muslime" unterstellt wird und gegen die Terroranschläge legitim sind. Von Interesse ist besonders eine mehrseitige programmatische Schrift von al-Zawahiri, die Mitte September sowohl auf Arabisch als auch in englischer Übersetzung erschienen ist. Unter dem Titel "Allgemeine Richtlinien für den Jihad" betont sie zunächst, dass im Zentrum des Jihad das Streben stehe, die USA als Führungsnation des "internationalen Unglaubens" weiterhin militärisch wie finanziell zu schwächen, bis deren Ressourcen erschöpft seien und sie sich zum eigenen Schutz zurückzögen. Da also die Mujahidin die Last des Kampfes gegen die "Kreuzzügler" trügen, komme es jedoch mit Blick auf den Jihad in muslimischen Ländern auf zweierlei an: Erstens, den Jihad dort in einer Weise zu legitimieren, die die Zustimmung der einheimischen Zivilbevölkerung finden könne und daher stets zu betonen, dass man sich nur gegen Angreifer verteidige. Und zweitens, den Kampf so auszuführen, dass die einheimischen Muslime sich nicht scheuten, den Mujahidin sichere Rückzugsräume zu bieten. Hier setzen die "Richtlinien für den Jihad" an. Angriffe auf religiöse Minderheiten in muslimischen Ländern wie Christen, Hindus und Sikhs hätten zu unterbleiben; werde man von diesen angegriffen, habe die Antwort verhältnismäßig zu sein und dürfe nur die Angreifer treffen. Opfer unter Zivilisten, vor allem unter Muslimen, seien zu vermeiden, was Angriffe auf Märkte, Moscheen und andere öffentliche Orte verbiete. Al-Zawahiri empfiehlt sogar, Konflikte mit lokalen Autoritäten nach Möglichkeit zu befrieden, solange die Mujahidin nicht an ihrem Kampf gehindert werden. Mit der Schrift scheint alZawahiri besonders auf die Lage im Irak und in Syrien Bezug zu nehmen, wo die Konflikte sowohl mit christlichen Glaubensrichtungen als auch zwischen muslimischen Strömungen (Sunniten, Schiiten, Alawiten, etc.) stark zugenommen haben. "Inspire" lobt Anschlag in Boston als Erfolg des "individuellen Jihad" Bis zur Jahresmitte erschienen in jihadistischen Internetforen die Ausgaben zehn und elf des Jihad-Magazins "Inspire"23. Damit muss die Zukunft der Propagandaschrift trotz des Todes führender Redakteure in 2011 und erkennbarer Schwächen in den Ausgaben des Vorjahres noch als gesichert gelten. Die zehnte Aus23 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 31-34 und Verfassungsschutzbericht 2012. Berlin 2013, S. 26 f. 52 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 gabe von Anfang März nimmt zum Inspire Eingreifen des französischen Militärs Die Propagandaschrift "Inspire" im Mali-Konflikt Stellung und bezeich(deutsch: "Erwecke [die Gläubigen]"), net ihn als einen Kreuzzug, der die kodie seit Sommer 2010 in zwölf Ausloniale Tradition Frankreichs fortsetgaben erschienen ist, ist das aktuell ze, obgleich der Algerienkrieg dem einflussreichste jihadistische InterLand eine Lehre hätte sein müssen. netmagazin in englischer Sprache. Hervorzuheben ist der gezielte Aufruf Herausgegeben wird "Inspire" von zur Tötung oder Gefangennahme von der Medienstelle "al-Malahim", die westlichen Staatsbürgern, denen eine zur "al-Qaida auf der Arabischen vermeintliche Beleidigung des ProHalbinsel" im Jemen zählt. Mit etwa pheten Mohammad oder des Islam 60 Seiten Umfang und einer profesvorgeworfen werden. Damit hätten sie sionellen Aufmachung richtet es sich "Verbrechen gegen den Islam" began- - im Internet frei verfügbar - insbegen. Unter dem Titel "Ja wir können sondere an radikalisierte Muslime in - eine Kugel am Tag hält den Ungläuwestlichen Ländern. Zu den Besonbigen fern" werden insgesamt elf Perderheiten von "Inspire" zählt die Rusonen genannt, darunter der niederbrik "Open Source Jihad" (deutsch: ländische Politiker Geert Wilders, der "Jihad frei verfügbar"), die detaillierindisch-britische Schriftsteller Salman te Anleitungen für Anschläge enthält. Rushdie und der dänische Karikaturist Mehrere Terrorangriffe weltweit beKurt Westergaard. Derartige Aufruruhten auf diesen Anleitungen. fe belegen die abstrakt hohe GefährGründer von "Inspire" war der in den dung, die für diesen Personenkreis USA geborene Anwar al-Aulaqi, ein teils seit Jahren besteht. Geistlicher jemenitischer Abstammung, der 2004 in den Jemen zurückDie elfte Ausgabe erschien Anfang kehrte. Die Herausgeber Al-Aulaqi Juni als Sonderausgabe mit 40 Seiten. und Samir Khan wurden im SeptemSie thematisiert vorrangig den Anber 2011 durch eine US-Drohne im schlag auf den Boston-Marathon der Jemen getötet. "Chefredakteur" ist Brüder Tsarnajew und preist ihn als seither Yahya Ibrahim. großen Erfolg einer Strategie des "inDer Besitz von "Inspire"-Dokumendividuellen Jihad". Die Tat sei lediglich ten ist in Deutschland nicht strafeine "Reflexion der blutigen Taten", bar, die Lektüre kann jedoch ein die von den USA und ihren Verbündedeutlicher Hinweis für eine jihadisten ausgingen. Man werde die Bürger tische Radikalisierung sein. In Engder USA nicht in Frieden leben lassen, Islamismus 53 bis Palästina befriedet sei und sich die land dagegen führte der Besitz von 1 "Streitkräfte der Ungläubigen" von "Inspire"-Dokumenten bereits zu der Arabischen Halbinsel und allen anVerurteilungen. deren muslimischen Ländern zurückgezogen hätten. Die unverminderte Bedeutung älterer Ausgaben von "Inspire" als Handreichung für terroristische Taten belegt neben dem Anschlag auf den Marathon in Boston24 ein Strafverfahren in Deutschland. Bereits im Februar 2011 hatte der 26-jährige Deutsch-Afghane Keramat G. bei dem Versuch, in seiner Frankfurter Wohnung Sprengstoff herzustellen, versehentlich eine Explosion herbeigeführt, die ihn schwer verletzte. Erst im Prozess wurde offenkundig, dass er nach einer Anleitung aus "Inspire" vorgegangen war, nachdem er sich radikalisiert hatte. Wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat und der Explosion wurde er vom Landgericht Frankfurt a.M. am 27. Februar zu drei Jahren Haft verurteilt. Ein Revisionsverfahren gegen das Urteil ist vor dem Bundesgerichtshof anhängig. "Azan" - neues Internetmagazin im Stil von "Inspire" Im Bereich jihadistischer Internet-Magazine fällt eine englischsprachige Neuerscheinung mit dem Titel "Azan" (deutsch: "Gebetsruf") auf, von dem 2013 vier Ausgaben mit einem Umfang von je ca. 80 Seiten erschienen sind. Das Magazin lehnt sich in Stil und Inhalt an "Inspire" an und wird mutmaßlich von Jihad-Propagandisten in Afghanistan und Pakistan verantwortet. Wie schon bei "Inspire" finden sich unter den Autoren die führenden Köpfe des globalen Jihad. Mit Beiträgen von Propagandisten aus den Kernräumen der Taliban sollen darüberhinaus auch die Muslime in Mittelasien von "Azan" stärker angesprochen werden. So wendet sich die dritte Ausgabe bereits im Titel an Muslime in Indien und fordert die Jugend auf, sich zu den Plätzen des Jihad zu begeben oder das "System der Ungläubigen" in Indien zu bekämpfen. Die Titelgeschichte "An die Jihadisten im Westen" der vierten Ausgabe vom Herbst wendet sich explizit an radikalisierte Muslime in westlichen Staaten und 24 Vgl. S. 43. 54 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 fordert sie auf, ihre Aufenthaltsländer zu verlassen und sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen. Der Autor gibt an, selbst im "Westen" aufgewachsen zu sein und führt aus, dass der Islam angegriffen werde, was den bewaffneten Jihad zu einer individuellen Pflicht mache. Auf zehn Seiten handelt er vermeintlich systematisch alle Einwände ab, die diesem Entschluss entgegenstehen könnten. So sei eine Zustimmung der Eltern nicht erforderlich, Rücksichtnahmen gegenüber der Ehefrau und den Kindern unbegründet und andere Ängste und Bedenken wegen des Studiums oder der Missionsarbeit nur vorgeschoben. Der Autor betont aber den herausragenden Wert eines Anschlags im Aufenthaltsland des Jihadisten: "Der größte Beitrag, den du für den Jihad erbringen kannst, ist die Ausführung eines Angriffs im Westen. Der den Ungläubigen (kuffar) zugefügte Schaden ist im Vergleich weit größer, wenn ein Angriff gegen sie auf ihrem eigenen Boden ausgeführt wird, als wenn Truppen [weit] draußen angegriffen werden. Es gehört zu unseren Zielen, ihnen ein Gefühl der Unsicherheit in ihren eigenen Ländern beizubringen, ihre Wirtschaft zu schädigen, ihrem Kampfgeist zuzusetzen und sie vor Aggression gegen die Gemeinschaft (Umma) des Islam abzuschrecken."25 Zur Kontaktaufnahme verweist "Azan" auf die Vorgehensweise von "Inspire" und die dortige Handreichung zum Umgang mit Verschlüsselungssoftware. Direkte Drohungen gegen Deutschland wie auch praktische Anleitungen für terroristische Handlungen sind in "Azan" bislang nicht enthalten. Dennoch kann auch "Azan" Radikalisierungsprozesse fördern und im "Homegrown-Terrorismus" von Einzeltätern und Kleinstzellen münden. Deutschsprachige Propaganda der "Islamischen Bewegung Usbekistan" In der Propaganda jihadistischer Organisationen mit Bezügen nach Deutschland hat die "Islamische Bewegung Usbekistan" (IBU) wie schon in den Vorjahren die größte Zahl an Botschaften vorrangig an Muslime in Deutschland wie auch allgemein an deutschsprachige Muslime weltweit gerichtet. Verantwortlich für derartige Inhalte sind unverändert die Brüder Yassin und Mounir C., die seit 2009 25 Vgl. "Azan", Nr. 4 (Herbst 2013), S. 26 f., Online-Text, aus dem Englischen. Islamismus 55 propagandistisch für die IBU tätig sind. In ihren mindestens sieben Botschaften 2013 dominiert ein Topos, der variantenreich die stets gleiche Botschaft vermit- 1 teln soll: Die Muslime in Deutschland mögen sich vom "Unglauben" freimachen und ihre Pflicht erkennen, dass sie nur als Jihadisten "wahrhaft Gläubige" sein könnten und der "Märtyrertod" ein solches Leben vervollkommnen würde. Im April wurde ein Video bekannt mit dem Titel "Der König von Setterich", in dem Leben und Tod eines aus Deutschland ausgereisten Jihadisten glorifiziert werden. Zu Beginn wendet sich Yassin C. "an die islamische Umma (Gemeinde) und speziell die in Deutschland". Benannt ist das Video nach einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen, in der der Marokkaner Ahmed B. bis zu seiner Ausreise gelebt haben soll. Im Oktober 2012 wurde er mutmaßlich bei einem Drohnenangriff in Nord-Waziristan getötet. Im Video wird sein Leben als tugendhaft beschrieben, militärisch habe er sich auf Minenoperationen gegen Armeeangehörige spezialisiert und dabei Erfolge errungen. Beendet wird das Video mit der Einblendung einer Drohung: "Jihad in Deutschland! Nur noch eine Frage der Zeit !". Das gleiche Ziel, zur Teilnahme am Jihad aufzurufen, verfolgt ein zweites "Märtyrervideo", das den Titel "Der Löwe mit der steinharten Aqida (Glaubensfundament)" hat. Es bezieht sich auf Leben und Tod von Samir H. mit Kampfnamen "Abu Laith", einstmals aus Aachen, der 2004 nach Saudi-Arabien ausgewandert war und sich 2009 über Deutschland nach Waziristan begeben haben soll. Mounir C. führt aus, "Abu Laith" habe an vielen Kämpfen teilgenommen, sei verwundet worden und starb schließlich im März 2012 durch den Angriff einer Drohne. Auf der Suche nach Beispielen für einen nicht "wahrhaftigen" Lebenswandel, den es durch den Jihad zu vervollkommnen gelte, schrecken die Brüder auch nicht vor einem Appell an die eigene Familie zurück. Im November erschien ein Video mit dem Titel "Bruderherz, besinn dich I", in dem sich Yassin C. an seinen älteren Bruder wendet, der in Deutschland lebt, und ihn auffordert, es ihm gleichzutun. Wenig später erschien die Fortsetzung unter dem Titel "Bruderherz besinn dich II" - Die Geschichte von Mus'ab ibn Umair, die auf einen Anhänger des Propheten Muhammad aus der Frühzeit Bezug nimmt. Dieser stammte aus einer wohlhabenden Familie, schloss sich als junger Mann dem Propheten an und fand in einer Schlacht den Tod. Sein "Tausch" eines materiell sorgenfreien Lebens im Unglauben gegen ein entbehrungsreiches als Muslim wird propagandistisch überhöht, um Muslime in Deutschland emotional anzusprechen. 56 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 1.4.5 Verurteilungen und Strafverfahren Die Gefährdung durch den transnationalen islamistischen Terrorismus wurde 2013 auch in mehreren Gerichtsverfahren deutlich, in denen Personen im gesamten Bundesgebiet wegen Mitgliedschaft in oder Unterstützung von terroristischen Vereinigungen verurteilt wurden. Am 8. November wurde der 36 Jahre alte Ghaleb A. vom Kammergericht Berlin wegen Werbens für Mitglieder und Unterstützer der terroristischen Vereinigung im Ausland "al-Qaida" zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt.26 Dem gebürtigen Libanesen wurde nachgewiesen, dass er das transnationale Terrornetzwerk "al-Qaida" 2009 durch die Herstellung, Bearbeitung und Veröffentlichung von insgesamt vier Videofilmen unterstützt hatte, in denen für die Terroraktivitäten der Organisation geworben wurde. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Am 23. Januar 2014 verurteilte das Oberlandesgericht Frankfurt a. M. Emrah E.27 wegen Mitgliedschaft in den ausländischen Terrororganisationen "al-Qaida" und der somalischen "al-Shabab"28 sowie weiterer Straftaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren. Der heute 25-jährige Wuppertaler war im April 2010 in das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet ausgereist und hatte sich dort der "al-Qaida" angeschlossen, die ihn an Waffen ausbildete. Er war für "alQaida" als Logistiker und Jihad-Werber aktiv, hatte aber auch an einem Kampfeinsatz teilgenommen, bei dem pakistanische Soldaten getötet wurden. Anfang 2011 begab sich Emrah E. nach Somalia, wurde Mitglied der "al-Shabab" und hatte Zugang zur Führung der Organisation, für die er auch als Kontaktmann für deutsche "Rekruten" fungierte. Er war im Juni 2012 in Tansania verhaftet und nach Deutschland abgeschoben worden. Das Urteil gegen Emrah E. ist noch nicht rechtskräftig. 26 Pressemitteilung des Kammergerichts Berlin: Nr. 47/13 vom 8. November 2013 zum Urteil AZ.: (1) 152 OJs 2/12 (2/13). 27 Emrah E. hatte sich im November 2010 telefonisch an das Bundeskriminalamt gewandt und fälschlich berichtet, dass Anschläge der "al-Qaida" im Bundesgebiet unmittelbar bevorstünden. Diese Vorspiegelungen waren seinerzeit Grundlage für die Terrorwarnungen des Bundesinnenministers. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 25. 28 Pressemitteilung der Bundesanwaltschaft Nr. 2/2013 vom 21.1.2013 und Pressemitteilungen des Oberlandesgerichts Frankfurt a. M. vom 3.6.2013 und 23.1.2014 zum Urteil AZ 5-2 StE 2/13-8-1/13; vgl. auch Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 25. Islamismus 57 Gruppen und Einzelpersonen - von "al-Qaida-Ideologie inspiriert" 1 Neben festen Regionalzweigen der "al-Qaida" gibt es Gruppen und Einzelpersonen, die nicht organisatorisch an sie gebunden sind, aber als von "alQaida"-Ideologie "inspiriert" gelten. Zu diesen terroristischen Netzwerken zählt die 1997 gegründete "Islamische Bewegung Usbekistan" (IBU), die ursprünglich eine regionale Agenda verfolgte, die auf einen Sturz des usbekischen Präsidenten Karimov zielte. Seit 2000 agiert sie internationaler. Die IBU operiert hauptsächlich im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet. In der Bundesrepublik ist sie bislang vor allem durch Veröffentlichungen deutscher Videos der Bonner Brüder Mounir und Yassin C. bekannt geworden. Weiterhin dazu zählt die 2002 gegründete "Islamische Jihad-Union" (IJU), eine Abspaltung der IBU, deren Führung Kontakte zu "al-Qaida" unterhält. Ihre Mitglieder behaupten, der "Westen" führe einen "Krieg gegen den Islam und die Muslime". Die IJU verfolgte zunächst ihre Ziele in Usbekistan, weitete aber seit 2005 ihren Radius zu einer transnationalen Agenda aus, die auch Anhänger in Europa anzog. Die 2007 enttarnte "Sauerland-Gruppe" plante ihre Anschläge im Auftrag der IJU. Im Herbst 2009 spaltete sich von der IJU eine Gruppe deutschsprachiger Muslime ab, die sich "Deutsche Taliban Mujahidin" (DTM) nannte. Seit dem Frühjahr 2010 existieren die DTM nicht mehr. Als ein ideologisch von "al-Qaida inspirierter" Einzeltäter gilt der Nigerianer Umar Farouk A., der im Dezember 2009 versuchte, in Detroit einen Anschlag auf ein US-Flugzeug zu verüben. Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte am 24. März 2014 Josef D. wegen Mitgliedschaft in der ausländischen Terrorvereinigung "Deutsche Taliban Mujahidin" (DTM) zu zweieinhalb Jahren Haft.29 Der 31 Jahre alte Deutsche war bereits Mitte 2009 in das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet ausgereist und Anfang 2010 Mitglied der kurz zuvor gegründeten DTM30 geworden, um sich mit eigener Waffe am Jihad gegen "Ungläubige" und "ausländische Besatzer" zu beteiligen. Im April 2013 war Josef D. von Jordanien aus nach Deutschland zurückgekehrt; wenig später wurde er festgenommen. Im April 2010 waren die Führungsfiguren der DTM bei Kämpfen mit pakistanischen Sicherheitskräften getötet worden. 29 Pressemitteilung des Oberlandesgerichts Düsseldorf Nr. 28/2013 vom 26.11.2013 und Pressemitteilung der Generalbundesanwaltschaft Nr. 25/2013 vom 7.10.2013. 30 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 17 f. 58 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Die DTM löste sich kurz darauf auf. Die Identifizierung des Josef D. gelang durch Aussagen anderer verurteilter Mitglieder der DTM. Bereits im Januar waren der Deutsche Yusuf O. und der Österreicher Maqsood L. vom Kammergericht Berlin wegen Mitgliedschaft in der DTM zu neun bzw. sechs Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden.31 Der Bundesgerichtshof hat das Urteil im Januar 2014 bestätigt.32 Bereits im Juli 2012 hat vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf das Verfahren gegen die vier Mitglieder der "Düsseldorfer Zelle" begonnen.33 Unter der Führung des 33-jährigen Marokkaners Abdeladim El-K. wurde das Quartett der Mitgliedschaft im Terrornetzwerk "al-Qaida" angeklagt. El-K. soll 2010 in einem Trainingslager der "al-Qaida" in Waziristan den Bau von Bomben und Techniken zur Verschlüsselung der Internetkommunikation erlernt haben. Im Auftrag des inzwischen inhaftierten "Außenministers" der "al-Qaida", Scheich Younis alMauretani, kehrte er nach Deutschland zurück und rekrutierte die drei weiteren Mitglieder der Zelle. Diese bemühten sich Anfang 2011 um die Beschaffung von Grundstoffen zur Herstellung von Sprengstoff und sollen einen aufsehenerregenden Bombenanschlag geplant haben, dessen Zeit und Ort sie noch nicht ausgewählt hatten. Seit ihrer Festnahme am 29. April 2011 befinden sich die Angeklagten in Untersuchungshaft. Es handelt sich um das erste Strafverfahren, in dem die direkte Steuerung einer Terrorzelle, die Anschläge in Deutschland durchführen sollte, durch Angehörige des engsten Führungszirkels der Kern-"al-Qaida" nachgewiesen werden soll. Eine ganze Reihe von Prozessen betrafen Straftaten in Zusammenhang mit der "Islamischen Bewegung Usbekistan" (IBU). Von besonderer Bedeutung waren dabei zwei Verfahren, in denen gegen "Statthalter" der IBU in Deutschland verhandelt wurde und wird. Seit dem 16. April läuft vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf das Verfahren gegen den 28 Jahre alten Deutsch-Libyer Ahmed K., der sich bereits 2010 der IBU in Waziristan angeschlossen haben soll.34 Nach sechs Monaten Haft in Pakistan kehrte er nach Deutschland zurück und soll fortan als "Statthalter" der IBU fungiert haben, für die er Gelder beschafft, Kämpfer rekrutiert und an der Propagandaarbeit mitgewirkt haben soll. Ahmed K. wurde im April 2012 kurz vor seiner Ausreise nach Tunesien festgenommen. Er ist mit den maßgeblichen Propagandisten der IBU, den Brüdern Mounir und Yassin C., verschwägert. 31 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2012. Berlin 2013, S. 32. 32 Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 7.1.2014, Az. 3 StR 285/13. 33 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 22 ff. 34 Pressemitteilung der Bundesanwaltschaft Nr. 1/2013 vom 10.1.2013. Islamismus 59 Das Oberlandesgericht Frankfurt a. M. verurteilte am 21. November den 21-jährigen Mohammed Salim A. wegen Mitgliedschaft in der IBU zu einer Gesamtju- 1 gendstrafe von dreieinhalb Jahren.35 Er war von Anfang 2012 bis zu seiner Festnahme im September 2012 als "Statthalter" der IBU tätig, deren Medienarbeit er unterstützte. Er war zudem zur Betreuung von "Jihadwilligen" ermächtigt. Er ist mutmaßlich der erste Jihadist, der seinen "Treueeid" als "Statthalter" der IBU in Deutschland abgelegt hatte, ohne einen Aufenthalt in Waziristan zu absolvieren. 1.5 Salafistische Bestrebungen In Deutschland ist eine salafistische Szene entstanden, die aus zahlreichen Netzwerken besteht und breite Aktivitäten entfaltet. Hierbei spielen auch Konvertiten eine zentrale Rolle. Alle salafistischen Aktivitäten eint der Versuch - gerade in der Öffentlichkeit - salafistische Positionen als vermeintlich islamisches Allgemeingut darzustellen und sich so einen Alleinvertretungsanspruch zu sichern. Salafismus Mitglieder: Berlin: 500 (2012: 400) Bund: 5 500 (2012: 4 500) Der Begriff Salafismus bezeichnet eine Bewegung, die aus unterschiedlichen Strömungen besteht und auf dem Gedankengut eines wahhabitischem Gelehrten des 18. Jahrhunderts im heutigen Saudi-Arabien basiert. Im islamistischen Spektrum dieser Bewegung sind zwei Strömungen zu unterscheiden: der "politische Salafismus" und der "jihadistische Salafismus". Beide Strömungen bedienen sich religiöser Begriffe für ihre politische Agenda. Sie fordern eine Gesellschaft, die sich vermeintlich ausschließlich an den Prinzipien des Koran sowie am Vorbild des Propheten Muhammad und den so genannten "rechtschaffenen Altvorderen" (Arab.: al-salaf al-salih) orientiert. Wegen der Umdeutung religiöser Normen zu verbindlichen politischen Handlungsweisen und dem Versuch, sie durchzusetzen, gilt der Salafismus als besonders rigide Ausformung innerhalb des Islamismus. Die Absolutsetzung frühislamischer Herrschaftsund Rechtsformen hat zur Folge, dass jedes Abweichen von dieser Norm, die als "wahrer Islam" propagiert wird, als verbotene Verfälschung bzw. "Neuerung" (Arab.: bid'a) abgelehnt wird. 35 Pressemitteilung des Oberlandesgerichts Frankfurt a. M. vom 21.11.2013 zum Urteil Az. 5-2 StE 4/133-2/13. 60 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Ziel von politischen und jihadistischen Salafisten ist die vollständige Umgestaltung von Staat, Rechtsordnung und Gesellschaft nach einem salafistischen Regelwerk, das als "gottgewollt" angesehen wird. Teil dieses "Regelwerks" ist die geforderte Vorrangstellung des religiösen Gesetzes (Scharia) gegenüber der weltlichen Gesetzgebung. Ihre Anhänger verfolgen damit eine politische Ideologie, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und den Bestand unseres Staatswesens gerichtet ist. Dabei unterscheiden sich politischer und jihadistischer Salafismus prinzipiell in der Wahl ihrer Mittel: Der politische Salafismus agiert mit intensiver Propagandatätigkeit zur Verbreitung seiner Ideologie, die er als "Da'wa" (Missionierung) bezeichnet. Der jihadistische Salafismus setzt hingegen auf eine Strategie der Gewaltanwendung. Die Übergänge zwischen beiden Strömungen sind fließend. Zu den Aktivitäten zählt die Verteilung von Broschüren und Flugblättern an bundesweit organisierten "Islam-Infoständen". Inhaltlich dominieren dabei Vorträge salafistischer "Prediger" und Übersetzungen von Schriften salafistischer Gelehrter ins Deutsche. Hinzu treten weitgespannte Internetaktivitäten mit einem steigenden Angebot an salafistischen Inhalten in deutscher und türkischer Sprache. Viele Videos zeigen entweder Vorträge salafistischer "Prediger" oder junge NichtMuslime beim Übertritt zum Islam. Hinzu kommen angebotene regelmäßige "Islamunterrichte" und Foren zu Fragen einer salafistischen Lebensweise. Von besonderer Bedeutung für die Verbreitung des Salafismus sind bundesweit aktive so genannte "Prediger" - unter ihnen auch Vertreter aus Berlin - die in teils mehrtägigen "Islamseminaren" salafistische Ideologie vermitteln. Diese Veranstaltungen dienen auch der Vernetzung der Salafisten untereinander und der Werbung neuer Anhänger. 1.5.1 Gefährdung durch Anschlagsplanungen Im März gelang es den Sicherheitsbehörden in Nordrhein-Westfalen, Anschlagspläne gegen den Vorsitzenden der islamfeindlichen "Bürgerbewegung Pro NRW" ("Pro NRW")36 zu vereiteln. Unweit der Privatwohnung des Politikers in Leverkusen wurden der Konvertit Marco G. und Enea B., 26 und 43 Jahre alt, festgenommen. In Essen wurde Tayfun S., 23 Jahre, und in der Bonner Wohnung des Marco 36 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2012. Berlin 2013, S. 35-39. Islamismus 61 G. der 24 Jahre alte Koray D. gestellt, der eine Pistole bei sich trug. Bei nachfolgenden Durchsuchungen wurden weitere Waffen und sprengfähige Materialien 1 sichergestellt. Die Splitterpartei "Pro NRW" und ihre Führungspersonen waren zum Ziel gewaltbereiter Islamisten geworden, weil sie bei Veranstaltungen die Mohammed-Karikaturen öffentlich gezeigt hatten. Dafür wurde die Partei im Internet und in Propagandabotschaften mit Mordaufrufen angegriffen. Im Zuge weiterer Ermittlungen verdichteten sich die Hinweise, dass Marco G. maßgeblich auch am versuchten Bombenanschlag auf den Bonner Hauptbahnhof beteiligt war. Dort war bereits am 10. Dezember 2012 auf einem Bahnsteig eine Reisetasche mit einem zündfähigen Sprengsatz entschärft worden, ohne dass zunächst ein jihadistischer Tathintergrund erkennbar wurde. Die Generalbundesanwaltschaft hat am 12. März 2014 vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf Anklage erhoben. Marco G. wird versuchter Mord und die Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion vorgeworfen. Alle vier Mitglieder der Gruppe sind angeklagt, eine terroristische Vereinigung gebildet und Straftaten gegen Mitglieder der Partei "Pro NRW" geplant zu haben. 1.5.2 Der Syrien-Konflikt als beherrschendes Thema von Salafisten Der Syrien-Konflikt ist bundesweit in der salafistischen und jihadistischen Szene das beherrschende Thema des Berichtsjahres. Er bestimmt in weiten Teilen die Aktivitäten dieser Szene und hat mutmaßlich zu einem deutlichen Anstieg des salafistischen Personenpotenzials beigetragen. Dabei haben das Leid der syrischen Zivilbevölkerung, die Berichterstattung darüber, auch in sozialen Netzwerken, sowie persönliche Kontakte von Salafisten in das Bürgerkriegsland zu einer Emotionalisierung der Szene geführt. In Einzelfällen hat diese Emotionalisierung zu kurzen Radikalisierungsverläufen beigetragen, die auch jihadistisch motivierte Ausreisen in Richtung Syrien nach sich zogen. Spendensammlung von Salafisten in Berlin: humanitäre Hilfe für Syrien Am 13. Januar fand in Berlin eine von bundesweit zahlreichen Solidaritätsveranstaltungen für "notleidende Muslime in Syrien" statt. Die "Benefizveranstaltung für Syrien" wurde nach einer kurzfristigen Raumverlegung mit mehreren Hundert Teilnehmern in Neukölln durchgeführt. Als Redner waren mehrere bekannte 62 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 salafistische Prediger aus dem Bundesgebiet angereist, darunter als Eröffnungsredner Ibrahim Abou-Nagie aus Nordrhein-Westfalen, der die Kampagne "Lies !" initiiert hatte. Bei den Spendensammlungen durch Radikalisierung Multiplikatoren salafistischer IdeoloMehrere Kernelemente salafistischer gie besteht grundsätzlich die SchwieIdeologie sind in besonderer Weise rigkeit, die humanitäre Zielsetzung geeignet, Radikalisierungsprozesvon Spendensammlungen für eine im se zu fördern. Zum einen stilisiert Krieg notleidende Zivilbevölkerung der Salafismus einen "Opfer-Myabzugrenzen von extremistischen thos" der Muslime gegenüber "dem und terroristischen Bestrebungen, die Westen" und propagiert zum andeauf eine Unterstützung gewaltbereiren eine Höherwertigkeit seiner Anter Gruppen und Netzwerke gerichtet hänger gegenüber Andersdenkensind. Im März verbot der Bundesinden. Hinzu tritt die Forderung, der nenminister den Spendensammelver"wahrhaft Gläubige" solle sich im ein "An-Nussrah" aus Gladbeck (NordAlltag von der Lebensweise der "Unrhein-Westfalen). Dieser begann ein gläubigen" (kuffar) trennen und es Jahr zuvor als Internetprojekt, um ablehnen, von ihnen in weltlichen hilfsbedürftige Muslime in Syrien zu und religiösen Fragen beeinflusst zu unterstützen und hatte dafür auch werden. Die ideologische Beeinflusmit emotionalen Videobotschaften sung durch salafistische "Prediger" salafistischer Prediger im Internet geoder entsprechende Internetinhalte worben. Es stellte sich heraus, dass haben häufig eine radikalisierende die Betreiber des Projekts teilweise Wirkung auf junge Konvertiten und mit Aktivisten des im Juni 2012 vernicht-praktizierende Muslime, die botenen Netzwerks "Millatu Ibrahim" die extremistische Ausrichtung dieser in Solingen identisch waren und die Ideologie meist nicht erkennen könOrganisation "An-Nussrah" als deren nen. Fast alle Jihadisten mit Bezug zu Teilund Folgeorganisation ebenfalls Deutschland sind von salafistischer zu verbieten war. Die Organisation Ideologie geprägt und radikalisiert soll zudem Spendengelder für islamisworden. tische Gruppen in Syrien gesammelt haben. Islamismus 63 1.5.3 Salafistische Propaganda in Berlin 1 Salafistischer Prediger aus Saudi-Arabien in Berlin In der "Al-Nur-Moschee" trat am 2. Januar der saudi-arabische Gelehrte Salafistische Strukturen in Berlin Muhammad al-Arifi auf, der dort vor In Berlin sind Salafisten vor allem in hunderten Zuhörern über den Konder "As-Sahaba-Moschee" im Wedflikt in Syrien gepredigt haben soll. ding und der "Al-Nur-Moschee" in Zuvor hatte er weitere Moscheen im Neukölln aktiv, die auch von nichtBundesgebiet besucht. Al-Arifi zählt salafistischen Muslimen besucht auch wegen seiner Internetpräsenz wird. In beiden Moscheen gibt es auf Videoplattformen und in soziadeutschsprachige salafistische "Prelen Netzwerken zu den bekannteren diger", die "Islam-Unterrichte" absalafistischen Predigern jüngeren Alhalten, auch bundesweit durch Vorters, die regelmäßig Auslandsreisen tragsreisen bekannt sind und eigene unternehmen. Mit antisemitischen, Websites unterhalten. Auch die meishomophoben und frauenfeindlichen ten der in Berlin abgehaltenen "IsStandpunkten ist al-Arifi wiederholt lamseminare" fanden mit Beteiliaufgefallen. Erst Mitte Dezember gung salafistischer "Prediger" aus 2012 hatte die Schweiz ein Einreisedem Bundesgebiet in diesen Moscheverbot gegen ihn verhängt, da von en statt. Teilweise nahmen daran ihm "Gefahren für die öffentliche Sihunderte Besucher teil. cherheit und Ordnung" ausgingen. In Berlin werden zahlreiche salafisKurz zuvor hatte er in einem Fernsehtische Publikationen hergestellt und interview für al-Jazeera behauptet, veröffentlicht. Neben dem "As-Sundass über Mitglieder von "al-Qaida" na-Verlag", der Medien salafistischer vielfach falsch berichtet werde, auch Autoren über einen Online-Shop über deren Gründer Usama Bin Ladin. anbietet, wurden zwei weitere Unternehmen in Berlin gegründet, die Fortgang der Koranverteilung "Lies !" salafistische Werke verbreiten. Seit Die im März 2012 begonnene KamAnfang 2010 besteht die Firma "Stipagne "Lies! Im Namen deines Herrn, lus Design GmbH", die auch einen der dich erschaffen hat" ("Lies!"), bei gleichnamigen Buchladen im Wedder kostenlose Koranexemplare an ding eröffnet hat. Im Juni 2010 wurde Info-Ständen in der Öffentlichkeit verein weiterer Online-Verlag unter dem teilt werden, wurde auch 2013 fortgeNamen "Islamische Schriften Verlag" setzt. Initiiert hatte die Verteilung das gegründet. 64 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 salafistische Netzwerk "Die Wahre Religion" (DWR) aus Nordrhein-Westfalen im Oktober 2011. In Berlin findet die Koranverteilung weiterhin in unregelmäßigen Abständen an zwei genehmigten Info-Ständen im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf statt. Dabei sind wiederholt Personen als Verteiler aufgetreten, die der salafistischen Szene zuzurechnen sind. Inzwischen gilt in einigen Fälle als sicher, dass Personen, die an den bundesweiten Verteilungen der Koranexemplare mitgewirkt haben, mit dem mutmaßlichen Ziel Syrien ausgereist sind. Es scheint naheliegend, dass die gleichen Personengeflechte, die diese Professionalisierung salafistischer Missionsarbeit mit dem Ziel organisiert haben, einer nichtmuslimischen Öffentlichkeit den Salafismus näherzubringen, im Einzelfall zu einer potenziell gewaltbereiten Radikalisierung beigetragen haben könnten. Projekt von Pierre Vogel - "Street Dawah" Mitte 2012 wurde von Pierre Vogel in Verbindung mit dem Netzwerk DWR eine mobile Form der Straßenpropaganda unter dem Titel "Street Dawah" (deutsch: "Straßenmissionierung") gestartet. Im Vordergrund steht dabei nicht die Verteilung von kostenlosen Exemplaren des Koran wie bei "Lies !", sondern die Verbreitung von Schriften Pierre Vogels und anderer Salafisten seines Netzwerks. Damit kennzeichnet "Street Dawah" das Bemühen, auch im öffentlichen Raum ein salafistisches Verständnis des Islam zu verbreiten, das von vielen Mitbürgern nicht als solches zu erkennen ist. Im April waren Aktivisten eines "Street Dawah Teams Berlin" auf Straßen und Plätzen in Neukölln unterwegs. Videomitschnitte dieser Aktionen zeigen vor allem junge Muslime, die sich mit der Verteilung ihrer Schriften vorrangig an Berliner wandten, die ihnen muslimischen Glaubens zu sein schienen. 1.5.4 "Tabligh-i Jama'at"/"Jama'at-i Tabligh" (TJ) Ideologisch dem Salafismus zuzurechnen ist auch die 1927 in Indien von Muhammad Ilyas (1885-1944) gegründete "Tabligh-i Jama'at" (TJ, "Gemeinschaft der Verkündigung und Mission"). Sie ist eine weltweit mehrere Millionen Anhänger umfassende Missionierungsbewegung. Ihr organisatorisches und geistiges Zentrum hat die TJ in Indien, Pakistan und Bangladesh, von wo aus die weltweiten Aktivitäten der TJ gesteuert werden. Die europäische Zentrale der TJ befindet sich in Großbritannien. In Deutschland sind mehrere TJ-Gruppen aktiv, darunter auch in Berlin. Islamismus 65 Politisches Ziel der TJ ist die "Durchsetzung der Scharia". Zu ihren Aktivitäten gehören Missionsreisen, auf denen Muslime von der Ideologie der TJ überzeugt und 1 als Mitglieder rekrutiert werden sollen. Erfolgreich Missionierten werden häufig mehrmonatige Schulungsveranstaltungen in pakistanischen Koranschulen vermittelt. Solche intensiven Schulungen sind geeignet, die Teilnehmer zu indoktrinieren und für jihad-salafistisches Gedankengut empfänglich zu machen. In Einzelfällen haben Schulungsteilnehmer anschließend den Weg in MujahidinAusbildungslager u. a. in Afghanistan gefunden. In Berlin gibt es auch aktuell punktuelle Bezüge von Personen aus dem jihad-salafistischen Spektrum zur TJ. Obwohl die Bewegung nach eigenem Bekunden Gewalt ablehnt und sich als unpolitisch darstellt, ist die Gefahr gegeben, dass sie aufgrund ihres Bestrebens nach Durchsetzung frühislamischer Rechtsverhältnisse sowie ihrer weltweiten Missionierungstätigkeit islamistische Radikalisierungsprozesse befördert. 1.6 Regional gewaltausübende und gewaltbefürwortende islamistische Gruppen Neben den in der Mehrzahl jihad-salafistisch geprägten transnationalen Terrornetzwerken und den "politischen Salafisten" gibt es regional gewaltausübende islamistische Organisationen und gewaltbefürwortende islamistische Gruppen. Regional gewaltausübende Organisationen agieren vor allem im Nahen Osten terroristisch. So steht für die libanesische "Hizb Allah" und die palästinensische HAMAS vor allem der bewaffnete Kampf gegen Israel im Vordergrund. Die Anhänger dieser Organisationen verhalten sich in Deutschland in der Regel zurückhaltend und gewaltfrei. Daneben existieren islamistische Gruppen, die Gewalt befürworten, selbst aber kaum gewaltausübend in Erscheinung treten. Hierzu zählen die Organisationen "Hizb ut-Tahrir" und "Kalifatsstaat", die in Deutschland 2003 bzw. 2001 verboten wurden. Das Personenpotenzial der regional gewaltausübenden islamistischen Gruppen ist gegenüber 2012 in Berlin leicht angestiegen. 66 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 1.6.1 "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS) HAMAS - "Bewegung des Islamischen Widerstands" Mitglieder: Berlin: 70 (2012: 50) Bund: 300 (2012: 300) Die HAMAS wurde 1987 zu Beginn der ersten Intifada gegründet. Ihre Wurzeln liegen in der palästinensischen Muslimbruderschaft, die in den 1980er Jahren ihre vorwiegend religiös-unpolitische Haltung aufgab, um sich fortan der Konfrontation mit Israel zu widmen. In ihrer Charta von 1988 verneint die HAMAS das Existenzrecht Israels und strebt die "Befreiung ganz Palästinas" durch bewaffneten Kampf sowie die Errichtung eines islamischen Staates an. Durch ihre Kritik an den Friedensverhandlungen der Autonomiebehörde mit Israel sowie durch den Aufbau eines effizienten Netzwerkes von sozialen, karitativen und Bildungseinrichtungen entwickelte sich die HAMAS zu einem bedeutenden politischen und gesellschaftlichen Faktor. Bei den Kommunalwahlen 2004 und 2005 verzeichnete die HAMAS deutliche Erfolge und siegte überraschend auch bei den Parlamentswahlen 2006. Besonders groß ist ihr Einfluss im Gaza-Streifen, wo sie seit Juni 2007 die alleinige Kontrolle ausübt. In Deutschland tritt die HAMAS nicht offen auf. Ihre Anhänger treffen sich in Moscheen und Islamischen Zentren. Als Berliner Treffpunkt von HAMASAnhängern gilt das "Islamische Kulturund Erziehungszentrum Berlin e. V." (IKEZ). Die politischen Umwälzungen der vergangenen drei Jahren in mehreren arabischen Staaten ("Arabischer Frühling") hatten auch gravierende Auswirkungen auf die HAMAS. Im Jahr 2012 erfuhr die Organisation durch die Machtübernahme der Muslimbruderschaft in Ägypten, der al-Nahda-Bewegung in Tunesien, sowie aufgrund von Unterstützung durch die Türkei und die Golfstaaten eine erhebliche Stärkung. Die Absetzung des ägyptischen Präsidenten Mursi am 3. Juli bedeutete jedoch für die HAMAS einen schweren Schlag. Die vom Militär installierte ägyptische Führung Islamismus 67 riegelte den Gazastreifen ab und beschuldigte die HAMAS, in Terroranschläge auf ägyptischem Boden involviert zu sein. 1 In Gaza wird die HAMAS zunehmend durch jihad-salafistische Gruppen herausgefordert, die ohne Rücksicht auf die Interessen der HAMAS-Regierung Angriffe gegen Israel durchführen. Auch durch die im August zwischen der Autonomieregierung im Westjordanland unter Mahmoud Abbas und Israel aufgenommenen Friedensverhandlungen geriet die Organisation in Zugzwang. So sprachen Vertreter der HAMAS Abbas das Recht ab, "auch nur einen Fußbreit Boden Palästinas" preiszugeben und bekräftigten, Palästina könne "allein durch Widerstand befreit" werden37. Die Positionierung im Syrien-Konflikt stellt für die HAMAS die wohl größte Herausforderung dar. Wie im vergangenen Jahr nahmen auch 2013 Aktivisten der HAMAS auf Seiten der Aufständischen an Kampfhandlungen teil. Dieses Engagement ist jedoch innerhalb der HAMAS heftig umstritten. Ein Teil der Führung möchte die guten Beziehungen zum syrischen Regime und dessen Verbündeten Iran und "Hizb Allah" aufrechterhalten. Andere Führer der HAMAS, unter ihnen der Vorsitzende des Politbüros Khaled Mash'al, befürworten eine Orientierung an Qatar, das die syrische Opposition unterstützt.38 1.6.2 "Hizb Allah" ("Partei Gottes") "Hizb Allah" ("Partei Gottes") Mitglieder: Berlin: 250 (2012: 250) Bund: 950 (2012: 950) Die schiitisch-islamistische "Hizb Allah" entstand 1982 als paramilitärische Bewegung, nachdem Israel in den libanesischen Bürgerkrieg (1976-1989) militärisch eingriff. Aus ideologischen, regionalpolitischen und konfessionellen Motiven wird sie von Iran und Syrien unterstützt. Als einzige ehemalige Bürgerkriegsmiliz im Libanon unterhält die "Hizb Allah" bewaffnete Einheiten unter dem Namen "Islamischer Widerstand" ("al-Muqawama al-islamiya")40. 37 Al-Hayat vom 14.8.2013. 38 Im Jahre 2004 forderte der UN-Sicherheitsrat mit Resolution 1559 die Entwaffnung der "Hizb Allah"; auch die Resolution 1701, die am 14.8.2006 den Waffenstillstand im Libanon einleitete, hält die Forderung nach einer Entwaffnung aufrecht. 68 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Mit der Zeit hat sich die "Hizb Allah" zu einem politischen Machtfaktor im Libanon entwickelt. Seit 1992 ist sie im libanesischen Parlament vertreten. Die Regierung des Libanon steht seit 2011 der "Hizb Allah" nahe. Seit ihrem Bestehen negiert die "Hizb Allah" das Existenzrecht Israels und propagiert den bewaffneten Kampf gegen Israel. Wegen antisemitischer Propaganda sowie gegen Israel gerichteter Aufrufe zu Hass und Gewalt wurde 2004 die Ausstrahlung des parteieigenen Senders "al-Manar" ("Der Leuchtturm") über den Satellitenanbieter Eutelsat unterbunden. 2008 erließ der Bundesminister des Innern darüber hinaus ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot gegen "al-Manar". Ein öffentlicher Empfang des Senders ist damit untersagt. Zuvor war "al-Manar" bereits in Frankreich und den USA verboten worden. Listung des militärischen Arms als terroristische Organisation in der EU Die "Hizb Allah" wird von den USA, Kanada und Israel jeweils auf der Liste terroristischer Organisationen geführt, während in Großbritannien und Australien bewaffnete Gliederungen als terroristisch eingestuft werden. Am 22. Juli beschlossen die Außenminister der Europäischen Union, den militärischen Arm der "Hizb Allah" in die EU-Terrorliste aufzunehmen. Verhalten in Deutschland Die Anhänger der "Hizb Allah" in Deutschland verhalten sich weitgehend - sei es auch nur aus taktischen Überlegungen heraus - unauffällig. Eine hervorgehobene Rolle spielt das "Waisenkinderprojekt Libanon e. V." (WKP) mit Sitz in Essen. Das WKP vermittelt innerhalb der "Hizb Allah"-Anhängerschaft Patenschaften für libanesische Waisenkinder. Das WKP kooperiert mit der "Al-Shahid Association" (Märtyrer-Stiftung) im Libanon, die zum sozialen Netzwerk der "Hizb Allah" gehört und vornehmlich Hinterbliebene von Kämpfern gegen Israel unterstützt. Auch in Berlin entfaltet das WKP zum Teil öffentliche Aktivitäten. Im April 2014 wurde das WKP durch das Bundesministerium des Innern (BMI) verboten. Zur Begründung des Verbots führt das BMI aus, dass der Verein WKP durch das Sammeln und Bereitstellen von Spendengeldern für die "Al-Shahid Association" zur Sicherung des Lebensunterhalts der Hinterbliebenen von gefallenen "Hizb Allah"Kämpfern beiträgt, unterstützt und zweckgerichtet den Kampf der "Hizb Allah" gegen Israel fördert und damit gegen den Gedanken der Völkerverständigung verstößt. Denn die Gewissheit, dass die Hinterbliebenen finanziell unterstützt werden, erhöhe die Bereitschaft junger Libanesen, sich am Kampf der "Hizb Allah" gegen Israel ak- Islamismus 69 tiv zu beteiligen. Auch trage die finanzielle Unterstützungsleistung des WKP zur Glorifizierung derjenigen bei, die im Kampf der "Hizb Allah" gegen Israel gefallen 1 seien. Dies wiederum wirke motivierend auf die "Hizb Allah"-Kämpfer bzw. auf diejenigen, die sich am Kampf gegen Israel beteiligen wollen. Obgleich Einheiten des bewaffneten Arms des "Hizb Allah" auf der Seite des AssadRegimes kämpfen39, hatte der Syrienkonflikt bislang keine wahrnehmbaren Auswirkungen auf das Verhalten und die Aktivitäten ihrer Anhänger in Berlin. 1.7 Legalistischer Islamismus Legalistische Islamisten zeichnen sich durch jegliche Ablehnung von Gewaltanwendung aus. Teilweise waren die hierzu zählenden Organisationen nie gewaltorientiert oder sie haben der Gewalt abgeschworen. Ersteres gilt für die türkische "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG), während die arabische "Muslimbruderschaft" (MB) seit den späten 1970er Jahren nicht mehr versucht, ihre Ziele mit gewaltsamen Mitteln zu erreichen. Insbesondere die deutschen Ableger der legalistischen Organisationen lehnen Gewaltanwendung ab. Legalistische islamistische Organisationen machen den weitaus größten Teil des islamistischen Personenpotenzials in Berlin und bundesweit aus. In Berlin ist die Zahl der Anhänger der MB leicht gestiegen. 1.7.1 "Muslimbruderschaft" (MB)/"Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) "Muslimbruderschaft" (MB) / "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD) Mitglieder: Berlin: 120 (2012: 100) Bund: 1 300 (2012: 1 300) Die 1928 in Ägypten von Hassan al-Banna gegründete "Muslimbruderschaft" (MB) ist die älteste arabische islamistische Gruppierung. Die pan-islamistische Organisation ist heute, teils unter anderen Namen, in fast allen Ländern des Vorderen Orients vertreten und unterhält auch Zweige in westeuropäischen Ländern. 39 Vgl. S. 36f. 70 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Die MB definiert den Islam als ein "System", das "zu jeder Zeit und an jedem Ort" anwendbar sein soll und das Koran und Sunna zur Richtschnur des politischen Handelns erhebt. Hieraus leitet die Organisation ihre Forderung nach einer umfassenden "Anwendung der Scharia" und nach Schaffung eines islamischen Staates ab. Ideologisch verkörpert die MB jedoch ein breites Spektrum, das bis zu der Forderung nach Schaffung eines "zivilen Staates mit islamischem Referenzrahmen" bzw. einer "islamischen Demokratie" reicht. Die mitgliederstärkste Organisation von MB-Anhängern in Deutschland ist die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD), die aus der 1960 in München von dem ägyptischen MB-Mitglied Said Ramadan gegründeten "Moscheebau-Kommission e. V." hervorging. Die IGD hat Verbindungen zu einer Reihe von Vereinen. In Berlin zählen hierzu das "Interkulturelle Zentrum für Dialog und Bildung e. V." (IZDB) und das "Islamische Kulturund Erziehungszentrum e. V." (IKEZ). Die nationalen Zweige der MB haben sehr verschiedene Entwicklungen durchlaufen. Die syrische MB konnte bereits Ende der 1940er Jahre Vertreter ins Parlament entsenden. Seit einem Aufstand in Hama 1982, den das Regime rücksichtslos niederschlug, ist die syrische MB eine Exilorganisation. Im Gegensatz dazu strebte die jordanische MB danach, ihre Ziele in Anlehnung an das Königshaus zu verwirklichen. Die ägyptische MB durchlief verschiedene Phasen: In ihrer Frühphase konzentrierte sie sich auf Bildung und Erziehung. Von den 1940er bis zu den 1960er Jahren agierte sie auch militant und verübte zahlreiche Anschläge auf Staatsvertreter. Seit den späten 1970er Jahren gilt die ägyptische MB als nicht mehr gewaltorientiert. Die lange Zeit in Ägypten verbotene MB profitierte zunächst von den politischen Umbrüchen des "Arabischen Frühlings", die zum Sturz des ägyptischen Präsidenten Mubarak führten und nach Jahrzehnten politischer Stagnation erstmals freie Wahlen ermöglichten. So erzielte die Organisation bei den Parlamentswahlen 2011 sowie bei den Wahlen zur zweiten Kammer im Februar 2012 beachtliche Erfolge. Im Juni 2012 wurde schließlich der Kandidat der MB, Muhammad Mursi, zum Präsidenten gewählt. Die Präsidentschaft Mursis war geprägt durch eine sich stetig verschlechternde wirtschaftliche Situation, sozialen Unruhen sowie Proteste der Opposition gegen die erweiterten Vollmachten des Präsidenten, die Verabschiedung der neuen Verfassung und die Besetzung einflussreicher Ämter mit Angehörigen der MB. Islamismus 71 Begleitet von Massenprotesten der Opposition, setzte schließlich Anfang Juli das ägyptische Militär den Präsidenten ab. Die gesamte MB-Führung, darunter ihr 1 oberster Führer Muhammad Badi'a, Ex-Präsident Mursi und der stellvertretende Vorsitzende der "Freiheitsund Gerechtigkeitspartei", 'Issam al-'Arian, wurde seither festgenommen, die MB und alle ihre Ableger verboten und Vermögen sowie Immobilienbesitz der Organisation beschlagnahmt. Nach einem Selbstmordanschlag unbekannter Täter in der Stadt al-Mansura erklärte die ägyptische Regierung schließlich die MB am 25. Dezember zur terroristischen Organisation und alle ihre Aktivitäten für verboten. Die MB reagierte zunächst auf den Militärputsch mit Demonstrationen und der Besetzung öffentlicher Plätze, um so ihrer Forderung nach Wiedereinsetzung Mursis Nachdruck zu verleihen. Beim Einschreiten der Sicherheitskräfte gegen die überwiegend friedlichen Demonstranten wurden hunderte Menschen getötet. Die Beteiligung an den Protesten ist seitdem zurückgegangen. Die MB stellt jedoch mit nahezu täglich stattfindenden Demonstrationen unter Beweis, dass ihre Mobilisierungsfähigkeit zwar geschwächt, aber ungebrochen ist. Aufgrund der Festnahme ihrer Führungsspitze hat sich die MB bislang nicht auf eine einheitliche Langzeitstrategie im Umgang mit der neuen Situation verständigen können. Bislang fordert die Organisation die Wiedereinsetzung von Muhammad Mursi als Präsident und verweigert eine Anerkennung der vom Militär eingesetzten Institutionen ebenso wie eine Beteiligung am politischen Übergangsprozess. Anzeichen für eine Radikalisierung der MB sind derzeit nicht erkennbar. Zwar kommt es seit der Machtübernahme des Militärs vermehrt zu Anschlägen gegen Angehörige und Einrichtungen der Sicherheitskräfte sowie gegen Angehörige der koptischen Minderheit, eine Beteiligung der MB an diesen Angriffen kann jedoch von unabhängiger Seite nicht bestätigt werden. Nicht nur in Ägypten, sondern auch auf internationaler Ebene versucht die MB ihre Anhänger zu mobilisieren. Als Symbol der Proteste hat sich weltweit das Symbol einer stilisierten schwarzen Hand mit vier ausgestreckten Fingern vor gelbem Hintergrund durchgesetzt. Die vier Finger (rabi'a heißt auf Arabisch "die Vierte") sind eine Anspielung auf den Platz vor der Rabi'a al-Adawiya-Moschee, auf denen Anhänger der 72 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 MB ein Protestcamp errichtet hatten, bei dessen Räumung Mitte August hunderte Menschen von den Sicherheitskräften getötet wurden. Auch in Berlin demonstrieren seit Anfang Juli jede Woche Sympathisanten und Anhänger des gestürzten Präsidenten Mursi, wobei das "Rabi'a"-Symbol einen zentralen Stellenwert besitzt. Zu einigen Pro-Mursi-Demonstrationen rief auch der IGMG-Landesverband Berlin auf. 1.7.2 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) Mitglieder: Berlin: 2 900 (2012: 2 900) Bund: 31 000 (2012: 31 000) Die 1995 gegründete "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V." geht in ihrer islamistischen Ausrichtung auf das politische Konzept von Necmettin Erbakan zurück. Erbakans Ziel war es, die türkischen Bürger unter dem Dach von Nationalismus und Islamismus zu einen und in der Türkei ein islamistisches Staatswesen zu errichten. Als politisches und gesellschaftliches Ordnungsmodell propagierte er eine "gerechte Ordnung" ("adil düzen"), in welcher die Scharia gilt und politisches Handeln sich an den Prinzipien von Koran und Sunna orientiert. Erbakan lehnte wesentliche rechtsstaatliche Prinzipien wie Volkssouveränität oder Parteienpluralismus als unvereinbar mit der "gerechten Ordnung" ab. Er forderte einen Systemwechsel nicht allein in der Türkei, sondern in der gesamten Welt. Er betrachtete den Islam als Gesellschaftsmodell, das sämtlichen westlichen Systemen überlegen sein soll. Dieses Modell wird bis heute in der "Milli Görüs"Bewegung propagiert, auch über den Tod von Erbakan am 27. Februar 2011 hinaus. Die Ideologie der "Milli Görüs" spiegelt sich nicht nur in den Verlautbarungen der Funktionäre, sondern auch in der breiten Diskussion an der Basis - etwa in der "Milli Gazete". Die türkische Tageszeitung, die mit einer EuropaAusgabe auch in Deutschland erscheint, kann als inoffizielles Sprachrohr der "Milli Görüs"-Bewegung bezeichnet werden. Islamismus 73 Die größte Organisation im "legalistischen Islamismus" in Deutschland ist die IGMG, die 1995 aus der AMGT ("Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e. V.") 1 hervorging. Necmettin Erbakan hatte 1970 - auf der Grundlage der "Milli Görüs"-Ideologie - seine erste islamistische Partei in der Türkei gegründet. Er konnte trotz mehrmaliger Parteiverbote und anschließender Neugründungen eine Spaltung seiner Anhängerschaft bis 2001 verhindern. Flügelkämpfe zwischen den so genannten Traditionalisten und den Erneuerern in der "Fazilet Partisi" (FP / "Tugendpartei") führten nach ihrem Verbot 2001 zur Gründung von zwei Nachfolgeparteien. Hierzu gehört die im Juli 2001 vom ehemaligen Vorsitzenden der FP, Recai Kutan, gegründete "Saadet Partisi" (SP / "Partei der Glückseligkeit"), in der sich die "Traditionalisten" wiederfinden, die sich zur "Milli Görüs"-Ideologie und deren Begründer Erbakan, der von Oktober 2010 bis zu seinem Tod auch Parteivorsitzender war, bekennen. Die zweite Folgepartei stellt die vom jetzigen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan gegründete - "Adalet ve Kalkinma Partisi" (AKP / "Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei") dar, die als politisches Lager der "Erneuerer" gilt. Dies löste auch in der IGMG in Deutschland eine Krise aus und führte zu Auseinandersetzungen zwischen "Traditionalisten" und "Reformern" über die künftige Ausrichtung der Organisation. Die IGMG präsentiert sich bereits seit mehreren Jahren in ihren offiziellen Verlautbarungen als eine auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehende Organisation, die sich für den Dialog zwischen türkischen Muslimen und der deutschen Gesellschaft einsetzt. Ob der IGMG in Zukunft der Übergang von einer extremistischen zu einer demokratischen Organisation gelingen wird, bleibt abzuwarten. Auch der Berliner Landesverband, dessen Vorstand von der IGMG-Zentrale ernannt wird, zeigt durch Teilnahme an zahlreichen Projekten Dialogbereitschaft. Von der islamistischen "Milli Görüs"-Ideologie Erbakans und dessen Nachfolger hat die IGMG sich bislang nicht distanziert. Die unverkennbar vorhandenen Wandlungstendenzen haben sich noch nicht so weit durchgesetzt, dass insgesamt von einer programmatischen Neuausrichtung im Sinne einer Abkehr von den verfassungsfeindlichen Zielsetzungen gesprochen werden könnte. 74 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 2 Rechtsextremismus 2.1 Ideologie des Rechtsextremismus Ein Streifzug durch das politikund sozialwissenschaftliche Schrifttum zeigt, dass es an einer einheitlichen Definition des Rechtsextremismus-Begriffes fehlt.40 In der Öffentlichkeit werden Rechtsextremisten nicht selten gleichgesetzt und synonym als "Rechtsradikale" oder "Neonazis" bezeichnet. Diese Begriffsvielfalt dokumentiert nicht nur eine definitorische Unschärfe, sondern zugleich auch die Heterogenität einer Szene, die auf der Grundlage diverser ideologischer, strategischer und organisatorischer Konzepte agiert. Hinter dem Begriff Rechtsextremismus verbergen sich verschiedene - sich überschneidende, zum Teil aber auch einander ausschließende - Einstellungen und Aktivitäten. Dessen ungeachtet existiert jedoch ein ideologischer Kernkonsens des Rechtsextremismus, dessen Inhalte sich in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität innerhalb der verschiedenen rechtsextremistischen Strömungen wiederfinden. Rechtsextremisten lehnen das Gleichheitsprinzip ab. Sie begründen diese Ablehnung mit einer natürlichen Ungleichwertigkeit der Menschen, die zudem die politische, soziale und gesellschaftliche Diskriminierung bestimmter Menschen und Gruppen rechtfertigt. Diese Ungleichbehandlung kann neben ethnischen auch aus kulturellen, geistigen oder körperlichen Eigenschaften resultieren. Im Ergebnis führt sie aber immer dazu, dass einzelnen Personen oder bestimmten ethnisch, sozial oder kulturell als "fremd" definierten Gruppen weniger Rechte zugestanden werden. Das Weniger an Rechten reicht von der gesellschaftlichen Ausgrenzung über eine juristische Ungleichbehandlung bis hin zum Bestreiten des Lebensbzw. Existenzrechtes der diskriminierten Personen oder Gruppen. Der Überbewertung der eigenen Ethnie fällt dabei eine Schlüsselrolle zu. Für Rechtsextremisten wird die eigene Nation oder "Rasse", zu der ein Mensch "naturgegeben" und damit ausschließlich durch seine biologische Abstammung gehört, 40 Vgl. u. a.: Richard Stöss: "Rechtsextremismus im Wandel", Berlin, 2010; Hans-Gerd Jaschke: "Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe - Positionen - Praxisfelder", Wiesbaden 2011. Rechtsextremismus 75 zum obersten Kriterium der Identität erhoben. Damit einher gehen Rassismus und ein übersteigerter Nationalismus, auf deren Grundlage die eigene Nation Rechtsextremismus oder "Rasse" überhöht und als überleMit der Sammelbezeichnung Rechtsgen definiert wird.41 extremismus verbindet sich keine ge- 2 schlossene politische Ideologie. Der Um diese vermeintliche ÜberlegenBegriff umschreibt vielmehr eine vielheit zu erhalten, streben Rechtsextschichtige politische und soziale Geremisten einen ethnisch homogenen dankenwelt, die in ihrer Gesamtheit "Volkskörper" an und propagieren auf die Beseitigung oder nachhaltieine "Volksgemeinschaft". Diese ge Beeinträchtigung demokratischer "Volksgemeinschaft" soll jedoch nicht Rechte, Strukturen und Prozesse genur ethnisch homogen sein, in ihr ist richtet sind. Folgende Inhalte finden auch kein Platz für gesellschaftliche sich dabei in allen rechtsextremistiAuseinandersetzungen oder das Verschen Strömungen: folgen individueller Interessen. Bei- - Ablehnung des Gleichheitsprinzips des wird als "schädlich" und die Ge- - Überbewertung ethnischer meinschaft "zersetzend" angesehen. Zugehörigkeit Dieser Antipluralismus trifft auch den - Antipluralismus Rechtsstaat, die politische Opposition - Autoritarismus oder den Parlamentarismus in Gänze, Im Kern handelt es sich beim Rechtsdie von Rechtsextremisten abgelehnt, extremismus - in all seinen Facetten delegitimiert und bekämpft werden. - um eine autoritäre Ideologie der Die Umsetzung solcher Vorstellungen Ungleichheit. Kriterien für diese Unwäre nur in einem autoritär geführgleichheit, mit der Rechtsextremisten ten Staat denkbar - einem Staat also, eine Ungleichwertigkeit verbinden, der streng hierarchisch und mit zentkönnen die Ethnie, Kultur, Äußerlichralistischen Strukturen geführt würde. keiten oder politische Einstellungen Individuelle Interessen hätten hinter sein. Hieraus resultiert auch die Legieinem einheitlichen "Volkswillen" zutimation von Gewalt, die dem Rechtsrückzustehen. Anstelle der für demoextremismus immanent ist und sich kratische Gesellschaften typischen gegen als "minderwertig" definierte Wechselbeziehungen zwischen Staat "Fremde" richtet. und Gesellschaft würde ein Verhält41 Neue rechtsextremistische Ideologieansätze argumentieren anstatt mit Begriffen wie Nation oder "Rasse" mit der "Höherwertigkeit" der eigenen Kultur und den "Eigenarten der Völker" ("Ethnopluralismus"). 76 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 nis treten, in dem der Staat in einer eindeutig dominierenden Position über der Gesellschaft stehen würde und alle Rechte bei der Bildung und Umsetzung des "Volkswillens" hätte. Diese vier Kernelemente rechtsextremistischer Ideologie dominieren - in Abhängigkeit von Aktualität und Anschlussfähigkeit - auch die Außendarstellung des Berliner Rechtsextremismus. Beispielhaft hierfür steht ein Auszug aus dem Wahlprogramm der NPD zu den Berliner Abgeordnetenhauswahlen 2011: "Die NPD will eine Ordnung, in der das Recht auf Identität kraft Abstammung und Schicksal garantiert wird und jeder Deutsche mit seiner Persönlichkeit als dienendes Glied der Gemeinschaft verantwortlich am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben des deutschen Volkes mitwirkt." 42 Ergänzt wird das ideologische Spektrum der rechtsextremistischen Szene in Berlin durch einen immer wieder auch offen zutage tretenden Antisemitismus43 und die Verherrlichung des historischen Nationalsozialismus. 2.2 Personenpotenzial und Straftaten Zwei Trends prägen die aktuelle Entwicklung des rechtsextremistischen Personenpotenzials in Berlin. Das Gesamtpersonenpotenzial zeigt sich wie bereits in den Vorjahren als stabil, was auf eine im Kern seit Jahren gefestigte rechtsextremistische Szene zurückzuführen ist, deren Potenzial nahezu unverändert etwa 1 300 Personen umfasst. Etwas weniger als die Hälfte dieser Personen (ca. 630) ist als gewaltbereit einzuschätzen. Im Gegensatz zu dieser "äußeren Stabilität" stehen mehrere Verschiebungen innerhalb des Gesamtpersonenpotenzials. Einem Anstieg der Parteimitglieder im Bereich des parlamentsorientierten Rechtsextremismus steht ein leichter Rückgang des Personenpotenzials aktionsorientierter Rechtsextremisten ("Subkulturell geprägte Rechtsextremisten" und "Neonazis"44) gegenüber. Ursächlich hierfür ist vor allem der szeneinterne Trend zur formalen Bindung aktionsorientierter 42 "Wir sagen, was Sie denken! Landesaktionsprogramm für ein deutsches Berlin", www.npd-berlin.de, abgerufen am 15.8.2011. 43 Unter Antisemitismus versteht man die Feindschaft gegenüber den Juden als Gesamtheit aufgrund stereotyper rassistischer, sozialer, politischer und / oder religiöser Vorurteile. Regelmäßig werden diese Vorurteile auch mit Kritik am Staat Israel und seiner Politik verbunden. 44 Diese Kategorien werden vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) verwandt und sollen eine bundesweite Vergleichbarkeit der rechtsextremistischen Personenpotenziale ermöglichen. Rechtsextremismus 77 Rechtsextremisten an die NPD und die Partei "Die Rechte". Mit dieser "Flucht" in Parteistrukturen soll vor allem der staatliche Druck auf rechtsextremistische Veranstaltungen und Personen abgefangen und den eigenen Aktivitäten zudem ein legalistischer Anstrich verpasst werden. Zunehmend verschwimmen dadurch auch die Grenzen zwischen parlamentsund aktionsorientiertem Rechtsextremis- 2 mus in Berlin. Von dem Trend, sich an Parteistrukturen zu binden, profitierte auch die dritte rechtsextremistische Partei in Berlin, die "Bürgerbewegung Pro Deutschland". Etwa die Hälfte ihrer Mitglieder rekrutierte die Partei aus den Anhängern sonstiger rechtsextremistischer Bestrebungen. Perspektivisch könnte dieser Zuwachs zu einer engeren Einbindung von "Pro Deutschland" in die rechtsextremistische Szene führen, von der sich die Partei in ihren offiziellen Verlautbarungen bislang immer wieder distanziert hat. Personenpotenzial Rechtsextremismus* Berlin Bund 2012 2013 2012 2013 Subkulturell geprägte und 480 470 7 500 7 400 sonstige gewaltbereite Rechtsextremisten Neonazis 500 460 6 000 5 800 Parteien (insgesamt), davon: 250 350 7 150 7 000 "Nationaldemokratische Partei 250 230 6 000 5 500 Deutschlands" (NPD)** "Die Rechte" - 20 150 500 "Bürgerbewegung Pro Deutschland" - 100 - - Sonstige rechtsextremistische Organisationen 150 100 2 500 2 500 Gesamt 1 380 1 380 23 150 22 700 ./. Mehrfachmitgliedschaften 90 90 1 000 1 000 Tatsächliches Personenpotenzial 1 290 1 290 22 150 21 700 davon gewaltbereite Rechtsextremisten 650 630 9 600 9 600 * Die Zahlen bilden geschätze Personenpotenziale ab. ** Die NPD-Zahlen beinhalten die Mitglieder der JN (2012: 50, 2013: 30). Deutlicher als bei den Personenpotenzialen fielen die Veränderungen bei den Fallzahlen politisch rechts motivierter Kriminalität aus. Auffällig war hier vor allem der Anstieg der rechts motivierten Gewaltdelikte um 36 Prozent. Obwohl das Gros dieser insgesamt 80 Delikte situativ begangen wurde und ohne, dass ihnen ein konkreter Anlass vorausgegangen war, kann der Anstieg der Fallzahlen auch mit 78 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 zwei Ereignissen, die für den organisierten Rechtsextremismus in Berlin von besonderer Bedeutung waren, in Verbindung gebracht werden. Zum einen kam es im Zuge des provokanten Bundestagswahlkampfes der NPD vermehrt zu Zusammenstößen von Rechtsextremisten mit der Polizei und mit Gegendemonstranten, die in mehreren Fällen gewalttätig eskalierten. Das zweite herausragende Ereignis war die Eröffnung einer Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge in Berlin-Hellersdorf. Rechtsextremisten protestierten regelmäßig gegen die Eröffnung des Flüchtlingsheimes. Mit ihrer provokant zur Schau gestellten Fremdenfeindlichkeit und ihrem aggressiven Auftreten heizten sie dabei die Stimmung vor Ort auf eine Weise an, die neben verbalen Entgleisungen auch mehrfach Körperverletzungsdelikte nach sich zog. Beide Ereignisse machten einmal mehr deutlich, dass mit größeren rechtsextremistischen Kampagnen auch immer die Gefahr einer gewalttätigen Eskalation einhergeht. Dies gilt umso mehr für eine rechtsextremistische Szene wie in Berlin, bei der die Grenzen zwischen Parteien und gewaltbereiten aktionsorientierten Rechtsextremisten immer mehr verschwimmen. Fallzahlen Politisch motivierte Kriminalität - Rechts* 2012 2013 Gewaltdelikte 60 83 davon antisemitisch 3 7 fremdenfeindlich 44 67 gegen links 13 11 Propagandadelikte 832 816 davon antisemitisch 26 37 fremdenfeindlich 73 88 gegen links 22 24 sonstige Delikte 469 462 davon antisemitisch 168 131 fremdenfeindlich 234 235 gegen links 46 45 Gesamt 1 361 1 361 davon antisemitisch 197 175 fremdenfeindlich 351 390 gegen links 81 80 *Auszug aus dem Bericht "Lagedarstellung der Politisch motivierten Kriminalität in Berlin für das Jahr 2013" des Landeskriminalamtes Berlin (LKA). Der vollständige Bericht ist im Internet unter www.berlin.de/sen/inneres/sicherheit/statistiken/index.html eingestellt. Rechtsextremismus 79 2.3 Aktuelle Entwicklungen und Strukturen In der rechtsextremistischen Szene Berlins können drei Risikofelder auf der Grundlage ihres Aktivitätsschwerpunktes voneinander unterschieden werden. Der aktionsorientierte Rechtsextremismus, der vor allem auf physische Machtausübung 2 im öffentlichen Raum abzielt, der parlamentsorientierte Rechtsextremismus, dessen Schwerpunkt in der Beeinflussung politischer Willensbildungsund Entscheidungsprozesse liegt und schließlich der diskursorientierte Rechtsextremismus, der rechtsextremistische Themen und Argumentationen in den gesellschaftlichen Diskurs einzuspeisen versucht. Parlamentsorientierter Rechtsextremismus Diskursorientierter Rechtsextremismus "Reichsbürgerbewegung" Netzwerk "Freie Kräfte" Netzwerk "Rechtsextremistische Musik" Aktionsorientierter Rechtsextremismus Vor allem zwei Dinge sollen anhand der Darstellung der drei Risikofelder des Berliner Rechtsextremismus deutlich werden: zum einen, dass dem aktionsorientierten Rechtsextremismus in qualitativer und quantitativer Hinsicht das größte Gefährdungspotenzial innewohnt und zum anderen, dass die Grenzen zwischen aktions- 80 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 und parlamentsorientiertem Rechtsextremismus in Berlin durchlässig sind und sich sogar zunehmend auflösen. Zahlreiche Aktivisten aus dem aktionsorientierten Spektrum sind mittlerweile in rechtsextremistischen Parteien aktiv und zwar bis in Vorstandsämter hinein. Auch im Rahmen des für den Berliner Rechtsextremismus 2013 zentralen Themas - der Debatte um Zuwanderung und die Eröffnung von neuen Flüchtlingsheimen - zeigten sich die "neuen Allianzen" im Berliner Rechtsextremismus. An den rechtsextremistisch motivierten Protesten gegen ein neueröffnetes Flüchtlingsheim im Stadtteil Hellersdorf beteiligten sich Parteien, Gruppen und Aktivisten aus allen Spektren der Szene. 2.4 Der Berliner Rechtsextremismus im Zeichen der Flüchtlingsdebatte Das alles überragende Thema für die rechtsextremistische Szene Berlins war im vergangenen Jahr die Debatte um gestiegene Flüchtlingszahlen und die Suche nach Standorten zur Unterbringung von Flüchtlingen und Asylsuchenden. Die Fokussierung auf dieses Thema hatte verschiedene Gründe. Zunächst bot die Debatte für Rechtsextremisten einen idealen Anknüpfungspunkt für den Transport ihrer fremdenfeindlichen und rassistischen Positionen. In den zum Teil äußerst emotional geführten öffentlichen Diskussionen bot sich für die Szene die Möglichkeit, bestehende Ängste und Sorgen in der Bevölkerung aufzugreifen und mit den eigenen Standpunkten zu verknüpfen. Für komplexe Sachverhalte wurden einfache Lösungen geliefert. "Keine neuen Heime", "Asylbetrüger abschieben" oder schlicht "Ausländer raus" waren Parolen, mit denen Rechtsextremisten schon seit Jahren fremdenfeindliche Stimmungsmache betrieben hatten. Die Flüchtlingsdebatte ließ sich so auf ein Thema reduzieren, in dem Rechtsextremisten ihre "Kernkompetenz" sehen und in dem sie sich als einzige politische Kraft, die schon immer vor einer "Überfremdung" gewarnt hatte, präsentieren konnten. Auch die Hoffnung, hier ein anschlussfähiges Thema gefunden zu haben und Personen über das rechtsextremistische Spektrum hinaus ansprechen zu können, spielte bei der Instrumentalisierung der Flüchtlingsdebatte eine große Rolle. Anstatt mit ihren rassistischen Parolen den immer gleichen überschaubaren Personenkreis anzusprechen, boten sich für Rechtsextremisten bei größeren öffentlichen Veranstaltungen zu diesem Thema oder auch im Internet bislang ungeahnte Möglichkeiten für die Darstellung und Verbreitung ihrer Ideologie. Hinzu kam eine breite mediale Berichterstattung, die der rechtsextremistischen Szene im Allge- Rechtsextremismus 81 meinen und im Jahr der Bundestagswahl der NPD im Besonderen ein Vielfaches an öffentlicher Wahrnehmung und Beachtung bescherte. Aus strategischer Sicht war es für den Berliner Rechtsextremismus schließlich von enormer Bedeutung, dass sich keine der bekannten - und nicht selten miteinan- 2 der konkurrierenden - Gruppierungen an die Spitze der Kampagne setzte, sondern diese von einer anonym und sich betont bürgerlich gebärdenden "Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf" gesteuert wurde. Unter deren Dach konnten sich Berliner Rechtsextremisten aller Spektren versammeln und zudem ihre Gesinnung und Herkunft unter dem Label einer "Bürgerinitiative" tarnen und verharmlosen. 2.4.1 Die "Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf" als Motor fremdenfeindlicher Stimmungsmache Anfang Juli tauchte im Internet erstmals ein Flugblatt mit der Überschrift "Asylbewerberheim in Marzahn-Hellersdorf verhindern" auf. Verantwortlich hierfür zeichnete eine "Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf" (BMH), die auf eine themenbezogene Bürgerbefragung am 9. Juli und ihr Profil in einem sozialen Netzwerk verwies. Dieses Profil, in dem massiv und in eindeutig fremdenfeindlicher Diktion gegen die Eröffnung eines Flüchtlingsheimes in Hellersdorf polemisiert wurde, erhielt in weniger als einer Woche mehr als 1 400 sogenannter "Gefällt-mir-Klicks" ("likes"). Schnell zeichnete sich ab, dass die von der BMH thematisierte Informationsveranstaltung des Bezirksamtes zur Neueröffnung eines Flüchtlingsheimes in Hellersdorf zur Stimmungsmache gegen das Heim genutzt werden sollte. Am 9. Juli nahmen dann knapp 1 000 zum Teil stark emotionalisierte Personen an der Veranstaltung teil. Darunter befanden sich auch mehrere bekannte Rechtsextremisten, wie etwa der NPD-Landesvorsitzende, die die Stimmung durch Wortbeiträge oder immer wieder angestimmte "Nein zum Heim"-Rufe anheizten. Die Berliner NPD führte im Anschluss an die Veranstaltung eine 82 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Spontankundgebung durch, deren 15 Teilnehmer sich hinter einem Banner mit der Aufschrift: "Asylantenheim? - Nein Danke! Heute sind wir tolerant - Morgen fremd im eigenen Land" versammelten. Die Veranstaltung vom 9. Juli und die nachfolgende bundesweite Berichterstattung feierte die BMH enthusiastisch als großen Erfolg und nachträgliche Legitimation für die Stimmungsmache gegen das Flüchtlingsheim. "Alter Wein in neuen Schläuchen" - Sprache, Ideologie und Aktivitäten der BMH Öffentlich betonte die BMH immer wieder, eine überparteiliche und insbesondere nicht extremistische Vereinigung besorgter Hellersdorfer Bürger zu sein. Dass sie dies nicht war, zeigte sich jedoch bereits in ihrem ersten Flugblatt, dessen beleidigender und rassistischer Tonfall exakt der Art entsprach, in der Rechtsextremisten gegen "Fremde" hetzen. Zudem existierte ein unstreitig rechtsextremistisches "Vorbild" für das Flugblatt der BMH. Nur wenige Monate zuvor hatte der Neuköllner Kreisverband der NPD ein Flugblatt veröffentlicht, das in wortgleichen Formulierungen exakt dieselben "Argumente" enthielt. Rechtsextremismus 83 "Bürgerinitiative NPD-Kreisverband Neukölln Marzahn-Hellersdorf" 2 "Kein weiteres Asylbewerberheim "Keine weiteren Asylbewerber aufin Marzahn-Hellersdorf, hier leben nehmen! In Neukölln leben schon gebereits genug Ausländer von Sozialnug Ausländer von Sozialleistungen." leistungen!" "Touristen sind herzlich willkom"Touristen sind herzlich willkommen - kriminelle Ausländer und men - kriminelle Ausländer und Asylbetrüger sind konsequent in ihre Asylbetrüger sind konsequent in ihre Heimatländer abzuschieben!" Heimatländer abzuschieben!" "Wir wollen, dass es den Marzahner "Gut, dass auch der Britzer Bevölund Hellersdorfer Bürgern erspart kerung das erspart bleibt, was in bleibt, was in fast allen Asylbewerberfast allen Asylbewerberheimen an heimen an der Tagesordnung ist, der Tagesordnung ist, nämlich Müll, nämlich Müll, Drogenhandel, ZwangsKriminalität und Lärm." prostitution und schwerste Gewaltausbrüche." Die ideologische Übereinstimmung mit rechtsextremistischen Positionen zeigte sich auch in den sonstigen Stellungnahmen der "Bürgerinitiative". Zentrales Medium war dabei das Profil der BMH in einem sozialen Netzwerk, in dem mit wechselnder Intensität gegen das Asylbewerberheim, Asylbewerber und die Unterstützer des Heimes Stimmung gemacht wurde: "Unabhängig von den Fragen, die die Finanzierung einer solchen Unterkunft betreffen, existieren auch Bedenken bezüglich der Sauberkeit und Sicherheit in den angrenzenden Bereichen. Sicherlich, sie sind Menschen wie wir. Dennoch unterscheiden wir uns gleichzeitig in der Kultur und in unseren Lebensweisen. Während für uns 'Westlichen' Toiletten 84 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 und ihre Nutzung ganz alltäglich sind, gibt es sehr viele Menschen in Syrien, die damit nichts anzufangen wissen." 45 Regelmäßig veröffentlichte die "Bürgerinitiative" auch fiktive "Leserbriefe", um zu suggerieren, dass ihre eigene Wahrnehmung und Bewertung der Vorgänge rund um das neu eröffnete Asylbewerberheim mit den Beobachtungen "normaler Anwohner" und "besorgter Bürger" übereinstimmte. Beispielhaft für die Diktion dieser "Leserbriefe" steht die folgende Stellungnahme, in der ein "ehemaliger Mitarbeiter in Asyleinrichtungen [...] Tacheles" spricht: "Unter ihnen [den Asylbewerbern] gibt es natürlich Menschen [...] in deren Ländern momentan kein Krieg herrscht. Diese Menschen nennt man Wirtschaftsflüchtlinge, die aber selbst sagen, dass sie in ihrem Land verfolgt und gefoltert wurden. Auffällig ist, dass ein Großteil von ihnen Roma und Sinti aus Bosnien und Serbien sind. Diese Menschen bekommen vom Staat eine Unterkunft mit Vollverpflegung, Geld für Bekleidung, eine vergünstigte Monatskarte, Gutscheine für 'Toysrus', um ihre Kinder, die sie hier entbinden, wie die Weltmeister zu versorgen. [...] Somit kommen wir inklusive der Sozialleistungen monatlich pro Einzelperson (Erwachsener) um die 780EUR für Taschengeld, kino usw. auf ca. durchschnittlich 15000 EUR innerhalb von 3 Monaten, um die der Staat un der Steuerzahler betrogen werden. 80 % der Frauen kommen schon Schwanger nach Deutschland. da sie dann mehr Leistungen erhalten und der Aufenthalt sich verlängert, 3 Monate vor und 3 Monate nach der Geburt."46 Gezielt bediente die "Bürgerinitiative" auf diese Weise immer wieder Vorurteile und Klischees oder versuchte mit haltlosen Behauptungen, Stimmung gegen das Asylbewerberheim - in letzter Konsequenz vor allem jedoch gegen die Asylbewerber selbst - zu machen. Aber nicht nur die Heimbewohner waren Ziel der Stimmungsmache durch die BMH, auch die Unterstützer der Flüchtlinge und des Heimes gerieten in den Fokus der "Bürgerinitiative". Am 30. September veröffentlichte die BMH im Internet einen Beitrag unter der Überschrift "Linke Gewalttäter aus der Deckung holen" und rief zur Störung einer für den 3. Oktober im Stadtteil Hellersdorf angemeldeten 45 Profil der "Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf" in einem sozialen Netzwerk, Posting vom 24.7.2013, abgerufen am 10.9.2013. Schreibweise im Original. 46 Profil der "Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf" in einem sozialen Netzwerk, Posting vom 24.9.2013, abgerufen am 2.10.2013. Schreibweise im Original. Rechtsextremismus 85 "Demonstration gegen Rassismus" und einer für den 5. Oktober geplanten Menschenkette auf. In dem Aufruf, der auch in anderen rechtsextremistischen Internetauftritten verbreitet wurde, war die Rede von der "Narrenfreiheit linker Krawallbrüder", der "entschieden entgegen getreten" werden soll, um "dem linken Pöbel und der antideutschen Politik am 3. Oktober und am 5. Oktober eine klare 2 Abfuhr" zu erteilten. In typischer "Anti-Antifa"-Manier47 wurde dazu aufgerufen, die Demonstrationsteilnehmer zu fotografieren, Personenbeschreibungen anzufertigen und mögliche Straftaten zu dokumentieren. Obwohl es bei den thematisierten Veranstaltungen dann zu keinen nennenswerten Störungen kam, bewies die BMH mit diesem Aufruf einmal mehr, dass sie weit außerhalb des demokratischen Spektrums steht. Aktivitäten jenseits des geschützten virtuellen Raumes entfaltete die BMH unter ihrem Label kaum. Am 9. August führte sie in unmittelbarer Nähe zum Asylbewerberheim eine "Spontandemonstration" unter dem Motto "Nein zum Heim" mit etwa 100 Teilnehmern durch. Eine Veranstaltung, an der nicht nur überwiegend bekannte Rechtsextremisten teilnahmen, sondern die auch durch Parolen wie etwa "Zündet das Heim an!" oder "Brennt das Heim nieder" zusätzlich angeheizt wurde. Mehrere Demonstrationsteilnehmer trugen zudem T-Shirts mit dem Aufdruck "22.-26.08.92" - dem Datum der Ausschreitungen gegen die zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber in Rostock-Lichtenhagen. Am 26. Oktober führte die BMH eine weitere Demonstration im Bezirk Marzahn-Hellersdorf durch, die unter dem Motto "Tag der Meinungsfreiheit - für Identität, Mitbestimmungsrecht und Zukunft" stand. Auch bei dieser aufgrund von Blockaden vorzeitig abgebrochenen Demonstration wurden die Verbindungen der BMH in die rechtsextremistische Szene deutlich. Weit mehr als zwei Drittel der insgesamt ca. 140 Demonstrationsteilnehmer waren dem rechtsextremistischen Spektrum zuzurechnen. Darunter befanden sich NPD-Anhänger, "Freie Kräfte" und Mitglieder der Partei "Die Rechte", die sich gemeinsam unter dem Dach der BMH versammelt hatten. 47 Vgl. S. 92. 86 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Dass es der BMH bei ihren wenigen öffentlichen Veranstaltungen viel schwerer fiel als im Internet, ihre Zugehörigkeit zum rechtsextremistischen Spektrum zu leugnen, dürfte ein wesentlicher Grund dafür gewesen sein, dass sie nur selten das Licht der Öffentlichkeit suchte. Wurde doch bei diesen Veranstaltungen offensichtlich, dass keine besorgten Hellersdorfer Bürger für die BMH demonstrierten, sondern nahezu ausnahmslos Rechtsextremisten. Darüber hinaus ging es auch den Initiatoren der BMH darum, die eigene Identität und Zugehörigkeit zur rechtsextremistischen Szene zu verschleiern. Bis heute gibt es keinen offiziellen Vertreter der BMH bzw. der Nachfolgeinitiative "Bürgerbewegung Hellersdorf". Vielmehr wurde das öffentliche Profil der BMH gezielt auf offen erkennbare Verbindungen in die rechtsextremistische Szene - insbesondere zur NPD - hin untersucht und bereinigt. So verschwand beispielsweise der Name eines auf einem Plakat der BMH als presserechtlich Verantwortlichem (V. i. S. d. P.) aufgeführten NPD-Anhängers, nachdem dies öffentlich thematisiert worden war. Erfolgsmodell "Bürgerinitiative"? Die breite Aufmerksamkeit, die die BMH mit ihren Aktivitäten auf sich gezogen hatte, führte dazu, dass sich das "Hellersdorfer Modell" schnell innerhalb Berlins, aber auch weit darüber hinaus verbreitete. Die Chance, anonym und unter Verschleierung ihrer wahren Absichten gegen Asylbewerber und deren Unterkünfte polemisieren zu können, nutzten Rechtsextremisten innerund außerhalb Berlins mit der virtuellen Gründung zahlreicher "Bürgerinitiativen" gegen Flüchtlingsunterkünfte. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass das Profil der BMH in einem sozialen Netzwerk seit dem 21. November nicht mehr aufrufbar und offensichtlich wegen zahlreicher Hinweise auf die rassistischen Inhalte des Profils gelöscht worden war. Es dauerte nur wenige Tage, bis am 5. Dezember ein neues Profil unter der Bezeichnung "Bürgerbewegung Hellersdorf" (BBH) eröffnet wurde, das in Inhalt und Aufmachung unschwer als Fortsetzung der BMH zu erkennen war. Dieses Beispiel macht deutlich, dass die Abschaltung der fremdenfeindlichen Profile allein nur ein Baustein in der Auseinandersetzung mit den rechtsextremistisch dominierten "Bürgerinitiativen" sein kann. Rechtsextremisten werden weiterhin Rechtsextremismus 87 versuchen, die steigenden Flüchtlingszahlen für sich zu instrumentalisieren und dabei ihre wahren Absichten und Identitäten hinter unverfänglichen "Initiativen" oder "Bewegungen" zu verschleiern. Hier kommt der Aufklärung über den rechtsextremistischen Inhalt solcher Aktivitäten speziell im Internet eine ebenso große Bedeutung zu, wie einer offensiven Auseinandersetzung mit deren rechtsextre- 2 mistischen Hintermännern. 2.5 Aktionsorientierter Rechtsextremismus Die Ereignisse rund um das Hellersdorfer Flüchtlingsheim waren für den Berliner Rechtsextremismus auch deshalb von so enormer Bedeutung, weil sie einer bis dahin weitgehend antriebsund ideenlos agierenden Szene ein Thema lieferten, das auch szeneinterne Gräben überbrückte und zudem noch eine breite öffentliche Aufmerksamkeit garantierte. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des großen medialen Interesses an den Vorgängen in Hellersdorf entfaltete die gesamte rechtsextremistische Szene ab Mitte des Jahres eine ganze Palette an fremdenfeindlich motivierten Propagandaund Demonstrationsaktivitäten. Entscheidend beteiligt an diesen Aktivitäten waren die Anhänger des Netzwerkes "Freie Kräfte", die seit Jahren den aktiven Kern des Berliner Rechtsextremismus bilden. 2.5.1 Netzwerk "Freie Kräfte" zwischen Konspiration und Parteiarbeit Im Netzwerk "Freie Kräfte" sind aktuell etwa 150 Rechtsextremisten aktiv, die sich auf der Basis eines neonazistischen Weltbildes dem "Kampf um die Straße" verschrieben haben. Dieser "Kampf um die Straße" dient in allererster Linie der Machtausübung im öffentlichen Raum. Hierfür bedienen sich die Aktivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte" legaler und illegaler Aktivitäten gleichermaßen, so dass neben Demonstrationen oder Kundgebungen auch Sachbeschädigungen, Neonazis Bedrohungen und Körperverletzungen Neonationalsozialisten (Neonazis) zu ihrem Aktionsrepertoire gehören. orientieren sich am historischen Nationalsozialismus, wie er von der Dabei hat sich im vergangenen Jahr NSDAP zwischen 1920 und 1945 vereine Doppelstrategie etabliert. Die treten wurde. Der Glorifizierung von nicht-öffentlichen Aktivitäten des NS-Führungspersönlichkeiten fällt Netzwerkes "Freie Kräfte" - Vernetdabei ebenso eine Schlüsselrolle zu, zungstreffen, Schulungs-, Trainingswie der Verharmlosung oder Leugund Vortragsveranstaltungen - wur- 88 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 den konspirativ und zumeist ohne nung der NS-Verbrechen. In Berlin jede Außenwirkung vorbereitet und stellen Rechtsextremisten aller Spekdurchgeführt. Informationen über soltren mehr oder weniger offen posiche Veranstaltungen wurden weder im tive Bezüge zum NS-Regime her, so Vorfeld noch im Nachgang hierzu öfdass die gesamte Szene - von wenifentlich gemacht. gen Ausnahmen abgesehen - als neonazistisch bezeichnet werden kann. Die öffentlichen Aktivitäten aktionsorientierter Rechtsextremisten wiederum fanden nahezu ausschließlich unter dem Label einer Partei statt. Mit Ausnahme einer Spontandemonstration im Anschluss an eine NPD-Kundgebung am 24. August fand 2013 keine einzige Veranstaltung statt, die offiziell dem Netzwerk "Freie Kräfte" zuzurechnen gewesen wäre. Stattdessen beteiligten sich dessen Aktivisten regelmäßig an diversen Demonstrationen und Kundgebungen der Berliner NPD oder des Berliner Landesverbandes der Partei "Die Rechte". Die enge Bindung der Aktivisten des "Autonome Nationalisten" Netzwerkes "Freie Kräfte" an diese "Autonome Nationalisten" waren in beiden Parteien steht dabei in einem Berlin seit etwa 2002 aktiv. Vor allem bemerkenswerten Gegensatz zur biszwei Elemente waren für ihre Entsteherigen Strukturlosigkeit des aktionshung und Entwicklung konstitutiv. orientierten Rechtsextremismus in Zum einen die "Anti-Antifa"-Arbeit, Berlin. Ihren Ursprung hat diese Strukwomit gemeint ist, dass Rechtsextturlosigkeit in einem Netzwerk, das remismus-Gegner zum Ziel von "Ouvon den "Autonomen Nationalisten" tings", Bedrohungen und auch körüber mehrere Stadtbezirke hinweg perlichen Angriffen wurden, die an aufgebaut worden war und das auch Professionalität und Intensität die nach dem Ende der "Autonomen Nabis zu diesem Zeitpunkt bekannten tionalisten" ohne feste MitgliedschafAktivitäten der rechtsextremistiten, formale Regelungen und starre schen Szene weit übertrafen. Hierarchien funktioniert. Dieses NetzZum anderen waren die informelwerk dient in erster Linie der Koordilen Netzwerkstrukturen der "Aunierung von Aktivitäten, der gezielten Rechtsextremismus 89 Weitergabe von Informationen und tonomen Nationalisten", die keine der Mobilisierung der Anhängerschaft. Ansatzpunkte für staatliche ExekuInsofern handelt es sich beim Netztivmaßnahmen liefern sollten, eine werk "Freie Kräfte" vor allem um eine Reaktion auf zwei 2005 ausgesproKommunikationsinfrastruktur des ak- 2 chene Vereinsverbote gegen die Kationsorientierten Rechtsextremismus meradschaften "Baso" und "Tor". in Berlin. Anstelle fester Strukturen etablierDominiert wird das Netzwerk "Freie ten die "Autonomen Nationalisten" Kräfte" von einer zehnbis 15-köpfidas Prinzip der "Mitgliedschaft durch gen Führungsgruppe, die sich nahezu Mitmachen". ausschließlich aus ehemals führenden Mit ihrem in Habitus, OrganisaAktivisten der "Autonomen Nationationsund Aktionsformen dem Stil listen" zusammensetzt. Diese Fühlinksextremistischer Autonomer entrungsgruppe ist insbesondere für den sprechend, modernisierten die "AuInformationsfluss innerhalb des Netztonomen Nationalisten" den Berliner werkes verantwortlich. Um diese FühRechtsextremismus nachhaltig. Auf rungsgruppe herum haben sich zwei dem Höhepunkt ihrer Entwicklung Unterstützerkreise etabliert, von de2008 / 2009 konnten sie bis zu 130 nen ein innerer, der aus ca. 50 bis 60 Unterstützer an sich binden. Personen besteht, näher mit der FühAb 2011 verloren die "Autonomen rungsgruppe verbunden ist und auch Nationalisten" allerdings immer regelmäßig zu internen Veranstalmehr Aktivisten und waren verstärkt tungen in Szenetrefforten eingeladen auf die Unterstützung von Neonazis wird. In einem zweiten entfernteren außerhalb ihres Netzwerkes angeKreis sind etwa 60 bis 70 Rechtsextrewiesen. Diese verstärkte Zusammenmisten lose in das Netzwerk eingebunarbeit mündete 2012 in einem einden, die vor allem zu den öffentlichen heitlichen Netzwerk "Freie Kräfte", Veranstaltungen der rechtsextremisin dem allerdings noch immer die Aktischen Szene in Berlin oder auch im tionsund Organisationsformen der Umland mobilisiert werden. "Autonomen Nationalisten" dominieren. An dieser Netzwerkstruktur wird auch unabhängig und parallel zu den Verbindungen einer Vielzahl der Aktivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte" in das rechtsextremistische Parteienspektrum festgehalten. Die Sammlung aktionsorientierter Rechtsextremisten in Parteistrukturen hat ohnehin nichts damit zu tun, dass die Aktivisten des Netzwerkes ihren Aktivitätsschwerpunkt weg von der Stra- 90 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 ße verlagern würden oder ein plötzliches Interesse an den Mühen der Parteiarbeit entdeckt hätten. Diese Strategie dient einzig und allein dem Zweck, das Parteienprivileg auszunutzen und damit nicht zuletzt rechtsextremistische Aktivitäten und Strukturen dem Zugriff von Polizei und Justiz zu entziehen. Dies trifft auch auf die Internetaktivitäten der Szene zu. Über mehrere Jahre hatte sich die Internetseite "nw-berlin.net" als zentrales Sprachrohr des Netzwerkes "Freie Kräfte" in Berlin etabliert. Nachdem die Seite im Dezember 2012 vom Netz genommen wurde, hat das am 20. April (!) eröffnete Profil der NPD-Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) in einem sozialen Netzwerk diese Lücke in der Informationsund Kommunikationsstruktur der rechtsextremistischen Szene geschlossen. Aufmachung und Inhalte vieler Berichte ähneln dabei stark den zuvor auf "nw-berlin.net" geposteten Beiträgen. Darunter befinden sich offen fremdenfeindliche und rassistische Beiträge, Solidaritätssignale an verbotene Vereinigungen und auch kaum verhohlene Drohungen an den politischen Gegner: "Aktuelle Meldung Schöneweide. Ca Vierzig Zecken mit Bühenaufbau beschäftigt. Keine bullen! Die jungs mögen es, wenn man ihnen zuschaut."48 Druck auf das Netzwerk "Freie Kräfte" wächst Anders als bei "nw-berlin.net" sind die Betreiber des Internetauftrittes der Berliner JN - ungeachtet von dessen eindeutig rechtsextremistischer Ausrichtung - bislang jedoch darum bemüht, keine unzulässigen und insbesondere strafrechtlich relevanten Inhalte zu verbreiten. Dies dürfte eine unmittelbare Folge des Druckes sein, den staatliche Behörden und Zivilgesellschaft auf "nw-berlin.net" und die Szene insgesamt ausgeübt hatten und der schließlich zur Abschaltung der Internetseite geführt hat. 48 Auftritt der Berliner JN in einem sozialen Netzwerk, Posting vom 30.4.2013, abgerufen am 15.1.2014. Schreibweise im Original. Rechtsextremismus 91 Wie groß der Druck auf die Szene mittlerweile geworden ist, verdeutlicht "Zum Henker" auch die Tatsache, dass es für AktivisDie im Februar 2009 im Ortsteil Schöten des Netzwerkes "Freie Kräfte" imneweide eröffnete Kneipe "Zum Henmer schwieriger geworden ist, Immoker" entwickelte sich binnen kurzer 2 bilien als feste Trefforte zu etablieren Zeit zu einem Kristallisationspunkt bzw. zu erhalten. Mehrere Mietverträdes aktionsorientierten Rechtsextge zu rechtsextremistischen Trefforremismus in Berlin. Sukzessive verten wurden 2013 gekündigt. Betroffen lor die Kneipe allerdings sowohl an hiervon waren die Kneipe "Zum HenBesuchern als auch an Bedeutung ker" in Schöneweide sowie zwei sogefür die Szene. Sie blieb jedoch auch nannte "Jugendzentren" in Neukölln 49 nach der Kündigung des zugehörigen und Lichtenberg. Der Neuköllner TrefMietvertrages ein Rückzugsort für lofort wurde infolge der Kündigung bekale Rechtsextremisten und gehörte reits im September geschlossen. Für auch immer wieder zum "Besuchsdie beiden weiteren Trefforte, das "Juprogramm" auswärtiger Rechtsextgendzentrum" in Lichtenberg und den remisten. "Henker" in Schöneweide, wurde im Rahmen gerichtlicher Verfahren eine Räumung für Mai bzw. Februar 2014 festgelegt. Infolge dieser juristischen Auseinandersetzung schloss Ende März 2014 mit der Szenekneipe "Zum Henker" ein Symbol mit hoher Integrationskraft für die rechtsextremistische Szene in Schöneweide. Der Verlust dieser Immobilien ist insbesondere für die Infrastruktur des aktionsorientierten Rechtsextremismus ein schwerer Schlag. Sowohl im Lichtenberger Treffort als auch im "Henker" fanden regelmäßig Veranstaltungen mit bis zu 70 Teilnehmern statt. Dort konnten Aktionen vorbereitet und ideologische Schulungen, Spendenaktionen oder Konzerte durchgeführt werden. Aufgrund dieser enormen Bedeutung für den aktionsorientierten Rechtsextremismus ist davon auszugehen, dass sich die Szene bereits um Ersatzobjekte bemüht. Dass diese Be49 Tatsächlich handelt es sich hier mit einem ehemaligen Ladengeschäft und einem Gewächshaus um kleinere Immobilien, die kaum als "Jugendzentren" zu bezeichnen sind. Der Begriff ist allerdings zu einem Symbol für die rechtsextremistische Szene in Berlin geworden, die seit mehr als zehn Jahren Kampagnen für "Nationale Jugendzentren" durchführt. 92 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 mühungen in der Vergangenheit bereits öffentlich gemacht und medial breit thematisiert wurden, dürfte die Suche nach neuen Trefforten allerdings erschweren. Aber nicht nur Zivilgesellschaft und "Anti-Antifa"-Aktivitäten staatliche Stellen setzten die rechtsDie so genannte "Anti-Antifa"-Arextremistische Szene unter Druck. Insbeit wurde zunächst vor allem von besondere die gewalttätigen und ver"Autonomen Nationalisten" betriemutlich gezielten Übergriffe auf zwei ben. Als Reaktion und vermeintliche führende aktionsorientierte Rechtsex"Gegenwehr" zu den Aktivitäten der tremisten machten deutlich, dass die linksextremistischen "Antifa" gingen Szene auch wieder verstärkt in den "Autonome Nationalisten" verstärkt Fokus gewaltbereiter Linksextremisund organisiert gegen Rechtsextreten geraten ist. Nach einem Übergriff mismus-Gegner vor. auf einen Rechtsextremisten im Bezirk Zu ihren Aktivitäten gehörten dabei Lichtenberg am 24. August folgte am das Sammeln und Veröffentlichen 15. November eine brutale Attacke auf von Informationen über den politieinen führenden Aktivisten des Netzschen Gegner, das Führen von so gewerkes "Freie Kräfte", der auch als nannten "Feindeslisten" im Internet, Landesvorsitzender der Berliner JN Beleidigungen, Bedrohungen und fungiert. Drei maskierte Täter schluauch gezielte körperliche Angriffe. gen im Bezirk Mitte mehrfach, und Auch wenn die "Anti-Antifa"-Arbeit auch nachdem er bereits am Boden im vergangenen Jahr weniger offenlag, mit einem unbekannten Gegensiv betrieben wurde, ist sie für die stand auf seinen Kopf und Körper ein. Ideologie und die Aktivitäten Berliner Er musste mit mehreren Platzwunden Rechtsextremisten nach wie vor von und einer Schädelfraktur in ein Kranenormer Bedeutung. kenhaus eingeliefert werden. Reagierte die Szene auf den Überfall im August noch mit einer Spontan-Demonstration, bei der etwa 75 Rechtsextremisten unter dem Motto "Gegen Linke Gewalt" vom Bahnhof Lichtenberg in die Weitlingstraße gezogen waren, blieben Reaktionen auf den Angriff im November weitgehend aus. Dies war auch ein Zeichen dafür, dass die jahrelang intensiv betriebene "Anti-Antifa"-Arbeit hinter den fremdenfeindlichen Aktivitäten der rechtsextremistischen Szene gegen das Flüchtlingsheim in Hellersdorf zurückstehen musste. Infolge der Übergriffe auf die beiden Szeneaktivisten rückte die Auseinandersetzung zwischen Linksund Rechtsextremisten in Berlin allerdings wieder stärker in den Vordergrund. Nicht zuletzt, Rechtsextremismus 93 da entsprechende Konstellationen bereits in der Vergangenheit von Rechtsextremisten genutzt wurden, um aus einer vermeintlichen Opferrolle heraus Gewalt im Allgemeinen und Angriffe auf Personen und Objekte des politischen Gegners im Speziellen zu legitimieren. 2 Absorptionsund Integrationskraft des Netzwerkes "Freie Kräfte" Infolge des hohen Drucks, dem aktionsorientierte Rechtsextremisten ausgesetzt waren, verlagerten sich auch die lokalen Schwerpunkte ihrer Aktivitäten. Waren bislang die Bezirke Lichtenberg, Neukölln und Treptow-Köpenick besondere Schwerpunkte des Netzwerkes "Freie Kräfte", präsentierte sich die Szene insbesondere im Bezirk Lichtenberg deutlich schwächer als in den Jahren zuvor. Neben den diversen äußeren Faktoren führten auch interne Streitigkeiten und der Wegzug einiger Führungsaktivsten aus dem Bezirk dazu, dass Lichtenberg seine Rolle als - insbesondere strategisches - Zentrum der Szene verloren hat. Einer Schwächung der Szene in Lichtenberg standen verstärkte rechtsextremistische Aktivitäten in Pankow und in Marzahn-Hellersdorf gegenüber. Vor allem der Bezirk Pankow könnte sich perspektivisch zu einem neuen Schwerpunkt des aktionsorientierten Rechtsextremismus in Berlin entwickeln. Für größere Aufmerksamkeit sorgte hier zunächst die recht unkoordiniert agierende "Aktionsgruppe Buch" (AGB). Die AGB wurde vor allem dadurch bekannt, dass sie in dem Pankower Stadtteil Buch Aufkleber und Graffiti mit rechtsextremistischen Inhalten verbreitete. Sie firmierte dabei unter mehreren Labels wie beispielsweise auch als "Anti-Antifa-Buch" (AAB) und versuchte damit die Existenz mehrerer Gruppierungen und einer breiten Anhängerschaft vorzutäuschen. Tatsächlich handelte es sich bei der AGB jedoch um eine kiezorientierte Kleingruppe mit einem geringen Zusammenhalt und einer bestenfalls diffusen ideologischen Standortbestimmung. Verbreitet wurde von den Aktivisten rechtsextremistisches Material jeglicher Couleur von Wahlwerbung für die NPD über fremdenfeindliche Aufkleber mit Bezug zum Flüchtlingsheim in Berlin-Hellersdorf bis hin zu "AntiAntifa"-Materialien. Ab Mitte des Jahres suchten die etwa zehn bis zwölf Anhänger der AGB verstärkt Kontakt zu führenden Pankower Rechtsextremisten. Für diese waren die AGB-Anhänger vor allem wegen ihres breiten Aktionismus von großem Interesse, so dass sie sukzessive in das Netzwerk "Freie Kräfte" und auch in die lokalen JN-Strukturen eingebunden wurden. Dadurch erfuhr die über einen längeren Zeitraum weitgehend inaktive rechtsextremistische Szene in Pankow einen deutlichen Schub 94 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 und zeigte sich in den letzten Monaten des Jahres als ein Aktivposten innerhalb des Berliner Rechtsextremismus. Der Weg der AGB steht beispielhaft für die aktuelle Funktionsweise des aktionsorientierten Rechtsextremismus in Berlin. Die Szene agiert vor allem kiezbezogen. Stadtweite Aktivitäten und Strukturen jenseits rechtsextremistischer Parteien existieren kaum noch. Die "Lebensdauer" festerer Kleingruppen innerund außerhalb des Netzwerkes "Freie Kräfte" ist sehr gering. Nach nur wenigen Monaten lösen sich diese Gruppierungen wieder auf und ihre Aktivisten werden in die informellen Strukturen des Netzwerkes "Freie Kräfte" und/oder der NPD bzw. der Partei "Die Rechte" integriert. 2.5.2 Selbstbezogene Musikszene Weitgehend stabil zeigte sich der zweite Teil des aktionsorientierten Rechtsextremismus in Berlin, das Netzwerk "Rechtsextremistische Musik". Ein nahezu unverändertes Personenpotenzial, Bands, die zumeist schon seit mehreren Jahren aktiv sind und eine sehr konspirativ agierende Unterstützerszene waren die sichtbarsten Indizien für diese Stabilität. Da der Druck auf die Musikszene durch die Sicherheitsbehörden beständig hoch gehalten wird, finden deren öffentliche Aktivitäten - insbesondere Konzerte - nahezu ausschließlich außerhalb Berlins statt. Drei Berliner Bands - "Legion of Thor", "Tätervolk"50, "Lunikoff & der Baron" Netzwerk "Rechtsextremistische Musik" Musik ist für die rechtsextremistische Szene von großer Bedeutung. Sie dient der Verbreitung von Propaganda, der "Anpolitisierung" Jugendlicher, stärkt - insbesondere durch gemeinsame Konzerterlebnisse - den Zusammenhalt der Szene und ist eine nicht zu unterschätzende Einnahmequelle. In Berlin sind im Netzwerk "Rechtsextremistische Musik" neben mehreren Bands und Liedermachern auch Einzelpersonen und Personenzusammen50 Der Berliner Verfassungsschutz regte die Indizierung der CDs "Wir wollen leben" von "Legion of Thor" und "Musikkrieg" von "Tätervolk" an. Die hierauf enthaltenen Texte verherrlichen den Nationalsozialismus, verbreiten antisemitisches Gedankengut und propagieren den Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. Rechtsextremismus 95 schlüsse wie die "Hammerskins" und "Vandalen" aktiv, die im Umfeld der Bands agieren und diese vor allem logistisch unterstützen. Insgesamt sind hier ca. 170 Personen auf unterschiedliche Weise an der Produktion und dem Vertrieb rechtsextremistischer Musik und der Organisation 2 sowie Durchführung von Konzerten beteiligt. Im Zentrum der Musikszene stehen sechs aktuell aktive Bands: "Die Lunikoff-Verschwörung", D.S.T. / X.x.X., "Legion of Thor", "Marci & Kapelle" (auch: "Tätervolk" (TV)), "Punk Front" und "Second Class Citizen". Stilistisch sind alle Bands in den Bereichen Rock/ Hardrock bzw. Hardcore/ Hatecore zu verorten. Infolge zahlreicher Exekutivmaßnahmen und Strafverfahren agiert die Szene aktuell äußerst vorsichtig. Texte werden regelmäßig vor ihrer Veröffentlichung auf ihre strafrechtliche Relevanz hin überprüft, Konzerte zumeist konspirativ geplant und durchgeführt. - und der Liedermacher "Fylgien" brachten im vergangenen Jahr eigenständige CDs heraus. Die überwiegend englischsprachige Band "Second Class Citizen" veröffentlichte mit der Band "Fight Tonight" aus Sachsen-Anhalt eine Split-CD. "Aushängeschild" der rechtsextremistischen Musikszene Berlins ist bereits seit Jahren der Kopf der Band "Die Lunikoff-Verschwörung", Michael "Lunikoff" Regener. Fünf Jahre nach seiner Entlassung, infolge der Verurteilung wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung als ehemaliger Frontmann der Band "Landser", endeten im Februar seine Führungsauflagen. Diese Auflagen beinhalteten u. a., jeden seiner Auftritte und neuen Tonträger im Voraus beim Landeskriminalamt Berlin anzuzeigen bzw. dort prüfen zu lassen. Das Ende der Führungsaufsicht nutzte Regener zu mehreren Auftritten mit seiner Band im Inund Ausland. Im Herbst ging er dann erstmals als Solist auf eine Deutschland-Tour, bei der er in mehreren Städten, vor allem in Südund Westdeutschland, auftrat. Über Konzerte anderer Berliner Bands wird hingegen kaum offen berichtet. In den meisten Fällen werden solche Auftritte hoch konspirativ vorbereitet und durchgeführt, um Proteste und Verbote zu vermeiden. Auf einem Privatgelände in der Nähe von Berlin kam es im vergangenen Jahr allerdings gleich mehrfach zu offen beworbenen und vereinzelt mit mehreren hundert Teilnehmern durchgeführten Konzerten. Berliner Rechtsextremisten waren an der Planung und Durchführung dieser Konzerte, u. a. als Security, beteiligt. Auch diese Konzertserie konnte allerdings durch das konsequente Vorgehen der Sicherheitsbehörden beendet werden. 96 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Mehrere Veranstaltungen wurden wegen der Verbreitung indizierten Liedgutes oder des Zeigens volksverhetzender Gesten durch die Polizei abgebrochen, so dass diese Konzerte sowohl für deren Organisatoren als auch die Besucher viel von ihrer anfänglichen Attraktivität einbüßten. Dies trifft auch auf die Internetaktivitäten der Szene zu. Nachdem es in der Vergangenheit zu mehreren Exekutivmaßnahmen und Strafverfahren gegen die Betreiber rechtsextremistischer Foren und Radios im Internet gekommen war, agierte die Szene auch in diesem Bereich viel zurückhaltender als noch in den Vorjahren. Die Verurteilungen im Zusammenhang etwa mit den Internetradios "European Brotherhood" und "Widerstand-Radio"51 oder die Durchsuchungen bei den mutmaßlichen Betreibern des "Thiazi"-Forums52 haben nachhaltig für Verunsicherung gesorgt. Die Szene reagierte darauf mit einer noch stärkeren Verschlüsselung von Daten, der Nutzung ausländischer Server und einer viel restriktiveren Ausgestaltung der Zugänge zu Foren und Tauschbörsen. Auf diese Weise mögen zwar repressive Maßnahmen erschwert worden sein, zugleich wurde aber auch die Reichweite des Angebots an rechtsextremistischer Musik im Internet und dessen Konsumentenkreis eingeschränkt. Alles in allem hat sich die rechtsextremistische Musikszene in Berlin nahezu vollständig wieder auf die traditionellen Produktionsund Verbreitungswege für ihre Produkte zurückgezogen. Auf diese Weise präsentierte sich das Netzwerk "Rechtsextremistische Musik" zwar wenig innovativ, konnte aber ihre zumeist schon lebensältere Zielgruppe auch ohne größere Neuerungen zufriedenstellen. Dass sich an dieser Selbstbezogenheit einer ohnehin schon weitgehend geschlossenen Szene kurzfristig etwas ändern wird, ist kaum zu erwarten. 2.6 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus Profiteure der Zurückhaltung des aktionsorientierten Rechtsextremismus waren im vergangenen Jahr die rechtsextremistischen Parteien. Zwar konnten sie weder an Mitgliedern, noch an der Wahlurne zulegen, allerdings traten sie durch die engen Verbindungen in das Neonazi-Spektrum und die Einbindung aktionsorientierter Rechtsextremisten in die eigenen Aktivitäten deutlich präsenter und dynamischer als noch in den Vorjahren auf. Hinzu kam ein Bundestagswahlkampf, in dem nicht nur die NPD, sondern auch die so genannte "Bürgerbewegung Pro 51 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 99 f. 52 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2012. Berlin 2013, S. 74 f. Rechtsextremismus 97 Deutschland" mit vielfältigen Provokationen in der Öffentlichkeit auftraten. Im Herbst kam es schließlich zur Gründung einer weiteren Partei. Seit September ist mit dem Berliner Landesverband der Partei "Die Rechte" eine dritte rechtsextremistische Partei in Berlin aktiv. 2 2.6.1 Berliner NPD: Mit Aktionismus gegen strukturelle und personelle Mängel Für die Berliner NPD erwiesen sich in dieser Gemengelage die seit Jahren gefestigten Verbindungen zu aktionsorientierten Rechtsextremisten als großer Vorteil. Bereits in der Vergangenheit waren es weniger die eigenen Mitglieder, als "Autonome Nationalisten" und Anhänger des Netzwerkes "Freie Kräfte", die die Aktivitäten der Berliner NPD entscheidend prägten. Ein Trend, der dadurch, dass sich weite Teile der aktionsorientierten Szene noch stärker an die NPD banden, weiter verstärkt wurde. Praktisch sah diese Bindung in den meisten Fällen so aus, dass die Partei Demonstrationen, Kundgebungen und Infotische in ihrem Namen anmeldete, Organisation und Durchführung dann jedoch in die Hände führender Aktivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte" legte. Vor Ort waren dann neben - den in den meisten Fällen immer gleichen - zwei bis drei NPD-Kadern vor allem aktionsorientierte Neonazis. NPD-Jugendverband als Aktivposten Von ganz entscheidender Bedeutung für diese engen Verbindungen von parlamentsund aktionsorientiertem Rechtsextremismus in Berlin ist der Berliner Landesverband der NPD-Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten". Dieser Verband, 2009 von führenden Köpfen der "Autonomen Nationalisten" gegründet, ist bereits seit mehreren Jahren der organisatorische Arm des per se unorganisierten aktionsorientierten Rechtsextremismus in Berlin. Ihr Selbstverständnis beschreiben die Berliner JN wie folgt: "Unser Kampf ist nicht das Erringen von Parlamentssitzen, sondern die Besetzung des vorpolitischen Raums, der 'Kulturrevolution von rechts' und der Strategieentwicklung zur Ausübung politischer Macht ohne Herrschaft. [...] Um die Augen und Ohren Deutschlands zu öffnen bedarf es einer revolutionären organisatorischen Plattform: Das sind die JN, das sind WIR!"53 53 Profil der Berliner JN in einem sozialen Netzwerk: "Unser Selbstverständnis", abgerufen am 21.1.2014. Schreibweise im Original. 98 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Waren die Aktivitäten der Berliner JN lange Zeit nahezu ausschließlich auf die ideologische Festigung und den inneren Zusammenhalt ihrer Mitglieder ausgerichtet, entfalteten sie im vergangenen Jahr spürbar mehr Außenwirkung und waren in der Öffentlichkeit deutlich präsenter. Ihr neueröffnetes Profil in einem sozialen Netzwerk54 wurde binnen kürzester Zeit zu einem zentralen Informationsund Kommunikationsmedium für die gesamte rechtsextremistische Szene. Täglich wurden hier Beiträge gepostet, die rechtsextremistische Propaganda enthielten, für Szeneveranstaltungen warben oder Raum für Diskussionen über aktuelle politische Entwicklungen boten. An der rechtsextremistischen Ausrichtung des Profils ließen deren Betreiber dabei zu keinem Zeitpunkt Zweifel aufkommen. So wurde der verurteilte NS-Kriegsverbrecher Erich Priebke nach seinem Tod mit einem langen Beitrag gewürdigt, der mit den Worten schloss: "Man wird sehen, ob sich die Behörden der BRD dem Wunsch des Juden Zuroff 55 verweigern werden. Wie überall auf der Welt hat Priebke auch in seiner alten Heimat Deutschland viele Freunde. Falls Priebke in Hennigsdorf beigesetzt werden wird, wird er den Deutschen, die noch Deutsche sein wollen, herzlich willkommen sein!" 56 Mit solchen Aussagen, aber auch wegen des Stils und der Inhalte einer Vielzahl weiterer Beiträge trug das Profil der Berliner JN wesentlich dazu bei, dass die NPD über ihren Jugendverband wieder an Akzeptanz und Relevanz innerhalb des Berliner Rechtsextremismus gewinnen konnte. Dies zeigte sich auch bei der Demonstration, die die Berliner JN am 23. November unter dem Motto "Überfremdung stoppen! Nationale Freiräume erhalten" durchführten und bei der es sich mit etwa 150 Teilnehmern um die größte, ausschließlich dem Berliner Rechtsextremismus zuzurechnende Veranstaltung des ver54 Vgl. S. 90. 55 Gemeint ist hier Efraim Zuroff, der Direktor des Jerusalemer Büros des Simon-Wiesenthal-Zentrums, der sich für eine anonyme Bestattung Priebkes ausgesprochen hatte, um zu verhindern, dass sich dessen Grab zu einer rechtsextremistischen "Pilgerstätte" entwickelt. 56 Profil der Berliner JN in einem sozialen Netzwerk: "Willkommen in Deutschland, Hauptsturmführer Priebke!", Posting vom 17.10.2013, abgerufen am 21.1.2014. Rechtsextremismus 99 gangenen Jahres handelte57. Unter den Teilnehmern befanden sich Aktivisten verschiedener Parteien und Gruppierungen und auch eine beachtliche Anzahl auswärtiger Rechtsextremisten. Damit dokumentierten die Berliner JN ihre szeneinterne Bedeutung als Scharnier zwischen den verschiedenen Gruppen und Protagonisten des parlamentsund aktionsorientierten Rechtsextremismus in Berlin. 2 Provokationen und aggressive Fremdenfeindlichkeit - die Berliner NPD im Bundestagswahlkampf Thematisch stand sowohl für die JN als auch für die NPD das vergangene Jahr eindeutig im Zeichen der Flüchtlingsdebatte. Wie bereits im Vorjahr zeigte sich hier zunächst der Neuköllner NPD-Kreisverband als Aktivposten. Flugblätter, die vor "Asylantenheimen" in Britz und Rudow "warnten", mehrere Kleinstkundgebungen zu diesem Thema und eine Saalveranstaltung am 16. Februar im Gemeinschaftshaus Gropiusstadt zum Thema "Asylrecht - Asylwirklichkeit - Kein Asylheim in Berlin" waren auf Initiative der Neuköllner NPD verteilt bzw. durchgeführt worden. Der Landesverband der NPD stieg erst später in diese Kampagne ein. Initialzündung hierfür war die Veranstaltung am 9. Juli in Hellersdorf58, bei der sich auch führende NPD-Funktionäre an der Stimmungsmache gegen das dort geplante Flüchtlingsheim beteiligten. Dies war der Auftakt für einen Bundestagswahlkampf, in dem die Berliner NPD mit immer neuen fremdenfeindlichen Provokationen die öffentliche Aufmerksamkeit suchte. So rief die Partei am 4. September auf ihrer Homepage in martialischen Worten zur Bildung einer "Anti-Gewalt Bürgerwehr Marzahn-Hellersdorf" auf. Hierin wurden die Unterstützer des Flüchtlingsheimes in Hellersdorf pauschal verantwortlich gemacht für eine "Flut linksextremistischer Gewaltstraftaten" und es wurde gefordert, "die Linken Straftäter unter antikriminellen Druck zu setzen". Der Aufruf schloss mit den Worten: "Hellersdorf muß befreit werden von: LINKEN - GEWALT - ASYLANTEN" 59 57 Unter dem Label der NPD hatten am 1. Mai und am 24. August zwar mehr bzw. ebenfalls 150 Rechtsextremisten an Demonstrationen teilgenommen. Allerdings handelte es sich hier um Veranstaltungen der Bundes-NPD. 58 Vgl. S. 81ff. 59 Internetauftritt der "Deutschen Stimme": "NPD Berlin ruft zur Bildung einer 'Anti-Gewalt-Bürgerwehr' auf", abgerufen am 7.9.2013. Schreibweise im Original. 100 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Da dieser Artikel eine Ordnungswidrigkeit darstellte, in dem u. a. das staatliche Gewaltmonopol negiert wurde, musste die Partei ihn nach einer polizeilichen Ordnungsverfügung von ihrer Internetpräsenz entfernen. Einfluss auf den weiteren Wahlkampf der Partei hatte dies nicht. Nur wenige Tage später, am 11. September, veröffentlichte die Berliner NPD auf ihrer Homepage einen Brief, den sie an mehrere Berliner Bundestagskandidaten mit Migrationshintergrund versandt hatte. Darin hieß es u. a.: "Ihre politische Einflußnahme auf die ethnische Gruppe der Deutschen könnte aus menschenrechtlichen Erwägungen vielleicht sogar strafbar sein, weil es verboten ist den physischen und psychischen Zustand einer ethnischen Gruppe zu manipulieren. Aber Sie haben eine echte Chance es nicht so weit kommen zu lassen. Erinnern Sie sich? Migrare heißt auch auswandern. Wir sehen darin eine patente Lösung. Denn in keinem Fall sollen Sie in irgendeiner Sie persönlich benachteiligenden Form transportiert werden. Wir bevorzugen Ihre Übersiedlung durch Auswanderung." 60 Stil und Inhalt des gesamten Schreibens zeigten einmal mehr nicht nur die fremdenfeindliche Haltung der NPD, sondern auch die Aggressivität, mit der die Partei die Umsetzung ihrer Forderungen anstrebt und das ihr innewohnende Gewaltpotenzial. Verfingen die fremdenfeindlichen Parolen der NPD berlinweit und außerhalb ihrer Stammwählerschaft kaum, so zeigten sie rund um das neueröffnete Flüchtlingsheim in Hellersdorf offensichtlich doch Wirkung. So entfielen bei der Bundestagswahl am 22. September in dem Heim am nächsten gelegenen Wahllokal 93 von insgesamt 913 gültigen Zweitstimmen auf die NPD, was einen Zweitstimmenanteil von 10,2 Prozent für die Partei bedeutete. Hier zeigte sich, dass es der Partei durchaus gelingen kann, unter der Ausnutzung aktueller politischer Entwicklungen und Stimmungen, Wähler außerhalb ihrer Stammklientel in einer nicht zu unterschätzenden Größenordnung für sich zu gewinnen. 60 Internetauftritt des NPD-Landesverbandes Berlin: "Rundschreiben an Migranten in Berlin die zur Bundestagswahl kandidieren!", abgerufen am 21.1.2014. Schreibweise im Original. Rechtsextremismus 101 Landesvorsitzender weiterhin ohne Konzept Nach der Bundestagswahl dominierten weniger fremdenfeindliche Provokationen, als die Strafverfahren, mit denen sich der Landesvorsitzende der Partei Sebastian Schmidtke konfrontiert sah, das öffentliche Bild der Berliner NPD. Zunächst stellte die Staatsanwaltschaft Osnabrück im November ein Verfahren wegen ge- 2 fährlicher Körperverletzung gegen Zahlung einer Geldauflage in Höhe von 900 Euro ein. Schmidtke hatte im Zuge einer Wahlkampfveranstaltung im niedersächsischen Lingen bei Auseinandersetzungen mit Gegendemonstranten einen Mann mit einem Schirm attackiert. Weniger glimpflich ging ein zweites Verfahren aus. Am 4. Dezember verurteilte das Amtsgericht Tiergarten Schmidtke wegen Volksverhetzung und Gewaltdarstellung zu einer achtmonatigen Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. In Schmidtkes Laden war ein Koffer mit strafrechtlich relevanten und indizierten Musik-CDs gefunden worden, die er auch über das Internet vertrieben haben soll. Aber nicht nur vor Gericht musste der Landesvorsitzende der Berliner NPD Niederlagen einstecken. Auch die bereits seit langem bekannten personellen und strukturellen Defizite seines Landesverbandes zu beheben, gelang ihm nicht. Die Personaldecke der Berliner NPD bleibt weiterhin dünn und auch an den strukturellen Problemen der Partei, insbesondere dem fehlenden Unterbau in Form funktionierender Kreisverbände, hat sich im vergangenen Jahr nichts geändert. Ob das enge Bündnis, das der aktuelle Landesvorstand mit dem Netzwerk "Freie Kräfte" eingegangen ist, diese Mängel auf Dauer kaschieren kann, bleibt fraglich. Für neue Mitglieder und Wähler dürfte die Partei mit dieser Strategie kaum attraktiver werden. Zudem ist die NPD längst nicht mehr die einzige Partei, die aktionsorientierten Rechtsextremisten eine Heimat bietet. 2.6.2 NPD verstrickt sich in interne Machtkämpfe Für die Bundes-NPD hatte es zunächst danach ausgesehen, als könne sich die Partei nach Monaten interner Grabenkämpfe und trotz erheblicher finanzieller Probleme stabilisieren. So sollte von der Wiederwahl Holger Apfels zum Parteivorsitzenden am 20. April ein Signal der Geschlossenheit ausge- 102 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 hen und die Parteibasis auf den bevorstehenden Bundestagswahlkampf eingestimmt werden. Auf der von der Bundes-NPD angemeldeten Demonstration zum 1. Mai im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick waren dann tatsächlich Anzeichen für diese neue Geschlossenheit zu erkennen. Rund 460 Anhänger, die zu gleichen Teilen sowohl der NPD als auch parteifreien Kreisen zuzurechnen waren, konnte die Partei an diesem Tag mobilisieren. Zudem traten mehrere parteiinterne Kritiker Apfels, darunter der frühere Parteivorsitzende Udo Voigt, auf dieser Veranstaltung gemeinsam mit Apfel auf. "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Gründung: 1964 Mitglieder: Berlin: 230 (2012: 250) Bund: 5 400 (2012: 6 000) Die NPD ging 1964 aus der rechtsextremistischen "Deutschen Reichspartei" (DRP) hervor. Sie verfügt mit den "Jungen Nationaldemokraten" (JN) über eine Jugendund mit dem "Ring Nationaler Frauen" (RNF) über eine Frauen-Organisation. Die NPD, deren Bundesgeschäftsstelle sich seit 2000 in Berlin befindet, vertritt rassistische und antisemitische Positionen, lehnt die freiheitliche demokratische Grundordnung ab und vertritt das Konzept einer ethnisch homogenen "Volksgemeinschaft". Wegen ihrer verfassungsfeindlichen Ideologie und den gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Aktivitäten hat der Bundesrat am 3. Dezember 2013 ein Parteiverbotsverfahren gegen die NPD eingeleitet. Die NPD ist in zwei Landtagen (Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern) vertreten und hat bundesweit mehr als 300 Kommunalmandate inne. Seit Dezember 2013 amtiert Udo Pastörs als Parteivorsitzender. Er wurde nach der Demission seines Vorgängers Apfel vom Parteivorstand zum Vorsitzenden der NPD gewählt. Ein ordentlicher Bundesparteitag, auf dem Pastörs auch von den Delegierten gewählt werden könnte, hat bislang nicht stattgefunden. Der Berliner NPD-Landesverband, der seit 2012 von Sebastian Schmidtke geführt wird, ist in neun Kreisverbände untergliedert. Aktuell sitzen je zwei NPDVerordnete in den Bezirksverordnetenversammlungen von Marzahn-Hellers- Rechtsextremismus 103 dorf, Lichtenberg und Treptow-Köpenick. Die Berliner NPD ist neonazistisch geprägt und eng mit dem Netzwerk "Freie Kräfte" verbunden. Bei der Bundestagswahl am 22. September verlor die NPD erneut Stimmen. Mit 2 1,3 Prozent der Zweitstimmen verpasste die Partei den Einzug in den Bundestag deutlich, gleichwohl konnte sie zwei ihrer wichtigsten Ziele erreichen. Zum einen gelang es ihr, mit einem Zweitstimmenanteil von mehr als einem Prozent erneut an der staatlichen Parteienfinanzierung zu partizipieren und zum anderen hatte sich die NPD eindeutig gegen die Konkurrenzparteien aus dem rechtsextremistischen Spektrum durchgesetzt. Das Ergebnis der NPD in Berlin entsprach in weiten Teilen dem Bundestrend. Hier konnte die Partei einen Zweitstimmenanteil von 1,5 Prozent (absolut: 27 033 Stimmen) erzielen und verlor damit 0,1 Prozent bzw. in absoluten Zahlen ca. 750 Stimmen. Auch in der Wählerverteilung zwischen dem Ostund Westteil der Stadt gab es im Vergleich zu 2009 kaum Veränderungen. Am erfolgreichsten schnitt die Partei in den Wahlkreisen Marzahn-Hellersdorf (3,9 Prozent), Lichtenberg (2,6 Prozent) sowie Treptow-Köpenick und Neukölln (jeweils 1,9 Prozent) ab. Mit Ausnahme von Marzahn-Hellersdorf verlor die NPD dabei allerdings in allen Wahlkreisen Stimmanteile. Wahlergebnisse NPD Bundestagswahl 2013 Bundestagswahl 2009 Zweitstimmen in Prozent absolut in Prozent absolut Bundesweit 1,3 560 828 1,5 635 525 Berlin-Gesamt 1,5 27 014 1,6 27 799 Berlin-West 1,0 10 843 1,2 12 222 Berlin-Ost 2,2 16 171 2,2 15 577 Trotz dieses alles andere als überragenden Ergebnisses bewertete die NPD-Führung das Abschneiden bei der Bundestagswahl durchaus als Erfolg, der "Zuversicht für das kommende Jahr"61 verleihen sollte. Dass diese Einschätzung wenig mit der Realität zu tun hatte, zeigte sich bereits einige Wochen nach der Bundestagswahl. 61 Internetauftritt der "Deutschen Stimme": "Mit Zuversicht ins Superwahljahr 2014", abgerufen am 20.1.2014. 104 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Zunächst reichte der Bundesrat am 3. Dezember einen Antrag auf Verbot der NPD nach Artikel 21 Grundgesetz beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ein. Der mehr als 250 Seiten umfassende Antrag belegt die Gegnerschaft der NPD zur Demokratie, ihre Wesensverwandtschaft mit dem historischen Nationalsozialismus, ihre rassistische und antisemitische Grundhaltung und ihre Vorstellung einer ethnisch homogenen Volksgemeinschaft. Auch das aggressiv-kämpferische Vorgehen der Partei gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung wird in der Begründung des Antrages detailliert dargelegt. Sollte das Bundesverfassungsgericht dem Antrag entsprechen, würde die NPD samt ihrer Teilorganisationen aufgelöst und ihr Vermögen eingezogen werden. Auf den Verbotsantrag, zu dem sich die NPD nach außen betont gelassen gab, folgte eine parteiinterne Schlammschlacht, die mit der Demission des Parteivorsitzenden Holger Apfel endete. Apfel, der insbesondere für die radikaleren Kräfte innerhalb der NPD schon länger ein Feindbild war, wurden private Verfehlungen vorgeworfen. Daraufhin musste er vom Vorsitz der Partei ebenso wie dem der NPD-Fraktion im sächsischen Landtag zurücktreten. Zwar wurde mit Udo Pastörs, dem Vorsitzenden der NPD-Fraktion im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern, schnell ein kommissarischer Nachfolger an der Spitze der Partei installiert. Doch auch Pastörs gelang es nicht, die Partei geschlossen hinter sich zu vereinen. Bereits bei der Wahl des NPD-Spitzenkandidaten zur Europawahl, nur knapp vier Wochen nach seinem Amtsantritt, musste sich Pastörs im Januar 2014 dem ehemaligen Parteivorsitzenden Udo Voigt geschlagen geben. Die Folgen dieses Wahlausganges sind aktuell noch nicht abzusehen. Die Auseinandersetzungen um den Parteivorsitz und die Spitzenkandidatur zur Europawahl haben nicht nur einen bezeichnenden Einblick in das problematische Innenleben der NPD ermöglicht, sondern dürften auch die internen Grabenkämpfe eher weiter befeuern als befrieden. In diesem Zustand ist es mehr als fraglich, ob die Partei den existenziellen Herausforderungen, vor denen sie steht, gewachsen ist. Es bleibt abzuwarten, mit welchem Personal und welcher Strategie sich die NPD bei den anstehenden Wahlen, der Auseinandersetzung mit alten und neuen Konkurrenten und dem Parteiverbotsverfahren stellen wird. Rechtsextremismus 105 2.6.3 "Die Rechte": Alte Neonazis in neuem Parteigewand "Die Rechte" 2 Gründung: 2012 Mitglieder: Berlin: 20 Bund: 430 (2012: 150) Die Partei "Die Rechte", die im Mai 2012 gegründet wurde, hat sich zusehends zu einem Auffangbecken für aktionsorientierte Neonazis, von denen viele zuvor verbotenen Kameradschaften angehörten, entwickelt. Ideologisch bedient die Partei vor allem fremdenfeindliche und anti-demokratische Positionen. Bei der Bundestagswahl, zu der die Partei nur in NordrheinWestfalen angetreten war, erzielte sie mit 2 288 Stimmen nicht einmal 0,1 Prozent der Zweitstimmen. Dass aktuell erst wenige Landesverbände der Partei bestehen, zeigt allerdings, dass die Partei bundesweit noch nicht über die Gründungsphase hinaus gekommen ist. Die meisten Aktivtäten gehen dementsprechend auch weniger von der Bundespartei, als vielmehr von einzelnen Landesverbänden aus, in denen die Partei über handlungsfähige Strukturen verfügt. Zu einem zumindest in einigen Regionen bereits ernst zu nehmenden Konkurrenten für die NPD hat sich in den vergangenen beiden Jahren die Partei "Die Rechte" entwickelt. Diese Partei hat eine durchaus bemerkenswerte Entwicklung hinter sich, wurde sie doch zunächst von einigen unzufriedenen DVU-Funktionären ins Leben gerufen, die die Fusion ihrer Partei mit der NPD nicht akzeptieren wollten - u. a. weil ihnen die NPD zu radikal war. In eine ganz neue Richtung entwickelte sich die Partei erst, als der über Jahrzehnte und im gesamten Bundesgebiert aktive Rechtsextremist Christian Worch den Vorsitz der Partei übernahm und diese für aktionsorientierte Neonazis öffnete. Diese Entwicklung setzte sich auch in Berlin fort. Am 15. September gründete sich in der rechtsextremistischen Szenekneipe "Zum Henker" der Berliner Landesverband der Partei. Bereits auf dieser Gründungsveranstaltung wurde klar, aus welchem Spektrum "Die Rechte" in Berlin das Gros ihrer Anhänger rekrutieren würde. Von den etwa 25 anwesenden Personen hatten nahezu alle Gründungsmitglieder 106 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 des Berliner Landesverbandes der Partei einen Vorlauf in der 2009 verbotenen Kameradschaft "Frontbann24". Insofern war es auch nicht verwunderlich, dass der ehemalige Anführer der Kameradschaft Uwe Dreisch zum Landesvorsitzenden der "Rechten" in Berlin gewählt wurde. Dieses Personal lässt an der neonazistischen Ausrichtung der Partei in Berlin keinen Zweifel. Mitglieder und Vorstand sind fest im aktionsorientierten Rechtsextremismus verankert und verfügen über enge Verbindungen insbesondere ins Netzwerk "Freie Kräfte". An diesen Verbindungen festzuhalten und sie weiter auszubauen, dazu hat sich die Partei explizit bekannt: "Ein weiterer Schwerpunkt ist die intensive Zusammenarbeit mit allen nationalen Lagern, insbesondere den freien unabhängigen Gruppierungen und Kräften." 62 Faktisch ist "Die Rechte" in Berlin kaum daran interessiert, als Partei am politischen Entscheidungsund Willensbildungsprozess teilzunehmen. Ihre Funktion ist zum jetzigen Zeitpunkt vielmehr darauf ausgerichtet, aktionsorientierten Neonazis organisatorischen Schutz zu bieten. Dabei dürften die persönlichen Erfahrungen vieler Parteimitglieder mit dem "Frontbann24"-Verbot eine wichtige Rolle gespielt haben. Die Aktivitäten der "Rechten" in Berlin hielten sich bislang in überschaubaren Grenzen. Die größte Veranstaltung der Partei fand bereits eine Woche nach ihrer Gründung, am 21. September statt, als etwa 60 Rechtsextremisten unter dem Motto: "Linke Gewalt öffentlich machen" in Lichtenberg demonstrierten. Danach fanden mehrere Kleinstkundgebungen vor der Bundesgeschäftsstelle der Partei "Bündnis90 / Die Grünen" statt, auf denen "Die Rechte" unter dem Motto: "Grün = pädophil. Wir fordern Antworten" die Pädophiliedebatte für sich zu instrumentalisieren versuchte. Diese Themenwahl war kein Zufall. Be62 Profil des Berliner Landesverbandes der Partei "Die Rechte" in einem sozialen Netzwerk, Posting vom 19.9.2013, abgerufen am 21.1.2014. Rechtsextremismus 107 reits seit längerem wird die Bekämpfung sexueller Gewalt von Rechtsextremisten im Allgemeinen und von den ehemaligen "Frontbann24"-Anhängern im Besonderen dafür benutzt, um Anschlussfähigkeit über rechtsextremistische Kreise hinaus herzustellen. Regelmäßig forderte etwa "Frontbann24" die "Todesstrafe für Kinderschänder". Dieser inhaltliche Schwerpunkt wurde offensichtlich direkt 2 von der verbotenen Kameradschaft in den Berliner Landesverband der Partei "Die Rechte" übertragen. Schließlich beteiligten sich die Mitglieder der "Rechten" auch an den rechtsextremistischen Protesten gegen das neu eröffnete Flüchtlingsheim in Hellersdorf. Dabei traten sie allerdings nicht unter dem Logo ihrer Partei auf, sondern waren Teil der von der sogenannten "Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf" getragenen Aktivtäten. Alles in allem präsentierte "Die Rechte" damit einen wenig innovativen Mix altbekannter rechtsextremistischer Inhalte. In welche Richtung sich die Partei zukünftig entwickeln wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer zu beurteilen. Mit ihrem aktuellen Personal und ihrer neonazistischen Ausrichtung dürfte "Die Rechte" in Berlin aktuell nicht in der Lage sein, ihren Mitgliederstamm erheblich zu vergrößern. Als Partei, die eng mit dem aktionsorientierten Rechtsextremismus in Berlin verbunden ist, steht sie zudem in direkter Konkurrenz zum Berliner Landesverband der NPD. Aufgrund einer weitgehenden ideologischen Konvergenz und einer Vielzahl persönlicher Kontakte hat diese Konkurrenz in Berlin - anders als in anderen Bundesländern - nicht zu größeren Konflikten zwischen beiden Parteien geführt. Das Verhältnis beider Parteien zueinander ist auch deshalb von nicht zu unterschätzender Bedeutung, weil "Die Rechte" sich bereits jetzt als Ersatz für eine möglicherweise verbotene NPD in Stellung bringt. Diese Strategie hat allerdings nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn das Verhältnis der Mitglieder beider Parteien zuvor nicht bereits irreparabel beschädigt wurde. Gegenüber dem Ziel, eine handlungsfähige Ersatzstruktur für den Fall eines NPDVerbots etabliert zu haben, ist auch die aktuelle Entwicklung der "Rechten" - Mitgliederzahlen, Wahlergebnisse, Finanzen - von deutlich geringerem Interesse für die Parteiführung. Für den Berliner Landesverband der Partei muss sich dabei erst 108 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 noch zeigen, ob die sprunghafte Führung und Basis der Partei über das "knowhow" und die Geduld verfügen, dieses eher mittelbis langfristig zu erreichende Ziel zu verfolgen. 2.6.4 "Pro Deutschland" auf Provokationstour Neben der NPD und der Partei "Die Rechte" war 2013 mit der so genannten "Bürgerbewegung Pro Deutschland" eine dritte rechtsextremistische Partei in Berlin aktiv. "Pro Deutschland" ist Teil einer heterogenen islamfeindlichen Szene, die nicht geschlossen agiert und unterschiedliche, oft virtuelle Organisationsund Vernetzungsformen nutzt. Im Zentrum der Aktivitäten von "Pro Deutschland" steht der Kampf gegen eine von der Partei diagnostizierte "Islamisierung" Deutschlands. In den Worten des damaligen Berliner Landesvorsitzenden von "Pro Deutschland" liest sich dies wie folgt: "Der Islam ist ein gefährlicher Aberglaube und geradezu ein Teufelswerk [...]. Aus dieser Sichtweise empfinden wir als Christen keinen Hass gegenüber den armen Menschen, die mit ihrer Zugehörigkeit zum Islam ein sicheres Ticket für die Fahrt in die Hölle gebucht haben. [Wir] können nur hoffen, dass sich möglichst viele der Irregeleiteten besinnen und sich bekehren lassen. [...] Der Islam ist weder friedlich, noch gehört er zu Deutschland." 63 Unschwer wird aus dieser Stellungnahme deutlich, dass die Partei, anders als in ihren öffentlichen Bekenntnissen, nicht zwischen dem Islam und Islamismus unterscheidet, sondern ihre Rhetorik und ihre Aktivitäten klar darauf abzielen, den Islam in Gänze und alle hier lebenden Muslime zu diffamieren. "Bürgerbewegung Pro Deutschland" - Landesverband Berlin Gründung: 2010 Mitglieder: Berlin: 100 Der Berliner Landesverband der Partei "Bürgerbewegung Pro Deutschland" wurde im Juni 2010 gegründet. "Pro Deutschland" sieht sich selbst als Vorkämpferin gegen eine aus Sicht der Partei stattfindende "Islamisierung" 63 Rechtsextremistischer Internetauftritt: "Interview mit Lars Seidensticker vom 24.5.2012", abgerufen am 7.8.2012. Rechtsextremismus 109 Deutschlands. In ihren islamfeindlichen Äußerungen dreht sich nahezu alles um Fragen wie Moscheebau, islamistischen Terror oder "Zuwanderungs-Ghettos" mit hohen Kriminalitätsraten. Undifferenziert agitiert die Partei dabei vor allem gegen Zuwanderer aus dem Nahen und Mittleren Osten und versucht 2 einen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen diesen Zuwanderern und Deutschen ohne Migrationshintergrund zu konstruieren. Obwohl sich die Partei immer wieder öffentlich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennt, ist die islamfeindliche Ausrichtung der Partei mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. "Pro Deutschland" steht in engem Kontakt mit anderen rechtsextremistischen und rechtspopulistischen Parteien Europas. Mit dieser Zielrichtung startete die Partei auch in den Bundestagswahlkampf 2013. Regelmäßig führte sie Kundgebungen durch, die unter dem Motto standen: "Islamisten stoppen", "Grundgesetz statt Scharia", oder "Salafisten abschieben". Diese von einem großen Polizeiaufgebot begleiteten öffentlichen Veranstaltungen wurden zumeist von dem immer gleichen, lediglich zehn bis 15 Personen umfassenden Teilnehmerkreis durchgeführt. Diese personelle Schwäche versuchte "Pro Deutschland" durch die Wahl möglichst provokanter Orte, an denen sie ihre Veranstaltung durchführte, auszugleichen. Immer wieder suchte sie dabei die Nähe zu Moscheen, um Muslime auch durch das Zeigen von "Mohammed-Karikaturen" zu provozieren. Da diese Provokationen allerdings nicht die für "Pro Deutschland" gewünschte Resonanz nach sich zogen, erweiterte die Partei ihr "Protestspektrum" und führte am 21. August eine Kundgebungsrundfahrt zu verschiedenen linken und linksextremistischen Objekten durch und beteiligte sich auch mit mehreren Kundgebungen an den rechtsextremistischen Protesten gegen das Flüchtlingsheim in Hellersdorf. Größere öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, gelang der Partei allerdings zu keinem Zeitpunkt. Speziell in Hellersdorf blieb "Pro Deutschland" mit ihren wenigen Anhängern bestenfalls eine Randnotiz der dortigen Vorkommnisse. 110 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Die Hoffnung, mit ihrer Strategie der maximalen Provokation Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und damit Wähler zu überzeugen, scheiterte aber nicht nur in Hellersdorf auf ganzer Linie. Bei der Bundestagswahl am 22. September konnte "Pro Deutschland" lediglich 0,2 Prozent der Zweitstimmen (absolut: 73 854) erzielen und verfehlte damit sogar ihr Minimalziel, die Wahlkampfkostenerstattung, deutlich. Auch in Berlin blieb die Partei mit 0,3 Prozent der Zweitstimmen (absolut: 5 665) vollkommen erfolglos. Zu einer kritischen Prüfung der eigenen Inhalte und Strategien oder des Personals von "Pro Deutschland" führte dieses desaströse Ergebnis allerdings nicht. Vielmehr propagierte der Bundesvorsitzende von "Pro Deutschland" ein Weiter-so: "Klar ist, wie es mit pro Deutschland weitergeht. Wir werden Kurs halten, unser programmatisches Profil weiter schärfen und trotz aller Widerstände von außen bei unserer Forderung bleiben: Mehr Bildung, weniger Zuwanderung!" 64 Wie dieses "Kurs halten" aussehen sollte, wurde nach der Bundestagswahl schnell klar. Die Partei suchte weiter nach Themen, die in der Öffentlichkeit präsent waren, um diese für die Verbreitung ihrer islamund fremdenfeindlichen Positionen zu nutzen. Sie fand dieses Thema dann in der Situation rund um das Flüchtlingscamp am Oranienplatz, die für "Pro Deutschland" den Aufhänger für eine Kampagne gegen das Asylrecht bildete. So erklärte die Partei in einem Bericht über eine am 16. Dezember vor dem Amtssitz der Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg durchgeführte Kundgebung: "Regelmäßig werden nur weniger als zwei Prozent der Asylbewerber in Deutschland von den Verwaltungsgerichten als politische Verfolgte anerkannt. Weit mehr als 90 Prozent sind erwiesenermaßen Wirtschaftsflüchtlingen, denen ein Recht auf Aufenthalt in Deutschland nicht zusteht - auch nicht im Berliner Problembezirk FriedrichshainKreuzberg." 65 64 Manfred Rouhs: Kommentar zum Artikel "Einigung unter dem Dach von Pro NRW!" in einem rechtsextremistischen Internetauftritt, abgerufen am 23.9.2013. 65 Internetauftritt von "Pro Deutschland": "Friedrichshain-Kreuzberg: Demo vor dem Amtssitz von Monika Herrmann", abgerufen am 22.1.2014. Schreibweise im Original. Rechtsextremismus 111 Nennenswerten Zuspruch erhielt "Pro Deutschland" aber auch damit nicht. Vielmehr blieb die Partei in ihrer Nische gefangen, in die sie sich durch die Besetzung rechtsextremistischer Positionen, bei gleichzeitiger öffentlicher Distanzierung vom Rechtsextremismus, selbst begeben hat. Dass die Partei aus ihrem Schattendasein herauskommt, ist wenig wahrscheinlich. Daran wird auch der Anfang 2 Januar 2014 neugewählte Landesvorstand von "Pro Deutschland" wenig ändern können und wollen - gehören ihm doch ausschließlich Funktionäre an, die bereits zuvor mit der Führung des Landesverbandes betraut waren. Darunter befinden sich auch zwei ehemalige Funktionäre der Berliner DVU. 2.7 Diskursorientierter Rechtsextremismus Lange Zeit war der diskursorientierte Rechtsextremismus in Berlin infolge von Vereinsverboten66 und der Inhaftierung führender Köpfe der Szene weitgehend inaktiv. Die konsequente Verfolgung der fortgesetzten Holocaust-Leugnung, die im Mittelpunkt der Aktivitäten dieser Szene stand, verunsicherte den diskursorientierten Rechtsextremismus nachhaltig und führte dazu, dass neue Akteure und Inhalte in den Vordergrund rückten. Vor allem die sogenannte "Reichsbürgerbewegung" (RBB) sorgte dafür, dass der diskursorientierte Rechtsextremismus wieder verstärkt in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung geriet. 2.7.1 "Reichsbürgerbewegung" sucht die Öffentlichkeit Bei der "Reichsbürgerbewegung" handelt es sich um eine äußerst heterogene und unübersichtliche Szene, in der mehrere Einzelpersonen, aber auch tatsächliche und fiktive Personenzusammenschlüsse wie die "Exilregierung Deutsches Reich", die "Kommissarische Reichsregierung des Staates 2tes Deutsches Reich" oder das "Fürstentum Germania" aktiv sind. Was die meisten Anhänger der "Reichsbürgerbewegung" ideologisch verbindet, ist die Vorstellung, dass das Deutsche Reich völkerrechtlich bis heute fortbestehen würde und die Bundesrepublik Deutschland damit keinerlei Existenzberechtigung habe. Staatliche Organe und Institutionen würden illegal arbeiten und seien somit nicht zu beachten. Vielmehr werden die Regierungsgeschäfte für die Anhänger der "Reichsbürgerbewegung" von "kommissarischen Reichsregierungen", die zahlreiche, wie etwa die o. a. Gruppierungen zu vertreten glauben, geführt. 66 Von diesen Verboten waren u. a. der "Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten" (VRBHV) und die "Heimattreue Deutsche Jugend" (HDJ) betroffen, die vom Bundesministerium des Innern im Mai 2008 bzw. im März 2009 verboten wurden. 112 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Die von ihnen behauptete Nicht-Existenz der Bundesrepublik Deutschland versuchen Anhänger der "Reichsbürgerbewegung" in einer Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten und mit zum Teil abstrusen "Rechtsgutachten" zu belegen. Zudem weigern sich Teile der "Reichsbürger", Steuern zu entrichten oder behördlichen Bescheiden und Vollstreckungsmaßnahmen Folge zu leisten. Neben überwiegend grotesken Rechtsstreitigkeiten versucht die "Reichsbürgerbewegung" auch zunehmend, öffentliche Stellen mit absurden, zeitintensiven und mehr oder weniger eindeutig rechtsextremistisch konnotierten Eingaben zu verunsichern. Zum Aktionsrepertoire der "Reichsbürgerbewegung" gehören aber auch eigenmächtige "Festnahmen" und das Betreiben angeblich exterritorialer Liegenschaften. In Berlin traten Anhänger der RBB auch zweimal öffentlich auf. Am 25. August nahmen einzelne Reichsbürger an einem nichtextremistischen "Berliner Marsch gegen Chemtrails67 und Geoengineering" teil und versuchten mit eigenen Flugblättern ihre Ideologie zu verbreiten. Am 13. September versammelten sich etwa 80 der RBB zuzurechnende Personen, die aus dem gesamten Bundesgebiet angereist waren, auf dem Platz der Republik. Diese Aktion war zunächst im Internet als "Manifestation - Freiheit für alle Menschen, für Heimat und Frieden" beworben worden. Da die diesbezüglich angemeldete Kundgebung allerdings nicht genehmigt worden war, ging die Polizei mit Platzverweisen gegen die vor dem Reichstag erschienenen "Reichsbürger" vor, die daraufhin zwei Spontan-Kundgebungen außerhalb des befriedeten Bezirks abhielten. Insgesamt trat die "Reichsbürgerbewegung" damit im vergangen Jahr wesentlich offensiver und aggressiver als zuvor auf. Offensichtlich gaben sich Teile der RBB nicht mehr damit zufrieden, ihren Ideologiemix aus revisionistischen, antisemitischen und verschwörungstheoretischen Positionen in ihren Privaträumen oder den Hinterzimmern von Kneipen zu pflegen. Gezielt wurden die Öffentlichkeit und die Auseinandersetzung mit Behörden und Gerichten gesucht. Auch wenn in Berlin noch keine gefestigten Strukturen der RBB existieren, werden sich Einzelpersonen weiter um die Verbreitung ihrer Ideologie bemühen und die Bundesrepublik Deutschland zu delegitimieren versuchen. 67 Das Wort "Chemtrails" setzt sich zusammen aus "Chemie/Chemikalien" und dem englischen Wort "contrails" (Kondensstreifen). Chemtrail-Gegner behaupten, dass Kondensstreifen neben Flugzeugabgasen weitere Chemikalien enthalten, die bewusst ausgebracht würden, um die Weltbevölkerung zu reduzieren. Linksextremismus 113 3 Linksextremismus 3 3.1 Ideologie und Historie Die Erweiterung des Extremismusbegriffs um die Richtungsangabe "Links" resultiert aus der historischen Unterscheidung des politischen Spektrums in "Links" und "Rechts". Am Vorabend der Französischen Revolution saßen links vom Parlamentspräsidenten der Nationalversammlung die Kräfte, die sich gegen die alte feudalistische Ordnung auflehnten und den Werten der Aufklärung politisch die Bahn brachen. Als Linksextremismus erhält der Begriff heute seinen Gehalt in der irrealen Verabsolutierung der aufklärerischen Ziele von Freiheit und Gleichheit, wie sie sich insbesondere in den Ideen von Kommunismus und Anarchismus ausdrücken. Versuche, diese Konzepte in die Realität umzusetzen, scheiterten an ihren eigenen Ansprüchen. Die Idee des Kommunismus setzt das Ziel der Gleichheit absolut und macht die kapitalistische Eigentumsordnung für die immensen sozialen Ungleichheiten am Beginn des Industriezeitalters verantwortlich. Marx und Engels unterscheiden in Besitzer ("Bourgeoisie") und Nicht-Besitzer ("Proletariat") von Produktionsmitteln, die ihre gegensätzlichen Interessen nach einem historischen Gesetz ("Historischer Materialismus") im Klassenkampf austragen würden. Durch den Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie sollten mit den Produktionsverhältnissen ("Basis") schrittweise auch die Herrschaftsverhältnisse ("Überbau") überwunden werden. Über den Sozialismus und die "Diktatur des Proletariats" führe der Weg in den vollständig egalitären Kommunismus. In der Praxis fand die Arbeiterklasse aber nicht über ihr "Sein" selbständig zum revolutionären "Bewusstsein". Lenin ergänzte die Theorie daher um eine "Partei neuen Typs" als revolutionäre Avantgarde der Arbeiterklasse. Stalin erweiterte den Führungsanspruch der Partei zu einem quasi-religiösen Kult um seine eigene Person. Und Mao übertraf seine Vorgänger noch, als er nach Ausschaltung der Feinde innerhalb und außerhalb des Apparats mit gewaltigen Umerziehungsprogrammen auch die innere Opposition der Menschen brechen wollte. Am Ende stand bzw. steht in allen Fällen des "real existierenden Sozialismus" nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Dikta- 114 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 tur über das Proletariat. Der so genannte "Marxismus-Leninismus" ist bis heute die programmatische Grundlage kommunistischer Parteien. Anders als der Kommunismus verabDefinition Linksextremismus solutiert der Anarchismus nicht die Linksextremismus ist ein SammelbeIdee der Gleichheit, sondern die der griff für alle gegen die freiheitliche Freiheit. Im Sinne dieser Idee gilt es demokratische Grundordnung gezunächst nicht das Eigentum abzurichteten Bestrebungen, die auf einer schaffen, sondern den Staat. Das Ziel Verabsolutierung der aufklärerischen ist eine herrschaftsfreie Gesellschaft Werte von Freiheit und Gleichheit ohne Fremdbestimmung. Dennoch beruhen, wie sie sich insbesondelehnen Anarchisten auch das Privatre in den Ideen von Kommunismus eigentum als Herrschaftsform der Beund Anarchismus ausdrücken. Nesitzenden über die Nicht-Besitzenden ben der Abschaffung der marktwirtab. Der Anarchismus verfügt über kein schaftlichen Wirtschaftsordnung, stringentes und vermeintlich "wisdie allein keinen Anhaltspunkt für senschaftliches" Theoriegerüst wie verfassungsfeindliche Bestrebungen der Kommunismus. Es existieren eine begründet, streben LinksextremisReihe von Auslegungen unterschiedliten auch die Überwindung der reprächer Vordenker. Überwiegend gemeinsentativen Demokratie an. Dieses, sam ist ihnen die Erwartung, dass die meist auf den Begriff des KapitalisMenschen sich mit der Abschaffung mus reduzierte "System" soll entwehierarchischer Strukturen selbst order durch die Herrschaft einer zentganisieren, z.B. in dezentralen Räten. ralistischen Partei, durch dezentrale Der Weg dahin muss entgegen landSelbstverwaltungen oder die Elimiläufiger Meinung auch nicht zwingend nierung jeglicher Regierungsstrukgewaltsam erstrebt werden, sondern turen ersetzt werden. Verfechter setzt in der syndikalistischen Intersolcher Ideen gründen Parteien und pretation z.B. bei gewerkschaftlicher Organisationen, um bei Wahlen anOrganisierung an. Mit dem Anarchiszutreten oder für ihre Ziele öffentlich mus historisch verbunden bleiben jezu werben. Andere versuchen, zivildoch die als "Propaganda der Tat" gesellschaftliche Initiativen zu ungedachten Attentate auf zahlreiche terwandern, um diese in ihrem Sinne Staatsoberhäupter an der Wende zum zu beeinflussen. Organisationsund zwanzigsten Jahrhundert. Die erhoffte theorieferne "Autonome" setzen Signalwirkung für einen "Aufstand der eher auf demonstrative bis militante Masse" hatten diese jedoch nicht und Linksextremismus 115 so blieb die Idee des Anarchismus in Ausdrucksformen, um damit Signalder Umsetzung eine Fußnote der Gewirkung zu erzielen - und missachschichte. ten dabei bewusst das staatliche GeDie auf dem Prinzip einer "wehrhafwaltmonopol. Gemeinsam ist ihnen ten Demokratie" gründende Bundesdie Neigung, soziale Problemlagen republik Deutschland setzte durch das politisch zu instrumentalisieren und Verbot der "Kommunistischen Partei vordergründig im Gewand legitimer 3 Deutschlands" (KPD) - sie hatte zum Gesellschaftskritik zu verschleiern. revolutionären Sturz der AdenauerRegierung aufgerufen - im Jahre 1956 ein Zeichen gegen den parteipolitischen Extremismus von Links. Im Kampf gegen den mit politischen Morden agierenden Linksterrorismus - mit dem Kulminationspunkt im "Deutschen Herbst" 1977 - erlebte die freiheitliche demokratische Grundordnung wohl ihre größte Bewährungsprobe. Die Strategie der "Rote Armee Fraktion" (RAF) zielte - erfolglos - darauf ab, den Staat durch Attentate auf seine Repräsentanten zu Überreaktionen zu provozieren, um dessen vermeintlich autoritäres und faschistisches Wesen zu demaskieren. Seit den 1980er Jahren wird das Bild vom Linksextremismus in Deutschland vor allem von den so genannten "Autonomen" geprägt, die mit ihrem martialischen Auftreten in "Schwarzen Blöcken" und oftmals krawallartigen Aktionismus manchmal den Eindruck eines eher unpolitischen Vandalismus erwecken. Doch diese Einschätzung wäre vordergründig. Autonome grenzen sich vom strengen Dogmatismus und der kaderartigen Organisation kommunistischer Parteien wie auch von Linksterroristen ab. Wie Anarchisten besitzen sie kein geschlossenes Theoriegebäude. Die Unterwerfung unter einen organisierten Willen lehnen sie kategorisch ab. Diese Theorieund Organisationsferne ist bestimmender Teil ihrer Ideologie, die das Individuum und seine Selbstverwirklichung in den Mittelpunkt stellt. Das Prinzip der "Politik der ersten Person" beruht auf dem souveränen Handeln aufgrund individuellen Betroffenseins. Entscheidungen über das eigene Leben sollen nicht von Dritten stellvertretend für sie getroffen werden. Dieses selbstermächtigende Politikverständnis manifestiert sich praktisch u.a. im militanten Widerstand gegen alles, was subjektiv als Missstand empfunden wird - nach dem Credo "Macht kaputt was euch kaputt macht". Aus dieser Haltung heraus lehnen Autonome sowohl das Repräsentationsprinzip wie auch das staatliche Gewaltmonopol ab. 116 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Im historischen Rückblick kann man für Berlin drei Strömungen von Autonomen unterscheiden: Die Hausbesetzer-Szene Anfang der 1980er Jahre als Reaktion auf zunehmende Wohnraumspekulation, zweitens die "Antifa" Anfang der 1990er Jahre in Folge einer Welle fremdenfeindlicher Übergriffe sowie drittens und aktuell die (re)organisierten Postautonomen, die vor allem im Zuge von Globalisierungskritik und Finanzkrise Aufwind erhalten. Letztere sind nicht mehr als Autonome im ursprünglichen Sinne zu bezeichnen. Im politischen Protest gegen Kapitalismus, Militarismus, Faschismus usw. suchen und finden diese Strömungen in unterschiedlichem Ausmaß Anschluss an subkulturell verwandte oder ideologisch nahestehende Milieus. Das macht die Unterscheidung zwischen dem Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und für ein legitimes gesellschaftliches Anliegen erheblich schwieriger als in anderen Phänomenbereichen des politischen Extremismus. 3.2 Personenpotenzial und Straftaten Linksextremisten führen ihren Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mit legalen und illegalen Mitteln. Zu den legalen gehören Parteiund Vereinsgründungen zu ihrer Vernetzung sowie die Durchführung von öffentlichen Veranstaltungen und das Erstellen von Publikationen zur Verbreitung ihrer politischen Ideen. Teilweise versuchen sie auch andere Organisationen zu unterwandern. Manchmal treten sie zu Wahlen an. Dabei gilt es zuallererst, Menschen für ihre verfassungsfeindlichen Ziele zu gewinnen. Darüber hinaus kämpfen Teile der linksextremistischen Szene auch mit illegalen Mitteln gegen das ihnen verhasste "System". Dabei begehen sie Straftaten bis hin zu schwerer Gewalt gegen Repräsentanten und Institutionen von Staat und Wirtschaft, andere Personen oder Organisationen, die sie als politische Gegner betrachten, sowie gegen Fahrzeuge und Gebäude, die nicht in ihr Weltbild passen. Insofern sind sowohl die Personenpotenziale wie auch die Zahl der Straftaten wichtige quantitative Indikatoren für die aktuelle Entwicklung im Berliner Linksextremismus. Linksextremismus 117 Personenpotenzial Linksextremismus* Berlin Bund** 2012 2013 2012 2013 Gesamt 2 410 2 520 29 400 27 700 Gewaltbereite Linksextremisten, davon 1 040 1 020 7 100 6 900 Autonome 870 810 Sonstige 170 210 Nicht-gewaltbereite Linksextremisten, davon 1 120 1 280 22 600 21 600 "Rote Hilfe e.V." 880 1 000 3 Sonstige 240 280 Linksextremistische Parteien 250 220 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. ** Gesamtzahlen nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften. Das linksextremistische Personenpotenzial Berlins hat erneut leicht zugenommen. Wie im Vorjahr beruht diese Entwicklung auf einem Mitgliederzuwachs bei den eher unterstützend und propagandistisch wirkenden Organisationen, vor allem beim "Rote Hilfe e.V.". Die Zahl der gewaltbereiten Linksextremisten dagegen stagniert. Während die Basis der "traditionellen" Autonomen dabei weiter bröckelt, rekrutieren die vordergründig moderater auftretenden postautonomen Gruppierungen neue Aktivisten. Ursache ist zum einen die demografische Entwicklung, die dazu führt, dass dem Jugendalter entwachsene Autonome ihr politisches Engagement in weniger aggressiven Formen fortführen. Zum anderen schlagen hier Mitgliederwerbekampagnen der "Roten Hilfe" zu Buche. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht jedes Mitglied dieses Unterstützervereins selbst verfassungsfeindliche Ziele verfolgen muss. Die an Statuten und Aktivitäten erkennbaren Bestrebungen der Organisation und ihrer Entscheidungsträger führen jedoch zu ihrer Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Linksextremistische Parteien bleiben auch weiterhin bedeutungslos. 118 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Fallzahlen Politisch motivierte Kriminalität - Links* 2012 2013 Terrorismus - - Gewaltdelikte, davon 209 276 gegen rechts 46 112 Polizei 152 175 Umstrukturierung 50 55 sonstige Delikte, davon 657 747 gegen rechts 169 267 Polizei 100 133 Umstrukturierung 210 183 Gesamt, davon 866 1 023 gegen rechts 215 379 Polizei 252 308 Umstrukturierung 260 238 *Auszug aus dem Bericht "Lagedarstellung der Politisch motivierten Kriminalität in Berlin für das Jahr 2013" des Landeskriminalamtes Berlin (LKA). Der vollständige Bericht ist im Internet unter www.berlin.de/sen/inneres/sicherheit/statistiken/index.html eingestellt. Die Anzahl politisch links motivierter Strafund Gewalttaten ist 2013 ähnlich wie das Personenpotenzial gestiegen, wobei zwischen diesen Entwicklungen kein Zusammenhang besteht. Das liegt auf der einen Seite daran, dass der Anstieg des Personenpotenzials vor allem im Spektrum legalistischer Organisationen zu verzeichnen ist. Auf der anderen Seite korrespondiert das Ausmaß politisch links motivierter Strafund Gewalttaten mit oft unvorhersehbaren Anlässen, die zu temporären Ausschlägen der Kriminalitätsstatistik nach oben führen. 2012 fehlte es an solchen Anlässen, 2013 gab es diese vor allem in Form von Auseinandersetzungen rund um das Thema Flüchtlinge. Diese schlagen sich sowohl in einer Zunahme von Links-Rechts-Auseinandersetzungen wie auch von Angriffen auf Polizeibeamte im Rahmen mehrerer Demonstrationen zum Thema nieder. Die sehr medienwirksam inszenierte "Berliner Liste" führte entgegen der öffentlichen Wahrnehmung jedoch nicht zu einem Anstieg der Straftaten im Themenzusammenhang Stadtumstrukturierung. Linksextremismus 119 3.3 Aktuelle Entwicklungen 3.3.1 "Anarchos" auf der Suche nach Militanz Wenn von relevanten Entwicklungen im Berliner Linksextremismus zu berichten ist, dann konnte in den letzten Jahren und kann auch aktuell nur von den Autonomen die Rede sein. Die in viele Kleingruppen zersplitterte autonome Szene Berlins lässt sich im Wesentlichen in drei große Spektren unterteilen: den "Anarchos", 3 der "Antifa" und den "Postautonomen". Die "Anarchos" sind die älteste und ursprünglichste Erscheinungsform der hiesigen Autonomen, die ihre Wurzeln in der Hausbesetzer-Szene Anfang der 1980er Jahre hat. Dabei ging es Teilen der Besetzer nicht nur um den Kampf gegen Wohnraumspekulation, sondern auch darum, anti-autoritäre Gegenentwürfe zu den herrschenden Verhältnissen zu leben und aus einer "Nicht-Verhandler"-Position heraus in die Konfrontation mit dem als repressiv empfundenen Staat zu treten. Ein Teil der damals besetzten Häuser wurde inzwischen legalisiert, der Rest nach und nach geräumt. Ein Rudiment ist die "Rigaer 94" in Friedrichshain - die wohl wichtigste Institution der Berliner "Anarcho"-Szene. Im Übrigen wird dieses Spektrum von äußerst klandestin agierenden Kleinstgruppen geprägt, die vor allem gegen den Polizeiund Justizapparat agitieren. Die wichtigsten Vertreter sind "Anarchist Black Cross" (ABC) und "Out of Control" (ooc). Die Grenzen zu traditionellen Anarchisten sind fließend. Der Unterschied liegt darin, dass "Anarchos" eher oberflächlich auf Fragmenten anarchistischer Ideen aufsetzen und vor allem ihren militanten Habitus pflegen. Traditionelle Anarchisten orientieren sich an Vordenkern aus dem 19. Jahrhundert, weisen festgefügtere Organisationsstrukturen auf und sind meist weniger gewaltgeneigt. An Silvester unangemeldet zur JVA Der Beginn eines Jahres steht im Berliner Linksextremismus traditionell im Zeichen der "Anarcho"-Szene und ihrem Kampf gegen staatliche Repression und für "autonome Freiräume". 120 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Anarchist Black Cross (ABC) Gründung: 2004 Mitglieder: Berlin: 5-10 (2012: 5-10) Das "Anarchist Black Cross" ist eine internationale Bewegung, die 1905 als "Anarchistisches Rotes Kreuz" in Russland gegründet wurde. Ihre zentrale Aufgabe sieht sie in der Unterstützung inhaftierter Anarchisten. Die seit 2004 existierende anarchistische Kleingruppierung ABC Berlin beruft sich auf deren Tradition. Sie engagiert sich fast ausschließlich im Aktionsfeld "Anti-Repression". Auf einer regelmäßig aktualisierten Internetpräsenz sowie in der Zeitschrift "Entfesselt" ruft sie u.a. zur Solidarität mit verurteilten Terroristen der "Rote Armee Fraktion" (RAF) und der "Revolutionären Zellen" (RZ) auf, die sie als "politische Gefangene" ansieht. Darüber hinaus ist ABC lediglich durch die Organisation von Demonstrationen vor Haftanstalten wahrnehmbar. Dazu kooperiert sie auch mit anderen Akteuren aus dem autonomen Spektrum. Ansonsten agiert die Gruppierung äußerst klandestin. Laut Selbstdarstellung ist sie geprägt vom Hass auf die Zwänge der kapitalistischen Gesellschaft, für die gerade Gefängnisse symbolisch stünden. Auch am Silvesterabend 2012/2013 fanden die inzwischen fest im autonomen Terminkalender etablierten "Knastdemos" statt. Und wie in den letzten Jahren spielte dabei die gerade eine Handvoll Aktivisten umfassende Gruppierung "Anarchist Black Cross" (ABC) eine zentrale Rolle. Am Nachmittag ging es zunächst mit 200 Personen zum Frauengefängnis Lichtenberg und zur Nacht dann - unangemeldet - mit 300 Personen zur Justizvollzugsanstalt Moabit. Mit diesen ritualisierten Aufzügen soll die Ablehnung von Gefängnissen stellvertretend für alle staatlichen Kontrollund Repressionsmechanismen demonstriert werden. Wir wollen verschiedene stattfindende Kämpfe gegen die Logik der Disziplinierung und Kontrolle zusammenbringen (...) Wir wollen uns nicht der Logik fügen, die den Knast am Leben erhält (...) Wir sehen einen Zusammenhang dazwischen, wie uns der Knast von Menschen trennt, die gegen herrschendes Recht verstoßen haben und den Praktiken, in denen Menschen (...) ausgegrenzt und ausgebeutet werden.68 68 Artikel "Grenzen und Mauern einreißen - für eine solidarische Gesellschaft!" auf der Internetpräsenz "silvesterzumknast" (ohne Datum, Demonstrationsaufruf zum 31.12.2012). Linksextremismus 121 "Knastdemos" finden bundesweit statt und sind per se auf Konfrontation mit der Polizei angelegt. Fast zwangsläufig kam es in der Nacht also zu entsprechenden Auseinandersetzungen mit der Folge von zwei verletzten Beamten sowie zehn Festnahmen. Außerdem wurde wie im Vorjahr an der Oberbaumbrücke ein Einsatzfahrzeug mit Steinen angegriffen. In zeitlicher und räumlicher Nähe in der Wrangelstraße kam es außerdem noch zu einem schweren LandfriedensAnti-Repression bruch, bei dem Polizei und Feuerwehr Der Kampf gegen vermeintliche 3 mit Pyrotechnik beschossen wurden. staatliche Kontrolle und RepressiDennoch war die Beteiligung für die on ist konstitutiv für das SelbstverOrganisatoren eher enttäuschend. ständnis von Autonomen und zugleich Ausdruck ihrer ideologischen Gewalttätige Proteste gegen den Verwurzelung im Anarchismus. Die Polizeikongress damit verbundene Ablehnung des Zur bedeutendsten Veranstaltung der staatlichen Gewaltmonopols ist das "Anarcho"-Szene hat sich in den letzzentrale verbindende Element innerten Jahren die Demonstration gegen halb der in Kleingruppen zersplitterden in Berlin stattfindenden "Euroten Szene. Repression bezeichnet in päischen Polizeikongress" entwickelt. ihrem Verständnis alle Institutionen, In diesem Zusammenhang ist ein stedie der Aufrechterhaltung von innetig wachsendes Aggressionsund Gerer Sicherheit und öffentlicher Ordwaltpotenzial zu beobachten. Für die nung dienen, insbesondere GefängProteste wurde das unzweideutige nisse. Staatliche Repräsentanten Motto ausgegeben "Gegen den Staat aus Polizei und Justiz nehmen sie als und seine Freunde. Berlin muss brenVertreter eines "Repressionsappanen". Auch diese Versammlung wurde rates" wahr, der nur dazu existiere, bewusst nicht angemeldet und stattdas "herrschende System" in seinem dessen vorab verschiedene Szenarien Bestehen zu sichern. Um die angebdes Ablaufs in Abhängigkeit von den lich strukturelle Gewalt des Staates Reaktionen der Polizei diskutiert. Eine zu entlarven, wird bei Demonstratiofederführende Rolle spielte dabei die nen die Konfrontation mit der Polizei Gruppierung "Out of Control" (ooc). gesucht. Mit Plakaten wie "Hass auf Die Taktfrequenz der Aufrufe erreichSchweine" und Parolen wie "Ganz te dabei schon fast das Niveau der MoBerlin hasst die Polizei!" sollen andebilisierung zum 1. Mai. Anders als zu re Teilnehmer aufgewiegelt und zu diesem Datum sind die Autonomen bei Straftaten angestiftet werden. 122 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 den Protesten gegen den Polizeikongress jedoch praktisch unter sich - und machten von vornherein keinen Hehl aus ihren auf Randale angelegten Absichten. "Wenn wir die Polizei angreifen, dann nicht um sie von unseren Demos zu jagen, sondern um sie aus unseren Leben zu vertreiben (...) So etwas wie Gesellschaft wird erst durch die Polizei konstituiert. In letzter Instanz hält diese den Laden durch den Gebrauch der Knarre und das verbreiten von Angst am Laufen."69 Schon weit im Vorfeld kam es zu Straftaten, bei denen Fahrzeuge - u.a. fünf Pkw des Ordnungsamtes Mitte - in Brand gesetzt und im Rahmen der öffentlichkeitswirksamen Aktion "Camover" Überwachungskameras zerstört wurden. Genau um 20 Uhr des 16. Februar versuchten schließlich etwa 650 Personen unter dem Abbrennen von Bengalos geschlossen vom Mariannenplatz in Richtung Heinrichplatz zu marschieren und bewarfen die eingreifenden Polizeikräfte sofort mit Steinen. Anschließend zerstreute sich der Aufzug in Kleingruppen, die dann dezentral im gesamten umliegenden Kreuzberger Kiez agierten. Dabei wurden Hindernisse auf die Fahrbahn verbracht und teilweise in Brand gesetzt. Es kam zu Sachbeschädigungen u.a. an diversen Pkw, Bushaltestellen, Scheiben der Bundesdruckerei sowie von zwei Sparkassenfilialen. Out of Control (ooc) Gründung: 2009 Mitglieder: Berlin: ca. 10 (2012: ca. 10) Ähnlich wie ABC ist ooc eine anarchistische Kleingruppierung aus dem Aktionsfeld "Anti-Repression". Sie verfolgt seit ihrer Gründung 2009 eine vergleichbare Strategie mit Demonstrationen zum Thema Anti-Repression, setzt aber andere inhaltliche Schwerpunkte, die vor allem an der Kritik an erweiterten Sicherheitsarchitekturen der EU sowie einer vermeintlichen europäischen Ab69 Artikel "Demo gegen Polizei (-Kongress)" auf der Internetpräsenz "polizeikongress2013" mit Datum vom 29.1.2013. Schreibweise im Original. Linksextremismus 123 schottungspolitik anknüpfen. Ihr Motto heißt "Sicherheitsarchitekturen einstürzen", wobei ihre Aktivitäten sowohl auf staatliche Sicherheitsbehörden wie auch private Sicherheitsunternehmen zielen. Zum jährlich in Berlin stattfindenden "Europäischen Polizeikongress" werden von ooc regelmäßig Gegenproteste organisiert, die oft gewalttätig verlaufen. Zu solchen und ähnlichen Anlässen suchen sie die Kooperation mit anderen autonomen Gruppierungen, ansonsten agieren sie ebenso wie ABC äußerst konspirativ. 3 Ein geschlossener Aufzug konnte jedoch verhindert werden. 65 Personen wurden mindestens vorübergehend festgenommen, acht Polizisten wurden verletzt. Im Rückblick fällt auf, dass öfter als in den Vorjahren bewusst darauf verzichtet wurde, Demonstrationen bei der Versammlungsbehörde anzumelden, was zwar die Teilnehmerzahlen verringert, aber mehr Optionen für unberechenbares militantes Handeln eröffnet. Das ist nicht zuletzt eine Reaktion darauf, dass es bei den traditionellen Großevents der Szene zunehmend weniger gelungen ist, Massenrandale zu inszenieren. Der militante Kampf gegen Gentrifizierung und für Freiräume Ein weiteres wichtiges Thema der "Anarchos" im Rahmen ihres Kampfes für Anti-Gentrifizierung "autonome Freiräume" ist der militanDer Kampf gegen städtebauliche te Widerstand gegen eine sozialund Umstrukturierungen zur Aufwerwohnräumliche Umstrukturierung, tung von Kiezen - auch "Gentrifiziedurch die sich Teile der Szene in ihren rung" genannt - ist ebenso wie der wenigen verbliebenen RückzugsgebieWiderstand gegen vermeintliche Reten bedroht sehen. Bei diesem Thema pression eng mit der Genese der Aulassen sich trotz des besonders militonomen als politischer Bestrebung tanten Auftretens dieses Spektrums verbunden. Im Gegensatz zu vielen Schnittstellen zu zivilgesellschaftliStadtteilund Mieterinitiativen geht chem Protest herstellen, denn von Veres ihnen jedoch nicht allein um den drängungsprozessen fühlen sich nicht Erhalt sozialund wohnräumlich genur Linksextremisten, sondern auch wachsener Strukturen, sondern um Teile der Berliner Bevölkerung, geradie Etablierung so genannter "aude in Innenstadtbezirken, nachteilig tonomer Freiräume", die dem Zubetroffen. griff des Staates entzogen und in 124 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Sichtbar wurde dies insbesondere denen rechtsstaatliche Normen auim Rahmen der Zwangsräumung eißer Kraft gesetzt werden sollen. Als ner Wohnung in der Lausitzer Stra"Freiraum" deklarierte Gebiete oder ße am 14. Februar, also gerade zwei Gebäude werden gegen rechtmäßiTage vor der Demonstration gegen ge Räumungen gewaltsam "verteiden Polizeikongress. Hier sollte eine digt" und noch nach erfolgten Saniefünfköpfige Familie nach einem länrungen immer wieder angegriffen. ger schwelenden Streit um MieterhöNicht selten mündet dies in schweren hungen ihre Wohnung endgültig verSachbeschädigungen und mehr oder lassen. Der Versuch, die Räumung zu weniger spontanen Landfriedensverhindern, wurde im Vorfeld mit Inbrüchen. Auch Neumieter und Eiformationsveranstaltungen, Blockagentümer sowie ihre vermeintlichen detrainings und dem Bereitstellen "Erfüllungsgehilfen" in Senatsvervon Infrastruktur geradezu generalwaltungen, Polizei und Justiz sowie stabsmäßig organisiert. Nachdem der selbst Einrichtungen des QuartiersRäumungsbeschluss am Morgen dann managements geraten in den Fokus doch polizeilich durchgesetzt wurde, ihrer Aktionen. Dabei entstehende bildete sich ein Spontanaufzug durch Drohkulissen sind gewollt und zielen Kreuzberg mit mehr als 500 Teilnehauf Machtausübung in Teilen des öfmern, der erst nach etwa einer Stunfentlichen Raums. de gestoppt werden konnte. Dabei wurden Hindernisse auf die Fahrbahn gebracht, Sachbeschädigungen begangen und Polizisten teilweise mit Steinwürfen angegriffen. Zehn Beamte erlitten Verletzungen, und es kam zu insgesamt 46 Festnahmen. Im zeitlichen und räumlichen Umfeld der Räumung gab es diverse weitere Straftaten, bei denen Autos, Autoreifen, Ampeln und Müllcontainer in Brand gesetzt wurden. Dadurch kam es zu temporären Beeinträchtigungen des Straßenwie auch des öffentlichen Nahverkehrs. Die Federführung des Widerstands gegen die Zwangsräumung lag vordergründig bei Stadtteilund Mieterinitiativen. Der Termin wurde aber auch von führenden autonomen und postautonomen Gruppierungen sowie in der Szenezeitschrift "interim" beworben. Die durch Linksextremisten in das Bündnis getragene Militanz wurde von Linksextremismus 125 vielen übrigen Aktivisten stillschweigend hingenommen. Die Szene nutzte die polizeiliche Durchsetzung der Räumung, um per se friedliche Blockierer auf einer Emotionalisierungsebene zu erreichen und zu militanten Aktionen zu verleiten. Entsprechend euphorisch waren die Reaktionen, die von einer "Zäsur" sprachen: "Die brutale Realität der kapitalistischen Stadt ist selten so eindrücklich vor Augen geführt worden, wie heute. Das hat Folgen für das Bewusstsein der Mieter*innen für die strukturellen Ursachen ihrer Situation und die gewalttätige Rolle des Staates." 70 3 Die Reaktionen der Öffentlichkeit auf die beiden zeitlich nah beieinander liegenden Ereignisse konnten unterschiedlicher kaum sein. Während die gewalttätigen Ausschreitungen im Rahmen der Proteste gegen den Polizeikongress nahezu einhellig verurteilt wurden, bleibt für die Versuche, eine Zwangsräumung zu verhindern, in Teilen der Öffentlichkeit eine mindestens unterschwellige Sympathie im Raum. Ist das eine als Randale-Inszenierung allzu durchsichtig, erhält das andere durch den Bezug auf die gesellschaftliche Kritik an Gentrifizierungsprozessen für viele einen legitimierenden Anstrich. Einzelne besonders medienwirksame Fälle werden nicht nur von Linksextremisten zum Anlass genommen, sowohl das Vorgehen der Eigentümerseite als auch von Polizei und Justiz zu kritisieren, die zunehmend mieterfeindliche Entscheidungen träfe bzw. "mit Gewalt" durchsetze. Dies nutzen Linksextremisten zum einen dazu, in tradierter Weise den "Kapitalismus" zu problematisieren, zum anderen wird die emotionalisierte Stimmung instrumentalisiert, um eine höhere Militanz in die Proteste gegen diese Entwicklung hineinzutragen. "Berliner Liste" ruft zu Straftaten auf Nach verschiedenen Aktionen zur Verhinderung von Zwangsräumungen, bei denen Linksextremisten mindestens am Rande immer wieder beteiligt waren, erregte ab dem Frühjahr eine so genannte "Berliner Liste" öffentliche Aufmerksamkeit. Diese Liste wurde im April anonym auf einem ausländischen Server im Internet ein70 Artikel "[B]: Massiver Widerstand gegen Zwangsräumung" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 14.2.2013. 126 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 gestellt und führt verschiedene Objekte und Institutionen auf, die aus Sicht von Linksextremisten verantwortlich für Verdrängungsprozesse in der Stadt seien. Dazu gehören einerseits Eigentümer, Investoren, Projektentwickler und Vermieter als Profiteure, andererseits aber auch Behörden, Polizei und Justiz als deren vermeintliche Helfer. Es wird offen zu militanten Aktionen gegen diese aufgerufen und u.a. auch auf Anleitungen zum Bau von Brandund Sprengsätzen in einschlägigen Szenezeitschriften hingewiesen. "Wer sich als Teil der antisozialen Stadtumstrukturierung hervortut, kommt auf die Liste. Alles und Alle auf dieser Liste müssen mit einem Besuch rechnen. Dabei ist die Palette groß. Ob ein negatives Outing in der Nachbarschaft, ob das kollektive Überreichen eines Protestbriefes, ob eine kreative Fassadenumgestaltung eines Büros, ein Sit-In oder ziviler Ungehorsam bei einer Räumung - wir sammeln hier alles, was den Druck auf die Gegenseite erhöht und unseren Dissens sichtbar macht." 71 Insgesamt wurden über 20 Aktionen auf der Internetpräsenz der "Berliner Liste" dokumentiert, überwiegend Sachbeschädigungen an Luxuswohnbauprojekten, Amtsgerichten und Jobcentern. Der schwerwiegendste Vorfall ereignete sich in der Rigaer Straße in Friedrichshain, wo am 11. Mai auf der Baustelle eines noch nicht bezugsfertigen Eigentumswohnungskomplexes zwei Brände gelegt wurden. Die Feuer griffen auf Bauwagen, Baucontainer, Baugerüst sowie die Hausfassade über und richteten Sachschaden in Höhe von mehreren hunderttausend Euro an. Der weitaus überwiegende Teil der dokumentierten Straftaten fand im Zeitraum eines Monats nach dem ersten Aufruf statt. Trotz mehrerer Aufrufe, die Liste fortzuführen, kam es danach nur noch vereinzelt zu Aktionen. Die wiederholte Verknüpfung von Aufrufen zur Fortsetzung der "Berliner Liste", Selbstbezichtigungsschreiben zu einschlägigen Straftaten und der Mobilisierung zu einer thematisch passenden Demonstration einerseits sowie Parallelitäten zu einer ähnlichen Webseite andererseits finden einen gemeinsamen Nenner im Slogan "Wir bleiben alle!". Unter diesem Label fanden in der Vergangenheit und finden weiterhin verschiedenste Aktivitäten zum Thema Anti-Gentrifizierung statt, die jedoch nicht nur Linksextremisten zugerechnet werden können. Militanter Widerstand gegen Gentrifizierung ist unabhängig vom Aufruf der "Berliner Liste" schon länger zu beobachten. Straftaten gegen Neubauten, Immobi71 Artikel "Mieter*innen stressen zurück" auf der Internetpräsenz "berlinerliste" mit Datum vom 18.4.2013. Linksextremismus 127 liengesellschaften und deren vermeintliche Helfer gehören längst zum üblichen Repertoire der Berliner Autonomen und finden mit oder ohne solche Aufrufe statt. So ist die Zahl der politisch motivierten Straftaten gegen Umstrukturierung 2013 gegenüber 2012 nicht etwa gestiegen, sondern gesunken. 2011 lagen die Zahlen sogar noch weitaus höher als 2012 und 2013. Vermeintliche "Gentrifizierer" nun auch persönlich im Fokus Eine neue Qualität liegt jedoch darin, dass nicht nur Sachbeschädigungen an Ob- 3 jekten begangen werden, sondern der Aktionsspielraum bis hin zu Übergriffen auf den persönlichen und beruflichen Nahbereich vermeintlicher "Gentrifizierer" ausgeweitet wird. Ein Indiz für diese Entwicklung ist, dass es in diesem Jahr mehrfach zu Hausfriedensbrüchen kam, bei denen Personengruppen - teils maskiert - in Büroräume von Immobilienbesitzern und Wohnungsbaugesellschaften eindrangen, um auf mehr oder weniger symbolische Weise Forderungen vorzutragen. Private Wohnanschriften wurden auf einschlägigen Internetpräsenzen - nicht nur auf der "Berliner Liste" - "geoutet" und Versammlungen quasi vor deren Tür angemeldet. Solche Aktionen haben nicht mehr nur symbolischen bis sabotierenden, sondern direkt konfrontativen Charakter und dienen ganz eindeutig der Einschüchterung der Betroffenen. Stellvertretend dafür steht der Aufruf: "Für einen Mieter_innenkampf, der auch direkte und militante Aktionen gegen die Investorenschweine miteinbezieht." 72 3.3.2 "Antifas" (re)politisieren den 1. Mai Seit dem 1. Mai 1987, als es - ausgelöst durch die Durchsuchung eines Büros der Kampagne für den Volkszählungsboykott - zu gewalttätigen Ausschreitungen kam, in deren Folge sich die Polizei zeitweise aus Kreuzberg zurückziehen musste, veranstaltet die autonome Szene Berlins jährlich eine Demonstration zum "Revolutionären Ersten Mai". Immer wieder kam es in deren Verlauf zu erheblichen Eskalationen mit teils dreistelligen Zahlen an Verletzten und Festgenommenen. In den letzten Jahren blieb es vergleichsweise ruhig. Die Organisation wurde zuletzt von autonomen "Antifa"-Gruppierungen bestimmt. Allerdings ist man zu diesem Termin bemüht, einen breiten Schulterschluss innerhalb der linksextremistischen Szene der Stadt herzustellen. 72 Artikel "Berlin: Verteidigen wir alle Brachen und Freiflächen" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 9.8.2013. 128 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Die Entstehung der autonomen "Antifa" ist eng mit einer Welle fremdenfeindlicher Gewalt und zunehmenden Wahlerfolgen rechtsextremistischer Parteien Anfang der 1990er Jahre verbunden. Um sich selbst und andere vor rechten Übergriffen zu schützen, Informationen auszutauschen und darüber hinaus gesamtgesellschaftlich gegen das Wiedererstarken faschistischer Ideologien zu wirken, suchten Autonome untereinander aber auch über die eigene Klientel hinaus Bündnispartner. Im Zuge bundesweiter Vernetzungsbestrebungen gab sich die "Antifa" ein Logo, das ebenso von kommunistischen Vorbildern aus den 1920 und 30er Jahren übernommen wurde, wie die so genannte "Dimitroff"-These73, wonach die Wurzeln des Faschismus im Kapitalismus lägen. Damit wurde die Organisationsund Theoriefeindlichkeit der Autonomen aufgeweicht, ihre Gewaltneigung dagegen kaum. In vielen Stadtteilen Berlins existieren heute lokale "Antifa"-Gruppierungen, um vermeintlich ihren Kiez gegen Rechtsextremisten zu "verteidigen". Größere Gruppen wie die "Antifaschistische Linke Berlin" (ALB), die "Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin" (ARAB) und die "North East Antifascists" (NEA) haben inzwischen eine dominierende Rolle im Berliner Linksextremismus eingenommen. Großdemonstrationen gegen Rechtsextremismus in Schöneweide Die Veranstaltungslage rund um den 1. Mai wurde im letzten Jahr allerdings nicht nur von den traditionellen Großevents wie der "Antikapitalistischen Walpurgisnacht" und dem "Revolutionären Ersten Mai" geprägt, sondern außerdem von einem NPD-Aufmarsch und Protesten gegen rechtsextremistische Umtriebe in Schöneweide. Einerseits hatte die NPD für den 1. Mai zu einer Demonstration im Bezirk mobilisiert, und andererseits war sogar schon länger ein "antifaschistischer" Aufzug unter dem Motto "Gemeinsam gegen Nazis in Schöneweide" für den 30. April geplant. 73 Diese These wurde maßgeblich durch den Bulgaren Georgi Dimitroff (1882-1949) im Hauptreferat auf einem Kongress der Komintern 1935 geprägt. Sie behauptet, dass Faschismus "die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" sei. In diesem Sinne wären alle kapitalistischen Systeme potenziell faschistisch. Linksextremismus 129 Und so zogen bereits am Tag vor Anti-Faschismus dem "Revolutionären Ersten Mai" In der Bekämpfung des Rechtsexund fast zeitgleich zur "Antikapitalistremismus existiert ein breiter getischen Walpurgisnacht" annähernd sellschaftlicher Konsens, den auto- 3 000 Menschen durch den südöstnome "Antifa"-Gruppierungen zu lichen Kiez, vorbei an Orten mit minteils überregionalen Bündnissen mit destens symbolischer Bedeutung für zivilgesellschaftlichen Organisatiodie rechtsextremistische Szene Ber- 3 nen, Parteien und Gewerkschaften lins, u.a. dem Lokal "Zum Henker". nutzen, um aus ihrer gesellschaftDie hohe Teilnehmerzahl erklärt sich lichen Isolation herauszutreten. Sie neben dem bevorstehenden Ereignis vereinbaren einen "Aktionskonsens" vor allem durch die aktuelle Diskussiund organisieren gemeinsame Bloon um die NSU-Mordserie. ckaden gegen rechte Aufmärsche. Tags darauf versuchten dann nochDadurch gerät oftmals in den Hinmals mehrere Tausend Menschen tergrund, dass diese Gruppen ebenso unter Federführung des mehrheitlich wie Rechtsextremisten die freiheitnicht-extremistischen Bündnisses "1. liche demokratische Grundordnung Mai Nazifrei" sowohl die Anfahrt zur ablehnen. Ihre Bündnispartner nutals auch die Aufzugsstrecke der gezen sie als Deckung für militante planten NPD-Demonstration durch Aktionen - auch gegen die Polizei. Schöneweide zu blockieren. Dabei Nicht zuletzt die mit der Mordsewurde die vorab angekündigte Strarie des NSU verbundene Kritik an tegie des "zivilen Ungehorsams" sehr den Sicherheitsbehörden wird zu eiweit ausgelegt. Vereinzelt kam es zu ner pauschalen Verunglimpfung des Versuchen, Polizeiabsperrungen zu Staates benutzt. Umso mehr wird - durchbrechen. Ein pyramidenartiger entgegen dem staatlichen GewaltBetonklotz, an dem sich vier Demonsmonopol - die Notwendigkeit einer tranten befestigten, sollte die Strecke "antifaschistischen Selbsthilfe" beunpassierbar machen - eine Strategie, tont. Dabei begehen "Antifas" Sachdie aus der Anti-AKW-Bewegung bebeschädigungen an rechten Läden kannt ist. Letztlich gelang es nicht, die und Lokalen, stören VeranstaltunDemonstration von etwa 460 Rechtsgen, spähen Daten vermeintlicher extremisten zu verhindern. In einer oder tatsächlicher Neonazis aus und Pressemitteilung des Bündnisses heißt veröffentlichen diese - im Szenejares, dass die Polizei die "Nazidemo mitgon als "Outings" bezeichnet - mit tels massivem Gewalteinsatz" durchdem Ziel der Einschüchterung bis hin zu gewalttätigen Angriffen. 130 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 gesetzt habe. Ihr Pressesprecher, der unter dem Pseudonym "Jan Landers" auftrat, wird wie folgt zitiert: "Die Berliner Polizeiführung hat heute bewiesen, dass es ihnen wichtiger ist einigen hundert Nazis den Weg frei zu prügeln als gelebte Demokratie auf den Straßen von Berlin-Schöneweide zuzulassen." 74 Das Bündnis "1. Mai Nazifrei" besteht zum einen aus Parteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Initiativen, zum anderen aber auch aus linksextremistischen Organisationen und gewaltbereiten autonomen "Antifa"-Gruppierungen. Einzelne Vertreter des Bündnisses traten in den Medien unter falschem Namen auf. Dabei handelt es sich um den offiziellen Sprecher "Jan Landers" und den ebenfalls als einer der Sprecher auftretenden "Lars Laumeyer". Sie äußerten sich sowohl im Fernsehen wie auch in Tageszeitungen im Namen des Bündnisses. Das Pseudonym "Jan Landers" steht für eine Figur aus dem Film "Die Nachrichten", in dem ein Tagesschau-Sprecher verdächtigt wird, Stasi-IM gewesen zu sein. Das Pseudonym "Laumeyer" wird traditionell von der "Antifaschistischen Linken Berlin" (ALB) bei öffentlichen Auftritten verwendet. "Antikapitalistische Walpurgisnacht" auf Anschlusssuche im Wedding Wie bereits beschrieben erreichen Linksextremisten aktuell vor allem mit dem Thema Gentrifizierung große Mobilisierungserfolge. Die "Antikapitalistische Walpurgisnacht" wurde daher wie im Vorjahr im Wedding durchgeführt - einem vermeintlichen Schwerpunkt von Verarmung, Verdrängung und Ausgrenzung infolge städtebaulicher Umstrukturierungsprozesse. Hinter dem Fronttransparent "Take 74 Artikel "Pressemitteilung 1.5.2013 - Bilanz zu den Protesten gegen den Naziaufmarsch" auf der Internetpräsenz des Bündnisses "1. Mai Nazifrei" vom 1.5.2013. Schreibweise im Original. Linksextremismus 131 Back the City" zogen etwa 2 400 Menschen ohne nennenswerte Vorkommnisse vom Gesundbrunnen zur Seestraße. Das ist ein Viertel weniger als im Vorjahr, was sich durch die Demonstration in Schöneweide erklären lässt, die am selben Abend stattfand. Ein Konzert am Platz der dortigen Abschlusskundgebung dürfte wesentlich dazu beigetragen haben, dass es viele der subkulturell geprägten Teilnehmer, die sich üblicherweise am Fest zur "Antikapitalistischen Walpurgisnacht" beteiligen, dieses Mal nach Schöneweide verschlug. Federführender Organisator von Fest und Aufzug waren die "North East Antifascists" (NEA). Sie zeigten sich 3 zufrieden mit dem Verlauf: "Insgesamt wurde die vor zwei Jahren begonnene Repolitisierung der (antikapitalistischen) Walpurgisnacht fortgesetzt, was inzwischen auch von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird (...) Die spontane Teilnahme von Anwohner_innen beim Konzert und bei der Demo spricht für sich. Dies ist eine von uns positiv gesehene Entwicklung und entspricht unserem Konzept, den Szenesumpf zu verlassen und mit Menschen zusammenzuarbeiten, die (auch) von Rassismus und Gentrifizierung betroffen sind." 75 North East Antifascists (NEA) Gründung: 2007 Mitglieder: Berlin: ca. 25 (2012: ca. 25) Die NEA sind eine autonome "Antifa"-Gruppierung, die neben der ALB und der ARAB eine führende Rolle in der linksextremistischen Szene Berlins einnimmt. 2007 gegründet, zeichnet sie, dem Namen gemäß, für antifaschistische Aktionen im Nordosten der Stadt verantwortlich, beteiligt sich aber auch an berlinweiten und überregionalen Aktivitäten und kooperiert anlassbezogen mit anderen autonomen Gruppen. In den letzten Jahren war sie federführender Organisator der "Antikapitalistischen Walpurgisnacht". In einer Selbstdarstellung bezeichnen die NEA ihr ideologisches Fundament als "libertär" und verorten sich zwischen Anarchismus und Kommunismus. Sie stehen nicht nur für einen militanten Antifaschismus, sondern fordern, "die Kämpfe gegen Nazis, Bullen und Kapitalismus (zu) vereinen!". Breiteren Anschluss suchen sie vor 75 Artikel "[B] Bericht/Auswertung Antikapitalistische Walpurgisnacht 2013" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 3.5.2013. 132 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 allem mit dem Thema Gentrifizierung. Die NEA treten nach außen gemäßigter auf als die ARAB und verzichten darauf, ihre Gewaltbereitschaft allzu plakativ zur Schau zu stellen. "Revolutionärer Erster Mai" endet friedlich in Mitte Auch am 1. Mai spielte das Thema Gentrifizierung wieder eine Rolle. Wie schon in den letzten beiden Jahren lief ein unangemeldeter Protestzug von etwa 1 000 Personen mit Forderungen wie "Zwangsräumungen verhindern" und "Mietstreik jetzt!" quer durch das MyFest. Die diesem Volksfest zugrundeliegende Strategie der Befriedung Kreuzbergs am 1. Mai ist vielen Autonomen ein Dorn im Auge - nicht zuletzt darin liegt der Grund für diese Aufzüge. Die Kernveranstaltung der Szene ist jedoch die so genannte "18-Uhr-Demo" zum "Revolutionären Ersten Mai". Diese startete vom Lausitzer Platz in Kreuzberg mit dem Ziel Unter den Linden in Mitte - und sie kam zur offensichtlichen Überraschung der Teilnehmer auch dort an. Das Ziel der Organisatoren, die Themen europäische Finanzkrise, innerstädtische Verdrängung und Flüchtlingspolitik ins "Herz der Bestie" zu tragen, wurde aus ihrer Sicht damit erreicht. In der Spitze befanden sich bis zu 10 000 Menschen im Aufzug. Die zuvor angekündigten "kreativen Massenaktionen" bzw. ein "Plan B" kamen somit gar nicht zum Tragen. Auch die Auswirkungen der in martialischem Tonfall gehaltenen Aufrufe der "Anarchos" hielten sich in Grenzen. Die rituelle Gewalt in Form von Steinwürfen auf Polizeibeamte und Sachbeschädigungen an Glasfronten und Pkw ging im Vergleich zu den Vorjahren noch einmal zurück. Und auch im Vorfeld waren vergleichsweise wenig Straftaten zu verzeichnen. Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin (ARAB) Gründung: 2007 Mitglieder: Berlin: ca. 20 (2012: 30-40) Die ARAB ist eine der aktivsten und einflussreichsten autonomen Gruppierungen Berlins. Sie wurde erst 2007 gegründet, hat sich aber in kurzer Zeit innerhalb der linksextremistischen Szene der Stadt breit vernetzt. Sie beteiligt sich Linksextremismus 133 an vielen relevanten Szeneereignissen der Stadt und organisiert sie, wie die Demonstration zum "Revolutionären Ersten Mai", oft selbst in federführender Funktion. Darüber hinaus ist sie in überregionalen Bündnissen aktiv und engagiert sich in internationalen Zusammenhängen, vor allem zu Griechenland. Eher untypisch für Autonome bekennt sich die ARAB zum Kommunismus als politischem Ziel. In einem Grundsatzpapier propagiert sie einen militanten Antifaschismus und verknüpft diesen mit dem Kampf gegen "Staat, Nation und 3 Kapital". Gruppenmitglieder treten unter dem Pseudonym "Jonas Schiesser" in Interviews auf und verteidigen dabei auch gewalttätige Aktionen gegen Institutionen aus Staat und Wirtschaft. Die ungesteuerte Gewaltbereitschaft einiger ihrer Mitglieder hat zu Personalverlusten bei der ARAB geführt und auch ihr Ansehen in der Szene beschädigt. Federführende Organisatoren waren mit der "Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin" (ARAB) und der "Antifaschistischen Linken Berlin" (ALB) die neben der NEA bedeutendsten autonomen Gruppierungen Berlins. Wie letztere zur Walpurgisnacht zieht die ARAB eine positive Bilanz der traditionellen "18-Uhr-Demo": "Trotz massiver Polizeischikanen und Übergriffen trugen am 1. Mai in Berlin bis zu 20.000 Menschen ihre Proteste gegen Krise, Krieg und Kapitalismus ins 'Herz der Bestie'. Unter dem Jubel Tausender und unter den Klängen der griechischen Version der 'Internationale' und des Partisanenliedes 'Bella Ciao' zogen die Demonstrant_innen auf den Boulevard unter den Linden in Sichtweite der Europäischen Kommission und des Brandenburger Tors." 76 Der Trend zu einem teilnehmerstarken, politisch geprägten und vor allem friedlicheren 1. Mai setzte sich ein weiteres Jahr fort. Die linksextremistische Szene konnte durch die Besetzung zugkräftiger Themen für ihre Demonstrationen wiederum hohe Mobilisierungszahlen verzeichnen. Allerdings wurden die Teile der Autonomen erneut enttäuscht, die sich davon verstärkende Effekte für ihre Randalerituale erhofften. In der Tendenz werden die traditionellen Szene-Events zwar größer, aber nicht gewalttätiger - eine Entwicklung, die der Verfassungsschutz Berlin schon länger beobachtet. 76 Artikel "1. Mai - Berlin: 20.000 Menschen tragen den Protest gegen Krise, Krieg und Kapitalismus ins 'Herz der Bestie'" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 2.5.2013. 134 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Die Bewertungen innerhalb der Szene fallen daher unterschiedlich aus. Im Vorlauf zur "18-Uhr-Demo" wurden Auseinandersetzungen darüber geführt, ob die Demonstration angemeldet und die Route aus dem eigenen Kiez heraus nach Mitte führen sollte. Im Nachgang stritt man darüber, ob es ein Erfolg war, friedlich "ins Herz der Bestie" vorgedrungen zu sein oder ob man sich mit einer "Latschdemo" kaum noch von Gewerkschaften unterscheide. Dies offenbart die tiefer werdenden Risse, die zwischen denen verlaufen, die am 1. Mai vor allem ein nachhaltiges politisches Signal setzen wollen und jenen, die durch ihren martialischen Habitus meinen, ihre vermeintlichen "autonomen Freiräume" zu verteidigen. Für die einen - u.a. große Teile der "Antifa" - gilt es, mit der Besetzung des "richtigen" Themas (zu diesem Zeitpunkt vor allem Gentrifizierung, Finanzkrise oder NSU-Morde) über die eigene Szene hinaus politische Interessierte und Engagierte zur Teilnahme an ihren Demonstrationen zu mobilisieren - diese Strategie ist zunehmend erfolgreich. Für die anderen - insbesondere die "Anarchos" - steht im Vordergrund, mit der Initiierung von Massenmilitanz in die direkte Konfrontation mit staatlichen und ökonomischen Akteuren zu treten - diese Strategie verliert zunehmend an Unterstützung, aber sie hat noch Kraft, wie die Demonstration zum Polizeikongress gezeigt hat. "Die Situation in Berlin für eine undogmatische, radikale Linke ist seit Jahren katastrophal (...) Der Glanz der gelungenen Aktionen rund um die Räumung der Liebig ist lange verblasst (...) Erst mit der diesjährigen Demo im Februar zum Bullenkongress in Berlin gab es wieder den Versuch, unabhängig von den Elendsverwaltern der etablierten linken und linksradikalen Organisationen wieder eine eigenständige, 'autonome' Politik zu gestalten (...) Weil im Kern der Konflikt mit Gruppen wie der ARAB und der ALB (...) ein politischer ist, der sich nicht zukitten lässt." 77 3.3.3 Anschläge von Autonomen führen zu staatlichen Reaktionen Der Verlauf der Demonstrationen bestätigt: Autonome mobilisieren, aber radikalisieren die Menschen nicht in Scharen, schon gar nicht im Sinne einer aufständischen Massenmilitanz. Die von ihnen ausgehende Gefahr droht eher durch klandestin geplante Aktionen militanter Kleingruppen. Das zeigte sich in den Tagen nach dem 1. Mai, denn im Nachgang kam es zu Anschlägen mit hohen Sachschä77 Artikel "1. Mai Berlin - Agonie und Hoffnung" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 2.5.2013. Linksextremismus 135 den, u.a. auf die Deutsche Bahn sowie Arbeitsagenturen und Jobcenter. Sabotageversuche an wichtigen Infrastrukturen der Stadt In der Nacht auf den 2. Mai wurde an einem Verteilerkasten der Deutschen Bahn AG zwischen den S-Bahnhöfen Wannsee und Westkreuz ein Brand festgestellt. Personen kamen zwar nicht zu Schaden, und die Feuerwehr konnte den Brand löschen. Dennoch kam es auf dieser Strecke 3 bis zum Abend zu Einschränkungen des öffentlichen Nahund Fernverkehrs. In einem Artikel auf einer einschlägigen Internetpräsenz bezichtigen sich als "Vulkan Grimsvötn" firmierende Autoren zu einer vorsätzlichen Brandstiftung. Zur Begründung der Tat führen sie aus: "Wir verlängern den ersten Mai, den klassischen Kampftag der Arbeiterklasse, und bringen die auf dem Funktionieren von technischen Netzen und Kreisläufen basierende zerstörerische Normalität des Arbeitsund Ausbildungsalltags für eine kurze Zeit ins Stocken (...) Mit der Sabotage der Infrastruktur treffen wir genauso wie mit einer Demonstration, nur eben anders. Wir stellen unseren Angriff zur Diskussion als Alternative oder Ergänzung zur Ritualisierung der Maifestspiele, die uns durch die Repression aufgezwungen wird und die der derzeitigen Macht vielleicht gar nicht mehr schadet." 78 Ein halbes Jahr später, am 28. November, folgte ein ähnlicher BrandAnti-Kapitalismus anschlag auf den Kabelschacht eines Der Anti-Kapitalismus ist das UrtheMobilfunkmastes in Adlershof, der zu ma der Linksextremisten. In Ihrem kurzzeitigen Beeinträchtigungen eiKampf gegen das "kapitalistische nes Mobilfunknetzes führte. Hierzu System" streben sie jedoch nicht bekannte sich "Anonymous/ Vulkannur die Überwindung der marktwirtgruppe Katla" zwar unter einem andeschaftlichen Ordnung an, sondern ren thematischen Aufhänger ("Überauch der parlamentarischen Demowachung durch Geheimdienste"), kratie. Nach der Marxschen Theorie letztlich aber ebenfalls vor dem Hinwerden mit den Produktionsauch tergrund eines diffusen Anti-Kapitadie Herrschaftsverhältnisse über78 Artikel "Vom Grollen der Vulkane in den Metropolen: 1. Mai verlängert" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 2.5.2013. 136 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 lismus. Beide Taten weisen Parallelen wunden. Im Kapitalismus sehen zu zwei Brandanschlägen auf die InfLinksextremisten u.a. die Ursache für rastruktur der Deutschen Bahn im Mai Kriege (Imperialismustheorie) und und Oktober 2011 auf. So benannten Faschismus (Dimitroff-These). Und sich die Unterzeichner der Selbstbeselbst Anarchisten finden im - von zichtigungsschreiben durchweg nach ihnen so bezeichneten - "Schweineisländischen Vulkanen: auf "Eyjafjallasystem" Erklärungen für vermeintlijökull", "Hekla" und "Grimsvötn" folgche staatliche Repression sowie die te zuletzt "Katla". Wie das Ausbrechen Verdrängung aus "Freiräumen". Eine eines Vulkans zielten die Taten jeweils Art Renaissance erlebt der klassische darauf ab, alltägliche FunktionsabläuAnti-Kapitalismus und mit ihm die fe stören zu wollen. Jedes Mal wurde Marxsche Kapitalismusanalyse durch betont, durch die Tat keine Menschenweltweite Wirtschaftsund Finanzleben in Gefahr gebracht zu haben. Der krisen am Beginn des neuen JahrtauStil der Selbstbezichtigungsschreiben sends. Viele Menschen fühlen sich war immer blumig-intellektuell und zudem dem ökonomischen, politilehnte sich an eine in linksextremistischen, sozialen und auch kulturellen schen Kreisen kursierende GrundsatzVeränderungsdruck einer "entfesselschrift an.79 Teilweise nahmen die Texten" Globalisierung nicht gewachsen. te direkt aufeinander Bezug. Allerdings In per se nicht-extremistischen, aber bestehen auch Unterschiede, vor allem globalisierungskritischen Bewegunhinsichtlich der Anschlagsziele und angen erhoffen Linksextremisten daher schließenden Begründungen, deretweBündnispartner für ihre systemübergen nicht zwangsläufig auf identische windenden Ziele zu finden. Täter bzw. Verfasser geschlossen werden kann. Die Reaktionen der Szene auf solche Anschläge waren und sind geteilt. Einerseits werden derartige Aktionen als geeignet angesehen, weil von Demonstrationen nicht mehr genügend Militanz ausginge, andererseits wird die Zielgerichtetheit und Vermittelbarkeit angezweifelt, weil sie die Falschen träfen und bevormundend wirken würden. 79 Publikation "Der kommende Aufstand" von einem "Unsichtbaren Komitee", im Frühjahr 2010 aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt, Original von 2007. Linksextremismus 137 Stadtweit Sachbeschädigungen bei Arbeitsverwaltungen Einen weiteren Tag später, in der Nacht auf den 3. Mai, kam es stadtweit zu einer Reihe von Anschlägen auf Arbeitsagenturen, Jobcenter und eine SPD-Zentrale. Dies betraf sieben Gebäude der Arbeitsverwaltung in Steglitz-Zehlendorf, Charlottenburg-Wilmersdorf, Tempelhof-Schöneberg, Reinickendorf, Pankow, Lichtenberg und Treptow-Köpenick, die entweder mit Farbe verschmutzt oder bei denen durch Steine und Hämmer Scheiben zerstört wurden. In einem Fall wurde Feuer gelegt (welches selbst erlosch). Außerdem wurde die Zentrale des Landesverban- 3 des der Berliner SPD im Wedding mit Farbe "markiert". In einem Selbstbezichtigungsschreiben unter dem Titel "Lohnarbeit du seist verdammt, Feuer und Flamme fürs Arbeitsamt" heißt es, man hätte bewusst den 2. Mai, den "Tag der Arbeitslosen", als Datum der Anschläge gewählt. Es wird auf eine Mitverantwortung der Behörde für Zwangsräumungen über die "Ausführungsverordnung Wohnen" für Hartz IV-Bezieher abgehoben. Die SPD wiederum sei "verantwortlich für die ganze Hartz4-Scheiße". Weiter heißt es: "Während der 1. Mai hierzulande längst zum Bekenntnis reformistischer Treue zu Kapital und Staat verkam, zwar die Auswüchse des Kapitals anprangernd, dabei aber die kapitalistische Verwertung nicht in Frage stellend, während andererseits der sogenannte 'revolutionäre 1. Mai' mehr zu einem Ritual mit Polizeierlaubnis verkommt, suchen wir mit unseren Anschlägen auf die Inhalte zurückzukommen: Kampf der kapitalistischen Lohnarbeit überhaupt! Kampf der Lohnarbeit als Sklaverei! Kampf dem Arbeitsamt und dem Jobcenter als Verwalter des Zwanges zur Arbeit!"80 Im Selbstbezichtigungsschreiben werden alle Taten aufgeführt - mit Ausnahme eines Anschlags auf die Arbeitsagentur in der Königin-Elisabeth-Straße. Genau dabei wurde eine 24-jährige Frau festgenommen. Die Anschläge auf die Deutsche Bahn sowie auf Arbeitsverwaltungen und SPD stehen mit hoher Wahrscheinlichkeit in keinem direkten Zusammenhang zueinander. Sowohl die Taten als auch die Selbstbezichtigungsschreiben unterscheiden sich grundlegend. Dennoch stehen sie gemeinsam in einem indirekten Zusammenhang zu den Ereignissen am 1. Mai, insoweit sie die dort weiterhin ausbleibende Massenmilitanz thematisieren. Dies ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass sich das "Anarcho"Spektrum mit seiner Forderung, die Demonstration zum 80 Artikel "[B] Lohnarbeit du seist verdammt, Feuer und Flamme fürs Arbeitsamt" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 3.5.2013. 138 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 "Revolutionären 1. Mai" unangemeldet durchzuführen, nicht durchsetzen konnte. Großdemonstrationen ohne widerständige Zeichen von Militanz lehnt es als "reformistisch" ab. Klandestin geplante Aktionen von Kleingruppen sind neben unangemeldeten Aufzügen im Stile der Proteste gegen den Polizeikongress die verbleibenden Optionen zur Erfüllung ihres "revolutionären" Anspruchs. Schwerwiegende Angriffe auf Polizisten im Einsatz Und diese Option wird immer wieder aufgegriffen, vor allem durch unvermittelte Angriffe auf Polizeibeamte im Einsatz. Ein besonders drastisches Beispiel: Am 7. Juni führten Polizisten am Kottbusser Tor Personenüberprüfungen im Rahmen eines Einsatzes zur Bekämpfung von Betäubungsmittelkriminalität durch. Plötzlich wurden sie aus einer Gruppe von etwa 40 vermummten Personen heraus mit Steinen, Bengalos und Molotowcocktails beworfen. Eine Beamtin entging einer Inbrandsetzung nur knapp. Im Nahbereich konnten zwei Verdächtige festgenommen werden. Ermittelt wird neben Landfriedensbruchs auch wegen versuchten Mordes. Zwei Tage später rief ein Unbekannter aus einer Telefonzelle heraus den Notruf der Polizei und meldete eine angebliche Straftat. Ein in diesem Zusammenhang eingesetzter Funkwagen wurde anschließend auf Höhe des Görlitzer Bahnhofs mit einer Flasche beworfen, woraufhin die Windschutzscheibe platzte. Genau eine Woche danach wurde ein an einer Ampel am Kottbusser Tor wartendes Zivilfahrzeug der Polizei von mehreren Wurfgeschossen getroffen und leicht beschädigt. Nach der Tat flüchteten drei vollständig in schwarz gekleidete männliche Personen auf Fahrrädern. Fast immer finden solche Vorfälle in Kreuzberg statt und nur selten gibt es dazu ein Selbstbezichtigungsschreiben. Dies sind nicht die einzigen Fälle dieser Art, sondern lediglich eine Ballung innerhalb weniger Tage. Sie verdeutlichen, dass trotz rückläufiger Massenmilitanz bei den traditionellen Großevents der linksextremistischen Szene weiterhin Gefahren durch konspirativ geplante und zielgerichtete Gewalttaten drohen. Und sie belegen ein weiteres Mal die seit Jahren zu beobachtende sinkende Hemmschwelle bei Angriffen auf Leib und Leben zu politischen Gegnern erklärten Personen, insbesondere von Polizisten. Glücklicherweise kam es zu keinen schweren Verletzungen der Beamten. Bei der Art der Begehung der Taten liegt jedoch auf der Hand, dass genau dies billigend in Kauf genommen wird. Linksextremismus 139 Durchsuchungen als Konsequenzen der Anschläge Schließlich sah sich die Szene mit den entsprechenden Konsequenzen konfrontiert, die sie im Eigenerleben als eine "Welle der Repression" beschreibt. Für manche begann diese bereits im Februar, als es im Zuge von Ermittlungen wegen schweren Straftaten auf Demonstrationen in Frankfurt a.M. 2012 (u.a. wegen versuchten Totschlags an einem Polizisten) bundesweit zu Durchsuchungen bei Fotografen kam. Diese dienten allein der Sicherstellung von Beweismaterial und richteten sich nicht gegen die Fotografen selbst. In Berlin waren davon fünf Personen betroffen. 3 Teile von Politik und Medien kritisierten dies als Eingriff in die Pressefreiheit. Berlins Linksextremisten solidarisierten sich jedoch nicht uneingeschränkt. Vielmehr lösten die Durchsuchungen eine Debatte über das Für und Wider von Bilddokumentationen einschlägiger Aktionen aus. Einerseits werden diese als unabdingbar für propagandistische Zwecke angesehen, andererseits als Sammeln von Beweisen für die Strafverfolgung abgelehnt. Darüber hinaus wurde die Frage aufgeworfen, inwieweit so genannte "Szenefotografen" tatsächlich zur Szene gehören - vor allem dann, wenn sie außerdem für "bürgerliche Medien" arbeiten. Ebenfalls ein bundesweites Ermittlungsverfahren zum Hintergrund hatten im Mai folgende Durchsuchungen bei neun Mitgliedern der "Revolutionären Aktionszellen" (RAZ). Hier ging es um den Verdacht der Bildung einer kriminellen Vereinigung nach SS 129 StGB in Nachfolge der "militanten gruppe" (mg).81 Wie schon in früheren Verfassungsschutzberichten ausgeführt, sind die RAZ und ihre Vorfeldorganisationen aufgrund ihres elitären Auftretens und der dogmatischen Ausrichtung in der autonomen Szene Berlins weitgehend isoliert. Dementsprechend "mager" fielen auch die Solidaritätsbekundungen aus. Die Betroffenen buhlen zwar weiterhin um Unterstützung, erhalten diese jedoch nur verbal und abstrakt als Mitbetroffene von Repression. 81 Die RAZ haben in Berlin zwischen 2009 und 2011 fünf Straftaten verübt, zuletzt mit Patronenversendungen an Vertreter aus Politik und Wissenschaft sowie Brandanschlägen auf öffentliche Gebäude. In ihrer Zeitschrift "radikal. publikation der revolutionären linken" veröffentlichen sie u.a. Selbstbezichtigungsschreiben und Bauanleitungen für Sprengsätze. Die RAZ beziehen sich ideologisch, organisatorisch und strategisch u.a. auf die "militante gruppe" (mg). Diese hat zwischen 2001 und 2007 insgesamt 25 Anschläge auf Behörden und Firmen im Berliner und Magdeburger Raum verübt. Drei Mitglieder wurden vom Bundesgerichtshof u.a. wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. In ihrer Auflösungserklärung aus dem Jahr 2009 kündigte die mg an, "neu gesammelt und umgruppiert" in anderen Strukturen weiterarbeiten zu wollen. 140 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Rigaer 94 Gründung: 1990 Mitglieder: Berlin: 30-40 (2012: 30-40) Bei der "Rigaer 94" handelt es sich um einen Personenzusammenschluss, der sich aus Teilen der Bewohner und Besucher eines Wohnprojekts sowie der darin befindlichen Veranstaltungsstätte "Kadterschmiede" in der Rigaer Straße 94 in Friedrichshain zusammensetzt. Dieser ist zum harten Kern der autonomen "Anarcho"-Szene zu rechnen. Haus und Lokalität gehören nach eigenen Angaben "zu den letzten offen (teil-) besetzten Räumen Berlins" und haben für die Szene eine hohe symbolische wie auch praktische Bedeutung. Sie sind Ausgangspunkt und Rückzugsort von bzw. nach militanten Aktionen zur Erkämpfung "autonomer Freiräume". In Selbstdarstellungen bekennen sich die Protagonisten zum Anarchismus sowie zum Hass auf "Bullen, Staat und Repression". Polizeiliche Maßnahmen vor Ort führen fast reflexhaft zu gewalttätigen Reaktionen. Allerdings richten sich ihre Aktionen nicht nur gegen die Polizei, sondern auch gegen neu Hinzugezogene und bauliche Veränderungen im Umfeld. In ihrer Gesamtheit angegriffen fühlte sich die autonome Szene Berlins jedoch durch die am 14. August zeitgleich vollstreckten Durchsuchungsbeschlüsse gegen acht ihrer Protagonisten. Hintergrund waren Ermittlungen zu den Sachbeschädigungen an Jobcentern und bei der SPD Anfang Mai sowie einem versuchten Mord beim Angriff auf ein Polizeifahrzeug Anfang Juni. Im Zuge der Durchsuchungen wurde auch die "Rigaer 94" begangen. Beim letzten größeren Polizeieinsatz dort Anfang 2012 kam es zu massiven Widerstandshandlungen, die u.a. zu Ermittlungen wegen versuchten Mordes führten. Dieses Mal wurden die Bewohner bzw. Besucher jedoch völlig überrascht. Bei den Maßnahmen wurden u.a. Baupläne und Bauteile zur Herstellung von unkonventionellen Sprengund Brandvorrichtungen sowie vorbereitete Wurfgeschosse mit Bitumen gefunden. Die anschließenden Reaktionen darauf wirkten unkoordiniert und planlos. Zwei Versuche Linksextremismus 141 von etwa 50 Aktivisten, noch am selben Abend eine unangemeldete Demonstration durchzuführen, wurden jeweils im Keim erstickt. An einem angemeldeten Aufzug vom Lausitzer Platz zur Rigaer Straße drei Tage später nahmen gerade 100 Personen teil. Darüber hinaus kam es lediglich zu einigen Farbbeutelwürfen und Schmierereien. In Diskussionen auf einschlägigen Internetpräsenzen ist wegen der mangelnden Teilnahme und geringen Militanz anschließend sogar von einer "Bankrotterklärung der Berliner Szene die Rede".82 3 Am 16. Oktober wurden dann nochmals Durchsuchungen bei sieben Personen der linksextremistischen Szene - dieses Mal aus dem "Antifa"-Spektrum - durchgeführt. Hintergrund der Ermittlungen hier waren ein gemeinschaftlicher Raub und Schusswaffenbesitz. Auch dieser Sachverhalt wurde zum Anlass genommen, sich über eine vermeintliche "Offensive der Bullen und der Schlapphüte" zu beschweren. "In allen diesen Fällen geht es - neben der Informationsbeschaffung über linke Strukturen - um die Schaffung eines Klimas der Angst. Denjenigen, die sich nicht mittels ideologischer Apparate oder 'demokratischer' Integration in den Alltag dieses Scheißsystems einbinden lassen wollen, soll gezeigt werden, wie hart der Staat durchgreifen kann (...) Gegen Nazis, das Kapital und seinen Staat sind auch jene Mittel legitim, die sie uns absprechen wollen (...) Wenn Widerstand kriminell ist, dann bleiben wir kriminell." 83 Unterstützung können die Betroffenen vor allem von der "uneingeschränkt solidarischen" Organisation "Rote Hilfe e.V." erwarten, die so reagiert: "Getroffen hat es einige aber gemeint sind wir alle!".84 Auf Sonderkonten der Ortsgruppe Berlin können Spenden eingezahlt werden. Aufgrund ihrer wachsenden Mitgliederzahl (und damit auch ihrer Finanzkraft) sowie Unterstützung über das extremistische Spektrum hinaus ist die "Rote Hilfe" in der Lage, einen wesentlichen "Beitrag zur Stärkung der Bewegung" zu leisten.85 82 Artikel "Alles was uns fehlt ist die Solidarität (R94 Demo Berlin)" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 17.8.2013. 83 Artikel "Stay rebel, stay criminal - kriminell ist das System und nicht der Widerstand!" auf der Internetpräsenz der ARAB mit Datum vom 21.11.2013. 84 Artikel "Razzien bei Antifaschist*innen" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 21.10.2013. 85 Artikel "Wer ist die Rote Hilfe?" auf der Internetpräsenz der "Roten Hilfe" (ohne Datum). 142 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Rote Hilfe e.V. (RH) Gründung: 1995 in Berlin Mitglieder: Berlin: ca. 1 000 (2012: ca. 880) Die "Rote Hilfe" wurde unter historischer Bezugnahme auf einen von 1924 bis 1936 bestehenden gleichnamigen Vorläufer 1975 als eingetragener Verein neu gegründet. 1995 entstand die Ortsgruppe Berlin, welche sich mittlerweile zur mit Abstand größten linksextremistischen Organisation der Stadt entwickelt hat. Die "Rote Hilfe" versteht sich gemäß Satzung als "linke Schutzund Solidaritätsorganisation" für alle, die aufgrund ihrer politischen Betätigung verfolgt würden. Sie unterstützt von Strafermittlungen Betroffene materiell und politisch. Ausschlaggebend ist allein die politische linke Motivation der Tat. Die "Rote Hilfe" versteht sich als Gegengewicht zu den "staatlichen Repressionsorganen", welche die bestehenden "Ausbeutungsund Unterdrückungsverhältnisse" verteidigen würden. Trotz der eindeutigen Ausrichtung verfolgen nicht alle Mitglieder des Vereins selbst verfassungsfeindliche Zielsetzungen. Die an Statuten und Aktivitäten erkennbaren Bestrebungen der Organisation und ihrer Entscheidungsträger führen jedoch zu ihrer Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Da alle Mitglieder Beiträge zahlen und zudem Spenden akquiriert werden, verfügt die "Rote Hilfe" über erhebliche finanzielle Mittel. Der vergleichsweise friedliche Verlauf der Durchsuchungen und die einschlägigen Funde ebenso wie die unkoordinierten Reaktionen der Szene im Nachgang sprechen dafür, dass diese von den Maßnahmen völlig überrascht wurde. Die psychologische Wirkung der Angreifbarkeit ihres vermeintlichen "autonomen Freiraums" scheint sie stärker getroffen zu haben, als die Sorge vor der juristischen Verwertbarkeit der Asservate. Für eine "Bankrotterklärung" der hiesigen Autonomen - wie etwa in Szenediskussionen kolportiert - ist dennoch kein Anlass, denn der Wille und auch die Fähigkeit militanter Kleingruppen zu gewalttätigen Aktionen - nicht zuletzt gegen Institutionen und Repräsentanten des Staates - ist ungebrochen. In Ansätzen ist eine wiederaufkommende Diskussion über den Zusammenhalt in und das gemeinsame Agieren der linksextremistischen Szene der Stadt zu erkennen, bis hin zu vereinzelten Forderungen nach einer Neuauflage der so genannten "Autonomen Vollversammlungen" - bis jetzt ohne Ergebnis. Von einer mehrere Monate lang vorbereiteten Demonstration unter dem Motto "Unsere Solidarität Linksextremismus 143 gegen ihre Repression" am 22. März 2014 in Berlin erhoffte man sich eine Wende86. Diese blieb jedoch aus. 3.3.4 " Postautonome" radikalisieren von innen Gelegenheit, sich neu zu sammeln, bot sich der linksextremistische Szene im Zuge gesellschaftlicher Auseinandersetzungen zum Thema Flüchtlinge - ein Thema, das nicht nur die Berliner Politik fast das ganze Jahr über sowie in zunehmender 3 Frequenz und Intensität beschäftigte. Dabei ist das Engagement für die rechtliche und soziale Situation von Flüchtlingen grundsätzlich keine Angelegenheit des Verfassungsschutzes. Allerdings wurden die Proteste zunehmend durch Linksextremisten instrumentalisiert - eine Entwicklung, die auch der Öffentlichkeit nicht verborgen blieb. Die Hintergrundarbeit dafür leisteten zunächst vor allem postautonome Gruppierungen, die in den äußerst heterogenen Unterstützerkreisen mehr verdeckt als offen agierten. Das entspricht ihrer Strategie, die auf eine "Radikalisierung von innen" zielt. In dieser Weise engagieren sie sich nicht nur bei Flüchtlingsprotesten, sondern auch bei Zwangsräumungen, Blockaden von Naziaufmärschen und vor allem in der (system-)kritischen Bestandsaufnahme der globalen Finanzkrise. Dabei treten sie mal unter ihren Gruppennamen auf - wie "Für eine linke Strömung" (F.e.l.S.) oder "AVANTI Projekt undogmatische Linke" - oft aber auch anonym. Eine bundesweite Organisationsform ist die "Interventionistische Linke" (iL). Zu ihr gehören neben F.e.l.S. und Avanti auch die ALB, die ein Verbindungsglied zu den althergebrachten Autonomen bildet. Wer oder was sind also Postautonome? Zerlegt man den Begriff in seine Bestandteile, dann steht die Endung "autonom" für ihre Wurzeln in der undogmatischen und militanten neuen Linken, das Präfix "post" für eine organisatorische und strategische Weiterentwicklung unter dem Aspekt, ein Scharnier zwischen gewaltbereiten und bürgerlichen Linken bilden zu können. Durch den Aufbau überregionaler Strukturen, die Besetzung öffentlich anschlussfähiger Themen und der - offenen wie verdeckten - Kooperation mit zivilen Akteuren sowie nicht zuletzt einem weniger martialischen Auftreten soll die gesellschaftliche Isolation "traditioneller" Autonomer überwunden werden. Postautonome meiden "Schwarze Blöcke" und beteiligen sich vordergründig nicht an Randaleritualen, allerdings distanzieren sie sich auch nicht vom Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele. Als vermit86 Artikel "Bundesweite Antirepressionsdemo | 22. März 2014 | Berlin" auf der Internetpräsenz "antirep2014" (ohne Datum). 144 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 telnde Instanz, mit dem sie zum Teil grundverschiedene Akteure in gemeinsamen militanten Protesten gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zu einigen versuchen, dient der interpretationsoffene Begriff des "zivilen Ungehorsams". Linksextremisten agieren inmitten der Flüchtlingsunterstützer Entscheidende Voraussetzung für den Erfolg dieser Strategie ist es, das "richtige" Thema zu finden, mit dem sich über die Szene hinaus politisch Interessierte und Engagierte mobilisieren lassen. Warum eignete sich also gerade das Thema Flüchtlinge? Zunächst ist hier kein linksextremistischer Hintergrund zu erkennen. Nach dem Suizid eines iranischen Asylbewerbers in Würzburg Anfang 2012 kam es zu Protesten von Flüchtlingen gegen ihre soziale und rechtliche Situation in Deutschland. Der so genannte "Refugee Protest March" von Süddeutschland nach Berlin, in dessen Folge in verschiedenen Städten Deutschlands Protestcamps entstanden, war als bewusster Verstoß gegen die besonders kritisierte Residenzpflicht und ihre Unterbringung in Asylbewerberheimen gedacht. Teilweise wurde versucht, dem Protest durch Hungerstreiks Nachdruck zu verleihen. Im Oktober 2012 in Berlin angekommen, campierten einige Flüchtlinge zunächst am Brandenburger Tor, dann wurde ein Zeltlager am Oranienplatz aufgeschlagen und schließlich im Dezember 2012 eine leer stehende Schule in der Reichenberger Straße besetzt - beides mit Duldung des Bezirksamtes Friedrichshain-Kreuzberg. Die so entstandenen Infrastrukturen des Flüchtlingsprotests haben sich bald zu symbolischen Orten entwickelt und werden von einem heterogenen Kreis von Unterstützern getragen, die aus den unterschiedlichsten Motiven handeln - nicht allein aus humanitären Gründen zum Wohle der Flüchtlinge. Dabei ist eine sukzessive Radikalisierung und Vereinnahmung des Protests durch Linksextremisten festzustellen. Für eine linke Strömung (F.e.l.S.) Gründung: 1991 Mitglieder: Berlin: 100-120 Die postautonome Gruppierung "Für eine linke Strömung" bezeichnet sich selbst als Initiative, die sich um die Weiterentwicklung linksradikaler Politik bemühe. Sie gründete sich 1991 - nach eigenen Aussagen in der Folge einer Debatte um den Zustand und die Perspektiven der Autonomen. Sie kritisiert die Theoriefeindlichkeit, geringe Verbindlichkeit und subkulturelle Selbstbezo- Linksextremismus 145 genheit, mit der sich die Szene in eine Sackgasse manövriert habe. Dagegen setzt F.e.l.S. organisatorische Strukturen mit nahezu unabhängig voneinander agierenden Arbeitsgruppen in einer Vielzahl von Aktionsfeldern wie Antifaschismus, Internationale Solidarität, Soziale Kämpfe, Klima und Energie. Das zentrale strategische Ziel dabei ist, mit möglichst vielen gesellschaftlichen Akteuren Allianzen zu schließen, um in einem längerfristigen Prozess auf diese Einfluss nehmen zu können. F.e.l.S. vernetzt sich in lokalen Kampagnen und 3 überregionalen Bündnissen. Die Mitgliedschaft in der bundesweit verbreiteten "Interventionistischen Linken" (iL) ist Teil ihrer Bestrebungen zum Aufbau einer nachhaltig agierenden revolutionären Organisation. In ideologischer Hinsicht beruft sie sich auf den Kritischen Marxismus und den Operaismus. Als Publikationsorgan gibt sie zudem die Zeitschrift "arranca!" heraus. Besonders aktiv zeigt sich dabei die postautonome Gruppierung "Für eine Anti-Rassismus linke Strömung" (F.e.l.S.), die sich nicht Dieses Aktionsfeld zielt nicht allein nur in Berlin in - zum Teil gewalttäauf einen sich in fremdenfeindlichen tig verlaufende - Flüchtlingsproteste Vorfällen offenbarenden "Alltagsraseingebracht hat. Sie kommt dabei im sismus", sondern richtet sich gegen Gewand humanitärer Hilfe. Aktivisalle institutionellen Benachteiligunten besuchen regelmäßig die Orte des gen von Zuwanderern oder FlüchtProtests und bieten den campierenden lingen. In dieser Hinsicht sind nicht Flüchtlingen Unterstützung beim Umnur Linksextremisten aktiv, sondern gang mit Behörden und alltäglichen auch humanitäre Organisationen Angelegenheiten an, z.B. durch Überund anti-rassistische Initiativen, die setzungen. Sukzessive gelingt es ihsich für eine Verbesserung der sozianen auch eher unpolitische Bewohner len, politischen und rechtlichen Lage zu regelmäßiger politischer Arbeit zu von Migranten engagieren. Linksexbewegen, also an Plena teilzunehmen, tremisten überspitzen deren Kritik Forderungen zu artikulieren und Dean den bestehenden Regelungen z.B. monstrationen zu organisieren, letztin der Diffamierung als "rassistische lich sogar diese selbst anzumelden. Sondergesetze" und weiten die ForDabei geht es ihnen jedoch nur vorderungen nach einem Bleiberecht für dergründig um die Lage der Flüchtlinalle und offenen Grenzen auf eine Abge, sondern vor allem um die mit deschaffung nationalstaatlicher Strukren Situation verbundene - potenziell turen aus ("no border, no nation"). 146 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 systemkritische - Symbolik. Das Ziel Staatlichen Repräsentanten untervon Linksextremisten bestand u. a. dastellen sie einen "systemimmanenrin, den Protest gegen eine mögliche ten" Rassismus, mit dem Privilegien Räumung des Camps auf dem Orader "weißen Mehrheitsbevölkerung" nienplatz auf eine breite zivilgesellverteidigt würden. Zum Teil werden schaftliche Basis zu stellen und dabei diese auf eine Stufe mit RechtsexBereitschaft zu militantem Widerstand tremisten gestellt ("Nazis morden, zu schüren. Eskalationen bei polizeilider Staat schiebt ab, es ist das gleichem Einschreiten - womöglich zum che Rassistenpack"). Militant agieren Nachteil von Flüchtlingen selbst - hätsie bei Versuchen, Abschiebungen zu te ihnen in die Hände gespielt und verhindern, - bei solchen Anlässen wäre zum Beleg für einen angeblich vermischen sich die Spektren - und "systemimmanenten" Rassismus vor allem durch symbolische Strafstaatlicher Institutionen umgedeutet taten gegen die vermeintlich verantworden. Dieses Muster ist in abgewanwortlichen Institutionen, wie die Ausdelter Form z.B. auch aus dem Protest länderbehörde, die Innenverwaltung gegen Zwangsräumungen bekannt. oder Parteibüros. Postautonome umschreiben diese Strategie vieldeutig. In einer Broschüre der "Interventionistischen Linken" (iL) - also des bundesweiten Netzwerks von Gruppen wie F.e.l.S., Avanti und ALB - zum Thema "Krise und Rassismus" wird diese Vorgehensweise als "breite Bündnisorientierung mit einem praktischen Anteil von Ungehorsam und gemeinsamen politischen Debatten" euphemisiert: "Wir müssen die alltägliche Verbindung von sozialen Kämpfen um Arbeitsbedingungen, Mietensteigerungen und anderen konkreten Krisenauswirkungen mit antirassistischen und antifaschistischen Bewegungen stärken. Erst wenn die radikale Linke, auch außerhalb ihrer gesellschaftlichen Isolation, wieder zur Ansprechpartnerin wird und mit uns auch eine Hoffnung auf (partielle) Erfolge verbunden wird, haben wir die Möglichkeit in der aktuellen tiefgreifenden Krise des Kapitalismus sichtbar und wirksam zu werden." 87 Seit Ankunft der Flüchtlinge in der Hauptstadt ist es zu einer Reihe demonstrativer Akte in Solidarität zu ihrem Protest sowie im Aktionsfeld "Anti-Rassismus" ganz allgemein gekommen, angefangen von friedlichen Großdemonstrationen über gewalttätig verlaufene Spontanaufzüge und Versuche, Abschiebungen zu verhin87 Broschüre "Krise und Rassismus" auf der Internetpäsenz von F.e.l.S. mit Datum vom 7.5.2013. Linksextremismus 147 dern, bis hin zu militanten Aktionen gegen politische und staatliche Akteure. Betroffen waren u.a. Büros von CDU, SPD und Grünen in verschiedenen Bezirken, die Ausländerbehörde im Wedding, das Amtsgericht Kreuzberg, die Senatsinnenverwaltung, Gebäude und Fahrzeuge der Polizei, von Diplomaten, Dienstleistungsfirmen und sogar Privatpersonen, die als "weiße mittelschicht, die sich jetzt in pogrom stimmung bringt" diffamiert werden: "wenn menschen jubeln, weil bullen sich auf flüchtende migranten stürzen, sind sie als 3 rassistischer bürgermob zu bezeichnen. Von diesem bürgermob haben wir in der letzten nacht vier autos in der görlitzer straße angezündet. der wert der fahrzeuge spielte dabei für uns keine rolle, weil wir nicht den kontostand der besitzer_innen angreifen, sondern ihre position im sozialen krieg - auf der seite der herrschenden. Krieg der festung europa und den rassistischen bürgerwehren!" 88 Auseinandersetzungen um ein Asylbewerberheim in Hellersdorf eskalieren Einer linksextremistischen Instrumentalisierung des Flüchtlingsthemas zum Durchbruch verholfen haben nicht zuletzt die Vorkommnisse rund um ein Asylbewerberheim in Hellersdorf. Die geplante Unterbringung von Flüchtlingen in einer Gemeinschaftsunterkunft in der Carola-Neher-Straße führte seit ihrem Bekanntwerden zu öffentlichen Diskussionen. Die rechtsextremistische "Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf" versuchte die in Teilen der ansässigen Bevölkerung bestehenden Vorbehalte gegen "Fremde" zu instrumentalisieren. Seit einer medienwirksamen Informationsveranstaltung und mit dem Slogan "Nein zum Heim" agitierte sie seit Anfang Juli gegen die Unterbringung von Asylbewerbern im Bezirk. Seitdem wurden sowohl vor Ort als auch über die Medien verbale Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Befürwortern des Heims ausgetragen. Auf Seiten der Heimbefürworter engagierten sich zunächst vor allem Vertreter verschiedener politischer Parteien und antirassistischer Initiativen; Linksextremisten und insbesondere Autonome spielten nur am Rande eine Rolle. Ab Einzug der ersten Flüchtlinge Mitte August trafen die Lager in zunehmender Häufigkeit und Härte aufeinander. 88 Artikel "kreuzberg: feuer gegen den rassistischen bürgermob" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 22.7.2013. Schreibweise im Original. 148 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Nachdem NPD und "Pro Deutschland" nahezu abwechselnd provokative Kundgebungen vor dem Heim abhielten - nicht zuletzt zu Wahlkampfzwecken -, war auch der Beteiligung der autonomen "Antifa" die Tür geöffnet. In Aufrufen stilisierten sie die Situation vor Ort zu Szenarien wie in Rostock-Lichtenhagen 1992 hoch und gerierten sich selbst zu Beschützern der Heimbewohner. Ihr Auftreten hatte aber eher einen aggressiven Charakter. So kam es bei rechtsextremistischen Kundgebungen von "linker" Seite immer wieder zu Versuchen, die Absperrungen zu überwinden, wurde mit Gegenständen nach den Kundgebungsteilnehmern geworfen und versucht, deren Abfahrt durch Blockieren von Gleisen sowie Steinund Flaschenwürfe auf die Straßenbahn zu behindern. Auch die eingesetzten Polizeibeamten gerieten dabei immer wieder zu Angriffszielen. Ein Zivilpolizist wurde durch einen Schlag mit einer Flasche ins Gesicht schwer verletzt. Gezielt geplante Angriffe auf führende Rechtsextremisten Eine derart aufgeschaukelte Stimmung in der Konstellation des Zusammentreffens von Linksund Rechtsextremisten führte zwangsläufig zu einem quantitativ messbaren wie auch qualitativ spürbaren Anstieg der Gewalt des linksextremistischen Lagers gegen den politischen Gegner. Und diese blieb nicht auf das Umfeld des Heims in Hellersdorf beschränkt. Ende August - also nach Beginn der Auseinandersetzungen in Hellersdorf - wurde ein Rechtsextremist aus dem Spektrum der so genannten "Autonomen Nationalisten" in Lichtenberg von fünf bis sechs Personen angegriffen, die dem Erscheinungsbild nach der "linken Szene" angehören sollen. Zunächst sei ihm von hinten unvermittelt auf den Kopf geschlagen worden; auf dem Boden liegend hätte man weiter auf ihn eingeprügelt. Gerade zwei Wochen zuvor war der Geschädigte auf einschlägigen Internetpräsenzen als "Nazi" und "Anti-Antifa"-Fotograf "geoutet" worden. Dort heißt es: "Es gibt mehrere Möglichkeiten, sich gegen Ihn zu wehren. Wichtig ist zunächst, sich das Gesicht zu merken (...) Wenn ihr ihn erwischt, setzt nicht auf die Bullen." 89 Ein noch schwerwiegenderer Vorfall nach dem gleichen Muster ereignete sich Mitte November - unmittelbar im Vorfeld der "Silvio-Meier-Gedenkdemonstration". Betroffen war wiederum ein Rechtsextremist und führender Kopf von "Jungen Nationaldemokraten" (JN) und "Autonomen Nationalisten" (AN) in Berlin. Er wurde auf seinem Fahrrad in Mitte (an der Grenze zu Kreuzberg) zunächst von einer 89 Artikel "Anti-Antifa-Aktivist als 'Journalist' unterwegs (...)" auf der Internetpräsenz "antifa-berlin" mit Datum vom 12.8.2013. Linksextremismus 149 Person zum Anhalten gezwungen, als drei weitere Maskierte auftauchten und er einen Schlag auf den Hinterkopf erhielt, in dessen Folge er zu Boden ging. Am Boden liegend wurde er mit unbekannten Gegenständen traktiert, während einer der Täter seine Oberbekleidung durchsuchte und das Handy entwendete. Letzteres ist eher ungewöhnlich, aber erklärbar, wenn man annimmt, dass es den Tätern darum ging, an Kontaktdaten des Opfers zu gelangen, um seine Verbindungen in die rechtsextremistische Szene auszuspähen. Der Betroffene wurde mit einer Schädelfraktur und Platzwunden in ein Krankenhaus eingeliefert. Lebensgefahr 3 bestand nicht. Selbstbezichtigungsschreiben liegen zu keiner der beiden Taten vor, waren aufgrund der Schwere der Tat aber auch nicht zwingend zu erwarten. Die Auseinandersetzungen um die Flüchtlingsunterkunft in Hellersdorf führten zu einer im Vergleich mit dem Vorjahr deutlich erhöhten Gewaltbereitschaft von Links gegen Rechts. Allein 45 Gewaltdelikte sind direkt in diesen Zusammenhang zu stellen. Zuletzt gab es solche Konfrontationen nach einer eskalierten Demonstration am Mehringdamm im Mai 2011. In den folgenden Monaten kam es zu einer Reihe von Übergriffen auf "prominente" Rechtsextremisten, anschließend dann zu Brandstiftungen an linken Szeneobjekten. Eine derartige Eskalationsspirale war 2013 glücklicherweise nicht zu beobachten - vor allem, weil die Reaktion der rechtsextremistischen Szene ausblieb. Dennoch sind schwerwiegende Angriffe und folgende Resonanzstraftaten für die Zukunft nicht auszuschließen. "Anti-Rassismus" und "Anti-Repression" prägen Silvio-Meier-Gedenken Auch die "Silvio-Meier-Demonstration" stand im Zeichen des Themas Anti-Rassismus. Diese fand am 23. November nun zum 21. Mal in Gedenken an den Hausbesetzer Silvio Meier statt, der 1992 bei LinksRechts-Auseinandersetzungen erstochen wurde. Nach dem "Revolutionären 1. Mai" ist sie eine der wichtigsten Veranstaltungen des Berliner Linksextremismus, insbesondere der autonomen "Antifa"-Szene. Federführender Organisator war erneut die Antifaschistische Linke Berlin (ALB). Die Mobilisierung war dieses Mal deutlich verhaltener als zum 20-jährigen Jubiläum im Jahr davor und erfolgte auch nicht bundesweit. Zudem wurde mit der Umbenennung der Gabelsberger Straße in Silvio-Meier-Straße im April ein wichtiges Ziel erreicht. Dennoch wurde von den Initiatoren im Vorfeld versucht, die Demonstration mit den jüngsten Repressionsmaßnahmen und der aktuellen Flüchtlingsproblematik thematisch und emotio- 150 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 nal "aufzuladen". Dadurch sollten über die "Antifa"Szene hinaus einerseits die besonders gewaltbereiten "Anarchos" (mit dem Thema "Anti-Repression") und andererseits das postautonome bis bürgerliche Spektrum (mit dem Thema "AntiRassismus") angesprochen werden. Antifaschistische Linke Berlin (ALB) Gründung: 2003 Mitglieder: Berlin: 30-40 (2012: 30-40) Die ALB war jahrelang die bedeutendste autonome Gruppierung Berlins und dürfte bundesweit noch immer die bekannteste sein. Sie ist im Jahr 2003 aus der Spaltung der AAB hervorgegangen und tritt regelmäßig als Veranstalter größerer Kampagnen und Demonstrationen in Erscheinung, z.B. der "SilvioMeier-Gedenkdemonstration". Dabei kooperiert sie nicht nur mit Linksextremisten, sondern schließt auch anlassbezogene Bündnisse mit zivilgesellschaftlichen Akteuren, u.a. bei Protesten gegen rechtsextremistische Aufmärsche. Mit unter dem Pseudonym "Laumeyer" auftretenden Sprechern erreichte sie zeitweilig Resonanz bis in bürgerliche Medien hinein. Den Faschismus sieht die ALB als ein im System angelegtes Ergebnis der bürgerlich-kapitalistischen Herrschaft an. Sie zielt auf eine Radikalisierung gesellschaftlicher Konflikte, da nach ihrer Auffassung das System nicht reformiert, sondern "nur durch eine entschlossene revolutionäre Bewegung" überwunden werden könne. Nach internen Zerwürfnissen hat die ALB vorübergehend an Mitgliedern und Einfluss verloren. Derzeit steht sie - noch unentschlossen - an der Schwelle zwischen autonomem Habitus und postautonomer Organisierung. Der Verlauf der Demonstration zeigte, dass beides gelungen ist. Wie im Jahr davor nahmen in der Spitze 3 500 Menschen am Aufzug quer durch den Bezirk Friedrichshain teil. Die Stimmung war latent aggressiv und polizeifeindlich. Vor allem von der von der ALB und ARAB dominierten Demonstrationsspitze und insbesondere in der - zum "autonomen Freiraum" deklarierten - Rigaer Straße gab es zahlreiche Angriffe auf und Provokationen gegen die Polizei. Insgesamt erfolgten fünf Freiheitsentziehungen und 15 Freiheitsbeschränkungen, zwei Polizeibeamte wurden verletzt. Im mittleren bis hinteren Teil des Demonstrationszuges war der Anteil der eher bürgerlich geprägten Teilnehmer weitaus höher als im Vorjahr. Linksextremismus 151 Die Instrumentalisierung der Flüchtlingsproteste offenbart sich Einen Tag nach der "Silvio-Meier-Gedenkdemonstration" offenbarte sich die linksextremistische Instrumentalisierung der Flüchtlingsproteste nun auch einer breiteren Öffentlichkeit. Mehr als 100 Flüchtlinge vom Oranienplatz - und wohl auch von anderen Orten - zogen in feste Winterquartiere. Daraufhin wollte der Bezirk die Duldung des Protestcamps - mit Ausnahme des Infozelts - beenden und bat die Polizei um Amtshilfe zum Abbau. Allerdings waren die Zelte bereits innerhalb kürzester Zeit wieder neu besetzt. In Reaktion auf die polizeiliche Präsenz im Camp 3 wurde auf einschlägigen Internetseiten, per Facebook, Twitter und mittels SMSKetten blitzartig zum Oranienplatz mobilisiert. U.a. hieß es: "DANN LASST UNS DOCH DIE SCHEI?E DES BEZIRKS UND DER BULLEN AUCH GLEICH HEUTE ABEND BEANTWORTEN!!! TREFFPUNKT UND UHRZEIT WIE IMMER!!! ES WURDE IN VERSCHIEDENEN ZUSAMMENHÄNGEN DARÜBER DISKUTIERT...THEORETISCH JETZT SETZEN WIR DIE TAG X STRATEGIE IN DIE PRAXIS UM! KREUZBERG MUSS BRENNEN! JEDE RÄUMUNG HAT IHREN PREIS!!! WIR ENTSCHEIDEN WIE HOCH DIESER IST..." 90 In kurzer Zeit versammelten sich mehrere hundert Menschen, um eine vermeintliche Räumung zu verhindern. Schließlich formierte sich die Menge zu einem unangemeldeten Spontanaufzug, der mit in der Spitze 500 Personen durch die umliegenden Straßen zog. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, in deren Zuge 31 Beamte verletzt wurden. In den folgenden Tagen fanden weitere Protestaufzüge statt, die drei Tage später in Tumulten während einer Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg mündeten. Die mediale Berichterstattung in Bild und Ton "entzauberte" Teile der vermeintlich humanitär gesinnten Unterstützerkreise als Linksextremisten. Eine bedeutende Rolle bei den Mobilisierungen spielte die Gruppierung "Avanti - Projekt undogmatische Linke". 90 Kommentar zum Artikel "[B] Protestcamp der Geflüchteten am Oranienplatz akut räumungsbedroht" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 24.11.2013. Schreibweise im Original. 152 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Avanti - Projekt undogmatische Linke Gründung: 2008 Mitglieder: Berlin: ca. 40 Avanti wurde 1989 in Schleswig-Holstein gegründet und verfügt inzwischen über eine Reihe von Ortsgruppen im norddeuschen Raum, seit 2008 auch in Berlin. Das italienische "Vorwärts" in Verbindung mit dem Zusatz "Projekt undogmatische Linke" soll ausdrücken, dass es sich um eine Organisation im kontinuierlichen Prozess der Weiterentwicklung handele. Wie F.e.l.S. versucht Avanti das Etikett "Autonome" zu überwinden und über die Szene hinaus zu wirken, indem man den Schulterschluss mit anderen politischen und sozialen Akteuren sucht. Das Ziel sei es, durch Arbeit innerhalb des Systems Akzeptanz für eine revolutionäre Organisation zu schaffen, die perspektivisch von einer Mehrheit als Alternative angesehen werden könne. Revolutionäre Zielsetzungen müssten mit nachvollziehbaren und erreichbaren Tagesforderungen verbunden werden. Dabei ist Avanti in Berlin vor allem gegen Faschismus, Rassismus und Gentrifizierung aktiv. Im Sinne des Aufbaus einer revolutionären Organisation engagiert sich Avanti ebenso wie F.e.l.S. und die ALB in der "Interventionistischen Linken" (iL). Die Auseinandersetzungen um das Zeltlager am Oranienplatz und teils auch um die besetzte Schule in der Reichenberger Straße hielten über das Jahresende hinaus an. Das Szenario einer drohenden Räumung überdeckte zunächst die Unterschiede zwischen den Flüchtlingen selbst, ihren mehrheitlich nicht-extremistischen Unterstützern - also jenen, die sich vor allem aus humanitären Gründen für ihre sozialen und politischen Rechte einsetzen - sowie schließlich denen - und diese treten nicht immer offen auf -, die die Flüchtlinge lediglich für ihre verfassungsfeindlichen Ziele instrumentalisieren wollen. Es sind allein die zuletzt Genannten, die zwangsläufig vom Verfassungsschutz beobachtet werden. Linksextremismus 153 3.4 Zusammenfassung und Fazit Welche Gefahren drohen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch den Linksextremismus? Linksextremisten streben den revolutionären Umsturz der Verhältnisse nicht auf parlamentarischem Weg an. Sie sind realistisch genug, ihre dahingehend geringen Chancen zu erkennen. Wahlergebnisse kommunistischer Parteien im Promillebereich sprechen eine eindeutige Sprache. Auch der Versuch trotzkistischer Splittergruppen, in linken Parteien nachhaltigen Einfluss auszu- 3 üben, verfehlt weitgehend sein Ziel. Traditionellen Anarchisten gelingt es selbst über gewerkschaftliches Engagement nicht, sich in der Arbeitnehmerschaft zu verankern. Bedrohungen für die Demokratie gehen daher weniger von orthodoxen Parteien und Organisationen aus, sondern von undogmatischen und aktionsorientierten Linksextremisten, wie sie als Autonome seit Jahren bekannt sind und wie sie sich neuerdings auch immer stärker in Form der Postautonomen offenbaren. Sie setzen - mit unterschiedlichen Strategien - eher auf demonstrative und militante Ausdrucksformen, um damit breit wahrnehmbare Signalwirkungen in der Öffentlichkeit zu erzielen. Trotz eines tendenziell rückläufigen Personenpotenzials gelingt es den Autonomen - und zwar insbesondere autonomen "Antifa"-Gruppierungen - in den letzten Jahren, immer mehr Menschen zu den von ihnen organisierten Großveranstaltungen wie dem "Revolutionären 1. Mai" (10 000 Teilnehmer), der "Antikapitalistischen Walpurgisnacht" (2 400) oder der "Silvio-Meier-Gedenkdemonstration" (3 500) zu mobilisieren. Das zeigt, dass die von ihnen angesprochenen Themen, wie Gentrifizierung, Finanzkrise oder NSU-Morde, gerade die junge Generation bewegen, auch wenn die überwiegende Zahl der Demonstrationsteilnehmer die systemüberwindenden Ziele und militanten Aktionsformen der Autonomen nicht teilen. Diese Entwicklung hat - zumindest vorerst - zu einer "Befriedung" dieser früher oft von Randale geprägten Events beigetragen - ein Zustand, der insbesondere den "Anarchos" missfällt, die eher auf Aktionsformen setzen, wie sie bei den Protesten gegen den Polizeikongress zu beobachten waren. Dabei ist das Gewaltpotenzial militanter Linksextremisten ungebrochen. Die politisch links motivierten Gewalttaten (276 Fälle) haben gegenüber dem Vorjahr (209) sogar wieder zugenommen. Der Anstieg beruht vor allem auf Links-RechtsAuseinandersetzungen bei den Ereignissen rund um die Eröffnung einer Asylbewerberunterkunft in Hellersdorf (allein 45 Fälle). Die in den letzten Jahren zu beobachtende sinkende Hemmschwelle bei Angriffen auf Leib und Leben von zum politischen Gegner erklärten Menschen zeigt sich erneut an Brandsätzen, die in 154 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Kreuzberg auf Polizisten geworfen wurden, den schweren Gesichtsverletzungen eines Beamten in Hellersdorf und dem Schädelbruch eines Rechtsextremisten in Mitte. Anschläge auf den Bahnverkehr und den Mobilfunk machen deutlich, dass auch mit Sabotageakten an zentralen Infrastrukturen der Stadt gerechnet werden muss, selbst wenn die Täter in der linksextremistischen Szene Berlins dafür keine ungeteilte Zustimmung finden. Die Strategie der Postautonomen unterscheidet sich von der "traditioneller" Autonomer. Diese beruht vor allem auf einem anderen Habitus, der sie vordergründig nicht sofort als Linksextremisten erkennbar macht und schon gar nicht als "Chaoten" stigmatisiert. Sie sind im Durchschnitt älter und gebildeter, treten ziviler und moderater auf. Während Autonome jugendtypisch in martialischen "Schwarzen Blöcken" offen die Konfrontation mit "Staat, Nazis und Kapital" suchen, halten sich Postautonome - auch im äußeren Erscheinungsbild - gern unauffällig im Hintergrund, wirken eher als Anstoßgeber und animieren Dritte dazu, militant zu agieren. So inszenieren sie - wie sie es selbst nennen - "kollektive Regelüberschreitungen". Anschließend verstehen sie gekonnt, sich als Opfer willkürlichen Staatshandelns zu gerieren, nachdem sie als scheinbar friedliche Bürger mit vermeintlich unverhältnismäßigen exekutiven Maßnahmen konfrontiert sind. So soll den übrigen Teilnehmern wie auch der Öffentlichkeit vermittelt werden, dass rechtsstaatliche Institutionen nur ein unterdrückerisches Instrument in Händen der "Herrschenden" seien und eine Lösung der Probleme ihre Überwindung voraussetze. Diese Strategie ist an sich nicht neu. Allerdings bahnen sich in der Umsetzung zunehmend "Erfolge" an. Die teilweise eskalierten Proteste gegen Zwangsräumungen und zum Thema Flüchtlinge sind dafür die warnenden Beispiele. Die Folge ist, dass grundgesetzlich geschütztes, auf Reformen in der Sache zielendes gesellschaftliches Engagement letztlich diskreditiert wird. Die Aufgabe des Verfassungsschutzes besteht darin, innerhalb der vielfältigen Problemfelder einer modernen Gesellschaft extremistisch motivierte Bestrebungen von legitimen - auch unkonventionellen - Protestaktionen zu unterscheiden, ohne dass berechtigte Gesellschaftskritik dabei in Verruf gebracht wird. Eine Maßnahme in diesem Sinne ist, die linksextremistischen Akteure zu benennen, die sich in diesen Aktionsfeldern bewegen und sie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren versuchen. Linksextremismus 155 Aktionsfelder und Akteure des militanten Linksextremismus in Berlin Anti-Repression "Anarchos" 3 Anti-Militarismus Anti-Gentrifizierung OOC NEA "Antiimps" Postautonome lokale "Antifa"ALB Gruppierungen Anti-Faschismus Anti-Kapitalismus "Antifa" Anti-Rassismus Wer sind also die maßgeblichen Akteure des militanten Berliner Linksextremismus? Um eine gewisse Ordnung in das unübersichtliche Feld der etwa 30 bis 35 Gruppierungen - diese Zahl schwankt ständig - zu bringen, wurde neben der Unterteilung in Autonome und Postautonome bereits einleitend in "Anarchos" und "Antifas" unterschieden. Daneben bestehen noch einige anti-imperialistische Gruppierungen, die vor allem mit anti-militaristischen Aktionen auffallen, die hier nicht erwähnt wurden. Sie sind ideologisch betrachtet eigentlich keine Autonomen, unterscheiden sich im Auftreten jedoch kaum von diesen. Die "Anarchos", als das militanteste Spektrum des Berliner Linksextremismus, engagieren sich - vor allem mit dem Ziel des Kampfes um "autonome Freiräume" - zu den Themen "Anti-Repression" und "Anti-Gentrifizierung". Ihre wichtigste Instituti- 156 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 on und zugleich Rückzugsraum ist und bleibt - auch nach den Durchsuchungen im August - die "Rigaer 94". Eine zentrale Rolle im Hintergrund nehmen die Aktivisten von "Out of Control" ein. Die autonome "Antifa" ist das zahlenmäßig bedeutendste Teilspektrum und zeichnet für die traditionellen Großevents der Szene verantwortlich. Individuelle Kontakte und ideologische Überschneidungen zu den "Anarchos" weisen die NEA auf. Sie dominieren den Nordosten der Stadt und sind seit Jahren federführende Organisatoren der "Antikapitalistischen Walpurgisnacht". Überregional aktiv und vernetzt ist die ARAB - sie hat in den letzten Jahren die Durchführung des "Revolutionären 1. Mai" bestimmt. Die meisten "Antifa"-Gruppierungen sind dagegen eher kiezorientiert und engagieren sich vor Ort gegen vermeintliche und tatsächliche Rechtsextremisten. Mit dem "AntiFaschismus" verbunden - und das unterscheidet sie vom zivilgesellschaftlichen Engagement "gegen Rechts" - ist jedoch die Ablehnung des auf den Begriff des Kapitalismus reduzierten "Systems". Vor diesem Hintergrund agiert auch die ALB - jedes Jahr aufs Neue sichtbar bei der "Silvio-Meier-Gedenkdemonstration". Allerdings tendiert sie immer mehr zu postautonomen Organisierungsformen. Dieses Spektrum repräsentieren vor allem F.e.l.S. und Avanti. Postautonome weisen über das Aktionsfeld "Anti-Rassismus" Schnittstellen zur "Antifa" und über die Problematisierung von Gentrifizierung sogar zu den "Anarchos" auf. An dieser Naht werden Aktivitäten nicht selten unter das Label "Wir bleiben alle!" gestellt, das jedoch kein eindeutiges Erkennungsmerkmal von Linksextremisten ist. "Anarchos", "Antifa" und "Antiimps" umfassen als Autonome zusammengefasst etwa 810 Personen, die Postautonomen aktuell rund 210. Innerhalb dieses Geflechts existiert inzwischen keine Gruppierung mehr, die eine dominierende Stellung einnimmt, wie sie längere Zeit die ALB und zuletzt die ARAB inne hatte. Wie vormals die ALB zerreibt sich die ARAB in Auseinandersetzungen, was sich negativ auf ihr Aktivitätsniveau auswirkt. Zudem hat die szeneinterne Akzeptanz aufgrund des umstrittenen Auftretens einiger ihrer Mitglieder deutlich gelitten. Das hinterlassene Vakuum vermag zurzeit keine andere Gruppierung auszufüllen. Von Anlass zu Anlass sind andere Protagonisten offen federführend oder steuernd im Hintergrund aktiv. Oft kommen die unterschiedlichen Akteure auf keinen gemeinsamen Nenner. Der militante Linksextremismus Berlins ist derzeit so zielund planlos wie lange nicht. Diverse Debatten über neue Formen der Selbstorganisierung oder geeignete Demonstrationstaktiken zur Initiierung von mehr Militanz sind Ausdruck davon. Die Ergebnisse und Wirkungen dieser Diskussionen bleiben zunächst offen. Die Ereignisse des 21. Dezember in Hamburg sprechen gegen eine vorzeitige Entwarnung. Extremistische Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 157 4 Extremistische Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 4.1 Ideologien extremistischer Bestrebungen ausländischer Organisationen Ausländische Organisationen werden als extremistisch bewertet, wenn sie sich ge- 4 gen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten und die Durchsetzung ihrer Weltanschauung in Deutschland anstreben. Als extremistisch werden aber auch ausländische Organisationen eingeIdeologien extremistischer Bestuft, die eine gewaltsame Verändestrebungen ausländischer Organirung der politischen Verhältnisse in sationen den Heimatländern anstreben. Sie geIm Gegensatz zu den Beobachfährden durch Anwendung von Gewalt tungsfeldern Rechtsund Linksexoder darauf gerichtete Vorbereitungstremismus sowie Islamismus verhandlungen auswärtige Belange der fügen extremistische Bestrebungen Bundesrepublik Deutschland. ausländischer Organisationen nicht über eine einheitliche ideologische Ausländische PersonenzusammenAusrichtung mit verschiedenen Ausschlüsse werden schließlich als extreprägungen. Es lassen sich gegenmistisch bewertet, wenn ihre Tätigkeit sätzliche Ideologien unterscheiden: gegen das friedliche Zusammenleben * Linksextremisten: Diese folgen weitder Völker (Art. 21 Abs. 1 Grundgegehend der Ideologie des Marxismussetz) gerichtet ist. Organisationen, die Leninismus und streben meist mit sich gegen das friedliche ZusammenGewalt die Etablierung eines sozialisleben der Völker richten, bedeuten tischen bzw. kommunistischen Syseine erhebliche Gefahr für die innere tems in ihren Heimatländern an. Sicherheit. Sie bilden den Nährboden * Extreme Nationalisten: Nationalistifür extremistische Auffassungen und sche Ausländerorganisationen kennschüren Hass, der auch zu terroristizeichnet ein auf ethnische, kulturelle scher Gewaltanwendung führt. und politisch-territoriale Unterschiede gegründeter Überlegenheitsan- 158 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 In den meisten Fällen werden die Akspruch der eigenen Nation sowie die tivitäten ausländerextremistischer OrNegierung der Rechte anderer Ethganisationen von den politischen Vernien. hältnissen in ihren Herkunftsländern In den meisten Fällen werden die Akbestimmt. Einige der in Deutschland tivitäten ausländerextremistischer ansässigen Organisationen lassen inOrganisationen von den politischen zwischen jedoch Tendenzen zu eigenVerhältnissen in ihren Herkunftslänständigem Handeln erkennen. dern bestimmt. Bei nicht-islamistischen ausländerextremistischen Organisationen lassen sich linksextremistische und nationalistisch orientierte Gruppierungen unterscheiden. * Linksextremistische Organisationen folgen weitgehend der Ideologie des Marxismus-Leninismus und streben meist mit Gewalt die Etablierung eines sozialistischen bzw. kommunistischen Systems in ihren Heimatländern an. * Extrem-nationalistische Ausländerorganisationen kennzeichnet ein auf ethnische, kulturelle und politisch-territoriale Unterschiede gegründeter Überlegenheitsanspruch der eigenen Nation sowie die Negierung der Rechte anderer Ethnien. 4.2 Personenpotenzial und Straftaten Das Personenpotenzial linksextremistischer ausländischer Organisationen ist in den letzten Jahren nahezu konstant geblieben. Die in der "Arbeiterpartei Kurdistans" organisierten kurdischen Linksextremisten stellen hier weiterhin das einzige zahlenmäßig relevante Personenpotenzial. Für das Jahr 2013 waren ihr etwa 1 050 Personen (2012: ca. 1 050) zuzurechnen. Im Bereich der extrem-nationalistischen Organisationen ist in Berlin eine Zunahme des Personenpotenzials zu erkennen. Die augenscheinliche Erhöhung ist jedoch einer geänderten Beobachtungsgrundlage geschuldet, die vermehrt den Fokus auf gewaltorientierte Anhänger der "Ülkücü-Bewegung"91 legt. Den extremen Nationalisten insgesamt werden aktuell etwa 400 Personen zugerechnet (2012: ca. 300). 91 Die "Idealisten" werden generalisierend als "Graue Wölfe" bezeichnet. Extremistische Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 159 Personenpotenzial extremistischer ausländischer Organisationen* Berlin Bund 2012 2013 2012 2013 Gesamt 1 600 1 700 28 810 28 810 Linksextremisten, davon 1 300 1 300 17 970 16 970 PKK 1 050 1 050 13 000 13 000 DHKP-C 50 40 650 650 Sonstige 200 210 4 320 4 320 Extreme Nationalisten 300 400 10 840 10 050 4 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. Die Kriminalitätsstatistik für das Jahr 2013 weist im Phänomenbereich politisch motivierter Ausländerkriminalität Zahlen aus dem Bereich Islamismus nicht einzeln aus. Während die Gewaltdelikte insgesamt von 48 auf 41 abnahmen, stiegen die Terrorismusdelikte auf 16 Fälle.92 Unter den sonstigen Delikten mit 134 Fällen stieg vor allem die Zahl der Verstöße gegen das Vereinsgesetz - vor allem das öffentliche Zeigen verbotener Symbole - um 30 Fälle an. Grund ist eine Demonstration gegen das PKK-Verbot vom 16. November mit alleine 35 von 46 Fällen. 4.3 Arbeiterpartei Kurdistans - PKK ("Partiya Karkeren Kurdistan") 4.3.1 Überblick Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Gründung: 1978 Türkei Mitglieder: Berlin: ca. 1 050 (2012 ca. 1 050) Bund: ca. 13 000 (2012 ca. 13 000) Die PKK ist auf der europäischen Liste terroristischer Organisationen verzeichnet. 92 Darunter fällt der Aufenthalt in terroristischen Ausbildungslagern, ein Delikt, das häufig dem Bereich Islamismus zuzuordnen ist. 160 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Vor dem Hintergrund des jahrzehntelangen Konflikts im Ländereck Türkei, Iran, Irak und Syrien gegründet, führte sie ab 1984 einen Guerillakrieg für die Anerkennung der Kurden als Nation und die Erlangung der politischen Autonomie innerhalb des türkischen Staatsgebiets. Seit der Festnahme des PKK-Führers Abdullah Öcalan im Jahre 1999 gilt ein strategischer Kurswechsel, um sich durch die Ankündigung interner Reformen als politischer Gesprächspartner zu etablieren, nach außen sichtbar durch mehrfache Umbenennungen der Organisation wie auch ihrer Teilund Nebenorganisationen (siehe Tabelle S. 161). Die PKK in der Türkei Bereits 2004 kündigten die Guerillaeinheiten der PKK den 1998 von Öcalan erklärten "einseitigen Waffenstillstand" auf. Seitdem fanden - mit einigen Unterbrechungen - offensive Kämpfe statt. Zudem verübten die "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK), eine nach eigenen Angaben aus der Guerilla entstandene Gruppe, die seit 2006 ebenfalls auf der europäischen Liste terroristischer Organisationen verzeichnet ist, terroristische Anschläge in der gesamten Türkei. Seit März 2013 herrscht jedoch Waffenruhe. Nach der Tötung dreier mutmaßlicher PKK-Kader in Paris im Januar war die Entwicklung im weiteren Verlauf des Berichtsjahres geprägt durch die Wiederaufnahme von Verhandlungen der türkischen Regierung mit Organisationsvertretern und erstmalig mit dem PKK-Führer Abdullah Öcalan selbst. Dieser rief zum jährlichen Newroz-Fest93 zum achten "Waffenstillstand" und gleichzeitigen Abzug der Guerillaeinheiten aus der Türkei auf. Damit entstand eine Ausgangssituation, die durch die räumliche Trennung der Gegner eine reale Friedensperspektive eröffnete und deren Auswirkungen in Europa und damit auch in Deutschland und Berlin durch ein vergleichsweise ruhiges Jahr festzustellen waren. Diese positive Ausgangslage beeinflusste auch eine Demonstration zum PKK-Verbot in Berlin mit Teilnehmern aus ganz Deutschland sowie dem europäischen Ausland. Sowohl thematisch im Bezug auf Solidaritätsaktionen in Europa als auch faktisch bei den Kämp93 Das "Neujahrsfest" wird traditionell im Iran, Afghanistan, im Nahen Osten sowie in allen Ländern turkstämmiger Völker Asiens gefeiert. Die PKK nutzt das Fest wegen eines damit verbundenen Mythos um Unterdrückung und Freiheitskampf für Propagandazwecke. Extremistische Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 161 fen der Guerillaeinheiten verlagerten sich nahezu sämtliche Aktivitäten der Organisation in das Themenfeld "Syrien". Aufstellung der Namen der wichtigsten Organisationsteile der PKK Gesamtorganisation Organisation der Frauen JugendorganiFrontorganisasation tion in Europa "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) "Partei der Freien Frau" (PJA) "Union der "Nationale Jugendlichen Befreiungsfront Kurdistans" Kurdistans" (YCK) (ERNK) "Freiheitsund Demokratiekon"Freiheitspartei der Frauen Kur"Bewegung der "Demokratische gress Kurdistans" (KADEK) distans" (PAJK) freien Jugend Union des kurKurdistans" dischen Volkes" 4 "Volkskongress Kurdistans" (TECAK) (YDK) (Kongra Gel) Heute: Dreiteilung unter dem GeDreiteilung unter dem System "Gemeinschaft "Koordination samtsystem der "Gemeinschaft der "Gemeinschaft der hohen der Kommunen der Demokrader Gesellschaften Kurdistans" Frauen" (KJB): der demokratischen Gesell(KCK) (zuvor: "Gemeinschaft der tischen Jugend schaft KurdisKommunen Kurdistans" (KKK)): * politischer Teil: "Union der freiKurdistans" tans" (CDK) en Frauen" (YJA) (Komalen Ci- * politischer Teil: Kongra Gel * ideologischer Teil: "Freiheitswan) oder auch * ideologischer Teil: "neue" PKK partei der Frauen Kurdistans" "Freie Jugend" * militärischer Teil: "Volksvertei(PAJK) (Ciwanen Azad) digungskräfte" (HPG) * militärischer Teil: "Verband freier Frauen Star" (YJA Star) 4.3.2 Themenschwerpunkt Syrien Friedensprozess in der Türkei - Kämpfe in Syrien Nachdem sich die Lage in der Türkei - auch durch die langandauernde verschärfte Isolationshaft von Öcalan - bis zum Herbst vergangenen Jahres zunehmend verschlechtert hatte, mehrten sich gegen Ende des Jahres Hinweise auf Gespräche zwischen Vertretern der türkischen Regierung und der PKK. Solche Gespräche hatte es bereits zuvor gegeben. Neu war jedoch, dass Öcalan erstmals faktisch als Verhandlungspartner akzeptiert wurde. Zum diesjährigen Newrozfest am 21. März forderte Öcalan seine Anhänger schriftlich nicht nur zu einem einseitigen Waffenstillstand auf, sondern rief die Guerillaeinheiten zum Rückzug aus der Türkei auf. Damit ging die Aufforderung über die zahlreichen vorhergehenden hinaus, bei denen die nominellen Waffenstillstände faktisch zwar zu Lageberuhigungen geführt hatten, durch das "Recht auf Verteidigung und Vergeltung" der PKK-Kämpfer jedoch keine wirkliche Waffenruhe bedeu- 162 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 teten, da jedes Aufeinandertreffen von türkischen Soldaten und Guerillaeinheiten weiterhin zu Kämpfen führte. Dieses anhaltende Konfliktpotenzial ist tatsächlich nur durch eine räumliche Trennung für die Dauer von Verhandlungen zu lösen. Daher war die Verlagerung der PKKTruppen die notwendige Vorbedingung einer tragfähigen Waffenruhe und stellte damit einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einer möglichen Lösung der kurdischen Frage dar. Hinter dem "Kurdischen Frühling" steht allerdings auch die Tatsache, dass 2014 sowohl Kommunalwahlen als auch Präsidentschaftswahlen in der Türkei anstehen und dafür die Stimmen der kurdischen Bevölkerung im Südosten des Landes entscheidend sein können. Diese Stimmen sind mit der Aussicht auf eine Lösung der kurdischen Frage zu erlangen. Leider geriet der Friedensprozess bereits Mitte des Jahres wieder ins Stocken. Die PKK warf der türkischen Regierung vor, nach Abzug von mehr als der Hälfte der Guerillakämpfer ihrerseits keine wirklichen Reformen einzuleiten, die Kurden mit Versprechungen hinzuhalten und währenddessen die Stellungen der abziehenden Kämpfer durch türkische Militärstützpunkte zu ersetzen. Die Gegenseite sprach von lediglich 15 Prozent der Guerillakämpfer, die das Land tatsächlich verlassen hätten, und warf der PKK vor, die Zeit zur Rekrutierung neuer Kämpfer zu nutzen. Auch würden die Guerillaeinheiten aus der Türkei nicht entwaffnet, sondern unterstützten die "Partei der demokratischen Union" (PYD)94 beziehungsweise die zugehörigen Guerillakräfte der "Volksverteidigungseinheiten" (YPG) bei der Ausbildung. Thema Syrien beherrscht PKK-Aktivitäten in Deutschland Tatsächlich war auch in Deutschland festzustellen, dass das Thema Syrien nicht nur bei den von dort stammenden Anhängern der PKK zum beherrschenden Thema wurde. Seit es ab Ende Juli zu verstärkten Kämpfen zwischen jihadistischen 94 Meist als syrischer Ableger der PKK bezeichnete kurdische Organisation in Syrien. Extremistische Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 163 Assad-Gegnern wie der JaN95 und den YPG kam, wurde in den organisationsnahen Medien auf die "Angriffe der Al-Qaida-Milizen" hingewiesen, es fanden Spendensammlungen für Syrien statt sowie zahlreiche Mahnwachen und Demonstrationen. Ab dem 25. Juli erfolgte eine zweiwöchige Mahnwache vor dem Brandenburger Tor, bei der der "Widerstand der YPG" besungen wurde. Eine Demonstration unter dem Motto "Der Krieg der Al-Kaida-Söldner gegen die Kurden und andere Minderheiten" am 10. August mit etwa 900 Teilnehmern verlief ebenso friedlich wie alle weiteren Veranstaltungen zu diesem Thema in Berlin. 4 Starke Position der PYD in Syrien Die PYD, die in Syrien für die kurdischen Interessen kämpft, ist für die dortigen "alQaida"-Gruppierungen ein ernstzunehmender Gegner. Sie hat in mehreren kurdisch dominierten Provinzen faktisch die Kontrolle übernommen und kontrolliert die Grenzübergänge zur Türkei. Obwohl die Bevölkerungsstruktur vor Ort einen zusammenhängenden kurdischen Staat eher ausschließt, hat die PYD als "local player" eine Bedeutung gewonnen, die dazu führt, dass ihr Führer Salih Muslim bereits im Juli zu mehrtägigen Gesprächen von Erdogan in der Türkei empfangen wurde. Möglicherweise ist in Anbetracht der Alternativen eine Entwicklung analog zu der im Nordirak für die türkische Seite nicht mehr ausgeschlossen. Umstrittene Ölund Gasvorkommen im Nordirak hatten dort zu Differenzen der sunnitischen kurdischen Regionalregierung mit der schiitischen Zentralregierung in Bagdad geführt. Dadurch entwickelte sich die Türkei zu einem der wichtigsten Handelspartner des kurdischen Nordiraks, was für wirtschaftlichen Aufschwung sorgt. Das Beispiel zeigt anschaulich, welches Potenzial in der Region steckt, wenn dort ein tragfähiger Frieden geschaffen werden kann. Es zeigt ebenso, dass von einer solchen Entwicklung beide Seiten profitieren. Andauernde Rekrutierungen zur Guerilla Gleichzeitig zeigt die Entwicklung in Syrien jedoch, dass die militärische Option für die PKK - dort in Form der PYD beziehungsweise den YPG - weiterhin ein Mittel der Wahl bleibt. So steht der jährliche Fotokalender der PKK für das Jahr 2014 ganz im 95 Vgl. S. 35. 164 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Zeichen von "Rojava"96 und ideologisiert mit militärischen Aufmärschen unter der YPG-Fahne. Die Generalkommandantur der YPG erklärte nach einem Bombenattentat der gegnerischen Gruppen: "Wir rufen die Jungen, jeden, dessen Hand eine Waffe halten kann, dazu auf, ihre Gebiete zu verteidigen. Um die Interessen des kurdischen Volkes zu schützen, geben wir die Mobilmachung bekannt." 97 Die KCK ließ am Folgetag verlauten: "Als KCK unterstützen wir diese Mobilmachung zur Verteidigung. Dieser Mobilmachung zur Verteidigung müssen sich nicht nur das Westkurdische Volk, sondern Kurden in allen Teilen [Kurdistans] anschließen. Die Revolution in Westkurdistan zu verteidigen be98 deutet, das freie und demokratische Leben in allen Teilen Kurdistans zu verteidigen." Entsprechend war in Deutschland kein Rückgang der Rekrutierungsbemühungen der Organisation festzustellen - und die Verteidigung Syriens ist damit nicht nur für islamistische Kämpfer attraktiv. 4.3.3 Attentat von Paris Am 9. Januar wurden in Paris drei weibliche mutmaßliche PKK-Kader erschossen, darunter Sakine C., eine der Gründerinnen der PKK und hochrangiges Kadermitglied. Man fand die Frauen tot in den Räumlichkeiten des "Kurdistan Informationsbüros" in Paris auf. 96 Kurdisch: Westen, Bezeichnung der PKK für Syrien als "Westkurdistan". 97 Internetauftritt der PKK-nahen Nachrichtenagentur Firatnews Agency (ANF) vom 30.7.2013. 98 Internetauftritt der PKK-nahen Nachrichtenagentur Firatnews Agency (ANF) vom 31.7.2013. Extremistische Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 165 Bislang haben die französischen Behörden keine abschließenden Ermittlungsergebnisse veröffentlicht, obwohl bereits eine Woche nach dem Attentat zwei Personen festgenommen wurden. Der mutmaßliche Täter Ömer G. hat bis heute nicht gestanden. Während die PKK von Anfang an von einem Agenten des türkischen Geheimdienstes ausging und die Tat als Dolchstoß vor dem Hintergrund der Friedensgespräche der türkischen Regierung mit dem PKK-Führer Öcalan betrachtete, gab es auch Stimmen, die eine Racheaktion innerhalb der PKK als Ergebnis eines internen Machtkampfes für möglich hielten. Die Reaktionen in PKK-Kreisen sowie der Unterstützerszene, zu denen es nach anfänglicher Fassungslosigkeit kam, blieben überwiegend friedlich. Es fanden zahl- 4 reiche Veranstaltungen in Paris statt, an denen sich Berliner PKK-Anhänger beteiligten, so am 12. Januar bei einer Demonstration oder am 15. Januar bei einer Trauerfeier. In Berlin warfen in der Nacht zum 11. Januar zwei unbekannte, vermummte Personen zwei Molotowcocktails auf die ehemalige Botschaft der Republik Türkei in der Rungestraße. Der Brand auf einem Glasvordach erlosch von selbst. Am 11. und 26. Januar gab es Demonstrationen mit bis zu 1 000 Teilnehmern. Vom 23. bis 25. Januar hielt man vor dem Brandenburger Tor und ab dem 27. Januar immer mittwochs vor der Botschaft der Republik Frankreich Mahnwachen ab. Diese sollen fortgeführt werden, bis die "Morde von Paris" aufgeklärt sind. Die YXK Berlin berichtete im Internet über verschiedene Protestaktionen in Einkaufszentren und U-Bahnhöfen der Stadt, bei denen Flugblätter verteilt worden seien, während sich drei maskierte Frauen plötzlich zu Boden fallen ließen. Insgesamt waren die Reaktionen im Vergleich zu früheren Anlässen sehr verhalten. Die PKK in Deutschland/Europa Nach zahlreichen Brandanschlägen auf türkische Einrichtungen in Deutschland 1992 und 1993 und der Geiselnahme von 20 Personen im türkischen Generalkonsulat in München erfolgte am 22. November 1993 das vereinsrechtliche Betätigungsverbot in Deutschland, das sich auch auf die Nachfolgeorganisationen erstreckt. 166 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Da die PKK einen Alleinvertretungsanspruch für alle Kurden erhebt, wurden bereits in den 1990er Jahren "Massenorganisationen" für Angehörige einzelner Interessen-, Berufsoder Religionsgruppen geschaffen, um durch diese Einfluss auf alle wichtigen Bereiche kurdischen Engagements in Deutschland zu gewinnen. Neben den Jugendlichen ist vor allem die "Kurdische Frauenbewegung in Europa" (TJKE), der "Verband der Studierenden aus Kurdistan" (YXK), die "Union kurdischer Familien" (YEK-MAL) sowie die "Islamische Gemeinschaft Kurdistans" (CIK) zu nennen. Es gibt jedoch weitere Verbände. Parallel dazu wird Öcalans System des "Demokratischen Konföderalismus" durch Gründung lokaler "Volksräte" umgesetzt. Das Modell soll den Anschein von Mitbestimmung und Basisdemokratie erwecken. In der streng hierarchischen PKK-Führungsstruktur bestehen jedoch keine wesentlichen inhaltlichen Einflussmöglichkeiten. Die Anhänger in Deutschland sind meist in örtlichen Vereinen aktiv, deren Dachverband, die "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e. V." (YEKKOM), der Weisung des politischen Arms der PKK in Europa unterliegt. 4.3.4 Demonstration gegen PKK-Verbot in Berlin Am 16. November fand in Berlin eine bundesweite Protestdemonstration mit dem Thema: "Den Friedensprozess in Kurdistan fördern. Aufhebung des PKK-Verbots. Freiheit für Abdullah Öcalan" statt, an der sich zeitweise bis zu 5 500 Personen aus Deutschland sowie dem europäischen Ausland beteiligten. Abgesehen von Verstößen gegen das Vereinsgesetz, zumeist durch Zeigen von verbotenen Fahnen99, blieb es im Verlauf der Veranstaltung friedlich. Zu den Teilnehmern gehörten neben PKK-Anhängern auch Anhänger und Sympathisanten von Solidaritätsgruppen sowie von deutschen und türkischen linksgerichteten sowie linksextremistischen Gruppierungen. Ein "internationalistischer Block" von etwa 150 Personen nahm ebenfalls am Aufzug teil. Während der störungsfreie Verlauf zeigt, dass es im Gegensatz zu früheren Erfahrungen in Berlin bei entsprechender Organisation der Veranstaltung und mit 99 Es wurden nicht nur Fahnen der PKK gezeigt, sondern auch solche der Guerillaeinheiten HPG und YPG. Extremistische Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 167 mäßigenden Aufrufen der PKK-Leitung möglich ist, solche Proteste im demokratischen Rahmen durchzuführen, bewiesen einige Teilnehmer nach dem Ende der Demonstration, wieso die Ideologie der PKK dem friedlichen Zusammenleben der Völker entgegensteht: Etwa acht jüngere Kurden griffen unvermittelt einen auf Grund der Fahnen als türkisch erkennbaren Hochzeitskonvoi an, zerstörten eine Autoscheibe und verletzten einen Mann durch Faustschläge. Die Polizei verhinderte zusammen mit älteren Kurden eine Eskalation und beendete den Angriff. 4.4 Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front - DHKP-C ("Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi") 4 4.4.1 Selbstmordanschlag auf US-Botschaft in Ankara Bei einem Selbstmordanschlag der DHKP-C auf die US-Botschaft in Ankara am 1. Februar wurden ein Wachmann getötet und zwei weitere verletzt. Der Attentäter Ecevit (Alisan) Sanli war in der Türkei bereits als Organisationsmitglied inhaftiert gewesen und hatte sich danach in Deutschland aufgehalten. Er stand im Verdacht, 2009 Gebietsverantwortlicher der DHKP-C in Berlin und 2011 in Köln gewesen zu sein. Wegen Verdachts der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung100 war gegen ihn seit Frühjahr 2011 ein Ermittlungsverfahren der Generalbundesanwaltschaft anhängig. In Berlin fanden am 3. Februar und am 10. März jeweils im "Yorum Kültür Evi e. V."101 in Kreuzberg Gedenkveranstaltungen nicht etwa für die Opfer, sondern für den Täter statt. In den Vereinsräumen war zu diesem Anlass eine Art Altar für den Selbstmordattentäter errichtet worden. 100 Gem. SS 129 a, b StGB. 101 Örtlicher Verein der "Anatolischen Föderation e. V." Neben der Führungsstruktur auf Kaderebene nutzt die DHKP-C "Kulturvereine" als Stützpunkte und Anlaufstellen vor Ort. Diese verfolgen die Ziele der Organisation, obwohl die Zugehörigkeit verschleiert wird. Die "Anatolische Föderation e. V." fungiert dabei als Dachverband für verschiedene Tarnund Vorfeldorganisationen auf Bundesebene. Vgl. Urteil des 1. Strafsenat des Kammergerichts Berlin vom 16.5.2013, S. 25 f. 168 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) Gründung: 1994 in Syrien Mitglieder: Berlin: ca. 40 (2012 ca. 50) Bund: ca. 650 (2012 ca. 650) Die DHKP-C entstand aus der 1978 in der Türkei gegründeten Organisation "Devrimci Sol" ("Revolutionäre Linke"), die 1983 in Deutschland verboten wurde. Sie ist in der Türkei terroristisch aktiv und strebt die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Ideologie an. Sie ist auch unter den Namen "Revolutionäre Volksbefreiungspartei" (DHKP) bzw. "Revolutionäre Volksbefreiungsfront" (DHKC) aktiv, wobei DHKC meist als "bewaffneter Arm" der Organisation bezeichnet wird. Die Kurzform "Halk Cephesi" (Volksfront) findet sich ebenfalls für ihre Anhänger. Seit 2002 ist sie auf der europäischen Liste terroristischer Organisationen verzeichnet. Zum bekannten Aktionsspektrum der DHKP-C in der Türkei gehören Selbstmordanschläge auf türkische, aber auch auf amerikanische Einrichtungen. In Deutschland ist sie seit 1998 nicht mit gewalttätigen Aktionen in Erscheinung getreten. Hier engagieren sich DHKP-C-nahe Organisationen wie die "Anatolische Föderation e. V." ("Anadolu Federasyonu") für die Positionen der DHKP-C. 4.4.2 Durchsuchungsmaßnahmen in Berlin Am 26. Juni durchsuchten Polizeikräfte auf Grund eines Ermittlungsverfahrens beim Hanseatischen Oberlandesgericht in Zusammenhang mit der DHKP-C die Räume des "Yorum Kültür Evi e. V."102 in Berlin.103 Der Verfahrensbeschuldigte, ein in Belgien gemeldeter türkischer Staatsangehöriger, der sich zeitweilig in den Räumen aufgehalten haben soll, konnte nicht angetroffen werden. Es wurden jedoch Beweismittel, unter anderem Propagandamaterial der Organisation, sichergestellt. Im Internet äußerten sich DHKP-C-nahe Organisa102 Gem. SS 129 b Abs. 1 i. V. m. 129 a Abs. 1 Nr. 1 StGB. 103 Von Durchsuchungsmaßnahmen waren zeitgleich auch Wohnungen und Vereinsräume in NordrheinWestfalen und Hamburg betroffen. Außerdem wurden Exekutivmaßnahmen in Belgien, Österreich und den Niederlanden durchgeführt. Extremistische Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 169 tionen zu den "faschistischen Angriffen": Die Polizei habe in den Häusern "Terror verbreitet" und versucht, die Menschen "einzuschüchtern". Die "Anatolische Föderation e. V." behauptet, es seien "unbewiesene, willkürliche und illegitime Verhaftungen" gewesen.104 4.4.3 Urteil des Kammergerichts Berlin Bereits am 16. Mai verurteilte das Kammergericht Berlin den DHKP-C-Kader Gülaferit Ü. wegen mitgliedschaftlicher Beteiligung an einer terroristischen Vereinigung im Ausland105 zu sechs Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Ü. seit Inkrafttreten des SS 129 b StGB bis 2003 als 4 Europaund Deutschlandverantwortliche die so genannte "Rückfront" 106 der Organisation geführt habe und bis zu ihrer Festnahme am 8. Juli 2011 mit nicht näher festgestellten Funktionen zumindest als Mitglied für die DHKP-C tätig war. Noch in ihrem Schlußwort hatte Ü. erklärt: "Der wahre Terror gehe vom türkischen Staat aus, es sei kein Terrorismus, wenn man sich dagegen wehre."107 Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, da die Verteidigung Revision eingelegt hat. 104 Internetauftritt des Verbreitungsportals der Organisation DHKP-C, Postings vom 27.6.2013, 28.6.2013 und 11.7.2013. 105 Gem. SS 129 b Abs. 1 i. V. m. 129 a Abs. 1 Nr. 1 StGB. 106 Direkt nach ihrer Gründung bildete die DHKP-C eine Auslandsorganisation in Europa, die den bewaffneten Kampf in der der Türkei unterstützen sollte und die sie als "Rückfront" bezeichnete. Vgl. Urteil des 1. Strafsenat des Kammergerichts Berlin, Az.: (1) 2 StE 3/12-7 (2/12) vom 16.5.2013, S. 22 ff. 107 Ebenda, S. 147. 170 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 5 "Scientology Organisation" (SO) Scientology weiter im gesellschaftlichen Abseits Auch im vergangenen Jahr gelang es Scientology nicht, sich aus der Defensive und dem gesellschaftlichen Abseits, in dem sich die Organisation bereits seit Jahren befindet, zu befreien. Während die Zahl ihrer Mitglieder zumindest auf niedrigem Niveau stabil blieb, gelang es der Organisation immer weniger, mit ihren Aktionen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen. Beinahe verzweifelt wirkte es, dass Scientology in ihrer Berliner Zentrale damit begann, täglich einen "Tag der offenen Tür" zu veranstalten, um in Kontakt mit den Berlinern zu kommen. Der Wunsch, sich so als offene Einrichtung präsentieren zu können, erfüllte sich allerdings ebenso wenig, wie die Hoffnung, dadurch die Anzahl der Mitglieder und Mitarbeiter steigern zu können. "Scientology Organisation" Mitglieder: Berlin: 130 (2012: 130) Bund: 4 000 (2012: 3 500 - 4 500) Die "Scientology Organisation" (SO) wurde 1954 in den USA und 1971 in Deutschland gegründet. Sie geht auf den amerikanischen Science-Fiction-Autor L. Ron Hubbard zurück, der behauptete, die Welt von Armut, Krieg, Verbrechen, Krankheit und anderen Übeln befreien zu können. Seitdem verbreitet die SO ihre Ideologie weltweit in diversen Publikationen, Kurssystemen, Veranstaltungen und im Internet mit dem Ziel, eine ausschließlich nach scientologischen Richtlinien funktionierende Welt zu schaffen. Durch die Anwendung scientologischer Ideologie und Techniken soll ein perfekt funktionierender Mensch, der so genannte "Clear" bzw. der höher trainierte "operierende Thetan" erzeugt werden. Nur diesen Menschen sollen Bürgerrechte zugestanden werden, um mit ihnen eine scientologische Gesellschaftsordnung zu errichten. Personen, die außerhalb dieser Gesellschaft ste- Scientology Organisation 171 hen oder der SO gegenüber kritisch eingestellt sind, wird jeglicher Wert abgesprochen. Gegner und Kritiker werden von Scientology verfolgt und bedroht. Der Einstieg in die Organisation erfolgt in der Regel durch einen kostenfreien "Persönlichkeits-" oder "Stresstest", der als "individuelle Lebenshilfe" angeboten wird. Seine Auswertung durch einen speziell geschulten Scientologen wird immer Defizite aufzeigen, die durch - dann kostenpflichtige - Seminare korrigiert werden können. Scientology manipuliert seine Anhänger, unterwirft sie einer ständigen Kontrolle und beutet sie finanziell aus. SO weiter ohne Akzeptanz Auch die breite Palette an Angeboten, die Scientology in eigenem Namen oder 5 über ihre Vielzahl an Tarnorganisationen unterbreitete, stieß auf keine nennenswerte Resonanz. Dies traf auf die jährlich wiederkehrende Ausstellung "Psychiatrie - Tod statt Hilfe", die Scientology im August in der Nähe des Potsdamer Platzes durchführte, ebenso zu, wie auf die "Präventionsangebote" der SO-Initiative: "Sag Nein zu Drogen - sag Ja zum Leben".108 Weitgehend unbeachtet blieb auch die Ankündigung von Scientology, ihre Berliner Zentrale während der "Langen Nacht der Religionen" am 17. August zu öffnen. Mit dieser Aktion suchte SO einmal mehr die Nähe zu offiziellen Religionen, um den von ihr immer wieder vorgetragenen Anspruch, als Religion wahrgenommen und anerkannt zu werden, zu untermauern. In diese "Strategie der Normalisierung" passte auch der Versand von SO-Büchern an öffentliche Bibliotheken. Diese Bücher, die oberflächlich betrachtet als unverfängliche Biografien des Scientology-Gründers L. Ron Hubbard daherkamen, sollten einem möglichst breiten Publikum den Einstieg in die Ideologie von Scientology ermöglichen. Die Bibliotheken verweigerten jedoch die Annahme und ließen die Büchersendungen kostenpflichtig zurückschicken. Die Erfolglosigkeit von Scientology darf allerdings nicht über ihre Gefährlichkeit hinwegtäuschen. Unverändert strebt Scientology eine Gesellschaftsordnung an, in der verschiedene Grundrechte wie die Menschenwürde oder der Gleichheitsgrundsatz keine Geltung mehr haben sollen.109 Regelmäßig konkretisieren eige108 Die staatliche Fachstelle für Suchtprävention warnt bereits seit Jahren vor den entsprechenden Angeboten von Scientology, da diese nicht dazu geeignet sind, Kinder und Jugendliche vom Drogenkonsum abzuhalten. 109 Vgl. OVG Münster, AZ: 5 A 130/05, Urteil vom 12.2.2008. 172 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 ne Aktionen, Aussteigerberichte oder auch Gerichtsurteile die Gefährlichkeit von Scientology. System der Unterdrückung und Ausbeutung Noch im Dezember 2012 veröffentlichte die Berliner SO einen Flyer, in dem vier erklärte Scientology-Gegner mit ihren Vorund Nachnamen genannt und teilweise mit Fotos und Lebenslauf gezeigt wurden. Der Flyer entsprach der so genannten "Fair-Game-Policy" von Scientology, die es Scientologen erlaubt, "unterdrückerische Personen mit allen Mitteln zu verletzen und ihrer Besitztümer zu berauben, ohne dass der Scientologe Konsequenzen zu befürchten hat".110 Als "unterdrückerische Person" bezeichnet Scientology Personen oder Gruppen, die sich negativ zu Scientology äußern. So gnadenlos geht Scientology nicht nur gegen ihre erklärten Gegner vor, auch die eigenen Anhänger werden von Scientology sozial isoliert und finanziell ausgebeutet. In einem Buch, das die Nichte des Scientology-Chefs in den USA im Frühjahr 2013 veröffentlichte, wird das Innenleben von Scientology detailliert als ein ausgeklügeltes System aus Unterdrückung, Kontrolle und Gehorsam beschrieben. Immer wieder beschäftigt sich auch die Justiz mit den Aktivitäten von Scientology. Im Oktober bestätigte das Pariser Kassationsgericht die Verurteilung von zwei französischen Scientology-Organisationen wegen bandenmäßigen Betruges.111 Hintergrund des Urteils waren die Praktiken von Scientology bei der Anwerbung und finanziellen Ausbeutung ihre Mitglieder. 110 Internes SO-Papier aus dem Jahr 1967, HCOPL 18.10.1967 Issue IV, Penalties for Lower Conditions. 111 Die beiden französischen Scientology-Organisationen "Association spirituelle de l'Eglise des Scientology Celebrity Center" (Ases-CC) und die "Scientologie Espace Liberte" (SEL) waren bereits 2009 zu einer Geldstrafe in Höhe von 600 000 Euro verurteilt worden. 2012 hatte ein Pariser Berufungsgericht die Verurteilung bestätigt. Spionageabwehr 173 6 Spionageabwehr Nachrichtendienste fremder Staaten setzen in der Bundesrepublik Deutschland ihre Aufklärungsaktivitäten unvermindert fort. Auf der Prioritätenliste zahlreicher Staaten steht, sich mit Hilfe ihrer Nachrichtendienste Informationsvorteile im politischen, militärischen und wirtschaftlichen Bereich zu verschaffen. Für die Nachrichtendienste totalitärer Staaten hat die Ausforschung von in Deutschland lebenden Oppositionellen und Dissidenten ihrer Heimatländer oberste Priorität. Exekutivmaßnahmen In einem aufsehenerregenden Fall hat das Oberlandesgericht Stuttgart am 2. Juli 6 ein vermutlich russisches Ehepaar mit unbekannter Identität (Aliasnamen "Ehepaar Anschlag") wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit verurteilt. Gegen den Ehemann wurde eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten, gegen die Ehefrau eine solche von fünf Jahren und sechs Monaten verhängt. Der 4b. Strafsenat des OLG sah es als erwiesen an, dass das am 18. Oktober 2011 in Baden-Württemberg und Hessen festgenommene Ehepaar112, seit 1988 bzw. 1990 in Deutschland unter der Legende vorgeblicher österreichischer Staatsangehörigkeit und südamerikanischer Herkunft, als hauptamtliche Mitarbeiter für den russischen Auslandsnachrichtendienst SWR tätig gewesen ist. Sie sollen dabei u.a. die Aufgabe gehabt haben, Informationen über die politische und militärpolitische Strategie der EU und der NATO zu gewinnen. Zu diesem Zweck sollen sie von Oktober 2008 bis August 2011 als geheimdienstliche Instrukteure einen weiteren Agenten geführt haben, der ihnen aus dem niederländischen Außenministerium amtliche Dokumente über EUund NATO-Angelegenheit geliefert haben soll.113 112 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2012. Berlin 2013, S. 155. 113 OLG Stuttgart, Az. 4b - 3 StE 5/12 vom 23.11.2012. 174 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 In der Urteilsbegründung wurde auf die gute und dichte Beweislage hingewiesen. Die Ehefrau war bei der Durchsuchung der Wohnung in Marburg auf frischer Tat beim Funkempfang von Nachrichten aus der Zentrale überrascht worden. Fragmente des Funkverkehrs konnten durch Spezialisten wiederhergestellt werden. Das Kammergerichts Berlin verurteilte am 7. März einen Deutsch-Marokkaner wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Der seit 1977 in Deutschland lebende Marokkaner hatte im Zeitraum von 2008 bis 2012 Informationen über in Deutschland lebende Landsleute nacheinander an drei Mitarbeiter des marokkanischen Auslandsgeheimdienstes "Direction Generale des Etudes et de la Documentation" (DGED) geliefert. Im Focus seiner Berichte standen neben regimekritischen Demonstranten auch die oppositionelle, islamistisch ausgerichtete marokkanische Organisation "Jama'at al-Adl wal-Ihsan". Am 27. November verurteilte das Kammergericht Berlin einen 60-jährigen deutsch-libanesischen Staatsangehörigen wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr. Von September 2011 bis Februar 2012 sammelte er Informationen über in Deutschland lebende syrische Oppositionelle und übermittelte sie einem Zuträger des syrischen Geheimdienstes, der bereits im Jahr 2012 ebenfalls wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit verurteilt worden ist114. Der 5. Strafsenat des Kammergerichts Berlin hat am 18. Dezember einen deutschsyrischen Staatsangehörigen wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit in Tateinheit mit Unterschlagung zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt115 . Die Vollstreckung der Freiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Deutsch-Syrer für einen syrischen Geheimdienst in Deutschland lebende syrische Oppositionelle und deren Aktivitäten beobachtet hat. Für seine nachrichtendienstlichen Auftraggeber hat er u.a. Fotos von Angehörigen von Oppositionellen gemacht, um die Identifizierung von Regimegegnern zu ermöglichen. Aktivitäten fremder Nachrichtendienste Das Agieren fremder Nachrichtendienste unter dem schützenden Diplomatenstatus der Botschaften in Berlin zählt zu den typischen Tarnmethoden. Zudem ist in 114 KG Berlin, AZ (5) 3 StE 4/13-1. 115 KG Berlin, Az. (5) 3 StE 5/13-1. Spionageabwehr 175 Berlin die Präsenz fremder Nachrichtendienste besonders hoch, da es bundespolitisches Entscheidungszentrum mit vielen politikberatenden Einrichtungen, Interessenverbänden und entsprechenden Veranstaltungen ist. Die in Deutschland ansässigen Unternehmen und Forschungseinrichtungen sind bevorzugte Zielobjekte von Ländern, die Wirtschaftsspionage116 und Proliferation117 betreiben. Für die deutsche Wirtschaft stellen Wirtschaftsspionage und Konkurrenzausspähung einen Deliktbereich mit hohem Gefährdungspotenzial dar. Der durch ungewollten Informationsfluss eintretende Schaden dürfte in Deutschland pro Jahr in Milliardenhöhe liegen118. Im Phänomenbereich Proliferation bemühen sich insbesondere Krisenländer119, in den Besitz von atomaren, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen, der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte und Vorprodukte oder des für die Herstellung erforderlichen Wissens zu gelangen. Besonders problematisch ist dabei, dass die inländischen Akteure aus Wissenschaft und gewerblicher Wirtschaft die wahren Absichten ihrer "Partner" aus proliferationsrelevanten Ländern häufig nicht erkennen können. 6 Die Spionageabwehr ist bei ihrer Arbeit auch auf Hinweise aus der Bevölkerung angewiesen. Diesen Hinweisen geht sie vertraulich und diskret nach. Im Falle einer bereits vorhandenen nachrichtendienstlichen Verstrickung kann die Spionageabwehr Hilfe anbieten, sich aus dieser zu lösen. Für weitere Informationen und die Sensibilisierung zu Fragen der Wirtschaftsspionage und Proliferation steht der Berliner Verfassungsschutz jederzeit zur Verfügung. Kontaktadressen und Telefonnummern des Berliner Verfassungsschutzes, darunter auch ein "Vertrauliches Telefon", finden Sie unter "Erreichbarkeit" am Anfang dieses Verfassungsschutzberichts. 116 Wirtschaftsspionage ist die staatlich gelenkte oder unterstützte, von fremden Nachrichtendiensten ausgehende Ausforschung von Wirtschaftsunternehmen. Sie ist abzugrenzen vom Begriff der Konkurrenzausspähung, die ein konkurrierendes Unternehmen gegen ein anderes betreibt. Vgl. Kap. 8. 117 Unter Proliferation wird die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte einschließlich des dafür erforderlichen Wissens sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen verstanden. 118 Vgl. u.a. Universität Lüneburg: Fallund Schadensanalyse bezüglich Know-how-/Informationsverlusten in Baden-Württemberg ab 1995. Studie im Auftrag des Sicherheitsforums Baden-Württemberg, www.sicherheitsforum-bw.de. 119 Krisenländer sind in diesem Fall Länder, von denen zu befürchten ist, dass von dort aus ABC-Waffen eingesetzt werden oder ihr Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele angedroht wird. 176 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 7 Geheimund Sabotageschutz Unverzichtbar ist der Schutz von Informationen, deren Kenntnisnahme durch Unbefugte den Bestand oder lebenswichtige Interessen, die Sicherheit und die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Bundesländer gefährden kann. Die Verfassungsschutzbehörde wirkt auf Antrag der zuständigen öffentlichen Stelle daran mit, durch personelle, technische und organisatorische Vorkehrungen Ausforschungen durch Unbefugte in sicherheitsempfindlichen Bereichen zu verhindern.120 Ferner sind sicherheitsempfindliche Stellen bei lebensund verteidigungswichtigen öffentlichen Einrichtungen zu schützen, deren Ausfall oder Zerstörung eine erhebliche Bedrohung für die Gesundheit und das Leben zahlreicher Menschen verursachen könnte oder die für das Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbar sind. Die Senatsverwaltung für Inneres und Sport hat die Einrichtungen durch Rechtsverordnung festgelegt.121 Dazu zählen u.a. die Behörden zum Schutz der inneren Sicherheit und die Lagezentren und Leitstellen von Polizei und Feuerwehr. Die Verfassungsschutzbehörde überprüft bei öffentlichen Stellen und Wirtschaftsunternehmen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (so genannte Sicherheitsüberprüfungen) und trifft selbst oder veranlasst Maßnahmen zum materiellen Geheimschutz. Zum Zweck des so genannten personellen Sabotageschutzes sind Sicherheitsüberprüfungen ebenfalls gesetzlich vorgesehen. Die Verfassungsschutzbehörde wird nicht von sich aus tätig, sondern nur auf Antrag des Geheimschutzbeauftragten der Behörde, bei der die zu überprüfende Person beschäftigt ist (so genannte zuständige Stelle). Im Jahr 2013 führte der Berliner Verfassungsschutz 580 Überprüfungen durch (2012: 486). 120 SS 5 Abs. 3 Nr. 1 u. Nr. 3 VSG Bln, Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz (BSÜG) vom 2.3.1998 (GVBl. S. 26) in der Fassung vom 25.6.2001 (GVBl. S. 243), zuletzt geändert durch Art. XV des Gesetzes vom 17.12.2003 (GVBl. S. 617). 121 Verordnung zur Festlegung der Arten lebenswichtiger Einrichtungen im Land Berlin vom 2.9.2003 (GVBl. S. 316). Geheimund Sabotageschutz 177 7.1 Geheimschutz in der Wirtschaft Wirtschaftsunternehmen, die geheimschutzbedürftige Aufträge von Bundesund Landesbehörden ausführen, müssen vor Ausspähung fremder Nachrichtendienste geschützt und deshalb in das Geheimschutzverfahren von Bund oder Ländern aufgenommen werden. Es sollen Sicherheitsstandards geschaffen und eingehalten werden, um zu verhindern, dass Unbefugte Kenntnis von den im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen (Verschlusssachen) erhalten. Ein Unternehmen kann die Aufnahme in die Geheimschutzbetreuung grundsätzlich nicht für sich selbst beantragen. Voraussetzung für die Aufnahme eines Unternehmens in das Geheimschutzverfahren des Bundes oder eines Landes ist die öffentliche Ausschreibung eines Auftrags mit Verschlusssachen. Berliner Behörden schreiben geheimschutzbedürftige Aufträge im Amtsblatt für Berlin aus. Wesentlich für die Ausschreibung bei vertraulichen Staatsaufträgen ist die Formulierung: "Es können sich geeignete Firmen bewerben, die bereits dem Geheimschutz in der Wirtschaft unterliegen, bzw. die sich dem Geheimschutzverfahren in der Wirtschaft unterziehen wollen." Vor Auftragserteilung sind mindestens ein gesetzlicher Vertreter des Unterneh- 7 mens, ein Sicherheitsbevollmächtigter und auch die Firmenmitarbeiter, die von staatlicher Seite aus mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betraut werden sollen, einer freiwilligen Sicherheitsüberprüfung nach den Bestimmungen des BSÜG zu unterziehen. Mitwirkende Behörde bei der Sicherheitsüberprüfung ist die Verfassungsschutzbehörde 122. 2013 wurden 77 Sicherheitsüberprüfungen für Angehörige Berliner Unternehmen durchgeführt (2012: 77). Um die vertrauensvolle Kooperation der betroffenen Unternehmen mit den Sicherheitsbehörden zu vertiefen, unterstützt der Berliner Verfassungsschutz den Länderarbeitskreis der Sicherheitsbevollmächtigten Berlin-Brandenburg (SIBE-AK BR-BB) durch fachkundige Referenten und die Bereitstellung von Informationsmaterialien bei Seminaren und Tagungen. Dieser Arbeitskreis soll den in sicherheitsempfindlichen Bereichen tätigen Berliner Unternehmen ein Austauschforum bieten. 122 SS 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 des VSG Bln. 178 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 7.2 Mitwirkung bei Einbürgerungsverfahren und sonstigen gesetzlich vorgeschriebenen Überprüfungen Der Verfassungsschutz wirkt bei Überprüfungen in Einbürgerungsverfahren mit.123 Auf Antrag der Einbürgerungsbehörde wird geprüft, ob über Personen, die einen Antrag auf Einbürgerung gestellt haben, Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörden der Länder oder des Bundes vorliegen. Seit dem 1. Januar 2000 ist eine Einbürgerung für Personen zwingend ausgeschlossen,124 welche * die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden, * sich bei der Verfolgung politischer Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligen, * öffentlich zur Gewaltanwendung aufrufen, * mit Gewaltanwendung drohen. Eine Einbürgerung kann versagt werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass der Einbürgerungsbewerber verfassungsfeindliche Bestrebungen unterstützt oder verfolgt.125 Im Januar 2001 legte die Senatsverwaltung für Inneres fest, dass bei Einbürgerungsbewerbern aus bestimmten Herkunftsländern stets eine Anfrage beim Verfassungsschutz zu erfolgen hat. Unabhängig von der Herkunft ist eine Anfrage auch immer dann zu stellen, wenn Anhaltspunkte für eine extremistische Haltung oder sicherheitsgefährdende Tätigkeiten vorliegen. 2013 wurden 8 486 Anfragen bearbeitet (2012: 8 193). Vergleichbare Sicherheitsanforderungen gelten auch für das Aufenthaltsrecht von Ausländern. Das 2005 neu gefasste Aufenthaltsgesetz (AufenthaltG) sieht vor, dass Personen, die gewaltbereit sind, terroristische Aktivitäten begehen oder unterstützen, keine Visa oder Aufenthaltsgenehmigungen erhalten oder einem Einreiseund Aufenthaltsverbot in Deutschland unterliegen. Zur Versagung der Einreise muss festgestellt werden, dass eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland besteht.126 Aus rechtsstaatlichen Gründen reichen Vermutungen nicht aus. 123 SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG Bln. 124 Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG), vom 22.7.1913 i. d. F. des Art. 6 Nr. 9 Gesetz zur Änderung des AufenthaltsG vom 14.3.2005, BGBl. I S. 721. 125 SS 11 Nr. 1 StAG - zuletzt geändert durch Art. 3 G vom 19.8.2007, BGBl. I S. 1 970. 126 SS 5 Abs. 4 AufenthaltsG. Geheimund Sabotageschutz 179 Um terroristischen oder gewaltbereiten Ausländern keinen Ruheraum in Deutschland zu gewähren, wurden ferner die Regelausweisungstatbestände erweitert. Im Regelfall wird ausgewiesen, wer nach dem neuen Versagungsgrund nicht hätte einreisen dürfen.127 Zur Feststellung von Versagungsgründen können die Ausländerbehörden den Verfassungsschutzbehörden der Länder und weiteren Sicherheitsbehörden die von ihnen erhobenen Personalien übermitteln. Die angefragten Behörden teilen der Ausländerbehörde unverzüglich mit, ob Versagungsgründe vorliegen.128 2013 gingen 9 846 Anfragen bei der Verfassungsschutzbehörde ein (2012: 8 193). Bei Flughäfen und kerntechnischen Anlagen handelt es sich um besonders schützenswerte Objekte. Unbefugte Handlungen durch Beschäftigte können Gefahren für das Objekt und für Leib und Leben anderer Menschen zur Folge haben. Aus diesen Gründen werden gem. SS 7 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG) und SS 12 b Atomgesetz (AtomG) Zuverlässigkeitsüberprüfungen durchgeführt, an denen der Verfassungsschutz mitwirkt. 2013 wurden nach dem LuftSiG 1 287 Anfragen durch den Verfassungsschutz bearbeitet (2012: 1 663), nach dem AtomG 230 (2012: 273). 7 Seit 2005 gibt es gesetzliche Regelungen über die Beteiligung der Verfassungsschutzbehörden bei Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem Waffengesetz, dem Sprengstoffgesetz und der Bewachungsverordnung. Seit dem 1. September 2005 sind die Verfassungsschutzbehörden der Länder an der Überprüfung von Personen beteiligt, die gewerbsmäßig mit explosionsgefährlichen Stoffen umgehen oder den Verkehr mit solchen Stoffen betreiben wollen.129 Zuständige Behörde für die Durchführung der Zuverlässigkeitsüberprüfung in Berlin ist das Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheit und technische Sicherheit. 2013 erfolgten 290 Anfragen (2012: 227). Wer gewerbsmäßig Leben und Eigentum fremder Personen bewachen will, bedarf einer Erlaubnis auf der Grundlage der Bewachungsverordnung durch die Gewerbeämter der Berliner Bezirke. In begründeten Einzelfällen können diese bei der örtlich zuständigen Verfassungsschutzbehörde anfragen, ob Erkenntnisse vorlie127 SS 55 Abs. 2 AufenthaltsG. 128 SS 73 Abs. 2 u. 3 AufenthaltsG. 129 SSSS 7 u. 8a Abs. 5 Nr. 4 Sprengstoffgesetz (SprengG), BGBl. I S. 3 518, zuletzt geändert durch Art. 1 des dritten ÄnderungsG vom 15.6.2005 (BGBl. I S. 1 676) Art. 35 des Gesetzes zur Umbenennung des BGS in Bundespolizei vom 21.7.2005 (BGBl. I S. 1 818). 180 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 gen, die für die Beurteilung der persönlichen Zuverlässigkeit der Antragsteller von Bedeutung sind.130 Ebenfalls zu den Mitwirkungsangelegenheiten gehören auf Grund des 7. Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) vom 16. Mai 2007131 seit dem 24. Mai 2007 auch Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem BVFG.132 Durch die Überprüfung soll sichergestellt werden, dass Schwerkriminelle, gewaltbereite Extremisten und Terroristen nicht auf dem Weg des Verfahrens zur Aufnahme von Spätaussiedlern nach Deutschland kommen können. 130 SS 9 Abs. 2 Nr. 2 Bewachungsverordnung. 131 BGBl. I S. 748. 132 Neufassung des Bundesvertriebenengesetzes vom 10.8.2007; BGBl. I S. 1 902. Wirtschaftsschutz 181 8 Wirtschaftsschutz 166 117 Betriebe133 unterschiedlicher Wirtschaftsbereiche sind als Arbeitgeber mit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in Berlin ansässig. Informationsund Kommunikationstechnologie, Medizintechnik, Biotechnologie, optische Technologien und Verkehrstechnik sowie kreative Dienstleistungen haben sich als Branchen mit Zukunftsperspektive in Berlin etabliert. Darüber hinaus gehört Berlin zu den größten und vielfältigsten Wissenschaftsregionen in Europa. An vier Universitäten, an der Charite - Universitätsmedizin Berlin, sieben Fachhochschulen, vier Kunsthochschulen, 26 privaten Hochschulen sowie über 60 Forschungsstätten studieren, lehren, forschen und arbeiten rund 200 000 Menschen aus aller Welt. Die Erfolge der Unternehmen, Hochschulen und Forschungseinrichtungen sind Ergebnis langjähriger Forschung, Entwicklung, kreativer Ideen und des Mutes, ein finanzielles Risiko zu tragen. Der Verlust von Know-how ist eines der Risiken für ein Unternehmen, dessen Verwirklichung insbesondere mittelständische Unternehmen stark gefährden kann. Know-how ist wirtschaftlich relevantes und geheimes Wissen. Dieses Wissen baut in der Regel auf Informationen und Daten auf, die im 8 Unternehmen vorliegen. Der Schutz vor dem ungewollten Abfluss dieses Wissens und die Sensibilisierung zu diesem Thema ist Aufgabe und Ziel des Berliner Verfassungsschutzes. Wer betreibt Wirtschaftsspionage? Wirtschaftsspionage zählt neben der politischen und militärischen Ausforschung zu den klassischen Aufklärungszielen fremder Nachrichtendienste. Eine aktuelle Umfrage134 ergab, dass die deutsche Wirtschaft Milliarden-Verluste durch Industriespionage135 erwartet. Mehr als ein Drittel der befragten ITund Sicherheitsexperten geht von einem jährlichen Schaden in Höhe von zehn Milliarden Euro aus. 133 Amt für Statistik, Unternehmensregister in Berlin und Brandenburg 2010, Stand 31.5.2012. 134 Studie der Firma Secusmart GmbH vom 12.5.2013. 135 Der Begriff "Industriespionage" umfasst in diesem Kontext Wirtschaftsspionage und Konkurrenzausspähung. 182 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Bevorzugte Ziele von WirtschaftsspiWirtschaftsspionage onage sind forschungsintensive und Für den Verfassungsschutz ist die innovationsstarke Branchen. Die BeUnterscheidung zwischen Wirtreiche Rüstung, Luftund Raumfahrtschaftsspionage und Konkurrenztechnik, Maschinenund Fahrzeugbau, ausspähung unerlässlich. Nur für die Informationstechnik, Biotechnologie, Bekämpfung der WirtschaftsspionaEnergieund Umwelttechnik sowie die ge hat der Verfassungsschutz einen optische Industrie sind besonders begesetzlichen Auftrag. Wirtschaftsspitroffen. onage ist die staatlich gelenkte und Die aktivsten Nachrichtendienste im unterstützte, von fremden NachBereich der Wirtschaftsspionage sind richtendiensten ausgehende Ausforwie schon in den letzten Jahren die schung von Wirtschaftsunternehmen der Volksrepublik China und der Rusund Betrieben. sischen Föderation. China, lange als "verlängerte Werkbank" der Welt bezeichnet, beabsichtigt eine Innovationsgesellschaft zu werden. Zuletzt waren dort die angewandte Forschung, berufliche Bildung und Innovationen wichtige Themen. International tätige Unternehmen sollen weiterhin ermutigt werden, Forschungsund Entwicklungszentren in China zu errichten. Die Verzahnung und Vernetzung mit der deutschen Wirtschaft wurde weiterhin intensiviert. Die chinesischen Nachrichtendienste spielen eine nicht unwesentliche Rolle, um die heimische Wirtschaft zu unterstützen, indem Know-how ausländischer Unternehmen illegal beschafft wird. Schätzungsweise eine Million Mitarbeiter sind in den verschiedenen Diensten tätig. Für Russland steht ebenfalls die rasche Modernisierung der heimischen Wirtschaft im Vordergrund der politischen Bemühungen. Der russische Präsident Putin hat sich mehrfach zur Notwendigkeit bekannt, die Ölabhängigkeit der heimischen Wirtschaft hinter sich zu lassen und zu diesem Zweck in die Entwicklung alternativer Wirtschaftszweige zu investieren. Von den "vier I" (Institutionen, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen), die der ehemalige Präsidenten Medwedew für die russische Wirtschaft definiert hat, profitierte bisher hauptsächlich der Infrastrukturbereich. Großprojekte wie die Winterolympiade in Sotschi 2014 oder die Fußball-WM 2018 gehören zu den Herausforderungen der russischen Wirtschaft und Politik. Im Moskauer Vorort Skolkowo wird zudem versucht, ein russisches Pendant zum "Silicon Valley" zu errichten. Wirtschaftsschutz 183 Nachrichtendienstliche Aktivitäten der Russischen Föderation mit dem Ziel der Auslandsaufklärung im Bereich Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie entfaltete bislang insbesondere der zivile Auslandsnachrichtendienst SWR136. Als Ziele sind dabei die "Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts des Landes durch Beschaffung von wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Informationen durch die Organe der Auslandsaufklärung" gemäß Artikel 5 des Gesetzes der Russischen Föderation über die Auslandsaufklärung definiert. Damit hat der SWR eine ihm konkret auferlegte gesetzliche Verpflichtung, Wirtschaftsspionage zu betreiben. Berichte in den Medien und Äußerungen aus der Politik, insbesondere im Berichtsjahr, gehen davon aus, dass auch westliche Nationen Wirtschaftsspionage betreiben. Belege für eine systematische Wirtschaftsspionage westlicher Dienste liegen der Berliner Verfassungsschutzbehörde jedoch nicht vor, wobei je nach Art der Begehung einer solchen Tätigkeit auch die Zuständigkeit von Bundesbehörden zu berücksichtigen ist. Wie wird vorgegangen? Kein modernes Unternehmen kommt ohne IT-Technik aus. Forschung und Entwicklung, die Verwaltung des Unternehmens, die Kundenbetreuung und Werbemaßnahmen sind heutzutage ohne IT-Infrastrukturen nicht denkbar. Obwohl Informationen immateriell sind, können diese einen erheblichen Wert besitzen. Ein vorrangiges Ziel von Cyberangriffen ist daher der Diebstahl von Informationen. 8 Dabei sind Forschungsund Entwicklungsdaten, Kalkulationsdaten, Informationen über Werbestrategien und Kundendaten von besonderem Interesse für Wirtschaftsspione. In den Medien ist im Jahr 2013 erneut eine Vielzahl von Fällen elektronischer Angriffe bekannt geworden. Auch Berliner Unternehmen und Institutionen waren betroffen. Ein wirksamer Schutz vor Spionage darf sich aber nicht nur auf Maßnahmen der IT-Sicherheit beschränken. Das Thema "Sicherheit" umfasst viel mehr als nur die alleinige Betrachtung der technischen Infrastrukturen. Die "Sicherheitslücke Mensch" ist nach wie vor eines der größten "Einfallstore" in Unternehmen. Die sicherste IT-Ausstattung ist wertlos, wenn die Mitarbeiter den Informationsschutz im Unternehmen nicht beachten oder sie über bestimmte Gefahren, wie z.B. verschiedene Ausforschungsmöglichkeiten, nicht aufgeklärt sind. 136 SWR: Sluschba Wneschnei Raswedki - Dienst der Außenaufklärung. 184 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Präventionsmaßnahmen Die Angriffsmethoden und Zielrichtungen der ausländischen Nachrichtendienste können sehr vielfältig sein. Einen effektiven Schutz vor gezielten Spionageangriffen aufzubauen ist jedoch möglich. Die wichtigste Empfehlung des Wirtschaftsschutzes ist es, das Know-how zu identifizieren, welches es vorrangig zu schützen gilt. Das können Forschungsdaten, Kundendaten oder Vertriebsdaten sein, ebenso wie Patente oder Geschmacksmuster. Es gilt, diese so genannten "Kronjuwelen"137 sicher vor unbefugtem Zugriff zu schützen. Häufig sind dies bei der Fülle von Informationen, die ein Unternehmen ansammelt, nicht mehr als fünf Prozent der gesamten Daten. Darüber hinaus sollte ein Unternehmen eine Risikound Schwachstellenanalyse durchführen und entsprechende Notfallpläne erstellen. In Sicherheitsfragen sollte jedes Unternehmen seine Stärken und Schwächen kennen. Der Grundsatz "need-to-know"138 ist ein wesentliches Prinzip, Sicherheitsrisiken zu minimieren. Es ist wichtig, ein grundsätzliches Sicherheitsbewusstsein im Unternehmen zu schaffen und dies auch zu leben. Eine hinreichende Schulung und Sensibilisierung aller Mitarbeiter in Bezug auf die möglichen Gefahren von Knowhow-Abfluss ist unerlässlich. Dabei sollte die Sicherheit immer "Chefsache" sein. Ein Vorgesetzter, der mit gutem Beispiel voran geht, kann auch seine Mitarbeiter von der Notwendigkeit der Sicherheitsmaßnahmen überzeugen. Zusammenarbeit mit anderen Institutionen Die Senatsverwaltung für Inneres und Sport, die Industrieund Handelskammer Berlin und der Verband für Sicherheit in der Wirtschaft Berlin-Brandenburg vereinbarten im November 2010 eine engere Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität und in anderen Bereichen der inneren Sicherheit. Die Zusammenarbeit erfolgt auf der Grundlage der gesetzlichen Befugnisse, Rechte und Pflichten der Sicherheitspartner. Ziel der Sicherheitspartnerschaft ist der verstärkte Austausch von Informationen zwischen der Wirtschaft und den Sicherheitsbehörden. So sollen Unternehmen Informationen über Fälle von Wirtschaftskriminalität weiterleiten. Die Sicherheitsbehörden informieren über IT-Sicherheit, den Schutz vor Wirtschaftsspionage oder über politischen Extremismus. Außerdem können sie der Wirtschaft bei Bedarf allgemeine Lagebilder, Gefährdungsanalysen und zielgruppenorientierte Warnmeldungen zur Verfügung stellen. 137 Als "Kronjuwelen" werden die elementaren Unternehmenswerte bezeichnet, die für den Erfolg und Bestand der Firma unabdingbar sind. 138 Der Grundsatz "need-to-know", übersetzt "Kenntnis nur wenn nötig", bedeutet einen restriktiven Zugriff auf sensible Informationen. Dabei sollen nur Personen Kenntnis von diesen Informationen erhalten, die sie unbedingt für ihre Arbeit benötigen. Wirtschaftsschutz 185 Weitere Felder der Zusammenarbeit sind die gegenseitige Unterstützung bei Ausund Fortbildungsveranstaltungen, die gemeinsame Erstellung von Informationsmaterial und regelmäßige oder anlassbezogene Informationsgespräche. Im Rahmen der Partnerschaft zwischen Wirtschaft und Sicherheitsbehörden trägt der Verfassungsschutz zur Errichtung eines effektiven Wirtschaftsund Informationsschutzes bei. Neben geheimschutzbetreuten Unternehmen ist der Verfassungsschutz auch für sonstige Unternehmen ohne Staatsauftrag oder Institutionen ansprechbar, um ein Beratungsgespräch oder einen Vortrag zu vereinbaren. Unternehmen, die bereits von Wirtschaftsspionage betroffen sind oder einen entsprechenden Verdacht hegen bzw. besonderes Know-how besitzen, sollten nicht zögern, den Kontakt zur Verfassungsschutzbehörde zu suchen. Ein vertraulicher und vertrauensvoller Informationsaustausch wird garantiert. Alle Informationen werden vertraulich bzw. mit besonderer Verschwiegenheit behandelt. Im Gegensatz zu den Strafermittlungsbehörden unterliegt der Verfassungsschutz nicht dem Strafverfolgungszwang. Es liegt weitgehend im Ermessen der Behörde, ob sie einen Sachverhalt zur Strafverfolgung an Polizei und Staatsanwaltschaft weiterleitet oder nicht (Opportunitätsprinzip). Der Wirtschaftsschutz des Berliner Verfassungsschutzes ist ein kompetenter Ansprechpartner bei allen Fragen des Know-how-Schutzes. Die Beratung ist individuell auf die Belange jedes einzelnen Unternehmens zugeschnitten, dabei kostenlos und diskret. 8 186 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 III Anhang 188 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin Gesetz über den VerfassungsSS 3 Dienstkräfte schutz in Berlin (1) Die Dienstkräfte der Verfassungsschutzabteilung haben neben den allgemeinen Pflichten die sich aus (Verfassungsschutzgesetz Berlin - VSG Bln) in der dem Wesen des Verfassungsschutzes und ihrer dienstFassung vom 25. Juni 2001, geändert durch Art. V des lichen Stellung ergebenden besonderen Pflichten. Sie Gesetzes vom 30. Juli 2001 (GVBl. S. 305), geändert haben sich jederzeit für den Schutz der freiheitlichen durch Art. II des Gesetzes vom 5. Dezember 2003 (GVBl. demokratischen Grundordnung im Sinne des Grund571), zuletzt geändert durch Gesetz vom 1. Dezember gesetzes und der Verfassung von Berlin einzusetzen. 2010 (GVBl., S. 534) Die Funktion des Leiters der für den Verfassungsschutz zuständigen Abteilung soll nur einer Person übertragen werden, die die Befähigung zum Richteramt besitzt. (2) Der Senat von Berlin kann jährlich bestimmen, Erster Abschnitt in welchem Umfang Dienstkräften der VerfassungsAufgaben und Befugnisse der schutzabteilung freie, frei werdende und neu geschaffene Stellen in der Hauptverwaltung für Zwecke der Verfassungsschutzbehörde Personalentwicklung vorbehalten werden. SS 1 Zweck des Verfassungsschutzes SS 4 Zusammenarbeit Der Verfassungsschutz dient dem Schutz der (1) Die Verfassungsschutzbehörde ist verpflichtet, freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des mit Bund und Ländern in Angelegenheiten des Bestandes und der Sicherheit der Bundesrepublik Verfassungsschutzes zusammenzuarbeiten. Die Deutschland und ihrer Länder. Zusammenarbeit besteht insbesondere in gegenseitiger Unterstützung und Information sowie in der SS 2 Organisation Unterhaltung gemeinsamer Einrichtungen (wie z.B. (1) Verfassungsschutzbehörde ist die Senatsverdas nachrichtendienstliche Informationssystem des waltung für Inneres. Die für den Verfassungsschutz Bundes und der Länder [NADIS] und die Schule für zuständige Abteilung nimmt ihre Aufgaben gesondert Verfassungsschutz). von der für die Polizei zuständigen Abteilung wahr. (2) Verfassungsschutzbehörden anderer Länder (2) Die für den Verfassungsschutz zuständige dürfen im Geltungsbereich dieses Gesetzes nur im Abteilung ist datenverarbeitende Stelle im Sinne des Einvernehmen, das Bundesamt für Verfassungsschutz SS 4 Abs. 3 Nr. 1 des Berliner Datenschutzgesetzes in nur im Benehmen mit der Verfassungsschutzbehörde der Fassung vom 17. Dezember 1990 (GVBl. 1991 S. tätig werden. 16, 54), das zuletzt durch Art. IX des Gesetzes vom 30. November 2000 (GVBl. S. 495) geändert worden ist. SS 5 Aufgaben Die Übermittlung an andere Organisationseinheiten der Verfassungsschutzbehörde der Senatsverwaltung für Inneres ist ungeachtet der (1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die Aufgabe, fachund dienstaufsichtlichen Befugnisse zulässig, den Senat und das Abgeordnetenhaus von Berlin, anwenn dies für die Aufgabenerfüllung nach SS 5 Abs. 1 dere zuständige staatliche Stellen und die Öffentlicherforderlich ist. keit über Gefahren für die freiheitliche demokratische (3) Bei der Leitung der Senatsverwaltung für Inneres Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit des wird eine Revision eingerichtet. Die Revision ist unbeBundes und der Länder zu unterrichten. Dadurch soll schadet ihrer Verantwortung gegenüber dem Senator es den staatlichen Stellen insbesondere ermöglicht im Übrigen in der Durchführung von Prüfungen und werden, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur der Beurteilung von Prüfungsvorgängen unabhängig. Abwehr dieser Gefahren zu ergreifen. Verfassungsschutzgesetz 189 (2) Zur Erfüllung dieser Aufgaben sammelt und eine unorganisierte Gruppe handelt, wer sie in ihren wertet die Verfassungsschutzbehörde Informationen, Bestrebungen nachdrücklich unterstützt. Verhaltensinsbesondere sachund personenbezogene Daten, weisen von Einzelpersonen, die nicht in einer oder für Auskünfte, Nachrichten und Unterlagen aus über eine Organisation oder in einer oder für eine unorga1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokranisierte Gruppe handeln, sind Bestrebungen im Sinne tische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit dieses Gesetzes, wenn sie auf Anwendung von Gewalt des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine gerichtet sind oder aufgrund ihrer Wirkungsweise ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der geeignet sind, ein Schutzgut dieses Gesetzes erheblich Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder zu beschädigen. ihrer Mitglieder zum Ziele haben, (2) Bestrebungen im Sinne dieses Gesetzes, die 2. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes für gerichtet sind, sind solche, die auf die Beseitigung oder eine fremde Macht, Außerkraftsetzung wesentlicher Verfassungsgrundsät3. Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgeze abzielen. Hierzu gehören: setzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf 1. das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige und Abstimmungen und durch besondere Organe Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung (Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes) gerichtet sind. in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und (3) Die Verfassungsschutzbehörde wirkt auf Ersuchen geheimer Wahl zu wählen, der zuständigen öffentlichen Stellen mit 2. die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungs1. bei der Sicherheitsüberprüfung von Personen, denen mäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftige Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse anvertraut 3. das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlawerden, die Zugang dazu erhalten sollen oder ihn sich mentarischen Opposition, verschaffen können, 4. die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwort2. bei der Sicherheitsüberprüfung von Personen, die lichkeit gegenüber der Volksvertretung, an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebens oder 5. die Unabhängigkeit der Gerichte, verteidigungswichtigen Einrichtungen beschäftigt sind 6. der Ausschluss jeder Gewaltund Willkürherrschaft oder werden sollen, und 3. bei technischen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz 7. die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte. von im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürf(3) Im Sinne dieses Gesetzes sind tigen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen 1. Bestrebungen gegen den Bestand des Bundes oder gegen die Kenntnisnahme durch Unbefugte, eines Landes solche, die darauf gerichtet sind, die Frei4. bei aufenthaltsrechtlichen Verfahren, Einbürgeheit des Bundes oder eines Landes von fremder Herrrungsverfahren, jagdund waffenrechtlichen Verfahren schaft aufzuheben, ihre staatliche Einheit zu beseitigen sowie bei sonstigen gesetzlich vorgeschriebenen oder ein zu ihm gehörendes Gebiet abzutrennen, Überprüfungen; die Mitwirkung ist nur zulässig, wenn 2. Bestrebungen gegen die Sicherheit des Bundes oder diese zum Schutz der freiheitlichen demokratischen eines Landes solche, die darauf gerichtet sind, den Grundordnung oder für Zwecke der öffentlichen SiBund, die Länder oder deren Einrichtungen in ihrer cherheit erforderlich ist; Näheres wird in einer VerwalFunktionsfähigkeit erheblich zu beeinträchtigen. tungsvorschrift des Senators für Inneres im Benehmen (4) Auswärtige Belange im Sinne des SS 5 Abs. 2 Nr. 3 mit dem Berliner Beauftragten für den Datenschutz werden nur gefährdet, wenn innerhalb des Geltungsbeund für das Recht auf Akteneinsicht bestimmt. reichs des Grundgesetzes Gewalt ausgeübt oder durch Die Befugnisse der Verfassungsschutzbehörde bei der Handlungen vorbereitet wird und diese sich gegen die Mitwirkung nach Satz 1 Nr. 1 und 2 sind im Berliner politische Ordnung oder Einrichtungen anderer Staaten Sicherheitsüberprüfungsgesetz vom 2. März 1998 richten. (GVBl. S. 26) geregelt. SS 7 Voraussetzung und Rahmen für die SS 6 Begriffsbestimmungen Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde (1) Bestrebungen im Sinne des SS 5 Abs. 2 Nr. 1 und (1) Soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, darf 3 sind politisch motivierte, zielund zweckgerichtete die Verfassungsschutzbehörde bei der Wahrnehmung Verhaltensweisen oder Betätigungen von Organiihrer Aufgaben nach SS 5 Abs. 2 nur tätig werden, sationen, Personenzusammenschlüssen ohne feste wenn im Einzelfall tatsächliche Anhaltspunkte für hierarchische Organisationsstrukturen (unorganisierte den Verdacht der dort genannten Bestrebungen oder Gruppen) oder Einzelpersonen gegen die in SS 5 Abs. 2 Tätigkeiten vorliegen. bezeichneten Schutzgüter. Für eine Organisation oder 190 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf für die 2. Observation, Prüfung, ob die Voraussetzungen des Absatzes 1 3. Bildaufzeichnungen (Fotografieren, Videografieren vorliegen, die dazu erforderlichen personenbezogenen und Filmen), Daten aus allgemein zugänglichen Quellen erheben, 4. verdeckte Ermittlungen und Befragungen, speichern und nutzen. Eine Speicherung dieser Daten 5. Mithören ohne Inanspruchnahme technischer Mittel, im nachrichtendienstlichen Informationssystem (NA6. Mithören und Aufzeichnen des nicht öffentlich DIS) oder in anderen Verbunddateien ist nicht zulässig. gesprochenen Wortes unter Einsatz technischer Mittel, Eine Speicherung der nach Satz 1 erhobenen perso7. Beobachtungen des Funkverkehrs auf nicht für den nenbezogenen Daten in Akten und Dateien über den allgemeinen Empfang bestimmten Kanälen sowie die Ablauf eines Jahres seit der Speicherung hinaus ist nur Sichtbarmachung, Beobachtung, Aufzeichnung und zulässig, wenn spätestens von diesem Zeitpunkt an die Entschlüsselung von Signalen in KommunikationssyVoraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen. Dasselbe stemen, gilt für das Anlegen personenbezogener Akten. 8. Verwendung fingierter biografischer, beruflicher (3) Zur Erfüllung ihrer Aufgaben darf die Verfassungsoder gewerblicher Angaben (Legenden), schutzbehörde nur die dazu erforderlichen Maßnah9. Beschaffung, Erstellung und Verwendung von Tarnmen ergreifen; dies gilt insbesondere für die Erhebung papieren und Tarnkennzeichen, und Verarbeitung personenbezogener Informationen. 10. Überwachung des Brief-, Post-, und FernmeldeverVon mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen kehrs nach Maßgabe des Art. 10-Gesetzes, vom 26. Juni hat sie diejenige auszuwählen, die den einzelnen, 2001 (BGBl. I S. 1254, 2298), zuletzt geändert durch insbesondere in seinen Grundrechten, und die AllgeArt. 5 Abs. 1 des Gesetzes vom 22. August 2002 (BGBl. meinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. I S. 3390), Eine Maßnahme hat zu unterbleiben, wenn sie einen 11. Einsatz von weiteren vergleichbaren Methoden, Nachteil herbeiführt, der erkennbar außer Verhältnis Gegenständen und Instrumenten zur heimlichen zu dem beabsichtigten Erfolg steht. Sie ist nur solange Informationsbeschaffung, insbesondere das sonstige zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass Eindringen in technische Kommunikationsbeziehungen er nicht erreicht werden kann. durch Bild-, Ton-, und Datenaufzeichnungen; dem (4) Soweit in diesem Gesetz besondere EingriffsbeEinsatz derartiger Methoden, Gegenstände und fugnisse das Vorliegen gewalttätiger Bestrebungen Instrumente hat der Ausschuss für Verfassungsschutz oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen des Abgeordnetenhauses von Berlin vorab seine voraussetzen, ist Gewalt die Anwendung körperlichen Zustimmung zu erteilen. Zwanges gegen Personen oder eine nicht unerhebliche Personen, die berechtigt sind, in Strafsachen aus Einwirkung auf Sachen. beruflichen Gründen das Zeugnis zu verweigern (SSSS 53 und 53a der Strafprozessordnung), darf die VerSS 8 Befugnisse fassungsschutzbehörde nicht von sich aus nach Satz 1 Nr. 1 zur Beschaffung von Informationen in Anspruch der Verfassungsschutzbehörde nehmen, auf die sich ihr Zeugnisverweigerungsrecht (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf die zur bezieht. Die Behörden des Landes Berlin sind verpflichErfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Informationen tet, der Verfassungsschutzbehörde technische Hilfe für einschließlich personenbezogener Daten verarbeiten Tarnungsmaßnahmen zu geben. und bei Behörden, sonstigen öffentlichen Stellen sowie (3) Die Verfassungsschutzbehörde darf Informationen nicht öffentlichen Stellen, insbesondere bei Privateinschließlich personenbezogener Daten mit den personen, erheben, soweit die Bestimmungen dieses Mitteln gemäß Absatz 2 erheben, wenn Gesetzes dies zulassen. Ein Ersuchen der Verfassungs1. sich ihr Einsatz gegen Organisationen, unorganischutzbehörde um Übermittlung personenbezogener sierte Gruppen, in ihnen oder einzeln tätige Personen Daten darf nur diejenigen personenbezogenen Daten richtet, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte für den enthalten, die für die Erteilung der Auskunft unerlässVerdacht der Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 5 lich sind. Schutzwürdige Interessen des Betroffenen Abs. 2 bestehen, dürfen nur im unvermeidbaren Umfang beeinträchtigt 2. auf diese Weise Erkenntnisse über gewalttätige werden. Bestrebungen oder geheimdienstliche Tätigkeiten (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur heimlichen gewonnen werden können, Informationsbeschaffung, insbesondere zur Erhebung 3. auf diese Weise die zur Erforschung von Bestrepersonenbezogener Daten, nur in begründeten Fällen bungen oder Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 erforderlichen folgende nachrichtendienstliche Mittel anwenden: Quellen erschlossen werden können oder 1. Einsatz von Vertrauensleuten, sonstigen geheimen 4. dies zum Schutz der Dienstkräfte, Einrichtungen, GeInformanten, zum Zweck der Spionageabwehr übergenstände und Quellen der Verfassungsschutzbehörde worbenen Agenten, Gewährspersonen und verdeckten gegen sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Ermittlern, Tätigkeiten erforderlich ist. Datenerhebungen nach Satz 1 Nr. 2 dürfen sich gegen Verfassungsschutzgesetz 191 andere als die in SS 6 Abs. 1 Satz 2 und 3 genannten gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen nur richten, soweit dies zur Gewinnung von Personen, unerlässlich ist, ein konkreter Verdacht Erkenntnissen unerlässlich ist. in Bezug auf eine Gefährdung der vorstehenden (4) Die Erhebung nach Absatz 2 ist unzulässig, wenn Rechtsgüter besteht und der Einsatz anderer Methoden die Erforschung des Sachverhalts auf andere, die beund Mittel zur heimlichen Informationsbeschaffung troffene Person weniger beeinträchtigende Weise mögkeine Aussicht auf Erfolg bietet. Die Sätze 1 und 2 lich ist; eine geringere Beeinträchtigung ist in der Regel gelten entsprechend für einen verdeckten Einsatz anzunehmen, wenn die Informationen aus allgemein technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen zugänglichen Quellen oder durch eine Auskunft nach und Bildaufzeichnungen in Wohnungen. Maßnahmen SS 27 gewonnen werden können. Die Anwendung eines nach den Sätzen 1 bis 3 dürfen nur aufgrund richMittels gemäß Absatz 2 soll erkennbar im Verhältnis terlicher Anordnung getroffen werden. Bei Gefahr im zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachverhalts Verzuge kann die Maßnahme auch durch den Senator stehen. Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel für Inneres, der im Verhinderungsfall durch den nach Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 und 7 ist grundsätzlich nur zur zuständigen Staatssekretär vertreten wird, angeordnet Informationsbeschaffung über Bestrebungen gegen die werden; eine richterliche Entscheidung ist unverzüglich freiheitliche demokratische Grundordnung zulässig, nachzuholen. wenn diese Bestrebung die Anwendung von Gewalt (2) Die Anordnung ist auf höchstens drei Monate zu billigen oder sich in aktiv kämpferischer, aggressiver befristen. Verlängerungen um jeweils nicht mehr als Weise betätigen. Die Maßnahme ist unverzüglich zu drei weitere Monate sind auf Antrag zulässig, soweit beenden, wenn ihr Zweck erreicht ist oder sich Andie Voraussetzungen der Anordnung fortbestehen. haltspunkte dafür ergeben, dass er nicht oder nicht auf Liegen die Voraussetzungen der Anordnung nicht mehr diese Weise erreicht werden kann. Daten, die für das vor oder ist der verdeckte Einsatz technischer Mittel Verständnis der zu speichernden Informationen nicht zur Informationsgewinnung nicht mehr erforderlich, ist erforderlich sind, sind unverzüglich zu löschen. Die die Maßnahme unverzüglich zu beenden. Der Vollzug Löschung kann unterbleiben, wenn die Informationen der Anordnung erfolgt unter Aufsicht eines Bedienstevon anderen, die zur Erfüllung der Aufgaben erforderten der Verfassungsschutzbehörde, der die Befähigung lich sind, nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand zum Richteramt hat. getrennt werden können; in diesem Fall dürfen die (3) Sind technische Mittel ausschließlich zum Schutze Daten nicht verwertet werden. der bei einem Einsatz in Wohnungen tätigen Personen (5) Die näheren Voraussetzungen für die Anwendung vorgesehen, kann die Maßnahme durch den Senator der Mittel nach Absatz 2 sind in einer Verwaltungsvorfür Inneres, der im Verhinderungsfall durch den schrift des Senators für Inneres zu regeln, die auch die zuständigen Staatssekretär vertreten wird, angeordnet Zuständigkeit für die Anordnung solcher Informationswerden. Eine anderweitige Verwertung der hierbei beschaffung regelt. Die Verwaltungsvorschrift ist dem erlangten Erkenntnisse zum Zwecke der GefahrenabAusschuss für Verfassungsschutz des Abgeordnetenwehr ist nur zulässig, wenn zuvor die Rechtmäßigkeit hauses von Berlin vorab zur Kenntnis zu geben. der Maßnahme richterlich festgestellt worden ist; bei (6) Für die Speicherung und Löschung der durch MaßGefahr im Verzuge ist die richterliche Entscheidung nahmen nach Absatz 2 erlangten personenbezogenen unverzüglich nachzuholen. Daten gilt SS 4 Abs. 1 des Art. 10 Gesetzes entsprechend. (4) Zuständig für richterliche Entscheidungen nach (7) Polizeiliche Befugnisse stehen der Verfassungsden Absätzen 1 und 3 ist das Amtsgericht Tiergarten. schutzbehörde nicht zu; sie darf die Polizei auch nicht Für das Verfahren gelten die Vorschriften des Gesetzes im Wege der Amtshilfe um Maßnahmen ersuchen, zu über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbardenen sie selbst nicht befugt ist. keit entsprechend. (8) Die Verfassungsschutzbehörde ist an die allge(5) Der Senat unterrichtet die Kommission nach meinen Rechtsvorschriften gebunden (Art. 20 des SS 2 des Gesetzes zur Ausführung des Art. 10-Gesetzes Grundgesetzes). in der Fassung vom 25. Juni 2001 (GVBl. S. 251), das zuletzt durch Art. 1 des Gesetzes vom 5. Dezember 2003 (GVBl. S. 571) geändert worden ist, unverzüglich, SS 9 Einsatz technischer Mittel zur möglichst vorab, und umfassend über den Einsatz Überwachung von Wohnungen technischer Mittel nach Absatz 1 und, soweit rich(1) Das in einer Wohnung nicht öffentlich gesprochene terlich überprüfungsbedürftig, nach Absatz 3. SS 3 Wort darf mit technischen Mitteln ausschließlich bei des Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes zu Art. 10 der Wahrnehmung der Aufgaben auf dem Gebiet der Grundgesetz gilt entsprechend. Spionageabwehr und des gewaltbereiten politischen (6) Eine Maßnahme nach den Absätzen 1 und 3 Extremismus heimlich mitgehört oder aufgezeichnet ist nach ihrer Beendigung der betroffenen Person werden. Eine solche Maßnahme ist nur zulässig, wenn mitzuteilen, sobald eine Gefährdung des Zwecks der sie im Einzelfall zur Abwehr einer dringenden Gefahr Maßnahme mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer zu erwarten ist. Die durch Maßnahmen im Sinne des 192 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Satzes 1 erhobenen Informationen dürfen nur nach (5) Über die Einsichtnahme ist ein gesonderter NachMaßgabe des SS 4 Abs. 1 des Art. 10-Gesetzes verwenweis zu führen, aus dem ihr Zweck, die in Anspruch det werden. genommene Stelle, die Namen der Betroffenen, deren Daten für eine weitere Verwendung erforderlich sind, sowie der Zeitpunkt der Einsichtnahme hervorgehen. SS 9a Eingriffe, die in ihrer Art und Diese Aufzeichnungen sind gesondert aufzubewahren, Schwere einer Beschränkung des Brief-, durch technische und organisatorische Maßnahmen zu Postund Fernmeldegeheimnisses gleichsichern und, soweit sie für die Aufgabenerfüllung der kommen Verfassungsschutzbehörde nach SS 5 Abs. 2 nicht mehr (1) Ein Eingriff, der in seiner Art und Schwere einer benötigt werden, am Ende des Kalenderjahres, das dem Beschränkung des Brief-, Postund FernmeldegeheimJahr der Erstellung folgt, zu vernichten. nisses gleichkommt und nicht den Regelungen des SS 9 unterliegt, wozu insbesondere das Abhören und Aufzeichnen des nicht öffentlich gesprochenen Wortes mit dem verdeckten Einsatz technischer Mittel gehört, Zweiter Abschnitt bedarf der Anordnung durch den Senator für Inneres, der im Verhinderungsfall durch den zuständigen Datenverarbeitung Staatssekretär vertreten wird. (2) Die SSSS 2 und 3 des Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz gelten entsprechend. SS 11 Speicherung, Veränderung und Nut(3) SS 9 Abs. 6 gilt entsprechend. zung personenbezogener Informationen (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur Erfüllung ihrer Aufgaben rechtmäßig erhobene personenbezoSS 10 Registereinsicht durch die gene Informationen speichern, verändern und nutzen, Verfassungsschutzbehörde wenn (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur Aufklärung 1. tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder - von sicherheitsgefährdenden oder geheimdienstTätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 vorliegen oder lichen Tätigkeiten für eine fremde Macht oder 2. dies für die Erforschung oder Bewertung von - von Bestrebungen, die durch Anwendung von Gegewalttätigen Bestrebungen oder geheimdienstlichen walt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 erforderlich ist oder gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, 3. dies zur Schaffung oder Erhaltung nachrichtenden Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines dienstlicher Zugänge über Bestrebungen oder TätigLandes gerichtet sind oder keiten nach SS 5 Abs. 2 erforderlich ist oder - von Bestrebungen, die durch Anwendung von Ge4. dies zum Schutz der Dienstkräfte, Einrichtungen, Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen genstände und Quellen der Verfassungsschutzbehörde auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gegen sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche gefährden, Tätigkeiten erforderlich ist oder von öffentlichen Stellen geführte Register, z.B. 5. sie auf Ersuchen der zuständigen Stelle nach SS 5 Melderegister, Personalausweisregister, Passregister, Abs. 3 tätig wird. Führerscheinkarteien, Waffenscheinkarteien, einsehen. In Akten dürfen über Satz 1 Nr. 2 hinaus personen(2) Eine solche Einsichtnahme ist nur zulässig, wenn bezogene Daten auch gespeichert, verändert und 1. die Aufklärung auf andere Weise nicht möglich genutzt werden, wenn dies sonst zur Erforschung und erscheint, insbesondere durch eine Übermittlung der Bewertung von Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 zwingend Daten durch die registerführende Stelle der Zweck der erforderlich ist. Maßnahme gefährdet würde, und (2) In Dateien gespeicherte Informationen müssen 2. die betroffene Person durch eine anderweitige Aufdurch Aktenrückhalt belegbar sein. klärung unverhältnismäßig beeinträchtigt würde, und (3) In Dateien ist die Speicherung von Informationen 3. eine besondere gesetzliche Geheimhaltungsvoraus der Intimsphäre der betroffenen Person unzulässchrift oder ein Berufsgeheimnis der Einsichtnahme sig. nicht entgegensteht. (3) Die Anordnung für die Maßnahme nach Absatz 1 trifft der Leiter der Verfassungsschutzabteilung, im Falle der Verhinderung der Vertreter. (4) Die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse dürfen nur zu den in Absatz 1 genannten Zwecken verwendet werden. Gespeicherte Informationen sind zu löschen und Unterlagen zu vernichten, sobald sie für diese Zwecke nicht mehr benötigt werden. Verfassungsschutzgesetz 193 SS 12 Speicherung, Veränderung und Nutderlich sind, es sei denn, dass ihre Aufbewahrung zur Wahrung schutzwürdiger Interessen der betroffenen zung personenbezogener Informationen Person notwendig ist. Die Vernichtung unterbleibt, von Minderjährigen wenn die Unterlagen von anderen, die zur Erfüllung der Die Speicherung personenbezogener Informationen Aufgaben erforderlich sind, nicht oder nur mit unverüber Minderjährige, die das 14. Lebensjahr nicht volltretbarem Aufwand getrennt werden können. endet haben, ist unzulässig. (5) Personenbezogene Informationen, die ausschließlich zu Zwecken der Datenschutzkontrolle, der Datensicherung oder zur Sicherstellung eines ordnungsSS 13 Speicherungsdauer gemäßen Betriebes einer Datenverarbeitungsanlage (1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die Speigespeichert werden, dürfen nur für diese Zwecke und cherungsdauer auf das für ihre Aufgabenerfüllung zur Verfolgung der in der jeweiligen Fassung des Berlierforderliche Maß zu beschränken. Die in Dateien gener Datenschutzgesetzes als Straftaten bezeichneten speicherten Informationen sind bei der EinzelfallbearHandlungen verwendet werden. beitung, spätestens aber fünf Jahre nach Speicherung der letzten Information, auf ihre Erforderlichkeit zu SS 15 Berichtigung und Sperrung persoüberprüfen. Sofern die Informationen Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 Nr. 1 oder 3 betreffen, sind sie nenbezogener Informationen in Akten (1) Stellt die Verfassungsschutzbehörde fest, dass in spätestens zehn Jahre nach der zuletzt gespeicherten Akten gespeicherte personenbezogene Informationen relevanten Information zu löschen. unrichtig sind, oder wird ihre Richtigkeit von dem (2) Sind Informationen über Minderjährige in Dateien Betroffenen bestritten, so ist dies in der Akte zu veroder in Akten, die zu ihrer Person geführt werden, gemerken oder auf sonstige Weise festzuhalten. speichert, ist nach zwei Jahren die Erforderlichkeit der (2) Die Verfassungsschutzbehörde hat personenbeSpeicherung zu überprüfen und spätestens nach fünf zogene Informationen in Akten zu sperren, wenn sie Jahren die Löschung vorzunehmen, es sei denn, dass im Einzelfall feststellt, dass ohne die Sperrung schutznach Eintritt der Volljährigkeit weitere Erkenntnisse würdige Interessen von Betroffenen beeinträchtigt nach SS 5 Abs. 2 angefallen sind, die zur Erfüllung der würden und die Daten für ihre Aufgabenerfüllung nicht Aufgaben im Sinne dieses Gesetzes eine Fortdauer der mehr erforderlich sind. Gesperrte Informationen sind Speicherung rechtfertigen. mit einem entsprechenden Vermerk zu versehen; sie dürfen nicht mehr genutzt oder übermittelt werden. SS 14 Berichtigung, Löschung und SperEine Aufhebung der Sperrung ist möglich, wenn ihre Voraussetzungen nachträglich entfallen. rung personenbezogener Informationen in Dateien (1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in Dateien SS 16 Dateianordnungen (1) Für jede automatisierte Datei der Verfassungsgespeicherten personenbezogenen Informationen schutzbehörde sind in einer Dateianordnung im zu berichtigen, wenn sie unrichtig sind; sie sind zu Benehmen mit dem Berliner Beauftragten für den ergänzen, wenn sie unvollständig sind und dadurch Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht schutzwürdige Interessen der betroffenen Person festzulegen: beeinträchtigt sein können. 1. Bezeichnung der Datei, (2) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in Dateien 2. Zweck der Datei, gespeicherten personenbezogenen Informationen zu 3. Inhalt, Umfang, Voraussetzungen der Speichelöschen, wenn ihre Speicherung irrtümlich erfolgt war, rungen, Übermittlung und Nutzung (betroffener unzulässig war oder ihre Kenntnis für die AufgabenerPersonenkreis, Arten der Daten), füllung nicht mehr erforderlich ist und schutzwürdige 4. Eingabeberechtigung, Interessen der betroffenen Person nicht beeinträchtigt 5. Zugangsberechtigung, werden. 6. Überprüfungsfristen, Speicherungsdauer, (3) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in Dateien 7. Protokollierung, gespeicherten personenbezogenen Informationen zu 8. Datenverarbeitungsgeräte und Betriebssystem, sperren, wenn die Löschung unterbleibt, weil Grund 9. Inhalt und Umfang von Textzusätzen, die der zu der Annahme besteht, dass durch die Löschung Erschließung von Akten dienen. schutzwürdige Interessen der betroffenen Person (2) Die Verfassungsschutzbehörde hat in angemesbeeinträchtigt würden; gesperrte Informationen sind senen Abständen die Notwendigkeit der Weiterführung entsprechend zu kennzeichnen und dürfen nur mit oder Änderung ihrer Dateien zu prüfen. Einwilligung der betroffenen Person verwendet werden. (4) In Dateien gelöschte Informationen sind gesperrt. Unterlagen sind zu vernichten, wenn sie zur Erfüllung der Aufgaben nach SS 5 nicht oder nicht mehr erfor- 194 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 SS 17 Gemeinsame Dateien SS 21 Informationsübermittlung an StrafBundesgesetzliche Vorschriften über die Datenververfolgungsbehörden in Angelegenheiten arbeitung in gemeinsamen Dateien der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder bleiben des Staatsund Verfassungsschutzes Die Verfassungsschutzbehörde übermittelt den unberührt. Staatsanwaltschaften und, vorbehaltlich der staatsanwaltlichen Sachleitungsbefugnis, den Polizeibehörden des Landes die ihr bekannt gewordenen Informationen einschließlich personenbezogener Daten, wenn Dritter Abschnitt tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Informationsübermittlung Übermittlung zur Verhinderung oder Verfolgung von Straftaten, die im Zusammenhang mit Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 stehen, erforderlich ist. SS 18 Grundsätze bei der Informationsübermittlung durch die VerfassungsSS 22 Übermittlung von Informationen an schutzbehörde den öffentlichen Bereich Die Übermittlung von personenbezogenen Informatio(1) Die im Rahmen der gesetzlichen Aufgabenerfüllung nen ist aktenkundig zu machen. In der entsprechenden gewonnenen, nicht personenbezogenen Erkenntnisse Datei ist die Informationsübermittlung zu vermerken. der Verfassungsschutzbehörde können an andere Vor der Informationsübermittlung ist der Akteninhalt Behörden und Stellen, insbesondere an die Polizei und im Hinblick auf den Übermittlungszweck zu würdigen die Staatsanwaltschaft, übermittelt werden, wenn sie und der Informationsübermittlung zugrunde zu legen. für die Aufgabenerfüllung der empfangenden Stellen Erkennbar unvollständige Informationen sind vor der erforderlich sein können. Übermittlung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf personendurch Einholung zusätzlicher Auskünfte zu vervollbezogene Informationen an inländische Behörden ständigen. und juristische Personen des öffentlichen Rechts übermitteln, wenn dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben SS 19 Informationsübermittlung zwischen erforderlich ist oder der Empfänger die Informationen den Verfassungsschutzbehörden zum Schutz vor Bestrebungen oder Tätigkeiten nach Die Verfassungsschutzbehörde unterrichtet das SS 5 Abs. 2 oder zur Strafverfolgung benötigt oder nach Bundesamt für Verfassungsschutz und die VerfasSS 5 Abs. 3 tätig wird. sungsschutzbehörden der Länder über alle Angelegen(3) Die empfangende Stelle von Informationen nach heiten, deren Kenntnis zur Erfüllung der Aufgaben der Absatz 2 ist darauf hinzuweisen, dass sie die übermitempfangenden Stellen erforderlich ist. telten personenbezogenen Informationen nur zu dem Zweck verwenden darf, zu dessen Erfüllung sie ihr übermittelt wurden. SS 20 Informationsübermittlung an den Bundesnachrichtendienst und den MilitäSS 23 Übermittlung von Informationen rischen Abschirmdienst an Personen und Stellen außerhalb des Die Verfassungsschutzbehörde übermittelt dem Bundesnachrichtendienst und dem Militärischen öffentlichen Bereichs Personenbezogene Informationen dürfen an Personen Abschirmdienst die ihr bekannt gewordenen Inforoder Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs nicht mationen einschließlich personenbezogener Daten, übermittelt werden, es sei denn, dass dies zum Schutz wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des dass die Übermittlung für die Erfüllung der Aufgaben Bestandes oder der Sicherheit des Bundes oder eines der empfangenden Stellen erforderlich ist. Handelt Landes erforderlich ist und der Senator für Inneres, der die Verfassungsschutzbehörde auf Ersuchen, so ist im Verhinderungsfall durch den zuständigen Staatssesie zur Übermittlung nur verpflichtet und berechtigt, kretär vertreten wird, im Einzelfall seine Zustimmung wenn sich die Voraussetzungen aus den Angaben der erteilt hat. Die Verfassungsschutzbehörde führt über ersuchenden Behörde ergeben. die Auskunft nach Satz 1 einen Nachweis, aus dem der Zweck der Übermittlung, die Aktenfundstelle und der Empfänger hervorgehen; die Nachweise sind gesondert aufzubewahren, gegen unberechtigten Zugriff zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr seiner Erstellung folgt, zu vernichten. Der Empfänger darf die übermittelten personenbezogenen Verfassungsschutzgesetz 195 Informationen nur für den Zweck verwenden, zu dem SS 27 Übermittlung von Informationen an sie ihm übermittelt wurden. Der Empfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung und darauf hinzuweisen, die Verfassungsschutzbehörde (1) Die Behörden des Landes und die sonstigen der dass die Verfassungsschutzbehörde sich vorbehält, um Aufsicht des Landes unterstehenden juristischen Auskunft über die vorgenommene Verwendung der Personen des öffentlichen Rechts übermitteln von sich Informationen zu bitten. aus der Verfassungsschutzbehörde die ihnen bekannt gewordenen Informationen, insbesondere personenbeSS 24 Übermittlung von Informationen an zogene Daten, über Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2, die die Stationierungsstreitkräfte durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Die Verfassungsschutzbehörde darf personenbezogene Vorbereitungshandlungen verfolgt werden, und über Informationen an Dienststellen der Stationierungsgeheimdienstliche Tätigkeiten. Die Staatsanwaltschafstreitkräfte übermitteln, soweit die Bundesrepublik ten und, vorbehaltlich der staatsanwaltlichen SachleiDeutschland dazu im Rahmen von Art. 3 des Zusatzabtungsbefugnis, die Polizei übermitteln darüber hinaus kommens zu dem Abkommen zwischen den Parteien auch andere im Rahmen ihrer Aufgabenerfüllung des Nordatlantikpaktes über die Rechtsstellung bekannt gewordene Informationen über Bestrebungen ihrer Truppen hinsichtlich der in der Bundesrepublik im Sinne des SS 5 Abs. 2. Deutschland stationierten ausländischen Streitkräfte (2) Die Verfassungsschutzbehörde kann von jeder der vom 3. August 1959 (BGBl. 1961 II S. 1183) verpflichtet in Absatz 1 genannten öffentlichen Stellen verlangen, ist. Die Übermittlung ist aktenkundig zu machen. Der dass sie ihr die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderEmpfänger ist darauf hinzuweisen, dass die übermitlichen Informationen einschließlich personenbezogener telten Informationen nur zu dem Zweck verwendet Daten übermittelt, wenn die Informationen nicht aus werden dürfen, zu dem sie ihm übermittelt wurden. allgemein zugänglichen Quellen oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand oder nur durch eine den SS 25 Übermittlung von Informationen Betroffenen stärker belastende Maßnahme erhoben an öffentliche Stellen außerhalb des werden können. Es dürfen nur die Informationen übermittelt werden, die bei der ersuchten Behörde bereits Geltungsbereichs des Grundgesetzes bekannt sind. Die Verfassungsschutzbehörde darf personenbezogene (3) Die Verfassungsschutzbehörde braucht Ersuchen Informationen an ausländische öffentliche Stellen nicht zu begründen, soweit dies dem Schutz der betrofsowie an überoder zwischenstaatliche Stellen fenen Person dient oder eine Begründung den Zweck übermitteln, wenn die Übermittlung zur Erfüllung der Maßnahme gefährden würde. ihrer Aufgaben oder zur Wahrung erheblicher Sicher(4) Die Übermittlung personenbezogener Informatiheitsinteressen des Empfängers erforderlich ist. Die onen, die aufgrund einer Maßnahme nach SS 100a der Übermittlung unterbleibt, wenn auswärtige Belange Strafprozessordnung bekannt geworden sind, ist nur der Bundesrepublik Deutschland oder überwiegende zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür besteschutzwürdige Interessen der betroffenen Person hen, dass jemand eine der in SS 3 des Art. 10-Gesetzes entgegenstehen. Die Übermittlung ist nur im Einvergenannten Straftaten plant, begeht oder begangen nehmen mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz hat. Auf die der Verfassungsschutzbehörde nach Satz 1 zulässig. Sie ist aktenkundig zu machen. Der Empübermittelten Informationen findet SS 4 Abs. 6, auf die fänger ist darauf hinzuweisen, dass die übermittelten dazugehörenden Unterlagen findet SS 4 Abs. 1 Satz 2 personenbezogenen Informationen nur zu dem Zweck des Art. 10-Gesetzes entsprechende Anwendung. verwendet werden dürfen, zu dem sie ihm übermittelt (5) Vorschriften zur Informationsübermittlung an die wurden, und die Verfassungsschutzbehörde sich Verfassungsschutzbehörde nach anderen Gesetzen vorbehält, um Auskunft über die vorgenommene bleiben unberührt. Verwendung der Informationen zu bitten. (6) Die Verfassungsschutzbehörde hat die übermittelten Informationen nach ihrem Eingang unverzüglich darauf zu überprüfen, ob sie zur Erfüllung ihrer in SS 26 Unterrichtung der Öffentlichkeit SS 5 genannten Aufgaben erforderlich sind. Ergibt die Die Verfassungsschutzbehörde unterrichtet die Prüfung, dass sie nicht erforderlich sind, sind die UnÖffentlichkeit mindestens einmal jährlich über Bestreterlagen unverzüglich zu vernichten. Die Vernichtung bungen und Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2. Dabei ist die unterbleibt, wenn die Trennung von anderen InforÜbermittlung von personenbezogenen Informationen mationen, die zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich nur zulässig, wenn die Bekanntgabe für das Verständsind, nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand nis des Zusammenhanges oder der Darstellung von erfolgen kann; in diesem Fall sind die Informationen Organisationen oder unorganisierten Gruppierungen gesperrt und entsprechend zu kennzeichnen. erforderlich ist und die Interessen der Allgemeinheit (7) Soweit andere gesetzliche Vorschriften nicht an sachgemäßen Informationen das schutzwürdige besondere Regelungen über die Dokumentation Interesse des Betroffenen überwiegen. 196 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 treffen, haben die Verfassungsschutzbehörde und die Dienstleistungen, übermittelnde Stelle die Informationsübermittlung 4. Endpunkte festgeschalteter Verbindungen, ihr aktenkundig zu machen. Beginn und ihr Ende nach Datum und Uhrzeit. (5) Auskünfte nach den Abs. 1 bis 4 dürfen nur auf SS 27a Übermittlung von Informationen Antrag eingeholt werden. Der Antrag ist von der Leitung der Verfassungsschutzabteilung, im Falle durch nicht öffentliche Stellen an die ihrer Verhinderung von ihrem Vertreter schriftlich zu Verfassungsschutzbehörde stellen und zu begründen. Über den Antrag entscheidet (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einzelfall der Senator für Inneres, im Fall seiner Verhinderung bei Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten der Staatssekretär. Die Senatsverwaltung für Inneres und Finanzunternehmen unentgeltlich Auskünfte zu unterrichtet die Kommission nach SS 2 des Gesetzes Konten, Kontoinhabern und sonstigen Berechtigten zur Ausführung des Art. 10-Gesetzes über die beschiesowie weiteren am Zahlungsverkehr Beteiligten und zu denen Anträge vor deren Vollzug. Bei Gefahr in Verzug Geldbewegungen und Geldanlagen einholen, wenn dies kann der Senator für Inneres, im Falle seiner Verhindezur Beobachtung gewalttätiger Bestrebungen nach SS 5 rung der Staatssekretär den Vollzug der Entscheidung Abs. 2 Nr. 2 und 3 erforderlich ist und tatsächliche Anauch bereits vor der Unterrichtung der Kommission haltspunkte für Gefahren für Leib und Leben vorliegen. anordnen. Die Kommission prüft von Amts wegen (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einzelfall oder aufgrund von Beschwerden die Zulässigkeit und zur Beobachtung gewalttätiger Bestrebungen nach Notwendigkeit der Einholung von Auskünften. SS 15 SS 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3 und wenn tatsächliche AnhaltsAbs. 5 des Art. 10-Gesetzes ist mit der Maßgabe entpunkte für Gefahren für Leib und Leben vorliegen sprechend anzuwenden, dass die Kontrollbefugnis der unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. 1 des Art. Kommission sich auf die gesamte Erhebung, Verarbei10-Gesetzes bei Personen und Unternehmen, die tung und Nutzung der nach den Abs. 1 bis 4 erlangten geschäftsmäßig Postdienstleistungen erbringen, sowie personenbezogenen Daten erstreckt. Entscheidungen bei denjenigen, die an der Erbringung dieser Dienstleiüber Auskünfte, die die Kommission für unzulässig stungen mitwirken, unentgeltlich Auskünfte zu Namen, oder nicht notwendig erklärt, hat die Senatsverwaltung Anschriften, Postfächern und sonstigen Umständen für Inneres unverzüglich aufzuheben. Für die Verardes Postverkehrs einholen. beitung der nach den Abs. 1 bis 4 erhobenen Daten ist (3) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einzelfall SS 4 des Art. 10-Gesetzes entsprechend anzuwenden. bei Luftfahrtunternehmen unentgeltlich Auskünfte zu Das Auskunftsersuchen und die übermittelten Daten Namen, Anschriften und zur Inanspruchnahme von dürfen dem Betroffenen oder Dritten nicht mitgeteilt Transportleistungen und sonstigen Umständen des werden. SS 12 Abs. 1 und 3 des Art. 10-Gesetzes findet Luftverkehrs einholen, wenn dies zur Beobachtung entsprechende Anwendung. gewalttätiger Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 Nr. 2 und (6) Die Senatsverwaltung für Inneres unterrichtet im 3 erforderlich ist und tatsächliche Anhaltspunkte für Abstand von höchstens sechs Monaten den Ausschuss Gefahren für Leib und Leben vorliegen. für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses (4) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einzelfall über die Durchführung der Absätze 1 bis 5; dabei ist zur Beobachtung gewalttätiger Bestrebungen nach insbesondere ein Überblick über Anlass, Umfang, SS 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3 und wenn tatsächliche AnhaltsDauer, Ergebnis und Kosten der im Berichtszeitraum punkte für Gefahren für Leib und Leben vorliegen durchgeführten Maßnahmen nach den Absätzen 1 bis unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. 1 des Art. 4 zu geben. 10-Gesetzes bei denjenigen, die geschäftsmäßig (7) Die Senatsverwaltung für Inneres unterrichtet das Telekommunikationsdienste und Teledienste erbringen Parlamentarische Kontrollgremium des Bundes jährlich oder daran mitwirken, unentgeltlich Auskünfte über die nach den Absätzen 1 bis 5 durchgeführten über Telekommunikationsverbindungsdaten und Maßnahmen; Abs. 6 gilt entsprechend. Teledienstnutzungsdaten einholen. Die Auskunft kann (8) Das Grundrecht des Brief-, Postund Fernmeldeauch in Bezug auf zukünftige Telekommunikation und geheimnisses (Art. 10 des Grundgesetzes, Art. 16 der zukünftige Nutzung von Telediensten verlangt werden. Verfassung von Berlin) wird nach Maßgabe der Absätze Telekommunikationsverbindungsdaten und Teledienst2, 4 und 5 eingeschränkt. nutzungsdaten sind: 1. Berechtigungskennungen, Kartennummern, SS 28 Übermittlungsverbote Standortkennung sowie Rufnummer oder Kennung des Die Übermittlung von Informationen nach den Voranrufenden und angerufenen Anschlusses oder der schriften dieses Abschnitts unterbleibt, wenn Endeinrichtung, 1. eine Prüfung durch die übermittelnde Stelle ergibt, 2. Beginn und Ende der Verbindung nach Datum und dass die Informationen zu löschen oder für die empUhrzeit, fangende Stelle nicht mehr bedeutsam sind, 3. Angaben über die Art der vom Kunden in Anspruch 2. überwiegende Sicherheitsinteressen dies erfordern, genommenen Telekommunikationsund Teledienst3. für die übermittelnde Stelle erkennbar ist, dass Verfassungsschutzgesetz 197 unter Berücksichtigung der Art der Informationen und inwieweit eine Teilauskunft möglich ist. Ein Geheimhalihrer Erhebung die schutzwürdigen Interessen der tungsinteresse liegt vor, wenn betroffenen Personen das Allgemeininteresse an der 1. eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung durch die Übermittlung überwiegen oder Auskunftserteilung zu besorgen ist, 4. besondere gesetzliche Übermittlungsregelungen 2. durch die Auskunftserteilung Quellen gefährdet sein entgegenstehen; die Verpflichtung zur Wahrung können oder die Ausforschung des Erkenntnisstandes gesetzlicher Geheimhaltungspflichten oder von Berufsoder der Arbeitsweisen der Verfassungsschutzbehörde oder besonderen Amtsgeheimnissen, die nicht auf zu befürchten ist, gesetzlichen Vorschriften beruhen, bleibt unberührt. 3. die Auskunft die öffentliche Sicherheit gefährden oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde oder SS 29 Minderjährigenschutz 4. die Informationen oder die Tatsache der Speiche(1) Informationen einschließlich personenbezogener rung nach einer Rechtsvorschrift oder ihrem Wesen Daten über das Verhalten Minderjähriger dürfen nach nach, insbesondere wegen der überwiegenden beden Vorschriften dieses Gesetzes übermittelt werden, rechtigten Interessen Dritter, geheimgehalten werden solange die Voraussetzungen der Speicherung nach müssen. SS 13 Abs. 2 erfüllt sind. Die Entscheidung nach den Sätzen 1 und 2 trifft der (2) Informationen einschließlich personenbezogener Leiter der Verfassungsschutzabteilung oder ein von Daten über das Verhalten Minderjähriger vor Vollenihm besonders beauftragter Mitarbeiter. dung des 16. Lebensjahres dürfen nach den Vorschrif(3) Die Ablehnung einer Auskunft ist zumindest insoten dieses Gesetzes nicht an ausländische oder überweit zu begründen, dass eine verwaltungsgerichtliche oder zwischenstaatliche Stellen übermittelt werden. Nachprüfung der Verweigerungsgründe gewährleistet wird, ohne dabei den Zweck der AuskunftsverweigeSS 30 Nachberichtspflicht rung zu gefährden. Die Gründe der Ablehnung sind in Erweisen sich Informationen nach ihrer Übermittlung jedem Fall aktenkundig zu machen. nach den Vorschriften dieses Gesetzes als unvollstän(4) Wird die Auskunftserteilung ganz oder teilweise abdig oder unrichtig, so hat die übermittelnde Stelle ihre gelehnt, ist die betroffene Person darauf hinzuweisen, Informationen unverzüglich gegenüber der empfandass sie sich an den Berliner Beauftragten für den Dagenden Stelle zu ergänzen oder zu berichtigen, wenn tenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht wenden dies zu einer anderen Bewertung der Informationen kann. Dem Berliner Beauftragten für den Datenschutz führen könnte oder zur Wahrung schutzwürdiger Inteund für das Recht auf Akteneinsicht ist auf sein Verressen der betroffenen Person erforderlich ist. Die Erlangen Auskunft zu erteilen, soweit nicht der Senator gänzung oder Berichtigung ist aktenkundig zu machen für Inneres im Einzelfall feststellt, dass dadurch die und in den entsprechenden Dateien zu vermerken. Sicherheit des Bundes oder eines Landes gefährdet würde. Mitteilungen des Berliner Beauftragten für den Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht an den Betroffenen dürfen keine Rückschlüsse auf den Erkenntnisstand der Verfassungsschutzbehörde VIERTER ABSCHNITT zulassen, soweit sie nicht einer weitergehenden Auskunftserteilung Auskunft zustimmt. Der Kontrolle durch den Berliner Beauftragten für den Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht unterliegen nicht personenbezogene SS 31 Auskunft an den Betroffenen Informationen, die der Kontrolle durch die Kommission (1) Die Verfassungsschutzbehörde erteilt einer nach SS 2 des Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes natürlichen Person über die zu ihr gespeicherten zu Art. 10 Grundgesetz unterliegen, es sei denn, die Informationen auf Antrag unentgeltlich Auskunft. Die Kommission ersucht den Berliner Beauftragten für den Auskunftsverpflichtung erstreckt sich nicht auf InforDatenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht, die mationen, die nicht der alleinigen VerfügungsberechtiEinhaltung der Vorschriften über den Datenschutz bei gung der Verfassungsschutzbehörde unterliegen, sowie bestimmten Vorgängen oder in bestimmten Bereichen auf die Herkunft der Informationen und die Empfänger zu kontrollieren und ausschließlich ihr darüber zu von Übermittlungen. berichten. (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf den Antrag ablehnen, wenn das öffentliche Interesse an der Geheimhaltung ihrer Tätigkeit oder ein überwiegendes Geheimhaltungsinteresse Dritter gegenüber dem Interesse der antragstellenden Person an der Auskunftserteilung überwiegt. In einem solchen Fall hat die Verfassungsschutzbehörde zu prüfen, ob und 198 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 SS 32 Akteneinsicht SS 34 Geheimhaltung (1) Sind personenbezogene Daten in Akten (1) Die Öffentlichkeit wird durch einen Beschluss des gespeichert, so kann dem Betroffenen auf Antrag Ausschusses ausgeschlossen, wenn das öffentliche Akteneinsicht gewährt werden, soweit GeheimhalInteresse oder berechtigte Interessen eines einzelnen tungsinteressen oder schutzwürdige Belange Dritter dies gebieten. Sofern die Öffentlichkeit ausgeschlossen nicht entgegenstehen. SS 31 gilt entsprechend. ist, sind die Mitglieder des Ausschusses zur Verschwie(2) Die Einsichtnahme in Akten oder Aktenteile ist genheit über Angelegenheiten verpflichtet, die ihnen insbesondere dann zu versagen, wenn die Daten des dabei bekannt geworden sind. Das gleiche gilt auch für Betroffenen mit Daten Dritter oder geheimhaltungsbedie Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Ausschuss. Die dürftigen sonstigen Informationen derart verbunden Verpflichtung zur Verschwiegenheit kann von dem Aussind, dass ihre Trennung auch durch Vervielfältigung schuss aufgehoben werden, soweit nicht berechtigte und Unkenntlichmachung nicht oder nur mit unverInteressen eines Einzelnen entgegenstehen oder der hältnismäßig großem Aufwand möglich ist. In diesem Senat widerspricht; in diesem Fall legt der Senat dem Fall ist dem Betroffenen zusammenfassende Auskunft Ausschuss seine Gründe dar. über den Akteninhalt zu erteilen. (2) Die Vorschriften des Absatzes 1 gelten für stellver(3) Das Berliner Informationsfreiheitsgesetz vom 15. tretende Mitglieder des Ausschusses entsprechend. Oktober 1999 (GVBl. S. 561) findet auf die von der Verfassungsschutzabteilung der Senatsverwaltung für SS 35 Aufgaben und Befugnisse Inneres geführten Akten keine Anwendung. des Ausschusses (1) Der Senat hat den Ausschuss umfassend über die allgemeine Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde und über Vorgänge von besonderer Bedeutung zu Fünfter Abschnitt unterrichten; er berichtet auch über den Erlass von Verwaltungsvorschriften. Der Ausschuss hat Anspruch Parlamentarische Kontrolle auf Unterrichtung. (2) Der Ausschuss hat auf Antrag mindestens eines SS 33 Ausschuss für Verfassungsschutz seiner Mitglieder das Recht auf Erteilung von Auskünf(1) In Angelegenheiten des Verfassungsschutzes ten, Einsicht in Akten und andere Unterlagen, Zugang unterliegt der Senat von Berlin der Kontrolle durch den zu Einrichtungen der Verfassungsschutzbehörde sowie Ausschuss für Verfassungsschutz des Abgeordnetenauf Anhörung von deren Dienstkräften. Die Befugnisse hauses von Berlin. Die Rechte des Abgeordnetenhauses des Ausschusses nach Satz 1 erstrecken sich nur auf und seiner anderen Ausschüsse bleiben unberührt. Gegenstände, die der alleinigen Verfügungsberechti(2) Der Ausschuss für Verfassungsschutz besteht gung der Verfassungsschutzbehörde unterliegen. in der Regel aus höchstens zehn Mitgliedern. Das (3) Der Senat kann die Unterrichtung über einzelne Vorschlagsrecht der Fraktionen für die Wahl der Vorgänge verweigern und bestimmten KontrollbegehMitglieder richtet sich nach der Stärke der Fraktionen, ren widersprechen, wenn dies erforderlich ist, um vom wobei jede Fraktion mindestens durch ein Mitglied Bund oder einem deutschen Land Nachteile abzuwenvertreten sein muss. Eine Erhöhung der im Satz 1 den; er hat dies vor dem Ausschuss zu begründen. bestimmten Mitgliederzahl ist nur zulässig, soweit (4) Das Abgeordnetenhaus kann den Ausschuss für sie zur Beteiligung aller Fraktionen notwendig ist. Es einen bestimmten Untersuchungsgegenstand als werden stellvertretende Mitglieder gewählt, die im Fall Untersuchungsausschuss (Art. 48 der Verfassung von der Verhinderung eines ordentlichen Mitglieds dessen Berlin) einsetzen. SS 3 des Gesetzes über die UntersuRechte und Pflichten wahrnehmen. Die Anzahl der chungsausschüsse des Abgeordnetenhauses von Berlin stellvertretenden Mitglieder entspricht der Anzahl der vom 22. Juni 1970 (GVBI. S. 925), zuletzt geändert ordentlichen Mitglieder. Kann das ordentliche Mitglied durch Gesetz vom 24. Juni 1991 (GVBI. S. 154), findet seine Rechte und Pflichten nicht wahrnehmen, so keine Anwendung. wird es durch ein stellvertretendes Mitglied derselben (5) Für den Ausschuss gelten im Übrigen die BestimFraktion vertreten. mungen der Geschäftsordnung des Abgeordneten(3) Scheidet ein Mitglied aus dem Abgeordnetenhaus hauses von Berlin. oder seiner Fraktion aus, so verliert es die Mitgliedschaft im Ausschuss für Verfassungsschutz. Für dieses Mitglied ist unverzüglich ein neues Mitglied zu wählen; das gleiche gilt, wenn ein Mitglied aus dem Ausschuss ausscheidet. Für stellvertretende Mitglieder des Ausschusses gelten die Vorgaben der Sätze 1 und 2 entsprechend. Verfassungsschutzgesetz 199 SS 36 Vertrauensperson des Ausschusses für Verfassungsschutz Der Ausschuss für Verfassungsschutz kann zur Wahrnehmung seiner Kontrollaufgaben im Einzelfall nach Anhörung des Senats mit der Mehrheit seiner Mitglieder eine Vertrauensperson beauftragen, Untersuchungen durchzuführen und dem Ausschuss über das Ergebnis in nicht öffentlicher Sitzung zu berichten. Die Vertrauensperson soll die Befähigung zum Richteramt besitzen und wird für die Dauer der jeweils laufenden Wahlperiode vom Ausschuss für Verfassungsschutz mit der Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder gewählt. Die Vertrauensperson erhält für ihre Dienstleistungen im Einzelfall auf Antrag eine Vergütung entsprechend den SSSS 8, 9 des Justizvergütungsund -entschädigungsgesetzes vom 5. Mai 2004 (BGBl. I S. 718, 776), das zuletzt durch Artikel 7 Absatz 3 des Gesetzes vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2449) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung. Die Höhe des Honorars richtet sich nach der Honorargruppe M 3. Sechster Abschnitt Schlussvorschriften SS 37 Einschränkung von Grundrechten Aufgrund dieses Gesetzes kann das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 des Grundgesetzes eingeschränkt werden. SS 38 Anwendbarkeit des Berliner Datenschutzgesetzes Bei der Erfüllung der Aufgaben nach SS 5 durch die Verfassungsschutzbehörde finden die SSSS 6a, 10 bis 17 und 19 Abs. 2 bis 4 des Berliner Datenschutzgesetzes in der Fassung vom 17. Dezember 1990 (GVBI. 1991 S. 16, 54), das zuletzt durch Art. I des Gesetzes vom 30. Juli 2001 (GVBI. S. 305) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung keine Anwendung. SS 39 Inkrafttreten, Außerkrafttreten (1) Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung im Gesetzund Verordnungsblatt für Berlin in Kraft. SS 27a tritt außer Kraft, sobald das Bundesverfassungsschutzgesetz vom 20. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2954, 2970), zuletzt geändert durch Art. 9 des Gesetzes vom 16. August 2002 (BGBl. I S. 3202), gemäß Art. 22 Abs. 2 des Terrorismusbekämpfungsgesetzes vom 9. Januar 2002 (BGBl. I S. 361, 3142) wieder in seiner am 31. Dezember 2001 maßgeblichen Fassung gilt. Der Tag des Außerkrafttretens ist im Gesetzund Verordnungsblatt für Berlin bekannt zu machen. 200 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Extremistische Organisationen und Gruppierungen Islamismus / islamistischer Terrorismus Organisation / Gruppierung Seite Mujahidin-Netzwerke 46, 48f, 35, 31 Islamisches Emirat Kaukasus 45 Salafistische Bestrebungen 59f As-Sahaba / Die Gefährten e.V. 63 Die Islamische Gemeinschaft in Berlin - Al-Nur-Moschee e.V. (IGB) 63 Hizb ut-Tahrir (HuT) 33 Hizb Allah (Partei Gottes) 67f Waisenkinderprojekt Libanon e.V. (WKP) 68 Bewegung des Islamischen Widerstands (HAMAS) 66 Muslimbruderschaft (MB) / Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD) 69f Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) 72 Tabligh-i Jama'at (TJ) 64f Extremistische Organisationen und Gruppierungen 201 Rechtsextremismus Organisation / Gruppierung Seite Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) / Junge Nationaldemokraten (JN) 102f Die Rechte 105 Bürgerbewegung Pro Deutschland 108f Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf/ Bürgerbewegung Hellersdorf 81ff Netzwerk Freie Kräfte 87ff Netzwerk Rechtsextremistische Musik 94f Reichsbürgerbewegung 111f Linksextremismus Organisation / Gruppierung Seite Anarchist Black Cross (ABC) 120 Antifaschistische Linke Berlin (ALB) 150 Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin (ARAB) 132f Avanti - Projekt undogmatische Linke 152 Für eine linke Strömung (F.e.l.S.) 144f North East Antifascists (NEA) 131f Out of Control (ooc) 122f Revolutionäre Aktionszellen (RAZ) 139 Rigaer 94 140 Rote Hilfe e.V. (RH) 142 202 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Sicherheitsgefährdende und extremistische Bestrebungen von Ausländern (ohne Islamismus) Organisation / Gruppierung Seite Anatolische Föderation e. V. 168 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK, Partiya Karkeren Kurdistan) 159ff Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V. (YEK-KOM) 166 Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) 160 Freiheitspartei der Frauen Kurdistans (PAJK) 161 Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) 161 Gemeinschaft der hohen Frauen (KJB) 161 Gemeinschaft der Kommunen der demokratischen Jugend Kurdistans (Komalen Ciwan) 161 Islamische Gemeinschaft Kurdistans (CÄdegK) 166 Koordination der Demokratischen Gesellschaft Kurdistans (CDK) 161 Kurdische Frauenbewegung in Europa (TJKE) 166 Partei der demokratischen Union (PYD) 162f Union der freien Frauen (YJA) 161 Union kurdischer Familien (YEK-MAL) 166 Verband der Studierenden aus Kurdistan (YXK) 166 Verband freier Frauen Star (YJA Star) 161 Volkskongress Kurdistans (Kongra Gel) 161 Volksverteidigungseinheiten (YPG) 162 Volksverteidigungskräfte (HPG) 161 Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C, Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi) 168 Sonstige Organisationen / Gruppierungen Organisation / Gruppierung Seite Scientology 170f Es wird darauf hingewiesen, dass nicht alle Beobachtungsobjekte des Berliner Verfassungsschutzes namentlich im Verfassungsschutzbericht und in der Auflistung aufgeführt werden. Personenund Sachregister 203 Personenund Sachregister 18-Uhr-Demo siehe Revolutionärer 1. Mai al-Qaida 29ff, 35f, 40, 43, 45, 46ff, 56ff, 63, 163 A al-Shabab 47f, 49, 56 A., Umar Farouk 57 Al-Shahid Association 68 ABC 119, 120, 122f al-Sunna, Ansar 45 Abou-Nagie, Ibrahim 62 al-Zawahiri, Aiman 35f, 46, 50f Abu Talha al-Almani siehe Cuspert, Denis AMGT 73 adil düzen 72 Anarchismus 113ff, 121, 131, 140 AGB 93 f, 150 Anarchist Black Cross siehe ABC Aktionsgruppe Buch siehe AGB Anarchos 119, 123, 132, 134, 150, 153, 155f Aktionskonsens 129 Anatolische Föderation e. V. 164ff Aktionsorientierter Rechtsextremismus Anti-Antifa 85, 88, 92f, 148 76ff, 87ff, 101, 106f Anti-Antifa-Buch (AAB) siehe AGB al-Arifi, Muhammad 63 Antifa 92, 116, 119, 127f, 131, 134, 141, al-Aulaqi, Anwar 52 148ff, 153, 155f ALB 128, 130f, 133f, 143, 146, 149, 150, Anti-Faschismus 129, 155f 152, 155f Antifaschistische Linke Berlin siehe ALB al-Baghdadi, Abu Bakr 36, 46 Antifaschistische Revolutionäre Aktion al-Banna, Hassan 69 Berlin siehe ARAB al-Jaulani, Abu Muhammad 36 Anti-Gentrifizierung 5, 123ff, 130ff, 152f, al-Libi, Abu Anas 46f 155f al-Manar 37, 68 Anti-Kapitalismus 114, 116, 125, 128, al-Maqdisi, Abu Ubaidah 46 131, 133, 135f, 146, 155f al-Mauretani, Scheich Younis 58 Antikapitalistische Walpurgisnacht Al-Nur-Moschee 63 128ff, 153, 156 Aloush, Zahran 36 Anti-Rassismus 145ff, 155f al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel Anti-Repression 120, 121ff, 135f, 139f, siehe AQAH 143, 149f, 155 al-Qaida im islamischen Maghreb Antisemitismus 6, 63, 68, 76, 78, 94, 102, siehe AQM 104, 112, 212 204 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Anti-Terror-Datei siehe ATD Bundesverfassungsschutzgesetz Apfel, Holger 101f, 104 siehe BVerfSchG AQAH 48, 49 Bundesvertriebenengesetzes siehe BVFG AQM 48ff Bürgerbewegung Hellersdorf siehe BBH ARAB 128, 131, 132ff, 141, 150, 156 Bürgerbewegung Pro Deutschland Arabischer Frühling 33, 50, 66, 70 siehe Pro Deutschland Arbeiterpartei Kurdistans siehe PKK Bürgerbewegung Pro NRW siehe Pro NRW arranca! 145 Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf As-Sahaba-Moschee 63 siehe BMH As-Sunna-Verlag 63 Bürgerinitiative 6, 81ff, 107, 147 ATD 22 BVerfSchG 15, 199 AtomG 179 BVFG 180 Atomgesetz siehe AtomG Aufenthaltsrecht 178, 189 C autonome Freiräume 119, 123, 134, 140, C., Mounir 54f, 57f 142, 150, 155 C., Yassin 54f, 57f Autonome Nationalisten 88f, 92, 97, 148 Camover 122 Autonome 5, 88f, 92, 97, 114ff, 127ff, Chemtrails 112 132ff, 139f, 142ff, 147ff, 153ff CIK 166 AVANTI Projekt undogmatische Linke Cuspert, Denis 41f 143, 146, 151,152, 156 Cyberangriffe 183 Azan 53f D B D.S.T. / X.x.X. 95 Badi'a, Muhammad 71 Da'wa 60 BBH 86 Demokratische Union des kurdischen Belmokhtar, Mokhtar 49 Volkes siehe YDK Benefizveranstaltung für Syrien 61 Deutsche Reichspartei siehe DRP Berliner Liste 118, 125ff Deutsche Taliban Mujahidin siehe DTM Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz Deutsche Volksunion siehe DVU siehe BSÜG DGED 174 Bewegung des Islamischen Widerstands DHKP-C 159, 167, 168f siehe HAMAS Die Lunikoff-Verschwörung 95 Bin Ladin, Usama 46f, 63 Die Rechte 77, 85, 88, 94, 97, 105ff BMH 6, 81ff, 107, 147 Die Wahre Religion siehe DWR Boko Haram 49 Dimitroff-These 128, 136 BSÜG 15, 176f, 189 Personenund Sachregister 205 Direction Generale des Etudes et de la Do- G cumentation siehe DGED G 10 15f Diskursorientierter Rechtsextremismus GAR 23 79, 111 Geheimschutz 176f Dreisch, Uwe 106 Gemeinsames Abwehrzentrum gegen DRP 102 Rechtsextremismus siehe GAR DTM 30, 57f Gemeinsames Extremismusund TerrorisDüsseldorfer Zelle 47, 58 musabwehrzentrum siehe GETZ DVU 105, 111 Gemeinsames Internet-Zentrum siehe GIZ DWR 64 Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum siehe GTAZ E Gemeinschaft der Gesellschaften Einbürgerung 178 Kurdistans siehe KCK Erbakan, Necmettin 72f Gemeinschaft der Kommunen der demoEuropäischer Polizeikongress 121ff kratischen Jugend Kurdistans European Brotherhood 6 siehe Komalen Ciwan Exilregierung Deutsches Reich 11 Geoengineering 112 Gesetz über den Verfassungsschutz F in Berlin siehe VSG Bln F.e.l.S. 143, 144ff, 152, 156 Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz Faschismus 116, 128, 136, 150, 152 siehe G 10 Fazilet Partisi siehe FP GETZ 23 Fight Tonight 95 GIZ 22 Föderation kurdischer Vereine in Graue Wölfe siehe Ülkücü-Bewegung Deutschland e. V siehe YEK-KOM Groupe Salafiste pour la Predication et le FP 73 Combat siehe GSPC Freie Syrische Armee siehe FSA GSPC 48 Freiheitsund Demokratiekongress GTAZ 22 Kurdistans siehe KADEK Freiheitsund Gerechtigkeitspartei H siehe Issam al-'Arian Halk Cephesi (Volksfront) siehe DHKP-C Freiheitsfalken Kurdistans siehe TAK HAMAS 30f, 33, 65, 66f Frontbann 24 106f Hammerskins 95 FSA 34ff HDJ 111 Für eine linke Strömung siehe F.e.l.S. Heimattreue Deutsche Jugend siehe HDJ Fürstentum Germania 111 Hizb ut-Tahrir Partei der Befreiung Fylgien 95 siehe HuT 206 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Hizb Allah (Partei Gottes) 30f, 33f, 36f, Islamische Jihad-Union siehe IJU 65, 67ff Islamisches Kulturund ErziehungsHomegrown-Terroristen 43, 44, 46, 54 zentrum Berlin e. V. siehe IKEZ HPG 161, 166 Islamische Schriften Verlag 63 Hubbard, L. Ron 170f Islamischer Staat Irak siehe ISI HuT 30f, 33 Islamischer Staat von Irak und Großsyrien siehe ISIG I Islamischer Widerstand ("al-Muqawama Ibrahim, Yahya 52 al-islamiya") 67 IBU 54f, 57ff Islamisches Emirat Kaukasus 31, 33, 45 Idealisten 158 Issam al-Arian 71 IF 36 IZDB 70 IGD 33, 69f IGMG 29, 31ff, 69, 72f J IJU 30, 57 Jabhat an-Nusra li-ahl asch-Scham IKEZ 66, 70 siehe JaN iL 143 Jama'at al-Adl wal-Ihsan 174 Ilyas, Muhammad 64 Jama'at-i Tabligh siehe TJ Industriespionage 181 JaN 35f, 48, 163 Inspire 41, 43, 51, 52ff, 53 Jihadisten 29ff, 34ff, 37ff, 46ff, 162 interim 124 Jihadistischer Salafismus 59f Interkulturelles Zentrum für Dialog und JN 77, 90, 92f, 97ff, 102, 148 Bildung e. V. siehe IZDB Junge Nationaldemokraten siehe JN Internetpropaganda 50 Interventionistische Linke siehe iL K ISI 35f KADEK 161 ISIG 35f, 46, 48 Kadterschmiede 140 ISIS 36 Kalifatsstaat 65 Islamische Bewegung Usbekistan Kameradschaft Baso 89 siehe IBU Kameradschaft Tor 89 Islamische Front siehe IF Kampagne Lies! siehe Lies! Islamische Gemeinschaft in Deutschland Kampf um die Straße 87 e. V. siehe IGD Kapitalismus siehe Anti-Kapitalismus Islamische Gemeinschaft Kurdistans KCK 161, 164 siehe CÄdegK Khan, Samir 52 Islamische Gemeinschaft Milli Görüs KIAR 23 siehe IGMG Knastdemo 120f Personenund Sachregister 207 Know-how-Schutz 185 Millatu Ibrahim 41f, 62 Komalen Ciwan 161 Milli Gazete 72 Kommissarische Reichsregierung des Milli Görüs - Bewegung 72 Staates 2tes Deutsches Reich 111 Milli Görüs 29, 32, 69, 72f Kommunismus 113f, 131, 133 Mohammed-Karikaturen 61, 109 Kommunistische Partei Deutschlands Moscheebau-Kommission e. V. 70 siehe KPD Mujahidin 30ff, 37f, 40, 45, 47, 49ff, 57, 65 Kongra Gel 161 Mujahidin-Netzwerke 31, 33 Konkurrenzausspähung 175, 181f Mursi, Muhammad 50, 66, 70ff Koordinierte Internetauswertung RechtsMuslimbruderschaft siehe MB extremismus siehe KIAR KPD 115 N Kritischer Marxismus 145 Nachrichtendienstliches InformationsKronjuwelen 184 system siehe NADIS Kurdische Frauenbewegung in Europa NADIS 20, 188, 190 siehe TJKE nashid 41 Kutan, Recai 73 Nasrallah, Hassan 36f Nationaldemokratische Partei Deutsch- L lands siehe NPD L., Maqsood 58 Nationale Jugendzentren 91 Landser 95 Nationalsozialismus 6, 76, 87, 94, 104 Legion of Thor 94f Nationalsozialistischer Untergrund Lies! 63 siehe NSU Luftsicherheitsgesetz siehe LuftSiG NEA 128, 131ff, 155f LuftSiG 179 Neonazis 74, 76f, 87ff, 96f, 105f, 129 Lunikoff & der Baron 94 Netzwerk "Freie Kräfte" 79, 85, 87ff, 97, 101, 103, 106 M Netzwerk Rechtsextremistische Musik Mahmoud, Mohamed 42 94, 96, 79 Marci & Kapelle" - auch: "Tätervolk" (TV) North East Antifascists siehe NEA siehe TV NPD 6, 76ff, 81f, 83, 85f, 88f, 93f, 96ff, Marxismus-Leninismus 114, 157f, 168 102ff, 128f, 148 Mash'al, Khaled 67 NSDAP 87 MB 30ff, 50, 66, 69ff NSU 23, 129, 134, 153 Medienstelle al-Malahim 52 nw-berlin.net 90 mg 139 militante gruppe siehe mg 208 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 O Revolutionäre Volksbefreiungsfront O., Yusuf 58 (DHKC) siehe DHKP-C Öcalan, Abdullah 160f, 165f Revolutionäre Volksbefreiungspartei ooc 119, 121,122f (DHKP) siehe DHKP-C Operaismus 145 Revolutionäre VolksbefreiungsparteiOpportunitätsprinzip 185 Front - DHKP-C siehe DHKP-C Out of Control siehe ooc Revolutionäre Zellen siehe RZ Outings 88, 126, 129 Revolutionärer 1. Mai 5ff, 121, 127ff, 149, 153, 156 P Rigaer 94 119, 140, 156 Parlamentsorientierter RechtsextremisRing Nationaler Frauen siehe RNF mus 76, 79f, 96 RNF 102 Partei der demokratischen Union Rote Armee Fraktion siehe RAF siehe PYD Rote Hilfe e.V. 117, 141, 142 Parteiverbotsverfahren 102, 104 Rouhs, Manfred 110 Pastörs, Udo 102, 104 Russische Föderation 182f PKK 159ff RZ 120 Politik der ersten Person 115 Politischer Salafismus 65 S Postautonome 116f, 143ff, 150, 153ff Saadet Partisi siehe SP Priebke, Erich 98 Salafismus 29ff, 37, 59, 60, 62, 64 Pro Deutschland 77, 108ff, 148 Sanli, Ecevit (Alisan) 167 Pro NRW 60f, 110 Sauerland-Gruppe 44, 57 Proliferation 175 Schmidtke, Sebastian 101f Punk Front 95 Schwarze Blöcke 143, 115, 154 PYD 34, 162f Scientology Organisation siehe SO Scientology siehe SO R Second Class Citizen 95 Rabi'a-Symbol 71f Seidensticker, Lars 108 RAF 115, 120 Seyam, Reda 42 Ramadan, Said 70 Sham-Center 40 RAZ 139 Silvio-Meier-Demonstration 148ff, 156 RBB 79, 111f Sluschba Wneschnei Raswedki siehe SWR RED 23 SO 25, 170ff, 212 Regener, Michael "Lunikoff" 95 Social Jihad 40 Reichsbürgerbewegung siehe RBB SP 73, 183 Revolutionäre Aktionszellen siehe RAZ Spionageabwehr 14, 21, 173, 175, 190f Personenund Sachregister 209 Stadtumstrukturierung 118, 126 Verein zur Rehabilitierung der wegen BeStilus Design GmbH 63 streitens des Holocaust Verfolgten Street Dawah 64 siehe VRBHV Subkulturell geprägte Rechtsextremisten Vereinigung der Neuen Weltsicht in Euro76f pa e. V. siehe AMGT SWR 173 Vogel, Pierre 64 Voigt, Udo 102, 104 T Volkskongress Kurdistans Tabligh-i Jama'at siehe TJ siehe Kongra Gel TAK 160 Volksrepublik China 182 Takfiri 37 Volksverteidigungseinheiten siehe YPG Taliban 30, 53, 57 Volksverteidigungskräfte siehe HPG Tätervolk siehe TV VRBHV 111 TerrorismusbekämpfungsergänzungsVSG Bln 15, 18ff, 176ff, 188 gesetz 20, 199 Vulkan Grimsvötn 135f Thiazi-Forum 96 Vulkangruppe Katla 135f TJ 64f TJKE 166 W Tsarnajew, Dschochar 43f, 52 Waisenkinderprojekt Libanon e. V. Tsarnajew, Tamerlan 43, 52 siehe WKP TV 95 Widerstand-Radio 96 Wir bleiben alle! 126, 156 U Wirtschaftsschutz 14, 181ff Ü, Gülaferit 169 Wirtschaftsspionage 175, 181, 182ff U., Arid 44 WKP 68f Ülkücü-Bewegung 158 Worch, Christian 105 Umarov, Doku 45 Union kurdischer Familien siehe YEK-MAL Y YDK 161 V YEK-KOM 166 Vandalen 95 YEK-MAL 166 Verband der Studierenden aus Kurdistan Yorum Kültür Evi e. V. 167f siehe YXK YPG 162ff, 166 Verbunddatei Rechtsextremismus YXK 165f siehe RED Z Zum Henker 91, 105, 129 210 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Bildernachweis Seite 5 Senatsverwaltung für Inneres und Sport Seite 36 picture alliance, AP Photo Seite 41 Ausschnitt aus einem Propagandavideo Seite 42 Ausschnitt aus einem Propagandavideo einer jihadistischen Internetseite Seite 53 Titelseite Inspire Seite 54 Titelseite Azan Seite 71 Logo Rabia Seite 81 oben: Logo der "Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf" Seite 81 unten: picture alliance, Geisler-Fotopress Seite 83 Flyer der "Bürgerinitiative Marzahn-Hellersdorf", Flyer der NPD Seite 85 picture alliance, Geisler-Fotopress Seite 86 Piktogramm der "Bürgerbewegung Hellersdorf" in einem sozialen Netzwerk Seite 88 picture alliance, Matthias Balk Seite 90 Bild der JN in einem sozialen Netzwerk Seite 91 Senatsverwaltung für Inneres und Sport Seite 94 Coverbild einer CD von "Lunikoff" Seite 98 picture alliance, Paul Zinken Seite 100 Senatsverwaltung für Inneres und Sport Seite 101 picture alliance, Geisler-Fotopress Seite 106 picture alliance, Jason Harrell Seite 107 Logo "Die Rechte" - Landesverband Berlin Seite 110 picture alliance, Florian Schuh Seite 116 Senatsverwaltung für Inneres und Sport Seite 119 Abbildung auf einer Internetseite mit linksextremistischen Inhalten Seite 122 Abbildung auf einer Internetseite mit linksextremistischen Inhalten Seite 124 Abbildung auf einer Internetseite mit linksextremistischen Inhalten Seite 125 Abbildung auf einer Internetseite mit linksextremistischen Inhalten Seite 128 Senatsverwaltung für Inneres und Sport Seite 130 oben: Senatsverwaltung für Inneres und Sport Seite 130 unten: Senatsverwaltung für Inneres und Sport Bildernachweis 211 Seite 132 Senatsverwaltung für Inneres und Sport Seite 135 picture alliance, Stephanie Pilick Seite 138 Landeskriminalamt Berlin Seite 139 Landeskriminalamt Berlin Seite 140 Abbildung auf einer Internetseite mit linksextremistischen Inhalten Seite 143 Abbildung auf einer Internetseite mit linksextremistischen Inhalten Seite 147 Senatsverwaltung für Inneres und Sport Seite 149 picture alliance, Hannibal Hanschke Seite 160 Internetseite der PKK Seite 161 PKK-Logos Seite 162 oben: Senatsverwaltung für Inneres und Sport Seite 162 unten links: Logo der PYD Seite 162 unten rechts: Logo der YPG Seite 163 PKK-nahe Internetseite Seite 164 oben: Internetseite der HPG Seite 164 mittig: Internetseite einer PKK-Jugendorganisation Seite 164 unten: picture alliance, Florian Schuh Seite 165 Logo der YXK Seite 166 picture alliance, Wolfgang Minich Seite 167 Logo des "Yorum Kültür Evi e.V." Seite 168 Logo der "Anatolischen Föderation e.V." Seite 169 Auftritt der DHKP-C in einem sozialen Netzwerk 212 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 Publikationsübersicht Reihe IM FOKUS Scientology - Eine kritische Bestandsaufnahme 1. Auflage, Berlin 2011. 83 Seiten. Zerrbilder von Islam und Demokratie 1. Auflage, Berlin 2011. 128 Seiten. Linke Gewalt in Berlin 1. Auflage, Berlin 2009. 84 Seiten. Rechte Gewalt in Berlin 2003 bis 2006 1. Auflage, Berlin 2007. 84 Seiten. Antisemitismus im extremistischen Spektrum Berlins 2. Auflage, Berlin 2006. 56 Seiten (nur im Internet abrufbar). Islamismus. Diskussion eines vielschichtigen Phänomens 2. Auflage, Berlin 2006. 116 Seiten (nur im Internet abrufbar). Rechtsextremistische Skinheads 1. Auflage, Berlin 2003. 86 Seiten (nur im Internet abrufbar). Publikationsübersicht 213 Reihe INFO Rechtsextremismus in Berlin 2. Auflage, Berlin 2014. 58 Seiten. Rechtsextremistische Musik 3. überarbeitete Auflage, Berlin 2012. 58 Seiten. Symbole und Kennzeichen des Rechtsextremismus 8. überarbeitete Auflage, Berlin 2011. 38 Seiten. Islamismus 3. Auflage, Berlin 2006. 42 Seiten. Sonstiges Verfassungsschutz - Nehmen Sie uns unter die Lupe 1. Auflage, Berlin 2002. 19 Seiten. Islamismus: Prävention und Deradikalisierung (DVD) 1. Auflage, Berlin 2011. 59 min. Diese sowie weitere Publikationen des Berliner Verfassungsschutzes können Sie unter der rückseitig angegebenen Adresse sowie telefonisch unter 030 90129-440 bestellen oder im Internet unter www.verfassungsschutz-berlin.de abrufen. Der Verfassungsschutz Berlin bietet zudem Vorträge zu den einzelnen Extremismusfeldern und zum Thema Spionage an. Nähere Informationen erhalten Sie ebenfalls unter 030 90129-440. 214 Verfassungsschutzbericht Berlin 2013 DER VERFASSUNGSSCHUTZ DIENT DEM SCHUTZ DER FREIHEITLICHEN DEMOKRATISCHEN GRUNDORDNUNG, DES BESTANDES UND DER SICHERHEIT DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND UND IHRER LÄNDER. Senatsverwaltung für Inneres und Sport Abteilung Verfassungsschutz Klosterstraße 47, 10179 Berlin Tel 030 90129-440 www.verfassungsschutz-berlin.de info@verfassungsschutz-berlin.de