Verfassungsschutzbericht 2012 4 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Erreichbarkeit Senatsverwaltung für Inneres und Sport Abteilung Verfassungsschutz Klosterstraße 47, 10179 Berlin Telefon 030 90129-440 Fax 030 90129-844 info@verfassungsschutz-berlin.de www.verfassungsschutz-berlin.de Pressestelle 030 90129-565 Vertrauliches Telefon 030 90129-400 Deutsch/Englisch 030 90129-401 Türkisch 030 90129-402 Arabisch Herausgeber Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Abteilung Verfassungsschutz Redaktionsschluss März 2013 Bildnachweis S. 5: Tobias Schulte Abdruck gegen Quellenangabe gestattet, Belegexemplar erbeten. Hinweis Dieser Verfassungsschutzbericht erwähnt nicht alle Beobachtungsobjekte des Berliner Verfassungsschutzes. Vorwort 5 Vorwort Die Diskussion über die zukünftige Ausrichtung des Verfassungsschutzes ist bundesweit in vollem Gang. Alle demokratischen Kräfte sind sich einig, dass wir einen modernen leistungsfähigen Verfassungsschutz brauchen, der in der Gesellschaft akzeptiert und fest verankert ist. Im Zusammenhang mit der rechtsextremen Terrorserie des Nationalsozialistischen Untergrunds ist Vertrauen verloren gegangen, auch gegenüber den Sicherheitsbehörden. Dieses Vertrauen muss zurück gewonnen werden. Notwendig ist nicht nur ein verbesserter Informationsaustausch zwischen den Ländern und dem Bund; wichtig ist auch, dass die Behörde als Ansprechpartner für Bürgerinnen und Bürger wahrgenommen wird. Der Berliner Verfassungsschutz war bereits in den vergangenen Jahren transparent und hat großen Wert auf die Öffentlichkeitsarbeit gelegt. Prävention und Aufklärung haben einen enorm hohen Stellenwert. Diesen Weg werden wir weiter gehen. Denn die Feinde unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung sind weiterhin aktiv und zum Teil gewaltbereiter und damit gefährlicher als in den Vorjahren. Wachsamkeit und Professionalität der Sicherheitsbehörden sind gleichermaßen gefragt. Die Situation im Phänomenbereich Rechtsextremismus hat sich im Jahr 2012 entscheidend geändert: Die Netzwerkstruktur der "Autonomen Nationalisten" hat sich zunehmend aufgelöst und ist mit dem Netzwerk der "Freien Kräfte" verschmolzen. Auch wenn das rechtsextreme Spektrum zahlenmäßig nicht wächst, die Aggressivität und Gewaltbereitschaft ist ungebrochen. Vor allem in der zweiten Jahreshälfte wurden Personen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren, eingeschüchtert und bedroht. Um die Strukturschwäche auszugleichen, ist die Zusammenarbeit der so genannten aktionsorientierten Rechtsextremisten mit der NPD ausgebaut worden. Hier besteht inzwischen eine wechselseitige Abhängigkeit. Ohne die Unterstützung von "Autonomen 6 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Nationalisten" und "Freien Kräften" wäre die Berliner NPD vermutlich schon in der Bedeutungslosigkeit versunken. So bleibt die Partei gefährlich. Berlin wird sich deshalb auch weiterhin für ein rechtssicheres NPD-Verbotsverfahren einsetzen. Wir halten hier an unserem Kurs fest. Im Bereich des Linksextremismus sind aktuell insbesondere die zum Teil brutalen Übergriffe von Kleingruppen oder Cliquen besorgniserregend. Der Fokus des Verfassungsschutzes richtet sich hier vor allem auf gewaltbereite Akteure, bei denen die Achtung vor Leib und Leben politischer Gegner oder Vertreter des Staates - vor allem Polizisten - immer mehr verlorengeht. Die Ausschreitungen rund um den Polizeikongress im Februar 2013 haben das in erschreckender Weise belegt. 2012 richteten sich die Taten von Linksextremisten auch gegen Wohnungsbauund Immobilienunternehmen. Es kam zu Einschüchterungsversuchen, Inbrandsetzungen von Firmenfahrzeugen und Beschädigung sanierter Gebäude. Im Bereich des Islamismus haben die Sicherheitsbehörden vor allem salafistische Strömungen im Auge: bundesweit und auch in Berlin sind die Zahlen erneut gestiegen. In der Hauptstadt zählen wir derzeit etwa 400 Salafisten, rund die Hälfte von ihnen gilt als gewaltorientiert. Wie gewaltbereit die Szene zum Teil ist, zeigte sich bei den Koranverteilungen im vergangenen Jahr. Die Aktionen in Berlin verliefen zwar größtenteils friedlich, aber in mehreren Städten in Nordrhein-Westfalen kam es zu brutalen Übergriffen auf die Polizei. Hintergrund dieser Gewalt waren Auseinandersetzungen zwischen Salafisten und der rechtsgerichteten Partei "Pro NRW". All diese Entwicklungen machen deutlich, dass wir einen starken Verfassungsschutz brauchen. Je genauer wir Rechtsextremisten, Linksextremisten und Islamisten im Blick haben, desto kleiner wird ihr Wirkungskreis. Je besser die Bürgerinnen und Bürger über die Feinde der Demokratie aufgeklärt sind, desto größer sind deren Nachwuchssorgen. Es ist unser Anspruch, den Extremisten in Berlin keinen Raum zur Entfaltung zu bieten und es ihnen ungemütlich zu machen. Frank Henkel Senator für Inneres und Sport Vorwort 7 8 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Inhaltsverzeichnis Vorwort 5 I Aktuelle Entwicklungen in den Beobachtungsfeldern 15 1 Transnationaler islamistischer Terrorismus 16 1.1 Personenpotenzial 16 1.2 Entwicklung im Überblick 17 1.3 Kern-"al-Qaida" 17 1.3.1 Unverändert geringe Schlagkraft der Kern-"al-Qaida" 18 1.3.2 Internetpropaganda auf hohem Niveau 19 1.3.3 Botschaften von Aiman al-Zawahiri 20 1.4 "Al-Qaida"-Regionalorganisationen 21 1.4.1 "Al-Shabab" verliert, "al-Qaida im islamischen Maghreb" gewinnt 21 1.4.2 "Al-Qaida im islamischen Maghreb" und "Boko Haram" 23 1.4.3 "Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel" 24 1.4.4 INSPIRE - das Magazin von "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" 26 1.5 Propaganda terroristischer Organisationen mit Deutschlandbezug 27 1.6 Die Gefährdungslage in Deutschland 29 1.6.1 Ausreisen deutscher Jihadisten nach Ägypten 29 1.6.2 Terroristische Bedrohungen 30 1.6.3 Exekutivmaßnahmen und Verurteilungen 31 2 Salafistische Bestrebungen 34 2.1 Personenpotenzial 34 2.2 Koranverteilung 34 2.3 Ausschreitungen gewaltbereiter Salafisten 35 Inhaltsverzeichnis 9 2.4 Reaktionen auf islamfeindliche Propaganda 37 2.4.1 Yassin C. ruft zur Tötung von Muhammad-Beleidigern auf 38 2.4.2 Aufforderung zu Solidarität 39 2.4.3 Abu Assad al-Almani: gleiche Behandlung für Prophetenbeleidiger wie für feindliche Kämpfer 40 2.5 Verbot von "Millatu-Ibrahim" 41 2.6 Propaganda von Denis C. 43 3 Aktuelle Entwicklungen - Regional gewaltausübende und gewaltbefürwortende islamistische Gruppen 45 3.1 Personenpotenzial 45 3.2 Kurz notiert: HAMAS profitiert vom "Arabischen Frühling" 46 4 Rechtsextremismus 48 4.1 Personenpotenzial und Straftaten 48 4.2 "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) 51 4.3 Aktionsorientierter Rechtsextremismus 53 4.3.1 Netzwerk "Freie Kräfte" formiert sich neu 53 4.3.2 Netzwerk "Rechtsextremistische Musik" ohne neue Impulse 68 4.4 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus 75 4.4.1 Talfahrt der NPD hält an 75 4.4.2 Berliner NPD als "Juniorpartner" des Netzwerkes "Freie Kräfte" 81 4.5 Sonstige rechtsextremistische Aktivitäten 91 4.5.1 Islamfeindlichkeit 91 4.5.2 Volksverhetzung durch "Reichsbewegung" 94 5 Linksextremismus 96 5.1 Personenpotenzial und Straftaten 96 5.2 Linksextremistische Strafund Gewalttaten: Absichten und Hintergründe 98 5.2.1 Symbolische Straftaten 99 5.2.2 Sabotierende Straftaten 102 5.2.3 Konfrontative Straftaten 105 10 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 5.2.4 Aufwiegelnde Straftaten 110 5.2.5 Anspruch und Wirklichkeit 115 5.3 Die gewaltbereite linksextremistische Szene: Strukturen und Akteure 116 5.3.1 Autonome gegen Faschismus 119 5.3.2 Autonome gegen Repression 124 5.3.3 Autonome gegen Umstrukturierung 129 5.3.4 Postautonome 134 6 Extremistische Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 139 6.1 Personenpotenzial 139 6.2 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) 139 6.2.1 Hungerstreik der PKK-Anhänger 140 6.2.2 Einjährige Isolation Öcalans 142 6.2.3 Zweite Hungerstreikphase 143 6.2.4 Ausschreitungen beim "Kurdischen Kulturfestival" 144 6.2.5 Hoher Verfolgungsdruck auf Gewalttäter und Führungskader 145 6.2.6 Propagandaeinrichtungen der PKK weiterhin im Fokus 147 6.2.7 Zunahme der Kämpfe in der Türkei 148 6.2.8 Entwicklung im Irak und in Syrien vergrößert den Einfluss der PKK 149 6.2.9 Kampagne zur Anerkennung der kurdischen Identität 150 7 "Scientology Organisation" (SO) 151 8 Spionageabwehr 154 9 Geheimund Sabotageschutz 157 9.1 Personeller und materieller Geheimschutz 158 9.2 Geheimschutz in der Wirtschaft 160 9.3 Sabotageschutz 163 9.4 Mitwirkungsangelegenheiten 163 10 Wirtschaftsschutz 168 Inhaltsverzeichnis 11 II Hintergrundinformationen 179 1 Ideologien 180 1.1 Definition Extremismus 180 1.2 Islamistische Ideologie 181 1.3 Ideologie des Rechtsextremismus 184 1.4 Ideologie des Linksextremismus 185 2 Transnationaler islamistischer Terrorismus 188 2.1.1 "Al-Qaida" und "Mujahidin-Netzwerke" 188 2.1.2 "Ansar al-Islam" ("Anhänger des Islam") 192 3 Salafistische Bestrebungen 194 4 Regional gewaltausübende Islamisten 198 4.1.1 "Hizb Allah" ("Partei Gottes") 198 4.1.2 "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS) 200 5 Gewaltbefürwortende Islamisten 202 5.1.1 "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung") 202 6 Legalistische Islamisten 204 6.1.1 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." 204 6.1.2 "Muslimbruderschaft" / "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." 209 7 Sonstige Islamisten 213 7.1.1 "Tabligh-i Jama'at" / "Jama'at-i Tabligh" ("Gemeinschaft der Verkündigung und Mission") 213 8 Rechtsextremismus 215 8.1 Aktionsorientierter Rechtsextremismus 215 8.1.1 Netzwerk "Freie Kräfte" (vorm. Netzwerk Kameradschaften) 215 8.1.2 "Autonome Nationalisten" 215 12 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 8.1.3 Neonazis 216 8.1.4 Skinheads 217 8.1.5 Rechtsextremistische Musik 217 8.2 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus 219 8.2.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" 219 9 Linksextremismus 224 9.1 Aktionsorientierter Linksextremismus 224 9.1.1 Autonome 224 9.1.2 "Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin" 225 9.1.3 "North-East Antifascists" 226 9.1.4 "Antifaschistische Linke Berlin" 227 9.1.5 "Anarchist Black Cross Berlin" 228 9.1.6 "Out of Control" 228 9.1.7 "Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen" 229 9.1.8 "Zusammen Kämpfen! Berlin" 230 9.1.9 "Rote Hilfe e.V." 231 9.1.10 "Wir bleiben alle!" 232 9.1.11 "Rigaer 94" 232 9.2 Parlamentsorientierter Linksextremismus 233 9.2.1 "Deutsche Kommunistische Partei" 233 9.2.2 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" 234 10 Extremistische Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 236 10.1 Kurdische Extremisten 236 10.1.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" ("Partiya Karkeren Kurdistan") 236 10.2 Türkische Extremisten 238 10.2.1 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" 238 11 "Scientology Organisation" (SO) 240 Inhaltsverzeichnis 13 III Verfassungsschutz Berlin 243 1 Struktur 244 2 Gesetzliche Grundlagen 245 2.1 Aufgaben und Befugnisse 245 2.2 Entwicklungen in der Rechtsprechung und Gesetzesnovellierungen 245 2.3 Kontrolle 247 3 Arbeitsweise 248 4 Für Bürger und Politik: Die Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes 253 IV Anhang 257 1 Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin 258 2 Register 270 3 Publikationsübersicht 275 14 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 I Aktuelle Entwicklungen in den Beobachtungsfeldern 16 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 1 Transnationaler islamistischer Terrorismus 1.1 Personenpotenzial Transnationale terroristische Netzwerke wie "al-Qaida" bzw. "Mujahidin-Netzwerke", "Ansar al-Islam" (AAI) oder das "Islamische Emirat Kaukasus" sind äußerst klandestin, haben unterschiedlich ausgeprägte Organisationsstrukturen und sind teilweise untereinander vernetzt. "Al-Qaida" und "al-Qaida"-nahe Netzwerke wirken allerdings nicht allein über ihre Strukturen. So "inspiriert" "al-Qaida" unabhängige Kleingruppen oder Einzeltäter mit jihadistischem Gedankengut, radikalisiert diese in immer kürzer werdenden Zeiträumen und liefert vermeintlich ideologische Begründungen für Anschläge. Ein zentrales Propagandainstrument ist dabei das Internet. Das Personenpotenzial jihadistischer Netzwerke in Deutschland ist quantitativ kaum zu erfassen. Den Sicherheitsbehörden des Bundes liegen derzeit Informationen zu insgesamt ca. 230 Personen mit Deutschlandbezug und islamistisch-terroristischem Hintergrund vor, die seit Beginn der 90er Jahre eine paramilitärische Ausbildung erhalten haben sollen bzw. eine solche beabsichtigen. Personenpotenzial Transnationaler islamistischer Terrorismus Berlin Bund 2011 2012 2011 2012 Gesamt* (soweit statistisch erfassbar) 50 50 500 500 Transnationale Terrornetzwerke, davon al-Qaida / Keine geKeine geKeine geKeine geMujahidin-Netzwerke / sicherten sicherten sicherten sicherten Ansar al-Islam etc. Zahlen Zahlen Zahlen Zahlen Islamisches Emirat Kaukasus 50 50 500 500 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. Aktuelle Entwicklungen - Transnationaler islamistischer Terrorismus 17 1.2 Entwicklung im Überblick 1 2012 mussten Kern-"al-Qaida" und die Regionalableger des TerrorGefährdung durch "al-Qaida" und ihrer netzwerks durch gezielte Tötungen hochrangiger Anführer deutliRegionalorganisation che Verluste hinnehmen. Diese konnten von den Organisationen bislang weitgehend kompensiert werden. So geht von Kern-"alQaida" und ihren regionalen Ablegern nach wie vor eine Bedrohung westlicher Staaten sowie ihrer Bürger und Interessen im Ausland aus. Den Regionalorganisationen "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) im Jemen, "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM) in Mali, "Boko Haram" in Nigeria und der "al-Shabab"-Miliz in Somalia gelang es, die Schwäche dortiger staatlicher Sicherheitsorgane zu nutzen und durch Terror eigene Strukturen zu etablieren. In Syrien sind "al-Qaida"-nahe Jihadisten die gewalttätigsten Akteure unter den bewaffneten Widerstandsgruppen. Deutschland zählt unverändert zu den westlichen Staaten, die sich Deutschland weiterhin im Zielspektrum im Fokus des islamistischen Terrorismus befinden. Die Gefahr eines Anschlags in Deutschland durch von der Ideologie der "al-Qaida" inspirierte radikalisierte Einzelpersonen oder Gruppen besteht weiter fort. 2012 nahmen Ausreisen von Jihadisten nach Ägypten und NordAusreisen von Jihadisten nach Nordafrika afrika deutlich zu. Der Machtzuwachs von Islamisten in Ägypten sowie Veränderungen der dortigen Sicherheitsarchitektur machen das Land derzeit zur Drehscheibe für eine Weiterreise in jihadistische Kampfgebiete in Nordafrika. 1.3 Kern-"al-Qaida" Das Terrornetzwerk "al-Qaida" ist von den 2011 einsetzenden "al-Qaida" vom "Arabischen Frühling" politischen Umwälzungen des "Arabischen Frühlings" überrascht überrascht worden. "Al-Qaida" hatte stets behauptet, dass die aus ihrer Sicht "unislamisch" regierenden Herrscher im Vorderen Orient allein durch den bewaffneten Kampf zu stürzen seien. Dagegen verlief der Umsturz in Tunesien und Ägypten weitgehend friedlich. Träger des "Arabischen Frühlings" waren überwiegend säkulare, demokratisch gesinnte Bevölkerungsteile, denen es um die Schaffung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit geht, nicht um ein islamisti- 18 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 sches Staatswesen nach den Vorstellungen von "al-Qaida". Für die Demonstranten war die Ideologie des transnationalen Terrorismus von "al-Qaida" ohne Bedeutung. Im strategischen Kontext hat "alQaida" eine Niederlage erlitten, gleichwohl wäre es verfrüht, die Organisation als bedeutungslos zu bezeichnen. Durch ihre immer wieder zu beobachtende Reorganisationsfähigkeit ist es "al-Qaida" sukzessive gelungen, die ursprüngliche Sprachlosigkeit gegenüber den Veränderungen in der arabischen Welt zu überwinden und diese Veränderungen zumindest im Nachhinein propagandistisch zu verwerten. 1.3.1 Unverändert geringe Schlagkraft der Kern-"al-Qaida" Todesfälle in der FühAuch 2012 gelang es der im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet rungsriege schwächen "al-Qaida" ansässigen Führung von Kern-"al-Qaida" nicht, Anschläge in westlichen Ländern durchzuführen. Der Führungszirkel des Terrornetzwerks wurde 2012 durch eine Reihe von Todesfällen geschwächt, sei es durch gezielte Tötungen oder durch Unfälle. Mehrfach waren die seit Jahren bestehenden Bemühungen der Kern-"al-Qaida" erfolgreich, Jihadisten mit Bezügen zu westlichen Staaten anzuwerben, in Terrorlagern auszubilden und mit Anschlagsplanungen in ihre westlichen Bezugsstaaten zurückzusenden. Seit den Anschlägen von London 2005 scheiterten Anschläge in Deutschland oder konnten vereitelt werden. Der Prozess gegen die "Düsseldorfer Zelle"1 belegt deutlich das aus deutscher Sicht mögliche Gefährdungspotenzial. Der Anführer und Rekruteur der Gruppe hatte über direkte Kontakte zur "al-Qaida"-Führung verfügt und seine Vorgehensweise abgestimmt. Für eine weiterhin bestehende Gefährdung westlicher Interessen spricht hingegen die Verwicklung von Kern-"al-Qaida" in die Entführung eines US-amerikanischen Entwicklungshelfers im August 2011 in Pakistan, für die der Anführer von "al-Qaida", Aiman alZawahiri, in einer Videobotschaft die Verantwortung übernahm. 1 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 30 f. Aktuelle Entwicklungen - Transnationaler islamistischer Terrorismus 19 Im Mai 2012 wurde das Führungsmitglied der "al-Qaida" in Afghanistan, Sakhr al-Taifi, durch einen Angriff der Schutztruppe ISAF in 1 Ostafghanistan getötet. Al-Taifi galt als Waffenbeschaffer und pendelte zwischen Pakistan und Afghanistan. Im Juni 2012 wurde der stellvertretende Führer der Kern-"al-Qaida", Abu Yahya al-Libi, bei einem Angriff durch eine Drohne im pakistanischen Nord-Waziristan getötet. In einer Videobotschaft hatte Zawahiri seinen Tod bestätigt und zu Racheaktionen aufgerufen. Im Dezember starb das Mitglied der Kern-"al-Qaida"-Führung, Abu Zaid al-Kuwaiti, durch den Angriff einer Drohne in Pakistan. Abu Zaid al-Kuwaiti galt als möglicher Nachfolger von Abu Yahya al-Libi und war unter Jihadisten wegen seiner "Ramadan-Vorlesungen" im Internet bekannt. Exemplarisch für die gegen westliche Interessen gerichtete SchlagAnschlag auf USKonsulat in Bengasi / kraft auch formal nicht mit Kern-"al-Qaida" assoziierter Jihadisten Libyen ist der Angriff auf das US-Konsulat im libyschen Bengasi am 11. September. Dabei wurden vier US-Diplomaten getötet, darunter der US-Botschafter. Die Ermittlungen offenbarten, dass die Proteste gegen den Schmähfilm "Unschuld der Muslime"2 von mehreren Dutzend schwer Bewaffneter gezielt für den Angriff ausgenutzt wurden. Obgleich die genauen Tathintergründe bislang unklar sind, gilt es als wahrscheinlich, dass es sich bei dem Angriff um einen Racheakt für die Tötung von Fahd al-Quso handelt, einem Führungsmitglied des jemenitischen "al-Qaida"-Zweigs. 1.3.2 Internetpropaganda auf hohem Niveau Jihadistische Propaganda ist ein wichtiges Instrument der transnaInternet als Propagandaplattform tionalen Terroristen. Sie dient primär der Verbreitung jihadistischer Ideologie und der Information ihrer Anhänger, z.B. auch über getötete Kämpfer und Anführer. Sekundär, jedoch unter Gefährdungs- 2 Die Veröffentlichung eines islamfeindlichen Videos mit dem Titel "Innocence of Muslims" führte zu massiven gewaltsamen Protesten und Botschaftserstürmungen in zahlreichen muslimischen Ländern, darunter in Nordafrika, auf der Arabischen Halbinsel, aber auch in Zentralasien und im Fernen Osten. Bei dem Video handelt es sich um Ausschnitte aus einem mehr als einstündigen Film, der den Propheten Muhammad als Homosexuellen und Pädophilen diffamiert. Der Film wurde mutmaßlich von einem in den USA lebenden Kopten hergestellt. Die Ausschreitungen nahmen am 11. September 2012 in Kairo ihren Ausgang. 20 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 aspekten zentral, ist die Bedeutung des Internets als Plattform für den Informationsaustausch über Rekrutierungen, Reisebewegungen und Anschlagsplanungen. In den vergangenen Jahren wurde ein weitgespanntes Geflecht jihadistischer Internetseiten aufgebaut, teils mit unmittelbarer Anbindung an Kern-"al-Qaida" bzw. ihre regionalen Ableger, teils betrieben von eigenständigen Gruppierungen oder virtuellen Netzwerken jihadistischer Internetaktivisten. Insbesondere die eigens von Terrornetzwerken eingerichteten "Mediendienste" erstellen Inhalte selbst oder bereiten zugelieferte Materialien zu Propagandabotschaften auf. Mehrheitlich handelt es sich um Videoverlautbarungen, seltener um Textbotschaften, die oft mit verschiedensprachigen Untertiteln bzw. in mehreren Übersetzungen erscheinen. Jihadistische Webseiten und Foren greifen auf die Inhalte dieser "Mediendienste" zu und bieten sie weltweit an. Oft folgen zeitnah Untertitelungen und Übersetzungen in weiteren Sprachen, was die Reichweite der Propagandabotschaften nochmals erhöht. 1.3.3 Botschaften von Aiman al-Zawahiri 2012 wurden ca. ein Dutzend Videobotschaften von Aiman alZawahiri bekannt. Mit der Zunahme seiner Propagandabotschaften dominiert der Führer der Kern-"al-Qaida" die Propaganda des Terrornetzwerks. Entführungen und FreiSo erschien im September eine 42-minütige Videobotschaft, in pressungsversuche der Zawahiri den Tod des Mitglieds der "al-Qaida"-Führung Abu Yahya al-Libi im Juni in Pakistan bestätigte und betonte, dass eine von der "al-Qaida"-Führung festgehaltene US-Geisel erst dann freikomme, wenn Aafia Siddiqi und Omar Abd ar-Rahman aus US-Haft entlassen würden. Im Oktober erschienen zwei weitere Botschaften. In der ersten nahm Zawahiri Bezug auf den Schmähfilm "Unschuld der Muslime". Er rief zu Protesten vor US-amerikanischen Botschaften auf und betonte, der Film sei ein Beweis für den "zionistischen Kreuzzug" der USA. Aktuelle Entwicklungen - Transnationaler islamistischer Terrorismus 21 In einer weiteren Botschaft im Oktober nahm er Bezug auf die gegenwärtige Lage in Ägypten. Der aktuelle Präsident Mursi sei 1 korrupt, es gelte jetzt, die "abgebrochene Revolution zu vollenden". Dies bedeute, die Scharia einzuführen, sich von den USA zu befreien und einen Sieg der Palästinenser über Israel zu unterstützen. Die Botschaft gipfelt in der Aufforderung, Bürger westlicher Länder, denen er einen "Krieg gegen die Muslime" vorwarf, zu entführen. Im Juni 2012 erschien über das "al-Fajr"-Medienzentrum von "alWerbung um weibliche Jihadisten Qaida" die achtseitige Textbotschaft "Brief an die muslimische Schwester", die von "Umayma Hasan", Ehefrau des "al-Qaida"Führers Zawahiri, verfasst sein soll. Darin fordert sie die Frauen in den Ländern des "Arabischen Frühlings" auf, diese "Freiheitschance" zu nutzen, um ihre Männer im Jihad zu unterstützen. Der Text ist mindestens die zweite Botschaft von "Umayma Hasan" seit 2010, der einzigen Frau eines hochrangigen "al-Qaida"-Führers, deren Propagandabotschaften in jihadistischen Foren ein breites Echo finden. 1.4 "Al-Qaida"-Regionalorganisationen 1.4.1 "Al-Shabab" verliert, "al-Qaida im islamischen Maghreb" gewinnt Die somalische Jihadistengruppe "Bewegung der Mujahidin-Ju"al-Shabab" erweist "alQaida" Treuebezeugung gend" (arab. "Harakat al-Shabab al-Mujahidin", kurz "al-Shabab") entspringt dem militanten Flügel der "Union islamischer Gerichte", einer Dachorganisation von Islamisten im somalischen Bürgerkrieg. Im Februar 2012 erfuhr die "al-Shabab"-Miliz in Somalia zunächst eine deutliche Aufwertung, als der "al-Qaida"-Führer Zawahiri die ihm von der Miliz angebotene Treuebezeugung annahm und die "al-Shabab" damit zu einer festen Regionalorganisation ("al-Qaida in Ostafrika") des Terrornetzwerks wurde. Militärisch wurde "al-Shabab" im Jahr 2012 hingegen geschwächt, nachdem es einer Eingreiftruppe der Afrikanischen Union im September gelang, die bisherige "al-Shabab"-Hochburg Kismayo im Süden Somalias einzunehmen und von der Miliz zu befreien. 22 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Jihadisten aus DeutschTrotz Unstimmigkeiten innerhalb der "al-Shabab" über den Einland und Europa bei "al-Shabab" satz ausländischer Kämpfer, die die Anziehungskraft der Organisation gemindert haben, ließ sich seit 2011 eine zunehmende Beteiligung von Jihadisten aus Deutschland und weiteren europäischen Ländern an der Miliz feststellen. Der Zustrom von Jihadisten nach Somalia ist darauf zurückzuführen, dass die Region Waziristan im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet immer schwerer zugänglich ist und als gefährlich gilt. Verhaftung von Emrah Im Juni 2012 wurde Emrah E. in Tansania verhaftet und wenig E. und Ahmed Khaled M. später nach Deutschland überstellt. Der Deutsche mit türkischen Wurzeln wurde seit 2010 gesucht, weil er sich in Waziristan "alQaida" angeschlossen haben und an Waffen ausgebildet worden sein soll. In Kenia wurde er auch der Zugehörigkeit zur "al-Shabab" verdächtigt. Seit Mai 2012 wird auch der Deutsche Ahmed Khaled M. von der kenianischen Polizei gesucht, da er am 29. April als Kämpfer der "al-Shabab" am Angriff auf eine Kirche unweit von Nairobi beteiligt gewesen sein soll, bei dem zwei Menschen getötet und 15 verletzt worden waren. Kurz darauf gelang die Festnahme des Begleiters von Ahmed Khaled M., des 19-jährigen Majid N., der als Flüchtling jordanischer Herkunft im schweizerischen Biel ein Gymnasium besuchte. Zuvor waren weitere Jihadisten aus Europa in Ostafrika festgesetzt worden, darunter bereits 2010 der Deutsche Sascha Alessandro B. und ein Brite. "al-Qaida im islamiDen größten Bedeutungszuwachs der "al-Qaida"-Regionalorgaschen Maghreb" nisationen erlangte "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM). Die Organisation war aus der algerischen "Groupe Salafiste pour la Predication et le Combat" (GSPC) hervorgegangen und hatte 2007 ihren Anschluss an "al-Qaida" verkündet. Mit der Umbenennung in "al-Qaida im islamischen Maghreb" sowie der Übernahme der Anschlagsmethoden von Kern-"al-Qaida" unterstrich AQM ihre stärkere internationale Ausrichtung. Seitdem ist die Organisation der zentrale Gewaltakteur in der Region. 2012 konnte AQM den "Arabischen Frühling" in Nordafrika und insbesondere die Wirren des libyschen Bürgerkrieges dazu nutzen, sich strukturell zu stärken und ihren Wirkungsraum im östlichen Sahel-Raum auszuweiten. Aktuelle Entwicklungen - Transnationaler islamistischer Terrorismus 23 Die AQM beteiligte sich zunächst am Sezessionskampf der TuBeteiligung an Regionalareg in Mali, in dessen Folge in den drei Nordprovinzen das unkonflikten 1 abhängige Territorium Azawad proklamiert wurde. Anschließend verdrängten die Jihadisten die Tuareg jedoch und kontrollieren Azawad gemeinsam mit weiteren Gruppen. Hierzu zählen die "Bewegung für [Allahs] Tauhid und Jihad in Westafrika" (MUJAO), eine Abspaltung der AQM, die sich als regionales Sammelbecken von Jihadisten aus Zentralund Westafrika etablierte, sowie eine Bewegung jihadistischer Tuareg, die sich unter dem Namen "Ansar al-Din" ("Verteidiger der Religion [Islam]") organisierte. AQM und MUJAO führten das islamische Recht (Scharia) in Azawad ein und unterdrücken die Zivilbevölkerung mit willkürlichen Gesetzen. In Timbuktu kam es zur Zerstörung von Stätten des Weltkulturerbes. Zu den Finanzierungsstrategien beider Gruppen gehören auch Geiselnahmen und Freipressungsversuche. Ende 2012 befanden sich etwa zehn Europäer in Geiselhaft der AQM, darunter sechs Franzosen; die MUJAO hält mindestens drei Algerier gefangen. Um den Zerfall staatlicher Strukturen und dessen Folgen zu begrenzen, intervenierten am 11. Januar 2013 Truppen Frankreichs, des Tschad und Nigers in Mali. Ziel des Militäreinsatzes ist es, in dem Land Menschenrechtsverletzungen gegenüber der Zivilbevölkerung und die Entstehung jihadistischer Rückzugsräume, insbesondere der AQM, zu unterbinden. 1.4.2 "Al-Qaida im islamischen Maghreb" und "Boko Haram" Ein weiterer jihadistischer Akteur ist die 2004 erstmals bekannt Jihadisten in Nigeria gewordene Bewegung "Boko Haram",3 deren Entstehen eine Folge der zunehmenden Islamisierung Nigerias ist. Die genaue Organisationsbezeichnung lautet "Gemeinschaft der Anhänger der Sunna [des Propheten] für [islamische] Mission und Jihad" ("Jama'at ahl al-sunna lil-da'wa wal-jihad"). 3 Der Kurzname "Boko Haram" bedeutet in der Übersetzung "Lateinschrift ist verboten". Lateinschrift steht hierbei für westliche bzw. christliche Bildung, die die Organisation zu verbieten sucht. 24 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Die Bewegung, die formal nicht zum Netzwerk der "al-Qaida"Organisationen gehört, verübt in Nordnigeria seit Jahren eine Vielzahl schwerster Anschläge, die Hunderte Tote und Verletzte zur Folge haben. Die Anschläge sind vor allem gegen Kirchen und christliche Einrichtungen, Polizeigebäude und Medien, aber auch gegen die muslimische und christliche Zivilbevölkerung gerichtet. Seit 2009 wurden durch "Boko Haram" mindestens sieben Ausländer in Westafrika Opfer von Jihadisten. Im März 2012 kamen in Nordnigeria ein Italiener und ein Brite bei einem gescheiterten Befreiungsversuch zu Tode. Entführung eines Anfang 2012 wurde ein deutscher Ingenieur im Norden Nigerias Deutschen entführt. Im März übernahm "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM) die Verantwortung für die Entführung und forderte u.a. die Freilassung der in Deutschland inhaftierten Ehefrau des Anführers der "Sauerland-Zelle" Filiz G., die wegen jihadistischer Propaganda und Unterstützung einer Terrororganisation verurteilt worden war.4 Bei einer Operation der nigerianischen Armee gegen mutmaßliche Jihadisten der "Boko Haram" im Norden des Landes kam die deutsche Geisel Ende Mai ums Leben. Der Ort der Entführung, die Drohbotschaften der AQM und die Todesumstände des deutschen Ingenieurs sprechen für ein arbeitsteiliges Vorgehen beider Terrororganisationen. 1.4.3 "Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" "al-Qaida" im Jemen In den vergangenen Jahren hat "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) zunehmend stärkere Strukturen aufbauen können. AQAH war 2010 durch den Zusammenschluss der "al-Qaida im Jemen" und der saudischen "al-Qaida"-Zelle entstanden. Die Organisation entwickelte sich bald zu einer schlagkräftigen Terrororganisation, die ihre Aktionen nicht auf die arabische Halbinsel beschränkte. 4 Filiz G. war mehrfach Thema jihadistischer Internetbotschaften, in denen behauptet wurde, sie werde in deutscher Haft gefoltert. Zu den Hintermännern dieser Verleumdungskampagne zählt auch der inzwischen festgenommene Mohamed M., Anführer des in Deutschland verbotenen Netzwerks "Millatu-Ibrahim". Aktuelle Entwicklungen - Transnationaler islamistischer Terrorismus 25 In mehreren jemenitischen Regionen gelang es der AQAH, ein lokales Sicherheitsvakuum auszunutzen und dort "islamistische 1 Kleinstaaten" zu gründen, die sie als "Emirate" bezeichnet. Dies gelang teilweise mit Unterstützung von Kern-"al-Qaida" nahe stehenden jihadistischen Rebellengruppen. In den "Emiraten" der südjemenitischen Provinzen Abyan und Shabwa wurde das islamische Strafrecht eingeführt; eine Tugendpolizei zwingt der Bevölkerung die rigiden gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Jihadisten auf. Nachdem die Stadt Dschaar in der Provinz Abyan im Juni vom jemenitischen Militär zurückerobert werden konnte, kehrten mehrere Zehntausend Flüchtlinge in eine weitgehend zerstörte Infrastruktur zurück. Zahlreiche Anschläge der AQAH töteten im Jemen hunderte Menschen, darunter Politiker, Militärangehörige, Polizisten und Zivilisten. Der AQAH gelangen dabei mehrfach Angriffe auf Regierungsgebäude. Auch die nur noch wenigen westlichen Ausländer im Jemen wurWestliche Ausländer als Anschlagsziele den wiederholt zum Ziel von Anschlägen und Entführungen, sei es durch die AQAH selbst oder durch mit "al-Qaida" assoziierte Jihadistengruppen. Ein im Januar entführter Entwicklungshelfer wurde bereits Tage später gemeinsam mit fünf Mitarbeitern der Vereinten Nationen freigelassen. Im März wurde ein US-amerikanischer Lehrer in der Stadt Taizz von Attentätern erschossen. Im Juli wurde ein französischer Mitarbeiter des "Internationalen Komitees vom Roten Kreuz" freigelassen, der im April entführt worden war. Noch in Geiselhaft befindet sich eine Lehrerin aus der Schweiz. Der Führung der AQAH wurden 2012 schwere Verluste zugefügt. Todesfälle im Führungszirkel So wurde Tariq al-Dhahab, Führungsmitglied der AQAH, bei Claninternen Streitigkeiten im Südjemen getötet. Im März verstarb das Mitglied der AQAH-Führung, Muhammad al-Hank, an einer Krankheit. Im Mai 2012 wurde Fahd al-Quso in der Provinz Shabwa getötet. Al-Quso galt als Mitglied der AQAH-Führung und soll 2000 an dem Angriff auf das US-Kriegsschiff "USS Cole" in der Hafenstadt Aden beteiligt gewesen sein. Bislang konnte AQAH personelle Verluste ausgleichen, sich restrukturieren und Handlungsfähigkeit zeigen. 26 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 1.4.4 INSPIRE - das Magazin von "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" "INSPIRE" befördert Das durch den Medienableger von "al-Qaida auf der Arabischen Radikalisierung Halbinsel" produzierte englischsprachige Jihad-Magazin "INSPIRE" zählt unverändert zu den wichtigsten Internetmagazinen, die eine Radikalisierung insbesondere von Islamisten in Europa befördern. Mehrere Sicherheitsvorfälle allein in Deutschland, bei denen Jihadisten aus "INSPIRE" Anleitungen zum Bau von Sprengsätzen bezogen, scheinen zu belegen, dass die älteren Ausgaben des Magazins für Anschlagsplanungen von größerer Bedeutung waren als die Ausgaben 2012. Zeitgleiches Erscheinen der Ausgaben acht und neun täuscht Kontinuität vor Tod von Redakteuren Im Mai erschienen zeitgleich die Ausgaben acht und neun des Internetmagazins "INSPIRE". Nach dem Tod der beiden führenden Redakteure Khan und Aulaqi 2011 durch den Angriff einer Drohne scheint 2012 Yahya Ibrahim der einzige Vertreter der "alten Redaktion" zu sein. Im Editorial der Ausgabe neun adressiert Ibrahim die USA und behauptet, dass die Reaktion der Online-Community auf die Tötung der Redakteure dazu beitragen werde, an den Zielen des Magazins festzuhalten: "Es wird ihnen [den USA] missfallen, zu hören, dass wir mit E-Mails und Anfragen von jungen erwachten Muslimen überschwemmt wurden, die beharrlich ihre Hilfe anbieten, nicht nur verstandesmäßig, sondern [praktisch] mit dem was immer die Mujahidin im Westen brauchen. (...) Dieses Magazin wurde gegründet, um zwei Zielsetzungen zu verfolgen. Die erste ist, in der englischsprachigen Welt zum Jihad aufzurufen (...). Die zweite ist, jedem [vom Jihad] beseelten Muslim überall auf der Welt das Know-how für die Ausführung von Anschlägen inmitten des Westens bereit zu stellen. INSPIRE ist und bleibt ein effektives Werkzeug (...), solange es die genannten Zielsetzungen verfolgt. Deshalb (...) veröffentlichen wir weiter Amerikas schlimmsten Albtraum."5 5 Vgl. INSPIRE, Nr. 9. S. 4, Online-Text 3.5.2012, aus dem Englischen. Aktuelle Entwicklungen - Transnationaler islamistischer Terrorismus 27 Operativer Strategiewechsel in Ausgabe neun Auffällig ist ein operativer Strategiewechsel in Ausgabe neun. In "Militärisches Komitee" 1 will Anschlagsziele der mit "Der Konvoi der Märtyrer - Steh auf und schließ dich uns zuweisen an" betitelten Ausgabe fordert "INSPIRE" radikalisierte Muslime erstmals auf, ein "Militärisches Komitee" zu kontaktieren und dabei persönliche Informationen - auch zu Reisepässen - preiszugeben; das Komitee würde dem "Bewerber" dann ein geeignetes Anschlagsziel zuweisen. Im Kampf gegen den so genannten "nahen Feind" sowie den "fernen Feind" benennt "INSPIRE" folgende Anschlagsziele: erstens "Persönlichkeiten, die sich im Krieg gegen den Islam und die Muslime befinden", zweitens "wirtschaftliche Ziele im Besitz der Feinde", drittens "militärische Ziele im Besitz der Feinde" sowie viertens "Medienziele im Besitz der Feinde". Ferner priorisiert das Jihadisten-Magazin seine Angriffsziele nach US-amerikanischen, israelischen, französischen und britischen Zielen. Erst hierauf folgt die Bekämpfung so genannter "Apostatenregime in islamischen Ländern"6. 1.5 Propaganda terroristischer Organisationen mit Deutschlandbezug Im Gesamtbild transnationaler jihadistischer Propaganda mit Anschlagsdrohungen gegen Deutschland Deutschlandbezügen sind 2012 verschiedene Tendenzen feststellbar. 2012 gab es, wie bereits 2010, direkte Anschlagsdrohungen gegen die Bundesrepublik. In der Propaganda deutscher Jihadisten im Ausland dominieren wie schon in den beiden Vorjahren die im Namen der "Islamischen Bewegung Usbekistan" (IBU) veröffentlichten deutschsprachigen Internetbotschaften der Bonner Brüder Mounir und Yassin C. Dem gegenüber wurden keine Botschaften der "Deutschen Taliban Mujahidin" (DTM) mehr bekannt. Die Gruppe ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr existent. 6 Vgl. INSPIRE, Nr. 9. S. 28, Online-Text 3.5.2012, aus dem Englischen. 28 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Eine Reihe weiterer Propagandabotschaften enthalten vielfach Bezüge auf Deutschland, dem vorgeworfen wird, einen "Krieg gegen den Islam und die Muslime" zu führen. Sie belegen eine zunehmende Rezeption bundesdeutscher Geschehnisse durch Jihadisten im Ausland. Ziel der Propaganda ist es, insbesondere junge Muslime zu radikalisieren. Hierzu thematisieren Jihadisten verstärkt auch das Lebensumfeld von Muslimen in Deutschland. Propaganda der "Islamischen Bewegung Usbekistan" (IBU)7 Neue Drohbotschaft von Im Februar erschien die 23-minütige Videobotschaft "Böses VaMounir C. terland", in der Mounir C. ("Abu Adam") Deutschland mit Anschlägen droht. Zu Beginn werden Interviewausschnitte prominenter deutscher Politiker (Gerhard Schröder, Angela Merkel, Otto Schily) gezeigt, auf die Bilder des Bundestages und des Alexanderplatzes in Berlin folgen. Mounir C. behauptet, Deutschland habe an der Seite der US-Amerikaner von Anfang an eine aktive Rolle im "Krieg gegen den Islam" eingenommen. Wichtigste Feindbilder seien zwar deutsche Politiker und Führungskräfte, die für "die Juden im Hintergrund arbeiten" würden; die tatsächliche Rolle Deutschlands rechtfertige aber auch Anschläge gegen das deutsche Volk. Hierbei erklärt der Jihad-Propagandist die deutsche Zivilbevölkerung wegen ihrer schweigenden Billigung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan zu vermeintlich legitimen Zielen terroristischer Anschläge. Wann der militante Jihad nach Deutschland komme, sei nur eine Frage der Zeit. Nachdem ein 2011 in Pakistan von pakistanischen Taliban unweit der afghanischen Grenze entführtes Schweizer Paar im März 2012 die Flucht gelang, wurde bekannt, dass Mounir C. für die Erstellung eines Erpresservideos als "Fachmann" hinzugezogen worden war. Damit ist belegt, dass auch deutsche Jihadisten organisationsübergreifend bei Verbrechen gegen ausländische Zivilisten mitwirken. 7 Die 1997 gegründete "Islamische Bewegung Usbekistan" (IBU) ist von der "alQaida"-Ideologie inspiriert. Sie verfolgte ursprünglich eine regionale Agenda und strebte den Sturz des Präsidenten in Usbekistan an. Im Zuge der Internationalisierung ihrer Ziele operiert die IBU seit 2000 hauptsächlich im pakistanischafghanischen Grenzgebiet. Aktuelle Entwicklungen - Transnationaler islamistischer Terrorismus 29 Neben ihren nicht nur deutschsprachigen Propagandaaktivitäten Tod eines Deutschen im agiert die IBU unverändert auch als kämpfende Gruppe. Dabei afghanisch - pakistani- 1 schen Grenzgebiet sind mutmaßlich auch Personen mit Bezügen nach Deutschland aktiv, von denen einer gemeinsam mit Taliban-Kämpfern bei einem Drohnenangriff Anfang März in Nordpakistan starb. Die IBU bestätigte in einer Propagandabotschaft vom August den "Märtyrertod" eines "Abu Laith aus Deutschland" und zeigte ein Foto des aus Aachen stammenden Samir H. Der Deutsch-Tunesier hatte sich bereits 2009 mit Frau und Kindern der IBU angeschlossen; auch seine Schwester war ihm kurz darauf gefolgt. Samir H. ist nach dem 2010 getöteten Bünyamin E. der zweite Deutsche, der im afghanisch-pakistanischen Kampfgebiet mutmaßlich durch den Angriff einer Drohne zu Tode kam. 1.6 Die Gefährdungslage in Deutschland 1.6.1 Ausreisen deutscher Jihadisten nach Ägypten Im Sommer 2012 war ein deutlicher Anstieg von Ausreisen von Anstieg von Ausreisen Jihadisten bzw. jihad-salafistisch8 gesinnten Personen aus Deutschland nach Ägypten zu verzeichnen. Unter den mehr als 60 ausgereisten Personen befanden sich ca. ein Dutzend Berliner. Bundesweit liegen zu mehr als zwei Dutzend weiteren Personen Hinweise vor, dass sie eine Ausreise nach Ägypten planten. War Ägypten bislang ein Land, in das vorrangig zum Sprachstudium gereist wurde, bieten die politischen Umwälzungen in einigen Ländern des Mittleren Ostens ("Arabischer Frühling") neue, durch die Schwächung staatlicher Autorität bedingte Freiräume. Diese nutzen insbesondere Jihadisten, um Kontakte zu "al-Qaida"-nahen Netzwerken zu knüpfen und von dort in jihadistische Kampfgebiete wie Libyen, Somalia oder Syrien weiterzureisen. Eine zentrale Rolle als "Brückenkopf" spielt hierbei der Anführer des inzwischen verbotenen jihadistischen Personenzusammenhangs "Millatu-Ibrahim"9 Mohamed M., der im März 2013 in 8 Die große Mehrheit der Jihadisten ist den Jihad-Salafisten zuzuordnen. Zur Identität von Jihadismus und Jihad-Salafismus sowie zu den verschiedenen Strömungen im Salafismus, vgl. S. 194 f. 9 Vgl. S. 41 ff. 30 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 der Türkei festgenommen wurde. Er hatte sich im Frühjahr 2012 nach Ägypten abgesetzt und mit dem Aufbau einer Anlaufstelle für deutsche Jihad-Salafisten begonnen. Unter den deutschen Salafisten, die Mohamed M. nach Ägypten folgten, befand sich auch der Berliner Ex-Rapper Denis C. In Einzelfällen ist bekannt, dass Personen aus Deutschland von Ägypten aus in jihadistische Kampfgebiete weiterreisten. 1.6.2 Terroristische Bedrohungen Gefahr durch Anschläge Die Gefahr eines Anschlags in Deutschland durch von der "alin Deutschland Qaida"-Ideologie inspirierte radikalisierte Einzelpersonen oder Gruppen besteht fort. In Deutschland steht dafür exemplarisch der Fall des Arid U., eines emotionalisierten Einzeltäters, der aus dem Motiv der Rache heraus 2011 US-amerikanische Soldaten auf dem Flughafen in Frankfurt a.M. angegriffen hatte. Wegen Doppelmordes und weiterer Verbrechen an US-Soldaten wurde er im Februar zu lebenslanger Haft verurteilt.10 Deutschland unverDeutschland zählt zu den westlichen Staaten, die sich unveränändert im Fokus der Jihadisten dert im Fokus des islamistischen Terrorismus befinden. Propagandabotschaften und Tatbezichtigungen zeigen, dass Deutschland von Jihadisten als enger Verbündeter der USA und Israels betrachtet und deshalb zu einem vermeintlich legitimen Angriffsziel erklärt wird. Als einer der größten Truppensteller des ISAFKontingents in Afghanistan wird Deutschland den so genannten "Kreuzzügler"-Staaten zugerechnet, von denen die Jihadisten behaupten, dass sie einen "Krieg gegen den Islam und die Muslime" führten. Die Gefahr terroristischer Anschläge in Deutschland belegen mehrere Verurteilungen, unter anderem wegen der Unterstützung terroristischer Organisationen im Ausland sowie insbesondere das andauernde Verfahren gegen die "Düsseldorfer Zelle", die über Kontakte zu Kern-"al-Qaida" verfügte. Hinzu kommen weitere im Jahr 2011 begonnene Gerichtsverfahren. 10 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 21 f. Siehe auch S. 31. Aktuelle Entwicklungen - Transnationaler islamistischer Terrorismus 31 Eine Gefährdung deutscher Interessen und Staatsbürger im AusReaktionen auf land belegen auch die Reaktionen auf das Zeigen der MuhammadMuhammad-Karikaturen 1 Karikaturen seitens islamfeindlicher Demonstrationen in deutschen Städten sowie die Kritik daran, dass hiesige Gerichte dies für zulässig erklärten. Unter diesem Vorwand hatte ein Ägypter am 22. August die deutsche Botschaft in Kairo mit einem Hammer und selbstgebauten Sprengsätzen angegriffen. Aus demselben Grund kam es im September zu Angriffen Hunderter Demonstranten auf die deutsche Botschaft in der sudanesischen Hauptstadt Khartoum. Zuvor hatte ein sudanesischer Minister unter Bezug auf die Angriffe auf US-Vertretungen in Kairo und Bengasi auch die deutsche Regierung kritisiert. Dies bezog sich auf die Ehrung des dänischen Zeichners der Muhammad-Karikaturen Kurt Westergaard 2010 sowie auf das 2012 erfolgte Zulassen des Zeigens dieser Karikaturen auf islamfeindlichen Demonstrationen. 1.6.3 Exekutivmaßnahmen und Verurteilungen Der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt a.M. Urteil gegen Arid U. verurteilte am 10. Februar Arid U. wegen Mordes in zwei Fällen und versuchten Mordes in drei Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.11 Arid U. hatte am 2. März 2011 auf dem Flughafen Frankfurt a.M. einen Anschlag auf eine Gruppe von Angehörigen der US-amerikanischen Streitkräfte verübt und dabei zwei Soldaten erschossen und zwei weitere schwer verletzt. Der Bundesgerichtshof hat die Revision des Angeklagten, die sich insbesondere gegen die Annahme der besonderen Schwere der Schuld richtete, am 2. Oktober als unbegründet verworfen. Arid U. kann somit nicht nach Verbüßung von 15 Jahren Haft zur Bewährung entlassen werden.12 Wegen Mitgliedschaft in zwei ausländischen terroristischen VerVerurteilung wegen Mitgliedschaft in zwei einigungen verurteilte der Staatsschutzsenat des Oberlandesgeausländischen terroristirichts Koblenz Ahmad Wali S. zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von schen Vereinigungen sechs Jahren.13 Der Angeklagte reiste Anfang 2009 nach Waziristan/Pakistan aus. Nach Anschluss an die "Islamische Bewegung 11 OLG Frankfurt a.M., AZ.: 5-2 StE 7/11-2-4/1. 12 BGH, AZ.: 3 StR 202/12. 13 OLG Koblenz, AZ.: 2 StE 10/11-8. 32 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Usbekistan" (IBU) erhielt er eine Waffenausbildung und wirkte an einem Propagandafilm mit. Im Sommer 2009 schloss sich Ahmad Wali S. "al-Qaida" an und erlernte in einem Ausbildungslager die Handhabung von Kriegswaffen. Im Mai 2010 kam er in Kontakt mit Younis al-Mauretani, der ihn für ein Netzwerk von Personen aus Europa vorsah, das neben der Durchführung von Anschlägen die finanzielle Unterstützung von "al-Qaida" aus europäischen Ländern sichern sollte.14 Verurteilung von Yusuf Wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im AusO. und Maqsood L. in Berlin land verurteilte der 1. Strafsenat des Kammergerichts Berlin am 25. Januar 2013 den 27-jährigen Berliner Yusuf O. in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und den 23-jährigen österreichischen Staatsangehörigen Maqsood L. in einem Fall zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und neun Monaten. Yusuf O. habe sich im Herbst 2009 im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet den "Deutschen Taliban Mujahidin" (DTM) angeschlossen und sei in deren Propagandavideos aufgetreten. Ziel war die Rekrutierung von neuen Mitgliedern und Unterstützern aus Deutschland. In Waziristan habe sich Yusuf O. zusammen mit Maqsood L. spätestens im Juli 2010 der "al-Qaida" angeschlossen. Für diese sollten sie in Europa Geld sammeln, neue Mitglieder und Unterstützer werben und sich für noch nicht näher bestimmte Operationen verschiedenster Art - bis hin zur Vorbereitung von Terroranschlägen - bereithalten.15 Verurteilung wegen Am 27. Juli erhob die Bundesanwaltschaft vor dem 1. StaatsMitgliedschaft bei "Deutschen Taliban schutzsenat des Kammergerichts Berlin Anklage gegen den am Mujahidin" 22. Mai aus türkischer Auslieferungshaft überstellten deutschen Staatsangehörigen Thomas U. wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung in Tateinheit mit Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat.16 Thomas U. habe sich 2009 im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet den "Deutschen Taliban Mujahidin" (DTM) angeschlossen. Nach einer 14 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 24. 15 KG Berlin, AZ.: (1) 2 StE 11/11-4 (4/11). 16 Pressemitteilung 20/2012 der Generalbundesanwaltschaft vom 3.8.2012. Aktuelle Entwicklungen - Transnationaler islamistischer Terrorismus 33 Ausbildung im Umgang mit Schusswaffen und Sprengstoff soll er eine von US-amerikanischen und afghanischen Streitkräften ge- 1 nutzte Militärbasis angegriffen und den militanten Jihad in mindestens zwei Internetbotschaften der DTM verherrlicht haben, um neue Mitglieder und Unterstützer zu gewinnen.17 Thomas U. wurde am 13. Dezember wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in Tateinheit mit Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat im Ausland zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt.18 Am 16. August verurteilte das Oberlandesgericht Stuttgart den Verurteilung wegen Unterstützung der IJU 25-jährigen Deutschen Ramazan R. wegen Unterstützung der ausländischen terroristischen Vereinigung "Islamische Jihad Union" (IJU) zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten. Die Vollstreckung wurde zur Bewährung ausgesetzt. Ramazan R. hatte im Jahr 2008 zweimal Geld an eine Empfangsadresse in der Türkei überwiesen, die ihm zuvor von seiner Kontaktperson bei der IJU benannt worden war.19 17 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 9. 18 KG Berlin, AZ.: (1) 2 StE 7/12-4 (5/12). 19 OLG Stuttgart, AZ.: 6-2 StE 6/11. 34 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 2 Salafistische Bestrebungen 2.1 Personenpotenzial "Politische" und Salafismus ist eine Bewegung, die verschiedene Strömungen um"jihadistische Salafisten" fasst. Hierbei sind die "politischen Salafisten" und die "jihadistischen Salafisten" dem Islamismus zuzuordnen. Diese beiden salafistischen Strömungen zielen darauf ab, Staat, Rechtsordnung und Gesellschaft in Deutschland zu ändern und durch eine an den Rechtsund Herrschaftsformen des Frühislam orientierte politische Ordnung zu ersetzen. Die Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele unterscheiden sich allerdings: Die "politischen Salafisten" kennzeichnet eine massive Propagandatätigkeit, zu der zahllose Internetseiten und von salafistischer Ideologie geprägte "Islam-Schulungen" gehören. "Jihadistische Salafisten" setzen darüber hinaus auf terroristische Gewalt. Das Personenpotenzial im Salafismus hat zwischen 2011 und 2012 bundesweit von 3 800 auf 4 500 Personen zugenommen. In Berlin ist eine Zunahme von 350 auf 400 Personen zu verzeichnen. Personenpotenzial Salafistische Bestrebungen Berlin Bund 2011 2012 2011 2012 Salafisten 350 400 3 800 4 500 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. 2.2 Koranverteilung Koranverteilung an Am 24. März startete eine neue bundesweite Verteilaktion kosten"Islam-Infoständen" loser Koranexemplare an Nichtmuslime. Unter dem Motto "Lies! Im Namen Deines Herrn, der Dich erschaffen hat" wurden in Deutschland Koranausgaben an so genannten "Islam-Infoständen" verteilt. Es handelte sich um eine Kampagne, die das salafistische Aktuelle Entwicklungen - Salafistische Bestrebungen 35 Netzwerk "Die Wahre Religion" (DWR) aus Nordrhein-Westfalen im Oktober 2011 initiiert hatte. Der regionale Schwerpunkt der diesjährigen Verteilaktion lag in den westlichen Bundesländern. Es wurden jedoch auch in Berlin 2 über mehrere Wochen hinweg Infostände am Potsdamer Platz und am Kurfürstendamm organisiert. Am 14. April wirkten die bekannten Berliner Salafisten Reda S. und Denis C. bei einer Veranstaltung am Potsdamer Platz mit. Reda S. bewirbt die "Lies"-Aktion mit einem Link auf seiner 2012 eröffneten Internetseite. Das Koranverteilungsprojekt stellt eine Professionalisierung salaKampagne soll Nichtmuslime für Salafismus fistischer Da'wa-Arbeit20 dar. Ziel ist es, mit der Kampagne vor algewinnen lem Nichtmuslime zu erreichen und sie für den Salafismus zu gewinnen. Die Informationsstände in Berlin waren wiederholt Ziel islamfeindlicher Agitation von Organisationen wie der "Pro-Bewegung", die mit den "Muhammad-Karikaturen" eine Eskalation zu provozieren suchten. Am 12. Mai reagierten salafistische Veranstaltungsteilnehmer am Potsdamer Platz auf diese Provokation mit Gewalt. Bei den Auseinandersetzungen wurden drei Polizeibeamte sowie ein Veranstaltungsteilnehmer verletzt. Vier Versammlungsteilnehmer wurden festgenommen. 2.3 Ausschreitungen gewaltbereiter Salafisten Seit Anfang Mai kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen in mehProvokationen durch "Pro NRW" reren Städten, an denen erstmals Salafisten beteiligt waren. Auslöser waren Versuche der islamfeindlichen Partei "Bürgerbewegung Pro NRW" ("Pro NRW"), Muslime mit diffamierenden MuhammadKarikaturen zu provozieren. "Pro NRW" setzte sie als gezielte Provokation während ihrer Wahlkampftour "Freiheit statt Islam" ein, um Wählerstimmen für die nordrhein-westfälische Landtagswahl zu gewinnen. 20 Der arabische Ausdruck "Da'wa" bedeutet "Ruf zum Islam" oder "Missionierung". Politische Salafisten verstehen hierunter eine intensive Propagandatätigkeit, um ihre extremistische Ideologie zu verbreiten und Anhänger zu werben. 36 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Während der Städtetour wurden in der Nähe von Moscheevereinen Ergebnisse eines so bezeichneten "islamkritischen Karikaturwettbewerbs" präsentiert, den "Pro NRW" organisiert hatte. Zudem zeigten Kundgebungsteilnehmer wiederholt die Karikatur, die die dänische Tageszeitung "Jyllands-Posten" 2005 veröffentlicht hatte. Diese bildet den Propheten und Religionsstifter Muhammad mit einem in Form einer Bombe stilisierten Turban ab, die mit dem islamischen Glaubensbekenntnis versehen war. Die Darstellung des Propheten als Selbstmordattentäter und die Gleichsetzung von Muslimen mit Terroristen empfinden viele, auch nichtgläubige, Muslime als Herabwürdigung. Während die ersten Veranstaltungen der "Pro NRW" im April weitgehend störungsfrei verliefen, kam es bei den Veranstaltungen am 1. Mai in Solingen und am 5. Mai in Bonn zu gewaltsamen Ausschreitungen salafistischer Gegendemonstranten. In Solingen wurden zwei Polizeibeamte, ein Unbeteiligter sowie vierzehn Gegendemonstranten leicht verletzt. Eskalation der Proteste In Bonn eskalierte der Protest. Es wurden 29 Polizeibeamte verletzt. Der 26-jährige Salafist Murat K. griff zwei Polizisten mit einem Messer an und verletzte sie dabei schwer. Er und weitere 108 Personen wurden verhaftet. Das Landgericht Bonn verurteilte Murat K. am 19. Oktober wegen gefährlicher Körperverletzung, schweren Landfriedensbruchs und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Er rechtfertigte seine Tat mit den Worten "Gelehrte sagen, wer den Propheten beleidige, verdiene den Tod." Die Polizisten hätten das Zeigen der Karikaturen geschützt und sich so "in die Sache verwickelt". In seinem Schlusswort vor Gericht begründete Murat K. sein Handeln mit der vermeintlichen Pflicht jedes Muslims, die Herabwürdigung des Propheten Muhammad zu unterbinden. Darüber hinaus erklärte er, dass er deutsche Gerichte nicht anerkenne und behauptete, allein Gott gegenüber verantwortlich zu sein. Murat K.s Äußerungen belegen seine salafistische Ausrichtung. Insbesondere die Leugnung der Legitimität des Gerichts ist bezeichnend. Viele Salafisten lehnen den demokratischen Rechtsstaat und seine Institutionen strikt ab und stellen die im Frühislam geltenden Aktuelle Entwicklungen - Salafistische Bestrebungen 37 Herrschaftsund Rechtsformen über rechtsstaatliche Normen. Dies basiert meist auf einer wörtlichen Auslegung des Korans, der Heiligen Schrift des Islam, sowie der Sunna (wörtl. Brauch), der Tradition des Propheten Muhammad. Die Befürwortung frühislamischer Herrschaftsund Rechtsformen ist, wenn sie sich als politische 2 Bestrebung manifestiert, mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in Deutschland nicht vereinbar. Die Abschlusskundgebung von "Pro NRW" in Köln am 8. Mai verlief Ruhige Veranstaltung in Berlin durch die Sicherheitsvorkehrungen der Polizei weitgehend ruhig. Auch Veranstaltungen von "Pro Deutschland" in Berlin im August mit dem Ziel, Muslime durch islamfeindliche Karikaturen zu provozieren, hatten nicht den gewünschten Erfolg. Die Ausschreitungen in Solingen, Bonn und Berlin verdeutlichen, dass das Zeigen von Muhammad-Karikaturen seine Wirkung nicht verfehlt hat. Personen aus dem salafistischen Spektrum wurden extrem emotionalisiert und mobilisiert. Es zeigte sich jedoch auch, dass ein weitgehend störungsfreier Verlauf von salafistischen Gegendemonstrationen trotz Provokation mit Muhammad-Karikaturen möglich ist. Grund dafür sind entsprechende Polizeimaßnahmen und Aufrufe zu Gewaltlosigkeit aus dem Spektrum des politischen Salafismus. 2.4 Reaktionen auf islamfeindliche Propaganda Die Instrumentalisierung der Muhammad-Karikaturen und die daDrohbotschaften fordern zum Schulterschluss raus folgenden Ausschreitungen in Bonn, Solingen und Berlin führzwischen Salafisten und ten zu Reaktionen in der muslimischen Welt. Verschiedene terroMujahidin auf ristische Organisationen nutzten die Thematik propagandistisch aus und nahmen die Ereignisse zum Anlass, neue Drohbotschaften zu veröffentlichen. In den Drohbotschaften wird der Versuch unternommen, einen Schulterschluss zwischen gewaltbereiten Salafisten in Deutschland und Mitgliedern islamistisch-terroristischer Vereinigungen in der muslimischen Welt herzustellen. Das Ziel aller genannten Drohbotschaften ist, Salafisten in Deutschland aufzuhetzen, sie zu radikalisieren und zu Anschlägen in Deutschland zu motivieren. 38 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 2.4.1 Yassin C. ruft zur Tötung von MuhammadBeleidigern auf Audiobotschaft der IBU In einer am 18. Mai veröffentlichten Audiobotschaft der "Islamigegen "Pro NRW" schen Bewegung Usbekistan" (IBU) mit dem Titel "Tod der Pro NRW" wird auf die gewaltsamen Ausschreitungen in Bonn und Solingen sowie auf die Koranverteilungsaktion des salafistischen DWR-Netzwerks Bezug genommen. Die Botschaft wird von dem aus Deutschland stammenden IBU-Propagandisten Yassin C. vorgetragen.21 Neben einem Standbild von Yassin C. ist die Botschaft seines Vortrags zu lesen: "Wer den Propheten beleidigt, ob Muslim oder Kafir, muss getötet werden." Yassin C. lobt die deutschen Muslime für ihren Widerstand gegen die Aktionen von "Pro NRW" in Solingen und Bonn. Er habe die Ereignisse in Deutschland mit den "Mujahidin aus Chorasan"22 besprochen. In ihrem Namen empfiehlt Yassin C. den deutschen Muslimen, nicht mehr nur gegen die rechtsgerichtete Partei zu demonstrieren. Vielmehr seien die Ereignisse Grund genug dafür, die Anhänger der "Pro NRW" zu töten. Er erklärt der "Pro NRW" auch im Namen der Mujahidin in "Chorasan" den Krieg. Ihre Mitglieder hätten den Tod verdient, weil sie den Propheten Muhammad beleidigt hätten. Dies treffe auch auf die Mitarbeiter von Medien zu, die die "Pro-NRW"-Kampagne unterstützt hätten. Er nennt namentlich das Wochenmagazin "Der Spiegel", von dem er behauptet, es sei von Juden gelenkt. Yassin C. ruft Muslime in Deutschland auf, diese Personen zu töten oder sie so lange zu schlagen, bis sie es bereuten, den Propheten beleidigt zu haben. 21 Vgl. S. 27 f. 22 Der historisch Teile Zentralasiens bezeichnende Begriff "Chorasan" bzw. "Khorasan" steht bei Jihadisten vor allem für Afghanistan. Aktuelle Entwicklungen - Salafistische Bestrebungen 39 "Und dann, nach guten und ausreichenden Recherchen und einem strategischen Plan, schlagt zu! (...) Und dabei ist zu bevorzugen (...), dass ihr sie tötet (...). Und wenn dies nicht möglich ist, dann schlagt so lange auf sie ein, bis sie es aufs Äußerste bereuen, jemals das Siegel 2 aller Propheten beleidigt zu haben." Mit der Audiobotschaft äußerte sich erstmals ein Vertreter einer jihad-salafistischen Gruppierung im Ausland zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Salafisten und islamfeindlichen Gruppen, in die auch die Polizei involviert wurde. Die Adressierung der Gegendemonstranten in Solingen und Bonn durch einen anerkannten jihadistischen Propagandisten einer ausländischen Terrororganisation sowie der Bezug auf "Ratschläge" internationaler Jihadisten soll eine Bindung zwischen salafistischen Aktivisten aus Deutschland und militanten Kämpfern in Afghanistan erzeugen. Dies kann auf gewaltbereite Salafisten in Deutschland motivierend wirken und birgt die Gefahr, dass sich Einzelpersonen oder salafistische Gruppierungen radikalisieren und dem Aufruf Folge leisten, Anschläge in Deutschland zu verüben. 2.4.2 Aufforderung zu Solidarität Auch eine Textbotschaft des ägyptischen Scheichs Ahmad Ashush, Ägyptischer Scheich Ashush ruft zur Tötung Gründer der jihadistischen Gruppierung Ansar al-Sharia in Ägypvon Prophetenbeleiditen, mit dem Titel "Ein Schrei für die Unterstützung unseres Progern auf pheten" nimmt Bezug auf die Auseinandersetzungen anlässlich der öffentlichen Präsentation von Muhammad-Karikaturen. Der Text wurde im Juli in deutscher Übersetzung von der "Globalen Islamischen Medienfront" (GIMF)23 in arabischsprachigen jihadistischen Internetforen gepostet. Vor dem Hintergrund eines Fotos einer salafistischen Gegendemonstration werden ein Bild des Internetjihadisten Denis C. sowie zwei Bilder von Polizeieinsätzen gegen Veranstaltungsteilnehmer gezeigt. 23 Die GIMF ist ein im Internet agierendes internationales Netzwerk zur Verbreitung islamistisch-terroristischer Propaganda. Sicherheitsbehördliche Maßnahmen führten zur Einstellung der Aktivitäten der deutschsprachigen GIMF im Jahr 2008. Seit 2012 gibt es wieder Verlautbarungen der deutschsprachigen GIMF in führenden arabischsprachigen jihadistischen Internetforen. 40 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Auch Ashush ruft in seinem Text Muslime dazu auf, jeden Prophetenbeleidiger zu töten und lobt die salafistischen Gegendemonstranten für ihren Widerstand gegen "Pro NRW". Er spricht von den muslimischen Jugendlichen in Europa, die die Ehre des Propheten verteidigt hätten. Gleichzeitig beklagt er die Ignoranz der Herrscher, Gelehrten und Völker in der muslimischen Welt, die angesichts der Beleidigungen des Propheten in Europa bislang nicht gehandelt hätten. Er appelliert an sie, es den europäischen Jugendlichen gleich zu tun. Es sei Pflicht, diejenigen zu töten, die den Propheten verhöhnen. 2.4.3 Abu Assad al-Almani: gleiche Behandlung für Prophetenbeleidiger wie für feindliche Kämpfer Deutschsprachiger Eine weitere Botschaft, die zur Ermordung so genannter PropheJihad-Aktivist Abu Assad al-Almani tenbeleidiger aufruft, stammt von Abu Assad al-Almani. Er zählt zu den aktivsten deutschsprachigen Jihad-Propagandisten aus dem Umfeld von Mohamed M.24 Seine Schriften, die Muslime auf die Ausübung des militanten Jihad zu verpflichten suchen, werden durch die GIMF über sämtliche maßgebliche "al-Qaida"-nahe Foren verbreitet. In seiner Botschaft "Abrechnung mit Deutschland" bezieht sich der Autor jedoch nicht nur auf die Muhammad-Karikaturen in Deutschland, sondern erwähnt explizit auch den Schmähfilm "Die Unschuld der Muslime". Schmähfilm "Die Der Text richtet sich in vorwurfsvollem Ton an Muslime in DeutschUnschuld der Muslime" land. Deutschland sei das Land, aus dem der Hauptdarsteller des Schmähfilms stamme. Muslime würden in Deutschland unterdrückt und diffamiert. Durch den Einsatz der Bundeswehr in muslimischen Ländern habe die deutsche Regierung dem Islam den Krieg erklärt. Er verurteilt die Muslime, die sich ein bequemes Leben in Deutschland eingerichtet hätten, das ihnen wichtiger sei als die Ehre des Propheten. Er ruft sie auf, dieses Verhalten zu bereuen und endlich für die Ehre des Propheten zu kämpfen. 24 Vergleiche S. 41 ff. Aktuelle Entwicklungen - Salafistische Bestrebungen 41 "So sei auch du einer der seine Taten mit seinem Blut schreibt, denn noch hast du die Chance, es ist noch nicht zu spät." Danach zählt der Verfasser die Personen auf, die getötet werden 2 müssten: Der vermeintlich deutsche Muhammad-Darsteller des Videos, die Mitglieder von "Pro NRW", die Politiker, die das Zeigen der Muhammad-Karikaturen genehmigten sowie alle deutschen Bürger, die diese Aktionen unterstützten. Der Autor, der sich selbst als Kämpfer ("Mujahid") darstellt, beendet seinen Text mit dem Absatz: "Seid euch bewusst, dass diese Art von Operation, den Operationen gleicht, die wir Mugahidin hier auf dem Boden des Gihads durchführen. Und wir sind der Ansicht, dass wenn Allah euch diese Feinde in eure Hände fallen lässt, ihr ihnen die Köpfe von ihren Körpern trennt, dies filmt und der Öffentlichkeit zugänglich macht, so dass ganz Deutschland, ja sogar ganz Europa weiß, dass ihre verbrecherischen Spielchen durch die Schwerter des Islams durchkreuzt werden." 25 Auch in diesem Text bemüht sich der Autor, eine gemeinsame Ebene Versuch der Radikalisierung von Muslimen in zwischen Mujahidin in muslimischen Ländern und gewaltbereiten Europa Salafisten in Europa herzustellen. Die Adressaten werden aufgefordert, Prophetenbeleidiger zu töten und die Methoden der Mujahidin zur Abschreckung vermeintlicher Islamfeinde anzuwenden. Kennzeichnend ist auch der Vorwurf an Muslime, sich in Deutschland eingerichtet zu haben, statt sich aktiv für die vermeintlich notwendige Verteidigung ihrer Religion einzusetzen. 2.5 Verbot von "Millatu-Ibrahim" Die Vereinigung "Millatu-Ibrahim" wurde im Herbst 2011 in Berlin von dem aus Österreich stammenden, inzwischen verhafteten Mohamed M. gegründet. Dieser war wegen propagandistischer Aktivitäten im Namen der GIMF über vier Jahre in Wien inhaftiert. 25 Schreibweise wie im Original. 42 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Nach seiner Entlassung siedelte er nach Berlin über und gründete dort zusammen mit Denis C., dem Ex-Rapper Deso Dogg, das deutschsprachige jihad-salafistische Netzwerk "Millatu Ibrahim". Netzwerk "MillatuDas virtuelle Netzwerk "Millatu-Ibrahim" bestand aus den WebseiIbrahim" ten "Millatu-Ibrahim", "Salafimedia" und "Ansarul-Aseer".26 Die Aktivitäten galten der Verbreitung jihad-salafistischer Ideologie durch Vorträge, Predigten, Kampflieder sowie der Betreuung von angeblich wegen ihres muslimischen Glaubens inhaftierten Personen. Durchsuchungen auch Der Bundesminister des Innern belegte "Millatu-Ibrahim" am 29. in Berlin Mai mit einem Betätigungsverbot nach dem Vereinsgesetz. Das Verbot wurde am 14. Juni bundesweit mit Durchsuchungsmaßnahmen vollzogen und richtete sich gegen 14 Personen. In Berlin waren vier Personen von den Maßnahmen betroffen. Die Millatu-IbrahimMoschee in Solingen wurde geschlossen und das Vereinsvermögen beschlagnahmt. Die Webpräsenzen "Millatu-Ibrahim" und "Salafimedia" wurden abgeschaltet. Mit der Webseite des Gefangenenhilfsprojekts "Ansarul Aseer" besteht die dritte Säule des virtuellen salafistischen Propaganda-Netzwerks fort. "Millatu-Ibrahim" nicht Die Vereinigung "Millatu-Ibrahim" wurde verboten, weil sie sich gemit der verfassungsmäßigen Ordnung gen die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschvereinbar land und den Gedanken der Völkerverständigung richtete, und dabei in aggressiv-kämpferischer Weise vorging. Diese wurde belegt durch die aktive Einbindung von Führungspersonen in die gewaltsamen Ausschreitungen in Bonn und Solingen. Ein für "MillatuIbrahim" tätiger Prediger agierte während der Ausschreitungen in Solingen am 1. Mai als aufhetzender Wortführer. Denis C., der sich zwischenzeitlich die Kampfnamen "Abu Talha al-Almani" bzw. "Abu Maleeq" gab, veröffentlichte am 12. Mai das Kampflied "Labbayk" (zu Diensten), in dem er sich auf die Ereignisse bezog und massive Gewalt ankündigte. 26 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 42, 45 ff., 205. Aktuelle Entwicklungen - Salafistische Bestrebungen 43 Im Zusammenhang mit dem Verbot folgte eine Ausreisewelle von Personen aus dem Umfeld der Vereinigung nach Nordafrika. Unter den Personen befanden sich auch die Gründer. Die im Internet nach ihrer Ausreise veröffentlichten Botschaften von Mohamed M. und Denis C. dokumentieren, dass die Hauptakteure der Vereinigung 2 ihre Propagandaaktivitäten im Ausland fortsetzen. 2.6 Propaganda von Denis C. Im Dezember publizierte "Millatu-Ibrahim" und die GIMF das DrohDrohvideo von Denis C. video "Der deutsche Löwe Murat K.". Darin lobt Denis C. die Messerattacke Murat K.s auf zwei Polizeibeamte während der Auseinandersetzungen zwischen Salafisten und Pro-NRW-Anhängern in Bonn am 5. Mai. In dem pathetisch vorgetragenen Gedicht glorifiziert der Ex-Rapper den aus Hessen stammenden Attentäter als mutigen "Löwen", der durch seinen Angriff die Ehre des Propheten Muhammad erfolgreich verteidigt habe. Er bedauert, dass es so wenige gläubige Muslime gebe, die sich für die Ehre des Propheten einsetzen würden. Schließlich droht er im Namen der Mujahidin, alle so genannten Prophetenbeleidiger zu töten, und betont, dass gerade auch Deutsche ein potenzielles Ziel seien. Die Mujahidin würden sie als Geiseln nehmen, um Murat K. freizupressen: "... Murat K., die Mujahidin schließen dich in ihre Dua [Bittgebet], jeder Beleidiger des Gesandten wird geschlachtet, ob fern oder nah. Und wisse, oh Bruder, die Deutschen sind auch zum Greifen nah. Wir werden sie gefangennehmen, bis du frei bist, für deine edle Tat..." In dem Video nutzt Denis C. die Messerattacke gegen Polizisten in Bonn propagandistisch, um Drohungen gegen etwaige Prophetenbeleidiger zu richten. Das Murat K. glorifizierende Video soll gewaltbereite Salafisten zu entsprechenden Gewalttaten motivieren. 44 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Denis C. kündigt in einem Abschiedsvideo seinen Tod an Vor seiner Ausreise nach Ägypten hat Denis C. offenbar noch ein Abschiedsvideo erstellt. Am 4. September wurden daraus Sequenzen in einem Fernsehbeitrag27 veröffentlicht. Denis C. erklärt darin den Deutschen und der deutschen Regierung den Krieg. Aufgrund der vermeintlichen Verfolgung von Muslimen in Deutschland, den Waffenlieferungen in Krisengebiete der muslimischen Welt sowie der Beteiligung an militärischen Konflikten seien die Deutschen selbst dafür verantwortlich, wenn sie in ihrem eigenen Land getötet würden. "... An Merkel und Innenund Außenminister. Ihr führt Jihad in unseren Ländern und wir werden den Jihad in eure Länder bringen. ... Solange ihr in den islamischen Ländern seid und bleibt, mit den Besatzungsmächten, solange ihr dort seid und unser Blut vergießt, grabt ihr hier euer eigenes Grab..." Das Video enthält zudem eine Abschiedsbotschaft des Denis C.: "Wenn ihr dieses Video seht, werde ich nicht mehr unter euch sein." Ausreise von Denis C. Denis C. ist im Juni nach Nordafrika ausgereist. Zuvor war bei einer nach Nordafrika polizeilichen Durchsuchung seiner Wohnung eine selbstgefertigte Weste aufgefunden worden, die aufgrund entsprechender Vorrichtungen dem äußeren Anschein nach als Sprengstoffweste hätte genutzt werden können. Die Abschiedsbotschaft könnte bedeuten, dass er sich aktiv am Kampf in muslimischen Krisengebieten beteiligen oder ein Selbstmordattentat verüben will. Hohe Akzeptanz von DeDenis C. ist durch die Veröffentlichung von Kampfliedern bisher vor nis C. unter Jugendlichen allem als jihadistischer Internetpropagandist in Erscheinung getreten. Er verfügt als ehemaliger Gangsta-Rapper über eine hohe Akzeptanz unter Jugendlichen. Es besteht die Gefahr, dass sich junge Muslime und Konvertiten seine Botschaft zu eigen machen und sich aufgerufen fühlen, im Sinne einer jihad-salafistischen Ideologie im Inoder Ausland an gewalttätigen Aktionen zu beteiligen. 27 "Deutschland in Gefahr? Kampf gegen den Terror", ZDF-Sendung vom 4.9.2012. Aktuelle Entwicklungen - Regional gewaltausübende und gewaltbefürwortende islamistische Gruppen 45 3 Regional gewaltausübende und gewaltbefürwortende islamistische Gruppen 3 3.1 Personenpotenzial Neben den in der Mehrzahl jihad-salafistisch geprägten transnationalen Terrornetzwerken und den "politischen Salafisten" existieren regional gewaltausübende islamistische Organisationen und gewaltbefürwortende islamistische Gruppen. Regional gewaltausübende Organisationen agieren vor allem im Nahen Osten terroristisch. So steht für die libanesische "Hizb Allah" und palästinensische HAMAS vor allem der bewaffnete Kampf gegen Israel im Vordergrund. Die Anhänger dieser Organisationen verhalten sich in Deutschland in der Regel zurückhaltend und größtenteils gewaltfrei. Daneben existieren islamistische Gruppen, die Gewalt befürworten, selbst aber kaum gewaltausübend in Erscheinung traten. Hierzu zählen die Organisationen "Hizb ut-Tahrir" und "Kalifatsstaat", die in Deutschland 2003 bzw. 2001 verboten wurden. Das Personenpotenzial der regional gewaltausübenden wie auch der gewaltbefürwortenden islamistischen Gruppen ist gegenüber 2011 sowohl bundesweit als auch in Berlin gleich geblieben. 46 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Personenpotenzial regional gewaltausübender und gewaltbefürwortender islamistischer Gruppen Berlin Bund 2011 2012 2011 2012 Gesamt* (soweit statistisch erfassbar) 400 385 2 500 2 500 Regional gewaltausübende Gruppen, davon Hizb Allah 250 250 950 950 HAMAS 50 50 300 300 Gewaltbefürwortende Gruppen, davon: Hizb ut-Tahrir 50 35 300 300 (Einzel(EinzelKalifatsstaat 800 800 mitglieder) mitglieder) Iranische Islamisten 50 50 150 150 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. 3.2 Kurz notiert: HAMAS profitiert vom "Arabischen Frühling" HAMAS erfährt politiDie politischen Umwälzungen, die sich in den vergangenen beiden sche Aufwertung Jahren in mehreren arabischen Staaten ereigneten ("Arabischer Frühling"), hatten auch erhebliche Auswirkungen auf die HAMAS. Die Machtübernahme der Muslimbruderschaft in Ägypten und der al-Nahda-Bewegung in Tunesien sowie die Unterstützung der Türkei und der Golfstaaten führten zu einer politischen Aufwertung der HAMAS auf internationaler Ebene. Im Oktober besuchte der Emir von Qatar als erstes Staatsoberhaupt nach Machtübernahme der HAMAS den Gazastreifen und versprach umfangreiche finanzielle Hilfen. Angriffe auf Israel Auch 2012 beschoss die HAMAS vom Gaza-Steifen aus israelische Städte mit Raketen. Nachdem am 14. November Ahmad al-Jabari, ein führendes Mitglied der al-Qassam-Brigaden, bei einem israelischen Luftangriff getötet wurde, steigerte die HAMAS die Intensität ihrer Angriffe. Während der folgenden achttägigen Kämpfe feuerte sie hunderte Raketen auf Israel ab, die erstmals auch Tel Aviv und Jerusalem erreichten. Obwohl die HAMAS durch die israelische Armee im Zuge der "Operation Wolkensäule" militärisch geschwächt wurde, betrachtet sie sich als Sieger der Auseinandersetzung, nicht zuletzt da sie durch die neugewählten Regierungen Ägyptens und Tunesiens politische Unterstützung erfuhr. Aktuelle Entwicklungen - Regional gewaltausübende und gewaltbefürwortende islamistische Gruppen 47 Noch während der Kämpfe besuchten sowohl der ägyptische PreMash'al tritt in Gaza auf mierminister als auch der tunesische Außenminister Gaza. Dabei sicherten sie HAMAS-Führer Ismail Haniya, der von März 2006 bis Juni 2007 Ministerpräsident der Palästinensischen Autonomiebehörde war und seit seiner Absetzung durch Präsident Mahmud Abbas den Gazastreifen regiert, ihre Unterstützung zu. Bei der "Siegeskundgebung" der HAMAS trat erstmals auch Khalid Mash'al, der Vorsitzende der Auslandssektion und des Politbüros der Organisa- 3 tion auf. Anfang Dezember, anlässlich des 25-jährigen Gründungsjubiläums der HAMAS erschien Mash'al ein weiteres Mal bei einer Großkundgebung in Gaza, bei der er erneut das Existenzrecht Israels negierte, indem er den Anspruch seiner Organisation auf "jeden Fußbreit Palästinas" bekräftigte. Zuvor hatten Mash'al und Haniya unter dem Jubel der Kundgebungsteilnehmer aus einer sechs Meter großen Raketenattrappe heraus die Bühne betreten und damit ihr Festhalten an der Gewaltstrategie der HAMAS unterstrichen. Im syrischen Bürgerkrieg bezog HAMAS offen Position gegen die Regierung Assad und verlegte ihre Büros von Damaskus nach Qatar. Vereinzelt nahmen Kämpfer der HAMAS auf Seiten der syrischen Aufständischen an Kampfhandlungen teil. 48 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 4 Rechtsextremismus 4.1 Personenpotenzial und Straftaten NPD - Mitgliederzahlen Nachdem die rechtsextremistische Szene in Berlin in den verganunverändert genen Jahren auf immer weniger Anhänger zurückgreifen konnte, zeigten sich die entsprechenden Personenpotenziale im vergangenen Jahr weitgehend stabil. Der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) gehörten einschließlich ihres aktivistischen Jugendverbandes "Junge Nationaldemokraten" (JN) in Berlin unverändert ca. 250 Mitglieder an. Der Berliner NPD-Landesverband konnte damit weder von der Verschmelzung mit der "Deutschen Volksunion" (DVU) profitieren, noch haben die Diskussionen um ein mögliches Verbot der NPD dazu geführt, dass die Partei in Berlin an Mitgliedern verloren hat. Kaum Veränderungen Auch im Bereich des aktionsorientierten Rechtsextremismus weides Personenpotenzials im aktionsorientierten sen die Personenpotenziale kaum Veränderungen auf. Der aktiRechtsextremismus onsorientierte Rechtsextremismus setzt sich in Berlin im Wesentlichen aus den beiden informellen Netzwerken "Freie Kräfte" und "Rechtsextremistische Musik" zusammen. Hinzu kommen organisationsungebundene Rechtsextremisten, die außerhalb dieser beiden Netzwerke aktiv sind und schwerpunktmäßig in den Bereichen der subkulturell geprägten Rechtsextremisten und Neonazis zu verorten sind.28 Ein geringfügiger Rückgang des Personenpotenzials war lediglich im Bereich der Neonazis zu verzeichnen. Hier schlugen sich die Entwicklungen innerhalb der nunmehr mit dem Netzwerk "Freie Kräfte" verschmolzenen "Autonomen Nationalisten" (AN) nieder. 28 Hierunter fallen insbesondere die Besucher rechtsextremistischer Konzerte oder anderer Großveranstaltungen auch außerhalb von Berlin sowie politisch motivierte Straftäter, soweit sie keiner Gruppierung zuzurechnen sind. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 49 Die Auflösung zweier ehemaliger Stützpunkte der AN in den Bezirken Pankow und Marzahn-Hellersdorf hatte auch den Verlust einiger rechtsextremistischer Aktivisten zur Folge. Die wenigen Veränderungen in den Personenpotenzialen belegen, dass es aktuell keiner rechtsextremistischen Partei oder Gruppierung gelingt, in nennenswertem Umfang neue Unterstützer zu rekrutieren. Allerdings verliert die rechtsextremistische Szene in Berlin auch kaum Anhänger, so dass es sich bei der überwiegenden Mehrheit der zurzeit aktiven Rechtsextremisten um überzeugte, ideologisch gefestigte Neonazis handelt. 4 Personenpotenziale einzelner Personenzusammenschlüsse* Berlin Bund 2011 2012 2011 2012 Gesamt 1420 1380 23400 23150 ./. Mehrfachmitgliedschaften 90 90 1000 1000 Tatsächliches Personenpotenzial 1330 1290 22400 22150 Davon gewaltbereite Rechts650 650 9800 9600 extremisten Subkulturell geprägte und sonstige gewaltbereite Rechts490 480 7600 7500 extremisten Neonazis 530 500 6000 6000 "Nationaldemokratische Partei 250 250 6300 6000 Deutschlands" (NPD)** Sonstige rechtsextremistische 150 150 2500 2500 Organisationen * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. ** Die NPD-Zahlen beinhalten die Mitglieder der JN (2012: 50, 2011: 50). Straftaten Die Fallzahlen politisch rechts motivierter Straftaten sind im VerPolitisch rechts motivierte Straftaten gleich zum Vorjahr um insgesamt 11 Prozent gestiegen. Den größsteigen ten Anteil an diesem Anstieg macht die Zunahme rechtsextremistischer Propagandadelikte aus. Vor allem die gegen den politischen Gegner gerichteten Propagandadelikte "gegen links" haben sich im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt; ein klares Indiz dafür, welche Zielgruppe im vergangenen Jahr verstärkt in den Fokus der rechtsextremistischen Szene geriet. 50 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Opfer der entsprechenden Propagandadelikte waren vor allem Personen und Institutionen, die sich öffentlich gegen Rechtsextremismus engagierten und die von der rechtsextremistischen Szene für den gestiegenen zivilgesellschaftlichen Druck auf eben diese Szene verantwortlich gemacht wurden. Rückgang von GewaltDieser verstärkten rechtsextremistischen Propaganda stand ein delikten Rückgang an Gewaltdelikten gegenüber. Dieser Rückgang betrifft allerdings lediglich die "gegen links" gerichteten Gewaltdelikte, von denen nur noch etwas mehr als ein Drittel der Taten des Vorjahres begangen wurden. Damit hat sich das Bedrohungsszenario der rechtsextremistischen Szene, wie es im Anstieg der "gegen links" gerichteten Propagandadelikte klar zum Ausdruck kam, noch nicht unmittelbar in rechtsextremistischen Gewalttaten niedergeschlagen. Stärker waren davon im vergangenen Jahr Ausländer, Migranten und Menschen jüdischen Glaubens betroffen, wie der Anstieg der antisemitischen und fremdenfeindlichen Gewaltdelikte um mehr als ein Drittel zeigt. Die überwiegende Mehrheit dieser Straftaten war allerdings dem subkulturellen Milieu zuzurechnen und wies keine Bezüge zum organisierten Berliner Rechtsextremismus auf. Fallzahlen Politisch motivierte Kriminalität - rechts* 2011 2012 Gewaltdelikte 70 58 davon antisemitisch 1 3 fremdenfeindlich 33 43 gegen links 30 13 Propagandadelikte 718 816 davon antisemitisch 20 27 fremdenfeindlich 62 70 gegen links 9 21 sonstige Delikte 404 451 davon antisemitisch 93 162 fremdenfeindlich 172 225 gegen links 63 45 Gesamt 1 192 1 325 davon antisemitisch 114 192 fremdenfeindlich 267 338 gegen links 102 79 * Auszug aus dem Bericht "Lagedarstellung der Politisch motivierten Kriminalität in Berlin für das Jahr 2012" des Landeskriminalamtes Berlin (LKA). Der vollständige Bericht ist im Internet eingestellt unter www.berlin.de/sen/inneres/sicherheit/statistiken/index.html. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 51 4.2 "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) Die Aufarbeitung der Verbrechensserie der rechtsterroristischen Aufarbeitung NSU Gruppierung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) bildet nach wie vor einen Schwerpunkt der Arbeit von Strafverfolgungsund Sicherheitsbehörden. Dabei arbeiten Polizei, Justiz und Verfassungsschutz mit Hochdruck daran, die Taten des NSU vollständig aufzuklären und die NSU-Mitglieder und -Unterstützer strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Am 8. November erklärte die Bundesanwaltschaft, dass gegen BeaBundesanwaltschaft erhebt Anklage gegen te Zschäpe und vier weitere Beschuldigte Anklage erhoben werden 4 Beate Zschäpe sollte. Zschäpe ist die einzige Überlebende des NSU-Trios, das mehr als zehn Jahre im Untergrund gelebt und schwerste Straftaten begangen haben soll.29 In ihrer Anklage wirft die Bundesanwaltschaft Zschäpe u.a. die Mittäterschaft an zehn Morden und mehreren bewaffneten Raubüberfällen, die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und besonders schwere Brandstiftung vor. Zschäpe soll als gleichberechtigtes Mitglied des von der Bundesanwaltschaft als "einheitliches Tötungskommando" bezeichneten NSU gemeinsam mit Bönhardt und Mundlos für die Ermordung von neun türkischbzw. griechischstämmigen Kleingewerbetreibenden im gesamten Bundesgebiet und einer Polizistin in Heilbronn verantwortlich sein. Darüber hinaus wird ihr die Beteiligung an 15 bewaffneten Raubüberfällen und an zwei Sprengstoffanschlägen, u.a. im Juni 2004 in Köln, bei dem mehr als 20 Menschen zum Teil lebensgefährlich verletzt wurden, vorgeworfen. In der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft werden sowohl die Brutalität als auch die politische Dimension der NSU-Verbrechen in aller Deutlichkeit nachgezeichnet. Die Morde, so die Bundesanwaltschaft, sollten als "serienmäßige Hinrichtungen" verstanden werden, die aus rassistischen Gründen erfolgt seien. 29 Die anderen beiden Mitglieder des NSU-Trios, die Thüringer Rechtsextremisten Uwe Mundlos und Uwe Bönhardt, hatten sich im November 2011 im Anschluss an einen von ihnen begangenen Raubüberfall erschossen. 52 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Sicherheitsbehörden auf dem Prüfstand Im Zusammenhang mit den Taten des NSU wurden neben Zschäpe vier weitere Personen von der Bundesanwaltschaft u.a. wegen Beihilfe zum Mord und der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung angeklagt. Den vier Männern wird vorgeworfen, das NSUTrio logistisch und finanziell unterstützt zu haben. Diese Helfer sollen Zschäpe und ihren beiden Mittätern u.a. Waffen, Ausweispapiere, Unterkünfte und Fahrzeuge beschafft haben. Damit wird aus der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft auch deutlich, dass das NSU-Trio auf ein rechtsextremistisches Netzwerk zurückgreifen konnte, durch das es bei seinen Taten und dem Leben im Untergrund unterstützt wurde. Durch die Tatsache, dass dieses Netzwerk jahrelang nicht aufgeklärt werden konnte, steht seit der Aufdeckung der Taten des NSU auch die Arbeit der Sicherheitsbehörden auf dem Prüfstand. In mehreren parlamentarischen Untersuchungsausschüssen auf Bundesund Landesebene wird vor allem die Zusammenarbeit und der Informationsaustausch unter den einzelnen Sicherheitsbehörden kritisch hinterfragt. Verbesserter Informationsaustausch Konsequenzen aus dem Als eine der ersten Maßnahmen zur Verbesserung des InformaNSU - Fall tionsflusses zwischen den einzelnen Polizeiund Verfassungsschutzbehörden wurde im Dezember 2011 das "Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus" (GAR) eröffnet. Unter dem Dach des beim Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln und "Gemeinsames Abwehrdem Bundeskriminalamt in Meckenheim angesiedelten GAR werzentrum gegen Rechtsextremismus" (GAR) den in institutionalisierter Form Erkenntnisse ausgetauscht, Gefährdungspotenziale des Rechtsextremismus analysiert und neue Aufklärungsund Bekämpfungsansätze entwickelt. Mittlerweile hat sich das GAR zu einem unverzichtbaren Forum entwickelt, in dem die gleichberechtigte Partizipation von Polizei und Nachrichtendiensten an sicherheitsrelevanten Informationen sichergestellt wird. In enger Abstimmung werden zudem neue und weiterführende Maßnahmen zur Beobachtung und Bekämpfung des Rechtsextremismus getroffen. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 53 Im September wurde mit der "Rechtsextremismus-Datei" (RED) "RechtsextremismusDatei" (RED) ein weiteres Instrument für einen verbesserten Informationsaustausch unter den einzelnen Sicherheitsbehörden in Betrieb genommen. Nach dem Vorbild der "Antiterrordatei" (ATD) werden in der RED die bundesweiten Informationen zu Personen, Vereinigungen und Gruppierungen, die im Zusammenhang mit rechtsextremistischen Gewalttaten stehen, zusammengeführt. Zur Befüllung und zum Zugriff auf die RED sind insgesamt 36 deutsche Sicherheitsbehörden berechtigt. Im Zentrum all dieser Aktivitäten steht das Bemühen, eine weitere 4 Verbrechensserie wie die des NSU zu verhindern und den Aufbau neuer rechtsterroristischer Strukturen frühzeitig zu unterbinden. Ein verbesserter Informationsaustausch unter den einzelnen Sicherheitsbehörden kann hierfür ein entscheidender Baustein sein. 4.3 Aktionsorientierter Rechtsextremismus 4.3.1 Netzwerk "Freie Kräfte" formiert sich neu Im Bereich des aktionsorientierten Rechtsextremismus haben sich Aktionsorientierte Szene rückt zusammen die Aktionsund Organisationsformen der "Autonomen Nationalisten" (AN)30 in den vergangenen Jahren zum alles dominierenden Wesensmerkmal des gesamten Netzwerkes "Freie Kräfte" entwickelt. Als Folge dieser Entwicklung organisierten sich die vormals getrennt voneinander agierenden Akteure der AN und des sonstigen Netzwerkes "Freie Kräfte" verstärkt gemeinsam und traten auch öffentlich zunehmend als Einheit auf. Verantwortlich für dieses "Zusammenrücken" der Szene, dem sich auch die Berliner NPD angeschlossen hat, ist in erster Linie eine rückläufige Anzahl rechtsextremistischer Aktivisten. Aufgrund dieses spürbar geringeren Aktivistenpotenzials ist die rechtsextremistische Szene Berlins zurzeit nicht in der Lage, parallele Strukturen zu unterhalten. Dies änderte allerdings nichts am unverändert hohen GefährHohes Gefährdungspotenzial durch dungspotenzial aktionsorientierter Rechtsextremisten. Bei den aktionsorientierten verbliebenen Aktivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte" handelt es Rechtsextremismus 30 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 80 f. 54 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 sich aktuell ausschließlich um ideologisch gefestigte und in weiten Teilen gewaltbereite Neonazis, die ihre Aktivitäten infolge des immensen Drucks der Strafverfolgungsbehörden und der Öffentlichkeit noch konspirativer planten und durchführten. In den Fokus dieser Aktivitäten gerieten im vergangenen Jahr vor allem Personen und Institutionen, die sich gegen Rechtsextremismus engagierten. Sachbeschädigungen, Bedrohungen und Körperverletzungen - zumeist im Schutze nächtlicher Anonymität begangen - gehörten zum gängigen Handlungsrepertoire aktionsorientierter Rechtsextremisten in Berlin. Begleitet wurden die rechtsextremistischen Übergriffe von einem weitgehenden Verzicht auf politische Aktivitäten. Mit diesem Verzicht unterstrichen die Aktivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte", dass die aggressive Bedrohung politischer Gegner uneingeschränkt im Mittelpunkt ihrer Aktivitäten lag. Dies belegen auch die Fallzahlen rechtsextremistisch motivierter Kriminalität. Während bei der Gesamtzahl der Delikte im Vergleich zum Vorjahr ein moderater Anstieg zu verzeichnen ist, haben sich die Propagandadelikte - und hier insbesondere die "gegen links" gerichteten - mehr als verdoppelt. Auflösung der Doppelstruktur des Netzwerkes "Freie Kräfte" "Freie Kräfte" und "AuIn den vergangenen Jahren hatte sich im Netzwerk "Freie Kräfte" tonome Nationalisten" eine Doppelstruktur aus "Autonomen Nationalisten" und sonstigen aktionsorientierten Rechtsextremisten, die stärker subkulturell geprägt und eher kameradschaftsähnlich organisiert waren, herausgebildet. Das Phänomen der AN, das u.a. in Berlin seinen Ursprung hat, zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es mit traditionellen rechtsextremistischen Agitationsund Organisationsformen brach. An die Stelle starrer, mit strengen Hierarchien versehener Strukturen und tumber rechtsextremistischer Propaganda setzten die AN lose miteinander verbundene Netzwerkstrukturen mit flachen Hierarchien. Zugleich initiierten sie - nicht zuletzt durch die Adaption linksextremistischer Propagandaund Aktionsformen - ein neues und "moderneres" Erscheinungsbild der rechtsextremistischen Szene. Durch das zunächst geltende Prinzip der "Mitgliedschaft durch Mitmachen" einerseits und ihre jugendund erlebnisorientierten Aktionsformen andererseits gelang es den "Autonomen Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 55 Nationalisten" relativ schnell, einen größeren Unterstützerkreis zu rekrutieren, der in ein mehrere Stadtbezirke umspannendes Netzwerk eingebunden war. Den Höhepunkt ihrer personellen Expansion hatten die AN in Berlin in den Jahren 2008/2009 erreicht, in denen sie auf bis zu 130 Unterstützer zurückgreifen konnten (2011: 100 "Autonome Nationalisten"). Gleichzeitig kam es in Berlin - durchaus in bewusster Abgrenzung zu den lange Zeit in der rechtsextremistischen Szene hoch umstrittenen AN - zu einer Renaissance rechtsextremistischer Kameradschaftsstrukturen. 2008 hatte sich die Kameradschaft "Frontbann 4 24" gegründet, die mit ihrem uniformierten Auftreten zum Auffangbecken für vor allem lebensältere Neonazis wurde. Die Tatsache, dass sich "Frontbann 24" binnen kürzester Zeit bis zu 60 Personen angeschlossen hatten, war ein deutlicher Hinweis auf eine "Angebotslücke", die sich zum damaligen Zeitpunkt zwischen den beiden rechtsextremistischen Hauptakteuren NPD und AN aufgetan hatte. Wegen ihres aggressiven Auftretens und der offensichtlichen Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus wurde Verbot von "Frontbann 24" wirkt nach "Frontbann 24" am 5. November 2009 vom Senator für Inneres und Sport verboten; eine Entscheidung, die bis heute in der rechtsextremistischen Szene nachwirkt. Seit diesem Verbot gelang es keiner Gruppierung innerhalb des sonstigen Netzwerkes "Freie Kräfte", dauerhafte Strukturen zu etablieren, woran die Furcht vor strafrechtlichen Konsequenzen infolge des "Frontbann 24"-Verbots entscheidenden Anteil hatte. So beschränkten die verbliebenen etwa 80 Aktivisten des sonstigen Netzwerkes "Freie Kräfte" ihre Aktivitäten darauf, in verschiedenen rechtsextremistischen Trefforten - vor allem im Bezirk Treptow-Köpenick - Präsenz zu zeigen und an überregionalen rechtsextremistischen Veranstaltungen teilzunehmen. Verschmelzung der "Autonomen Nationalisten" mit dem sonstigen Netzwerk "Freie Kräfte" Diese Doppelstruktur zwischen "Autonomen Nationalisten" und Schwäche des aktionsorientierten den sonstigen "Freien Kräften" wurde im vergangenen Jahr zunehRechtsextremismus mend brüchig. Hierfür war in erster Linie die personelle und strukführt zur Auflösung der Doppelstruktur turelle Schwäche des gesamten aktionsorientierten Rechtsextremismus in Berlin verantwortlich. 56 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Den AN waren in den vergangenen Jahren mehrere ihrer regionalen Schwerpunkte weggebrochen.31 Anstatt auf ein bis zu fünf Bezirke umspannendes Netz konnten die AN nur noch auf ihre Stützpunkte in Lichtenberg und Neukölln zurückgreifen. Fehlende Führungspersönlichkeiten, ein gestiegener öffentlicher Druck und die verstärkte Abschottung der AN hatten zudem dazu geführt, dass sie mehr als ein Drittel ihrer Unterstützer verloren. Es war bezeichnend für ihr rückläufiges Mobilisierungspotenzial, dass von den "Autonomen Nationalisten" im vergangenen Jahr keine einzige öffentliche Veranstaltung in Berlin durchgeführt wurde. Nach jahrelangen Großdemonstrationen für ein "nationales Jugendzentrum" oder zum 1. Mai beschränkten sich die öffentlichen Auftritte der AN im vergangenen Jahr auf die Teilnahme an NPD-Veranstaltungen. Der einzige eigenständige öffentliche Auftritt der AN fand im brandenburgischen Hennigsdorf statt. Am 27. Juli hatten ca. 50 Rechtsextremisten aus Berlin und Brandenburg einen unangemeldeten "Fackelmarsch" für den verurteilten Kriegsverbrecher Erich Priebke durchgeführt. Annäherung ist Vor dem Hintergrund ihrer aktuellen Schwäche war die Annähezwangsläufig rung der "Autonomen Nationalisten" an die Aktivisten des sonstigen Netzwerkes "Freie Kräfte" eine zwangsläufige Entwicklung. Zumal sich die Vorbehalte gegen das Auftreten der AN in diesen Kreisen längst verflüchtigt hatten. Auch die Aktivisten des sonstigen Netzwerkes "Freie Kräfte" treten längst im Stile und mit dem Habitus der AN auf. Fehlte es den AN zunehmend an Aktivisten, so fehlten es dem sonstigen Netzwerk an Initiative, Struktur und Führungspersönlichkeiten. Mit den verstärkten gemeinsamen Aktivitäten wollten beide Gruppierungen ihre jeweiligen Defizite ausgleichen und sich gemeinsam dem gestiegenen Druck der Strafverfolgungsbehörden und der Öffentlichkeit entgegenstellen. 31 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 81 f. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 57 Infolge dieser gegenseitigen Abhängigkeit und der daraus resultierenden engeren Zusammenarbeit agierte das gesamte aktionsorientierte Spektrum des Berliner Rechtsextremismus im vergangenen Jahr als ein einheitliches informelles Netzwerk. Konzentrisches Kommunikationsnetzwerk Von entscheidender Bedeutung für die Funktionalität dieses NetzVeränderte Kommunikationsform werkes sind die von "Autonomen Nationalisten" etablierten, mittlerweile aber spürbar modifizierten Kommunikationsflüsse. Im ehemaligen Kommunikationsnetzwerk der AN wurden Informationen von mehreren gleichberechtigten lokalen Ansprechpartnern 4 weitergegeben und auf diese Weise Aktionen dezentral geplant und gesteuert. Im Unterschied dazu wird die Kommunikation des Netzwerkes "Freie Kräfte" aktuell von einer Führungsgruppe gesteuert, die sich aus zehn bis 15 Aktivisten der ehemaligen AN-Stützpunkte von Lichtenberg und Neukölln zusammensetzt. Aus dieser kleinen Gruppe heraus werden die Aktivitäten des Netzwerkes organisiert und ausgehend von diesem Führungszirkel Informationen von innen nach außen weitergeleitet. Um diese zehn bis 15 Führungskräfte des Netzwerkes schließen sich konzentrisch zwei Unterstützerkreise an. An einen ersten, enger angebundenen Unterstützerkreis von ca. 50 bis 60 Personen, schließt sich ein zweiter Kreis von nur lose angebundenen 70 bis 80 Anhängern an. Insgesamt kann das Netzwerk "Freie Kräfte" damit zurzeit auf etwa 160 Unterstützer zurückgreifen. Das Aktivpotenzial des Netzwerkes, also der Anteil an Personen, die regelmäßig an Treffen, öffentlichen Aktivitäten und überregionalen Veranstaltungen der rechtsextremistischen Szene teilnehmen, ist allerdings deutlich geringer und beläuft sich auf ca. 70 Personen. 58 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Neustrukturierung des Netzwerkes "Freie Kräfte" Bisheriger Aufbau Neuer Aufbau Lose Anhänger Fester "Autonome Sonstiges Netzwerk Unterstützerkreis Nationalisten" "Freie Kräfte" - 5 Bezirke umfassende - "Frontbann24", FNBM Netzwerkstruktur - "Henker"-Klientel 10 bis 15 - subkulturell, kamerad-köpfige Führungsschaftsähnlich organisiert gruppe aus den ehe- - konspirative, kaum maligen AN-Stützfassbare Strukturen punkten mit flachen Hierarchien - Schwerpunkt Schöneweide - ca. 80 - 100 Aktivisten - ca. 80 - 100 Aktivisten - ca. 50 - 60 Personen; 2/3 ehem. AN + 1/3 ehem. NFK - ca. 70 - 80 Personen; 1/3 ehem. AN + 2/3 ehem. NFK Gefestigte Verbindungen zur NPD Verflechtung mit der In Ermangelung eigener tragfähiger Strukturen griffen die AktivisNPD ten des Netzwerkes "Freie Kräfte" auch im vergangenen Jahr verstärkt auf die Ressourcen der NPD zurück. Damit verstetigte sich ein Trend, der bereits 2009 mit dem Aufbau des Berliner Landesverbandes der NPD-Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) durch Aktivisten der "Autonomen Nationalisten" seinen Ausgang genommen hatte. Seitdem haben sich die Verbindungen von NPD und "Freien Kräften" immer weiter vertieft. Die gewachsene Abhängigkeit der Partei vom Aktivistenpotenzial des Netzwerkes "Freie Kräfte" schlug sich auch in einer zunehmenden personellen Verflechtung nieder. Bereits seit Jahren ist eine Vielzahl "Autonomer Nationalisten" in NPD-Kreisverbänden aktiv. Spätestens seit 2010 prägen deren führende Aktivisten als Landesvorstandsmitglieder der Partei auch ganz offiziell das Bild der Berliner NPD.32 Dieses personelle Engagement von Aktivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte" ist allerdings keine Einbahnstraße. Bereits seit län32 Vgl. S. 81 f. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 59 gerem unterstützt die Partei die Aktivitäten der "Freien Kräfte" logistisch, indem sie etwa Räumlichkeiten in der Parteizentrale für Veranstaltungen zur Verfügung stellt, als formaler Anmelder für Kundgebungen auftritt oder Infostände des Netzwerkes "Freie Kräfte" unterstützt. Darüber hinaus betätigen sich führende Berliner NPD-Kader auch SeiB e.V. Tarnorganisation von Rechtsextreverstärkt für einen bereits 2010 von einer Gruppe "Autonomer Namisten tionalisten" gegründeten Verein. Dieser unter dem Namen "Sozial engagiert in Berlin e.V." (SeiB e.V.) auftretende Verein dient als Tarnorganisation aktionsorientierter Rechtsextremisten, der ins- 4 besondere für die Anmietung von Immobilien genutzt wird. Geführt wird dieser Verein zurzeit von zwei Landesvorstandsmitgliedern der Berliner NPD, die auf diesem Wege ganz bewusst ihre Stellung und die damit verbundenen finanziellen und rechtlichen Möglichkeiten in den Dienst gewaltbereiter Neonazis stellen. Von den "Freien Kräften" dürfte die zunehmende Verzahnung mit der Berliner NPD nicht zuletzt vor dem Hintergrund mehrerer Verbote rechtsextremistischer Vereinigungen im gesamten Bundesgebiet33 forciert worden sein. Unter dem weitgehenden Verzicht auf eigene Strukturen wurden verschiedene Aktionen unter dem Deckmantel und damit dem Schutz der Partei geplant und durchgeführt. Die Tatsache, dass sich die regionalen Schwerpunkte des Netzwerkes "Freie Kräfte" in den Bezirken befinden, in denen auch die NPD ihre letzten aktiven Kreisverbände unterhält, ist ein weiterer Beleg für die gegenseitige Unterstützung und enge Kooperation von NPD-Anhängern und parteifreien Neonazis. Lichtenberg, Treptow-Köpenick und Neukölln als Zentren des aktionsorientierten Rechtsextremismus Die regionalen Schwerpunkte des Netzwerkes "Freie Kräfte" finden Regionale Schwerpunkte in Berlin sich in den Bezirken Lichtenberg, Treptow-Köpenick und Neukölln. Allerdings unterscheiden sich diese drei lokalen Zentren des aktionsorientierten Rechtsextremismus zum Teil erheblich im Hinblick 33 Betroffen hiervon waren mehrere rechtsextremistische Vereinigungen in Brandenburg ("Widerstandsbewegung in Südbrandenburg"), in Nordrhein-Westfalen (s. FN 37) und in Niedersachsen ("Besseres Hannover"). 60 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 auf das Personenpotenzial, die personelle Zusammensetzung und auch die Historie der einzelnen Schwerpunkte. Lichtenberg Die entscheidende Rolle innerhalb des Netzwerkes "Freie Kräfte" fällt dabei den aktionsorientierten Rechtsextremisten des Bezirks Lichtenberg zu. Bei den dortigen Aktivisten handelt es sich ausnahmslos um langjährig aktive Neonazis, die bereits im Netzwerk der "Autonomen Nationalisten" aktiv waren. Der neonazistische Vorlauf der dortigen "Freien Kräfte" reicht zum Teil bis in die Kameradschaftsszene der bereits 2005 verbotenen rechtsextremistischen Kameradschaften "Tor" und "BASO" zurück. Aufgrund ihrer langjährigen Zugehörigkeit zur Szene genießen die dortigen Aktivisten ein entsprechend hohes Ansehen. Da zurzeit auch nahezu alle Initiativen des Netzwerkes "Freie Kräfte" von diesem Personenkreis ausgehen, nehmen die Lichtenberger Rechtsextremisten auch in strategischer Hinsicht eine dominierende Stellung ein. Entscheidend trägt hierzu ein von ihnen bereits 2011 angemietetes Ladenlokal bei, das sich zum zentralen Treffort aktionsorientierter Rechtsextremisten in Lichtenberg, mit Bedeutung über den Bezirk hinaus, entwickelt hat. Vor dem Hintergrund dieser Logistik, ihrer strategischen Dominanz und der hohen Anzahl gewaltbereiter Aktivisten kann der Lichtenberger Stützpunkt des Netzwerkes "Freie Kräfte" aktuell als das Zentrum des aktionsorientierten Rechtsextremismus in Berlin bezeichnet werden. Treptow - Köpenick Ein noch größeres Personenpotenzial aktionsorientierter Rechtsextremisten ist im Bezirk Treptow-Köpenick ansässig. Speziell im Ortsteil Schöneweide hat sich in den letzten Jahren eine rechtsextremistische Infrastruktur entwickelt, zu der neben der NPDParteizentrale mehrere von Rechtsextremisten frequentierte Kneipen und das Ladengeschäft des aktuellen NPD-Landesvorsitzenden gehören. Anders als in Lichtenberg entstammen die dortigen Rechtsextremisten mehrheitlich nicht den AN, sondern der rechtsextremistischen Kameradschaftsszene. Der Schwerpunkt ihrer Aktivitäten hat sich in den vergangenen Jahren immer mehr in den eigenen Kiez verlagert, der gegen Ausländer und Linke "verteidigt" werden soll. In strategischer Hinsicht kommt den Rechtsextremisten aus Treptow-Köpenick eine eher untergeordnete Rolle Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 61 zu; aufgrund der Masse ihrer Aktivisten bilden sie gleichwohl einen Schwerpunkt des aktionsorientierten Rechtsextremismus in Berlin. Eine deutlich geringere Anzahl an Rechtsextremisten ist im dritten Neukölln Zentrum des Netzwerkes "Freie Kräfte", dem Süden Neuköllns, aktiv. Zur dortigen Szene gehören sowohl ehemalige "Autonome Nationalisten" als auch ehemalige Kameradschaftsangehörige, von denen einige zum engsten Führungszirkel des Netzwerkes "Freie Kräfte" gehören. Zahlenmäßig ist Neukölln sicherlich der kleinste der regionalen Schwerpunkte des aktionsorientierten Rechtsextremismus. Allerdings zeichnen sich die dortigen Aktivisten durch ein 4 hohes Aktivitätsniveau und eine enorme Gewaltbereitschaft aus. Zudem ist in Neukölln die Vermischung von Aktivitäten, Personen und Infrastruktur des parlamentsund aktionsorientierten Rechtsextremismus am weitesten fortgeschritten. Durch die nahezu vollständige Verschmelzung der "Freien Kräfte" mit dem Neuköllner Kreisverband der NPD zeigte sich die dortige Neonaziszene äußerst kompakt und aktiv. Nachdem ein Treffort Neuköllner Rechtsextremisten im Februar geschlossen wurde, ist es den dortigen Aktivisten zudem erneut gelungen, eine kleinere Räumlichkeit als Treffund Rückzugsort anzumieten. Bei allen Unterschieden zwischen den rechtsextremistischen Sze"Sturmabende" nen in Lichtenberg, Treptow-Köpenick und Neukölln verstehen sich die Aktivisten des aktionsorientierten Rechtsextremismus in erster Linie als Teil einer gemeinsamen "nationalen Bewegung". Auf der Basis dieses Verständnisses veranstalteten aktionsorientierte Rechtsextremisten aller drei regionalen Schwerpunkte seit Mitte 2012 gemeinschaftlich so genannte "Sturmabende". Diese regelmäßigen Treffen, die sowohl in einer im Ortsteil Schöneweide gelegenen rechtsextremistischen Kneipe als auch einem rechtsextremistischen Treffort im Bezirk Lichtenberg stattfanden, waren die sichtbarsten Zeichen für die neue Geschlossenheit des Netzwerkes "Freie Kräfte". Mit der Durchführung dieser "Sturmabende" sollte die Zusammenarbeit aktionsorientierter Rechtsextremisten in einem institutionalisierten Rahmen professionalisiert werden. 62 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Neben der ideologischen und strategischen Schulung der "Sturmabend"-Teilnehmer dienten diese Veranstaltungen auch dem Aufbau und der Pflege persönlicher Kontakte und der Planung gemeinsamer Aktivitäten. Aggressive Aktionsformen Provokationen und Diese gemeinsamen Aktivitäten wurden im Verlauf des vergangeBedrohungen nen Jahres zunehmend aggressiver. Während sich die Aktivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte" im ersten Halbjahr 2012 zumindest noch in Ansätzen politisch betätigten34, stand die zweite Jahreshälfte uneingeschränkt im Zeichen der Provokation und Bedrohung von Institutionen und Personen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Diese wurden im August Opfer einer regelrechten Serie rechtsextremistisch motivierter Straftaten. Im Zuge dieser Serie kam es zu diversen Schmierereien und Sachbeschädigungen an linken Objekten und Parteibüros. Darüber hinaus wurden Rechtsextremismusgegner auf offener Straße attackiert und eine Familie, die sich im Wahlkampf gegen NPD-Wahlwerbung in ihrem Briefkasten gewehrt hatte, mehrfach unter ihrer Wohnanschrift bedroht. Diese Straftaten-Serie gipfelte darin, dass die Briefkästen von zwei Berliner Politikern mit pyrotechnischen Gegenständen gesprengt wurden. In beiden Fällen wurden zudem die Wohnungsfenster der Betroffenen durch Steinwürfe beschädigt. Serie extremistischer Zwischen dem 2. und 9. Oktober kam es zu einer zweiten SeStraftaten rie rechtsextremistischer Straftaten, bei der in mehreren Berliner Stadtbezirken und dem Brandenburger Umland insgesamt 27 Straftaten registriert wurden. An mehreren Parteibüros und linken Objekten wurden Fensterscheiben eingeworfen und rechtsextremistische Schmierereien hinterlassen. Darüber hinaus wurde die Wohnung des Sprechers einer Brandenburger Initiative gegen Rechtsextremismus auf die gleiche Weise attackiert wie zuvor die Wohnungen der beiden Berliner Politiker im August. Eine Scheibe wurde zerstört und der Briefkasten des Geschädigten durch den gezielten Einsatz von Pyrotechnik zerstört. Schließlich wurde auch 34 Zu Beginn des Jahres beteiligten sich die Aktivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte" an mehreren NPD-Veranstaltungen in Berlin und überregionalen rechtsextremistischen Demonstrationen, wie z.B. dem "Trauermarsch" Anfang Februar in Dresden. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 63 eine Asylbewerberunterkunft im südlich von Berlin gelegenen Waßmannsdorf zum Ziel von Sachbeschädigungen und rechtsextremistischen Schmierereien. Die Ermittlungen in beiden Straftatenserien dauern an. Und obAndauernde Ermittlungen wohl noch keine konkreten Hinweise auf Tatbeteiligte vorliegen, lässt vor allem der an nahezu allen Tatorten hinterlassene Verweis auf die rechtsextremistische Internetseite "nw-berlin"35 auf einen bei vielen Straftaten identischen Täterkreis aus den Reihen aktionsorientierter Rechtsextremisten aus Berlin und dem näheren Umland schließen. 4 Unterschiede offenbaren sich allerdings im Hinblick auf die den beiMotive der Straftatenserie den Straftatenserien zugrunde liegenden Motive. Speziell die Strafim August taten im August waren auf das Zusammentreffen mehrerer Ereignisse zurückzuführen. So dürfte es sich bei den Attacken auf die Wohnhäuser von zwei Berliner Politikern um gezielte so genannte "Anti-Antifa-Aktivitäten" gehandelt haben. Die Geschädigten sollten eingeschüchtert und ihnen durch die Bedrohung unter ihrer Wohnanschrift verdeutlicht werden, dass sie im Fokus gewaltbereiter Rechtsextremisten stehen. Andere Schmierereien im August ließen einen klaren Bezug zum Todestag des in rechtsextremistischen Kreisen glorifizierten Rudolf Heß36 erkennen. Um diesen Termin kam es bereits in den vergangenen Jahren immer wieder zu einer Häufung rechtsextremistischer Schmierund Klebeaktionen. Schließlich war ein großer Teil der Schmierereien und Sachbeschädigungen des Monats August auf die Verbote dreier rechtsextremistischer Kameradschaften in Nordrhein-Westfalen37 und den so 35 Vgl. S. 65 ff. 36 Rudolf Heß war ein führender Nationalsozialist und fanatischer Anhänger Adolf Hitlers. Berühmtheit erlangte Heß vor allem mit seinem so genannten "Friedensflug", mit dem er Großbritannien 1941 zum Friedensschluss mit dem nationalsozialistischen Deutschland bewegen wollte. Im Rahmen der "Nürnberger Prozesse" wurde Heß 1946 u.a. wegen der Planung eines Angriffskrieges zu lebenslanger Haft verurteilt. Heß starb 1987 im Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau. 37 Am 23. August hatte der Minister für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen die drei rechtsextremistischen Vereinigungen "Kameradschaft Aachener Land", "Nationaler Widerstand Dortmund" und "Kameradschaft Hamm" verboten. Im Zuge dieser Verbote kam es zu Durchsuchungen in 146 Wohnungen, Vereinsräumen und sonstigen Objekten, bei denen neben vielfältigem rechtsextremistischem Propagandamaterial u.a. auch Schusswaffen, Schlagringe, Springmesser und Baseballschläger sichergestellt wurden. Insbesondere zum "Nationalen Widerstand Dortmund" unterhielten auch Berliner Rechtsextremisten Kontakte. 64 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 genannten "Antikriegstag" in Dortmund zurückzuführen. Diese Maßnahmen zogen eine breite Welle der Solidarisierung innerhalb der rechtsextremistischen Szene nach sich. In Berlin wurden in diesem Zusammenhang vor allem SPD-Parteibüros, stellvertretend für das von der SPD geführte und für die Kameradschaftsverbote verantwortliche Ministerium in Nordrhein-Westfalen, von Rechtsextremisten attackiert und mit Schmierereien wie "Rache für Dortmund" versehen. Diese Aktionen, deren zeitliche Nähe mit dem ersten "Sturmabend" des gesamten Netzwerkes "Freie Kräfte" kein Zufall gewesen sein dürfte, sind zweifellos als koordinierte und zielgerichtete Angriffe zu bewerten. Motive der Um eine konzertierte Aktion dürfte es sich auch bei der zweiten AnStraftatenserie im Oktober schlagsserie vom Oktober gehandelt haben. Der zeitliche Zusammenhang der Taten, von denen der Großteil in der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober begangen wurde, die sich ähnelnden Tatmuster und der wiederkehrende Verweis auf die rechtsextremistische Internetseite "nw-berlin" an den Tatorten legten eine gemeinschaftliche Planung der diversen Sachbeschädigungen nahe. Anders als im August, als ein Großteil der Straftaten eine Reaktion auf den Druck der Strafverfolgungsbehörden darstellte, wollte die rechtsextremistische Szene mit den Attacken vom Oktober ohne konkreten Anlass vor allem ihre Handlungsfähigkeit und ihre Gefährlichkeit öffentlich demonstrieren. Dabei hatten es die Täter mit den von ihnen ausgewählten Anschlagszielen auch bewusst auf ein möglichst breites Spektrum rechtsextremistischer Feindbilder abgesehen. Ihre Ziele standen symbolisch für den Hass auf Ausländer, die Auseinandersetzungen mit der "Antifa" und die aggressive Verteidigung des zum "eigenen Kiez" erklärten Wohnviertels. Auf diese Weise sollte der eigenen Anhängerschaft signalisiert werden, dass man sich dem gestiegenen Druck der Öffentlichkeit nicht ohne weiteres beugen werde. Zugleich sollte mit den diversen Sachbeschädigungen einmal mehr eine Drohkulisse gegenüber politischen Gegnern aufgebaut und so verlorene Macht im öffentlichen Raum zurückgewonnen werden. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 65 Wie die Fallzahlen politisch rechts motivierter Kriminalität zeigen, mündete die massive Zunahme rechtsextremistischer Propagandadelikte bislang noch nicht in vermehrten unmittelbaren Übergriffen auf Personen. Die Anzahl entsprechender Gewaltdelikte "gegen links" war im Vergleich zum Vorjahr sogar signifikant rückläufig. Dies ist ein Indiz dafür, dass Rechtsextremisten aktuell verstärkt auf konspirative Aktivitäten setzen und die direkte Konfrontation Verstärkte konspirative Aktivitäten - weniger mit dem politischen Gegner eher meiden. Zugleich weisen die verdirekte Konfrontation mehrten Drohgebärden aber auch auf eine spürbar aufgeheizte Stimmung innerhalb der rechtsextremistischen Szene hin, die sich situativ bedingt jederzeit auch in tätlichen Übergriffen auf Auslän- 4 der, Migranten oder politisch Andersdenkende entladen kann. "nw-berlin" offline Zusätzlich angeheizt wurde diese feindselige Grundstimmung Internetseite "nw - berlin" durch die Internetseite "nw-berlin", die in den letzen Jahren zu einer der bedeutendsten regionalen rechtsextremistischen Internetplattformen avancierte. Das Hauptanliegen von "nw-berlin" bestand von Anfang an in der "Anti-Antifa-Agitation". In Reaktion auf Outings und Recherchen zu rechtsextremistischen Personen und Veranstaltungen durch die linke "Antifa" sollte "nw-berlin" als Gegengewicht, mit dem Ziel der Einschüchterung und Diffamierung des politischen Gegners, dienen. Unter der Rubrik "Recherche" wurden auf der Internetseite die Personalien von politischen Gegnern gepostet und Berichte über Gerichtsverhandlungen und vermeintlich linksextremistische Gewalttaten eingestellt. Seit 2006 existierte zudem eine "Chronik", in der die Adressen linker Szeneobjekte benannt und diese in steckbriefartiger Form herabgewürdigt und diskreditiert wurden. Vor allem diente diese Auflistung so genannter "linker Läden" dazu, den Angehörigen des Netzwerkes "Freie Kräfte" Informationen über Objekte der politischen Gegner zur Verfügung zu stellen. Tatsächlich wurden verschiedene Objekte dieser Liste - zum Teil bereits mehrfach - zum Ziel von Sachbeschädigungen und Brandanschlägen. Darüber hinaus diente die Seite auch der ideologischen Standortbestimmung, der Verherrlichung von NS-Größen und nicht zuletzt als Mobilisierungsinstrument für rechtsextremistische Veranstal- 66 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 tungen. Dabei bekannten sich die Betreiber der Seite offen zum Nationalsozialismus und machten auch aus ihren verfassungsfeindlichen Zielen keinen Hehl: "Wir als Nationalsozialisten streben einen Systemwechsel und damit eine Zeit an, in welcher dieses System und dieser Staat zusammenbrechen soll [...]"38. Mehrere StrafermittWegen solcher und ähnlicher Äußerungen wurde die Seite "nw-berlungsverfahren lin" bereits im April 2011 durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert. Seitdem war die Seite nicht mehr über Internet-Suchmaschinen auffindbar. Darüber hinaus wurden von den Strafverfolgungsbehörden mehrere Strafermittlungsverfahren wegen der Aufforderung zu Straftaten, Volksverhetzung, Bedrohung / Beleidigung und Verstößen gegen das Kunstund Urheberrechtsgesetz eingeleitet. Im Zuge dieser Ermittlungsverfahren durchsuchte die Polizei im März die Wohnund Geschäftsräume von drei Rechtsextremisten - darunter zwei Vorstandsmitglieder der Berliner NPD39 -, die verdächtigt werden, mit "nw-berlin" in Verbindung zu stehen. Dabei wurde umfangreiches Material sichergestellt. Parallel dazu richtete die Berliner Staatsanwaltschaft ein Rechtshilfeersuchen an die zuständigen Behörden der USA, um von dem dort beheimateten Provider weitere Daten, wie beispielsweise die IP-Adressen der "nw-berlin"-Betreiber, zu erlangen. Das umfangreiche Datenpaket, das daraufhin aus den USA übersandt wurde, ist nach wie vor Gegenstand intensiver Auswertungen. "nw - berlin" nicht mehr Sowohl die Indizierung der Seite als auch das konsequente Voraufrufbar gehen der Strafverfolgungsbehörden wirkten sich spürbar auf die Aktivitäten der Seitenbetreiber aus. So waren die von "nw-berlin" auf eine eigene Domain ausgelagerten Informationen der "Chronik" seit Oktober nicht mehr aufrufbar. Darüber hinaus wurde auch die Seite "nw-berlin" deutlich seltener aktualisiert (ca. ein bis zwei neue Artikel monatlich) als noch in den vergangenen Jahren, was auf eine Verunsicherung der Betreiber aufgrund der diversen Straf38 Atomkraft oder regenerative Energien?", Internetauftritt des "Nationalen Widerstands Berlin", datiert 8.10.2012. 39 Vgl. S 85. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 67 verfahren schließen ließ. Über einen Zeitraum von mehreren Wochen war die Seite zudem gar nicht mehr aufrufbar. Seit Ende Dezember ist "nw-berlin" permanent offline. Eine Begründung oder Erklärung für die Abschaltung liegt bislang nicht vor. Ein Zusammenhang mit dem erhöhten Druck der Strafverfolgungsbehörden erscheint in diesem Zusammenhang allerdings plausibel. Das Aus für "nw-berlin" wird allerdings kaum das Ende der InterEnde der Internetaktivitäten nicht zu erwarten netaktivitäten aktionsorientierter Rechtsextremisten in Berlin bedeuten. Bislang liegen zwar noch keine Hinweise auf eine regionale Website mit ähnlich hoher Symbolund Integrationskraft für 4 die rechtsextremistische Szene vor. Allerdings dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis die Betreiber von "nw-berlin" oder rechtsextremistische Nachahmer ihr menschenverachtendes Gedankengut auf einer anderen Website propagieren.40 Das Vorgehen gegen "nw-berlin" hat jedoch auch gezeigt, dass es für Rechtsextremisten deutlich schwerer geworden ist, sich einer strafrechtlichen Verfolgung durch die vermeintliche Anonymität des Internets zu entziehen. Auch in diesem Bereich haben die Strafverfolgungsbehörden den Druck auf die rechtsextremistische Szene spürbar erhöht. Netzwerk "Freie Kräfte" vor ungewisser Zukunft Dieser Druck wird auch in Zukunft das Handeln des Netzwerkes Rechtsextremismus - Strukturen labil "Freie Kräfte" maßgeblich beeinflussen. Alle öffentlichen Aktivitäten des Netzwerkes dürften weiterhin nahezu ausschließlich unter dem Deckmantel der NPD stattfinden. Auf diese Weise werden die Aktivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte" auch zukünftig handlungsund kampagnenfähig bleiben, ohne in der Öffentlichkeit mit eigenen Strukturen auftreten zu müssen. Eine Strategie, durch die den "Freien Kräften" die Ausnutzung der Vorteile des Parteienprivilegs ermöglicht wird und mit der sie sich zudem möglichen Vereinsverboten zu entziehen versuchen. Es bleibt allerdings abzuwarten, wie belastbar die neue Allianz aus parlamentsund aktionsorientierten Rechtsextremisten in Berlin sein wird. 40 Auf lokaler Ebene existieren bereits entsprechende rechtsextremistische Internetauftritte, wie z.B. die Website der "Freien Kräfte Berlin Neukölln". Eine berlinweite oder sogar überregionale Bedeutung haben diese Internetseiten bislang jedoch nicht erlangt. 68 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Es ist nicht auszuschließen, dass alte und neue Konflikte zwischen der NPD und den "Freien Kräften" einerseits, aber auch innerhalb des Spektrums der aktionsorientierten Rechtsextremisten andererseits aufbrechen. Ideologische Differenzen, persönliche Animositäten und auch strategische Überlegungen können jederzeit dazu führen, dass die aktuelle Zusammenarbeit innerhalb der heterogenen rechtsextremistischen Szene Berlins wieder beendet wird. Schwindende AnzieVor allem die NPD dürfte durch den Zwang zur öffentlichen Mähungskraft der NPD durch Zwang zur öffentßigung, dem sie vor dem Hintergrund des angestrebten Verbotslichen Mäßigung verfahrens gegen die Partei unterliegt, für eine Vielzahl aktionsorientierter Rechtsextremisten zunehmend an Anziehungskraft verlieren. Dies dürfte sich auch auf die ohnehin bereits von immer weniger Teilnehmern frequentierten öffentlichen NPD-Demonstrationen und -Kundgebungen auswirken. An die Stelle solcher legalen politischen Aktionen werden für aktionsorientierte Rechtsextremisten kurzund mittelfristig noch stärker als bisher anonyme und aggressive Aktionsformen treten. Die "Anti-Antifa-Arbeit", das Bedrohen und Einschüchtern politischer Gegner, Ausländer und Menschen mit Migrationshintergrund wird dabei weiterhin den Aktionsschwerpunkt des Netzwerkes "Freie Kräfte" darstellen. Radikalisierung von Aus der Strukturlosigkeit und der zunehmenden Konspiration der Einzelpersonen rechtsextremistischen Szene erwächst zudem eine weitere Herausforderung für die Sicherheitsbehörden. Einzelpersonen, deren rechtsextremistische Ideologie nicht mehr durch regelmäßige Aktivitäten und feste Gruppenstrukturen innerhalb der rechtsextremistischen Szene Berlins kanalisiert werden, könnten sich allein oder in Kleinstgruppen immer stärker radikalisieren und auf extremere Aktionsformen zurückgreifen. 4.3.2 Netzwerk "Rechtsextremistische Musik" ohne neue Impulse Zweiter integraler Bestandteil des aktionsorientierten Rechtsextremismus in Berlin ist das Netzwerk "Rechtsextremistische Musik". In diesem Netzwerk sind zum einen mehrere Bands und Liedermacher aktiv, zum anderen aber auch Einzelpersonen und Personenzusammenschlüsse wie beispielsweise die "Hammerskins" Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 69 und "Vandalen", die im Umfeld der Bands agieren und diese vor allem logistisch unterstützen. Insgesamt sind etwa 180 Personen in das Netzwerk "Rechtsextremistische Musik" eingebunden, die sich auf unterschiedlichen Wegen an der Produktion und dem Vertrieb rechtsextremistischer Musik beteiligen oder an rechtsextremistischen Konzerten teilnehmen, diese organisieren bzw. organisatorisch unterstützen und nicht zuletzt Kontakte in die bundesweit aktive rechtsextremistische Musikszene aufbauen und pflegen. Geprägt wird das Berliner Netzwerk "Rechtsextremistische Musik" Sechs aktive Bands bereits seit Jahren vor allem von den aktuell sechs aktiven Bands 4 "Die Lunikoff-Verschwörung", "D.S.T./X.x.X.", "Legion of Thor", "Marci & Kapelle"41, "Punk Front" und "Second Class Citizen"42. Stilistisch sind alle Bands in den Bereichen Rock / Hardrock bzw. Hardcore / Hatecore zu verorten. Andere Musikstile, wie beispielsweise Hip-Hop oder NS-Black-Metal spielen für die überwiegend lebensälteren Anhänger der rechtsextremistischen Bandund Musikszene Berlins bislang kaum eine Rolle. So setzten sich auch die vorsichtigen Verjüngungsund Modernisierungstendenzen, die sich in den vergangenen Jahren innerhalb der rechtsextremistischen Musikszene Berlins abgezeichnet hatten43, im vergangenen Jahr nicht weiter fort. Dies lag auch daran, dass die Berliner Bands deutlich weniger AktiWeniger Aktivitäten vitäten als noch 2011 entfalteten. Brachten 2011 noch drei Berliner Bands und zwei Liedermacher neue Tonträger heraus, veröffentlichte im vergangenen Jahr lediglich der Frontmann der Band "Die Lunikoff-Verschwörung" eine neue eigenständige CD. Unter der Bezeichnung "Old Lu & das Höllenfahrtskommando" wurden auf der CD "Vermindert Schuldfähig" ausschließlich Coversongs alter Punkbands nachgespielt. Der Versuch, auf diesem Wege die linke Szene zu provozieren und so eine möglichst große Öffentlichkeit für die neue CD zu erzielen, scheiterte allerdings. 41 "Marci & Kapelle" agiert auch unter dem Pseudonym "TV". "TV" steht für "Tätervolk". 42 Für detaillierte Bewertungen der einzelnen Bands vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Rechtsextremistische Musik. Berlin 2012, S. 13 ff. 43 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 100. 70 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Sowohl innerals auch außerhalb der rechtsextremistischen Szene blieb die CD weitgehend unkommentiert. Solidarität für mutmaßlichen NSU-Unterstützer "Solidarität Vol. 4" Für mehr Aufsehen sorgte dagegen ein rechtsextremistischer Sampler mit dem Titel "Solidarität Vol. 4". Mit der CD, an der sich neben der "Lunikoff-Verschwörung" noch 15 weitere rechtsextremistische Bands und Einzelinterpreten, darunter auch die Berliner Band "Tätervolk" beteiligten, sollte neben Horst Mahler auch der mutmaßliche NSU-Terrorhelfer Ralf Wohlleben ideell und materiell unterstützt werden. So enthält das Lied "Solidarität" der Band SKD44 beispielsweise eine Solidaritätsadresse, in der wörtlich "Freiheit für Wolle45" gefordert wird. Dem Facebook-Eintrag eines thüringischen Rechtsextremisten zufolge soll zudem das gesamte mit dem Vertrieb der CD eingenommene Geld Wohlleben zugute kommen. Diese Unterstützung eines der wichtigsten mutmaßlichen Helfer des "Nationalsozialistischen Untergrundes" (NSU) wirft ein bezeichnendes Licht auf die rechtsextremistische Musikszene und eine dort in Teilen offensichtlich vorhandene Sympathie für die Taten des NSU und deren Helfer. Neben den Sampler-Beiträgen von "Tätervolk" und der "LunikoffVerschwörung" brachte auch die Band "Punk Front" drei neue Lieder heraus, die sie auf der Split-CD "Angry, young and punk" gemeinsam mit der rechtsextremistischen Band "Angry Bootboys" aus Nordrhein-Westfalen veröffentlichte. "Lunikoff"-Konzerte als rechtsextremistische Großveranstaltungen Vermarktung durch Im Mittelpunkt der Aktivitäten Berliner Bands stand im vergangeLive - Auftritte nen Jahr allerdings weniger die Veröffentlichung neuer Tonträger als vielmehr die Vermarktung ihrer Musik im Rahmen von Liveauftritten. Als Zugpferd erwies sich dabei einmal mehr "Die LunikoffVerschwörung". Die Band trat gemeinsam mit anderen Bands bei mehreren Großveranstaltungen wie etwa am 5. Mai beim so ge44 Die Abkürzung SKD steht für "Sonderkommando Dirlewanger". Dieses "Sonderkommando" war eine SS-Einheit unter der Leitung Oskar Dirlewangers, die während des Zweiten Weltkrieges für eine Vielzahl von Kriegsverbrechen verantwortlich war. 45 Bei "Wolle" handelt es sich um den Spitznamen Wohllebens. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 71 nannten "Eichsfeldtag" in Thüringen und am 29. September in Riesa auf, wo sie anlässlich des Ausscheidens Eckart Bräunigers aus dem NPD-eigenen "Deutsche Stimme Verlag" spielte. Die bis zu 1000 Besucher dieser Konzerte dokumentierten die innerhalb der rechtsextremistischen Szene nach wie vor ungebrochene Popularität der Band. Die Ausnahmestellung der "Lunikoff-Verschwörung" wird vor allem mit Blick auf die üblichen Besucherzahlen rechtsextremistischer Konzerte deutlich. Diese lagen im zweiten und dritten Quartal 2012 bei durchschnittlich nicht mehr als 150 bis 215 Personen.46 Dies 4 dürfte auch damit zusammenhängen, dass es für die Veranstalter rechtsextremistischer Konzerte immer schwerer geworden ist, diese unbemerkt von Polizei und Öffentlichkeit zu organisieren. Zum Teil konnte die Durchführung rechtsextremistischer Konzerte auch bereits im Vorfeld unterbunden werden. Davon war 2012 auch die Berliner Band "D.S.T./X.x.X." betroffen. Zwei in Mecklenburg-Vorpommern geplante Konzerte, bei denen auch "D.S.T./X.x.X." auftreten sollte, wurden von der zuständigen Polizeibehörde untersagt. In einer der entsprechenden Untersagungsverfügungen wurde diese Entscheidung u.a. damit begründet, dass durch die öffentliche Aufführung des Liedgutes von "D.S.T./X.x.X." die Gefahr bestanden hätte, dass die Band und ihre Zuhörer zu Straftaten animiert worden wären.47 Als Reaktion auf den anhaltend hohen staatlichen VerfolgungsKonzerte werden geheim organisiert druck ist die rechtsextremistische Musikszene bereits seit längerem darum bemüht, ihre Konzerte und sonstigen Veranstaltungen unter größtmöglicher Geheimhaltung zu organisieren. Nur auf diese Weise war es Angehörigen des Berliner Netzwerkes "Rechtsextremistische Musik" im August gelungen, unbemerkt von der Öffentlichkeit eine größere Feier auf einem Industriegelände im Bezirk Lichtenberg durchzuführen. 46 Vgl. www.bundestag.de: "Im Bundestag notiert", datiert: 23. und 30.11.2012. 47 "D.S.T./X.x.X." hat bisher ausschließlich CDs veröffentlicht, die von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert wurden und in Teilen auch strafrechtlich relevant waren. 72 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Bei dieser Feier, die durch die Berliner Polizei aufgedeckt werden konnte, wurden zahlreiche Szeneangehörige, darunter Mitglieder der "Vandalen", festgestellt. Bei den "Vandalen" handelt es sich um eine seit 30 Jahren aktive Neonazigruppierung, die vom ehemaligen "Landser"-Frontmann und aktuellen Kopf der rechtsextremistischen Band "Die Lunikoff-Verschwörung" mitbegründet wurde.48 Öffentlich treten die maximal 15 Mitglieder der "Vandalen" kaum noch in Erscheinung. Dessen ungeachtet spielen sie in der rechtsextremistischen Musikszene Berlins nach wie vor eine nicht zu unterschätzende Rolle. Netzwerk "Rechtsextremistische Musik" weiter unter Druck Staatlicher Wie in den Vorjahren war das Netzwerk "Rechtsextremistische MuVerfolgungsdruck sik" auch 2012 erheblichem staatlichen Verfolgungsdruck ausgesetzt. Mit Indizierungen49, Durchsuchungsmaßnahmen und der konsequenten juristischen Verfolgung strafrechtlich relevanter Veröffentlichungen wurden die Aktivitäten der rechtsextremistischen Musikszene weiter erschwert. "Schulhof - CD Berlin" Im Fokus der Strafverfolgungsbehörden stand dabei neben der Berliner NPD auch der Landesvorsitzende der Partei persönlich. Wegen des Verdachts der Volksverhetzung im Zusammenhang mit der im Wahlkampf 2011 von der Partei eingesetzten "Schulhof-CD Berlin" fanden im Mai mehrere Durchsuchungen statt. Betroffen hiervon war neben der NPD-Parteizentrale auch der Laden des NPD-Landesvorsitzenden. Neben mehreren hundert Exemplaren der "Schulhof-CD Berlin", die nach der Indizierung durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) nicht mehr beworben und uneingeschränkt vertrieben werden darf, wurden im Zuge der Durchsuchungen auch 400 Booklets, Aktenunterlagen und weitere CDs mit mutmaßlich volksverhetzendem Inhalt sichergestellt. Speziell die Funde im Laden des Berliner NPD-Landesvorsitzenden deu48 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 186. 49 Im Jahr 2012 indizierte die BPjM vier rechtsextremistische Tonträger mit Berlinbezug. Dies betraf die rechtsextremistischen Bands "Second Class Citizen", "Die Lunikoff-Verschwörung" und "D.S.T./X.x.X." sowie die von der Berliner NPD veröffentlichte Schulhof-CD. Die Indizierungen waren bereits 2011 durch den Berliner Verfassungsschutz und das Berliner Landeskriminalamt angeregt worden. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 73 teten bereits zum damaligen Zeitpunkt auf eine Erweiterung seines bis zu diesem Zeitpunkt vor allem auf Szenebekleidung sowie "Militaria & Campingbedarf" beschränkten Warenangebots hin. Mit der Übernahme eines rechtsextremistischen Versandhandels im September wurde der Vertrieb rechtsextremistischer Musik dann auch offiziell zu einem weiteren Geschäftsfeld des Landesvorsitzenden. Wie diese Aktivitäten mit der von der Bundes-NPD vorgegebenen Strategie der "seriösen Radikalität" in Einklang stehen, bleibt bislang das Geheimnis des Berliner NPD-Landesvorsitzenden.50 Während ein mögliches Gerichtsverfahren gegen den NPD-LanVerurteilung rechtsextremistischer Lieder- 4 desvorsitzenden wegen des Vertriebs volksverhetzender Musik macher noch aussteht, mussten sich ein Berliner Liedermacher und sein Vater bereits juristisch verantworten. Die beiden Rechtsextremisten hatten zwischen 2006 und 2008 mindestens fünf Tonträger51 produziert und veröffentlicht, auf denen sie gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung hetzten, den Nationalsozialismus glorifizierten sowie ausländische und jüdische Mitbürger beleidigten und bedrohten: "Lasst uns versuchen, etwas Gemeinsames zu finden! Och na ja, wir alle hassen die Juden! [...] Eure Lügen wurden längst durchschaut, und der Deutsche sich selbst nicht zu sagen traut. Eure Opfermaske zerschellt im Wind denn das deutsche Volk, es ist nicht länger blind. [Refrain:] An das deutsche Volk: Werdet militant, zerschlagt den Nasenterror in unserm Land. An das deutsche Volk: Nehmt die Waffen in die Hand, zeigt euch bereit zum Widerstand."52 50 Vgl. S. 83 f. 51 Hierbei handelt es sich um die CDs: "Endlich da" (2006), "Freiheit" (2006), "Träume an vergangene Tage" (2007), "Endlich wieder da!" (2007) und "Fuck off Antifa" (2008). 52 Aus dem Lied: "Nasenterror" der CD "Träume an vergangene Tage". 74 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 In diesem und ähnlichen Texten sah das Landgericht Berlin u.a. die Straftatbestände der Volksverhetzung, des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und der Holocaustleugnung als erfüllt an. Der Liedermacher und sein Vater wurden jeweils zu mehrmonatigen Freiheitsstrafen, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt.53 Aus für "Thiazi-Forum" Durchsuchungen Ein empfindlicher Schlag gegen die rechtsextremistische Szene gelang den Sicherheitsbehörden im Juni, als es zu bundesweiten Durchsuchungsmaßnahmen gegen die Betreiber und Unterstützer des rechtsextremistischen "Thiazi"-Internetforums kam. Die Durchsuchungen erfolgten wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung und der Volksverhetzung im Zusammenhang mit dem Vertrieb rechtsextremistischer Musik über das Internetforum. Die Schwerpunkte der entsprechenden Durchsuchungsmaßnahmen, von denen auch Berliner Rechtsextremisten betroffen waren, lagen in Mecklenburg-Vorpommern und BadenWürttemberg.54 Seitdem ist das Forum nicht mehr erreichbar. "Thiazi" - Forum bedeuBis zu diesem Zeitpunkt hatte sich das "Thiazi"-Forum zu einem tendstes Internetforum der rechtsextremistider bedeutendsten deutschsprachigen Internetforen für die rechtsschen Szene extremistische Szene entwickelt. Die Bedeutung von "Thiazi" ging dabei weit über den Bereich der rechtsextremistischen Musik, der gleichwohl ein Kernbereich des Forums war, hinaus. Neben Diskussionen über rechtsextremistische Konzerte und die neuen Tonträger rechtsextremistischer Bands bot das Forum auch den Rahmen für die Verbreitung neonazistischer, fremdenfeindlicher und antisemitischer Propaganda und wurde als Mobilisierungsinstrument für rechtsextremistische Veranstaltungen genutzt. Schwächung der Mit dem konsequenten Vorgehen der Sicherheitsbehörden gegen Vernetzungsstrukturen das "Thiazi"-Forum wurden die Informationsund Vernetzungsstrukturen der bundesweiten rechtsextremistischen Szene nachhaltig beschädigt. Ein vergleichbares Nachfolgeforum konnte sich bislang nicht etablieren. 53 LG Berlin, AZ.: 81 Js 544/09 vom 30.7.2012. 54 Pressemitteilung des BKA vom 14.6.2012. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 75 Zukünftig dürften die Informations-, Propagandaund Mobilisierungsfunktionen verstärkt von mehreren kleinen und vor allem lokal aktiven Internetpräsenzen übernommen werden. Vor dem Hintergrund des entschlossenen Vorgehens gegen das "Thiazi"-Forum werden sich Rechtsextremisten in Zukunft noch mehr darum bemühen, ihre Spuren im Internet zu verschleiern und bei ihren Aktivitäten noch stärker als bisher auf geschlossene Foren und verschlüsselte Kommunikation zurückgreifen. Dagegen werden repressive Maßnahmen allein noch weniger als Aufklärung und Information bisher erfolgreich sein. Vielmehr wird der Aufklärung und Informa- 4 tion über rechtsextremistische Aktivitäten eine immer zentralere Rolle zufallen. Die umfangreichen Präventionsbemühungen im Bereich der rechtsextremistischen Musik, an denen sich eine Vielzahl staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen beteiligen, können dabei eine Vorbildfunktion einnehmen. Über die Erscheinungsformen rechtsextremistischer Musik in Berlin, deren Interpreten, Vertriebswege und die Ideologie, die sich hinter den Texten verbirgt, hat der Berliner Verfassungsschutz im Dezember eine 58-seitige Infobroschüre veröffentlicht. 4.4 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus 4.4.1 Talfahrt der NPD hält an Nach den zahlreichen Wahlniederlagen, die die NPD im letzten Jahr Wahlniederlagen für die NPD auf Länderebene hinnehmen musste55, war auch 2012 alles andere als ein erfolgreiches Jahr für die Partei. Vielmehr zementierte sie im Westen Deutschlands mit den Ergebnissen der drei Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen56 ihren Status als bedeutungslose Splitterpartei. 55 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 73 ff. 56 Mit Zweitstimmenergebnissen von 1,2 Prozent (Saarland), 0,7 Prozent (SchleswigHolstein) und 0,5 Prozent (Nordrhein-Westfalen) verpasste die Partei in allen drei Bundesländern deutlich den Einzug in die Landesparlamente. Dabei verlor sie bei allen Wahlen noch Stimmen auf ohnehin niedrigem Niveau. Dadurch, dass die NPD in zwei von drei Bundesländern sogar unter der für die Erstattung der Wahlkampfkosten erforderlichen 1 Prozent - Grenze blieb, musste sie auch finanziell beachtliche Einbußen hinnehmen. 76 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Diese Wahlniederlagen waren insbesondere für den im November 2011 neugewählten Bundesvorsitzenden Holger Apfel herbe Rückschläge. Apfel hatte sich mit seiner Strategie der "Seriösen Radikalität" darum bemüht, der NPD ein neues Profil zu verpassen und Anti - Euro - Kampagne sie so aus der neonazistischen Nische herauszuholen. Statt offener rechtsextremistischer Propaganda sollte ein modernes Image als "Anti-Euro/EU-Partei" und Hüterin deutscher Interessen in Europa die Außendarstellung der Partei dominieren. Durch diese Strategie, die sich in Ansätzen an dem Auftreten verschiedener, ungleich erfolgreicherer rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa orientierte, sollten insbesondere im Westen Deutschlands neue Wählerschichten erschlossen werden. Die schlechten Landtagswahlergebnisse, die die Partei im Anschluss an diese vorsichtige strategische Neuausrichtung erzielte, machten jedoch deutlich, dass dieser Plan bereits nach wenigen Monaten gescheitert war. Der NPD war es zu keinem Zeitpunkt gelungen, sich den Wählern in den alten Bundesländern als eine ernstzunehmende politische Alternative zu präsentieren. Trotz aller Bemühungen konnte die Partei ihren rechtsextremistischen Kern, wie er in rassistischen und demokratiefeindlichen Ausfällen immer wieder zum Vorschein kam, nicht wirkungsvoll hinter einer moderateren Fassade verbergen. Finanzielle Einschnitte Diese Wahlniederlagen, durch die die NPD in zwei von drei Bundesländern keine Wahlkampfkostenerstattung erhielt, dürften sich auch in finanzieller Hinsicht als schwere Bürde für die Partei erweisen. Vor dem Hintergrund der Millionenstrafe, die der Partei nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts57 wegen unrichtiger Angaben im Rechenschaftsbericht der Partei für das Jahr 2007 droht, ist die NPD mehr denn je auf Einnahmen aus der staatlichen Parteienfinanzierung angewiesen. NPD zwischen Partei Diese Gelder zu erhalten wird für die NPD auch dadurch schwieri"Die Rechte" und Rechtspopulisten ger, dass ihr mit rechtspopulistischen Bewegungen und der Partei-Neugründung "Die Rechte" zwei ernst zunehmende Rivalen erwachsen sind, die um eine in weiten Teilen identische Wählerschaft 57 BVerwG, AZ: 6 C 32.11, Urteil vom 12.12.2012. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 77 konkurrieren. Während die rechtspopulistischen Bewegungen der NPD Wähler im rechts-konservativ/islamfeindlichen Bereich streitig macht, bemüht sich die Partei "Die Rechte" um potenzielle NPDUnterstützer aus dem neonazistischen Bereich. 58 So erwies sich auch die - nach monatelangem juristischem Tauziehen schließlich bestandskräftige - Fusion der NPD mit der DVU59 mehr und mehr als Pyrrhussieg. Anstelle einer ohnehin nicht mehr lebensfähigen DVU sieht sich die NPD mittlerweile zwei neuen Parteikonkurrenten gegenüber, die ihr Mitglieder, Aufmerksamkeit und finanzielle Mittel streitig machen. Vor dem Hintergrund die- 4 ses verschärften Wettbewerbs wird es für die NPD in Zukunft noch schwerer werden, sich im Westen Deutschlands zu behaupten, wodurch die Entwicklung der NPD zu einer Regionalpartei weiter beschleunigt werden dürfte. Aber auch die Entwicklung im Osten Deutschlands war alles andeImmer weniger Resonanz auch in den neuen re als eine Erfolgsgeschichte für die NPD. Vielmehr stieß die Partei Bundesländern nach den beiden prestigeträchtigen Wiedereinzügen in die Landtage von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen auch in den neuen Bundesländern auf immer weniger Resonanz. Die Mitgliederzahlen waren rückläufig und auch auf die Unterstützung aus den Reihen der parteifreien Neonazis konnte die NPD nicht mehr uneingeschränkt zählen60. Gerade in diesem Spektrum war die Enttäuschung über eine von der neuen Parteiführung "weichgespülte" NPD sehr groß und der neue Parteivorsitzende Holger Apfel, als Repräsentant und Initiator dieses neuen NPD-Kurses, sah sich einer wachsenden öffentlichen Kritik an seiner Person und seiner Arbeit ausgesetzt. 58 Beispielsweise traten in Nordrhein-Westfalen die Aktivisten verschiedener von Vereinsverboten betroffener Kameradschaften in die Partei "Die Rechte" ein. Vgl. "Neonazis gründen Landesverband von 'Die Rechte' in Dortmund", www.derwesten. de, datiert 17.9.2012. 59 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 72 f. 60 Vgl. "Spannungen zwischen der sächsischen NPD und Neonationalsozialisten treten erneut offen zu Tage", www.verfassungsschutz.sachsen.de, datiert 3.5.2012. 78 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Die "Seriöse Radikalität" vor dem Aus? Erfolgloser Versuch der Zusätzliche Nahrung erhielt diese Kritik auch durch die weitgehend öffentlichen Profilierung erfolglosen Versuche der NPD, sich als politische Kraft zu profilieren. Für eine vom Parteivorstand mit großem Aufwand organisierte "Deutschlandfahrt", in deren Verlauf Vertreter der Parteispitze in den Monaten Juli und August Infostände in über 50 Städten im gesamten Bundesgebiet durchführten, erntete die Partei in der Öffentlichkeit vor allem Hohn und Spott. Auf all ihren Stationen wurden die NPD-Kundgebungen - an denen nie mehr als 25 Personen teilnahmen - von einem breiten Protest begleitet, durch den auch der von der NPD-Spitze erhoffte Kontakt mit der Bevölkerung nie zustande kam. In Berlin, wo die "Deutschlandfahrt" der NPD am 10. August Station machte, waren lediglich 14 Unterstützer der Partei an der einstündigen Kundgebung beteiligt. Weitere öffentlichkeitswirksame Aktionen der NPD blieben 2012 Mangelware. Entscheidenden Anteil hieran hatte der gewachsene zivilgesellschaftliche Protest gegen rechtsextremistische Demonstrationen und Kundgebungen, die dadurch kaum noch ungestört durchgeführt werden konnten. Wiederaufgreifen Aus diesem öffentlichen Widerstand zog die NPD zwei Konsequenklassisch rechtsextremistischer Themen zen, die beide mit den Bemühungen um eine gemäßigtere Außendarstellung brachen. Zum einen setzte die Partei, um überhaupt noch öffentlich wahrgenommen zu werden, zunehmend auf provokante Aktionen und zum anderen wurden inhaltlich wieder klassisch rechtsextremistische Themen besetzt. Beispielhaft dafür stand die von der sächsischen NPD - und damit vom Heimatverband des Bundesvorsitzenden der Partei - im Herbst ausgerufene Aktionswoche gegen "Asylmissbrauch, Überfremdung und Islamisierung". In "klassischer" NPD-Diktion schürte die Partei dabei Überfremdungsängste und verklärte Vorstellungen von "nationalbefreiten Zonen": Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 79 "Ethnokulturelle Überfremdungszustände wie sie vor allem in westdeutschen Großstädten bestehen [...] dienen zu Recht als abschreckendes Beispiel und erfordern eine identitäre Renaissance - gerade in den Landstrichen Mitteldeutschlands, die noch über eine intakte Ethnosphäre verfügen"61. Unklare strategische Ausrichtung vor dem Hintergrund eines Parteiverbotsverfahrens Ob diese verschärfte ideologische Gangart auch die zukünftige Verbotsverfahren gegen NPD Ausrichtung der Partei dominieren wird, oder - nicht zuletzt im Hin- 4 blick auf die Bundestagswahl 2013 - der Versuch, Wähler aus der Mitte der Gesellschaft anzusprechen, wieder aufgegriffen wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt völlig offen. Allerdings dürfte sich die Partei vor dem Hintergrund des am 14. Dezember 2012 vom Bundesrat gefassten Beschlusses, ein Parteiverbotsverfahren gegen die NPD anzustreben, in der Öffentlichkeit um eine eher gemäßigte Außendarstellung bemühen. In Vorbereitung auf dieses Verfahren haben das Bundesamt für Verfassungsschutz in enger Zusammenarbeit mit sämtlichen Landesbehörden für Verfassungsschutz, dem Bundeskriminalamt sowie den Landeskriminalämtern eine über 1 000 Seiten umfassende Materialsammlung mit Erkenntnissen zu den verfassungsfeindlichen Bestrebungen der NPD erstellt. Mit dieser Materialsammlung, in die ausschließlich offen zugängliches Material eingeflossen ist, wird sowohl die Verfassungsfeindlichkeit der NPD belegt, als auch der Nachweis geführt, dass das Handeln der Partei auf die Beseitigung der freiheitlich demokratischen Grundordnung abzielt. Unklar ist, ob und ggf. wie das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung zu Parteiverboten fortentwickelt und wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein mögliches Verbot der NPD bewerten würde. Die NPD selbst hatte immer wieder betont, einem solchen VerNPD will Verfassungskonformität feststellen fahren gelassen entgegenzusehen. Bereits im November hatte sie lassen beim Bundesverfassungsgericht einen eigenen Antrag eingereicht, 61 "Sächsische, nationale und abendländische Identität wahren", Internetauftritt der NPD-Fraktion im Sächsischen Landtag, datiert 18.10.2012. 80 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 mit dem ihre Verfassungskonformität festgestellt werden sollte.62 Ungeachtet der juristischen Bewertung dieses Antrages, waren die Reaktionen in der rechtsextremistischen Szene selbst auf den Vorstoß der NPD durchaus geteilt. Weiten Teilen der - offen demokratiefeindlichen - Parteibasis geht das in diesem Antrag vorgetragene verbal uneingeschränkte Bekenntnis der Parteispitze zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung viel zu weit. In einem rechtsextremistischen Internetforum hieß es diesbezüglich etwa: "Wenn das Anliegen des angstverkrampften Herrn Apfel gelingt, dann ist die NPD eine staatlich geprüfte verfassungstreue Partei. Kann es ein besseres Siegel für Anpassung an das System geben? [...] Der Spagat zwischen radikal und verfassungstreu will wohl einfach nicht gelingen."63 Dilemma der NPD Diese wenigen Zeilen bringen das Dilemma der NPD auf den Punkt. Je mehr die Parteispitze die Verfassungskonformität der NPD betont, umso weniger attraktiv wird sie für ihre bisherigen rechtsextremistischen Unterstützer. Daran dürfte auch ein möglicher Solidarisierungseffekt innerhalb der rechtsextremistischen Szene infolge des Verbotsverfahrens wenig ändern. Mit einer offen rechtsextremistischen Agenda wiederum gäbe die Parteispitze den Bestrebungen für ein Verbot der NPD jedoch neue Nahrung und würde ihr eigenes Bekenntnis zur Demokratie höchstselbst als bloßes Lippenbekenntnis entlarven. So bleibt die Partei bis auf Weiteres in einer strategischen Zwickmühle gefangen, wodurch sich ihre Position innerund außerhalb der rechtsextremistischen Szene weiter schwächen wird. Sollte sich diese Schwäche auch 2013 wieder in schlechten Wahlergebnissen niederschlagen, könnte dies bereits das Ende der Ära Apfel an der Spitze der NPD einleiten. 62 Mit Beschluss vom 20.2.2013 hat das BVerfG den Antrag der NPD als unzulässig verworfen. Nach Ansicht des Gerichts sieht das Grundgesetz ein Verfahren, wie von der NPD beantragt, nicht vor. Darüber hinaus stellte das Verfassungsgericht auch klar, dass die gegenwärtige Debatte um ein Parteienverbot legitimer Teil der öffentlichen Auseinandersetzung mit der NPD sei, die dadurch nicht in ihrem verfassungsmäßigen Status verletzt würde. Vgl.: BVerfG, Beschluss vom 20.2.2013, AZ: 2 BvE 11/12. 63 Kommentar zum Artikel "Videobotschaft von Holger Apfel", Internetportal "Altermedia", datiert 13.11.2012. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 81 4.4.2 Berliner NPD als "Juniorpartner" des Netzwerkes "Freie Kräfte" Auch für den Berliner Landesverband der NPD verlief das vergangene Jahr wenig erfolgreich. Die schlechten Ergebnisse, die die NPD bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) im September 2011 erzielt hatte64, sorgten für breite Ratlosigkeit sowohl an der Basis als auch an der Spitze der Partei. Nach Monaten, in denen die Berliner NPD in einer Art Schockstarre gefangen schien, sollten Stagnation und Lethargie schließlich mit der Wahl eines neuen Landesvorsitzenden über- 4 wunden werden. Nach den glückund erfolglosen Amtszeiten seiner beiden Vorgänger Jörg Hähnel und Uwe Meenen sollte die Wahl Sebastian Schmidtkes zum Landesvorsitzenden die Berliner NPD in Neuer Landesvorsitzender befreit NPD nicht zweierlei Hinsicht stärken. Zum einen sollte der Landesverband aus aus Passivität seiner Passivität befreit und so öffentlich wieder deutlich präsenter werden. Darüber hinaus sollte Schmidtke mit seiner rechtsextremistischen Vita verlorenes Ansehen innerhalb der rechtsextremistischen Szene Berlins für die Partei zurückgewinnen. Keines dieser beiden Ziele konnte bislang erreicht werden. Die in der Person des Landesvorsitzenden öffentlich dokumentierte aktionistische und neonazistische Ausrichtung der Berliner NPD war eher dazu angetan, klassische Parteigänger zu verschrecken und das Werben um neue Unterstützer zu erschweren. Zudem übte die NPD auch mit ihrem neuen Landesvorsitzenden auf die Mehrheit der aktionsorientierten Rechtsextremisten wenig Anziehungskraft aus. So blieb die Partei in Berlin aufgrund ihrer Schwerfälligkeit, ihres unklaren Profils und eines weitgehend unbeliebten Führungspersonals in ihrer Rolle als "Juniorpartner" des Netzwerkes "Freie Kräfte" gefangen. Neuer Landesvorsitzender kann die NPD nicht stärken Trotz dieser enttäuschenden Zwischenbilanz hält sich die Partei merklich mit Kritik an der Amtsführung ihres neuen Landesvorsitzenden zurück. Ursächlich hierfür dürften nicht zuletzt die engen 64 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 65 ff. 82 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Verbindungen sein, die Schmidtke als langjährig aktiver Neonazi und ehemaliger Führungsaktivist der "Autonomen Nationalisten" in die Szene der aktionsorientierten Rechtsextremisten unterhält. Diese Kontakte sind für die Berliner NPD, die kaum noch über ein eigenständiges Mobilisierungspotenzial verfügt, von existenzieller Bedeutung. Dünne Personaldecke Zudem gibt es aufgrund der prekären Personalsituation der NPD in Berlin keine echte Alternative zum jetzigen Landesvorsitzenden. Die dünne Personaldecke hatte bereits zur Folge, dass mit Uwe Meenen und Udo Voigt der gescheiterte Vorgänger und der abgewählte Bundesvorsitzende der NPD zu Stellvertretern Schmidtkes gewählt worden waren. Da sich auch der restliche Landesvorstand ausschließlich aus bereits langjährig aktiven NPD-Aktivisten zusammensetzt, war mit der Neuwahl des Landesvorstandes kein personeller Neuanfang für die Berliner NPD verbunden. Die Ausgangslage für den neugewählten Landesvorsitzenden war somit alles andere als einfach. Entsprechend vorsichtig formulierte er den eigenen Anspruch an seine Amtszeit: "Ganz klar steht an oberster Stelle, die Kameradschaftlichkeit untereinander zu stärken und den gemeinsamen Willen, miteinander zu arbeiten, wieder aufzubauen".65 Kreisverbände agieren Diese Äußerung wirft ein bezeichnendes Licht auf die Grabenkämpohne Außenwirkung fe, die die Arbeit der Berliner NPD bereits seit mehreren Jahren spürbar lähmen. Diese internen Querelen und persönlichen Animositäten allerdings als alleinige Ursache der Krise, in der sich die Partei befindet, zu bezeichnen, würde die strukturellen und auch strategischen Defizite der Berliner NPD völlig ausblenden. Die wenigen noch funktionierenden Kreisverbände der Partei in Lichtenberg, Treptow-Köpenick oder Reinickendorf beschränken sich in ihren Aktivitäten mittlerweile auf interne Treffen ohne jede Außenwirkung. In anderen ehemaligen Aktivposten der Berliner NPD, wie 65 "Im DS Aktuell - Gespräch: Sebastian Schmidtke", Internetauftritt der "Deutschen Stimme", datiert 30.1.2012. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 83 den Kreisverbänden in Pankow, Marzahn-Hellersdorf oder Tempelhof-Schöneberg, findet so gut wie gar kein reguläres Parteileben mehr statt. Hier zeigt sich deutlich, dass die Berliner NPD zurzeit weder in quantitativer noch qualitativer Hinsicht über ausreichend Personal verfügt, um ein stadtweites Netz an Kreisverbänden unterhalten zu können. Zudem ist es dem neuen Landesvorsitzenden bislang nicht gelungen, die weitgehend unstrukturierten Aktivitäten der Kreisverbände zu koordinieren und ihnen unter dem Dach des Landesverbandes eine gemeinsame Linie zu verpassen. 4 NPD-Landesvorstand im Fokus der Strafverfolgungsbehörden Dass es dem neugewählten Landesvorsitzenden bislang nicht geDurchsuchungen beim Landesvorsitzenden lungen ist, der Partei neue Impulse zu verleihen, dürfte auch damit zusammenhängen, dass juristische Auseinandersetzungen und mehrere Exekutivmaßnahmen seine Aufmerksamkeit beanspruchten. Wegen seiner Verantwortung für die während des Wahlkampfes 2011 von der Berliner NPD eingesetzte "Schulhof-CD Berlin" durchsuchte die Berliner Polizei am 24. Mai die Wohnund Geschäftsräume Schmidtkes. Ihm wurde vorgeworfen, unmittelbar für den Inhalt und die Verbreitung der vom Berliner Landeskriminalamt (LKA) als volksverhetzend eingestuften "Schulhof-CD Berlin" verantwortlich zu sein. Bereits im März hatte die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) die "Schulhof-CD Berlin" in Teil B der Liste der jugendgefährdenden Medien aufgenommen.66 Die BPjM begründete ihre Indizierungs-Entscheidung u.a. damit, dass die Texte der "Schulhof-CD Berlin" "pauschalisierende Verunglimpfungen gegenüber Ausländern, Aufrufe zu Hass und Gewalt bis hin zur physischen Vernichtung der angesprochenen Personengruppen [beinhalten, so dass] Fremdenfeindlichkeit und die Verächtlichmachung in Deutschland lebender Migranten mit muslimischem, schwerpunktmäßig türkischem Hintergrund [...] die 66 Indiziert laut Bundesanzeiger Nr. 52 vom 30.3.2012. 84 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 dominierenden und immer wiederkehrenden Themen der CD [darstellen]". 67 Weiteres ErmittlungsverAuch 2013 droht dem NPD-Landesvorsitzenden weiterer juristifahren gegen Schmidtke scher Ärger. Anfang Januar soll Schmidtke am Rande einer NPDKundgebung im niedersächsischen Lingen mit einem Regenschirm auf einen Gegendemonstranten eingeschlagen haben. Infolge dieses bildlich festgehaltenen Vorfalles ist ein weiteres polizeiliches Ermittlungsverfahren gegen den Landesvorsitzenden der Berliner NPD wegen des Vorwurfs der gefährlichen Körperverletzung anhängig. Verurteilung wegen Aber nicht nur Schmidtke, sondern auch seine beiden Stellvertreter Volksverhetzung Udo Voigt und Uwe Meenen traten strafrechtlich in Erscheinung. In ihren Eigenschaften als Spitzenkandidat für die Wahl zum Abgeordnetenhaus und damaliger Landesvorsitzender waren beide verantwortlich für einen 2011 von der Berliner NPD produzierten und auf deren Homepage publizierten Wahlwerbespot. Dieser Spot, in dem eine "Überfremdung" Berlins beklagt und alle Ausländer pauschal mit Verbrechern gleichgesetzt wurden, erfüllte nach einem Urteil des Landgerichts Berlin den Tatbestand der Volksverhetzung. Voigt und Meenen wurden wegen ihrer Verantwortung für und die Mitwirkung an dem Wahlwerbespot zu mehrmonatigen Haftstrafen, die zur Bewährung ausgesetzt wurden, und einer Geldstrafe verurteilt.68 Gefestigte Verbindungen zum Netzwerk "Freie Kräfte" Durchsuchungen wegen In den Fokus der Strafverfolgungsbehörden gerieten die Vorstands"nw - berlin" mitglieder der Berliner NPD aber nicht nur wegen ihrer Wahlkampfaktivitäten. Bereits am 23. März hatte das LKA Berlin weitere Durchsuchungsbeschlüsse des Amtsgerichts Tiergarten vollstreckt. Betroffen hiervon waren - einmal mehr - die Wohnund Geschäfts67 Beschluss der BPjM vom 1.3.2012, Entscheidung-Nr. 5889, S. 14. 68 LG Berlin, Urteil vom 11.10.2012, 81 Js 1076/2010. Uwe Meenen wurde zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, Udo Voigt zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt, ausgesetzt jeweils zur Bewährung. In die Verurteilung Voigts war neben seiner Mitwirkung am Wahlwerbespot der Berliner NPD auch eine Äußerung in der BVV Treptow-Köpenick eingeflossen, in der er sich vor den "tapferen Soldaten der Waffen-SS" verneigt hatte. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 85 räume des Berliner NPD-Vorsitzenden Sebastian Schmidtke und die Wohnung eines weiteren Landesvorstandsmitgliedes der Partei. Die Durchsuchungen erfolgten wegen des Verdachts, die Betroffenen hätten Inhalte auf der rechtsextremistischen Internetseite "nw-berlin" eingestellt und wären im Falle des NPD-Landesvorsitzenden sogar als Betreiber und Administrator für "nw-berlin" aktiv. Bei dieser Internetseite handelte es sich um die zentrale Informationsund Kommunikationsplattform der aktionsorientierten Neonazi-Szene Berlins.69 Ob sich die Vorwürfe gegen die beiden NPDKader im Zuge der Durchsuchungsmaßnahmen erhärtet haben 4 und ob und ggf. welche strafrechtlichen Folgen hieraus resultieren, ist Gegenstand umfangreicher polizeilicher Ermittlungen, deren Ergebnisse noch ausstehen. Unabhängig davon wurde durch diese Maßnahmen aber einmal mehr deutlich, wie gut die Verbindungen der Berliner NPD zum Netzwerk "Freie Kräfte" tatsächlich sind und wie eng die Protagonisten des parlamentsund des aktionsorientierten Rechtsextremismus in Berlin mittlerweile zusammenarbeiten. Eine Zusammenarbeit, die sich auch außerhalb des virtuellen RauEnge Zusammenarbeit parlamentsund mes zunehmend verstetigt und verfestigt hat. So führen zwei Mitaktionsorientierter glieder des Berliner NPD-Landesvorstandes als erster und zweiter Rechtsextremisten Vorsitzender einen vorgeblich "sozial engagierten Verein"70, der offizieller Mieter eines von Aktivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte" in Lichtenberg betriebenen rechtsextremistischen Treffortes ist. Dieser Treffort hat sich mittlerweile zum logistischen Zentrum für die berlinweiten Aktivitäten des Netzwerkes "Freie Kräfte" entwickelt. Die Partei stellt hierfür offensichtlich nicht nur ihr Führungspersonal, sondern auch ihr juristisches Know-how und ihre finanziellen Mittel und Strukturen zur Verfügung; nicht zuletzt um einer Kündigung des Mietverhältnisses entgegen zu wirken. Es wäre insofern eine folgerichtige Entwicklung, würde der Treffort zukünftig als offizieller Stützpunkt der Berliner NPD-Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) firmieren. Die JN wurden bereits 69 Vgl. S. 65 ff. 70 Zu "SeiB e.V." vgl. S. 59. 86 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 seit längerem zum organisatorischen Arm der im Netzwerk "Freie Kräfte" aktiven "Autonomen Nationalisten" ausgebaut.71 Auch öffentlich dokumentiert die Berliner NPD seit Jahren ihre Zusammenarbeit mit dem Netzwerk "Freie Kräfte". So nahmen an den rechtsextremistischen Demonstrationen und Kundgebungen, die in den letzten Jahren in Berlin durchgeführt wurden - unabhängig davon, ob es sich dabei formal um parteifreie oder NPD-Veranstaltungen handelte - vor allem Aktivisten aus den Reihen des Netzwerkes "Freie Kräfte" teil. NPD-Mitglieder fanden sich hierzu immer seltener ein. Lediglich ein fester Kreis der immer selben Funktionäre trat noch öffentlich als Anmelder oder Redner auf rechtsextremistischen Veranstaltungen in Berlin in Erscheinung. Dies traf ausnahmslos auch auf alle öffentlichen NPD-Auftritte des Jahres 2012 zu72, deren wenige Teilnehmer mehrheitlich nicht aus den Reihen der Berliner NPD stammten. Fremdenfeindliche Kampagne Strategische AusrichDass die NPD in Berlin in diesem Maße von der Zusammenarbeit tung der NPD fehlt mit den Aktivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte" abhängig ist und es ihr nicht gelingt, ihre eigenen Mitglieder zu mobilisieren, ist zu einem nicht unerheblichen Teil auch auf ihre unklare strategische Ausrichtung zurückzuführen. Nachdem die NPD im zurückliegenden Wahlkampf noch erfolglos mit kaum verhohlenen neonazistischen Inhalten zu punkten versucht hatte73, bestimmte in der ersten Jahreshälfte der vom Bundesvorstand der Partei vorgegebene Kurs, sich als "Anti-Euro/EU"-Partei zu profilieren, auch die Außendarstellung der Berliner NPD. Allerdings stieß diese Thematik nur 71 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 61 ff. 72 Am 13. April demonstrierten ca. 50 NPD-Anhänger unter dem Motto: "Zeit zu handeln - Unserem Volk eine Zukunft - Kriminelle Ausländer raus!"; am 1. Mai hielt die NPD insgesamt drei Kundgebungen unter dem Motto: "Raus aus dem Euro - Wir arbeiten - Brüssel kassiert" - mit jeweils 50 bis 70 Teilnehmern ab und am 17. Juni beteiligten sich weniger als 40 Rechtsextremisten an einer NPD-Kundgebung unter dem Motto: "Damals wie heute - Freiheit muss erkämpft werden - Gedenken an die Toten des 17. Juni 1953". 73 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 59 ff. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 87 auf eine äußerst verhaltene Resonanz in den eigenen Reihen. So konnte die Partei zu einer Kundgebung, die sie am 29. Juni unter dem Motto "Wir arbeiten, Brüssel kassiert. Raus aus dem Euro - Nein zum ESM!" in Mitte durchführte, lediglich etwa 50 Teilnehmer mobilisieren. Diese Teilnehmerzahl war für die Partei umso enttäuschender, da die Veranstaltung mit prominenten Rednern aus den Reihen der NPD-Fraktionen in den Landtagen von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern besetzt war. Als wesentlich zugkräftiger innerhalb der rechtsextremistischen Asylpolitik im Fokus Szene erwies sich da schon die öffentliche Debatte um gestiegene 4 Asylzugangszahlen und die damit verbundene Suche nach neuen Unterkünften für Asylsuchende auch in Berlin. Dankbar nahm sich die NPD dieses Themas an, das ihr die Gelegenheit bot, durch fremdenfeindliche Parolen öffentliche Aufmerksamkeit zu erzielen. Am aktivsten zeigte sich dabei der Neuköllner NPD-Kreisverband, der Überlegungen, nach denen im Neuköllner Ortsteil Rudow provisorische Unterkünfte für Asylsuchende errichtet werden sollten, als Ausgangspunkt für eine ausländerfeindliche Kampagne nutzte. In einem entsprechenden Flyer, den die Partei Ende Oktober vor allem in Neukölln verteilte, äußerte sie sich einmal mehr kaum verhohlen rassistisch und versuchte fremdenfeindliche Ressentiments zu schüren. Da wurden Asylbewerber mit "Lärm, Müll und Kriminalität" gleichgesetzt und ein Schreckensszenario für Neukölln gezeichnet: "Der Norden Neuköllns ist schon lange nicht mehr deutsch, und auch die südlich gelegenen Ortsteile Rudow, Buckow und Britz drohen immer mehr zu kippen. Das sieht man ganz besonders im Straßenbild. Kopftücher mit Kinderwagen, Ausländer, die Einfamilienhäuser aufkaufen, Zigeuner, die bettelnd vor Supermärkten stehen, Frisöre, Bäcker und Imbisse mit ausländischen Namen verdrängen deutsche Imbisse, deutsche Obdachlose und deutsche Kinder. [...] Wir fordern: Keine weiteren Asylbewerber aufnehmen! In Neukölln leben schon genug Ausländer von Sozialleistungen. [...] Rudow mit seinem dörflichen Charakter muß deutsch bleiben!"74 74 "NEIN zum Asylantenheim in Rudow", Flugblatt des NPD-Kreisverbandes Neukölln. 88 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Ebenso unverhohlen rassistisch argumentierte die Neuköllner NPD in verschiedenen Internetaufrufen und bei mehreren öffentlichen Kundgebungen. Auch auf einer Veranstaltung der Neuköllner CDU, die sich mit der Errichtung neuer Unterkünfte für Asylsuchende beschäftigte, tauchten lokale NPD-Aktivisten auf, um mit ihrer Anwesenheit zu provozieren und die Thematik so für sich zu instrumentalisieren. Der Landesverband der Partei schloss sich den Aktivitäten der Neuköllner NPD mit zwei Kundgebungsrundfahrten an. Am 27. Oktober und am 17. November führte die Berliner NPD mehrere Kleinstkundgebungen in mehreren Stadtbezirken unter dem Motto: "Gegen Asylmissbrauch - Für Sicherheit und Recht und Ordnung" durch. Provokationen am 24. November Demonstration Den Höhepunkt der fremdenfeindlichen NPD-Kampagne sollte eine Demonstration bilden, die vom Landesvorsitzenden der Berliner NPD für den 24. November im Neuköllner Ortsteil Rudow unter dem Motto "NEIN zum Asylantenheim in Rudow! - Rudow muss deutsch bleiben!!!" angemeldet worden war. Besondere Brisanz erhielt diese Veranstaltung dadurch, dass die linksextremistische Szene bereits lange vor den Planungen der Berliner NPD eine jährlich stattfindende eigene Großdemonstration für diesen Tag angekündigt hatte. Dass parallel hierzu eine rechtsextremistische Demonstration durchgeführt werden sollte, war eine unzweideutige Provokation, durch die der NPD-Veranstaltung vor allem eine möglichst breite Öffentlichkeit zuteil werden sollte. Die Partei hoffte zudem darauf, den Widerstand gegen die eigene Demonstration infolge der parallel im Bezirk Friedrichshain stattfindenden linksextremistischen Veranstaltung zu begrenzen und die eigene Demonstration in Neukölln so mit möglichst vielen Teilnehmern und ohne Blockaden durchführen zu können. Geringe Mobilisierung Diese Hoffnungen der NPD erfüllten sich jedoch nicht. Gerade einmal 70 Teilnehmer, von denen ein Großteil nicht der NPD zuzurechnen war und zudem nicht aus Berlin stammte, konnte die Partei für Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 89 ihre Demonstration mobilisieren. Zudem blockierten mehrere hundert Gegendemonstranten die NPD-Demonstration, wodurch deren Route verkürzt und die Veranstaltung vorzeitig beendet werden musste. So blieb der Partei in ihrer nachträglichen Stellungnahme nicht viel mehr übrig, als sich zum Opfer von Polizeiwillkür und "vermummten Linkskriminellen"75 zu stilisieren. Mit diesen Vorwürfen sollten allerdings vor allem der Misserfolg und die spürbare Enttäuschung über den Verlauf der Demonstration kaschiert werden. Schließlich war es der Partei nicht einmal mehr mit der Betonung fremdenfeindlicher Positionen - die sich in der Vergangenheit noch als am zugkräftigsten für die NPD erwiesen hatten - gelungen, 4 eine größere Anzahl eigener Unterstützer für eine Demonstration zu mobilisieren. Vielmehr beteiligten sich auch an dieser Veranstaltung vor allem Aktivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte", so dass die Berliner NPD am 24. November in erster Linie einmal mehr ihre Abhängigkeit von der Unterstützung aktionsorientierter Rechtsextremisten dokumentiert hatte. Noch am selben Tag revanchierte sich der Berliner NPD-LandesvorProvokationen des politischen Gegners sitzende für diese Unterstützung, indem er ebenfalls für den 24. November eine weitere Kundgebung im Bezirk Lichtenberg unter dem Motto "Kein Kiez für Linkskriminelle" anmeldete. Diese Veranstaltung diente ausschließlich der Provokation einer linksextremistischen Demonstration und der öffentlichen Unterstützung eines lokalen Neonazi-Treffortes im Bezirk Lichtenberg. Der NPDLandesvorsitzende begab sich persönlich unmittelbar im Anschluss an die Demonstration in Neukölln und in Begleitung von etwa 30 Aktivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte" an den Kundgebungsort in Lichtenberg. Bereits bei der Anreise zu dieser Kundgebung kam es von Seiten der Rechtsextremisten zu verbalen und körperlichen Provokationen. Auf der Kundgebung selbst versammelten sich dann dieselben Aktivisten, die nur wenige Stunden zuvor in Neukölln an der NPD-Demonstration teilgenommen hatten, jetzt hinter einem Plakat mit der martialischen Parole "Vom nationalen Widerstand zum natio75 "Unfähige Polizeileitung und massive Straftaten von Linkskriminellen in Berlin", Internetauftritt des NPD-Landesverbandes Berlin, datiert 26.11.2012. 90 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 nalen Angriff".76 Eine Aktion, mit der der nur zwölf Tage zuvor vom Bundesvorstand der NPD beim Bundesverfassungsgericht eingereichte Antrag auf Feststellung der Verfassungskonformität der NPD öffentlich ad absurdum geführt wurde. Die Berliner NPD als Teil einer rechtsextremistischen Mischszene Berliner NPD präsentiert Bereits mit seinem Wahlkampf 2011 hatte sich der Berliner Lansich neonazistisch desverband der NPD nicht nur offen neonazistisch präsentiert, sondern damit zudem Vorgaben der Bundespartei für eine moderatere Außendarstellung bewusst ignoriert. Auch mit ihren Aktionen des Jahres 2012 hat die Berliner NPD kontinuierlich dokumentiert, wie wenig sie gewillt war, etwas zu diesen Bemühungen der BundesNPD beizutragen. Dies hängt auch - wie die Ereignisse des 24. November exemplarisch zeigten - mit der Rolle zusammen, die dem hiesigen NPD-Landesverband innerhalb der rechtsextremistischen Szene Berlins zufällt. Die Berliner NPD betätigt sich zurzeit vor allem als offizieller Anmelder für Aktivitäten, die in enger Zusammenarbeit mit den Aktivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte" geplant und vor Ort dann von diesen umgesetzt werden. Die Partei stellt dabei ohne Scheu ihren Namen, ihre Strukturen, ihre Logistik und ggf. auch juristische Unterstützung und finanzielle Mittel für die gewaltbereiten Neonazis des Netzwerkes "Freie Kräfte" zur Verfügung. Diesen "Freien Kräften" wird so ein struktureller Rahmen für die eigenen Aktivitäten geboten und die Ausnutzung des Parteienprivilegs ermöglicht. Der NPD wiederum gelingt es, im Zuge dieses Arrangements aktionsorientierte Rechtsextremisten in die Parteiarbeit einzubinden und damit handlungsfähig zu bleiben. Grenzen verschwommen Auf diese Weise ist die Partei in Berlin zum Bestandteil einer rechtsextremistischen Mischszene geworden, in der die Grenzen zwischen parlamentsund aktionsorientiertem Rechtsextremismus mehr und mehr verschwommen sind. Auch die Aktivitäten des Landesvorsitzenden haben diesen Trend beschleunigt. Schmidtke, der die Berliner NPD wie eine Kamerad76 Dieses Transparent war 2009 bereits bei einem von den "Autonomen Nationalisten" in Berlin organisierten Aufmarsch verwandt worden, an dem sich ca. 650 Rechtsextremisten beteiligt hatten. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 91 schaft zu führen scheint, setzt voll und ganz auf die Zusammenarbeit mit aktionsorientierten Rechtsextremisten. Es darf allerdings Schmidtke befördert Zusammenarbeit mit bezweifelt werden, ob es dem Landesvorsitzenden der Berliner NPD aktionsorientierten auf diesem Weg gelingen kann, die Partei nachhaltig zu stärken. Rechtsextremisten Zwar bleibt die Berliner NPD durch ihre enge Anbindung an das Netzwerk "Freie Kräfte" handlungsfähig - allerdings auf Kosten einer seriösen Außendarstellung und gefangen in der neonazistischen Nische, aus der sie ihr Bundesvorsitzender gerade zu befreien versucht. Als organisatorische Hülle des Netzwerkes "Freie Kräfte" wird es für die Partei in Berlin immer schwieriger werden, neue Mitglieder und Wähler zu gewinnen. So dürfte es der NPD in Berlin 4 im kommenden Bundestagswahlkampf zudem kaum gelingen, sich als ernst zu nehmende politische Alternative zu präsentieren. 4.5 Sonstige rechtsextremistische Aktivitäten 4.5.1 Islamfeindlichkeit Ablehnung und Vorurteile gegenüber Muslimen und dem Islam zu Rechtspopulisten diffamieren den Islam schüren, ist in Deutschland längst nicht mehr nur den Akteuren des "klassischen" Rechtsextremismus vorbehalten. In den vergangenen Jahren hat sich abseits von NPD und gewalttätigen Neonazis eine Szene etabliert, deren primäre Intention die Verbreitung dezidiert islamfeindlicher77 Propaganda ist. Zu dieser heterogenen islamfeindlichen Szene gehören neben rechtspopulistischen Splitterparteien verschiedene sonstige islamfeindliche Gruppierungen78 und eine große Anzahl bundesweit agierender islamfeindlicher Internetauftritte. Im Mittelpunkt der Aktivitäten dieser Szene stehen die Bemühungen, die öffentliche Meinung in einer Art und Weise zu 77 "Islamfeindlichkeit benennt ablehnende Einstellungen gegenüber Muslimen, ihrer Kultur und ihren öffentlich-politischen wie religiösen Aktivitäten. Wie bei anderen Elementen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit geht es hier um pauschalisierende Bewertungen, stereotypenbasierte Unterstellungen, die übertriebene Vermutung kultureller Differenzen und das Anlegen eines doppelten Standards." Dr. Beate Küpper, "Das Projekt Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland", Internetauftritt der Universität Bielefeld, datiert 23.1.2013, S. 7. Zum Konzept der "Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit" vgl.: Wilhelm Heitmeyer, "Deutsche Zustände: Folge 10". Berlin 2012. 78 Solche Gruppierungen agieren zum Beispiel nach dem Vorbild der in Großbritannien aktiven "English Defence League". 92 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 beeinflussen, die den Islam und die Muslime als anders, fremdartig und potenziell gefährlich erscheinen lassen. Kombiniert wird diese offen islamfeindliche Agitation regelmäßig mit öffentlichen Bekenntnissen zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung und der immer wieder betonten Ablehnung "klassisch" rechtsextremistischer Positionen.79 Auf diese Weise bemühen sich die Protagonisten dieser islamfeindlichen Szene darum, Menschen anzusprechen, die durch herkömmliche rechtsextremistische Agitation nicht zu erreichen sind. Rechtspopulistische Auch in Berlin haben in den vergangenen Jahren islamfeindliche Partei in NRW Bestrebungen Fuß gefasst. Im Zentrum dieser Bestrebungen steht der 2010 gegründete Berliner Landesverband einer rechtspopulistischen Partei.80 Ihren Ursprung hat diese Partei in NordrheinWestfalen, wo 1996 von ehemaligen Republikanern und NPD-Mitgliedern die Vereinigung "Bürgerbewegung pro Köln" gegründet wurde. Nach Erfolgen bei den Kölner Stadtratswahlen 2004 und 2009 versuchte diese so genannte "Bürgerbewegung" Strukturen zu etablieren, die über die Stadt Köln hinausgehen. Ein nordrheinwestfälischer Ableger und eine Bundespartei, deren einzig aktiver Landesverband in Berlin beheimatet ist, sind die bislang überschaubaren Ergebnisse dieser Expansionsbemühungen. Islamfeindliche Strömungen auf Provokationskurs Provokationen im Nachdem die Versuche, mit rechtspopulistischen Thesen auf StimMittelpunkt menfang zu gehen, bei den Berliner Wahlen 2011 nicht verfingen, entschieden sich die Protagonisten dieser islamfeindlichen Strömungen in Berlin für eine Strategie, die voll und ganz auf Provokation setzte. Im August führten sie einen so genannten "Anti-Islamisierungskongress" durch, dessen wesentliche Intention es war, der Öffentlichkeit die vermeintliche Gewaltbereitschaft von muslimischen Migranten zu illustrieren. Zu diesem Zweck zeigten die 79 So distanzieren sich die meisten Personen und Gruppierungen des islamfeindlichen Spektrums explizit von antisemitischen Positionen und lehnen den historischen Nationalsozialismus ab. 80 Rechtspopulismus wird hier weniger als eine geschlossene Ideologie als vielmehr eine Politikform verstanden, die auf Ausgrenzung, Tabubrüche und Opportunismus setzt. Vgl. Frank Decker, "Der neue Rechtspopulismus", Wiesbaden 2003. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 93 50 bis 70 Teilnehmer dieses Kongresses vor mehreren Berliner Moscheen "Mohammed-Karikaturen", um so gewalttätige Reaktionen der Moscheebesucher zu provozieren. Dieses Kalkül ging jedoch nicht auf, da es von muslimischer Seite zu keinen nennenswerten Gewaltoder Störaktionen kam. Nur wenige Wochen später kündigten die Rechtspopulisten an, eiIslamfeindlicher Film nen islamfeindlichen Film, dessen im Internet verbreiteter Trailer bereits heftige Reaktionen in der islamischen Welt ausgelöst hatte, öffentlich vorzuführen. Diese Ankündigung erfolgte zu einem Zeitpunkt, als noch völlig unklar war, ob der Film in voller Länge über- 4 haupt veröffentlicht werden würde. Ein ähnlich großes Provokationspotenzial hatte die - ebenfalls öffentlich verkündete - Einladung eines radikalen islamfeindlichen Geistlichen aus den USA. Dieser amerikanische Prediger war maßgeblich daran beteiligt, dass der islamfeindliche Film im Internet einer größeren Nutzerschicht bekannt wurde. 2005 hatte derselbe Mann bereits mit einer öffentlichen Koran-Verbrennung gewalttätige Ausschreitungen in der islamischen Welt provoziert. Ein durch den Bundesinnenminister verhängtes Einreiseverbot verhinderte bislang einen öffentlichen Auftritt des Predigers in Berlin. Islamfeinde bleiben bislang erfolglos Unschwer ließen all diese Aktivitäten erkennen, dass es den InitiIslamfeindliche Internetaktivitäten atoren nicht um eine ernstgemeinte politische oder gesellschaftliche Auseinandersetzung ging, sondern einzig und allein darum, Muslime zu provozieren und dadurch möglichst heftige Reaktion auszulösen. Dies dürfte auch eines der Hauptanliegen der diversen islamfeindlichen Internetaktivitäten sein, wie sie auf verschiedenen Webseiten, in Blogs und sozialen Netzwerken zu finden sind. Auch dort stehen die veröffentlichten Texte und Bilder ganz im Zeichen der Verunglimpfung und Provokation des Islam und der hier lebenden Muslime. Allerdings ist diese virtuelle Szene bislang ebenso wenig erfolgreich wie die auf der Straße aktiven islamfeindlichen Parteien und Gruppierungen. Dafür dürfte eine in Deutschland durch die nationalsozialistische Vergangenheit generierte Sensibilität gegenüber als rechtsextremistisch wahrgenommenen Tendenzen ebenso verantwortlich sein, wie die Tatsache, dass diese Gruppie- 94 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 rungen bislang keine gesellschaftlich relevanten Konfliktlinien besetzen. Anders als in verschiedenen europäischen Ländern lassen sich mit islamfeindlichen Positionen, wie sie sich häufig hinter der vordergründigen Thematisierung migrationsbedingter Probleme verbergen, derzeit keine nennenswerten politischen Erfolge erzielen. Nicht zuletzt fehlt es den diversen Gruppierungen und Parteien in Deutschland hierfür auch an charismatischen Führungspersönlichkeiten, die geeignet wären, die islamfeindliche Szene aus ihrem gesellschaftlichen Nischendasein herauszuführen. 4.5.2 Volksverhetzung durch "Reichsbewegung" Drohbriefe Seit Anfang Februar ging bei verschiedenen Moscheen, muslimischen Vereinen, der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und auch bei mehreren Einzelpersonen mit Migrationshintergrund ein mehrseitiger rechtsextremistischer Drohbrief ein. Dieser volksverhetzende Brief war in abfälliger Art und Weise "an alle raum-, wesens-, und kulturfremden Ausländer in Deutschland, insbesondere an Türken, Muslime und Negroide (Schwarze und Halbschwarze)"81 adressiert. In dem anschließenden Text wurden Juden und Muslime beleidigt, und es wurde ein Stopp der "Völkervernichtung durch Rassenvermischung" gefordert. An die Adressaten des Schreibens gerichtet, hieß es zudem: "Wir weisen Sie hiermit unmissverständlich und mit sofortiger Wirkung aus Deutschland aus und fordern Sie auf, Deutschland innerhalb der nächsten sechs Monate (allerspätestens bis zum 1. August 2012) zu verlassen"82. "Neue Gemeinschaft von Als Absender dieser Drohbriefe war eine "Reichsbewegung - Neue Philisophen" Gemeinschaft von Philosophen" benannt, in deren Namen seit 2005 wiederholt verschwörungstheoretisch und vor allem stark 81 "Ausweisung aus Deutschland", Internetauftritt der "Reichsbewegung", datiert 16.2.2012. 82 Ebenda. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 95 antisemitisch geprägte Hetzschriften verbreitet wurden.83 Bei der "Reichsbewegung" handelt es sich um eine Gruppe oder Einzelpersonen, die in einer Mischszene zwischen Holocaustleugnern und den so genannten "Kommissarischen Reichsregierungen" anzusiedeln sind. Deren prioritäres Ziel ist es, das "Deutsche Reich", das angeblich auch nach 1945 weiterbesteht, wieder handlungsfähig zu machen. Allen Gruppierungen und Einzelpersonen dieser Szene ist darüber hinaus ein geradezu pathologischer Antisemitismus gemein. Eine von der "Reichsbewegung" unterhaltene Internetpräsenz, auf der sie diesen kruden Ideologiemix aus Holocaustleugnung, Verschwörungstheorien und Esoterik verbreiteten, ist seit 4 Ende März nicht mehr aufrufbar. Mit ihrem volksverhetzenden Schreiben gelang es der "ReichsbeDiskursorientierte Rechtsextremisten wegung", nach längerer Zeit wieder größere Aufmerksamkeit auf das in Berlin weitgehend marginalisierte Spektrum des diskursorientierten Rechtsextremismus zu lenken. Diese Szene war in den vergangenen Jahren durch mehrere Vereinsverbote und insbesondere die Inhaftierung ihres prominentesten Vertreters Horst Mahler nachhaltig geschwächt worden.84 Ohnehin waren die absurden Theorien diskursorientierter Rechtsextremisten in weiten Teilen der rechtsextremistischen Szene nicht anschlussfähig. Dessen ungeachtet sind die aktuellen Aktivitäten der "Reichsbewegung" geeignet, in ihrer Ideologie bereits isolierte Einzeltäter anzusprechen und zu Straftaten zu animieren. Hier stehen die Sicherheitsbehörden vor der besonderen Herausforderung, diese zumeist unauffälligen Einzelpersonen zu identifizieren und von der Begehung schwerer Straftaten abzuhalten. 83 Vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage - Drucksache 17/11758 -, Deutscher Bundestag Drucksache 17/11970. 84 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 77 ff. 96 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 5 Linksextremismus 5.1 Personenpotenzial und Straftaten Personenpotenzial Das linksextremistische Personenpotenzial Berlins hat leicht zunimmt leicht zu genommen, wobei in der aktionsorientierten und gewaltbereiten Szene einerseits und bei den eher unterstützend und propagandistisch wirkenden legalistischen Organisationen andererseits unterschiedliche Entwicklungen zu verzeichnen sind. So verlieren die Autonomen trotz verstärkter Rekrutierungsbemühungen in den letzten Jahren Teile ihrer Basis - was nicht gleichzusetzen ist mit ihrer Mobilisierungsfähigkeit in subkulturell verwandten und ideologisch nahestehenden Milieus. Dagegen gewinnen eher im Vorund Umfeld agierende Organisationen wie insbesondere die "Rote Hilfe" weiter an Mitgliedern. Mindestens teilweise ursächlich für diese Verschiebung dürfte ein demografischer Effekt sein, bei dem immer mehr dem Jugendalter entwachsene Autonome ihr politisches Engagement in weniger militanten Formen fortführen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht jedes Mitglied eines Unterstützung leistenden Vereins selbst verfassungsfeindliche Ziele verfolgen muss. Maßgeblich für die Beobachtung durch den Verfassungsschutz sind die an Statuten und Aktivitäten erkennbaren Bestrebungen der Organisation und ihrer Entscheidungsträger. Linksextremistische Parteien und innerparteiliche Zusammenschlüsse bleiben weiterhin bedeutungslos. Politisch links Die Anzahl politisch links motivierter Straftaten ist 2012 um gut motivierte Straftaten zurückgegangen ein Drittel zurückgegangen, die der Gewalttaten sogar um knapp die Hälfte. Daraus kann momentan jedoch kein Trend abgeleitet werden, der etwa in Zusammenhang mit dem rückläufigen Personenpotenzial der Autonomen stehen könnte. Das Ausmaß politisch links motivierter Strafund Gewalttaten korrespondiert viel mehr mit Anlässen, die zu temporären Ausschlägen nach oben führen Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 97 und die Kriminalitätsstatistik eines Jahres besonders prägen. 2012 fehlte es an solchen Anlässen. Insofern ist der statistische Rückgang des letzten Jahres zunächst eher als "konjunkturelles Tief" denn als fortschreibbare Entwicklung einzustufen. Auch die besondere Schwere einzelner Gewalttaten, gerade gegenüber Polizeibeamten, spricht gegen eine frühzeitige Entwarnung. Personenpotenziale einzelner Personenzusammenschlüsse* Berlin Bund** 2011 2012 2011 2012 Gesamt 2 370 2 410 31 800 29 400 Aktionsorientierte, 1 100 1 040 7 100 7 100 auch gewaltbereite Linksextremisten, davon Autonome 950 870 5 Sonstige 150 170 Nicht-gewaltbereite Linksextremisten, davon 970 1 120 25 000 22 600 "Rote Hilfe e.V." 760 880 Sonstige 210 240 Linksextremistische Parteien und innerparteiliche 300 250 s. o. s. o. Zusammenschlüsse * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. ** Die Gesamtzahlen Bund ergeben sich nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften. Fallzahlen Politisch motivierte Kriminalität - links* 2011 2012 Terrorismus ----Gewaltdelikte, davon 406 210 gegen rechts 86 45 Polizei 207 153 Umstrukturierung 153 50 sonstige Delikte, davon 955 656 gegen rechts 257 167 Polizei 108 99 Umstrukturierung 407 211 Gesamt, davon 1 361 866 gegen rechts 343 212 Polizei 315 252 Umstrukturierung 560 261 * Auszug aus dem Bericht "Lagedarstellung der Politisch motivierten Kriminalität in Berlin für das Jahr 2012" des Landeskriminalamtes Berlin (LKA). Der vollständige Bericht ist im Internet unter www.berlin.de/sen/inneres/sicherheit/statistiken/index.html eingestellt. 98 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 5.2 Linksextremistische Strafund Gewalttaten: Absichten und Hintergründe Legale und illegale Mittel Linksextremisten führen ihren Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mit legalen und illegalen Mitteln. Zu den legalen gehören Parteiund Vereinsgründungen zu ihrer Vernetzung sowie die Durchführung öffentlicher Veranstaltungen und das Erstellen von Publikationen zur Verbreitung ihrer politischen Ideen. Teilweise versuchen sie auch andere Organisationen zu "unterwandern". Manchmal treten sie zu Wahlen an. Dabei gilt es jeweils, Menschen für ihre verfassungsfeindlichen Ziele zu gewinnen, die sich vorwiegend am Marxismus-Leninismus oder Anarchismus orientieren.85 Der Verfassungsschutz Berlin beobachtet solche legalistischen Strukturen, sie stellen jedoch nicht den Schwerpunkt seiner Arbeit dar. Zielobjekte linksextreDarüber hinaus kämpfen Teile der linksextremistischen Szene auch mistischer Straftaten mit illegalen Methoden gegen das ihnen verhasste "System". Dabei begehen sie Straftaten bis hin zu schwerer Gewalt gegen Repräsentanten und Institutionen von Staat und Wirtschaft, andere Personen oder Organisationen, die sie als politische Gegner betrachten, sowie gegen Fahrzeuge und Gebäude, die schlichtweg nicht in ihr Weltbild passen. Die jährliche Statistik zur Politisch motivierten Kriminalität links (PMK links) setzt Schwerpunkte in den Straftaten "gegen rechts", "Polizei" und "Umstrukturierung". Aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden ist insbesondere der juristische Straftatbestand von Interesse. Hier kann unterschieden werden nach Verstößen gegen das Versammlungsgesetz, Landfriedensbrüchen, Widerstandshandlungen, Sachbeschädigungen, Brandstiftungen, Sprengstoffdelikten, Körperverletzungen bis hin zu Tötungsversuchen. Zur ermittlungstechnischen Aufarbeitung sind weiterhin Daten zu Tätern und Opfern sowie der Art und Weise der Tatbegehung relevant. Dabei spielt das politische Motiv eine Rolle. Allerdings ist nicht jedes politisch intendierte Delikt vor dem Hintergrund verfassungsfeindlicher Bestrebungen zu verstehen, wie sie im Verfassungsschutzgesetz Berlin definiert sind. So verfol85 Vgl. S. 185 ff. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 99 gen Anschläge von Tierschützern auf Pelzläden oder Sabotageaktionen von Umweltschützern bei Energieversorgungsunternehmen zwar ein politisches Ziel, aber nicht zwangsläufig gleich die Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.86 Für den Verfassungsschutz ist letzteres zentral. Er hat zu bewerten, Unterscheidung der Straftaten im inwieweit die Intention der Tat beinhaltet, die freiheitliche demoPhänomenbereich kratische Grundordnung zu beeinträchtigen. Und dafür benötigt er Linksextremismus Bewertungsmaßstäbe, die eine politische Motivation dahingehend zu konkretisieren vermag. Zu diesem Zweck unterscheidet der Verfassungsschutz Berlin im Phänomenbereich Linksextremismus zwischen - ihrer Absicht nach - symbolischen, sabotierenden, konfrontativen und aufwiegelnden Straftaten. Diese Aufzählung ist weder vollständig noch trennscharf, d.h. sie erfasst weder jede mögliche 5 Straftat, noch lässt sich jede Straftat nur genau einer dieser Kategorien zuordnen. Dennoch ermöglicht sie plastischer als juristische Kategorien einen Überblick über die Bandbreite strafrechtlich relevanter Angriffe gegen die Verfassung. Warum und mit welchem Anspruch verstoßen Linksextremisten bewusst gegen das Gesetz? 5.2.1 Symbolische Straftaten Symbolische Straftaten dienen dazu, auf einen vermeintlichen Benennung von vermeintlichen Missständen Missstand aufmerksam zu machen und die aus linksextremistischer Perspektive dafür Verantwortlichen zu benennen. Die Hintergründe dieser Art von Straftaten sind in allen Themenfeldern zu finden, die Linksextremisten für ihre Zwecke zu besetzen versuchen, angefangen von Verarmungsund Verdrängungsprozessen bis hin zu Nationalismus und Rassismus. Sie richten sich meist gegen damit in Zusammenhang gebrachte Behörden oder Privatunternehmen, vereinzelt auch Denkmäler. Dabei geht es nicht um die Anrichtung eines größtmöglichen Schadens, sondern darum, das angegriffene Objekt durch eine medienwirksame Tat ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Sie soll "aufrütteln" und Nachahmer finden. 86 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Im Fokus: Linke Gewalt in Berlin. Berlin 2009, S. 9 f. 100 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Sachbeschädigungen Bevorzugte Aktionsformen sind Sachbeschädigungen durch Farbbeutel, mit unterschiedlichsten Substanzen befüllte Flaschen oder Kleinpflastersteine an Fassaden, Eingängen und Fenstern. Um von reinem Vandalismus abgrenzbar zu sein, muss sich der politische Hintergrund entweder aus der Tat selbst erschließen oder in einem Selbstbezichtigungsschreiben nachträglich erklärt werden. Als PR-Strategie werden diesem dann oftmals noch Fotos beigefügt. 2012 waren u.a. Arbeitsagenturen, Finanzämter, Polizeiabschnitte, Justizbehörden, Einrichtungen des Quartiersmanagements, Wohnungsbaugesellschaften, Einkaufscenter sowie Bankund Sparkassenfilialen von solchen Aktionen betroffen. Angriffe auf Exemplarisch sei hier eine Häufung von Angriffen auf das Jobcenter Neuköllner Jobcenter Neukölln in der ersten Hälfte des letzten Jahres genannt. Mehrfach wurde das Gebäude in der Mainzer Straße mit Farbkugeln beworfen. Auch die Arbeitsagentur in der Sonnenallee war betroffen. In einem Selbstbezichtigungsschreiben zu einer dieser Taten am Jahreswechsel 2011 / 2012 wird in kämpferischer Weise dazu aufgefordert, sich mit Gesetzesverstößen gegen staatliches Handeln zur Wehr zu setzen. "Dieser Angriff ist rein symbolischer Natur und soll ein Zeichen setzen gegen die repressiven Maßnahmen eines JobCenters, dem dort vorhandenen institutionellen Rassismus etc. Im Alltag ist jedoch Solidarität gefragt. Bildet Banden, lasst euch weder vom Jobcenter, noch von anderen Repressionsorganen des Staates unterkriegen! Gemeinsam! Egal ob Ämterbegleitung, Sozialberatung oder bunte Farben aufs Jobcenter!" 87 Angriffe auf das Auch das Quartiersmanagement ist in den Augen von LinksextreQuartiersmanagement misten "nur ein Teil in der Kette von einer großen Struktur, in der sich Bullen, Ordnungsamt, Politiker und anderen Handlanger des Staates einreihen", unter dessen Deckmantel ein "sozialdarwinistisches Sicherheitskonzept" umgesetzt würde.88 87 Artikel "Farbbeutel auf Jobcenter Berlin Neukölln" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 1.1.2012 (Fehler im Original). 88 Artikel "(BLN) Mehr anschläge gegen Verdrängung!" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 8.11.2012 (Fehler im Original). Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 101 Unter dieser Begründung wurden in der Nacht vom 7. auf den 8. November gleich mehrere solcher Einrichtungen in Neukölln und Kreuzberg mit Farbe beschmiert und in einem Fall auch Fensterscheiben beschädigt. Zu jedem einzelnen Angriff wurde ein separates Selbstbezichtigungsschreiben veröffentlicht. "Trotz dem Auftreten als Organisation von unten sind Quartiersmanagements trojanische Pferde, die soziale Bewegungen zu kanalisieren und kontrollieren versuchen. Die Finanzmittel werden vom Staat bereitgestellt, um ganze Wohngegenden zu befrieden und damit die Menschen vor der staatlichen Macht bloßzustellen. Sie organisieren Rassismus, Verdrängung und kapitalistische Verwertung. Die vom Quartiersmanagement gegründete Taskforce (...) schrieb ein trauriges Kapitel rassistischer Geschichte und zeigt, dass jegliche Menschlichkeit 5 dieses Systems nichts ist als eine Maske." 89 Arbeitsagenturen, Jobcenter und Einrichtungen des Quartiersmanagements sind in den Augen von Linksextremisten Erfüllungsgehilfen des Staates zur Verschleierung sozialer Missstände und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Hierarchien, Banken dagegen stünden symbolisch für eine diesen zugeschriebene Profitgier. In den ersten vier Monaten des Jahres 2012 kam es zu einer Reihe Angriffe auf Bankund Sparkassenfilialen von Angriffen auf Bankund Sparkassenfilialen, insbesondere in Friedrichshain-Kreuzberg. Dabei wurden die Schaufensterscheiben der Geldinstitute mit Kleinpflastersteinen eingeworfen - auch eine Eisenstange, ein mobiler Verkehrszeichenmast und eine Gehwegplatte kamen zum Einsatz. Bei der diesen Taten innewohnenden "Zerstörungswut" fällt es zunächst schwer, hier einen symbolischen Charakter anzunehmen. Dennoch sind diese selten dazu geeignet, den Filialbetrieb auch nur vorübergehend auszusetzen, also zu "sabotieren". Bei der Tatausübung konnten teilweise größere Gruppen beobachtet werden. Da auch Selbstbezichtigungsschreiben bei derartigen Angriffen auf Finanzinstitute selten sind, ist davon auszugehen, dass entsprechende Tatpläne spontan und situa89 Artikel "Quartiersmanagement in Neukölln eingefärbt" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 8.11.2012 (Fehler im Original). 102 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 tiv entstehen, nicht zuletzt unter Einfluss von Alkohol und Drogen. Die Übergänge zum Vandalismus sind fließend. Nachdem es Ende April in diesem Zusammenhang zu einigen Festnahmen von Personen kam, die dem beschriebenen Profil entsprechen, ebbten diese Fälle weitgehend ab. 5.2.2 Sabotierende Straftaten Versuch, "Sand ins Wie das vorangegangene Beispiel zeigt, sind die Übergänge zwiGetriebe" zu streuen schen symbolischen und sabotierenden Straftaten fließend. Sabotierende Straftaten gehen jedoch deutlich über den symbolischen Zweck hinaus - den sie ebenfalls beinhalten -, indem sie darauf angelegt sind, die Funktionsfähigkeit der angegriffenen Institution zu beeinträchtigen. Im Szenejargon heißt das, "Sand ins Getriebe des kapitalistischen Normalzustands" zu streuen. Ziel sind insbesondere Kommunikations-, Logistik-, Verkehrsund Energieunternehmen, meist durch Brandanschläge auf deren Firmenfahrzeuge, zum Teil aber auch ihre Gebäude. Selbst Sprengstoffdelikte sind möglich. Sie folgen der Logik der "Direkten Aktion", bei der die vermeintlich Betroffenen von Missständen selbst aufgefordert sind, mit gezielten Angriffen auf die angeblichen Verursacher unmittelbar wirksame Gegenwehr zu leisten. Anspruch auf zielgerichSabotierende Straftaten werden meist klandestin geplant und ihtete und vermittelbare Aktionen nen folgt in der Regel ein Selbstbezichtigungsschreiben, um die politische Intention zu verdeutlichen. Der selbst formulierte Anspruch, den gewaltbereite Linksextremisten an gesetzeswidrige Aktionen stellen, gilt hier insbesondere: Die Tat muss zielgerichtet und vermittelbar sein, um nicht als Vandalismus abgetan zu werden. Zielgerichtet heißt, es sollten allein der politische Gegner getroffen und keine Unbeteiligten geschädigt werden. Vermittelbar heißt, dass der politische Hintergrund der Tat auch für Dritte nachvollziehbar sein muss. Wie die Szenereaktionen auf die Bahnanschläge im Jahr 2011 gezeigt haben, gelingt das nicht immer.90 Brandanschläge auf Insbesondere Brandanschläge auf Privatfahrzeuge genügen immer KfZ rückläufig weniger diesen Ansprüchen, da auf diese Weise zwar viel öffentli90 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 105 ff. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 103 che Aufmerksamkeit erreicht wurde, jedoch zu wenig inhaltliche Bezüge hergestellt werden konnten. Die "undifferenzierte Hassbrennerei" wird vor allem wegen der Kollateralschäden abgelehnt, die eben nicht nur "Nobelkarossen" betreffen, sondern allzu häufig auch die Fahrzeuge von Durchschnittsverdienern. Der Anteil politisch motivierter Taten, der 2011 bei insgesamt 92 Taten schon nur noch bei weniger als einem Viertel lag, ging 2012 mit 24 von 242 Fällen sowohl absolut wie relativ noch weiter zurück. In der Szene vermittelbar sind dagegen weiterhin zielgerichtete Anschläge auf Fahrzeuge und auch Gebäude von Firmen, soweit diese geeignet erscheinen, einen politischen Bezug zur unternehmerischen Tätigkeit der Angegriffenen herzustellen. Die Schwere der Straftat korrespondiert dabei mit der von linker Seite zuge- 5 schriebenen Bedeutung, die dem Angegriffenen im hergestellten Zusammenhang beigemessen wird. Dabei geht es oft um "klassische" linksextremistische Themen wie Anti-Militarismus und AntiKapitalismus. 2012 waren insbesondere die Deutsche Post und die Deutsche Post und Bahn im Fokus Bahn bzw. deren Tochterunternehmen von derartigen Anschlägen betroffen. Sie stehen vornehmlich wegen logistischer Unterstützungsdienstleistungen für die Bundeswehr im Fokus sabotierender Angriffe von Linksextremisten. In deren Augen repräsentieren sie die im anti-militaristischen Spektrum besonders kritisierte "ZivilMilitärische Zusammenarbeit". Bei der Bahn wird auch Bezug auf deren Rolle als "Deutsche Reichsbahn" im Nationalsozialismus genommen. Vor diesem Hintergrund wurden im Januar und August bei der Deutschen Post bzw. einer Tochter jeweils zwei Firmenfahrzeuge in Brand gesetzt. Ende August wurden in einer nächtlichen Aktion drei Fahrzeuge eines Ablegers der Deutschen Bahn sowie ein Sattelschlepper des Technischen Hilfswerks (THW) in Brand gesetzt und dadurch noch weitere Fahrzeuge in Mitleidenschaft gezogen. In derselben Nacht kam es außerdem zu Farbbeutelund Steinwürfen auf die Gebäude eines Unternehmens für Anlagenbau und eines Sonderforschungsbereichs der Freien Universität Berlin. 104 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 "Was an den Orten passiert, die wir angegriffen haben, ist alles andere als harmlos, sondern ist Teil der Militarisierung der Gesellschaft mit technologischer, logistischer und wissenschaftlicher Unterstützung der Interventionskriege der Bundeswehr (...) Kriegstreiberei und Militarisierung markieren, blockieren, sabotieren!"91 Europäische Finanzkrise Beim Thema Anti-Kapitalismus im engeren Sinne - der Begriff wird instrumentalisiert reicht in linksextremistischer Interpretation über das ökonomische System hinaus - wird aktuell versucht, die europäische Finanzkrise zu instrumentalisieren und Solidarität mit - zum Teil gewalttätigen - Protesten in südeuropäischen Staaten einzuwerben. Besonders schwerwiegend war ein Brandanschlag auf neun Fahrzeuge der Deutschen Telekom Anfang April in Pankow, bei dem noch weitere Fahrzeuge in Mitleidenschaft gezogen wurden. Die Täter werfen dem Unternehmen vor, Teil eines Verdrängungswettbewerbs gegen griechische Staatsunternehmen zu sein, der Menschen durch Arbeitsplatzverluste in den Selbstmord treibe. Ihre Tat stellen sie dar "als Zeichen der feurigen Solidarität mit allen GenossInnen weltweit im Kampf gegen Staat und Herrschaft (...) Seit beginn der Krise haben sich mehr als 1.500 Menschen in Griechenland das Leben genommen. Unternehmen wie die Deutsche Telekom tragen mit Schuld daran, dass die Menschen keinen anderen Ausweg mehr sehen, als den Freitod zu wählen. Viva la Anarchia!"92 Angriffe auf ImmobilienImmer stärker mit links motivierten sabotierenden Straftaten kongesellschaften frontiert sehen sich Wohnungsbauund andere Immobiliengesellschaften. Auch bei ihnen werden Firmenfahrzeuge in Brand gesetzt sowie im Rohbau befindliche oder frisch sanierte Gebäude beschädigt, vor allem Luxuswohnungen und Lofts. Hintergrund ist der 91 Artikel "Zivil-militärischer Strukturen Angriff in Berlin" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 27.8.2012. 92 Artikel "Anschlag auf die Deutsche Telekom 8. April 2012" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 8.4.2012 (Fehler im Original). Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 105 weite Teile der autonomen Szene, aber auch Personen und Initiativen darüber hinaus, bewegende Kampf gegen städtebauliche Umstrukturierungen. So wurden in der Nacht zum 18. Juni bei dreizehn Fahrzeugen einer Immobilienverwaltung in Kreuzberg die Reifen zerstochen und diese außerdem mit Abbeizfarbe übergossen. In einem Selbstbezichtigungsschreiben zu Sachbeschädigungen an Luxuslofts am 11. Mai offenbaren die vermutlichen Täter noch weitergehende Konfrontationsbereitschaft: "Wir haben die Schnauze gestrichen voll von Rausschmiss, Mieten und ihren Erhöhungen, Wohnungsmarkt, Verdrängung von öffentlichen Plätzen und Repression gegen alle die sich wehren. 5 Wir rufen dazu auf Autoritäten nicht anzuerkennen, sich selbst zu organisieren, Häuser zu besetzen und alles was uns einschränkt zu boykottieren und sabotieren! (...) Für die Anarchie!"93 5.2.3 Konfrontative Straftaten Konfrontative Straftaten suchen die - nicht immer direkte - AusAuseinandersetzung mit dem politischen Gegner einandersetzung mit dem offen zum Feindbild stilisierten politischen Gegner. Sie richten sich weniger als symbolische oder sabotierende Straftaten an die Öffentlichkeit, sondern sollen auf das Verhalten der Angegriffenen wirken. Dabei geht es um Dominanz im öffentlichen Raum, das Einschüchtern von politischen und sozialen Konkurrenten oder das kalkulierte Provozieren von Gegenreaktionen. Mit Angriffen auf Personen oder deren persönlichen bzw. beruflichen Bewegungsraum sollen "unpassende" Menschen aus Kiezen verdrängt werden, "no go"-Areas für Polizisten entstehen oder bekennende Rechtsextremisten sich immer und überall - auch in ihren vermeintlichen Hochburgen - der Gefahr eines Angriffs ausgesetzt sehen. Mit konfrontativen Straftaten sollen letztlich Drohkulissen aufgebaut werden. 93 Artikel "[B] (...)-Büro und Lofts angegriffen" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 11.6.2012. 106 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Gentrifizierung Auch die Übergänge zwischen Sabotage und Konfrontation sind zunehmender Schwerpunkt fließend. Am sichtbarsten wird dieser Sachverhalt beim schon angeschnittenen Thema Umstrukturierung. Hier werden nicht nur Einrichtungen des Quartiersmanagements oder Immobiliengesellschaften mit Farbe beschmiert, Gebäude beschädigt oder Firmenfahrzeuge in Brand gesetzt, sondern auch Mieter sanierter und bereits bezogener Wohnhäuser regelrecht tyrannisiert sowie Eigentümer, Partner oder Mitarbeiter vermeintlicher "Gentrifizierer" - teils an ihrem Wohnort - bedroht. Ein drastisches Beispiel sind die dauerhaft aufrecht erhaltenen Einschüchterungsversuche gegen die Neumieter der Anfang 2011 zwangsgeräumten Liebigstraße 14. Mit einem Repertoire einfacher Sachbeschädigungen bis hin zu schweren Landfriedensbrüchen meinen Linksextremisten, ihnen angeblich zustehende "autonome Freiräume" zu verteidigen. Darüber hinaus wird immer gezielter die Konfrontation mit den vermeintlich Verantwortlichen dieser Entwicklung gesucht. So kam es anlässlich einer Jahrestagung der Immobilienwirtschaft vom 18. bis 19. Juni in Berlin zu verschiedenen - zum Teil gewalttätigen - Protestaktionen, u.a. gegen das Tagungshotel und den Bus der Tagungsteilnehmer. Immer wieder im Fokus der Szene stand auch ein leerstehendes Wohnobjekt in Kreuzberg an der Grenze zu Friedrichshain. Nach mehreren Anschlägen auf Firmen, "die verantwortlich für Luxussanierung und Verkauf" des Objekts seien, wird den Betroffenen weiter gedroht: "Wir haben euch gefunden, wir werden euch immer wieder finden und wir werden euch so lange Besuche abstatten bis ihr mit euren schmutzigen Geschäften mit Verdrängung und steigenden Mieten aufhört! Aber das ist erst der Anfang. Und wir sind viele..." 94 94 Artikel "[B] Presseerklärung zu den Anschlägen die heute Nacht auf Firmen verübt worden sind, die verantwortlich für Luxusmodernisierung und Verkauf der Bevernstraße 2 sind" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 25.7.2012 (Fehler im Original). Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 107 Die Taterklärung enthielt ein Schaubild mit Namen und Adressen all derjeniger, die angeblich in die Geschäfte mit dem genannten Objekt involviert sein sollen. In einer Szenezeitschrift wurde Ende des Jahres sogar ein fingierter "Fahndungsaufruf" gegen Immobilienhändler "Fahndungsaufruf" nach einem "skrupellosen Immobilienspekulanten" veröffentlicht, in dem dessen Firma als "Verbrecher Organisation" und seine Ehefrau als "Komplizin" bezeichnet sowie um "sachdienliche Hinweise", u.a. auf Adresse und Autokennzeichen, gebeten wird.95 Während derlei Drohgebärden gegen vermeintliche "Gentrifizierer" Rückgang der LinksRechts-Konfrontationen anscheinend Konjunktur haben, ist bei den Links-Rechts-Konfrontationen im Vergleich zu 2011 ein deutlicher Rückgang zu konstatieren. Das liegt vermutlich aber weniger an einer rückläufigen Ge- 5 waltbereitschaft im Kampf gegen vermeintliche oder tatsächliche "Neonazis", als an der immer deutlicher zu Tage tretenden Mobilisierungsschwäche der rechtsextremistischen Szene Berlins. Ein singuläres Ereignis, beispielsweise ein rechts motivierter Übergriff auf einen Migranten oder einen Angehörigen der linken Szene, könnte die Lage hier abrupt ändern. Weiter konfrontativ angegangen werden Geschäfte, die im VerAngriffe auf Bekleidungsläden dacht stehen, nationalsozialistische Devotionalien zu vertreiben oder auch nur bei einschlägigen Personenkreisen beliebte Kleidungsmarken. Vor allem zwei Bekleidungsgeschäfte in Friedrichshain und Pankow, aber auch der Laden des NPD-Landesvorsitzenden in Treptow, waren wiederholtes Ziel von Farbverschmutzungen und Entglasungen. Zudem wurden im Mai und Juli Brandanschläge auf die Privatfahrzeuge von Personen verübt, die von den Tätern der rechtsextremistischen Musikbzw. Neonazi-Szene zugerechnet werden. In beiden Fällen wurden anschließend auch die privaten Wohnanschriften im Internet veröffentlicht. 95 Artikel "Berliner MieterInnen bitten um ihre Mithilfe!" in der Zeitschrift "interim", Nr. 745, S. 12 vom Dezember 2012. 108 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 "während der verfaszungszchutz seine hände schützend über die braune szene hält, polizei und justiz nicht müde werden, den antifaschistischen widerstand zu kriminalisieren, bleibt es an uns, sich der personalie (...) und seinesgleichen anzunehmen. darum haben wir sein auto den flammen übergeben."96 Schwere der Angriffe auf Ebenso wie bei Rechtsextremisten wird bei Polizisten der UnverPolizisten nimmt zu sehrtheit der Person nicht der gleiche Stellenwert eingeräumt wie bei den direkt oder indirekt Betroffenen anderer linksextremistischer Angriffsziele. Auch wenn die quantitativen Zahlen der Gewalttaten gegen die Polizei ebenso wie die gegen Rechts rückläufig sind, so ist doch eine besorgniserregende Schwere der Angriffe auf Polizisten festzustellen. Im zurückliegenden Jahr wurden mehrfach - zum Teil besetzte und in Fahrt befindliche - Einsatzfahrzeuge der Berliner Polizei mit Steinen, aber auch Pyrotechnik und Brandsätzen angegriffen. Fast immer fanden diese Straftaten in Kreuzberg statt. Die Selbstbezichtigungsschreiben zeugen - viel stärker als solche zu symbolischen und sabotierenden Straftaten - von einem hohen Aggressionspotenzial. Begründet werden die Taten meist mit vermeintlich vorausgegangener Polizeigewalt. So wurden zwei derartige Anschläge auf der Oberbaumbrücke im Januar und am Görlitzer Park im März in Beziehung zu medienbekannten Fällen gesetzt, in denen Menschen bei Polizeieinsätzen zu Tode kamen. Zu letzterem heißt es: "Wir haben gestern Abend am Rande des Görlitzer Park einen Streife fahrenden Bullenwagen mit Pflastersteinen zerlegt um unsere Solidarität mit Oury Jallo der 2007 in einer Polizeizelle von (...) und seinen Schweinefreunde ermordet wurde zu zeigen. Wir hoffen auf nachahmung und bereiten uns damit auf Tag X zu ende des Prozesses vor. 96 Artikel "Aktion gegen (...)" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 26.7.2012 (Fehler im Original). Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 109 Es ist sehr einfach, die feigen Schweine die in ihrer Gruppe Stark sind, aber alleine im Pflasterhagel nur das Rennen kennen, angst zu lehren... also tut es! Gegen diesen Staat und seine Handlanger mit allen Mitteln und auf allen Ebenen !"97 Der schwerwiegendste Fall ereignete sich im Nachgang der 1. MaiAngriffe auf besetzte Einsatzwagen der Polizei Demonstrationen. Am Abend des 5. Mai wurde ein mit zwei Beamten besetzter Einsatzwagen der Polizei beim Halt an einer Ampel an der Kreuzberger Mariannenstraße zunächst mit Kleinpflastersteinen attackiert und u.a. die Heckscheibe zerstört. Anschließend wurde die linke hintere Fahrzeugtür aufgerissen und die Rücksitz- 5 bank durch das Hereinwerfen eines pyrotechnischen Gegenstandes in Brand gesetzt. Ein zusätzlich geworfener Brandsatz zerbrach an der Fahrertür neben der offenstehenden hinteren Tür und setzte die linke Fahrzeugseite kurzfristig in Brand. Durch geistesgegenwärtiges Handeln konnte der Fahrzeugführer die restlichen Flammen zum Erlöschen bringen, so dass die Besatzung keine Verletzungen erlitt. Am Einsatzfahrzeug konnten acht Steineinschläge festgestellt werden. Am Tatort fanden sich noch drei weitere unbeschädigte Brandsätze. Auch wenn im Gegensatz zu anderen Vorfällen kein Selbstbezichtigungsschreiben veröffentlicht wurde, ist hier von einem linksextremistisch motivierten Angriff auszugehen, der sich auf den - aus Szenesicht als überzogen empfundenen - Polizeieinsatz am Ende der "Revolutionären 1. Mai-Demonstration" bezieht. Zu diesem Vorfall wird wegen versuchten Mordes ermittelt. Ein weiteres Beispiel: In der Nacht des 8. September wurde in der Waldemarstraße in Kreuzberg ein mit zwei Polizisten besetzter und in Fahrt befindlicher Einsatzwagen von fünf dunkel gekleideten Personen mit Steinen beworfen, wobei zwei Scheiben durchschlagen wurden. Der Fahrer wurde von einem Stein am Unterarm getroffen, der Beifahrer durch Glassplitter im Gesicht verletzt. Beide mussten später vom Dienst abtreten. Das Polizeifahrzeug war 97 Artikel "Auf Streife für Oury Jallo" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 15.3.2012 (Fehler im Original). 110 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 nicht mehr einsatzfähig; zwei in der Nähe geparkte Pkw wurden ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen. Am Tatort fand man anschließend 15 Steine. Die Täter konnten unerkannt flüchten. Am Nachmittag desselben Tages war auf einer einschlägigen Internetpräsenz unter dem Titel "Tötet Polizisten" ein Mordaufruf eingestellt worden. Danach gäbe es "nur eine Lösung um Staat, Demokratie und Verfassung auszulöschen (...) Das heißt der Tod von Polizisten kann und wird in jeder Form toleriert und befürwortet. Jeder Bulle der einen Genossen zusammenschlägt wird mit dem Tode bestraft (...) Schlagt sie, tretet sie und tötet sie wo ihr nur könnt."98 Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein Zusammenhang zwischen der Einstellung des Artikels und dem Angriff auf das Polizeifahrzeug existiert. Bis dato gilt die gezielte Tötung von Menschen zur Erreichung politischer Ziele als nicht vermittelbar. Insofern ist die Tat durchaus typisch für die autonome Szene Berlins, der Aufruf zuvor in seiner Eindeutigkeit jedoch nicht. 5.2.4 Aufwiegelnde Straftaten Ziel: Massenmilitanz Aufwiegelnde Straftaten sollen ebenfalls auf das Verhalten wirken, jedoch nicht auf das des politischen Gegners, sondern auf das der eigenen Szeneangehörigen und von potenziellen Bündnispartnern, bei denen eine Art "aufrührerischer Geist" entfacht werden soll. Linksextremistische Gewalttäter versuchen sich dabei zunutze zu machen, dass sie aufgrund thematischer Schnittstellen über die eigene Anhängerschaft hinaus in verwandte Subkulturen und ideologisch nahestehende Milieus hinein gerade zu Großveranstaltungen Teilnehmer mobilisieren können. Dabei setzen sie sich zum Ziel, dieses per se weniger militant ausgerichtete Protestpotenzial für eigenes Gewalthandeln zu instrumentalisieren und hoffen darauf, 98 Artikel "ALB: Tötet Polizisten" auf der Internetpräsenz "indymedia" mit Datum vom 8.9.2012. Der Artikel wurde noch am selben Tag von der Internetpräsenz entfernt, liegt dem Verfassungsschutz Berlin aber vor. Von Vorgehen und Art der Formulierung her ist unwahrscheinlich, dass der Text von der "Antifaschistischen Linken Berlin" stammt, wie das Kürzel "ALB" vordergründig suggeriert. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 111 mittels eines "überspringenden Funkens" Eskalationen herbeizuführen. Das geht zwangsläufig nicht über klandestine Aktionen, sondern die impulsgebende Handlung muss für umund außenstehende Personen(gruppen) aktuell wahrnehmbar und nachahmbar sein. Als solche dienen z.B. das Errichten von Straßenbarrikaden, (Schein-)Besetzungen sowie Angriffe auf Gebäude und Übergriffe auf Polizisten aus Demonstrationen heraus. Aufwiegelnde Straftaten zielen auf Massenmilitanz. Ein Beispiel für "riot-artige" Ausschreitungen an der Nahtstelle Ausschreitungen im Rahmen des zwischen konfrontativen und aufwiegelnden Straftaten sind Vor"Europäischen fälle im Nachgang der jährlichen Demonstration gegen den "EuroPolizeikongresses" päischen Polizeikongress" am 29. Januar in Berlin. Diese ereigneten sich im Rahmen der Veranstaltung "Polizeikongress verpiss dich", 5 die in einer Szenelokalität in der Rigaer Straße 94 stattfand. Kurz nach Mitternacht betraten mehrere Personen den Hof der benachbarten Liebigstraße 14 und zerschlugen dort Fensterscheiben. Im Rahmen der anschließenden Tatortsicherung durch die alarmierte Polizei kam es aus einer vermummten Personengruppe heraus zu Steinwürfen, Laserpointerattacken und Zwillenbeschüssen auf die Beamten. Des Weiteren wurden Autos und Müllcontainer in Brand gesetzt. Aufgrund der anhaltenden Angriffe auf die Beamten - dabei wurde u.a. ein Polizeifahrzeug mit einem Steinwurf beschädigt - wurde die Lokalität schließlich durch die Einsatzkräfte begangen. Im Objekt wurden diese weiter massiv mit Feuerlöschmittel und Bauschutt beworfen. Schließlich wurde mit Eisenstangen nach ihnen gestoßen. Ein Beamter konnte - nachdem er das bedeckte Visier an seinem Helm öffnen musste - nur durch einen Reflex dem Stoß gegen seinen ungeschützten Kopf ausweichen. Ein Ermittlungsverfahren wegen versuchten Mordes wurde eingestellt, weil sich die Täter nicht identifizieren ließen. Beim Einsatz wurden insgesamt 45 Beamte verletzt. Gegen 24 Tatverdächtige wurde Strafanzeige wegen besonders schweren Landfriedensbruchs gestellt. Die beschriebene Eskalation ist ein weiterer Beleg für die hoch emotionalisierte Stimmung und zunehmend gewaltbereite Haltung gegenüber Polizisten. In einer Szenezeitschrift steht zu den Geschehnissen um den Polizeikongress "und darüber hinaus": 112 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 "Überzahl, Überraschung, Ausweichen - Konzepte für den Konflikt in urbanen Gebieten (...) Das gleiche gilt auch beim Angriff auf Partys und Hausprojekte. Die Tür ist gegen kleine Kontingente zu verteidigen, werden die Schweine zu viele, müssen wir ausschwärmen und Chaos anrichten! Auch drei Wannen flüchten wenn der Angriff überraschend aus dem Hinterhalt erfolgt, aber wenn ihr wartend rumsteht, werdet ihr auch eine einzige Funkstreife nicht mehr los (...) Stehen 20 Leute vor einem Lokal und eine Flasche fliegt auf ein passierendes Bullenauto, müsst ihr Steine zur Hand haben falls die Schweine aussteigen."99 Versuch, Stimmung Beispiele für Absichten, auch in anderen Kontexten gezielt die Stimaufzuheizen mung aufzuheizen, finden sich 2012 vor allem in den Aufrufen zur "Antikapitalistischen Walpurgisnacht" und zum "Revolutionären 1. Mai". Bereits Ende 2011 wurde aus Enttäuschung darüber, dass es trotz vermeintlicher Krise kaum ein Aufbegehren gegen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse gäbe, eine Debatte über die Durchführung von so genannten "Insurrection Days" (in etwa: "Tagen des Aufstands") angestoßen, um das "Widerstandsbewusstsein des einzelnen Menschen" wiederzuerwecken.100 Insbesondere in sozialen Bewegungen und "prekarisierten Milieus" erhoffte man sich natürliche Verbündete zur Initiierung eines "Aufstands der Masse".101 Vornehmlich für den Zeitraum vom 26. April bis zum 1. Mai regten die eher am Rand der linksextremistischen Szene zu verortenden Impulsgeber an, "wenigstens erst einmal für ein paar Tage ein Klima der Unsicherheit und Verlustängste für die Staatliche und Gesellschaftliche Obrigkeit zu erzeugen, bzw. das Normengefüge von Staat und gesellschaftli99 Artikel "Nicht nur wegen der Geschehnisse am 28./29. Januar" in der Zeitschrift "interim", Nr. 737, S. 3, März 2012. 100 Artikel "Insurrection Days 2012! Wer wir sind und was wir wollen" auf der Internetpräsenz "Insurrectiondays" mit Datum vom 5.3.2012. 101 Artikel "Strategiepapier zu den Insurrectiondays in Berlin" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 2.1.2012. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 113 chen Autoritäten zu erschüttern und somit das Gewaltmonopol in Frage stellen. Am 1. Mai wissen die Bullen wann und wo es Knallen könnte und waren in den letzten Jahren bestens darauf vorbereitet. Die Nächte und Tage davor wollen wir uns jedoch selbst gestalten. Mal bunt, aber auch tiefschwarz, mal friedlich und bestimmt, mal mit feuriger Wut."102 Mit dem Näherrücken dieses Termins kristallisierten sich dann drei Kampagnen im Vorfeld des 1. Mai Kampagnen heraus, die zu Schwerpunktsetzungen bei den Aktionen führen sollten: "Nimm dir die Stadt zurück - kostenloser Nahverkehr für alle", "Berlin anschmieren" und "Leerstand belegen - Wie wärs mit besetzen?". Im Sinne von letzterem fanden auch einige, eher symbolisch angedeutete Besetzungsaktionen statt, 5 u.a. am 28. April in der Weisestraße in Neukölln und tags darauf in der Görlitzer Straße in Kreuzberg, durch die jeweils ein größerer Polizeieinsatz ausgelöst wurde. Aufgrund angeblicher Gewaltanwendungen bei Personalienfeststellungen kam es in den folgenden Tagen dann zu mehreren Resonanzstraftaten. U.a. wurden von einer annähernd 30-köpfigen, vermummten Personengruppe Kleinpflastersteine und Farbbeutel gegen die Scheiben einer Bankfiliale in Tempelhof-Schöneberg geworfen und ein Sicherheitsmitarbeiter angegriffen. Im Selbstbezichtigungsschreiben heißt es: "Gestern Nacht haben wir die Commerzbank am Bayrischen Platz mit Steinen und Farbe angegriffen. Berlin ist zugeschissen mit Bullen, welche mal wieder die Stadt zu ihrer Spielwiese erklärt haben. Wir nehmen nicht hin, dass Häuser geräumt und Menschen zusammengeschlagen werden. Wir werden nicht aufhören die bestehenden Zustände zu bekämpfen. Für den Aufstand! (...) Bullen aufs Maul!"103 102 Artikel "Insurrection Days - Tage des Aufstands" auf der Internetpräsenz "Insurrectiondays" mit Datum vom 8.8.2011 (Fehler im Original). 103 Artikel "B. Angriff auf Commerzbank Bayrischer Platz" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 30.4.2012 (Fehler im Original). 114 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 "Insurrection Days" Insgesamt waren auf dem "Ticker" der einschlägigen Internetpräsenz mehr als 20 Ereignisse aus dem Zeitraum vom 13. bis 30. April mit Berlinbezug aufgelistet, die von den Betreibern in den Zusammenhang der "Insurrection Days" gestellt werden. Allerdings ist bei einer Reihe der dokumentierten Aktionen durchaus fraglich, ob die Ausführenden tatsächlich erst durch einen solchen Rahmen dazu inspiriert werden mussten. Die "Insurrection Days" stellen letztlich keine neue Qualität linksextremistischer Strafund Gewalttaten dar, denn Aktionen dieser Art sind - selbst in dieser Häufung - immer wieder im Vorfeld des 1. Mai festzustellen. Warten auf den Ausgerechnet bei den sonst so oft mit Ausschreitungen verbundeAufstand nen Großveranstaltungen, wie der "Antikapitalistischen Walpurgisnacht" oder dem "Revolutionären 1. Mai" oder auch der "SilvioMeier-Gedenkdemonstration" konnten jedoch kaum nennenswerte Formen von Massenmilitanz initiiert werden. Auch einige Landfriedensbrüche, die zuletzt immer wieder mal aus situativen Kontexten heraus, insbesondere im Bereich der Rigaer Straße, entstanden, setzten keine Impulse für anhaltende "Straßenschlachten", wie sie von Teilen der Szene in geradezu nostalgischer Verklärung herbeigesehnt werden. Der Blick über die Grenzen, insbesondere nach Südeuropa zu den dortigen Massenprotesten gegen die sozialen Auswirkungen europäischer Finanzpolitik, führt zu so manchem enttäuschten Kommentar über das vergebliche "Warten auf den Aufstand". Mitte Januar des neuen Jahres versuchte eine Gruppe von etwa 50 "riot" auf HipHop - Konzert scheitert Personen unter Mitführen eines Transparents und dem Skandieren einschlägiger Parolen Besucher eines als "Zeckenrapgala" angekündigten HipHop-Konzerts in Kreuzberg zu einem "riot" zu animieren. Dabei bewarfen sie ein als Zivilstreife erkanntes Fahrzeug mit Steinen und tauchten anschließend im Gemenge der 150 am Eingang Wartenden unter. In einem darauf Bezug nehmenden Internetartikel wird die Aktion in Zusammenhang mit Räumungen linker "Häuser-Projekte" in Griechenland gestellt und beklagt, dass sich die Konzertbesucher dem Landfriedensbruch nicht anschlossen: Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 115 "Eure Gleichgültigkeit kotzt uns an Nicht zufällig kamen wir am SO36 vorbei, wo um diese Zeit ca. 150 Leute auf Einlaß zum 'Zeckenrap' warteten. Wir hatten darauf spekuliert, dass sich unsere Demo dadurch vergrößern würde. Allerdings kam von dieser Menge lediglich freundliches Winken, niemand schloß sich an (...) Überhaupt hat uns die Gleichgültigkeit zum Thema überrascht; internationale Solidarität mit einer Bewegung, die gegenwärtig extrem unter Druck steht, scheint für die meisten nicht wichtig oder nicht nachvollziehbar zu sein (...) In keinem Fall was bislang etwas von der Empörung zu spüren, die nach der Liebig 14 Räumung auf den Straßen unterwegs war."104 5 5.2.5 Anspruch und Wirklichkeit Auch wenn die beschriebenen Strafund Gewalttaten aus jeweils Bewusste Missachtung des staatlichen Gewaltunterschiedlichen Motiven verübt werden, so eint die Täter doch monopols eines: Sie lehnen die freiheitliche demokratische Grundordnung ab. Sie begründen die Taten mit ihrem Kampf gegen vermeintliche oder tatsächliche Missstände und missachten bewusst das staatliche Gewaltmonopol, das ihrer Meinung nach nur dazu dient, die dafür angeblich ursächlichen herrschenden Verhältnisse zu verteidigen. Sie wollen Zeichen setzen (symbolische Straftaten), versuchen "Sand ins Getriebe" zu streuen (sabotierende Straftaten), suchen die Auseinandersetzung (konfrontative Straftaten) und probieren den Aufstand (aufwiegelnde Straftaten). Ihren selbsterklärten Ansprüchen von Zielgerichtetheit und NachEigene Vorgaben werden nicht erfüllt vollziehbarkeit können sie dabei jedoch oft nicht gerecht werden. Allzu häufig sind auch Unbeteiligte betroffen, selbst bei symbolischen und sabotierenden Straftaten. Und damit sind nicht nur die zahlreichen Kollateralschäden bei Brandanschlägen auf Firmenfahrzeuge gemeint, sondern auch Übergriffe auf Menschen. Beim beschriebenen Angriff auf eine Bankfiliale Ende April wurde ein zu104 Artikel "Spontane Demo für Squats in Athen" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 17.1.2013 (Fehler im Original). 116 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 fällig vor Ort befindlicher Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma von Teilen der vermummten Gruppe zur Flucht genötigt und bis zu seinem Auto verfolgt, das dann noch durch Fußtritte und Farbe malträtiert wurde, bevor er entkam. Anfang März konnte ein Wachmann während Sachbeschädigungen bei einem Energieversorger in Mitte einen Tatverdächtigen ergreifen, wurde dann von dessen Mittätern jedoch so attackiert, dass er verletzt in einem Krankenhaus behandelt werden musste. Konfrontative GewalttaMit zunehmender Schwere der Tat dominieren die Begründungsten typisch für "harten" Kern der Szene zusammenhänge Anti-Faschismus, Anti-Repression und auch AntiGentrifizierung. Vor allem konfrontative Gewalttaten sind typisch für den "harten", zum Teil subkulturell geprägten Kern der autonomen Szene Berlins. Sie fühlen sich durch bauliche Aufwertungen aus ihren Kiezen verdrängt und durch neu Hinzugezogene in ihrem Lebensstil bedroht. Polizisten sind in den teilweise zum "autonomen Freiraum" erklärten Straßenzügen sowieso schlecht gelitten; einige Autonome fühlen sich allein schon durch den Anblick einer Uniform unerträglich provoziert. Tatsächliche oder vermeintliche Neonazis gelten ihnen ohnehin jederzeit und immer als ein legitimes Angriffsziel "antifaschistischer" Aktionen. In diesem Denkund Lebensumfeld agiert der überwiegende Teil der Täter. 5.3 Die gewaltbereite linksextremistische Szene: Strukturen und Akteure Politisch motivierte Straftaten im Sinne der Polizeilichen Kriminalstatistik besitzen nicht in jedem Fall einen verfassungsfeindlichen Hintergrund. So manches Mal wird das Engagement für ein legitimes gesellschaftliches Anliegen - z.B. für den Umweltoder Mieterschutz - unverhältnismäßig "übertrieben", ohne dass gleich die "Systemfrage" gestellt wird. Wie die Vergangenheit gerade mit Blick auf die KfZ-Brandstiftungen gezeigt hat, steht auch nicht hinter jeder in der Medienberichterstattung als szenetypisch klassifizierten Straftat tatsächlich ein politisch motivierter Täter, geschweige denn ein Linksextremist. Eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung ist vor allem dann gegeben, wenn sich Personen zu Gruppen zusammenschließen, organisieren und Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 117 vernetzen, deren verbindendes Element das politische Ziel der Abschaffung eben dieser Ordnung ist und die bereit sind, zur Erreichung dieses Zieles Gewalt anzuwenden. Insbesondere die aus solchen gewaltorientierten Bestrebungen bestehende autonome Szene der Stadt steht im Fokus des Verfassungsschutzes Berlin. Wer oder was sind also Autonome?105 Autonome sind insbesonAutonome dere seit den 1980er Jahren in gezielter Abgrenzung von anderen linksextremistischen Milieus, wie kommunistischen Kaderparteien, dogmatischen K-Gruppen und terroristischen Untergrundorganisationen, entstanden. Im Ursprung verbanden sie einen auf Systemüberwindung zielenden Politikansatz mit einem betont nonkonformistischen Lebensstil. Die politische Haltung wird allgemein mit den Attributen organisationskritisch, theoriefeindlich und mili- 5 tant beschrieben. Ihr Leitprinzip ist die "Politik der ersten Person", die auf selbstbestimmtes und eigeninitiatives Handeln von Individuen setzt und eine "Stellvertreterpolitik" ablehnt, die private und politische Sphären voneinander trennt. Der dem Gedanken von - radikaler - Autonomie immanente SubSchwierige Zusammenarbeit über Gruppenjektivismus prägt auch die politische Arbeit und macht es schwiegrenzen hinweg rig, gemeinsame Nenner für eine längerfristige Zusammenarbeit in größeren personellen Zusammenhängen zu finden. In ihrer Geschichte haben die Autonomen inzwischen eine Reihe von Organisationsund Militanzdebatten hinter sich, die sich - zumindest in Berlin - im Wesentlichen in einer Ausdifferenzierung von "Antifa" und "Anarcho"-Szene ausdrücken. Einige - dem Habitus nach - "autonome", also theoretisch undogmatische Gruppierungen, propagieren gar marxistisch-leninistisches Gedankengut - eigentlich ein Widerspruch in sich. Autonome kommen daher selten auf einen Nenner. Selbst die Einberufung "Autonomer Vollversammlungen" (AVV) konnte die einigende Wirkung nicht entfalten, die sich die Szene erhofft hatte.106 105 Vgl. S. 224 f. 106 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 91 ff. 118 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Eine Zusammenarbeit über Gruppengrenzen hinweg entsteht daher meist anlassbezogen und findet im Rahmen von Kampagnen statt, für die temporär Bündnisse geschlossen werden. Als wichtiges verbindendes Element verbleiben ihre inzwischen "traditionellen" Großveranstaltungen, wie z.B. der "Revolutionäre 1. Mai" oder die "Silvio-Meier-Gedenkdemonstration", bei denen es der Szene regelmäßig gelingt, über ihren organisierten Kern hinaus Teilnehmer im vier-, zum Teil fünfstelligen Bereich zu mobilisieren. "Schwarzer Block" Der theoretisch wie praktisch verbindende, kleinste gemeinsame Nenner von Autonomen - und gleichzeitig die Grundlage ihrer Beobachtung durch den Verfassungsschutz - ist die Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols. Demonstrativ zur Schau getragen wird diese Haltung nicht zuletzt bei den eben genannten Großevents in Form des so genannten "Schwarzen Blocks", aus dem heraus regelmäßig Straftaten begangen werden und der den Tätern aktiven Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung bieten soll. Dennoch ist der "Schwarze Block" nicht identisch mit der autonomen Szene Berlins, denn er umfasst immer auch erlebnisorientierte Neugierige und rein gewaltfixierte "Eventhopper" sowie den Freund vom Freund, der mal eben zur Teilnahme überredet wurde. Autonome Szene Berlins Beschreiben kann man die ungefähr 870 Personen umfassende, zersplittert aber in etwa 30 Kleingruppen zersplitterte autonome Szene Berlins anschaulicher anhand der Themenfelder, in denen sie aktiv sind - im Szenejargon "Teilbereichsbewegungen" genannt. Diese lassen sich durchweg in Negationen formulieren, wie Anti-Repression, Anti-Militarismus, Anti-Imperialismus, Anti-Rassismus, AntiFaschismus, Anti-Kapitalismus, Anti-Globalisierung, Anti-Gentrifizierung usw. In fast allen diesen Feldern engagieren sich sowohl bürgerliche als auch subkulturell geprägte, ideologisch links orientierte Protestbewegungen, die mit Öffentlichkeitsarbeit bis hin zu Großdemonstrationen ihrer Kritik überwiegend friedlichen Ausdruck verleihen. Strategie fließender Autonome unterscheiden sich von diesen durch die Mittel, mit deÜbergänge nen sie die vermeintlichen oder tatsächlichen Missstände bekämpfen - insbesondere eben durch die Anwendung von Gewalt -, und die politischen Ziele, die sie dabei verfolgen. Vor allem präsentieren Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 119 sie andere Diagnosen für die Ursachen der Probleme, die an den Fundamenten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ansetzen und als Lösung eine Überwindung derselben anstreben. Den anderen Beteiligten und erst recht Außenstehenden erschließt sich das nicht offensichtlich, denn es gehört zur Strategie, fließende Übergänge zum zivilen Protest zu schaffen. Ziel von Linksextremisten ist, Themenfelder zu besetzen, die verKernthemen der Autonomen meintlich eine breite gesellschaftliche Anschlussfähigkeit besitzen, weil zu diesen bereits eine kritische Öffentlichkeit existiert, die es zu radikalisieren gilt. Diese Themen sind variabel und "konjunkturellen" Schwankungen ausgesetzt. Zuletzt haben sich drei Kernthemen fest etabliert: 1. der traditionelle "Kampf gegen Faschismus", 5 2. der "Widerstand" gegen vor allem staatliche Überwachung und "Repression" sowie 3. die Verhinderung städtebaulicher Umstrukturierungen, auch "Gentrifizierung" genannt. Der Verfassungsschutz muss innerhalb der in solchen Protestfeldern aktiven Organisationen und Gruppierungen extremistische von nicht-extremistischen Akteuren unterscheiden. Zur veranschaulichenden Beschreibung der linksextremistischen Szene Berlins ist es daher nützlich, die Gruppierungen des "harten Kerns" an Hand ihrer Schwerpunkte im Kampf gegen Faschismus, Repression oder Umstrukturierung zu differenzieren und im jeweiligen thematischen Zusammenhang zu erläutern, wo und wie sie eine Trennlinie zu legitimer Gesellschaftskritik überschreiten. 5.3.1 Autonome gegen Faschismus Gerade in der Bekämpfung des Rechtsextremismus existiert ein ARAB, ALB und NEA breiter gesellschaftlicher Konsens, der von autonomen Gruppierungen wie der "Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin" (ARAB), den "North East Antifascists" (NEA) und der "Antifaschistischen Linken Berlin" (ALB) zu teils überregionalen Bündnissen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, Parteien und Gewerkschaf- 120 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 ten genutzt wird, um aus der gesellschaftlichen Isolation herauszutreten. Häufig wird dadurch verdeckt, dass diese Gruppen Faschismus als systemimmanent ansehen und sich ihr antifaschistischer Kampf nicht nur gegen Rechtsextremisten richtet. "Unser antifaschistisches Selbstverständnis beinhaltet dabei die Erkenntnis, dass die Wurzeln des Faschismus im Kapitalismus liegen, unser antifaschistischer Kampf daher in eine antikapitalistische Perspektive eingebunden sein muss. Die bürgerliche, parlamentarische Demokratie ist nur eine Form staatlicher Herrschaft im Kapitalismus."107 Die so genannte "Sozialfaschismus-These"108 ebenso wie das Logo wurden von der "Antifaschistischen Aktion" der KPD aus dem Jahre 1932 übernommen. Nach einer Welle fremdenfeindlicher Angriffe in den 1990er Jahren gab es Versuche, den antifaschistischen Widerstand bundesweit zu organisieren, wozu auf das historische Vorbild zurückgegriffen wurde. Daraus resultieren der höhere Organisationsgrad und die größere Nähe zu kommunistischen Ideen bei autonomen "Antifas". Sie begnügen sich nicht mit der Bekämpfung des Rechtsextremismus; sie wollen ein anderes politisches System. Daher ist der Anti-Faschismus auch nicht das einzige Thema, mit dem sie gesellschaftlichen Anschluss suchen, sondern lediglich der Türöffner. ARAB einflussreichste Die "Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin" (ARAB) hat sich autonome Gruppierung Berlins im letzten Jahr zur einflussreichsten autonomen Gruppierung Berlins entwickelt. Spätestens mit der Organisation der "Revolutionären 1. Mai-Demonstration" 2012 unterstrich sie ihren Führungsanspruch in der linksextremistischen Szene der Stadt. Über ihr genuin antifaschistisches Engagement hinaus bemüht sie sich, "revolutionäres" Gedankengut in breite Bevölkerungskreise hineinzutragen 107 Artikel "Wir wollen mehr. Zur Gründung der Autonomen Antifa Berlin (A2B)" auf der Internetpräsenz der Gruppe A2B mit Datum vom 25.6.2012. 108 Dieses ursprünglich auf die Sozialdemokratie gemünzte Verständnis wurde von dem Bulgaren Georgi Dimitroff in einem Referat vor dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1935 im heutigen Sinn umgeprägt. Die nach ihm benannte These besagt, dass Faschismus "die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" sei. In diesem Sinne seien alle kapitalistischen Systeme potenziell faschistisch. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 121 und setzte dabei insbesondere auf das Thema "Finanzkrise". Unter dem Motto "Der Druck steigt - für die soziale Revolution" rief sie zum 1. Mai dazu auf, den Protest "in das politische Zentrum der Macht" zu tragen.109 In der Intention ganz klar im Vordergrund stand dabei der Versuch, an zivilgesellschaftlichen Protesten, wie z.B. der "Occupy"-Bewegung, anzuknüpfen und diese für extremistische Zwecke zu instrumentalisieren. Das Ergebnis warf die Gruppe jedoch auf ihre eigene Feststellung zurück: "'In der Klasse verankern' ist komplizierter, als einen Naziaufmarsch zu blockieren oder 'ne fette Demo gegen die Scheiß-Bullen' zu machen."110 Die ARAB lässt keinen Zweifel daran, dass sie zur Erreichung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele bereit ist, Gewalt einzusetzen. Im 5 Aufruf zu Protesten gegen die Finanzkrise in Frankfurt a.M. - kurz nach den aus ARAB-Sicht viel zu friedlichen 1. Mai-Demonstrationen - heißt es: "Wir werden unseren Widerstand ins Herzen der Bestie tragen und das ökonomische Zentrum des deutschen Imperialismus blockieren und angreifen. Damit wollen wir in Deutschland Klassenkämpfe entfalten und (...) sichtbar machen, dass auch in der BRD Menschen Widerstand gegen den deutschen Imperialismus und sein autoritäres Krisenbewältigungsregime leisten. Klasse gegen Klasse! Krieg dem Krieg! Für den Kommunismus!"111 109 Pressemeldung "Der Druck steigt - heraus zum revolutionären 1. Mai 2012!" auf der Internetpräsenz "Erster Mai" mit Datum vom 27.4.2012. 110 Artikel "Interview mit der ARAB zu den kommenden Krisenprotesten" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 29.3.2012. 111 Artikel "16.-19. Mai FFM: Ins Herz der Bestie" auf der Internetpräsenz der "Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin" mit Datum vom 16.5.2012 (Fehler im Original). 122 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 NEA in Mitte und Neben der ARAB erheben die "North East Antifascists" (NEA) eiPankow nen Führungsanspruch in der linksextremistischen Szene, der sich bisher jedoch vornehmlich auf eine regionale "Platzhirschrolle" in den Bezirken Mitte und Pankow beschränkt. Auch die NEA engagieren sich über das Thema Antifaschismus hinaus. Wie 2011 waren sie federführender Organisator der "Antikapitalistischen Walpurgisnacht" am 30. April. Mit der Verlegung nach Wedding wurde die Strategie verbunden, die migrantisch geprägte und sozioökonomisch zum Teil abgehängte Wohnbevölkerung in gewalttätige Proteste einzubeziehen. Im Aufruf zur Demonstration "Nimm was dir zusteht" wurde schon vorab auf an der Route liegende, symbolträchtige Objekte zur Kanalisierung einer vermeintlichen "Wut vor Ort"112 hingewiesen, so unter anderem eine Arbeitsagentur, ein Bürgeramt und die Ausländerbehörde.113 Dennoch verlief die Veranstaltung friedlich. Die NEA tritt nach außen gemäßigter auf als die ARAB und verzichtet darauf, ihre Gewaltbereitschaft allzu plakativ zur Schau zu stellen. In einer Selbstdarstellung heißt es: "Staatsapologeten und Nationenfreunde wird mensch bei uns schwer finden (...) Die Basisorganisierung z.B. im Räteprinzip schmeckt uns wesentlich mehr. 'Libertär' als bindende politische Selbstdefinition zwischen den Anarchist_Innen und Kommunist_Innen innerhalb der Gruppe ist daher etwas allgemein, aber auch sehr treffend."114 Interne Zerwürfnisse Die viele Jahre die linksextremistische Szene der Stadt dominierenbei der ALB de - und vermutlich noch immer bekannteste - autonome Gruppierung ist die "Antifaschistische Linke Berlin" (ALB). Nach internen Zerwürfnissen und einem "Spitzelvorwurf" war sie in der ersten Hälfte des Jahres 2012 quasi handlungsunfähig, konnte dann aber zumindest ihren antifaschistischen Kern reanimieren und sich mit 112 Artikel "Aufruf zur Antikapitalistischen Walpurgisnacht 2012" auf der Internetpräsenz "Antikapitalistische Walpurgisnacht" mit Datum vom 6.4.2012. 113 Artikel "Aufruf: Nimm was dir zusteht! - Demo und Konzert am 30. April 2012" auf der Internetpräsenz "Antikapitalistische Walpurgisnacht" mit Datum vom 3.4.2012. 114 Publikation "Dokument A - Berliner anarchistisches Jahrbuch 2011" auf der Internetpräsenz "Anarchistische Föderation Berlin" mit Datum vom 29.3.2012. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 123 der Organisation der traditionellen "Silvio-Meier-Demonstration" am 24. November in der Szene zurück melden.115 Die ALB trägt wesentlichen Anteil an der linksextremistischen Instrumentalisierung des Gedenkens an Silvio Meier. Im Aufruf zieht sie eine vermeintliche Verstrickung von Sicherheitsbehörden in die NSU-Mordserie zur Begründung ihrer Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols heran und fordert offen die Zerschlagung staatlicher Strukturen. "Heute, wie vor 20 Jahren, es bleibt dabei: Gegen Nazis aller Couleur hilft nur der antifaschistische Selbstschutz. Auf den deutschen Staat samt seiner Behörden ist dabei nicht nur kein Verlass, er gehört schlicht mit auf den Müllhaufen der Geschichte. 5 Erinnern heißt Kämpfen: Nazis, Staat, Verfassungsschutz - Angreifen, Zerschlagen, Auflösen!"116 Mit der "Antikapitalistischen Walpurgisnacht" (3 300 Teilnehmer), Hohes Mobilisierungspotenzial dem "Revolutionären 1. Mai" (10 000 Teilnehmer) und der "SilvioMeier-Demonstration" (3 500 Teilnehmer) wurden die drei bedeutendsten Szene-Events von autonomen "Antifa"-Gruppierungen geprägt. Mit der Wahl geeigneter Themen gelang es jeweils, die bisher größten Menschenmengen zu mobilisieren, aber keine Initialzündung für gewalttätige Massenproteste zu setzen. In der Vergangenheit haben vierstellige Teilnehmerzahlen bei "Schwarzen Blöcken" regelmäßig zu schweren Ausschreitungen geführt. Im 25. Jahr des 1. Mai und dem 20. Jahr von Silvio Meier blieben diese aus. Neben ARAB, NEA und ALB in den Stadtteilen Friedrichshain, PrenzKiezorientierte "Antifa" - Arbeit lauer Berg und Kreuzberg existieren eine Reihe weiterer lokaler "Antifa"-Gruppen, die in weiten Teilen der Stadt ansässig sind, um dort ihren Kiez gegen Rechtsextremisten zu "verteidigen". 115 Die Demonstration erinnert an einen Aktivisten der Friedens-, Umweltund Hausbesetzerbewegung, der nach einer Auseinandersetzung um rechte Symbole am 21.11.1992 erstochen wurde. Seitdem wird seine Person von der linksextremistischen autonomen "Antifa"-Szene zur Symbolfigur stilisiert. 116 Aufruf "Erinnern heißt Kämpfen - Den antifaschistischen Selbstschutz organisieren" auf der Internetpräsenz zur "Silvio-Meier-Demonstration 2012" (ohne Datum, letzter Abruf am 20.12.2012). 124 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Sie leisten typische "Antifa"-Arbeit durch Aktionen gegen rechte Bekleidungsläden oder Szenelokale, das Ausspähen und Veröffentlichen von Daten vermeintlicher oder tatsächlicher Neonazis mit dem Ziel der Einschüchterung bis hin zu gewalttätigen Angriffen - im Szenejargon als "Outings" bezeichnet. Gerade letzteres grenzt "Antifas" von zivilgesellschaftlichen Initiativen gegen Faschismus und Rassismus ab. Dennoch gelingt ihnen immer wieder der Schulterschluss. Vor allem bei überregionalen Demonstrationen, wie z.B. beim Protest gegen die jährlichen Großaufmärsche von Rechtsextremisten in Magdeburg und Dresden zum Gedenken an die Opfer alliierter Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg oder gegen den "Tag der deutschen Zukunft" (TDDZ) kommt es zu Bündnissen von Linksextremisten mit Akteuren aus Parteien, Verbänden und Gewerkschaften. In so genannten "Aktionskonsensen" werden gemeinsam friedliche Blockaden organisiert, jedoch auch vereinbart, dass keine Distanzierung gegenüber anderen Aktionsformen erfolgt. Während es nach dem weitgehenden Zusammenbruch der rechtsextremistischen Mobilisierung für Dresden dort weitgehend friedlich verlief, kam es beim TDDZ in Hamburg zu schweren Ausschreitungen, die sich vor allem gegen die Polizei richteten. 5.3.2 Autonome gegen Repression Ablehnung des Der Kampf gegen vermeintliche staatliche Repression ist konstistaatlichen Gewaltmonopols tutiv für das Selbstverständnis von Autonomen und zugleich Ausdruck ihrer ideologischen Verwurzelung im Anarchismus. Die damit verbundene Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols ist das zentrale verbindende Element zwischen den in "Teilbereichsbewegungen" zersplitterten autonomen Gruppen. Staatliche Repräsentanten, insbesondere aus Polizei und Justiz, nehmen sie als Vertreter eines "Repressionsapparates" wahr, der aus ihrer Sicht nur dazu dient, das "herrschende System" in seinem Bestehen zu sichern: Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 125 "Stattdessen betrachten wir Nationalstaat und Kapital als Erscheinungen, die einem selbstbestimmten Leben freier Menschen entgegenstehen sowie Polizei und Behörden als Repressionsapparat, dessen Funktion es ist diese falsche Gesellschaft aufrechtzuerhalten und gegen Andersdenkende zu verteidigen. Wir schließen keinen Frieden mit dieser Gesellschaft. Folglich sind die, die sie verteidigen auch weder unsere Freunde noch unsere Helfer. Prepare for Resistance Autonome Gruppen Berlin".117 Der gewalttätige Kampf gegen Repression hat seinen Ursprung in Protesten gegen die Notstandsgesetze von 1968, die mit Ausgangs- 5 punkt dafür waren, dass radikale Linke in den Untergrund gingen und terroristische Gruppen bildeten. Mit der Kritik an den Haftbedingungen von Gefangenen der "Rote Armee Fraktion" (RAF) - Stichwort "Isolationshaft" - wurden in weite Kreise der Bevölkerung hineinreichende Solidarisierungen erreicht. Der Widerstand gegen erweiterte Sicherheitsgesetze im Nachgang der Terroranschläge vom 11. September 2001 hat dazu geführt, dass das Thema Antirepression auch in der linksextremistischen Szene Berlins in den letzten Jahren wieder stärker an Bedeutung gewonnen hat. Es wird von ideologisch und strategisch sehr unterschiedlich ausGeringer Vernetzungsgrad gerichteten Gruppierungen besetzt sowie von eher losen und anlassbezogenen entstehenden Cliquen, die versuchen, das Umfeld verhafteter Brandstifter oder den unpolitischen Familienund Freundeskreis bei Polizeieinsätzen ums Leben Gekommener politisch zu vereinnahmen. Im Vergleich zur "Antifa"-Szene ist der Vernetzungsgrad dieser Gruppierungen untereinander geringer. Bedeutende auf Dauer angelegte Strukturen in diesem Themenfeld ooc, ABC, NFG und ZK sind die kleinen und äußerst klandestin agierenden Gruppierungen "Out of Control" (ooc), die aus der Antifa-Szene hervorging, und das "Anarchist Black Cross Berlin" (ABC), das über enge Verbindun117 Artikel "Polizeikongress 2013" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 24.10.2012. 126 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 gen in die Szene militanter Gentrifzierungsgegner verfügt. Im Gegensatz zu diesen eher anarchistisch geprägten Kleingruppen sind das "Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen" (NFG) und die Gruppe "Zusammen Kämpfen!" (ZK) mit ihrer marxistischen Ausrichtung eher untypisch für das Anti-Repressions-Spektrum der Stadt. Eine wichtige Unterstützungsfunktion kommt der "Roten Hilfe" zu, der größten linksextremistischen Organisation Berlins. Gegen "Knäste" Die dagegen nur eine Handvoll Aktivisten umfassende und ausgesprochen konspirativ agierende Gruppe ABC engagiert sich vordergründig für die Freiheit so genannter "politischer Gefangener". Sie beruft sich auf die Tradition des 1905 in Russland gegründeten "Anarchistischen Roten Kreuzes" und kämpft gegen alle Formen des "Wegsperrens". Neben einer regelmäßig aktualisierten Internetpräsenz, auf der sie u.a. zur Solidarität mit verurteilten Terroristen der "Roten Armee Fraktion" (RAF) und der "Revolutionären Zellen" (RZ) aufruft, engagiert sich ABC Berlin bei Demonstrationen, insbesondere vor Haftanstalten. Seit mehreren Jahren finden an Silvester bundesweit "Anti-Knast-Demonstrationen" statt. Zum Jahreswechsel 2011/2012 beteiligten sich etwa 750 Teilnehmer an der von ABC mindestens mitorganisierten Veranstaltung. Während des Aufzuges wurden die Polizeikräfte wiederholt mit Farbeiern und Feuerwerkskörpern beworfen. Im Aufruf zum 31. Dezember 2012 erklären sie: "Gefängnisse standen seit ihrer Einführung dafür gesellschaftliche Konflikte wegzusperren und unliebsame Teile aus der Gemeinschaft zu isolieren (...) Die kapitalistische Verwertungslogik bewirkt, dass immer mehr Menschen nicht mehr in der Lage sind, ihr Leben ohne Konflikte mit den herrschenden Gesetzen zu gestalten (...) Haft als Sanktionierung des politischen Widerstands ist inzwischen überall zum alltäglichen Problem geworden (...) Wir sehen die Überwindung aktuelle Strafdiskurse (...) als wichtigen Bestandteil auf dem Weg zu einer herrschaftsfreien Gesellschaft."118 118 Artikel "Sylvesterdemo zum Knast in Berlin" auf der Internetpräsenz "linksunten" (verfasst von "ABC Berlin") mit Datum vom 8.12.2012 (Fehler im Original). Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 127 Mit ähnlicher Strategie, aber anderen thematischen SchwerpunktGegen Sicherheitsarchitektur der EU setzungen, ist die Gruppe "Out of Control" (ooc) aktiv. Diese richtet sich inhaltlich insbesondere gegen eine ausgeweitete Sicherheitsarchitektur der EU. Zum jährlich in Berlin stattfindenden "Europäischen Polizeikongress" werden von ooc regelmäßig Gegenveranstaltungen organisiert. Unter dem Motto "Keine Freunde, keine Helfer" kam es dabei am 28. Januar zu schweren Ausschreitungen. Polizeikräfte wurden schon wenige Minuten nach Beginn aus dem bis zu 1000 Teilnehmern umfassenden Aufzug heraus mit Glasflaschen, Pyrotechnik und Steinen beworfen. Ein Verbindungsbeamter der Polizei119 wurde mit einem Tritt in den Rücken zu Fall gebracht und verletzt. Auch im Nachgang, bei der Veranstaltung "Polizeikongress verpiss dich" in einer Szenelokalität in Friedrichshain, kam es zu schweren Ausschreitungen. 5 Ebenso wie ABC bekennt sich ooc offen zum Anarchismus: Bekenntnis zum Anarchismus "Anarchismus ist indes eine politische Einstellung, die Herrschaft von Menschen über Menschen und jede Art von Hierarchie als Form der Unterdrückung von individueller und kollektiver Freiheit ablehnt. Eine solche auf Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung sowie Selbstverwirklichung der Individuen setzende und einen solidarischen Umgang der Menschen miteinander einfordernde Haltung müsste bei einem freiheitlichen Projekt, das die EU ja angeblich sein soll, eigentlich auf Respekt stoßen (...) Kriminell ist das System - nicht der Widerstand!"120 Das "Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen" (NFG) tritt nach außen vor allem mit ihrer überregionalen Zeitschrift "gefangenen info" in Erscheinung. In gegenseitigen Verweisen auf ihren Internetpräsenzen, gemeinsamen Mobilisierungsaufrufen und dem einträchtigen Auftreten bei Versammlungen eng mit dem NFG verbunden ist die Gruppierung "Zusammen kämpfen!" (ZK). Nach 119 Verbindungsbeamte halten während einer Demonstration Kontakt zu dem Versammlungsleiter und dem Polizeiführer. 120 Artikel "Europol gegen das "No Border - Netzwerk" auf der Internetpräsenz "indymedia" (verfasst von "ooc") mit Datum vom 18.4.2012. 128 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 anfänglich schnellem Mitgliederwachstum ist diese inzwischen deutlich geschrumpft und nicht zuletzt wegen hoher Gewaltbereitschaft gegenüber anderen Linksextremisten in der Szene äußerst NFG und ZK umstritten121. NFG und ZK agieren weitgehend isoliert von der auweitgehend isoliert tonomen Szene Berlins, dennoch kommen vereinzelt Kooperationen zu Stande, wie z.B. bei der Vorbereitung und Durchführung einer Demonstration zum "Tag des politischen Gefangenen". Diese Veranstaltung findet jedes Jahr am 18. März statt, 2012 mit 300 Teilnehmern. Im von NFG und ZK Berlin unterzeichneten Aufruf wird der immer wieder unternommene Versuch deutlich, das Umfeld von eher unpolitischen Personen, die bei Polizeieinsätzen ums Leben gekommen sind und deren Fälle zum Teil bis heute mediale Aufmerksamkeit erhalten, anzupolitisieren.122 "Die alltägliche Repression nimmt hierbei auch in Deutschland immer einschränkendere Züge an (...) Ihre Einschüchterung richtet sich, wie die Morde an Dennis J., Slieman Hamade und Oury Jalloh zeigen, gezielt gegen gesellschaftliche Minderheiten (...) Alle Teile der fortschrittlichen und revolutionären Widerstandsbewegung müssen sich zusammenschließen, um sich mit den politischen und sozialen Gefangenen zu solidarisieren und linke Politik effektiv zu verteidigen!"123 121 Im letzten Jahr kam es mehrfach zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen ZK-Angehörigen und so genannten "Anti-Deutschen", u.a. beim "Jahrestag der Befreiung vom Faschismus in Neukölln" am 29. April. Der Konflikt entzündet sich an der Haltung zum Staat Israel. Während "Anti-Imperialisten" den Zionismus als Teil militärischer Expansionsbestrebungen des Kapitalismus unter Federführung der USA ansehen, solidarisieren sich "Anti-Deutsche" mit Israel und den USA wegen der historischen Schuld Deutschlands an der Ermordung von Millionen Juden. Sie glauben an eine in Kultur und Genen angelegte Disposition von Deutschen zu solchen Verbrechen, was ihnen selbst den Vorwurf von Rassismus einbringt. 122 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 128 f. 123 Artikel "Der Tag der politischen Gefangenen in Berlin" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 2.3.2012. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 129 Ein beständig wichtiger Eckpfeiler solcher Solidaritätsstrukturen ist "Rote Hilfe" als Teil der Solidaritätsstruktur der "Rote Hilfe e.V." (RH). Mit inzwischen rund 880 Mitgliedern ist der Berliner Ortsverband die größte linksextremistische Organisation der Stadt124. Laut Selbstdarstellung engagiert sie sich für "politisch Verfolgte aus dem linken Spektrum".125 In ihren Mitgliedszeitschriften veröffentlicht die "Rote Hilfe" AdresUnterstützung im Strafverfahren sen von Inhaftierten, die es politisch und materiell zu unterstützen gelte. Darüber hinaus bietet der Verein unter bestimmten Voraussetzungen Angeklagten in laufenden Verfahren und nicht-inhaftierten Verurteilten vor allem rechtlichen und finanziellen Beistand. Zu diesen Voraussetzungen zählt, dass die Straftat einen politischen Hintergrund besitzt und der Betroffene nicht mit Polizei und Justiz kooperiert. Sie stellt damit eine wichtige Infrastruktur inner- 5 halb der Szene, ohne dass ihre Mitglieder selbst zum gewalttätigen Kern zu rechnen wären. Das Engagement zielt allerdings darauf ab, die strafrechtlichen Konsequenzen für politisch links motivierte Strafund Gewalttäter abzumildern. "Die Unterstützung für die Einzelnen soll zugleich ein Beitrag zur Stärkung der Bewegung sein" und "ermutigt damit zum Weiterkämpfen".126 5.3.3 Autonome gegen Umstrukturierung Ähnlich wie der "Kampf gegen Faschismus" ist der Protest gegen Gegen "Gentrifizierung" eine städtebauliche Umstrukturierung, die sozialund wohnräumlich gewachsene Strukturen zerstört - auch "Gentrifizierung" genannt127 - per se ein legitimes gesellschaftliches Engagement. Auch die von jugendlichem Rebellentum, alternativem Erscheinungsbild und wirtschaftlichen Nöten geprägten Bewohner von Wohnprojekten, die sich gegen eine Verdrängung aus ihren Kiezen wehren, sind keine Angelegenheit des Verfassungsschutzes. Anders ist das jedoch, wenn versucht wird, unter Missachtung der Eigentumsrechte 124 Nicht alle Mitglieder des Vereins sind Extremisten. 125 Artikel "Wer ist die Rote Hilfe?" auf der Internetpräsenz des "Rote Hilfe e.V." (ohne Datum, letzter Abruf am 20.12.2012). 126 Ebenda. 127 Gemeint ist damit in erster Linie die Aufwertung von Stadtteilen durch Bauund Sanierungsmaßnahmen, die durch steigende Mieten und spekulativen Leerstand zum Wegzug der ansässigen und meist einkommensschwächeren Bevölkerungsgruppen führt. 130 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Dritter und teilweise mit Gewalt so genannte "autonome Freiräume" zu etablieren, in denen rechtsstaatliche Normen außer Kraft gesetzt sind. "Autonome Freiräume" So werden zum Freiraum erklärte Gebiete oder Gebäude gegen rechtmäßige Räumungen gewaltsam "verteidigt" und noch nach erfolgten Sanierungen immer wieder angegriffen. Nicht selten mündet dies in - zum Teil schweren - Sachbeschädigungen an diesen Objekten oder in - häufig gewalttätig eskalierenden - spontanen Protestaufzügen oder Landfriedensbrüchen. Die dabei entstehenden Drohkulissen gegenüber Neumietern und Immobilieninvestoren sowie ihren vermeintlichen "Erfüllungsgehilfen" in Senatsverwaltungen, Polizei und Justiz sind gewollt und zielen auf Machtausübung in Teilen des öffentlichen Raums. Linksextremisten geht es dabei nur vordergründig um einen Protest gegen Umstrukturierung oder ein Engagement für "autonome Freiräume", sondern um die Schaffung rechtsfreier Räume. Ein Selbstbezichtigungsschreiben zu einem Landfriedensbruch im Friedrichshainer Kiez am 1. November betont dieses Ziel nachdrücklich: "Ziel war nicht etwa Freiräume zu fordern sondern rechtsfreie Räume zu schaffen (...) Autonome Gruppen können jederzeit in dieser Stadt die Orte aufzeigen, an denen ein anderes Leben möglich ist (...) wie schon gesagt, fordern wir keine Freiräume mehr. Die Zeit der Verhandlungen ist vorbei." 128 WBA und Rigaer 94 Dieser Teil der linksextremistischen Szene Berlins besitzt einen geringeren Organisationsgrad, aber das höchste Mobilisierungspotenzial und vor allem eine immer besorgniserregendere Gewaltbereitschaft. Seine Aktivitäten entstehen eher situativ - oft bei der bevorstehenden Räumung eines Hauses - und die Zusammenarbeit ist eher temporärer Natur. Dennoch sind im Spektrum der autonomen Gentrifizierungsgegner zwei festgefügte Strukturen identifizierbar, die als organisatorische Basis linksextremistischer Bestrebungen dienen: Zum einen "Wir bleiben alle!" (WBA), 128 Artikel "Friedrichshain: Für rechtsfreie Räume randaliert" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 2.11.2012 (Fehler im Original). Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 131 ein loser Personenzusammenhang, der anlassbezogen und sehr kurzfristig eine Mobilisierungsplattform bieten kann, um größere Demonstrationen zu initiieren, zum anderen die "Rigaer 94" als Ausgangspunkt und Rückzugsort von bzw. nach militanten Aktionen zur Erkämpfung "autonomer Freiräume". Der Slogan "Wir bleiben alle!" war ursprünglich die Bezeichnung für eine Kampagne gegen Gentrifizierung, die zunächst keine auf Dauer angelegten Strukturen aufwies, sich jedoch durch Vollversammlungen, der Bildung von Arbeitsgruppen und einer regelmäßig gepflegten Internetpräsenz zunehmend selbst einen organisatorischen Rahmen gab. In einem Eckpunktepapier wird "der Erhalt, Ausbau und das Erkämpfen neuer selbstorganisierter Räume (...) frei von Überwachung, Herrschaft, Konformitätsund Konsum- 5 druck" zum Ziel erklärt - "als Gegenmodell zu den herrschenden Verhältnissen". Dritte werden dazu aufgerufen, selbst unter dem WBA-Label aktiv zu werden und dabei wird betont, dass es in diesem Zusammenhang "keine öffentliche Distanzierung von Aktionsformen" gäbe.129 Der Verzicht auf ein "Copyright" hat dazu geführt, dass der "Wir bleiben alle!"-Slogan inzwischen nicht nur in kämpferisch formulierten Selbstbezichtigungsschreiben, sondern bis in Mieterinitiativen hinein Verwendung findet und insofern kein eindeutiges Erkennungsmerkmal von Linksextremisten ist. Der extremistische Kern von WBA hat sich insbesondere im ZuJahrestag der Räumung "Liebig 14" sammenhang mit der symbolträchtigen "Liebig 14" engagiert. Vor, während und nach der Räumung dieses ehemals besetzten und dann als alternatives Wohnprojekt legalisierten Hauses in Friedrichshain Anfang 2011 kam es zu heftigem Widerstand der Bewohner und ihrer Sympathisanten mit teils schweren Straftaten. Von WBA organisierte Demonstrationen verliefen gewalttätig.130 Die Demonstration zum ersten Jahrestag der Räumung am 4. Februar blieb mit 1 250 Teilnehmern jedoch deutlich unter der Beteiligung 129 Artikel "WIR BLEIBEN ALLE!!! Selbstorganisierte Räume erkämpfen und verteidigen" auf der Internetpräsenz von WBA, ohne Datum, letzter Abruf am 20.12.2012. 130 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 136 f. 132 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 des Vorjahres. Auch die Aktionen rund um den Jahrestag waren mit Farbschmierereien und Sachbeschädigungen weniger schwerwiegend. Angriffe gehen weiter Dennoch gehen die geradezu tyrannisierenden Angriffe zum Nachteil der Neumieter des Hauses und des gesamten Straßenzuges weiter. Quasi zum Alltag vor Ort gehört, dass Wände beschmiert und mit Farbe oder Teer beworfen, Löcher in Jalousien gebohrt, Fenster eingeschlagen, Schraubenmuttern durch Scheiben geschossen, Pyrotechnik an Fassaden und in Hauseingängen zur Explosion gebracht, Privatfahrzeuge entglast und Reifen zerstochen, Barrikaden auf der Straße errichtet und in Brand gesetzt werden. In einer Erklärung "An die Herrschenden" heißt es: "Wisst ihr, dass wir Räumungen niemals akzeptieren werden? Wisst ihr, dass ein Angriff auf ein Projekt einen Angriff auf uns alle bedeutet? Ist euch nicht klar, dass Unterstützung für diese Freiräume nicht nur von denen kommt, die ihr als 'linksextrem' diffamiert? Dass sich die breite Solidarität in der ganzen Stadt nicht spalten lässt in 'böse, gewaltbereite' und 'friedliche' Bürger_innen? Dass sich Verdrängung und 'Aufwertung' gegen uns alle richten und wir in unserer Wut zusammen dagegen kämpfen? (...) Profiteur_innen der Verdrängung fürchtet euch! (...) Liebig 14 lebt weiter - im Untergrund!"131 "Rigaer 14" zentrale In direkter Nachbarschaft zur Liebigstraße 14 befindet sich die RiInstitution der gewaltbereiten autonomen Szene gaer Straße 94, die als eine zentrale Institution der gewaltbereiten Berlins autonomen Szene Berlins bezeichnet werden kann. Der Symbolwert der "Rigaer 94" ist noch weitaus höher einzuschätzen, als jener der "Liebig 14". Die tragenden Akteure, bestehend aus Teilen der Bewohnerschaft des Hauses und regelmäßigen Besuchern einer Szenelokalität im Gebäude, sind zum harten Kern militanter 131 Artikel "Pressemitteilung vom 4.2.2012" auf der Internetpräsenz der "Liebig 14" mit Datum vom 4.2.2012. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 133 Linksextremisten zu rechnen. Polizeiliche Maßnahmen vor Ort führen oft zu gewalttätigen Reaktionen. Bereits beschrieben wurde das versuchte Tötungsdelikt im RahSchwere Gewalttaten men der Veranstaltung "Polizeikongress verpiss dich" Ende Januar 2012132. Ein weiteres Beispiel dafür, wie "Freiräume verteidigt" werden, ist ein Vorfall vom 9. Mai während eines Polizeieinsatzes wegen Hausfriedensbruchs ein paar Häuserblocks entfernt. Als eine männliche Person dort einer Überprüfung unterzogen wurde, kam es aus einer Gruppe von etwa 15 Personen zunächst zu Beschimpfungen der Polizisten, dann rissen sie die Tür des Einsatzwagens auf, bedrohten Beamte mit einer Bierflasche und besprühten diese mit einer ätzenden Flüssigkeit. Erst nachdem diese Unterstützung angefordert hatten, entfernten sich die Angreifer und flüchteten in 5 die Rigaer Straße 94. Einsatzkräfte klagten in der Folge über brennende Schmerzen im Gesicht und an den Armen und mussten im Krankenhaus ambulant behandelt werden. "Das Wohnprojekt Rigaer94 und der Veranstaltungsraum Kaderschmiede gehören zu den letzten offen (teil-)besetzten Räumen Berlins. Wir blicken zurück auf über zwanzig Jahre Hausgeschichte, in denen wir uns gegen Bullen, Staat und Repression zur Wehr gesetzt haben. Der Hass beruht dabei auf Gegenseitigkeit (...) Je teurer so ein Angriff die Bullen und der Staat zu stehen kommt, desto eher überlegen sie sich, ob sie uns oder andere Projekte noch mal angreifen. Treiben wir den Preis gemeinsam in die Höhe! Wir hoffen auch in den nächsten zwanzig Jahren gegen Bullen, Staat und Kapitalismus auf eure Unterstützung und Solidarität!!"133 Tatsächlich ist Gentrifizierung ein stark mobilisierendes ThemenErhoffte Solidarisierungsund Radikalisiefeld. Auch die Veranstaltungen zur Walpurgisnacht und zum 1. rungseffekte Mai - mit einem unangemeldeten Aufzug von etwa 1 200 Personen durch das MyFest - standen in diesem Jahr im Zeichen dieses 132 Vgl. S. 111 f. 133 Artikel "Rigaer94 und Kaderschmiede verteidigen! Aber was meinen wir damit eigentlich?" auf der Internetpräsenz der "Rigaer 94" mit Datum vom 28.3.2012 (Fehler im Original). 134 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Themas und führten zu hohen Teilnehmerzahlen. Die Szene erhofft sich davon Solidarisierungsund Radikalisierungseffekte. In einer Szenezeitschrift heißt es dazu: "für uns ist es die dringlichste aufgabe dazu beizutragen, dass sich aus dem hass im kiez auf steigende mieten und verdrängung eine breite militante bewegung entwickelt."134 5.3.4 Postautonome Postautonome gewinnen Ein den Autonomen verwandtes Phänomen sind die so genannten an Bedeutung "Postautonomen". Dieses ist nicht völlig neu, sondern bereits seit Anfang der 1990er Jahre zu beobachten, spielte in der von "traditionellen" Autonomen dominierten Szene Berlins aber bisher nur eine untergeordnete Rolle. Aus Sicht des Berliner Verfassungsschutzes wird diesem in naher Zukunft jedoch eine wachsende Bedeutung im Linksextremismus der Stadt zukommen. Insgesamt können in Berlin etwa 170 Personen diesem Spektrum zugerechnet werden. Auch mehrere Mitglieder der sich zunehmend transformierenden ALB sind Teil dieses Netzwerks. Postautonome wollen Postautonome Gruppierungen sehen sich als eine Weiterentwickgesellschaftliche Isolation durchbrechen lung der "traditionellen" Autonomen. Sie nehmen die innerhalb der linksextremistischen Szene geäußerte Kritik auf, "die autonome Bewegung sei theoriefeindlich, unorganisiert, planlos und unfähig, über rein szeneinterne Großevent-Mobilisierungen hinaus irgendeine nachhaltige linke Politik auf die Beine zu stellen".135 Postautonome formulieren den Anspruch, die gesellschaftliche Isolation linksextremistischer Akteure zu durchbrechen und versuchen ein Scharnier zwischen gewaltbereiten Linksextremisten und gemäßigten Linken zu bilden. Instrumentelle Haltung Ihre Haltung zur Militanz ist in diesem Sinne instrumentell. Man zur Militanz beteiligt sich vordergründig nicht an Szenerandale, distanziert sich jedoch auch nicht eindeutig vom Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele. Zum Zwecke der Durchführung von ver134 Artikel "aneignung jetzt!" in der Zeitschrift "Interim", Nr. 740, S. 11, mit Datum vom 25.5.2012 (Fehler im Original). 135 Artikel "Kleine Atempause" in der Zeitschrift "arranca!", Nr. 44 vom August 2011. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 135 meintlich vermittelbaren, "weicheren" Formen des militanten Protests, wie z.B. der Blockade von Bankenvierteln, kooperiert man anlassbezogen durchaus auch mit offen gewaltorientierten Gruppen. Daneben versucht man eher zivilgesellschaftlich geprägte Organisationen oder soziale Bewegungen in radikalere Aktionsformen einzubeziehen. Als vermittelnde Instanz zwischen den zum Teil grundverschiedenen Akteuren dient dabei der Begriff des "zivilen Ungehorsams" - der von diesen jedoch sehr unterschiedlich interpretiert wird. Langfristiges Ziel von Postautonomen ist eine "Radikalisierung von "Radikalisierung von innen" innen", d.h. die Etablierung einer organisierten außerparlamentarischen Gegenmacht, die auf eine revolutionäre Umwälzung der "herrschenden Verhältnisse" hinarbeitet. Dabei denken sie in per- 5 sonell größeren, regional weiterreichenden und thematisch vielfältigeren Organisationskategorien als eher teilbereichsbewegte autonome Kiezgrüppchen. "Ausdifferenziert wie das System, das wir überwinden wollen, muss auch unser Widerstand sein".136 Auffallend ist, dass Postautonome in Arbeitsgruppen und Publikationen insbesondere jene Themenfelder besetzen, die in Selbstbezichtigungsschreiben häufig zur Begründung symbolischer und sabotierender Straftaten angeführt werden, die aber gerade nicht die aktuell bestimmenden Themen der gewaltbereiten autonomen Szene Berlins sind - wie u.a. Anti-Militarismus, Anti-Kapitalismus und "Soziale Kämpfe". Das Verhältnis zwischen Autonomen und Postautonomen ist diDistanziertes Verhältnis zwischen Autonomen stanziert. Postautonome werden als elitär und diskursorientiert, und Postautonomen bieder und wenig tatkräftig abgelehnt, was eine anlassbezogene Zusammenarbeit aber keineswegs ausschließt. Spätestens mit den von Postautonomen federführend mit initiierten Demonstrationen und Aktionstagen zur so genannten "Bankenkrise" in Frankfurt a.M. 2012, an denen bis zu 25 000 Menschen teilnahmen - von Autonomen über soziale Bewegungen, zivilgesellschaftliche Organisationen bis zu Parteien und Gewerkschaften -, kann von einer Nebenrolle der Postautonomen keine Rede mehr sein. 136 Artikel "Zeitgemäßer Internationalismus" in der Zeitschrift "arranca!", Nr. 46 vom Dezember 2012. 136 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Fazit und Ausblick Etwas mehr Personen, Noch einmal die quantitativen Entwicklungen im Überblick: Das deutlich weniger Straftaten linksextremistische Personenpotenzial Berlins ist leicht gestiegen, wobei unterschiedliche Entwicklungen in der gewaltbereiten autonomen Szene einerseits (abnehmend) und den eher legalistischen Organisationen andererseits (zunehmend) zu verzeichnen sind. Politisch links motivierte Straftaten sind um ein Drittel zurückgegangen, Gewalttaten sogar um die Hälfte. Berichte über Autobrandstiftungen, Bahnanschläge oder gewalttätig eskalierende Demonstrationen von "linken Chaoten" sind medial in den Hintergrund getreten. Man könnte meinen, hinsichtlich des Berliner Linksextremismus sei Entwarnung zu geben. Doch dem ist nicht so. Eine oberflächliche Bewertung abstrakter Zahlen greift zu kurz, um die dahinter stehenden Entwicklungen zu verstehen und Prognosen für die nähere Zukunft abgeben zu können. Strukturwandel der linksextremistischen Szene Berlins Demografischer Wandel Der Grund für die personellen Verschiebungen zwischen Autonoauch bei Linksextremisten men und Organisierten dürfte mindestens teilweise durch einen demografischen Effekt erklärbar sein, bei dem immer mehr dem Jugendalter entwachsene Autonome ihr politisches Engagement in weniger militanten Formen fortführen. Um den Verlust älterer, erfahrener und meist politisch stärker geschulter Aktivisten zu kompensieren, nehmen auch führende autonome Gruppierungen immer mehr erlebnisorientierte und bildungsferne Heranwachsende mit vergleichsweise geringen politischen Motivationen in ihren Reihen auf. Damit verändert sich zum Teil auch der Charakter der Gruppierungen, was zu internen Zerwürfnissen, Cliquenbildungen und Spaltungen führt - gerade im Bereich der "Antifa". Die mindestens zeitweise Schwäche der ALB ist ein Ausdruck dieser Entwicklung. Vergebliches Warten auf den Aufstand Martialisches Auftreten Mit ihrem oftmals milieuspezifischen Habitus unterminieren die wirkt nicht mobilisierend "Neuen" die Anschlussfähigkeit der Autonomen an gesellschaftlichen Protest eher, als das sie diesen unterstützen. Insbesondere die ARAB bekam in ihrem vergeblichen Bemühen, wenigstens Teile Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 137 von sozialen Bewegungen für sich zu instrumentalisieren, zu spüren, wie wenig sie mit ihrem martialischen Auftreten in der Lage ist, eine Initialzündung für eine "revolutionäre" Massenbewegung zu setzen. Dabei schrecken die ARAB-Mitglieder nicht nur friedliche Protestierende ab, sondern zunehmend auch Angehörige der übrigen autonomen Szene. Aufgrund objektiver gesellschaftlicher Problemlagen gelingt es AuMassenradikalisierung bleibt bis auf weiteres tonomen zwar weiterhin, mit der Besetzung des "richtigen" Theaus mas (z.B. Gentrifizierung, Finanzkrise oder NSU-Morde) über die eigene Szene hinaus politisch Interessierte und Engagierte zur Teilnahme an ihren Demonstrationen zu mobilisieren, aber eben nicht "Massen" zu radikalisieren. "Antikapitalistische Walpurgisnacht", "Revolutionärer 1. Mai" oder die "Silvio-Meier-Gedenkdemonstra- 5 tion" waren größer, aber nicht gewalttätiger als in den Jahren zuvor. Dies wird in der Szene zum Teil mit Enttäuschung kommentiert. Aber: Eine Umkehr dieses Trends ist schlagartig dann möglich, wenn die Protagonisten selbst in den Fokus von Aktionen politischer Gegner oder Maßnahmen Dritter rücken. Eine besondere Brisanz hätte z.B. die Räumung von Szeneobjekten, wie sie insbesondere im Friedrichshainer Kiez zu finden sind. Aktionen und Aussagen aus dem Umfeld der ehemaligen "Liebig 14" und der weiter bestehenden "Rigaer 94" sprechen hier eine eindeutige Sprache. Je höher deren Symbolkraft, desto stärker könnten auch die Solidarisierungswellen in subkulturell verwandten und ideologisch nahestehenden Milieus ausfallen. Rückgang der Strafund Gewalttaten kein Trend Aus diesem Grund kann auch keine Entwarnung hinsichtlich der Keine Entwarnung: linke Strafund Gewalttaten zukünftigen Entwicklung linksextremistischer Gewalt gegeben werunterliegen Schwanden. Zwar weisen die Zahlen der Politisch motivierten Kriminalität kungen links (PMK-links) einen erheblichen Rückgang auf, allerdings lässt sich daraus - ebenso wie aus dem Anstieg im Vorjahr - kein Trend ableiten. Linke Strafund Gewalttaten unterliegen "konjunkturellen" Schwankungen und entstehen häufig aus situativen Kontexten, wie etwa der Räumung der Liebigstraße 14 im Jahr 2011. 138 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Solche Anlässe fehlten 2012, könnten das Klima aber schlagartig ändern. Gerade aufgrund der Zunahme bildungsferner, erlebnisorientierter Akteure in der autonomen Szene ist von einem nachhaltigen Rückgang militanter Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung derzeit nicht auszugehen. Die Ausschreitungen bei der unangemeldeten Demonstration gegen den Polizeikongress am 16. Februar 2013 waren ein Signal, dass die Anhänger "Schwarzer Blöcke" sich noch nicht abschreiben lassen wollen. Die hier geschilderten schweren Gewalttaten gegen Polizisten, bei denen teilweise wegen versuchten Mordes ermittelt wurde bzw. noch wird, zeugen davon, dass die Achtung von Leib und Leben politischer Gegner mindestens in Teilen der Szene erodiert. Es ist allein glücklichen Umständen zu verdanken, dass dabei noch kein Mensch zu Tode kam. Autonome am Scheideweg Selbstgestellte AnWie sich bereits 2011 gezeigt hat, sind weder mit Brandanschläsprüche werden nicht eingehalten gen auf Privatfahrzeuge noch mit dem Lahmlegen des öffentlichen Nahverkehrs breitere Teile der Bevölkerung für linksextremistische Ziele zu gewinnen. Derartige Aktionsformen waren 2012 praktisch nicht zu verzeichnen; insofern zeigte sich die Szene veränderungsfähig. Die selbst gestellten Ansprüche an Zielgerichtetheit und Vermittelbarkeit werden aber weiterhin oft nicht eingehalten. Mehrfach wurden Unbeteiligte bei Anschlägen verletzt; Hemmschwellen bei der Anwendung von Gewalt gegen Menschen sinken. Die aktuelle Führungsrolle der ARAB, die ein Verfechter überkommener autonomer Aktionsformen ist, muss kein Dauerzustand sein. Mit ihrem vordergründig weniger militanten und inhaltlich moderateren Auftreten könnten Postautonome perspektivisch die erfolgversprechendere Option im Sinne linksextremistischer Bestrebungen zu einer infiltrierenden "Radikalisierung von innen" sein. Autonome am ScheiDie im Nachgang des Demonstrationsgeschehens rund um den 1. deweg Mai vorgelegte Einschätzung des Verfassungsschutzes Berlin, dass sich die "Autonome(n) am Scheideweg" befinden, gilt weiterhin.137 137 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Lageanalyse: Der 1. Mai 2012 - Autonome am Scheideweg. Berlin 2012. Aktuelle Entwicklungen - Ausländerextremismus 139 6 Extremistische Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 6.1 Personenpotenzial In diesem Bereich hat sich das Personenpotenzial im Vergleich zum Kaum Veränderung des Personenpotenzials Vorjahr erneut kaum verändert. Den in der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) organisierten kurdischen Linksextremisten waren für das Jahr 2012 etwa 1 050 Personen (2011: ca. 1 050) zuzurechnen. Aktuell stellen sie damit in Berlin die einzige linksextremistische ausländische Organisation dar, die über ein zahlenmäßig relevantes Personenpotenzial verfügt. Personenpotenzial extremistischer ausländischer 6 Organisationen (ohne Islamisten)* Berlin Bund 2011 2012 2011 2012 Gesamt 1 600 1 600 26 410 28 810 Linksextremisten, davon 1 300 1 300 18 570 17 970 PKK 1 050 1 050 13 000 13 000 DHKP-C 65 50 650 650 Sonstige 185 200 4 920 4 320 Extreme Nationalisten 300 300 7 840 10 840 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. 6.2 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Die Ereignisse im Bereich der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) waProteste gegen Isolation Öcalans ren in diesem Jahr geprägt von der fortdauernden Isolation ihres Führers Abdullah Öcalan und den Protesten der Organisationsanhänger dagegen. In Zusammenhang mit zwei Hungerstreikphasen ab März sowie ab September gab es Besetzungsaktionen in ganz Europa. Ausschreitungen beim "Kurdischen Kulturfestival" im September zeigten erneut das vorhandene Gewaltpotenzial. Daher besteht ein unverändert hoher Verfolgungsdruck der Sicherheits- 140 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 behörden auf jugendliche Gewalttäter und Führungskader. Auch Propagandaeinrichtungen der PKK stehen weiterhin im Fokus. Druck auf Türkei steigt In der Türkei nahmen die Kämpfe zu. Die Entwicklung im Irak und in Syrien vergrößerte den Einfluss der PKK und verstärkte den Druck auf die Türkei. Ein Ausschuss des Deutschen Bundestages behandelte eine Petition zur Anerkennung der kurdischen Identität, in der die Aufhebung des PKK-Verbots gefordert wird. 6.2.1 Hungerstreik der PKK-Anhänger Hungerstreiks wegen Vorherrschendes Thema der PKK-Anhänger ist die andauernde IsoIsolation Öcalans lation Öcalans. Dieser hatte am 27. Juli 2011 zum letzten Mal die Möglichkeit, mit seinen Anwälten zu sprechen.138 Ab dem 15. Februar139 gab es einen Hungerstreik inhaftierter PKK-Aktivisten und Angehöriger der "Freiheitspartei der Frauen Kurdistans" (PAJK) in der Türkei. Zudem fand ab dem 1. März ein Solidaritätshungerstreik vor dem Europarat in Straßburg statt, der erst nach 52 Tagen beendet wurde. Die "Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans" (KCK) hatte in einer Erklärung am 20. April darauf hingewiesen, dass Öcalan keine Todesfälle bei solchen Widerstandsaktionen wolle. Die Gefangenen in der Türkei beendeten ihren Hungerstreik ebenfalls. Reaktionen in Eine angespannte Lage in der Türkei bedeutet für Deutschland imDeutschland mer emotionalisierte Organisationsanhänger und damit vermehrte Proteste. Im März rief die "Gemeinschaft der Kommunen der demokratischen Jugend Kurdistans" (Komalen Ciwan)140 die Jugendlichen zum Kampf auf: "Jeder junge Kurde, der eine Waffe halten kann, soll sich den Reihen der Guerilla anschließen und mit der Waffe am Kampf beteiligen, wer einen Stein halten kann, mit einem Stein, wer einen Stock halten kann, mit 138 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 150 f. Bis September 2012 gab es, abgesehen von einem Besuch seines Bruders am 12.10.2011, keine Kontakte zu Öcalan, über die Informationen zu seiner aktuellen Situation nach außen gedrungen wären. Im Gegensatz zu vergangenen Jahren kamen keine Gerüchte über mögliche Gesundheitsprobleme Öcalans auf. Dennoch nahmen die Veröffentlichungen der führenden PKK-Funktionäre 2012 einen immer schärferen Ton an. 139 Jahrestag der Festnahme Öcalans 1999 in Kenia. 140 Jugendorganisation der PKK. Aktuelle Entwicklungen - Ausländerextremismus 141 einem Stock, wer einen Molotow halten kann, mit einem Molotow."141 Die Protestformen der Anhänger waren aggressiver als in den verProteste der PKK gangenen Jahren. In Berlin blieb es vergleichsweise ruhig; dagegen beteiligten sich mutmaßliche Mitglieder der Komalen Ciwan aus Berlin an Aktionen im Bundesgebiet und sogar im europäischen Ausland. * Am 15. Februar demonstrierten zwölf Personen mit mehreren Öcalan-Flaggen mit einem Sitzstreik in der Vertretung der Europäischen Kommission in Berlin-Mitte. * Am gleichen Tag befestigten drei Personen - von denen zwei bereits als Tatverdächtige des Anschlags auf ein türkisches Vereinslokal am 3. Januar auffällig geworden waren142 - ein Plakat zur Unterstützung Öcalans an einer Fußgängerbrücke über der Autobahn 100 in Wilmersdorf, das den Verkehr gefährdete. 6 * Am 20. Februar hatten sich 40 mutmaßliche PKK-Aktivisten gewaltsam Zutritt zur Eingangshalle des Europarats in Straßburg verschafft und dort einen Sit-In veranstaltet. Das Gebäude musste von Polizeikräften geräumt werden, teilweise gegen aktiven Widerstand der Beteiligten. Die festgestellten Personen stammten aus verschiedenen europäischen Ländern (Italien, Schweiz, Belgien, Frankreich und Deutschland), zwei davon kamen aus Berlin. * Junge Organisationsanhänger besetzten am 13. April eine Fähre in Marseille, um mit Plakaten und durch die erwartete Resonanz in der Presse auf die Isolation Öcalans aufmerksam zu machen. Am 15. April übernahmen mutmaßliche Komalen Ciwan-Anhänger gewaltsam ein Ausflugsschiff auf dem Rhein bei Köln und am 19. April eine Elbfähre in Hamburg.143 141 Internetauftritt der Komalen Ciwan vom 19.3.2012. 142 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 147 f. 143 Man wollte "das Ruder nach Imrali [Der Insel, auf der Öcalan inhaftiert ist.] umlegen". Am 15. August wurden in Paris und am 18. August in Marseille zwei weitere Schiffe besetzt. 142 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Die Schiffe trieben jeweils kurzzeitig ohne Kontrolle, bevor die Polizei sie entern konnte. Die Aktivisten ergaben sich ohne Gegenwehr. Während die Beteiligten in Köln vorwiegend aus der Umgebung kamen, handelte es sich bei der Besetzung in Hamburg offensichtlich um eine Gemeinschaftsaktion des PKK-Gebiets Nord, zu dem auch Berlin gehört. Tatsächlich wiesen vier der festgestellten Personen einen Berlin-Bezug auf. * Am 18. April blockierte eine Gruppe von etwa 15 Personen mit KCK-Flaggen den Kottbusser Damm in Neukölln und beschädigte dabei Fahrzeuge. In ganz Europa wurden vor allem mit Besetzungsaktionen die Themen Öcalan und PKK in die Öffentlichkeit getragen. Dabei verstieß man bewusst gegen geltendes Recht. Die Vorkommnisse zeigen, dass die PKK-Anhänger nicht gewillt sind, ihre Proteste demokratisch zu artikulieren. 6.2.2 Einjährige Isolation Öcalans Aktionsaufrufe Zum Jahrestag der Isolation Öcalans riefen zahlreiche Teilund Nebenorganisationen der PKK zu Aktionen auf. Man dürfe die Rache am Feind nicht mehr verschieben, so die Komalen Ciwan: "Das Leben darf nicht mehr normal sein, bis der Führer Apo144 frei ist. [...] Jeder kurdische Jugendliche muss es als seine Pflicht ansehen, diese Rache zu nehmen und zu erklären, dass wir keine Geduld mehr haben. Diese Rache ist die Garantie der Freiheit des Führers Apo." 145 Am 28. Juli befestigte die "Kurdische Jugend Berlin" nach einer Spontanversammlung an der Überführung am Kottbusser Tor in Kreuzberg Transparente mit PKK-Bezug und entsprechenden verbotenen Symbolen. 144 Apo ist der gebräuchliche Kurzname des PKK-Führers Abdullah Öcalan. 145 Internetauftritt der Komalen Ciwan vom 27.7.2012. Aktuelle Entwicklungen - Ausländerextremismus 143 6.2.3 Zweite Hungerstreikphase Ab dem 12. September befanden sich in der Türkei ursprünglich Ausbreitung der Proteste 63 inhaftierte PKKund PAJK-Aktivisten im "unbefristeten Hungerstreik". Sie protestierten damit gegen die Isolationshaft Öcalans sowie für eine Anerkennung der kurdischen Identität in der Türkei. Die Proteste breiteten sich mehr und mehr aus. In verschiedenen europäischen Städten fanden Solidaritätshungerstreiks statt, beispielsweise vor dem Europäischen Parlament in Brüssel sowie vor dem Gebäude des "Europäischen Komitees zur Verhinderung der Folter" (CPT) des Europarats in Straßburg. Kurzfristige überwiegend störungsfrei verlaufene Besetzungen von Medieneinrichtungen mit dem Ziel, das Thema in die Öffentlichkeit zu tragen, gehörten zu den verstärkt gemeldeten Aktionsformen. Aber auch unangemeldete Spontandemonstrationen fanden statt. Am 16. November wies der KCK-Vorsitzende Murat Karayilan im "Tag des umfassenden Widerstands" Internet darauf hin, dass die nächsten zwei, drei Tage entschei- 6 dend seien. Er rief zum "umfassenden Widerstand" auf und erklärte, man müsse nötigenfalls Massenhungerstreiks beginnen.146 Der 17. November wurde zum "Tag des umfassenden Widerstands" erklärt. Am gleichen Tag kam es zu einem Treffen zwischen Abdullah Öcalan und seinem Bruder Mehmet. Dieser überbrachte die Botschaft des PKK-Führers, dass der Hungerstreik so schnell wie möglich beendet werden solle.147 Dem Aufruf leisteten die PKKund PAJK-Gefangenen in der Türkei Folge und beendeten den Hungerstreik am 18. November. Zahlreiche Presseerklärungen hatten zuvor zur angespannten Lage beigetragen. So erklärte die Komalen Ciwan Anfang November: "Die ganze kurdische Jugend, die in Europa lebt, muss zum umfassenden Widerstand übergehen. [...] Bis der Führer Apo frei ist, darf das Leben nicht mehr normal sein. Die Zeit, dass wir Rache nehmen an dem Feind, der uns gegenüber Isolation, Hinrichtungen, Tode, Massaker für angemessen hält, ist schon lange gekommen."148 146 Vgl. Internetauftritt der PKK-nahen Nachrichtenagentur Firatnews Agency (ANF) vom 16.11.2012. 147 Vgl. Internetauftritt der ANF vom 17.11.2012. 148 Internetauftritt der Komalen Ciwan vom 2.11.2012. 144 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Besetzung in Berlin Am "Tag des umfassenden Widerstands" besetzten in Berlin ca. 40 Personen die Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg, um einen Solidaritätshungerstreik für die Gefangenen in der Türkei durchzuführen. An der Aktion beteiligten sich kurdische und linke türkische Aktivisten. Einen Kompromissvorschlag der Kirchenleitung lehnten sie ab. Da diese die Besetzung dennoch duldete, blieb es friedlich. Mit dem Ende des Hungerstreiks in der Türkei am Folgetag verließen auch die Besetzer in Berlin die Kirche freiwillig und ohne weitere Vorkommnisse. Aktionsformen in Die unterschiedlichen Aktionen zeigen, dass PKK-Anhänger in der Deutschland weniger aggressiv als in der Wahl ihrer Aktionsformen in Deutschland weniger aggressiv vorgeTürkei hen als in der Türkei. Dennoch schrecken sie hier genau so wenig vor Rechtsbrüchen zurück wie dort. Wenn die eigenen Interessen tangiert sind, ist es für die Organisationsanhänger offenbar irrelevant, ob sie sich mit der Art ihrer Proteste strafbar machen und andere Personen gefährden. 6.2.4 Ausschreitungen beim "Kurdischen Kulturfestival" Gewalttätige Deutlichstes Beispiel dafür waren die Ereignisse anlässlich des "20. Zusammenstöße Internationalen Kurdischen Kulturfestivals" der "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland" (YEK-KOM) am 8. September in Mannheim, das unter dem Motto "Freiheit für Öcalan - ein Status für Kurdistan" mit ca. 40 000 Teilnehmern aus dem ganzen Bundesgebiet und dem benachbarten Ausland stattfand.149 Bereits im Vorfeld war es im Zusammenhang mit dem alljährlichen "Marsch der Jugend" zum Veranstaltungsort zu Zusammenstößen mit nationalistischen Türken gekommen, so dass die Polizei den Marsch beendete. Am Veranstaltungstag eskalierte die Lage, als die von Ordnern des Veranstalters zur Unterstützung gerufene Polizei einem ausländischen Minderjährigen eine verbotene Fahne abnehmen wollte. Innerhalb kürzester Zeit lieferten sich bis zu 1 500 zumeist jugendliche Festivalteilnehmer unter dem Applaus zahlreicher Besucher eine Auseinandersetzung mit der Polizei. 149 Im Verlauf des Festivals rief die Komalen Ciwan zur Teilnahme am Guerillakampf der PKK auf. Aktuelle Entwicklungen - Ausländerextremismus 145 Die massive Gewalt der Ausschreitungen führte dazu, dass 80 PoliHohe Gewaltbereitschaft jüngerer Anhänger zisten verletzt wurden. 31 Personen wurden vorläufig festgenommen. Der Veranstalter sowie ältere Festivalbesucher hatten vergeblich versucht, die aufgebrachten Jugendlichen zu beruhigen. Offensichtlich ist die Gewaltbereitschaft jüngerer Anhänger auch für die eigene Organisation nicht beherrschbar. Sie zeigt deutlich, dass viele das Gewaltmonopol des Staates nicht akzeptieren, wenn es den eigenen Interessen entgegen steht. Die Ausschreitungen sowie die gewählten Aktionsformen belegen, dass die PKK-Anhänger zwar die demokratischen Rechte in Europa - allen voran das Veranstaltungsund Demonstrationsrecht - schätzen, diese Rechte aber nicht ihren "Gegnern" zuerkennen. Gewalt, auch gegen die Polizei, wird als Recht auf Selbstverteidigung gesehen und propagiert. In einer Erklärung bringt die "Kurdische Jugend Stuttgart" dies auf Facebook deutlich zum Ausdruck: 6 "Mannheim? Ja, dies ist die Rache der kurdischen Jugend für dass was Ihr uns angetan habt. [...] Wir werden solange in der BRD und sonst wo in Europa und der Welt keine Ruhe geben bis die Wahrheit rauskommt. Bis der Gerechtigkeit genüge getan wird. Die Eskalation in Mannheim war noch nicht mal ein Bruchteil von dem was auf euch zu kommt wenn Ihr das Betätigungsverbot gegen die PKK nicht aufhebt. Mit euch Abrechnen ? Es geht erst los...."150 Mit derartigen Erklärungen und Ausschreitungen wie in Mannheim bestätigen die PKK-Anhänger das Weiterbestehen des Betätigungsverbots gegen die Organisation in Deutschland. 6.2.5 Hoher Verfolgungsdruck auf Gewalttäter und Führungskader Der Verfolgungsdruck der Sicherheitsbehörden auf die PKK ist unUnverändert hoher Verfolgungsdruck verändert hoch. Dabei stehen einerseits Propagandaeinrichtungen 150 Internetauftritt Facebook, Posting vom 15.9.2012 (Fehler im Original). 146 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 der Organisation im Fokus, andererseits Führungskader oder gewalttätige Aktivisten. Neben zahlreichen Maßnahmen im Bundesgebiet wurden auch in Berlin Exekutivmaßnahmen durchgeführt: * Am 6. März wurde der ehemalige Sektorleiter des PKK-Gebiets Nord und heutige Europavertreter der PYD151 in Berlin vorläufig festgenommen. Er hatte am 2. Oktober 2010 in Hannover ein Treffen aller Gebietsleiter des Sektors Nord zur PKK-Jahresspendenkampagne 2010/2011 geleitet. Am 15. Mai wurde er von der 1. Großen Strafkammer des Landgerichts Lüneburg wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz152 zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten auf Bewährung verurteilt.153 * Am 8. August fanden in Berlin Durchsuchungen bei drei mutmaßlichen Tätern wegen des Verdachts der schweren Brandstiftung (SS 306 a StGB) statt. Sie sollen am Abend des 3. Januar einen Brandanschlag mit Molotow-Cocktails gegen ein Vereinslokal türkischer Nationalisten verübt haben, nachdem es bereits Ende 2011 mehrfach zu Konflikten zwischen PKK-Anhängern und nationalistischen Türken gekommen war.154 Alle drei Personen waren bereits in PKK-Zusammenhängen auffällig geworden. Verhaftungen In länderübergreifender Zusammenarbeit konnten erneut mutmaßliche führende Kader der PKK beziehungsweise ihrer Jugendorganisation Komalen Ciwan verhaftet werden. In mehreren Fällen, in denen Berlin von den Verfahren betroffen ist, erhob die Bundesanwaltschaft Anklage wegen Mitgliedschaft in der ausländischen terroristischen Vereinigung PKK155: 151 Meist als syrischer Ableger der PKK bezeichnete kurdische Organisation in Syrien. 152 SS 20 Abs. 1 Nr. 4 VereinsG. 153 LG Lüneburg, Az. 21 KLs/ 5103 Js 30442/10 (18/12). 154 Zwei Tage nach der Tat hatten im Internet "Apoistische Jugendliche" die Verantwortung übernommen. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 147 f. 155 SS 129 b Abs. 1 i. V. m. SS 129 a Abs. 1 StGB. Aktuelle Entwicklungen - Ausländerextremismus 147 * Am 24. September wurde Sedat K. vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf angeklagt. Er sei von Oktober 2009 bis März 2011 zunächst in Berlin, später in der Schweiz als Kader der Jugendorganisation tätig gewesen. Am 10. Juli war er in Frankreich festgenommen und am 25. Juli nach Deutschland überstellt worden. * Am 8. Oktober wurde gegen Vezir T. vor dem Kammergericht Berlin Anklage erhoben, weil er von Juni 2008 bis Juli 2009 als hauptamtlicher Kader das PKK-Gebiet Sachsen 156 geleitet haben soll. * Am 1. November wurde Metin A. aus der Schweiz an die deutschen Strafverfolgungsbehörden überstellt. Er ist verdächtig, von März 2008 bis Juli 2011 zuerst in Berlin und danach europaweit als hochrangiger Kader der Komalen Ciwan aktiv gewesen zu sein. Dabei soll er unter anderem Rekruten für die Guerilla der PKK angeworben, Rekrutierungscamps organisiert und Schulungsveranstaltungen geleitet haben. 6 6.2.6 Propagandaeinrichtungen der PKK weiterhin im Fokus Am 10. Januar verurteilte ein Gericht in Kopenhagen den FernsehRoj TV nicht mehr zu empfangen sender Roj TV zu einer Geldstrafe von ca. 700 000 Euro, da er von der PKK finanziert werde und PKK-Propaganda verbreite. Die Sendeerlaubnis wurde nicht entzogen. Daraufhin beendete jedoch der Satellitenbetreiber Eutelsat die Übertragung, um nicht möglicherweise terroristische Aktivitäten zu unterstützen, so dass Roj TV über Satellit weder in Europa noch in der Türkei zu empfangen war. Neben regional ausgerichteten PKK-nahen Sendern gibt es mit dem ebenfalls von der dänischen Firma Mesopotamia Broadcast A/S betriebenen Nachrichtenkanal Nuce TV sowie dem mit norwegischer Lizenz sendenden Sterk TV gleich zwei potenzielle Nachfolger. 156 Dieses umfasst neben Sachsen auch Sachsen-Anhalt sowie Teile von Brandenburg und Thüringen. 148 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 6.2.7 Zunahme der Kämpfe in der Türkei Angespannte Lage in Die im Lauf des Jahres zunehmend angespannte Lage spiegelte der Türkei sich auch in den militärischen Auseinandersetzungen wider. In dem Maße, in dem die Organisation die Lage Öcalans in die Öffentlichkeit rückte, stieg auch die Anzahl der Guerillaaktionen der "Volksverteidigungskräfte" (HPG) in der Türkei. Aktionen der HPG im Jahr 2012 200 180 160 140 120 100 80 60 (Zahlen des ersten Quartals gemittelt.) 40 20 0 Jan Feb Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep Okt Nov Dez Ab August 2012 und damit mit dem Beginn der jährlichen Spendenkampagne korrelierend eskalierte die Lage. Die "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK), die bereits im März mit Anschlägen vor allem in den Touristengebieten gedroht hatten, verübten am 9. August in Izmir eine "Racheaktion" gegen ein türkisches Militärfahrzeug, bei dem es zwei Tote und mehr als 30 Verletzte gegeben haben soll. Das Vorgehen war besonders perfide, da die nach einer ersten Explosion zur Unterstützung angeforderten Kräfte durch eine zweite Explosion getroffen wurden. Aktuelle Entwicklungen - Ausländerextremismus 149 6.2.8 Entwicklung im Irak und in Syrien vergrößert den Einfluss der PKK Zur zunehmenden Gewalt trug die Entwicklung in Syrien bei. Als Syrienkonflikt bietet PKK - Kämpfern neues sich im Juli Assads Truppen aus einigen wichtigen von Kurden doRückzugsgebiet minierten Städten im Norden Syriens zurückzogen, füllte zumeist die PYD das Machtvakuum. Die Türkei warnte umgehend vor einer möglichen Intervention im Nachbarland. Sie hatte bislang etwa 300 km Grenze zum Irak zu überwachen, von wo seit Jahren die Guerillaeinheiten der PKK agieren. Nun besteht die Gefahr, dass weitere ca. 800 km Grenze zu syrischen Provinzen hinzu kommen, die die PYD kontrolliert und die für PKK-Kämpfer ein neues Rückzugsgebiet werden könnten. Doch selbst ohne diese militärischen Auswirkungen existiert die Aggressives Vorgehen Möglichkeit, dass eine weitere autonome Kurdenregion entsteht. Ankara muss eine Föderation der nordirakischen und nordsyrischen kurdischen Gebiete befürchten und damit einen eigenstän- 6 digen kurdischen Staat, was nicht ohne Auswirkung auf die eigene kurdische Bevölkerung bleiben würde. Das aggressive Vorgehen der PKK bestärkt die Hardliner auf türkischer Seite. So entführten PKK-Kämpfer am 12. August erstmals einen kurdischen Politiker. Der Abgeordnete, der sich mit Minderheitenrechten beschäftigt und dabei gegen den Einfluss der PKK gearbeitet haben soll, sollte eingeschüchtert werden. Ein solches Vorgehen zeigt den Alleinvertretungsanspruch der PKK, der rücksichtslos umgesetzt wird. Derartige Straftaten belegen die totalitären Strukturen der PKK und entlarven ihre Forderungen nach "Demokratie" und "Volkssouveränität" als bloße Lippenbekenntnisse. 150 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 6.2.9 Kampagne zur Anerkennung der kurdischen Identität Petition der YEK-KOM Am 15. Oktober behandelte der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages eine Petition der YEK-KOM zum Thema "Anerkennung der kurdischen Identität in Deutschland".157 Unterstützt wurde die Petition von zahlreichen YEK-KOM-Mitgliedsvereinen, Vereinen der so genannten "Massenorganisationen", von PKK-nahen Organisationen, türkischen Linksextremisten, tamilischen Extremisten sowie etlichen nicht-extremistischen Migrantenvereinen und anderen Organisationen. Als Punkt zwei der aufgeführten zwölf Punkte findet sich die Forderung nach Abschaffung des PKK-Verbots. Andere - inhaltlich durchaus nachvollziehbare - Forderungen158 gehen entweder an den falschen Adressaten oder sind aus rechtlichen Gründen nicht umsetzbar, so dass eine Befürwortung der Petition im Ganzen unwahrscheinlich sein dürfte. Die PKK-nahe Presse bewertete jedoch bereits im Vorfeld die Tatsache, dass das Thema in diesem Gremium behandelt wird, positiv. 157 Die Unterschriften zur Petition waren am 15.11.2011 übergeben worden. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 152. 158 So z.B. der Wunsch nach muttersprachlichem Unterricht, nach Zulassung kurdischer Namen oder nach Herausgabe von politischen und kulturellen Informationen auf kurdisch. Aktuelle Entwicklungen - Scientology Organisation 151 7 "Scientology Organisation" (SO) Berliner Organisation der Scientology in der Krise Etwas mehr als sechs Jahre nachdem Scientology am 13. Januar 2007 ihre neue Repräsentanz im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf eröffnet hat, steckt die Berliner Organisation der Scientology (SO) in einer tiefen Krise. Von den ehemals hochfliegenden Plänen der SO, die auf nichts weniger abzielten als "die obersten Ebenen der deutschen Regierung in Berlin"159 zu erreichen, ist seitdem kaum etwas übrig geblieben. Vielmehr hat die Berliner Organisation der Scientology bereits seit längerem mit sinkenden Mitgliederund Mitarbeiterzahlen zu kämpfen. Auch von einer gestiegenen gesellschaftlichen Akzeptanz für SciResignation? entology und deren Ideologie kann in Berlin keine Rede sein. Mit 7 ihren Mahnwachen und der jährlich wiederkehrenden Ausstellung zum Thema "Psychiatrie", dem erklärten Lieblingsfeind von Scientology, hinterließen die wenigen öffentlichen Aktivitäten der SO einen eher routinierten Eindruck. Hatte die Berliner Organisation der Scientology ihrem Niedergang 2011 noch verstärkte Werbeund Rekrutierungsbemühungen entgegengestellt, hinterließ Scientology in Berlin im vergangenen Jahr den Eindruck, als würde sie vor dem Hintergrund des anhaltenden Misserfolges zunehmend resignieren. Keine Resonanz auf Angebote der SO Auch die wenigen Versuche, das eigene Image mit vordergründig Versuche zur Imageverbesserung scheitern unverfänglichen Diskussionsund Beratungsangeboten aufzubessern, scheiterten. Anfang Februar kündigte die Berliner Scientology Organisation an, im Frühjahr einen "interreligiösen Men159 Internes SO-Papier aus 2006, zitiert nach: Claudia Keller: "Wie gefährlich ist Scientology", Online-Ausgabe des Tagesspiegels, datiert 18.1.2012. 152 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 schenrechtsevent" durchzuführen. Die Absichten, die hinter dieser Ankündigung standen, waren unschwer zu erkennen. Scientology wollte sich einmal mehr als ungefährliche "Religion" darstellen, die auf einer Stufe mit anderen, tatsächlich als solche anerkannten Religionen steht. Darüber hinaus wollte Scientology mit dem Thema "Menschenrechte" eine gesellschaftlich relevante Debatte für sich instrumentalisieren und dafür auch gezielt Kinder und Jugendliche ansprechen. In dem Ankündigungsschreiben für ihr geplantes "Menschenrechtsevent" führte Scientology diesbezüglich aus: "Zweck ist es, durch Entertainment, Spiel und anregende Spots Kinder und Jugendliche für dieses Thema zu interessieren und sie aufzuklären; dem Menschen seine Rechte ins Bewusstsein zu bringen und klar zu machen, dass Terror, Krieg, Folter und unmenschliche Brutalität nicht der Anfang der Menschenrechtsverletzungen sind." 160 Taten folgten diesen Ankündigungen allerdings nicht. Da sich keine einzige Religionsgemeinschaft auf einen Dialog mit Scientology einlassen wollte, musste die Organisation ihre Veranstaltung schließlich absagen. Kontaktbemühungen Auch die SO-Initiative "Sag Nein zu Drogen - sag Ja zum Leben", erfolglos bei der auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist, dass es sich hierbei um eine Scientology-Teilorganisation handelt, bot sich erneut mehreren staatlichen und staatlich unterstützten Einrichtungen als Kooperationspartner im Bereich der Suchtprävention an. Zu diesem Zweck erschien ein Scientology-Anhänger sogar persönlich in der Berliner Fachstelle für Suchtprävention. Die Fachstelle ging allerdings nicht auf diesen Kontaktversuch ein und entfernte auch das von dem SO-Anhänger hinterlassene Infomaterial aus ihren Räumen. Seit Jahren benutzt Scientology das Thema Drogensucht, um auf diesem Weg ihre Weltanschauung vor allem unter jungen Menschen zu verbreiten. Die staatliche Fachstelle für Suchtprävention hatte allerdings bereits 2007 vor diesen Angeboten gewarnt, da diese wissenschaftlichen Grundlagen entbehren, nur isolierte In160 "Scientology-Sekte greift nach Kindern", Online-Ausgabe der BZ, datiert 24.2.2012. Aktuelle Entwicklungen - Scientology Organisation 153 formationen vermitteln und insbesondere nicht geeignet sind, Kinder und Jugendliche vom Drogenkonsum abzuhalten.161 Ideologie und Methoden der Scientology im Fokus der Öffentlichkeit Die Kontaktund Rekrutierungsbemühungen von Scientology stieAnhaltende Gefahr ßen in Berlin auf keine nennenswerte Resonanz. Diese Erfolglosigkeit darf allerdings nicht über die anhaltende Gefahr, die von Scientology ausgeht, hinwegtäuschen. Menschen, die mit SO in Berührung kommen, laufen Gefahr, ihre Persönlichkeit erheblich zu verändern, sich sozial zu isolieren und nicht zuletzt auch finanziell zu ruinieren. In ihrer Gesamtheit zielt die Ideologie von Scientology darauf ab, eine andere Gesellschaftsordnung als die bestehende zu errichten.162 In einer TV-Dokumentation über den "Geheimdienst" von Scientology, dem so genannten "Office of Special Affairs" (OSA)163 , wurden zudem die Methoden beleuchtet, die von Scientology angewandt werden, um Mitglieder zu disziplinieren und Kritiker zu bekämpfen. Danach scheut der Scientology-"Geheimdienst" nicht vor Bedrohungen, aggressivem Stalking oder sogar tätlichen Angriffen zurück. 7 Nach außen wird Scientology auch zukünftig versuchen, sich möglichst unverfänglich darzustellen und ihre totalitäre Weltanschauung unter dem Deckmantel von Hilfsangeboten in persönlichen Lebenskrisen zu verbergen. Mit vielfältigen Aufklärungsund Beratungsmaßnahmen164 wird ein Netz staatlicher und privater Stellen allerdings auch weiterhin der Propaganda von Scientology entgegentreten, um dafür zu sorgen, dass die Berliner Bürger Scientology auch in Zukunft bestenfalls mit kritischer Distanz begegnen. 161 Stellungnahme der Fachstelle für Suchtprävention zu Aktivitäten von Scientology an Berliner Schulen, Februar 2007. 162 Vgl. OVG Münster, AZ: 5 A 130/05, Urteil vom 12.2.2008. 163 "Der Spitzel von Scientology. Der Sektengeheimdienst OSA", SWR, Erstausstrahlung am 15.5.2012. 164 In Berlin bietet u.a. die bei der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft angesiedelte Sektenleitstelle Hilfe und Unterstützung bei persönlichen Konfliktlagen im Zusammenhang mit der Scientology Organisation an. 154 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 8 Spionageabwehr Unveränderte Die Aufklärungsaktivitäten der Nachrichtendienste fremder StaaAktivitäten fremder Dienste ten in der Bundesrepublik Deutschland setzen sich in unverändertem Maß fort. Eine Vielzahl von Staaten versucht sich mit Hilfe ihrer Nachrichtendienste Interessenvorteile im politischen, militärischen und wirtschaftlichen Bereich zu verschaffen. Darüber hinaus hat insbesondere für Nachrichtendienste totalitärer Staaten die Ausforschung von in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Oppositionellen und Dissidenten ihrer Heimatländer Priorität. Exekutivmaßnahme Der 5 (A). Strafsenat des Kammergerichts Berlin hat am 5. Dezember einen Deutsch-Libanesen wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Nach den Feststellungen des Strafsenats ist der Angeklagte für den syrischen Geheimdienst tätig gewesen und hat in Deutschland lebende syrische Oppositionelle und deren Aktivitäten beobachtet und ausgespäht. Seine Erkenntnisse habe er im Rahmen regelmäßiger Treffen in Berlin an seine Auftraggeber weitergegeben.165 Am 19. Dezember hat der 5 (A). Strafsenat des Kammergerichts Berlin einen syrischen Staatsangehörigen wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit in Tateinheit mit einem Verstoß gegen das Staatsangehörigkeitsgesetz zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Nach den Feststellungen des Strafsenats hat der Angeklagte von Sommer 2009 bis zu seiner Festnahme im Februar 2012 für einen syrischen Nachrichtendienst gearbeitet. 165 KG Berlin, Az. (5a) 3 StE 4/12-1 (4/12). Das Urteil ist rechtskräftig. Aktuelle Entwicklungen - Spionageabwehr 155 Seine Aufgabe sei es gewesen, in Deutschland lebende syrische Oppositionelle zu beobachten und auszuspähen. Er habe seinen nachrichtendienstlichen Auftraggebern regelmäßig Informationen aus der syrischen Oppositionellenszene übermittelt, die er zuvor selbst beschafft oder durch Kontaktpersonen erhalten habe.166 Das Oberlandesgericht Stuttgart verhandelt seit Januar 2013 wegen des Vorwurfs der geheimdienstlichen Agententätigkeit sowie der mittelbaren Falschbeurkundung gegen ein am 18. Oktober 2011 in Baden-Württemberg und Hessen festgenommenes Ehepaar.167 Die Angeklagten sollen seit 1988 bzw. 1990 in der Bundesrepublik Deutschland unter der Legende vorgeblicher österreichischer Staatsangehörigkeit und südamerikanischer Herkunft als hauptamtliche Mitarbeiter für den russischen Auslandsnachrichtendienst SWR tätig gewesen sein. Sie sollen dabei u.a. die Aufgabe gehabt haben, Informationen über die politische und militärpolitische Strategie der EU und der NATO zu gewinnen. Zu diesem Zweck sollen sie von Oktober 2008 bis August 2011 als geheimdienstliche Instrukteure einen weiteren Agenten geführt haben, der ihnen aus dem niederländischen Außenministerium amtliche Dokumente über EUund NATO-Angelegenheit geliefert haben soll.168 Aktivitäten fremder Nachrichtendienste 8 Das Agieren fremder Nachrichtendienste unter dem schützenden Berlin als Entscheidungszentrum Diplomatenstatus der Botschaften in Berlin zählt zu den typischen Tarnmethoden. Zudem ist in Berlin die Präsenz fremder Nachrichtendienste besonders hoch, da es bundespolitisches Entscheidungszentrum mit vielen politikberatenden Einrichtungen, Interessenverbänden und entsprechenden Veranstaltungen ist. Die in Deutschland ansässigen Unternehmen und ForschungsWirtschaftsspionage einrichtungen sind bevorzugte Zielobjekte von Ländern, die Wirt166 KG Berlin, Az. (5.A) 3 StE 3/12-1 (2/12) vom 19.12.2012. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. 167 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2011. Berlin 2012, S. 160. 168 OLG Stuttgart, Az. 4b - 3 StE 5/12 vom 23.11.2012. 156 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 schaftsspionage169 und Proliferation170 betreiben. Für die deutsche Wirtschaft stellen Wirtschaftsspionage und Konkurrenzausspähung einen Deliktbereich mit hohem Gefährdungspotenzial dar. Der durch ungewollten Informationsfluss eintretende Schaden dürfte in Deutschland pro Jahr in Milliardenhöhe liegen171. Proliferation Im Phänomenbereich Proliferation bemühen sich insbesondere Krisenländer172, in den Besitz von atomaren, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen, der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte und Vorprodukte oder des für die Herstellung erforderlichen Wissens zu gelangen. Besonders problematisch ist dabei, dass die Wissenschaft und die gewerbliche Wirtschaft die wahren Absichten ihrer "Partner" aus proliferationsrelevanten Ländern häufig nicht erkennen können. Kontakt zum VerfasDie Spionageabwehr ist bei ihrer Arbeit auch auf Hinweise aus der sungsschutz Öffentlichkeit angewiesen. Diesen Hinweisen geht sie vertraulich und diskret nach. Im Falle einer bereits vorhandenen nachrichtendienstlichen Verstrickung kann die Spionageabwehr Hilfe anbieten, sich aus ihr zu lösen. Für weitere Informationen und die Sensibilisierung zu Fragen der Wirtschaftsspionage und Proliferation steht der Berliner Verfassungsschutz jederzeit zur Verfügung. Kontaktadressen und Telefonnummern des Berliner Verfassungsschutzes, darunter auch ein "Vertrauliches Telefon", finden Sie unter "Erreichbarkeit" am Anfang dieses Verfassungsschutzberichts. 169 Wirtschaftsspionage ist die staatlich gelenkte oder unterstützte, von fremden Nachrichtendiensten ausgehende Ausforschung von Wirtschaftsunternehmen. Sie ist abzugrenzen vom Begriff der Konkurrenzausspähung / Industriespionage, die ein konkurrierendes Unternehmen gegen ein anderes betreibt. Vgl. S. 168 ff. 170 Unter Proliferation wird die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte einschließlich des dafür erforderlichen Wissens sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen verstanden. 171 Vgl. u.a. Universität Lüneburg: Fallund Schadensanalyse bezüglich Know-how-/ Informationsverlusten in Baden-Württemberg ab 1995. Studie im Auftrag des Sicherheitsforums Baden-Württemberg, www.sicherheitsforum-bw.de. 172 Krisenländer sind in diesem Fall Länder, von denen zu befürchten ist, dass von dort aus ABC-Waffen eingesetzt werden oder ihr Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele angedroht wird. Aktuelle Entwicklungen - Geheimund Sabotageschutz 157 9 Geheimund Sabotageschutz Der Schutz von Informationen, deren Kenntnisnahme durch Unbefugte den Bestand, die Sicherheit und die lebenswichtigen Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Bundesländer gefährden kann, ist unverzichtbar. Die Verfassungsschutzbehörde wirkt auf Antrag der zuständigen öffentlichen Stelle daran mit, durch personelle, technische und organisatorische Vorkehrungen Ausforschungen durch Unbefugte in sicherheitsempfindlichen Bereichen zu verhindern.173 Ferner sind sicherheitsempfindliche Stellen bei lebensund verteidigungswichtigen öffentlichen Einrichtungen zu schützen, deren Ausfall oder Zerstörung eine erhebliche Bedrohung für die Gesundheit und das Leben zahlreicher Menschen verursachen könnte oder die für das Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbar sind. Die Senatsverwaltung für Inneres und Sport hat die Einrichtungen durch Rechtsverordnung festgelegt.174 Dazu zählen u.a. die Behörden zum Schutz der inneren Sicherheit und die Lagezentren und Leitstellen von Polizei und Feuerwehr. Die Verfassungsschutzbehörde überprüft bei öffentlichen Stellen Sicherheitsüberprüfungen und Wirtschaftsunternehmen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (so 9 genannte Sicherheitsüberprüfungen) und trifft selbst oder veranlasst Maßnahmen zum materiellen Geheimschutz. Zum Zweck des so genannten personellen Sabotageschutzes sind Sicherheitsüberprüfungen gesetzlich vorgesehen. 173 SS 5 Abs. 3 Nr. 1 u. Nr. 3 VSG Bln, Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz (BSÜG) vom 2.3.1998 (GVBl. S. 26) in der Fassung vom 25.6.2001 (GVBl. S. 243), zuletzt geändert durch Art. XV des Gesetzes vom 17.12.2003 (GVBl. S. 617). 174 Verordnung zur Festlegung der Arten lebenswichtiger Einrichtungen im Land Berlin vom 2.9.2003 (GVBl. S. 316). 158 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 9.1 Personeller und materieller Geheimschutz Personeller Der personelle Geheimschutz soll den Schutz von im öffentlichen Geheimschutz Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen (so genannten Verschlusssachen) gewährleisten. Verschlusssachen sind je nach dem Schutz, dessen sie bedürfen, nach SS 6 des Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetzes (BSÜG) in folgende Geheimhaltungsgrade einzustufen: Verschlusssachen 1. Streng Geheim 2. Geheim 3. VS-Vertraulich 4. VS-Nur für den Dienstgebrauch SicherheitsUm Sicherheitsrisiken auszuschließen, werden Personen, denen überprüfungsgesetz Verschlusssachen mit dem Geheimhaltungsgrad VS-Vertraulich und höher anvertraut werden sollen, vorher einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen. Alle Details zur Definition eines Sicherheitsrisikos, zum Verfahren und zu den Folgen für den Betroffenen sind im BSÜG geregelt. Dabei berücksichtigt das BSÜG die Mindestanforderungen an Sicherheitsüberprüfungen, zu denen sich die Bundesrepublik Deutschland gegenüber ausländischen Staaten und als Mitglied zwischenstaatlicher Einrichtungen (z.B. NATO, EU) vertraglich verpflichtet hat, damit die Sicherheitsmaßnahmen einen möglichst einheitlichen Standard haben. Überprüfung freiwillig Um die Grundrechte der Betroffenen zu gewährleisten, wird im BSÜG kein Zwang zur Sicherheitsüberprüfung festgelegt. Dieser Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht175 wird nur mit Zustimmung der Betroffenen durchgeführt. Auch beim Ehegatten oder Lebenspartner, der bei bestimmten Überprüfungsarten in die Sicherheitsüberprüfung einbezogen wird, ist die Zustimmung Voraussetzung. 175 BVerfG 65, 1. Aktuelle Entwicklungen - Geheimund Sabotageschutz 159 Der Umfang der Sicherheitsüberprüfung richtet sich nach der Höhe Sicherheitsrisiko des Geheimhaltungsgrades, zu dem der Betroffene Zugang erhalten soll oder sich verschaffen kann. Ein Sicherheitsrisiko176 ist dann als gegeben anzusehen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die Zweifel am Bekenntnis des Betroffenen zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder an seiner Zuverlässigkeit begründen. Ein weiterer Aspekt ist die Besorgnis der Erpressbarkeit und damit die Anwerbungsmöglichkeit für eine gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete nachrichtendienstliche Tätigkeit. Die Verfassungsschutzbehörde wird nicht von sich aus tätig, sondern nur auf Antrag des Geheimschutzbeauftragten der Behörde, bei der die zu überprüfende Person beschäftigt ist (so genannte zuständige Stelle). Im Jahr 2012 führte der Berliner Verfassungsschutz 486 Überprüfungen durch (2011: 445). Der personelle Geheimschutz wird durch den materiellen GeheimMaterieller Geheimschutz schutz ergänzt, der technische und organisatorische Maßnahmen gegen die unbefugte Kenntnisnahme von Verschlusssachen umfasst. Der Verfassungsschutz berät die öffentlichen Stellen des Landes Berlin: Er informiert über Verschlusssysteme wie den Einbau von Sicherheitstüren und die Installierung von Alarmsystemen, er berät über die Datensicherheit bei der Bearbeitung von Verschlusssachen in Datenverarbeitungssystemen und begleitet die Planung und Durchführung der Maßnahmen. Zum materiellen Geheimschutz gehört auch die Information über die Vorgaben der Verschlusssachenanweisung für das Land Berlin 9 vom 1. Dezember 1992, welche die Bearbeitung, Verwahrung und Verwaltung von Verschlusssachen regelt, sowie die Kontrolle der Einhaltung dieser Anweisung. Diese Aufgabe obliegt den Geheimschutzbeauftragten, die in jeder Behörde, die Verschlusssachen bearbeitet und verwaltet, eingesetzt sind. Der wichtigste Grundsatz der Verschlusssachenanweisung lautet: Kenntnis nur wenn nötig! "Kenntnis nur wenn nötig!" Nur die Personen, die mit einer bestimmten Verschlusssache befasst sind, sollen Kenntnis erlangen. 176 Gemäß SS 7 Abs. 2 BSÜG. 160 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Deshalb ist es Mitarbeitern, die Verschlusssachen bearbeiten oder sich Zugang verschaffen können, nicht erlaubt, mit Kollegen oder mit Familienangehörigen über die zu erledigenden Aufgaben zu sprechen. Jede technische Sicherheitsmaßnahme ist sinnlos, wenn die Verschwiegenheit der Beschäftigten nicht gegeben ist. 9.2 Geheimschutz in der Wirtschaft Sicherheitsstandards Wirtschaftsunternehmen, die geheimschutzbedürftige Aufträge schaffen von Bundesund Landesbehörden ausführen, müssen vor Ausspähung fremder Nachrichtendienste geschützt und deshalb in das Geheimschutzverfahren von Bund und Ländern aufgenommen werden. Es sollen Sicherheitsstandards geschaffen und eingehalten werden, um zu verhindern, dass Unbefugte Kenntnis von den im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen (Verschlusssachen) erhalten. GeheimschutzEin Unternehmen kann die Aufnahme in die Geheimschutzbetreubetreuung ung grundsätzlich nicht für sich selbst beantragen. Lediglich Firmen, die sich an NATO-Infrastruktur-Ausschreibungen beteiligen wollen, sind zur Antragstellung in eigener Sache befugt.177 Voraussetzung für die Aufnahme eines Unternehmens in das GeheimAusschreibung im schutzverfahren des Bundes ist die öffentliche Ausschreibung eiAmtsblatt nes Auftrags mit Verschlusssachen im Bundesausschreibungsblatt. Öffentliche Auftraggeber können z.B. der Bundesminister für Verteidigung oder das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung sein. Bei derartigen Verschlusssachen-Aufträgen beantragt der Auftraggeber die Aufnahme des Unternehmens in das amtliche Geheimschutzverfahren beim Bundesministerium für Wirtschaft, Technologie und Forschung. Die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung führt die Geheimschutzverfahren für die Berliner Firmen durch, wenn diese einen Verschlusssachen-Auftrag von einer Landesbehörde erhalten haben. Berliner Behörden schreiben geheimschutzbedürftige Aufträge im Amtsblatt für Berlin aus. Wesentlich für die Ausschreibung bei vertraulichen Staatsaufträgen ist die Formulierung: 177 Zuständig hierfür ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) mit Sitz in Eschborn. Aktuelle Entwicklungen - Geheimund Sabotageschutz 161 "Es können sich geeignete Firmen bewerben, die bereits dem Geheimschutz in der Wirtschaft unterliegen bzw. die sich dem Geheimschutzverfahren in der Wirtschaft unterziehen wollen." Vor Auftragserteilung sind mindestens ein gesetzlicher Vertreter Aufgaben des Sicherheitsdes Unternehmens, ein Sicherheitsbevollmächtigter und auch die bevollmächtigten Firmenmitarbeiter, die von staatlicher Seite aus mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betraut werden sollen, einer freiwilligen Sicherheitsüberprüfung nach den Bestimmungen des BSÜG zu unterziehen. Mitwirkende Behörde bei der Sicherheitsüberprüfung ist die Verfassungsschutzbehörde.178 2012 wurden 77 Sicherheitsüberprüfungen für Angehörige Berliner Unternehmen durchgeführt (2011: 35). Eine weitere grundlegende Voraussetzung für die Aufnahme in den amtlichen Geheimschutz bei Landesaufträgen ist der Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags zwischen der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung und der Unternehmensleitung. Dies bedeutet die rechtsverbindliche Anerkennung der Bestimmungen der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie herausgegebenen Sicherheitsanleitung "Handbuch für den Geheimschutz in der Wirtschaft" (GHB). Der Sicherheitsbevollmächtigte des Unternehmens ist in Angelegenheiten des Geheimschutzes für die ordnungsgemäße Durchführung der Sicherheitsüberprüfungen verantwortlich. Der Sicherheitsbevollmächtigte für den personellen Geheimschutz wird von der Verfassungsschutzbehörde in seine Aufgaben eingeführt.179 9 Nach Überprüfung der erforderlichen Geheimschutzmaßnahmen erteilt die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung dem staatlichen Auftraggeber und dem Unternehmen einen Sicherheitsbescheid. Die Firma kann nunmehr an geheimhaltungsbedürftigen Auftragsverhandlungen beteiligt werden. Fast alle Berliner Firmen, die von staatlichen Auftraggebern einen Verschlusssachen-Auftrag erhalten haben, bearbeiten keine Ver178 SS 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 des VSG Bln. 179 SS 28 Abs. 4 BSÜG. 162 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 schlusssachen. Sie sind vielmehr mit Lieferungen und Leistungen beauftragt worden, bei denen sie Zugang zu Verschlusssachen haben bzw. sich verschaffen können, die VS-Vertraulich und höher eingestuft sind. Dazu zählen Montageund Wartungsarbeiten sowie Instandsetzungen in sicherheitsempfindlichen Bereichen. Aufklärungsund SensiSeit Inkrafttreten des Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetzes bilisierungsgespräche 1998 und der damit verbundenen Regelung des Geheimschutzverfahrens fanden mit den Sicherheitsbevollmächtigten und Vertretern von Unternehmen 537 Aufklärungsund Sensibilisierungsgespräche statt, davon 19 im Jahr 2012. Unterstützung der Zentrales Thema bei den Informationsgesprächen mit Wirtschaftsgeheimschutzbetreuten Unternehmen unternehmen ist das Verhalten auf Auslandsreisen. Ansprachen oder Anbahnungsversuche fremder Nachrichtendienste erfolgen häufig auf Auslandsreisen. Dabei sind Unternehmensmitarbeiter, die eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit ausüben, für fremde Nachrichtendienste von besonderem Interesse. Wichtig ist für diese Mitarbeiter, sich über die im Reiseland geltenden Vorschriften zu informieren und sie genau einzuhalten. Handlungen, die in der Bundesrepublik erlaubt sind, können im Reiseland strafbar sein. In den Informationsgesprächen werden die Beschaffung von Informationen über das Reiseland, die Vermeidung von Ansatzpunkten für eine Ansprache fremder Nachrichtendienste, das Verhalten gegenüber den Behörden des Reiselandes nachdem eine Person verschuldet oder unverschuldet in Schwierigkeiten geraten ist, und das Verhalten nach der Rückkehr aus dem Reiseland erläutert. Um die vertrauensvolle Kooperation der betroffenen Unternehmen mit den Sicherheitsbehörden zu vertiefen, unterstützt der Berliner Verfassungsschutz den Länderarbeitskreis der Sicherheitsbevollmächtigten Berlin-Brandenburg (SIBE-AK BR-BB) durch fachkundige Referenten und die Bereitstellung von Informationsmaterialien bei Seminaren und Tagungen. Dieser Arbeitskreis soll den in sicherheitsempfindlichen Bereichen tätigen Berliner Unternehmen ein Austauschforum bieten. Aktuelle Entwicklungen - Geheimund Sabotageschutz 163 9.3 Sabotageschutz Ziel des Sabotageschutzes ist es, die Beschäftigung von Personen, Sicherheitsrisiken bei denen Sicherheitsrisiken vorliegen, an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebenswichtigen öffentlichen Einrichtungen zu verhindern. Auch zu diesem Zweck ist die Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen gesetzlich vorgesehen.180 Regelungen zum Sabotageschutz sind erforderlich, weil Sabotageakte gegen lebenswichtige Einrichtungen erhebliche Risiken für die Gesundheit oder das Leben zahlreicher Menschen zur Folge haben oder das Funktionieren des Gemeinwesens gefährden können. In der Verordnung vom 2. September 2003 wurden die Arten der lebenswichtigen Einrichtungen für das Land Berlin festgelegt.181 9.4 Mitwirkungsangelegenheiten Der Verfassungsschutz wirkt bei Überprüfungen in Einbürgerungsverfahren mit.182 Auf Antrag der Einbürgerungsbehörde wird geprüft, ob über Personen, die einen Antrag auf Einbürgerung gestellt haben, Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörden der Länder oder des Bundes vorliegen. Seit dem 1. Januar 2000 ist eine Einbürgerung für Personen zwingend ausgeschlossen,183 welche * die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Einbürgerungen: Ausschließungsgründe Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden, * sich bei der Verfolgung politischer Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligen, 9 * öffentlich zur Gewaltanwendung aufrufen, * mit Gewaltanwendung drohen. Eine Einbürgerung kann versagt werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass der Bewerber verfassungsfeindliche Bestrebungen unterstützt oder verfolgt.184 180 SS 1 Nr. 2; 2 Nr. 4 BSÜG. 181 Verordnung zur Festlegung der Arten lebenswichtiger Einrichtungen im Land Berlin vom 2.9.2003, GVBl., S. 316. 182 SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG Bln. 183 Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG), vom 22.7.1913 i. d. F. des Art. 6 Nr. 9 Gesetz zur Änderung des AufenthaltsG vom 14.3.2005, BGBl. I S. 721. 184 SS 11 Nr. 1 StAG - zuletzt geändert durch Art. 3 G vom 19.8.2007, BGBl. I S. 1970. 164 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Im Januar 2001 legte die Senatsverwaltung für Inneres fest, dass bei Einbürgerungsbewerbern aus bestimmten Herkunftsländern stets eine Anfrage beim Verfassungsschutz zu erfolgen hat. Unabhängig von der Herkunft ist eine Anfrage auch immer dann zu stellen, wenn Anhaltspunkte für eine extremistische Haltung oder sicherheitsgefährdende Tätigkeiten vorliegen. 2012 wurden 8 193 Anfragen bearbeitet (2011: 9 389). Einreiseund AufentVergleichbare Sicherheitsanforderungen gelten auch für das Aufhaltsverbote enthaltsrecht von Ausländern. Das 2005 neu gefasste Aufenthaltsgesetz (AufenthaltsG)185 sieht vor, dass Personen, die gewaltbereit sind, terroristische Aktivitäten begehen oder unterstützen, keine Visa oder Aufenthaltsgenehmigungen erhalten oder einem Einreiseund Aufenthaltsverbot in Deutschland unterliegen. Zur Versagung der Einreise muss festgestellt werden, dass eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland besteht.186 Aus rechtsstaatlichen Gründen reichen Vermutungen nicht aus. Ausweisungen Um terroristischen oder gewaltbereiten Ausländern keinen Ruheraum in Deutschland zu gewähren, wurden ferner die Regelausweisungstatbestände erweitert. Im Regelfall wird ausgewiesen, wer nach dem neuen Versagungsgrund nicht hätte einreisen dürfen.187 Zur Feststellung von Versagungsgründen können die Ausländerbehörden den Verfassungsschutzbehörden der Länder und weiteren Sicherheitsbehörden die von ihnen erhobenen Personalien übermitteln. Die angefragten Behörden teilen der Ausländerbehörde unverzüglich mit, ob Versagungsgründe vorliegen.188 2012 gingen 9514 Anfragen bei der Verfassungsschutzbehörde ein (2011: 6512). Luftsicherheitsgesetz Der Verfassungsschutz wirkt auch bei Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach SS 7 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG)189 mit.190 Die gemeinsame Luftfahrtbehörde der Länder Berlin und Brandenburg und zugleich gemeinsame Luftsicherheitsbehörde führt danach auch die 185 Aufenthaltsgesetz (AufenthaltsG), BGBl. I S. 1953. 186 SS 5 Abs. 4 AufenthaltsG. 187 SS 55 Abs. 2 AufenthaltsG. 188 SS 73 Abs. 2 u. 3 AufenthaltsG. 189 BGBl. I S. 78 vom 11.1.2005. 190 SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG. Aktuelle Entwicklungen - Geheimund Sabotageschutz 165 Zuverlässigkeitsüberprüfungen von Personen durch, die Zutritt zu den nicht allgemein zugänglichen Bereichen des Berliner Flughafens Tegel bzw. des im Land Brandenburg befindlichen Flughafens Schönefeld haben sollen. Hierfür bewertet die Luftsicherheitsbehörde die von der Polizei, aus dem Bundeszentralregister und vom Verfassungsschutz übermittelten Informationen. Über die Verwendung im Bereich der Flughäfen entscheidet die Behörde selbst. Werden im Nachhinein zur Zuverlässigkeitsüberprüfung Informationen bekannt, die für die Beurteilung der Zuverlässigkeitsüberprüfung von Bedeutung sind, sind diese gem. SS 7 Abs. 9 LuftSiG der Luftsicherheitsbehörde mitzuteilen (Nachberichtspflicht).191 2012 wurden 1 663 Personen gemäß SS 7 LuftSiG durch den Verfassungsschutz überprüft (2011: 1 713). Auch das Atomgesetz (AtomG)192 sieht ZuverlässigkeitsüberprüfunAtomgesetz gen vor, an denen der Verfassungsschutz mitwirkt.193 Da kerntechnische Anlagen im Hinblick auf mögliche unbefugte Handlungen besonders zu schützende Objekte darstellen, sind Sicherungsmaßnahmen auch in Form der Überprüfung von Personen erforderlich, die Zutritt zu den kerntechnischen Anlagen erhalten sollen. In Berlin werden die Personen überprüft, denen der Zutritt zum Forschungsreaktor des Helmholtz-Zentrums Berlin gewährt werden soll. Weitere kerntechnische Anlagen sind nicht vorhanden. Die Überprüfung wird von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt als zuständige atomrechtliche Behörde durchgeführt.194 Für die Prüfung der Zuverlässigkeit werden auch hier Aus- 9 künfte von der Polizei, der Verfassungsschutzbehörde und aus dem Bundeszentralregister eingeholt. Die Bewertung der übermittelten Erkenntnisse obliegt der atomrechtlichen Behörde. Nachträglich erlangte Informationen, die für die Zuverlässigkeit des Betroffenen bedeutsam sind, müssen der atomrechtlichen Behörde mitgeteilt werden (Nachberichtspflicht).195 2012 wurden durch den Verfassungsschutz 273 Personen überprüft (2011: 158). 191 SS 7 Abs. 9 LuftSiG. 192 BGBl. I, S. 1 565, zuletzt geändert am 27.7.2001 (BGBl. I, S. 1 950). 193 SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG. 194 SS 12 b AtomG. 195 SS 12 b Abs. 7 Satz AtomG. 166 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Waffenund Seit 2005 gibt es gesetzliche Regelungen über die Beteiligung der Sprengstoffgesetz Verfassungsschutzbehörden bei Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem Waffengesetz, dem Sprengstoffgesetz und der Bewachungsverordnung. Seit 1. September 2005 sind die Verfassungsschutzbehörden der Länder an der Überprüfung von Personen beteiligt, die gewerbsmäßig mit explosionsgefährlichen Stoffen umgehen oder den Verkehr mit solchen Stoffen betreiben wollen.196 Zuständige Behörde für die Durchführung der Zuverlässigkeitsüberprüfung in Berlin ist das Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und technische Sicherheit. 2012 erfolgten 227 Anfragen (2011: 118). Bewachungsverordnung Wer gewerbsmäßig Leben und Eigentum fremder Personen bewachen will, bedarf einer Erlaubnis auf der Grundlage der Bewachungsverordnung durch die Gewerbeämter der Berliner Bezirke. In begründeten Einzelfällen können diese bei der örtlich zuständigen Verfassungsschutzbehörde anfragen, ob Erkenntnisse vorliegen, die für die Beurteilung der persönlichen Zuverlässigkeit der Antragsteller von Bedeutung sind.197 Wie bereits im Vorjahr gingen 2012 keine Anfragen ein. Überprüfung von Ebenfalls zu den Mitwirkungsangelegenheiten gehören auf Grund Spätaussiedlern nach Bundesvertriebenendes 7. Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes gesetz (BVFG) vom 16. Mai 2007198 seit dem 24. Mai 2007 auch Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem BVFG.199 Die bislang in SS 5 BVFG aufgeführten Gründe, die den Erwerb der Rechtsstellung als Vertriebener ausschließen, wurden erweitert. Diese Erweiterung wurde von der Bundesregierung u.a. damit begründet, dass es bislang keine Regelungen gab, die sicherstellen, dass Schwerkriminelle, gewaltbereite Extremisten und Terroristen nicht auf dem Weg des Verfahrens zur Aufnahme von Spätaussiedlern nach Deutschland kommen können.200 196 SSSS 7 u. 8a Abs. 5 Nr. 4 Sprengstoffgesetz (SprengG), BGBl. I S. 3 518, zuletzt geändert durch Art. 1 des dritten ÄnderungsG vom 15.6.2005 (BGBl. I S. 1676) Art. 35 des Gesetzes zur Umbenennung des BGS in Bundespolizei vom 21.7.2005 (BGBl. I S. 1818). 197 SS 9 Abs. 2 Nr. 2 Bewachungsverordnung. 198 BGBl. I S. 748. 199 Neufassung des Bundesvertriebenengesetzes vom 10.8.2007; BGBl. I S. 1902. 200 Bundesdrucksache 16/4017 vom 11.1.2007. Aktuelle Entwicklungen - Geheimund Sabotageschutz 167 Die Rechtsstellung als Spätaussiedler201 kann nicht erwerben, wer nach einer durch tatsächliche Anhaltspunkte gerechtfertigten Schlussfolgerung * einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, oder eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat, * sich bei der Verfolgung politischer Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligt oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufgerufen oder mit Gewaltanwendung gedroht hat oder * Bestrebungen verfolgt oder unterstützt oder verfolgt oder unterstützt hat, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet sind, es sei denn, er macht glaubhaft, dass er sich von den früheren Handlungen abgewandt hat. Das Bundesverwaltungsamt, zuständig für das Aufnahmeverfahren von Spätaussiedlern, beteiligt zur Feststellung von Ausschlussgründen neben dem Bundesnachrichtendienst, dem Militärischen Abschirmdienst, dem Bundeskriminalamt, dem Zollkriminalamt auch das Bundesamt für Verfassungsschutz, wenn die zu überprüfende Person das 16. Lebensjahr vollendet hat. Das Bundesamt für Verfassungsschutz gleicht die vom Bundesver- 9 waltungsamt übermittelten Daten mit dem "Nachrichtendienstlichen Informationssystem" (NADIS) ab und beteiligt im Falle einer Fundstelle die jeweilige Landesbehörde, wenn sie nachrichtengebende Stelle ist. 201 SS 5 Nr. 1 e BVFG. 168 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 10 Wirtschaftsschutz Berliner Wirtschaft 166 117 Betriebe202 unterschiedlicher Wirtschaftsbereiche sind als Arbeitgeber mit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in Berlin ansässig. Informationsund Kommunikationstechnologie, Medizintechnik, Biotechnologie, optische Technologien und Verkehrstechnik sowie kreative Dienstleistungen haben sich als Branchen mit Zukunftsperspektive in Berlin etabliert. Darüber hinaus gehört Berlin zu den größten und vielfältigsten Wissenschaftsregionen in Europa. An vier Universitäten, an der Charite - Universitätsmedizin Berlin, sieben Fachhochschulen, vier Kunsthochschulen, 26 privaten Hochschulen sowie über 60 Forschungsstätten studieren, lehren, forschen und arbeiten rund 200 000 Menschen aus aller Welt. Die Erfolge der Unternehmen, Hochschulen und Forschungsstätten sind Ergebnis langjähriger Forschung, Entwicklung, kreativer Ideen und des Mutes, ein finanzielles Risiko zu tragen. Der Verlust von Know-how ist eines der Risiken für ein Unternehmen, der insbesondere mittelständische Unternehmen stark gefährden kann. Know-how ist wirtschaftlich relevantes und geheimes Wissen. Dieses Wissen baut in der Regel auf Informationen und Daten auf, die im Unternehmen vorliegen. Der Schutz vor dem ungewollten Abfluss von Know-how und die Sensibilisierung zu diesem Thema ist Ziel des Berliner Verfassungsschutzes. Wer betreibt Wirtschaftsspionage? Wirtschaftsspionage zählt neben der politischen und militärischen Ausforschung zu den klassischen Aufklärungszielen fremder Nachrichtendienste. Der Schaden, welcher der deutschen Wirtschaft 202 Amt für Statistik, Unternehmensregister in Berlin und Brandenburg 2010, Stand 31.5.2012. Aktuelle Entwicklungen - Wirtschaftsschutz 169 dadurch entsteht, geht in die Milliarden. Die Studie "Industriespionage 2012"203 von Corporate Trust beziffert den jährlichen Gesamtschaden auf ca. 4,2 Milliarden Euro. Für den Verfassungsschutz ist die Unterscheidung zwischen Wirtschaftsspionage und Konkurrenzausspähung unerlässlich. Nur für die Bekämpfung der Wirtschaftsspionage hat der Verfassungsschutz einen gesetzlichen Auftrag. Wirtschaftsspionage Wirtschaftsspionage ist die staatlich gelenkte und unterstützte, von fremden Nachrichtendiensten ausgehende Ausforschung von Wirtschaftsunternehmen und Betrieben. Bevorzugte Ziele von Wirtschaftsspionage sind forschungsintensive und innovationsstarke Branchen. Die Bereiche Rüstung, Luftund Raumfahrttechnik, Maschinenund Fahrzeugbau, Informationstechnik, Biotechnologie, Energieund Umwelttechnik sowie der optischen Industrie sind besonders betroffen. Die aktivsten Nachrichtendienste im Bereich der Wirtschaftsspionage sind wie schon in den letzten Jahren die der Volksrepublik China und der Russischen Föderation. China, lange als "verlängerte Werkbank" der Welt bezeichnet, beVR China absichtigt eine Innovationsgesellschaft zu werden. Im Tätigkeitsbericht der chinesischen Regierung 2012 waren die angewandte Forschung, berufliche Bildung und Innovationen wichtige Themen. International tätige Unternehmen sollen weiterhin ermutigt werden, Forschungsund Entwicklungszentren in China zu errichten. Die Verzahnung und Vernetzung mit der deutschen Wirtschaft wurde weiterhin intensiviert. 10 Die chinesischen Nachrichtendienste spielen eine nicht unwesentliche Rolle, um die heimische Wirtschaft zu unterstützen, indem Know-how ausländischer Unternehmen illegal beschafft wird. Schätzungsweise eine Million Mitarbeiter sind in den verschiedenen Diensten tätig. 203 Industriespionage umfasst Wirtschaftsspionage und Konkurrenzausspähung. 170 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Russland Nach 18 Jahren Verhandlung ist Russland im August als 156. Mitglied der Welthandelsorganisation (WTO) beigetreten. Für die russische Wirtschaft entstehen so einerseits neue Geschäftsmöglichkeiten, anderseits soll der Handel und die Investitionsfähigkeit erleichtert und ein Beitrag für die rasche Modernisierung der russischen Wirtschaft geleistet werden. Präsident Putin hat sich mehrfach zur Notwendigkeit bekannt, die Ölabhängigkeit der Wirtschaft hinter sich zu lassen und zu diesem Zweck in die Entwicklung alternativer Wirtschaftszweige zu investieren. Von den "vier I" (Institutionen, Infrastruktur, Innovationen, Investitionen), die vom damaligen Präsidenten Medwedew für die russische Wirtschaft definiert worden sind, hat bisher hauptsächlich der Infrastrukturbereich profitiert. Bevorstehende Großprojekte wie die Winterolympiade in Sotschi 2014 oder die Fußball-WM 2018 gehören zu den kommenden Herausforderungen der russischen Wirtschaft und Politik. Im Moskauer Vorort Skolkowo wird zudem versucht, ein russisches Pendant zu "Silicon Valley" zu schaffen. Aktivitäten der Nachrichtendienste der Russischen Föderation mit dem Ziel der Auslandsaufklärung im Bereich Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie entfaltete insbesondere der zivile Auslandsnachrichtendienst SWR204. Ziele der Spionage sind die "Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts des Landes durch Beschaffung von wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Informationen durch die Organe der Auslandsaufklärung", so Artikel 5 des Gesetzes der Russischen Föderation über die Auslandsaufklärung. Damit hat der SWR eine ihm auferlegte gesetzliche Verpflichtung, Wirtschaftsspionage zu betreiben. Wie wird vorgegangen? Kein modernes Unternehmen kommt ohne IT-Technik aus. Forschung und Entwicklung, die Verwaltung des Unternehmens, die Kundenbetreuung und Werbemaßnahmen sind heutzutage ohne IT-Infrastrukturen undenkbar. Obwohl Informationen immateriell sind, können diese einen erheblichen Wert besitzen. 204 SWR: Sluschba Wneschnei Raswedki. Aktuelle Entwicklungen - Wirtschaftsschutz 171 Ein vorrangiges Ziel von Cyberangriffen ist daher der Diebstahl von Informationen. Dabei sind Forschungsund Entwicklungsdaten, Kalkulationsdaten, Informationen über Werbestrategien und Kundendaten von besonderem Interesse für Wirtschaftsspione. In den Medien ist im Jahr 2012 eine Vielzahl von Fällen elektroniHackerangriffe scher Angriffe bekannt geworden. Auch Berliner Unternehmen und Institutionen waren betroffen. Das Bedrohungspotenzial ist unverändert hoch. Die Methoden, Rechnernetze zu infiltrieren sind vielfältig. Eine der Ausnutzung von Sicherheitslücken am häufigsten genutzten Wege ist die Ausnutzung von Sicherheitslücken in Betriebssystemen und Anwendungsprogrammen. Dabei werden Schwachstellen im Programmcode ausgenutzt, um Zugriff auf die Zielrechner zu bekommen. Weiterhin trug die wachsende Infektionsgefahr durch so genannte Drive-By-Exploits205 dazu bei, die Drive-By-Exploits/ Botnetze Unternehmen zu verunsichern. Hacker nutzten zudem Botnetze,206 um IT-Infrastrukturen mit einer Vielzahl von Anfragen zu überfluten, um die angebotenen Dienste unbrauchbar zu machen. Auch die Verbreitung von Schadprogrammen und der IdentitätsIdentitätsdiebstahl diebstahl gehörten im Jahr 2012 zu den erkannten und am häufigsten aufgetretenen Angriffsmustern auf Berliner Unternehmen. Mittels vorgeschaltetem "Social Engineering" wurde die Qualität des Social Engineering Inhalts von E-Mails verbessert, um potenzielle Opfer dazu zu verleiten, verseuchte Dateianhänge zu öffnen oder auf einen Link zu einer infizierten Seite zu klicken. "Social Engineering"-Angriffe werden in der Regel ohne den Einsatz von technischen Mitteln durchgeführt. Dabei nutzt der Angreifer menschliche Eigenschaften wie 10 205 Drive-By-Exploits bezeichnen die automatisierte Ausnutzung von Sicherheitslücken auf einem PC. Dabei werden beim Betrachten einer Webseite ohne weitere Nutzerinteraktion Schwachstellen im Browser, in Browser-Plugins oder im Betriebssystem ausgenutzt, um Schadsoftware wie Trojanische Pferde unbemerkt auf dem PC zu installieren. Bundesamt für Sicherheit und Informationstechnik: "Die Lage der IT-Sicherheit in Deutschland 2011". 206 Ein Botnetz ist ein Zusammenschluss infizierter PCs, die von einem Angreifer ferngesteuert werden. Er kann auf diese Weise z.B. unbemerkt Spam versenden, Tastatureingaben ausspähen oder Angriffe auf andere Systeme vornehmen, wie Webserver oder ganze Netze. Ist ein PC erst einmal - auf welche Weise auch immer - infiziert, kann ihn ein Angreifer als Teil eines Botnetzes für vielfältige Zwecke missbrauchen. Bundesamt für Sicherheit und Informationstechnik: "Die Lage der IT-Sicherheit in Deutschland 2011". 172 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Dankbarkeit, Hilfsbereitschaft, Habgier, Autoritätshörigkeit, Geltungssucht, Unsicherheit, Bequemlichkeit oder Liebesbedürftigkeit aus, um an sensible Informationen zu gelangen. Häufig geht dem "Social-Engineering"-Angriff eine gründliche Hintergrundrecherche voraus. Neben offenen Recherchen beispielsweise im Internet nutzen Angreifer auch die Sorglosigkeit beim Umgang mit der Entsorgung von Dokumenten, Datenträgern und sonstigen für die Informationsbeschaffung verwertbaren Materialien. Soziale Medien Beste Voraussetzungen für "Social-Engineering"-Angriffe werden Wirtschaftsspionen derzeit in den Sozialen Netzwerken geboten. Sie eignen sich hervorragend dazu, automatisiert Personendaten wie Namen, Alter, Geschlecht, Wohnanschrift, Unternehmenszugehörigkeit, persönliche Neigungen usw. zu erheben, die zudem mit Bildern, Forenund Pinnwandbeiträgen angereichert sind. Diese Informationen können als Ansatzpunkt für eine scheinbar unverfängliche erste Kontaktaufnahme verwendet werden. Das ist vielen Anwendern und Unternehmen nicht bewusst. Das spiegelt sich auch darin wieder, dass die Nutzerzahlen sozialer Netze stetig steigen. Unternehmen haben das Potenzial erkannt und werben offensiv in den Sozialen Netzen für ihre Produkte. Besonders brisant ist der Umstand, dass selbst Personen, die sich nicht in einem der sozialen Netzwerke anmelden, als so genanntes Schattenprofil geführt werden können, da andere Personen auf diese verweisen und sie auf Bildern einem Namen zugewiesen bekommen. Unerlässlich ist daher die Stärkung der Medienkompetenz. Die Teilnahme an der medialen Öffentlichkeit (social media-Plattformen) ist nur dann gefahrlos möglich, wenn die Risiken bekannt sind. Ohne sensibilisierte Mitarbeiter ist die Gefahr des Know-how-Abflusses immer gegeben, sowohl bei der privaten Nutzung als auch bei der geschäftlichen. "Sicherheitslücke Ein wirksamer Schutz vor Spionage darf sich nicht nur auf MaßnahMensch" men der IT-Sicherheit beschränken. Die "Sicherheitslücke Mensch" ist eines der größten "Einfallstore" in Unternehmen. Die sicherste IT-Ausstattung ist wertlos, wenn die Mitarbeiter den Informations- Aktuelle Entwicklungen - Wirtschaftsschutz 173 schutz im Unternehmen nicht beachten oder sie über bestimmte Gefahren nicht aufgeklärt sind. Praktikanten, studentische Hilfskräfte, Doktoranden, GastwissenPraktikanten, Studenten, Doktoranden schaftler und Aushilfskräfte ergänzen die feste Belegschaft von Wirtschaftsunternehmen. Viele dieser Mitarbeiter arbeiten zeitlich befristet im Unternehmen, bekommen jedoch oft umfangreiche Benutzerrechte und auch einen umfassenden Einblick in die internen Strukturen des Unternehmens. In den meisten Fällen sind sie eine Bereicherung für die Unternehmen. Es kann jedoch dazu kommen, dass sie ausgenutzt werden. Gerade die chinesischen Nachrichtendienste setzen so genannte "Non Professionals" ein. Da sie teilweise hervorragende Zugänge zu deutschen Unternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen haben, wird ihnen das gezielte Sammeln von sensiblen Informationen erleichtert. Im Jahr 2012 ermittelte die Berliner Polizei in 5 724 Fällen des DiebDiebstahl stahls, die in Zusammenhang mit Geschäftsräumen standen.207 Davon konnten nur 659 Fälle aufgeklärt werden. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen, da viele Unternehmen einen Einbruch nicht melden, bei denen nichts entwendet wurde. Als mögliche Täter kommen nicht nur externe Angreifer, sondern auch eigene Mitarbeiter in Betracht. Aufgrund des Wissens um interne Informationsflüsse und mangelnde Schutzmechanismen kann ein "Innentäter" großen Schaden anrichten. Eine "Clean-Desk-Policy"208 und entsprechende Aufbewahrungsorte für sensible Informationen können den Abfluss von Know-how über Diebstahl verhindern. Branchenveranstaltungen, wie Messen, dienen WirtschaftsunterMessen nehmen dazu, ihre Produkte und Dienstleistungen vorzustellen, zu bewerben und zu verkaufen. Oft werden auch Innovationen vor10 gestellt, die noch nicht auf dem freien Markt erhältlich sind. Wirtschaftsspione nutzen dieses Forum, um einen ersten Kontakt zu den Know-how-Trägern der Unternehmen aufzubauen. Später spricht derselbe Interessent in einem anderen Umfeld den Aussteller erneut an. 207 Polizeiliche Kriminalstatistik 2012, S. 184. 208 "Clean-Desk-Policy": aufgeräumter Arbeitsplatz. 174 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass dieser sich über das Interesse freut und unbedacht sensible interne Informationen preisgibt. Derartige Gesprächsabschöpfungen kommen auch bei fingierten Bewerbungsgesprächen oder bei fingierten Anfragen zum Tragen. Werksführungen Produzierende Unternehmen bieten oft die Möglichkeit, den Produktionsstandort zu besichtigen und an einer Werksoder Betriebsführung teilzunehmen. Das Risiko, welches gerade von ausländischen Wirtschaftsdelegationen ausgehen kann, wird dabei in den meisten Fällen unterschätzt. Versteckte Minikameras oder Aufzeichnungsgeräte, USB-Sticks zum heimlichen Kopieren von Daten oder auch nur das Gedächtnisprotokoll der Teilnehmer kann zu ungewolltem Know-how-Verlust führen. Joint Ventures Im Zeichen der Globalisierung werden immer mehr Absatzmärkte im Ausland, kostengünstigere Produktionsstandorte und ausländische Geschäftspartner für den internationalen Vertrieb gesucht. In einigen Ländern, wie z.B. in der Volksrepublik China, ist es jedoch nicht erlaubt, hundertprozentige Tochtergesellschaften von ausländischen Unternehmen in bestimmten Branchen zu gründen. Joint Ventures mit einheimischen Unternehmen sind meist die einzige Möglichkeit auf dem jeweiligen Markt Fuß zu fassen, was das Risiko eines ungewollten Know-how-Transfers ganz erheblich erhöht. China Compulsory Auch Exporte nach China sind strengen Regularien unterworfen. Certification (CCC) Seit dem 1. August 2003 gilt das Zertifizierungssystem "China Compulsory Certification (CCC)", welches exportierenden Unternehmen vorschreibt, bestimmte Produktgruppen in einem akkreditierten Labor in China überprüfen zu lassen. Im Zuge der Zertifizierung werden Produkttests und Werksbesichtigungen durchgeführt. Präventionsmaßnahmen Die Angriffsvektoren der ausländischen Nachrichtendienste können sehr vielfältig sein. Den größten Handlungsbedarf sehen die meisten kleinen und mittelständischen Unternehmen nur in der Verbesserung der IT-Sicherheit. Andere sicherheitsrelevante Themen finden kaum Beachtung und werden, sofern sie erkannt sind, meist beim firmeninternen IT-Dienstleister angesiedelt. Das Thema Aktuelle Entwicklungen - Wirtschaftsschutz 175 Sicherheit umfasst aber viel mehr als nur die alleinige Betrachtung der technischen Infrastrukturen. Einen effektiven Schutz vor gezielten Spionageangriffen aufzubau"Kronjuwelen" en ist jedoch möglich. Die wichtigste Empfehlung des Wirtschaftsschutzes ist dabei, das Know-how zu identifizieren, welches es zu schützen gilt. Das können Forschungsdaten, Kundendaten oder Vertriebsdaten sein, ebenso wie Patente oder Geschmacksmuster. Es gilt, die "Kronjuwelen" zu identifizieren und sicher vor unbefugtem Zugriff zu schützen. Häufig sind dies bei der Fülle von Informationen, die ein Unternehmen ansammelt, nicht mehr als fünf Prozent der Daten. Darüber hinaus sollte ein Unternehmen eine Risikound Schwachstellenanalyse durchführen und entsprechende Notfallpläne erstellen. In Sicherheitsfragen sollte jedes Unternehmen seine Stärken und Schwächen kennen. Der Grundsatz "need-to-know"209 ist dabei ein wesentliches Prinzip, Sicherheitsrineed-to-know siken zu minimieren. Es ist wichtig, ein grundsätzliches Sicherheitsbewusstsein im Unternehmen zu schaffen und dies auch zu leben. Eine hinreichende Schulung und Sensibilisierung aller Mitarbeiter in Bezug auf die möglichen Gefahren von Know-how-Abfluss ist unerlässlich. Dabei sollte die Sicherheit immer "Chefsache" sein. Ein Vorgesetzter, der mit gutem Beispiel voran geht, kann auch seine Mitarbeiter von der Notwendigkeit der Sicherheitsmaßnahmen überzeugen. Zusammenarbeit mit anderen Institutionen Die Senatsverwaltung für Inneres und Sport, die Industrieund SicherheitspartnerHandelskammer Berlin und der Verband für Sicherheit in der Wirtschaft schaft Berlin-Brandenburg vereinbarten im November 2010 eine engere Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Wirtschaftskri10 minalität und in anderen Bereichen der inneren Sicherheit. Die Zusammenarbeit erfolgt auf der Grundlage der gesetzlichen Befugnisse, Rechte und Pflichten der Sicherheitspartner. Wesentliches Ziel der Sicherheitspartnerschaft ist der verstärkte Austausch 209 Der Grundsatz "need-to-know", übersetzt "Kenntnis nur wenn nötig", bezieht sich auf den Zugriff auf sensible Informationen. Dabei sollen nur die Personen Kenntnis von den sensiblen Informationen erhalten, die diese unbedingt für ihre Arbeit benötigen. 176 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 von Informationen zwischen der Wirtschaft und den Sicherheitsbehörden. So sollen Unternehmen Informationen über Fälle von Wirtschaftskriminalität oder zur Ergänzung von polizeilichen Lagebildern weiterleiten. Die Sicherheitsbehörden informieren über IT-Sicherheit, den Schutz vor Wirtschaftsspionage oder politischen Extremismus. Außerdem können sie der Wirtschaft bei Bedarf allgemeine Lagebilder, Gefährdungsanalysen und zielgruppenorientierte Warnmeldungen zur Verfügung stellen. Beratungsangebote Weitere Felder der Zusammenarbeit sind die gegenseitige Unterstützung bei Ausund Fortbildungsveranstaltungen, die gemeinsame Erstellung von Informationsmaterial und regelmäßige oder anlassbezogene Informationsgespräche. Im Rahmen der Partnerschaft von Wirtschaft und Sicherheitsbehörden trägt der Verfassungsschutz zur Errichtung eines effektiven Wirtschaftsund Informationsschutzes mit bei. Neben geheimschutzbetreuten Unternehmen ist der Verfassungsschutz auch von freien Unternehmen ohne Staatsauftrag oder von Institutionen ansprechbar, um ein Beratungsgespräch oder einen Vortrag zu vereinbaren. SensibilisierungsDas direkte Angebot für Sensibilisierungsgespräche wird häufig gespräche nicht genutzt, da sich viele Unternehmen nicht im Fokus ausländischer Nachrichtendienste sehen oder meinen, dass sie in Sicherheitsbelangen gut aufgestellt sind. Unternehmen, die bereits von Wirtschaftsspionage betroffen sind oder einen entsprechenden Verdacht hegen bzw. besonderes Know-how besitzen, sollten nicht zögern, den Kontakt zur Verfassungsschutzbehörde zu suchen. Ein vertraulicher und vertrauensvoller Informationsaustausch wird garantiert. Alle Informationen werden mit besonderer Verschwiegenheit und vertraulich behandelt. Im Gegensatz zu den Strafermittlungsbehörden unterliegt der Verfassungsschutz nicht dem Strafverfolgungszwang. Es liegt im Ermessen der Behörde, ob sie einen Sachverhalt zur Strafverfolgung an Polizei und Staatsanwaltschaft weiterleitet oder nicht (Opportunitätsprinzip). Aktuelle Entwicklungen - Wirtschaftsschutz 177 Der Wirtschaftsschutz des Berliner Verfassungsschutzes ist ein kompetenter Ansprechpartner bei allen Fragen des Know-howSchutzes. Die Beratung ist individuell auf die Belange jedes einzelnen Unternehmens zugeschnitten, dabei kostenlos und diskret. Im Rahmen seiner Aufklärungsund Präventionsarbeit sind die Veranstaltungen Mitarbeiter des Berliner Wirtschaftsschutzes auf vielen Veranstaltungen mit Sicherheitsthemen präsent. Am 31. Oktober wurde zusammen mit der IHK-Berlin eine Veranstaltung mit dem Titel "Von der Idee bis zum Produkt - Ein Original braucht Schutz" durchgeführt. Im Mittelpunkt der Veranstaltung standen die Erörterung geeigneter Schutzmaßnahmen gegen Wirtschaftsspionage und Produktund Markenpiraterie. 10 178 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 II Hintergrundinformationen 180 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 1 Ideologien 1.1 Definition Extremismus Der Begriff Extremismus bezeichnet kein einheitliches Phänomen, sondern ist eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Bestrebungen, "die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen".210 Die verfassungsmäßige Grenze des politischen Handelns ist in der Bundesrepublik Deutschland eindeutig festgelegt. Anlässlich des Verbots der "Sozialistischen Reichspartei" (SRP) bestimmte das Bundesverfassungsgericht 1952 den Kern des demokratischen Verfassungsstaates, die freiheitliche demokratische Grundordnung. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind zu rechnen: * die Achtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, vor allem des Rechtes der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, * die Volkssouveränität, * die Gewaltenteilung, * die Verantwortlichkeit der Regierung, * die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, * die Unabhängigkeit der Gerichte, * das Mehrparteienprinzip, * die Chancengleichheit aller politischen Parteien, * das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.211 210 Uwe Backes / Eckhard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 4. Auflage, Bonn 1996, S. 45. 211 Vgl. BVerfG 2, 1 ff.; BVerfG 5, 85 ff.; SS 6 VSG Bln. Hintergrundinformationen - Ideologien 181 Die Verfassungsschutzbehörden verwenden den Extremismusbegriff seit Anfang der 1970er Jahre in Abgrenzung zu dem Begriff des Radikalismus. Während extremistische Positionen die Grenze der verfassungsmäßigen Ordnung überschreiten, bezeichnet der Radikalismus Auffassungen, die zwar grundlegende systemoppositionelle Positionen vertreten, die sich aber mit ihrer fundamentalen Kritik innerhalb der Grenzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewegen. 1.2 Islamistische Ideologie Islamismus lässt sich als der Versuch politischer Bewegungen des 20. Jahrhunderts definieren, den Islam zu ideologisieren und dort, wo dies möglich ist, eine islamistische Herrschaftsordnung zu errichten oder die Gesellschaft zu islamisieren. Islamisten begreifen den Islam insofern nicht allein als eine Religion, sondern als eine Herrschaftsideologie und als ein Gesellschaftssystem. Sie versuchen, ihre Vorstellungen auf legalem Wege oder gewaltsam durchzusetzen. Das zentrale Ideologem des Islamismus ist die Behauptung, dass der Islam nicht allein "Religion und Welt" verkörpere, sondern darüber hinaus eine unteilbare Einheit von "Religion" und "Politik" bilde. Dem hieraus abgeleiteten politischen Anspruch versuchen Islamisten mit dem Slogan, der Islam sei "Religion und Staat" (Arabisch "al-islam din wa daula"), Nachdruck zu geben. Dieses ca. 100 Jahre alte Schlagwort wird in Bilddarstellungen häufig mit Koran (für Religion) und Schwert (für Politik) symbolisiert. Kennzeichnend für einige islamistische Gruppen ist ferner die Favorisierung frühislamischer und mittelalterlicher Herrschaftskonzepte - etwa ein globales Kalifat, in dem die Führungsperson (Kalif) zugleich die weltliche und die religiöse Herrschaft ausübt. Darüber hinaus begreifen Islamisten die islamische Rechtsund Werteordnung Scharia nicht allein als ein Recht, sondern als ein politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip. So werben sie mit dem Schlagwort der "Anwendung der Scharia" meist für eine vollständige Umsetzung der Bestimmungen des islamischen Rechts. Schließlich versuchen insbesondere gewaltorientierte islamistische Gruppen, Gewalt durch Bezüge auf die Religion zu legitimieren. Hierbei reduzieren sie den Begriff des Jihad (wörtl. Bemühung) vorrangig auf die Bedeutung von Kampf und kriegerischer Handlung und verstehen ihn nicht - wie im islamischen Recht fixiert - als eine vorrangig zum Zwecke der Verteidigung muslimischen Territoriums zulässige Methode. Vielmehr wird der Jihad zu einer offensiven militanten Kampfform uminterpretiert und zu einer vermeintlich individuellen Pflicht eines jeden Muslims erklärt. 182 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Trotz gemeinsamer ideologischer Merkmale folgen die islamistischen Gruppen keinem einheitlichen Konzept. Der Islamismus umfasst vielmehr unterschiedliche bis konkurrierende Vorstellungen und Agenden, die meist von den differierenden politischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Herkunftsländer bestimmt werden. So verketzern einige etwa Demokratie als vermeintlich unislamisch, während andere sich an Wahlen in ihren Heimatländern beteiligen. Insofern gibt es keinen "Einheits-Islamismus". Abgesehen von den terroristischen Netzwerken um "al-Qaida" existiert auch nicht so etwas wie eine "islamistische Internationale". Gewaltorientierung In der Frage des Einsatzes von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele bestehen zwischen den Organisationen erhebliche Unterschiede. Das Spektrum reicht von der Ablehnung jeglicher Gewaltanwendung bis zur pseudoreligiösen Legitimation von Terrorismus. Zwei Hauptgruppen mit deutlich unterschiedlichen Zielrichtungen sind zu unterscheiden: Die erste und von der Anzahl her größte Kategorie bilden die nicht-gewaltorientierten Islamisten, die auch als "legalistische Islamisten" bezeichnet werden. Hierzu gehören Gruppen, die entweder nie gewaltorientiert waren (etwa die türkische "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs", IGMG) oder die - häufig nach langen Phasen des Terrorismus - der Gewalt inzwischen abgeschworen haben (etwa die arabische "Muslimbruderschaft", MB). Das Fehlen der Gewaltorientierung gilt insbesondere für die deutschen Ableger der "legalistischen Islamisten". Die zweite Kategorie bilden die gewaltorientierten Islamisten, die sich wiederum in drei Unterkategorien einteilen lassen. Zur ersten Unterkategorie gehören Gruppen, die Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele zwar befürworten, selbst aber vorrangig keine Gewalt ausüben. Dies betrifft etwa die in Deutschland seit Januar 2003 mit einem Betätigungsverbot belegte "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung", HuT). Zur zweiten Unterkategorie gehören Gruppen, die ihre terroristischen Aktivitäten vorrangig auf den Nahen Osten beschränken. Dies gilt etwa für die libanesische "Hizb Allah" ("Partei Gottes") und die palästinensische "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS). Die dritte Unterkategorie gewaltorientierter Islamisten bilden schließlich transnational agierende Terrornetzwerke. Hierzu gehört in erster Linie das Netzwerk "al-Qaida" ("die Basis"), von dem inzwischen mehrere regionale Zweige existieren - z.B. "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM), "Islamischer Staat Irak" (ISI), "al-Qaida auf der Arabischen Hintergrundinformationen - Ideologien 183 Halbinsel" (AQAH) oder die "Harakat al-Shabab al-Mujahidin", kurz: "al-Shabab"). Zu den transnationalen terroristischen Netzwerken gehören auch die kurdischen "Ansar al-Islam" bzw. "Ansar al-Sunna" (AAI bzw. AAS) und die "Islamische Jihad-Union" (IJU). Die Bedeutung traditioneller Islamismus-Varianten Innerhalb des islamistischen Spektrums erweist sich der Salafismus in seiner politischen und jihadistischen Ausprägung als die zurzeit dynamischste Bewegung - sowohl in Deutschland als auch auf internationaler Ebene. Salafismus bezeichnet eine unbedingte Orientierung an der muslimischen Urgesellschaft vor 1 400 Jahren, wie sie im siebten Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel existierte. Salafisten glauben, in den religiösen Quellen des Islam ein detailgetreues Abbild dieser idealisierten islamischen Frühzeit gefunden zu haben und versuchen, die Gebote Gottes wortgetreu in die Tat umzusetzen. Dies mündet häufig in die wörtliche Auslegung des Koran, der Heiligen Schrift des Islam sowie der Sunna (wörtl. Brauch), der Tradition des Propheten und Religionsstifters Muhammad (570-632). Die Schriftgläubigkeit von Salafisten und ihr meist wortgetreues Verständnis religiöser Texte können dazu führen, dass von ihnen frühislamische Herrschaftsund Rechtsformen befürwortet werden. Diese sind mit den Werten unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar. Im Gegensatz zu den übrigen islamistischen Gruppen in Deutschland, die wie die IGMG, MB, "Hizb Allah", HAMAS und HuT mehrheitlich nicht salafistisch ausgerichtet sind, verkörpert der Salafismus eine eher traditionelle Islamismus-Variante. Hierzu gehört neben der strikten Orientierung an der Gesellschaftsform des ersten muslimischen Gemeinwesens in Medina (gegr. 622) auch ein Exklusivanspruch des eigenen Islam-Verständnisses gegenüber jeglichen anderen Islam-Interpretationen. So versuchen Salafisten, die Scharia meist in ihrer ursprünglichen Form durchzusetzen. Sie beharren darauf, dass sämtliche Bestimmungen der Scharia zeitlos seien und deshalb keinesfalls neu interpretiert oder an heutige Lebensumstände angepasst werden dürften. Insbesondere Muslime werden von Salafisten aufgefordert, salafistische Islam-Interpretationen zu übernehmen und entsprechende Vorschriften minutiös zu befolgen. Hierzu schreiben sie ein umfassendes Regelwerk vor. Dieses betrifft das Tragen so genannter "islamischer Kleidung" und die Übernahme alltäglicher Handlungen aus der Zeit des Propheten wie auch das Befolgen einer strikten Geschlechtertrennung und die Abgrenzung von einer nicht-muslimischen Umwelt. Hierzu gehört vor allem die - von den meisten anderen islamistischen Gruppen so nicht praktizierte - Diffamierung als "Ungläubige" ("kuffar"). Diese zielt bei Salafisten nicht allein auf Juden und Christen, sondern auch auf jene Muslime, die ihre politischen und gesellschaftlichen Auffassungen nicht teilen. Ent- 184 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 sprechend gibt es einschlägige Aufforderungen zur Kontaktvermeidung und zum Abbruch der Beziehungen zu sämtlichen so genannten "Ungläubigen" sowie die Zurückweisung jeglicher Integrationskonzepte und Warnungen vor dem Zusammenleben von Nicht-Muslimen und Muslimen. 1.3 Ideologie des Rechtsextremismus Mit der Sammelbezeichnung Rechtsextremismus verbindet sich keine geschlossene politische Ideologie. Der Begriff umschreibt eine vielschichtige politische und soziale Gedankenwelt und ein Handlungssystem, das in der Gesamtheit seiner Einstellungen und Verhaltensweisen auf die Beseitigung oder nachhaltige Beeinträchtigung demokratischer Rechte, Strukturen und Prozesse gerichtet ist. Rechtsextremistischen Strömungen sind in jeweils unterschiedlichen Gewichtungen und Ausprägungen folgende Inhalte gemeinsam:212 * Ablehnung des Gleichheitsprinzips: Die Ideologie der Ungleichheit äußert sich in der gesellschaftlichen Diskriminierung bestimmter Menschen und Gruppen aufgrund ethnischer, körperlicher und geistiger Unterschiede. * Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit: Die eigene "Nation" oder "Rasse" wird zum obersten Kriterium der Identität erhoben. Ihr wird ein höherwertiger Status zugeschrieben, was die Abwertung und Geringschätzung von nicht zur eigenen "Nation" oder "Rasse" gehörenden Menschen und Gruppen zur Folge hat. * Antipluralismus: Der pluralistische Interessenund Meinungsstreit wird als die Homogenität der Gemeinschaft zersetzend angesehen. Rechtsextremisten streben eine geschlossene Gesellschaft an, in der Volk und Führung eine Einheit bilden. * Autoritarismus: In demokratischen Ordnungssystemen ist der Staat ein Instrument der Selbstorganisation der Gesellschaft, das Wechselbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft vorsieht. Im autoritären Staatsverständnis steht der Staat in einem einseitig dominierenden Verhältnis über der Gesellschaft. Im Phänomenbereich des Rechtsextremismus treten zahlreiche ideologische Überschneidungen und Mischformen auf. Die Überbewertung der eigenen Nation im Vergleich zu anderen Nationen wird als Nationalismus bezeichnet. Der Rassismus behauptet die Ungleichwertigkeit von "Menschenrassen" aufgrund ihrer unveränderlichen biologischen 212 Vgl. Armin Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 2. Auflage, München 2000, S. 11 - 16. Hintergrundinformationen - Ideologien 185 und sozialen Anlagen. Rassistische Ideologien leiten daraus ein "naturgegebenes" Recht zur Ausgrenzung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen ab. Eine besondere Form des Rassismus ist der Antisemitismus. Darunter versteht man die Feindschaft gegenüber den Juden als Gesamtheit aufgrund stereotypischer rassistischer, sozialer, politischer und / oder religiöser Vorurteile. Ein weiteres Element des Rechtsextremismus ist der Neonazismus, der durch seinen Bezug zum historischen Phänomen des Nationalsozialismus gekennzeichnet ist. Eine rechtsextreme Ideologie wird als neonazistisch bezeichnet, wenn sie an den historischen Nationalsozialismus anknüpft. 1.4 Ideologie des Linksextremismus Linksextremismus ist eine Sammelbezeichnung für Ideologien oder Ideologieelemente, die sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten und auf eine "herrschaftsfreie Ordnung"213 abzielen. Bei letzterer handelt es sich um ein mit politischer, sozialer und ökonomischer Freiheit ausgestattetes Gemeinwesen gleicher Menschen. Sie kann direkt oder über Zwischenstufen wie etwa im Marxismus-Leninismus (Diktatur des Proletariats) erreicht werden. Diese Ordnung reicht weit über das in demokratischen Verfassungsstaaten akzeptierte Prinzip der menschlichen Fundamentalgleichheit hinaus. Linksextremistische Ideologien richten sich gegen zentrale Grundrechte und Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wie Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, Parlamentarismus und Gewaltenteilung. Konkret lehnen Linksextremisten die herrschende Staatsordnung als imperialistisch oder kapitalistisch ab und unterstellen ihr, sie diene lediglich dazu, die Bevölkerung strukturell zu unterdrücken. Gleichzeitig, so die extremistische Kritik, stelle die herrschende Ordnung die Herrschaft einer gesellschaftlichen Elite sicher. Linksextremistisches Hauptziel ist daher, die Staatsordnung durch einen revolutionären Akt zu überwinden. Allen linksextremistischen Ansätzen ist gemein, dass sie eine "herrschaftsfreie Ordnung" anstreben. Sie unterscheiden sich aber stark voneinander, wenn es in der Umsetzung darum geht, wie diese erreicht werden kann. Anarchisten Anarchisten haben kein zentrales Theoriegebäude ausgebildet. Ihre ideologische Position stellt eine Überspitzung und Fortführung des linksextremistischen Gedankens der Herrschaftsfreiheit dar. Anarchisten streben die Auflösung sämtlicher staatlicher Einrichtun213 Vgl. u.a. Uwe Backes / Eckard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1996, S. 60. 186 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 gen an und wollen diese durch dezentrale Selbstverwaltungseinheiten ersetzen. Mit der Betonung von Autonomie und Selbstorganisation weist anarchistisches Denken ideologische Schnittmengen mit autonomen Theorie-Versatzstücken auf. Bei der Abschaffung staatlicher Institutionen sehen Anarchisten auch den Einsatz von Gewalt als gerechtfertigt an. Autonome Autonomen fehlt es an einem geschlossenen theoretischen Konstrukt. Verbindendes ideologisches Element ist die Ablehnung der bestehenden staatlichen Ordnung und das Streben nach Zerschlagung des demokratischen Verfassungsstaates. In ihr Denken beziehen Autonome kommunistische und anarchistische Versatzstücke mit ein. Insbesondere mit dem anarchistischen Denken besteht eine Schnittmenge in der autonomen Vorstellung von der "Politik der ersten Person". Ideologisch fest verankerte Vorstellungen des traditionellen Anarchismus oder von kommunistischen Parteien teilen Autonome nicht. Innerhalb der Autonomen gibt es zwei unterschiedlich große Strömungen. Dabei handelt es sich um die in Größe und Einfluss dominierenden "Anti-Imperialisten" und um die wesentlich kleinere Strömung der "Antideutschen". Beide sind sich darin einig, die Bundesrepublik Deutschland abzulehnen, unterscheiden sich jedoch in Hinblick auf die Begründung ihrer Ablehnung. Anti-Imperialisten nehmen an, dass die Bundesrepublik Deutschland wie die übrigen westlichen Staaten aufgrund ihrer demokratischen und kapitalistischen Verfasstheit zu politischer, wirtschaftlicher und kultureller Expansion neige. Dieser "Imperialismus" gehe zu Lasten des "Trikonts" (Afrikas, Asiens und Mittel-/ Südamerikas). "Anti-Imperialisten" lehnen den deutschen Staat also vorrangig wegen seines angeblich kapitalistisch-imperialistischen Charakters ab. "Antideutsche" nehmen hingegen an, dass Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland weiterhin faschistisch geprägt seien. Dies sei mit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht überwunden worden. Antideutsche solidarisieren sich mit Israel und zuweilen den USA. Sie lehnen den deutschen Staat hauptsächlich wegen seiner angeblichen faschistischen Kontinuität ab. Das Ziel, den demokratischen Verfassungsstaat zu zerschlagen und die Methode der Politik der "ersten Person" werden nur selten in theoretische Erwägungen übersetzt. Sie schlagen sich vor allem in aktionistischen Taten nieder. In aller Regel befürworten Autonome den Einsatz von Gewalt und wenden sich damit gegen das staatliche Gewaltmonopol. Der Bedeutungsgehalt des Begriffs "Militanz" reicht dabei von einer "kämpferischen Hintergrundinformationen - Ideologien 187 Grundhaltung" bis zur "militanten Aktion", verstanden als "Politik der ersten Person". Die zwei "klassischen" Ausprägungen autonomer Gewaltanwendung sind hierbei Massenmilitanz einerseits (im Rahmen oder im Nachgang zu Demonstrationen sowie anderen szenerelevanten Großereignissen) und klandestine Anschläge andererseits (zumeist konspirativ vorbereitete Sachbeschädigungen). Diesbezügliche konfrontative Handlungsformen beziehen sich unmittelbar auf politische Gegner und äußern sich in erster Linie durch Angriffe auf Rechtsextremisten und Repräsentanten des (verhassten) "Systems". Darüber hinaus kommt es zunehmend zu initialisierendem Gewalthandeln. Dabei initiieren gewaltorientierte Linksextremisten (in erster Linie im Rahmen von Großveranstaltungen) Gewalthandlungen, die dann von nichtextremistischen Gewalttätern aufgenommen und fortgeführt werden sollen. Kommunisten Kommunisten sind orthodoxer in der Lehre als Anarchisten und Autonome. Sie richten sich bei der Auswahl der zu thematisierenden Politikfelder strategischer aus und sind organisierter in der Betreuung ihrer Anhänger. Ausgangsbasis ist die Annahme des gesellschaftlichen Klassenkampfes. In unterschiedlichen Ausprägungen strebt der Kommunismus eine klassenlose Gesellschaft an. Dabei fordert er, dass sich das Individuum den revolutionären Zielen und den diese anstrebenden Organisationen völlig unterordnet. Schließlich soll das Proletariat die herrschende Elite im "Klassenkampf" stürzen. Über Revolutionen und interrevolutionäre Zwischenstufen sei die klassenlose Gesellschaft erreichbar. Von der Ideologie des Kommunismus als klassenloser Gesellschaft ist der real existierende Sozialismus als Übergangsphase vom Kapitalismus zum klassenlosen Gemeinwesen zu unterscheiden. Der Begriff des real existierenden Sozialismus stellt keine eigenständige ideologische Variante dar, er beschreibt vielmehr die gesellschaftlichen Gegebenheiten sozialistischer Staaten: "Kommunist zu sein heißt, [...] für die Einheit und Reinheit des Marxismus-Leninismus zu kämpfen und gemäß der Lehren von Marx, Engels, Lenin und Stalin gegen alle Angriffe der bürgerlichen Ideologie und des Revisionismus und Reformismus innerhalb der Arbeiterklasse mit allen Mitteln zu verteidigen und zu vertreten, sich zur proletarischen Revolution, zur Diktatur des Proletariats und zum proletarischen Internationalismus zu bekennen." 214 214 Internetauftritt der KPD, Aufruf am 10.9.2002. 188 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 2 Transnationaler islamistischer Terrorismus 2.1.1 "Al-Qaida" und "Mujahidin-Netzwerke" Entstehung / Gründung Anfang 1980er Jahre Afghanistan / Pakistan Organisationsstruktur Transnationale Netzwerke Veröffentlichungen Audiound Video-Botschaften Der Begriff "Mujahidin" bezeichnet pan-islamistisch orientierte Kämpfer unterschiedlicher ethnischer Herkunft, die an Kampfeinsätzen etwa in Afghanistan, Bosnien, Tschetschenien oder im Kaschmir teilgenommen haben. Das Entstehen der - auch als Jihadisten bezeichneten - "Mujahidin" geht auf den Afghanistan-Krieg zurück, als sich 1979 freiwillige "Kämpfer" dem - unter dem Motto des Jihad geführten - Krieg gegen die sowjetische Besatzung anschlossen und dafür vor allem in afghanischen und pakistanischen Militärlagern ausgebildet wurden. Die Lage im von Krieg und Bürgerkrieg gezeichneten Afghanistan bot ideale Bedingungen für die ideologische Schulung und terroristische Ausbildung der "Mujahidin". Hierzu gehörten ein weitgehend rechtsfreier Raum, Kampfgebiete sowie die Tatsache, dass sich im Bürgerkrieg 1996 die islamistischen "Taliban-Kämpfer" durchsetzten. Die terroristischen Aktivitäten der "Mujahidin" richteten sich ab 1992 vor allem gegen Ägypten und Algerien, nachdem sich einzelne Kämpfer des Afghanistan-Kriegs den dortigen militanten islamistischen Gruppierungen angeschlossen hatten. Im Zentrum der "Mujahidin" steht die von Usama Bin Ladin Ende der 1980er Jahre gegründete Organisation "al-Qaida" ("Die Basis"), die sich vermutlich Mitte der 1990er Jahre mit Teilen der militanten ägyptischen Gruppen "al-Jihad al-islami" ("Der islamische Kampf") und "al-Jama'a al-islamiya"215 ("Die islamische Gemeinschaft") zu einem transnationalen Netzwerk zusammenschloss. Bin Ladin wurde im Mai 2011 von US-Einheiten bei seiner Festnahme in Pakistan getötet. Zu seinem Nachfolger wurde sein Stellvertreter Aiman alZawahiri, ehemaliger Führer der ägyptischen Gruppe "al-Jihad al-islami", bestimmt. 215 Hierbei handelt es sich um die hocharabische Schreibweise. Im ägyptischen Dialekt werden die Gruppierungen phonetisch als "al-Gihad al-islami" und "al-Gama'a al-islamiya" wiedergegeben. Hintergrundinformationen - Transnationaler islamistischer Terrorimus 189 Programmatische Grundlage der internationalen Anschläge von "al-Qaida" war der von Bin Ladin 1998 unterzeichnete216 Aufruf der "Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler", den die Verfasser als ein religiöses "Rechtsgutachten" ("fatwa")217 deklarierten. Darin waren die Tötung von Amerikanern zur individuellen Pflicht eines jeden Muslims erhoben, die Stationierung von US-Truppen in Saudi-Arabien für unzulässig erklärt und als Ziel die Verdrängung der USA von der Arabischen Halbinsel genannt worden. Hierzu sollten die USA als Schutzmacht Saudi-Arabiens angegriffen und - wie bereits die Anschläge auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania 1998 sowie auf das Marineschiff USS Cole 2000 zeigten - möglichst viele US-Bürger getötet werden. In der Verlautbarung heißt es: "Das Urteil, die Amerikaner und ihre Alliierten, Zivilisten und Militärs gleichermaßen zu töten, wo immer ihm dies möglich ist, ist eine individuelle Pflicht für jeden Muslim, der hierzu in der Lage ist, bis die Aqsa-Moschee [in Jerusalem] und die Heilige Moschee [in Mekka] von ihnen befreit sind und bis ihre Armeen das gesamte Territorium des Islam verlassen haben, geschlagen und unfähig, irgendeinen Muslim noch zu bedrohen." 218 Statt Anschlägen von Kern-"al-Qaida" standen seit 2004 terroristische Aktivitäten anderer "Mujahidin"-Organisationen, eigenständig operierender Kleingruppen oder radikalisierter Einzeltäter im Vordergrund. Sie gelten, auch wenn sie nicht organisatorisch an "alQaida" gebunden sind, als von der "al-Qaida"-Ideologie "inspiriert". Ein bezeichnendes Beispiel ist der Nigerianer Umar Farouk A., der im Dezember 2009 versuchte, in Detroit einen Anschlag auf ein US-Flugzeug zu verüben und von Passagieren nach einer Fehlzündung des Sprengsatzes überwältigt werden konnte. Seinerzeit war ein mit "Operation des Bruders und Mujahidis Umar al-Faruq al-N. - Vergeltung der amerikanischen Feindseligkeiten gegen den Jemen" betiteltes Selbstbezichtigungsschreiben von "al-Qaida auf der 216 Zu den fünf Unterzeichnern gehörten Usama Bin Ladin ("al-Qaida"), Aiman al-Zawahiri ("al-Jihad al-islami"), Abu Yasir Rifa'i Ahmad Taha ("al-Jama'a al-islamiya"), Mir Hamza (Generalsekretär der "Jam'iyat-ul-Ulama Pakistan") und Fazlur Rahman (Chef der "Jihad"-Gruppe, Bangladesch). 217 Diese Fatwa ist aus Sicht der islamischen Theologie nicht gültig, da Bin Ladin als Laie weder die theologische Qualifikation noch die religiöse Autorität zur Erstellung von Rechtsgutachten, geschweige denn zur Ausrufung des Jihad im Namen der Muslime besaß. Entsprechend wurden die Anschläge vom 11. September 2001 von einem Großteil der islamischen Religionsgelehrten als nicht mit dem Islam vereinbar zurückgewiesen, da die islamische Religion sowohl den Mord an unschuldigen Zivilisten als auch den Selbstmord verbiete. Vgl. Hanspeter Mattes: Ein Jahr danach. Der islamistische Terrorismus und seine Bekämpfung. In: "Herder Korrespondenz 56" Nr. 9/2002, S. 444 - 448. 218 Vgl. Nass Bayan al-Jabha al-islamiya al-alamiya li-Jihad al-Jahud wa'l-Salibiyin. In: "al-Quds al-arabi" vom 23.2.1998. Eine englische Übersetzung findet sich im Internet unter www.fas.org/irp/world/para/docs/980223fatwa.htm. 190 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Arabischen Halbinsel" (AQAH) in einem jihadistischen Internetforum sichergestellt worden. Umar Farouk A. wurde im Februar 2012 für diese Tat von einem US-Bundesgericht zu lebenslanger Haft verurteilt. Für einen Teil der internationalen Anschläge sind so genannte "homegrown"-Terroristen verantwortlich. Hierbei handelt es sich um radikalisierte Muslime der zweiten und dritten Einwanderergeneration oder um radikalisierte Konvertiten. Obwohl diese Personen in europäischen Ländern geboren und aufgewachsen sind, bekämpfen sie westliche Staaten mit terroristischen Mitteln. Hierbei zielen sie ausdrücklich auch auf Zivilisten ab. Dies gilt etwa für die von "homegrown"-Tätern verübten Anschläge von Madrid (2004) und London (2005) sowie das Attentat auf den niederländischen Filmemacher Theo van Gogh (2004). In Deutschland wurden 2007 zwei Konvertiten und zwei hier lebende Personen türkischer Herkunft wegen der Planung von Anschlägen festgenommen und 2010 in Düsseldorf zu langjährigen Haftstrafen verurteilt (so genannte "Sauerland-Gruppe"). Auch der deutsche Konvertit Eric B. und der aus Deutschland stammende Türke Cüneyt C. sind Beispiele für Jihadisten, die sich in Deutschland radikalisiert haben. Cüneyt C. verübte 2008 einen Selbstmordanschlag in Afghanistan, bei dem er vier Soldaten tötete und zahlreiche Personen verletzte. Eric B., der sich seit Herbst 2007 bei der "Islamischen JihadUnion" (IJU) im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet aufgehalten hatte, wurde Ende April 2010 bei Kämpfen getötet. Mit ihm starben der Deutsch-Türke Ahmet M. und der aus Holland stammende Berliner Danny R. Neben Kern-"al-Qaida" haben sich in den vergangenen Jahren regionale "al-Qaida"-Organisationen herausgebildet. Die im Irak seit 2003 unter verschiedenen Namen operierende "al-Qaida im Irak" bezeichnet sich seit Oktober 2006 als "Islamischer Staat Irak". Die Organisation verfolgt das Ziel, die irakische Regierung sowie Schiiten und Kurden zu bekämpfen. Obwohl seit 2007 infolge erhöhten Verfolgungsdrucks ein spürbarer Rückgang terroristischer Gewalt festzustellen war, verübte der "Islamische Staat Irak" auch 2012 eine Reihe schwerer Anschläge, die insbesondere auf die Zivilbevölkerung und irakische Sicherheitskräfte zielten. Auch Anschläge gegen christliche Gemeinschaften nahmen stark zu. Zu den regionalen Zweigen von "al-Qaida" gehört auch die algerische "Groupe Salafiste pour la Predication et le Combat" (GSPC),219 die sich 2007 in "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM) umbenannte und hiermit eine stärkere internationale Ausrichtung signalisiert. Seither ist AQM der zentrale Gewaltakteur in der Region. Mit der Umbenennung näherte sich der Modus Operandi bei der Durchführung von Anschlägen dem von "al219 "Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf". Hintergrundinformationen - Transnationaler islamistischer Terrorimus 191 Qaida" an. Die Anschläge richteten sich nunmehr verstärkt gegen westliche Ausländer und regionale Sicherheitskräfte. Nach der Tötung eines Amerikaners und einer britischen Geisel 2009 wurden 2010 sieben Mitarbeiter eines französischen Unternehmens in Niger, darunter fünf Franzosen sowie ein Staatsbürger aus Togo und Madagaskar, entführt. Zu den Anschlägen auf Sicherheitskräfte zählen ein Angriff auf algerische Grenzschützer 2010 mit elf Toten und ein Selbstmordanschlag auf eine Kaserne des mauretanischen Militärs 2010, bei dem mindestens zwei Soldaten starben. Die Ende Januar 2009 durch den Zusammenschluss der "al-Qaida im Jemen" (AQJ) und dem saudischen "al-Qaida"-Zweig entstandene "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) hat sich zu einer schlagkräftigen Terrororganisation entwickelt und dabei auch den internationalen Luftverkehr attackiert. Hierzu zählen die Anschlagsversuche auf zwei Luftfrachtmaschinen im Oktober 2010, bei denen die Sprengsätze noch rechtzeitig entschärft werden konnten. Die Verantwortung der AQAH für den Absturz eines Jumbos im September 2010 in Dubai ist noch unklar. Die AQAH hat damit ihren Modus Operandi signifikant verändert und beschränkt ihre gewaltsamen Aktionen nicht länger auf die arabische Halbinsel. Im Februar 2012 schloss sich die somalische Terrororganisation "Harakat al-Shabab alMujahidin" (Bewegung der Mujahidin-Jugend, kurz "al-Shabab") "al-Qaida" an. "Al-Shabab" bildete sich 2006 im Umfeld der radikal-islamistischen "Union der islamischen Gerichtshöfe" (UIG), einer 2007 besiegten Dachorganisation von Islamisten im somalischen Bürgerkrieg. Sie entwickelte sich zur stärksten islamistisch-terroristischen Terrororganisation in Somalia und beherrscht weite Teile des Landes. Ziel ist die Bekämpfung der somalischen Regierung und die Errichtung einer Kalifatsherrschaft. Auch für Entführungen von Personen aus dem westlichen Ausland, Bombenanschläge und Selbstmordattentate wird "al-Shabab" verantwortlich gemacht. In den von ihr beherrschten Gebieten setzt "alShabab" ihre Vorstellungen vom islamischen Recht (Scharia) äußerst gewaltsam durch. Eine durch "al-Qaida" zumindest inspirierte Gruppe ist die 2002 gegründete "Islamische Jihad-Union" (IJU), die eine Abspaltung von der "Islamischen Bewegung Usbekistan" (IBU) darstellt. Die Führung der IJU unterhält Kontakte zu "al-Qaida" und gilt als von deren Ideologie beeinflusst. Die Mitglieder der IJU verstehen die Ausübung des militanten Jihad als einen Teil muslimischer Glaubenspraxis. Sie behaupten, den militanten Jihad gegen westliche Staaten ausüben zu müssen, weil diese angeblich einen "Krieg gegen den Islam und die Muslime" führten. Die IJU hatte zunächst regionale Ziele verfolgt, weitete aber seit 2005 ihren auf Usbekistan beschränkten Aktionsradius aus und hat seitdem eine transnationale jihadistische Ausrichtung, die auch Anhänger in Europa gewinnt. So plante die 2007 enttarnte "Sauerland-Gruppe" ihre Anschläge im Auftrag der IJU. Ende 2009 192 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 spaltete sich von der IJU eine Gruppe deutschsprachiger Muslime ab, die sich "Deutsche Taliban Mujahidin" (DTM) nannten. Nachdem der mutmaßliche Anführer Ahmet M. sowie weitere Mitglieder im Frühjahr 2010 bei Kämpfen starben und andere die Gruppierung mit dem Ziel einer Rückkehr nach Deutschland verließen, existiert die DTM mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr. Auch die "Islamische Bewegung Usbekistan" (IBU) gilt als von der "al-Qaida"-Ideologie inspiriert. Die 1997 gegründete Organisation verfolgte ursprünglich eine regionale Agenda, die auf einen Sturz des usbekischen Präsidenten Karimov zielte. Seit 2000 wurden auch ihre Ziele internationaler. Die IBU operiert hauptsächlich im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet. In der Bundesrepublik ist sie bislang vor allem durch Veröffentlichungen deutschsprachiger Videos der beiden Bonner Brüder Mounir und Yassin C. bekannt geworden. Zu den Mujahidin gehören auch die Kämpfer des 2007 gegründeten "Kaukasischen Emirats" im südlichen Russland. Diese Jihadisten hatten sich zunächst auf Tschetschenien beschränkt, weiteten aber ihre bewaffneten Operationen auf den gesamten Nordkaukasus, insbesondere auf Dagestan und Inguschetien sowie auf Russland aus. So verübten im März 2010 kaukasische Selbstmordattentäterinnen Anschläge auf die Moskauer Metro. Der selbsternannte "Emir der kaukasischen Völker" Dokku Umarov bezichtigte sich, die Anschläge angeordnet zu haben. Er erklärte die Russische Föderation, die USA, Großbritannien sowie Israel zu Feinden der Muslime und unterstellte ihnen, einen "Krieg gegen den Islam" zu führen. Umarov fordert, die von ihm als "ungläubig" diffamierten Feinde nicht allein aus dem Kaukasus, sondern aus sämtlichen früheren muslimischen Territorien zu vertreiben. 2.1.2 "Ansar al-Islam" ("Anhänger des Islam") Abkürzung AAI Entstehung / Gründung 2001 Irak (als Nachfolgeorganisation des "Jund al-Islam" / "Heer des Islam") Organisationsstruktur Transnationales Netzwerk Die 2001 im Nordirak aus verschiedenen Splittergruppen entstandene Organisation "Ansar al-Islam" (AAI) besteht hauptsächlich aus islamistischen Kurden, die die Errichtung eines islamistischen kurdischen Staatswesens im Nordirak nach dem Vorbild des früheren Taliban-Regimes in Afghanistan anstreben. Hierzu bekämpft sie mit Waffengewalt die laizistischen kurdischen Gruppen "Patriotische Union Kurdistan" (PUK) und die "Kurdische Hintergrundinformationen - Transnationaler islamistischer Terrorimus 193 Demokratische Partei" (KDP). Die AAI richtete ihre terroristischen Aktionen seit 2003 auch gegen die alliierten Streitkräfte im Irak. Ihr Ziel ist, das irakische Staatswesen gewaltsam zu beseitigen. Von 2004 an operierte die AAI zwischenzeitlich unter der Bezeichnung "Jaish Ansar alSunna" ("Armee der Anhänger der Sunna", kurz: "Ansar al-Sunna", AAS). Im Irak, wo sie in den letzten Jahren erheblich an Zulauf gewann, fungiert die AAI als Dachorganisation und als Sammelbecken für nicht-kurdischstämmige ausländische "Mujahidin". Die AAI ist jihadistisch-salafistisch ausgerichtet. Sie sucht frühislamische Herrschafts-, Rechtsund Gesellschaftsformen umzusetzen und propagiert die Bekämpfung von Juden und Christen. Die Organisation, die bis 2004 von dem in Norwegen lebenden Mullah Krekar angeführt wurde, unterhält zur logistischen und finanziellen Unterstützung auch in Westeuropa ein Netzwerk. Die AAI-Anhänger in Deutschland unterstützen die Organisation durch die Beschaffung von Geldmitteln und deren Transfer in den Irak. Die noch vor einigen Jahren feststellbaren Rekrutierungen von "Jihad-Kämpfern" für den Irak sind deutlich zurückgegangen. Gleichwohl fielen ihre Anhänger in Deutschland nicht allein durch werbende und unterstützende Tätigkeiten auf, sondern auch durch die Vorbereitung terroristischer Aktivitäten. Im Juli 2008 wurden drei Personen aus Berlin, Stuttgart und Augsburg vom Oberlandesgericht Stuttgart wegen Mitgliedschaft in dieser terroristischen Vereinigung und wegen eines Anschlagsversuchs auf den ehemaligen irakischen Ministerpräsidenten Allawi zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.220 Nach Hinweisen der deutschen Sicherheitsbehörden wurde Allawis Teilnahme an einer Veranstaltung in Berlin abgesagt, so dass es zu keiner konkreten Gefahrensituation für ihn kam. 220 OLG Stuttgart: Az.5-2 StE 2/05. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 24 f. 194 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 3 Salafistische Bestrebungen Entstehung / Gründung Etwa seit 1960er Jahren Mitgliederzahl Bund: ca. 4 500 (2011: ca. 3 800) Berlin: ca. 400 (2011: ca. 350), davon ca. 200 gewaltorientiert (2011: ca. 100) Organisationsstruktur Heterogene Bewegung Veröffentlichungen "Inspire" ("erwecken", "begeistern") (Online-Magazin) [englischsprachig, erscheint mehrmals pro Jahr] "Al-Shamikha" ("die Stolze") (Online-Magazin für Frauen) [arabischsprachig] Der Begriff "Salafismus" bezeichnet eine auf wahhabitischem221 Gedankengut basierende Bewegung, die aus unterschiedlichen Strömungen besteht. Der so genannte "puristische Salafismus" verfolgt keine politischen Zielsetzungen und ist keine extremistische Bestrebung gemäß SS 5 Abs. 2 VSG Bln. Im Gegensatz hierzu stehen die islamistischen Strömungen des politischen und des jihadistischen Salafismus, die religiöse Gebote und Normen als verbindliche politische Handlungsweisen umdeuten und durchzusetzen versuchen. Sie sind besonders rigide Strömungen innerhalb des Islamismus. Ihre Anhänger verfolgen eine politische Ideologie, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und den Bestand unseres Staatswesens gerichtet ist. Der politische Salafismus agiert mit intensiver Propagandatätigkeit zur Verbreitung seiner Ideologie, die er als "Da'wa" (Missionierung) bezeichnet. Der jihadistische Salafismus setzt hingegen auf eine Strategie der Gewaltanwendung. Die Übergänge zwischen beiden Strömungen sind fließend. Ideologie Sowohl politische als auch jihadistische Salafisten bedienen sich religiöser Begriffe für ihre politische Agenda. Sie fordern eine Gesellschaft, die sich vermeintlich ausschließlich an den Prinzipien des Koran sowie dem vom Propheten Muhammad und den ersten Muslimen - den so genannten "rechtschaffenden Altvorderen" (arabisch: al-salaf al-salih) - 221 Der Wahhabismus ist im 18. Jahrhundert im heutigen Saudi-Arabien entstanden und geht auf den Gelehrten Muhammad Ibn Abd al-Wahhab (1703-1792) zurück. Hintergrundinformationen - Salafistische Bestrebungen 195 gesetzten Vorbild orientiert. Dies führt bei ihnen zu einer Absolutsetzung frühislamischer Herrschaftsund Rechtsformen. Jegliches Abweichen von dieser Norm, die als ursprünglicher und "wahrer Islam" propagiert wird, lehnen Salafisten als unstattgemäße Verfälschung bzw. "Neuerung" (arab. bid'a) ab. Ziel von politischen und jihadistischen Salafisten ist die vollständige Umgestaltung von Staat, Rechtsordnung und Gesellschaft nach einem salafistischen Regelwerk, das als "gottgewollte" Norm angesehen wird. Sie streben die Errichtung einer islamistischen Ordnung an, in der wesentliche Verfassungsprinzipien des deutschen Grundgesetzes keine Gültigkeit haben sollen. Die parlamentarische Demokratie soll als vermeintlich "unislamisch" und unvereinbar mit der Idee einer politisch verstandenen "Gottesherrschaft" abgeschafft werden: "Die Demokratie ist [...] nichts anderes als die Ergebenheit und Unterwerfung des Menschen gegenüber ein[em] bestimmten Kreis von Menschen, einer Elite. [...] Demokratie erachtet die Existenz Gottes und seiner Gebote für die Gesellschaft [als] nicht von Bedeutung. [...] Die Demokratie nimmt sich somit das Recht des Schöpfers. Es baut damit sein System auf das größte Unrecht auf, denn das größte Unrecht ist das Unrecht gegenüber dem Schöpfer [...]." 222 Ebenso unvereinbar mit unserer Verfassung ist die von den Salafisten geforderte Vorrangstellung des religiösen Gesetzes (Scharia) gegenüber der weltlichen Gesetzgebung: "Das islamische Gesetz [die Scharia] betrachtet den Herrscher im islamischen Staat als Verantwortlichen für die Durchführung der göttlichen Befehle [...]. So darf kein Mensch, so hoch er sein mag, diesen Regelungen entgegenwirken, oder ein Gesetz erlassen, das gegen sie verstoßen kann." 223 Ein weiteres wesentliches Element salafistischer Ideologie ist die strenge Unterscheidung zwischen "wahrhaft Gläubigen" (mu'minun) und vermeintlichen "Ungläubigen" (kuffar). Salafisten beziehen den Begriff der "Ungläubigen" zum einen auf Nicht-Muslime wie etwa Christen und Juden, zum anderen aber auch auf Muslime, die nicht die politischen und gesellschaftlichen Auffassungen im Sinne des Salafismus teilen. 222 Internetseite "Millatu-Ibrahim", Aufruf am 8.11.2011. (Fehler wie im Original). 223 Al-Sheha, Abdur-Rahman: Botschaft des Islam. Riad 2004, S. 128 f. Es handelt sich um eine deutschsprachige Veröffentlichung, die in Berlin in Umlauf gebracht wurde. 196 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Aktivitäten In Deutschland ist mittlerweile eine salafistische Szene entstanden, die aus zahlreichen Netzwerken besteht und vielfältige Aktivitäten entfaltet. Hierbei spielen auch Konvertiten eine zentrale Rolle. Die Aktivitäten umfassen die Verteilung von Broschüren und Flugblättern, die Publikation von Übersetzungen einschlägiger Rechtsgelehrter oder Vorträge von Predigern, regelmäßigen "Islamunterricht", so genannte "Islamseminare", bundesweit organisierte "Islam-Infostände", gelegentliche Fernsehauftritte sowie ein wachsendes Angebot von salafistischen Internetseiten in deutscher und türkischer Sprache. Videos zeigen zumeist junge Nicht-Muslime beim Übertritt zum Islam, darunter sogar Konversionen am Telefon. Von besonderer Bedeutung für die Verbreitung des Salafismus sind bundesweit aktive, so genannte "Prediger", unter ihnen auch Vertreter aus Berlin. Zu einiger Bekanntheit über die salafistische Szene hinaus ist der deutsche Konvertit Pierre Vogel alias "Abu Hamza" aus Bonn gelangt. Seine Predigten hält er häufig vor mehreren Hundert zumeist jugendlichen Zuhörern, an Großkundgebungen in Frankfurt und Hamburg 2011 nahmen über 1 000 Personen teil. "Prediger" wie Vogel versuchen, durch ihre Propaganda-Aktivitäten der Öffentlichkeit salafistische Positionen als vermeintlich islamisches Allgemeingut darzustellen und sich quasi einen Alleinvertretungsanspruch in Sachen "wahrer Islam" zu sichern. Radikalisierungsfördernde Aspekte Indem der Salafismus einen "Opfer-Mythos" der Muslime gegenüber "dem Westen" stilisiert, eine Höherwertigkeit seiner Anhänger gegenüber "den Ungläubigen" propagiert und zu einer Abschottung gegenüber Andersdenkenden aufruft, fördert er in besonderer Weise Radikalisierungsprozesse. Dies wird etwa durch das für Salafisten zentrale Konzept "Loyalität und Meidung" (al-wala' wa-al-bara') deutlich: "Es ist eine Bedingung [...] [des Bekenntnisses zum islamischen Monotheismus] für das Wohlgefallen Allahs zu lieben und für das Wohlgefallen Allahs abzulehnen. Dies ist die stärkste Verankerung des Glaubens, welche die Bedeutung von al-Wala und al-Bara verwirklicht. Dies bedeutet, dass ein Muslim seine muslimischen Brüder und Schwestern lieben und ihnen gegenüber loyal sein sollte. Er sollte sich gänzlich von den Gewohnheiten und Praktiken der Kuffar (Ungläubige i. S. des Islam) trennen und ablehnen, von ihnen beeinflusst zu sein, sowohl in weltlichen als auch in religiösen Angelegenheiten."224 224 Deutschsprachige salafistische Internetseite, Aufruf am 14.3.2012. Hintergrundinformationen - Salafistische Bestrebungen 197 Die Indoktrination durch salafistische "Prediger" oder entsprechende Inhalte im Internet hat häufig eine radikalisierende Wirkung auf Konvertiten und nicht-praktizierende Muslime, die die extremistische Ausrichtung dieser Ideologie meist nicht erkennen können. Ein Beispiel hierfür stellt der Fall von Arid U. dar, der sich durch salafistische Propaganda im Internet so stark radikalisierte, dass er 2011 am Frankfurter Flughafen den ersten islamistisch motivierten Terroranschlag in Deutschland beging, bei dem Menschen getötet wurden. Bei Arid U. handelt es sich um einen Einzeltäter, bei dem zuvor keine feste Anbindung an extremistische Strukturen festgestellt werden konnte. Dieser Fall verdeutlicht das Gefährdungspotenzial des Salafismus, der Radikalisierungsprozesse bis hin zur Ausübung terroristischer Aktivitäten fördern kann. Auffällig ist, dass fast alle islamistischen Terroristen mit Bezug zu Deutschland von der salafistischen Ideologie geprägt bzw. radikalisiert worden sind. Salafistische Strukturen in Berlin In Berlin sind Salafisten vor allem in zwei Moscheen aktiv. Dabei handelt es sich um die "As-Sahaba-Moschee" im Wedding und die "Al-Nur-Moschee" in Neukölln, die jedoch auch von vielen nicht-salafistischen Muslimen besucht wird. In der "As-Sahaba-Moschee" und der "Al-Nur-Moschee" gibt es zwei salafistische "Prediger", die bundesweit durch Vortragsreisen bekannt geworden sind und als charismatische Redner gelten. Von ihren deutschsprachigen Vorträgen fühlen sich junge Konvertiten und Muslime angezogen. Beide "Prediger" werben intensiv für ihre Aktivitäten mit eigenen Webseiten. Vor allem die mehrtägigen so genannten "Islamseminare" sind von Bedeutung. Sie dienen der Vermittlung salafistischer Ideologie, aber auch der Vernetzung der Salafisten untereinander und der Werbung neuer Anhänger. Die meisten der Berliner "Islamseminare" fanden bislang mit bekannten salafistischen "Predigern" aus dem Bundesgebiet in der "Al-Nur-Moschee" und der "As-Sahaba-Moschee" statt. An ihnen nahmen stellenweise mehrere Hundert Besucher teil. In Berlin werden zahlreiche salafistische Publikationen hergestellt und veröffentlicht. Neben dem "As-Sunna-Verlag", der diverse Medien salafistisch geprägter Autoren über einen Online-Shop anbietet225, wurden drei weitere Unternehmen in Berlin gegründet, die salafistische Werke verbreiten. Seit Anfang 2010 besteht die Firma "Stilus Design GmbH", die auch einen gleichnamigen Buchladen im Wedding eröffnet hat. Im Juni 2010 wurde ein weiterer Online-Verlag unter dem Namen "Islamische Schriften Verlag" gegründet. 225 Zum "As-Sunna-Verlag" vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 27 f. 198 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 4 Regional gewaltausübende Islamisten 4.1.1 "Hizb Allah" ("Partei Gottes") Entstehung / Gründung 1982 Beirut Mitgliederzahl Bund: ca. 950 (2011: ca. 950) Berlin: ca. 250 (2011: ca. 250) Veröffentlichungen "Al-Ahd - Al-Intiqad" ("Die Verpflichtung - Die Kritik") (überregional, wöchentlich) "Al-Manar-TV" ("Der Leuchtturm") Die schiitisch-islamistische "Hizb Allah" ("Partei Gottes") wurde 1982 gegründet, als Israel in den libanesischen Bürgerkrieg (1976-1989) militärisch eingriff. Aus ideologischen, regionalpolitischen und konfessionellen Motiven wird die hierarchisch strukturierte Bewegung vom Iran und von Syrien unterstützt, die sie als militärisches Drohpotenzial vor allem gegenüber Israel einsetzen und hierüber Stellvertreterkriege gegen Israel führen. Deren militärische und finanzielle Unterstützung bedingt auch die Sonderstellung der "Hizb Allah", die als einzige ehemalige Bürgerkriegsmiliz im Libanon eine schwer bewaffnete Armee, den so genannten "Islamischen Widerstand" ("al-Muqawama al-islamiya") unterhält.226 Seit ihrem Bestehen negiert die "Hizb Allah" das Existenzrecht Israels und propagiert den - von ihr als "legitimen Widerstand" bezeichneten - bewaffneten Kampf gegen Israel. Das Ziel der Vernichtung Israels ist fester Bestandteil ihrer Strategie, die sich an dem 1979 vom "Revolutionsführer" Khomeini propagierten anti-israelischen Kurs der "Islamischen Republik Iran" orientiert. Auch in ihrem 2009 veröffentlichen Manifest227 lehnt sie eine Anerkennung des jüdischen Staates und Kompromisse mit Israel ab. Ihr umfangreiches Waffenarsenal rechtfertigt sie mit der Verteidigung des Libanon vor israelischen Angriffen und dessen abschreckender Wirkung. 226 Im Jahre 2004 forderte der UN-Sicherheitsrat mit Resolution 1559 die Entwaffnung der "Hizb Allah"; auch die Resolution 1701, die am 14.8.2006 den Waffenstillstand im Libanon einleitete, hält die Forderung nach einer Entwaffnung aufrecht. 227 Die "Hizb Allah" präsentierte das Strategiepapier als Revision ihres Grundsatzmanifestes von 1985. Hintergrundinformationen - Regional gewaltausübende Islamisten 199 Im Juli 2006 löste die Entführung zweier israelischer Soldaten im israelisch-libanesischen Grenzgebiet einen mehrwöchigen Krieg zwischen der "Hizb Allah" und Israel aus, der Hunderte von zivilen Todesopfern und Verletzten forderte. Der anschließende Waffenstillstand wird seitdem von UN-Truppen überwacht. Hieran ist auch die deutsche Marine im Seeraum vor der libanesischen Küste beteiligt. Die "Hizb Allah" hat sich im Libanon als eine parteiähnliche politische Bewegung etabliert, die wegen ihrer sozialen Aktivitäten vor allem unter der ärmeren schiitischen Bevölkerung des Libanon Rückhalt genießt. Im Süden Beiruts wie auch im Südlibanon verfügt sie über quasistaatliche Strukturen. Im libanesischen Parlament ist sie seit 1992 vertreten; Minister der Organisation gehörten verschiedenen Kabinetten an. 2011 gelang die Bildung einer "Hizb Allah"-nahen Regierung. Die Anhänger der "Hizb Allah" in Deutschland verhalten sich weitgehend unauffällig. Eine hervorgehobene Rolle spielt das "Waisenkinderprojekt Libanon e.V." (WKP) mit Sitz in Göttingen. Das WKP vermittelt innerhalb der "Hizb Allah"-Anhängerschaft Patenschaften für libanesische Waisenkinder. Das WKP kooperiert mit der "Al-Shahid Association" (Märtyrer-Stiftung) im Libanon. Diese gehört zum sozialen Netzwerk der "Hizb Allah" und unterstützt Hinterbliebene von Kämpfern gegen Israel. Zu einem internationalen Streitfall wurde der parteieigene TV-Sender "al Manar" ("Der Leuchtturm"), durch den die "Hizb Allah" ihre militante "Widerstandsideologie" verbreitet. Fester Bestandteil im Programm des über Satellit auch in Deutschland zu empfangenen Senders ist die Propagierung des bewaffneten Kampfes, wobei vor allem die - von der Organisation als "Märtyrer-Operationen" verklärten - Selbstmordanschläge verherrlicht werden. Bezeichnend für die anti-israelische Hetze ist auch die vom Sender verbreitete Aussage des Generalsekretärs der "Hizb Allah", Hassan Nasrallah, dass "Israel in seiner Existenz vergehen werde". Die Propagandafilme beinhalten auch Bilder israelischer Attentatsopfer sowie Parolen wie "Gewiss wird Israel verschwinden". Wegen antisemitischer Propaganda sowie gegen Israel gerichteter Aufrufe zu Hass und Gewalt wurde 2004 die Ausstrahlung des Senders über den Satellitenanbieter Eutelsat unterbunden. 2008 erließ der Bundesminister des Innern darüber hinaus ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot gegen "al Manar", da der Sender das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern sowie von verschiedenen Ausländergruppen im Bundesgebiet, die öffentliche Sicherheit und Ordnung und sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährde. Ein öffentlicher Empfang des Senders ist damit untersagt. Zuvor war "al Manar" bereits in Frankreich und den USA verboten worden. 200 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Die "Hizb Allah" wird von den USA228 und Kanada229 jeweils auf der Liste terroristischer Organisationen geführt. In Großbritannien230 werden der militärische Flügel der "Hizb Allah" und in Australien231 die "External Security Organisation" (ESO) der "Hizb Allah" als terroristisch eingestuft. 4.1.2 "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS) Abkürzung HAMAS Entstehung / Gründung 1987 Gaza Mitgliederzahl Bund: ca. 300 (2011: ca. 300) Berlin: ca. 50 (2011: ca. 50) Die unter der Bezeichnung HAMAS bekannte "Bewegung des Islamischen Widerstands" wurde 1987 zu Beginn der ersten Intifada von Ahmad Yassin und Abd al-Aziz al-Rantissi gegründet. Ihre Wurzeln liegen in der palästinensischen Muslimbruderschaft, die in den 1980er Jahren ihre vorwiegend religiös-unpolitische Haltung aufgab, um sich fortan der Konfrontation mit Israel zu widmen. In ihrer Charta von 1988 verneint die HAMAS das Existenzrecht Israels und strebt die "Befreiung ganz Palästinas" durch bewaffneten Kampf sowie die Errichtung eines islamistischen Staatswesens an. Den 1993 begonnenen Oslo-Friedensprozess lehnt die HAMAS als "Ausverkauf palästinensischer Interessen" ab und konkurriert gleichzeitig mit der von der laizistischen FATAH dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde um die Führung der Palästinenser. Durch ihre Kritik an den Friedensverhandlungen der Autonomiebehörde mit Israel sowie durch den Aufbau eines effizienten Netzwerkes von sozialen und karitativen Einrichtungen entwickelte sich die HAMAS im innerpalästinensischen Machtgefüge zu einem bedeutenden politischen und gesellschaftlichen Faktor. Sie verhalf auf diese Weise dem Islamismus in den palästinensischen Gebieten zu breiter Akzeptanz. Bei den Kommunalwahlen 2004 und 2005 verzeichnete die HAMAS deutliche Erfolge und siegte überraschend auch bei den Parlamentswahlen 2006. Besonders hoch ist ihr Einfluss im Gaza-Streifen, wo sie seit Juni 2007 die alleinige Kontrolle ausübt. 228 www.state.gov, "Foreign Terrorist Organizations", Stand 28.9.2012, abgerufen am 23.1.2013. 229 www.publicsafety.gc.ca, "Listed entities pursuant to the Anti-Terrorism Act", Stand 20.11.2012, abgerufen am 23.1.2013. 230 www.homeoffice.gov.uk, "Proscribed Terrorist Organisations", Stand 23.11.2012, abgerufen am 23.1.2013. 231 www.nationalsecurity.gov.au, "Listing of terrorist organisations", Stand 17.8.2012, abgerufen am 23.1.2013. Hintergrundinformationen - Regional gewaltausübende Islamisten 201 Die Gewaltstrategie der HAMAS beinhaltet seit 1994 auch Selbstmordanschläge im israelischen Kernland, die von ihrem militärischen Flügel, den "Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden" durchgeführt werden. Diese als "Märtyrer-Operationen" verbrämten und mit einem "Recht auf Selbstverteidigung" begründeten Anschläge zielten vor allem auf die israelische Zivilbevölkerung. Nach dem Ausbruch der "al-Aqsa-Intifada" im September 2000 und der Verschärfung des israelisch-palästinensischen Konflikts nahmen die Selbstmordanschläge gegen israelische Ziele zunächst erneut zu, bevor sie durch die Errichtung umfassender Sperranlagen durch die israelische Regierung fast vollständig unterbunden werden konnten. Die "Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden" wurden im Juni 2002 in die EUListe terroristischer Organisationen aufgenommen; im September 2003 die Gesamtorganisation HAMAS. Seit 2006 betreibt die HAMAS einen eigenen Fernsehsender mit dem Namen "al-AqsaTV", der auch in Deutschland empfangen werden kann. Bereits Kinder werden im Nachmittagsprogramm islamistisch indoktriniert. Hauptbestandteile der Kindersendungen sind neben Gewaltverherrlichung vor allem Tötungsaufrufe und antisemitische Hetze. So werden Aufnahmen von vermummten Kindern ausgestrahlt, die Exerzierübungen mit Waffenattrappen ausführen und von den Moderatoren auf den militanten Jihad eingeschworen werden. Im Juni 2010 untersagte die französische Rundfunkaufsichtsbehörde CSA dem Satellitenanbieter Eutelsat deshalb die Ausstrahlung von "al-Aqsa-TV". Damit ist der Empfang des HAMAS-Senders in Deutschland eingeschränkt. In Deutschland tritt die HAMAS nicht offen auf. Ihre Anhänger treffen sich in Moscheen, Moscheevereinen und Islamischen Zentren. Als Berliner Treffpunkt von HAMAS-Anhängern gilt das "Islamische Kulturund Erziehungszentrum Berlin e.V." (IKEZ). Zur Unterstützung der HAMAS werden in einschlägigen Kreisen Spendenaktionen durchgeführt, deren Einnahmen für unterschiedliche Zwecke verwendet werden. Die Höhe und die tatsächliche Verwendung der eingesammelten Spenden lässt auch innerhalb der Anhängerschaft viel Raum für Spekulationen. 202 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 5 Gewaltbefürwortende Islamisten 5.1.1 "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung") Abkürzung HuT Entstehung / Gründung 1953 Jordanien 1987 Landesverband Berlin Mitgliederzahl Bund: ca. 300 (2011: ca. 300) Berlin: ca. 35 (2011: ca. 50) Organisationsstruktur 2003 vereinsrechtliches Betätigungsverbot Veröffentlichungen "Explizit" (überregional, bis Januar 2003) "Al-Wa'i" ("Bewusstsein") (überregional, monatlich) "Khalifa" / "Hilafet" ("Kalifat") (überregional, monatlich) Die 1953 in Jordanien von Taqi ad-Din an-Nabahani (1909 - 1977) gegründete "Hizb utTahrir" (HuT) ist eine pan-islamistische parteiähnliche Bewegung, die sich die weltweite Missionierung von Muslimen im Sinne ihrer Ideologie zum Ziel gesetzt hat. Ideologisch verfolgt die HuT eine universelle Staatsund Gesellschaftsdoktrin, die auf frühislamische und mittelalterliche Herrschaftskonzepte zurückgeht. Im Zentrum stehen die Betonung des pan-islamischen Gedankens (in der Behauptung der Existenz einer weltumfassenden islamischen Gemeinde, der "Umma") sowie die Forderung nach Errichtung einer weltweiten Kalifatsherrschaft. Erklärte Ziele der Organisation sind die Überwindung nationalstaatlicher Strukturen, die Vernichtung des Staates Israel, die Befreiung der muslimischen Welt von westlichen Einflüssen sowie die Einführung der Scharia als politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip. Die Ideologie der HuT kennzeichnet eine ausgeprägte Judenfeindschaft sowie die Rechtfertigung von Gewaltanwendung durch vermeintlich religiöse Bezüge. So werden Koranverse aus ihrem historischen Kontext herausgelöst und Begriffe wie "Jihad" (Bemühen, Kampf) fast durchgängig militant interpretiert. Hintergrundinformationen - Gewaltbefürwortende Islamisten 203 In den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wurde die HuT aufgrund ihrer radikalen Ausrichtung - insbesondere wegen ihrer Aufrufe zum gewaltsamen Umsturz der Regierungen - unmittelbar nach ihrer Gründung verboten. Seitdem operiert sie weitgehend im Geheimen; ihre Anhänger sind strikter Verfolgung ausgesetzt. Begründet werden die Maßnahmen mit der Beteiligung der HuT an Staatsstreichen - etwa in Jordanien (1968), Irak (1969), Ägypten (1974) sowie Syrien (1976). Nach eigener Darstellung ist die HuT in diesen Ländern wie auch in Kuwait aber weiter aktiv. Darüber hinaus agiert sie im zentralasiatischen Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan. Derzeitiger Vorsitzender ist der 1943 geborene Jordanier Ata Abu al-Rashta, dessen Aufenthaltsort im Libanon vermutet wird. In Deutschland trat die HuT vorwiegend in Universitätsstädten durch die Verteilung von Flugblättern und Zeitschriften in Erscheinung, in denen sie regelmäßig antiwestliche Positionen sowie massive antisemitische Hetze verbreitete. Am 10. Januar 2003 erließ der Bundesminister des Innern ein Betätigungsverbot gegen die HuT, welches das Bundesverwaltungsgericht am 25. Januar 2006 bestätigte.232 Das Urteil wurde damit begründet, dass die HuT mehrmals "zur gewaltsamen Beseitigung des Staates Israel und zur Tötung von Menschen aufgefordert" und auf diese Weise "der friedlichen Lösung der israelischpalästinensischen Interessensgegensätze entgegengewirkt" habe. In seiner Begründung verwies das Bundesverwaltungsgericht auch auf Art. 9 Abs. 2 GG, wonach Organisationen verboten werden, die sich gegen die Verfassung oder den Gedanken der Völkerverständigung richten. Seit dem Betätigungsverbot tritt die HuT in Deutschland nicht mehr offen auf. Die Mitglieder verhalten sich konspirativ und sind bestrebt, bei ihren Aktivitäten die Organisationszugehörigkeit zu verschleiern. 232 Vgl. BVerwG, Az.: 6A 6.05. 204 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 6 Legalistische Islamisten 6.1.1 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." Abkürzung IGMG Entstehung / Gründung 1985 Köln (als "Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e.V." / AMGT) Mitgliederzahl Bund: ca. 31 000 (2011: ca. 31 000) Berlin: ca. 2 900 (2011: ca. 2 900) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Kerpen Veröffentlichungen u.a. "IGMG Perspektive"/ seit Januar 2009 unter dem Titel "Perspektif" (überregional, monatlich) Die IGMG ist die größte islamistische Organisation in Deutschland. Ihr Vorläufer wurde 1985 unter der Bezeichnung "Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e.V." ("Avrupa Milli Görüs Teskilatlari" / AMGT) in Köln gegründet. Hieraus gingen 1995 die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) und die "Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft e.V." (EMUG) hervor. Die EMUG ist für die Verwaltung des Immobilienbesitzes der Vereinigung verantwortlich. Die islamistische Ausrichtung der "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V." geht auf das politische Konzept von Necmettin Erbakan zurück, das dieser 1973 in dem gleichnamigen Buch "Milli Görüs" ("Nationale Sicht") veröffentlichte. Erbakans Ziel war es, die türkischen Bürger unter dem Dach von Nationalismus und Islamismus zu einen und in der Türkei ein islamistisches Staatswesen zu errichten. Als politisches und gesellschaftliches Ordnungsmodell propagierte er eine "gerechte Ordnung" ("adil düzen"), in welcher die Scharia gilt und politisches Handeln sich an den Prinzipien von Koran und Sunna orientiert. Erbakan lehnte wesentliche rechtsstaatliche Prinzipien wie Volkssouveränität oder Parteienpluralismus als unvereinbar mit der "gerechten Ordnung" ab. Er forderte einen Systemwechsel nicht allein in der Türkei, sondern in der gesamten Welt: Hintergrundinformationen - Legalistische Islamisten 205 "Die "Milli Görüs-Bewegung ist eine Bewegung, die für den Beginn einer neuen gerechten Welt steht. [...] Die "Milli Görüs"-Bewegung ist der Beginn der Errichtung einer neuen Welt und setzt sich nicht nur für die Glückseligkeit der Menschen in der Türkei, sondern auf der ganzen Welt ein."233 Erbakan betrachtete den Islam als Gesellschaftsmodell, das sämtlichen westlichen Gesellschaftssystemen überlegen sein soll. Dieses Gesellschaftsmodell wird bis heute in der "Milli Görüs"-Bewegung propagiert, auch über den Tod von Erbakan am 27. Februar 2011 hinaus. So führte sein Nachfolger Mustafa Kamalak aus: "Die Ziele unseres Hocas werden auf jeden Fall verwirklicht. Was waren die Ziele unseres Hocas? Er hat eine lebenswerte Türkei, eine neue Groß-Türkei und eine neue Welt angestrebt. Es ist unsere Pflicht, diese Ziele zu verwirklichen.234 Die Ideologie der "Milli Görüs" spiegelt sich nicht nur in den Verlautbarungen der Funktionäre, sondern auch in der breiten Diskussion an der Basis - etwa in der "Milli Gazete" wider. Die türkische Tageszeitung, die mit einer Europa-Ausgabe in Deutschland erscheint, kann als inoffizielles Sprachrohr der "Milli Görüs"-Bewegung bezeichnet werden. So werden in einem in der "Milli Gazete" veröffentlichten Gedicht die Pflichten des "Milli Görüs"-Anhängers benannt. Von ihm wird erwartet, dass er sich mit ganzer Kraft für die Bewegung einsetzt, damit "der Islam zur Herrschaft gelangt". Das Ziel ist demnach die Errichtung eines islamistischen Staatswesens: "Der Milli Görüs Mann ... tut alles für die Ordnung (nizam), das Heil (selamet), die Wohlfahrt (refah), die Tugend (fazilet) und die Glückseligkeit (saadet) der Menschheit.235 ... weiß, dass der einzige Weg, der ihn zur Wahrheit (hak; auch: Gott) führt, in der Milli Görüs liegt; setzt sich für seine Zeitung, seinen Fernsehsender, seine Stiftung, seine Partei ein. ... trifft die notwendigen Maßnahmen dafür, dass der Islam zur Herrschaft gelangt, und ergibt sich in Gottes Willen."236 233 "Milli Gazete" vom 17./18.4.2010, S. 1 und 10. 234 "Milli Gazete" vom 14.3.2011. 235 Bei diesen türkischen Begriffen handelt es sich hier um Namensbestandteile ehemaliger "Milli Görüs"-Parteien, bis hin zur heute existierenden "Glückseligkeitspartei" (Saadet Partisi, SP). 236 "Milli Gazete" vom 9.6.2007, S. 17. 206 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Necmettin Erbakan hatte 1970 - auf der Grundlage der "Milli Görüs"-Ideologie - seine erste islamistische Partei in der Türkei gegründet. Er konnte trotz mehrmaliger Parteiverbote und anschließender Neugründungen eine Spaltung seiner Anhängerschaft bis 2001 verhindern. Interne Flügelkämpfe zwischen den so genannten Traditionalisten und den Erneuerern in der "Fazilet Partisi" (FP / "Tugendpartei") führten nach ihrem Verbot im Juni 2001 zur Gründung von zwei Nachfolgeparteien. Hierzu gehört die im Juli 2001 vom ehemaligen Vorsitzenden der "Tugendpartei", Recai Kutan, gegründete "Saadet Partisi" (SP / "Partei der Glückseligkeit"), in der sich die "Traditionalisten" wiederfinden, die sich zur "Milli Görüs"-Ideologie und deren Begründer Erbakan, der von Oktober 2010 bis zu seinem Tod auch Parteivorsitzender war, bekennen. Die zweite Nachfolgepartei stellt die - im August 2001 vom ehemaligen Istanbuler Oberbürgermeister und früheren Anhänger der FP, dem jetzigen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, gegründete - "Adalet ve Kalkinma Partisi" (AKP / "Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei") dar, die als politisches Lager der "Erneuerer" gilt. Zwischen der IGMG in Deutschland, Necmettin Erbakan und der SP bestehen - wie bei den anderen früher von Erbakan geführten Parteien - enge Verbindungen. Erbakan und andere SP Parteifunktionäre nahmen häufig an Veranstaltungen der IGMG teil. Darüber hinaus wurden in der Vergangenheit Funktionäre der IGMG in Ämter der islamistischen Parteien Erbakans in Ankara gewählt. So wurden 1995 drei ehemalige AMGT-Mitglieder als Abgeordnete der "Wohlfahrtspartei" in das türkische Parlament gewählt, unter ihnen Osman Yumakogullari, der bis 1995 Vorsitzender der "Milli Görüs" in Deutschland und Verantwortlicher der Deutschlandausgabe der "Milli Gazete" gewesen war. Die IGMG präsentiert sich in ihren offiziellen Verlautbarungen als eine auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehende Organisation, die sich für den Dialog zwischen türkischen Muslimen und der deutschen Gesellschaft einsetzt. Auch der Berliner Landesverband, dessen Vorstand von der IGMG-Zentrale ernannt wird, zeigt durch Teilnahme an zahlreichen Projekten Dialogbereitschaft. Von der islamistischen "Milli Görüs"-Ideologie Erbakans und dessen Nachfolger hat die IGMG sich bislang jedoch genauso wenig distanziert wie von der "Milli Gazete". In dieser Tageszeitung, die für den Zusammenhalt der "Milli Görüs"-Bewegung von zentraler Bedeutung ist und als ihr "inoffizielles Sprachrohr" gilt, fand sich immer wieder antisemitische Propaganda - etwa in der Leugnung des Holocausts: "Und die große Lüge. Diese Lüge ist die Legende, dass 6 Millionen Juden ermordet worden seien. Diese Legende, die zu einem Dogma und (wie es das Wort Holocaust auch als Bedeutung beinhaltet) in eine heilige Legende verwandelt wurde, wird dafür missbraucht, um das Unrecht von Hintergrundinformationen - Legalistische Islamisten 207 Israel in Palästina, im ganzen Mittleren Osten, in den USA und mit Hilfe der USA in der gesamten Weltpolitik [...] zu rechtfertigen. [...] Die Legende des Genozids an den Juden passte den Interessen von allen, denn von ihm als dem größten Genozid der Geschichte zu reden, bedeutete für die westlichen Kolonialisten, ihre eigenen Verbrechen in Vergessenheit geraten zu lassen, für Stalin dagegen bedeutete das, seine grausamen Ungerechtigkeiten unter den Teppich zu kehren."237 Der Antisemitismus wird häufig als Kritik am Zionismus formuliert. Neben den als "Imperialisten" bezeichneten westlichen Staaten ist aus "Milli Görüs"-Sicht die "zionistische Verschwörung" an den politischen Missständen schuld. Auch Necmettin Erbakan äußerte sich antisemitisch, indem er Juden das Ziel der Weltherrschaft unterstellt: "Seit 5700 Jahren regieren Juden die Welt. Es ist eine Herrschaft des Unrechts, der Grausamkeit und der Gewalt. Sie haben einen starken Glauben, eine Religion, die ihnen sagt, dass sie die Welt beherrschen sollen."238 Durch Mitgliedsbeiträge und Spenden verfügt die IGMG über erhebliche finanzielle Mittel. Dies ermöglicht ihr, eine Vielzahl von Aktivitäten anzubieten. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in der Erziehungsund Bildungsarbeit für Kinder und Jugendliche. Der damalige hessische Jugendvorsitzende führte hierzu in der "Milli Gazete" aus: "Stahl ist deshalb Stahl, weil sich darin keine Zusätze und keine Schlacken befinden; wir wünschen uns auch eine Jugend, die sich von außen nicht beeinflussen lässt, die zugunsten ihrer Ideale Opfer erbringen kann und die der Gesellschaft von Nutzen ist. Deswegen nennen wir dies 'Stählung'." 239 Der ehemalige Vorsitzende der IGMG-Jugend in Berlin betonte bei einem Jugendfest der IGMG in Berlin: "In Anbetracht all dieser Geschehnisse ist das einzige, was zu machen ist, die Verteidigung unserer Werte. Also, dass die Lösung im Islam und in der Milli Görüs liegt, ist offensichtlich."240 237 "Milli Gazete", Onlineausgabe vom 22.8.2006. Vgl. auch Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2006. Berlin 2007, S. 240. 238 Interview der Berliner Morgenpost mit Erbakan, online erschienen am 8.11.2010. 239 "Milli Gazete" vom 12.12.2006, S. 19. 240 "Milli Gazete" vom 12.6.2006, S. 18. 208 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Die zahlreichen Angebote sowie die Mitarbeit in islamischen Dachverbänden nutzt die IGMG auch für ihr Ziel, hinsichtlich der Interessenvertretung der in Deutschland lebenden türkischen Muslime eine Vorrangstellung einzunehmen. Im Oktober 2002 trat der Vorsitzende des IGMG-Hauptverbandes, Mehmet Sabri Erbakan, von seinem Amt zurück. Dieser Schritt, die deutliche Niederlage der SP von Necmettin Erbakan bei den türkischen Parlamentswahlen vom 3. November 2002 sowie der Wahlsieg der "Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei" (AKP) von Recep Tayyip Erdogan241 lösten in der IGMG in Deutschland eine Krise aus und führten zu internen Auseinandersetzungen zwischen "Traditionalisten" und "Reformern" über die zukünftige Ausrichtung der Organisation. Die darauf folgenden Parlamentswahlen am 22. Juli 2007 in der Türkei bestätigten das Wahlergebnis von 2002: Während die AKP mit rund 46 Prozent noch weiter an Stimmen gewann, erreichte die SP nur 2,3 Prozent. Bei den Parlamentswahlen am 12. Juni 2011 erreichte die Partei im landesweiten Durchschnitt lediglich 1,27 Prozent und scheiterte damit wiederholt an der 10 Prozent-Sperrklausel. Die "Traditionalisten" in der IGMG erwarten, dass die Organisation weiter auf die Verwirklichung politischer Ziele in der Türkei hinarbeitet und Erbakans Forderungen bzw. den Forderungen der SP nachkommt. Die "Reformer" hingegen fordern eine Neuausrichtung auf die veränderten Bedürfnisse vor allem der Anhänger der zweiten und dritten Generation in Europa, denen es um den Ausbau des religiösen und sozialen Angebots geht. Sie fordern eine Emanzipation von Erbakan und seiner Ideologie und wollen mehr Mitbestimmung in der IGMG durchsetzen. Die IGMG-Führung versucht, beiden Positionen gerecht zu werden, um eine Spaltung des Verbandes zu vermeiden. Eine programmatische Neuausrichtung der IGMG hat bisher nicht stattgefunden. Ungeachtet der vorgenannten Entwicklungen wurde am 26. Februar in Berlin eine Gedenkveranstaltung aus Anlass des ersten Todestages von Necmettin Erbakan mit etwa 2000 Teilnehmern durchgeführt. An der vom Vorsitzenden des Regionalverbands Berlin der IGMG eröffneten Gedenkveranstaltung erschien ein ehemaliger Abgeordneter der "Refah Partei" (RP) als Ehrengast. In seinem Redebeitrag stellte der Ehrengast fest, dass die Bewegung "Milli Görüs" früher oder später "ein gerechtes Regierungssystem242 in aller Welt einführen und der gesamten Menschheit Glück (Saadet)243 bringen" werde; Erbakan sei sterblich, seine Mission (dava) jedoch werde (ewig) Bestand haben. 241 Von ehemals 15,4 Prozent vor der Spaltung der FP sank das Ergebnis der SP auf 2,5 Prozent. Die AKP erhielt hingegen 34,2 Prozent der Wählerstimmen. 242 Gemeint ist offensichtlich die von Erbakan propagierte "gerechte Ordnung" ("adil düzen"). 243 Die Verwendung des türkischsprachigen Wortes "Glück" (Saadet) ist eine Anspielung auf die "Glückseligkeitspartei" (Saadet Partisi, SP). Hintergrundinformationen - Legalistische Islamisten 209 Ob der IGMG in Zukunft der Übergang von einer extremistischen zu einer demokratischen Organisation gelingen wird, bleibt abzuwarten. Noch handelt es sich bei der IGMG um eine Organisation, die in ihrer ideologischen Ausrichtung auch Ziele verfolgt, die mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht vereinbar sind. Erste Schritte in Richtung Reformbemühungen hat die IGMG bereits unternommen. Außerdem beteiligte sie sich an zahlreichen, in die Gesellschaft eingebettete Projekte. Bislang haben sich die unverkennbar vorhandenen Wandlungstendenzen jedoch noch nicht so weit durchgesetzt, dass insgesamt von einer programmatischen Neuausrichtung im Sinne einer Abkehr von den verfassungsfeindlichen Zielsetzungen gesprochen werden könnte. 6.1.2 "Muslimbruderschaft" / "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." Abkürzung MB IGD Entstehung / Gründung 1928 Ägypten (MB) 1960 Deutschland (IGD) Mitgliederzahl Bund: ca. 1 300 (2011: ca. 1 300) Berlin: ca. 100 (2011: ca. 100) Organisationsstruktur Eingetragener Verein (IGD) Veröffentlichungen "Risalat al-Ikhwan" (Rundschreiben der Bruderschaft) "Al-Islam" (Der Islam) (nur noch als Online-Version) Die 1928 in Ägypten von Hassan al-Banna gegründete "Muslimbruderschaft" (MB) ist die älteste arabische islamistische Gruppierung. Die pan-islamistische Organisation ist heute, teils unter anderen Namen, in fast allen Ländern des Vorderen Orients vertreten und unterhält auch Zweige in westeuropäischen Ländern. Ein öffentlich kaum bekanntes Gremium, die "Internationale Organisation", koordiniert in über 70 Ländern die Aktivitäten der verschiedenen nationalen MB-Vereinigungen. In Europa existieren zudem zahlreiche Institutionen, Verbände und Vereine, die direkt oder indirekt mit der MB verbunden sind. Die Zweige der "Muslimbruderschaft" in den arabischen Staaten entwickelten sich faktisch zu eigenständigen Organisationen, deren Agenda sich an den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen ihrer Heimatländer orientiert. Die syrische MB konnte bereits Ende der 1940er Jahre Vertreter ins Parlament und in mehrere Kabinette entsenden. Ende der 1960er Jahre übernahm eine Generation jüngerer Aktivisten die Führung und setzte 210 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 zunehmend auf terroristische Aktionen. Seit einem Aufstandsversuch in Hama 1982, den das Regime rücksichtslos niederschlug, ist die syrische MB eine reine Exilorganisation, ähnlich wie der irakische und libysche Zweig der Bruderschaft. Die jordanische MB nahm eine andere Entwicklung. Anstatt auf Gewalt zu setzen, strebt sie danach, ihre Ziele in Anlehnung an das Königshaus und innerhalb des ihr vorgeschriebenen Rahmens zu verwirklichen. Die ägyptische MB, größte der MB-Organisationen, durchlief verschiedene historische Phasen: In ihrer Frühphase in den 1920er und 1930er Jahren hatte für sie die Bildung und Erziehung der Gläubigen Vorrang. In den 1940er, 1950er und 1960er Jahren agierte sie militant und verübte zahlreiche Anschläge auf Vertreter des ägyptischen Staates. Höhepunkt der drei Jahrzehnte andauernden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen MB und dem Staat war die Hinrichtung von Sayyid Qutb 1966, des seinerzeit wichtigsten Vertreters des militanten Flügels der Organisation. Als nicht mehr gewaltorientiert gilt die ägyptische MB erst seit der Abspaltung ihrer militanten Flügel in den späten 1970er Jahren ("Takfir wa'l-Hijra"244 und "al-Jihad al-islami"). Darauf folgte eine Phase der Integration in das politische System. Der Entschluss der MB, ihre einstigen Vorbehalte gegen das "Parteienwesen" zu überwinden und sich in das politische System Ägyptens zu integrieren, wird teilweise als ein "Marsch durch die Institutionen" gewertet. Ideologisch verkörpert die MB ein breites Spektrum, das bis zur Schaffung einer so genannten "islamischen Demokratie" reicht. Aus den 1930er Jahren stammt der Anspruch der MB, dass es eine "Ordnung des Islams" gebe. Dieser relativ unkonkrete Anspruch definiert die islamische Religion als ein "System", das "zu jeder Zeit und an jedem Ort" anwendbar sein soll und das Koran und Sunna zur Richtschnur politischen Handelns erhebt. Hieraus leitet die MB die Forderung nach einer umfassenden "Anwendung der Scharia", des islamischen Rechts, und nach Schaffung eines islamistischen Staatswesens ab. Da in diesem Religion und Staat nicht getrennt sein sollen, würde das von der MB angestrebte Staatswesen der westlichen Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zuwiderlaufen. Die islamistische Ausrichtung der Organisation zeigte sich auch in ihrem ersten 'Parteiprogramm' von 2007. Hierin schloss die Organisation Frauen und Christen von den Ämtern des Präsidenten sowie des Premierministers aus. Ferner sah sie einen "religiösen Rat" mit bindenden Entscheidungen neben dem Parlament vor245 Die Haltung der MB zur Gewalt ist ambivalent. Zwar lehnt sie seit den 1970er Jahren Gewaltanwendung zur Durchsetzung ihrer politischen Agenda ab. Andererseits befürwor244 Wörtl. "Exkommunizierung [des bestehenden Gesellschaftssystems] und [innere] Emigration". 245 Vgl. "Der Tagesspiegel" vom 29.10.2007. Hintergrundinformationen - Legalistische Islamisten 211 tet die MB Gewalt im israelisch-palästinensischen Konflikt. Hier rechtfertigt sie den militanten Jihad mit einer Verteidigungssituation und erklärt ihn für vermeintlich legitim. In einschlägigen Äußerungen führender MB-Vertreter, die bis zur Verneinung des Existenzrechts Israels reichen, werden Jihad und Selbstmordanschläge mit der militärischen Unterlegenheit der Palästinenser gegenüber Israel sowie mit dem vermeintlich militärischen Charakter der israelischen Gesellschaft begründet. So erklärte Muhammad Mahdi Akif, Vorgänger des derzeitigen "Obersten Führers" der ägyptischen MB, Muhammad Badia, noch 2006, dass es "für Israels Existenz in der Region keinen Grund" gebe.246 Von den politischen Umbrüchen des "Arabischen Frühlings", die in Ägypten zum Sturz des Präsidenten Mubarak führten und nach Jahrzehnten politischer Stagnation erstmals freie Wahlen ermöglichten, profitierte die bis dahin verbotene MB. Ihre neu gegründete "Freiheitsund Gerechtigkeits-Partei" ("Hizb al-Hurriya wa'l-Adala") errang bei den Parlamentswahlen 2011 auf Anhieb 45,7 Prozent der Stimmen und stellt 235 der insgesamt 498 Abgeordneten. Zusammen mit der salafistischen "Nur-Partei" ("Hizb al-Nur"), die 24,6 Prozent der Stimmen (123 Sitze) erreichte, verfügen beide islamistische Parteien über eine Mehrheit von mehr als 70 Prozent der Sitze. Bei den Wahlen im Februar 2012 zur zweiten Kammer, der Schura-Versammlung, konnten sich die Islamisten ebenfalls durchsetzen. Die MB errang 105, die Salafisten 45 von insgesamt 180 Sitzen. Auch bei der Präsidentschaftswahl konnte die MB einen Sieg erringen. Nachdem der erste Wahlgang Ende Mai 2012 noch keine Entscheidung brachte, konnte sich der Kandidat der MB, Muhammad Mursi, in einer Stichwahl Mitte Juni 2012 mit einer knappen Mehrheit von 51,7 Prozent der Stimmen durchsetzen. Mursi, der der MB seit seiner Studentenzeit 1977 angehört und über gute Kontakte zu ihren führenden Repräsentanten verfügt, gilt als Pragmatiker, der die unterschiedlichen Flügel seiner Organisation zu integrieren vermag. Mursi als Präsident, sowie die hinter ihm stehende MB, haben sich in vielen Fragen hin pragmatisch gezeigt. So erklärten sie wiederholt, die Kopten nicht ausgrenzen und alle internationalen Verträge - d.h. auch den 1977 geschlossenen Friedensvertrag mit Israel - respektieren zu wollen. Mit der Wahl Mursis hat sich die Lage in Ägypten jedoch keineswegs stabilisiert. Die wichtigsten innenpolitischen Fragen, die während des Jahres 2012 energischen Widerspruch von Seiten der Opposition und schwere Auseinandersetzungen auf der Straße provozierten, waren die Vollmachten des Präsidenten, die Unabhängigkeit der Justiz und die 246 Vgl. "al-Hayat" (arab.) vom 6.10.2006. 212 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Verabschiedung der neuen Verfassung. Hinzu kommt eine sich stetig verschlechternde wirtschaftliche Situation und damit einhergehend die Zuspitzung der sozialen Lage der Bevölkerung. Die mitgliederstärkste Organisation von MB-Anhängern in Deutschland ist die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD), die aus der 1960 in München von dem ägyptischen MB-Mitglied Said Ramadan gegründeten "Moscheebau-Kommission e.V." hervorging. Die IGD existiert seit 1982 unter ihrer heutigen Bezeichnung. Sie ist Mitgliedsorganisation des in Großbritannien ansässigen Dachverbands MB-naher europäischer Organisationen und Verbände, der "Föderation Islamischer Organisationen in Europa" (FIOE). Die IGD war bis Mai 2010 mittelbar an der Deutschen Islam Konferenz (DIK) beteiligt.247 Mit gewaltbefürwortenden Äußerungen tritt sie bisher nicht in Erscheinung. Von 2002 bis Anfang 2010 wurde die IGD von Ibrahim El-Zayat geleitet, der eine Zugehörigkeit zur MB bestreitet. Seit Anfang 2010 ist Samir Falah neuer Präsident der IGD. Da El-Zayats Nähe zur MB mittlerweile der Öffentlichkeit weitestgehend bekannt ist, könnte sein Rückzug durch taktische Erwägungen begründet gewesen sein. Die IGD hat Verbindungen zu einer Reihe von Vereinen. In Berlin zählen hierzu das "Interkulturelle Zentrum für Dialog und Bildung e.V." (IZDB), das "Islamische Kulturund Erziehungszentrum e.V." (IKEZ) sowie der "Verband Interkultureller Zentren e.V." (VIZ). 247 Die IGD ist eine der Gründungsorganisationen des "Zentralrats der Muslime in Deutschland" (ZMD), der auf der DIK vertreten ist. Hintergrundinformationen -Sonstige Islamisten 213 7 Sonstige Islamisten 7.1.1 "Tabligh-i Jama'at" / "Jama'at-i Tabligh" ("Gemeinschaft der Verkündigung und Mission") Abkürzung TJ JT Entstehung / Gründung 1927 Indien Mitgliederzahl Bund: ca. 700 (2011: ca. 700) Berlin: ca. 40 (2011: ca. 50) Die 1927 in Indien von Muhammad Ilyas (1885 - 1944) gegründete "Tabligh-i Jama'at" (TJ) ist eine Missionierungsbewegung, die hierarchisch organisiert ist und weltweit mehrere Millionen Anhänger umfasst. Ihr organisatorisches und geistiges Zentrum hat die TJ in Indien, Pakistan und Bangladesch, von wo aus die weltweiten Aktivitäten der TJ gesteuert werden. In diesen Zentren werden TJ-Mitglieder aus der ganzen Welt geschult. Die europäische Zentrale der TJ befindet sich in Großbritannien. In Deutschland sind mehrere TJ-Gruppen aktiv, darunter auch in Berlin. Zu den Aktivitäten der TJ gehören Missionsreisen, auf denen Muslime von der Ideologie der TJ überzeugt und als Mitglieder rekrutiert werden sollen. Die einzelnen TJ-Gruppen werden von der Führung in Asien hinsichtlich ihrer Missionierungstätigkeiten kontrolliert. In Pakistan findet jährlich ein Welttreffen mit mehreren hunderttausend Anhängern statt. Politisches Ziel der TJ ist die "Durchsetzung der Scharia". Ihre spezifische Interpretation des islamischen Rechts hat weitreichende politische, gesellschaftliche und rechtliche Konsequenzen. Die TJ orientiert sich vor allem an frühislamischen Vorschriften und Lebensgewohnheiten, wie sie im siebten Jahrhundert in Mekka und Medina vorherrschten. Ihr Bemühen, eine muslimische Idealgesellschaft nach dem Vorbild des Frühislam zu schaffen, schließt ein weitgehend wörtliches Verständnis des Koran und der Sunna ein. Dies hat zur Konsequenz, dass ihre gegenwärtige Vorstellungswelt von der Abgrenzung gegenüber Nicht-Muslimen und der Befürwortung der rechtlichen Benachteiligung der Frau geprägt ist. 214 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Erfolgreich Missionierten werden häufig mehrmonatige Schulungsveranstaltungen in pakistanischen Koranschulen vermittelt. Solche intensiven Schulungen sind geeignet, die Teilnehmer zu indoktrinieren und für militant-islamistisches Gedankengut empfänglich zu machen. In Einzelfällen haben Schulungsteilnehmer anschließend den Weg in "Mujahidin"-Ausbildungslager in Afghanistan gefunden. Auch wenn die Bewegung nach eigenem Bekunden Gewalt ablehnt und sich als unpolitisch darstellt, ist die Gefahr gegeben, dass sie aufgrund ihres Bestrebens nach Durchsetzung frühislamischer Rechtsverhältnisse sowie ihrer weltweiten Missionierungstätigkeit islamistische Radikalisierungsprozesse befördert. 2012 fanden zwei "Deutschlandtreffen" der TJ statt. Während rund 250 Personen die Veranstaltung im Februar in Frankfurt a.M. besuchten, nahmen im Juni am Treffen in Hamburg etwa 400 Personen teil. Hintergrundinformationen - Rechtsextremismus 215 8 Rechtsextremismus 8.1 Aktionsorientierter Rechtsextremismus 8.1.1 Netzwerk "Freie Kräfte" (vorm. Netzwerk Kameradschaften) Das Netzwerk "Freie Kräfte" ist ein loser, hoher Fluktuation unterworfener Zusammenschluss von ca. 160 Rechtsextremisten, die anlassbezogen politisch agieren. Sie nehmen an Demonstrationen teil, erstellen und verbreiten Flugblätter, organisieren politische Schulungen und sind im Internet aktiv. Obwohl sich das Netzwerk "Freie Kräfte" in den letzten Jahren vor allem personell gewandelt hat, sind dessen regionale und informelle Grundstrukturen ebenso wie die Anzahl der rechtsextremistischen Aktivisten weitgehend identisch geblieben. In den letzten Jahren haben sich die Aktionsund Organisationsformen der "Autonomen Nationalisten" (siehe unten) zu den alles bestimmenden Wesensmerkmalen des ehemals von Kameradschaften dominierten Netzwerkes "Freie Kräfte" entwickelt. Kameradschaften, die zuvor noch die Strukturen des Netzwerkes beherrschten, spielen derzeit keine Rolle mehr. Durch polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Maßnahmen sowie durch Vereinsverbote, wie zuletzt 2009 gegen "Frontbann 24", wurden die Kameradschaftsstrukturen soweit geschwächt, dass diese zurzeit in Berlin faktisch nicht mehr existieren. Aktiv sind die Angehörigen des Netzwerkes "Freie Kräfte" vor allem in den Bezirken Lichtenberg, Treptow-Köpenick und Neukölln. 8.1.2 "Autonome Nationalisten" Seit 2002 ist innerhalb des Netzwerkes "Freie Kräfte" in Berlin die Tendenz zu beobachten, sich hinsichtlich Habitus, Organisationsund Aktionsformen dem Stil autonomer Linksextremisten anzunähern. Von den traditionellen "Kameradschaften" grenzen sich diese rechtsextremistischen Personenzusammenschlüsse durch einen niedrigschwelligen Zugang, ein jugendnäheres Erscheinungsbild und ein aggressiveres Auftreten ab. Diese Entwicklung erklärt sich aus einer Art "Gegenwehr" zur linken "Antifa" und als Reaktion auf staatlichen Repressionsdruck. 216 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Als Bezeichnung für diese Rechtsextremisten modernen Typs, die von Außenstehenden und teilweise auch von Szeneangehörigen kaum von Linksautonomen zu unterscheiden sind, hat sich der Begriff "Autonome Nationalisten" (AN) durchgesetzt. Auf Eigennamen wird meist verzichtet, stattdessen werden unterschiedlichste "Labels" wie "Freie Kräfte Berlin" oder "Nationaler Widerstand Berlin" verwendet.248 Den AN zugerechnet werden Personen, die sich auf der Grundlage neonazistischer (vorzugsweise nationalrevolutionärer und kapitalismuskritischer) Ideologiefragmente in informellen und teilweise konspirativen Gruppenstrukturen vernetzen, die spontan mobilisierbar und situativ handlungsfähig sind. Sie agieren nicht streng hierarchisch. Ihre Handlungsfähigkeit basiert vielmehr auf einem funktionierenden Informationsund Kommunikationsnetzwerk. Die Führungspersönlichkeiten in diesem Netzwerk koordinieren den Informationsfluss unter den Aktivisten. "Autonome Nationalisten" führen politische Aktionen im öffentlichen Raum durch, die den Charakter von Machtdemonstrationen besitzen und sich vornehmlich gegen den politischen Gegner ("Anti-Antifa") richten. Dabei wird Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung unter Berufung auf ein abstraktes "Selbstverteidigungsrecht" legitimiert. Die Aktivitäten der AN erschöpfen sich jedoch nicht in der Konfrontation mit der linken "Antifa". Neben der Verbreitung neonazistischer und antikapitalistischer Propaganda ist eine aggressive Fremdenfeindlichkeit zu einem festen Bestandteil ihres Ideologieund Aktionsspektrums geworden. In Berlin hatte sich zunächst eine Doppelstruktur aus AN und sonstigen Aktivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte" etabliert. Zunehmend wurden allerdings die äußere Erscheinung ebenso wie die konspirativen Organisationsformen der "Autonomen Nationalisten" auch durch die sonstigen "Freien Kräfte" adaptiert. Dadurch und durch ein insgesamt rückläufiges Personenpotenzial aktionsorientierter Rechtsextremisten präsentierte sich das gesamte Netzwerk "Freie Kräfte" im vergangenen Jahr als einheitliches informelles Netzwerk, das insgesamt im Stil "Autonomer Nationalisten" agiert. 8.1.3 Neonazis Neonationalsozialisten (Neonazis) orientieren sich am historischen Nationalsozialismus, wie er von der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP) zwischen 1920 und 1945 vertreten wurde. Wie in der NSDAP sind auch im Neonazi-Spektrum unterschiedliche ideologische Strömungen festzustellen. So gibt es Bezüge zum sozialrevolutionären Flügel innerhalb des Nationalsozialismus und dem damit verbundenen Antikapitalismus 248 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Lageanalyse: "Autonome Nationalisten". Berlin 2008. Hintergrundinformationen - Rechtsextremismus 217 Ernst Röhms und der Gebrüder Strasser. Allen Versionen des Neonationalsozialismus ist die Glorifizierung der Führungspersonen des NS-Regimes und die Verharmlosung der NSVerbrechen gemein. Neonazis sind bundesweit und auch in Berlin in nahezu allen rechtsextremistischen Personenzusammenschlüssen aktiv. 8.1.4 Skinheads Die Subkultur der Skinheads249 wird oft mit jugendlichem Rechtsextremismus gleichgesetzt. Dies ist eine unzutreffende Verkürzung, da die Skinheads zunächst eine jugendliche Subkultur wie die der Punks, Hippies oder Raver darstellen. Rechtsextremistische Skinheads, wie sie sich seit Anfang der 1980er Jahre in Deutschland aus der zunächst unpolitischen Skinhead-Subkultur heraus entwickelten, sind zum großen Teil organisationsfeindlich eingestellt und lehnen eine Einbindung in feste (Partei-) Strukturen ab. Versuche rechtsextremistischer Parteien, das Skinhead-Potenzial dauerhaft an sich zu binden (z.B. durch die "Aktionsfront Nationaler Sozialisten" Anfang der 80er Jahre, die "Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei" (FAP) Mitte der 80er Jahre oder die "Nationale Alternative" Anfang der 90er Jahre), scheiterten. Einen weiteren Versuch machte die NPD mit ihrem "Drei-Säulen-Konzept"250. Im Gegensatz zu den Parteien, die von den rechtsextremistischen Skinheads überwiegend als szenefremd wahrgenommen werden, konnten sich in Deutschland seit Anfang der 90er Jahre zwei rechtsextremistische Skinhead-Zusammenschlüsse etablieren: "Blood & Honour"251 und die "Hammerskins". 8.1.5 Rechtsextremistische Musik Rechtsextremistische Musik kombiniert rechtsextremistische Texte mit verschiedenen Musikstilen (u.a. Rock / Hardrock, Liedermacher, Schlager, Volkslieder).252 Die Musik-Szene ist seit Mitte der 90er Jahre einer der dynamischeren Bereiche des Rechtsextremismus. Im strukturarmen aktionsorientierten Rechtsextremismus stellt sie - und hier besonders durch die Konzerte und zunehmend auch im Rahmen von Internetforen und -radios - eine wichtige Kommunikationsplattform dar. Für den Einzelnen bietet die Mitgliedschaft in einer Band oder die Moderation einer Radiosendung im Internet zudem die Möglichkeit, sich innerhalb der Szene zu profilieren. 249 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Rechtsextremistische Skinheads. Berlin 2003. 250 Siehe S. 221 f. 251 "Blood & Honour" wurde 2000 vom Bundesminister des Innern in Deutschland verboten. 252 Oft verwendete Schlagwörter wie "Rechtsrock" oder "Skinhead-Musik" sind unpräzise, da sie entweder nur einen kleinen Teil rechtsextremistischer Musik bezeichnen (Rechtsrock) oder aber mit ihr nicht deckungsgleich sind. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Im Fokus: Rechtsextremistische Skinheads. Berlin 2003, S. 56 ff. und Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Info: Rechtsextremistische Musik. Berlin 2012. 218 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Eng mit dem Bedeutungszuwachs der Musikszene war in den 90er Jahren der Aufstieg der "Blood & Honour"-Organisation253 (B & H) verbunden. Strategisch denkende Köpfe wie der B & H-Gründer Ian Stuart Donaldson versuchten, die Musik als Mittel der ideologischen Beeinflussung und Rekrutierung einzusetzen. Diese Strategie war nur begrenzt erfolgreich, da eine Rekrutierung für die Szene selten über das alleinige Hören rechtsextremistischer Musik erfolgt. Hierfür ist der persönliche Kontakt, wie er beispielsweise auf Konzerten zustande kommt, wichtiger. Mit der Etablierung professioneller Händler, die die Szene mit Tonträgern und Szenebedarf (vor allem Bekleidung) versorgen, gewann der Musikbereich zunehmend auch finanzielle Bedeutung für den aktionsorientierten Rechtsextremismus. Die Aktivitäten der rechtsextremistischen Musikszene in Berlin erreichten Mitte der 90er Jahre ihren Höhepunkt. Zugleich erhöhten die Sicherheitsbehörden den Verfolgungsdruck auf die Szene: Rechtsextremistische Veranstaltungen wurden aufgelöst, Tonträger indiziert und Hausdurchsuchungen durchgeführt. Mit der Verurteilung der Mitglieder der Band "Landser" im Dezember 2003 wurde erstmals eine Band als kriminelle Vereinigung eingestuft.254 Obwohl dieses Urteil durchaus Wirkung zeigte und sich die rechtsextremistische Musikszene seitdem darum bemüht, jugendgefährdende und strafrechtlich relevante Aussagen zu vermeiden, wie das Beispiel der "Landser"-Nachfolgeband "Die Lunikoff-Verschwörung" zeigt, geraten immer wieder Bands in den Fokus der Strafverfolgungsbehörden. In Berlin betrifft dies insbesondere die Band "Deutsch, Stolz, Treue" (D.S.T. bzw. X.x.X.). Sämtliche Alben der Band wurden durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert und drei Mitglieder der Band im September 2011 wegen Volksverhetzung zu mehrmonatigen Freiheitsstrafen verurteilt.255 Neu erschienene Tonträger rechtsextremistischer Bands und Liedermacher werden regelmäßig vom Verfassungsschutz an die Polizei zur Prüfung möglicher strafrechtlicher Inhalte weitergeleitet. Außerdem wird die Jugendgefährdung, die von rechtsextremistischer Musik ausgeht, berücksichtigt und eine Indizierung der Tonträger durch die BPjM angeregt. 253 "Blood & Honour" (B & H) wurde 2000 vom Bundesminister des Innern in Deutschland verboten. B & H- Strukturen sind in Berlin nicht mehr vorhanden. 254 Urteil des KG Berlin vom 22.12.2003, Az: (2) 3 StE 2/02-5(1) (2/02). Das Urteil des KG Berlin wurde im März 2005 im Wesentlichen durch den BGH bestätigt. Az: 3 StR 233/04. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, S. 46 - 48. 255 Nicht nur Bands treten strafrechtlich in Erscheinung. Im vergangenen Jahr wurde auch ein rechtsextremistischer Liedermacher aus Berlin u.a. wegen des volksverhetzenden Inhalts seiner Liedtexte zu einer mehrmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. S. S. 73 f. Hintergrundinformationen - Rechtsextremismus 219 Folgt die BPjM diesen Anregungen, unterliegen die indizierten Tonträger strengen Vertriebs-, Verbreitungsund Werbebeschränkungen und sind für Jugendliche unter 18 Jahren nicht zu erwerben. Neben der Produktion und dem Vertrieb von Tonträgern kann die Ausrichtung von Konzerten als zweite tragende Säule der rechtsextremistischen Musikszene betrachtet werden. In Berlin ist der rechtsextremistische Konzertbetrieb aufgrund des konsequenten Vorgehens der Sicherheitsbehörden in den vergangenen Jahren weitgehend zum Erliegen gekommen. Die Berliner Bands haben ihre Auftritte überwiegend ins Bundesgebiet und ins Ausland verlegt. 8.2 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus 8.2.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" Abkürzung NPD Entstehung / Gründung Bund: 1964 Landesverband Berlin: 1966 Mitgliederzahl Bund: ca. 6 000 (2011: ca. 6 300) 256 Berlin: ca. 250 (2011: ca. 250) Organisationsstruktur Partei Sitz Berlin Veröffentlichungen "Deutsche Stimme" (überregional, monatlich, Auflage ca. 25 000) "Zündstoff - Deutsche Stimme für Berlin und Brandenburg" (regional, unregelmäßig vierteljährlich) Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) ging 1964 aus der rechtsextremistischen "Deutschen Reichspartei" (DRP) hervor. Der Vorsitzende der DRP, Adolf von Thadden, war Initiator der NPD-Gründung und von 1967 bis 1971 deren Vorsitzender. Die NPD verfügt mit den "Jungen Nationaldemokraten" (JN) über eine Jugendund mit dem "Ring Nationaler Frauen" (RNF) über eine Frauenorganisation. Darüber hinaus existiert die "Kommunalpolitische Vereinigung" (KPV) als Organisation für die kommunalen Mandatsträger der NPD sowie ein eigener "Ordnerdienst". 256 Inklusive der "Jungen Nationaldemokraten" (JN): 50 Mitglieder in Berlin, 350 bundesweit. 220 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Bestehende innerparteiliche Interessengruppen wie der "Arbeitskreis Christen" und der "Arbeitskreis Russlanddeutscher" besitzen keine Relevanz. Als Parteizeitung vertreibt die NPD die Monatsschrift "Deutsche Stimme" (DS) und ist an der "Deutsche Stimme Verlags GmbH" beteiligt. Die Partei, deren Bundesgeschäftsstelle sich seit 2000 in Berlin befindet, verfügt über 16 Landesverbände. Der Berliner Landesverband untergliedert sich in acht Kreisverbände, von denen allerdings etwa die Hälfte zurzeit keine Aktivitäten entfaltet. Nachdem die Partei 2006 mit 11 Verordneten in vier Berliner Bezirksverordnetenversammlungen (BVVen) einziehen konnte, verlor sie bei den Berliner Wahlen 2011 knapp die Hälfte ihrer kommunalpolitischen Mandate. Aktuell ist sie mit jeweils zwei Verordneten in den BVVen von Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick vertreten. Die NPD vertritt fremdenfeindliche, rassistische und antisemitische Positionen. Regelmäßig ergießt sich das Gedankengut der Partei in der öffentlichen Verbreitung von negativen Stereotypen und Beleidigungen. Nicht selten gipfeln die Argumentationen der Partei darin, den hiervon Betroffenen das Recht auf ein gleichberechtigtes Leben in Deutschland abzusprechen: "Natürlich ist der Islam heute die deutlichste Erscheinungsform der Überfremdung, deshalb wenden wir uns auch entschieden gegen den Bau von Moscheen. Aber wir wollen die Muslime nicht missionieren. Auch wenn sich die Türken in Deutschland morgen taufen lassen, bleiben sie Türken und bleiben hier ethnisch-kulturelle Fremdkörper."257 Offen antisemitische Stellungnahmen sind aus den Reihen der Partei immer seltener zu vernehmen. Allerdings dient diese Beschränkung lediglich der Vermeidung strafrechtlicher Konsequenzen. Dessen ungeachtet lässt sich aus den vordergründig als Israel-Kritik getarnten Stellungnahmen führender NPD-Vertreter oder deren geschichts-revisionistischen Äußerungen unschwer der in der Partei tief verwurzelte Antisemitismus herauslesen: "Selbstverständlich nehmen wir uns das Recht heraus, die Großmäuligkeit, Arroganz und die ewigen Finanzforderungen des Zentralrats der Juden in Deutschland zu kritisieren. Juden unterliegen keinem Kritikverbot. Wir lassen uns von der Holocaust-Industrie - ein Wort des Juden Norman Finkelstein - über 65 Jahre nach Kriegsende moralisch nicht erpressen, politisch nicht bevormunden und finanziell nicht ausnehmen. [...] Die von jüdischer Seite seit mehr als 65 Jah257 Holger Apfel, Interview mit "Zuerst Deutsches Nachrichtenmagazin", Ausgabe 10/2011, S. 40. Hintergrundinformationen - Rechtsextremismus 221 ren penetrant betriebene Schuldanklage und die ewige jüdische Opfertümelei muß sich kein Deutscher gefallen lassen. Die psychologische Kriegsführung jüdischer Machtgruppen gegen unser Volk muß ein Ende haben. Es ist zu offensichtlich, dass die Holocaust-Industrie die Deutschen mit moralischen Vorwänden immer wieder finanziell auspressen und politisch gefügig machen will."258 Aus ihrer Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung macht die Partei keinen Hehl. Ihrem Selbstverständnis als Fundamentalopposition und "sozialrevolutionärer Erneuerungsbewegung" entsprechend, sieht sie ihren zentralen Auftrag im Kampf gegen das demokratische System, dessen Institutionen und Vertreter: "Angriff heißt die Parole, aber nicht blind agieren. [...] Die NPD hat nichts anderes als Auftrag als Werkzeug zu sein, politisches Werkzeug um einen Maximalschaden - keinen Kollateralschaden, damit sind wir nicht zufrieden - wir wollen den Maximalschaden dieses Parteienstaates, der nichts anderes ist als der verlängerte Arm Usraels, meine sehr verehrten Damen und Herren."259 Wenig konkret wird die Partei bei der Darstellung ihrer Alternativen zu der von ihr so verhassten freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Allerdings durchziehen ein völkischer Kollektivismus und die Vorstellung einer ethnisch homogenen "Volksgemeinschaft" alle entsprechenden Gedankenspiele: "Die NPD stellt die Systemfrage, sie will den sozialen, demokratischen und nationalen Volksstaat schaffen und stellt dieses Ideal der etablierten 'Demokratie-Karikatur' entgegen."260 Wenige Jahre nach ihrer Gründung verzeichnete die NPD mit dem Einzug in mehrere Landesparlamente ihre ersten Erfolge. Den Höhepunkt in dieser Phase erlebte die NPD im Jahr 1969, als sie bei der Bundestagswahl mit 4,3 Prozent der Stimmen nur knapp den Einzug in den Deutschen Bundestag verpasste. Danach kam es aufgrund innerparteilicher Querelen zu einem Bedeutungsverlust der Partei. Der 1996 zum Parteivorsitzenden gewählte Udo Voigt versuchte mit einem "Drei-Säulen-Konzept" eine strategische Neuausrichtung und Wiederbelebung der NPD zu erreichen.261 Demnach konzentriert sich die Arbeit auf drei Ebenen: den "Kampf um die Straße", den "Kampf um die Köpfe" und 258 "Wortgewandt: Argumente für Mandatsund Funktionsträger", NPD-Parteivorstand (Hrsg.), Berlin 2012, S. 16 f. 259 Udo Pastörs, Videomitschnitt einer Rede beim politischen Aschermittwoch der NPD Saarland, 25.02.2009. Mit "Usrael" sind die USA und Israel gemeint. 260 "Heimat bewahren, Freiheit erkämpfen", Info-Broschüre des NPD-Landesverbandes Sachsen, 2011, S. 15. 261 Vgl. Holger Apfel: "35 Jahre NPD - Alles Große steht im Sturm. Tradition und Zukunft einer großen Partei.", Stuttgart 1999. 222 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 den "Kampf um die Parlamente". Das Konzept formuliert das Ziel, die NPD nicht nur als Wahlpartei zu etablieren ("Kampf um die Parlamente"), sondern auch Einfluss auf intellektuelle Diskurse zu nehmen ("Kampf um die Köpfe") und durch provokante Aktionen und Demonstrationen die Basis ihrer Anhängerschaft zu verbreitern ("Kampf um die Straße"). Mit dem "Drei-Säulen-Konzept" und der Öffnung der Partei für aktionsorientierte Neonazis konnte die NPD insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern in den 90er Jahren neue, überwiegend jüngere Mitglieder gewinnen. Mit der konzeptionellen Neuausrichtung war auch eine Radikalisierung der Partei verbunden, die im Jahr 2000 Anlass für die Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht war.262 Das Verfahren zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der NPD und Auflösung ihrer Parteiorganisation wurde mit Entscheidung des Zweiten Senats vom 18. März 2003 eingestellt.263 Der sich an die Einstellung des Verbotsverfahrens anschließende Aufschwung der Partei mündete in den Einzug der NPD in die Landtage von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern. In beiden Ländern konnte die NPD 2009 und 2011 erneut in das jeweilige Landesparlament einziehen. Trotz intensivster Bemühungen ist es der Partei jedoch nicht gelungen, diese Erfolge in anderen Bundesländern zu wiederholen. Vielmehr sorgten finanzielle Unregelmäßigkeiten und parteiinterne Streitigkeiten dafür, dass die Entwicklung der Partei stagnierte und sie an Bedeutung innerhalb der rechtsextremistischen Szene verlor. Hieran konnte auch die Ende 2010 beschlossene Fusion mit der "Deutschen Volksunion" (DVU) nichts ändern. Durch den Zusammenschluss mit der bereits in Auflösung begriffenen DVU wurde die NPD weder im finanziellen Bereich gestärkt, noch konnte sie dadurch zusätzliche Mitglieder gewinnen. Auch dem neugewählten NPD-Vorsitzenden Holger Apfel, der im November 2011 Udo Voigt nach 15-jähriger Amtszeit an der Spitze der Partei ablöste, ist es bislang nicht gelungen, die NPD aus ihrer Dauerkrise zu befreien. Vielmehr geriet die Partei durch die öffentliche Diskussion um ein erneutes NPD-Verbotsverfahren noch stärker unter Druck. 262 Vgl. Beschluss des BVerfG vom 18.3.2003, 2 BvB 1/01. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2001. Berlin 2002, S. 32 - 36. 263 Im Zweiten Senat des BVerfG fand sich nicht die nach SS 15 Abs. 4 BVerfG für eine Fortsetzung notwendige ZweiDrittel-Mehrheit. Eine Minderheit der Richter (drei von sieben) vertrat die Auffassung, dass die Beobachtung der NPD durch V-Personen, die unmittelbar vor und während des Verbotsverfahrens als Mitglieder des Bundesvorstands oder eines Landesvorstands fungieren, in der Regel unvereinbar mit den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren sei. Die Mehrheit hielt eine Fortsetzung des Verbotsverfahrens für geboten. Sie sah in dem Vorgehen der Verfassungsschutzbehörden keinen schwerwiegenden Mangel, der eine Verfahrenseinstellung rechtfertigen könnte (Pressemitteilung des BVerfG vom 18.3.2003, AZ 2 BVB 1/01). Hintergrundinformationen - Rechtsextremismus 223 Nach der Aufdeckung der Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrundes" (NSU) hatte sich die Innenminister-Konferenz im November 2011 darauf verständigt, ein erneutes NPD-Verbot anzustreben. Zu diesem Zweck wurde von den Polizeiund Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder eine über 1 000 Seiten umfassende Materialsammlung mit Erkenntnissen zur Verfassungsfeindlichkeit der Partei erstellt. Auf dieser Grundlage entschied der Bundesrat am 14. Dezember 2012, die Verfassungswidrigkeit der NPD durch das Bundesverfassungsgericht feststellen zu lassen. Der Berliner Landesverband der NPD ging 2003 aus dem 1991 zunächst gemeinsam gegründeten Parteiverband für Berlin/Brandenburg hervor. Seine jüngere Entwicklung ist von Höhen und Tiefen geprägt. Nachdem sich die NPD in den Jahren 2005 bis 2008 zum zentralen Akteur des Berliner Rechtsextremismus entwickeln konnte, eskalierten unter der Führung eines umstrittenen Landesvorsitzenden persönliche Konflikte mit der Folge, dass die Partei 2009 erheblich an Mitgliedern und Aktionsfähigkeit verlor. Nach dem nur zweijährigen und wenig glücklichen Intermezzo eines auswärtigen Parteifunktionärs an der Spitze der Berliner NPD hat im Februar 2012 ein junger und in der rechtsextremistischen Szene Berlins bestens vernetzter Führungsaktivist des Netzwerkes "Freie Kräfte" die Führung der Partei übernommen. Mit dieser Entscheidung fand die Annäherung der NPD an die aktionsorientierten Neonazis des Netzwerkes "Freie Kräfte" ihre konsequente Fortsetzung. 224 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 9 Linksextremismus 9.1 Aktionsorientierter Linksextremismus 9.1.1 Autonome Abkürzung - Entstehung / Gründung ab 1980 Mitgliederzahl Bund: ca. 7 100 (2011: ca. 7 100) Berlin: ca. 870 (2011: ca. 950) Sitz - Organisationsstruktur Netzwerk (etwa 30 Gruppierungen) Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter, mehrere Szenezeitschriften Autonome sind insbesondere seit den 1980er Jahren in gezielter Abgrenzung von anderen linksextremistischen Milieus, wie kommunistischen Kaderparteien, dogmatischen K-Gruppen und terroristischen Untergrundorganisationen, entstanden. Im Ursprung verbanden sie einen auf Systemüberwindung zielenden Politikansatz mit einem betont nonkonformistischen Lebensstil. Die politische Haltung wird allgemein mit den Attributen organisationskritisch, theoriefeindlich und militant beschrieben. Ihr Leitprinzip ist die "Politik der ersten Person", die auf selbstbestimmtes und eigeninitiatives Handeln von Individuen setzt und eine "Stellvertreterpolitik" ablehnt, die private und politische Sphären voneinander trennt. Der dem Gedanken von - radikaler - Autonomie immanente Subjektivismus prägt auch die politische Arbeit und macht es schwierig, gemeinsame Nenner für eine längerfristige Zusammenarbeit in größeren personellen Zusammenhängen zu finden. In ihrer Geschichte haben die Autonomen inzwischen eine Reihe von Organisationsund Militanzdebatten hinter sich, die sich - zumindest in Berlin - im Wesentlichen in einer Ausdifferenzierung von "Antifa" und "Anarcho"-Szene ausdrücken. Einige - dem Habitus nach - "autonome", also theoretisch undogmatische Gruppierungen, propagieren gar marxistisch-leninistisches Gedankengut - eigentlich ein Widerspruch in sich. Autonome kommen daher selten auf einen Nenner. Selbst die Einberufung "Autonomer Vollversammlungen" (AVV) konnte nicht die einigende Wirkung entfalten, die sich die Hintergrundinformationen - Linksextremismus 225 Szene erhofft hatte. Eine Zusammenarbeit über Gruppengrenzen hinweg entsteht daher meist anlassbezogen und findet im Rahmen von Kampagnen statt, für die temporär Bündnisse geschlossen werden. Als wichtiges verbindendes Element verbleiben ihre inzwischen "traditionellen" Großveranstaltungen, wie z.B. der "Revolutionäre 1. Mai" oder die "Silvio-Meier-Gedenkdemonstration", bei denen es der Szene regelmäßig gelingt, über ihren organisierten Kern hinaus Teilnehmer im vier-, zum Teil fünfstelligen Bereich zu mobilisieren. Der theoretisch wie praktisch verbindende, kleinste gemeinsame Nenner von Autonomen - und gleichzeitig die Grundlage ihrer Beobachtung durch den Verfassungsschutz - ist die Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols. Demonstrativ zur Schau getragen wird diese Haltung nicht zuletzt bei den eben genannten Großevents in Form des so genannten "Schwarzen Blocks", aus dem heraus regelmäßig Straftaten begangen werden und der den Tätern aktiven Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung bieten soll. Dennoch ist der "Schwarze Block" nicht identisch mit der autonomen Szene Berlins, denn er umfasst immer auch eine Zahl an Mitläufern, die sich aus unterschiedlichen Gründen beteiligen. Auch üben nicht alle Autonome selbst Gewalt aus. In der Regel befürworten sie aber den Einsatz von Gewalt als politische Aktionsform. Sie betrachten dies als eine Art "Selbstverteidigungsrecht", um der "strukturellen Gewalt" des politischen Systems zu begegnen. Immer häufiger verschwimmen jedoch die Grenzen zwischen politisch vermittelbaren Aktionen und reinem Rowdytum. 9.1.2 "Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin" Abkürzung ARAB Entstehung / Gründung 2007 Mitgliederzahl ca. 35 (2011: ca. 30) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter, Broschüren Die "Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin" (ARAB) ist die zurzeit einflussreichste autonome Gruppierung Berlins. Sie wurde erst 2007 gegründet, hat sich aber in kurzer Zeit innerhalb der linksextremistischen Szene der Stadt breit vernetzt. Sie beteiligt sich an fast allen relevanten Szeneereignissen in Berlin und organisiert sie, wie z.B. die Demonstration zum "Revolutionären 1. Mai" 2012, oft selbst in federführender Funktion. Darüber hinaus ist sie in überregionalen Bündnissen aktiv und sucht - allerdings eher erfolglos - den Anschluss an zivilgesellschaftliche Protestgruppen. 226 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Die ARAB bekennt sich zum Kommunismus. In einem Grundsatzpapier propagiert sie einen militanten Antifaschismus und verknüpft ihn mit dem Kampf gegen "Staat, Nation und Kapital".264 Die von ihr besetzten Themen sind variabel. Zuletzt versuchte sie schwerpunktmäßig durch eine Thematisierung von Auswirkungen der europäischen Finanzkrise neue Anhänger zu gewinnen. Gruppenmitglieder treten unter Pseudonymen in Interviews auf und verteidigen dabei auch gewalttätige Aktionen gegen Institutionen aus Staat und Wirtschaft.265 Insbesondere Polizisten werden von der ARAB immer wieder mit Schmähkritik diffamiert. 9.1.3 "North-East Antifascists" Abkürzung NEA Entstehung / Gründung 2007 Mitgliederzahl ca. 25 (2011: ca. 20) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet Die "North-East Antifascists" (NEA) sind eine autonome Gruppierung, die ebenso wie die ARAB einen Führungsanspruch in der linksextremistischen Szene Berlins erhebt, der sich bisher jedoch vornehmlich auf eine regionale "Platzhirschrolle" in Pankow, Prenzlauer Berg und Wedding beschränkt. 2007 gegründet, zeichnet sie sich dem Namen entsprechend für antifaschistische Aktionen im Nordosten der Stadt verantwortlich, beteiligt sich aber auch an berlinweiten und überregionalen Aktivitäten und kooperiert anlassbezogen mit anderen autonomen Gruppierungen. In den letzten Jahren war sie federführender Organisator der "Antikapitalistischen Walpurgisnacht". In einer Selbstdarstellung bezeichnen die NEA ihr ideologisches Fundament als "libertär" und streben eine Basisorganisation im Räteprinzip an. Dabei verorten sie sich zwischen Anarchismus und Kommunismus.266 Sie vertreten einen militanten Antifaschismus und fordern "Die Kämpfe gegen Nazis, Bullen und Kapitalismus (zu) vereinen!"267 Gesellschaftlichen Anschluss suchen sie vor allem mit dem Thema Stadtumstrukturierung (Gentrifizierung). Die NEA treten nach außen ge264 Artikel "Grundsätze - let the revolution rock!" auf der Internetpräsenz der ARAB mit Datum von 2007 (letzter Abruf am 21.12.2012). 265 Artikel "Diese bürgerliche Gewaltdiskussion langweilt nur" in der Onlineausgabe der "tageszeitung" mit Datum vom 21.4.2009. 266 Publikation "Dokument A - Berliner anarchistisches Jahrbuch 2011" auf der Internetpräsenz "Anarchistische Föderation Berlin" mit Datum vom 29.3.2012. 267 Demonstrationsaufruf "Wir stellen uns quer" der NEA vom 9.12.2008. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 227 mäßigter auf als die ARAB und verzichten darauf, ihre Gewaltbereitschaft allzu plakativ zur Schau zu stellen. 9.1.4 "Antifaschistische Linke Berlin" Abkürzung ALB Entstehung / Gründung 2003 Mitgliederzahl ca. 30-40 (2011: ca. 50) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter, Zeitschrift "Antiberliner" (überregional, unregelmäßig) Die "Antifaschistische Linke Berlin" (ALB) war jahrelang die bedeutendste autonome Gruppierung Berlins und dürfte bundesweit noch immer die bekannteste sein. Sie ist im Jahr 2003 aus der Spaltung der "Antifaschistischen Aktion Berlin" (AAB) hervorgegangen268 und tritt regelmäßig als Veranstalter größerer Kampagnen und Demonstrationen in Erscheinung, z.B. der "Silvio Meier-Gedenkdemonstration". Dabei kooperiert sie nicht nur mit Linksextremisten, sondern sucht auch Bündnisse mit zivilgesellschaftlichen Akteuren, z.B. bei den Protesten gegen einen rechtsextremistischen Großaufmarsch in Dresden 2011. Mit unter dem Pseudonym "Laumeyer" auftretenden Sprechern erreichte sie zeitweilig Resonanz bis in bürgerliche Medien hinein. Durch interne Zerwürfnisse über die weitere Entwicklung und einen von außen an sie herangetragenen Spitzelvorwurf hat die ALB zuletzt an Mitgliedern und Einfluss verloren. Die ALB vertritt ein revolutionäres Antifaschismusverständnis, nach dem der Faschismus als ein im System angelegtes Ergebnis der bürgerlich kapitalistischen Herrschaft angesehen wird. Sie zielt auf eine Radikalisierung gesellschaftlicher Konflikte, da nach ihrer Auffassung das gesellschaftliche System nicht durch Reformen überwunden werden könne, sondern "nur durch eine entschlossene revolutionäre Bewegung".269 Es ist möglich, dass sich die ALB auf ihrem Weg zu diesem Ziel von einer autonomen in eine postautonome Organisationsform transformiert. 268 2003 spaltete sich die "Antifaschistische Aktion Berlin" (AAB) zu etwa gleichen Teilen in die heute nicht mehr existierende Gruppe "Kritik & Praxis Berlin" und die ALB. 269 Artikel "Projektionsfläche, um radikale Linke zu diffamieren" auf der Internetpräsenz der ALB mit Datum vom 19.4.2011. 228 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 9.1.5 "Anarchist Black Cross Berlin" Abkürzung ABC Entstehung / Gründung 2004 Mitgliederzahl ca. 5-10 (2011: ca.10) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter, Zeitschrift "Entfesselt" (überregional, dreimonatlich) Das "Anarchist Black Cross" (ABC) ist eine internationale Bewegung, die 1905 als "Anarchistisches Rotes Kreuz" in Russland gegründet wurde. Ihre zentrale Aufgabe sieht sie in der Unterstützung inhaftierter Anarchisten. Die seit 2004 existierende anarchistische Kleingruppierung ABC Berlin beruft sich auf deren Tradition. Sie engagiert sich fast ausschließlich im Themenfeld "Anti-Repression"270, vor allem durch die Organisation von Demonstrationen vor Haftanstalten. In den letzten Jahren finden solche "Knastdemos" regelmäßig am Silvesterabend statt. Dabei kooperiert ABC auch mit anderen Akteuren aus dem autonomen "Anti-Repressions"-Spektrum. Ansonsten agiert die Gruppierung äußerst klandestin. Laut Selbstdarstellung ist ABC geprägt "von einem gemeinsamen Hass gegen diese kapitalistische Gesellschaft und deren Formen des Wegsperrens". Ihr Ziel sei die "Abschaffung aller Zwangsanstalten" in einem Prozess, der "die gesamten aktuellen Zustände umwirft".271 Auch auf ihrer Internetpräsenz ruft ABC regelmäßig zur Solidarität mit vermeintlichen "politischen Gefangenen" auf, zu denen sie unter anderem verurteilte Linksterroristen der "Roten Armee Fraktion" (RAF) und der "Revolutionären Zellen" (RZ) rechnet. 9.1.6 "Out of Control" Abkürzung ooc Entstehung / Gründung 2009 Mitgliederzahl ca. 10 Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter 270 Autonome mit dem Themenschwerpunkt "Anti-Repression" lehnen das staatliche Gewaltmonopol ab und suchen gezielt die Auseinandersetzung mit dessen Vertretern aus Polizei und Justiz, um den vermeintlich "gewalttätigen Repressionsapparat" zu entlarven. 271 Artikel "Was ist ABC? Warum gegen Knäste?" auf der Internetpräsenz von ABC Berlin (ohne Datum, letzter Aufruf am 21.12.2012). Hintergrundinformationen - Linksextremismus 229 Ähnlich wie ABC ist "Out of Control" (ooc) eine anarchistische Kleingruppierung aus dem "Anti-Repressions"-Spektrum. 2009 gegründet, verfolgt sie eine ähnliche Strategie mit themenspezifischen Demonstrationen, setzt aber andere inhaltliche Schwerpunkte. Konstituierendes Ziel ist der Widerstand gegen eine Ausweitung von Sicherheitsarchitekturen innerhalb der Europäischen Union. Zum jährlich in Berlin stattfindenden "Europäischen Polizeikongress" werden von ooc regelmäßig massive Gegenproteste organisiert. Dabei kooperieren sie mit anderen autonomen Gruppierungen innerund außerhalb Berlins. Ansonsten agieren sie ausgesprochen konspirativ. ooc bekennen sich offen zum Anarchismus und fordern die "Schaffung eines europäischen Raumes der Freiheit, des Anti-Kapitalismus und der Rebellion".272 Sie wollen Zeichen setzen und die "herrschenden Zustände gemeinsam und überall bekämpfen".273 Jegliche Formen staatlicher und privater Sicherheitseinrichtungen sind potenzielle Ziele ihrer Aktivitäten. 9.1.7 "Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen" Abkürzung NFG Entstehung / Gründung 2006 Mitgliederzahl Berlin: ca. 10 (2011: ca. 15) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter, Zeitschrift "gefangenen info" (überregional, rund sechsmal jährlich) Das "Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen" (NFG) gehört ebenfalls dem autonomen "Anti-Repressions"-Spektrum an. Es ist seit 2006 in mehreren Bundesländern aktiv und unterhält von Beginn an eine Ortsgruppe in Berlin. Das NFG begleitet Haftaufenthalte von Linksextremisten durch Öffentlichkeitsarbeit und organisiert Solidaritätsveranstaltungen. Seit 2009 gibt es die Zeitschrift "gefangenen info" heraus, in dem es auf konkrete Fälle "politischer Gefangener" im Inund Ausland aufmerksam macht. Eng verbunden mit dem NFG ist die Gruppierung "Zusammen kämpfen!" (ZK). NFG und ZK agieren weitgehend isoliert von der autonomen Szene Berlins, dennoch kommen vereinzelt Kooperationen zu Stande, wie z.B. bei der Vorbereitung und Durchführung der Demonstrationen zum "Tag des politischen Gefangenen" am 18. März. 272 Artikel "Das Freiburg-Programm" auf der Internetpräsenz von ooc (ohne Datum, letzter Abruf am 21.12.2012). 273 Artikel "Deutsche Innenminister sind kaltherzige Schweine" auf der Internetpräsenz von ooc mit Datum vom 21.11.2012. 230 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Im Gegensatz zu ABC und ooc ist NFG genauso wie ZK nicht anarchistisch, sondern marxistisch ausgerichtet. Die Solidarität mit "politischen Gefangenen" wird damit begründet, dass "die politische Gefangenschaft aus den existierenden Verhältnissen hervorgeht, d.h. die Gefängnisse die Reaktion des kapitalistischen Systems gegen den Widerstand für Gerechtigkeit sind".274 9.1.8 "Zusammen Kämpfen! Berlin" Abkürzung ZK Entstehung / Gründung 2010 Mitgliederzahl Berlin: ca. 10-15 (2011: ca. 25) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter Auch "Zusammen Kämpfen! Berlin" (ZK) gehört dem autonomen "Anti-Repressions"Spektrum an. ZK-Gruppierungen existieren in mehreren Bundesländern. Die Berliner Gruppe ist seit Herbst 2010 bekannt und nach anfänglich schnellem Mitgliederwachstum inzwischen wieder deutlich geschrumpft. Sie führt Veranstaltungen mit Schulungscharakter durch und richtet sich vor allem an jüngere Aktivisten. ZK ist eng mit dem "Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen" (NFG) verbunden. Beide agieren weitgehend isoliert von der autonomen Szene Berlins, dennoch kommen vereinzelt Kooperationen zu Stande, wie z.B. bei der Vorbereitung und Durchführung der Demonstrationen zum "Tag des politischen Gefangenen" am 18. März. Im Gegensatz zu ABC und ooc sind NFG und ZK nicht anarchistisch, sondern marxistisch ausgerichtet. ZK betrachtet sich als "Teil der international um Befreiung kämpfenden revolutionären Linken", die für eine "klassenlose, staatenlose und herrschaftsfreie Gesellschaft" kämpft. Die "Solidarisierung mit den revolutionären Gefangenen" sieht sie dabei als eine vorrangige Aufgabe jeder "revolutionären Organisation".275 274 Artikel "über uns" auf der Internetpräsenz des NFG mit Datum vom 18.3.2006. 275 Artikel "über uns" auf der Internetpräsenz von ZK mit Datum vom Januar 2011. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 231 9.1.9 "Rote Hilfe e.V." Abkürzung RH Entstehung / Gründung 1995 Mitgliederzahl Berlin: ca. 880 (2011: ca. 760) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Dortmund (Rote Hilfe e.V.) Berlin (Ortsgruppe Berlin) Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter, Zeitschrift "Die Rote Hilfe. Zeitung der Roten Hilfe e.V." (überregional, vierteljährlich) Die "Rote Hilfe" wurde unter historischer Bezugnahme auf einen von 1924 bis 1936 bestehenden gleichnamigen Vorläufer 1975 als eingetragener Verein neu gegründet. 1995 entstand die Ortsgruppe Berlin, welche sich mittlerweile zur mit Abstand größten linksextremistischen Organisation der Stadt entwickelt hat. Dabei sind nicht alle Mitglieder Extremisten, diese sitzen jedoch an den Schaltstellen und steuern die Berliner Ortsgruppe. Die RH versteht sich gemäß Satzung als "linke Schutzund Solidaritätsorganisation" für alle, "die in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer politischen Betätigung verfolgt werden".276 Sie unterstützt von Strafermittlungen Betroffene rechtlich, politisch und auch materiell. Da die Mitglieder Beiträge zahlen und zudem Spenden akquiriert werden, kann sie dafür erhebliche finanzielle Mittel einsetzen. Ausschlaggebend für die Unterstützung ist, dass die Straftat einen politischen Hintergrund besitzt und der Betroffene nicht mit Polizei und Justiz kooperiert. Sie stellt damit eine wichtige Infrastruktur innerhalb der Szene. Das Engagement zielt darauf ab, die strafrechtlichen Konsequenzen für politisch links motivierte Strafund Gewalttäter abzumildern. "Die Unterstützung für die Einzelnen soll zugleich ein Beitrag zur Stärkung der Bewegung sein" und "ermutigt damit zum Weiterkämpfen".277 Eine Abgrenzung zum linksextremistischen Spektrum wird dabei bewusst nicht vorgenommen. 276 SS 2 "Zweck der Roten Hilfe" aus der Satzung des Rote Hilfe e.V. mit Stand vom 25. / 26.9.2010. 277 Artikel "Wer ist die Rote Hilfe?" auf der Internetpräsenz der RH (ohne Datum, letzter Abruf am 21.12.2012). 232 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 9.1.10 "Wir bleiben alle!" Abkürzung WBA Entstehung / Gründung 2008 Mitgliederzahl ca. 20 (2011: ca. 20-30) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter Bei "Wir bleiben alle!" (WBA) handelt es sich um einen seit 2008 bestehenden Personenzusammenschluss mit einem geringen formalen Organisationsgrad. Der Slogan "Wir bleiben alle!" war ursprünglich die Bezeichnung für eine Kampagne gegen Gentrifizierung und wies zunächst keine auf Dauer angelegten Strukturen auf. Aus Vollversammlungen mit bis zu 50 Teilnehmern, Arbeitsgruppen und einem Internetauftritt bildete sich dann aber ein beständiger organisatorischer Rahmen. Dieser bietet anlassbezogen und gegebenenfalls auch sehr kurzfristig eine Mobilisierungsplattform, um größere Demonstrationen zu initiieren, wie beispielsweise im Anschluss an die Räumung der Liebigstraße 14 Anfang 2011. In einem Eckpunktepapier formuliert WBA als Ziel den "Erhalt, Ausbau und das Erkämpfen neuer selbstorganisierter Räume (...) als Gegenmodell zu den herrschenden Verhältnissen". Es wird zu einem "aktiven Kampf (...) auf allen Ebenen und mit vielfältigen Mitteln" aufgerufen. Diese sollen dazu dienen, private Investoren und ihre potenziellen Kunden abzuschrecken. Dritte werden aufgerufen, eigenständig unter dem WBA-Label aktiv zu werden. Dabei wird ausdrücklich betont, dass es in diesem Zusammenhang "keine öffentliche Distanzierung von Aktionsformen" gäbe.278 Der Verzicht auf ein "Copyright" hat dazu geführt, dass der "Wir bleiben alle!"-Slogan inzwischen bis in Mieterinitiativen hinein Verwendung findet und insofern kein eindeutiges Erkennungsmerkmal von Linksextremisten ist. 278 Artikel "WIR BLEIBEN ALLE!!! Selbstorganisierte Räume erkämpfen und verteidigen" auf der Internetpräsenz von WBA (ohne Datum, letzter Abruf am 21.12.2012). Hintergrundinformationen - Linksextremismus 233 9.1.11 "Rigaer 94" Abkürzung - Entstehung / Gründung 1990 Mitgliederzahl ca. 40-50 Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet Bei der "Rigaer 94" handelt es sich um einen Personenzusammenschluss, der sich aus Teilen der Bewohner und Besucher eines Wohnprojekts und der darin befindlichen Veranstaltungsstätte "Kaderschmiede" in der Rigaer Straße 94 in Friedrichshain zusammensetzt. Dieser ist zum harten Kern der gewaltbereiten autonomen Szene Berlins zu rechnen. Haus und Lokalität "gehören zu den letzten offen (teil-)besetzten Räumen Berlins"279 und haben für die Szene eine hohe symbolische wie auch praktische Bedeutung. Sie sind als Ausgangspunkt und Rückzugsort von bzw. nach militanten Aktionen zur Erkämpfung "autonomer Freiräume" anzusehen. Als "Bewohnerinnen und Bewohner der Rigaerstraße 94" werben sie "Für ein Leben ohne Macht und Herrschaft!" und "Für die Anarchie!"280 Sie lehnen sowohl staatliche Strukturen als auch rechtsstaatliche Normen ab. Polizeiliche Maßnahmen vor Ort führen fast zwangsläufig zu gewalttätigen Reaktionen. "Wir blicken zurück auf über zwanzig Jahre Hausgeschichte, in denen wir uns gegen Bullen, Staat und Repression zur Wehr gesetzt haben. Der Hass beruht dabei auf Gegenseitigkeit."281 Dabei richten sich ihre Aktionen nicht nur gegen die Polizei, sondern auch gegen neu Hinzugezogene und bauliche Veränderungen im Umfeld. 279 Artikel "Aber was meinen wir damit eigentlich?" auf der Internetpräsenz der "Rigaer 94" mit Datum vom 28.3.2012. 280 Artikel "Solidarität mit der Villa Amalias" auf der Internetpräsenz der "Rigaer 94" mit Datum vom 21.12.2012. 281 Artikel "Aber was meinen wir damit eigentlich?" auf der Internetpräsenz der "Rigaer 94" mit Datum vom 28.3.2012. 234 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 9.2 Parlamentsorientierter Linksextremismus 9.2.1 "Deutsche Kommunistische Partei" Abkürzung DKP Entstehung / Gründung 1968 Mitgliederzahl Bund: ca. 3 500 (2011: ca. 4 000) Berlin: ca. 100 (2011: ca. 130) Organisationsstruktur Partei Sitz Essen Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter, Zeitschrift "Unsere Zeit" (überregional, wöchentlich), Zeitschrift "Berliner Anstoß" (regional, monatlich) Die DKP wurde 1968 von früheren Funktionären der 1956 verbotenen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD) gegründet. Der Aufbau einer Parteiorganisation in Berlin begann erst 1990.282 Sie ist mit bundesweit rund 3 500 Mitgliedern die größte kommunistische Partei, spielt aber trotz ihrer Mitgliederstärke innerhalb der deutschen Parteienlandschaft keine Rolle. Mit ihrer Landesliste zu den Bundestagswahlen 2009 ebenso wie bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011 erreichte sie lediglich Ergebnisse im unteren Promillebereich. In internen Machtkämpfen hat sich zuletzt der orthodox-marxistische Flügel innerhalb der Partei durchgesetzt. Sie versteht sich weiterhin als "revolutionäre Partei der Arbeiterklasse" und strebt einen "grundlegenden Bruch mit den kapitalistischen Eigentumsund Machtverhältnissen" an.283 In dieser Hinsicht mobilisiert sie zu sozialen Protestkundgebungen und versucht diese für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Darüber hinaus beteiligt sich die DKP regelmäßig an der jährlichen Luxemburg-Liebknecht-Demonstration. 282 Während der Teilung Deutschlands gab es aufgrund von Chruschtschows "Drei-Staaten-Theorie" (Deutschland zerfalle in drei Staaten: BRD, DDR, Berlin) in Berlin keinen Landesverband der DKP. Stattdessen gründete sich die "Sozialistische Einheitspartei Westberlins" (SEW), die ebenso wie die DKP massiv durch die DDR unterstützt wurde. Die Nachfolge der SEW trat 1990 die "Sozialistische Initiative" (SI) an, welche sich schon 1991 wieder auflöste. Noch im gleichen Jahr gründeten SEWund SI-Mitglieder eine DKP-Gruppe Berlin. 283 Aus dem "Parteiprogramm der Deutschen Kommunistischen Partei" auf der Internetpräsenz der DKP mit Stand vom 8.4.2006. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 235 9.2.2 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" Abkürzung MLPD Entstehung / Gründung 1982 Mitgliederzahl Bund: ca. 1 900 (2011: ca. 2 000) Berlin: ca. 80 (2011: ca. 100) Organisationsstruktur Partei Sitz Gelsenkirchen Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter, Zeitschrift "Rote Fahne" (überregional, wöchentlich) Zeitschrift "Lernen und Kämpfen" (überregional, mehrmals jährlich), Zeitschrift "REBELL" (überregional, monatlich) Die 1982 gegründete MLPD versteht sich als "politische Vorhutorganisation der Arbeiterklasse in Deutschland". Sie unterhält Nebenund Vorfeldorganisationen wie den Jugendverband "REBELL", die Kinderorganisation "Rotfüchse" oder das "Arbeiterbildungszentrum" (ABZ) mit einer Außenstelle in Berlin. Der politische Einfluss der Partei ist angesichts ihrer Wahlergebnisse gering. Bei der Bundestagswahl 2009 erreichte sie in Berlin gerade ein Promille der Zweitstimmen. Zu den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011 ist sie nicht angetreten. Die MLPD bekennt sich zur Theorie des Marxismus-Leninismus in der Interpretation durch Stalin und Mao Zedong. Ihr Ziel ist "der revolutionäre Sturz der Diktatur des Monopolkapitals und die Errichtung der Diktatur des Proletariats für den Aufbau des Sozialismus als Übergangsstadium zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft".284 Anderen linken bzw. linksextremistischen Parteien aus der DDR und der Bundesrepublik wirft sie vor, den Marxismus-Leninismus verraten zu haben. 284 Aus der Präambel zu den "Organisationspolitischen Grundsätzen der Marxistisch-Leninistischen Partei: Statut der MLPD" auf der Internetpräsenz der MLPD mit Datum vom März 2009. 236 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 10 Extremistische Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 10.1 Kurdische Extremisten 10.1.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" ("Partiya Karkeren Kurdistan") Abkürzung PKK Entstehung / Gründung 1978 Türkei Mitgliederzahl Bund: ca. 13 000 (2011: ca. 13 000) Berlin: ca. 1 050 (2011: ca. 1 050) Organisationsstruktur Türkei: Verbotene Organisation Deutschland: 1993 vereinsrechtliches Betätigungsverbot Veröffentlichungen "Serxwebun" ("Unabhängigkeit") (überregional, monatlich) "Sterka Ciwan" ("Stern der Jugend") (überregional, monatlich) Die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) wurde 1978 im Südosten der Türkei vor dem Hintergrund des jahrzehntelangen Konflikts im Ländereck Türkei, Iran, Irak und Syrien gegründet. Erklärtes Ziel der Organisation war die Anerkennung der Kurden als Nation und die Erlangung der politischen Autonomie für die kurdische Minderheit innerhalb des türkischen Staatsgebiets. Von 1984 bis 1999 führte die PKK in der südöstlichen Türkei einen Guerillakrieg für ein unabhängiges Kurdistan. 1992 und 1993 verübten Anhänger der PKK zahlreiche Brandanschläge auf türkische Einrichtungen in Deutschland; bei Demonstrationen kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen. Am 24. Juni 1993 besetzten 13 Kurden das türkische Generalkonsulat in München und nahmen 20 Geiseln. Die gewalttätigen Aktionen führten am 22. November 1993 zum vereinsrechtlichen Betätigungsverbot in Deutschland, das sich auch auf die Nachfolgeorganisationen erstreckt. Ab Mitte 1996 bis zur Festnahme des PKK-Führers Abdullah Öcalan im Jahre 1999 verliefen Demonstrationen und Kundgebungen der Anhänger der PKK in Deutschland in der Re- Hintergrundinformationen -Ausländerextremismus 237 gel gewaltfrei. Die Festnahme und die Auslieferung Öcalans an die Türkei führte dagegen zu weltweiten militanten Protesten. In Berlin erstürmten am 17. Februar 1999 PKK-Anhänger das israelische Generalkonsulat, wobei vier Kurden von israelischen Sicherheitskräften erschossen wurden. Seit 1999 verfolgte die Organisation einen strategischen Kurswechsel mit dem Ziel, sich durch die Ankündigung interner Reformen als politischer Gesprächspartner zu etablieren. Dies sollte nach außen sichtbar werden, indem die Organisation sich selbst wie auch ihre Teilund Nebenorganisationen mehrfach umbenannte.285 Gesamtorganisation Organisation der Frauen JugendorganiFrontorganisation sation in Europa "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) "Partei der Freien Frau" (PJA) "Union der "Nationale BefreiJugendlichen ungsfront KurdisKurdistans" tans" (ERNK) (YCK) "Freiheitsund Demokratiekon"Freiheitspartei der Frauen "Bewegung der "Demokratische gress Kurdistans" (KADEK) Kurdistans" (PAJK) freien Jugend Union des kurKurdistans" dischen Volkes" "Volkskongress Kurdistans" (TECAK) (YDK) (Kongra Gel) Heute: Dreiteilung unter dem GeDreiteilung unter dem System der "Gemeinschaft "Koordination der samtsystem der "Gemeinschaft der "Gemeinschaft der hohen Frauen" der Kommunen Demokratischen Gesellschaften Kurdistans" (KCK) (KJB): der demokraGesellschaft (zuvor: "Gemeinschaft der Kommu- * politischer Teil: "Union der freien tischen Jugend Kurdistans" (CDK) nen Kurdistans" (KKK)): Frauen" (YJA) Kurdistans" * politischer Teil: Kongra Gel * ideologischer Teil: "Freiheitspartei (Komalen Ci- * ideologischer Teil: "neue" PKK 286 der Frauen Kurdistans" (PAJK) wan) * militärischer Teil: "Volksverteidi- * militärischer Teil: "Verband freier gungskräfte" (HPG) 287 Frauen Star" (YJA Star) Die PKK ist auf der europäischen Liste terroristischer Organisationen verzeichnet. In Deutschland sind PKK-Anhänger meist in örtlichen, organisationsnahen Vereinen aktiv. Dachverband dieser Vereine ist die "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V." (YEK-KOM)288, die der Weisung des politischen Arms der PKK in Europa, der CDK, unterliegt. Die PKK erhebt einen Alleinvertretungsanspruch für alle Kurden. 285 Folg. Tabelle: Aufstellung der Namen der wichtigsten Organisationsteile der PKK. 286 In einer Presseverlautbarung zum 10. (Sic!) Parteikongress der PKK im August 2008 wurde erklärt: "Zwar wurde in diesen zwei Jahren nicht mit dem Namen gearbeitet, aber in "der Praxis war es immer PKK." Die Vollendung des Neuaufbaus. In: "Kurdistan Report Nr. 140. Hamburg November/Dezember 2008, S. 20-29, hier: S. 24. 287 Früher "Volksbefreiungsarmee Kurdistans" (ARGK). 288 Sie ist auf europäischer Ebene Mitglied der "Konföderation der kurdischen Vereine in Europa" (KON-KURD). 238 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Daher schuf sie bereits in den 1990er Jahren so genannte "Massenorganisationen" für Angehörige einzelner Interessen-, Berufsoder Religionsgruppen. Durch diese gewinnt sie Einfluss auf alle wichtigen Bereiche kurdischen Engagements in Deutschland.289 Parallel zu diesen Strukturen wird mit der Gründung lokaler "Volksräte" Öcalans System des "Demokratischen Konföderalismus"290 umgesetzt. Die ursprünglichen Hierarchieund Befehlsstrukturen blieben allerdings stets erhalten. Im Gegensatz zu den als Reformprozess deklarierten Veränderungen steht zudem, dass die Guerillaeinheiten der PKK bereits zum 1. Juni 2004 den am 1. September 1998 von Öcalan erklärten "einseitigen Waffenstillstand" aufgekündigt hatten und seitdem - mit einigen Unterbrechungen - immer wieder offensiv gekämpft wird. Der Guerillakrieg trägt zusammen mit terroristischen Anschlägen der "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK), einer nach eigenen Angaben aus den HPG entstandenen Gruppe,291 dazu bei, dass bislang keine Lösung des Konflikts abzusehen ist. 10.2 Türkische Extremisten 10.2.1 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" Abkürzung DHKP-C Entstehung / Gründung 1994 Syrien Mitgliederzahl Bund: ca. 650 (2011: ca. 650) Berlin: ca. 50 (2011: ca. 65) Organisationsstruktur Türkei: Verbotene Organisation Deutschland: 1998 Vereinsverbot Veröffentlichungen "Yürüyüs" ("Marsch") (überregional, wöchentlich) "Devrimci Sol" ("Revolutionäre Linke") unregelmäßig Die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei Front" (DHKP-C) ging aus der 1978 in der Türkei gegründeten Organisation "Devrimci Sol" ("Revolutionäre Linke") hervor, die 1983 in Deutschland verboten wurde. In der Türkei ist die DHKP-C terroristisch aktiv. 289 Neben den Jugendlichen ist vor allem die "Kurdische Frauenbewegung in Europa" (AKKH), der "Verband der Studierenden aus Kurdistan" (YXK), die "Union kurdischer Familien" (YEK-MAL) sowie die "Islamische Gemeinschaft Kurdistans" (CIK) zu nennen. Es gibt jedoch weitere Verbände für Journalisten, Lehrer, Juristen, Schriftsteller sowie für Aleviten oder Yeziden. 290 Das Modell soll den Anschein von Mitbestimmung und Basisdemokratie erwecken. In der streng hierarchischen PKK-Führungsstruktur bestehen jedoch keine wesentlichen inhaltlichen Einflussmöglichkeiten. 291 Seit 2006 sind auch die TAK auf der europäischen Liste terroristischer Organisationen verzeichnet. Hintergrundinformationen - Ausländerextremismus 239 Sie strebt die Beseitigung des türkischen Staates und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Ideologie an. In Deutschland wurde die DHKP-C am 6. August 1998 durch den Bundesminister des Innern verboten. Sie ist auch unter den Namen "Revolutionäre Volksbefreiungspartei" (DHKP) bzw. "Revolutionäre Volksbefreiungsfront" (DHKC) aktiv. Meist wird die DHKC als "bewaffneter Arm" der Organisation bezeichnet. Laut ihrem Statut kämpft die DHKP-C für die "Befreiung der türkischen und kurdischen Nation und aller anderen Nationen" von "Imperialismus" und "Faschismus". Die Organisation geht davon aus, dass es in einem "vom Imperialismus abhängigen, durch den Faschismus regierten Land unmöglich" sei, die Machtverhältnisse durch Wahlen zu verändern. Deshalb könne "die faschistische Macht, die unter der Kontrolle des Imperialismus und der Oligarchie [stehe], nur durch den bewaffneten Kampf des Volkes zerstört werden". Personen, deren Aktivitäten sich gegen die "Revolution" richten, droht die DHKP-C eine "gnadenlose Bestrafung"292 an. Seit 2002 ist die DHKP-C auf der europäischen Liste terroristischer Organisationen verzeichnet. In Deutschland engagieren sich DHKP-C nahe Organisationen wie z.B. das "Tayad-Komitee" ("Solidaritätsverein der Familien von Inhaftierten und Verurteilten")293 oder die "Anatolische Föderation e.V." ("Anadolu Federasyonu") für die Positionen der DHKP-C. Am 1. Februar 2013 verübte ein DHKP-Mitglied einen Selbstmordanschlag auf die US-Botschaft in Ankara, bei dem ein Botschaftsmitarbeiter getötet und zwei weitere Personen verletzt wurden. Der mutmaßliche Attentäter war in der Türkei bereits als DHKP-C-Mitglied inhaftiert. Danach hielt er sich etwa zehn Jahre lang in Deutschland auf und stand im Verdacht, 2009 Gebietsverantwortlicher der DHKP-C in Berlin und 2011 in Köln gewesen zu sein. Seit Frühjahr 2011 war gegen ihn ein Ermittlungsverfahren der Generalbundesanwaltschaft wegen Verdachts der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung gem. SS 129 a, b StGB anhängig. Selbstmordanschläge auf türkische, aber auch auf amerikanische staatliche Einrichtungen gehören zum bekannten Aktionsspektrum der DHKP-C in der Türkei. In Deutschland ist die Organisation seit 1998 nicht mit gewalttätigen Aktionen in Erscheinung getreten. 292 Programm der DHKP. 293 Abgeleitet aus der türkischen Bezeichnung "Tutuklu Hükümlü Aileleri Yardimlasma Dernegi" (TAYAD). 240 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 11 "Scientology Organisation" (SO) Abkürzung SO Entstehung / Gründung USA: 1954 Deutschland: 1971 Mitgliederzahl Bund: ca. 3 500 - 4 500 (2011: ca. 4 000 - 5 000) Berlin: ca. 130 (2011: ca. 130) Organisationsstruktur In Berlin eingetragener Verein Sitz Los Angeles (Church of Scientology International - CSI) Berlin: "Scientology Kirche Berlin e.V.", Charlottenburg Veröffentlichungen "Freiheit", "Impact", "Freewinds" "Source", "The Auditor" u.a. (Erscheinungsweise je ca. 2 - 4 Ausgaben pro Jahr, Auflagenhöhe unbekannt) Die "Scientology Organisation" (SO) geht auf den amerikanischen Science-Fiction-Autor L. Ron Hubbard zurück, der 1950 das für die SO grundlegende Buch "Dianetik - die moderne Wissenschaft der geistigen Gesundheit" veröffentlichte. Hierin behauptet er, die Welt von Armut, Krieg, Verbrechen, Krankheit und anderen Übeln befreien zu können. Die erste "Scientology Kirche" wurde 1954 in Los Angeles/USA gegründet. Seitdem verbreitet die SO ihre Ideologie weltweit in diversen Publikationen, Kurssystemen, Veranstaltungen und im Internet mit dem Ziel, eine ausschließlich nach scientologischen Richtlinien funktionierende Welt zu schaffen. Zur Erreichung dieses Ziels bemüht sie sich um Einflussnahme auf gesellschaftliche und politische Willensund Entscheidungsträger sowie Rekrutierung und Schulung neuer Mitglieder und Mitarbeiter. Durch die Anwendung scientologischer Ideologie und Techniken soll ein perfekt funktionierender Mensch, der so genannte "Clear" bzw. der höher trainierte "operierende Thetan" erzeugt werden. Nur diesen Menschen sollen Bürgerrechte zugestanden werden, um mit ihnen eine scientologische Gesellschaftsordnung zu errichten. Hintergrundinformationen -Scientology Organisation 241 Personen, die außerhalb dieser Gesellschaft stehen oder der SO gegenüber kritisch eingestellt sind, wird jeglicher Wert abgesprochen, sie sind "aberrierte Persönlichkeiten"294, d.h. "geistig gestört". Zudem wird anhand einer imaginären scientologischen "Tonskala" zwischen höherund minderwertigen Menschen unterschieden. Nicht-Scientologen werden verunglimpft und sollen "beiseite geschafft und ausgesondert" werden; Gegner und Kritiker sind "durch Zwang zu entfernen, möglichst zu ruinieren, ihres Eigentums zu berauben und müssen zerstört werden".295 Diese Mission, an deren Ende eine ausschließlich aus Scientologen bestehende Zivilisation stehen soll, wird als "Clear Planet" bezeichnet. SO unterhält viele, international agierende Unterorganisationen und Kampagnen, die alle jeweils einem so genannten "kirchlichen", wirtschaftlichen oder sozialen Bereich zuzuordnen sind und deren Zugehörigkeit zur SO häufig nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist296. Die Gesamtstruktur und Logistik ähnelt der eines multinationalen Wirtschaftskonzerns, der aus der "Konzernzentrale", der "Church of Scientology International" (CSI) in Los Angeles und über "Kontinentale Verbindungsbüros" streng hierarchisch und straff geführt wird. Die Europäische Zentrale hat ihren Sitz in Kopenhagen. Unterhalb dieser Ebene befinden sich diverse Unterorganisationen (sog. "Orgs"), die als "Kirchen", "Missionen", "Celebrity Centers"297 direkt der SO zuzuordnen sind. Die offizielle Mitgliedervereinigung der SO, die "International Association of Scientologists (IAS)", unterstützt über Mitgliederbeiträge und eingeworbene Spenden weltweit Projekte der SO. Das Innenverhältnis der SO ist durch ein rigides Kontrollsystem mit Belohnungen und Bestrafungen und eine eigene Justiz geprägt. Der Einstieg in die Organisation erfolgt in der Regel durch einen kostenfreien "Persönlichkeits-" oder "Stresstest", der als "individuelle Lebenshilfe" angeboten wird. Seine Auswertung durch einen speziell geschulten Scientologen wird immer Defizite aufzeigen, die durch - dann kostenpflichtige - Seminare korrigiert werden können. Durch umfassende Fragetechnik bei "Auditing"-Sitzungen298 mittels "E-Meter"299 sollen die persönlichen Schwachpunkte aufgespürt und bearbeitet werden. Das "E-Meter" dient auch zur Durchführung von "Sicherheitsüberprüfungen", so genannten "Sec Checks" (Security Checks). 294 "Der Begriff "Aberration" steht in der Diktion der Scientology dafür, Fehler zu machen oder genauer, "fixierte Ideen zu haben, die nicht wahr sind. [...] Aberration ist geistiger Gesundheit entgegengesetzt." L. Ron Hubbard, "Was ist Scientology", 1998, S. 684. 295 VG Köln, Az 20 K 1882/03 vom 11.11.2004; bestätigt durch OVG Münster, AZ 5A 130/05 vom 12.2.2008. 296 Detailliertere Darstellungen sind auf der Internetseite des Verfassungsschutzes unter www.verfassungsschutz-berlin.de eingestellt. 297 Organisationen zur Werbung und Betreuung von Personen des öffentlichen Lebens. 298 Durch einen "Auditor", d.h. einen speziell hierzu "ausgebildeten" Scientologen durchgeführte Befragungen. 299 Gerät zum Messen des Körperwiderstandes, ähnlich einem primitiven "Lügendetektor". 242 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Mit diesem "Verhör" sollen Verstöße gegen scientologische Regeln festgestellt werden, die dann geahndet werden. So sichert die SO die ständige Kontrolle und Manipulation ihrer Anhänger, die durch immer weitere Kurse und eingeforderte "Spenden" nicht nur wirtschaftlichen Schaden nehmen können. Insbesondere Menschen in schwierigen Lebenssituationen laufen Gefahr, durch die als "individuelle Lebenshilfe" getarnten Angebote in eine psychisch schädliche Abhängigkeit zu geraten. III Verfassungsschutz Berlin 244 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 1 Struktur Verfassungsschutzbehörde für das Land Berlin ist die Senatsverwaltung für Inneres und Sport. Die Aufgaben werden durch die Abteilung II wahrgenommen: Abteilung II Verfassungsschutz Abteilungsleiter ÖAG (komm.) Öffentlichkeitsarbeit Gremien Referat II A Referat II B Referat II C Referat II D Referat II E Grundsatz Linksextremismus Islamismus/ Beschaffung Rechtsextremismus Recht Mitwirkungsangel. AusländerVerwaltung Wirtschaftsschutz extremismus Informationstechnik Spionageabwehr Während das Grundsatzreferat II A Querschnittsaufgaben wie Verwaltung, Recht und Informationstechnik abdeckt, sind die Auswertungsreferate II B, II C und II E für die Analyse und Bewertung von Informationen zuständig. Das Referat II D beschafft Informationen mit nachrichtendienstlichen Mitteln. Für die Aufgaben des Verfassungsschutzes standen 2012 Haushaltsmittel in Höhe von 10,27 Mio. Euro und 196,85 Stellen zur Verfügung. Verfassungsschutz Berlin 245 2 Gesetzliche Grundlagen 2.1 Aufgaben und Befugnisse Die Arbeit des Verfassungsschutzes ist hinsichtlich der Aufgabenstellungen, der Befugnisse und der Kontrollverfahren im Grundgesetz und in Einzelgesetzen festgeschrieben 300. Von Bedeutung sind hier: * das Grundgesetz (GG), Artikel 73 und 87, * das Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin (VSG Bln),301 * das Gesetz zur Beschränkung des Postund Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz) sowie das Gesetz zur Ausführung des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz, * das Bundesverfassungsschutzgesetz, * das Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz (BSÜG). 2.2 Entwicklungen in der Rechtsprechung und Gesetzesnovellierungen Novellierung des G-10 Gesetzes Das Artikel 10-Gesetz (G 10) wurde zum 1. August 2009 novelliert. Der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung wurde mit SS 3a G 10 sowie mit SS 3b G 10 der Schutz zeugnisverweigerungsberechtigter Personen aufgenommen. Entsprechend der jüngeren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts regelt SS 3a G 10 den Schutz des Kernbereichs privater Lebensführung bei Beschränkungen nach SS 1 Abs. 1 Nr. 1 G 10.302 300 Detaillierte Darstellungen sowie Gesetzestexte sind auf der Internetseite des Verfassungsschutzes unter www.verfassungsschutz-berlin.de/Grundlagen eingestellt. 301 Der vollständige Gesetzestext ist im Anhang abgedruckt und kann auf der Internetseite des Berliner Verfassungsschutzes unter www.verfassungsschutz-berlin.de abgerufen werden. 302 Vgl. zur "akustischen Wohnraumüberwachung" BVerfG 2 BvR 543/06 vom 11.5.2007 und zur so genannten "Online-Durchsuchung" BVerfG 1 BvR 370/07 vom 27.2.2008. 246 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Eine Beschränkungsmaßnahme (Telekommunikationsoder Postüberwachung) ist nach der Neufassung unzulässig, wenn die Annahme besteht, dass durch sie allein Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst werden. Bestehen insoweit Zweifel, darf nicht "live" mitgehört und nur eine automatische Aufzeichnung fortgesetzt werden. Diese Aufzeichnungen sind unverzüglich einem Mitglied der G 10-Kommission zur Entscheidung über die Verwertbarkeit oder Löschung der Daten vorzulegen. Weiterhin sieht SS 3 a G 10 ein Verwertungsverbot und Löschungsgebot vor. Ein solches Verwertungsverbot und Löschungsgebot regelt SS 3b G 10 für nach SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 4 Strafprozessordnung (StPO) zeugnisverweigerungsberechtigte Personen (SS 53a StPO gilt entsprechend). Beschränkungen sind bei voraussichtlichen Erkenntnissen, die diesen Zeugnisverweigerungsrechten unterliegen, im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu prüfen und gegebenenfalls zu unterlassen oder einzuschränken. Keine Anwendung findet SS 3b G 10 auf Personen, die selbst nach SS 3 Abs. 1 G 10 verdächtig sind. Verfassungsschutz Berlin 247 2.3 Kontrolle Die Verfassungsschutzbehörde unterliegt bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben einer Kontrolle auf mehreren Ebenen: Öffentliche Kontrolle Revision durch Bürger und Kontrollinstanz Medien der Leitung der Senatsverwaltung für Inneres und Sport Datenschutz Allgemeine Beauftragter für parlamentarische Datenschutz und Kontrolle durch das Informationsfreiheit Abgeordnetenhaus Debatten, Aktuelle Stunden, Kleine und Große Anfragen, Petitionen Abteilung II Verfassungsschutz Gerichtliche Besondere parlamenKontrolle tarische Kontrolle durch VerwaltungsAusschuss für Vergerichte fassungsschutz / ggf. Untersuchungsausschuss G10-Kommission Vertrauensperson Kontrolle von Eingrifdes Ausschusses für fen in das Postund Verfassungsschutz Fernmeldegeheimnis nach Art. 10 GG 248 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 3 Arbeitsweise Der Verfassungsschutz Berlin hat laut Verfassungsschutzgesetz Berlin (VSG Bln) die Aufgabe, den Senat und das Abgeordnetenhaus, andere zuständige staatliche Stellen und die Öffentlichkeit über Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung zu unterrichten.303 Die Behörde beschafft Informationen, analysiert sie und unterrichtet Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit über ihre Erkenntnisse. Informationsbeschaffung Bei der Informationsbeschaffung ist zwischen offenen und verdeckt erhobenen Informationen zu unterscheiden. Der Verfassungsschutz erhält einen hohen Anteil seiner Informationen aus allgemein zugänglichen Veröffentlichungen und Veranstaltungen. Nachrichtendienstliche Mittel dürfen nach dem VSG Bln eingesetzt werden, wenn verfassungsfeindliche Bestrebungen weitgehend konspirativ agieren und sich wegen der Abschottung auf andere Weise keine Informationen gewinnen lassen. Nach den Vorgaben des VSG Bln darf der Einsatz dieser Mittel nur erfolgen, wenn sie im Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachverhalts stehen. Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel kommt deshalb erst dann in Betracht, wenn die anderen Mittel der Nachrichtenbeschaffung erschöpft sind, d.h. wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Zu den nachrichtendienstlichen Mitteln zählen der Einsatz von Vertrauenspersonen (so genannten V-Personen, die aus Beobachtungsobjekten berichten),304 die Observation sowie die Überwachung des Postund Fernmel303 Vgl. SSSS 1, 5 und 6 VSG Bln. 304 Die Informationsbeschaffung durch V-Personen ist von großer Bedeutung für die Gewinnung von Informationen über verfassungsfeindliche, insbesondere gewaltbereite, Organisationen. Der Einsatz von V-Personen steht in einem Spannungsfeld: Einerseits bedarf es des Schutzes der freiheitlichen Demokratie, andererseits der Beschaffung von Informationen durch Mitglieder extremistischer Organisationen. V-Personen sind Privatpersonen, die in der Regel der zu beobachtenden verfassungsfeindlichen Organisation angehören oder ihr nahe stehen. Sie berichten über deren Strukturen und Aktivitäten. Der Gesetzgeber hat dieses Mittel der Informationsbeschaffung den Verfassungsschutzbehörden zugewiesen (SS 8 Abs. 2 Nr. 1 VSG Bln). Aufgrund der besonderen Sensibilität der Maßnahme sind dem Einsatz von V-Personen aber enge rechtsstaatliche Grenzen gesetzt. Voraussetzung beim Einsatz von V-Personen ist die Vertraulichkeit (so genannter Quellenschutz). Die Innenministerkonferenz von Bund und Ländern hat im Dezember 2011 ihre Unterarbeitsgruppen damit beauftragt, "zu prüfen, inwieweit bei dem Einsatz von V-Leuten die Vorgaben zur Art und Weise der Auswahl, Führung und des Einsatzes von V-Leuten zu optimieren und als bundesweiter Standard konsequent anzuwenden ist." (Quelle: IMK-Beschluss vom 8.12.2011). Verfassungsschutz Berlin 249 deverkehrs, deren besonders engen rechtlichen Voraussetzungen im Gesetz zu Artikel 10 GG geregelt sind. Zur Bekämpfung gewalttätiger, insbesondere terroristischer Bestrebungen dürfen Anfragen an Luftverkehrsunternehmen, Telekommunikationsanbieter und Kreditinstitute gestellt werden. Gerade zur Aufklärung islamistischer terroristischer Netzwerke kann es erforderlich sein, Flüge festzustellen, Finanzierungsströme aufzuklären und Telefonverbindungsdaten zur Feststellung von Kontakten zu erlangen. Wegen der Eingriffstiefe dieser Befugnisse wurde die Umsetzung 2005 auf Bundesebene evaluiert. Danach wurden die Regelungen als erfolgreich und angemessen bewertet. Auf der Grundlage dieser Evaluation hat der Bundesgesetzgeber im so genannten Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz diese Instrumente nicht nur für weitere fünf Jahre bestätigt, sondern auch Voraussetzungen für ihren Einsatz je nach Eingriffstiefe differenziert. Zudem wurde der Anwendungsbereich ausgeweitet. Die Anfragen können vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) nunmehr auch eingesetzt werden, wenn schwerwiegende Gefahren abzuwehren sind und es um extremistische Bestrebungen geht, die auf Gewalt gerichtet sind. 2011 wurden die Vorschriften auf Bundesebene erneut evaluiert. In der Folge wurden die Befugnisse im Wesentlichen bestätigt, teilweise effektiver ausgestaltet. Informationsbearbeitung Die durch die Informationsbeschaffung gesammelten Rohdaten müssen gefiltert, systematisiert und analysiert werden. Dabei kommt der Informationstechnik für die Verarbeitung großer Datenmengen eine wichtige Rolle zu. Als bundesweite Verbunddatei existiert für die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder das "Nachrichtendienstliche Informationssystem" (NADIS). Hierüber ist es möglich abzufragen, ob Daten zu einer Person bei einer Verfassungsschutzbehörde erfasst sind.305 Soweit dies zur Aufklärung von sicherheitsgefährdenden oder geheimdienstlichen Tätigkeiten von rechtsextremistischen oder von gewaltorientierten Bestrebungen erforderlich ist, dürfen auch Textdateien oder erweiterte Erkenntnisse ausgetauscht werden. Ende 2012 waren für Berlin 31 385 Datensätze im NADIS gespeichert (2011: 28 346). Der überwiegende Anteil dieser Datensätze fällt auf die Sicherheitsund Zuverlässigkeitsüberprüfungen. 305 Die Speicherungsgrundlagen sowie die Speicherungsdauer sind in den SSSS 11 - 17 VSG Bln geregelt. 250 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Die übrigen verteilen sich auf die Aufgabenbereiche Spionageabwehr, Islamismus, Ausländer-, Rechtsund Linksextremismus. Für die Auswertung der Daten spielt die präzise Definition von Analysebegriffen etwa zur Risikobewertung und die Entwicklung von Instrumenten wie die computergestützte geografische Analyse eine wichtige Rolle. Durch letztere können lokale Schwerpunkte herausgearbeitet werden (vgl. "Im Fokus"-Studien "Rechte Gewalt in Berlin" und "Linke Gewalt in Berlin" sowie zahlreiche Lageanalysen).306 Informationsweitergabe Die Informationsweitergabe an andere Behörden ermöglicht es diesen, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr dieser Gefahren zu ergreifen. Die Zusammenarbeit mit anderen Behörden geschieht auf Grundlage der Regelungen des VSG Bln über die Informationsweitergabe.307 Neben repressiven Maßnahmen dient auch die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Extremismus dem Schutz der Demokratie. Die Unterrichtung der Öffentlichkeit ist deshalb als Aufgabe im VSG Bln festgeschrieben.308 Zusammenarbeit mit anderen Behörden Bei der Weitergabe von Erkenntnissen über Personen wird danach unterschieden, ob es sich um Sicherheitsbehörden, andere öffentliche Stellen oder ausländische Institutionen handelt. * Bei der Zusammenarbeit im Verfassungsschutzverbund besteht eine Informationspflicht für alle anfallenden Erkenntnisse, die für die Aufgabenerfüllung der anderen Behörden erforderlich sind (SS 19 VSG Bln). * Die Zusammenarbeit mit Polizei und Staatsanwaltschaft wird durch besondere Übermittlungsbefugnisse flankiert. Wenn es zur Verhinderung und Verfolgung von Straftaten im Zusammenhang mit extremistischen Bestrebungen erforderlich ist, dürfen Erkenntnisse weitergegeben werden (SS 21 VSG Bln). * An andere öffentliche Stellen dürfen Erkenntnisse über Personen insbesondere übermittelt werden, wenn sie die Informationen zum Schutz vor verfassungsfeindlichen Bestrebungen benötigen oder wenn es zur Aufgabenerfüllung der Verfassungsschutzbehörde erforderlich ist (SS 22 VSG Bln). 306 Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Rechte Gewalt in Berlin. Berlin 2004, Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Rechte Gewalt in Berlin 2003 bis 2006. Berlin 2007, Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Linke Gewalt in Berlin. Berlin 2009. 307 Vgl. speziell SSSS 18 - 25 VSG Bln. 308 Vgl. SS 5 VSG Bln. Verfassungsschutz Berlin 251 * Besondere Beschränkungen gelten für die Weitergabe personenbezogener Informationen an ausländische Stellen (SSSS 24 und 25 VSG Bln). Angesichts der anhaltenden Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus haben die Innenminister die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren ausgebaut. 2004 hat das "Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum" (GTAZ) in Berlin-Treptow seine Arbeit aufgenommen. Neben Experten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), des Bundeskriminalamtes (BKA), des Bundesnachrichtendienstes (BND), des Generalbundesanwalts (GBA) sowie ausländischer Partnerdienste sind die Länder mit Verbindungsbeamten der Polizei und der Verfassungsschutzbehörden dort vertreten. Das GTAZ ermöglicht, Informationen zum islamistischen Terrorismus umgehend gemeinsam zu analysieren und die operativen Maßnahmen abzustimmen. Gerade bei der Bewältigung besonderer Gefährdungslagen wie anlässlich der Bundestagswahl 2009 hat sich die Institution bewährt. Ende 2006 trat das Gesetz zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizei und Nachrichtendiensten in Kraft.309 Von besonderer Bedeutung ist die Antiterrordatei (ATD). Sie dient dem Erkenntnisaustausch zu Personen, die dem internationalen Terrorismus mit Bezug zur Bundesrepublik Deutschland zugerechnet werden. Das "Gemeinsame Internet-Zentrum" (GIZ) wurde im Januar 2007 eingerichtet. In ihm arbeiten Mitarbeiter von BfV, BKA, BND, MAD und GBA zusammen, um ihr Expertenwissen in der Beobachtung islamistischer Aktivitäten im Internet zu bündeln. Die stetig wachsende Zahl islamistischer Webseiten belegt die zunehmende Bedeutung des Internets für militante Islamisten, die dieses Medium vor allem als Propagandaund Rekrutierungsinstrument intensiv nutzen. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die Analyse und Bewertung entsprechender Webseiten für die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus an Bedeutung. Nach der Aufdeckung der Gruppierung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) und ihrer Taten im November wurde analog zum Arbeitsgebiet islamistischer Terrorismus auch im Rechtsextremismus eine Intensivierung der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden auf den Weg gebracht. 309 Gesetz zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder vom 22.12.2006. 252 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Im Dezember 2011 wurde bereits das "Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus" (GAR) eingerichtet, das im Wechsel beim BKA in Meckenheim und dem BfV in Köln tagt. Es dient der engeren Koordination und Kooperation zwischen den Nachrichtendiensten und den Polizeibehörden von Bund und Ländern und ging im Herbst 2012 in dem neuen "Gemeinsamen Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum (GETZ)" für alle Phänomenbereiche auf. Eine Verbunddatei Rechtsextremismus (RED) für Polizeibehörden und Nachrichtendienste sowie eine koordinierte Internetauswertung Rechtsextremismus (KIAR) nahm ebenfalls 2012 ihren Betrieb auf. Verfassungsschutz Berlin 253 4 Für Bürger und Politik: Die Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes Die Information von Politik und Öffentlichkeit über Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung ist die Aufgabe des Berliner Verfassungsschutzes, die im Verfassungsschutzgesetz an erster Stelle genannt wird. Als das Landesamt für Verfassungsschutz im Jahr 2000 aufgelöst und die Abteilung II bei der Senatsverwaltung für Inneres und Sport gegründet wurde, war es politischer Konsens, dass der Öffentlichkeitsarbeit ein gewichtiger Stellenwert eingeräumt wird. Diesen Auftrag erfüllen wir seit über zehn Jahren mit großem Engagement. Wir informieren Senat, Parlament und die Öffentlichkeit über aktuelle Entwicklungen in den Beobachtungsfeldern - so weitgehend und intensiv wie möglich. Dem Verfassungsschutz sind selbstverständlich in der Art und im Umfang seiner offenen Informationen Grenzen gesetzt. Oftmals werden die politische Leitung und die parlamentarischen Kontrollgremien in vertraulicher oder nicht-öffentlicher Sitzung über gravierende Ereignisse und Entwicklungen informiert. Gleichwohl sind wir bestrebt, interessante und bemerkenswerte Aktivitäten und Veränderungen in den Extremismusspektren auch der Öffentlichkeit mitzuteilen. Sei es in wissenschaftlichen Analysen oder knappen "Aktuellen Meldungen" im Internet - dem Thema angemessen, informieren wir aktuell und präzise. Weil wir dazu beitragen, die gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit dem Extremismus zu führen, leistet die Öffentlichkeitsarbeit einen aktiven Beitrag zur Prävention, indem er hinsichtlich extremistischer Hintergründe und Entwicklungen sensibilisiert. Wir informieren aber nicht nur in unterschiedlichen Publikationen und über das Internet. Wir halten auch Vorträge für Bildungseinrichtungen und interessierte Organisationen. Zudem veranstaltet der Berliner Verfassungsschutz Symposien zu den verschiedenen Themen. 254 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Dies sind die Formate der Öffentlichkeitsarbeit im Einzelnen: Publikationen Der Berliner Verfassungsschutz hat mehrere Publikationsreihen entwickelt, um dem unterschiedlichen Informationsbedarf gerecht zu werden. Das Publikationsangebot des Berliner Verfassungsschutzes findet große Resonanz: 2012 wurden 20 000 Broschüren verteilt. Darüber hinaus sind alle Publikationen im Internet abrufbar. * Verfassungsschutzberichte: Den umfassendsten Überblick über die einzelnen Beobachtungsfelder geben die jährlichen Verfassungsschutzberichte. Sie informieren über das aktuelle Geschehen im extremistischen Spektrum, über die ideologischen Grundlagen des Rechts-, Linksund Ausländerextremismus sowie über die wichtigsten in Berlin vertretenen extremistischen Gruppierungen. * Reihe "IM FOKUS": Die Reihe behandelt einzelne Themenkomplexe des Extremismus wie rechte oder linke Gewalttaten oder Phänomene des Islamismus. Auch eine Broschüre zu Scientology liegt vor. Stärker als im Verfassungsschutzbericht steht die Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Forschung im Vordergrund. * Lageund Wahlanalysen: Diese Reihe bietet kurze Analysen zu Detailthemen. * Reihe "INFO": Die "INFO"-Reihe bietet praxisnahe kompakte Informationen über Erscheinungsformen des Extremismus. Die "INFO"-Publikation "Rechtsextremistische Musik" wurde 2012 zum dritten Mal in überarbeiteter Fassung aufgelegt und wird stark nachgefragt. * "Lupe": Die Broschüre "Verfassungsschutz - nehmen Sie uns unter die Lupe" gibt Basisinformationen über Aufgaben und Befugnisse, Arbeitsfelder und Vorgehensweisen des Verfassungsschutzes. Gremienarbeit Der Berliner Verfassungsschutz beteiligt sich in der Gremienarbeit am Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen. So nimmt er am Berliner Islamforum310 teil. Zudem ist er im "Berliner Beratungsnetzwerk" gegen Rechtsextremismus vertreten und hat am Aufbau des ressortübergreifenden Berliner "Verbundes gegen Sekten" mitgewirkt, der von der Sektenleitstelle der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft koordiniert wird. 310 Das Islamforum ist ein Kooperationsprojekt des Beauftragten des Berliner Senats für Integration und Migration und der 2003 gegründeten Muslimischen Akademie Deutschlands. Verfassungsschutz Berlin 255 Internet Über den Internetauftritt können unter www.verfassungsschutz-berlin.de Aktuelle Meldungen, Informationen über die Grundlagen der Verfassungsschutzarbeit sowie die Veranstaltungen des Verfassungsschutzes Berlin und alle Publikationen abgerufen werden. Bürgerund Hinweistelefon Das Bürgertelefon als Teil der Öffentlichkeitsarbeit nimmt Ihre Hinweise oder Fragen gerne entgegen. Zu erreichen sind wir unter der Telefonnummer 030 90129-440 oder unter der E-Mail-Adresse info@verfassungsschutz-berlin.de. Daneben haben wir ein vertrauliches Telefon für Hinweise, z.B. zur Aufklärung des islamistischen Terrorismus, an den Berliner Verfassungsschutz eingerichtet: - 030 90129-400 (in deutscher Sprache) - 030 90129-401 (in türkischer Sprache) - 030 90129-402 (in arabischer Sprache) Die Anschlüsse sind werktags von 9.00 bis 15.00 Uhr von sprachkundigen Mitarbeitern besetzt. Außerhalb der genannten Zeiten ist ein Anrufbeantworter geschaltet. Darüber hinaus können auch vertrauliche E-Mails an die Adressen info@verfassungsschutz-berlin. de oder aman@verfassungsschutz-berlin.de gesendet werden. 256 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 IV Anhang 258 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 1 Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin Gesetz über den VerfassungsSS 3 Dienstkräfte schutz in Berlin (1) Die Dienstkräfte der Verfassungsschutzabteilung haben neben den allgemeinen Pflichten die sich aus (Verfassungsschutzgesetz Berlin - VSG Bln) in der dem Wesen des Verfassungsschutzes und ihrer dienstFassung vom 25. Juni 2001, geändert durch Art. V des lichen Stellung ergebenden besonderen Pflichten. Sie Gesetzes vom 30. Juli 2001 (GVBl. S. 305), geändert haben sich jederzeit für den Schutz der freiheitlichen durch Art. II des Gesetzes vom 5. Dezember 2003 (GVBl. demokratischen Grundordnung im Sinne des Grund571), zuletzt geändert durch Gesetz vom 1. Dezember gesetzes und der Verfassung von Berlin einzusetzen. 2010 (GVBl., S. 534) Die Funktion des Leiters der für den Verfassungsschutz zuständigen Abteilung soll nur einer Person übertragen werden, die die Befähigung zum Richteramt besitzt. (2) Der Senat von Berlin kann jährlich bestimmen, Erster Abschnitt in welchem Umfang Dienstkräften der VerfassungsAufgaben und Befugnisse der schutzabteilung freie, frei werdende und neu geschaffene Stellen in der Hauptverwaltung für Zwecke der Verfassungsschutzbehörde Personalentwicklung vorbehalten werden. SS 1 Zweck des Verfassungsschutzes SS 4 Zusammenarbeit Der Verfassungsschutz dient dem Schutz der (1) Die Verfassungsschutzbehörde ist verpflichtet, freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des mit Bund und Ländern in Angelegenheiten des Bestandes und der Sicherheit der Bundesrepublik Verfassungsschutzes zusammenzuarbeiten. Die Deutschland und ihrer Länder. Zusammenarbeit besteht insbesondere in gegenseitiger Unterstützung und Information sowie in der SS 2 Organisation Unterhaltung gemeinsamer Einrichtungen (wie z.B. (1) Verfassungsschutzbehörde ist die Senatsverdas nachrichtendienstliche Informationssystem des waltung für Inneres. Die für den Verfassungsschutz Bundes und der Länder [NADIS] und die Schule für zuständige Abteilung nimmt ihre Aufgaben gesondert Verfassungsschutz). von der für die Polizei zuständigen Abteilung wahr. (2) Verfassungsschutzbehörden anderer Länder (2) Die für den Verfassungsschutz zuständige dürfen im Geltungsbereich dieses Gesetzes nur im Abteilung ist datenverarbeitende Stelle im Sinne des Einvernehmen, das Bundesamt für Verfassungsschutz SS 4 Abs. 3 Nr. 1 des Berliner Datenschutzgesetzes in nur im Benehmen mit der Verfassungsschutzbehörde der Fassung vom 17. Dezember 1990 (GVBl. 1991 S. tätig werden. 16, 54), das zuletzt durch Art. IX des Gesetzes vom 30. November 2000 (GVBl. S. 495) geändert worden ist. SS 5 Aufgaben Die Übermittlung an andere Organisationseinheiten der Verfassungsschutzbehörde der Senatsverwaltung für Inneres ist ungeachtet der (1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die Aufgabe, fachund dienstaufsichtlichen Befugnisse zulässig, den Senat und das Abgeordnetenhaus von Berlin, anwenn dies für die Aufgabenerfüllung nach SS 5 Abs. 1 dere zuständige staatliche Stellen und die Öffentlicherforderlich ist. keit über Gefahren für die freiheitliche demokratische (3) Bei der Leitung der Senatsverwaltung für Inneres Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit des wird eine Revision eingerichtet. Die Revision ist unbeBundes und der Länder zu unterrichten. Dadurch soll schadet ihrer Verantwortung gegenüber dem Senator es den staatlichen Stellen insbesondere ermöglicht im Übrigen in der Durchführung von Prüfungen und werden, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur der Beurteilung von Prüfungsvorgängen unabhängig. Abwehr dieser Gefahren zu ergreifen. Verfassungsschutzgesetz 259 (2) Zur Erfüllung dieser Aufgaben sammelt und eine unorganisierte Gruppe handelt, wer sie in ihren wertet die Verfassungsschutzbehörde Informationen, Bestrebungen nachdrücklich unterstützt. Verhaltensinsbesondere sachund personenbezogene Daten, weisen von Einzelpersonen, die nicht in einer oder für Auskünfte, Nachrichten und Unterlagen aus über eine Organisation oder in einer oder für eine unorga1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokranisierte Gruppe handeln, sind Bestrebungen im Sinne tische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit dieses Gesetzes, wenn sie auf Anwendung von Gewalt des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine gerichtet sind oder aufgrund ihrer Wirkungsweise ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der geeignet sind, ein Schutzgut dieses Gesetzes erheblich Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder zu beschädigen. ihrer Mitglieder zum Ziele haben, (2) Bestrebungen im Sinne dieses Gesetzes, die 2. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes für gerichtet sind, sind solche, die auf die Beseitigung oder eine fremde Macht, Außerkraftsetzung wesentlicher Verfassungsgrundsät3. Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundgeze abzielen. Hierzu gehören: setzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf 1. das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige und Abstimmungen und durch besondere Organe Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung (Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes) gerichtet sind. in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und (3) Die Verfassungsschutzbehörde wirkt auf Ersuchen geheimer Wahl zu wählen, der zuständigen öffentlichen Stellen mit 2. die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungs1. bei der Sicherheitsüberprüfung von Personen, denen mäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftige Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse anvertraut 3. das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlawerden, die Zugang dazu erhalten sollen oder ihn sich mentarischen Opposition, verschaffen können, 4. die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwort2. bei der Sicherheitsüberprüfung von Personen, die lichkeit gegenüber der Volksvertretung, an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebens oder 5. die Unabhängigkeit der Gerichte, verteidigungswichtigen Einrichtungen beschäftigt sind 6. der Ausschluss jeder Gewaltund Willkürherrschaft oder werden sollen, und 3. bei technischen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz 7. die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte. von im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürf(3) Im Sinne dieses Gesetzes sind tigen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen 1. Bestrebungen gegen den Bestand des Bundes oder gegen die Kenntnisnahme durch Unbefugte, eines Landes solche, die darauf gerichtet sind, die Frei4. bei aufenthaltsrechtlichen Verfahren, Einbürgeheit des Bundes oder eines Landes von fremder Herrrungsverfahren, jagdund waffenrechtlichen Verfahren schaft aufzuheben, ihre staatliche Einheit zu beseitigen sowie bei sonstigen gesetzlich vorgeschriebenen oder ein zu ihm gehörendes Gebiet abzutrennen, Überprüfungen; die Mitwirkung ist nur zulässig, wenn 2. Bestrebungen gegen die Sicherheit des Bundes oder diese zum Schutz der freiheitlichen demokratischen eines Landes solche, die darauf gerichtet sind, den Grundordnung oder für Zwecke der öffentlichen SiBund, die Länder oder deren Einrichtungen in ihrer cherheit erforderlich ist; Näheres wird in einer VerwalFunktionsfähigkeit erheblich zu beeinträchtigen. tungsvorschrift des Senators für Inneres im Benehmen (4) Auswärtige Belange im Sinne des SS 5 Abs. 2 Nr. 3 mit dem Berliner Beauftragten für den Datenschutz werden nur gefährdet, wenn innerhalb des Geltungsbeund für das Recht auf Akteneinsicht bestimmt. reichs des Grundgesetzes Gewalt ausgeübt oder durch Die Befugnisse der Verfassungsschutzbehörde bei der Handlungen vorbereitet wird und diese sich gegen die Mitwirkung nach Satz 1 Nr. 1 und 2 sind im Berliner politische Ordnung oder Einrichtungen anderer Staaten Sicherheitsüberprüfungsgesetz vom 2. März 1998 richten. (GVBl. S. 26) geregelt. SS 7 Voraussetzung und Rahmen für die SS 6 Begriffsbestimmungen Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde (1) Bestrebungen im Sinne des SS 5 Abs. 2 Nr. 1 und (1) Soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, darf 3 sind politisch motivierte, zielund zweckgerichtete die Verfassungsschutzbehörde bei der Wahrnehmung Verhaltensweisen oder Betätigungen von Organiihrer Aufgaben nach SS 5 Abs. 2 nur tätig werden, sationen, Personenzusammenschlüssen ohne feste wenn im Einzelfall tatsächliche Anhaltspunkte für hierarchische Organisationsstrukturen (unorganisierte den Verdacht der dort genannten Bestrebungen oder Gruppen) oder Einzelpersonen gegen die in SS 5 Abs. 2 Tätigkeiten vorliegen. bezeichneten Schutzgüter. Für eine Organisation oder 260 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf für die 2. Observation, Prüfung, ob die Voraussetzungen des Absatzes 1 3. Bildaufzeichnungen (Fotografieren, Videografieren vorliegen, die dazu erforderlichen personenbezogenen und Filmen), Daten aus allgemein zugänglichen Quellen erheben, 4. verdeckte Ermittlungen und Befragungen, speichern und nutzen. Eine Speicherung dieser Daten 5. Mithören ohne Inanspruchnahme technischer Mittel, im nachrichtendienstlichen Informationssystem (NA6. Mithören und Aufzeichnen des nicht öffentlich DIS) oder in anderen Verbunddateien ist nicht zulässig. gesprochenen Wortes unter Einsatz technischer Mittel, Eine Speicherung der nach Satz 1 erhobenen perso7. Beobachtungen des Funkverkehrs auf nicht für den nenbezogenen Daten in Akten und Dateien über den allgemeinen Empfang bestimmten Kanälen sowie die Ablauf eines Jahres seit der Speicherung hinaus ist nur Sichtbarmachung, Beobachtung, Aufzeichnung und zulässig, wenn spätestens von diesem Zeitpunkt an die Entschlüsselung von Signalen in KommunikationssyVoraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen. Dasselbe stemen, gilt für das Anlegen personenbezogener Akten. 8. Verwendung fingierter biografischer, beruflicher (3) Zur Erfüllung ihrer Aufgaben darf die Verfassungsoder gewerblicher Angaben (Legenden), schutzbehörde nur die dazu erforderlichen Maßnah9. Beschaffung, Erstellung und Verwendung von Tarnmen ergreifen; dies gilt insbesondere für die Erhebung papieren und Tarnkennzeichen, und Verarbeitung personenbezogener Informationen. 10. Überwachung des Brief-, Post-, und FernmeldeverVon mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen kehrs nach Maßgabe des Art. 10-Gesetzes, vom 26. Juni hat sie diejenige auszuwählen, die den einzelnen, 2001 (BGBl. I S. 1254, 2298), zuletzt geändert durch insbesondere in seinen Grundrechten, und die AllgeArt. 5 Abs. 1 des Gesetzes vom 22. August 2002 (BGBl. meinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. I S. 3390), Eine Maßnahme hat zu unterbleiben, wenn sie einen 11. Einsatz von weiteren vergleichbaren Methoden, Nachteil herbeiführt, der erkennbar außer Verhältnis Gegenständen und Instrumenten zur heimlichen zu dem beabsichtigten Erfolg steht. Sie ist nur solange Informationsbeschaffung, insbesondere das sonstige zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass Eindringen in technische Kommunikationsbeziehungen er nicht erreicht werden kann. durch Bild-, Ton-, und Datenaufzeichnungen; dem (4) Soweit in diesem Gesetz besondere EingriffsbeEinsatz derartiger Methoden, Gegenstände und fugnisse das Vorliegen gewalttätiger Bestrebungen Instrumente hat der Ausschuss für Verfassungsschutz oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen des Abgeordnetenhauses von Berlin vorab seine voraussetzen, ist Gewalt die Anwendung körperlichen Zustimmung zu erteilen. Zwanges gegen Personen oder eine nicht unerhebliche Personen, die berechtigt sind, in Strafsachen aus Einwirkung auf Sachen. beruflichen Gründen das Zeugnis zu verweigern (SSSS 53 und 53a der Strafprozessordnung), darf die VerfasSS 8 Befugnisse sungsschutzbehörde nicht von sich aus nach Satz 1 Nr. 1 zur Beschaffung von Informationen in Anspruch der Verfassungsschutzbehörde nehmen, auf die sich ihr Zeugnisverweigerungsrecht (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf die zur bezieht. Die Behörden des Landes Berlin sind verpflichErfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Informationen tet, der Verfassungsschutzbehörde technische Hilfe für einschließlich personenbezogener Daten verarbeiten Tarnungsmaßnahmen zu geben. und bei Behörden, sonstigen öffentlichen Stellen sowie (3) Die Verfassungsschutzbehörde darf Informationen nicht öffentlichen Stellen, insbesondere bei Privateinschließlich personenbezogener Daten mit den personen, erheben, soweit die Bestimmungen dieses Mitteln gemäß Absatz 2 erheben, wenn Gesetzes dies zulassen. Ein Ersuchen der Verfassungs1. sich ihr Einsatz gegen Organisationen, unorganischutzbehörde um Übermittlung personenbezogener sierte Gruppen, in ihnen oder einzeln tätige Personen Daten darf nur diejenigen personenbezogenen Daten richtet, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte für den enthalten, die für die Erteilung der Auskunft unerlässVerdacht der Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 5 lich sind. Schutzwürdige Interessen des Betroffenen Abs. 2 bestehen, dürfen nur im unvermeidbaren Umfang beeinträchtigt 2. auf diese Weise Erkenntnisse über gewalttätige werden. Bestrebungen oder geheimdienstliche Tätigkeiten (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur heimlichen gewonnen werden können, Informationsbeschaffung, insbesondere zur Erhebung 3. auf diese Weise die zur Erforschung von Bestrepersonenbezogener Daten, nur in begründeten Fällen bungen oder Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 erforderlichen folgende nachrichtendienstliche Mittel anwenden: Quellen erschlossen werden können oder 1. Einsatz von Vertrauensleuten, sonstigen geheimen 4. dies zum Schutz der Dienstkräfte, Einrichtungen, GeInformanten, zum Zweck der Spionageabwehr übergenstände und Quellen der Verfassungsschutzbehörde worbenen Agenten, Gewährspersonen und verdeckten gegen sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Ermittlern, Tätigkeiten erforderlich ist. Datenerhebungen nach Satz 1 Nr. 2 dürfen sich gegen Verfassungsschutzgesetz 261 andere als die in SS 6 Abs. 1 Satz 2 und 3 genannten gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen nur richten, soweit dies zur Gewinnung von Personen, unerlässlich ist, ein konkreter Verdacht Erkenntnissen unerlässlich ist. in Bezug auf eine Gefährdung der vorstehenden (4) Die Erhebung nach Absatz 2 ist unzulässig, wenn Rechtsgüter besteht und der Einsatz anderer Methoden die Erforschung des Sachverhalts auf andere, die beund Mittel zur heimlichen Informationsbeschaffung troffene Person weniger beeinträchtigende Weise mögkeine Aussicht auf Erfolg bietet. Die Sätze 1 und 2 lich ist; eine geringere Beeinträchtigung ist in der Regel gelten entsprechend für einen verdeckten Einsatz anzunehmen, wenn die Informationen aus allgemein technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen zugänglichen Quellen oder durch eine Auskunft nach und Bildaufzeichnungen in Wohnungen. Maßnahmen SS 27 gewonnen werden können. Die Anwendung eines nach den Sätzen 1 bis 3 dürfen nur aufgrund richMittels gemäß Absatz 2 soll erkennbar im Verhältnis terlicher Anordnung getroffen werden. Bei Gefahr im zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachverhalts Verzuge kann die Maßnahme auch durch den Senator stehen. Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel für Inneres, der im Verhinderungsfall durch den nach Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 und 7 ist grundsätzlich nur zur zuständigen Staatssekretär vertreten wird, angeordnet Informationsbeschaffung über Bestrebungen gegen die werden; eine richterliche Entscheidung ist unverzüglich freiheitliche demokratische Grundordnung zulässig, nachzuholen. wenn diese Bestrebung die Anwendung von Gewalt (2) Die Anordnung ist auf höchstens drei Monate zu billigen oder sich in aktiv kämpferischer, aggressiver befristen. Verlängerungen um jeweils nicht mehr als Weise betätigen. Die Maßnahme ist unverzüglich zu drei weitere Monate sind auf Antrag zulässig, soweit beenden, wenn ihr Zweck erreicht ist oder sich Andie Voraussetzungen der Anordnung fortbestehen. haltspunkte dafür ergeben, dass er nicht oder nicht auf Liegen die Voraussetzungen der Anordnung nicht mehr diese Weise erreicht werden kann. Daten, die für das vor oder ist der verdeckte Einsatz technischer Mittel Verständnis der zu speichernden Informationen nicht zur Informationsgewinnung nicht mehr erforderlich, ist erforderlich sind, sind unverzüglich zu löschen. Die die Maßnahme unverzüglich zu beenden. Der Vollzug Löschung kann unterbleiben, wenn die Informationen der Anordnung erfolgt unter Aufsicht eines Bedienstevon anderen, die zur Erfüllung der Aufgaben erforderten der Verfassungsschutzbehörde, der die Befähigung lich sind, nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand zum Richteramt hat. getrennt werden können; in diesem Fall dürfen die (3) Sind technische Mittel ausschließlich zum Schutze Daten nicht verwertet werden. der bei einem Einsatz in Wohnungen tätigen Personen (5) Die näheren Voraussetzungen für die Anwendung vorgesehen, kann die Maßnahme durch den Senator der Mittel nach Absatz 2 sind in einer Verwaltungsvorfür Inneres, der im Verhinderungsfall durch den schrift des Senators für Inneres zu regeln, die auch die zuständigen Staatssekretär vertreten wird, angeordnet Zuständigkeit für die Anordnung solcher Informationswerden. Eine anderweitige Verwertung der hierbei beschaffung regelt. Die Verwaltungsvorschrift ist dem erlangten Erkenntnisse zum Zwecke der GefahrenabAusschuss für Verfassungsschutz des Abgeordnetenwehr ist nur zulässig, wenn zuvor die Rechtmäßigkeit hauses von Berlin vorab zur Kenntnis zu geben. der Maßnahme richterlich festgestellt worden ist; bei (6) Für die Speicherung und Löschung der durch MaßGefahr im Verzuge ist die richterliche Entscheidung nahmen nach Absatz 2 erlangten personenbezogenen unverzüglich nachzuholen. Daten gilt SS 4 Abs. 1 des Art. 10 Gesetzes entsprechend. (4) Zuständig für richterliche Entscheidungen nach (7) Polizeiliche Befugnisse stehen der Verfassungsden Absätzen 1 und 3 ist das Amtsgericht Tiergarten. schutzbehörde nicht zu; sie darf die Polizei auch nicht Für das Verfahren gelten die Vorschriften des Gesetzes im Wege der Amtshilfe um Maßnahmen ersuchen, zu über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbardenen sie selbst nicht befugt ist. keit entsprechend. (8) Die Verfassungsschutzbehörde ist an die allge(5) Der Senat unterrichtet die Kommission nach SS meinen Rechtsvorschriften gebunden (Art. 20 des 2 des Gesetzes zur Ausführung des Art. 10-Gesetzes Grundgesetzes). in der Fassung vom 25. Juni 2001 (GVBl. S. 251), das zuletzt durch Art. 1 des Gesetzes vom 5. Dezember 2003 (GVBl. S. 571) geändert worden ist, unverzüglich, SS 9 Einsatz technischer Mittel zur möglichst vorab, und umfassend über den Einsatz Überwachung von Wohnungen technischer Mittel nach Absatz 1 und, soweit rich(1) Das in einer Wohnung nicht öffentlich gesprochene terlich überprüfungsbedürftig, nach Absatz 3. SS 3 Wort darf mit technischen Mitteln ausschließlich bei des Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes zu Art. 10 der Wahrnehmung der Aufgaben auf dem Gebiet der Grundgesetz gilt entsprechend. Spionageabwehr und des gewaltbereiten politischen (6) Eine Maßnahme nach den Absätzen 1 und 3 Extremismus heimlich mitgehört oder aufgezeichnet ist nach ihrer Beendigung der betroffenen Person werden. Eine solche Maßnahme ist nur zulässig, wenn mitzuteilen, sobald eine Gefährdung des Zwecks der sie im Einzelfall zur Abwehr einer dringenden Gefahr Maßnahme mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr für die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer zu erwarten ist. Die durch Maßnahmen im Sinne des 262 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Satzes 1 erhobenen Informationen dürfen nur nach (5) Über die Einsichtnahme ist ein gesonderter NachMaßgabe des SS 4 Abs. 1 des Art. 10-Gesetzes verwenweis zu führen, aus dem ihr Zweck, die in Anspruch det werden. genommene Stelle, die Namen der Betroffenen, deren Daten für eine weitere Verwendung erforderlich sind, sowie der Zeitpunkt der Einsichtnahme hervorgehen. SS 9a Eingriffe, die in ihrer Art und Diese Aufzeichnungen sind gesondert aufzubewahren, Schwere einer Beschränkung des Brief-, durch technische und organisatorische Maßnahmen zu Postund Fernmeldegeheimnisses gleichsichern und, soweit sie für die Aufgabenerfüllung der kommen Verfassungsschutzbehörde nach SS 5 Abs. 2 nicht mehr (1) Ein Eingriff, der in seiner Art und Schwere einer benötigt werden, am Ende des Kalenderjahres, das dem Beschränkung des Brief-, Postund FernmeldegeheimJahr der Erstellung folgt, zu vernichten. nisses gleichkommt und nicht den Regelungen des SS 9 unterliegt, wozu insbesondere das Abhören und Aufzeichnen des nicht öffentlich gesprochenen Wortes mit dem verdeckten Einsatz technischer Mittel gehört, Zweiter Abschnitt bedarf der Anordnung durch den Senator für Inneres, der im Verhinderungsfall durch den zuständigen Datenverarbeitung Staatssekretär vertreten wird. (2) Die SSSS 2 und 3 des Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz gelten entsprechend. SS 11 Speicherung, Veränderung und Nut(3) SS 9 Abs. 6 gilt entsprechend. zung personenbezogener Informationen (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur Erfüllung ihrer Aufgaben rechtmäßig erhobene personenbezoSS 10 Registereinsicht durch die gene Informationen speichern, verändern und nutzen, Verfassungsschutzbehörde wenn (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur Aufklärung 1. tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder - von sicherheitsgefährdenden oder geheimdienstTätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 vorliegen oder lichen Tätigkeiten für eine fremde Macht oder 2. dies für die Erforschung oder Bewertung von - von Bestrebungen, die durch Anwendung von Gegewalttätigen Bestrebungen oder geheimdienstlichen walt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 erforderlich ist oder gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, 3. dies zur Schaffung oder Erhaltung nachrichtenden Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines dienstlicher Zugänge über Bestrebungen oder TätigLandes gerichtet sind oder keiten nach SS 5 Abs. 2 erforderlich ist oder - von Bestrebungen, die durch Anwendung von Ge4. dies zum Schutz der Dienstkräfte, Einrichtungen, Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen genstände und Quellen der Verfassungsschutzbehörde auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gegen sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche gefährden, Tätigkeiten erforderlich ist oder von öffentlichen Stellen geführte Register, z.B. 5. sie auf Ersuchen der zuständigen Stelle nach SS 5 Melderegister, Personalausweisregister, Passregister, Abs. 3 tätig wird. Führerscheinkarteien, Waffenscheinkarteien, einsehen. In Akten dürfen über Satz 1 Nr. 2 hinaus personen(2) Eine solche Einsichtnahme ist nur zulässig, wenn bezogene Daten auch gespeichert, verändert und 1. die Aufklärung auf andere Weise nicht möglich genutzt werden, wenn dies sonst zur Erforschung und erscheint, insbesondere durch eine Übermittlung der Bewertung von Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 zwingend Daten durch die registerführende Stelle der Zweck der erforderlich ist. Maßnahme gefährdet würde, und (2) In Dateien gespeicherte Informationen müssen 2. die betroffene Person durch eine anderweitige Aufdurch Aktenrückhalt belegbar sein. klärung unverhältnismäßig beeinträchtigt würde, und (3) In Dateien ist die Speicherung von Informationen 3. eine besondere gesetzliche Geheimhaltungsvoraus der Intimsphäre der betroffenen Person unzulässchrift oder ein Berufsgeheimnis der Einsichtnahme sig. nicht entgegensteht. (3) Die Anordnung für die Maßnahme nach Absatz 1 trifft der Leiter der Verfassungsschutzabteilung, im Falle der Verhinderung der Vertreter. (4) Die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse dürfen nur zu den in Absatz 1 genannten Zwecken verwendet werden. Gespeicherte Informationen sind zu löschen und Unterlagen zu vernichten, sobald sie für diese Zwecke nicht mehr benötigt werden. Verfassungsschutzgesetz 263 SS 12 Speicherung, Veränderung und Nutderlich sind, es sei denn, dass ihre Aufbewahrung zur Wahrung schutzwürdiger Interessen der betroffenen zung personenbezogener Informationen Person notwendig ist. Die Vernichtung unterbleibt, von Minderjährigen wenn die Unterlagen von anderen, die zur Erfüllung der Die Speicherung personenbezogener Informationen Aufgaben erforderlich sind, nicht oder nur mit unverüber Minderjährige, die das 14. Lebensjahr nicht volltretbarem Aufwand getrennt werden können. endet haben, ist unzulässig. (5) Personenbezogene Informationen, die ausschließlich zu Zwecken der Datenschutzkontrolle, der Datensicherung oder zur Sicherstellung eines ordnungsSS 13 Speicherungsdauer gemäßen Betriebes einer Datenverarbeitungsanlage (1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die Speigespeichert werden, dürfen nur für diese Zwecke und cherungsdauer auf das für ihre Aufgabenerfüllung zur Verfolgung der in der jeweiligen Fassung des Berlierforderliche Maß zu beschränken. Die in Dateien gener Datenschutzgesetzes als Straftaten bezeichneten speicherten Informationen sind bei der EinzelfallbearHandlungen verwendet werden. beitung, spätestens aber fünf Jahre nach Speicherung der letzten Information, auf ihre Erforderlichkeit zu SS 15 Berichtigung und Sperrung persoüberprüfen. Sofern die Informationen Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 Nr. 1 oder 3 betreffen, sind sie nenbezogener Informationen in Akten (1) Stellt die Verfassungsschutzbehörde fest, dass in spätestens zehn Jahre nach der zuletzt gespeicherten Akten gespeicherte personenbezogene Informationen relevanten Information zu löschen. unrichtig sind, oder wird ihre Richtigkeit von dem (2) Sind Informationen über Minderjährige in Dateien Betroffenen bestritten, so ist dies in der Akte zu veroder in Akten, die zu ihrer Person geführt werden, gemerken oder auf sonstige Weise festzuhalten. speichert, ist nach zwei Jahren die Erforderlichkeit der (2) Die Verfassungsschutzbehörde hat personenbeSpeicherung zu überprüfen und spätestens nach fünf zogene Informationen in Akten zu sperren, wenn sie Jahren die Löschung vorzunehmen, es sei denn, dass im Einzelfall feststellt, dass ohne die Sperrung schutznach Eintritt der Volljährigkeit weitere Erkenntnisse würdige Interessen von Betroffenen beeinträchtigt nach SS 5 Abs. 2 angefallen sind, die zur Erfüllung der würden und die Daten für ihre Aufgabenerfüllung nicht Aufgaben im Sinne dieses Gesetzes eine Fortdauer der mehr erforderlich sind. Gesperrte Informationen sind Speicherung rechtfertigen. mit einem entsprechenden Vermerk zu versehen; sie dürfen nicht mehr genutzt oder übermittelt werden. SS 14 Berichtigung, Löschung und SperEine Aufhebung der Sperrung ist möglich, wenn ihre Voraussetzungen nachträglich entfallen. rung personenbezogener Informationen in Dateien (1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in Dateien SS 16 Dateianordnungen (1) Für jede automatisierte Datei der Verfassungsgespeicherten personenbezogenen Informationen schutzbehörde sind in einer Dateianordnung im zu berichtigen, wenn sie unrichtig sind; sie sind zu Benehmen mit dem Berliner Beauftragten für den ergänzen, wenn sie unvollständig sind und dadurch Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht schutzwürdige Interessen der betroffenen Person festzulegen: beeinträchtigt sein können. 1. Bezeichnung der Datei, (2) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in Dateien 2. Zweck der Datei, gespeicherten personenbezogenen Informationen zu 3. Inhalt, Umfang, Voraussetzungen der Speichelöschen, wenn ihre Speicherung irrtümlich erfolgt war, rungen, Übermittlung und Nutzung (betroffener unzulässig war oder ihre Kenntnis für die AufgabenerPersonenkreis, Arten der Daten), füllung nicht mehr erforderlich ist und schutzwürdige 4. Eingabeberechtigung, Interessen der betroffenen Person nicht beeinträchtigt 5. Zugangsberechtigung, werden. 6. Überprüfungsfristen, Speicherungsdauer, (3) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in Dateien 7. Protokollierung, gespeicherten personenbezogenen Informationen zu 8. Datenverarbeitungsgeräte und Betriebssystem, sperren, wenn die Löschung unterbleibt, weil Grund 9. Inhalt und Umfang von Textzusätzen, die der zu der Annahme besteht, dass durch die Löschung Erschließung von Akten dienen. schutzwürdige Interessen der betroffenen Person (2) Die Verfassungsschutzbehörde hat in angemesbeeinträchtigt würden; gesperrte Informationen sind senen Abständen die Notwendigkeit der Weiterführung entsprechend zu kennzeichnen und dürfen nur mit oder Änderung ihrer Dateien zu prüfen. Einwilligung der betroffenen Person verwendet werden. (4) In Dateien gelöschte Informationen sind gesperrt. Unterlagen sind zu vernichten, wenn sie zur Erfüllung der Aufgaben nach SS 5 nicht oder nicht mehr erfor- 264 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 SS 17 Gemeinsame Dateien SS 21 Informationsübermittlung an StrafBundesgesetzliche Vorschriften über die Datenververfolgungsbehörden in Angelegenheiten arbeitung in gemeinsamen Dateien der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder bleiben des Staatsund Verfassungsschutzes Die Verfassungsschutzbehörde übermittelt den unberührt. Staatsanwaltschaften und, vorbehaltlich der staatsanwaltlichen Sachleitungsbefugnis, den Polizeibehörden des Landes die ihr bekannt gewordenen Informationen einschließlich personenbezogener Daten, wenn Dritter Abschnitt tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Informationsübermittlung Übermittlung zur Verhinderung oder Verfolgung von Straftaten, die im Zusammenhang mit Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 stehen, erforderlich ist. SS 18 Grundsätze bei der Informationsübermittlung durch die VerfassungsSS 22 Übermittlung von Informationen an schutzbehörde den öffentlichen Bereich Die Übermittlung von personenbezogenen Informatio(1) Die im Rahmen der gesetzlichen Aufgabenerfüllung nen ist aktenkundig zu machen. In der entsprechenden gewonnenen, nicht personenbezogenen Erkenntnisse Datei ist die Informationsübermittlung zu vermerken. der Verfassungsschutzbehörde können an andere Vor der Informationsübermittlung ist der Akteninhalt Behörden und Stellen, insbesondere an die Polizei und im Hinblick auf den Übermittlungszweck zu würdigen die Staatsanwaltschaft, übermittelt werden, wenn sie und der Informationsübermittlung zugrunde zu legen. für die Aufgabenerfüllung der empfangenden Stellen Erkennbar unvollständige Informationen sind vor der erforderlich sein können. Übermittlung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf personendurch Einholung zusätzlicher Auskünfte zu vervollbezogene Informationen an inländische Behörden ständigen. und juristische Personen des öffentlichen Rechts übermitteln, wenn dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben SS 19 Informationsübermittlung zwischen erforderlich ist oder der Empfänger die Informationen den Verfassungsschutzbehörden zum Schutz vor Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS Die Verfassungsschutzbehörde unterrichtet das 5 Abs. 2 oder zur Strafverfolgung benötigt oder nach SS Bundesamt für Verfassungsschutz und die Verfas- 5 Abs. 3 tätig wird. sungsschutzbehörden der Länder über alle Angelegen(3) Die empfangende Stelle von Informationen nach heiten, deren Kenntnis zur Erfüllung der Aufgaben der Absatz 2 ist darauf hinzuweisen, dass sie die übermitempfangenden Stellen erforderlich ist. telten personenbezogenen Informationen nur zu dem Zweck verwenden darf, zu dessen Erfüllung sie ihr übermittelt wurden. SS 20 Informationsübermittlung an den Bundesnachrichtendienst und den MilitäSS 23 Übermittlung von Informationen rischen Abschirmdienst an Personen und Stellen außerhalb des Die Verfassungsschutzbehörde übermittelt dem Bundesnachrichtendienst und dem Militärischen öffentlichen Bereichs Personenbezogene Informationen dürfen an Personen Abschirmdienst die ihr bekannt gewordenen Inforoder Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs nicht mationen einschließlich personenbezogener Daten, übermittelt werden, es sei denn, dass dies zum Schutz wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des dass die Übermittlung für die Erfüllung der Aufgaben Bestandes oder der Sicherheit des Bundes oder eines der empfangenden Stellen erforderlich ist. Handelt Landes erforderlich ist und der Senator für Inneres, der die Verfassungsschutzbehörde auf Ersuchen, so ist im Verhinderungsfall durch den zuständigen Staatssesie zur Übermittlung nur verpflichtet und berechtigt, kretär vertreten wird, im Einzelfall seine Zustimmung wenn sich die Voraussetzungen aus den Angaben der erteilt hat. Die Verfassungsschutzbehörde führt über ersuchenden Behörde ergeben. die Auskunft nach Satz 1 einen Nachweis, aus dem der Zweck der Übermittlung, die Aktenfundstelle und der Empfänger hervorgehen; die Nachweise sind gesondert aufzubewahren, gegen unberechtigten Zugriff zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr seiner Erstellung folgt, zu vernichten. Der Empfänger darf die übermittelten personenbezogenen Verfassungsschutzgesetz 265 Informationen nur für den Zweck verwenden, zu dem SS 27 Übermittlung von Informationen an sie ihm übermittelt wurden. Der Empfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung und darauf hinzuweisen, die Verfassungsschutzbehörde (1) Die Behörden des Landes und die sonstigen der dass die Verfassungsschutzbehörde sich vorbehält, um Aufsicht des Landes unterstehenden juristischen Auskunft über die vorgenommene Verwendung der Personen des öffentlichen Rechts übermitteln von sich Informationen zu bitten. aus der Verfassungsschutzbehörde die ihnen bekannt gewordenen Informationen, insbesondere personenbeSS 24 Übermittlung von Informationen an zogene Daten, über Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2, die die Stationierungsstreitkräfte durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Die Verfassungsschutzbehörde darf personenbezogene Vorbereitungshandlungen verfolgt werden, und über Informationen an Dienststellen der Stationierungsgeheimdienstliche Tätigkeiten. Die Staatsanwaltschafstreitkräfte übermitteln, soweit die Bundesrepublik ten und, vorbehaltlich der staatsanwaltlichen SachleiDeutschland dazu im Rahmen von Art. 3 des Zusatzabtungsbefugnis, die Polizei übermitteln darüber hinaus kommens zu dem Abkommen zwischen den Parteien auch andere im Rahmen ihrer Aufgabenerfüllung des Nordatlantikpaktes über die Rechtsstellung bekannt gewordene Informationen über Bestrebungen ihrer Truppen hinsichtlich der in der Bundesrepublik im Sinne des SS 5 Abs. 2. Deutschland stationierten ausländischen Streitkräfte (2) Die Verfassungsschutzbehörde kann von jeder der vom 3. August 1959 (BGBl. 1961 II S. 1183) verpflichtet in Absatz 1 genannten öffentlichen Stellen verlangen, ist. Die Übermittlung ist aktenkundig zu machen. Der dass sie ihr die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderEmpfänger ist darauf hinzuweisen, dass die übermitlichen Informationen einschließlich personenbezogener telten Informationen nur zu dem Zweck verwendet Daten übermittelt, wenn die Informationen nicht aus werden dürfen, zu dem sie ihm übermittelt wurden. allgemein zugänglichen Quellen oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand oder nur durch eine den SS 25 Übermittlung von Informationen Betroffenen stärker belastende Maßnahme erhoben an öffentliche Stellen außerhalb des werden können. Es dürfen nur die Informationen übermittelt werden, die bei der ersuchten Behörde bereits Geltungsbereichs des Grundgesetzes bekannt sind. Die Verfassungsschutzbehörde darf personenbezogene (3) Die Verfassungsschutzbehörde braucht Ersuchen Informationen an ausländische öffentliche Stellen nicht zu begründen, soweit dies dem Schutz der betrofsowie an überoder zwischenstaatliche Stellen fenen Person dient oder eine Begründung den Zweck übermitteln, wenn die Übermittlung zur Erfüllung der Maßnahme gefährden würde. ihrer Aufgaben oder zur Wahrung erheblicher Sicher(4) Die Übermittlung personenbezogener Informatiheitsinteressen des Empfängers erforderlich ist. Die onen, die aufgrund einer Maßnahme nach SS 100a der Übermittlung unterbleibt, wenn auswärtige Belange Strafprozessordnung bekannt geworden sind, ist nur der Bundesrepublik Deutschland oder überwiegende zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür besteschutzwürdige Interessen der betroffenen Person hen, dass jemand eine der in SS 3 des Art. 10-Gesetzes entgegenstehen. Die Übermittlung ist nur im Einvergenannten Straftaten plant, begeht oder begangen nehmen mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz hat. Auf die der Verfassungsschutzbehörde nach Satz 1 zulässig. Sie ist aktenkundig zu machen. Der Empübermittelten Informationen findet SS 4 Abs. 6, auf die fänger ist darauf hinzuweisen, dass die übermittelten dazugehörenden Unterlagen findet SS 4 Abs. 1 Satz 2 personenbezogenen Informationen nur zu dem Zweck des Art. 10-Gesetzes entsprechende Anwendung. verwendet werden dürfen, zu dem sie ihm übermittelt (5) Vorschriften zur Informationsübermittlung an die wurden, und die Verfassungsschutzbehörde sich Verfassungsschutzbehörde nach anderen Gesetzen vorbehält, um Auskunft über die vorgenommene bleiben unberührt. Verwendung der Informationen zu bitten. (6) Die Verfassungsschutzbehörde hat die übermittelten Informationen nach ihrem Eingang unverzüglich darauf zu überprüfen, ob sie zur Erfüllung ihrer in SS SS 26 Unterrichtung der Öffentlichkeit 5 genannten Aufgaben erforderlich sind. Ergibt die Die Verfassungsschutzbehörde unterrichtet die Prüfung, dass sie nicht erforderlich sind, sind die UnÖffentlichkeit mindestens einmal jährlich über Bestreterlagen unverzüglich zu vernichten. Die Vernichtung bungen und Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2. Dabei ist die unterbleibt, wenn die Trennung von anderen InforÜbermittlung von personenbezogenen Informationen mationen, die zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich nur zulässig, wenn die Bekanntgabe für das Verständsind, nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand nis des Zusammenhanges oder der Darstellung von erfolgen kann; in diesem Fall sind die Informationen Organisationen oder unorganisierten Gruppierungen gesperrt und entsprechend zu kennzeichnen. erforderlich ist und die Interessen der Allgemeinheit (7) Soweit andere gesetzliche Vorschriften nicht an sachgemäßen Informationen das schutzwürdige besondere Regelungen über die Dokumentation Interesse des Betroffenen überwiegen. 266 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 treffen, haben die Verfassungsschutzbehörde und die Dienstleistungen, übermittelnde Stelle die Informationsübermittlung 4. Endpunkte festgeschalteter Verbindungen, ihr aktenkundig zu machen. Beginn und ihr Ende nach Datum und Uhrzeit. (5) Auskünfte nach den Abs. 1 bis 4 dürfen nur auf SS 27a Übermittlung von Informationen Antrag eingeholt werden. Der Antrag ist von der Leitung der Verfassungsschutzabteilung, im Falle durch nicht öffentliche Stellen an die ihrer Verhinderung von ihrem Vertreter schriftlich zu Verfassungsschutzbehörde stellen und zu begründen. Über den Antrag entscheidet (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einzelfall der Senator für Inneres, im Fall seiner Verhinderung bei Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten der Staatssekretär. Die Senatsverwaltung für Inneres und Finanzunternehmen unentgeltlich Auskünfte zu unterrichtet die Kommission nach SS 2 des Gesetzes Konten, Kontoinhabern und sonstigen Berechtigten zur Ausführung des Art. 10-Gesetzes über die beschiesowie weiteren am Zahlungsverkehr Beteiligten und zu denen Anträge vor deren Vollzug. Bei Gefahr in Verzug Geldbewegungen und Geldanlagen einholen, wenn dies kann der Senator für Inneres, im Falle seiner Verhindezur Beobachtung gewalttätiger Bestrebungen nach SS 5 rung der Staatssekretär den Vollzug der Entscheidung Abs. 2 Nr. 2 und 3 erforderlich ist und tatsächliche Anauch bereits vor der Unterrichtung der Kommission haltspunkte für Gefahren für Leib und Leben vorliegen. anordnen. Die Kommission prüft von Amts wegen (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einzelfall oder aufgrund von Beschwerden die Zulässigkeit und zur Beobachtung gewalttätiger Bestrebungen nach SS Notwendigkeit der Einholung von Auskünften. SS 15 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3 und wenn tatsächliche AnhaltsAbs. 5 des Art. 10-Gesetzes ist mit der Maßgabe entpunkte für Gefahren für Leib und Leben vorliegen sprechend anzuwenden, dass die Kontrollbefugnis der unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. 1 des Art. Kommission sich auf die gesamte Erhebung, Verarbei10-Gesetzes bei Personen und Unternehmen, die tung und Nutzung der nach den Abs. 1 bis 4 erlangten geschäftsmäßig Postdienstleistungen erbringen, sowie personenbezogenen Daten erstreckt. Entscheidungen bei denjenigen, die an der Erbringung dieser Dienstleiüber Auskünfte, die die Kommission für unzulässig stungen mitwirken, unentgeltlich Auskünfte zu Namen, oder nicht notwendig erklärt, hat die Senatsverwaltung Anschriften, Postfächern und sonstigen Umständen für Inneres unverzüglich aufzuheben. Für die Verardes Postverkehrs einholen. beitung der nach den Abs. 1 bis 4 erhobenen Daten ist (3) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einzelfall SS 4 des Art. 10-Gesetzes entsprechend anzuwenden. bei Luftfahrtunternehmen unentgeltlich Auskünfte zu Das Auskunftsersuchen und die übermittelten Daten Namen, Anschriften und zur Inanspruchnahme von dürfen dem Betroffenen oder Dritten nicht mitgeteilt Transportleistungen und sonstigen Umständen des werden. SS 12 Abs. 1 und 3 des Art. 10-Gesetzes findet Luftverkehrs einholen, wenn dies zur Beobachtung entsprechende Anwendung. gewalttätiger Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 Nr. 2 und (6) Die Senatsverwaltung für Inneres unterrichtet im 3 erforderlich ist und tatsächliche Anhaltspunkte für Abstand von höchstens sechs Monaten den Ausschuss Gefahren für Leib und Leben vorliegen. für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses (4) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einzelfall über die Durchführung der Absätze 1 bis 5; dabei ist zur Beobachtung gewalttätiger Bestrebungen nach SS insbesondere ein Überblick über Anlass, Umfang, 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3 und wenn tatsächliche AnhaltsDauer, Ergebnis und Kosten der im Berichtszeitraum punkte für Gefahren für Leib und Leben vorliegen durchgeführten Maßnahmen nach den Absätzen 1 bis unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. 1 des Art. 4 zu geben. 10-Gesetzes bei denjenigen, die geschäftsmäßig (7) Die Senatsverwaltung für Inneres unterrichtet das Telekommunikationsdienste und Teledienste erbringen Parlamentarische Kontrollgremium des Bundes jährlich oder daran mitwirken, unentgeltlich Auskünfte über die nach den Absätzen 1 bis 5 durchgeführten über Telekommunikationsverbindungsdaten und Maßnahmen; Abs. 6 gilt entsprechend. Teledienstnutzungsdaten einholen. Die Auskunft kann (8) Das Grundrecht des Brief-, Postund Fernmeldeauch in Bezug auf zukünftige Telekommunikation und geheimnisses (Art. 10 des Grundgesetzes, Art. 16 der zukünftige Nutzung von Telediensten verlangt werden. Verfassung von Berlin) wird nach Maßgabe der Absätze Telekommunikationsverbindungsdaten und Teledienst2, 4 und 5 eingeschränkt. nutzungsdaten sind: 1. Berechtigungskennungen, Kartennummern, SS 28 Übermittlungsverbote Standortkennung sowie Rufnummer oder Kennung des Die Übermittlung von Informationen nach den Voranrufenden und angerufenen Anschlusses oder der schriften dieses Abschnitts unterbleibt, wenn Endeinrichtung, 1. eine Prüfung durch die übermittelnde Stelle ergibt, 2. Beginn und Ende der Verbindung nach Datum und dass die Informationen zu löschen oder für die empUhrzeit, fangende Stelle nicht mehr bedeutsam sind, 3. Angaben über die Art der vom Kunden in Anspruch 2. überwiegende Sicherheitsinteressen dies erfordern, genommenen Telekommunikationsund Teledienst3. für die übermittelnde Stelle erkennbar ist, dass Verfassungsschutzgesetz 267 unter Berücksichtigung der Art der Informationen und inwieweit eine Teilauskunft möglich ist. Ein Geheimhalihrer Erhebung die schutzwürdigen Interessen der tungsinteresse liegt vor, wenn betroffenen Personen das Allgemeininteresse an der 1. eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung durch die Übermittlung überwiegen oder Auskunftserteilung zu besorgen ist, 4. besondere gesetzliche Übermittlungsregelungen 2. durch die Auskunftserteilung Quellen gefährdet sein entgegenstehen; die Verpflichtung zur Wahrung können oder die Ausforschung des Erkenntnisstandes gesetzlicher Geheimhaltungspflichten oder von Berufsoder der Arbeitsweisen der Verfassungsschutzbehörde oder besonderen Amtsgeheimnissen, die nicht auf zu befürchten ist, gesetzlichen Vorschriften beruhen, bleibt unberührt. 3. die Auskunft die öffentliche Sicherheit gefährden oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde oder SS 29 Minderjährigenschutz 4. die Informationen oder die Tatsache der Speiche(1) Informationen einschließlich personenbezogener rung nach einer Rechtsvorschrift oder ihrem Wesen Daten über das Verhalten Minderjähriger dürfen nach nach, insbesondere wegen der überwiegenden beden Vorschriften dieses Gesetzes übermittelt werden, rechtigten Interessen Dritter, geheimgehalten werden solange die Voraussetzungen der Speicherung nach SS müssen. 13 Abs. 2 erfüllt sind. Die Entscheidung nach den Sätzen 1 und 2 trifft der (2) Informationen einschließlich personenbezogener Leiter der Verfassungsschutzabteilung oder ein von Daten über das Verhalten Minderjähriger vor Vollenihm besonders beauftragter Mitarbeiter. dung des 16. Lebensjahres dürfen nach den Vorschrif(3) Die Ablehnung einer Auskunft ist zumindest insoten dieses Gesetzes nicht an ausländische oder überweit zu begründen, dass eine verwaltungsgerichtliche oder zwischenstaatliche Stellen übermittelt werden. Nachprüfung der Verweigerungsgründe gewährleistet wird, ohne dabei den Zweck der AuskunftsverweigeSS 30 Nachberichtspflicht rung zu gefährden. Die Gründe der Ablehnung sind in Erweisen sich Informationen nach ihrer Übermittlung jedem Fall aktenkundig zu machen. nach den Vorschriften dieses Gesetzes als unvollstän(4) Wird die Auskunftserteilung ganz oder teilweise abdig oder unrichtig, so hat die übermittelnde Stelle ihre gelehnt, ist die betroffene Person darauf hinzuweisen, Informationen unverzüglich gegenüber der empfandass sie sich an den Berliner Beauftragten für den Dagenden Stelle zu ergänzen oder zu berichtigen, wenn tenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht wenden dies zu einer anderen Bewertung der Informationen kann. Dem Berliner Beauftragten für den Datenschutz führen könnte oder zur Wahrung schutzwürdiger Inteund für das Recht auf Akteneinsicht ist auf sein Verressen der betroffenen Person erforderlich ist. Die Erlangen Auskunft zu erteilen, soweit nicht der Senator gänzung oder Berichtigung ist aktenkundig zu machen für Inneres im Einzelfall feststellt, dass dadurch die und in den entsprechenden Dateien zu vermerken. Sicherheit des Bundes oder eines Landes gefährdet würde. Mitteilungen des Berliner Beauftragten für den Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht an den Betroffenen dürfen keine Rückschlüsse auf den Erkenntnisstand der Verfassungsschutzbehörde VIERTER ABSCHNITT zulassen, soweit sie nicht einer weitergehenden Auskunftserteilung Auskunft zustimmt. Der Kontrolle durch den Berliner Beauftragten für den Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht unterliegen nicht personenbezogene SS 31 Auskunft an den Betroffenen Informationen, die der Kontrolle durch die Kommission (1) Die Verfassungsschutzbehörde erteilt einer nach SS 2 des Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes natürlichen Person über die zu ihr gespeicherten zu Art. 10 Grundgesetz unterliegen, es sei denn, die Informationen auf Antrag unentgeltlich Auskunft. Die Kommission ersucht den Berliner Beauftragten für den Auskunftsverpflichtung erstreckt sich nicht auf InforDatenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht, die mationen, die nicht der alleinigen VerfügungsberechtiEinhaltung der Vorschriften über den Datenschutz bei gung der Verfassungsschutzbehörde unterliegen, sowie bestimmten Vorgängen oder in bestimmten Bereichen auf die Herkunft der Informationen und die Empfänger zu kontrollieren und ausschließlich ihr darüber zu von Übermittlungen. berichten. (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf den Antrag ablehnen, wenn das öffentliche Interesse an der Geheimhaltung ihrer Tätigkeit oder ein überwiegendes Geheimhaltungsinteresse Dritter gegenüber dem Interesse der antragstellenden Person an der Auskunftserteilung überwiegt. In einem solchen Fall hat die Verfassungsschutzbehörde zu prüfen, ob und 268 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 SS 32 Akteneinsicht SS 34 Geheimhaltung (1) Sind personenbezogene Daten in Akten (1) Die Öffentlichkeit wird durch einen Beschluss des gespeichert, so kann dem Betroffenen auf Antrag Ausschusses ausgeschlossen, wenn das öffentliche Akteneinsicht gewährt werden, soweit GeheimhalInteresse oder berechtigte Interessen eines einzelnen tungsinteressen oder schutzwürdige Belange Dritter dies gebieten. Sofern die Öffentlichkeit ausgeschlossen nicht entgegenstehen. SS 31 gilt entsprechend. ist, sind die Mitglieder des Ausschusses zur Verschwie(2) Die Einsichtnahme in Akten oder Aktenteile ist genheit über Angelegenheiten verpflichtet, die ihnen insbesondere dann zu versagen, wenn die Daten des dabei bekannt geworden sind. Das gleiche gilt auch für Betroffenen mit Daten Dritter oder geheimhaltungsbedie Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Ausschuss. Die dürftigen sonstigen Informationen derart verbunden Verpflichtung zur Verschwiegenheit kann von dem Aussind, dass ihre Trennung auch durch Vervielfältigung schuss aufgehoben werden, soweit nicht berechtigte und Unkenntlichmachung nicht oder nur mit unverInteressen eines Einzelnen entgegenstehen oder der hältnismäßig großem Aufwand möglich ist. In diesem Senat widerspricht; in diesem Fall legt der Senat dem Fall ist dem Betroffenen zusammenfassende Auskunft Ausschuss seine Gründe dar. über den Akteninhalt zu erteilen. (2) Die Vorschriften des Absatzes 1 gelten für stellver(3) Das Berliner Informationsfreiheitsgesetz vom 15. tretende Mitglieder des Ausschusses entsprechend. Oktober 1999 (GVBl. S. 561) findet auf die von der Verfassungsschutzabteilung der Senatsverwaltung für SS 35 Aufgaben und Befugnisse Inneres geführten Akten keine Anwendung. des Ausschusses (1) Der Senat hat den Ausschuss umfassend über die allgemeine Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde und über Vorgänge von besonderer Bedeutung zu Fünfter Abschnitt unterrichten; er berichtet auch über den Erlass von Verwaltungsvorschriften. Der Ausschuss hat Anspruch Parlamentarische Kontrolle auf Unterrichtung. (2) Der Ausschuss hat auf Antrag mindestens eines SS 33 Ausschuss für Verfassungsschutz seiner Mitglieder das Recht auf Erteilung von Auskünf(1) In Angelegenheiten des Verfassungsschutzes ten, Einsicht in Akten und andere Unterlagen, Zugang unterliegt der Senat von Berlin der Kontrolle durch den zu Einrichtungen der Verfassungsschutzbehörde sowie Ausschuss für Verfassungsschutz des Abgeordnetenauf Anhörung von deren Dienstkräften. Die Befugnisse hauses von Berlin. Die Rechte des Abgeordnetenhauses des Ausschusses nach Satz 1 erstrecken sich nur auf und seiner anderen Ausschüsse bleiben unberührt. Gegenstände, die der alleinigen Verfügungsberechti(2) Der Ausschuss für Verfassungsschutz besteht gung der Verfassungsschutzbehörde unterliegen. in der Regel aus höchstens zehn Mitgliedern. Das (3) Der Senat kann die Unterrichtung über einzelne Vorschlagsrecht der Fraktionen für die Wahl der Vorgänge verweigern und bestimmten KontrollbegehMitglieder richtet sich nach der Stärke der Fraktionen, ren widersprechen, wenn dies erforderlich ist, um vom wobei jede Fraktion mindestens durch ein Mitglied Bund oder einem deutschen Land Nachteile abzuwenvertreten sein muss. Eine Erhöhung der im Satz 1 den; er hat dies vor dem Ausschuss zu begründen. bestimmten Mitgliederzahl ist nur zulässig, soweit (4) Das Abgeordnetenhaus kann den Ausschuss für sie zur Beteiligung aller Fraktionen notwendig ist. Es einen bestimmten Untersuchungsgegenstand als werden stellvertretende Mitglieder gewählt, die im Fall Untersuchungsausschuss (Art. 48 der Verfassung von der Verhinderung eines ordentlichen Mitglieds dessen Berlin) einsetzen. SS 3 des Gesetzes über die UntersuRechte und Pflichten wahrnehmen. Die Anzahl der chungsausschüsse des Abgeordnetenhauses von Berlin stellvertretenden Mitglieder entspricht der Anzahl der vom 22. Juni 1970 (GVBI. S. 925), zuletzt geändert ordentlichen Mitglieder. Kann das ordentliche Mitglied durch Gesetz vom 24. Juni 1991 (GVBI. S. 154), findet seine Rechte und Pflichten nicht wahrnehmen, so keine Anwendung. wird es durch ein stellvertretendes Mitglied derselben (5) Für den Ausschuss gelten im Übrigen die BestimFraktion vertreten. mungen der Geschäftsordnung des Abgeordneten(3) Scheidet ein Mitglied aus dem Abgeordnetenhaus hauses von Berlin. oder seiner Fraktion aus, so verliert es die Mitgliedschaft im Ausschuss für Verfassungsschutz. Für dieses Mitglied ist unverzüglich ein neues Mitglied zu wählen; das gleiche gilt, wenn ein Mitglied aus dem Ausschuss ausscheidet. Für stellvertretende Mitglieder des Ausschusses gelten die Vorgaben der Sätze 1 und 2 entsprechend. Verfassungsschutzgesetz 269 SS 36 Vertrauensperson des Ausschusses für Verfassungsschutz Der Ausschuss für Verfassungsschutz kann zur Wahrnehmung seiner Kontrollaufgaben im Einzelfall nach Anhörung des Senats mit der Mehrheit seiner Mitglieder eine Vertrauensperson beauftragen, Untersuchungen durchzuführen und dem Ausschuss über das Ergebnis in nicht öffentlicher Sitzung zu berichten. Die Vertrauensperson soll die Befähigung zum Richteramt besitzen und wird für die Dauer der jeweils laufenden Wahlperiode vom Ausschuss für Verfassungsschutz mit der Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder gewählt. Die Vertrauensperson erhält für ihre Dienstleistungen im Einzelfall auf Antrag eine Vergütung entsprechend den SSSS 8, 9 des Justizvergütungsund -entschädigungsgesetzes vom 5. Mai 2004 (BGBl. I S. 718, 776), das zuletzt durch Artikel 7 Absatz 3 des Gesetzes vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2449) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung. Die Höhe des Honorars richtet sich nach der Honorargruppe M 3. Sechster Abschnitt Schlussvorschriften SS 37 Einschränkung von Grundrechten Aufgrund dieses Gesetzes kann das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 des Grundgesetzes eingeschränkt werden. SS 38 Anwendbarkeit des Berliner Datenschutzgesetzes Bei der Erfüllung der Aufgaben nach SS 5 durch die Verfassungsschutzbehörde finden die SSSS 6a, 10 bis 17 und 19 Abs. 2 bis 4 des Berliner Datenschutzgesetzes in der Fassung vom 17. Dezember 1990 (GVBI. 1991 S. 16, 54), das zuletzt durch Art. I des Gesetzes vom 30. Juli 2001 (GVBI. S. 305) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung keine Anwendung. SS 39 Inkrafttreten, Außerkrafttreten (1) Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung im Gesetzund Verordnungsblatt für Berlin in Kraft. SS 27a tritt außer Kraft, sobald das Bundesverfassungsschutzgesetz vom 20. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2954, 2970), zuletzt geändert durch Art. 9 des Gesetzes vom 16. August 2002 (BGBl. I S. 3202), gemäß Art. 22 Abs. 2 des Terrorismusbekämpfungsgesetzes vom 9. Januar 2002 (BGBl. I S. 361, 3142) wieder in seiner am 31. Dezember 2001 maßgeblichen Fassung gilt. Der Tag des Außerkrafttretens ist im Gesetzund Verordnungsblatt für Berlin bekannt zu machen. 270 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 2 Register A al-Qaida im Irak 190 AAI 16, 183, 192 f al-Qaida im islamischen Maghreb AAB 227 siehe AQM AAS 183, 193 al-Qaida im Jemen siehe AQJ ABC 125 ff, 228 ff al-Quso, Fahd 19, 25 Abu Adam siehe C., Mounir al-Rantissi, Abd al-Aziz 200 Abu Hamza siehe Vogel, Pierre al-Rashta, Ata Abu 203 Abu Maleeq siehe C., Denis al-Shabab 17, 21 f, 183, 191 Akif, Muhammad Mahdi 211 Al-Shahid Association (Märtyrer-Stiftung) al-Almani, Abu Assad 40 199 al-Almani, Abu Talha 42 al-Zawahiri, Aiman 18 ff, 188 f al-Aqsa-TV 201 AN 5 f, 48 f, 53 ff, 82, 86, 90, 215 f ALB 110, 119, 122 f, 134, 136, 227 an-Nabahani, Taqi ad-Din 202 al-Banna, Hassan 209 Anarchismus 98, 124, 127, 186, 226, 229 al-Dhahab, Tariq 25 Anarchist Black Cross siehe ABC al-Hank, Muhammad 25 Anatolische Föderation e.V. 239 al-Jabari, Ahmad 46 Angry Bootboys 70 al-Jama'a al-islamiya 188 f Ansar al-Din 23 al-Jihad al-islami 188 f, 210 Ansar al-Islam siehe AAI al-Kuwaiti, Abu Zaid 19 Ansar al-Sharia 39 al-Libi, Abu Yahya 19 f Ansar al-Sunna siehe AAS al Manar 199 Ansarul-Aseer 42 al-Mauretani, Younis 32 Antideutsche 186 al-Muqawama al-islamiya Antifa 63 ff, 73, 117, 123, 125, 136, siehe Islamischer Widerstand 215 f, 224 al-Nahda-Bewegung 46 Antifaschistische Linke Berlin siehe ALB Al-Nur-Moschee 197 Antifaschistische Revolutionäre Aktion al-Qaida 16 ff, 32, 40, 182, 188 ff Berlin siehe ARAB al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel Antiimperialisten 118, 128, 186 siehe AQAH Antiterrordatei siehe ATD Register 271 Apfel, Holger 76 f, 80, 220 ff Church of Scientology International AQAH 17, 19, 24 ff, 182 f, 190 f siehe CSI AQJ 24, 191 Clean-Desk-Policy 173 AQM 17, 21 ff, 182, 190 CSI 240 f ARAB 119 ff, 136 f, 225 ff Arbeiterpartei Kurdistans siehe PKK D As-Sahaba-Moschee 197 D.S.T. /X.x.X. 69, 71 f, 218 ATD 53, 251 Deutsch, Stolz, Treue siehe D.S.T. /X.x.X. Autonome 96 f, 105, 110, 116 ff, 128 ff, Deutsche Kommunistische Partei 134 ff, 186 f, 215 f, 224 ff, 233 siehe DKP Autonome Nationalisten siehe AN Deutsche Stimme Verlag siehe DS Deutsche Taliban Mujahidin siehe DTM B Deutsche Volksunion siehe DVU B & H 217 f Devrimci Sol 238 B., Eric 190 DHKP-C 238 f B., Sascha Alessandro 22 Die Lunikoff-Verschwörung 69 ff, 218 Badia, Muhammad 211 Die Rechte 76 f Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz Die Wahre Religion siehe DWR siehe BSÜG DKP 234 Bewegung der Mujahidin-Jugend Donaldson, Ian Stuart 218 siehe al-Shabab Drei-Säulen-Konzept 217, 221 f Bewegung des Islamischen Widerstands Drive-By-Exploits 171 siehe HAMAS DS 71, 82, 219 f Bin Ladin, Usama 188 f DTM 27, 32 f, 192 Blood & Honour siehe B & H Düsseldorfer Zelle 18, 30 Boko Haram 17, 23 f DVU 48, 77, 222 Bönhardt, Uwe 51 DWR 35, 38 Botnetze 171 BSÜG 157 ff, 161 ff, 245, 259 E E., Bünyamin 29 C E., Emrah 22 C., Cüneyt 190 El-Zayat, Ibrahim 212 C., Denis 30, 35, 39, 42 ff EMUG 204 C., Mounir 27 f, 192 Erbakan, Mehmet Sabri 208 C., Yassin 27, 38, 192 Erbakan, Necmettin 204 ff Chronik siehe nw-berlin ERNK 237 272 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Europäische Moscheebauund UnterstütGroupe Salafiste pour la Predication et le zungsgemeinschaft e.V. siehe EMUG Combat siehe GSPC GSPC 22, 190 F GTAZ 251 Falah, Samir 212 FAP 217 H Federation of Islamic Organisations in H., Samir 29 Europe siehe FIOE HAMAS 45 ff, 182 f, 200 f FIOE 212 Hammerskins 68, 217 Föderation kurdischer Vereine in Haniya, Ismail 47 Deutschland siehe YEK-KOM Hizb al-Hurriya wa'l-Adala 211 FP / Tugendpartei 206 Hizb Allah 45 f, 182 f, 198 ff Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei Hizb al-Nur 211 siehe FAP Hizb ut-Tahrir siehe HuT Freiheitsfalken Kurdistans siehe TAK HPG 148, 237 f Freiheitspartei der Frauen Kurdistans Hubbard, L. Ron 240 f siehe PAJK HuT 182 f, 202 f Frontbann 24 55, 58, 215 I G IAS 241 GAR 52, 252 Ibrahim, Yahya 26 Gemeinschaft der Gesellschaften IBU 27 ff, 32, 38, 191 f Kurdistans siehe KCK IGD 209, 212 Gemeinsames Abwehrzentrum gegen IGMG 182 f, 204 ff Rechtsextremismus siehe GAR IJU 33, 183, 190 ff Gemeinsames Internet-Zentrum IKEZ 201, 212 siehe GIZ Ilyas, Muhammad 213 Gemeinsames TerrorismusabwehrInspire 26 f, 194 zentrum siehe GTAZ Insurrection Days 112 ff Gemeinschaft der Kommunen der International Association of Scientologists demokratischen Jugend Kurdistans siehe IAS siehe Komalen Ciwan ISI 182, 190 GIMF 39, 40 f, 43 Islamfeindlichkeit 91 GIZ 251 Islamische Bewegung Usbekistan Globale Islamische Medienfront siehe IBU siehe GIMF Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. siehe IGD Register 273 Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. M siehe IGMG M., Ahmed Khaled 22 Islamische Jihad Union siehe IJU M., Ahmet 190, 192 Islamischer Staat Irak siehe ISI M., Mohamed 24, 29 f, 40 f, 43 Islamische Schriften Verlag 197 Mahler, Horst 70, 95 Islamischer Widerstand 198 Marci & Kapelle 69 f IZDB 212 Marxismus-Leninismus 98, 185, 187, 235 Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden 46, 201 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands siehe MLPD J Mash'al, Khalid 47 JN 48 f, 58, 85, 219 MB 182 f, 209 ff Junge Nationaldemokraten siehe JN Meenen, Uwe 81 f, 84 Mesopotamia Broadcast A/S 147 K Millatu-Ibrahim 24, 29, 41 ff, 195 K., Murat 36, 43 Milli Gazete 205 ff KADEK 237 MLPD 235 Kalifatsstaat 45 f Moscheebau-Kommission e.V. 212 Kamalak, Mustafa 205 Mujahidin-Netzwerke 16, 188 Karayilan, Murat 143 MUJAO 23 Kaukasisches Emirat 192 Mundlos, Uwe 51 KCK 140, 142 f, 237 Muslimbruderschaft siehe MB KIAR 252 KJB 237 N KKK 237 N., Majid 22 Komalen Ciwan 140 ff, 237 Nachrichtendienstliches InformationsKongra Gel 237 system siehe NADIS KPD 120, 187, 234 NADIS 167, 249, 258, 260 KPV 219 Nasrallah, Hassan 199 Krekar, Mullah 193 Nationaldemokratische Partei DeutschKronjuwelen 175 lands siehe NPD Kurdische Jugend Berlin 142 Nationale Alternative 217 Kurdische Jugend Stuttgart 145 Nationaler Widerstand Berlin 66, 216 Nationalsozialistischer Untergrund L siehe NSU L., Maqsood 32 NEA 119, 122 f, 226 Landser 72, 218 Neonazis 48 f, 54 f, 59 ff, 77, 90 f, 107, Legion of Thor 69 116, 124, 216 f, 222 f 274 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 Netzwerk "Freie Kräfte" 5, 48, 53 ff, 57 f, Ramadan, Said 212 67, 84 ff, 91, 215 f Rechtsextremismus-Datei siehe RED Netzwerk Freiheit für alle politischen RED 53, 252 Gefangenen siehe NFG Refah Partei siehe RP neue PKK 237 Reichsbewegung - Neue Gemeinschaft NFG 125 ff, 229 ff von Philosophen 94 f North East Antifascists siehe NEA Revolutionäre VolksbefreiungsparteiNPD 5 f, 48 f, 53, 55 f, 58 ff, 66 ff, 71 ff, Front siehe DHKP-C 107, 217, 219, 220 ff Revolutionärer 1. Mai 108 ff, 118, 120 ff, NSDAP 216 133, 137 f, 225 NSU 51 ff, 70, 123, 137, 223, 251 Revolutionäre Zellen siehe RZ nw-berlin 63 ff, 85 RH 96 f, 129, 231 Rigaer 94 111, 130 ff, 137, 233 O RNF 219 O., Yusuf 32 Roj TV 147 Öcalan, Abdullah 139 ff, 148, 236 ff Rote Armee Fraktion siehe RAF Office of Special Affairs siehe OSA Rote Hilfe e.V. siehe RH ooc 125, 127, 228 ff RP 208 OSA 153 RZ 126, 228 Out of Control siehe ooc S P S., Ahmad Wali 31 f PAJK 140, 143, 237 S., Reda 35 PJA 237 Saadet Partisi siehe SP PKK 139 ff, 149 f, 236 ff Salafimedia 42 Postautonome 134 f, 138 Salafismus 29, 34 f, 37, 183, 194 f Proliferation 156 Sauerland-Gruppe siehe Sauerland-Zelle Punk Front 69 f Sauerland-Zelle 24, 190 f PYD 146, 149 Scheich Ahmad Ashush 39 f Schmidtke, Sebastian 81 ff, 90 f Q Schulhof-CD Berlin 72, 83 Qutb, Sayyid 210 Scientology Organisation siehe SO Second Class Citizen 69, 72 R SeiB e.V. 59, 85 R., Danny 190 seriöse Radikalität 73, 76, 78 R., Ramazan 33 Sicherheitsüberprüfung 157 ff, 161 ff, RAF 125 f, 228 241, 259 Register 275 Silvio Meier-Gedenkdemonstration 114, V 118, 123, 137, 225, 227 Vandalen 69, 72 SKD 70 VIZ 212 Skinheads 217 Vogel, Pierre 196 Sluschba Wneschnei Raswedki siehe SWR Voigt, Udo 82, 84, 221 f SO 151 ff 240 ff, 254, 276 Volksverteidigungskräfte siehe HPG Solidarität Vol. 4 70 von Thadden, Adolf 219 Sonderkommando Dirlewanger siehe SKD W Sozial engagiert in Berlin e.V. Waisenkinderprojekt Libanon e.V. siehe SeiB e.V. siehe WKP Sozialistische Reichspartei siehe SRP WBA 130 f, 232 SP 205 f, 208 Wir bleiben alle siehe WBA SRP 180 Wirtschaftsspionage 155 f, 169 f, 176 f Stilus Design GmbH 197 WKP 199 SWR 153, 155, 170 Wohlleben, Ralf 70 T Y Tabligh-i Jama'at siehe TJ Yassin, Ahmad 200 TAK 148, 238 YCK 237 Tätervolk siehe TV YDK 237 Takfir wa'l-Hijra 210 YEK-KOM 144, 150, 237 Taliban 28 f, 188, 192 YJA 237 Tayad-Komitee 239 YJA Star 237 TECAK 237 Thiazi-Forum 74 f Z TJ 213 f ZK 125 ff, 229 f TV siehe Marci & Kapelle Zschäpe, Beate 51 f Zusammen Kämpfen siehe ZK U U., Arid 30 f, 197 U., Thomas 32 f UIG 191 Umarov, Dokku 192 Union der islamischen Gerichtshöfe siehe UIG 276 Verfassungsschutzbericht Berlin 2012 3 Publikationsübersicht Reihe IM FOKUS Scientology - Eine kritische Bestandsaufnahme 1. Auflage, Berlin 2011. 83 Seiten. Zerrbilder von Islam und Demokratie 1. Auflage, Berlin 2011. 128 Seiten. Linke Gewalt in Berlin 1. Auflage, Berlin 2009. 84 Seiten. Rechte Gewalt in Berlin 2003 bis 2006 1. Auflage, Berlin 2007. 84 Seiten. Antisemitismus im extremistischen Spektrum Berlins 2. Auflage, Berlin 2006. 56 Seiten (nur im Internet abrufbar). Islamismus. Diskussion eines vielschichtigen Phänomens 2. Auflage, Berlin 2006. 116 Seiten (nur im Internet abrufbar). Rechtsextremistische Skinheads 1. Auflage, Berlin 2003. 86 Seiten (nur im Internet abrufbar). Publikationsübersicht 277 Reihe INFO Rechtsextremistische Musik 3. überarbeitete Auflage, Berlin 2012. 58 Seiten. Symbole und Kennzeichen des Rechtsextremismus 8. überarbeitete Auflage, Berlin 2011. 38 Seiten. Islamismus 3. Auflage, Berlin 2006. 42 Seiten. Sonstiges Verfassungsschutz - Nehmen Sie uns unter die Lupe 1. Auflage, Berlin 2002. 19 Seiten. Islamismus: Prävention und Deradikalisierung (DVD) 1. Auflage, Berlin 2011. 59 min. Diese sowie weitere Publikationen des Berliner Verfassungsschutzes können Sie unter der rückseitig angegebenen Adresse sowie telefonisch unter 030 90129-440 bestellen oder im Internet unter www.verfassungsschutz-berlin.de abrufen. Der Verfassungsschutz Berlin bietet zudem Vorträge zu den einzelnen Extremismusfeldern an. Nähere Informationen erhalten Sie ebenfalls unter 030 90129-440. Der Verfassungsschutz Dient Dem schutz Der freiheitlichen Demokratischen grunDorDnung, Des BestanDes unD Der sicherheit Der BunDesrepuBlik DeutschlanD unD ihrer länDer. senatsverwaltung für inneres und sport abteilung Verfassungsschutz klosterstraße 47, 10179 Berlin tel 030 90129-440 www.verfassungsschutz-berlin.de info@verfassungsschutz-berlin.de