Verfassungsschutzbericht 2011 Senatsverwaltung für Inneres und Sport Verfassungsschutzbericht 2011 4 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Erreichbarkeit Senatsverwaltung für Inneres und Sport Abteilung Verfassungsschutz Klosterstraße 47, 10179 Berlin Telefon (030) 90 129-0 Fax (030) 90 129-844 info@verfassungsschutz-berlin.de www.verfassungsschutz-berlin.de Pressestelle (030) 90 129-565 Vertrauliches Telefon (030) 90 129-400 Deutsch/Englisch (030) 90 129-401 Türkisch (030) 90 129-402 Arabisch Herausgeber Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Abteilung Verfassungsschutz Herstellung M8 Medien GmbH, Berlin Redaktionsschluss April 2012 Bildnachweis S. 5: Tobias Schulte Abdruck gegen Quellenangabe gestattet, Belegexemplar erbeten. Hinweis Dieser Verfassungsschutzbericht erwähnt nicht alle Beobachtungsobjekte des Berliner Verfassungsschutzes. Vorwort 5 Vorwort Die Mordserie der Zwickauer Terrorzelle hat unser Land nachhaltig erschüttert. Wie konnte es passieren, dass eine Gruppe rechtsextremer Fanatiker jahrelang mordend durchs Land zog? Warum hat niemand die Zusammenhänge erkannt? Wo lagen die Fehler? All dies sind Fragen, die nicht nur der Generalbundesanwalt, sondern auch Untersuchungsausschüsse und Kommissionen derzeit aufklären. Erste Konsequenzen wurden inzwischen gezogen. Die Innenminister von Bund und Ländern haben mehrere Punkte beschlossen: Im Gemeinsamen Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus (GAR) werden tagesaktuell relevante Ereignisse besprochen und bewertet. Ein ebenso wichtiges Instrument, um Informationen auszutauschen, ist die neue Verbunddatei, in der Daten über gewaltbereite Rechtsextremisten gesammelt und analysiert werden. Beim angestrebten NPD-Verbotsverfahren gilt für mich ganz klar: Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit! Wir müssen sorgfältig vorgehen und sicherstellen, dass die vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 2003 aufgestellten Vorgaben eingehalten werden. Berlin hat seine Hausaufgaben bereits gemacht und verfügt über keine V-Leute mehr in der Führung der NPD. Damit ist eine wichtige Voraussetzung für ein erfolgreiches Verfahren erfüllt. Keineswegs dürfen wir jedoch unsere Sicherheitsbehörden auf dem rechten Auge blind machen. V-Leute sind ein wichtiges Instrument, um Informationen aus extremistischen Organisationen zu erlangen. Gerade in Berlin, wo wir es mit einem neonazistisch geprägten Landesverband zu tun haben, sind nachrichtendienstliche Quellen unverzichtbar. Die rechtsextreme Szene ist zum Glück in den vergangenen Jahren in unserer Stadt nicht gewachsen. Das Gegenteil ist der Fall: die NPD verliert Mitglieder. Im Bereich des islamistischen Terrorismus muss das Augenmerk der Sicherheitsbehörden Deutschlands wie in den Vorjahren auf die Gefahren durch den transnationalen Terrorismus gerichtet sein. Maßgeblich für diese Einschätzung sind Erkenntnisse über das 6 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 strategische Ziel der "al-Qaida", Anschläge auch in Deutschland zu verüben und die Existenz jihadistischer Netzwerke. Seit Mitte des Jahres 2010 gab es wiederholt Hinweise und Belege, wonach al-Qaida Anschläge in den USA, in europäischen Ländern und auch in Deutschland plant. In den letzten Jahren hat die Gefahr durch die Rückkehr von Jihadisten nach Deutschland und damit auch Berlin zugenommen. Sie sollen hier Unterstützer und Mitglieder für Terrorzellen rekrutieren, um Anschläge zu begehen. Auch wenn die Ausreisen von Islamisten in den vergangenen Monaten abgenommen haben, so bleibt das Phänomen ein Problem. Nicht zu unterschätzen ist aber auch die Gefahr, die von radikalisierten Einzeltätern ausgeht - das haben die vergangenen Monate gezeigt: Erst der Massenmord an Jugendlichen in Norwegen und in diesem Jahr der fanatische Terrorist, der in Toulouse und Montauban mehrere Menschen, darunter viele Kinder tötete. Auch Arid U., der in Frankfurt zwei amerikanische Soldaten erschoss, war so ein Einzeltäter. Diese Fanatiker waren - so weit derzeit bekannt - nicht mit einer Organisation verbunden, sie handelten allein. Das macht es für die Sicherheitsbehörden schwierig, sie zu stoppen. Sicher, die Fälle waren alle unterschiedlich; aber sie zeigen, dass die Gefährlichkeit von Einzeltätern eine Herausforderung für die Sicherheitsbehörden ist. Dem müssen wir uns stellen. Im Bereich des Linksextremismus haben vor allem die wieder angestiegenen Kfz-Brände und die Anschläge auf die Bahnanlagen für Aufregung gesorgt. Auch wenn eine Vielzahl der Brandstiftungen nicht extremistisch motiviert war, so ist die Gewaltbereitschaft der Szene nicht zu unterschätzen. Der Berliner Verfassungsschutz hat jedoch keine Anhaltspunkte für einen neuen Linksterrorismus - trotz der schweren Anschläge auf die Infrastruktur und den schwerwiegenden Angriff auf einen Polizeiabschnitt, bei dem ein Menschenleben gefährdet wurde. In der linksextremistischen Szene stoßen die Täter mit ihren brandgefährlichen Aktionen nicht auf ungeteilte Zustimmung. Dennoch kann auch in Zukunft nicht ausgeschlossen werden, dass sich Einzeltäter oder Gruppen mit derart medienwirksamen Aktionen exponieren wollen und es unter Umständen vereinzelt sogar zu einer neuen Qualität der Gewalt kommt. Es bleibt abzuwarten, ob die linksautonome Szene insgesamt einen Strategiewechsel vollziehen wird, mit dem sie auf breitere gesellschaftlich Akzeptanz stößt. Große Teile der Autonomen betreiben Gewaltanwendung jedoch eher als Selbstzweck, denn als gezielte politische Aktion. Obwohl sich in der linksextremistischen Szene eine Wachablösung andeutet, kann insofern also nicht damit gerechnet werden, dass es in dieser Hinsicht zu einer grundlegenden Neuaufstellung kommt. Vorwort 7 Der Berliner Verfassungsschutz wird auch in Zukunft alle extremistischen Phänomenbereiche mit großer Aufmerksamkeit beobachten, Entwicklungen analysieren und durch Veröffentlichungen die Bevölkerung für Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung sensibilisieren. Er bleibt ein unverzichtbares Mittel der wehrhaften Demokratie. Frank Henkel Senator für Inneres und Sport 8 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Inhaltsverzeichnis Vorwort 5 I Aktuelle Entwicklungen in den Beobachtungsfeldern 15 1 Transnationaler islamistischer Terrorismus 16 1.1 Personenpotenzial 16 1.2 Überblick 17 1.3 Transnationaler islamistischer Terrorismus 18 1.3.1 Schwächung der Kern-"al-Qaida" 18 1.3.2 Der neue Anführer der "al-Qaida" 19 1.3.3 Tötung des operativen Chefplaners 20 1.3.4 Festnahme von Younis al-Mauretani 20 1.4 Aktuelle Sicherheitslage in Deutschland 21 1.4.1 Erster islamistischer Anschlag in Deutschland 21 1.4.2 Netzwerk der "al-Qaida" in Deutschland: die "Düsseldorfer Zelle" 22 1.4.3 Anschlagspläne der "al-Qaida" in Deutschland 24 1.4.4 Festnahmen von mutmaßlichen "al-Qaida"-Mitgliedern in Berlin und Wien 25 1.4.5 "Deutscher Taliban Mujahid" will zurück 26 1.4.6 Rückkehr aus Waziristan nach Berlin 27 1.5 Islamistische Propaganda 27 1.5.1 Propaganda der "Islamischen Bewegung Usbekistan" (IBU) 28 1.5.2 Propaganda der "Islamischen Jihad Union" (IJU) 31 1.5.3 Internetmagazin "Inspire" 31 1.5.4 Frauenmagazin der "al-Qaida": "al-Shamikha" 34 Inhaltsverzeichnis 9 1.6 Exekutivmaßnahmen und Verurteilungen 35 1.6.1 Festnahmen wegen Vorbereitung einer Gewalttat in Berlin 35 1.6.2 Urteile wegen Terrorismus-Unterstützung in Berlin 36 1.6.3 Verurteilungen wegen Propagandadelikten im Internet 37 1.6.4 Verurteilungen wegen Volksverhetzung wegen der Verbreitung von Propagandaschriften 39 2 Regional gewaltausübende Islamisten 40 2.1 Personenpotenzial 40 2.2 Kurz notiert: 9. Jahreskonferenz der Palästinenser in Europa (HAMAS) 41 3 Salafistische Bestrebungen 42 3.1 Theoretische Grundausbildung durch "Salafimedia" 42 3.2 Unterstützung salafistischer Gefangener durch "Ansarul-Aseer" 43 3.3 Von der Theorie zur Praxis: "Millatu-Ibrahim" 45 3.4 Akteure des virtuellen Netzwerks 46 4 Legalistischer Islamismus 50 4.1 Personenpotenzial 50 4.2 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V." (IGMG) 50 5 Rechtsextremismus 54 5.1 Personenpotenzial und Straftaten 54 5.2 "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) 56 5.3 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus 58 5.3.1 Berliner NPD scheitert mit provokanter Wahlkampfstrategie 58 5.3.2 Bundes-NPD: Mit neuer Führungsspitze gegen altbekannte Probleme 72 5.4 Aktionsorientierter Rechtsextremismus 79 5.4.1 "Autonome Nationalisten" bestätigen ihre Führungsrolle innerhalb des Berliner Rechtsextremismus 79 5.4.2 Strukturund initiativloses Netzwerk "Freie Kräfte" 90 5.4.3 Bandszene als aktives Zentrum des Netzwerkes "Rechtsextremistische Musik" 93 10 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 6 Linksextremismus 101 6.1 Personenpotenzial und Straftaten 101 6.2 Linksextremistische Gewalt 102 6.3 Akteure und Hintergründe linksextremistischer Gewalt: Die "Szene" 113 6.3.1 Gegen "Faschismus" 118 6.3.2 Gegen "Repression" 126 6.3.3 Gegen Umstrukturierung 133 6.4 Kurz notiert 139 6.5 Ausblick 141 7 Extremistische Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 143 7.1 Personenpotenzial und Straftaten 143 7.2 "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) 144 7.2.1 Verbotene PKK-Veranstaltung mündet in Gewaltspirale von PKK-Anhängern und nationalistischen Türken 144 7.2.2 Gerichtsentscheidungen und Exekutivmaßnahmen 149 7.2.3 Europaweite Aktionen nach Eskalation in der Türkei 150 7.2.4 Strategie der PKK in Deutschland 152 7.3 Kurz notiert: Festnahme einer mutmaßlichen Aktivistin der"Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) 154 8 "Scientology Organisation" (SO) 155 9 Spionageabwehr 159 10 Geheimund Sabotageschutz 162 11 Personeller und materieller Geheimschutz im öffentlichen Bereich 163 12 Wirtschaftsschutz 173 Inhaltsverzeichnis 11 II Hintergrundinformationen 183 1 Ideologien 184 1.1 Definition Extremismus 184 1.2 Islamistische Ideologie 185 1.3 Ideologie des Rechtsextremismus 188 1.4 Ideologie des Linksextremismus 189 2 Transnationaler islamistischer Terrorismus 192 2.1.1 "al-Qaida" und "Mujahidin-Netzwerke" 192 2.1.2 "Ansar al-Islam" ("Anhänger des Islam") 196 3 Regional gewaltausübende Islamisten 198 3.1.1 "Hizb Allah ("Partei Gottes") 198 3.1.2 "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS) 200 4 Gewaltbefürwortende Islamisten 202 4.1.1 "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung") 202 5 Salafistische Bestrebungen 204 6 Legalistische Islamisten 209 6.1.1 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V." 209 6.1.2 "Muslimbruderschaft"/"Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." 214 6.1.3 "Tabligh-i Jama'at"/"Jama'at-i Tabligh" ("Gemeinschaft der Verkündigung und Mission") 217 7 Rechtsextremismus 219 7.1 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus 219 7.1.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" 219 7.2 Aktionsorientierter Rechtsextremismus 224 7.2.1 Netzwerk "Freie Kräfte" (vorm. Netzwerk Kameradschaften) 224 7.2.2 "Autonome Nationalisten" 224 7.2.3 Neonazis 225 7.2.4 Skinheads 226 12 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 7.2.5 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V." 227 7.2.6 Rechtsextremistische Musik 228 8 Linksextremismus 230 8.1 Parlamentsorientierter Linksextremismus 230 8.1.1 "Deutsche Kommunistische Partei" 230 8.1.2 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" 231 8.2 Aktionsorientierter Linksextremismus 232 8.2.1 Autonome 232 8.2.2 "Antifaschistische Linke Berlin" 233 8.2.3 "Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin" 234 8.2.4 "North-East Antifascists" 235 8.2.5 "Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen" 236 8.2.6 "Zusammen Kämpfen Berlin" 236 8.2.7 "Revolutionäre Aktionszellen" 237 8.2.8 "radikal"/ "Revolutionäre Linke" 238 8.2.9 "Anarchist Black Cross Berlin" 239 8.2.10 "Wir bleiben alle!" 240 8.2.11 "Rote Hilfe e. V." 241 9 Extremistische und sicherheitsgefährdende Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 242 9.1 Kurdische Extremisten 242 9.1.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" ("Partiya Karkeren Kurdistan") 242 9.2 Türkische Extremisten 244 9.2.1 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front"/ "Volksbefreiungspartei-Front der Türkei - Revolutionäre Linke" 244 9.2.2 "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e. V." (ADÜTDF) 246 10 "Scientology Organisation" (SO) 248 Inhaltsverzeichnis 13 III Verfassungsschutz Berlin 251 1 Struktur 252 2 Gesetzliche Grundlagen 253 2.1 Aufgaben und Befugnisse 253 2.2 Entwicklungen in der Rechtsprechung und Gesetzesnovellierungen 254 2.3 Kontrolle 255 3 Arbeitsweise 256 4 Öffentlichkeitsarbeit 260 IV Anhang 263 1 Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin 264 2 Personenund Sachregister 276 3 Publikationsübersicht 281 14 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 I Aktuelle Entwicklungen in den Beobachtungsfeldern 16 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 1 Transnationaler islamistischer Terrorismus 1.1 Personenpotenzial Transnationale Transnationale Terrornetzwerke wie "al-Qaida" oder die "MuTerrornetzwerke jahidin-Netzwerke", "Ansar al-Islam" oder das "Islamische Emirat Kaukasus" sind äußerst klandestin, haben unterschiedlich ausgeprägte Organisationsstrukturen und sind teilweise untereinander vernetzt. Der Einfluss von "al-Qaida" geht zudem weit über die eigenen Strukturen hinaus, indem sie mit ihrem jihadistischen Gedankengut ideologische Begründungen für unabhängige Kleingruppen oder Einzeltäter liefert, sie "inspiriert" und zu deren Radikalisierung beiträgt. Ein zentrales Propagandainstrument ist dabei das Internet. Quantitativ ist dieses Personenpotenzial jihadistischer Netzwerke in Deutschland kaum zu erfassen. Informationen liegen den Sicherheitsbehörden aber zu rund 255 Personen mit Deutschland-Bezug vor, die sich in einem islamistisch-terroristischen Ausbildungslager aufgehalten haben oder dies beabsichtigt haben sollen. Personenpotenzial Transnationaler islamistischer Terrorismus Berlin Bund 2010 2011 2010 2011 Gesamt* (soweit statistisch erfassbar) 50 50 500 500 Transnationale Terrornetzwerke, davon: al-Qaida / Keine Keine Keine Keine Mujahidin-Netzwerke / gesicherten gesicherten gesicherten gesicherten Ansar al-Islam etc. Zahlen Zahlen Zahlen Zahlen Islamisches Emirat Kaukasus 50 50 500 500 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 17 1.2 Überblick Deutschland war auch 2011 unter den Staaten, die Gefahren durch Deutschland 1 im Zielspektrum den transnationalen islamistischen Terrorismus ausgesetzt sind. Die Veränderung gegenüber dem Vorjahr betrifft die sichtbaren Schutzmaßnahmen im öffentlichen Raum, die bis zum Februar 2011 bestanden. Danach hat es im Berichtsjahr keine Gefährdung mehr gegeben, die derartige Maßnahmen erfordert hätte. Verschiedene Ereignisse und Erkenntnisse belegen jedoch die intensivierte Gefährdung, die für Deutschland bzw. deutsche Interessen unverändert besteht. Maßgeblich für diese Einschätzung sind Erkenntnisse über das strategische Ziel der "al-Qaida", Anschläge auch in Deutschland zu verüben und die Existenz jihadistischer Netzwerke in Deutschland. Hinzu kommen Reisebewegungen mit jihadistischer Motivation und eine wiederholte Thematisierung von Deutschland in Propagandabotschaften und die zunehmende Gefährdung durch radikalisierte Einzeltäter und Kleinstgruppen. Mit der Tötung der charismatischen Führungsfigur Usama Bin LaGefährdung durch "al-Qaida" din und weiterer führender Mitglieder wurde Kern-"al-Qaida" geschwächt. Die Ernennung des bisherigen Vertreters Aiman al-Zawahiri zu Bin Ladins Nachfolger lässt dennoch eine Kontinuität in den Zielsetzungen der Terrorgruppe erwarten. Unabhängig von personeller Schwächung bleibt eine erhebliche terroristische Bedrohung durch die regionalen Organisationen der "al-Qaida". Betroffen sind hiervon der Irak durch den "Islamischen Staat Irak" (ISI), Nordafrika durch die "al-Qaida im Islamischen Maghreb" (AQM) sowie der Jemen durch die "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) und Somalia durch die "Bewegung der Jungen Mujahidin" (Shabab-Miliz). Auch 2011 führten diese Terrorgruppen schwere Anschläge mit Hunderten von Toten und Verletzten durch, darunter Angehörige der Sicherheitsorgane und Politiker wie auch zahlreiche Zivilisten. Im Berichtsjahr wurden in Deutschland mehrere Fälle bekannt, in Jihad-Rückkehrer im Auftrag denen die Führung der "al-Qaida" Jihadisten entsandte, die Bezüge von "al-Qaida" nach Deutschland hatten. Diese wurden mit dem Auftrag zurück- 18 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 geschickt, in der Bundesrepublik terroristische Netzwerke zu bilden oder einen Anschlag zu begehen. Dabei ist die Zerschlagung der "Düsseldorfer Zelle"1 von besonderer Bedeutung. Von derartigen Einzelpersonen und Kleinstgruppen, die in westlichen Ländern in Kontakt zu bereits radikalisierten Kreisen treten, geht eine besondere Gefährdung aus. Erster islamistischer Mit der Tat des Arid U., der Anfang März zwei US-Soldaten töteAnschlag in Deutschland te und weitere schwer verletzte, wurde erstmals ein islamistischer Anschlag in Deutschland durchgeführt. Arid U., der - losgelöst von terroristischen Netzwerken - alleine und spontan zur Tat schritt, steht exemplarisch für die Gefährdung durch emotionalisierte Einzeltäter. Zunehmende In allen Bereichen des transnationalen islamistischen TerrorisBedeutung des Internet mus zeigt sich die zunehmende Bedeutung des Internets, sowohl bei Handlungen mit terroristischer als auch propagandistischer Zielrichtung. Nachgewiesen ist die verschlüsselte Kommunikation unter Jihadisten und ihr Vorgehen, sich bei der Konstruktion von Bomben auf Anleitungen im Internet zu stützen. Bekannt sind die Gefahren einer Radikalisierung durch den Konsum islamistischer Propaganda, der auch für die Tat des Arid U. mutmaßlich tatauslösend war. Im Berichtsjahr haben die Verurteilungen wegen Mitgliedschaft, Unterstützung oder Werbung für eine terroristische Vereinigung im Ausland und wegen Volksverhetzung durch islamistische Propaganda zugenommen. 1.3 Transnationaler islamistischer Terrorismus 1.3.1 Schwächung der Kern-"al-Qaida" Tod von In der Nacht zum 2. Mai wurde Usama Bin Ladin in Abbottabad, eiUsama Bin Ladin ner Kleinstadt ca. 50 km nördlich der pakistanischen Hauptstadt, durch US-Einheiten getötet. In dem gesicherten Anwesen kamen dabei vier weitere Personen, darunter einer seiner Söhne, ums Leben. Bei Durchsuchungen des Hauses wurden Computer und Speichermedien gefunden, die auf Anschlagsplanungen gegen die Infrastruktur Europas und der USA hinweisen sollen. 1 Vgl. S. 22. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 19 In einer Erklärung der "Zentralen Führung" von "al-Qaida" zum "Märtyrertod" Bin Ladins vom 3. Mai wurde betont, "al-Qaida" 1 werde weiterhin die USA und deren Verbündete angreifen. An das pakistanische Volk wurde appelliert, diejenigen zu verfolgen, die Bin Ladin verraten hätten und die US-amerikanischen "Besatzer" zu vertreiben. Neben den pakistanischen Taliban, die mit Vergeltungsaktionen Reaktionen auf den Tod von Usama Bin Ladin gegen Pakistan und die USA drohten, verurteilte der Führer der HAMAS im Gazastreifen Ismail Haniyya die Kommandoaktion als einen Anschlag auf "einen heiligen Krieger der arabischen Welt" und als Fortsetzung der amerikanischen "Unterdrückung". Wenige Tage später sprengte sich ein Selbstmordattentäter vor einem Gebäude der Grenzpolizei im Nordwesten Pakistans in die Luft und tötete mehr als 80 junge Rekruten. Die Taliban bezichtigten sich der Tat und behaupteten, der Anschlag sei ein Racheakt für die Tötung Bin Ladins. Weitere Anschläge mit zahlreichen Toten folgten seither. 1.3.2 Der neue Anführer der "al-Qaida" Im Juni benannte die "Zentrale Führung" der "al-Qaida" den bisherigen Stellvertreter Aiman al-Zawahiri als "Emir" der Organisation und erklärte, sie kämpfe weiter gegen die "Kreuzzügler" in allen "besetzten" muslimischen Ländern. Neben Usama Bin Ladin wurden 2011 weitere Mitglieder von Kern-"al-Qaida" getötet oder verhaftet. Auch bei dem regionalen Ableger des Terrornetzwerkes war das der Fall. Besonders durch die Tötung oder Festnahme von Personen, die mutmaßlich für Rekrutierungen und Anschlagsplanungen verantwortlich waren, gilt die "alQaida"-Führung gegenwärtig in ihren operativen Möglichkeiten als geschwächt. Anfang Dezember bezichtigte sich Aiman al-Zawahiri in einer ViEntführung eines Amerikaners durch deobotschaft der Entführung eines US-amerikanischen EntwickKern-"al-Qaida" lungshelfers im August im pakistanischen Lahore. Für dessen Freilassung verlangte er u.a. die Entlassung aller Gefangenen aus 20 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Guantanamo und die Einstellung aller US-Militäraktionen in islamischen Ländern. Damit greift nunmehr auch die Kern-"al-Qaida" zum Mittel der Entführung; eine Angriffsform, die bislang von den regionalen Ablegern des Netzwerkes genutzt wurde. 1.3.3 Tötung des operativen Chefplaners Tod der Nr. 2 Bei einem amerikanischen Drohvon "al-Qaida" nenangriff im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet wurde Mitte August Abdurahman Atiyatallah getötet. Der gebürtige Libyer galt als Nr. 2 der "alQaida" hinter Aiman al-Zawahiri und war erst nach dem Tod von Bin Ladin aufgerückt. Als Mitglied der Kern-"al-Qaida" soll er vor allem für Anschlagsplanungen zuständig gewesen sein. Der mutmaßliche Anführer der "Düsseldorfer Zelle"2 Abdeladim El.-K. soll E-Mail-Kontakt zu Atiyatallah gehabt haben. 1.3.4 Festnahme von Younis al-Mauretani Operationsplaner Ende August wurde im pakistanischen Quetta Younis al-Mauretani von "al-Qaida" festgenommen von der pakistanischen Armee festgenommen. Bis dahin galt er als wichtiger Operationsplaner der Kern-"al-Qaida", der auch die Außenkontakte des Netzwerkes, insbesondere zu Jihadisten in westlichen Ländern, verantwortet haben soll. Er soll zum kleinen Kreis derjenigen gehört haben, die direkten Kontakt zu Bin Ladin hatten. Informationen deuten darauf hin, dass er bis 2005 zur Vorläuferorganisation der späteren "al-Qaida"-Zweigstelle "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM) gehörte und erst danach nach Pakistan kam. Für einen direkten Kontakt zum "al-Qaida"-Führer spricht der Fund eines Strategiepapiers im Haus von Bin Ladin nach dessen Tötung, das Younis al-Mauretani zugeschrieben wird. Darin fordert er den Aufbau mehrerer Terrorzellen mit unterschiedlicher Spezialisierung. Die "Düsseldorfer Zelle" war mutmaßlich eine davon. 2 Vgl. S. 22 ff. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 21 1.4 Aktuelle Sicherheitslage in Deutschland 1 1.4.1 Erster islamistischer Anschlag in Deutschland Am 2. März kam es in Frankfurt a. M. zum ersten islamistisch motiAnschlag des Arid U. vierten Anschlag in der Bundesrepublik. Im öffentlich zugänglichen Teil des Frankfurter Flughafens tötete der 21-jährige Arid U. zwei US-Soldaten und verletzte zwei weitere lebensgefährlich. Nur das Versagen der Schusswaffe verhinderte weitere Opfer. Der Anschlag galt gezielt US-Soldaten. Durch eine Nachfrage an einen der Männer hatte er sich versichert, dass seine späteren Opfer zum US-Kontingent der ISAF in Afghanistan zählten und der Bustransfer am Flughafen Teil ihres Einsatzweges war. Damit ist zum wiederholten Mal der Einsatz der internationalen Hohe Gefährdung Schutztruppe in Afghanistan unter amerikanischer Führung wesentlicher Teil der Motivation einer islamistischen terroristischen Handlung. Die Tat belegt die hohe Gefährdung, der nicht nur amerikanische Einrichtungen im Ausland, sondern auch US-Soldaten außerhalb militärischer Einsatzgebiete unterliegen.3 Bei Arid U. wurde keine feste Anbindung an extremistische Strukturen oder eine terroristische Zelle festgestellt. Arid U. ist serbischer Staatsangehöriger kosovarischer Abstammung, der als Kind nach Deutschland gekommen war und zuletzt in Frankfurt a. M. wohnte. Als Tatmotiv gab er an, am Vorabend im Internet ein Video geseRadikalisierung im Internet hen zu haben, in dem US-Soldaten eine Muslimin vergewaltigen.4 Vorausgegangen war ein Prozess der Radikalisierung, der binnen weniger Monate weitgehend durch Internetinhalte ausgelöst und von seinem persönlichen Umfeld nicht bemerkt wurde. 3 Z. B. war auch für den Anschlag von Nidal Malik H. das Engagement der Amerikaner in Afghanistan und im Irak vermutlich ein wesentliches Motiv. Der US-Militärpsychiater tötete im November 2009 13 Angehörige der US-Armee auf dem US-Militärstützpunkt Fort Hood (Texas) und verletzte etwa 30 weitere teils schwer. 4 Das Video enthielt Ausschnitte des US-Films "Redacted" von 2007. Der Film, obgleich fiktional, basiert auf den Ereignissen im irakischen Mahmudiyya im März 2006. Dort hatten US-Soldaten vier Mitglieder einer Familie getötet und die Tochter zuvor vergewaltigt. 22 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Auf seinem MP3-Player fanden sich Hunderte islamistische und jihadistische Gesänge (Nashid, Pl.: Anashid)5, die er auch unmittelbar vor der Tat gehört haben soll. Auf seinem Laptop und Speichermedien hatte er Reden und Schriften von Führern des militanten Jihad gespeichert, darunter von Usama Bin Ladin, dessen Mentor Abdallah Azzam und Anwar al-Aulaqi.6 Arid U. war über Facebook auch mit dem salafistischen Prediger "Sheik Abdellatif" verbunden. Sein Profil auf Facebook, seine virtuellen Kontakte und die konsumierten Internetinhalte zeigen, dass er durch jihad-salafistische Ideologie7 radikalisiert wurde. Am 10. Februar 2012 wurde Arid U. vom Oberlandesgericht Frankfurt a. M. wegen zweifachen Mordes und dreifachen Mordversuchs zu lebenslanger Haft verurteilt und die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.8 1.4.2 Netzwerk der "al-Qaida" in Deutschland: die "Düsseldorfer Zelle" Am 29. April wurden in Düsseldorf und Bochum drei mutmaßliche Mitglieder der "al-Qaida" festgenommen. Die Bundesanwaltschaft wirft dieser "Düsseldorfer Zelle" vor, einen Anschlag in Deutschland geplant zu haben. Ziel soll dabei die Explosion einer Splitterbombe in einer Menschenmenge gewesen sein. Hauptbeschuldigter Hauptbeschuldigter und mutmaßlicher Anführer der Zelle ist der Abdeladim El-K. 29 Jahre alte Marokkaner Abdeladim El-K., der nach einem abgebrochenen Studium Deutschland hatte verlassen müssen und danach wieder illegal einreiste. Abdeladim El-K. soll sich im Frühjahr 2010 im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet aufgehalten haben und in einem Lager der "al-Qaida" an Waffen und Sprengstoff ausgebildet worden sein. Mitte 2010 soll er von einem hochrangigen "al-Qaida"-Mitglied den Auftrag erhalten haben, in Deutschland einen Sprengstoffanschlag zu verüben. 5 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Aktuelle Meldung: "Vom Gangster-Rap zum Jihad-Aufruf - Radikalisierende Hymnen 'neugeborener' Salafisten". Berlin 2011, S. 2 f. 6 Vgl. S. 30 ff. 7 Vgl. S. 204. 8 Pressemitteilung des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 10.2.2012. AZ.: 5-2 StE 7/11-2-4/11. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 23 Die Rückkehr von Jihadisten nach Deutschland, um hier Personen Die "Rekruten" für Anschläge zu rekrutieren, stellt eine erhebliche Gefährdung dar. der al-Qaida 1 in Deutschland Nachdem Abdeladim El-K. im Mai 2010 nach Deutschland zurückgekehrt war, soll er mit Anschlagsvorbereitungen begonnen haben. Mit Billigung der "al-Qaida"-Führung soll er die beiden weiteren Beschuldigten "rekrutiert" haben: Jamil S., ein 31-jähriger DeutschMarokkaner, und Amid C., ein 19-jähriger Deutsch-Iraner. Ende 2010 soll die Zelle begonnen haben, sich Anleitungen zum Bombenbau im Internet zu verschaffen und sich mit den Sicherheitseinrichtungen an Bahnhöfen, Flughäfen und öffentlichen Gebäuden zu beschäftigen. Zum Zeitpunkt der Festnahme war die Zelle in einer Düsseldorfer Wohnung dabei, Materialien für einen Sprengzünder herzustellen. Anfang Dezember wurde in Bochum der 27-jährige Deutsche Halil S. festgenommen. Er soll die Pläne der Zelle nach den Verhaftungen vom April weitergeführt haben9. Bei Durchsuchungen wurde auf einem USB-Stick ein Text gefunDirekter Kontakt zur Führung den, der vom Anführer der Zelle Abdeladim El-K. verfasst worden der Kern-"al-Qaida" sein soll. Die Botschaft war an Atiyatallah gerichtet, der bis zu seinem Tod im August 2011 in Pakistan10 als operativer Chefplaner der Kern-"al-Qaida" galt und indirekt an Younis al-Mauretani. Der Inhalt belegt nach Einschätzung der Generalbundesanwaltschaft den direkten Kontakt der Zelle zur Führung der Kern-"al-Qaida": "Oh unser Shaikh [Atiyatallah], wir halten noch unser Versprechen, entweder Sieg oder Märtyrertum. [...] Oh unser Shaikh, ich trainiere einige Jugendliche aus Europa, die bislang in Sachen Sicherheit sauber sind. Nach dem Ende des Trainings werde ich mit Hilfe Allahs mit dem Schlachten der Hunde [...] anfangen. [...] Mein lieber Shaikh, hier ist meine E-Mail: [... / verschlüsselte Information / ...] Grüße mir alle Lieben, insbesondere Shaikh Jounes [al-Mauretani], und gib ihm meine Angaben, damit er mich mit diesen kontaktieren kann." 11 9 Pressemitteilung 44/2011 der Bundesanwaltschaft vom 8.12.2011. 10 Vgl. S. 20. 11 Text abrufbar bei: Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 13.9.2011 (StB 12/11), online abgerufen unter lexetius.com (2011/4513), am 27.10.2011. Schreibung wie in der Vorlage. 24 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 1.4.3 Anschlagspläne der "al-Qaida" in Deutschland Hamburger Gruppe Der Verdacht gegen die "Düsseldorfer Zelle" korrespondiert mit Aussagen von zwei Jihadisten, die 2010 in Pakistan und Afghanistan festgenommen wurden: dem Deutsch-Syrer Rami M. und dem Afghanen Ahmad Wali S. Beide gehörten zu einer Gruppe aus Hamburg, die 2009 Deutschland verlassen hatte. Sie berichteten unabhängig voneinander von Plänen der "alQaida"-Führung, Anschläge in Europa zu verüben. Es würden sich bereits Terrorzellen auf Anschläge vorbereiten. Rami M. gab an, er habe den "al-Qaida-Außenminister" Younis al-Mauretani12 Mitte 2010 getroffen. Dieser habe die Anschlagspläne mit Usama Bin Ladin besprochen, der seine Unterstützung zugesagt habe. Verurteilung Rami M. wurde im Juni 2010 auf dem Weg in die pakistanische von Rami M. Hauptstadt Islamabad festgenommen und im August darauf nach Deutschland überstellt. Am 9. Mai wurde er vom Oberlandesgericht Frankfurt a. M. wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland ("al-Qaida") zu einer Haftstrafe von vier Jahren und neun Monaten verurteilt.13 Nach den Feststellungen des Gerichts hatte sich Rami M. zunächst der "Islamischen Bewegung Usbekistan" (IBU) angeschlossen, wechselte aber bald zur "al-Qaida", in deren Lager er für Kampfeinsätze ausgebildet wurde. Mitte 2010 erhielt er den Auftrag der "al-Qaida"-Führung, am Aufbau eines Netzwerkes in Deutschland mitzuwirken und Gelder für die Organisation zu sammeln. Prozessbeginn gegen In der afghanischen Hauptstadt Kabul wurde im Juli 2010 Ahmad Ahmad Wali S. Wali S. von US-Truppen aufgegriffen und im April nach Deutschland überstellt. Der 37 Jahre alte Deutsch-Afghane war im Frühjahr 2009 in das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet gereist. Dort soll er sich der "Islamischen Bewegung Usbekistan" (IBU) angeschlossen und eine Ausbildung, auch an schweren Waffen, absolviert haben. Mitte 2010 soll er einen Auftrag der "al-Qaida"-Führung er12 Zu Younis al-Mauretani vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 4. 13 Pressemitteilung des OLG Frankfurt a. M. vom 9.5.2011. AZ.: 5-2 StE 2/11-8 -2/11. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 25 halten haben, an Anschlagsplanungen in Europa mitzuwirken. Auf seinem Reiseweg, mutmaßlich nach Deutschland, wurde er fest- 1 genommen. Im März 2012 hat das Verfahren gegen Ahmad Wali S. vor dem Oberlandesgericht Koblenz begonnen. Er ist wegen Mitgliedschaft in den ausländischen terroristischen Vereinigungen "Islamische Bewegung Usbekistan" (IBU) und "al-Qaida" angeklagt.14 Hinzu kamen 2010 Aussagen des international gesuchten deutAnschlagspläne für Deutschland schen Jihadisten Emrah E. aus Wuppertal, der sich seit dem Frühjahr 2010 im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet aufhielt. Nach dem durch einen US-Drohnenangriff im Oktober 2010 verursachten Tod seines Bruders Bünyamin E., der ihm als Jihadist nachfolgte, suchte Emrah E. Kontakt zum Bundeskriminalamt. Dabei berichtete auch er von Anschlagsplänen der "al-Qaida" in Deutschland. Nachdem der Kontakt abbrach, hat Emrah E. wahrscheinlich das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet verlassen. Sein Aufenthaltsort ist seither unbekannt. Die Gesamtheit der Hinweise war maßgeblich für die Verschärfung der Sicherheitslage in der Bundesrepublik im Herbst 2010, in deren Folge bis Februar 2011 auch die öffentlich sichtbaren Maßnahmen - u. a. an Bahnhöfen und Flughäfen - verstärkt wurden. Obgleich sich zunächst keine Ansätze ergaben, um die unterschiedlichen Sachverhalte präzise bewerten zu können, hat sich die damalige akute Gefährdungssituation durch die nun vorliegenden Informationen bestätigt. 1.4.4 Festnahmen von mutmaßlichen "al-Qaida"-Mitgliedern in Berlin und Wien In Wien wurde Ende Mai der Berliner Yusuf O. festgenommen und Festnahme von Verdächtigen nach Deutschland überstellt, wo er in Haft kam. Yusuf O. soll sich seit Mai 2009 im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet aufgehalten haben. Zwei Wochen zuvor wurde in Berlin der 22-jährige Österreicher Maqsood L. festgenommen. 14 Pressemitteilung 34/2011 der Bundesanwaltschaft vom 10.11.2011 und Pressemitteilung des OLG Koblenz vom 13.3.2012. AZ.: 2 StE 10/118. 26 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Beide sollen sich im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet kennengelernt haben, als sie dort eine Kampfausbildung absolviert haben. Mitte 2010 sollen sie von einem Führungsmitglied der "alQaida" den Auftrag erhalten haben, in Europa Gelder zu sammeln und neue Unterstützer zu "rekrutieren". Gemeinsam soll sie ihr Rückweg über Iran und die Türkei nach Budapest geführt haben. Von dort aus soll Yusuf O. nach Wien gereist sein, um Personen aus der jihad-salafistischen Szene für "al-Qaida" zu werben und Maqsood L. beauftragt haben, es ihm in Berlin gleich zutun. Die Bundesanwaltschaft hat am 15. November Anklage erhoben. 15 Anklage gegen Bevor Yusuf O. ab Mai 2011 Mitglied der "al-Qaida" geworden sein Gründungsmitglied der DTM soll, zählte der 26-jährige Deutsch-Türke laut Bundesanwaltschaft von September 2009 bis mindestens April 2010 zu den Gründungsmitgliedern der "Deutschen Taliban Mujahidin" (DTM). Unter seinem islamischen Namen "Ayyub al-Almani" war Yusuf O. in Propagandavideos der DTM zu sehen und hatte wegen der deutschen Beteiligung am Einsatz der ISAF16 Drohungen gegen die Bundesrepublik gerichtet.17 Maqsood L., wird vorgeworfen, von Juli 2010 bis Mai 2011 Mitglied der "al-Qaida" gewesen zu sein. 1.4.5 "Deutscher Taliban Mujahid" will zurück Fatih T. Im Januar 2012 wurde bekannt, dass sich der Berliner Fatih T. in Iran aufhalten soll. Er habe sich telefonisch an eine englischsprachige Tageszeitung gewandt und erklärt, wieder in Deutschland leben zu wollen. Fatih T. war unter dem Namen "Abdul Fettah al-Almani" im Januar in der Erklärung einer türkischsprachigen Jihadisten-Gruppe als neuer "Emir" (Führer) der "Deutschen Taliban Mujahidin" (DTM) benannt worden. Nach dem Tod vieler Mitglieder der DTM durch Kampfhandlungen war der Fortbestand der DTM bereits seit Mitte 2010 unklar. Es ist mittlerweile wahrscheinlich, dass die DTM zerschlagen ist. 15 Pressemitteilung Nr. 43 der Generalbundesanwaltschaft vom 2.12.2011. 16 ISAF: "International Security Assistance Force": Sicherheitsund Aufbaumission unter NATO-Führung in Afghanistan seit 2001. 17 Zur Propaganda des "Ayyub al-Almani" für die DTM vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 9 f. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 27 1.4.6 Rückkehr aus Waziristan nach Berlin Einige der in den letzten Jahren ausgereisten Berliner Jihadisten beZwei Frauen und zwei 1 Männer kehren zurück finden sich weiterhin im Grenzgebiet von Pakistan zu Afghanistan. Im Berichtsjahr kehrten aber auch zwei Frauen und zwei Männer nach Berlin zurück. Sie waren auf ihren Reisewegen in Pakistan, im Iran, in der Türkei und in Wien aufgegriffen worden. Die Ausreisen in das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet sind zuRückgang der Ausreisen rückgegangen. Aus Berlin sind 2011 keine Ausreisen bekannt geworden. Ein Grund dafür könnte sein, dass mittlerweile eine Reihe von Personen auf dem Weg in das "Kampfgebiet" festgenommen oder im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet getötet wurden. Auch, dass sich einige aus persönlichen Gründen entschlossen haben, aus den "Kampfgebieten" zurückzukehren, hat möglicherweise Einfluss auf die Motivation in den Jihad auszureisen. Andere haben ihre Rückreise im Auftrag einer ausländischen terroristischen Organisation angetreten. Als Folge dieser Maßnahmen in Deutschland und der Geschehnisse im Ausland sinkt möglicherweise gegenwärtig die Bereitschaft und die Fähigkeit, in jihadistische Kampfgebiete auszureisen. 1.5 Islamistische Propaganda Im Vergleich zu den beiden Vorjahren ist das Gesamtbild gegen Deutschland gerichteter jihadistischer Internet-Propaganda 2011 vielschichtiger. 2009 waren die gegen die Bundesrepublik gerichteten Drohbotschaften des "al-Qaida"-Propagandisten Bekkay Harrach dominierend, 2010 waren es die Verlautbarungen der "Deutschen Taliban Mujahidin" (DTM). Dem gegenüber gab es im Berichtsjahr keine unmittelbar gegen Deutschland gerichteten Anschlagsdrohungen; auch die deutsche ISAF-Beteiligung wurde nur nachrangig thematisiert. Jedoch dauern die Propagandaaktivitäten der im Namen der "IslaPropaganda der Brüder Yassin und Mounir C. mischen Bewegung Usbekistan" (IBU) agierenden Bonner Brüder Yassin und Mounir C. an. Im Vergleich hierzu fällt die Propaganda der Kern-"al-Qaida" gegen deutsche Interessen geringer aus. Unter den radikalisierungsrelevanten Internet-Magazinen hat "Inspire" nach wie vor hohe Bedeutung. Im Berichtsjahr haben Exekutivmaß- 28 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 nahmen und Verurteilungen wegen islamistischer und jihadistischer Propaganda im Internet zugenommen. 1.5.1 Propaganda der "Islamischen Bewegung Usbekistan" (IBU) Die "Islamische Bewegung Usbekistan" (IBU) ist bei der jihadistischen Internetpropaganda die aus deutscher Sicht aktivste terroristische Gruppierung.18 Im Berichtsjahr gab es mindestens sechs Videobotschaften, acht Textbotschaften und Audioverlautbarungen. Jihadistische "Reportage-Reihen" mit Titeln wie "In Afghanistan" und "Was geschieht in den Stammesgebieten" werden weitergeführt. Die IBU gibt auch die Tötung ausländischer, darunter deutscher Jihadisten im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet bekannt und bestätigt damit Informationen der Behörden und der Presse. Die propagandistische Reichweite von Botschaften der IBU in anderen Sprachen (Russisch, Usbekisch) ist dem gegenüber geringer zu bewerten. Botschaft der IBU Im Januar erschien eine achtseitige deutschsprachige Textbotbestätigt Tod deutscher Jihadisten schaft mit dem Titel "Neujahr in Waziristan", in der zu Beginn des islamischen Kalenderjahres über "Erfolge" berichtet wird. Ein angeblich anhaltender Zustrom von Jihadisten aus Deutschland wird gelobt: "Was [...] uns deutsche Mujahedeen betrifft, so erfreut uns der ständige Zulauf aus unserer alten Heimat. Immer mehr Geschwister aus Deutschland, sowohl Männer als auch Frauen [...] leisten ihren Beitrag fisabililläh [auf dem weg Gottes]. Daraus lässt sich schließen, dass die Wege zum Jihad weiterhin offen sind und die deutsche Regierung sich einer wahrhaftigen Niya [Absicht] und der Waffe des Bittgebets nicht in den Weg stellen kann." 19 Tod von Bekkay Harrach Die Botschaft bestätigt die Tötung des Bonner Jihadisten Bekkay Harrach alias Abu Talha al-Almani 2010 bei einem Angriff auf USStreitkräfte in Afghanistan. Harrach hatte 2009 als selbsternann18 Zur Propaganda der IBU vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 14-16. 19 Jihadistische Internetseite, Abruf am 18.11.2011, Schreibweise wie im Original. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 29 ter Propagandist von "al-Qaida" agiert und im Vorfeld der Bundestagswahlen massive Anschlagsdrohungen gegen Deutschland 1 gerichtet.20 Auch die Tötung von Jihadisten mit Bezügen nach Deutschland wurde in der Botschaft bestätigt. Dies betraf im Oktober 2010 den Hamburger Shahab Dashti Sineh S. alias "Abu Askar", den sich "Imran Almani" nennenden Wuppertaler Bünyamin E. sowie bereits 2009 den "Abu Safiyya" genannten Djavad S.21 In Videobotschaften im April und Juni gaben die Brüder C. den Tod eines weiteren deutschen Jihadisten bekannt: ein bislang nicht identifizierter "Farooq al-Almani". Anfang November wandte sich Mounir C. (Kampfname "Abu Mounir C. über die Zukunft des Jihad Adam") in einer 15-minütigen Audiobotschaft an junge Muslime weltweit und speziell an Muslime in Deutschland. Unter dem Titel "Auf zum Erfolg" schildert er, dass der "Feind" mit Drohnenangriffen und Tötungen jihadistischer Anführer sein "wahres Gesicht" zeige. Hierfür hätten sich die Taliban im Oktober mit einem Selbstmordanschlag in Kabul gerächt.22 Mounir C. beschwor den militanten Jihad als eine individuelle Pflicht (arab.: fard ayn): "Liebe Geschwister, die Kuffar [Ungläubigen] heute bezeichnen diesen Krieg als den dritten Weltkrieg. Wir sagen dazu: [...] Der Jihad wird bleiben bis zum jüngsten Tag. [...]. Wir, unsere Kinder und die Generationen, die nach uns kommen [...], werden [...] am Koran, der uns leitet und am Schwert, das uns ehrt, festhalten und wir werden sie nicht nur bekämpfen [...] bis sie erniedrigt auf dem Erdboden umherziehen, nein wir werden [...] uns für jede Ungerechtigkeit, die sie an uns begangen haben, rächen. Wir haben nichts vergessen! [...] Dies richte ich aus an die Kuffar 20 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 12. und Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 6 f. und 11 f. 21 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 9. 22 Am 29. Oktober kam es in der afghanischen Hauptstadt zu einem Selbstmordanschlag mit 17 Toten, darunter 13 Angehörige der ISAF. Der Attentäter hatte mit seinem präparierten Fahrzeug einen gepanzerten Bus der ISAF gerammt und seinen Sprengsatz gezündet. Die Taliban haben sich der Verantwortung für den Anschlag bezichtigt. 30 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 [Ungläubigen] [...]. Stellt euch auf einen langen Krieg ein. Und meine Geschwister möchte ich bezüglich dieses Kampfes [...] an folgendes erinnern: Der Jihad bleibt fardu ayn (individuelle Pflicht) [...] bis jedes Stück Erde, was einmal muslimisch war, wieder muslimisch wird. Dies ist so verpflichtend wie das Beten und Fasten." 23 Yassin C. ehrt al-Aulaqi Ende Oktober erschien unter als Vorbild für Prediger im Ausland dem Titel "Der Muster-Muslim" eine deutschsprachige Videobotschaft, in der Yassin C. ("Kampfname" Abu Ibraheem) den zuvor getöteten Jihad-Ideologen Anwar al-Aulaqi preist. Die Botschaft appelliert an Muslime und Prediger im Westen, dessen Beispiel zu folgen. Die Verlautbarung steht für eine Vernetzung im Internet unter Propagandaaktivisten, die sich vermutlich persönlich nie begegnet sind. Aufruf an Jugendliche Al-Aulaqi wird als "das Vorbild der Gelehrten - ein Muster-Muslim - ein Fremder24 unserer Zeit" verehrt, weil er seinen Lebensweg, wie Usama Bin Ladin, durch den "Märtyrertod" vervollkommnet habe. Beide Jihad-Ideologen seien nur Menschen gewesen, ihr Jihad-Verständnis werde aber fortbestehen. Muslimische Jugendliche im Westen, wie al-Aulaqi in einem als feindlich betrachteten Staat aufgewachsen, sollten sich an ihm ein Beispiel nehmen: "Die islamische Jugend und speziell die islamische Jugend im Westen haben ein schönes Vorbild in Scheich Anwar und seine Lebensgeschichte [...] Er wurde im Haus des Taghut al-Akbar ("großen Tyrannen") - Amerika - geboren und [...] später dann zu einer Führungsposition im Kampf gegen sie." 25 Auch die Prediger im Westen sollten sich al-Aulaqi zum Vorbild nehmen: 23 Jihadistische Internetseite, Abruf am 16.11.2011. 24 Der Begriff "Fremder" spielt hier auf den ideologisierten arabischen Terminus "Gharib / pl. Ghurabaa" an. Salafisten verstehen unter einem "Gharib" jemanden, der unter der Herrschaft von Nichtmuslimen lebt und an seinem vermeintlich wahrhaften Glauben festhält. 25 Jihadistische Internetseite, Abruf am 16.11.2011 (Schreibweise wie im Original). Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 31 "Und an die Prediger [...] im Westen appelliere ich, so zu sein, [...] wie Scheich Anwar [al-Aulaqi]3. Er sprach zu seiner Zeit in Amerika unter 1 den Kuffar (Ungläubigen) die Wahrheit und musste deswegen das Land verlassen." 26 1.5.2 Propaganda der "Islamischen Jihad Union" (IJU) Die Propaganda der "Islamischen Jihad Union" (IJU) war im Berichtsjahr gegenüber den Aktivitäten der IBU von geringerer Bedeutung. Von den vier Botschaften der IJU, ist eine aus deutscher Sicht interessant. Mit "Unsere Erklärung zur Internetseite Elif Medya" vom April nimmt die IJU indirekt Bezug auf die Medienstelle der "Deutschen Taliban Mujahidin".27 Im Mai informierte die MedienPropaganda über die "Deutschen Taliban stelle "Elif Medya" über die EinMujahidin" richtung einer gleichnamigen Internetseite. Das mit jihadistischen Kampfgesängen unterlegte Video zeigt ein Standbild des "Selahaddin Turki". Es handelte sich um den deutschen Jihadisten Ahmad M., der bis zu seinem Tod im April 2010 in Pakistan Anführer der "Deutschen Taliban Mujahidin" (DTM) war. Die türkischsprachige Botschaft nennt eine "Deutsche Gemeinschaft des Taliban Emirats". Es ist unklar, ob damit Propagandaaktivitäten der DTM gemeint sind. 1.5.3 Internetmagazin "Inspire" Vom jihadistischen Internetmagazin "Inspire"28 erschienen im Berichtsjahr drei Ausgaben und ein Sonderheft. Neben Beiträgen des führenden Propagandisten der "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) Anwar al-Aulaqi und des "al-Qaida"-Führers Usama Bin Ladin und Aiman al-Zawahiri publizierten in "Inspire" auch füh26 Ebenda. 27 Zur DTM vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 17-19. Vgl. auch S. 36 und S. 195. 28 Deutsch etwa: "Erwecke [die Gläubigen]". 32 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 rende Ideologen des militanten Jihad wie Abu Mus'ab al-Suri und Abu Yahya al-Libi und stärken damit das Ansehen des Magazins.29 Al-Aulaqi zeichnete für die Titelgeschichte der Ausgabe vom März verantwortlich. Mit dem Titel "The Tsunami of Change" ("Der Tsunami des Wandels") thematisierte er die politischen Umwälzungen des "Arabischen Frühlings". "al-Qaida"-Propaganda Al-Aulaqi vergleicht den Sturz Hosni Mubaraks mit der Tötung des ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat. Während Sadat 1981 von einer kleinen jihadistischen Gruppe getötet wurde, sei der Sturz Mubaraks durch ein ganzes Volk erfolgt. Dieser Akt der Befreiung von einer "unislamischen Herrschaft" werde den Jihadisten zugute kommen und "al-Qaida" erstarken lassen. Ansätze ließen sich dazu bereits bei "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM) erkennen. Die von "al-Qaida" propagierte Strategie, ein Regimewechsel sei nur über den militanten Jihad möglich, ist angesichts der durch Massenproteste erzwungenen Revolutionen offenkundig gescheitert. Die Demonstranten strebten eine säkulare und demokratische Staatsform an, keinen salafistischen Gottesstaat. Die Propaganda "al-Qaidas" zeugt von dem Versuch eine Entwicklung umzudeuten, der sie tatsächlich nie folgen konnte. Verherrlichung von In der Ausgabe vom Juli wird Usama Bin Ladin eine mit "Sadness, Usama Bin Ladin Contentment & Aspiration" ("Trauer, Zufriedenheit und Sehnsucht") betitelte Geschichte gewidmet und betont, dass dessen Tod "al-Qaida" stärken werde. Der Verfasser des Artikels, Samir Khan, der zugleich "Inspire"-Mitherausgeber ist, beglückwünschte Bin Ladin zu dessen "Märtyrertod" und behauptete, dass dieser damit seinen Lebensweg vervollkommnet habe. Mit ihrer Macht und materiellen Stärke hätten die Amerikaner zwar den Anführer von "al-Qaida" getötet, nicht aber die Organisation selbst oder die Idee des Jihad. Den Amerikanern müsse klar sein, dass die Tötung des "al-Qaida"-Anführers nicht folgenlos bleiben werde. 29 Herausgegeben wird das Magazin von der Medienstelle "al-Malahim", die der AQAH zuzurechnen ist. Zu al-Aulaqi und "Inspire" vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 12 -14. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 33 Wie im Vorjahr enthielten drei Ausgaben des Magazins Beiträge in der Rubrik "Open Source Jihad" (deutsch: "frei verfügbarer Jihad" 1 bzw. "Jihad für jedermann"), mit denen Jihadisten Wege aufgezeigt werden sollen, wie sie den bewaffneten Kampf praktisch umsetzen und propagandistisch unterstützen können. In der Juli-Ausgabe ist eine detaillierte Rezeptur zur Sprengstoffherstellung mit Substanzen, die teilweise für Haushaltszwecke frei verfügbar sind, enthalten. Unter dem Titel "Ratschläge für diejenigen, die die "al-MalahimMedien [-Gruppe] unterstützen wollen" enthält die Ausgabe vom Januar 2011 einen Beitrag mit Hinweisen, wie Muslime weltweit an jihadistischer Medienarbeit mitwirken können: "Wir erhalten eine Menge E-Mails von Muslimen aus der ganzen Welt, die fragen: "Wie kann ich euch [...] helfen? Was kann ich tun, um der Sache Allahs beizustehen?" Deswegen haben wir entschieden, diesem Thema einen Beitrag zu widmen, auf dass sich der[en] Lohn für die Unterstützung der Mujahidin [...] mehren möge - In scha' Allah (so Gott will)." 30 Hierauf folgen technische und redaktionelle Ratschläge. So sind die "Inspire"-Macher neben Beiträgen und Übersetzungen auch an Dokumentensammlungen zu Politik und Wirtschaft interessiert. Anwar al-Aulaqi, der neben seiner Tätigkeit für "Inspire" auch EinTod des "Inspire"-Autors Anwar al-Aulaqi fluss auf die Terrorpläne der "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) hatte31, wurde am 30. September im Jemen durch einen amerikanischen Drohnenangriff getötet. Mit ihm starb auch ein weiterer Mitarbeiter des Magazins. Die kurz darauf erschienene letzte Ausgabe enthielt noch keine Reaktion auf deren Tod; ob das Magazin weiterhin erscheint, ist unklar. Im März wurde in Großbritannien der 31-jährige Ingenieur Rajib K. Radikalisierung durch al-Aulaqi und das zu 30 Jahren Haft verurteilt. Er hatte seit 2006 mehrere TerroranInternet schläge geplant, darunter auf den transatlantischen Luftverkehr und ein Selbstmordattentat. 2009 und 2010 soll er mit al-Aulaqi 30 In: "Inspire", Winter 2011 (Issue 4), S. 44, Online-Text, engl. 31 Vgl. S. 43 und S. 195. 34 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 verschlüsselt über das Internet korrespondiert haben, der ihn anwies, die USA als das Terrorziel mit der höchsten Priorität zu betrachten. Festnahmen in England Anfang Februar 2012 wurden in England zwei deutsche Jihadisten zu 12 und 16 Monaten Haft verurteilt. Der 24-jährige Robert B. und der 28-jährige Christian David E. wurden der Solinger Salafistenszene zugerechnet. Sie waren Mitte Juli bei ihrer Einreise festgenommen worden, nachdem englische Zollbeamte bei der Durchsuchung des Gepäcks Anleitungen zum Bombenbau aus Internetpublikationen sowie jihadistische Literatur gefunden hatten. Darunter befanden sich auch Texte von al-Aulaqi. 1.5.4 Frauenmagazin der "al-Qaida": "al-Shamikha" Zur Propaganda mit direktem "al-Qaida"-Bezug gehörte auch die erste Ausgabe von "al-Shamikha" ("Die stolze / erhabene" [Frau]). Das 31-seitige professionell gestaltete Internetmagazin wurde im März vom "al-Fajr-Media Center" erstellt, der Propaganda-Abteilung von "al-Qaida". Obgleich nicht das erste jihadistische Magazin für Frauen32, setzt "al-Shamikha" neue Maßstäbe, in dem es gestalterisch an westliche Modemagazine anknüpft. Das arabischsprachige Magazin wendet sich an Frauen und fordert sie - analog zu "Inspire" - zur Unterstützung des Jihad auf. Frauen und Jihad Neben Beiträgen über aus Sicht der Jihadisten angemessene Kleidung enthält es Anweisungen an Frauen wie "Geh nur in dringenden Fällen aus dem Haus". Daneben finden sich Aufforderungen zur Unterstützung des militanten Jihad, sei es in Artikeln wie "Heirate einen Mujahid", in Interviews von "Märtyrer"-Witwen oder durch den Aufruf, Schmuck zu verkaufen. Frauen sollten sich ihrer Rolle im Jihad bewusst werden, ein Umstand, den die "Feinde" der Jihadisten zu verhindern versuchen: 32 Bereits 2004 gab der "al-Qaida"-Ableger in Saudi-Arabien ein jihadistisches Magazin für Frauen mit dem Titel "al-Khansa" heraus, das jedoch nur einmal erschien. Der Name nimmt Bezug auf eine frühislamische Dichterin. Anfang 2010 versuchte ein Internetmagazin mit dem Titel "Enkelinnen von 'al-Khansa'" an die Vorlage von 2004 anzuknüpfen, verschwand jedoch nach zweimaligem Erscheinen. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 35 "Frauen begründen nicht nur eine Hälfte der Menschheit, sondern vielmehr die Menschheit insgesamt, indem sie der anderen Hälfte das Le- 1 ben schenken. Es ist das sorgfältige Streben der Feinde, sie [die Frauen] von der Wahrheit ihrer Religion und ihrer [gesellschaftlichen] Rolle fernzuhalten. Denn sie wissen nur zu gut, welcher Zustand einträte, sobald eine Frau das Schlachtfeld beträte." 33 Aufgrund des Arabischen ist die propagandistische Reichweite des Magazins begrenzt. "Al-Shamikha" wendet sich jedoch nicht nur an Frauen im Orient, sondern vermag auch arabischsprachige Frauen in westlichen Ländern anzusprechen. 1.6 Exekutivmaßnahmen und Verurteilungen 1.6.1 Festnahmen wegen Vorbereitung einer Gewalttat in Berlin Am 8. September wurden in Berlin Hani N. und Samir M. festgeHani N. und Samir M. nommen. Ihnen wurde die Vorbereitung einer schweren, staatsgefährdenden Gewalttat vorgeworfen. Sie sollen Chemikalien zum Bau eines Sprengsatzes erworben und sich entsprechende Anleitungen im Internet verschafft haben. Das Kammergericht Berlin hob am 26. Oktober die Haftbefehle auf, da es den für die weitere Inhaftierung erforderlichen dringenden Tatverdacht verneinte. Das Ermittlungsverfahren dauert an. Die Tatverdächtigen sind in der jihadistisch-salafistischen34 Szene Berlins verankert. Sie gehören zum Umfeld der Berliner, die in den letzten Jahren in die jihadistischen Kampfgebiete ausgereist sind. Im September 2009 wurde dem 24-jährigen Deutsch-Libanesen Samir M. am Flughafen Berlin-Tegel die Ausreise untersagt. Er befand sich in Begleitung zwei weiterer Personen vermutlich auf dem Weg nach Pakistan. Sie führten höhere Geldbeträge mit sich. Im Oktober 2010 wurde Samir M. in der Türkei festgenommen und nach Deutschland ausgewiesen. Für die Ausreise soll er gefälschte Papiere genutzt haben. Ob er sich zwischenzeitlich im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet aufgehalten hat, ist nicht bekannt. 33 In: "al-Shamikha", Nummer 1 (März 2011), S. 3, Online-Text, arab. 34 Vgl. S. 42 und S. 204. 36 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Entlassung Die Entlassung der Verdächtigen aus der Untersuchungshaft wurde auf der Internetseite eines salafistischen Netzwerkes zur Gefangenenhilfe35 euphorisch gefeiert. 1.6.2 Urteile wegen Terrorismus-Unterstützung in Berlin In den 2010 eröffneten Verfahren gegen Filiz G., Fatih K. und Alican T.36 wurden vom Kammergericht Berlin 2011 die Urteile gesprochen. Das Gericht verurteilte am 9. März die 29-jährige Filiz G. zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren. Es befand die Angeklagte für schuldig, für die terroristischen Vereinigungen "al-Qaida", "Islamische Jihad Union" (IJU) und "Deutsche Taliban Mujahidin" (DTM) durch eine Vielzahl ins Internet eingestellter Texte und Videos geworben sowie diese durch Geldüberweisungen unterstützt zu haben.37 Am 6. April verurteilte das Kammergericht den 32-jährigen Deutschen Fatih K. wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Freiheitsstrafe von 22 Monaten. Der Angeklagte hat die DTM mit Geldbeträgen unterstützt.38 Urteil Den 21-jährigen Deutschen Alican T. verurteilte das Kammergericht am 22. Juni wegen Werbens für Mitglieder und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Der Angeklagte hat durch die Einstellung von Videos in das Internet für "al-Qaida" und die IJU geworben. Zusammen mit der ebenfalls verurteilten Filiz G. hat er durch die Zuwendung von Geldbeträgen die DTM unterstützt.39 35 Vgl. S. 43. 36 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 22. 37 Pressemitteilung des Kammergerichts Berlin vom 9.3.2011. 38 Pressemitteilung des Kammergerichts Berlin vom 6.4.2011. 39 Pressemitteilung des Kammergerichts Berlin vom 22.6.2011. AZ.: (1) 2 StE 6/10-4 (6/10). Die Verurteilung erfolgte nach SS 129 b i.V.m. SS 129 b Abs. 1 StGB. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 37 1.6.3 Verurteilungen wegen Propagandadelikten im Internet 1 Am 27. März 2012 verurteilte das Oberlandesgericht Schleswig den Freiheitsstrafe für Harry M. 20-jährigen Deutschen Harry M. zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten, weil er für die ausländischen terroristischen Vereinigungen "Islamische Bewegung Usbekistan" (IBU) und "Islamischer Staat Irak" geworben hat. Harry M. wurde am 28. Juni in Neumünster (Schleswig-Holstein) festgenommen, nachdem er seit Dezember 2010 unter seinem muslimischen Namen "Isa alKhattab" die jihadistische Internetplattform "Islamic Hacker Union" betrieben hatte. In mehr als 70 Textund Videobeiträgen verherrlichte er den Jihad und warb mit einigen Videos für "Kämpfer" und Selbstmordattentäter der beiden terroristischen Vereinigungen.40 Das Oberlandesgericht Frankfurt a. M. verurteilte am 30. März den Jihadistische Propaganda 21-jährigen Afghanen Omid H. zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten wegen des Werbens für die ausländischen terroristischen Vereinigungen "al-Qaida" und IBU. Seit Mitte 2010 hatte Omid H. die jihadistische Internetplattform "Islambrüderschaft" betrieben. In 19 Fällen hatte er dort jihadistisches Propagandamaterial der Medienstellen beider Terrornetzwerke veröffentlicht, das besonders junge Muslime aufforderte, sich am Jihad zu beteiligen und das "Märtyrertum" verherrlichte. Seit seiner Festnahme im Juli ist die Internetseite nicht mehr abrufbar. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.41 Das Oberlandesgericht Koblenz verurteilte den staatenlosen Palästinenser Hussam S. wegen Werbens und Unterstützung ausländischer terroristischer Vereinigungen am 22. März 2012 zu fünf Jahren Haft. Der 26-jährige betrieb in verschiedenen Internetforen und -plattformen jihadistische Propaganda für die terroristischen Vereinigungen "Islamischer Staat Irak" und "Ansar al-Islam". Seine mehr als 70 Internet-Veröffentlichungen, darunter Videos von 40 Mitteilung Generalbundesanwaltschaft, AZ.: 1 0JS 1/11; Urteil noch nicht rechtskräftig. 41 Pressemitteilung 27/2011 der Generalbundesanwaltschaft vom 21.7.2011 und Pressemitteilungen des Oberlandesgerichts Frankfurt a. M. vom 13.2.2012 und 30.3.2012 (AZ.: 5-2 StE 13/11-5-1/12). 38 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Anschlägen und Enthauptungen, warben für eine Beteiligung am militanten Jihad. Seit seiner Festnahme im Juli 2010 im pfälzischen Montabaur und dem Prozessbeginn im November ist Hussam S. inhaftiert. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.42 Prozesse gegen Im Berichtsjahr wurde das bisher größte Verfahren wegen jihadisVerantwortliche der GIMF tischer Propaganda im Internet in Deutschland abgeschlossen. Seit Prozessbeginn im April wurde an fast 30 Tagen vor dem Oberlandesgericht München verhandelt43. Sieben Männer und eine Frau im Alter von 18 bis 30 Jahren wurden verurteilt, durch ihre Mitarbeit in der deutschsprachigen Sektion der "Globalen Islamischen Medienfront" (GIMF) - einem Ableger der "al-Qaida" nahestehenden "Global Islamic Media Front" - eine terroristische Vereinigung im AusUrteile wegen Mitarbeit land unterstützt zu haben. Von August 2006 bis März 2008 hatte bei der GIMF die Gruppe für "al-Qaida", "al-Qaida im Zweistromland" und "Ansar al-Islam" um Mitglieder geworben und deren jihadistische Botschaften im Internet verbreitet. Weil die Angeklagt en weitgehend geständig waren und die Taten schon länger zurücklagen, wurden Haftstrafen mit Bewährung und Sozialauflagen verhängt. Die Verurteilten haben sich inzwischen vom Jihad abgewandt. 16 Monate Jugendstrafe ohne Bewährung verhängte das Amtsgericht Saarbrücken am 3. März gegen einen 18 Jahre alter Kameruner wegen der Androhung von Straftaten durch drei Bombendrohungen im Internet. Der Jugendliche hatte sich im Internet radikalisiert und im November 2010 versucht, mit drei Drohvideos die Freilassung von Daniel Martin S., verurteiltes Mitglied der "Sauerlandzelle", aus der Haft im Saarland zu erpressen.44 42 Pressemitteilung 28/2011 der Generalbundesanwaltschaft vom 9.8.2011 und Pressemitteilung des OLG Koblenz vom 22.3.2012, AZ.: 2 StE 8/11-1. Die Verurteilung erfolgte wegen SS 129 b StGB. 43 Pressemitteilungen in Strafsachen des Oberlandesgerichts München vom 19.7. und 28.9.2011 (AZ.: 6 St 8/10, 6 St 7/11, 6 St 8/11, 6 St 13/11). 44 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 21. Die Verurteilung erfolgte wegen SSSS 126 und 53 StGB (AZ.: 26 Ls 29 Js 159/10, 57/11). Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 39 1.6.4 Verurteilungen wegen Volksverhetzung wegen der Verbreitung von Propaganda- 1 schriften Die zunehmende Verbreitung von ins Deutsche übersetzten islamistischen und jihadistischen Propagandaschriften führte zu Verurteilungen wegen Volksverhetzung. Das Amtsgericht Reutlingen verurteilte am 13. Januar den 27-jährigen Deutsch-Afghanen Maiwand H. zu einem Jahr Bewährungsstrafe und 200 Stunden gemeinnütziger Arbeit wegen Volksverhetzung. Er hatte die salafistisch-jihadistische Schrift "Die Religion der Demokratie" von Abu Muhammad al-Maqdisi ins Deutsche übersetzt und im Internet verbreitet.45 Am 19. Mai verurteilte das Oberlandesgericht Stuttgart einen Verantwortlichen eines Moscheevereins, weil er eine volksverhetzende Schrift öffentlich zugänglich gemacht hat. In der Schrift des saudischen Gelehrten Salih al-Uthaimin mit dem Titel "Ein kurzer Einblick über Fasten; Tarawih-Gebet und Zakat" heißt es, dass Muslime, die das Fasten im Fastenmonat (Ramadan) oder aber die Zahlung der Almosensteuer (Zakat) ablehnen, getötet werden dürften.46 45 AG Reutlingen, Urteil vom 13.1.2011, AZ.: 9 Ds 12 Js 17594/09. 46 OLG Stuttgart, Urteil vom 19.5.2011, AZ.: 1Ss 175/11. 40 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 2 Regional gewaltausübende Islamisten 2.1 Personenpotenzial Neben transnationalen Terrornetzwerken gibt es regional gewaltausübende islamistische Organisationen und gewaltbefürwortende Islamisten. Regional gewaltausRegional gewaltausübende Organisationen agieren vor allem in übende Organisationen ihren Heimatländern terroristisch - etwa zur Beseitigung der dortigen Herrschaftsstrukturen. In Berlin zählen dazu die arabischen Organisationen "Hizb Allah" und HAMAS. Die Angehörigen dieser Gruppen verhalten sich in Deutschland in der Regel zurückhaltend und größtenteils gewaltfrei. Des Weiteren gibt es in Berlin Anhänger gewaltbefürwortender Gruppen wie der "Hizb ut-Tahrir" und des Kalifatsstaats. Personenpotenzial Regional gewaltausübende Islamisten Berlin Bund 2010 2011 2010 2011 Gesamt* (soweit statistisch erfassbar) 400 400 2 450 2 500 Regional gewaltausübende Gruppen, davon: Hizb Allah 250 250 900 950 HAMAS 50 50 300 300 Gewaltbefürwortende Gruppen, davon: Hizb ut-Tahrir 50 50 300 300 Kalifatsstaat Einzelpersonen Einzelpersonen 800 800 Iranische Islamisten 50 50 150 150 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. Aktuelle Entwicklungen - Regional gewaltausübende Islamisten 41 2.2 Kurz notiert: 9. Jahreskonferenz der Palästinenser in Europa (HAMAS) Am 7. Mai fand in Wuppertal die "9. Jahreskonferenz der Palästinenser in Europa" statt. Diese Konferenz wird seit 2002 jährlich in verschiedenen europäischen Städten abgehalten; 2010 fand sie in 2 Berlin statt. Organisatoren sind das HAMAS-dominierte "Palestinian Return Center" (PRC) sowie das so genannte "Generalsekretariat der Konferenz der Palästinenser" mit Sitz in Wien. Das PRC setzt sich seit Jahren hauptsächlich für das uneingeschränkte Rückkehrrecht aller Palästinenser ein, worunter die Organisation auch das israelische Staatsgebiet versteht. Unter dem Motto: "Die Generation der Rückkehr kennt ihren Weg" Politische Forderungen und Lobbyarbeit führte das PRC am 7. Mai die 9. "Palestinian in Europe Conference" durch. Auch Shakib Makhlouf, Vorsitzender der "Federation of Islamic Organisations in Europe" (FIOE), des europäischen Dachverbands der Muslimbruderschaft (MB) in Europa, hat an der Veranstaltung als Redner teilgenommen. Die Konferenz verdeutlicht die Vorgehensweise von HAMAS-Aktivisten in Europa, die sich auf politische Forderungen und Lobbyarbeit beschränken. Ihnen gelang es sogar deutsche Parlamentarier für Auftritte zu gewinnen. 42 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 3 Salafistische Bestrebungen Die salafistische47 Szene ist seit Sommer 2011 durch ein deutschsprachiges Netzwerk im Internet geprägt, in dem Berliner eine maßgebliche Rolle spielen. Das jihad-salafistische Netzwerk besteht aus den Webseiten "Salafimedia", "Ansarul-Aseer" [Unterstützer des Gefangenen] und "Millatu-Ibrahim" [Gemeinschaft Abrahams]. Dazu zählen entsprechende Blogs, YouTube-Kanäle, Facebookund Twitter-Profile sowie Chat-Räume. Die einzelnen Webseiten verfolgen unterschiedliche Ziele. 3.1 Theoretische Grundausbildung durch "Salafimedia" Internetseite enthält Die erste Säule des virtuellen Netzwerks, "Salafimedia", soll für die salafistische Kernbegriffe "theoretische Grundausbildung" sorgen. Die Internetseite erklärt salafistische Kernbegriffe und präsentiert Predigten namhafter Vertreter des Salafismus. Dass es sich um ein jihad-salafistisches Propagandaprojekt handelt, zeigt z.B. die Haltung zu Personen, die sich vom Islam abwenden: "Wer sich also vom Buch [dem Quran] abwendet, der wird durch das Eisen korrigiert [bzw. zu Recht gewiesen] und dies ist, warum sich die Grundlage des Din [der Religion] auf dem Quran und dem Schwert gründet. [...] So lassen wir unsere Feinde laut [und offen] über unser 47 Im Salafismus lassen sich drei Strömungen unterscheiden: der "puristische Salafismus", der keine politischen Ziele verfolgt, sowie der "politische Salafismus" und der "jihadistische Salafismus", die beide zum Spektrum islamistischer Bestrebungen gehören und gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind. Im Gegensatz zum "politischen Salafismus" propagiert der "jihadistische Salafismus" den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung seiner Ziele. In Berlin gehören etwa 350 Personen (davon ca. 100 gewaltorientiert) der salafistischen Szene an. Aktuelle Entwicklungen - Salafistische Bestrebungen 43 Ziel wissen [...] und deswegen bitten wir Allah Tag und Nacht [...] ihre Nacken und jeden Feind Seines Din zu erreichen [...].48 Auch ein veröffentlichter Flyer zu einem Vortrag zum Thema "JiPropaganda für den bewaffneten Kampf hadun Nafs - Im Kampf gegen die Nafs" macht die ideologische Zielrichtung deutlich. Das Thema bezog sich auf den so genannten "Großen Jihad". Dieser Ausdruck steht im Islam für den Kampf des Menschen gegen seine eigenen schlechten Eigenschaften. In 3 klarem Gegensatz zu dieser gewaltfreien Form des Jihad steht das martialische Bild auf dem Flyer, das eine Handgranate und einen Soldaten zeigt, der für eine imaginäre "Islamische Armee" kämpft. Hierdurch wird deutlich, dass es tatsächlich um den so genannten "Kleinen Jihad", den bewaffneten Kampf, geht. Internetseite "Salafimedia", Aufruf am 27.10.2011 Zu den Predigern, deren Werke auf "Salafimedia" verbreitet werden, gehört auch der im Jemen getötete Anwar al-Aulaqi, ideologische Leitfigur von "al-Qaida auf der arabischen Halbinsel" (AQAH). Die deutsche Webseite ist seit 2010 online und verlinkt mit "Salafimedia" in englischer Sprache. 3.2 Unterstützung salafistischer Gefangener durch "Ansarul-Aseer" Seit Herbst 2011 informiert das Gefangenenhilfsprojekt "AnsarulVerankerung politisch Gefangener in der Aseer" über Gefangene aus dem jihad-salafistischen Spektrum und salafistischen Szene bietet Kontakt zu diesen an. Die Betreiber der Webseite streben hierdurch eine ideologische Festigung und Verankerung der Gefangenen in der salafistischen Szene an. In erster Linie aber geht 48 Internetseite "Salafimedia", Aufruf am 13.2.2012 (Schreibweise wie im Original). 44 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 es dem Projekt um die Darstellung von Muslimen als Opfer "der Ungläubigen" und "des Westens", ein bei Salafisten übliches Argumentationsmuster, um zu Hass aufzustacheln und zu radikalisieren. Muslimische Häftlinge seien wegen ihrer Religionsausübung inhaftiert und deshalb schlechten Haftbedingungen in den Justizvollzugsanstalten ausgesetzt. "Und so soll auch über die Ungerechtigkeiten, Überschreitungen und Unterdrückungen innerhalb der Gefängnisse berichtet werden, über ihr ungerechtes und falsches vorgehen, die weder Basis noch Halt - selbst in ihren (verlogenen, falschen, heuchlerischen) Kufr-Gesetzen [Gesetzen des Unglaubens] besitzen [...]. So werden wir [...] dieses korrupte und zerstörerische Strafsystem entblößen, ideologisch zerstören und vernichten [...].49 Prominente Gefangene Bisher sind auf der Webseite etwa 25 Inhaftierte aufgeführt. Als prominente Gefangene werden Filiz G.50 und Arid U.51 präsentiert, aber auch mehrere Berliner wie etwa Hani N., Samir M., Yusuf O. oder Fatih K.52 Aus Anlass der Freilassung von Hani N. und Samir M. im Oktober 2011 postete "Ansarul-Aseer" auf dem eigenen FacebookAccount ein Gruppenbild, das die beiden mit dem bekannten ehemaligem Rapper Denis Cuspert (links) und dem prominenten jihadsalafistischen "Prediger" Mohamed M. (Dritter von links) zeigte.53 Facebook-Account von "Ansarul-Aseer", Aufruf am 27.10.2011 Indem "Ansarul-Aseer" inhaftierte Personen in Deutschland und nicht Häftlinge aus weit entfernten Teilen der Welt präsentiert, besitzt die Webseite ein beträchtliches Radikalisierungspotenzial. 49 Internetseite "Ansarul-Aseer", Aufruf am 12.2.2012 (Schreibweise wie im Original). 50 Vgl. S. 36. 51 Vgl. S. 21 f. 52 Vgl. S. 35 f und S. 25 f. 53 Vgl. S. 46 ff. Aktuelle Entwicklungen - Salafistische Bestrebungen 45 Durch gezielte Propaganda bis in die Haftanstalten hinein kann "Ansarul-Aseer" darüber hinaus auch die Resozialisierung gefährden. Anders als Gefangenhilfsprojekte aus der rechtsoder linksextremistischen Szene leistet "Ansarul-Aseer" keine juristische Hilfestellung. 3.3 Von der Theorie zur Praxis: "Millatu-Ibrahim" 3 Zur Strategie des virtuellen Netzwerks gehört auch die Webseite Salafismus in der Praxis "Millatu-Ibrahim". Sie ist seit dem 7. November online und propagiert die Umwandlung der Bundesrepublik Deutschland in ein islamistisches Staatswesen. Indem sie erklärt, wie ein "islamischer Staat" in Deutschland auszusehen habe, sorgt "Millatu-Ibrahim" für die praktische Umsetzung der auf "Salafimedia" gelegten theoretischen Grundlagen des Salafismus. In der für Salafisten üblichen Instrumentalisierung des Islam für ihre politische Agenda wird auf der Webseite verkündet, dass der Islam der Demokratie überlegen sei. Da nur Gott allein das Recht der Gesetzgebung habe, verstießen jene Muslime, die die Demokratie akzeptieren, gegen den Islam. "Die Demokratie ist eine neue, falsche Religion des 21. Jahrhunderts, die die Heiligkeit des Allmächtigen Gottes (Allah) bedroht. Sie gesellt Gott andere bei, indem sie Sein ausschließliches Recht der Gesetzgebung den Menschen zuschreibt [..]. Dies verstößt gegen die Einheit Gottes, da Er Sein göttliches Recht dann mit Seiner Schöpfung teilt. Somit ist Demokratie nur durch diese Tatsache eine polytheistische Religion." 54 Auch der Aufruf "Gehorcht nicht dem Gesetz des Landes" 55 54 Internetseite "Millatu-Ibrahim", Aufruf am 8.11.2011. 55 Internetseite "Millatu-Ibrahim", Aufruf am 8.11.2011. 46 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 verdeutlicht die salafistische Ausrichtung. Es wird dazu aufgerufen, nicht weltlichen Gesetzen, sondern Aufruf zur Scharia "[...] der Schari'ah Allahs, sprich dem Gesetz eines islamischen Staats [...] Folgsamund Gehorsamkeit zu zeigen." 56 Ganz konkret wird auch die Ablösung der gegenwärtigen Regierungsmitglieder vorgesehen: "Die heutigen Minister und Präsidenten werden durch vertrauenswürdige und rechtschaffene Führungskräfte ersetzt." 57 3.4 Akteure des virtuellen Netzwerks Hinter dem virtuellen Netzwerk stehen mit dem Berliner Ex-Rapper Denis Cuspert ("Deso Dogg") und dem aus Österreich stammenden "Prediger" Mohamed M.58 prominente Akteure der jihad-salafistischen Szene. Der Kopf ("Amir") des Netzwerks ist Mohamed M. alias "Abu Usama al-Gharib". Das virtuelle Netzwerk ist ein Nachfolgeprojekt der "Globalen Islamischen Medienfront" (GIMF), deren Administrator und Vordenker Mohamed M. bis zu seiner Verhaftung im September 2007 war. Die GIMF hatte im März und November 2007 zwei Videos veröffentlicht, in denen Deutschland und Österreich mit Anschlägen gedroht würde, falls sie ihre Soldaten nicht aus Afghanistan abzögen.59 Mohamed M. wurde 2008 in Österreich verurteilt, sich als Mitglied an der terroristischen Vereinigung "al-Qaida" und anderen internationalen Terrornetzwerken beteiligt und auf der Webseite der GIMF wiederholt die Ideologie der "al-Qaida" verbreitet zu haben.60 Nach seiner Inhaftierung verlor die GIMF immer mehr an Bedeu56 Internetseite "Millatu-Ibrahim", Aufruf am 8.11.2011 (Schreibweise wie im Original). 57 Internetseite "Millatu-Ibrahim", Aufruf am 8.11.2011. 58 Mohamed M. lebte 2011 zeitweilig in Berlin. 59 Zur "Globalen Islamischen Medienfront" (GIMF) und deren Drohvideos vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2007. Berlin 2008, S. 74 f., 80 ff. 60 Vgl. Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien, vom 12.3.2008, S. 9 f., 12 f., AZ.: 443 hv 1/08 h. Aktuelle Entwicklungen - Salafistische Bestrebungen 47 tung, vor allem durch die Verurteilung weiterer Internetaktivisten, die das Projekt fortgeführt hatten.61 Nach der Haftentlassung von Mohamed M. im September 2011 rief Haftentlassung von Mohamed M. er Muslime erneut zum bewaffneten Jihad auf: "Wenn Ihr gefragt werdet, was ist mit Jihad im Islam?, dann sagt nicht, Jihad ist Verteidigung. Nein, das stimmt nicht! Verteidigungsjihad ist 3 eine Art von Jihad, es gibt auch Jihad at-talab - Verbreitungsjihad oder offensiver Jihad. Den gibt es genauso. Schämt Euch nicht für Islam [...]. Jihad at-talab [offensiver Jihad] gibt es [...] bis auf der ganzen Erde la ilaha illa llah muhammadan rasul Allah [das islamische Glaubensbekenntnis] herrscht [...] bis auf dem Weißen Haus und auf dem Vatikan [...] die schwarzen Flaggen62 wehen werden [...]." 63 Er bezeichnet die parlamentarisch beschlossenen Gesetze als unbeachtlich und "nicht einmal als Klopapier tauglich": "Eine Schwester [muslimische Frau], [...] sie ruft zum Jihad auf [...]. Eine Schwester, die verhaftet wird, egal wozu sie aufruft [...], hat sie eine Schuld nach islamisches Scharia, nach islamischen Gesetzen, weil die anderen Gesetzen [etwa in einer parlamentarischen Demokratie wie Deutschland] interessieren mich nicht, die sind - wa-llahi [bei Allah] wie ich immer sage - nicht einmal als Klopapier tauglich [...]." 64 Während Mohamed M. der ideologische Vordenker des Netzwerks Cuspert als Sprecher von "Millatu-Ibrahim" ist, betreibt der Ex-Rapper Denis Cuspert seine Propaganda-Aktivitäten in sehr viel bodenständigerer Form und spricht seine Zielgruppe "auf Augenhöhe" an. Zumindest bis Dezember agierte er als Sprecher von "Millatu-Ibrahim". 61 Vgl. S. 38. 62 Die schwarze Flagge mit dem islamischen Glaubensbekenntnis (Schahada) gilt mittlerweile als allgemeines Symbol des jihadistischen Salafismus. Sie wird etwa von der Terrororganisation "Islamischer Staat Irak" verwendet. 63 Videobotschaft von Mohamed M.: "Ist es nicht Zeit, dass Du aufstehst?", veröffentlicht auf: YouTube, Aufruf am 14.10.2011 (Schreibweise wie im Original.). 64 Audiobotschaft von Mohamed M.: "Eine Klarstellung bezüglich des Vortrags: Unsere Verpflichtungen gegenüber der Ummah", veröffentlicht auf YouTube. Aufruf am 14.10.2011 (Schreibweise wie im Original). Während der Verlautbarung wird ein Standbild des "Predigers" sowie Verweise auf die Websites "Millatu-Ibrahim" und "Salafimedia" gezeigt. 48 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Denis Cuspert ist zunächst unter dem Namen "Abou Maleeq", später dann als "Abu Talha al-Almani" seit Anfang 2010 durch eine Reihe Gewalt verherrlichender salafistischer Hymnen (KampfNaschids)65 bekannt geworden. Darin verherrlichte er etwa den im Mai in Pakistan getöteten Anführer von "al-Qaida", Usama Bin Ladin, als leuchtendes Vorbild für alle Jihad-Salafisten66 oder glorifizierte den Märtyrertod: "Wandert aus, wandert aus, Usbekistan, Afghanistan. Wir kämpfen in Khorasan,67 Allahu akbar, Allahu akbar. Inshallah, inshallah, wir kämpfen, fallen, Shuhada [Märtyrer], den Feind im Auge bismillah [im Namen Gottes], Allahu akbar, Allahu akbar." 68 Ein im Internet veröffentlichtes Cover für ein KampfNaschid69 zeigt Denis Cuspert vor dem mit einer jihad-salafistischen Fahne beflaggten Brandenburger Tor. Jihad in Deutschland Das mit dieser Flagge visualisierte deutsche Nationalsymbol verkörpert den Anspruch, den militanten Jihad nicht alleine im Nahen und Mittleren Osten zu führen, sondern durch Gewaltanwendung auch die politischen Verhältnisse in Deutschland zu ändern. 65 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Aktuelle Meldung: "Vom Gangster-Rap zum Jihad-Aufruf - Radikalisierende Hymnen "neugeborener" Salafisten". Berlin 2011. 66 Vgl. Kampf-Naschid von Denis Cuspert: "Sheikh Usama", veröffentlicht auf YouTube, Aufruf am 5.7.2011. 67 Historische Bezeichnung für eine Region in Zentralasien. Der Begriff wird von jihadistischen Salafisten für Afghanistan und angrenzende Gebiete verwendet. 68 Kampf-Naschid von Denis Cuspert: "Wacht doch auf", veröffentlicht auf YouTube, Aufruf am 3.1.2011. 69 Vgl. Kampf-Naschid von Denis Cuspert: "Wofür wir stehen", veröffentlicht auf YouTube, Aufruf am 21.2.2011. Aktuelle Entwicklungen - Salafistische Bestrebungen 49 Auf Anregung des Berliner Verfassungsschutz indizierte die "Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien" (BPjM) bislang drei der Kampf-Naschids von Denis Cuspert. Sie wurden als jugendgefährdend eingestuft, eines davon sogar als strafrechtlich relevant.70 Das besondere Gefährdungspotenzial von Mohamed M. und Denis Cuspert besteht in deren strategischer Verbreitung einer "alQaida"-konformen Ideologie unter einem deutschsprachigen Publi- 3 kum. Durch das virtuelle Netzwerk "Salafimedia", "Ansarul-Aseer" und "Millatu-Ibrahim" wird das Vorgehen weiter professionalisiert. Beide Personen besitzen ein beträchtliches Maß an Autorität und Prestige in der Szene. Hierdurch besteht die Gefahr, dass sie "gebürtige" Muslime und Konvertiten in Deutschland mit jihad-salafistischer Ideologie radikalisieren oder bereits radikalisierte Personen zu Gewaltanwendung aufstacheln - sei es in Form von Anschlägen oder Beteiligung an Kampfhandlungen. Seit einigen Monaten ist die Entwicklung zu beobachten, dass beiSchritt aus der virtuellen Welt de Personen den Schritt aus der virtuellen in die reale Welt vollziehen. Ein Beleg hierfür ist der Auftritt von Mohamed M. und Denis Cuspert als Referenten bei einem Islamseminar in Nürnberg am 27. November, für den auf "Millatu-Ibrahim" und "Salafimedia" intensiv geworben wurde. Ein weiteres Indiz für diese Entwicklung ist die Übernahme einer Moschee in Solingen (Nordrhein-Westfalen) durch eine salafistische Gruppe um Mohamed M. Die Moschee trägt seit kurzem denselben Namen wie die Webseite "Millatu-Ibrahim". Nach seinem Wegzug aus Berlin war Mohamed M. einige Monate lang Prediger in dieser Moschee. 70 Dabei handelte es sich um die Kampf-Naschids "Mumina" [die Gläubige], "Wofür wir stehen" und "Mujahid [Kämpfer] lauf". 50 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 4 Legalistischer Islamismus 4.1 Personenpotenzial Die legalistischen islamistischen Gruppierungen "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V." (IGMG) und "Muslimbruderschaft" (MB) lehnen Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele ab. Sie werden in Berlin nur von einer kleinen Minderheit unterstützt. Türkische Islamisten Innerhalb der ca. 3 000 Angehörigen legalistischer islamistischer Gruppierungen in Berlin stellen die türkischen Islamisten, die überwiegend in der IGMG organisiert sind, mit ca. 2 900 Personen weiterhin die große Mehrheit. Der arabischen nicht-gewaltorientierten islamistischen MB werden ca. 100 Personen zugerechnet. Personenpotenzial Legalistische Islamisten Berlin Bund 2010 2011 2010 2011 Legalistische Islamisten*, davon 3 000 3 000 31 300 32 300 IGMG 2 900 2 900 30 000 31 000 Muslimbruderschaft 100 100 1 300 1 300 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. 4.2 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V." (IGMG) Die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) ist keine homogene Organisation. Während sie sich früher eng an der Mutterorganisation in der Türkei, der dortigen "Milli Görüs"-Bewegung orientierte, sind seit einigen Jahren einzelne Tendenzen der Führungsfunktionäre in Deutschland erkennbar, eine größere Eigenständigkeit zu erlangen und sich allmählich vom strikt islamistischen Kurs des mittlerweile verstorbenen "Milli Görüs"-Anführers Aktuelle Entwicklungen - Legalistischer Islamismus 51 Necmettin Erbakan zu lösen. Eine Distanzierung von Erbakan und seiner Ideologie war bisher allerdings nicht ersichtlich. Bekenntnis der IGMG zur SP nach Erbakans Tod Am 27. Februar verstarb im Alter von 84 Jahren in Ankara der BeBekenntnis zur "Saadet Partisi" gründer und Führer der türkischen "Milli Görüs"-Bewegung und amtierende Vorsitzende der "Saadet Partisi" (SP)71 Necmettin Erbakan. Die Trauerfeierlichkeiten fanden am 1. März in Istanbul statt. Zehntausende Menschen, darunter auch zahlreiche hochrangige Politiker, allen voran der Präsident der Republik Türkei, nahmen an der Beerdigung ebenso teil, wie Vertreter der IGMG-Zentrale 4 und des IGMG Landesverbandes Berlin72. Letztere erwiesen Erbakan nicht nur die letzte Ehre, sondern bekannten sich auch zur SP und somit auch zu deren islamistischer Ausrichtung. Einige Funktionäre des IGMG Landesverbandes Berlin trugen Schals mit dem Logo der SP. Im nachhinein fanden in Deutschland zahlreiche Gedenkveranstaltungen statt, auf denen man sich zu den Zielen Erbakans bekannte, so auch in der Berliner Mevlana Moschee e.V. "Die Umma hat ihren Führer verloren. Jedoch dauert seine Mission fort. Auch wir werden auf dem von unserem Hoca73 aufgezeigten Weg weiter demselben Ziel dienen." 74 Erbakans Nachfolger auf SP-Linie Der bisherige stellvertretende Parteivorsitzende der SP, Mustafa Kamalak, hatte nach dem Tod Erbakans den Vorsitz bis zum nächsten Parteikongress übernommen, nachdem er am 17. Juni offiziell zum SP-Parteivorsitzenden gewählt wurde. Er gilt als Gefolgsmann von Erbakan, der die SP in dessen Sinne weiterführen werde. 71 "Saadet Partisi" (Glückseligkeitspartei - SP), Partei der "Milli Görüs"-Bewegung. Vgl. noch S. 209 ff. 72 Die vollständige Bezeichnung lautet "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, Landesverband Berlin e. V.", abgekürzt "IGMG Landesverband Berlin". 73 "hoca" 'Lehre'; die Anwendung von hoca reicht von 'respektvolle Anrede für einen Lehrer oder Professor' (hocam 'mein Lehrer') über Dozent an einer medrese bis Gesundbeter. Vgl. K. Kreiser "Kleines Türkei Lexikon", München 1992, S. 82. 74 Beitrag vom 16.3.2011 auf www.berlinturk.de. 52 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 "Die Ziele unseres Hocas werden auf jeden Fall verwirklicht. Was waren die Ziele unseres Hocas? Er hat eine lebenswerte Türkei, eine neue Groß-Türkei und eine neue Welt angestrebt. Es ist unsere Pflicht, diese Ziele zu verwirklichen." 75 Somit ist Kamalak ein Verfechter von "adil düzen"76 ("Gerechte Ordnung"), einer Ideologie, die von Erbakan propagiert wurde. Allerdings hat die SP kaum noch Bedeutung: Bei den diesjährigen Parlamentswahlen in der Türkei am 12. Juni erreichte die "Saadet Partisi" lediglich rund 1,24 Prozent. 2007 waren es noch rund 2,3 Prozent. Vorstandswahlen bei der IGMG-Zentrale Kemal Ergün Kurz nach dem Tod von Erbakan gab der neuer Vorsitzender bisherige Vorsitzende der IGMG-Zentrale Yavuz Celik Karahan bekannt, dass er bei den anstehenden Vorstandswahlen nicht erneut kandidieren werde. Am 14. Mai fand eine Delegiertenversammlung statt, bei der Kemal Ergün zum neuen Vorsitzenden der IGMG-Zentrale vorgeschlagen und gewählt wurde. Ausblick Kein Bruch Es bleibt abzuwarten, wie sich die personellen Veränderungen bei der SP sowie der IGMG-Zentrale in Deutschland und auf Berlin inhaltlich und ideologisch auswirken werden. Trotz des Todes von Erbakan besteht noch immer eine enge Bindung zwischen der IGMG und der "Milli Görüs"-Bewegung in der Türkei. Zu einem Bruch ist es nicht gekommen, wohl auch um eine endgültige Spaltung innerhalb der IGMG zu verhindern. Setzen sich ReformJedoch ist bereits jetzt erkennbar, dass die Auftritte von Anhängern bemühungen durch der "Saadet Partisi" auf Veranstaltungen der IGMG rückläufig sind. Ob sich die bisher erkennbaren Einzelerkenntnisse bestätigen oder ob sich beide Organisationen aufgrund der personellen Verände75 MillA(r) Gazete vom 14.3.2011. 76 Vgl. S. 209. Aktuelle Entwicklungen - Legalistischer Islamismus 53 rungen in einer Orientierungsphase befinden, kann noch nicht gesagt werden. Würden sich mit Kemal Ergün an der Spitze der IGMGZentrale die IGMG-Reformbemühungen durchsetzen, könnte dies sich möglicherweise auch auf die Berliner IGMG auswirken, da die IGMG-Zentrale den Berliner Vereinsvorsitzenden sowie seinen Vertreter bestimmt. Ob der IGMG in Zukunft der Übergang von einer extremistischen Noch keine programmatische Neuausrichtung zu einer demokratischen Organisation gelingen wird, bleibt abzuwarten. Noch handelt es sich bei der IGMG um eine Organisation, die in ihrer ideologischen Ausrichtung auch Ziele verfolgt, die mit 4 der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht vereinbar sind. Erste Schritte in die richtige Richtung - Reformbemühungen sowie zahlreiche in die Gesellschaft eingebettete Projekte - hat die IGMG bereits unternommen. Bislang haben sich die unverkennbar vorhandenen Wandlungstendenzen jedoch noch nicht so weit durchgesetzt, dass insgesamt von einer programmatischen Neuausrichtung im Sinne einer Abkehr von den verfassungsfeindlichen Zielsetzungen gesprochen werden könnte. 54 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 5 Rechtsextremismus 5.1 Personenpotenzial und Straftaten Mitgliedsverluste Die Personenpotenziale rechtsextremistischer Personenzusambei der NPD menschlüsse sind seit Jahren rückläufig, wofür vor allem der Niedergang der parlamentsund diskursorientierten Strukturen verantwortlich ist. Seit 2009 hat allein die "Deutsche Volksunion" (DVU) in Berlin 250 Mitglieder verloren, die von keinem anderen rechtsextremistischen Personenzusammenschluss aufgefangen wurden. Auch die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) konnte infolge ihrer Verschmelzung mit der DVU keinen Mitgliederzuwachs verzeichnen, so dass sich die Mitgliederzahl der NPD in Berlin in den letzten beiden Jahren auf unverändert ca. 250 Personen beläuft. Eine längerfristige Betrachtung zeigt jedoch, dass auch die Berliner NPD Mitglieder verloren hat. Von den etwa 330 Mitgliedern im Jahr 2008 sind 2011 noch 250 verblieben, was den Verlust von etwa einem Viertel der Mitglieder bedeutet. Stabiler Kern bei den Demgegenüber steht ein stabiler Kern aktionsorientierter Rechtsaktionsorientierten Rechtsextremisten extremisten aus den Bereichen der Neonazis (hier vor allem der "Autonomen Nationalisten" sowie dem sonstigen Netzwerk "Freie Kräfte") und dem subkulturellen Milieu des Netzwerkes "Rechtsextremistische Musik", der sich insgesamt auf ca. 1 000 Personen beläuft. Davon entfallen auf das Netzwerk "Freie Kräfte" etwa 180, zu denen auch ca. 100 "Autonome Nationalisten" gehören. Zu dem Netzwerk "Rechtsextremistische Musik" zählen rund 190 Personen. Die im Vergleich zum Vorjahr leicht rückläufigen Zahlen erklären sich vor allem aus den Abschottungstendenzen der "Autonomen Nationalisten" und der strukturellen Schwäche des sonstigen Netzwerkes "Freie Kräfte". Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 55 Rechtsextremistisches Personenpotenzial Berlin Bund 2010 2011 2010 2011 Gesamt* 1 600 1 420 26 000 23 400 . /. Mehrfachmitgliedschaften 90 90 1 000 1 000 tatsächliches Personenpotenzial 1 510 1 330 25 000 22 400 davon gewaltbereite Rechtsextremisten 700 650 9 500 9 800 * Die Zahlen bilden geschätztes Personenpotenzial ab. Personenpotenzial einzelner Personenzusammenschlüsse Berlin Bund 5 2010 2011 2010 2011 Subkulturell geprägte und sonstige gewaltbereite Rechtsextremisten 500 490 8 300 7 600 Neonazis 550 530 5 600 6 000 Rechtextremistische Parteien, davon 400 250 9 500 7 300 Deutsche Volksunion 150 0 3 000 1 000 Nationaldemokratische Partei Deutschlands* 250 250 6 500 6 300 Sonstige rechtextremistische Organisationen 150 150 2 500 2 500 * Die NPD-Zahlen beinhalten die Mitglieder der JN (2011: 50; 2010: 50) 56 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Fallzahlen Politisch motivierte Kriminalität - rechts 2010 2011 Gewaltdelikte, davon 27 61 antisemitisch 1 1 fremdenfeindlich 14 30 gegen links 5 24 sonstige Delikte, davon 1 110 1 096 antisemitisch 131 111 fremdenfeindlich 195 227 gegen links 83 67 Gesamt, davon 1 137 1 157 antisemitisch 132 112 fremdenfeindlich 209 257 gegen links 88 91 Auszug aus dem Bericht "Lagedarstellung der Politisch motivierten Kriminalität in Berlin für das Jahr 2011" des Landeskriminalamtes Berlin (LKA). Der vollständige Bericht ist im Internet eingestellt unter www.berlin.de/sen/inneres/sicherheit/ statistiken/index.html. 5.2 "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) Eine bis zu diesem Zeitpunkt unbekannte Dimension rechtsextremistischer Gewalt offenbarten die Taten der Gruppierung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU). Im Zuge einer bundesweiten Mordserie in den Jahren von 2000 bis 2007 soll diese Gruppierung zehn Menschen getötet, sowie zwei Sprengstoffanschläge und 14 Banküberfälle begangen haben. Thüringer Zelle Die drei Angehörigen dieser Zelle waren 1998 nach einer polizeilichen Durchsuchungsmaßnahme in Thüringen untergetaucht und befanden sich anschließend auf der Flucht vor den Strafverfolgungsbehörden. Intensive und wiederholte Fahndungsmaßnahmen die zur Festnahme der drei Gesuchten führen sollten, blieben ohne Erfolg. Erst als zwei Angehörige der Gruppierung im November 2011 im Anschluss an einen Banküberfall in Eisenach (Thüringen) Selbstmord begingen, wurden das Ausmaß und der rechtsextremistische Hintergrund ihrer Taten bekannt. Im Wohnwagen der beiden toten Rechtsextremisten und in einer Wohnung, die das Trio in Zwickau (Sachsen) angemietet hatte und die von dem mut- Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 57 maßlich dritten NSU-Mitglied unmittelbar nach dem Selbstmord der beiden Täter in Brand gesetzt worden war, fand sich umfangreiches Beweismaterial zu den dem NSU zur Last gelegten Taten. Neben mehreren Waffenfunden war es vor allem eine den drei DVD zur Mordserie Verdächtigen zuzurechnende DVD, die an mehreren Stellen in Deutschland aufgetaucht war und aus der Rückschlüsse über das ganze Ausmaß ihrer Taten gezogen werden konnten. In menschenverachtender Art und Weise wurde auf dieser DVD zu einer Mordserie an Menschen mit Migrationshintergrund und einem Sprengstoffanschlag Stellung genommen. Am 11. November übernahm die Bundesanwaltschaft die ErmittBundesanwartschaft übernimmt Ermittlungen gegen das dritte mutmaßliche NSU-Mitglied wegen des Verlungen dachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung in 5 Tateinheit mit Mord und versuchtem Mord. Im Zuge der Ermittlungen wurden mehrere Helfer der Terrorzelle, die verdächtigt werden, die Täter logistisch unterstützt und zur Produktion der DVD beigetragen zu haben, verhaftet. Nach derzeitigem Kenntnisstand gibt es keine Belege dafür, dass die Terrorzelle in Berlin Straftaten verübt hat. Hinweise auf Unterstützungsmaßnahmen für die Gruppierung aus Berlin haben sich bislang nicht bestätigt. Stellungnahmen aus den Reihen des organisierten Berliner Rechtsextremismus zu den Taten der NSU blieben bislang aus. Dieses Schweigen kann als Versuch gewertet werden, größtmögliche Distanz zu den Angehörigen der Gruppierung und deren Verbrechen herzustellen und in keiner Weise hiermit in Verbindung gebracht zu werden. In vereinzelten Vorkommnissen zeigten sich aber Zynismus und vermutlich auch klammheimliche Sympathie mit der Terrorzelle. So fiel eine Gruppe von Rechtsextremisten im Ortsteil Schöneweide mit dem Rufen von Unterstützungsparolen für den NSU auf und ein in Berlin ansässiger rechtsextremistischer Versandhandel bot ein T-Shirt mit dem Abbild eines Totenkopfs an einem Dönerspieß und der Überschrift "Killerdöner - nach Thüringer Art" an.77 77 Vgl. S. 98 f. 58 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Konsequenzen Die Erkenntnisse zum "Nationalsozialistischen Untergrund" haben zu einer bundesweiten Überprüfung sämtlicher rechtsextremistischer Aktivitäten und der hiervon ausgehenden Gefahren geführt. Auch die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden, insbesondere im Hinblick auf die Beschaffung und die Weitergabe von Informationen wurde auf den Prüfstand gestellt. Ein erstes Ergebnis dieser Maßnahmen war die Einrichtung eines "Gemeinsamen Abwehrzentrums gegen Rechtsextremismus" (GAR) im Bundeskriminalamt und im Bundesamt für Verfassungsschutz, dem Spezialisten von Bund und Ländern angehören. Zudem werden die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Verbunddatei geschaffen, in der Erkenntnisse von Polizeiund Verfassungsschutzbehörden zusammenfließen sollen. Alle Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, rechtsextremistische Strukturen zukünftig sowohl frühzeitig und besser erkennen als auch effektiver bekämpfen zu können. 5.3 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus 5.3.1 Berliner NPD scheitert mit provokanter Wahlkampfstrategie Die Aktivitäten des Berliner Landesverbandes der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) waren 2011 ganz auf die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen (BVVen) von Berlin ausgerichtet. Stimmenverluste Mit einem Zweitstimmender NPD anteil von 2,1 Prozent verfehlte die Partei ihr selbst gestecktes Ziel, erstmals ins Abgeordnetenhaus einzuziehen, allerdings deutlich. Auch auf Bezirksebene musste die Berliner NPD zum Teil deutliche Stimmenverluste hinnehmen, so dass sie in keiner Berliner BVV mehr in Fraktionsstärke vertreten ist. Es dauerte mehrere Wochen, bis die Partei dieses für sie enttäuschende Wahlergebnis verarbeitet hatte. Jetzt soll ein im Februar 2012 neugewählter Landesvorsitzender aus den Reihen der "Autonomen Nationalisten" die Partei aus ihrer Lethargie befreien und ihr neuen Schwung ver- Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 59 leihen. Die Wahl dieses neuen Vorsitzenden ist der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, in deren Verlauf sich die Berliner NPD immer mehr an die "Autonomen Nationalisten" angenähert hat und von deren Engagement sie aufgrund ihrer eigenen Initiativund Konzeptlosigkeit auch bis auf weiteres abhängig bleiben wird. Schwierige Ausgangslage Bereits vor den Wahlen am 18. September sah sich die NPD in BerKeine funktionierenden Strukturen lin mit einer Vielzahl von Schwierigkeiten konfrontiert. Die Mitgliederzahl des Landesverbandes stagniert seit Jahren auf niedrigem Niveau, und auch der im Februar 2010 gewählte Landesvorstand konnte der Partei keinen neuen Schwung verleihen. Diese Mitgliederund Führungsschwäche hat dazu geführt, dass in einem ehemals flächendeckend installierten Netz von NPD-Kreisverbänden 5 größere Lücken entstanden sind. In mehreren Berliner Bezirken konnte die NPD daher im Wahlkampf auf keine funktionierenden Strukturen zurückgreifen. Schließlich war die Berliner NPD auch finanziell weit von den MögFinanzprobleme lichkeiten anderer Landesverbände entfernt. Die "Schwerpunktwahlkämpfe" der NPD fanden in Sachsen-Anhalt, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern statt, wo auch das Gros der ohnehin begrenzten finanziellen Mittel der Bundes-NPD aufgewandt wurde. Die Berliner NPD hingegen musste im Wahlkampf mit einem Bruchteil der Gelder auskommen, die diesen Landesverbänden zur Verfügung standen. Neben diesen parteiinternen Defiziten war die Berliner NPD durch Parteineugründungen zudem noch einer härteren Konkurrenzsituation ausgesetzt als bei vorherigen Wahlen.78 Insbesondere für Protestwähler stand ein breites Spektrum an Parteien zur Verfügung. Wahlkampf der permanenten Provokation Vor diesem Hintergrund war mit einem Erfolg der NPD bei den BerErnüchterung und Provokation liner Wahlen kaum zu rechnen. Eine Einschätzung, die sich, trotz des immer wieder öffentlich bekundeten Ziels in das Abgeordnetenhaus von Berlin einziehen zu wollen, auch parteiintern recht 78 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2006. Berlin 2007, S. 21. 60 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 früh durchgesetzt zu haben schien. Nicht in der Gewinnung neuer Wähler, sondern darin, das Ergebnis der letzten Wahlen zu halten und die eigene Stammwählerschaft zu mobilisieren, bestanden die Primärziele der NPD. Mit welcher Strategie dies gelingen sollte, erklärte der damalige Vorsitzende der Berliner NPD Uwe Meenen: "Ein provokativer und auf unsere Zielgruppen ausgerichteter Wahlkampf ist Konsens im Landesvorstand. Da wir von vornherein keine gute Presse erwarten dürfen und bekommen, freuen wir uns eben über die schlechte." 79 Anders als andere NPD-Landesverbände, die in ihrem Wahlkampf darauf abzielten, mit einem gemäßigten und betont biederen Image breitere Wählerschichten anzusprechen, entschied sich die Berliner NPD für einen kompromisslosen Wahlkampf der permanenten Provokation. Von dem Bemühen um größtmögliche Provokation zeugte bereits die Auswahl der Daten und Orte, an denen die NPD öffentliche Wahlkampfveranstaltungen durchführte. Historische Ereignisse der jüngeren Vergangenheit wurden von der Partei für ihre Zwecke vereinnahmt. So hielt die Partei am 17. Juni eine Kundgebung unter dem Motto: "Arbeiter wehrt euch - Damals wie heute" in unmittelbarer Nähe der Landesgeschäftsstelle der Partei "Die Linke" und zum Verlagsgebäude der Tageszeitung "Junge Welt" ab. Obwohl sich gerade einmal ca. 60 Teilnehmer hierzu einfanden und die Kundgebung permanent und massiv von Gegendemonstranten gestört wurde, wertete die Partei die Veranstaltung als Erfolg. Demos an historischen Einzig darin, dass der Berliner NPD durch die Berichterstattung im Orten Vorfeld und im Nachgang der Kundgebung eine breite mediale Aufmerksamkeit zuteil wurde, bestand offenkundig das Ziel der Partei. Ähnlich verhielt es sich mit den Wahlkampfveranstaltungen, die die NPD am 13. August mit ca. 70 Personen in Pankow an einem ehemaligen Grenzübergang und am 11. September mit etwa 120 Teilnehmern auf dem Alexanderplatz abhielt. 79 "Der Kampf kann beginnen!", in: "Deutsche Stimme". Juli 2011. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 61 Neonazistische und fremdenfeindliche Parolen Provokationen und neonazistische Propaganda beherrschten auch die Werbemittel, mit denen die Berliner NPD im Wahlkampf auftrat. In einem Kreuzworträtsel, das die Partei in Umstrittener Wahlslogan einer Wahlkampfzeitung veröffentlichte, wurde nach der "Abkürzung für Nationalsozialismus", dem "deutschen Politiker ('Friedensflieger')" Rudolf Heß und dem Lösungswort "Adolf" gefragt. Auf einem ihrer Wahlplakate warb die Partei mit dem bewusst zweideutig gehaltenen Slogan "Gas geben!". Mit einem für sofort vollziehbar erklärten Bescheid vom 31. August forderte der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg die 5 Partei dazu auf, dieses Plakat abzuhängen, da es den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen würde. Obwohl das daraufhin von der NPD angerufene Verwaltungsgericht Berlin eine allein strafrechtliche Deutung dieses Plakates verneinte, bescheinigte es dem Plakat gleichwohl, dass es geeignet sei, "Assoziationen zu nationalsozialistischen Gräueltaten zu wecken"80. Da das Gericht auch eine andere, nicht strafrechtlich relevante Interpretation der Formulierung "Gas geben" als plausibel erachtete, hatte der Widerspruch der NPD gegen den Bescheid des Bezirkes Erfolg und die Partei warb weiterhin mit dem umstrittenen Wahlslogan. In einem Wahlwerbespot, in dem die Partei alle Migranten pauschal Volksvertretung im Wahlkampf als Verbrecher abstempelte, fand die aggressive Propagandastrategie der Berliner NPD ihre Fortsetzung. Anders als im Falle des "Gas Geben!"-Wahlplakates hatte die Weigerung des Rundfunks BerlinBrandenburg (RBB) den Film auszustrahlen, juristisch Bestand. Das VG Berlin, bestätigt durch das OVG Berlin-Brandenburg, sah hier den Tatbestand der Volksverhetzung als erfüllt an und begründete dies unter anderem damit, dass die "Aussage, Ausländer seien per 80 VG Berlin, AZ.: VG 1 L 293.11 vom 7.9.2011. 62 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 se Straftäter und damit als der Achtung der übrigen Bürger unwert und unwürdig, [...] aus ausländerfeindlichen und damit verwerflichen Motiven"81 erfolgte. Wegen dieses Sachverhalts ermittelte auch die Polizei wegen Volksverhetzung gegen den damaligen Landesvorsitzenden der Berliner NPD sowie den damaligen NPD-Bundesvorsitzenden. Auf Grund eines Durchsuchungsbeschlusses des Amtsgerichts Tiergarten durchsuchte die Polizei am 20. Dezember die NPD-Parteizentrale in Berlin-Köpenick, ohne dass Polizeiangaben zufolge verfahrensrelevante Beweismittel aufgefunden werden konnten. Fremdenfeindlichkeit Pauschale Fremdenfeindlichkeit spielte auch in den öffentlichen Aussagen von NPD-Vertretern eine zentrale Rolle. Befragt nach den Konzepten, mit denen die NPD dem Lehrermangel an Berliner Schulen entgegentreten wolle, antwortete beispielsweise der damalige Bundesvorsitzende der Partei Udo Voigt: "Wenn wir die Gelder in Berlin statt in Sozialgelder für Fremde zu investieren in die Bildungspolitik und die Schulen investieren, dann werden wir in Berlin ganz sicher keinen Lehrermangel haben. Wenn unser Ausländerrückführungsprogramm abgeschlossen ist, sind die Klassen nur noch die Hälfte so groß, dann gibt es auch keinen Lehrermangel." 82 Unmissverständlich präsentierte sich die Partei auch in ihrem Wahlprogramm, das den bezeichnenden Titel: "Landesaktionsprogramm für ein deutsches Berlin" trug und in dem nahezu alle Probleme der Stadt auf eine von der NPD diagnostizierte "Überfremdung" Berlins zurückgeführt wurden. 81 VG Berlin, AZ.: VG 2 L 131.11, vom 18.8.2011, OVG Berlin-Brandenburg, AZ.: OVG 3 S 112.11, vom 31.8.2011. 82 "Klipp und klar Berlin Wahl 2011: Die Herausforderer", RBB vom 1.9.2011. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 63 Wörtlich bezeichnete sie dieses Programm als: "Notstandsprogramm eines nationalen Senats, das die Grundlage für die Wiederherstellung einer deutschen Ordnung für Berlin ist" 83. Anders als andere Landesverbände, die in ihren Wahlkämpfen daNeonazistische Ausrichtung des rum bemüht waren, die rechtsextremistische Ideologie der NPD Landesverbandes hinter einer bürgerlichen Fassade zu verbergen, ließen Auftreten und Wortwahl der Berliner NPD im Wahlkampf keine Zweifel an ihrer neonazistischen Ausrichtung. Ursächlich hierfür dürfte auch die Notwendigkeit gewesen sein, sich von neuen Parteikonkurrenten aus dem rechtspopulistischen Spektrum abzugrenzen und so als "einzig wahre nationale Kraft in Deutschland"84 zu profilieren. 5 Thematischer Exkurs: Islamfeindlichkeit im Berliner Wahlkampf Dem Bemühen um größtmögliche Distanz zu rechtspopulistischen Parteien war es auch geschuldet, dass die NPD im Wahlkampf nicht gezielt islamfeindlich agitierte. Hatte die NPD Islamfeindlichkeit noch Anfang 2010 zu einem ihrer Themenschwerpunkte gemacht85, erklärte der damalige Bundesvorsitzende der NPD Udo Voigt im Berliner Wahlkampf hierzu: "Wir haben in Deutschland nach unserer Meinung kein Islamproblem, wir haben ein Ausländerproblem"86. Mit dieser Formulierung versuchte Voigt die NPD bewusst von den beiden Parteineugründungen abzugrenzen, die im Berliner Wahlkampf islamfeindlich auftraten. Deren Wahlkampf zielte darauf ab, Ängste vor einer "Islamisierung Deutschlands" zu schüren und der plakative Forderungen wie etwa der "Einstellung staatlicher Transferleistungen im Falle von Vollverschleierung" oder der "Streichung sämtlicher staatlicher Förderungen für 83 "Wir sagen was Sie denken. Landesaktionsprogramm für ein deutsches Berlin.", Internetauftritt des NPD-Landesverbandes Berlin, datiert 27.6.2011. 84 "Offener Brief der NPD an Mitglieder und Sympathisanten der FDP", Internetauftritt der NPD, datiert 5.1.2011. 85 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 79 f. 86 "Klipp und klar Berlin Wahl 2011: Die Herausforderer.", RBB vom 1.9.2011. 64 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 muslimische Verbände" entgegengestellt wurden. Von den Berlinern wurde der Wahlkampf dieser Parteien weitgehend ignoriert. Wie wenig die Strategie, mit antiislamischen Ressentiments auf Stimmenfang zu gehen, verfing, zeigten die Wahlergebnisse. Beide Parteien blieben sowohl bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus als auch auf Bezirksebene erfolglos. Dessen ungeachtet wird Islamfeindlichkeit auch zukünftig Teil einer größeren gesellschaftlichen Debatte bleiben. Dabei rücken zunehmend verschiedene dezidiert islamfeindliche Internetblogs, die überwiegend über im Ausland befindliche Server betrieben werden, in den Fokus. Neben islamkritischen Äußerungen finden sich in diesen Blogs auch Artikel, in denen "der Islam" als solcher durch negative und pauschale kulturelle Zuschreibungen beständig verunglimpft wird. Entscheidend für eine Beobachtung solcher Blogs durch den Verfassungsschutz ist allerdings nicht nur der Nachweis einer beständig islamfeindlichen Agitation. Nach einer Entscheidung des OVG Berlin-Brandenburg ist hierfür zudem eine zielgerichtete Bestrebung, die freiheitlich demokratische Grundordnung abzuschaffen, also wesentliche Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Kraft zu setzen, nachzuweisen.87 Ob dies auf bestimmte Internetblogs zutrifft oder ob deren Äußerungen vom grundrechtlich geschützten Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt sind, ist im Einzelfall zu prüfen und zu bewerten. Netzwerk "Freie Kräfte" führte Wahlkampf für die Berliner NPD Einbindung "Autonomer Der provokante Wahlkampf der Berliner NPD mit neonazistischen Nationalisten" und fremdenfeindlichen Parolen war nicht allein dem Bemühen, sich von Rechtspopulisten abzugrenzen, geschuldet. Vielmehr diente diese Strategie auch der Einbindung "Autonomer Nationalisten" und Angehöriger des Netzwerkes "Freie Kräfte" in den Wahlkampf. Aufgrund des geringen Aktivpotenzials unter den lokalen NPD-Mitgliedern war diese Unterstützung von besonderer Bedeutung für die Berliner NPD. Nicht nur alle Wahlkampfveranstaltungen der Partei waren zu etwa 80 Prozent von "Autonomen Nationalisten" und Angehörigen des Netzwerkes "Freie Kräfte" besucht. 87 Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, AZ.: B.99 vom 6.4.2006. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 65 Auch für den Straßenwahlkampf der Berliner NPD waren sie zum Großteil verantwortlich, indem sie Infostände organisierten, Wahlplakate aufhingen und das Gros der Wahlkampfmaterialien verteilten. Dabei sorgten auch mehrere Übergriffe auf NPD-Aktivisten für Hilfe der "Freien Kräfte" für die NPD einen spürbaren Solidarisierungseffekt der aktionsorientierten rechtsextremistischen Szene mit der NPD. Ende Juni waren innerhalb weniger Tage drei Mitglieder des NPD-Landesvorstandes, darunter auch der damalige Berliner NPD Vorsitzende Uwe Meenen, von vermutlich der linksextremistischen Antifa-Szene zuzuordnenden Personen angegriffen und leicht verletzt worden. Spätestens nach diesen Taten rückten "Autonome Nationalisten" und Ak- 5 tivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte" noch näher an die Partei heran. Nur durch die Unterstützung war die Berliner NPD überhaupt in der Lage einen für ihre begrenzten Möglichkeiten durchaus intensiven Wahlkampf zu führen. Enttäuschende Wahlergebnisse Allerdings konnte auch diese Unterstützung nicht verhindern, dass die Wahlergebnisse der Berliner NPD deutlich hinter den Erwartungen der Partei zurückblieben. Mit einem Zweitstimmenanteil von 2,1 Prozent verlor die NPD gegenüber der letzten Abgeordnetenhauswahl 0,5 Prozentpunkte, was in absoluten Zahlen dem Verlust von 3 988 Stimmen entspricht. Wahlergebnisse NPD Zweitstimmen AbgeordnetenhausAbgeordnetenhausAbgeordnetenhauswahl 2001 wahl 2006 wahl 2011 (in %) (absolut) (in %) (absolut) (in %) (absolut) Berlin-Gesamt 0,9 15 110 2,6 35 229 2,1 31 241 Berlin-West 0,5 4 958 1,7 13 921 1,6 13 986 Berlin-Ost 1,6 10 152 4,0 21 308 2,9 17 255 66 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Schlechtes Abschneiden Diese Stimmenverluste sind ausschließlich auf das im Vergleich im Osten zur Wahl von 2006 schlechtere Ergebnis der Partei im Ostteil der Stadt zurückzuführen. Während die NPD ihr Ergebnis in den westlichen Bezirken halten konnte, bekam sie im Osten Berlins nur noch 2,9 Prozent der Zweitstimmen und verlor damit gegenüber 2006 insgesamt 4 053 Stimmen. Stimmenverluste Zwar konnte die Partei in den Bezirken Treptow-Köpenick (4,1 Proin den Bezirken zent), Marzahn-Hellersdorf (4,0 Prozent) und Lichtenberg (3,5 Prozent) und damit erneut in drei im Ostteil der Stadt gelegenen Bezirken ihre besten Ergebnisse erzielen. Allerdings musste sie in allen drei Bezirken Stimmenverluste hinnehmen. Allein in den Bezirken Marzahn-Hellersdorf (-1,4 Prozentpunkte) und Lichtenberg (-1,6 Prozentpunkte) verlor die Partei im Vergleich zu 2006 insgesamt 2 449 Stimmen. Dass eine rechtspopulistische Partei in diesen beiden Bezirken zwei ihrer besten Ergebnisse berlinweit erzielen konnte, verdeutlichte das Scheitern der provokativen und offen neonazistischen Wahlkampfstrategie der NPD. Wähler, die sich 2006 noch für die NPD entschieden hatten, wurden vermutlich vom Wahlkampf der Partei abgeschreckt und in die Arme dieser sich öffentlich klar von der NPD distanzierenden Rechtspopulisten getrieben. Aufgrund dieser Verluste im Ostteil der Stadt hat das Wahlergebnis das Ost-West-Gefälle im Wählerzuspruch für die NPD spürbar nivelliert. Belief sich die Differenz im Wählerzuspruch für die NPD im Ost-West-Vergleich 2006 noch auf über 7 000 Stimmen, so bekam die NPD 2011 in den östlichen Bezirken nur noch etwa 3 000 Stimmen mehr als im Westteil der Stadt. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 67 Entwicklung der NPD-Wahlergebnisse seit 2001 (in absoluten Zahlen) 40.000 Berlin West Berlin Ost 35.000 30.000 25.000 21.308 17.255 20.000 15.000 10.000 10.152 13.921 13.921 5 5.000 4.958 0 2001 2006 2011 Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen Auch die Wahlen zu den Berliner BezirksverordnetenversammlunNur noch in drei BVVen vertreten gen (BVVen), bei denen die NPD in elf von zwölf Berliner Bezirken angetreten war, verliefen für die Partei wenig erfolgreich. Die Anzahl ihrer kommunalen Mandate wurde nahezu halbiert, statt wie bisher in vier ist die NPD nur noch in drei BVVen vertreten und in allen drei BVVen verlor sie den Fraktionsstatus. 68 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 NPD-Wahlergebnisse bei den Wahlen zu den BVVen88 Verordnete 2011 (in %) 2006 (in %) 2011 (2006) Mitte 1,4 X Friedrichshain-Kreuzberg 1,0 X Pankow 2,0 X Spandau 2,1 X Steglitz-Zehlendorf 1,0 X Reinickendorf 1,9 X Tempelhof-Schöneberg 1,5 2,1 Neukölln 3,0 3,9 0 (2) Treptow-Köpenick 4,5 5,3 2 (3) Marzahn-Hellersdorf 4,1 6,4 2 (3) Lichtenberg 3,7 5,9 2 (3) Verluste auch auf Ebenso wie bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus hat die NPD auch Bezirksebene auf Bezirksebene vor allem im Ostteil der Stadt erhebliche Verluste hinnehmen müssen. Im Bezirk Treptow-Köpenick, in dem der damalige Bundesvorsitzende der NPD Udo Voigt als Spitzenkandidat antrat, verlor die Partei 0,8 Prozentpunkte, in Marzahn-Hellersdorf 2,3 Prozentpunkte und in Lichtenberg 2,2 Prozentpunkte. In Neukölln, wo die NPD nach der letzten Wahl noch zwei Verordnete stellte, verpasste sie den Wiedereinzug in die BVV knapp. Auf Bezirksebene war die Wahlkampfstrategie der NPD damit genauso erfolglos wie bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus. Auch ihre fünfjährige kommunalpolitische Präsenz in vier BVVen konnte hieran nichts ändern. In jedem dieser vier Bezirke verlor die NPD Stimmen, so dass die Partei auch mit dem oft rein provokativ und nicht an Sacharbeit orientierten Auftreten ihrer Verordneten in den BVVen89 auf keine Resonanz bei den Wählern gestoßen war. Kompensiert werden konnten diese Verluste auch nicht durch die Ergebnisse in den sechs Bezirken, in denen die Partei erstmalig angetreten war. Dort erzielte sie durchschnittlich 1,6 Prozent und blieb damit weit vom Einzug in die jeweiligen Bezirksparlamente entfernt. 88 Vgl. "Berliner Wahlen 2011", www.wahlen-berlin.de, datiert 15.10.2011. 89 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 56 f. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 69 Negative Wahlbilanz Dass die Ergebnisse der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den Wahlausgang: Niederlage Bezirksverordnetenversammlungen einen Rückschlag für die NPD in Berlin bedeuteten, kam auch in den knappen Stellungnahmen der Partei zum Wahlausgang klar zum Ausdruck. Sowohl der damalige Landesvorsitzende Uwe Meenen als auch der Spitzenkandidat der Berliner NPD und damalige Bundesvorsitzende der Partei Udo Voigt bezeichneten den Wahlausgang als Niederlage.90 Darüber konnte die Tatsache, dass sich die Partei - wenn auch auf niedrigem Niveau - gegen ihre neuen Konkurrenten aus dem rechtspopulistischen Spektrum durchsetzen konnte, genauso wenig hinwegtäuschen, wie das erneute Erreichen der Wahlkampfkostenerstattung. 5 Mit den Verlusten bei der Abgeordnetenhauswahl, vor allem aber Eigene Erwartungen nicht erreicht den schlechten Ergebnissen auf Bezirksebene, blieb die NPD in Berlin klar hinter den eigenen Erwartungen zurück. Durch den Verlust ihrer BVV-Fraktionen werden der Partei zukünftig zudem beachtliche Finanzund Infrastrukturmittel fehlen. Die Partei selbst führte ihr schlechtes Abschneiden vor allem auf die besondere Konkurrenzsituation bei den Wahlen zurück. Tatsächlich dürfte der Antritt mehrerer neuer Parteien der NPD insbesondere unter den Protestwählern Stimmen gekosten haben. Die Stimmenverluste nur darauf zurückzuführen, blendet allerdings aus, dass es der NPD mit ihrem neonazistischen und fremdenfeindlichen Wahlkampf nicht gelungen ist, gerade diese Protestwähler anzusprechen. Diese völlig verfehlte Wahlkampfstrategie wurde einmütig von der gesamten Berliner NPD getragen, so dass sie selbst die größte Verantwortung dafür trägt, dass sie in Berlin auf ihr Stammwählerpotenzial zurückgeworfen wurde. 90 "Erklärung zu den Berliner Wahlen 2011" / "Erklärung zum Berliner Wahlausgang", Internetauftritt des NPD-Landesverbandes Berlin, datiert 19. / 20.9.2011. 70 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 "Autonomer Nationalist" als Hoffnungsträger der Berliner NPD NPD Berlin Nach diesem enttäuschenden Abschneiden fiel die NPD in Berlin zuin Schockstarre nächst in eine Art Schockstarre. Über Monate wurden weder vom Landesverband noch den Kreisverbänden oder auch nur einzelnen Parteimitgliedern Stellungnahmen abgegeben oder öffentliche Aktionen durchgeführt. Offenkundig herrschte im gesamten Landesverband breite Ratlosigkeit über die personelle und strategische Zukunft der Berliner NPD. Schmidtke neuer Im Januar 2012 kündigte dann der führende Aktivist der "AutonoLandesvorsitzender men Nationalisten" und stellvertretende NPD-Landesvorsitzende Sebastian Schmidtke an, für den Parteivorsitz kandidieren zu wollen. Der zu diesem Zeitpunkt noch amtierende Landesvorsitzende verzichtete auf eine Gegenkandidatur, nachdem recht schnell klar war, dass sich die Mehrheit der Partei hinter Schmidtke stellen würde. Auf einem Landesparteitag am 4. Februar 2012 wurde Schmidtke dann von 34 der 39 anwesenden Delegierten zum neuen Vorsitzenden der Berliner NPD gewählt. Szene rückt zusammen Mit seiner Wahl findet die jahrelange Annäherung der Berliner NPD an die "Autonomen Nationalisten" ihre konsequente Fortsetzung. Bereits im zurückliegenden Wahlkampf hatte sich die Abhängigkeit der Partei von den "Autonomen Nationalisten" und den Aktivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte" in aller Deutlichkeit gezeigt.91 Einen ihrer Aktivisten an die Spitze der Partei zu stellen war nur folgerichtig und dokumentiert, dass die Berliner NPD ohne Unterstützung aus den Reihen des Netzwerkes "Freie Kräfte" nicht mehr handlungsfähig ist. Auch in personeller Hinsicht verschwimmen dadurch die Grenzen zwischen den rechtsextremistischen Hauptakteuren in Berlin - der NPD, den "Autonomen Nationalisten" und den sonstigen Aktivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte" - mehr und mehr, so dass die rechtsextremistische Szene Berlins noch enger zusammenrücken dürfte. Dünne Personaldecke Die Wahl des erst 26-jährigen Schmidtke zum neuen Landesvorsitzenden offenbart zudem einmal mehr die dünne Personaldecke der Berliner NPD. Hierfür spricht auch die Tatsache, dass mit 91 Vgl. S. 64 f. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 71 Uwe Meenen und Udo Voigt zwei Stellvertreter gewählt wurden, die als "verbraucht" gelten. Meenen konnte der Berliner NPD in den zwei Jahren als Landesvorsitzender keinerlei Impulse verleihen und Voigt wurde erst im November 2011 als Bundesvorsitzender der NPD abgewählt. Mit welcher Strategie und welchen inhaltlichen Positionen Schmidtke die NPD in Berlin wiederbeleben will, ist noch unklar. In einer ersten Stellungnahme kündigte er zwar "mehr NPD-Materialien in den Briefkästen [...], mehr Informationsstände und mehr öffentlichkeitswirksame Aktionen"92 an. Für welche Inhalte er auf diese Weise werben will, ließ er bislang jedoch offen. Als Aktivist der "Autonomen Nationalisten" wird er an der neonaSeriöse Radikalität? zistischen Ausrichtung der Berliner NPD allerdings kaum etwas än- 5 dern. Spannungen mit dem neuen Bundesvorsitzenden der NPD, Holger Apfel, und seiner Strategie der "Seriösen Radikalität"93 dürften so nicht ausbleiben. Für Schmidtke dürfte sich dann der Spagat zwischen den sich aus seinem neuen Amt ergebenden Verpflichtungen gegenüber der NPD und den Erwartungen seines bisherigen Umfeldes als problematisch erweisen. Ob zukünftig die Parteidisziplin oder der "Kampf um die Straße" sein Handeln bestimmen wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch offen. Ebenso offen ist, ob NPD als Instrument der aktionsorientierten es Schmidtke tatsächlich gelingt, der Berliner NPD neuen Schwung Rechtsextremisten zu verleihen. Dies dürfte nur über eine dauerhafte Einbindung der Aktivisten des Netzwerkes "Freie Kräfte", einschließlich der "Autonomen Nationalisten", in die Parteiarbeit gelingen. Für diese dürfte die Partei, nicht zuletzt im Hinblick auf ein drohendes Verbotsverfahren, zurzeit jedoch wenig attraktiv sein, so dass die Berliner NPD vorerst ein bloßes Instrument aktionsorientierter Rechtsextremisten bleiben wird. 92 "Abendschau", RBB vom 4.2.2012. 93 Vgl. S. 76 ff. 72 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 5.3.2 Bundes-NPD: Mit neuer Führungsspitze gegen altbekannte Probleme Holger Apfel neuer Auch für die Bundes-NPD war 2011 kein erfolgreiches Jahr. Da die NPD-Vorsitzender NPD-Führung keine tragfähigen Konzepte zur Lösung der strategischen, personellen und finanziellen Probleme der Partei vorlegen konnte, ist es ihr nicht gelungen, die andauernde Stagnation zu überwinden. Nachdem auch die Ergebnisse der sieben Landtagswahlen hinter den Erwartungen der Parteibasis zurückblieben, geriet die Parteiführung um den Bundesvorsitzenden Udo Voigt zunehmend unter Druck. Diese Entwicklung kulminierte in der Konkurrenzkandidatur des sächsischen NPD-Vorsitzenden Holger Apfel um den Parteivorsitz. Am 12. November wurde Apfel zum neuen NPD-Vorsitzenden gewählt und beendete damit die 15-jährige Ära Udo Voigts an der Spitze der NPD. Ob es Apfel tatsächlich gelingt, der Partei mit seinem wenig aussagekräftigen Konzept einer "seriösen Radikalität" neuen Schwung zu verleihen, bleibt allerdings abzuwarten. Wirkungslose Verschmelzung von NPD und DVU Strategie geht nicht auf Innerparteilich war der seit 1996 als NPD-Vorsitzender amtierende Udo Voigt bereits seit längerer Zeit umstritten. Wenig überzeugende Wahlergebnisse, Konzeptlosigkeit und fehlender Wille zur Modernisierung der Partei verstärkten den Druck auf Voigt. Die gewachsenen Ambitionen der erfolgreichen NPD-Landesverbände von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern veränderten zudem das innerparteiliche Machtgefüge zu seinen Ungunsten. Dieser Erosion seiner Macht versuchte Voigt Mitte 2010 mit der Ankündigung einer Fusion der beiden rechtsextremistischen Parteien NPD und DVU zu begegnen.94 Recht schnell wurde allerdings klar, dass die von Voigt zu einer "nationalen Proklamation größten Ausmaßes"95 verklärte Parteienfusion weder dazu geeignet war, seine eigene Position zu festigen noch die NPD zu stärken. Zu weit fortgeschrit94 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 43 ff. 95 "Gemeinsam stärker - 24 Prozent in Laucha", Internetauftritt der NPD, datiert 11.11.2010. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 73 ten war hierfür bereits der Niedergang einer finanzschwachen und überalterten DVU. Erschwerend kam hinzu, dass einige DVU-Landesverbände beWiderstand in DVU-Landesträchtlichen Widerstand gegen eine Fusion mit der NPD leisteten verbänden und juristisch dagegen vorgingen. Zwar scheiterten sie damit, die Unterzeichnung des Verschmelzungsvertrages durch die beiden Parteivorsitzenden im einstweiligen Rechtsschutz zu verhindern.96 Davon ließen sich die DVU-Landesverbände von Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen97 jedoch nicht beeindrucken und erhoben im Mai Klage beim Landgericht München I. Aufgrund gravierender Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang Juristische Hängepartie mit einem Sonderparteitag und der Mitgliederbefragung der DVU sollen die Fusionsbeschlüsse des DVU-Parteitages und der Ver- 5 schmelzungsvertrag mit der NPD für unwirksam erklärt werden. Der Ausgang dieses Verfahrens ist nach wie vor offen und die Verschmelzung beider Parteien längst zu einer juristischen Hängepartie geworden. Enttäuschende Landtagswahlergebnisse Unabhängig vom Ausgang der juristischen Auseinandersetzungen um die Parteienfusion haben die Ergebnisse der NPD bei den Landtagswahlen dieses Jahres deutlich gezeigt, dass die Verschmelzung mit der DVU weitgehend wirkungslos geblieben ist. 96 Eine zunächst vom Landgericht München zugunsten der Fusionsgegner erlassene einstweilige Verfügung war durch die Unterzeichnung des Verschmelzungsvertrages hinfällig geworden, so dass die Fusionsgegner ihre Anträge für erledigt erklären mussten. Vgl. LG München I, AZ.: 20 O 25065/10. 97 Der Berliner Landesverband der DVU, der sich zunächst noch auf Seiten der Fusionsgegner an der juristischen Auseinandersetzung um die Wirksamkeit der Parteienverschmelzung beteiligt hatte, tritt in diesem Verfahren nicht mehr auf. Mangels noch aktiver Aktivisten war der Berliner DVU-Landesverband offensichtlich weder willens noch in der Lage, die juristische Auseinandersetzung um die Parteifusion fortzuführen. 74 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Zweitstimmenergebnisse der NPD bei den Landtagswahlen 2011 6,00% 6 5 4,60% 4 3 2,10% 2 1,60% 0,90% 1,00% 1,10% 1 0 Hamburg SachsenBadenRheinlandBremen MecklenburgBerlin Anhalt Württemberg Pfalz Vorpommern Der Wegfall des Parteikonkurrenten DVU führte bei keiner Wahl zu einem signifikanten Stimmenzuwachs für die NPD, obwohl die DVU in Bremen und auch Sachsen-Anhalt in der Vergangenheit durchaus beachtliche Wahlergebnisse erzielen konnte. Vor allem vom Ergebnis der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, wo die Partei an der 5-Prozent-Hürde gescheitert war, zeigte sich die NPD enttäuscht. Nicht nur der verpasste Landtagseinzug, auch die Einblicke in das Innenleben der NPD, die der dortige Wahlkampf ermöglichte, sorgten für Missstimmung innerhalb der NPD. Presseberichten zufolge soll der Spitzenkandidat der Partei unter dem Pseudonym "Junker Jörg" im Internet Anleitungen zum Bombenbau verbreitet und zur Begehung von Straftaten aufgerufen haben.98 NPD als ostdeutsche Erfolgreicher für die NPD verlief die Landtagswahl in MecklenburgRegionalpartei Vorpommern, wo ihr der Wiedereinzug in das Landesparlament gelang. Zwar musste die Partei Stimmenverluste hinnehmen, konnte jedoch mit einem Zweitstimmenanteil von sechs Prozent fünf Abgeordnete in den Schweriner Landtag entsenden. Mit diesem Ergebnis, aber auch dem Abschneiden in Sachsen-Anhalt setzt sich die Entwicklung der NPD zu einer ostdeutschen Regionalpartei fort. Mit einem Stammwählerpotenzial, das sich in den ostdeutschen 98 Vgl. "'Junker Jörg' gibt Ratschläge zum Bombenbau", tagesschau.de, online erschienen am 15.3.2011. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 75 Bundesländern zwischen vier und sechs Prozent bewegt, wird es der Partei vermutlich auch zukünftig - in Abhängigkeit von der jeweiligen Wahlbeteiligung - gelingen, in ostdeutsche Landesparlamente einzuziehen. Anders stellte sich die Situation der NPD im Westen Deutschlands Splitterpartei dar. Bei allen dortigen Wahlen hatte die NPD Mühe, sich durch das Überschreiten der 1-Prozent-Grenze zumindest die Wahlkampfkostenerstattung zu sichern. Ohne jede politische Bedeutung fristet die Partei in den westlichen Bundesländern das Dasein einer Splitterpartei. Holger Apfel neuer NPD-Vorsitzender Durch die negative Bilanz der Landtagswahlen mehrten sich die innerparteilichen Forderungen nach einem Wechsel an der NPD- 5 Spitze. Ende September bestätigte der sächsische NPD-Landesund Fraktionsvorsitzende Holger Apfel dann die Gerüchte um seine Kandidatur für den Parteivorsitz. Den letzten Ausschlag hierfür dürfte das schlechte Wahlergebnis der NPD bei den Berliner Wahlen gegeben haben, das Udo Voigt maßgeblich mitzuverantworten hatte. Voigt zeigte sich von der Kandidatur Apfels wenig beeindruckt und erklärte, nicht freiwillig auf seinen Posten verzichten zu wollen. Obwohl Voigt gezielt versuchte, das Szenario einer "weichgespülten" NPD gegen seinen Kontrahenten ins Feld zu führen, gelang es ihm nicht, Holger Apfel nachhaltig zu beschädigen. Zu groß war zwischenzeitlich der Widerstand in der NPD gegen Wechsel an Parteispitze Voigt geworden. Neben den beiden Kraftzentren der Partei, den Landesverbänden von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern, sprach sich die Mehrheit der westdeutschen Landesverbände und auch der Jugendverband der Partei "Junge Nationaldemokraten" (JN) für einen Wechsel an der Parteispitze aus. Mit dieser Unterstützung setzte sich Holger Apfel am 12. November auf dem Bundesparteitag der NPD in Neuruppin (Brandenburg) mit 126 zu 85 Stimmen gegen Udo Voigt durch und wurde zum neuen NPD-Vorsitzenden gewählt. 76 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Auch der weitere Bundesvorstand der Partei wurde zu einem Großteil erneuert. Wenig überraschend handelt es sich bei den meisten der insgesamt 18 Mitglieder des neuen Vorstandes um Unterstützer Apfels. Strategie der "Seriösen Radikalität" Bundespartei Bereits vor seiner Wahl zum Bunraus aus der neonazistischen Nische desvorsitzenden der NPD trat Holger Apfel immer wieder für eine strategische Neuausrichtung der NPD ein. Unter dem Slogan einer "seriösen Radikalität" hatte er für einen "gegenwartsbezogenen und zukunftsorientierten Nationalismus" geworben, der mit einer gemäßigten öffentlichen Darstellung der Partei einhergehen und auf "unpolitische Nostalgiepflege, ziellosen Verbalradikalismus und pubertäres Provokationsgehabe"99 verzichten sollte. Hinter diesen Worthülsen verbirgt sich in allererster Linie der Versuch, die NPD als "Kümmererpartei" - d.h. als Vertreter für sozial Schwache, für Arbeitslose, Hartz IV-Empfänger, Geringverdiener und Modernisierungsverlierer - zu etablieren und damit aus ihrer neonazistischen Nische herauszuholen. Aktuellen politischen Fragen, wie beispielsweise der Eurokrise, soll in der Außendarstellung der NPD mehr Gewicht zufallen. Dieser strategische Ansatz kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit Holger Apfel ein gefestigter rechtsextremistischer Parteikader die Führung der NPD übernommen hat. Apfel war es, der den Begriff vom "Bombenholocaust" mitprägte, der "sozial-revolutionäre und antikapitalistische Sehnsüchte im deutschen Volk"100 ausmachte und der aufgrund seiner antisemitisch gefärbten Wortbeiträge von zehn Sitzungen des sächsischen Landtages ausgeschlossen wurde.101 Unmittelbar vor dem Bundesparteitag der NPD erklärte Holger Apfel bezüglich seiner ideologischen Positionen unmissverständlich: 99 "Konzentration auf Sachsen und Werben für den sächsischen Weg. Das Modell eines politikfähigen Weges.", Internetauftritt von Holger Apfel, datiert 24.3.2010. 100 "Mit Holger Apfel auf dem Weg in die Zukunft", eingestellt auf YouTube am 3.10.2011. 101 Sächsischer VerfGH, AZ.: Vf. 77/2010, vom 3.12.2010. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 77 "Über Deutschland soll weder der Halbmond noch der Davidstern wehen - Deutschland soll das Land der Deutschen bleiben. [...] Für Träger einer Weltanschauung versteht es sich von selbst, daß es bei der 'seriösen Radikalität' nicht um inhaltliche Anpassung und die Aufweichung unserer Grundsätze geht. Das klare Bekenntnis zum Abstammungsprinzip, zu den Grundpfeilern unseres politischen Wollens - nationaler Souveränität, nationaler Identität und nationaler Solidarität - ist für mich unverhandelbar." 102 Trotz solcher Bekenntnisse ist Holger Apfel mit seiner Strategie der Apfel umstritten "seriösen Radikalität" in der Partei keineswegs unumstritten. Weiten Teilen der NPD-Basis gehen die Vorschläge Apfels, neue Themenschwerpunkte in den Mittelpunkt des öffentlichen Auftretens der NPD zu stellen, zu weit. Die Apfel-Kritiker sehen darin einen 5 Verrat am neonazistischen "Markenkern" der NPD. So sieht sich auch Holger Apfel dem innerparteilichen Spagat zwischen "Weltanschauungspartei" einerseits und "Wahlpartei" andererseits ausgesetzt. Ohne die neonazistische Parteibasis, das weiß auch Holger Apfel, ist die NPD in weiten Teilen handlungsunfähig, so dass die Unterstützung dieser Kreise von existenzieller Bedeutung für die Partei bleiben wird. Gleichzeitig gelingt es der NPD mit einer neonazistisch dominierten Programmatik aber nicht, ihre Stagnation zu überwinden und neue Unterstützer zu gewinnen. Wie Apfel die NPD aus diesem Dilemma befreien will, hat er bislang ebenso offen gelassen, wie die Frage, nach einer Verbesserung der desaströsen finanziellen Situation der Partei103. Die Probleme der NPD sind damit auch nach dem Wechsel an der Parteispitze nicht weniger geworden und es darf bezweifelt werden, dass Holger Apfel über Patentrezepte für deren Lösung verfügt und es ihm gelingt, die NPD in ihrer Gesamtheit nachhaltig zu stärken. 102 "Holger Apfel im DS Aktuell - Interview", Internetauftritt der Deutschen Stimme, datiert 20.10.2011. 103 Wegen fehlerhafter Rechenschaftsberichte der Jahre 1997 bis 2000 sowie 2002 bis 2007 sieht sich die Partei noch mit der Rückforderung staatlicher Mittel in Millionenhöhe konfrontiert. Im Mai hatte das OVG Berlin-Brandenburg die NPD zu einer Strafzahlung von ca. 2,5 Mio. Euro wegen des fehlerhaften Rechenschaftsberichtes aus dem Jahr 2007 verurteilt. Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, AZ.: OVG 3a B 1.11 vom 23.5.2011. 78 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Ermittlungen des GBA Erschwert werden dürfte dies zusätzlich durch die öffentliche Diszur NSU kussion um ein erneutes NPD-Verbotsverfahren. Auslöser hierfür waren mutmaßliche Verbindungen von NPD-Funktionären zur so genannten Terrorzelle des "Nationalsozialistischen Untergrund" (NSU). Nach den Ermittlungen des Generalbundesanwaltes sollen der ehemalige stellvertretende Landesvorsitzende und ein weiterer ehemaliger Funktionär der NPD in Thüringen die Mitglieder des NSU logistisch unterstützt und ihnen im Jahr 2001 oder 2002 unter anderem eine Schusswaffe und Munition besorgt haben.104 Die Partei bemühte sich schnell, dies als Privatangelegenheiten ehemaliger NPD-Aktivisten herunterzuspielen und sich von deren Taten zu distanzieren. Ebenso distanzierte sie sich von den Mitgliedern und den Gewalttaten des NSU. Ob und gegebenenfalls wie weit die NPD und ihre Mitglieder tatsächlich mit dem NSU in Verbindung standen und inwieweit ihr Verhalten der Partei zuzurechnen ist, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht geklärt. Die Konferenz der Innenminister und -senatoren des Bundes und der Länder beschloss im Dezember die Einleitung eines erfolgreichen NPD-Verbotsverfahrens anzustreben, da die NPD eine Ideologie vertrete, die "menschenverachtend, demokratiefeindlich, antidemokratisch und antisemitisch"105 sei. Die Konferenz der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder war sich am 29. März 2012 einig, dass sich die Prüfung und Bewertung eines möglichen erfolgreichen NPD-Verbotsverfahrens nur einer vorgelagerten Materialsammlung anschließen kann. Eine Entscheidung über die Einleitung eines Verbotsverfahrens wollen die Regierungschefinnen und -chefs am 6. Dezember 2012 treffen. 104 Vgl. "Festnahme eines mutmaßlichen Gehilfen der terroristischen Vereinigung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU)", Internetauftritt des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof, datiert 1.2.2012. 105 "Innenminister setzen ein deutliches Zeichen zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus", www.hmdi.hessen.de, datiert 9.12.2011. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 79 5.4 Aktionsorientierter Rechtsextremismus 5.4.1 "Autonome Nationalisten" bestätigen ihre Führungsrolle innerhalb des Berliner Rechtsextremismus Wie bereits in den beiden vergangenen Jahren wurde das Bild des Gewaltpotenzial der "Autonomen Berliner Rechtsextremismus auch 2011 vor allem durch die "AutoNationalisten" nomen Nationalisten" geprägt. Mit einer eigenen Kampagne und öffentlichkeitswirksamen Propagandaaktivitäten, aber auch durch die intensive Unterstützung des Wahlkampfes der Berliner NPD, haben sie ihre exponierte Stellung innerhalb der rechtsextremistischen Szene Berlins erneut unter Beweis gestellt. Zudem waren die permanente Bedrohung von politischen Gegnern und Migranten ebenso wie die gewalttätige Eskalation einer Demonstration 5 die sichtbarsten Zeichen für das unverändert hohe Gewaltpotenzial der "Autonomen Nationalisten". Ihre Dominanz innerhalb der rechtsextremistischen Szene Berlins resultierte allerdings nur zum Teil aus eigener Stärke. Die Schwäche der Berliner NPD, vor allem aber ein jenseits der "Autonomen Nationalisten" weitgehend strukturund initiativlos agierendes Netzwerk "Freie Kräfte" begünstigten ihre Vorherrschaft. Nominell stellten die "Autonomen Nationalisten" unverändert etCa. 90 "Autonome Nationalisten" was mehr als die Hälfte der insgesamt ca. 180 überwiegend männlichen Anhänger des Netzwerkes "Freie Kräfte". Die andere Hälfte bildete ein weitgehend unstrukturiert agierender Personenkreis von aktionsorientierten Rechtsextremisten, die sich durch die wiederholte Teilnahme an rechtsextremistischen Kundgebungen, Konzerten oder spontanen Sprühund Klebeaktionen selbst in das Netzwerk einbanden. Über solche Aktivitäten eröffnete das Netzwerk, oftmals ausgehend von persönlichen Bekanntschaften, eine niedrigschwellige Einstiegsmöglichkeit in die rechtsextremistische Szene. Grundlage des gemeinschaftlichen Handelns der Angehörigen des Aktionsschwerpunkte Netzwerkes "Freie Kräfte" ist ein neonazistisches Weltbild, dem sie auf Demonstrationen oder im Rahmen von Propagandaaktionen Ausdruck verleihen. Die regionalen Aktionsschwerpunkte des 80 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Netzwerkes befinden sich in den Bezirken Treptow-Köpenick, Lichtenberg, Pankow und Neukölln. In ihrer Außendarstellung präsentierten sich die Anhänger des Netzwerkes "Freie Kräfte" nahezu uneingeschränkt im Stil der "Autonomen Nationalisten". "Freie Kräfte" Waren in den letzten Jahren immer wieder Versuche zu beobachstrukturlos ten, zumindest Teile des Netzwerkes "Freie Kräfte" in verschiedene Organisationen einzubinden, so agierte das Netzwerk jenseits der "Autonomen Nationalisten" weitgehend strukturlos. Eine gegenläufige Entwicklung fand bei den "Autonomen Nationalisten" statt, deren Aktivistenkreis sich innerlich geschlossen und strukturell gefestigter präsentierte. Stilbildendes Auftreten der "Autonomen Nationalisten" "AN" kaum noch von Von einem zunächst als linksextremistischen Autonomen großstädtische Randerzu unterscheiden scheinung innerhalb der rechtsextremistischen Szene wahrgenommenen Phänomen haben sich die "Autonomen Nationalisten" in Berlin, aber auch in anderen Bundesländern, längst zu einem rechtsextremistischen "Erfolgsmodell" entwickelt. Ausgangspunkt dieser Entwicklung war die Bildung einer Art "Gegenwehr" zur linken "Antifa", mit der sie um die Macht in ihren Kiezen konkurrierten.106 Durch die Adaption linksextremistischer Aktionsformen, wie etwa der Bildung "Schwarzer Blöcke", sind "Autonome Nationalisten" in ihrem öffentlichen Auftreten kaum noch von linksextremistischen "Autonomen" zu unterscheiden. Als Reaktion auf staatlichen Verfolgungsdruck (Kameradschaftsverbote) bedienen sich die "Autonomen Nationalisten" anders als rechtsextremistische Kameradschaften informeller und konspirativer Strukturen. Ihre sozialrevolutionäre Ideologie, der erlebnisorientierte Charakter vieler ihrer Aktionen und der gezielte Einsatz neuer Medien kann besonders auf Jugendliche anziehend wirken. 106 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2002. Berlin 2003, S. 27 f. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 81 In Berlin sind "Autonome Nationalisten" seit 2002 aktiv. Anders als "AN" kein monolithischer Block herkömmliche rechtsextremistische Kameradschaften bilden sie keinen monolithischen Block und agieren auch nicht streng hierarchisch. Vielmehr basiert die Handlungsfähigkeit der "Autonomen Nationalisten" in Berlin auf einem funktionierenden Informationsund Kommunikationsnetzwerk. Die Führungspersönlichkeiten in diesem Netzwerk sichern und koordinieren den Informationsfluss unter den Aktivisten und wirken dabei zugleich als Informationsfilter und -verteiler. Dadurch bestimmen sie, wer wann welche Informationen erhält und damit, wer zur Gruppe der "Autonomen Nationalisten" gehört und wer nicht. Die Einbindung in die spezifischen Kommunikationsnetzwerke der "Autonomen Nationalisten" ist hierfür unerlässlich. Ihre regionalen Schwerpunkte in Berlin befinden sich in den Bezirken Lichtenberg, Neukölln, Treptow-Köpe- 5 nick und Pankow. Schließungstendenzen setzen sich fort Das Personenpotenzial der "Autonomen Nationalisten" ist mit ca. 100 Anhängern leicht rückläufig. Personenpotenzial der "Autonomen Nationalisten" in Berlin 140 130 120 120 110 100 100 100 80 60 Anzahl der Mitglieder 40 20 0 2007 2008 2009 2010 2011 82 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Geschwächte Strukturen Dieser Trend ist vor allem auf geschwächte Strukturen im Bezirk Pankow zurückzuführen, wo es an einer aktiven Führungspersönlichkeit und damit einer effektiven Organisation der lokalen Anhängerschaft fehlte. Der Schwund an Aktivisten in Marzahn-Hellersdorf hat zudem dazu geführt, dass der Bezirk nicht mehr zu einem Schwerpunkt der "Autonomen Nationalisten" gezählt werden kann. Abschottung Das erhebliche Maß an Konspiration, mit dem die "Autonomen Nationalisten" in Berlin agierten, und die damit verbundene Abschottung erschwerten die Rekrutierung neuer Anhänger. Nicht mehr durch personelle Expansion, über das lange Zeit gültige Prinzip der "Mitgliedschaft durch Mitmachen", sondern vielmehr durch den Ausbau der inneren Geschlossenheit sollte ihre Handlungsfähigkeit weiter gesteigert werden. Nur lose angebundene Personen, die sich nicht permanent an den Aktionen der "Autonomen Nationalisten" beteiligten, wurden aus ihren Kommunikationsnetzwerken verdrängt. Da mit dem beständigen Aktivitätsdruck auch die innere Geschlossenheit der "Autonomen Nationalisten" wuchs, wurde ihre Kampagnenfähigkeit durch den geringfügigen Rückgang ihres Personenpotenzials nicht beeinträchtigt. Indizierung der Internetpräsenz der "Autonomen Nationalisten" "Nationaler Widerstand Eine wichtige Rolle für die Kampagnen der "Autonomen NationaBerlin" listen" spielt die von ihnen unter der fiktiven Bezeichnung "Nationaler Widerstand Berlin" unterhaltene Internetpräsenz. Seit Jahren veröffentlichen die "Autonomen Nationalisten" dort Berichte über ihre Aktionen, werben für die Teilnahme an Veranstaltungen und verbreiten ihre rechtsextremistische Ideologie. Im April wurde die Internetseite von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert. In ihrer Begründung führte die Bundesprüfstelle aus, dass die Internetseite "zum Rassenhass anreizt und die Ideologie des Nationalsozialismus propagiert."107 Da die Inhalte der Seite von einem US-amerikanischen Server gehostet werden, konnte sie bislang zwar nicht "abgeschaltet" werden, nach der Entscheidung der Bundesprüfstelle wird sie jedoch nicht 107 Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM), Entscheidung Nr. 9780 (V) vom 28.4.2011. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 83 mehr von großen Internet-Suchmaschinen angezeigt. Die Gefahr, dass Internetnutzer zufällig mit den rechtsextremistischen Inhalten dieser Seite konfrontiert werden, ist dadurch stark gesunken. Die "Anti-Antifa-Aktivitäten" unter den Rubriken "Recherche" und "Anti - Antifa - Aktivitäten" "Chronik" sorgten allerdings auch nach der Indizierung der Internetseite weiter für öffentliches Aufsehen. In diesen Rubriken werden Erkenntnisse und Bilder über Personen, die dem politischen Gegner zugerechnet werden und die sich gegen Rechtsextremismus engagieren, veröffentlicht. Auf diese Weise sollen ein Bedrohungsszenario geschaffen und die hiervon betroffenen Personen eingeschüchtert werden. Auch linke Trefforte und Veranstaltungen werden auf der Seite aufgeführt.108 Wie wichtig den Betreibern des Internetauftrittes gerade diese Inhalte sind, verdeutlicht die Tat- 5 sache, dass die so genannte "Chronik" nach der Indizierung der Website auf eine andere Seite ausgelagert wurde. Die "Anti-Antifa-Aktivitäten" bleiben unverändert ein Schwerpunkt des Aktionsspektrums der "Autonomen Nationalisten".109 Ausbau der Infrastruktur Ein anderer Schwerpunkt ihrer Aktivitäten lag auf der Stärkung ihJN als organisatorischer Arm res organisatorischen Unterbaus. Unverändert nutzten sie die von ihnen dominierte NPD-Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) als ihren organisatorischen Arm, über den sie Räumlichkeiten, Fahrzeuge oder Infostandgenehmigungen der Berliner NPD nutzen konnten. Im Zentrum ihrer Bemühungen um den Aufbau einer Infrastruktur standen weiterhin Versuche, kleinere Immobilien anzumieten und diese als "nationales Jugendzentrum" zu nutzen. Nachdem die "Autonomen Nationalisten" ein solches Jugendzentrum jahrelang öffentlich gefordert hatten, begannen sie 2010 damit, dieses Ziel auf konspirative Weise zu verfolgen.110 108 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 60 f. 109 Vgl. S. 88 ff. 110 Dabei tritt auch ein vorgeblich sozial engagierter Verein als potenzieller Mieter für die "Autonomen Nationalisten" auf, um den Hintergrund der wahren Nutzer zu verschleiern. Vgl. "Autonome Nationalisten planen die Errichtung Nationaler Jugendzentren", www.verfassungsschutz-berlin.de/aktuell, datiert 2.8.2010. 84 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Treffort der "AN" Mit dieser Strategie gelang es den "Autonomen Nationalisten" Anfang des Jahres ein ehemaliges Ladengeschäft im Bezirk Lichtenberg anzumieten. Die unter größter Geheimhaltung angemieteten und betriebenen Räumlichkeiten dienen seitdem als Treffund Rückzugsort für Personen aus den Reihen der Lichtenberger "Autonomen Nationalisten". Außenstehende hatten keinen Zugang zu den Räumlichkeiten, und eine integrative Wirkung auf Jugendliche außerhalb der "Autonomen Nationalisten" konnte es so nicht entfalten. Trotz des höchst konspirativen Umgangs mit dem Ladenlokal wurde der Treffort im August öffentlich bekannt. Unmittelbar danach wurde die Fassade des Objektes stark beschädigt und Presseberichten zufolge soll der Vermieter den entsprechenden Mietvertrag fristlos gekündigt haben111. Trotz derartiger Aktionen zeigen sich die "Autonomen Nationalisten" kaum beeindruckt. Die Errichtung eines so genannten "Nationalen Jugendzentrums" ist längst zu einer Prestigeangelegenheit geworden, die sie in allen ihren regionalen Schwerpunkten weiter verfolgen werden. "Ausländer Raus Kampagne" Kampagne Neben den Bemühungen um den Aufbau lokaler Trefforte und der intensiven Wahlkampfunterstützung für die Berliner NPD112 lag der Schwerpunkt der Aktivitäten der "Autonomen Nationalisten" im ersten Halbjahr in der Durchführung einer so genannten "Ausländer-raus-Kampagne". Auslöser dieser Kampagne war der Überfall auf einen Passanten im U-Bahnhof Lichtenberg durch einige Jugendliche mit Migrationshintergrund. In einem auf ihrer Internetpräsenz veröffentlichten Artikel versuchten die "Autonomen Nationalisten" die öffentliche Empörung über diesen Überfall für sich zu instrumentalisieren und kündigten "kreative Aktionen" an, 111 Vgl. "Nazitreffpunkt fristlos gekündigt", Der Tagesspiegel, online erschienen am 2.9.2011. 112 Vgl. S. 64 f. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 85 mit denen auf "das Problem der Überfremdung" aufmerksam gemacht werden sollte: "Das Überfremdungsproblem [...] dringt wie ein Krebsgeschwür in den deutschen Volkskörper ein und versucht ihn von innen zu zersetzen. Denn was den Feinden Deutschlands in 2000 Jahren kriegerischer Geschichte nicht gelungen ist, gelingt nun den Demokraten innerhalb von 60 Jahren BRD, der Volkstod der Deutschen. [...] Das deutsche Volk wird seinen Überlebenskampf nur gewinnen können, wenn es sich von den Demokraten und Globalisten befreien kann und sich selbst wieder als eine starke Volksgemeinschaft begreift." 113 Thematisch besetzten die "Autonomen Nationalisten" damit ein Feld, das in ihren Aktivitäten bis dahin eine eher untergeordnete 5 Rolle gespielt hatte. Rassistisch motivierte Aktionen gingen in Berlin eher von anderen Akteuren des Netzwerkes "Freie Kräfte" oder der Berliner NPD aus. Die öffentliche Diskussion der "Ausländergewalt" infolge des Überfalls im U-Bahnhof Lichtenberg und das damit verbundene Provokationspotenzial war für die "Autonomen Nationalisten" Anlass, auf dieses Thema aufzusatteln. Vielfältige Propagandaaktionen Ihren Ausgang nahm die KamProvokationen pagne im Februar mit einem unangemeldeten Aufzug bei dem ca. 40 "Autonome Nationalisten" hinter einem Fronttransparent mit der Aufschrift "Kriminelle Ausländer Raus" durch den Lichtenberger "Weitling-Kiez" marschierten. In den Monaten März und April standen dann vor allem Provokationen und Propagandaaktionen im Mittelpunkt der Kampagne. Schwerpunktmäßig im Bereich von Umsteigebahnhöfen und Einkaufszentren wurden Flugblätter verteilt, Parolen geschmiert und zum Teil weithin sichtbare Transparente im öffentlichen Straßenland angebracht. 113 "Ausländer Raus Kampagne in Berlin", Internetauftritt des "Nationalen Widerstands Berlin", datiert 6.3.2011. 86 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 An provisorischen "Gedenkstätten" wurde mit Holzkreuzen auf "Todesopfer von Ausländergewalt" aufmerksam gemacht und im Internet waren Migranten ständiges Ziel gezielter Beleidigungen. In einem Artikel über "Mischlinge" hieß es beispielsweise: "Sie sind heimatlos, kulturlos, perspektivlos und können sich zu keinem Volk zugehörig fühlen. Kurzum Menschen, die die Gene verschiedener Rassen in sich tragen, gehören zu den jämmerlichsten Wesen auf Erden." 114 Regionale Schwerpunkte der Kampagne waren die Bezirke Lichtenberg und Neukölln. Mit Aktionen in Friedrichshain, Tempelhof und Mitte bezogen die "Autonomen Nationalisten" aber auch Stadtgebiete in ihre Kampagne ein, die nicht zu den üblicherweise von ihnen frequentierten gehören. Kampagnenfähigkeit Art und Anzahl dieser verschiedenen Aktionen verdeutlichten einmal mehr die ausgeprägte Handlungsund Kampagnenfähigkeit der "Autonomen Nationalisten". Im Verlauf dieser Kampagne konnten sie ihre Anhänger von Februar bis Mai immer wieder zu Aktionen an den unterschiedlichsten Orten in Berlin mobilisieren. Dass es die "Autonomen Nationalisten" waren, die eine solche Kampagne durchführten, und nicht die Berliner NPD im Rahmen ihres Wahlkampfes, veranschaulichte zudem die aktuellen Kräfteverhältnisse im Berliner Rechtsextremismus. Demonstration eskaliert Aggressionspotenzial Den öffentlichkeitswirksamen Höhepunkt der "Ausländer Raus Kampagne" sollte eine Demonstration bilden, die ein führender Aktivist der "Autonomen Nationalisten" kurzfristig für den 14. Mai im Stadtteil Kreuzberg unter dem Motto "Wahrheit macht frei - Die Täter beim Namen nennen" angemeldet hatte. Sowohl das Motto, 114 "Die Nacht der langen Messer", Internetauftritt des "Nationalen Widerstands Berlin", datiert 25.3.2011. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 87 bei dem deutliche Anleihen an eine nationalsozialistische Parole genommen wurden, als auch der linksalternativ und multikulturell geprägte Stadtteil Kreuzberg als Veranstaltungsort unterstrichen den provokativen Charakter dieser Demonstration. In Verbindung mit dem erheblichen Aggressionspotenzial der "Autonomen Nationalisten", das die Anwendung physischer Gewalt ausdrücklich mit einschließt, besteht bei allen öffentlichen Veranstaltungen der "Autonomen Nationalisten" die Gefahr einer gewalttätigen Eskalation.115 Die Gegenöffentlichkeit reagierAngriffe aus der Demonstration heraus te auf die Pläne der "Autonomen Nationalisten" mit dem Aufruf, die rechtsextremistische 5 Demonstration unter allen Umständen zu verhindern.116 Die so bereits von vornherein aufgeheizte Stimmung kippte, als mehrere Rechtsextremisten aus dem Demonstrationszug heraus spontan Polizeibeamte und Gegendemonstranten aggressiv bedrängten und körperlich angriffen. Die Demonstration wurde daraufhin vom Anmelder nach nur wenigen Minuten beendet und Versuche, die Veranstaltung durch Spontanaufzüge im Berliner Süden fortzuführen, wurden von der Polizei unterbunden. Gegen mehrere an den Übergriffen beteiligte Rechtsextremisten wurden Ermittlungsverfahren, unter anderem wegen des Verdachts der gemeinschaftlichen schweren Körperverletzung, eingeleitet. Anfang Juli erfolgten bei vier Berliner Tatverdächtigen Hausdurchsuchungen. Für die "Autonomen Nationalisten" fiel die Bilanz des 14. Mai zwiespältig aus. Einerseits hatte man signalisiert, dass man nicht gewillt ist, Blockaden der eigenen Veranstaltungen widerstandslos hinzunehmen. Andererseits lief die Eskalation den eigenen Bemühungen um eine zunehmend professionalisierte Außendarstellung und die Kultivierung der Rolle als Opfer von Willkür und linker Gewalt klar zuwider. 115 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 67. 116 Vgl. S. 121 ff. 88 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Rechtsextremistische Gewalt Gewaltbereitschaft Eine solche Opferrolle, versuchen die "Autonomen Nationalisten" in Berlin seit ihrer Entstehung einzunehmen. Die "Anti-Antifa"-Arbeit als ihr konstituierendes Element zielt darauf ab, tatsächlichen oder vermeintlichen Angriffen der linken "Antifa" organisiert entgegenzutreten. Sich selbst zum "Opfer linker Gewalt" stilisierend, legitimieren die "Autonomen Nationalisten" so ihre eigene Gewalt mit einem Recht auf Selbstverteidigung. Dass dies den Angriff auf den politischen Gegner ausdrücklich mit einschließt, verdeutlicht ein von den "Autonomen Nationalisten" auf ihrer Internetpräsenz veröffentlichtes Zitat, das Joseph Goebbels zugeschrieben wird: "Im blutigsten Terror, den man gegen uns ansetzte, bekannten wir uns zum Widerstand. Es sollte nicht lange dauern, dass diese Front des Widerstandes, die ihre erste Position verteidigte, zum politischen Angriff auf ganzer Linie vorging." 117 Konkretisiert wird diese "Handlungsanweisung" dadurch, dass die "Autonomen Nationalisten" auf ihrer Internetpräsenz Namen, Adressen und Fotos politischer Gegner veröffentlichen und so genannte "Listen linker Läden" führen.118 Tatsächlich wurden mehrere der Objekte, die sich auf diesen Listen befinden immer wieder zum Ziel von Sachbeschädigungen und Schmierereien. Beleidigungen und Auch Personen die sich gegen Rechtsextremismus engagieren, Drohgebärden werden auf dieser Internetseite in steckbriefartiger Form zum Ziel von Beleidigungen und Drohgebärden. Auf diese Weise schaffen die "Autonomen Nationalisten" nicht nur ein Klima der Bedrohung, sondern lassen Angriffe auf Personen oder Objekte, die dem politischen Gegner zugerechnet werden, als notwendig und gerechtfertigt erscheinen. Im Juni wurden auf fünf Einrichtungen, die auf der Internetpräsenz der "Autonomen Nationalisten" aufgeführt sind, 117 "Welle linksextremer Gewalt in Berlin". Internetauftritt des "Nationalen Widerstands Berlin", datiert 26.6.2011. 118 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 60 f. C4 ist ein Plastiksprengstoff und mit "Reds" ist der politische Gegner gemeint. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 89 Brandanschläge verübt. Am "Anton-Schmaus-Haus" in BerlinNeukölln wurde im November ein zweites Mal ein Feuer gelegt. Die zeitliche Nähe der Brandserie im Juni zu Körperverletzungsdelikten, die von vermutlich der linksextremistischen "Antifa-Szene" zugehörigen Personen an NPD-Funktionären begangen wurden, ließen auf einen rechtsextremistischen Hintergrund der Brände schließen. Bislang konnten die Täter allerdings noch nicht ermittelt werden.119 Neben der permanenten Auseinandersetzung mit dem politischen Migranten im Fokus Gegner gerieten 2011 auch Migranten in den Fokus der "Autonomen Nationalisten". Mit ihrer "Ausländer Raus Kampagne" bemühten sie sich nicht nur darum, fremdenfeindliche Ressentiments zu verbreiten und ein Klima der Angst zu erzeugen. Ähnlich wie im Falle der "Anti-Antifa"-Aktivitäten konstruierten die "Autonomen Na- 5 tionalisten" auch hier eine vermeintliche Bedrohung, um auf diese Weise rechtsextremistische Gewalt zu rechtfertigen. In einem auf ihrer Internetpräsenz veröffentlichten "Aufruf" hieß es: "Das deutsche Volk wird beraubt und erschlagen. Von Fremden, deren täglichen Terror wir über uns ergehen lassen müssen. [...] Die Gefahr für unser Volk durch Ausländer und ihr kriminelles Wirken, das im Alltag schon lange angekommen ist, ist real und greifbar." 120 Auf einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der rassistischen Propaganda der "Autonomen Nationalisten" und fremdenfeindlich motivierter Gewalt lässt sich anhand der Fallzahlen der entsprechenden Straftaten jedoch nicht schließen.121 119 Vgl. S. 121 ff. 120 "Wahrheit macht frei! Die Herkunft der Täter beim Namen nennen!!!", Internetauftritt des "Nationalen Widerstands Berlin", datiert 15.5.2011. 121 Migranten geraten in den meisten Fällen zufällig und situativ ins Visier rechtsextremistischer Gewalttäter, die häufig im subkulturellen Milieu anzusiedeln sind und keine Bezüge zu rechtsextremistischen Personenzusammenschlüssen aufweisen. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: "Rechte Gewalt in Berlin 2003 - 2006". Berlin 2007. 90 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Entwicklung der fremdenfeindlichen Gewaltdelikte seit 2007 80 70 85 60 50 40 30 30 36 37 20 10 14 2007 2008 2009 2010 2011 Zunahme der Die Anzahl fremdenfeindlicher Gewaltdelikte hat sich im Vergleich Gewaltdelikte zum Vorjahr verdoppelt. Die Gesamtzahl blieb allerdings hinter den Fallzahlen für 2009 und deutlich hinter denen für das Jahr 2008 zurück.122 Die qualitative Entwicklung rechtsextremistischer Gewalt wird weiterhin durch den Verfassungsschutz genau beobachtet. 5.4.2 Strukturund initiativloses Netzwerk "Freie Kräfte" Anders als von den omnipräsenten "Autonomen Nationalisten" gingen vom restlichen Netzwerk "Freie Kräfte" kaum Impulse aus. Angehörige des Netzwerkes beteiligten sich an Aktivitäten der "Autonomen Nationalisten", am Wahlkampf der Berliner NPD oder an wenigen überregionalen Veranstaltungen im Bundesgebiet. Ursächlich hierfür war vor allem das Fehlen anschlussfähiger Strukturen innerhalb des Netzwerkes. Gab es 2009 mit der zwischenzeitlich verbotenen Kameradschaft "Frontbann 24" und 2010 mit den nicht mehr existenten "Freien Nationalisten Berlin Mitte" (FNBM) noch Versuche, zumindest Teile des Netzwerkes organisatorisch zu festigen, bildeten sich 2011 lediglich kurzlebige, informelle Kleinstgruppen, deren Aktionsradius nicht über den eigenen Kiez hinausging. Eigene Aktionen durchzuführen gelang unter diesen Voraussetzungen ebenso wenig wie neue Anhänger zu rekrutieren. 122 Im Allgemeinen wird von einer höheren Dunkelziffer fremdenfeindlicher Gewalttaten ausgegangen, da viele Geschädigte Straftaten nicht zur Anzeige bringen und diese dann statistisch nicht erfasst werden. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 91 Die Gründe hierfür sind vielfältig. Neben der Dominanz der "AuFurcht vor strafrechtlichen Konsequenzen tonomen Nationalisten", der sich aktuell kein rechtsextremistischer Akteur in Berlin entziehen kann, wirkte auch das Verbot der Kameradschaft "Frontbann 24" weiterhin nach. Die Furcht vor strafrechtlichen Konsequenzen verhinderte nicht nur, dass sich ehemalige "Frontbann 24"-Anhänger in neuen Strukturen reorganisierten. Auch neue Gruppierungen wie die FNBM kamen mit ihrer Selbstauflösung möglichen Exekutivmaßnahmen zuvor. Unter den verbliebenen Aktivisten fehlte es zudem an Führungspersönlichkeiten von denen eine Restrukturierung hätte ausgehen können. Ohne eigene Strukturen und Initiativen hat sich das Netzwerk so zu einer erweiterten Mobilisierungsmasse der "Autonomen Nationalisten" entwickelt. Auch zukünftig dürfte sich das Netzwerk äußerst schwer damit tun, belastbare Strukturen neben den "Auto- 5 nomen Nationalisten" aufzubauen. Wahrscheinlicher scheint, dass sich weite Teile des Netzwerkes dauerhaft an schon vorhandene Strukturen binden und innerhalb der "Autonomen Nationalisten" oder der NPD aktiv werden. Geringere Beteiligung an überregionalen Großveranstaltungen Dass die eigene Mobilisierungsfähigkeit des Netzwerkes "Freie Demotivation Kräfte" deutlich nachgelassen hat, zeigte auch die geringere Anzahl überregionaler Veranstaltungen, die von Anhängern des Netzwerkes besucht wurden. Lediglich an den rechtsextremistischen Demonstrationen am 13. und 19. Februar in Dresden, am 1. Mai in Halle und am 3. September in Dortmund nahmen größere Gruppen Berliner Rechtsextremisten teil. Hierbei spielten die Erfahrungen mit den als zermürbend empfundenen Strategien der Gegenöffentlichkeit eine entscheidende Rolle. Die Aussicht auf lange Anund Abreisen für Veranstaltungen, die infolge dieser Proteste und Blockaden nicht oder nur sehr eingeschränkt durchgeführt werden konnten, hat die Anhänger des Netzwerkes spürbar demotiviert. Die Tatsache, dass es der rechtsextremistischen Szene bislang nicht gelungen ist, diesem Widerstand ein wirksames Konzept entgegenzusetzen, hat sich zusätzlich negativ auf Großveranstaltungen der rechtsextremistischen Szene ausgewirkt. 92 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Spontane Aktionen Demgegenüber haben kleinere und spontane Aktionen, die zunächst weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit und damit auch von Protesten und Blockaden durchgeführt wurden, deutlich an Attraktivität gewonnen. Sichtbarster Beleg hierfür waren die Aufzüge der so genannten "Unsterblichen" an unterschiedlichen Orten in Deutschland.123 Nachdem am 30. April 150 bis 200 Rechtsextremisten, darunter auch Berliner Teilnehmer, in den späten Abendstunden mit Fackeln und weißen Masken durch Bautzen (Sachsen) marschiert waren, wurde diese Aktion von Kleinund Kleinstgruppen auch in anderen Bundesländern nachgeahmt. In Berlin fanden bislang keine Aufzüge im Stil der "Unsterblichen" statt. Für deren Initiatoren war die propagandistische Wirkung solcher Aktionen durch die Veröffentlichung von Videobeiträgen im Internet mindestens ebenso wichtig wie die Aufzüge selbst. Solche Spontanaktionen dürften zukünftig einen festen Platz im Handlungsrepertoire des Netzwerkes "Freie Kräfte" einnehmen. Rechtsextremistische Großveranstaltungen ersetzen werden sie allerdings kaum. Diese werden insbesondere wegen ihrer identitätsstiftenden Wirkung ihre Bedeutung für die rechtsextremistische Szene behalten. Rechtsextremistische Trefforte in Schöneweide Schwerpunkt Der regionale Schwerpunkt des Netzwerkes "Freie Kräfte" war der Treptow-Köpenick Bezirk Treptow-Köpenick. Hier leben überdurchschnittlich viele Angehörige des Netzwerkes und hier befindet sich eine Vielzahl ihrer Treffpunkte, darunter auch die beiden wichtigsten. Bereits 2009 hatte sich im Ortsteil Schöneweide ein Szenelokal als zentraler Treffort der aktionsorientierten rechtsextremistischen Szene etabliert. Infolge der aktuellen Schwäche des Netzwerkes hat 123 Mit der Warnung vor einem bevorstehenden "Tod des deutschen Volkes" steht die Verbreitung völkischer und rassistischer Propaganda im Zentrum der Kampagne. Markant ist neben den weißen Masken, mit denen die "Unsterblichen" bei ihren "Spontanaktionen" auftreten, vor allem die Inszenierung und Verbreitung ihrer Auftritte über das Internet. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 93 dieses Lokal jedoch merklich an Popularität eingebüßt. Die einzig nennenswerte Veranstaltung in dem Lokal war eine Wahlkampfveranstaltung des damaligen NPD-Bundesvorsitzenden Udo Voigt vor lediglich 40 Besuchern. Das Lokal bleibt zwar ein Rückzugsraum in dem lokale Rechtsextremisten persönliche Kontakte pflegen, seine zeitweilig überregionale Bedeutung hat es jedoch verloren. Ebenfalls in Schöneweide eröffnete der neue NPD-LandesvorsitLadengeschäft für die Szene zende im August ein Ladengeschäft mit einem an Szenebedarf orientiertem Angebot. Das Geschäft entwickelte sich schnell zu einem Anlaufpunkt für die lokale rechtsextremistische Szene. Presseberichten zufolge soll der Vermieter des Ladens, nachdem die Eröffnung des Geschäfts öffentlich bekannt und thematisiert wurde, den Mietvertrag allerdings bereits wieder gekündigt haben. Ob der 5 Laden tatsächlich schließen wird, ist noch ungewiss. Der Betreiber des Ladens soll sich juristisch gegen die Kündigung gewehrt haben und der Ausgang des Räumungsverfahrens noch offen sein.124 5.4.3 Bandszene als aktives Zentrum des Netzwerkes "Rechtsextremistische Musik" Zum aktionsorientierten Rechtsextremismus in Berlin gehört neBands dominieren Neztwerk ben dem Netzwerk "Freie Kräfte" auch das etwa 190 Personen umfassende Netzwerk "Rechtsextremistische Musik". Das Netzwerk umfasst Bands, Liedermacher und Personenzusammenschlüsse, die im Umfeld der Bands agieren und diese bei der Herstellung und dem Vertrieb von Tonträgern oder der Durchführung von Konzerten logistisch unterstützen. Mit mehreren Tonträgerveröffentlichungen, der Beteiligung an Samplern und der Teilnahme an Konzerten außerhalb Berlins waren es erneut die Bands, die das Netzwerk "Rechtsextremistische Musik" dominierten und vor allem in der zweiten Jahreshälfte eine gewisse Dynamik entfalteten. Mit der Veröffentlichung einer CD in englischer Sprache125 und dem Auftreten einer Band, deren Erscheinungsbild sich an der Punkszene orientierte, wurden dabei auch neue Wege eingeschlagen. 124 Vgl. "Argloser Abschluss", taz, online erschienen am 12.2.2012. 125 CD "truth over ignorance" der Band "Second Class Citizen". Einige Titel waren bereits 2008 auf einer Demo-CD der Band enthalten. 94 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Infolge des anhaltenden staatlichen Verfolgungsdrucks agierte das gesamte Netzwerk weiterhin betont vorsichtig. Liedtexte wurden verklausuliert und eindeutige Formulierungen weitestgehend vermieden. Nicht selten wurden Texte vor ihrer Veröffentlichung anwaltlich geprüft, um strafrechtliche Konsequenzen oder eine Indizierung zu vermeiden. Neue Bands Zwei neue Bands Während die Gruppen "Die LunikoffVerschwörung", "Deutsch, Stolz, Treue" (D.S.T. /X.x.X.), "Kahlschlag", "Legion of Thor" und "Second Class Citizen" bereits seit Jahren das Zentrum des Netzwerkes "Rechtsextremistische Musik" bilden, waren 2011 mit "Punk Front" und "Marci & Kapelle" zwei neue Bands in der rechtsextremistischen Musikszene Berlins aktiv. Die Band "Punk Front" stellt ein Novum dar, da auch ihrer äußerlichen Erscheinung nach der Punkszene zugehörige Personen an einer rechtsextremistischen Band beteiligt sind. Auf nennenswerte Resonanz stieß die Band bislang allerdings nicht. Die szeneinternen Vorbehalte gegen das Erscheinungsbild der Band dürften dem auch zukünftig im Wege stehen. Größeren Anklang in der Szene fand die Band "Marci & Kapelle", die auch unter dem Pseudonym "TV" agiert. Eine neue CD, die sich musikalisch eng an der Band "Die Lunikoff-Verschwörung" orientierte, wurden ebenso wie die Live-Auftritte der Band positiv von der rechtsextremistischen Szene aufgenommen. Rassistische und antiseIn einem Szenelokal in Schöneweide wurde öffentlich für eine Automitische Einstellungen grammstunde mit dem Sänger der Band geworben. In ihren Texten machte die Band aus ihren rassistischen und antisemitischen Einstellungen keinen Hehl. Sie erklärte sich solidarisch mit dem wegen Volksverhetzung verurteilten und inhaftierten Horst Mahler und forderte dessen Freilassung. Auf Veranlassung des Berliner Verfassungsschutzes wurde die CD im Dezember von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert126. 126 Indiziert laut Bundesanzeiger Nr. 197 vom 30.12.2011. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 95 Zahl der veröffentlichten Tonträger gestiegen Auch von den bereits länger aktiven Berliner Bands "Die Lunikoff-Verschwörung", "Second Class Citizen" und "Deutsch, Stolz, Treue"(D.S.T. /X.x.X.) wurden neue CDs herausgebracht. Nachdem die Anzahl neu veröffentlichter Tonträger über mehrere Jahre auf äußerst niedrigem Niveau stagnierte, stieg die Zahl der CD-Neuveröffentlichungen damit erstmals wieder an.127 Hinzu kam eine "Schulhof CD Berlin", die von der Berliner NPD im Wahlkampf auch unter Beteiligung mehrerer lokaler Bands und Liedermacher herausgebracht wurde. Diese erst eine Woche vor den Wahlen verteilte CD stieß allerdings Schulhof - CD mit wenig Resonanz 5 auf wenig Resonanz, die auch dadurch nicht gesteigert werden konnte, dass mit zwei HipHop-Beiträgen eine neue, in der rechtsextremistischen Szene wenig verbreitete Musikrichtung auf der CD Berücksichtigung fand. Da die Schulhof-CD bereits bei vergangenen Wahlkämpfen regelmäßig zum Einsatz gekommen war, hatte der Verfassungsschutz Berlin frühzeitig Kontakt mit der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft aufgenommen und auf mögliche Verteilaktionen vor Berliner Schulen hingewiesen.128 "Die Lunikoff-Verschwörung" bleibt populär Für größeres Aufsehen sorgte die im Juli erschienene CD "L-Kaida" der Band "Die Lunikoff-Verschwörung". Zur Vermarktung ihrer neuen CD spielte "Die Lunikoff-Verschwörung", zusammen mit anderen Bands, bei Konzerten in Sachsen, Bayern und Thüringen vor bis zu 2 000 Zuhörern. Die Band zählt über Berlin hinaus nach wie vor zu den populärsten Bands der rechtsextremistischen Szene und erweist 127 Insgesamt veröffentlichten 2011 drei Bands eigenständige Tonträger, eine Band veröffentlichte eine Split-CD und auch zwei rechtsextremistische Liedermacher brachten neue CDs heraus. 128 Die einzige größere Verteilaktion erfolgte im Rahmen einer NPD-Kundgebung am 11. September, die unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. Eine Verbreitung der CD über die rechtsextremistische Szene hinaus gelang nicht. 96 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 sich bei Konzertveranstaltungen immer wieder als besonderer Publikumsmagnet. Zwar waren die Reaktionen auf die neue CD nicht durchweg positiv. Aufgrund des Rufes, den der Frontmann der Band in der Szene genießt und aus alter Verbundenheit dürfte der Kauf der CD für viele Rechtsextremisten dennoch Pflicht gewesen sein. Aufgrund der Führungsauflagen129 des Sängers der Band enthalten die Texte keine strafrechtlich relevanten Formulierungen. Wegen verschiedener Textteile - so bezeichnete sich die Band als "arische L-Kaida" - wurde vom Berliner Verfassungsschutz ein Verfahren zur Indizierung der CD bei der BPjM angeregt. Im April 2012 wurde der Anregung gefolgt und die CD von der BPjM indiziert.130 Indizierungen Auf weniger Interesse in der Szene stießen die Split-CD "Morituri vos salutant" von "Deutsch, Stolz, Treue" (D.S.T. /X.x.X.) und "Sturmkommando" (Herkunft unbekannt) und der neue Tonträger "Truth over ignorance" der Band "Second Class Citizen". Während "Deutsch, Stolz, Treue" (D.S.T. /X.x.X.) bereits seit Jahren zum Kern der rechtsextremistischen Musikszene Berlins gehört, ist "Second Class Citizen" eine relativ junge Band. Da auf beiden Tonträgern Anhaltspunkte für eine Jugendgefährdung gesehen werden, regte der Berliner Verfassungsschutz auch hier die Indizierung der CDs an. Liedermacher von Indizierung betroffen Auch die beiden Berliner Liedermacher "Fylgien" und "Midgards Stimme" brachten 2011 neue CDs heraus. Wegen ihres oftmals als bieder und langweilig empfundenen Auftretens finden Liedermacher im Allgemeinen weniger Beachtung in der rechtsextremistischen Szene. Sehr häufig bewegen sie sich eher im rechtsextremistischen Parteienbereich und treten im Rahmen von NPD-Veranstaltungen auf. Trotz des im Vergleich zu den Bands geringeren Renommees tragen auch Liedermacher zur Verbreitung rechtsextremistischen Gedankengutes bei. Der Liedermacher 129 Der Sänger der Band ist verpflichtet, dem Berliner Landeskriminalamt jede neue CD vor ihrer Veröffentlichung zur Prüfung vorzulegen. 130 Indiziert lt. Bundesanzeiger AT (ehem. Bundesanzeiger-Nr.) 27.4.2012. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 97 "Fylgien" warb auf seiner CD "Mein Glaube heisst Deutschland" für einen nationalsozialistisch geprägten Staat: "Wehrwolfkämpfer, unterdrückt vom Schanddiktat Versailles, es eilten rasch viele Volksgenossen herbei. Wir schreiben das Jahr 1932 [...] ich seh nun erblühn, was damals im Schützengraben aufgekeimt, entfaltet nun sein Grün [...] ein Heil allen Kämpfern, die wie ich alles entbehrt; Als alter Mann am Ende der Zeit, steht eine neue Jugend wehrhaft bereit." 131 Auf Veranlassung des Berliner Verfassungsschutzes wurde die CD im September 2011 von der BPjM indiziert132. 5 Staatlicher Verfolgungsdruck bleibt hoch Der Berliner Verfassungsschutz regte bei fünf der sechs von rechtsJugendgefährdung durch Musik extremistischen Bands und Liedermachern veröffentlichten Tonträgern eine Indizierung an. Vom Landeskriminalamt Berlin wurde die Indizierung der "Schulhof CD Berlin" angeregt. In all ihren bislang ergangenen Entscheidungen ist die BPjM diesen Indizierungsanregungen des Berliner Verfassungsschutzes gefolgt und hat die CDs in die Liste jugendgefährdender Medien aufgenommen.133 Im Falle der Indizierung unterliegen Tonträger strengen Vertriebs-, Verbreitungsund Werbebeschränkungen und sind für Jugendliche unter 18 Jahren nicht zu erwerben. Unabhängig von einer Indizierung ist die Freiheitsstrafen für Bandmitglieder strafrechtliche Bewertung der Tonträger. Da die meisten Bands und Liedermacher viel vorsichtiger im Hinblick auf strafrechtlich relevante Formulierungen auf ihren Tonträgern geworden sind, können die Strafverfolgungsbehörden nicht gegen deren Veröffentlichungen vorgehen. 131 Aus dem Lied: "Ein deutsches Schicksal" der CD "Mein Glaube heißt Deutschland". 132 Indiziert laut Bundesanzeiger Nr. 149 vom 30.9.2011. 133 Dies betrifft die CDs der Bands "Marci & Kapelle" und "Second Class Citizen" sowie den Tonträger des Liedermachers "Fylgien". Die Entscheidungen über die Indizierung der CDs von "D.S.T." und "Die Lunikoff-Verschwörung" stehen noch aus. 98 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Eine Ausnahme ist die Band "Deutsch, Stolz, Treue" (D.S.T. /X.x.X.). Im Zusammenhang mit ihren CDs "Die Antwort auf's System" (2005) und "Gift für die Ohren", Teil 1 und 2 (2007 / Split-CD mit "Burn Down" aus Brandenburg) wurden Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Volksverhetzung und des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen eingeleitet. Wegen Volksverhetzung verurteilte das Landgericht Berlin im September zwei Mitglieder der Band sowie zwei Personen, die am Vertrieb von CDs der Band beteiligt waren, zu Freiheitsstrafen von einem Jahr und drei Monaten bis zu 3 Jahren und fünf Monaten.134 Wegen ihrer 2009 veröffentlichten CD "Virus" ist ein weiteres Ermittlungsverfahren anhängig. Internetaktivitäten im Fokus Versandhandel Einen festen Platz beim Vertrieb und der Verbreitung rechtsextremistischer Musik und anderer Devotionalien besitzt das Internet. In der vermeintlichen Anonymität des virtuellen Raums wird rechtsextremistische Propaganda verbreitet, an einer engeren Vernetzung der Szene gearbeitet, und es werden rechtsextremistische Internetradios und Versandhandel betrieben. Ein Berliner Versandhandel geriet 2011 gleich zweimal in den Fokus der Strafverfolgungsbehörden. Im ersten Fall wurde ein Feuerzeug angeboten, dass aus Metall von so genannten "Stolpersteinen"135 gegossen worden sein sollte. Auslöser des zweiten Ermittlungsverfahrens war der Vertrieb eines T-Shirts mit dem Abbild eines Totenkopfs an einem Dönerspieß mit der Bildüberschrift "Killerdöner - nach Thüringer Art". Auf zynische Weise wurde hier auf die Morde des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) angespielt. In beiden Fällen wird gegen die Betreiber des Versandhandels wegen des Verdachts der Volksverhetzung ermittelt. 134 LG Berlin, AZ.: 81 Js 2667/06 vom 23.9.2011. Ursächlich für die Verurteilung war die CD "Die Antwort auf's System". 135 Bei den "Stolpersteinen" handelt es sich um in den Boden eingelassene Betonsteine mit einer Messingplatte, mit denen an Opfer des Holocaust erinnert werden soll, die vormals Bewohner der Häuser waren, vor denen sich nun die Steine befinden. Aktuelle Entwicklungen - Rechtsextremismus 99 Bis zu diesen Ermittlungen und der Verbreitung des "Killer-Döner"Motivs auf überregionalen rechtsextremistischen Webseiten war der Versandhandel in der Szene weitgehend unbekannt. Gezielt haben dessen Betreiber das mediale Interesse an den Verbrechen des NSU genutzt, um durch die Verhöhnung der Opfer rechtextremistischer Gewalt ihre Bekanntheit und den Absatz ihrer Produkte zu steigern. Auch gegen den Vertrieb rechtsextremistischer Musik über das InErmittlungen gegen Mitglied von "D.S.T." ternet gingen die Strafverfolgungsbehörden vor. Am 29. November wurden sechs Objekte in Berlin und Brandenburg wegen des Verdachts, strafrechtlich relevante, rechtsextremistische Tonträger verbreitet zu haben, durchsucht. Im Zuge dieser Ermittlungen, die sich unter anderem gegen ein Mitglied der Band "D.S.T." und 5 dessen Lebensgefährtin richten, wurden versandfertige CDs, Computer und Datenträger sichergestellt. Gegen zwei weitere Berliner Rechtsextremisten, die in einem rechtsextremistischen Internetforum strafrechtlich relevante Tonträger angeboten haben sollen, wurden am 15. Dezember Durchsuchungsbeschlüsse vollstreckt. Hierbei wurden Tonund Datenträger sowie Bestellunterlagen sichergestellt. Weniger kommerzielle Interessen als vielmehr das Bestreben, "Widerstand-Radio" rechtsextremistische Musik und Propaganda zu verbreiten, stand bei den Betreibern des rechtsextremistischen Internetradios "Widerstand-Radio" im Vordergrund. Im April verurteilte das Landgericht Koblenz 18 Betreiber dieses Internetradios unter anderem wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung und Volksverhetzung zu Freiheitsstrafen zwischen einem Jahr und neun Monaten bis zu drei Jahren und drei Monaten.136 Das Gericht sah es als erwiesen an, dass sowohl durch die Moderatorenbeiträge als auch durch die abgespielten Musiktitel menschenverachtende, rassistische und zum Teil nationalsozialistische Inhalte verbreitet wurden. Welchen Umfang das "Widerstand-Radio" angenommen hatte, zeigt die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft Koblenz im August gegen zwölf weitere an dem Radio Beteiligte, darunter auch eine Per136 LG Koblenz, AZ.: 2090 Js 19728/10 vom 11.4.2011. 100 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 son aus Berlin, Anklage erhoben hat. Am 5. Januar 2012 verurteilte das Landgericht Koblenz elf der zwölf Angeklagten wegen der Bildung bzw. Unterstützung einer kriminellen Vereinigung und wegen Volksverhetzung zu Bewährungsstrafen zwischen sechs und 15 Monaten. "Radio Irminsul" In wesentlich kleinerem Rahmen agierten die Betreiber des rechtsextremistischen "Radio Irminsul". Im Gegensatz zum "Widerstand-Radio" war "Radio Irminsul" nicht offen zu empfangen, sondern wurde als geschlossene InternetCommunity betrieben, für die eine Registrierung erforderlich war. Dass gegen die Betreiber des Internetradios ein Ermittlungsverfahren, unter anderem wegen des Verdachts, der Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole, der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten und Volksverhetzung eingeleitet wurde, konnte allerdings auch dieser Versuch der Abschottung nicht verhindern. Hauptbeschuldigte dieses Verfahrens, in dessen Zuge es im Mai zu Durchsuchungsmaßnahmen in fünf Bundesländern kam, ist eine Berliner Rechtsextremistin, die dem Netzwerk "Freie Kräfte" angehört. Musik hat Schlüsselrolle Sowohl für die Rekrutierung neuer Anhänger als auch unter kommerziellen Aspekten wird Musik weiterhin eine Schlüsselrolle in der rechtsextremistischen Szene zufallen. Mit neuen Bands und neuen Musikstilen hat in der überalterten Berliner Musikszene allmählich ein vorsichtiger Verjüngungsprozess begonnen. Begleitet wird dieser Prozess von dem Bemühen, strafrechtliche Grenzen nicht mehr zu überschreiten. So halten sich alte und neue Bands in ihren Texten weitgehend zurück. Das Bewusstsein für die Gefahr dieser oft verklausulierten Texte zu schärfen, wird ein Schwerpunkt zukünftiger Aufklärungsarbeit bleiben. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 101 6 Linksextremismus 6.1 Personenpotenzial und Straftaten Das Personenpotenzial linksextremistischer Organisationen ist Personenpotenzial leicht gestiegen leicht gestiegen, was wie im Vorjahr auf eine zunehmende Mitgliederzahl bei der "Roten Hilfe" zurückzuführen ist. Die aktionsund gewaltorientierte Szene, die knapp die Hälfte dieses Personenpotenzials stellt, kann ihren Anteil durch verstärkte Rekrutierungsbemühungen in den Spektren gewaltbereiter Antifaschisten137 und Repressionsgegner138 vorerst konstant halten. Die Anzahl politisch links motivierter Straftaten ist 2011 stärker anStraftaten stark 6 angewachsen gewachsen, bleibt allerdings deutlich hinter dem Niveau von 2009 zurück. Dabei nahmen Gewaltdelikte im Verhältnis zu den sonstigen Delikten überproportional zu. Ursächlich dafür sind vor allem Straftaten im Zusammenhang mit dem Thema "Umstrukturierung", insbesondere im Vorfeld und Nachgang der Räumung eines ehemals besetzten Hauses in der Liebigstraße 14 Anfang Februar. Personenpotenzial einzelner Personenzusammenschlüsse Berlin Bund 2010 2011 2010 2011 Gesamt* 2 260 2 370 32 200 31 800 Aktionsorientierte auch gewaltbereite 1 100 1 100 6 800 7 100 Linksextremisten, davon Autonome 950 950 Sonstige 150 150 Nicht-gewaltbereite Linksextremisten, davon 860 970 25 800 25 000 Rote Hilfe e.V. 650 760 * Die Zahlen bilden Sonstige 210 210 geschätztes Personenpotenzial nach Abzug Linksextremistische Parteien und innervon Mehrfachmitgliedparteiliche Zusammenschlüsse 300 300 s.o. s.o. schaften (Bund) ab. 137 Vgl. S. 118 ff. 138 Vgl. S. 126 ff. 102 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Fallzahlen Politisch motivierte Kriminalität - links 2010 2011 Terrorismus -- -- Gewaltdelikte, davon 208 397 gegen rechts 44 83 Polizei 130 202 Umstrukturierung 34 153 sonstige Delikte, davon 614 948 gegen rechts 164 255 Polizei 82 107 Umstrukturierung 122 400 Gesamt, davon 822 1 345 gegen rechts 208 338 Polizei 212 309 Umstrukturierung 156 553 Auszug aus dem Bericht "Lagedarstellung der Politisch motivierten Kriminalität in Berlin für das Jahr 2011" des Landeskriminalamtes Berlin (LKA). Der vollständige Bericht ist im Internet unter www.berlin.de/sen/inneres/sicherheit/statistiken/ index.html eingestellt. 6.2 Linksextremistische Gewalt Öffentliche Debatten Linksextremistische Gewalt stand 2011 erneut im Fokus öffentliüber "Linke Gewalt" cher Debatten. Die verstärkte Aufmerksamkeit war vornehmlich drei Phänomenen geschuldet: Nach einem vergleichsweise ruhigen Jahr 2010 stieg die Zahl der Brandstiftungen an Kraftfahrzeugen. Es gab zwei infrastrukturell folgenreiche Sabotageakte gegen die Deutsche Bahn. Es kam zu symbolischen Drohgebärden bis hin zu Menschenleben gefährdenden Anschlägen auf Institutionen und Akteure der inneren Sicherheit. Im Fall eines Brandanschlages auf einen Polizeiabschnitt in Friedrichshain wird unter anderem wegen versuchten Mordes ermittelt. Nicht immer ein Die im zweiten Halbjahr ansteigende Zahl von Festnahmen im ZuLinksextremistischer Hintergrund sammenhang mit den KfZ-Brandstiftungen zeigt jedoch, dass es sich nicht in jedem Fall um einen in der linksextremistischen Szene anzusiedelnden Täterkreis handeln muss, sondern auch öffentliche Aufmerksamkeit suchende Trittbrettfahrer als Täter in Frage kommen. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 103 Darüber hinaus gab es aber noch eine Reihe szenetypischer GeHäufig ungeklärte Motivlage walttaten, wie "Links-Rechts-Auseinandersetzungen", Angriffe auf Polizeibeamte und Attacken gegen hochwertig sanierte Gebäude, denen häufig nicht die gleiche Aufmerksamkeit zu Teil wird. Allerdings existieren auch hier fließende Übergänge zwischen politischen Motiven und reinem Rowdytum, die eine Zuordnung nicht immer mit letzter Sicherheit erfolgen lassen. Der potenziell extremistische Hintergrund einer Tat wird in jedem Einzelfall genau geprüft. Autobrände Auf Basis der Polizeilichen Kriminalstatistik ist 2011 im Vergleich Autobrände mit und ohne politischen zum Vorjahr wieder ein nennenswerter Anstieg der politisch links Hintergrund motivierten Gewalt festzustellen. Allerdings bleiben die Zahlen deutlich hinter dem Höchststand von 2009 zurück. Analoges gilt für die politisch motivierten Brandstiftungen an Kraftfahrzeugen. Wurden im Jahr 2010 insgesamt 44 entsprechende Brandstiftun- 6 gen registriert, so waren es 2011 92. Dennoch bleibt das Niveau hinter dem von 2009 zurück, als in 145 politisch motivierten Fällen Fahrzeuge beschädigt wurden. Auch wenn in der öffentlichen Wahrnehmung das Bild eines brenEtwa ein Viertel der KfZ-Brandstiftungen nenden Autos eng mit der Vorstellung eines linksextremistischen politisch motiviert Hintergrunds verbunden zu sein scheint, liegt der Anteil politisch motivierten Taten 2011 mit 92 von 403 Fällen insgesamt bei weniger als einem Viertel. 2009 lag er noch bei annähernd der Hälfte. Nur in elf Fällen liegt eine - für die linksextremistische Szene typische - Selbstbezichtigung vor. Davon standen fünf im Begründungszusammenhang eines Protests gegen "Gentrifizierung", drei verstanden sich als "Widerstand gegen staatliche Repression".139 2010 wurden zehn entsprechende Selbstbezichtigungsschreiben 139 Vgl. S. 126 ff. 104 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 veröffentlicht, 2009 waren es immerhin noch 27. Der Großteil dieser Straftaten wurde offensichtlich aus anderen, unpolitischen Beweggründen begangen. Hierbei dürften vorrangig Erlebnisorientierung, Versicherungsbetrug, aber auch, wie ein im April 2012 zu sieben Jahren Freiheitsentzug verurteilter Täter angab, Frust über die eigene persönliche Situation ursächlich gewesen sein. Allein diesem Verdächtigen konnten 56 Taten mit mehr als 100 betroffenen Fahrzeugen zugerechnet werden. In der Szene immer In der autonomen Szene gelten Brandstiftungen an Privatfahrzeuweniger vermittelbar gen seit dem letzten Jahr als überwiegend nicht mehr vermittelbar. Im Rahmen einer so genannten "Militanzdebatte"140 wurde konstatiert, dass auf diese Weise zwar viel öffentliche Aufmerksamkeit erreicht worden sei, jedoch habe man versäumt, dabei ausreichend inhaltliche Bezüge herzustellen. Eine "undifferenzierte Hassbrennerei" wird vor allem wegen der Schäden abgelehnt, die in vielen Fällen an nahe geparkten Fahrzeugen entstünden. Kritisiert wird zudem, dass nicht nur "Nobelkarossen" betroffen seien, sondern allzu häufig auch die Fahrzeuge von Durchschnittsverdienern in Mitleidenschaft gezogen würden. Firmenfahrzeuge In der Szene vermittelbar sind dagegen weiterhin Anschläge auf weiterhin legitimes Ziel Fahrzeuge von Unternehmen, soweit diese geeignet erscheinen, einen politischen Bezug zur unternehmerischen Tätigkeit der Angegriffenen herzustellen. So wurden in der Nacht vom 17. auf den 18. Mai zwei Fahrzeuge der Deutschen Bahn und von Siemens mit der Begründung angezündet, dass diese Unternehmen erst auf "ihr Geschäft mit der Kernenergie verzichten, wenn der wirtschaftliche Schaden nachhaltig" sei.141 In einem Selbstbezichtigungsschreiben zu einer Brandstiftung an zehn Autos bei einem Citroen-Händler am 13. Juni heißt es zur Begründung, dass der Konzern Fahrzeuge an die griechische Polizei liefere, die diese "zur Unterdrückung sozialer Spannungen" nutze.142 140 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 107 ff. 141 Artikel "Atomforum - Firmenautos abgefackelt" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 19.5.2011. 142 Artikel "Brief an unsere griechischen GenossInnen und Anschlagserklärung" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 14.6.2011. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 105 Bahn-Saboteure mit Vermittlungsproblemen In Berlin erregten 2011 aber auch noch andere vermutlich linksextremistische Gewalttaten die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, deren Zweckmäßigkeit von der Szene ebenfalls mindestens kontrovers diskutiert wurde. Dazu gehören insbesondere zwei Brandanschläge auf Teile der Infrastruktur der Deutschen Bahn, bei denen es zu erheblichem Sachschaden und tagelangen Beeinträchtigungen im öffentlichen Nahund Fernverkehr kam. Die Auswirkungen waren weitreichender als bei einem ähnlich gelagerten Vorfall im November 2010.143 Zunächst setzten unBrandanschlag auf Kabelbrücke bekannte Täter am am Ostkreuz 23. Mai 2011 auf dem Gelände des Bahnhofes Ostkreuz in Friedrichshain eine provisorische 6 Kabelbrücke mit Starkstromkabeln in Brand. Durch die Beschädigungen kam es im gesamten Tagesverlauf zu massiven Störungen bei der Deutschen Bahn und insbesondere der Berliner S-Bahn sowie zu Ausfällen bei einem Mobilfunkbetreiber. Auf einer auch von Linksextremisten genutzten Internetplattform wurde ein Selbstbezichtigungsschreiben der bisher unbekannten Gruppierung "Das Grollen des Eyafjallajökull" eingestellt. Die Verfasser betonen, dass man "die Gefährdung von Menschen nach bestem Wissen ausgeschlossen" habe und wollen die Aktion als ein "Haltesignal" verstanden wissen. Neben anderen konfusen Versatzstücken unterschiedlicher Begründungszusammenhänge wird die Bahn dafür verantwortlich gemacht, durch die Bereitstellung ihrer Logistik an der Verbreitung von Rüstungsgütern beteiligt zu sein.144 Am 23. August veröffent143 Am 1.11.2010 wurde in einem Kabelkanal der Deutschen Bahn ein Feuer gelegt, das den S-Bahn-Verkehr für mehrere Stunden beeinträchtigte. Das Selbstbezichtigungsschreiben eines "kommando sebastian briard" bezog sich auf einen aktuellen Beschluss der Bundesregierung für längere Laufzeiten von Atomkraftwerken. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 121. 144 Artikel "Kurz.Schluss" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 23.5.2011. Die Bezeichnung "Das Grollen des Eyjafjallajökull" - so heißt es in der Taterklärung - bezieht sich auf den isländischen Vulkan, der am 20.3.2010 aus- 106 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 lichte eine Gruppierung unter dem selben Namen und auf der selben Plattform eine weitere Erklärung, in der sie versuchte, die Tat noch einmal umfassend politisch zu rechtfertigen, nachdem sie sowohl in der linksextremistischen Szene als auch in den Medien teils heftig kritisiert worden war.145 Brandsätze Zwischen dem 10. und an Kabelschächten in Berlin und Umland 13. Oktober wurden in Berlin und Brandenburg an mehreren Kabelschächten entlang von Bahntrassen abgelegte Brandsätze aufgefunden, von denen zwei zur Umsetzung gelangt waren. Dadurch kam es auch durch anschließende Suchund Sicherungsmaßnahmen, wiederum zu erheblichen Beeinträchtigungen, die den Nahund Fernverkehr der Deutschen Bahn nahezu zum Erliegen brachten. In einer am 10. Oktober veröffentlichten Erklärung, die mit "Das Hekla-Empfangskommitee - Initiative für mehr gesellschaftliche Eruptionen" unterzeichnet ist, stellen die Verfasser die Tat in einen Begründungszusammenhang mit dem nunmehr zehn Jahre andauernden Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Sie erklärten, man habe mit der Aktion eine "Entschleunigung der Hauptstadt als Global Player des Rüstungsexports" beabsichtigt. Auf den vorherigen Anschlag bezogen sie sich insoweit, als dass sie diesen als eine "gelungene Aktion gegen die Funktionalität der Metropole" bezeichnete und behauptete, einige Ideen "inhaltlich aufgegriffen" zu haben.146 Drei Tage später wurde an selber Stelle und unter selben Namen eine "Richtigstellung" veröffentlicht, in dem sich die Verfasser gegen in den Medien, aber auch in Kommentaren zur Akgebrochen war und "das europäische Wirtschaftsleben bestreikt" hatte. Die ausgetretene Vulkanasche hatte dazu geführt, dass insbesondere Mitte April 2010 der Flugverkehr in weiten Teilen Nordund Mitteleuropas eingestellt werden musste. 145 Artikel "Kabelbrand.Kurz.Schluss: Ein Nachtrag" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 23.8.2011. 146 Artikel "Presseerklärung zu den Brandanschlägen auf Bahn und Telekommunikation wegen 10 Jahre Afghanistan" auf der Internetpräsenz "linskunten" mit Datum vom 10.10.2011. "Hekla" ist der Name eines isländischen Vulkans, dessen Ausbruch - so heißt es in der Taterklärung - nach Einschätzung von Experten längst überfällig sei. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 107 tion erhobene Vorwürfe verwahrten. Insbesondere traten sie der Behauptung entgegen, sie hätten durch das Zerstören von Signalkabeln Menschenleben gefährdet.147 Auf einschlägigen Internetplattformen gab es dazu sehr unterReaktionen der Szene überwiegend ablehnend schiedliche, überwiegend kritische, teilweise auch spöttische Reaktionen. So wurde das umfassende Selbstbezichtigungsschreiben als unpolitisch und unpräzise bezeichnet und bemängelt, dass die Aktion vor allem die normale Bevölkerung träfe. Auch in der Szene selbst wurden die Anschläge kontrovers bis ablehnend diskutiert, da sich der Zusammenhang zwischen der Bahn und dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr nicht zwangsläufig aufdränge. In entgegengesetzter Intention wurde die Ausführung kritisiert, weil nicht alle der deponierten Brandsätze auch gezündet hätten. In diesem Sinne "gewürdigt" wurde aber, dass der Deutschen Bahn wenigstens ein erheblicher finanzieller Schaden zugefügt worden sei. 6 Der Vergleich der in beiden Tatzusammenhängen veröffentlichÄhnliche Selbstbezichtigungsschreiben ten Selbstbezichtigungen lässt die Vermutung zu, dass es sich auf Grund der Vielzahl der Übereinstimmungen in Form, Sprache und Argumentation sowie bezüglich der Anschlagsart insgesamt, dem Bezug auf eine einschlägige politische Schrift, dem gleichzeitigen Verfassen einer Kurzund Langversion und dem Veröffentlichen auf der selben Internetplattform um einen zumindest teilidentischen Zirkel von Verfassern handeln könnte. Das Bundeskriminalamt geht von einem "überschaubaren Täterkreis" aus.148 Drohgebärden gegen die innere Sicherheit Eher symbolischer Natur sind dagegen einige EinschüchterungsSympolische Einschüchterungsversuche versuche gegenüber Führungspersonen, aus dem Bereich der inneren Sicherheit und Wissenschaft. So ging am 17. März im Bundesinnenministerium in Berlin ein an den Minister adressierter Brief mit dem Zusatz "Bitte persönlich aushändigen" ein. Darin befan147 Artikel "Richtigstellung zur Medienberichterstattung zu den Brandsätzen an Kabelschächten der Bahn" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 13.10.2011. 148 Aussage vom Präsidenten des Bundeskriminalamtes (BKA), Jörg Ziercke, bei der Vorstellung des Sicherheitsberichtes der Deutschen Bahn am 15.11.2011 in Berlin. 108 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 den sich eine scharfe Patrone und ein DIN A 4-Blatt mit einem Logo der "Revolutionären Aktionszellen". Vier Tage später erhielten ein Bundesanwalt am Bundesgerichtshof und zwei Politikwissenschaftler der Technischen Universität Dresden, die sich mit dem Thema "Extremismus" befassen, ähnliche Briefe. In einem in der Szenezeitschrift "radikal" veröffentlichten Selbstbezichtigungsschreiben, unterzeichnet mit "Revolutionäre Aktionszellen (RAZ) - Zelle Georg von Rauch",149 wird die Aktion unter anderem mit der "andauernden staatlichen Repression" gegenüber der "revolutionären Linken" begründet. Als "Beitrag zur organisierten Gegenwehr" habe man einigen "herausragenden Persönlichkeiten einen besonderen Gruß hinterlassen".150 Der Zeitpunkt der Aktion dürfte in Zusammenhang mit dem "Tag des politischen Gefangenen" am 18. März stehen. Sowohl der Bundesminister des Innern als auch der betroffene Bundesanwalt sind für Linksextremisten Symbolfiguren der staatlichen Repression. Die beiden Politikwissenschaftler gelten hingegen als profilierte Vertreter der so genannten "Extremismus-Theorie"151, die von Linksextremisten scharf abgelehnt wird. Patronenversendung Die Aktionsform der Patronenversendung ist in der linksextremisan Innenpolitiker tischen Szene umstritten. Entsprechende Aktionen der "militanten gruppe" (mg) in den Jahren 2001, 2002 und 2004 wurden im 149 Georg von Rauch bewegte sich in den Zusammenhängen, aus denen 1972 die terroristische "Bewegung 2. Juni" hervorging. Nach seiner Flucht aus der Untersuchungshaft, in der er wegen Nötigung, Körperverletzung und versuchten schweren Raubes einsaß, wurde er am 4.12.1971 bei einem Schusswechsel mit der Polizei in Berlin tödlich verletzt. 150 Artikel "Kommunique der Revolutionären Aktionszellen (RAZ) - Zelle Georg von Rauch" in der Zeitschrift "radikal. publikation der revolutionären linken.". Nr. 164, Sommer 2011, S. 15. 151 Die Extremismustheorie betont die Gemeinsamkeiten verschiedener Formen des Extremismus und hält Rechtsund Linksextremismus grundsätzlich für vergleichbar. Ihnen sei gemeinsam, dass sie den demokratischen Verfassungsstaat beseitigen möchten. Kritiker der Extremismustheorie finden sich unter Nicht-Extremisten ebenso wie unter Extremisten. Sie kritisieren, dass die Extremismustheorie Unterschiede der einzelnen politischen Ideologien nicht berücksichtigen würde. Linksextremisten lehnen insbesondere ab, im Rahmen der Extremismustheorie mit Rechtsextremisten als ihren politischen Hauptgegnern verglichen zu werden. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 109 Rahmen der "Militanzdebatte" unter anderem als "Kokettieren mit dem Mythos des bewaffneten Kampfes" kritisiert. Die Rhetorik in den Papieren der RAZ wird in großen Teilen der Szene als elitär und arrogant angesehen und daher abgelehnt.152 Dennoch sind ihre Verbindungen innerhalb der linksextremistischen Szene deutlich erkennbar.153 Einen ähnlich symbolischen Charakter hatte eine Briefsendung "Briefbombe" für heutigen Innensenator an den damaligen Spitzenkandidaten der CDU zum Berliner Abgeordnetenhaus und jetzigen Senator für Inneres und Sport, Frank Henkel, am 21. August. In einem schon am Vortag im Internet veröffentlichten Selbstbezichtigungsschreiben, unterschrieben mit "Nihilistische Tendenz der autonomen Gruppen", heißt es, dass sich Henkel "durch unsere kleine Briefbombe [...] die Finger verbrennen und hoffentlich realisieren [wird], dass Personen auf der ganz rechten Spur immer ein Ziel des antifaschistischen Widerstandes sein werden."154 Tatsächlich ging an der Privatadresse des CDU- 6 Politikers eine verdächtige Briefsendung ein, die mit einer technischen Vorrichtung zum Abspielen der Melodie "Spiel mir das Lied vom Tod" sowie mit einer geringen Menge Pulver, vermutlich aus Feuerwerkskörpern, gefüllt war. Auch zu dieser Aktion ist die Haltung in der linksextremistischen Auch hierzu wenig Zustimmung Szene überwiegend kritisch, nicht nur weil - zumindest symbolisch - die Grenze zur Gewalt gegen Personen überschritten wird, bei der potenziell auch unbeteiligte Dritte verletzt werden könnten, sondern auch, weil man mutmaßt, dass diese Tat den eigenen Interessen schadet. Antifaschismus als Legitimation von Gewalt Neben den besonders öffentlichkeitswirksamen, in der Szene aber zum Teil heftig umstrittenen, Gewaltdelikten fanden einige szenetypische und gegenüber Leib und Leben von Menschen besonders rücksichtslose Gewalttaten medial weniger Beachtung. Vor allem für Polizisten als "Vertreter des repressiven" Staats gilt aus Szenesicht 152 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 204. 153 Vgl. S. 126 ff. 154 Artikel "Briefbombe für Frank Henkel" auf der Internetpräsenz "linksunten" mit Datum vom 20.8.2011. 110 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 das Gebot der Unverletzlichkeit der Person nur eingeschränkt; für vermeintliche oder tatsächliche Rechtsextremisten gilt es gar nicht. "Antifaschistische So kommt es in der so genannten linksextreAbreibungen" mistischen "Antifa"-Szene155 fast regelmäßig zu körperlichen Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner. Dabei gerieren sich "Antifas" vornehmlich als Opfer, agieren aber genauso als Täter. Beispielsweise wurde in der Nacht zum 13. Mai in Berlin-Neukölln ein Auto in Brand gesetzt und am selben Tag eine Taterklärung im Internet veröffentlicht, in welcher der namentlich genannte Fahrzeughalter für aktuelle Neonazi-Aktivitäten verantwortlich gemacht wird. Am darauffolgenden Tag kam es zwischen den Teilnehmern einer rechtsextremistischen Demonstration am Mehringdamm und blockierenden Gegendemonstranten zu schweren Auseinandersetzungen, die von Rechtsextremisten ausgingen. In deren Verlauf wurden die eingesetzten Polizeibeamten von beiden Parteien angegriffen. In Reaktion auf die Vorfälle gründete sich in der "Antifa"-Szene das Bündnis "Nazis auf die Pelle rücken". Als vermutlich gezielt geplante "Rache"-Aktionen sind drei gewalttätige Übergriffe auf NPD-Mitglieder zwischen dem 22. und 25. Juni anzusehen, die jeweils von einer Gruppe vermummter Personen überfallen und zum Teil beraubt wurden.156 Auf einem einschlägigen Internetportal ist in diesem Zusammenhang von einer "antifaschistischen Abreibung" die Rede.157 Kritik an solchen Aktionen ist in der Szene selten. Polizisten als Prellbock Ebenso wie bei Rechtsextremisten wird bei Polizisten der Unversehrtheit der Person nicht der gleiche Stellenwert eingeräumt wie bei den direkt oder indirekt Betroffenen anderer linksextremistischer Angriffsziele.158 In beiden Kontexten berufen sich Linksextremisten auf ein angebliches Selbstverteidigungsrecht: einer155 Vgl. S. 118 ff. 156 Vgl. S. 86 ff. 157 Artikel "Mobi für Silvio-Meier-Demo auf Hochtouren" auf der Internetpräsenz "indymedia" mit Datum vom 18.11.2011. 158 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 109 f. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 111 seits gegen die ihrem utopischen Gleichheitsideal zuwiderlaufenden angeblich faschistischen Auswüchse der kapitalistischen Produktionsweise, andererseits gegen die ihre willkürgleichen Freiheitsansprüche begrenzenden "repressiven Organe des Staats". Neben situativen Auseinandersetzungen mit der Polizei bei DeAngriffe auf den "Repressionsapparat" monstrationen gab es auch gezielte Angriffe auf Vertreter der als "Repressionsapparat" wahrgenommenen Institutionen.159 Schon im Januar, im Vorfeld des 14. Europäischen Polizeikongresses, wurden im Rahmen einer Gegendemonstration Flaschen und Pyrotechnik auf Polizeibeamte geworfen. Außerdem wurden durch Kleinpflastersteine mehrere Fahrzeuge der Bundespolizei beschädigt. Vor demselben Hintergrund wurde das Fahrzeug einer Sicherheitsdienstleistungsfirma in Brand gesetzt. Den Höhepunkt bildete aber der Angriff auf den PolizeiabErmittlungen wegen 6 versuchten Mordes schnitt 51 in Friedrichshain: Am 11. April warfen bislang unbekannte Täter Farbflaschen, Steine und Brandsätze gegen das Dienstgebäude und legten bei ihrer Flucht so genannte "Krähenfüße" aus. Zwei der in den offenen Eingangsbereich geworfenen Brandflaschen entzündeten sich. Nur durch Zufall blieb ein Mitarbeiter einer Reinigungsfirma, der gerade das Gebäude betreten hatte, trotz intensiver Flammenbildung unverletzt. In einer am folgenden Tag im Internet veröffentlichten Selbstbezichtigung, die mit "autonome gruppen" unterzeichnet ist, wird die Tat unter anderem damit gerechtfertigt, dass "von dieser wache die einsätze gefahren [werden] um den reibungslosen ablauf von kommerz und profitmaximierung im friedrichshainer kiez zu sichern".160 Der Generalbundesanwalt ermittelt in diesem Zusammenhang wegen gemeinschaftlicher schwerer Brandstiftung und versuchten Mordes. Trotz der offensichtlichen Gefährdung eines Menschenlebens wurde die Tat - anders als etwa bei den Anschlägen auf die Bahn -auf den einschlägigen Internetseiten kaum kommentiert. 159 Vgl. S. 86 ff. 160 Artikel "Polizeiwache mit Molotow-Cocktails und Steinen angegriffen" auf der Internetpräsenz "directaction" mit Datum vom 11.4.2011 (Fehler im Original). 112 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Rechtsfreie Räume als Ziel Eskalationen Der "Widerstand gegen Renach Räumung der Liebigstraße 14 pression" wird häufig mit dem Aufbegehren gegen den Prozess der so genannten "Gentrifizierung" vermengt, was vor allem durch das Bestreben zur Etablierung so genannter "autonomer Freiräume" erklärbar wird.161 Als ein solcher galt zum Beispiel das Wohnhaus in der Liebigstraße 14 in Friedrichshain, das am 2. Februar zwangsgeräumt wurde. Über einen zivilgesellschaftlichen und in Demonstrationen geäußerten Protest hinaus versuchen Linksextremisten die Umstrukturierung der vormals von meist jungen, subkulturell geprägten und wirtschaftlich schwachen Bevölkerungsgruppen bewohnten Kieze mit Gewalt zu verhindern oder im Nachhinein zu sabotieren. Ihr Ziel sind jedoch nicht "autonome", sondern rechtsfreie Räume, die dem Zugriff staatlicher Institutionen entzogen bleiben. Bereits im Vorfeld kam es zu entsprechenden Aktionen, aber auch nach Zwangsräumung und Sanierung mit anschließendem Neubezug war die Liebigstraße 14 Ziel linksextremistischer Angriffe. Dabei kam es nicht nur zu Sachbeschädigungen, zum Beispiel durch Farbschmierereien und verklebte Türschlösser, sondern es wurden auch die Fensterscheiben von Neumietern mit Metallkugeln durchschossen und Anschläge auf deren Fahrzeuge verübt. In einem Nebengebäude wurden Wasserleitungen beschädigt und tragende Dachbalken angesägt. Wie ist der Anstieg der politisch links motivierten Gewalt einzuschätzen? Begriff "Terror" verfehlt Im vermeintlichen Kampf gegen "Faschismus", "Repression" und "Umstrukturierung" ist eine besonders hohe Gewaltbereitschaft von Linksextremisten zu erkennen. In der auf das Jahr 2011 rückblickenden Beurteilung linksextremistischer Gewalt ist der Begriff "Terror" allerdings verfehlt. Es ist zwar ein quantitativer Anstieg erkennbar, der aber durch besondere Anlässe wie die Räumung der Liebigstraße 14 Anfang Februar sowie Links-Rechts-Ausein161 Vgl. S. 133 ff. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 113 andersetzungen im Nachgang der eskalierten Demonstration am Mehringdamm im Mai erklärbar ist. Die absolute Zunahme an KfZBrandstiftungen geht in überwiegenden Teilen auf nicht-politisch motivierte Täter zurück. Die Bahnanschläge und Drohgebärden gegen Innenpolitiker finden in der Szene keinen ungeteilten Rückhalt. Gemessen an der Breite des Betroffenenkreises erreichen diese Delikte jedoch eine neue Dimension. Angesichts der medialen Fokussierung auf diese Taten und Täter gerät die immer wiederkehrende Gewalt der linksextremistischen Szene gegen vermeintliche oder tatsächliche Rechtsextremisten, Polizisten und - aus Szenesicht - in ihren Kiezen "unpassende" Menschen sowie deren Eigentum jedoch oftmals aus dem Blick. 6.3 Akteure und Hintergründe linksextremistischer Gewalt: Die "Szene" Politisch motivierte Gewalt im Sinne der Polizeilichen Kriminalsta- 6 tistik kann von organisierten Personenzusammenhängen ebenso ausgehen wie von isoliert handelnden Einzelpersonen. Eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung ist vor allem dann gegeben, wenn sich Personen zu Gruppen zusammenschließen, organisieren und vernetzen, deren verbindendes Element das politische Ziel der Abschaffung eben dieser Ordnung ist und die bereit sind, zur Erreichung dieses Zieles Gewalt anzuwenden. Insbesondere die aus solchen gewaltorientierten Bestrebungen bestehende autonome162 Szene der Stadt steht im Fokus des Verfassungsschutzes Berlin. Diese Szene ist jedoch nicht zwingend identisch mit den Personen, Gewalttäter und "Szene" nicht die als politisch links motivierte Gewalttäter strafrechtlich belangt deckungsgleich werden.163 Politisch links motivierte Straftaten werden auch von Personen verübt, die in keiner der eng untereinander vernetzten autonomen Gruppierungen organisiert sind. Gewalttaten von solch weitgehend losgelöst agierenden Personen(kreisen) sind im Vorfeld schwer abzuwehren. Die politische Gesinnung bzw. Motivlage der Täter wird dann zunächst im Gegenstand der Tat selbst ersichtlich, 162 Vgl. S. 230 f. 163 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport 2009: Linke Gewalt in Berlin. Berlin 2009, S. 10. 114 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 oft aber auch erst aus einem nachträglichen Selbstbezichtigungsschreiben. Bei manchen unaufgeklärten Gewalttaten sind zumindest Unterstützung und Rückhalt in der linksextremistischen Szene schon allein deshalb in Frage zu stellen, weil das Ausmaß der nachfolgenden Kritik an den Aktionen - vor allem wenn sie, wie bei den Bahnanschlägen, Unbeteiligte treffen - gegen ein abgestimmtes Vorgehen und ein breites Unterstützerfeld in einschlägigen Kreisen sprechen. Nicht auszuschließen ist aber auch, dass Einzelpersonen oder Teile von Gruppierungen aus der Szene in Eigenregie derartige Aktionen initiieren, gerade weil ihnen die Unterstützung aus ihrem direkten Umfeld fehlt. Straftäter, die politisch motiviert, aber institutionell isoliert agieren, bewegen sich in einem für die Sicherheitsbehörden schwer einsehbaren Dunkelfeld. Gewalttäter nicht Wer gehört also zur Szene und wer nicht? Wie insbesondere die immer ein Fall für den Verfassungsschutz nach den KfZ-Bandstiftungen im Jahr 2011 erfolgten Festnahmen zeigen, steht nicht hinter jeder in der Medienberichterstattung als linksextremistisch klassifizierten Strafoder Gewalttat letzten Endes auch tatsächlich ein politisch links motivierter Täter, geschweige denn eine entsprechende Gruppierung. Insofern sind zunächst solche Personen abzugrenzen, deren Taten zwar vermeintlich einen szenetypischen Charakter besitzen, die selbst aber weder eine strukturelle Anbindung, noch eine ideologische Nähe zum Linksextremismus besitzen. Das gilt zum Beispiel für etwa drei Viertel der Auto-Brandstiftungen des letzten Jahres. Solche Strafund Gewalttäter sind Gegenstand polizeilicher und staatsanwaltlicher Ermittlungen, jedoch nicht der Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Daneben existieren Personen, die überwiegend allein oder in Kleinstgruppen agieren, oft rein situativ - zum Teil unter Alkoholeinfluss - "politisch links motivierte" Straftaten begehen, die tatsächlich aber nur lose Beziehungen zu linksextremistischen Strukturen besitzen. Typische Beispiele dafür sind Sachbeschädigungen durch das Schmieren und Sprayen von polizeifeindlichen Parolen oder Farbbeutelund Steinwürfe auf symbolträchtige öffentliche und hochwertig sanierte Gebäude. Solche Delikte können Indiz eines Einstiegs in die autonome Szene sein. Zum Teil lassen die Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 115 Neulinge sich dann in naiver Weise von etablierten Szeneakteuren für deren Zwecke instrumentalisieren, zum Beispiel indem sie als Mobilisierungspotenzial für geplant gewalttätige Verläufe von Demonstrationen gegen die Polizei oder gewalttätige Aktionen gegen Rechtsextremisten "verheizt" werden. Oft ziehen sich solche Personen nach den ersten Erfahrungen mit Strafanzeigen und Ermittlungsverfahren ebenso schnell wieder aus der Szene zurück, wie sie hinein geraten sind. Vorrangige Aufgabe des Verfassungsschutzes liegt in der Beobach"Harter Kern" der autonomen Szene tung des "harten Kerns" der autonomen Szene, der aus auf Dauer als Beobachtungsangelegten, planerisch tätigen und arbeitsteilig handelnden sowie schwerpunkt zum Teil weit vernetzten Vereinigungen besteht, die zur Durchsetzung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele neben anderen Mitteln auch Gewalt anwenden. Von solchen Bestrebungen geht eine besondere Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung aus, weil sie eben nicht nur punktuell die mediale Aufmerksamkeit 6 auf sich zu ziehen versuchen, sondern eine nachhaltige Strategie verfolgen, die auf die Abschaffung eben dieser Ordnung zielt. Die dahingehende Strategie der Linksextremisten beinhaltet zuallererst, Themenfelder zu besetzen, die vermeintlich eine breite gesellschaftliche Anschlussfähigkeit besitzen, weil zu diesen bereits eine kritische Öffentlichkeit existiert, die es zu radikalisieren gilt. Diese Themen sind variabel und "konjunkturellen" Schwankungen ausgesetzt. Zuletzt haben sich drei Kernthemen fest etabliert: 1. der schon traditionelle "Kampf gegen Faschismus", Kernthemen der Autonomen 2. der Widerstand gegen - vor allem staatliche - Überwachung und "Repression" sowie 3. die Verhinderung städtebaulicher Umstrukturierungen, auch "Gentrifizierung" genannt. In allen drei Themenspektren engagieren sich meist bürgerliche, Strategie der fließenden Übergänge zu zivilem teils aber auch subkulturell geprägte, politisch eher links orienProtest tierte Protestbewegungen, die mit Öffentlichkeitsarbeit bis hin zu Großdemonstrationen ihrer Kritik friedlich Ausdruck verleihen. Linksextremisten unterscheiden sich von diesen durch die Mittel 116 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 mit denen sie die vermeintlichen oder tatsächlichen Missstände bekämpfen - insbesondere eben durch die Anwendung von Gewalt - und die politischen Ziele, die sie dabei verfolgen. Vor allem präsentieren sie andere Diagnosen für die Ursachen der Probleme, die an den Fundamenten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ansetzen und als Lösung eine Überwindung derselben anbieten. Den anderen Beteiligten und erst recht Außenstehenden erschließt sich das nicht offensichtlich, denn es gehört zur Strategie, fließende Übergänge zum zivilen Protest zu schaffen. "Gerade weil die sozialen Bewegungen in Deutschland dazu neigen lahm und reformistisch zu sein, ist eine Beeinflussung von links notwendiger denn je, nicht zuletzt um die Geschichtsrelativierung und die völkisch-rassistischen Tendenzen innerhalb der Bewegungen anzugreifen [...] Wir wollen innerhalb dieser Bewegungen arbeiten um sie zu radikalisieren und damit die Risse und Widersprüche innerhalb der kapitalistischen Totalität zu vertiefen - bis zum offenen Klassenkampf." 164 Gegen "Faschismus" Gerade in der Bekämpfung des Rechtsextremismus existiert ein breiter gesellschaftlicher Konsens, der von autonomen Gruppierungen wie der "Antifaschistischen Linken Berlin" (ALB), der "Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin" (ARAB) und den "North East Antifascists" (NEA) zu teils überregionalen Bündnissen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen, Parteien und Gewerkschaften genutzt wird, um Anschluss zu finden. Häufig wird dadurch verdeckt, dass diese Gruppen Faschismus als systemimmanent ansehen und sich ihr "antifaschistischer Kampf" nicht nur gegen Rechtsextremisten, sondern das "kapitalistische Herrschaftssystem" und seine "pseudodemokratische Maske" an sich richtet.165 164 Artikel "Grundsätze - let the revolution rock!" auf der Internetpräsenz der "Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin" (ARAB) mit Datum vom Januar 2007 (Aufruf am 23.12.2011). 165 Vgl. S. 118 ff. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 117 Anarchistisch geprägte Gruppierungen wie "Zusammen Kämpfen" Gegen "Repression" (ZK), die "Revolutionären Aktionszellen" (RAZ) oder "Anarchist Black Cross" (ABC) engagieren sich dagegen vordergründig für die Freiheit so genannter "politischer Gefangener", zu denen sie unter anderem verurteilte Terroristen der "Rote Armee Fraktion" (RAF) rechnen. Im "Widerstand" gegen die vermeintliche staatliche Repression suchen Teile der Szene gesellschaftliche Unterstützung vor allem bei den Familien und Freunden von Inhaftierten, zuletzt aber auch verstärkt im Umfeld von eher unpolitischen Personen, die bei Polizeieinsätzen ums Leben gekommen sind. Es werden Solidaritätsund Gedenkdemonstrationen organisiert, bei denen häufig gezielt die Auseinandersetzung mit der Polizei gesucht wird, um den "gewalttätigen Repressionsapparat zu entlarven".166 Und auch das linksextremistische Engagement gegen "GentrifiGegen "Gentrifizierung" zierung" gilt nur vordergründig der Bewahrung sozialund wohnräumlicher Strukturen oder der Verteidigung alteingesessener 6 Bewohner gegen deren Vertreibung aus nachgefragten Innenstadtlagen. Unter Missachtung der Eigentumsrechte Dritter geht es tatsächlich um die Etablierung so genannter "autonomer Freiräume", in denen rechtsstaatliche Normen außer Kraft gesetzt werden sollen. Unter Slogans wie "Wir bleiben alle" (WBA) werden solche Freiräume in Form besetzter Immobilien gegen Räumungen "verteidigt" und nach Räumungen immer wieder angegriffen. Die dabei entstehenden Drohkulissen gegenüber potenziellen Investoren und Neumietern sind gewollt und zielen auf Machtausübung in Teilen des öffentlichen Raums. In linksextremistischer Perspektive sind diese Themen untereinThemen und Gruppen untereinander ander anschlussfähig, d.h. das Engagement in einem Feld schließt anschlussfähig das in einem anderen nicht aus - im Gegenteil: Die Ablehnung des staatlichen Gewaltmonopols ist für den "Widerstand gegen Repression" ebenso fundamental wie für das Ziel der Schaffung "autonomer Freiräume". Der Kapitalismus und das ihm zugerechnete (als nicht reformierbar angesehene) Gesellschaftssystem wird gleichermaßen als Ursache neonazistischer Umtriebe wie sozialer Verdrän166 Vgl. S. 126 ff. 118 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 gungsprozesse verantwortlich gemacht. Darum weisen Anarchisten der ABC ebenso wie Antifaschisten der NEA jeweils Bezüge ins Spektrum autonomer Gentrifizierungsgegner auf. Gemeinsame KampagÜber Gruppengrenzen hinweg findet ein großer Teil der politischen nen und Bündnisse Arbeit im Rahmen von Kampagnen statt, für die temporär Bündnisse geschlossen werden. Dabei existieren neben den genannten Schwerpunkten noch eine Reihe anderer Themenfelder, die eine mehr oder minder große Integrationskraft innerhalb der Szene und darüber hinaus besitzen. Beispiele dafür sind die Proteste gegen den Papstbesuch oder gegen die Macht der Banken und des "Finanzkapitalismus". Aktionsund gewaltorientierte Linksextremisten versuchen mit ihren Argumenten und Methoden den zivilen Protest zu radikalisieren. Szeneübergreifende Grundsatzdebatten zu den geeigneten Strategien sowie den Sinn und Unsinn bestimmter Aktionsformen führt man über das Internet, insbesondere in Sozialen Netzwerken, aber auch bei "Autonomen Vollversammlungen" (AVV), welche jedoch nicht die Wirkung entfalteten, die sich die Szene erhofft hatte.167 An "traditionellen" Großveranstaltungen, wie zum Beispiel dem 1. Mai, beteiligt man sich ohnehin gemeinsam.168 Extremistische von Der Verfassungsschutz muss innerhalb der in solchen Pronicht-extremistischen Akteuren unterscheiden testfeldern aktiven Organisationen und Gruppierungen extremistische von nicht-extremistischen Akteuren unterscheiden. Zur veranschaulichenden Beschreibung der linksextremistischen Szene Berlins ist es daher nützlich, die Gruppierungen des "harten Kerns" an Hand ihrer Schwerpunkte im "Kampf gegen Faschismus", "Repression" oder Umstrukturierung zu differenzieren und im jeweiligen thematischen Zusammenhang zu erläutern, wo und wie sie eine Trennlinie zu legitimer Gesellschaftskritik überschreiten. 6.3.1 Gegen "Faschismus" Antifaschismus als Der "Antifaschismus" ist der kleinste gemeinsame Nenner der kleinster gemeinsamer Nenner linksextremistischen Szene Berlins und ermöglicht wie kein anderes Thema gruppenübergreifende Mobilisierungen und Schnittstel167 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. S. 91 ff. 168 Vgl. S. 139 f. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 119 len zu zivilgesellschaftlichem Protest. Zum Themenfeld gehören zahlreiche unterschiedliche Aktionsformen, angefangen von Gegendemonstrationen zu rechtsextremistischen Veranstaltungen, Kampagnen gegen rechtsextremistische "Reiz"-Objekte wie Bekleidungsläden, Szenelokale oder bekannte Trefforte, das Ausspähen und Veröffentlichen von Daten vermeintlicher oder tatsächlicher Rechtsextremisten mit dem Ziel der Einschüchterung bis hin zu gewalttätigen Angriffen. Gerade die letztgenannten - im Szenejargon als "Outings" bezeichneten - Aktionsformen sind typisch für autonome "Antifas" und grenzen sie von zivilgesellschaftlichen Initiativen ab. Bei letzteren steht die Bekämpfung der von nationalistischen und rassistischen Anschauungen geprägten Ideologie und deren Vertretern im Vordergrund. Dagegen sehen Linksextremisten den "Faschismus" als ein im System angelegtes Ergebnis der bürgerlichen Herrschaft. Ein in diesem Sinne konsequenter Antifaschismus ist daher untrennbar mit dem Kampf gegen die kapitalistische Wirtschaftsordnung und die ihr zugerechnete, für unre- 6 formierbar gehaltene parlamentarische Demokratie verbunden.169 "Doch nicht nur die NPD-Nazis und ihre Sympathisant_innen sind das Problem: Rassismus, Konkurrenzdenken und ein autoritäres Selbstverständnis werden auch von Teilen der so genannten Elite vertreten. Das ist kein Zufall. Die Einteilung von Menschen nach - wirtschaftlicher - Verwertbarkeit ist ein Grundprinzip des kapitalistischen Systems, das im Faschismus lediglich auf die Spitze getrieben wird." 170 Die autonome "Antifa"-Szene Berlins besitzt einen hohen OrganiDie autonome "Antifa" sationsgrad, ist aber in viele Teilgruppen unterschiedlicher Größe und Bedeutung zersplittert. Hauptakteure sind die "Antifaschistische Linke Berlin" (ALB), "Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin" (ARAB) und "North East Antifascists" (NEA). Alle drei Grup169 Dieses Verständnis wurde maßgeblich durch den Bulgaren Georgi Dimitroff vor dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale 1935 geprägt. Die nach ihm benannte These besagte, dass Faschismus "die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" sei. In diesem Sinne seien alle kapitalistischen Systeme potenziell faschistisch. 170 Artikel "Selbstbeschreibung" auf der Internetpräsenz der "Antifaschistischen Linken Jugend" (ALJ), ohne Datum (Aufruf am 23.12.2011). Die ALJ ist die Jugendorganisation der "Antifaschistischen Linken Berlin" (ALB). 120 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 pen zeichnen sich durch ein größeres Personenpotenzial, gefestigte Strukturen, ein hohes Aktionsniveau und vielfältige Kontakte innerhalb der linksextremistischen Szene Berlins und auch darüber hinaus aus. Größere linksextremistische Demonstrationen in der Stadt werden - spektrenübergreifend - im allgemeinen von wenigstens einer dieser Gruppierungen mitorganisiert. ALB und ARAB betreiben gezielte Jugendarbeit und bieten politisch linksorientierten Jugendlichen mit dem vordergründigen Kampf gegen Rechtsextremismus eine Einstiegsmöglichkeit in die Szene. So bildeten die ARAB und die der ALB nahstehende "Antifaschistische Jugend Berlin" (ALJ) gemeinsam mit anderen, überwiegend extremistischen Gruppen einen Jugendblock zum 1. Mai 2011. Im Aufruf heißt es: "Seit Jahren kämpfen wir in unterschiedlichen Bereichen für ein selbstbestimmtes Leben - leisten aktiven Widerstand, malen, sprühen, schreiben und tanzen für einen Umsturz des kapitalistischen Wahnsinns. Und das möchten wir mit dir tun. Dazu gibt es mindestens eintausend Möglichkeiten. Organisier dich in einer Jugendantifagruppe, mit deinen Freund_innen zusammen und/oder komm am 1. Mai zu uns in den Antifa-Jugend-Block und lass es mal wieder richtig knallen." 171 Kiezorientierte Neben ALB, ARAB und NEA in den Stadtteilen Kreuzberg, Fried"Antifa"-Arbeit richshain und Prenzlauer Berg existieren eine Reihe weiterer lokaler "Antifa"-Gruppen, die in weiten Teilen der Stadt ansässig sind, um dort ihren Kiez gegen Rechtsextremisten zu "verteidigen". Diese Kiezorientierung der "Antifa"-Szene Berlins führt zwar zu einer gewissen Fluktuation, also zu regelmäßigen Auflösungen und Neugründungen von Gruppen. Dennoch ist die Szene durch individuelle Kontakte der führenden Einzelpersonen sehr gut miteinander vernetzt und in der Lage, in relativ kurzer Zeit auf rechtsextremistische Übergriffe zu reagieren, für größere Demonstrationen zu mobilisieren, Kampagnen zu planen und teils überregionale sowie szeneübergreifende Bündnisse auf die Beine zu stellen. In 171 Artikel "Aufruf: Wir sind richtig sauer!" auf der Internetpräsenz zum "Revolutionären 1. Mai 2011" mit Datum vom 12.4.2011. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 121 diesen Strukturen besitzen also auch lokale Kleingruppen wichtige Schnittstellenfunktionen. "Antifa"-Gruppen tauschen regelmäßig Informationen über den politischen Gegner aus. Die als "Recherchearbeit" bezeichnete Ausforschung von Akteuren, Strukturen und Strategien des Rechtsextremismus und die anschließende öffentliche Präsentation der Informationen (über das Internet, Plakate oder Zeitschriften) soll zunächst eine Drohkulisse aufbauen. Letztlich können Linkextremisten diese Daten aber auch als Vorbereitung für gewalttätige Übergriffe auf vermeintliche oder tatsächliche Rechtsextremisten dienen. Gewalt zwischen "Links" und "Rechts" Der führende Akteur innerhalb der "Antifa"-Szene ist die "AntifaBündnis "Nazis auf die Pelle rücken" schistische Linke Berlin" (ALB).172 Ihre Sprecher erreichen mit unter dem Pseudonym "Laumeyer" geführten Interviews mediale Präsenz bis in den öffentlich-rechtlichen Rundfunk hinein. Unter Beteiligung der ALB gründete sich im Mai als "Reaktion auf die zuneh- 6 mende Nazigewalt in Berlin" ein gruppenübergreifendes Bündnis unter dem Motto "Nazis auf die Pelle rücken". Konfliktschürend wirkte eine monatelange so genannte "Ausländer raus"-Kampagne von Teilen der rechtsextremistischen Szene Berlins.173 Der Auslöser war dann eine gewalttätig verlaufene Konfrontation mit "Autonomen Nationalisten" bei einer Demonstration am 14. Mai am Mehringdamm in Kreuzberg.174 Das Bündnis kündigte in Internetveröffentlichungen daraufhin gezielte Aktionen gegen "Nazis" an: "In den kommenden Monaten wird es vermehrt Aktionen gegen die Berliner Neonaziszene geben - und zwar dort wo es weh tut - in ihren vermeintlichen 'Homezones'. Denn wir wissen: Nazis haben Namen und Adressen. Wir warten nicht ab bis erneut Angriffe auf Migrant_innen und Linke stattfinden. Wir bleiben aktiv und lassen nicht zu, dass sie ihre Hetze weiter verbreiten können. Für jede Aktion werden wir eine adäquate Antwort finden. Wir werden die antifaschistische Selbsthilfe organisieren - bis die Scheiße aufhört! Berlin ist und bleibt rot!" 175 172 Vgl. S. 231. 173 Vgl. S. 84 f. 174 Vgl. S. 102 ff. 175 Artikel "Nazis auf die Pelle rücken - Antifaschismus praktisch machen" auf der Internetpräsenz des Bündnisses "Nazis auf die Pelle", o. Datum, Aufruf im Mai 2011. 122 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Gewalttätige Übergriffe In der Folge stieg die Frequenz weiterer Links-Rechts-Konfrontatioauf NPD-Mitglieder nen - auch bedingt durch den im Sommer angelaufenen Wahlkampf und die dadurch stärkere öffentliche Präsenz von Rechtsextremisten. Zwischen dem 22. und 25. Juni wurden drei NPD-Mitglieder Opfer offensichtlich gezielt geplanter gewalttätiger Übergriffe. Ein NPD-Verordneter der Bezirksverordnetenversammlung Neukölln wurde in der Nähe seiner Wohnung vom Fahrrad gestoßen, der Kreisvorsitzende der NPD Neukölln beim Verteilen von Wahlflyern im Bezirk niedergeschlagen und der damalige NPD-Landesvorsitzende Berlin auf dem Weg ins Rathaus Treptow attackiert.176 Als Täter beschrieben wurden jeweils vier bis sechs schwarz gekleidete und vermummte Personen, die auf die am Boden liegenden weiter einschlugen und -traten sowie in zwei Fällen Gegenstände der Betroffenen entwendeten. Vertreter des Bündnisses bezichtigten sich indirekt der Taten: "In den letzten Monate fanden bereits vielfältige Aktionen im Rahmen des Bündnis 'Nazis auf die Pelle rücken' gegen den 'NW Berlin' und die NPD statt. Nach zahlreichen erfolgreichen Aktionen und Blockaden gegen die NPD und die Freien Kräfte, erhielten im Juni auch einige NPDMitglieder eine antifaschistische Abreibung." 177 Gewalt, Gegengewalt Nach mehreren Brandanschlägen auf alternative bzw. linke Wohnund Gewalt gegen Dritte projekte sowie auf den Jugendklub "Anton-Schmaus-Haus" in Berlin178 veröffentlichte das Bündnis im Herbst Bilder mit Namen und weiteren biografischen Angaben vermeintlicher Rechtsextremisten im Internet und im öffentlichen Straßenland. Noch vor diesen "Outings" rief das Bündnis im Sommer zu mehreren Demonstrationen sowie zu Aktionen gegen rechtsextremistische Einrichtungen und Versammlungen auf, 176 Vgl. S. 88 f. 177 Artikel "Mobi für Silvio-Meier-Demo auf Hochtouren" auf der Internetpräsenz "indymedia" mit Datum vom 18.11.2011 (Fehler im Original). Mit "NW Berlin" sind Strukturen der rechtsextremistischen "Autonomen Nationalisten" (AN) gemeint, die sich auf ihrer Internetpräsenz als "Nationaler Widerstand Berlin" bezeichnen. 178 Vgl. S. 88 f. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 123 unter anderem gegen ein neu eröffnetes Ladengeschäft in Treptow, zu einer Demonstration vor der NPD-Zentrale in Köpenick und einem Treffort in Lichtenberg. Diese Aktionen mündeten teilweise in erneuten Gewalttaten von teilnehmenden Linksextremisten, jedoch weniger gegen Rechtsextremisten als gegen die bei diesen Anlässen eingesetzten Polizeibeamten. Im antifaschistischen Schulterschluss Zentrale Bedeutung für die autonome "Antifa"-Szene Berlins hat "Antifa heißt Angriff" das jährliche Gedenken zum Todestag von "Silvio Meier".179 Diese Großdemonstration fand am 19. November unter dem Motto "Rise Up! Antifa heisst Angriff!" mit in der Spitze etwa 2 500 Teilnehmern statt. Während der Demonstration griffen gewaltbereite Linksextremisten die eingesetzten Polizeibeamten mit Flaschen, Steinen und Farbbeuteln an. Dabei wurde ein Auto getroffen, dessen Frontscheibe zerbrach. Im Fahrzeug saßen eine Frau und ein Kleinkind, die jedoch unverletzt blieben. Ferner wurde Pyrotechnik 6 abgebrannt sowie ein Knallkörper größerer Art gezündet. Eine vermeintlich der rechten Szene zuzuordnende Person wurde aus dem Aufzug heraus mit Flaschen beworfen und dadurch am Kopf verletzt. In Friedrichshain beschädigten Demonstrationsteilnehmer eine Bankfiliale. Berliner "Antifa"-Gruppen beteiligen sich aber auch an überregi"Aktionskonsens" zwischen Extremisten onalen Demonstrationen und verbünden sich dabei teilweise mit und Nicht-Extremisten zivilgesellschaftlichen Akteuren, wie zum Beispiel beim jährlichen Protest gegen die rechtsextremistischen Großaufmärsche zum Gedenken an die Opfer der alliierten Luftangriffe auf Dresden im Zweiten Weltkrieg. Wie schon im Vorjahr schloss sich das linksextremistisch dominierte 179 Silvio Meier wurde am 21.11.1992 auf dem U-Bahnhof Samariterstraße in Friedrichshain im Zuge einer Auseinandersetzung mit rechtsextremistischen Jugendlichen erstochen. Zwei seiner Begleiter wurden schwer verletzt. Anlass des Streits war die von den Tätern zur Schau getragene Symbolik, unter anderem ein Aufnäher "Ich bin stolz ein Deutscher zu sein". 124 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Bündnis "No pasaran!" dem auch Parteien, Verbände und Gewerkschaften umfassenden Bündnis "Dresden Nazifrei" an. In einem "Aktionskonsens" zwischen autonomen und nicht-extremistischen Gruppen wurden friedliche Blockaden vereinbart, jedoch auch, dass keine Distanzierung gegenüber anderen Aktionsformen erfolgt. "Eine Grundlage der Zusammenarbeit im Bündnis Nazifrei war der gemeinsame 'Aktionskonsens'. Ohne diese Vereinbarung wäre wohl niemals eine so breite, spektrenübergreifende Basis des Widerstands auf die Beine gestellt worden. Sie bot einerseits Transparenz bezüglich der Aktionsform Menschenblockade, zum anderen Schutz vor Distanzierungen von anderen, blockadefernen Aktionen." 180 Großdemonstrationen Rund 12 000 Gegendemonstranten, darunter bis zu 3 500 Linksexgegen Rechtsextremismus tremisten, verhinderten mit Blockaden und Barrikaden schließlich den rechtsextremistischen "Trauermarsch". In einem positiven Resümee hob die ALB die Bedeutung der Vernetzung mit nicht-extremistischen Akteuren hervor. Die persönlichen Erfahrungen vieler Beteiligter, wie wichtig und wirksam eigenes "Handeln gegen Nazis oder auch gegenüber einem scheinbar übermächtigen Staat" sei, gebe Hoffnung für weitere Aktionsfelder: "iNo Pasaran!-Gruppen brachten ihre Kritik am Gedenken auch bei Dresden Nazifrei ein und erreichten damit eine inhaltliche Auseinandersetzung, die über das bloße 'Gegen Nazis'-Verständnis hinaus weist." 181 Berliner "Antifas" Auch an den Protesten anlässlich der jährlichen rechtsextremissorgen für Eklat in Polen tischen Veranstaltungen zum "Nationalen Antikriegstag" Anfang September in Dortmund war die autonome Szene Berlins zahlreich und mit ihren führenden Gruppierungen beteiligt. Unter den etwa 10 000 Gegendemonstranten befanden sich bis zu 1 500 gewalt180 Artikel "ALB: Auswertung Dresden 2011" auf der Internetpräsenz der ALB mit Datum vom 30.3.2011. 181 Ebenda. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 125 bereite Linksextremisten. Wie auch in Dresden versuchten sie, Polizeisperren zu durchbrechen und attackierten Polizeibeamte mit Pfefferspray, Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern. Beim Versuch, diese Strategie auch in das benachbarte Ausland zu tragen, scheiterte man jedoch. Bei einer Großdemonstration zum polnischen Unabhängigkeitstag am 11. November in Warschau wurden an die 100, zu großen Teilen aus Berlin angereiste Autonome frühzeitig festgenommen. Ihr Auftreten sorgte in den polnischen Medien für einen Eklat. Tenor: Von Deutschen benötige man keine Belehrungen in Sachen "Nationalismus". Vom Bestreben, Anschluss zu finden Eine der aktivsten autonomen "Von der Empörung zum Widerstand" - Gruppierungen der Stadt ist die ein weiter Weg "Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin" (ARAB).182 Sie war als originär antifaschistische Grup- 6 pierung an den meisten der eben genannten Aktivitäten teils federführend beteiligt. Über ihren originären Themenschwerpunkt hinaus war sie aber auch intensiv bemüht, linksextremistisches Gedankengut in breite Bevölkerungskreise hineinzutragen. In vielfältigen Kampagnen, Veranstaltungen und Demonstrationen zu unterschiedlichen Protestthemen war die ARAB nach dem Credo "Von der Empörung zum Widerstand" bestrebt, radikalisierend auf die Beteiligten einzuwirken, stieß dabei jedoch auf wenig Widerhall. So versuchte sie, die so genannte "Occupy"-Bewegung für sich zu instrumentalisieren: "Trotzdem haben wir uns in der ersten Bewegungsphase von "Occupy" zwischen Oktober und November 2011 stark bei den Aktionen engagiert und versucht, unsere Inhalte reinzutragen.183 182 Vgl. S. 232. 183 Interview mit einem ARAB-Aktivisten, in: Perspektive. Texte für den revolutionären Aufbauprozess. Nr. 1, Frühjahr 2012, S. 29. 126 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Daher machte sich in den Reihen der ARAB bald Ernüchterung breit: "Die Occupy-Bewegung ist der Ausdruck eines Unbehagens, einer Empörung gegen die bestehenden Verhältnisse. Um diese verknöcherten Verhältnisse aber zum Tanzen zu bringen, sie aufzubrechen und zu überwinden, ist mehr nötig. Es sind keine Revolutionen, die auf den Plätzen stattfinden, nur ein erstes, zartes Aufbegehren [...] "Wirkliche" Demokratie kann nur bedeuten, neue Formen der Selbstbestimmung und Selbstermächtigung auszuprobieren, gegen Hindernisse durchzusetzen und dem parlamentarischen System Schritt für Schritt die Machtgrundlage zu entziehen. Wir brauchen keine 'Appelle' an die Herrschenden, wir können uns nur selbst befreien." 184 "Revolutionärer" Gerade die ARAB hegt den Anspruch, gesellschaftlichen Anschluss Habitus als Problem zu finden, scheitert dabei jedoch vor allem an ihrem "revolutionären" Habitus. Innerhalb der Szene, insbesondere durch ihre Kontakte zur Gruppe "Zusammen Kämpfen" (ZK), ist sie aber ein wichtiges Bindeglied der "Antifa" ins Spektrum der militanten Repressionsgegner. 6.3.2 Gegen "Repression" Ablehnung des staatEs gehört zum Selbstverständnis lichen Gewaltmonopols von Autonomen, dem Staat und dessen Gewaltmonopol die Stirn bieten zu wollen. Seine Repräsentanten, insbesondere aus Polizei und Justiz, nehmen sie als Vertreter eines von ihnen abgelehnten "Repressionsapparates" wahr. Dieser Apparat dient aus ihrer Sicht vorrangig dazu, das herrschende System mit seinen "sozialen Strukturen, die festlegen, was falsch und was richtig ist, was geschützt und was bestraft werden muss"185 in seinem Bestehen zu sichern und sei deshalb zu zerstören: 184 Artikel "Great Crisis Riseup - Von der Empörung zum Widerstand" auf der Internetpräsenz der ARAB mit Datum vom 9.11.2011. 185 Artikel "Hinter verschiedenen vergitterten Fenstern ..." in der Zeitschrift "INTERIM", Nr. 734, vom 16.12.2011, S. 13. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 127 "Gesetze und Regeln, die von einigen wenigen beschlossen werden, denen sich andere wiederum unterwerfen müssen. Diese Logik der Bestrafung und des daraus resultierenden Einsperrens gilt es zu durchbrechen. Doch wir wollen sie nicht nur brechen, sondern all die Umstände, die dieser Logik in die Hände spielen, zerstören." 186 "Denn die Befreiungsperspektive des Kommunismus lässt sich nur über die Zerstörung der ideologischen und repressiven Staatsapparate aufmachen." 187 Das Thema Antirepression hat in der linksextremistischen Szene Thema Anti-Repression gewinnt an Bedeutung Berlins in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Mittlerweile haben sich prägnante Strukturen herausgebildet, wie die Ende 2010 neu entstandene und schnell wachsende Gruppierung "Zusammen Kämpfen" (ZK). Diese wird auf Grund ihrer Aggressivität - auch gegenüber anderen Linksextremisten - und der Mitgliedschaft eines Neonazi-Aussteigers in der Szene teilweise abgelehnt. 6 Ebenso wie die im Zusammenhang mit einer Patronenversendung erwähnten und ähnlich umstrittenen "Revolutionären Aktionszellen" (RAZ)188 verfügen sie über eine organisatorische Schnittstelle zu dem in mehreren Bundesländern aktiven "Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen" (NFG). Daneben ist die wie die RAZ eher kleine und konspirativ agierende Gruppe "Anarchist Black Cross" (ABC)189 in diesem Themenfeld aktiv, die über enge Verbindungen in die Szene der militanten Gentrifizierungsgegner verfügt. Ein wichtiger Eckpfeiler der Antirepressions-Aktivitäten ist die UnUnterstützung in Strafverfahren terstützung vermeintlich "politischer Gefangener". In ihren Mitgliedszeitschriften veröffentlichen das NFG und auch die "Rote Hilfe e.V." (RH)190 Adressen von Inhaftierten, die es politisch und materiell zu unterstützen gilt. Die "Genossen" haben zudem die Möglichkeit, sich in Artikeln zu Wort zu melden. Darüber hinaus bietet die RH unter bestimmten Voraussetzungen auch Angeklag186 Ebenda. 187 Artikel "Kommunique der Revolutionären Aktionszellen (RAZ) - Zelle Georg von Rauch" in der Zeitschrift "radikal. publikation der revolutionären linken.", Nr. 164, Sommer 2011, S. 13. 188 Vgl. S. 235 f. 189 Vgl. S. 237. 190 Vgl. S. 239. 128 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 ten in laufenden Verfahren und nicht-inhaftierten Verurteilten vor allem rechtlichen Beistand und stellt damit eine wichtige Infrastruktur innerhalb der Szene. Solidarität Außerhalb solcher auf Dauer angeunter Vorbehalt legten Strukturen werden Verhafteten und Verurteilten teils eigene, ad hoc gegründete "Soli"-Gruppen gewidmet, die im Internet Kampagnenarbeit betreiben oder zu Demonstrationen aufrufen. 2011 haben sich aus Solidarität mit mutmaßlichen Autobrandstiftern gleich mehrere solcher Gruppen gebildet, die jedoch häufig schnell wieder auseinander fallen, etwa wenn der Verdächtige mit Polizei oder Justiz kooperiert. In einem unter anderem von der RH, ABC und dem NFG gemeinsam unterzeichneten Aufruf heißt es: "Für uns und jede/n emanzipatorischen Linken verbietet sich eine Kooperation mit den Repressionsorganen. Nach wie vor gilt: Anna und Arthur haltens Maul!" 191 Versuch der RadikaliAuch im Themenfeld "Antirepression" susierung im Umfeld von Betroffenen chen Teile der Szene einen breiteren gesellschaftlichen Anschluss. Dabei zielen sie neben den Familien und Freunden von Inhaftierten immer stärker auf das Umfeld von eher unpolitischen Personen, die bei Polizeieinsätzen ums Leben gekommen sind und deren Fälle zum Teil bis heute mediale Aufmerksamkeit erhalten. Speziell für diese Kreise werden Gedenkdemonstrationen organisiert, bei denen häufig gezielt die Auseinandersetzung mit der Polizei gesucht wird, um den gewalttätigen "Repressionsapparat zu entlarven" und die Teilnehmer zu radikalisieren. So heißt es zum Beispiel in einem Redebeitrag bei einer solchen Veranstaltung am 5. März: 191 Artikel "Anna und Arthur halten's Maul" auf der Internetpräsenz "indymedia" mit Datum vom 12.12.2011 (Fehler im Original). Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 129 "[...] und warum werden die Bullen von Gerichten selten belangt? Verunglimpfung der Polizei Die Antwort liegt in diesem Scheißsystem in dem wir leben und das von Sozialarbeiter_innen, Lehrer_innen und Bullen 'Demokratie' und 'Rechtsstaat' genannt wird. Wir nennen es lieber 'Schweinesystem' und 'Kapitalismus' [...] Es reicht deshalb nicht 'Gerechtigkeit' zu fordern, sondern wir müssen die Bullen, den Staat und seine Gewalt grundlegend in Frage zu stellen. Denn die Bullen machen keine Fehler, sie sind der Fehler!" 192 Diese Strategie bleibt nicht ohne Wirkung: Bei einer Versammlung unter dem Motto "Solidarität mit [...] und anderen durch Polizeieinsatz Gestorbenen. Gegen Polizeigewalt" am 21. Juni wurden Polizisten wiederholt als "Mörder" verunglimpft und von Teilnehmern angegriffen. Weitere Aufzüge verliefen nach ähnlichem Muster. "Anleitungen für die militante Aktion" Die klandestin agierenden "Revolutionären Aktionszellen" (RAZ), Klandestine Kleingruppe bekennt sich zu 6 traten erstmals Ende 2009 durch Anschläge mit Gaskartuschen in militanten Aktionen Erscheinung.193 In Name und Selbstdarstellungen versuchen die Mitglieder den Anschein zu erwecken, in verschiedenen Zellen organisiert zu sein. Tatsächlich handelt es sich jedoch um eine kleine Gruppe, die seit ihrem erstmaligen Auftreten fünf Straftaten verübte, davon zwei im Jahr 2011. Im März verschickten die RAZ symbolisch Patronen an den Bundesinnenminister, den Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof und zwei Politikwissenschaftler mit dem thematischen Schwerpunkt Innere Sicherheit.194 Am 27. April verübten sie - ohne Personenschaden - Brandanschläge auf das Gebäude der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung in BerlinMitte und auf das Gebäude des Amtsgerichts Wedding, das zugleich das Zentrale Mahngericht für BerlinBrandenburg ist. 192 Artikel "Redebeitrag No Justice - No Peace: Slieman - wir vergessen dich nicht" auf der Internetpräsenz der ARAB mit Datum vom 1.3.2011 (gehalten am 5.3.2011). 193 Vgl. S. 235 f. 194 Vgl. S. 102 ff. 130 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Militanz als "Legitime Die RAZ veröffentlichen ihre Selbstbezichtigungsschreiben und Form des Widerstands" Positionspapiere ("Kommuniques") vor allem auf der Internetseite und in den Printausgaben der linksextremistischen Zeitschrift "radikal. publikation der revolutionären linken", die von einem Redaktionskollektiv namens "Revolutionäre Linke" (RL) herausgegeben wird.195 Ein Beitrag der RAZ in der Ausgabe 164 dieser Zeitschrift enthält eine modifizierte Bauanleitung zum - erstmals in der "radikal" 162 (2010) veröffentlichten - Brand-/Sprengsatz vom Typ "Gasaki" sowie Anleitungen für einen "Molotow-Cocktail ohne Stofflunte" und zur "Sprengung von Propangasflaschen". Den "Anleitungen für die militante Aktion" - ebenfalls in der Ausgabe 164 - vorangestellt ist ein Textbeitrag, in dem die RAZ ihr Ziel der "Vermittlung und Vermassung von Militanz als einer legitimen Form des Widerstands" hervorhebt. Man stehe einem "hochgerüsteten, angriffslustigen und bis an die Zähne bewaffneten Gegner gegenüber". Ein Fortschritt führe daher nur über die Erkenntnis: "dem Staatsapparat das Gewaltmonopol abzusprechen und konsequent auf den Aufbau einer Gegenmacht hinzuarbeiten. Dazu sind unsere Interventionsmittel [...] legitime Werkzeuge im Sinne revolutionärer Aktion und Gewalt." 196 Die RAZ beziehen sich ideologisch, konzeptionell und strategisch auf die nicht mehr existierenden Personenzusammenschlüsse "Klasse gegen Klasse" (KgK) und "militante gruppe" (mg). Die Auflösungserklärung der mg aus dem Jahr 2009 beinhaltete die Ankündigung, "neu gesammelt und umgruppiert" in anderen Strukturen weiterarbeiten zu wollen.197 195 Vgl. S. 236 196 "Revolutionäre Aktionszellen (RAZ)": "Anleitungen für die militante Aktion" in der Zeitschrift "radikal. publikation der revolutionären linken.", Nr. 164, Sommer 2011, S. 18. 197 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 201 ff. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 131 Am 16. Oktober 2009 verurteilte das Kammergericht Berlin drei Haftstrafen für Mitglieder der Angeklagte wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung "militanten Gruppe" in Tateinheit mit versuchter Brandstiftung und versuchter Zerstö(mg) rung wichtiger Arbeitsmittel zu Freiheitsstrafen von drei Jahren bzw. drei Jahren und sechs Monaten.198 Diese waren 2007 nach dem Versuch, Lastkraftwagen der Bundeswehr in Brand zu setzen, in Brandenburg festgenommen worden. Die gegen das Urteil eingelegte Revision ist vom Bundesgerichtshof im Mai als unbegründet verworfen worden.199 Im Juli haben die Verurteilten ihre Haftstrafen angetreten. Das "Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen" (NFG)200, Rekrutierung von Nachwuchs das über Ableger in Berlin, Hamburg, Magdeburg und Stuttgart im Antirepressions- 6 verfügt, kritisierte dies als "Verurteilung linker Politik" und widspektrum mete den "politischen Gefangenen" eine Ausgabe ihrer Zeitschrift "Gefangenen-Info".201 Eng verbunden mit dem Netzwerk ist die seit Herbst 2010 in Erscheinung tretende Gruppierung "Zusammen Kämpfen!" (ZK)202, deren überregionale Strukturen mit denen des NFG weitgehend übereinstimmen. Die ZK hat sich mit schnellem Mitgliederwachstum und hoher Gewaltbereitschaft203 binnen kurzer Zeit zu einem prägenden Akteur in der anarchistisch geprägten autonomen Szene Berlins entwickelt. Durch zielgruppenorientierte Veranstaltungen versucht sie vor allem ein sehr junges Klientel anzusprechen und eine niedrigschwellige Einstiegsmöglichkeit in die linksextremistische Szene anzubieten. Vor einer Veranstaltung zum 198 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 201. 199 Beschluss des Bundesgerichtshofes (BGH), AZ.: 3 StR 277/10 vom 3.5.2011. 200 Vgl. S. 234 201 Artikel "Drei Genossen sind nun im Knast - Aktuelles zu den Verurteilten im mg-Prozess" in der Zeitschrift "Gefangenen-Info", Ausgabe 363, Juli/August 2011. 202 Vgl. S. 234 f 203 Im letzten Jahr kam es mehrfach zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen ZK-Angehörigen und so genannten "Antideutschen". Dabei handelt es sich um Personen, die der linken und / oder linksextremistischen Szene zuzuordnen sind und im Gegensatz zu "Antiimperialisten" das Existenzrecht des Staates Israel verteidigen. 132 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 "Antikriegstag" am 1. September im Bezirk Spandau führten sie zwei Mobilisierungsveranstaltungen durch - eine davon in einem Jugendzentrum - während derer "gezielt Mobimaterial und Infos an jugendliche SpandauerInnen gebracht werden sollten."204 Im Nachhinein zeigte sich die ZK aber enttäuscht darüber, dass die meisten Jugendlichen nicht am "Antikriegstag" teilgenommen hätten. Unangemeldete Demonstrationen als Provokationsstrategie Den Sicherheitsapparat Linksextremisten versuchen im Rahmen ihrer Antirepressions-Akherausfordern tivitäten immer wieder, den Sicherheitsapparat herauszufordern. 2011 wurden in diesem Sinne zweimal Demonstrationen zwar breit angekündigt und beworben, jedoch nicht versammlungsrechtlich angemeldet. Dennoch sind beide Veranstaltungen ungeachtet möglicher Konsequenzen für die Teilnehmer durchgeführt worden. Damit wollte man erstens die Polizei vorführen und zweitens deutlich machen, dass man die öffentliche Ordnung nicht anerkennt: "Wir werden uns auf keine Kooperation mit den Söldnern des faschistoiden Systems einlassen und haben uns deshalb entschlossen, die Demo nicht anzumelden. Unsere Beweggründe für diese Entscheidung sind zum einen: Wir werden uns nicht, von den Mördern Carlos, durch die Straßen begleiten lassen und zum anderen: Widerstand braucht keinen rechtlichen Rahmen." 205 Im Einzelnen: Am 1. Mai bewegten sich bis zu 750 Menschen gesammelt durch das "MyFest". Sie forderten "Billige Mieten" und "Ein Leben ohne Angst statt Polizeigewalt, Sexismus & Rassismus". Zu der Demonstration war zuvor in der linksextremistischen Szene mit Flyern mobilisiert worden, "ohne unsere Wut und unsere Wünsche vorher beim Staat anzumelden."206 204 Artikel "Antikriegstag 2011 in Spandau" auf der Internetpräsenz "indymedia" mit Datum vom 5.9.2011. 205 Flugblatt "In memory of Carlo Giuliani" aus dem Juni 2011. Carlo Giuliani war ein italienischer Demonstrant. Er verstarb während der Proteste gegen den G8-Gipfel 2001 in Genua (Italien) nach Schüssen eines italienischen Polizisten (Fehler im Original). 206 Flugblatt "Billige Mieten statt steigende Profite!" vom April 2011. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 133 Erneut unangemeldet fand am 16. Juli eine Demonstration zum Taktik der "Carlo-Giuliani"-Demonstration als "Gedenken an den 10. Todestag von Carlo Giuliani" statt. Die AnarVorbild für die Zukunft? cho-Gruppen ZK und ABC bewarben diese Veranstaltung gemeinsam mit den "Antifas" von ALB und ARAB. In der Spitze nahmen bis zu 500 Personen, überwiegend aus diesen beiden Spektren, teil. Während der Demonstration wurden Polizeibeamte mit Steinen, Flaschen und einem Brandsatz angegriffen. In einer Szenezeitschrift meldeten sich anschließend nicht näher bekannte "Gruppen aus der Vorbereitung" zu Wort und wollten die Herangehensweise als angewandte Antirepressionsarbeit verstanden wissen: "Die frontale Konfrontation mit der Staatsgewalt fand auf vielfältige Art und Weise statt, sie war von uns gewollt aber nicht das einzige Ziel [...] Um einen Teilbereich unserer Kämpfe zu dominieren, hier Polizeigewalt, müssen wir auch örtlich ein Territorium besetzen [...] Wir haben an diesem Abend ein Handlungskonzept vorgestellt, mit dem auch andere Gruppen, Schichten und Klassen operieren können. Die 6 Unbesiegbarkeit der hochgerüsteten Aufstandspolizei wurde symbolisch gebrochen." 207 In der Szene wird die Taktik nach der Carlo-Giuliani-Demonstration überwiegend als erfolgreich bewertet. Daher werden Autonome möglicherweise auch in Zukunft wieder versuchen, unangemeldete Aufzüge in Berlin durchzuführen. 6.3.3 Gegen Umstrukturierung Ähnlich wie der "Kampf gegen Faschismus" ist Ziel der Etablierung rechtsfreier Räume der Protest gegen eine städtebauliche Umstrukturierung, die sozialund wohnräumlich gewachsene Strukturen zerstört, auch "Gentrifizierung" genannt,208 per se ein legitimes gesellschaftliches Engagement. Auch die von jugendlichem Rebellentum, alternativem Erscheinungsbild und wirt207 Artikel "Realitätsfern ist es der Konfrontation aus dem Weg zu gehen um verschont zu bleiben" in der Zeitschrift "INTERIM", Nr. 731 vom 26.8.2011, S. 5 ff. 208 Gemeint ist damit in erster Linie die Aufwertung von Stadtteilen durch Baumaßnahmen, die durch steigende Mieten zum Wegzug der ansässigen und teilweise einkommensschwächeren Bevölkerungsgruppen führten können. 134 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 schaftlichen Nöten geprägten Bewohner von Wohnprojekten, die sich gegen eine Verdrängung aus ihren Kiezen wehren, sind keine Angelegenheit des Verfassungsschutzes. Anders ist das jedoch, wenn versucht wird, unter Missachtung der Eigentumsrechte Dritter und mit Gewalt so genannte "autonome Freiräume" zu etablieren, in denen rechtsstaatliche Normen außer Kraft gesetzt werden. "Eine emanzipatorische Übernahme der Stadt wird die Vormachtstellung der kapitalistischen Logik ins Wanken bringen. Denn in unserer Selbstorganisation gibt's kein Profit, keine Fremdausbeutung und keinen Arbeitszwang. Kämpfende Mieter_innen, besetzte Häuser, blockierte Straßen, zerschmetterte Großkonzerne zeigen nicht nur auf das bessere Leben für alle, sie fordern ein Ende der Gesamtscheiße!" 209 Machtdemonstrationen So werden zum Freiraum erklärte Gebiete oder Gebäude gegen im öffentlichen Raum rechtmäßige Räumungen gewaltsam "verteidigt" und noch nach erfolgten Sanierungen immer wieder angegriffen. Nicht selten mündet dies in - zum Teil schweren - Sachbeschädigungen an diesen Objekten oder in - häufig gewalttätig eskalierenden - spontanen Protestaufzügen. Die dabei entstehenden Drohkulissen gegenüber Immobilieninvestoren und Neumietern sowie ihren vermeintlichen "Erfüllungsgehilfen" in Senatsverwaltungen, Polizei und Justiz sind gewollt und zielen auf Machtausübung in Teilen des öffentlichen Raums. Linksextremisten geht es nur vordergründig um einen Protest gegen Umstrukturierung oder ein Engagement für "autonome Freiräume", sondern um die Schaffung rechtsfreier Räume. Subkulturell geprägte Dieser Teil der linksextremistischen Szene Berlins besitzt einen Aktivitäten geringeren Organisationsgrad, dennoch - oder auch gerade deshalb - verfügt dieser über das höchste Mobilisierungspotenzial. Seine Aktivitäten entstehen eher anlassbezogen - meist die bevorstehende Räumung eines Hauses - und haben Kampagnencharakter. Die Teilnahme ist niedrigschwellig und nicht an tiefergehende linksextremistische "Glaubensbekenntnisse" gebunden. Zusam209 Artikel "Aufruf zum Protest gegen den G 8-Gipfel 2011 in Berlin - Mietenexplosion und Vertreibung bekämpfen" auf der Internetpräsenz der WBA mit Datum vom 9.5.2011 (Fehler im Original). Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 135 menschlüsse sind eher temporärer Natur. Eine dauerhafte Zusammenarbeit scheitert meist schon am subkulturellen Habitus der Aktivisten. Das ideologische Band bildet ein relativ diffuser Antikapitalismus, der meist mit martialischen Drohgebärden unterlegt wird, wie er gerade erlebnisorientierte Jugendliche und Jungerwachsene anspricht. "Es geht nicht darum, eine kleine heile Welt aufzubauen, sondern Orte zu schaffen, in denen sich Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse organisiert. Uns ist sehr wohl bewusst, dass Mieterhöhungen, Verdrängung und Räumungen trotz brennender Aktualität nur ein Teil des Problems sind - der kapitalistische Normalzustand. Wir denken dass es richtig ist die konkreten Verhältnisse, die Menschen ausgrenzen und unterdrücken nicht nur zu kritisieren, sondern auch anzugreifen." 210 An den Zitaten wird deutlich, dass nicht nur der Kapitalismus als Mehr als nur 6 Kapitalismuskritik Wirtschaftsordnung abgelehnt wird, sondern die als "herrschenden Verhältnisse" oder "Gesamtscheiße" titulierte freiheitliche demokratische Grundordnung an sich. Nicht nur ein Slogan: "Wir bleiben alle" Ein vergleichsweise beständiger Akteur in diesem Spektrum ist der "Gegenmodell zu den herrschenden seit 2008 bestehende lose Personenzusammenschluss "Wir bleiben Verhältnissen" alle!" (WBA).211 Der Slogan "Wir bleiben alle!" war ursprünglich die Bezeichnung für eine Kampagne gegen Gentrifizierung, die zunächst keine auf Dauer angelegten Strukturen aufwies, sich jedoch durch Vollversammlungen mit bis zu 50 Teilnehmern, der Bildung von Arbeitsgruppen und einer regelmäßig gepflegten Internetpräsenz zunehmend selbst einen organisatorischen Rahmen gab. In einem Eckpunktepapier gibt sie ihre ideologische Ausrichtung zu erkennen, wonach das Ziel "der Erhalt, Ausbau und das Erkämpfen 210 Artikel "EXPECT RESISTANCE Call for Demonstration" auf der Internetpräsenz der WBA mit Datum vom 20.1.2011 (Fehler im Original). 211 Vgl. S. 238. 136 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 neuer selbstorganisierter Räume [...] als Gegenmodell zu den herrschenden Verhältnissen" sei. Es wird zu einem "aktiven Kampf [...] auf allen Ebenen und mit vielfältigen Mittel" aufgerufen. Diese sollen dazu dienen, private Investoren und ihre potenziellen Kunden abzuschrecken und unbehelligt rechtsstaatlicher Normen einen anarchistisch geprägten Lebensstil "frei von Überwachung, Herrschaft, Konformitätsund Konsumdruck" zu pflegen. Dritte werden dazu aufgerufen, eigenständig unter dem WBA-Label aktiv zu werden und es wird dabei ausdrücklich betont, dass es in diesem Zusammenhang "keine öffentliche Distanzierung von Aktionsformen" gebe.212 Der gewalttätige Kampf um Freiräume Gewalttätiger Von hohem Symbolwert für die autonome SzeWiderstand gegen die Räumung der ne ist ein Anfang der 90er Jahre besetztes Haus Liebigstraße 14 in der Liebigstraße 14 in Friedrichshain, das anschließend als alternatives Wohnobjekt legalisiert wurde. 2007 wurden die Mietverträge durch die Eigentümergesellschaft gekündigt. Ein mehrinstanzlicher Rechtsstreit führte zu Räumungsbeschlüssen, die am 2. Februar mit Zwangsmaßnahmen durchgesetzt wurden. Schon im Vorfeld der bereits länger angekündigten Räumung kam es zu einer Reihe von gewalttätigen Protestaktionen, unter anderem auch gegen öffentliche Gebäude. So fand am 29. Januar ein unter dem Titel "Wir bleiben alle" angemeldeter Aufzug mit etwa 2 000 Teilnehmern statt, bei dem Polizisten massiv mit Flaschen und Steinen angegriffen wurden sowie Pyrotechnik gezündet wurde. Am Tag der Räumung selbst, dem 2. Februar, kam es neben einem unangemeldeten Aufzug mit wiederum 1 500 Teilnehmern schließlich stadtweit zu Anschlägen mit Farbe, Steinen, Pfefferspray, Pyrotechnik und Feuer, unter anderem auf das Rathaus Schöneberg, die Senatsverwaltung für Finanzen, die Bundesgeschäftsstelle der Jungen Union, Gebäude, Fahrzeuge und Beamte der Polizei, Sicherungstechnik der Deutschen Bahn, diverse Bankfilialen und Geld212 Artikel "WIR BLEIBEN ALLE!!! Selbstorganisierte Räume erkämpfen und verteidigen" auf der Internetpräsenz der WBA. Ohne Datum, aufgerufen am 23.12.2011. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 137 automaten sowie Geschäfte. Bei den genannten Aktionen wurden freiheitsbeschränkende Maßnahmen im dreistelligen Bereich durchgeführt und über 100 Polizeibeamte verletzt. Davon, dass der Kampf um die Liebigstraße 14 damit noch lange nicht aufgegeben wird, kündigt die folgende Aussage: "Unsere Trauer über die Räumung der Liebig ist groß, aber noch viel mehr spüren wir die Wut, eine Wut auf diese Verhältnisse, die uns keinen Platz zum atmen lässt. Es wird Zeit das wir uns Luft verschaffen... Ihr habt uns die Liebig14 genommen, nun werden wir euch die Ruhe nehmen! Berlin ins Chaos stürzen - kreativ, subversiv, offensiv!".213 Am 30. Mai kam es im Rahmen Vorübergehende Besetzung der eines von der WBA zum "Tag der Schlesischen Straße 25 6 steigenden Mieten" deklarierten Aktionstages erneut zu zahlreichen Strafund Gewalttaten. Am Nachmittag wurde ein leerstehendes Haus in der Schlesischen Straße 25 in Berlin-Kreuzberg besetzt. Nachdem der Eigentümer Strafantrag gestellt hatte, begannen Räumungsmaßnahmen in deren Zuge es zu Rangeleien mit und Flaschenwürfe auf Polizisten kam. An einer anschließenden "Spontan"-Versammlung am Abend nahmen etwa 450 Personen teil. In der darauf folgenden Nacht kam es dann zu Farbund Steinanschlägen auf Gebäude der Polizei in Tempelhof, der Senatsverwaltungen für Wirtschaft und Stadtentwicklung in Schöneberg bzw. Mitte sowie eine Immobilienfirma in Neukölln. Am nächsten Tag wurde im Internet ein Selbstbezichtigungsschreiben veröffentlicht, in dem es unter anderem heißt: 213 Artikel "... und das war erst der Anfang" auf der Internetpräsenz der WBA mit Datum vom 3.2.2011 (Fehler im Original). 138 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 "Anstatt günstiges und gutes Wohnen in Berlin zu schaffen, verscherbelt die Politik unsere Lebensgrundlagen an profitorientierte Investor_innen! [...] Auf so eine Schweinerei kann es von uns nur eine Antwort geben. Wir kämpfen zurück. Ihr habt die Macht, uns gehört die Nacht. Wir bleiben Alle!" 214 Zermürbungsstrategie: Der Ankündigung folgten Taten. Besonders schwerwiegend: Am "Zieh aus" 14. Mai stellte man im Nebengebäude der Liebigstraße 14 fest, dass Wasserleitungen beschädigt und tragende Dachbalken angesägt worden waren. Die Dachkonstruktion musste abgesichert werden, da ein Einsturz nicht auszuschließen war. Nachdem am 3. August Medienberichte über den Neubezug des ehemals besetzten Hauses Liebigstraße 14 auftauchten, wurden diese unverzüglich zum Anlass neuerlicher Aktionen. Betroffen war das Auto eines Neumieters, bei dem unter anderem die Scheibe der Fahrertür eingeschlagen und welches mit dem Schriftzug "Zieh aus" beschmiert wurde. Weiterhin wurden diverse Fensterscheiben am sanierten Haus durch Beschuss mit Metallkugeln durchschlagen. Auch in den darauffolgenden Tagen kam es - wie schon zeitweise zuvor - immer wieder zu Sachbeschädigungen, die offensichtlich einer Zermürbungstaktik folgen. Die genannten Gruppen bilden den "harten Kern" der gewaltbereiten linksextremistischen Szene. Obwohl sie jeweils unterschiedliche Themenschwerpunkte und strategische Ausrichtungen besitzen, sind sie untereinander kooperationsfähig in ihrem gemeinsamen Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung. 214 Artikel "Polizeistelle und Senatsverwaltung für Wirtschaft, Senatsgebäude für Stadtentwicklung und die Immobilienfirma Tarsap mit Farbe und Steine beworfen" auf der Internetpräsenz "directaction" mit Datum vom 31.5.2011 (Fehler im Original). Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 139 6.4 Kurz notiert Der "Revolutionäre 1. Mai" Traditionelles Bindeglied innerhalb der linksBindeglied der Linksextremistischen Szene extremistischen Szene - aber auch darüber hinaus - sind die jährlichen Demonstrationen zum 1. Mai. Im Jahr 2011 zogen unter dem Motto "Heraus zum revolutionären 1. Mai - Für die soziale Revolution weltweit!" bis zu 9 300 Teilnehmer durch die Stadtteile Kreuzberg und Neukölln. Die vergleichsweise hohe Beteiligung lässt sich zum einen durch die thematische Vielfalt in den Aufrufen erklären, wie zum anderen durch den relativen Rückgang gewalttätiger Ausschreitungen im Vorjahr. Auf Seiten der Organisatoren war 2011 der Verstärkter Fokus auf Jugendliche Versuch auffallend, besonders junge Menschen an den Vorbereitungen zu beteiligen. 6 Ein eigens dafür gegründetes Jugendbündnis, unterstützt von ARAB, von der "Antifaschistischen Linken Jugend" (ALJ) und anderen, überwiegend extremistischen Gruppen, sollte dazu dienen, Jugendliche in ihrem Sinne anzupolitisieren und für die Szene zu rekrutieren. In einem Aufruf des Bündnisses unter dem Titel "Wir sind richtig sauer! Heraus zum Tag des Zorns!" heißt es: "Dass Geschichte eine unerwartete Wendung nehmen und der Aufstand von uns Jugendlichen dazu Initialzündung sein kann, haben die Revolten in der arabischen Welt gezeigt [...] Heraus zum Tag des Zorns! [...] Für die soziale Revolution!" 215 Ein - unter Pseudonym auftretender - Vertreter der ARAB, die in das Vorbereitungsbündnis zum 1. Mai eingebunden war, äußerte in einem Interview, dass "die Schwerpunkte, die wir gesetzt haben - vor allem Gentrifizierung und Rassismus bzw. Integrationspolitik" The215 Artikel "Aufruf: Wir sind richtig sauer!" auf der Internetpräsenz zum "Revolutionären 1. Mai 2011" mit Datum vom 12.4.2011. 140 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 men seien, die man in dem "multikulturellen und sozial schwachen Stadtteil Neukölln politisch gut vermitteln" könne. Es solle auch ein "klassenkämpferischer Block" bei der zentralen Gewerkschaftsdemonstration gebildet werden, denn "wenn man politisch agieren möchte, muss man ein Standbein behalten und mit den Kollegen in den Betrieben, die Arbeitskämpfe führen, reden können". Zum Ablauf erklärte er: "Wir sind ein revolutionäres Bündnis und stellen das kapitalistische System infrage. Darüber hinaus sind wir in unseren Bewertungen von Aktionen bzw. Mitteln nicht an das Bürgerliche Gesetzbuch gebunden. Wenn eine Distanzierung von Gewalt versucht wird, dann wird dabei immer vergessen, von wem die Gewalt ausgeht. Wir versuchen, eine politische, laute und große Demonstration durchzuführen. Wir planen keinen Krawall und sehen es natürlich kritisch, dass die bürgerliche Presse mit gezielten Image-Kampagnen versucht, die Gewalt herbeizureden." 216 Rituelle Gewalt Entlang der Aufzugsstrecke wuram 1. Mai den mehrere Bankund Einzelhandelsfilialen, Einsatzfahrzeuge der Polizei sowie ein Polizeigebäude mit Steinen beworfen. Der Anmelder beendete den Aufzug schließlich vorzeitig. Im weiteren Verlauf zog eine größere Ansammlung von Teilnehmern der aufgelösten Veranstaltung bis zum Hermannplatz, wo sie durch die Polizei aufgehalten wurden. Hier kam es zu massiven Steinund Flaschenwürfen auf Einsatzkräfte sowie zum Abbrennen von Pyrotechnik. Nach dem Ende der Demonstration hielten sich bis zu 500 Personen am Kottbusser Tor auf. Aus Kleingruppen heraus kam es vereinzelt zu Tätlichkeiten gegen Polizeibeamte und zu Sachbeschädigungen. In einer "Presseerklärung" begrüßten die Veranstalter die hohe Teilnehmerzahl und verurteilten die "massive Gewalt durch Polizeibeamte".217 216 Artikel "Revolutionär in Neukölln" in der Tageszeitung "Neues Deutschland" vom 27.4.2011. 217 Artikel "Pressemitteilung: Über 15.000 bei Revolutionärer 1. Mai-Demo" auf der Internetpräsenz zum "Revolutionären 1. Mai 2011" mit Datum vom 1.5.2011. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 141 Wahlen zum Abgeordnetenhaus 2011 Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011 ist von den DKP im unteren Promillebereich linksextremistischen Parteien lediglich die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) angetreten. Wie schon in den vorangegangenen Jahren blieben sie mit Ergebnissen im unteren Promillebereich bedeutungslos. Die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) beteiligte sich zuletzt nur bei Bundestagswahlen.218 6.5 Ausblick KfZ-Brände und die Sabotage von Bahnanlagen stellen einen groWenig Szenerückhalt für KFZ-Brände und ßen Schaden für die Betroffenen und eine tiefgreifende BeeinträchBahnanschläge tigung des öffentlichen Lebens dar. Sie erzeugen - da von ihnen breite Bevölkerungskreise betroffen sind - zwangsläufig eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit. In der linksextremistischen Szene stoßen die Täter dabei jedoch nicht auf ungeteilte Zustimmung. Insbesondere die Wahl der Anschlagsziele und -opfer sowie die daraus 6 resultierenden Folgen für die eigene Sache werden als unüberlegt und teilweise kontraproduktiv betrachtet. Sie finden wenig Rückhalt bei den vermeintlich Gleichgesinnten, geschweige denn in der breiten Bevölkerung. Dennoch kann auch für die Zukunft nicht ausgeschlossen werden, dass sich Einzeltäter oder Kleingruppen mit derart medienwirksamen Aktionen exponieren wollen. Im Spektrum der Gentrifizierungs-Gegner ist anlassbezogen, d.h. bei anstehenden Räumungen gerade symbolischer Objekte, immer wieder mit gewalttätigem Widerstand zu rechnen. In diesem eher subkulturell geprägten Milieu finden Autonome ein zwar gering organisiertes, aber zahlenmäßig großes und hoch gewaltbereites Mobilisierungsreservoir. Die Tendenz weiter Teile der autonomen Szene geht allerdings eher dahin, stärker gesellschaftlich anschlussfähig zu werden. Sie versuchen, aufkommende soziale Protestbewegungen wie "Occupy" für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, scheitern dabei jedoch an ihrem "revolutionären" Habitus. Erfolgreicher sind sie in der Zusammenarbeit mit bürgerlichen Kräften beim Widerstand gegen 218 Vgl. S. 229. 142 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 rechtsextremistische Großaufmärsche und bei der Mobilisierung im Umfeld vermeintlich von Polizeigewalt Betroffener. Keine Anzeichen für Zusammenfassend ist festzustellen, dass in Berlin trotz der schwerneuen Linksterrorismus wiegenden Anschläge auf die Infrastruktur der Stadt und dem brutalen Angriff auf einen Polizeiabschnitt derzeit keine Anhaltspunkte für einen neuen "Linksterrorismus" vorliegen. Der quantitative Anstieg der linksextremistischen Gewalt ist vor dem Hintergrund einzelner Ereignisse, insbesondere der Räumung der Liebigstraße 14, erklärbar. Die qualitative Entwicklung, vor allem die Gewalt gegen Rechtsextremisten und Polizeibeamte, wird vom Verfassungsschutz genau beobachtet. Die eigentliche Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung besteht aber darin, dass es der linksextremistischen Szene gelingt, soziale Bewegungen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, indem sie berechtigte politische Anliegen aufnimmt. Bisher ist aber nicht zu erkennen, dass sie zu einem entsprechend grundsätzlichen Strategiewechsel in der Lage ist. Es ist eher zu erwarten, dass sie auf dem Weg der Anwendung von Gewalt zur Erreichung politischer Ziele bleibt. Aktuelle Entwicklungen - Ausländerextremismus 143 7 Extremistische Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 7.1 Personenpotenzial und Straftaten Das Personenpotenzial in diesem Bereich ist im Vergleich zum Vorjahr unverändert. Den kurdischen Linksextremisten, organisiert in der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK), waren für das Jahr 2011 etwa 1 050 Personen (2010: ca. 1 050) zuzurechnen. Sie stellen damit in Berlin nicht nur unverändert die größte, sondern mittlerweile die einzige linksextremistische ausländische Organisation dar, die über ein zahlenmäßig relevantes Personenpotenzial verfügt. Personenpotenzial Ausländerextremisten Berlin Bund 2010 2011 2010 2011 7 Gesamt* 1 600 1 600 24 910 26 410 Linksextremisten, davon 1 300 1 300 17 070 18 570 PKK 1 050 1 050 11 500 13 000 DHKP-C 65 65 650 650 Sonstige 185 185 5 570 5 570 Extreme Nationalisten, davon 300 300 7 840 7 840 ADÜTDF 300 300 7 000 7 000 Sonstige 840 840 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. Von den Straftaten in der Statistik der "Politisch motivierte Ausländerkriminalität" wurden 2011 123 Fälle dem Themenfeld PKK/ Kurdenproblematik zugeordnet, davon 44 Gewaltdelikte.219 Dies bedeutet in der Gesamtstatistik eine Zunahme um 109 Fälle und 219 Vgl. Landeskriminalamt Berlin (LKA): "Lagedarstellung der Politisch motivierten Kriminalität in Berlin für das Jahr 2011". Der vollständige Bericht ist im Internet unter www.berlin.de/sen/inneres/sicherheit/statistiken/index.html eingestellt. 144 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 bei den Gewaltdelikten um 41 Fälle im Vergleich zum Vorjahr. Diese Steigerung lässt sich mit zwei Demonstrationen im Oktober und November und anschließenden Auseinandersetzungen kurdischer und türkischer Jugendlicher erklären. 7.2 "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) 7.2.1 Verbotene PKK-Veranstaltung mündet in Gewaltspirale von PKK-Anhängern und nationalistischen Türken Betätigungsverbot der Die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) unterliegt seit dem 22. NoPKK in Deutschland vember 1993 einem vereinsrechtlichen Betätigungsverbot in Deutschland, das sich auch auf ihre Nachfolgeorganisationen erstreckt.220 Dennoch verfügt die Organisation über ausreichende Strukturen und Anhänger, um Parteidirektiven in Deutschland umzusetzen. Exemplarisch zeigte sich dies in Berlin anlässlich einer für den 26. November geplanten Demonstration unter dem Motto "Demokratie stärken, PKK Verbot aufheben, Freiheit für A. Öcalan und Frieden in Kurdistan". Für die Veranstaltung wurde bundesweit mobilisiert, unter anderem durch die "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V." (YEK-KOM)221 und den so genannten "Volksrat Berlin"222, aber auch durch deutsche linksextremistische Organisationen wie die "Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin" (ARAB) Zusammenarbeit und "Zusammen Kämpfen Berlin" (ZK)223. Das Verwaltungsgericht mit deutschen linksextremistischen Berlin bestätigte am 22. November ein Verbot der Veranstaltung. In Organisationen der Begründung folgt das Gericht der Einschätzung der Versammlungsbehörde, die festgestellt hatte: "Der Schutz von Art. 8 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 GG umfasst nicht den Missbrauch eines für sich legalen Themas zur Ermöglichung verbotener Verhaltensweisen." 224 220 Vgl. S. 240. 221 Vgl. S. 241 f. 222 Vgl. "Volksräte Öcalans": S. 242. 223 Vgl. S. 234 f. 224 Verbotsverfügung vom 22.11.2011. Aktuelle Entwicklungen - Ausländerextremismus 145 Im Urteil heißt es: "Es ist mit einer Versammlung zu rechnen, in deren Verlauf es zu massiven Verstößen gegen das VereinsG[esetz] als Teil der Rechtsordnung kommen dürfte." 225 Das Gericht erwartete vor allem Verstöße in Form von Fahnen mit PKK-Symbolik oder Öcalan-Bildern, selbst wenn diese möglicherweise mit relativierenden Textzeilen versehen würden: "Für objektive Beobachter ergibt sich aus einem einheitlichen FahnenVersammlungsfreiheit ermöglicht nicht meer nämlich nicht eine kritische Auseinandersetzung mit einer gedie Verwendung von sellschaftspolitischen Problematik, sondern vielmehr das Bild einer gePKK-Symbolik schlossen auftretenden Gruppe, die mit Fahnen ihre Zugehörigkeit zu dieser Gruppierung deutlich macht. [...] Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit schützt die Durchführung von Versammlungen, ermög- 7 licht jedoch nicht Rechtsgutverletzungen, die außerhalb von Versammlungen unterbunden werden dürfen." 226 Das Oberverwaltungsgericht Berlin bestätigte das Verbot am 25. November. Die vorliegenden Erkenntnisse rechtfertigten "die Befürchtung, dass der Antragsteller den angemeldeten Aufzug tatsächlich nur durchzuführen beabsichtigt, um für eine hier mit einem vereinsrechtlichen Betätigungsverbot belegte Organisation und deren Unterorganisationen zu werben." 227 Diese Urteile sind von besonderer Bedeutung, da die YEK-KOM in den letzten Jahren immer wieder Veranstaltungen zu "kurdischen" Themen organisiert hatte, bei denen es zur verbotenen Unterstüt225 Urteil des VG Berlin, AZ.: VG 1 L 369.11, S. 6. 226 Ebenda, S. 8 f. 227 Urteil des OVG Berlin, AZ.: OVG 1 S 187.11, S. 9. 146 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 zung der PKK insbesondere durch Parolen, Fahnen und Transparente kam. Die Berliner Gerichtsentscheidungen verhinderten, dass Extremisten Raum für ihre Propaganda geboten wurde. Reaktionen auf das Verbot Allerdings versuchte man das Verbot zu umgehen: Während eine weitere Demonstration als offensichtliche Ersatzveranstaltung ebenfalls verboten wurde, konnte eine Demonstration "Gegen Faschismus und Rassismus - Staat und Nazis Hand in Hand?" stattfinden, da der Charakter einer Ersatzveranstaltung im Vorfeld nicht nachgewiesen werden konnte. Verlauf bestätigt Von den ursprünglich geplanten 10 000 Teilnehmern machten sich Einschätzung als PKK-Veranstaltung am 26. November ca. 2 500 auf den Weg nach Berlin. Bei Vorfeldkontrollen wies die Polizei 37 Busse aus dem Bundesgebiet ab, die zu der verbotenen Demonstration wollten. Letztendlich kamen ca. 2 000 Personen, davon etwa die Hälfte aus dem Bundesgebiet. Da es weitgehend gelang, Fahnen und Transparente mit PKK-Symbolen bereits vor der Demonstration sicherzustellen, bot sich optisch nicht mehr das Bild einer PKK-Veranstaltung. Dennoch wurden zahlreiche PKK-Parolen gerufen, die mit dem angemeldeten Thema nichts zu tun hatten, wie beispielsweise "Es lebe der Führer Apo!"228. Die Stimmung im Demonstrationszug war von Beginn an aggressiv. Türkische Fahnen in Fenstern umliegender Häuser führten zu Steinwürfen von PKK-Anhängern. Die Polizei wurde massiv auch mit Pyrotechnik angegriffen. Die Veranstaltungsleitung versuchte zusammen mit älteren Teilnehmern vergeblich, die Stimmung zu 228 Kurdisch: "Biji serok Apo!" Apo ist der Kurzname des PKK-Führers Abdullah Öcalan. Aktuelle Entwicklungen - Ausländerextremismus 147 beruhigen. Auf Grund der nicht mehr zu beherrschenden Lage erklärte der Anmelder die Demonstration für beendet und kam damit einem möglichen Abbruch durch die Polizei zuvor. Auseinandersetzungen zwischen PKK-Anhängern und nationalistischen Türken Danach kam es zu Zusammenstößen zwiAngriff und Brandanschlag auf Vereine schen jugendlichen PKK-Anhängern und natürkischer Nationalisten tionalistischen türkischen Jugendlichen, die sich im Internet als "Graue Wölfe"229 bezeichneten. Ein Kurde wurde nach der Demonstration von mehreren Türken angegriffen und mit dem Messer verletzt. Daraufhin drangen kurdische Jugendliche in die Vereinsräume des "Türkischen Idealisten Vereins e.V."230 in Kreuzberg ein, verwüsteten die Räume und verletzten vier Personen teilweise schwer. Die Polizei nahm die mutmaßlichen Täter noch vor Ort fest. Zwei Wochen später wurde - möglicherweise in einer erneuten Racheaktion - eine Fensterscheibe des Berliner YEK-KOM-Mitgliedsvereins "Deutsch-Mesopotamisches Bildung Zentrum e.V." in der Friedrichstraße mit einem Stein eingeworfen. 7 Der Versuch, einen Molotowcocktail ins Innere zu werfen, scheiterte jedoch. Am Abend des 3. Januar 2012 folgte ein Brandanschlag mit Molotow-Cocktails gegen das Vereinslokal der "Türkischen Idealisten Gemeinschaft in Berlin e.V." (TÜB)231. Sieben dort anwesende Vereinsmitglieder konnten das in Brand geratene Mobiliar löschen. Alle Personen blieben unverletzt. Am 5. Januar übernahmen "Apoistische Jugendliche" die Verantwortung für den Brandanschlag: Es 229 Gebräuchliche Bezeichnung extrem nationalistischer Türken, die sowohl von diesen selbst als auch von ihren Gegnern verwendet wird und auf eine Abstammungslegende der Turkvölker zurückgeht. 230 Der Verein gehört zur "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e. V." (ADÜTDF), in der das extrem-nationalistische türkische Spektrum hauptsächlich organisiert ist. Vgl. S. 244. 231 Auch die TÜB ist ein Mitgliedsverein der ADÜTDF. 148 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 habe sich um eine Vergeltungsaktion für ein Massaker der türkischen Armee in Sirnak gehandelt.232 Jeder "Angriff in Kurdistan" gegen das eigene Volk werde durch eine Vergeltungsaktion beantwortet.233 Erhebliche Gewalt Die Polizei leitete im Zusammenhang gegen Polizei mit der Demonstration vom November 187 Strafermittlungsverfahren ein. Von den 96 Tatverdächtigen sind nur 35 in Berlin melderechtlich erfasst. 87 Polizisten wurden verletzt, allein 36 durch Pyrotechnik. Der Verlauf zeigt, dass sich der ungelöste Konflikt mit der PKK in der Türkei auf Berlin jederzeit auswirken kann und dass sowohl kurdische als auch türkische Extremisten bereit sind, Gewalt anzuwenden. Zusammenstöße zwiBereits einen Monat zuvor war es anlässlich eines Aufzugs mit schen gewaltbereiten Kurden und Türken dem Thema "Gesundheitszustand von Herrn Öcalan und Freiheit für Öcalan. Dialog für die politische Lösung der kurdischen Frage in Kurdistan" zu Streitigkeiten zwischen gewaltbereiten Kurden und Türken gekommen. Ein Polizeieinsatz verhinderte jedoch weitere Zusammenstöße. Am darauffolgenden Tag verlief eine pro-türkische Veranstaltung "Gedenken an die türkischen Soldaten"234 mit rund 1 600 Teilnehmern störungsfrei. Im Anschluss kam es abermals zu Auseinandersetzungen zwischen jugendlichen Angehörigen der beiden Volksgruppen. Die Polizei nahm sechs Personen fest und verhängte 24 Freiheitsbeschränkungen. 232 Bei einem Luftangriff des türkischen Militärs bei Sirnak an der Grenze zum Irak wurden in der Nacht zum 29. Dezember 35 Zivilisten getötet. Der Angriff galt mutmaßlichen PKK-Rebellen, traf aber Unbeteiligte. 233 Vgl. Internetauftritt der PKK-Jugendorganisation "Komalen Ciwan" (etwa: "Gemeinschaft der Kommunen der demokratischen Jugend Kurdistans") vom 5.1.2012. 234 Vgl. S. 151 f. Aktuelle Entwicklungen - Ausländerextremismus 149 7.2.2 Gerichtsentscheidungen und Exekutivmaßnahmen Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt Berliner Urteil Am 27. Januar hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegen eine Berlinerin entschieden, die im Jahr 2001 eine "Identitätskampagne" der PKK organisiert und koordiniert hatte. Dabei waren in Deutschland mehr als 40 000 Selbsterklärungen über die Zugehörigkeit zur PKK gesammelt und an Gerichte und Behörden, unter anderem an die Berliner Staatsanwaltschaft, übergeben worden. Im Juli 2003 verurteilte das Landgericht Berlin die Frau wegen Zuwiderhandlung gegen das Betätigungsverbot. Begründet wurde dies damit, dass es sich nicht um eine reine Meinungsäußerung gehandelt habe, sondern um eine gezielte Beteiligung an einer von der PKK organisierten europaweiten Kampagne. Die Verurteilte wandte sich schließlich an den EGMR. Dieser bestätigte in seinem Urteil nunmehr, dass 7 die Verurteilung der PKK-Aktivistin keinen Verstoß gegen die Menschenrechte darstelle. "Roj TV": Verbot der Produktion von Beiträgen in Deutschland ist zulässig Am 22. September entschied der EuropäiDeutschland kann Ausstrahlung sche Gerichtshof (EuGH) in der Frage, ob das nicht verhindern in Deutschland verhängte Betätigungsverbot für den Sender "Roj TV", der über Satellit aus Dänemark sendet, rechtmäßig ist. Das Bundesministerium des Inneren hatte das Verbot vom 19. Juni 2008 unter anderem mit Propaganda für die PKK und den bewaffneten Kampf begründet. Der EuGH stellte nun fest, dass Deutschland die Ausstrahlung in Dänemark nicht verhindern könne. Die Betätigung für den Sender in Deutschland - und damit auch die Produktion von Beiträgen - zu verbieten sei jedoch grundsätzlich zulässig. Eine endgültige Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts in der Sache steht noch aus. 150 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung nach SS 129 b StGB In einem vom Generalbundesanwalt am 10. Februar eingeleiteten Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung im Ausland235 erteilte das Bundesministerium für Justiz am 6. September die generelle Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung bereits begangener und künftiger Taten der Europaführung, des Deutschlandverantwortlichen und der jeweiligen Verantwortlichen für die in Deutschland bestehenden Sektoren, Regionen und Gebiete der PKK und ihrer Teilorganisation in Europa, CDK, soweit ein Deutschlandbezug besteht. Exekutivmaßnahmen gegen die PKK in Berlin Durchsuchungen Am 12. Oktober wurden die Wohnräuin Berlin me des zweiten Vorsitzenden des Vereins "Deutsch-Mesopotamische Bildung Zentrum e.V." durchsucht. Ihm wird vorgeworfen, bei zwei Versammlungen am 10. April und 21. Mai die Uniform der PKK-Kampfverbände "Volksverteidigungskräfte" (HPG) getragen zu haben. Am 20. Oktober durchsuchte die Polizei die Vereinsräume des Zentrums. Die Ermittlungen sowie die Auswertung der Asservate sind noch nicht abgeschlossen. 7.2.3 Europaweite Aktionen nach Eskalation in der Türkei Besuchsverbot Wie bereits zuvor war auch in diesem Jahr die Situation des PKKfür Anwälte Öcalans Führers Öcalan Auslöser für ein Aufflammen des gewalttätigen Konflikts in der Türkei. Bei einem Gespräch mit seinen Anwälten hatte Öcalan am 27. Juli erklärt, das Ende seiner Handlungsfähigkeit sei erreicht. Ähnliche Aussagen des PKK-Führers waren bereits in der Vergangenheit Gewaltaktionen der Organisation vorausgegangen und daher als Warnhinweis zu deuten. Die Türkei reagierte entsprechend und verschärfte die Isolationshaft, indem sie die Gespräche mit den Anwälten unterband und Mitte August für vier 235 GBA, AZ.: 2 BJs 8/11-6. Aktuelle Entwicklungen - Ausländerextremismus 151 Anwälte ein einjähriges Besuchsverbot aussprach. Zwar fand am 12. Oktober ein Gespräch zwischen Öcalan und seinem Bruder auf der Gefängnisinsel Imrali statt, den Anwälten werden jedoch seitdem keine Besuche mehr gestattet. Zentral gesteuerte europaweite Aktionen Die Reaktion der PKK entsprach der bei früheren "Rückzügen" Öcalans: Verschiedene Organisationsteile riefen zum "Aufstand" und zu Aktionen - vor allem der Jugendlichen - auf. Die Tatsache, dass es jeweils am gleichen Tag zu Aktionen auf ähnlich geartete Ziele kam, belegt, dass es sich um gesteuerte Aktionen von PKK-Anhängern und nicht um spontane Reaktionen aufgebrachter Kurden in verschiedenen deutschen Städten und Städten in ganz Europa handelt. Die Entscheidung darüber, welche Form die Proteste annehmen, "Besetzungsaktionen" in Berlin scheint ebenfalls zentral getroffen zu werden. So fanden nicht nur in der Türkei, sondern auch europaweit konzertierte und medienwirksame "Besetzungen" statt. In Berlin wurde im Rahmen solcher 7 Aktionen am 14. Oktober das Gebäude der ProSieben/Sat1-Media-AG und am 26. Oktober die CDU-Zentrale kurzzeitig "besetzt". Nach Übergabe von Dossiers verließen die jeweils ca. 20 Personen die Gebäude friedlich. In Straßburg, Köln, Hamburg und Frankfurt a. M. verliefen ähnliche Aktionen nicht störungsfrei und mussten jeweils unter Polizeieinsatz beendet werden. Verstärkte Gewalt in der Türkei Entsprechende Aussagen Öcalans fühAnschläge der "Freiheitsfalken ren meist auch zu einer Zunahme der Kurdistans" Gewalt: Die "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK)236 reagieren mit Anschlägen und die Guerilla mit verstärkten Angriffen. 236 Die TAK sind seit 2004 für zahlreiche terroristische Aktionen in der Türkei verantwortlich. Vgl. S. 242. 152 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Anschlag der TAK Nach einer Ankündigung der TAK vom 21. August ereignete sich am 20. September in Ankara ein Bombenanschlag, bei dem drei Menschen getötet und 34 verletzt wurden. Die TAK bezichtigten sich nicht nur dieses Anschlags, sondern auch zweier weiterer Ende August in Antalya und Eskisehir. Bei dem wohl folgenschwersten Angriff der HPG seit Jahren kamen am 18./19. Oktober im Grenzgebiet der Türkei zum Irak 24 türkische Soldaten ums Leben. Dies führte zu einer weiteren Eskalation. Phasen erhöhter Aktivität fallen oft in den Herbst und korrelieren mit dem Beginn der jährlichen Spendensammlung der PKK. Die Gelder aus Europa dienen der Finanzierung der Organisationsstrukturen, darunter der Guerillaeinheiten. Da die Spender in Europa auf eine Eskalation mit einer höheren Spendenbereitschaft reagieren, entsteht der Eindruck, als richte sich die Intensität der Aktivitäten nach strategischen Interessen. 7.2.4 Strategie der PKK in Deutschland Dass Parteidirektiven befolgt werden, wurde bereits im Verlauf des Jahres bis zum September durch eine bundesweite Kampagne "Die kurdische Identität soll in Deutschland offiziell anerkannt werden" deutlich, die vor allem von den Mitgliedsvereinen der YEK-KOM getragen wurde. Die Kampagne wurde am 9. März in der PKK-nahen Tageszeitung "Yeni Özgür Politika" verkündet und zielte zunächst darauf, die Mitgliederzahlen der Vereine zu erhöhen. Danach folgte eine Unterschriftensammlung, die mit der Übergabe der Unterschriften an den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages am 15. September offiziell endete. An der Initiative waren nicht nur Personen und Organisationen aus dem Umfeld der PKK beteiligt, sondern unter anderem auch Umfeldorganisationen verschiedener türkischer Linksextremisten.237 237 Beim Themenkomplex "Kurden" nahm die Kooperation von Linksextremisten unterschiedlicher Nationalität deutschlandweit zu. Aktuelle Entwicklungen - Ausländerextremismus 153 Eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit begleitete die Aktion im gesamten Verlauf. Bis zum Ende der Kampagne blieb es in Deutschland friedlich, das Aktionsgeschehen beschränkte sich auf legale Mittel. Doppelstrategie der PKK Eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit mit Jährliche zentrale Großveranstaltungen dem Ziel der Sympathiegewinnung und der politischen Einflussnahme in Europa entspricht der "Doppelstrategie" der PKK, indem die Kämpfe im Ursprungsland durch politische Arbeit und Gelder aus Europa unterstützt werden. Eine eher ruhige Phase dient dabei der Konsolidierung. Sie ist zwischen Mai und September strategisch gut platziert, weil in dieser Zeit nicht nur die "Identitätskampagne", sondern auch die jährlichen zentralen Großveranstaltungen - das "Zilan-Frauenfestival" im Juni, das "Mazlum-Dogan-Jugendund Sport-Festival" im Juli sowie das "Internationale Kurdische Kulturfestival" im September - stattfanden.238 Der deutschen Öffentlichkeit wurde das Bild einer Organisation präsentiert, die mit demokratischen Mitteln fried- 7 liche Ziele erreichen will. Propaganda für Guerilla Dass diese Phase taktisch bedingt war, zeigt nicht nur die EntwickFortgesetzte Rekrutierungslung im Herbst, sondern auch die Tatsache, dass während des ganaktivitäten zen Jahres für die Guerillaeinheiten der PKK rekrutiert wurde. In einem Interview fordert der aktuelle Kommandant der HPG, Nurettin Sofi, in der Zeitschrift Sterka Ciwan239: "Die Jugend in Europa ist eine apoistische Jugend, es ist eine Jugend, die die Freiheit und ein ehrenvolles Leben bevorzugt, die das auserwählte, mühelose Leben Europas ablehnt und mit ihrem eigenen Kern verschmilzt, ohne auch nur einen Moment zu verlieren, und die sich in den Bergen Kurdistans den Reihen der Guerilla anschließt. Jeder in 238 Die Veranstaltungen werden nicht nur von überzeugten PKK-Anhängern, sondern oft von ganzen Familien besucht. Sie dienen jedoch der Finanzierung der Gesamtorganisation und beinhalten - z. B. durch eingespielte Reden hoher PKK-Funktionäre - politische Programmpunkte. 239 Monatliche Zeitschrift der "Komalen Ciwan". 154 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Europa lebende junge Kurde ist ein natürliches PKK-Mitglied. Er ist ein apoistischer, opferbereiter Guerillakämpfer. Er ist ein organisierter, entschlossener und mutiger Jugendlicher; ich grüße sie alle respektvoll in meinem Namen, im Namen der HPG-Kommandantur und im Namen der gesamten HPG. Ich erwarte, dass sie ein freies, schönes und heldenhaftes Leben in den Reihen der Guerilla, in den freien Bergen Kurdistans wählen."240 Information über PKK Solange der Ursprungskonflikt in der Türkei nicht gelöst ist, sind wichtig auch in Berlin die Auswirkungen spürbar. Eine Strafverfolgung bei Verstößen gegen das Betätigungsverbot reicht jedoch nicht aus. Es ist genauso wichtig, über die Propagandaaktivitäten, Versuche der politischen Einflussnahme und Lobbyarbeit aufzuklären, mit denen letztendlich die Terrororganisation PKK in Deutschland finanziell und personell unterstützt wird. 7.3 Kurz notiert: Festnahme einer mutmaßlichen Aktivistin der"Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) Aufgrund eines Festnahmeersuchens der Bundesanwaltschaft wurde am 8. Juli die türkische Staatsangehörige Gülaferit Ü. in Griechenland festgenommen und am 21. Oktober nach Deutschland überstellt. Die Beschuldigte wird verdächtigt, seit August 2002 Rädelsführerin der "Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) gewesen zu sein. Als Deutschlandund Europaverantwortliche habe sie vor allem die Aufgabe gehabt, Finanzmittel für die terroristischen Aktivitäten der DHKP-C in der Türkei zu beschaffen. Darüber hinaus sei sie insbesondere für die Beschaffung von gefälschten Ausweispapieren für Schleusungen von DHKP-C-Mitgliedern verantwortlich gewesen. Am 18. April 2012 erhob die Bundesanwaltschaft vor dem Kammergericht Berlin Anklage wegen Mitgliedschaft in der ausländischen terroristischen Vereinigung DHKP-C.241 240 Sterka Ciwan Nr. 94, März 2011, S. 22. 241 Gemäß SS 129 b Abs. 1 i. V. m. SS 129 a Abs. 1 StGB. Aktuelle Entwicklungen - Scientology Organisation 155 8 "Scientology Organisation" (SO) Durch stagnierende Mitgliederund Mitarbeiterzahlen und eine Kein Mitgliederzuwachs anhaltend kritische Öffentlichkeit geriet die Berliner Organisation der Scientology 2011 zunehmend unter Druck. Sie reagierte darauf, indem sie ihre Werbeund Rekrutierungsbemühungen intensivierte. Die Berliner zeigten sich hiervon jedoch unbeeindruckt. Auch mit ihren in Art und Intensität gesteigerten Aktivitäten gelang es Scientology nicht, ihr öffentliches Image aufzubessern und ihre Mitgliederzahlen zu erhöhen. Um das Interesse einer möglichst breiten Öffentlichkeit zu wecken, Infostände führte Scientology weiterhin regelmäßige Infostände und Mahnwachen durch. Dabei zog es die Organisation an belebte und exponierte Stellen der Stadt. Mit Infoständen in Potsdam und erstmals auch Cottbus war die Berliner Scientology-Organisation auch außerhalb der Stadtgrenzen Berlins aktiv. 8 Ein Ziel der Infostände bestand darin, Interessenten zur Teilnahme an so genannten "Tag der offenen Tür"-Veranstaltungen zu bewegen. Unter dem Vorwand, sich ein eigenes Bild von Scientology zu machen, lud die Organisation in ihre Berliner Zentrale ein. Bei den dann vor Ort angebotenen Vorträgen über den Gründer, die Ideologie und die Projekte von Scientology handelte es sich jedoch keineswegs um eine objektive Auseinandersetzung mit Scientology. Bei diesen Veranstaltungen ging es vielmehr ausschließlich darum, die scientologische Ideologie zu verbreiten und neue Mitglieder zu rekrutieren. 156 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Jugend im Fokus der Scientology-Propaganda Seit Jahren verstärkt die Scientology Organisation ihre diversen Internetaktivitäten, um mit jugendaffinen Themen wie Menschenrechtsund Antidrogenkampagnen und professionellen Videoclips diese Zielgruppe über ihr vorwiegend genutztes Informationsmedium direkt zu erreichen. Schulen im Fokus Einen Schwerpunkt der Scientology-Aktivitäten stellte das Thema "Drogenprävention" dar. Neben einer von ihr beworbenen Sonderausstellung zu diesem Thema gerieten dabei erneut vor allem die Berliner Schulen in den Fokus mit Angeboten für Vorträge zum Thema Drogenprävention oder Anti-Drogen-Seminaren. Mit ihrer Initiative "Sag Nein zu Drogen - sag Ja zum Leben" bot sie sich einer öffentlichen Einrichtung als "Kooperationspartner" im Bereich der Drogenprävention an. Tatsächlich zielten diese vermeintlich sozialen und karitativen Initiativen allerdings in erster Linie darauf ab, junge Menschen mit der Weltanschauung von Scientology in Berührung zu bringen. Hilfe bei der Drogenprävention oder -therapie, darauf hatte die staatliche Fachstelle für Drogenprävention im Land Berlin bereits 2007 hingewiesen, boten die Angebote von Scientology hingegen nicht. Ein Dauerthema auf der Agenda von Scientology ist ihr Kampf gegen die Psychiatrie. Auch in diesem Jahr versuchte sie psychiatrische Behandlungsansätze über ihre Tarnorganisation "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen die Menschenrechte" (KVPM) zu diskreditieren und ihre eigene Ideologie als einzig wirksame Form der Lebensberatung darzustellen. Neben ihrer jährlich wiederkehrenden Ausstellung mit dem Titel "Psychiatrie - Tod statt Hilfe" führte sie im Mai parallel zu einem internationalen Psychiaterkongress, der im ICC stattfand, eine Demonstration mit ca. 300 Teilnehmern in der Berliner Innenstadt durch. Aktuelle Entwicklungen - Scientology Organisation 157 Wie die meisten öffentlichen Auftritte von Scientology wurde auch Unbeachtete Demonstration diese Demonstration von der Berliner Öffentlichkeit weitgehend ignoriert. SO-Mitarbeiter unter Druck Einblicke in das Innenleben der Mitarbeiterzahlen rückläufig Berliner Scientology-Organisation gewährte eine im April veröffentlichte interne "Führungsanweisung" der so genannten "Berliner Org" aus dem Jahr 2010.242 Der aggressive Sprachstil und die detaillierten Vorgaben, die Mitarbeitern hinsichtlich der zu verkaufenden Bücher oder zu werbenden Mitglieder hierin gemacht wurden, ließen erahnen, welchem erheblichen Druck die Mitarbeiter und Mitglieder von Scientology ausgesetzt sind. Aus dieser "Führungsanweisung" geht hervor, dass die Mitgliederund Mitarbeiterzahlen der Scientology in Berlin rückläufig sind. Daran konnte auch eine 2011 von Scientology initiierte Kampagne mit dem Titel "Wahre Helden gesucht", mit der gezielt um neue Mitarbeiter geworben wurde, nichts ändern. Mit verschiedenen Aufklärungsund Beratungsmaßnahmen arbeiten staatliche und 8 private Stellen daran, dass die Aktivitäten von Scientology auch zukünftig kritisch begleitet werden. So hat die Senatsverwaltung für Inneres und Sport gemeinsam mit der bei der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft ansässigen Sektenleitstelle243 die Broschüre "Scientology - eine kritische Bestandsaufnahme" aktualisiert und neu aufgelegt.244 Die Sektenleitstelle veröffentlichte zudem den Flyer "Scientology inkognito", der über 242 "Wir müssen viel, viel mehr werben", Scientology-Organisation, Berlin 2010. 243 Die Sektenleitstelle bietet auch Hilfe und Unterstützung bei persönlichen Konfliktlagen im Zusammenhang mit der Scientology Organisation. Vgl. www.berlin.de/familie/sekten-psychogruppen. 244 Aktualisierter Nachdruck der vom Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg herausgegebenen Broschüre "Scientology Organisation". Berlin 2011. 158 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Unterorganisationen und Kampagnen der Scientology Organisation informiert. Scientology in Frankreich wegen Betruges verurteilt Urteil in Frankreich Bereits 2009 wurden zwei französische Ableger der Scientology Organisation und deren Führungsmitglieder von einem Pariser Strafgericht zu hohen Geldund Bewährungsstrafen verurteilt.245 In dem hierüber anhängigen Berufungsverfahren wurden das erstinstanzliche Urteil im Februar 2012 bestätigt und die SO wegen bandenmäßigen Betruges zu einer Geldstrafe von 600 000 Euro verurteilt. Das Berufungsgericht sah es als erwiesen an, dass die "Association spirituelle de l'Eglise des Scientology Celebrity Center" (Ases-CC) und die "Scientologie Espace Liberte" (SEL) SO-Anhänger in den 90er Jahren systematisch psychisch unter Druck gesetzt hatte, um sich an Ihnen zu bereichern. Neben den beiden SO-Organisationen wurden auch fünf Scientologen zu Geldoder Bewährungsstrafen verurteilt. 245 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 126. Aktuelle Entwicklungen - Spionageabwehr 159 9 Spionageabwehr Die Aufklärungsaktivitäten der Nachrichtendienste fremder StaaUnveränderte Aktivitäten ten in der Bundesrepublik Deutschland setzen sich in unveränderfremder Dienste tem Maß fort. Eine Vielzahl von Staaten versucht sich mit Hilfe ihrer Nachrichtendienste Interessenvorteile im politischen, militärischen und wirtschaftlichen Bereich zu verschaffen. Darüber hinaus hat für einige Nachrichtendienste die Ausforschung von in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Oppositionellen und Dissidenten ihrer Heimatländer Priorität. Am 7. Februar 2012 wurden in Berlin ein 47jähriger mit deutscher Festnahmen wegen Ausforschung und libanesischer Staatsangehörigkeit und ein 34jähriger Syrer oppositioneller Syrer festgenommen. Sie sollen seit Jahren mit sechs weiteren Tatverdächtigen für einen syrischen Nachrichtendienst planmäßig syrische Oppositionelle in Deutschland ausgeforscht zu haben. Ein weiterer Fall wurde am 15. Februar 2012 bekannt, als in BerFestnahme wegen Ausforschung oppositiolin ein 56jähriger Mann mit marokkanischer und deutscher Staatsneller Marokkaner angehörigkeit festgenommen wurde. Er soll Informationen über in Deutschland lebende Marokkaner gesammelt und an den marokkanischen Geheimdienst weitergegeben haben. Neben seiner Woh- 9 nung wurden auch Räumlichkeiten eines Vereins und die Wohnund Geschäftsräume zweier weiterer Beschuldigter durchsucht. Mit den weiteren Ermittlungen wurde das Landeskriminalamt Berlin beauftragt. Fremde Nachrichtendienste agieren unter dem schützenden DiploBerlin als Entscheidungszentrum matenstatus der Botschaften in Berlin. Hier ist die Präsenz fremder Nachrichtendienste besonders hoch, da es bundespolitisches Entscheidungszentrum mit vielen politikberatenden Einrichtungen, Interessenverbänden und entsprechenden Veranstaltungen ist. 160 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Spionage Am 18. Oktober wurde in Baden-Württemberg und Hessen ein Ehepaar wegen des dringenden Tatverdachtes der geheimdienstlichen Agententätigkeit (SS 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB) in Tateinheit mit mittelbarer Falschbeurkundung (SS 271 Abs. 1 und 2 StGB) festgenommen. Sie sollen seit längerer Zeit in Deutschland für einen fremden Nachrichtendienst tätig gewesen sein. Gegen beide Beschuldigte wurde Haftbefehl erlassen und Vollzug der Untersuchungshaft angeordnet. Die weiteren Ermittlungen des Bundeskriminalamtes dauern an. Wirtschaftsspionage Die in Deutschland ansässigen Unternehmen und Forschungseinrichtungen sind bevorzugte Zielobjekte von Ländern, die Wirtschaftsspionage246 und Proliferation247 betreiben. Für die deutsche Wirtschaft stellen Wirtschaftsspionage und Konkurrenzausspähung einen Deliktbereich mit hohem Gefährdungspotenzial dar. Der durch ungewollten Informationsfluss eintretende Schaden dürfte in Deutschland pro Jahr in Milliardenhöhe liegen248. Proliferation Im Phänomenbereich Proliferation bemühen sich insbesondere Krisenländer249, in den Besitz von atomaren, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen, der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte und Vorprodukte oder des für die Herstellung erforderlichen Wissens zu gelangen. Besonders problematisch ist dabei, dass die Wissenschaft und die gewerbliche Wirtschaft die wahren Absichten ihrer "Partner" aus proliferationsrelevanten Ländern häufig nicht erkennen können. Kontakt zum Die Spionageabwehr ist bei ihrer Arbeit auch auf Hinweise aus der Verfassungsschutz Öffentlichkeit angewiesen. Diesen Hinweisen geht sie vertraulich 246 Wirtschaftsspionage ist die staatlich gelenkte oder unterstützte, von fremden Nachrichtendiensten ausgehende Ausforschung von Wirtschaftsunternehmen. Sie ist abzugrenzen vom Begriff der Konkurrenzausspähung / Industriespionage, die ein konkurrierendes Unternehmen gegen ein anderes betreibt. 247 Unter Proliferation wird die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte einschließlich des dafür erforderlichen Wissens sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen verstanden. 248 Vgl. u. a. Universität Lüneburg: Fallund Schadensanalyse bezüglich Knowhow- / Informationsverlusten in Baden-Württemberg ab 1995. Studie im Auftrag des Sicherheitsforums Baden-Württemberg, www.sicherheitsforum-bw.de. 249 Krisenländer sind in diesem Fall Länder, von denen zu befürchten ist, dass von dort aus ABC-Waffen eingesetzt werden oder ihr Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele angedroht wird. Aktuelle Entwicklungen - Spionageabwehr 161 und diskret nach. Im Falle einer bereits vorhandenen nachrichtendienstlichen Verstrickung kann die Spionageabwehr Hilfe anbieten, sich aus ihr zu lösen. Für weitere Informationen und die Sensibilisierung zu Fragen der Wirtschaftsspionage und Proliferation steht der Berliner Verfassungsschutz jederzeit zur Verfügung. Kontaktadressen und Telefonnummern des Berliner Verfassungsschutzes, darunter auch ein "Vertrauliches Telefon", finden Sie am auf Seite 260 dieses Verfassungsschutzberichts. 9 162 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 10 Geheimund Sabotageschutz Der Schutz von Informationen, deren Kenntnisnahme durch Unbefugte den Bestand oder lebenswichtige Interessen, die Sicherheit und die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden kann, ist unverzichtbar. Die Verfassungsschutzbehörde wirkt auf Antrag der zuständigen öffentlichen Stelle daran mit, durch personelle, technische und organisatorische Vorkehrungen Ausforschungen durch Unbefugte in sicherheitsempfindlichen Bereichen zu verhindern.250 Ferner sind sicherheitsempfindliche Stellen bei lebensund verteidigungswichtigen öffentlichen Einrichtungen zu schützen, deren Ausfall oder Zerstörung eine erhebliche Bedrohung für die Gesundheit und das Leben zahlreicher Menschen verursachen könnte oder die für das Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbar sind. Die Senatsverwaltung für Inneres und Sport hat die Einrichtungen durch Rechtsverordnung festgelegt.251 Dazu zählen u.a. die Behörden zum Schutz der inneren Sicherheit und die Lagezentren und Leitstellen von Polizei und Feuerwehr. SicherheitsDie Verfassungsschutzbehörde überprüft bei öffentlichen Stellen überprüfungen und Wirtschaftsunternehmen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (so genannte Sicherheitsüberprüfungen) und trifft selbst oder veranlasst Maßnahmen zum materiellen Geheimschutz. Zum Zweck des so genannten personellen Sabotageschutzes sind Sicherheitsüberprüfungen gesetzlich vorgesehen. 250 SS 5 Abs. 3 Nr. 1 u. Nr. 3 VSG Bln, Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz (BSÜG) vom 2.3.1998 (GVBl. S. 26) in der Fassung vom 25.6.2001 (GVBl. S. 243), zuletzt geändert durch Art. XV des Gesetzes vom 17.12.2003 (GVBl. S. 617). 251 Verordnung zur Festlegung der Arten lebenswichtiger Einrichtungen im Land Berlin vom 2.9.2003 (GVBl. S. 316). Aktuelle Entwicklungen - Geheimund Sabotageschutz 163 11 Personeller und materieller Geheimschutz im öffentlichen Bereich Der personelle Geheimschutz soll den Schutz von im öffentlichen Personeller Geheimschutz Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen (so genannten Verschlusssachen) gewährleisten. Verschlusssachen sind je nach dem Schutz, dessen sie bedürfen, nach SS 6 des Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetzes (BSÜG) in folgende Geheimhaltungsgrade einzustufen: 1. Streng Geheim Verschlusssachen 2. Geheim 3. VS-Vertraulich 4. VS-Nur für den Dienstgebrauch Um Sicherheitsrisiken auszuschließen, werden Personen, denen Sicherheitsüberprüfungsgesetz Verschlusssachen mit dem Geheimhaltungsgrad VS-Vertraulich und höher anvertraut werden sollen, vorher einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen. Alle Details zur Definition eines Sicherheitsrisikos, zum Verfahren und zu den Folgen für den Betroffenen sind im BSÜG geregelt. Dabei berücksichtigt das BSÜG die Mindestanforderungen an Sicherheitsüberprüfungen, zu denen sich die Bundesrepublik Deutschland gegenüber ausländischen Staaten und als Mitglied zwischenstaatlicher Einrichtungen (z.B. NATO, WEU, EU) vertraglich verpflichtet hat, damit die Sicherheitsmaßnahmen einen möglichst einheitlichen Standard haben. Im BSÜG wird kein Zwang zur Sicherheitsüberprüfung festgelegt. Überprüfung freiwillig 11 Dieser Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht252 wird nur mit Zustimmung der Betroffenen durchgeführt. Auch beim Ehegatten oder Lebenspartner, der bei bestimmten Über252 BVerfGE 65, 1. 164 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 prüfungsarten in die Sicherheitsüberprüfung einbezogen wird, ist die Zustimmung Voraussetzung. Sicherheitsrisiko Der Umfang der Sicherheitsüberprüfung richtet sich nach der Höhe des Geheimhaltungsgrades von Informationen, zu denen der Betroffene Zugang erhalten soll oder sich verschaffen kann. Ein Sicherheitsrisiko besteht nach SS 7 Abs. 2 BSÜG, wenn tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die Zweifel am Bekenntnis des Betroffenen zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder an seiner Zuverlässigkeit begründen. Ein weiterer Aspekt ist die Besorgnis der Erpressbarkeit und damit die Anwerbungsmöglichkeit für eine gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete nachrichtendienstliche Tätigkeit. Die Verfassungsschutzbehörde wird nicht von sich aus tätig, sondern nur auf Antrag des Geheimschutzbeauftragten der Behörde, bei der die zu überprüfende Person beschäftigt ist (so genannte zuständige Stelle). Im Jahr 2011 führte der Berliner Verfassungsschutz 445 Überprüfungen durch (2010: 290). Materieller Der personelle Geheimschutz wird durch den materiellen GeheimGeheimschutz schutz ergänzt, der technische und organisatorische Maßnahmen gegen die unbefugte Kenntnisnahme von Verschlusssachen umfasst. Der Verfassungsschutz berät die öffentlichen Stellen des Landes Berlin: Er informiert über Verschlusssysteme wie den Einbau von Sicherheitstüren und die Installierung von Alarmsystemen, er berät über die Datensicherheit bei der Bearbeitung von Verschlusssachen in Datenverarbeitungssystemen und begleitet die Planung und Durchführung der Maßnahmen. Kenntnis nur, Zum materiellen Geheimschutz gehört auch die Information über wenn nötig! die Vorgaben der Verschlusssachenanweisung für das Land Berlin vom 1. Dezember 1992, welche die Bearbeitung, Verwahrung und Verwaltung von Verschlusssachen regelt, und die Kontrolle der Einhaltung dieser Anweisung. Diese Aufgabe obliegt den Geheimschutzbeauftragten, die in jeder Behörde, die Verschlusssachen bearbeitet und verwaltet, eingesetzt sind. Aktuelle Entwicklungen - Geheimschutz 165 Der wichtigste Grundsatz der Verschlusssachenanweisung lautet: "Kenntnis nur, wenn nötig!" Nur die Personen, die mit einer bestimmten Verschlusssache befasst sind, sollen Kenntnis erlangen. Geheimschutz in der Wirtschaft Wirtschaftsunternehmen, die geheimschutzbedürftige Aufträge Sicherheitsstandards schaffen von Bundesund Landesbehörden ausführen, müssen vor Ausspähung fremder Nachrichtendienste geschützt und deshalb in das Geheimschutzverfahren von Bund und Ländern aufgenommen werden. Es sollen Sicherheitsstandards geschaffen und eingehalten werden, um zu verhindern, dass Unbefugte Kenntnis von den im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen (Verschlusssachen) erhalten. Ein Unternehmen kann die Aufnahme in die GeheimschutzGeheimschutzbetreuung betreuung grundsätzlich nicht für sich selbst beantragen. Lediglich Unternehmen, die sich an NATO-Infrastruktur-Ausschreibungen beteiligen wollen, sind zur Antragstellung in eigener Sache befugt.253 Voraussetzung für die Aufnahme eines Unternehmens in das Geheimschutzverfahren des Bundes ist die öffentliche Ausschreibung eines Auftrags mit Verschlusssachen im Bundesausschreibungsblatt. Öffentliche Auftraggeber können z.B. der Bundesminister für Verteidigung oder das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung sein. Bei derartigen Verschlusssachen-Aufträgen beantragt der Auftraggeber die Aufnahme des Unternehmens in das amtliche Geheimschutzverfahren beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie. Die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung führt die Geheimschutzverfahren für die Berliner Firmen durch, wenn diese einen Verschlusssachen-Auftrag von einer Landesbehörde erhalten haben. Berliner Behörden schreiben geheimschutzbedürftige Aufträge im Ausschreibung im Amtsblatt Amtsblatt für Berlin aus. Wesentlich für die Ausschreibung bei vertraulichen Staatsaufträgen ist die Formulierung: 11 253 Zuständig hierfür ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) mit Sitz in Eschborn. 166 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 "Es können sich geeignete Unternehmen bewerben, die bereits dem Geheimschutz in der Wirtschaft unterliegen, bzw. die sich dem Geheimschutzverfahren in der Wirtschaft unterziehen wollen." Aufgaben des SicherVor Auftragserteilung sind mindestens ein gesetzlicher Vertreter heitsbevollmächtigten des Unternehmens, ein Sicherheitsbevollmächtigter und auch die Mitarbeiter, die von staatlicher Seite aus mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betraut werden sollen, einer freiwilligen Sicherheitsüberprüfung nach den Bestimmungen des BSÜG zu unterziehen. Mitwirkende Behörde bei der Sicherheitsüberprüfung ist nach SS 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 des VSG Bln die Verfassungsschutzbehörde. 2011 wurden 35 Sicherheitsüberprüfungen für Angehörige Berliner Unternehmen durchgeführt (2010: 124). Eine weitere grundlegende Voraussetzung für die Aufnahme in den amtlichen Geheimschutz bei Landesaufträgen ist der Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags zwischen der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung und der Unternehmensleitung. Dies bedeutet die rechtsverbindliche Anerkennung der Bestimmungen der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie herausgegebenen Sicherheitsanleitung "Handbuch für den Geheimschutz in der Wirtschaft" (GHB). Der Sicherheitsbevollmächtigte des Unternehmens ist in Angelegenheiten des Geheimschutzes für die ordnungsgemäße Durchführung der Sicherheitsüberprüfungen verantwortlich. Nach SS 28 Abs. 4 BSÜG wird der Sicherheitsbevollmächtigte für den personellen Geheimschutz von der Verfassungsschutzbehörde in seine Aufgaben eingeführt. Nach Überprüfung der erforderlichen Geheimschutzmaßnahmen erteilt die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Forschung dem staatlichen Auftraggeber und dem Unternehmen einen Sicherheitsbescheid. Die Firma kann nunmehr an geheimhaltungsbedürftigen Auftragsverhandlungen beteiligt werden. Fast alle Berliner Unternehmen, die von staatlichen Auftraggebern einen Verschlusssachen-Auftrag erhalten haben, bearbeiten keine Verschlusssachen. Sie sind vielmehr mit Lieferungen und Leistungen beauftragt worden, bei denen sie Zugang zu Verschlusssachen Aktuelle Entwicklungen - Geheimschutz 167 haben bzw. sich verschaffen können, die VS-Vertraulich und höher eingestuft sind. Dazu zählen Montageund Wartungsarbeiten sowie Instandsetzungen in sicherheitsempfindlichen Bereichen. Im Jahr 2011 wurden mit den Sicherheitsbevollmächtigten und VerAufklärungsund Sensibilisierungstretern von Unternehmen 14 Aufklärungsund Sensibilisierungsgespräche gespräche geführt. Zentrales Thema bei den Informationsgesprächen mit WirtUnterstützung der geheimschutzbetreuten schaftsunternehmen ist das Verhalten auf Auslandsreisen, insbeUnternehmen sondere Reisen in Staaten, die vom Bundesministerium des Innern im Sinne von SS 13 Abs. 1 Nr. 17 Bundessicherheitsüberprüfungsgesetz (SÜG) in die so genannte Staatenliste aufgenommen worden sind. Ansprachen oder Anbahnungsversuche fremder Nachrichtendienste erfolgen hier häufig. Unternehmensmitarbeiter, die eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit ausüben, sind für fremde Nachrichtendienste von besonderem Interesse. Wichtig ist für diese Mitarbeiter, sich über die im Reiseland geltenden Vorschriften zu informieren und sie genau einzuhalten. Handlungen, die in Deutschland erlaubt sind, können im Reiseland strafbar sein. In den Informationsgesprächen werden die Beschaffung von Informationen über das Reiseland, die Vermeidung von Ansatzpunkten für eine Ansprache fremder Nachrichtendienste, das Verhalten gegenüber den Behörden des Reiselandes nachdem eine Person verschuldet oder unverschuldet in Schwierigkeiten geraten ist und das Verhalten nach der Rückkehr aus dem Reiseland erläutert. Um die vertrauensvolle Kooperation der betroffenen Unternehmen mit den Sicherheitsbehörden zu vertiefen, unterstützt der Berliner Verfassungsschutz den Länderarbeitskreis der Sicherheitsbevollmächtigten Berlin-Brandenburg (SIBE-AK BR-BB) durch fachkundige Referenten und die Bereitstellung von Informationsmaterialien bei Seminaren und Tagungen. Dieser Arbeitskreis soll den in sicherheitsempfindlichen Bereichen tätigen Berliner Unternehmen 11 ein Austauschforum bieten. Sabotageschutz Ziel des Sabotageschutzes ist es, die Beschäftigung von Personen, Sicherheitsrisiken bei denen Sicherheitsrisiken vorliegen, an sicherheitsempfindlichen 168 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Stellen von lebenswichtigen öffentlichen Einrichtungen zu verhindern. Auch zu diesem Zweck ist die Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen gesetzlich vorgesehen (SSSS 1 Nr. 2; 2 Nr. 4 BSÜG). Regelungen zum Sabotageschutz sind erforderlich, weil Sabotageakte gegen lebenswichtige Einrichtungen erhebliche Risiken für die Gesundheit oder das Leben zahlreicher Menschen zur Folge haben oder das Funktionieren des Gemeinwesens gefährden können. In der Verordnung vom 2. September 2003 wurden die Arten der lebenswichtigen Einrichtungen für das Land Berlin festgelegt.254 Mitwirkung bei Einbürgerungsverfahren und sonstigen gesetzlich vorgeschriebenen Überprüfungen Einbürgerungen: Der Verfassungsschutz wirkt nach SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG Bln bei Ausschließungsgründe Überprüfungen in Einbürgerungsverfahren mit. Auf Antrag der Einbürgerungsbehörde wird geprüft, ob über Personen, die einen Antrag auf Einbürgerung gestellt haben, Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörden der Länder oder des Bundes vorliegen. Seit dem 1. Januar 2000 ist eine Einbürgerung für Personen zwingend ausgeschlossen,255 welche * die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden, * sich bei der Verfolgung politischer Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligen, * öffentlich zur Gewaltanwendung aufrufen, * mit Gewaltanwendung drohen. Eine Einbürgerung kann versagt werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass der Einbürgerungsbewerber verfassungsfeindliche Bestrebungen unterstützt oder verfolgt.256 Im Januar 2001 legte die Senatsverwaltung für Inneres fest, dass bei Einbürgerungsbewerbern aus bestimmten Herkunftsländern 254 Verordnung zur Festlegung der Arten lebenswichtiger Einrichtungen im Land Berlin vom 2.9.2003, GVBl., S. 316. 255 Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG), vom 22.7.1913 i. d. F. des Art. 6 Nr. 9 Gesetz zur Änderung des AufenthaltsG vom 14.3.2005, BGBl. I S. 721. 256 SS 11 Nr. 1 StAG - zuletzt geändert durch Art. 3 G vom 19.8.2007, BGBl. I S. 1970. Aktuelle Entwicklungen - Geheimschutz 169 stets eine Anfrage beim Verfassungsschutz zu erfolgen hat. Unabhängig von der Herkunft ist eine Anfrage auch immer dann zu stellen, wenn Anhaltspunkte für eine extremistische Haltung oder sicherheitsgefährdende Tätigkeiten vorliegen. 2011 wurden 9 389 Anfragen bearbeitet (2010: 7 360). Vergleichbare Sicherheitsanforderungen gelten auch für das AufEinreiseund Aufenthaltsverbote enthaltsrecht von Ausländern. Das 2005 neu gefasste Aufenthaltsgesetz (AufenthaltG)257 sieht vor, dass Personen, die gewaltbereit sind, terroristische Aktivitäten begehen oder unterstützen, keine Visa oder Aufenthaltsgenehmigungen erhalten oder einem Einreiseund Aufenthaltsverbot in Deutschland unterliegen. Zur Versagung der Einreise muss festgestellt werden, dass eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland besteht.258 Aus rechtsstaatlichen Gründen reichen Vermutungen nicht aus. Um terroristischen oder gewaltbereiten Ausländern keinen RuheAusweisungen raum in Deutschland zu gewähren, wurden ferner die Regelausweisungstatbestände erweitert. Im Regelfall wird ausgewiesen, wer nach dem neuen Versagungsgrund nicht hätte einreisen dürfen.259 Zur Feststellung von Versagungsgründen können die Ausländerbehörden den Verfassungsschutzbehörden der Länder und weiteren Sicherheitsbehörden die von ihnen erhobenen Personalien übermitteln. Die angefragten Behörden teilen der Ausländerbehörde unverzüglich mit, ob Versagungsgründe vorliegen.260 2011 gingen 6 512 Anfragen bei der Verfassungsschutzbehörde ein (2010: 7 790). Der Verfassungsschutz wirkt nach SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG auch bei Luftsicherheitsgesetz Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach SS 7 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG)261 mit. Die gemeinsame Luftfahrtbehörde der Länder Berlin und Brandenburg und zugleich gemeinsame Luftsicherheitsbehörde führt danach auch die Zuverlässigkeitsüberprüfungen von 11 257 Aufenthaltsgesetz (AufenthaltsG), BGBl. I S. 1953. 258 SS 5 Abs. 4 AufenthaltsG. 259 SS 55 Abs. 2 AufenthaltsG. 260 SS 73 Abs. 2 u. 3 AufenthaltsG. 261 BGBl. I S. 78 vom 11.1.2005. 170 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Personen durch, die Zutritt zu den nicht allgemein zugänglichen Bereichen des Berliner Flughafens Tegel bzw. des im Land Brandenburg befindlichen Flughafens Schönefeld haben sollen. Hierfür bewertet die Luftsicherheitsbehörde die von der Polizei, aus dem Bundeszentralregister und vom Verfassungsschutz übermittelten Informationen. Über die Verwendung im Bereich der Flughäfen entscheidet die Behörde selbst. Werden im Nachhinein zur Zuverlässigkeitsüberprüfung Informationen bekannt, die für die Beurteilung der Zuverlässigkeitsüberprüfung von Bedeutung sind, sind diese gem. SS 7 Abs. 9 LuftSiG die Luftsicherheitsbehörde mitzuteilen (Nachberichtspflicht). 2011 wurden 1 713 Personen gemäß SS 7 LuftSiG durch den Verfassungsschutz überprüft (2010: 4 100). Atomgesetz Auch das Atomgesetz (AtomG)262 sieht Zuverlässigkeitsüberprüfungen vor, an denen der Verfassungsschutz nach SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG mitwirkt. Da kerntechnische Anlagen im Hinblick auf mögliche unbefugte Handlungen besonders zu schützende Objekte darstellen, sind Sicherungsmaßnahmen auch in Form der Überprüfung von Personen erforderlich, die Zutritt zu den kerntechnischen Anlagen erhalten sollen. In Berlin werden die Personen überprüft, denen der Zutritt zum Forschungsreaktor des Helmholtz-Zentrums Berlin gewährt werden soll. Weitere kerntechnische Anlagen sind nicht vorhanden. Die Überprüfung gemäß SS 12 b AtomG wird von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt als zuständige atomrechtliche Behörde durchgeführt. Für die Prüfung der Zuverlässigkeit werden auch hier Auskünfte von der Polizei, der Verfassungsschutzbehörde und aus dem Bundeszentralregister eingeholt. Die Bewertung der übermittelten Erkenntnisse obliegt der atomrechtlichen Behörde. Nachträglich erlangte Informationen, die für die Zuverlässigkeit des Betroffenen bedeutsam sind, müssen der atomrechtlichen Behörde gem. SS 12 b Abs. 7 Satz 1 AtomG mitgeteilt werden (Nachberichtspflicht). 2011 wurden durch den Verfassungsschutz 158 Personen überprüft (2010: 383). 262 BGBl. I S. 1565 mit letzten Änderungen vom 27.7.2001 (BGBl. I S. 1950). Aktuelle Entwicklungen - Geheimschutz 171 Seit 2005 gibt es gesetzliche Regelungen über die Beteiligung der Waffenund Sprengstoffgesetz Verfassungsschutzbehörden bei Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem Waffengesetz, dem Sprengstoffgesetz und der Bewachungsverordnung. Seit 1. September 2005 sind die Verfassungsschutzbehörden der Länder an der Überprüfung von Personen beteiligt, die gewerbsmäßig mit explosionsgefährlichen Stoffen umgehen oder den Verkehr mit solchen Stoffen betreiben wollen.263 Zuständige Behörde für die Durchführung der Zuverlässigkeitsüberprüfung in Berlin ist das Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheit und technische Sicherheit. 2011 erfolgten 118 Anfragen (2010: 189). Wer gewerbsmäßig Leben und Eigentum fremder Personen beBewachungsverordnung wachen will, bedarf einer Erlaubnis auf der Grundlage der Bewachungsverordnung durch die Gewerbeämter der Berliner Bezirke. In begründeten Einzelfällen können diese gemäß SS 9 Abs. 2 Nr. 2 der Bewachungsverordnung bei der örtlich zuständigen Verfassungsschutzbehörde anfragen, ob Erkenntnisse vorliegen, die für die Beurteilung der persönlichen Zuverlässigkeit der Antragsteller von Bedeutung sind. 2011 gingen keine Anfragen ein. Ebenfalls zu den Mitwirkungsangelegenheiten gehören auf Grund des 7. Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) vom 16. Mai 2007264 seit dem 24. Mai 2007 auch Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem BVFG.265 Die bislang in SS 5 BVFG aufgeführten Gründe, die den Erwerb der Rechtsstellung als Vertriebener ausschließen, wurden erweitert. Diese Erweiterung wurde von der Bundesregierung u.a. damit begründet, dass es bislang keine Regelungen gab, die sicherstellen, dass Schwerkriminelle, gewaltbereite Extremisten und Terroristen nicht auf dem Weg des Verfahrens zur Aufnahme von Spätaussiedlern nach Deutschland kommen können.266 11 263 SSSS 7 u. 8a Abs. 5 Nr. 4 Sprengstoffgesetz (SprengG), BGBl. I S. 3518, zuletzt geändert durch Art. 1 des dritten ÄnderungsG vom 15.6.2005 (BGBl. I S. 1676) Art. 35 des Gesetzes zur Umbenennung des BGS in Bundespolizei vom 21.7.2005 (BGBl. I S. 1818). 264 BGBl. I S. 748. 265 Neufassung des Bundesvertriebenengesetzes vom 10.8.2007; BGBl. I S. 1902. 266 Bundesdrucksache 16/4017 vom 11.1.2007. 172 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Überprüfung von Die Rechtsstellung als Spätaussiedler kann nach SS 5 Nr. 1 e BVFG Spätaussiedlern nach Bundesnicht erwerben, wer nach einer durch tatsächliche Anhaltspunkte vertriebenengesetz gerechtfertigten Schlussfolgerung * einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, oder eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat, * bei der Verfolgung politischer Ziele sich an Gewalttätigkeiten beteiligt oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufgerufen oder mit Gewaltanwendung gedroht hat oder * Bestrebungen verfolgt oder unterstützt oder verfolgt oder unterstützt hat, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet sind, es sei denn, er macht glaubhaft, dass er sich von den früheren Handlungen abgewandt hat. Das Bundesverwaltungsamt, zuständig für das Aufnahmeverfahren von Spätaussiedlern, beteiligt zur Feststellung von Ausschlussgründen neben dem Bundesnachrichtendienst, dem militärischen Abschirmdienst, dem Bundeskriminalamt, dem Zollkriminalamt auch das Bundesamt für Verfassungsschutz, wenn die zu überprüfende Person das 16. Lebensjahr vollendet hat. Das Bundesamt für Verfassungsschutz gleicht die vom Bundesverwaltungsamt übermittelten Daten mit dem "Nachrichtendienstlichen Informationssystem" (NADIS) ab und beteiligt im Falle einer Fundstelle die jeweilige Landesbehörde, wenn sie nachrichtengebende Stelle ist. Aktuelle Entwicklungen - Wirtschaftsschutz 173 12 Wirtschaftsschutz 159 042 Unternehmen267 sind in Berlin ansässig. Informationsund Berliner Wirtschaft Kommunikationstechnologie, Medizintechnik, Biotechnologie, optische Technologien und Verkehrstechnik und kreative Dienstleistungen haben sich als Branchen mit Zukunftsperspektive in Berlin etabliert. Berlin gehört zu den größten und vielfältigsten WissenschaftsregiBerliner Hochschullandschaft onen in Europa. An vier Universitäten, an der Charite-Universitätsmedizin Berlin, sieben Fachhochschulen, vier Kunsthochschulen, 26 privaten Hochschulen sowie über 60 Forschungsstätten studieren, lehren, forschen und arbeiten rund 200 000 Menschen aus aller Welt. Dabei investiert das Land Berlin in den Hochschulbereich jedes Jahr ca. 1,5 Milliarden Euro. Die Erfolge der Unternehmen, Hochschulen und Forschungsstätten sind zum Teil Ergebnis langjähriger Forschung, Entwicklung, kreativer Ideen und des Mutes, ein finanzielles Risiko zu tragen. Der Schutz vor dem ungewollten Abfluss von Know-how und die Sensibilisierung zu diesem Thema ist Aufgabe des Berliner Verfassungsschutzes. Der Bereich Wirtschaftsschutz wurde personell verstärkt, um den Gefahren aufgrund des ständigen Fortschritts in der IT-Technik Rechnung zu tragen und mit einer breiter angelegten Öffentlichkeitsarbeit die notwendige Sensibilität zu schaffen. Wer betreibt Wirtschaftsspionage? Wirtschaftsspionage ist die staatlich gelenkte und unterstützWirtschaftsspionage te, von fremden Nachrichtendiensten ausgehende Ausforschung von Wirtschaftunternehmen und Betrieben. Abzugrenzen hiervon 12 267 Amt für Statistik Berlin und Brandenburg, Unternehmensregister in Berlin und Brandenburg 2009: Stand 30.4.2011. 174 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 ist die rein privatwirtschaftliche Industriespionage, die von einem konkurrierenden Unternehmen betrieben wird. Wirtschaftsspionage zählt neben der politischen und militärischen Ausforschung zu den Aufklärungszielen fremder Nachrichtendienste. Der Schaden, welcher der deutschen Wirtschaft droht, liegt jährlich in Milliardenhöhe268. Bevorzugte Ziele der Wirtschaftsspionage sind forschungsintensive und innovationsstarke Branchen. Besonders betroffen sind die Bereiche Rüstung, Luftund Raumfahrttechnik, Maschinenund Fahrzeugbau, Informationstechnik, Biotechnologie, Energieund Umwelttechnik sowie Optik. Die aktivsten Nachrichtendienste im Bereich der Wirtschaftsspionage waren, wie in den letzten Jahren, die der Volksrepublik China und der Russischen Föderation. VR China Erklärtes Ziel der chinesischen Führung ist, bis zum Jahr 2020 die führende Wirtschaftsmacht zu sein und die USA von ihrem ersten Platz zu verdrängen. Im März verabschiedete der Nationale Volkskongress den zwölften Fünfjahresplan und setzt demnach auf qualitatives Wirtschaftswachstum durch raschen, nachhaltigen Strukturwandel, den Ausbau des tertiären Sektors269 und umweltfreundlicher Technologie. Eine stabile wirtschaftliche und künftig stärker "nachhaltige" Entwicklung soll zur Sicherung der inneren Stabilität beitragen. Wie erfolgreich die Volksrepublik China bei der Verfolgung ihres Ziels ist zeigt sich daran, dass sich das Bruttoinlandsprodukt Chinas in den vergangenen fünf Jahren nahezu verdoppelt hat. 268 Fall und Schadensanalyse bezüglich Know-how-/ Informationsverlusten in BadenWürttemberg ab 1995, Stand: 10.6.2004, S. 61. 269 Der tertiäre Sektor oder auch Dienstleistungssektor umfasst alle Dienstleistungen, die durch eigenständige Unternehmungen oder auch durch den Staat erbracht werden. Aktuelle Entwicklungen - Wirtschaftsschutz 175 Vergleich der Bruttoinlandsprodukte Rang Land 2007 2008 2009 2010 2011 1 USA 14 061,800 14 369,075 14 119,050 14 657,800 15 227,074 2 VR China 3 494,235 4 519,950 4 990,528 5 878,257 6 515,861 3 Japan 4 377,961 4 879,838 5 032,982 5 458,872 5 821,945 4 Deutschland 3 333,934 3 651,618 3 338,675 3 315,643 3 518,592 5 Frankreich 2 598,758 2 865,219 2 656,407 2 582,527 2 750,708 Auszug: Internationaler Währungsfond, World Economic Outlook Database, April 2011 Aktivitäten im Bereich Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie Russland entfaltete insbesondere der zivile russische Auslandsnachrichtendienst SWR270. Gesetzlich definierte Ziele der Spionage sind die "Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung und des wissenschaftlich-technischen Fortschritts des Landes durch Beschaffung von wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Informationen durch die Organe der Auslandsaufklärung"271. Wie wird vorgegangen? Kein Unternehmen kommt ohne IT-Technik aus. Forschung und Entwicklung, Verwaltung des Unternehmens, Kundenbetreuung und Werbemaßnahmen sind heutzutage ohne IT-Infrastruktur undenkbar. Dadurch steigen die Risiken für die Datensicherheit, gegen die sich die Mehrzahl der Unternehmen nicht ausreichend abgesichert hat.272 Von Bedeutung ist hier der Trend zum "Cloud Computing"273. MittCloud Computing lerweile nutzen 36 Prozent der Unternehmen in Deutschland IT-Lösungen, bei denen die Software und die Daten extern vorgehalten und gespeichert werden. Hier bestehen einige sicherheitsrelevante Aspekte, die den Unternehmen bekannt sein sollten. Die Unternehmen müssen sich davon überzeugen, dass die Datenverarbeitung 270 Russische Bezeichnung: "Slushba Wneschnej Raswedki". 271 Artikel 5 des Gesetzes der Russischen Föderation über die Auslandsaufklärung. 272 Ernst&Young, 2011 Global Information Security Survey. 273 Unter Cloud-Computing versteht man ein "Modell, das es erlaubt bei Bedarf, jederzeit und überall bequem über ein Netz auf einen geteilten Pool von konfigurierbaren Rechnerressourcen (Z. B. Netze, Server, Speichersysteme, Anwendungen 12 und Dienste) zuzugreifen, die schnell und mit minimalen Managementaufwand oder geringer Serviceprovider-Interaktion zur Verfügung gestellt werden.", Definition der US-amerikanischen Standardisierungsstelle NIST. 176 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 nicht in einem Drittland ohne angemessenes Datenschutzniveau (z.B. USA, China, Japan) erfolgt. Das System verteilter Anwendungen führt dazu, dass Unternehmen oft nicht mit Sicherheit feststellen können, auf welchem der weltweit platzierten Server ihre Daten gerade vorgehalten werden. Es besteht die Möglichkeit, dass ein Ausfall des Servers oder der Kommunikationsverbindung zur Cloud zumindest Teile des Unternehmens lahmlegt. Unternehmen sollten sich deshalb darüber informieren, welche Maßnahmen für die vollständige Wiederherstellung von Daten und Anwendungsverfahren vorgesehen sind.274 Hackerangriffe Im Jahr 2011 stieg die Zahl der bekannt gewordenen Hackerangriffe stark an. Die Medien berichteten fast täglich von IT-Angriffen auf Regierungen und Unternehmen. Auch die dem Verfassungsschutz Berlin bekannt gewordenen Sicherheitsvorfälle beschäftigten sich hauptsächlich mit diesem Phänomen. Ausnutzung von Nicht entdeckte und nicht geschlossene Sicherheitslücken in BeSicherheitslücken triebssystemen und Anwendungsprogrammen von Drittanbietern machen das Abschöpfen von Informationen oft sehr leicht. Bei Wirtschaftsunternehmen können Ziel der Wirtschaftsspionage Forschungsund Entwicklungsdaten, Kalkulationsdaten, Informationen über Werbestrategien und Kundendaten sein. Aber auch Sicherheitsbehörden gerieten 2011 in das Visier von Hackern. Die Bundespolizei und der Zoll wurden im Juli durch die Hackergruppe "no-name Crew" angegriffen. Gegenstand der Attacken war ein Server auf dem Ermittlungsdaten des "PATRAS"-Systems275 lagen. Auch große Konzerne und mittelständische Unternehmen, wie der Konzern Sony, die Zertifizierungsstelle DigiNotar oder der Hersteller von Sicherheitsprodukten RSA Security Inc. wurden zum Opfer externer Angreifer. 274 Zu Cloud Computing vgl. auch: Berliner Beauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit: Datenschutz und Informationsfreiheit. Bericht 2008, S. 14 ff. 275 Elektronisches GPS-Fahndungssystem. Aktuelle Entwicklungen - Wirtschaftsschutz 177 Hacker nutzten neben den Schwachstellen von Betriebssystemen Botnetze/ Drive-By-Exploits und Anwendungssoftware auch Botnetze276. Diese trugen nicht zuletzt durch die wachsende "Infektionsgefahr" durch so genannte Drive-By-Exploits277 dazu bei, die Unternehmen zu verunsichern. Auch die Verbreitung von Schadprogrammen und der IdentitätsIdentitätsdiebstahl/ Phishing diebstahl gehörten im Jahr 2011 zu den erkannten und am häufigsten aufgetretenen Angriffsmustern auf Berliner Unternehmen. Zu der hohen Zahl der Angriffe, kommt auch eine neue Qualität zielgerichteter Attacken hinzu.278 Während im Jahr 2011 klassische "Phishing Angriffe" 279 praktisch keine Rolle mehr spielten, ist die Bedrohung durch Identitätsdiebstahl weiterhin hoch.280 Häufig wird versucht, mit einem "vorgeschalteten" so genannte Social Engineering "Social Engineering", die Qualität der E-Mails zu verbessern, um so die Opfer dazu zu verleiten, den verseuchten Dateianhang zu öffnen oder auf den Link zu einer infizierten Seite zu klicken. "Social Engineering" wird in der Regel ohne den Einsatz von technischen Mitteln durchgeführt. Dabei nutzt der Angreifer menschliche Eigenschaften wie Dankbarkeit, Hilfsbereitschaft, Habgier, Autoritätshörigkeit, Geltungssucht, Unsicherheit, Bequemlichkeit oder Liebesbedürftigkeit aus, um an sensible Informationen zu gelangen. Häufig geht dem "Social-Engineering" eine gründliche Hintergrundrecherche voraus. Neben offenen Recherchen beispielsweise 276 Ein Botnetz ist ein Zusammenschluss infizierter PCs, die von einem Angreifer ferngesteuert werden. Er kann auf diese Weise z. B. unbemerkt Spam versenden, Tastatureingaben ausspähen oder Angriffe auf andere Systeme vornehmen, wie Webserver oder ganze Netze. Ist ein PC erst einmal - auf welche Weise auch immer - infiziert, kann ihn ein Angreifer als Teil eines Botnetzes für vielfältige Zwecke missbrauchen. Bundesamt für Sicherheit und Informationstechnik: "Die Lage der IT-Sicherheit in Deutschland 2011". S. 9. 277 Vgl. Drive-By-Exploits bezeichnen die automatisierte Ausnutzung von Sicherheitslücken auf einem PC. Dabei werden beim Betrachten einer Webseite ohne weitere Nutzerinteraktion Schwachstellen im Browser, in Browser-Plugins oder im Betriebssystem ausgenutzt, um Schadsoftware wie Trojanische Pferde unbemerkt auf dem PC zu installieren. Bundesamt für Sicherheit und Informationstechnik: "Die Lage der IT-Sicherheit in Deutschland 2011". S. 8. 278 Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik: "Die Lage der IT-Sicherheit in Deutschland 2011". S. 6. 279 Mit Hilfe gefälschter E-Mails, gefälschter Webseiten und anderer Techniken wird versucht, an Authentisierungsinformationen zu gelangen [...]. Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik: "Die Lage der IT-Sicherheit in Deutschland 12 2011". S. 8. 280 Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik: "Die Lage der IT-Sicherheit in Deutschland 2011". S. 22. 178 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 im Internet nutzen Angreifer auch die Sorglosigkeit beim Umgang mit der Entsorgung von Dokumenten, Datenträgern und sonstigen für die Informationsbeschaffung verwertbaren Materialen. Soziale Medien Beste Voraussetzungen für die Ermittlung von Daten über Angehörige von Unternehmen bieten Soziale Netze. Automatisiert können Personendaten wie Namen, Alter, Geschlecht, Wohnanschrift, Unternehmenszugehörigkeit, persönliche Neigungen erhoben werden, die zudem mit Bildern, Forenund Pinnwandbeiträgen angereichert sind. Diese Informationen können als Ansatzpunkt für eine scheinbar unverfängliche erste Kontaktaufnahme verwendet werden. Selbst Personen, die sich nicht in einem der sozialen Netzwerke anmelden, können als so genanntes "Schattenprofil" geführt werden, wenn andere Personen auf diese verweisen und sie auf Bildern (teilweise mit Gesichtserkennung) einen Namen zugewiesen bekommen. Wichtig ist deshalb die Sensibilisierung der Mitarbeiter hinsichtlich der Risiken, die mit der Veröffentlichung von Informationen in sozialen Netzwerken verbunden sind. Ohne sensibilisierte Mitarbeiter besteht die Gefahr des Know-how-Abflusses, sowohl bei der privaten als auch bei der geschäftlichen Nutzung. Wenn z.B. in einem fachbezogenen IT-Forum wegen einer bestehenden Sicherheitslücke im Unternehmen um Rat gefragt wird und aus dem angelegten Profil deutlich wird, um welches Unternehmen es sich handelt, dann kann das für Wirtschaftsspionage eine sehr nützliche Information sein. "Sicherheitslücke Ein wirksamer Schutz vor Wirtschaftsspionage darf sich nicht nur Mensch" auf die IT-Sicherheit beschränken. Die "Sicherheitslücke Mensch" ist eines der größten Einfallstore in Unternehmen. Die sicherste ITAusstattung ist wertlos, wenn die Mitarbeiter den Informationsschutz im Unternehmen nicht beachten oder sie über bestimmte Gefahren nicht aufgeklärt sind. Praktikanten, studentische Hilfskräfte, Doktoranten, Gastwissenschaftler und Aushilfskräfte ergänzen die feste Belegschaft von Wirtschaftsunternehmen. Obwohl sie zeitlich befristet im Unternehmen tätig sind, erhalten sie oft umfangreiche Benutzerrechte Aktuelle Entwicklungen - Wirtschaftsschutz 179 auf firmeninterne Dateisysteme und einen umfassenden Einblick in die internen Strukturen des Unternehmens. In den meisten Fällen sind sie eine Bereicherung für die Unternehmen. Es kann jedoch dazu kommen, dass sie ausgenutzt werden. Gerade chinesische Nachrichtendienste setzen so genannte "non Professionals" ein, die gezielt sensible Informationen sammeln, da sie gute Zugänge zu deutschen Unternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen haben. Ziel von Wirtschaftsspionage sind auch Branchenveranstaltungen Messen wie Messen, auf denen Wirtschaftsunternehmen ihre Produkte und Dienstleistungen vorstellen, bewerben und verkaufen. Oft werden auch Innovationen vorgestellt, die noch nicht auf dem freien Markt erhältlich sind. Hier können Kontakte zu Herstellern aufgebaut und versucht werden, in Gesprächen sensible Informationen zu erlangen. Im Zeichen der Globalisierung werden immer mehr Absatzmärkte Joint Ventures im Ausland gesucht, kostengünstigere Produktionsstandorte und ausländische Geschäftspartner für den internationalen Vertrieb. In einigen Ländern, wie zum Beispiel in der Volksrepublik China, ist es jedoch nicht erlaubt, hundertprozentige Tochtergesellschaften von ausländischen Unternehmen in bestimmten Branchen zu gründen. Joint Ventures281 mit einheimischen Unternehmen sind oft die einzige Möglichkeit auf dem jeweiligen Markt Fuß zu fassen, was das Risiko eines ungewollten Know-how-Transfers erheblich erhöht. Auch Exporte nach China sind strengen Regularien unterworfen. China Compulsory Certification (CCC) Seit dem 1. August 2003 gilt das Zertifizierungssystem "China Compulsory Certification (CCC)", welches exportierenden Unternehmen vorschreibt, bestimmte Produktgruppen in einem akkreditierten Labor in China überprüfen zu lassen. Im Zuge der Zertifizierung werden Produkttests und Werksbesichtigungen durchgeführt. 281 Joint Ventures sind Tochtergesellschaften von mindestens zwei rechtlich und 12 wirtschaftlich getrennten Unternehmen. Die Gründungsgesellschaften bringen neben Kapital meist wesentliche Ressourcenanteile an Technologie, Schutzrechten und betrieblichen Know-how mit ein. 180 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Wie kann man sich schützen? Den größten Handlungsbedarf sehen die meisten kleinen und mittelständischen Unternehmen in der Verbesserung der firmeninternen IT-Sicherheit, während andere sicherheitsrelevante Themen kaum im Fokus sind. Das Thema Sicherheit umfasst aber viel mehr als die Betrachtung der technischen Infrastrukturen. "Kronjuwelen" Für einen effektiven Schutz vor Wirtschaftsspionage ist zunächst das Know-how zu identifizieren, welches es zu schützen gilt. Das können Forschungs-, Kundenoder Vertriebsdaten und Patente oder Geschmacksmuster sein. Es gilt, diese "Kronjuwelen" zu identifizieren und sicher vor unbefugtem Zugriff zu schützen. Häufig sind dies bei der Fülle von Informationen in einem Unternehmen nicht mehr als fünf Prozent der Daten. Der nächste Schritt ist eine Risikound Schwachstellenanalyse und die Erstellung entsprechender Notfallpläne. In Sicherheitsfragen sollte jedes UnternehNeed-to-know men seine Stärken und Schwächen kennen. Need-to-know282 ist dabei ein wesentliches Prinzip Sicherheitsrisiken zu minimieren. Es ist wichtig, ein Sicherheitsbewusstsein im Unternehmen zu schaffen und zu leben. Schulungen und die Sensibilisierung der Mitarbeiter für die möglichen Gefahren von Know-how-Abfluss ist von großer Bedeutung. Die Sicherheit im Unternehmen sollte immer "Chefsache" sein. Ein Vorgesetzter, der mit gutem Beispiel voran geht, kann die Mitarbeiter von der Notwendigkeit der Sicherheitsmaßnahmen überzeugen. Zusammenarbeit mit anderen Institutionen SicherheitsDie Senatsverwaltung für Inneres und Sport, die Industrieund partnerschaft Handelskammer Berlin und der "Verband für Sicherheit in der Wirtschaft Berlin-Brandenburg" (VSW BB) vereinbarten im November 2010 eine engere Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität und in anderen Bereichen der inneren Sicherheit. Die Zusammenarbeit erfolgt auf der Grundlage der gesetzlichen Befugnisse, Rechte und Pflichten der Sicherheitspartner. Wesentliches Ziel ist der verstärkte Austausch von Informationen 282 Der Grundsatz need-to-know ("Kenntnis nur wenn nötig"), bezieht sich auf den Zugriff auf sensible Informationen. Nur die Personen sollten Kenntnis von den sensiblen Informationen erhalten, die diese zwingend für ihre Arbeit benötigen. Aktuelle Entwicklungen - Wirtschaftsschutz 181 zwischen der Wirtschaft und den Sicherheitsbehörden. Die private Wirtschaft in Berlin soll demnach die Sicherheitsbehörden bei der Wahrnehmung ihrer gesetzlichen Aufgaben unterstützen. Die Sicherheitsbehörden stellen der IHK Berlin, dem VSW BB und, wenn dies sinnvoll erscheint, auch unmittelbar den an dieser Sicherheitspartnerschaft beteiligten Unternehmen auf der Grundlage des geltenden Rechts und unter Beachtung der notwendigen Geheimhaltung relevante Informationen für die Sicherheit in der Wirtschaft zur Verfügung, insbesondere für die IT-Sicherheit, den Schutz vor Wirtschaftsspionage, Proliferation, Markenund Produktpiraterie, Produkterpressung, sonstiger Wirtschaftskriminalität und politischem Extremismus. Außerdem können sie der Wirtschaft bei Bedarf allgemeine Lagebilder, Gefährdungsanalysen und zielgruppenorientierte Warnmeldungen zur Verfügung stellen. Weitere Felder der Zusammenarbeit sind die gegenseitige UnterBeratungsangebote stützung bei Ausund Fortbildungsveranstaltungen, die gemeinsame Erstellung von Informationsmaterial und regelmäßige oder anlassbezogene Informationsgespräche. Die Verfassungsschutzbehörde Berlin steht nicht nur geheimschutzbetreuten Unternehmen beratend zur Verfügung. Auch Unternehmen, die nicht mit geheimschutzbedürftigen Aufträgen befasst sind, können sich an den Verfassungsschutz wenden, um Beratungsgespräche oder Vorträge zu vereinbaren. Das Angebot für Sensibilisierungsgespräche Sensibilisierungsgespräche wird jedoch häufig nicht angenommen, da sich viele Unternehmen nicht im Fokus ausländischer Nachrichtendienste sehen oder sich ausreichend abgesichert fühlen. Unternehmen, die bereits von staatlicher Wirtschaftsspionage betroffen sind oder einen entsprechenden Verdacht haben, können Kontakt mit der Verfassungsschutzbehörde aufnehmen. Informationen werden mit besonderer Verschwiegenheit und vertraulich behandelt. Der Wirtschaftsschutz Berlin ist Ansprechpartner bei allen Fragen des Know-how-Schutzes vor Wirtschaftsspionage. Die Beratung ist individuell auf die Belange jedes Unternehmens zugeschnitten. 12 182 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Im Rahmen seiner Aufklärungsund Präventionsarbeit haben die Vertreter des Wirtschaftsschutzes an vielen Veranstaltungen mit Sicherheitsthemen, als Referenten teilgenommen. Veranstaltungen Am 7. April wurde zusammen mit der Verfassungsschutzbehörde Brandenburg und der Beuth-Hochschule Berlin der Wirtschaftsschutztag Berlin-Brandenburg durchgeführt, an dem 130 Vertreter mittelständiger Berlinerund Brandenburger Unternehmen teilgenommen haben. Im Mittelpunkt der Veranstaltung standen die Erörterung geeigneter Schutzmaßnahmen für sensible und wettbewerbsrelevante Informationen in Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Acht Referenten informierten über Gefährdungen von Informationsund Kommunikationssystemen sowie über moderne und umfassende Informationsschutzkonzepte. Am 21. und 22. Oktober berieten Vertreter des Wirtschaftsschutzes Berlin und Brandenburg auf der Gründermesse deGUT Unternehmensgründer und Vertreter bereits etablierter Unternehmen zu Möglichkeiten des Know-how-Schutzes. II Hintergrundinformationen 184 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 1 Ideologien 1.1 Definition Extremismus Der Begriff Extremismus bezeichnet kein einheitliches Phänomen, sondern ist eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Bestrebungen, "die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen".283 Die verfassungsmäßige Grenze des politischen Handelns ist in der Bundesrepublik Deutschland eindeutig festgelegt. Anlässlich des Verbots der "Sozialistischen Reichspartei" (SRP) bestimmte das Bundesverfassungsgericht 1952 den Kern des demokratischen Verfassungsstaates, die freiheitliche demokratische Grundordnung. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind zu rechnen: die Achtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, vor allem des Rechtes der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, * die Volkssouveränität, * die Gewaltenteilung, * die Verantwortlichkeit der Regierung, * die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, * die Unabhängigkeit der Gerichte, * das Mehrparteienprinzip, * die Chancengleichheit aller politischen Parteien, * das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.284 283 Uwe Backes / Eckhard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 4. Auflage Bonn 1996, S. 45. 284 Vgl. BVerfGE 2, 1 ff.; BverfGE 5, 85 ff.; SS 6 VSG Bln. Hintergrundinformationen - Ideologien 185 Die Verfassungsschutzbehörden verwenden den Extremismusbegriff seit Anfang der 1970er Jahre in Abgrenzung zu dem Begriff des Radikalismus. Während extremistische Positionen die Grenze der verfassungsmäßigen Ordnung überschreiten, bezeichnet der Radikalismus Auffassungen, die zwar grundlegende systemoppositionelle Positionen vertreten, die sich aber mit ihrer fundamentalen Kritik innerhalb der Grenzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewegen. 1.2 Islamistische Ideologie Islamismus lässt sich als der Versuch politischer Bewegungen des 20. Jahrhunderts definieren, den Islam zu ideologisieren und dort, wo dies möglich ist, eine islamistische Herrschaftsordnung zu errichten oder die Gesellschaft zu islamisieren. Islamisten begreifen den Islam insofern nicht allein als eine Religion, sondern als eine Herrschaftsideologie und als ein Gesellschaftssystem und versuchen, ihre Vorstellungen auf unterschiedliche Weise durchzusetzen. Das zentrale Ideologem des Islamismus ist die Behauptung, dass der Islam nicht allein "Religion und Welt" verkörpere, sondern darüber hinaus eine unteilbare Einheit von "Religion" und "Politik" bilde. Dem hieraus abgeleiteten politischen Anspruch versuchen Islamisten mit dem Slogan, der Islam sei "Religion und Staat" (Arabisch "al-islam din wa daula"), Nachdruck zu geben. Dieses ca. 100 Jahre alte Schlagwort wird in Bilddarstellungen häufig mit Koran (für Religion) und Schwert (für Politik) symbolisiert. Kennzeichnend für einige islamistische Gruppen ist ferner die Favorisierung frühislamischer und mittelalterlicher Herrschaftskonzepte - etwa ein globales Kalifat, in dem die Führungsperson (Kalif) zugleich die weltliche und die religiöse Herrschaft ausübt. Darüber hinaus begreifen Islamisten die islamische Rechtsund Werteordnung Scharia nicht allein als ein Recht, sondern als ein politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip. So werben sie mit dem Schlagwort der "Anwendung der Scharia" meist für eine vollständige Umsetzung der Bestimmungen des islamischen Rechts. Schließlich versuchen insbesondere gewaltorientierte islamistische Gruppen, Gewalt durch Bezüge auf die Religion zu legitimieren. Hierbei reduzieren sie den Begriff des Jihad (wörtl. Bemühung) vorrangig auf die Bedeutung von Kampf und kriegerischer Handlung und verstehen ihn nicht - wie im islamischen Recht fixiert - als eine vorrangig zum Zwecke der Verteidigung muslimischen Territoriums zulässige Methode. Vielmehr wird der Jihad zu einer offensiven militanten Kampfform uminterpretiert und zu einer vermeintlich individuellen Pflicht eines jeden Muslims erklärt. 186 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Trotz gemeinsamer ideologischer Merkmale folgen die islamistischen Gruppen keinem einheitlichen Konzept. Der Islamismus umfasst vielmehr unterschiedliche bis konkurrierende Vorstellungen und Agenden, die meist von den differierenden politischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Herkunftsländer bestimmt werden. So verketzern einige etwa Demokratie als vermeintlich unislamisch, während andere sich an Wahlen in ihren Heimatländern beteiligen. Insofern gibt es keinen "Einheits-Islamismus". Abgesehen von den gewaltorientierten Netzwerken um "al-Qaida" existiert auch nicht so etwas wie eine "islamistische Internationale". Gewaltorientierung In der Frage des Einsatzes von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele bestehen zwischen den Organisationen erhebliche Unterschiede. Das Spektrum reicht von der Ablehnung jeglicher Gewaltanwendung bis zur pseudoreligiösen Legitimation von Terrorismus. Zwei Hauptgruppen mit deutlich unterschiedlichen Zielrichtungen sind zu unterscheiden: Die erste und von der Anzahl her größte Kategorie bilden die nicht-gewaltorientierten Islamisten, die auch als "legalistische Islamisten" bezeichnet werden. Hierzu gehören Gruppen, die entweder nie gewaltorientiert waren (etwa die türkische "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs", IGMG) oder die - häufig nach langen Phasen des Terrorismus - der Gewalt inzwischen abgeschworen haben (etwa die arabische "Muslimbruderschaft", MB). Das Fehlen der Gewaltorientierung gilt insbesondere für die deutschen Ableger der "legalistischen Islamisten". Die zweite Kategorie bilden die gewaltorientierten Islamisten, die sich wiederum in drei Unterkategorien einteilen lassen. Zur ersten Unterkategorie gehören Gruppen, die Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele zwar befürworten, selbst aber vorrangig keine Gewalt ausüben. Dies betrifft etwa die in Deutschland seit Januar 2003 mit einem Betätigungsverbot belegte "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung", HuT). Zur zweiten Unterkategorie gehören Gruppen, die ihre terroristischen Aktivitäten vorrangig auf den Nahen Osten beschränken. Dies gilt etwa für die libanesische "Hizb Allah" (Partei Gottes") und die palästinensische "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS). Die dritte Unterkategorie gewaltorientierter Islamisten bilden schließlich transnational agierende Terrornetzwerke. Hierzu gehört in erster Linie das Netzwerk "al-Qaida" ("die Basis"), von dem inzwischen mehrere regionale Zweige - "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM), "Islamischer Staat Irak" (ISI) oder "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" Hintergrundinformationen - Ideologien 187 (AQAH) - existieren. Zu den transnationalen terroristischen Netzwerken gehören auch die kurdischen "Ansar al-Islam" bzw. "Ansar al-Sunna" (AAI bzw. AAS) und die "Islamische Jihad-Union" (IJU). Die Bedeutung traditioneller Islamismus-Varianten Innerhalb des islamistischen Spektrums erweist sich der Salafismus in seiner politischen und jihadistischen Ausprägung als die zurzeit dynamischste Bewegung - sowohl in Deutschland als auch auf internationaler Ebene. Salafismus bezeichnet eine unbedingte Orientierung an der muslimischen Urgesellschaft vor 1 400 Jahren, wie sie im siebten Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel existierte. Salafisten glauben, in den religiösen Quellen des Islam ein detailgetreues Abbild dieser idealisierten islamischen Frühzeit gefunden zu haben und versuchen, die Gebote Gottes wortgetreu in die Tat umzusetzen. Dies mündet in die wörtliche Auslegung des Koran, der Heiligen Schrift des Islam sowie der Sunna (wörtl. Brauch), der Tradition des Propheten und Religionsstifters Muhammad (570 - 632). Die Schriftgläubigkeit von Salafisten und ihr wortgetreues Verständnis religiöser Texte führen dazu, dass von ihnen frühislamische Herrschaftsund Rechtsformen befürwortet werden. Diese sind mit den Werten unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar. Im Gegensatz zu den übrigen islamistischen Gruppen in Deutschland, die wie die IGMG, MB, "Hizb Allah", HAMAS und HuT mehrheitlich nicht salafistisch ausgerichtet sind, verkörpert der Salafismus eine eher traditionelle Islamismus-Variante. Hierzu gehört neben der strikten Orientierung an der Gesellschaftsform des ersten muslimischen Gemeinwesens in Medina (gegr. 622) auch ein Exklusivanspruch des eigenen Islam-Verständnisses gegenüber jeglichen anderen Islam-Interpretationen. So versuchen Salafisten, die Scharia meist in ihrer ursprünglichen Form durchzusetzen. Sie beharren darauf, dass sämtliche Bestimmungen der Scharia zeitlos seien und deshalb keinesfalls neu interpretiert oder an heutige Lebensumstände angepasst werden dürften. Insbesondere Muslime werden von Salafisten aufgefordert, salafistische Islam-Interpretationen zu übernehmen und entsprechende Vorschriften minutiös zu befolgen. Hierzu schreiben sie ein umfassendes Regelwerk vor. Dieses betrifft das Tragen so genannter "islamischer Kleidung" und die Übernahme alltäglicher Handlungen aus der Zeit des Propheten wie auch das Befolgen einer strikten Geschlechtertrennung und die Abgrenzung von einer nicht-muslimischen Umwelt. Hierzu gehört vor allem die - von den meisten anderen islamistischen Gruppen so nicht praktizierte - Diffamierung als "Ungläubige" ("kuffar"). Diese zielt bei Salafisten nicht allein auf Juden und Christen, sondern auch auf jene Muslime, die ihre politischen und gesellschaftlichen Auffassungen nicht teilen. Entsprechend gibt es einschlägige Aufforderungen zur Kontaktvermeidung und zum Abbruch 188 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 der Beziehungen zu sämtlichen so genannten "Ungläubigen" sowie die Zurückweisung jeglicher Integrationskonzepte und Warnungen vor dem Zusammenleben von Nicht-Muslimen und Muslimen. 1.3 Ideologie des Rechtsextremismus Mit der Sammelbezeichnung Rechtsextremismus verbindet sich keine geschlossene politische Ideologie. Der Begriff umschreibt eine vielschichtige politische und soziale Gedankenwelt und ein Handlungssystem, das in der Gesamtheit seiner Einstellungen und Verhaltensweisen auf die Beseitigung oder nachhaltige Beeinträchtigung demokratischer Rechte, Strukturen und Prozesse gerichtet ist. Rechtsextremistischen Strömungen sind in jeweils unterschiedlichen Gewichtungen und Ausprägungen folgende Inhalte gemeinsam:285 * Ablehnung des Gleichheitsprinzips: Die Ideologie der Ungleichheit äußert sich in der gesellschaftlichen Diskriminierung bestimmter Menschen und Gruppen aufgrund ethnischer, körperlicher und geistiger Unterschiede. * Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit: Die eigene "Nation" oder "Rasse" wird zum obersten Kriterium der Identität erhoben. Ihr wird ein höherwertiger Status zugeschrieben, was die Abwertung und Geringschätzung von nicht zur eigenen "Nation" oder "Rasse" gehörenden Menschen und Gruppen zur Folge hat. * Antipluralismus: Der pluralistische Interessenund Meinungsstreit wird als die Homogenität der Gemeinschaft zersetzend angesehen. Rechtsextremisten streben eine geschlossene Gesellschaft an, in der Volk und Führung eine Einheit bilden. * Autoritarismus: In demokratischen Ordnungssystemen ist der Staat ein Instrument der Selbstorganisation der Gesellschaft, das Wechselbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft vorsieht. Im autoritären Staatsverständnis steht der Staat in einem einseitig dominierenden Verhältnis über der Gesellschaft. Im Phänomenbereich des Rechtsextremismus treten zahlreiche ideologische Überschneidungen und Mischformen auf. Die Überbewertung der eigenen Nation im Vergleich zu anderen Nationen wird als Nationalismus bezeichnet. Der Rassismus behauptet die Ungleichwertigkeit von "Menschenrassen" aufgrund ihrer unveränderlichen biologischen und sozialen Anlagen. Rassistische Ideologien leiten daraus ein "naturgegebenes" Recht 285 Vgl. Armin Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 2. Auflage München 2000, S. 11 - 16. Hintergrundinformationen - Ideologien 189 zur Ausgrenzung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen ab. Eine besondere Form des Rassismus ist der Antisemitismus. Darunter versteht man die Feindschaft gegenüber den Juden als Gesamtheit aufgrund stereotypischer rassistischer, sozialer, politischer und/oder religiöser Vorurteile. Ein weiteres Element des Rechtsextremismus ist der Neonazismus, der durch seinen Bezug zum historischen Phänomen des Nationalsozialismus gekennzeichnet ist. Eine rechtsextreme Ideologie wird als neonazistisch bezeichnet, wenn sie an den historischen Nationalsozialismus anknüpft. 1.4 Ideologie des Linksextremismus Linksextremismus ist eine Sammelbezeichnung für Ideologien oder Ideologieelemente, die sich gegen die freiheitliche-demokratische Grundordnung richten und auf eine "herrschaftsfreie Ordnung"286 abzielen. Bei letzterer handelt es sich um ein mit politischer, sozialer und ökonomischer Freiheit ausgestattetes Gemeinwesen gleicher Menschen. Sie kann direkt oder über Zwischenstufen wie etwa im Marxismus-Leninismus (Diktatur des Proletariats) erreicht werden. Diese Ordnung reicht weit über das in demokratischen Verfassungsstaaten akzeptierte Prinzip der menschlichen Fundamentalgleichheit hinaus. Linksextremistische Ideologien richten sich gegen zentrale Grundrechte und Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wie Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, Parlamentarismus und Gewaltenteilung. Konkret lehnen Linksextremisten die herrschende Staatsordnung als imperialistisch oder kapitalistisch ab und unterstellen ihr, sie diene lediglich dazu, die Bevölkerung strukturell zu unterdrücken. Gleichzeitig, so die extremistische Kritik, stelle die herrschende Ordnung die Herrschaft einer gesellschaftlichen Elite sicher. Linksextremistisches Hauptziel ist daher, die Staatsordnung durch einen revolutionären Akt zu überwinden. Allen linksextremistischen Ansätzen ist gemein, dass sie eine "herrschaftsfreie Ordnung" anstreben. Sie unterscheiden sich aber stark voneinander, wenn es in der Umsetzung darum geht, wie diese erreicht werden kann. Anarchisten Anarchisten haben kein zentrales Theoriegebäude ausgebildet. Ihre ideologische Position stellt eine Überspitzung und Fortführung des linksextremistischen Gedankens der Herrschaftsfreiheit dar. Anarchisten streben die Auflösung sämtlicher staatlicher Einrichtungen an und wollen diese durch dezentrale Selbstverwaltungseinheiten ersetzen. 286 Vgl. u. a. Uwe Backes / Eckard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1996, S. 60. 190 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Mit der Betonung von Autonomie und Selbstorganisation weist anarchistisches Denken ideologische Schnittmengen mit autonomen Theorie-Versatzstücken auf. Bei der Abschaffung staatlicher Institutionen sehen Anarchisten auch den Einsatz von Gewalt als gerechtfertigt an. Autonome Autonomen fehlt es an einem geschlossenen theoretischen Konstrukt. Verbindendes ideologisches Element ist die Ablehnung der bestehenden staatlichen Ordnung und das Streben nach Zerschlagung des demokratischen Verfassungsstaates. In ihr Denken beziehen Autonome kommunistische und anarchistische Versatzstücke mit ein. Insbesondere mit dem anarchistischen Denken besteht eine Schnittmenge in der autonomen Vorstellung von der "Politik der ersten Person". Ideologisch fest verankerte Vorstellungen des traditionellen Anarchismus oder von kommunistischen Parteien teilen Autonome nicht. Innerhalb der Autonomen gibt es zwei unterschiedlich große Strömungen. Dabei handelt es sich um die in Größe und Einfluss dominierenden "Antiimperialisten" und um die wesentlich kleinere Strömung der "Antideutschen". Beide sind sich darin einig, die Bundesrepublik Deutschland abzulehnen, unterscheiden sich jedoch in Hinblick auf die Begründung ihrer Ablehnung. Antiimperialisten nehmen an, dass die Bundesrepublik Deutschland wie die übrigen westlichen Staaten aufgrund ihrer demokratischen und kapitalistischen Verfasstheit zu politischer, wirtschaftlicher und kultureller Expansion neige. Dieser "Imperialismus" gehe zu Lasten des "Trikonts" (Afrikas, Asiens und Mittel-/ Südamerikas). "Antiimperialisten" lehnen den deutschen Staat also vorrangig wegen seines angeblich kapitalistisch-imperialistischen Charakters ab. "Antideutsche" nehmen hingegen an, dass Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland weiterhin faschistisch geprägt seien. Dies sei mit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht überwunden worden. Antideutsche solidarisieren sich mit Israel und zuweilen den USA. Sie lehnen den deutschen Staat hauptsächlich wegen seiner angeblichen faschistischen Kontinuität ab. Das Ziel, den demokratischen Verfassungsstaat zu zerschlagen und die Methode der Politik der "ersten Person" werden nur selten in theoretische Erwägungen übersetzt. Sie schlagen sich vor allem in aktionistischen Taten nieder. In aller Regel befürworten Autonome den Einsatz von Gewalt und wenden sich damit gegen das staatliche Gewaltmonopol. Der Bedeutungsgehalt des Begriffs "Militanz" reicht dabei von einer "kämpferischen Grundhaltung" bis zur "militanten Aktion", verstanden als "Politik der ersten Person". Die zwei "klassischen" Ausprägungen autonomer Gewaltanwendung sind hierbei Mas- Hintergrundinformationen - Ideologien 191 senmilitanz einerseits (im Rahmen oder im Nachgang zu Demonstrationen sowie anderen szenerelevanten Großereignissen) und klandestine Anschläge andererseits (zumeist konspirativ vorbereitete Sachbeschädigungen). Die Massenmilitanz hat in jüngster Zeit eine Bedeutungserweiterung erfahren. Diesbezügliche konfrontative Handlungsformen beziehen sich unmittelbar auf politische Gegner und äußern sich in erster Linie durch Angriffe auf Rechtsextremisten und Repräsentanten des (verhassten) "Systems". Darüber hinaus kommt es zunehmend zu initialisierendem Gewalthandeln. Dabei initiieren gewaltorientierte Linksextremisten (in erster Linie im Rahmen von Großveranstaltungen) Gewalthandlungen, die dann von nichtextremistischen Gewalttätern aufgenommen und fortgeführt werden. Kommunisten Kommunisten sind orthodoxer in der Lehre als Anarchisten und Autonome. Sie richten sich bei der Auswahl der zu thematisierenden Politikfelder strategischer aus und sind organisierter in der Betreuung ihrer Anhänger. Ausgangsbasis ist die Annahme des gesellschaftlichen Klassenkampfes. In unterschiedlichen Ausprägungen strebt der Kommunismus eine klassenlose Gesellschaft an. Dabei fordert er, dass sich das Individuum den revolutionären Zielen und den diese anstrebenden Organisationen völlig unterordnet. Schließlich soll das Proletariat die herrschende Elite im "Klassenkampf" stürzen. Über Revolutionen und interrevolutionäre Zwischenstufen sei die klassenlose Gesellschaft erreichbar. Von der Ideologie des Kommunismus als klassenloser Gesellschaft ist der real existierende Sozialismus als Übergangsphase vom Kapitalismus zum klassenlosen Gemeinwesen zu unterscheiden. Der Begriff des real existierenden Sozialismus stellt keine eigenständige ideologische Variante dar, er beschreibt vielmehr die gesellschaftlichen Gegebenheiten sozialistischer Staaten: "Kommunist zu sein heißt, [...] für die Einheit und Reinheit des Marxismus-Leninismus zu kämpfen und gemäß der Lehren von Marx, Engels, Lenin und Stalin gegen alle Angriffe der bürgerlichen Ideologie und des Revisionismus und Reformismus innerhalb der Arbeiterklasse mit allen Mitteln zu verteidigen und zu vertreten, sich zur proletarischen Revolution, zur Diktatur des Proletariats und zum proletarischen Internationalismus zu bekennen." 287 287 Internetauftritt der KPD, Aufruf am 10.9.2002. 192 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 2 Transnationaler islamistischer Terrorismus 2.1.1 "al-Qaida" und "Mujahidin-Netzwerke" Entstehung/Gründung Anfang 80er Jahre Afghanistan / Pakistan Organisationsstruktur Transnationale Netzwerke Veröffentlichungen Audiound Video-Botschaften Der Begriff "Mujahidin" bezeichnet pan-islamistisch orientierte Kämpfer unterschiedlicher ethnischer Herkunft, die an Kampfeinsätzen etwa in Afghanistan, Bosnien, Tschetschenien oder im Kaschmir teilgenommen haben. Das Entstehen der - auch als Jihadisten bezeichneten - "Mujahidin" geht auf den Afghanistan-Krieg zurück, als sich 1979 freiwillige "Kämpfer" dem - unter dem Motto des Jihad geführten - Krieg gegen die sowjetische Besatzung anschlossen und dafür vor allem in afghanischen und pakistanischen Militärlagern ausgebildet wurden. Die Lage im von Krieg und Bürgerkrieg gezeichneten Afghanistan bot ideale Bedingungen für die ideologische Schulung und terroristische Ausbildung der "Mujahidin". Hierzu gehörten ein weitgehend rechtsfreier Raum, Kampfgebiete sowie die Tatsache, dass sich im Bürgerkrieg 1996 die islamistischen "Taliban-Kämpfer" durchsetzten. Die terroristischen Aktivitäten der "Mujahidin" richteten sich ab 1992 vor allem gegen Ägypten und Algerien, nachdem sich einzelne Kämpfer des Afghanistan-Kriegs den dortigen militanten islamistischen Gruppierungen angeschlossen hatten. Im Zentrum der "Mujahidin" steht die von Usama Bin Ladin Ende der 1980er Jahre gegründete Organisation "al-Qaida" ("Die Basis"), die sich vermutlich Mitte der 1990er Jahre mit Teilen der militanten ägyptischen Gruppen "al-Jihad al-islami" ("Der islamische Kampf") und "al-Jama'a al-islamiya"288 ("Die islamische Gemeinschaft") zu einem transnationalen Netzwerk zusammenschloss. Bin Ladin wurde im Mai 2011 von US-Einheiten bei seiner Festnahme in Pakistan getötet. Zu seinem Nachfolger wurde sein lang288 Hierbei handelt es sich um die hocharabische Schreibweise. Im ägyptischen Dialekt werden die Gruppierungen phonetisch als "al-Gihad al-islami" und "al-Gama'a al-islamiya" wiedergegeben. Hintergrundinformationen - Transnationaler islamistischer Terrorismus 193 jähriger Stellvertreter Aiman al-Zawahiri, ehemaliger Führer der ägyptischen Gruppe "al-Jihad al-islami", bestimmt. Programmatische Grundlage der internationalen Anschläge von "al-Qaida" war der von Bin Ladin 1998 unterzeichnete289 Aufruf der "Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler", den die Verfasser als ein religiöses "Rechtsgutachten" ("fatwa")290 deklarierten. Darin waren die Tötung von Amerikanern zur individuellen Pflicht eines jeden Muslims erhoben, die Stationierung von US-Truppen in Saudi-Arabien für unzulässig erklärt und als Ziel die Verdrängung der USA von der Arabischen Halbinsel genannt worden. Hierzu sollten die USA als Schutzmacht Saudi-Arabiens angegriffen und - wie bereits die Anschläge auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania 1998 sowie auf das Marineschiff USS Cole 2000 zeigten - möglichst viele US-Bürger getötet werden. "Das Urteil, die Amerikaner und ihre Alliierten, Zivilisten und Militärs gleichermaßen zu töten, wo immer ihm dies möglich ist, ist eine individuelle Pflicht für jeden Muslim, der hierzu in der Lage ist, bis die Aqsa-Moschee [in Jerusalem] und die Heilige Moschee [in Mekka] von ihnen befreit sind und bis ihre Armeen das gesamte Territorium des Islam verlassen haben, geschlagen und unfähig, irgendeinen Muslim noch zu bedrohen." 291 Statt Anschlägen von Kern-"al-Qaida" standen seit 2004 terroristische Aktivitäten anderer Mujahidin-Organisationen, eigenständig operierender Kleingruppen oder radikalisierter Einzeltäter im Vordergrund. Sie gelten, auch wenn sie nicht organisatorisch an "al-Qaida" gebunden sind, von der "al-Qaida"-Ideologie "inspiriert". Ein bezeichnendes Beispiel ist der Nigerianer Umar Farouk A., der im Dezember 2009 versuchte, in Detroit (USA) einen Anschlag auf ein US-Flugzeug zu verüben und von Passagieren nach einer Fehlzündung des Sprengsatzes überwältigt werden konnte. Seinerzeit war ein mit "Operation des Bruders und Mujahidis Umar al-Faruq al-N. - Vergeltung der amerikanischen 289 Zu den fünf Unterzeichnern gehörten Usama Bin Ladin ("al-Qaida"), Aiman al-Zawahiri ("al-Jihad al-islami"), Abu Yasir Rifa'i Ahmad Taha ("al-Jama'a al-islamiya"), Mir Hamza (Generalsekretär der "Jam'iyat-ul-Ulama Pakistan") und Fazlur Rahman (Chef der "Jihad"-Gruppe, Bangladesch). 290 Diese Fatwa ist aus Sicht der islamischen Theologie nicht gültig, da der Bin Ladin als Laie weder die theologische Qualifikation noch die religiöse Autorität zur Erstellung von Rechtsgutachten, geschweige denn zur Ausrufung des Jihad im Namen der Muslime besaß. Entsprechend wurden die Anschläge vom 11. September 2001 von einem Großteil der islamischen Religionsgelehrten als nicht mit dem Islam vereinbar zurückgewiesen, da die islamische Religion sowohl den Mord an unschuldigen Zivilisten als auch den Selbstmord verbiete. Vgl. Hanspeter Mattes: Ein Jahr danach. Der islamistische Terrorismus und seine Bekämpfung. In: "Herder Korrespondenz 56" Nr. 9/2002, S. 444 - 448. 291 Vgl. Nass Bayan al-Jabha al-islamiya al-alamiya li-Jihad al-Jahud wa'l-Salibiyin. In: "al-Quds al-arabi" vom 23.2.1998. Eine englische Übersetzung findet sich im Internet unter www.fas.org/irp/world/para/docs/980223-fatwa.htm. 194 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Feindseligkeiten gegen den Jemen" betiteltes Selbstbezichtigungsschreiben von "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) in einem jihadistischen Internetforum sichergestellt worden. Umar Farouk A. wurde im Februar 2012 für diese Tat von einem US-Bundesgericht zu lebenslanger Haft verurteilt. Für einen Teil der internationalen Anschläge sind so genannte "homegrown"-Terroristen verantwortlich. Hierbei handelt es sich um radikalisierte Muslime der zweiten und dritten Einwanderergeneration oder um radikalisierte Konvertiten. Obwohl diese Personen in europäischen Ländern geboren und aufgewachsen sind, bekämpfen sie westliche Staaten mit terroristischen Mitteln. Hierbei zielen sie ausdrücklich auch auf Zivilisten ab. Dies gilt etwa für die von "homegrown"-Tätern verübten Anschläge von Madrid (2004) und London (2005) sowie das Attentat auf den niederländischen Filmemacher Theo van Gogh (2004). In Deutschland wurden 2007 zwei Konvertiten und zwei hier lebende Personen türkischer Herkunft wegen der Planung von Anschlägen festgenommen und 2010 in Düsseldorf zu langjährigen Haftstrafen verurteilt (so genannte "Sauerland-Gruppe"). Auch der deutsche Konvertit Eric B. und der aus Deutschland stammende Türke Cüneyt C. sind Beispiele für Jihadisten, die sich in Deutschland radikalisiert haben. Cüneyt C. verübte 2008 einen Selbstmordanschlag in Afghanistan, bei dem er vier Soldaten tötete und zahlreiche Personen verletzte. Eric B., der sich seit Herbst 2007 bei der "Islamischen JihadUnion" (IJU) im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet aufgehalten hatte, wurde Ende April 2010 bei Kämpfen getötet. Mit ihm starben der Deutsch-Türke Ahmet M. und der aus Holland stammende Berliner Danny R. Neben Kern-"al-Qaida" haben sich in den vergangenen Jahren regionale "al-Qaida"-Organisationen herausgebildet. Die im Irak seit 2003 unter verschiedenen Namen operierende "al-Qaida im Irak" bezeichnet sich seit Oktober 2006 als "Islamischer Staat Irak". Die Organisation verfolgt das Ziel, die irakische Regierung sowie Schiiten und Kurden zu bekämpfen. Obwohl seit 2007 infolge erhöhten Verfolgungsdrucks ein spürbarer Rückgang terroristischer Gewalt festzustellen war, verübte der "Islamische Staat Irak" auch 2011 eine Reihe schwerer Anschläge, die insbesondere auf die Zivilbevölkerung und irakische Sicherheitskräfte zielten. Auch Anschläge gegen christliche Gemeinschaften nahmen stark zu. Zu den regionalen Zweigen von "al-Qaida" gehört auch die algerische "Groupe Salafiste pour la Predication et le Combat" (GSPC),292 die sich 2007 in "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM) umbenannte und hiermit eine stärkere internationale Ausrichtung sig292 "Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf". Hintergrundinformationen - Transnationaler islamistischer Terrorismus 195 nalisiert. Seither ist AQM der zentrale Gewaltakteur in der Region. Mit der Umbenennung näherte sich der Modus Operandi bei der Durchführung von Anschlägen dem der "alQaida" an. Die Anschläge richteten sich nunmehr verstärkt gegen westliche Ausländer und regionale Sicherheitskräfte. Nach der Tötung eines Amerikaners und einer britischen Geisel 2009 wurden 2010 sieben Mitarbeiter eines französischen Unternehmens in Niger, darunter fünf Franzosen sowie ein Staatsbürger aus Togo und Madagaskar entführt. Zu den Anschlägen auf Sicherheitskräfte zählen ein Angriff auf algerische Grenzschützer 2010 mit elf Toten und ein Selbstmordanschlag auf eine Kaserne des mauretanischen Militärs 2010, die dem mindestens zwei Soldaten starben Die Ende Januar 2009 durch den Zusammenschluss der "al-Qaida im Jemen" (AQJ) und dem saudischen "al-Qaida"-Zweig entstandene "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) hat sich im Laufe des Jahres zu einer schlagkräftigen Terrororganisation entwickelt und erneut den internationalen Luftverkehr attackiert. Hierzu zählen die Anschlagsversuche auf zwei Luftfrachtmaschinen im Oktober 2010, bei denen die Sprengsätze noch rechtzeitig entschärft werden konnten. Die Verantwortung der AQAH für den Absturz eines Jumbos im September 2010 in Dubai ist noch unklar. Die AQAH hat damit ihren Modus Operandi signifikant verändert und beschränkt ihre gewaltsamen Aktionen nicht länger auf die Arabische Halbinsel. Eine durch "al-Qaida" zumindest inspirierte Gruppe ist die 2002 gegründete "Islamische Jihad-Union" (IJU), die eine Abspaltung von der "Islamischen Bewegung Usbekistan" (IBU) darstellt. Die Führung der IJU unterhält Kontakte zu "al-Qaida" und gilt als von deren Ideologie beeinflusst. Die Mitglieder der IJU verstehen die Ausübung des militanten Jihad als einen Teil muslimischer Glaubenspraxis. Sie behaupten, den militanten Jihad gegen westliche Staaten einsetzen zu müssen, weil diese angeblich einen "Krieg gegen den Islam und die Muslime" führten. Die IJU hatte zunächst regionale Ziele verfolgt, weitete aber ihren auf Usbekistan beschränkten Aktionsradius seit 2005 aus und hat seitdem eine transnationale jihadistische Ausrichtung, die auch Anhänger in Europa gewinnt. So plante die 2007 enttarnte "Sauerland-Gruppe" ihre Anschläge im Auftrag der IJU. Ende 2009 spaltete sich von der IJU eine Gruppe deutschsprachiger Muslime ab, die sich "Deutsche Taliban Mujahidin" (DTM) nannten. Nachdem der mutmaßliche Protagonist der DTM Ahmet M. sowie weitere Mitglieder im Frühjahr 2010 bei Kämpfen starben, ist deren Fortbestand unklar. Auch die "Islamische Bewegung Usbekistan" (IBU) gilt als von der "al-Qaida"-Ideologie inspiriert. Die 1997 gegründete Organisation verfolgte ursprünglich eine regionale Agenda, die auf einen Sturz des usbekischen Präsidenten Karimov zielte. Seit 2000 wurden auch ihre Ziele internationaler. Die IBU operiert hauptsächlich im pakistanisch-afghanischen 196 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Grenzgebiet. In der Bundesrepublik ist sie bislang vor allem durch Veröffentlichungen deutschsprachiger Videos der beiden Bonner Brüder Monir und Yassin C. bekannt geworden. Zu den Mujahidin gehören auch die Kämpfer des 2007 gegründeten "Kaukasischen Emirats" im südlichen Russland. Diese Jihadisten hatten sich zunächst auf Tschetschenien beschränkt, weiteten aber ihre bewaffneten Operationen auf den gesamten Nordkaukasus, insbesondere auf Dagestan und Inguschetien, und auf Russland aus. So verübten im März 2010 kaukasische Selbstmordattentäterinnen Anschläge auf die Moskauer Metro. Der selbsternannte "Emir der kaukasischen Völker" Dokku Umarov bezichtigte sich, die Anschläge angeordnet zu haben. Er erklärte die Russische Föderation, die USA, Großbritannien sowie Israel zu Feinden der Muslime und unterstellte ihnen, einen "Krieg gegen den Islam" zu führen. Umarov fordert, die von ihm als "ungläubig" diffamierten Feinde nicht allein aus dem Kaukasus, sondern aus sämtlichen historischen muslimischen Territorien zu vertreiben. 2.1.2 "Ansar al-Islam" ("Anhänger des Islam") Abkürzung AAI Entstehung/Gründung 2001 Irak (als Nachfolgeorganisation des "Jund al-Islam" / "Heer des Islam") Organisationsstruktur Transnationales Netzwerk Die 2001 im Nordirak aus verschiedenen Splittergruppen entstandene Organisation "Ansar al-Islam" (AAI) besteht hauptsächlich aus islamistischen Kurden, die die Errichtung eines islamistischen kurdischen Staatswesens im Nordirak nach dem Vorbild des früheren Taliban-Regimes in Afghanistan anstreben. Hierzu bekämpft sie mit Waffengewalt die laizistischen kurdischen Gruppen "Patriotische Union Kurdistan" (PUK) und die "Kurdische Demokratische Partei" (KDP). Die AAI richtet ihre terroristischen Aktionen seit 2003 auch gegen die alliierten Streitkräfte im Irak. Ihr Ziel ist, das irakische Staatswesen gewaltsam zu beseitigen. Von 2004 an operierte die "Ansar al-Islam" zwischenzeitlich unter der Bezeichnung "Jaish Ansar al-Sunna" ("Armee der Anhänger der Sunna", kurz: "Ansar al-Sunna", AAS). Im Irak, wo sie in den letzten Jahren erheblich an Zulauf gewann, fungiert die AAI als Dachorganisation und als Sammelbecken für nicht-kurdischstämmige ausländische "Mujahidin". Hintergrundinformationen - Transnationaler islamistischer Terrorismus 197 Die AAI ist jihadistisch-salafistisch ausgerichtet. Sie sucht frühislamische Herrschafts-, Rechtsund Gesellschaftsformen umzusetzen und propagiert die Bekämpfung von Juden und Christen. Die Organisation, die bis 2004 von dem in Norwegen lebenden Mullah Krekar angeführt wurde, unterhält zur logistischen und finanziellen Unterstützung auch in Westeuropa ein Netzwerk. Die AAI-Anhänger in Deutschland unterstützen die Organisation durch die Beschaffung von Geldmitteln und deren Transfer in den Irak. Die noch vor einigen Jahren feststellbaren Rekrutierungen von "Jihad-Kämpfern" für den Irak sind deutlich zurückgegangen. Gleichwohl fielen ihre Anhänger in Deutschland nicht allein durch werbende und unterstützende Tätigkeiten auf, sondern auch durch die Vorbereitung terroristischer Aktivitäten. Im Juli 2008 wurden drei Personen aus Berlin, Stuttgart und Augsburg vom OLG Stuttgart wegen Mitgliedschaft in dieser terroristischen Vereinigung und wegen eines Anschlagsversuchs auf den ehemaligen irakischen Ministerpräsidenten Allawi zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.293 Nach Hinweisen der deutschen Sicherheitsbehörden wurde Allawis Teilnahme an einer Veranstaltung in Berlin abgesagt, so dass es zu keiner konkreten Gefahrensituation für ihn kam. 293 AZ.: OLG Stuttgart: 5-2 StE 2/05. Das Urteil ist seit dem 23.9.2009 rechtskräftig. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 24 f. 198 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 3 Regional gewaltausübende Islamisten 3.1.1 "Hizb Allah ("Partei Gottes") Entstehung/Gründung 1982 Beirut Mitgliederzahl Bund: ca. 950 (2010: ca. 900) Berlin: ca. 250 (2010: ca. 250) Veröffentlichungen "Al-Ahd - Al-Intiqad" ("Die Verpflichtung - Die Kritik") (überregional, wöchentlich) "Al-Manar-TV" ("Der Leuchtturm") Die schiitisch-islamistische "Hizb Allah" ("Partei Gottes") wurde 1982 gegründet, als Israel in den libanesischen Bürgerkrieg (1976 -1989) militärisch eingriff. Aus ideologischen, regionalpolitischen und konfessionellen Motiven wird die hierarchisch strukturierte Bewegung vom Iran und von Syrien unterstützt, die sie als militärisches Drohpotenzial vor allem gegenüber Israel einsetzen und hierüber Stellvertreterkriege gegen Israel führen. Deren militärische und finanzielle Unterstützung bedingt auch die Sonderstellung der "Hizb Allah", die als einzige ehemalige Bürgerkriegsmiliz im Libanon eine schwer bewaffnete Armee, den so genannten "Islamischen Widerstand" ("al-Muqawama al-islamiya") unterhält.294 Seit ihrem Bestehen negiert die "Hizb Allah" das Existenzrecht Israels und propagiert den - von ihr als "legitimen Widerstand" bezeichneten - bewaffneten Kampf gegen Israel. Das Ziel der Vernichtung Israels ist fester Bestandteil ihrer Strategie, die sich an dem 1979 vom "Revolutionsführer" Khomeini propagierten anti-israelischen Kurs der "Islamischen Republik Iran" orientiert. Auch in ihrem 2009 veröffentlichen Manifest295 lehnt sie eine Anerkennung des jüdischen Staates und Kompromisse mit Israel ab. Ihr umfangreiches 294 Im Jahr 2004 forderte der UN-Sicherheitsrat mit Resolution 1 559 die Entwaffnung der "Hizb Allah"; auch die Resolution 1 701, die am 14.8.2006 den Waffenstillstand im Libanon einleitete, hält die Forderung nach einer Entwaffnung aufrecht. 295 Die "Hizb Allah" präsentierte das Strategiepapier als Revision ihres Grundsatzmanifestes von 1985. Das aktualisierte Papier belegt, dass sich die Organisation strategisch auf ein Andauern der Instabilität im Libanon sowie im gesamten Nahen Osten einstellt. Hintergrundinformationen - Regional gewaltausübende Islamisten 199 Waffenarsenal rechtfertigt sie mit der Verteidigung des Libanon vor israelischen Angriffen und dessen abschreckender Wirkung. Im Juli 2006 löste die Entführung zweier israelischer Soldaten im israelisch-libanesischen Grenzgebiet einen mehrwöchigen Krieg zwischen der "Hizb Allah" und Israel aus, der Hunderte von zivilen Todesopfern und Verletzten forderte. Der anschließende Waffenstillstand wird seitdem von UN-Truppen überwacht. Hieran ist auch die deutsche Marine im Seeraum vor der libanesischen Küste beteiligt. Die "Hizb Allah" hat sich im Libanon als eine parteiähnliche politische Bewegung etabliert, die wegen ihrer sozialen Aktivitäten vor allem unter der ärmeren schiitischen Bevölkerung des Libanon Rückhalt genießt. Im Süden Beiruts wie auch im Südlibanon verfügt sie über quasistaatliche Strukturen. Im libanesischen Parlament ist sie seit 1992 vertreten; Minister der Organisation gehörten verschiedenen Kabinetten an. 2011 gelang die Bildung einer Hizb Allah-nahen Regierung. Die Anhänger der "Hizb Allah" in Deutschland verhalten sich weitgehend unauffällig. Eine hervorgehobene Rolle spielt das "Waisenkinderprojekt Libanon e.V." (WKP) mit Sitz in Göttingen. Das WKP vermittelt innerhalb der "Hizb Allah"-Anhängerschaft Patenschaften für libanesische Waisenkinder. Das WKP kooperiert mit der "Al-Shahid Association" (Märtyrer-Stiftung) im Libanon. Diese gehört zum sozialen Netzwerk der "Hizb Allah" und unterstützt Hinterbliebene von "Märtyrern" im Kampf gegen Israel. Zu einem internationalen Streitfall wurde der parteieigene TV-Sender "al-Manar" ("Der Leuchtturm"), durch den die "Hizb Allah" ihre militante "Widerstandsideologie" verbreitet. Fester Bestandteil im Programm des über Satellit auch in Deutschland zu empfangenden Senders ist die Propagierung des bewaffneten Kampfes, wobei vor allem die - von der Organisation als "Märtyrer-Operationen" verklärten - Selbstmordanschläge verherrlicht werden. Bezeichnend für die anti-israelische Hetze ist auch die vom Sender verbreitete Aussage des Generalsekretärs der "Hizb Allah", Hassan Nasrallah, dass "Israel in seiner Existenz vergehen werde". Die Propagandafilme beinhalten auch Bilder israelischer Attentatsopfer sowie Parolen wie "Gewiss wird Israel verschwinden". Wegen antisemitischer Propaganda sowie gegen Israel gerichteter Aufrufe zu Hass und Gewalt wurde 2004 die Ausstrahlung des Senders über den Satellitenanbieter Eutelsat unterbunden. 2008 erließ der Bundesminister des Innern darüber hinaus ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot gegen "al-Manar", da der Sender das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern sowie von verschiedenen Ausländergruppen im Bundesgebiet, die öffentliche Sicherheit und Ordnung und sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährde. Ein öffentlicher Empfang des Senders ist damit 200 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 untersagt. Zuvor war "al-Manar" bereits in Frankreich und den USA verboten worden. Die "Hizb Allah" wird von den USA auf der Liste der "Foreign Terrorist Organizations" aufgeführt296. 3.1.2 "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS) Abkürzung HAMAS Entstehung/Gründung 1987 Gaza Mitgliederzahl Bund: ca. 300 (2010: ca. 300) Berlin: ca. 50 (2010: ca. 50) Die mit dem Kurzwort HAMAS297 bezeichnete "Bewegung des Islamischen Widerstands" wurde 1987 im Gaza-Streifen von Ahmad Yassin als regionaler Zweig der "Muslimbruderschaft" ( MB) gegründet. In ihrer Charta von 1988 verneint die HAMAS das Existenzrecht Israels und strebt die "Befreiung ganz Palästinas" durch bewaffneten Kampf sowie die Errichtung eines islamistischen Staatswesens an. Den 1993 begonnenen Oslo-Friedensprozess lehnt die HAMAS als "Ausverkauf palästinensischer Interessen" ab und konkurriert gleichzeitig mit der von der laizistischen FATAH dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde um die Führung der Palästinenser. Durch ihre Kritik an den Friedensverhandlungen der Autonomiebehörde mit Israel sowie durch den kontinuierlichen Ausbau ihrer Basis im sozialen Bereich entwickelte sie sich im innerpalästinensischen Machtgefüge zu einem bedeutenden politischen Faktor. In der Folge verzeichnete die HAMAS bei den Kommunalwahlen 2004 und 2005 deutliche Erfolge und siegte überraschend auch bei den Parlamentswahlen 2006. Damit wurde in den palästinensischen Gebieten neben dem Nationalismus der Islamismus zur zweiten dominierenden politischen Ideologie. Dies gilt insbesondere für den Gaza-Streifen, in dem die HAMAS seit Juni 2007 die alleinige Kontrolle ausübt. Die von der HAMAS verfolgte Gewaltstrategie schloss seit 1994 vor allem Selbstmordanschläge ein. Mit dem Ausbruch der "al-Aqsa-Intifada" im September 2000 und der Verschärfung des israelisch-palästinensischen Konflikts hatten die Selbstmordanschläge ihres militärischen Flügels, der "Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden", gegen israelische Ziele erheblich zugenommen. Diese als "Märtyrer-Operationen" verbrämten Anschläge be296 www.state.gov, "Foreign Terrorist Organizations". Stand 15.9.2011, abgerufen am 16.1.2012. 297 Arabisch: "Harakat al-Muqawama al-islamiya". Der Begriff "Hamas" stellt zugleich ein - bereits im Koran enthaltenes - arabisches Wort dar, das "Begeisterung", "Eifer" und "Leidenschaft" bedeutet. Islamisten interpretieren den Begriff als "Tapferkeit". Hintergrundinformationen - Regional gewaltausübende Islamisten 201 grenzte die HAMAS dabei nicht auf die palästinensischen Gebiete des Westjordanlands und Gaza-Streifens, sondern führte sie vor allem im israelischen Kernland aus. Die Anschläge zielten nicht allein auf Militärpersonal, sondern auch auf die israelische Zivilbevölkerung. Dieses seit Errichten des Grenzzauns erschwerte und von Waffenstillstandsabkommen zeitweise unterbrochene terroristische Vorgehen begründet die HAMAS nach wie vor mit einem "Recht auf Selbstverteidigung". Die "Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden" wurden im Juni 2002 in die EU-Liste terroristischer Organisationen aufgenommen, im September 2003 die Gesamtorganisation HAMAS. Zu Propagandazwecken betreibt die HAMAS ihren 2006 gegründeten Fernsehsender "al-Aqsa-TV", der auch in Deutschland empfangen werden kann. Bereits die Zielgruppe Kinder wird im Nachmittagsprogramm islamistisch indoktriniert und militarisiert. Visuell dargestellt werden vermummte Kinder, die Exerzierübungen mit Waffenattrappen ausführen und von den Moderatoren auf den militanten Jihad eingeschworen werden. Hauptbestandteile der Kindersendungen sind neben Gewaltverherrlichung vor allem Tötungsaufrufe und antisemitische Hetze. Im Juni 2010 untersagte die französische Rundfunkaufsichtsbehörde CSA dem Satellitenanbieter Eutelsat aufgrund von aufhetzenden und antisemitischen Programminhalten die Ausstrahlung von "al-Aqsa-TV". Damit ist der Empfang des Hamas-Senders in Deutschland eingeschränkt. In Deutschland tritt die HAMAS nicht offen auf. Ihre Anhänger treffen sich in Moscheen, Moscheevereinen und Islamischen Zentren. Als Berliner Treffpunkt von HAMAS-Anhängern gilt das "Islamische Kulturund Erziehungszentrum Berlin e.V." (IKEZ). 202 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 4 Gewaltbefürwortende Islamisten 4.1.1 "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung") Abkürzung HuT Entstehung/Gründung 1953 Jordanien 1987 Landesverband Berlin Mitgliederzahl Bund: ca. 300 (2010: ca. 300) Berlin: ca. 50 (2010: ca. 50) Organisationsstruktur 2003 vereinsrechtliches Betätigungsverbot Veröffentlichungen "Explizit" (überregional, bis Januar 2003) "Al-Wa'i" ("Bewusstsein") (überregional, monatlich) "Khalifa"/"Hilafet" ("Kalifat") (überregional, monatlich) Die 1953 in Jordanien von Taqi ad-Din an-Nabhani (1909-1977) gegründete "Hizb utTahrir" (HuT) ist eine pan-islamistische, parteiähnliche Bewegung, die sich die weltweite Missionierung von Muslimen im Sinne ihrer Ideologie zum Ziel gesetzt hat. Ideologisch verfolgt die HuT eine universelle Staatsund Gesellschaftsdoktrin, die auf frühislamische und mittelalterliche Herrschaftskonzepte zurückgeht. Im Zentrum stehen die Betonung des pan-islamischen Gedankens (in der Behauptung der Existenz einer weltumfassenden islamischen Gemeinde, der "Umma") sowie die Forderung nach Errichtung einer weltweiten Kalifatsherrschaft. Erklärte Ziele der Organisation sind die Überwindung nationalstaatlicher Strukturen, die Vernichtung des Staates Israel, die Befreiung der muslimischen Welt von westlichen Einflüssen sowie die Einführung der Scharia als politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip. Die Ideologie der HuT kennzeichnet eine ausgeprägte Judenfeindschaft sowie die Rechtfertigung von Gewaltanwendung durch vermeintlich religiöse Bezüge. So werden Koranverse aus ihrem historischen Kontext herausgelöst und Begriffe wie "Jihad" (Bemühen, Kampf) fast durchgängig militant interpretiert. In den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wurde die HuT aufgrund ihrer radikalen Ausrichtung - insbesondere wegen ihrer Aufrufe zum gewaltsamen Umsturz der Re- Hintergrundinformationen - Gewaltbefürwortende Islamisten 203 gierungen - unmittelbar nach ihrer Gründung verboten. Seitdem operiert sie weitgehend im Geheimen; ihre Anhänger sind strikter Verfolgung ausgesetzt. Begründet werden die Maßnahmen mit der Beteiligung der HuT an Staatstreichen - etwa in Jordanien (1968), Irak (1969), Ägypten (1974) sowie Syrien (1976). Nach eigener Darstellung ist die HuT in diesen Ländern wie auch in Kuwait aber weiter aktiv. Darüber hinaus agiert sie im zentralasiatischen Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan. Derzeitiger Vorsitzender ist der 1943 geborene Jordanier Ata Abu al-Rashta, dessen Aufenthaltsort im Libanon vermutet wird. In Deutschland trat die HuT vorwiegend in Universitätsstädten durch die Verteilung von Flugblättern und Zeitschriften in Erscheinung, in denen sie regelmäßig antiwestliche Positionen sowie massive antisemitische Hetze verbreitete. Am 10. Januar 2003 erließ der Bundesminister des Innern ein Betätigungsverbot gegen die HuT. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte das Verbot am 25. Januar 2006.298 Das Urteil wurde damit begründet, dass die HuT mehrmals "zur gewaltsamen Beseitigung des Staates Israel und zur Tötung von Menschen aufgefordert" und auf diese Weise "der friedlichen Lösung der israelisch-palästinensischen Interessensgegensätze entgegengewirkt" habe. In seiner Begründung verwies das Bundesverwaltungsgericht auch auf Art. 9 Abs. 2 GG, wonach Organisationen verboten werden, die sich gegen die Verfassung oder den Gedanken der Völkerverständigung richten. Seit dem Betätigungsverbot tritt die HuT in Deutschland nicht mehr offen auf. Die Mitglieder verhalten sich konspirativ und sind bestrebt, bei ihren Aktivitäten die Organisationszugehörigkeit zu verschleiern. 298 Vgl. Bundesverwaltungsgericht, AZ.: BVerwG 6A 6.05. 204 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 5 Salafistische Bestrebungen Entstehung/Gründung Etwa seit 1960er Jahren Mitgliederzahl Bund: ca. 3 800 Berlin: ca. 350, davon ca. 100 gewaltorientiert Organisationsstruktur Heterogene Bewegung Veröffentlichungen "Inspire" ("erwecken", "begeistern") (Online-Magazin, englischsprachig, erscheint mehrmals pro Jahr) "al-Shamikha" ("die Stolze") (Online-Magazin für Frauen, arabischsprachig) Der Begriff "Salafismus" bezeichnet eine auf wahhabitischem299 Gedankengut basierende Bewegung, die aus unterschiedlichen Strömungen besteht. Der so genannte "puristische Salafismus" verfolgt keine politischen Zielsetzungen und ist keine extremistische Bestrebung gemäß SS 5 Abs. 2 VSG Bln300. Im Gegensatz hierzu stehen die islamistischen Strömungen des "politischen" und des "jihadistischen Salafismus", die religiöse Gebote und Normen als verbindliche politische Handlungsweisen umdeuten und durchzusetzen versuchen. Sie sind besonders radikale Strömungen innerhalb des Islamismus. Ihre Anhänger verfolgen eine politische Ideologie, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und den Bestand unseres Staatswesens gerichtet ist. Der politische Salafismus agiert mit intensiver Propagandatätigkeit zur Verbreitung seiner Ideologie, die er als "Da'wa" (Missionierung) bezeichnet. Der jihadistische Salafismus setzt hingegen auf eine Strategie der Gewaltanwendung. Die Übergänge zwischen beiden Strömungen sind fließend. Ideologie Sowohl politische als auch jihadistische Salafisten bedienen sich religiöser Begriffe für ihre politische Agenda. Sie fordern eine Gesellschaft, die sich vermeintlich ausschließlich an den Prinzipien des Koran sowie dem vom Propheten Muhammad und den ersten Muslimen - den so genannten "rechtschaffenen Altvorderen" (arabisch: al-salaf al-salih) - gesetzten Vorbild orientiert. Dies führt bei ihnen zu einer Absolutsetzung frühislamischer 299 Der Wahhabismus ist im 18. Jahrhundert im heutigen Saudi-Arabien entstanden und geht auf den Gelehrten Muhammad Ibn Abd al-Wahhab (1703-1792) zurück. 300 Vgl. S. 262 f. Hintergrundinformationen - Salafistische Bestrebungen 205 Herrschaftsund Rechtsformen. Jegliches Abweichen von dieser Norm, die als ursprünglicher und "wahrer Islam" propagiert wird, lehnen Salafisten als unstattgemäße Verfälschung bzw. "Neuerung" (arab. bid'a) ab. Ziel von politischen und jihadistischen Salafisten ist die vollständige Umgestaltung von Staat, Rechtsordnung und Gesellschaft nach einem salafistischen Regelwerk, das als "gottgewollte" Norm angesehen wird. Sie streben die Errichtung einer islamistischen Ordnung an, in der wesentliche Verfassungsprinzipien des deutschen Grundgesetzes keine Gültigkeit haben sollen. Die parlamentarische Demokratie soll als vermeintlich "unislamisch" und unvereinbar mit der Idee einer "Gottesherrschaft" abgeschafft werden: "Die Demokratie ist [...] nichts anderes als die Ergebenheit und Unterwerfung des Menschen gegenüber ein[em] bestimmten Kreis von Menschen, einer Elite. [...] Demokratie erachtet die Existenz Gottes und seiner Gebote für die Gesellschaft [als] nicht von Bedeutung [...]. [...] Die Demokratie nimmt sich somit das Recht des Schöpfers. Es baut damit sein System auf das größte Unrecht auf, denn das größte Unrecht ist das Unrecht gegenüber dem Schöpfer [...]." 301 Ebenso unvereinbar mit unserer Verfassung ist die von den Salafisten geforderte Vorrangstellung des religiösen Gesetzes (Scharia) gegenüber der weltlichen Gesetzgebung: "Das islamische Gesetz [die Scharia] betrachtet den Herrscher im islamischen Staat als Verantwortlichen für die Durchführung der göttlichen Befehle [...]. So darf kein Mensch, so hoch er sein mag, diesen Regelungen entgegenwirken, oder ein Gesetz erlassen, das gegen sie verstoßen kann." 302 Ein weiteres wesentliches Element salafistischer Ideologie ist die strenge Unterscheidung zwischen "wahrhaft Gläubigen" (mu'minun) und vermeintlichen "Ungläubigen" (kuffar). Salafisten beziehen den Begriff der "Ungläubigen" zum einen auf Nicht-Muslime wie etwa Christen und Juden, zum anderen aber auch auf Muslime, die nicht die politischen und gesellschaftlichen Auffassungen im Sinne des Salafismus teilen. Aktivitäten In Deutschland ist mittlerweile eine Szene politischer Salafisten entstanden, die aus zahlreichen Netzwerken besteht und vielfältige Aktivitäten entfaltet. Hierbei spielen auch Konvertiten eine zentrale Rolle. 301 Internetseite "Millatu-Ibrahim". Aufruf am 8.11.2011. (Schreibweise wie im Original.). 302 Al-Sheha, Abdur-Rahman: Botschaft des Islam. Riad 2004, S. 128 f. Es handelt sich um eine deutschsprachige Veröffentlichung, die in Berlin in Umlauf gebracht wurde. 206 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Die Aktivitäten umfassen die Verteilung von Broschüren und Flugblättern, die Publikation von Übersetzungen einschlägiger Rechtsgelehrter oder Vorträge von Predigern, regelmäßigen "Islamunterricht", so genannte "Islamseminare", bundesweit organisierte "Islam-Infostände", gelegentliche Fernsehauftritte sowie ein wachsendes Angebot von salafistischen Internetseiten in deutscher und türkischer Sprache. Videos zeigen zumeist junge Nicht-Muslime beim Übertritt zum Islam, darunter sogar Konversionen am Telefon. In Braunschweig bietet seit dem Frühjahr 2007 eine salafistische "Islamschule" ein IslamFernstudium online an.303 Von besonderer Bedeutung für die Verbreitung des Salafismus sind bundesweit aktive, so genannte "Prediger", unter ihnen auch Vertreter aus Berlin. Zu einiger Bekanntheit über die salafistische Szene hinaus ist der deutsche Konvertit Pierre Vogel alias "Abu Hamza" aus Bonn gelangt. Seine Predigten hält er häufig vor mehreren Hundert zumeist jugendlichen Zuhörern, an Großkundgebungen in Frankfurt und Hamburg im April und Juli nahmen über 1 000 Personen teil. "Prediger" wie Vogel versuchen, durch ihre Propaganda-Aktivitäten der Öffentlichkeit salafistische Positionen als vermeintlich islamisches Allgemeingut darzustellen und sich quasi einen Alleinvertretungsanspruch in Sachen "wahrer Islam" zu sichern. Radikalisierungsfördernde Aspekte Indem der Salafismus einen "Opfer-Mythos" der Muslime gegenüber "dem Westen" stilisiert, eine Höherwertigkeit seiner Anhänger gegenüber "den Ungläubigen" propagiert und zu einer Abschottung gegenüber Andersdenkenden aufruft, fördert er in besonderer Weise Radikalisierungsprozesse. Dies wird etwa durch das für Salafisten zentrale Konzept "Loyalität und Meidung" (al-wala' wa-al-bara') deutlich: "Es ist eine Bedingung [...] [des Bekenntnisses zum islamischen Monotheismus] für das Wohlgefallen Allahs zu lieben und für das Wohlgefallen Allahs abzulehnen. Dies ist die stärkste Verankerung des Glaubens, welche die Bedeutung von al-Wala und al-Bara verwirklicht. Dies bedeutet, dass ein Muslim seine muslimischen Brüder und Schwestern lieben und ihnen gegenüber loyal sein sollte. Er sollte sich gänzlich von den Gewohnheiten und Praktiken der Kuffar (Ungläubige i. S. des Islam) trennen und ablehnen, von ihnen beeinflusst zu sein, sowohl in weltlichen als auch in religiösen Angelegenheiten." 304 303 Zu weiteren Einzelheiten hierzu vgl. Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Hannover 2011, S. 48 f. 304 Deutschsprachige salafistische Internetseite, Aufruf am 14.3.2012. Hintergrundinformationen - Salafistische Bestrebungen 207 Die Indoktrination durch salafistische "Prediger" oder entsprechende Inhalte im Internet hat häufig eine radikalisierende Wirkung auf Konvertiten und nicht-praktizierende Muslime, die die extremistische Ausrichtung dieser Ideologie meist nicht erkennen können. Ein Beispiel hierfür stellt der Fall von Arid U. dar, der sich durch salafistische Propaganda im Internet so stark radikalisierte, dass er im März am Frankfurter Flughafen den ersten islamistisch motivierten Terroranschlag in Deutschland beging, bei dem Menschen getötet wurden. Bei Arid U. handelt es sich um einen Einzeltäter, bei dem zuvor keine feste Anbindung an extremistische Strukturen oder eine terroristische Zelle festgestellt werden konnte. Dieser Fall verdeutlicht das Gefährdungspotenzial des Salafismus, der Radikalisierungsprozesse bis hin zur Ausübung terroristischer Aktivitäten fördern kann. Auffällig ist, dass fast alle islamistischen Terroristen mit Bezug zu Deutschland von der salafistischen Ideologie geprägt bzw. radikalisiert worden sind. Salafistische Strukturen in Berlin In Berlin sind Salafisten vor allem in zwei Moscheen aktiv. Dabei handelt es sich um die "As-Sahaba-Moschee" im Wedding und die "Al-Nur-Moschee" in Neukölln, die jedoch auch von vielen nicht-salafistischen Muslimen besucht wird. In der "As-Sahaba-Moschee" und der "Al-Nur-Moschee" gibt es zwei salafistische "Prediger", die bundesweit durch Vortragsreisen bekannt geworden sind und als charismatische Redner gelten. Von ihren deutschsprachigen Vorträgen fühlen sich junge Konvertiten und Muslime angezogen. Beide "Prediger" werben intensiv für ihre Aktivitäten mit eigenen Websites. Vor allem die mehrtägigen so genannten "Islamseminare" sind von Bedeutung. Sie dienen der Vermittlung salafistischer Ideologie, aber auch der Kontaktpflege der Salafisten untereinander und der Werbung neuer Anhänger. In Berlin wurden bislang rund 20 "Islamseminare" mit bekannten salafistischen "Predigern" aus dem Bundesgebiet veranstaltet. Die Teilnehmerzahlen lagen zwischen 30 und 500 Personen. Bis 2010 fanden die meisten der Berliner "Islamseminare" in der "Al-Nur-Moschee" statt. Seither hat sich die "AsSahaba-Moschee" zum Hauptveranstaltungsort entwickelt. 2011 wurden vier von sechs bekannt gewordenen "Islamseminaren" in der "As-Sahaba-Moschee" durchgeführt. In Berlin werden zahlreiche salafistische Publikationen hergestellt und veröffentlicht. Neben dem "As-Sunna-Verlag", der diverse Medien salafistisch geprägter Autoren über einen Online-Shop anbietet305, wurden drei weitere Unternehmen in Berlin gegründet, die 305 Zum "As-Sunna-Verlag" vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2010. Berlin 2011, S. 27 f. 208 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 salafistische Werke verbreiten. Seit Anfang 2010 besteht die Firma "Stilus Design GmbH", die auch einen gleichnamigen Buchladen im Wedding eröffnet hat. Im Juni 2010 wurde ein weiterer Online-Verlag unter dem Namen "Islamische Schriften Verlag" gegründet. Hintergrundinformationen - Legalistische Islamisten 209 6 Legalistische Islamisten 6.1.1 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V." Abkürzung IGMG Entstehung/Gründung 1985 Köln (als "Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e. V." / AMGT) Mitgliederzahl Bund: ca. 31 000 (2010: ca. 30 000) Berlin: ca. 2 900 (2010: ca. 2 900) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Kerpen Veröffentlichungen u. a. "IGMG Perspektive"/ seit Januar 2009 unter dem Titel "Perspektif" (überregional, monatlich) Die IGMG ist die größte islamistische Organisation in Deutschland. Ihr Vorläufer wurde 1985 unter der Bezeichnung "Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e.V." ("Avrupa Milli Görüs Teskilatlari" / AMGT) in Köln gegründet. Hieraus gingen 1995 die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V." (IGMG) und die "Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft e.V." (EMUG) hervor. Die EMUG ist für die Verwaltung des Immobilienbesitzes der Vereinigung verantwortlich. Die islamistische Ausrichtung der "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V." geht auf das politische Konzept von Necmettin Erbakan zurück, das dieser 1973 in dem gleichnamigen Buch "Milli Görüs" ("Nationale Sicht") veröffentlichte. Erbakans Ziel war es, die türkischen Bürger unter dem Dach von Nationalismus und Islamismus zu einen und in der Türkei ein islamistisches Staatswesen zu errichten. Als politisches und gesellschaftliches Ordnungsmodell propagierte er eine "gerechte Ordnung" ("adil düzen"), in welcher die Scharia gilt und politisches Handeln sich an den Prinzipien von Koran und Sunna orientiert. Erbakan lehnte wesentliche rechtsstaatliche Prinzipien wie Volkssouveränität oder Parteienpluralismus als unvereinbar mit der "gerechten Ordnung" ab. Er forderte in der Vergangenheit einen Systemwechsel nicht allein in der Türkei, sondern in der gesamten Welt: 210 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 "Die "Milli^ Görüs-Bewegung ist eine Bewegung, die für den Beginn einer neuen gerechten Welt steht. [...] Die "Milli^ Görüs"-Bewegung ist der Beginn der Errichtung einer neuen Welt und setzt sich nicht nur für die Glückseligkeit der Menschen in der Türkei, sondern auf der ganzen Welt ein." 306 Erbakan betrachtete den Islam als Gesellschaftsmodell, das sämtlichen westlichen Gesellschaftssystemen überlegen sein soll. Dieses Gesellschaftsmodell wird bis heute in der "Milli Görüs"-Bewegung propagiert, auch über den Tod von Erbakan am 27. Februar 2011 hinaus. So führte sein Nachfolger Mustafa Kamalak aus: "Die Ziele unseres Hocas werden auf jeden Fall verwirklicht. Was waren die Ziele unseres Hocas? Er hat eine lebenswerte Türkei, eine neue Groß-Türkei und eine neue Welt angestrebt. Es ist unsere Pflicht, diese Ziele zu verwirklichen.307 Die Ideologie der "Milli Görüs" spiegelt sich nicht nur in den Verlautbarungen der Funktionäre, sondern auch in der breiten Diskussion an der Basis - etwa in der "Milli Gazete". Die türkische Tageszeitung, die mit einer Europaausgabe in Deutschland erscheint, als inoffizielles Sprachrohr der "Milli Görüs"-Bewegung. So werden in einem in der "Milli Gazete" veröffentlichten Gedicht die Pflichten des "Milli Görüs"-Anhängers benannt. Von ihm wird erwartet, dass er sich mit ganzer Kraft für die Bewegung einsetzt, damit "der Islam zur Herrschaft gelangt". Das Ziel ist demnach die Errichtung eines islamistischen Staatswesens: "Der Milli^ Görüs Mann ... tut alles für die Ordnung (nizam), das Heil (selamet), die Wohlfahrt ( refah), die Tugend (fazilet) und die Glückseligkeit (saadet) der Menschheit.308 ... weiß, dass der einzige Weg, der ihn zur Wahrheit (hak; auch: Gott) führt, in der Milli^ Görüs liegt; setzt sich für seine Zeitung, seinen Fernsehsender, seine Stiftung, seine Partei ein. ... trifft die notwendigen Maßnahmen dafür, dass der Islam zur Herrschaft gelangt, und ergibt sich in Gottes Willen." 309 306 "Milli Gazete" vom 17. / 18.4.2010, S. 1 und 10. 307 "Milli Gazete" vom 14.3.2011. 308 Es handelt sich hier um die ehemaligen Namen der "Milli Görüs"-Parteien, bis hin zur heute existierenden "Glückseligkeitspartei" (Saadet Partisi, SP). 309 "Milli Gazete" vom 9.6.2007, S. 17. Hintergrundinformationen - Legalistische Islamisten 211 Vorgesehen ist dabei nicht nur eine politische Neuordnung der Türkei sondern der gesamten Welt: "Die Milli^ Görüs ist eine Bewegung, die für den Beginn einer neuen gerechten Welt steht. [...] Die "Milli^ Görüs"-Bewegung ist der Beginn der Errichtung einer neuen Welt und setzt sich nicht nur für die Glückseligkeit der Menschen in der Türkei, sondern auf der ganzen Welt ein." 310 Necmettin Erbakan hatte 1970 - auf der Grundlage der "Milli Görüs"-Ideologie - seine erste islamistische Partei in der Türkei gegründet. Er konnte trotz mehrmaliger Parteiverbote und anschließender Neugründungen eine Spaltung seiner Anhängerschaft bis 2001 verhindern. Interne Flügelkämpfe zwischen den so genannten Traditionalisten und den Erneuerern in der "Fazilet Partisi" (FP / "Tugendpartei") führten nach ihrem Verbot im Juni 2001 zur Gründung von zwei Nachfolgeparteien. Hierzu gehört die im Juli 2001 vom ehemaligen Vorsitzenden der "Tugendpartei", Recai Kutan, gegründete "Saadet Partisi" (SP / "Partei der Glückseligkeit"), in der sich die "Traditionalisten" wiederfinden, die sich zur "Milli Görüs"-Ideologie und deren Begründer Erbakan, der von Oktober 2010 bis zu seinem Tod auch Parteivorsitzender war, bekennen. Die zweite Nachfolgepartei stellt die - im August 2001 vom ehemaligen Istanbuler Oberbürgermeister und früheren Anhänger der FP, dem jetzigen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, gegründete - "Adalet ve Kalkinma Partisi" (AKP / "Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei") dar, die als politisches Lager der "Erneuerer" gilt. Zwischen der IGMG in Deutschland, Necmettin Erbakan und der SP bestehen - wie bei den anderen früher von Erbakan geführten Parteien - enge Verbindungen. Erbakan und andere SP-Parteifunktionäre nahmen häufig an Veranstaltungen der IGMG teil. Darüber hinaus wurden in der Vergangenheit Funktionäre der IGMG in Ämter der islamistischen Parteien Erbakans in Ankara gewählt. So wurden 1995 drei ehemalige AMGT-Mitglieder als Abgeordnete der "Wohlfahrtspartei" in das türkische Parlament gewählt, unter ihnen Osman Yumakogullari, der bis 1995 Vorsitzender der "Milli Görüs" in Deutschland und Verantwortlicher der Deutschlandausgabe der "Milli Gazete" gewesen war. Die IGMG präsentiert sich in ihren offiziellen Verlautbarungen als eine auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehende Organisation, die sich für den Dialog zwischen türkischen Muslimen und der deutschen Gesellschaft einsetzt. Auch der Berliner Landesverband, dessen Vorstand von der IGMG-Zentrale ernannt wird, zeigt durch Teilnahme an zahlreichen Projekten Dialogbereitschaft. 310 "Milli Gazete" vom 17. / 18.4.2010, S. 1 und 10. 212 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Von der islamistischen "Milli Görüs"-Ideologie Erbakans und dessen Nachfolger hat die IGMG sich bislang genauso wenig distanziert wie von der "Milli Gazete". In dieser Tageszeitung, die für den Zusammenhalt der "Milli Görüs"-Bewegung von zentraler Bedeutung ist fand sich immer wieder antisemitische Propaganda - etwa in der Leugnung des Holocausts: "Und die große Lüge. Diese Lüge ist die Legende, dass 6 Millionen Juden ermordet worden seien. Diese Legende, die zu einem Dogma und (wie es das Wort Holocaust auch als Bedeutung beinhaltet) in eine heilige Legende verwandelt wurde, wird dafür missbraucht, um das Unrecht von Israel in Palästina, im ganzen Mittleren Osten, in den USA und mit Hilfe der USA in der gesamten Weltpolitik [...] zu rechtfertigen. [...] Die Legende des Genozids an den Juden passte den Interessen von allen, denn von ihm als dem größten Genozid der Geschichte zu reden, bedeutete für die westlichen Kolonialisten, ihre eigenen Verbrechen in Vergessenheit geraten zu lassen, für Stalin dagegen bedeutete das, seine grausamen Ungerechtigkeiten unter den Teppich zu kehren." 311 Der Antisemitismus wird häufig als Kritik am Zionismus formuliert. Neben den als "Imperialisten" bezeichneten westlichen Staaten ist aus "Milli Görüs"-Sicht die "zionistische Verschwörung" an den politischen Missständen schuld. Auch Necmettin Erbakan äußerte sich antisemitisch, so in einem Interview mit der Berliner Morgenpost: "Seit 5700 Jahren regieren Juden die Welt. Es ist eine Herrschaft des Unrechts, der Grausamkeit und der Gewalt. Sie haben einen starken Glauben, eine Religion, die ihnen sagt, dass sie die Welt beherrschen sollen." 312 Durch Mitgliedsbeiträge und Spenden verfügt die IGMG über erhebliche finanzielle Mittel. Dies ermöglicht ihr, eine Vielzahl von Aktivitäten anzubieten. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in der Erziehungsund Bildungsarbeit für Kinder und Jugendliche. Der damalige hessische Jugendvorsitzende führte hierzu in der "Milli Gazete" aus: "Stahl ist deshalb Stahl, weil sich darin keine Zusätze und keine Schlacken befinden; wir wünschen uns auch eine Jugend, die sich von außen nicht beeinflussen lässt, die zugunsten ihrer Ideale Opfer erbringen kann und die der Gesellschaft von Nutzen ist. Deswegen nennen wir dies 'Stählung'." 313 311 "Milli Gazete", Onlineausgabe vom 22.8.2006. Vgl. auch Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2006. Berlin 2007, S. 240. 312 Interview der Berliner Morgenpost mit Erbakan, online erschienen am 8.11.2010. 313 "Milli Gazete" vom 12.12.2006, S. 19. Hintergrundinformationen - Legalistische Islamisten 213 Der ehemalige Vorsitzende der IGMG-Jugend in Berlin betonte bei einem Jugendfest der IGMG in Berlin: "In Anbetracht all dieser Geschehnisse ist das einzige, was zu machen ist, die Verteidigung unserer Werte. Also, dass die Lösung im Islam und in der Milli^ Görüs, liegt, ist offensichtlich." 314 Die zahlreichen Angebote sowie die Mitarbeit in islamischen Dachverbänden nutzt die IGMG auch für ihr Ziel, hinsichtlich der Interessenvertretung der in Deutschland lebenden türkischen Muslime eine Vorrangstellung einzunehmen. Im Oktober 2002 trat der Vorsitzende des IGMG-Hauptverbandes, Mehmet Sabri Erbakan, von seinem Amt zurück. Dieser Schritt, die deutliche Niederlage der SP von Necmettin Erbakan bei den türkischen Parlamentswahlen vom 3. November 2002 sowie der Wahlsieg der "Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei" (AKP) von Recep Tayyip Erdogan315 lösten in der IGMG in Deutschland eine Krise aus und führten zu internen Auseinandersetzungen zwischen "Traditionalisten" und "Reformern" über die zukünftige Ausrichtung der Organisation. Die darauf folgenden Parlamentswahlen am 22. Juli 2007 in der Türkei bestätigten das Wahlergebnis von 2002: Während die AKP mit rund 46 Prozent noch weiter an Stimmen gewann, erreichte die SP nur 2,3 Prozent und überwand die 10 Prozent-Sperrklausel erneut nicht. Die "Traditionalisten" in der IGMG erwarten, dass die Organisation weiter auf die Verwirklichung politischer Ziele in der Türkei hinarbeitet und Erbakans Forderungen bzw. den Forderungen der SP nachkommt. Die "Reformer" hingegen fordern eine Neuausrichtung auf die veränderten Bedürfnisse vor allem der Anhänger der zweiten und dritten Generation in Europa. Diese wünschen den Ausbau des religiösen und sozialen Angebots. Sie fordern eine Emanzipation von Erbakan und seiner Ideologie und wollen mehr Mitbestimmung in der IGMG durchsetzen. Die IGMG-Führung versucht, beiden Positionen gerecht zu werden, um eine Spaltung des Verbandes zu vermeiden. Eine programmatische Neuausrichtung der IGMG hat bisher nicht stattgefunden. 314 "Milli Gazete" vom 12.6.2006, S. 18. 315 Von ehemals 15,4 Prozent vor der Spaltung der FP sank das Ergebnis der SP auf 2,5 Prozent. Die AKP erhielt hingegen 34,2 Prozent der Wählerstimmen. 214 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 6.1.2 "Muslimbruderschaft"/"Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." Abkürzung MB IGD Entstehung/Gründung 1928 Ägypten (MB) 1960 Deutschland (IGD) Mitgliederzahl Bund: ca. 1 300 (2010: ca. 1 300) Berlin: ca. 100 (2010: ca. 100) Organisationsstruktur Eingetragener Verein (IGD) Veröffentlichungen "Risalat al-Ikhwan" (Rundschreiben der Bruderschaft) "Al-Islam" (Der Islam) (nur noch als Online-Version) Die 1928 in Ägypten gegründete "Muslimbruderschaft" (MB) ist die älteste arabische islamistische Gruppierung. Die pan-islamistische Organisation ist heute, teils unter anderen Namen, in fast allen Ländern des Vorderen Orients vertreten und unterhält auch Zweige in westeuropäischen Ländern. Ein öffentlich kaum bekanntes Gremium, die "Internationale Organisation", koordiniert in über 70 Ländern die Aktivitäten der verschiedenen nationalen MB-Vereinigungen. In Europa existieren zudem zahlreiche Institutionen, Verbände und Vereine, die direkt oder indirekt mit der MB verbunden sind. In den meisten nahöstlichen Staaten fungierte die MB lange als halbbis illegale Opposition zur Regierung, wobei ihre Aktivitäten von den jeweiligen politischen Verhältnissen abhingen: Während in Syrien der Aufstand gegen die Staatsmacht 1982 gewaltsam beendet wurde, nahm die Bereitschaft der MB zur Anpassung dort zu, wo eine Einbindung in den parlamentarischen Prozess gelang. Dies war in Ägypten bereits in den 1980er Jahren der Fall; auch in Jordanien ist die MB im Parlament vertreten. Die ägyptische MB, größte der MB-Organisationen, durchlief verschiedene historische Phasen: In ihrer Frühphase in den 1920er und 1930er Jahren hatte für sie die Lehre und Erziehung der Gläubigen Vorrang. In den 1940er, 1950er und 1960er Jahren agierte sie militant und verübte zahlreiche Anschläge auf Vertreter des ägyptischen Staates. Höhepunkt der drei Jahrzehnte andauernden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen MB und dem Staat war die Hinrichtung ihres Chefideologen Sayyid Qutb 1966. Als nicht mehr gewaltorientiert gilt die ägyptische MB erst nach Abspaltung ihrer militanten Flügel ("Takfir wa'l-Hijra"316 und "al-Jihad al-islami") in den späten 1970er Jahren. Darauf folgte eine Phase der Integrationsbereitschaft in das politische System. Der Entschluss der MB, 316 Wörtl. "Exkommunizierung [des bestehenden Gesellschaftssystems] und [innere] Emigration". Hintergrundinformationen - Legalistische Islamisten 215 sich im politischen System Ägyptens auch an Wahlen zu beteiligen und im Parlament mitzuarbeiten, wird teilweise als ein "Marsch durch die Institutionen" gewertet. Ideologisch verkörpert die MB ein breites Spektrum, das bis zur Schaffung einer so genannten "islamischen Demokratie" reicht. Aus den 1930er Jahren stammt der Anspruch der MB, dass es eine "Ordnung des Islams" gebe. Dieser relativ unkonkrete Anspruch definiert die islamische Religion als ein "System", das "zu jeder Zeit und an jedem Ort" anwendbar sein soll und das Koran und Sunna zur Richtschnur politischen Handelns erhebt. Zeitgenössische Vorstellungen zu Staat und Gesellschaft vertritt die MB mit der Forderung nach "Anwendung der Scharia", des islamischen Rechts und der Schaffung eines islamistischen Staatswesens. Da hierin Religion und Staat nicht getrennt sein sollen, wäre das von der MB angestrebte Staatswesen ein Staat, der westlichen Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zuwiderläuft. Die islamistische Ausrichtung der Organisation zeigte sich auch in ihrem ersten 'Parteiprogramm' von 2007. Hierin schloss die Organisation Frauen und Christen von den Ämtern des Präsidenten sowie des Premierministers aus. Ferner sah sie einen "religiösen Rat" mit bindenden Entscheidungen neben dem Parlament vor.317 Die Haltung der MB zur Gewalt ist ambivalent. Zwar lehnt sie seit den 1970er Jahren Gewaltanwendung zur Durchsetzung ihrer politischen Agenda ab. Andererseits befürwortet die MB Gewalt im israelisch-palästinensischen Konflikt. Hier rechtfertigt sie den militanten Jihad mit einer Verteidigungssituation und erklärt ihn für vermeintlich legitim. In einschlägigen Äußerungen führender MB-Vertreter, die bis zur Verneinung des Existenzrechts Israels reichen, werden Jihad und Selbstmordanschläge mit der militärischen Unterlegenheit der Palästinenser gegenüber Israel sowie mit dem vermeintlich militärischen Charakter der israelischen Gesellschaft begründet. So äußerte Muhammad Mahdi Akif, Vorgänger des derzeitigen "Obersten Führers" der ägyptischen MB, Muhammad Badei, noch 2006, dass es "für Israels Existenz in der Region keinen Grund" gebe.318 Von den politischen Umbrüchen des "Arabischen Frühlings", die in Ägypten zum Sturz des Präsidenten Mubarak führten und nach Jahrzehnten politischer Stagnation erstmals freie Wahlen ermöglichten, profitierte die bis dahin verbotene MB. Ihre neu gegründete "Freiheitsund Gerechtigkeits-Partei" ("Hizb al-Hurriya wa'l-Adala") errang bei den Parlamentswahlen (28. November 2011 - 8. Januar 2012) auf Anhieb 45,7 Prozent der Stimmen und stellt 235 der insgesamt 498 Abgeordneten. Zusammen mit der überraschend siegreichen salafistischen "Nur-Partei" ("Hizb al-Nur"), die 24,6 Prozent der Stimmen (123 Sitze) erreichte, haben beide islamistische Parteien eine Mehrheit von mehr als 70 Prozent der 317 Vgl. "Programm der Partei der Muslimbruderschaft" (arab.) vom 25.8.2007. 318 Vgl. "al-Hayat" (arab.) vom 6.10.2006. 216 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Sitze. Auch bei den Wahlen zur zweiten Kammer, dem Schura-Rat, errang die MB 59 Prozent der per Wahl bestimmten Sitze (betrifft 180 von 270 Sitzen). Die Bedeutung der Wahlsiege der MB lässt sich derzeit noch nicht abschätzen. Dies gilt vor allem für die Frage, inwieweit der Islam in der künftigen Verfassung verankert wird, welche Stellung der koptischen Minderheit in Ägypten zukommt und ob der Friedensvertrag mit Israel Bestand haben wird. Der Generalsekretär der "Freiheit und Gerechtigkeits-Partei" und neue Parlamentsvorsitzende Muhammad Katatni erklärte, dass die Partei eine moderate Islam-Interpretation vertrete.319 Die MB werde die Kopten nicht ausgrenzen und internationale Verträge - d.h. auch den 1977 mit Israel geschlossenen Camp David Vertrag - respektieren.320 Die in Deutschland mitgliederstärkste Organisation von MB-Anhängern ist die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V." (IGD), die aus der 1960 in München von dem ägyptischen MB-Mitglied Said Ramadan gegründeten "Moscheebau-Kommission e.V." hervorgegangen ist. Die IGD existiert seit 1982 unter ihrer heutigen Bezeichnung. Sie ist Mitgliedsorganisation des in Großbritannien ansässigen Dachverbands MB-naher europäischer Organisationen und Verbände, der "Föderation Islamischer Organisationen in Europa" (FIOE). Die IGD war bis Mai 2010 an der Deutschen Islam Konferenz (DIK) beteiligt.321 Mit gewaltbefürwortenden Äußerungen trat sie bisher nicht in Erscheinung. Von 2002 bis Anfang 2010 wurde die IGD von Ibrahim El-Zayat geleitet, der eine Zugehörigkeit zur MB bestreitet. El-Zayat war 2007 in einem ARD-Interview vom damaligen "Obersten Führer" Muhammad Mahdi Akif als "Chef der Muslimbrüder in Deutschland" bezeichnet worden. Als die Tageszeitung "Die Welt" diese Aussage zitierte, erwirkte ElZayat eine Gegendarstellung.322 Allerdings rechneten auch die ägyptischen Behörden ElZayat der MB zu. So verurteilte ihn ein ägyptisches Militärgericht im April 2008 in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren. Der Vorwurf gegen die Angeklagten lautete auf Geldwäsche und Finanzierung der Aktivitäten der seinerzeit in Ägypten verbotenen MB. Seit Anfang 2010 Samir Falah neuer Präsident der IGD. Da El-Zayats Nähe zur MB mittlerweile der Öffentlichkeit weitestgehend bekannt ist, könnte sein Rückzug durch taktische Erwägungen begründet gewesen sein. Die IGD hat Verbindungen zu einer Reihe von Vereinen. In Berlin zählen hierzu das "Interkulturelle Zentrum für Dialog und Bildung e.V." (IZDB), das "Islamische Kulturund Erziehungszentrum e.V." (IKEZ) sowie der "Verband Interkultureller Zentren e.V." (VIZ). 319 Vgl. Mohamed Saad Katatni: 'Not a religious party'. al-Jazeera.net. (engl.) 27.11.2011. 320 Vgl. "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 26.5.2011; "Der Tagesspiegel" vom 10.1.2012. 321 Die IGD ist eine der Gründungsorganisationen des "Zentralrats der Muslime in Deutschland" (ZMD), der auf der DIK vertreten ist. 322 Vgl. "Die Welt Online" vom 10.4.2007. Hintergrundinformationen 217 6.1.3 "Tabligh-i Jama'at"/"Jama'at-i Tabligh" ("Gemeinschaft der Verkündigung und Mission") Abkürzung TJ JT Entstehung/Gründung 1927 Indien Mitgliederzahl Bund: ca. 700 (2010: ca. 700) Berlin: ca. 50 (2010: ca. 60) Die 1927 in Indien von Muhammad Ilyas (1885 - 1944) gegründete "Tabligh-i Jama'at" (TJ) ist eine hierarchisch organisierte und weltweit mehrere Millionen Anhänger umfassende Missionierungsbewegung, die dem "traditionellen Islamismus" zuzurechnen ist. Ihr organisatorisches und geistiges Zentrum hat die TJ in Indien, Pakistan und Bangladesh, von wo aus die weltweiten Aktivitäten der TJ gesteuert werden. In diesen Zentren werden TJMitglieder aus der ganzen Welt geschult. Die europäische Zentrale der TJ befindet sich in Großbritannien. In Deutschland sind mehrere TJ-Gruppen aktiv, darunter auch in Berlin. Zu den Aktivitäten der TJ gehören Missionsreisen, auf denen Muslime von der Ideologie der TJ überzeugt und als Mitglieder rekrutiert werden sollen. Die einzelnen TJ-Gruppen werden von der Führung in Asien hinsichtlich ihrer Missionierungstätigkeiten kontrolliert. In Pakistan findet jährlich ein Welttreffen mit mehreren hunderttausend Anhängern statt. Politisches Ziel der TJ ist die "Durchsetzung der Scharia". Ihre spezifische Interpretation des islamischen Rechts hat weitreichende politische, gesellschaftliche und rechtliche Konsequenzen. Die TJ orientiert sich vor allem an frühislamischen Vorschriften und Lebensgewohnheiten, wie sie im siebten Jahrhundert in Mekka und Medina vorherrschten. Ihr Bemühen, eine muslimische Idealgesellschaft nach dem Vorbild des Frühislam zu schaffen, schließt ein weitgehend wörtliches Verständnis des Koran und der Sunna ein. Dies hat zur Konsequenz, dass ihre gegenwärtige Vorstellungswelt von der Abgrenzung gegenüber Nicht-Muslimen und der Befürwortung der rechtlichen Benachteiligung der Frau geprägt ist. Erfolgreich Missionierten werden häufig mehrmonatige Schulungsver-anstaltungen in pakistanischen Koranschulen vermittelt. Solche intensiven Schulungen sind geeignet, die Teilnehmer zu indoktrinieren und für militant-islamistisches Gedankengut empfänglich zu machen. In Einzelfällen haben Schulungsteilnehmer anschließend den Weg in Mujahidin-Ausbildungslager in Afghanistan gefunden. Auch wenn die Bewegung nach eigenem Bekunden Gewalt ablehnt und sich als unpolitisch darstellt, ist die Gefahr gegeben, dass sie aufgrund ihres Bestrebens nach Durchsetzung frühislamischer Rechtsund Herr- 218 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 schaftsverhältnisse sowie ihrer weltweiten Missionierungstätigkeit islamistische Radikalisierungsprozesse befördert. Nachdem das TJ-"Deutschlandtreffen" 2010 noch in Berlin abgehalten wurde, fand es 2011 in Hannover statt. An dem Treffen im März, zu dem auch hochrangige TJ-Vertreter aus dem europäischen Ausland anreisten, nahmen mit etwa 250 Besuchern nur noch rund halb so viele Personen teil wie im Jahr zuvor. Hintergrundinformationen - Rechtsextremismus 219 7 Rechtsextremismus 7.1 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus 7.1.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" Abkürzung NPD Entstehung/Gründung Bund: 1964 Landesverband Berlin: 1966 Mitgliederzahl Bund: ca. 6 300 (2010: ca. 6 500) Berlin: ca. 250 323 (2010: ca. 250) Organisationsstruktur Partei Sitz Berlin Veröffentlichungen "Deutsche Stimme" (überregional, monatlich, Auflage ca. 25 000) "Zündstoff - Deutsche Stimme für Berlin und Brandenburg" (regional, vierteljährlich) Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) ging 1964 aus der rechtsextremistischen "Deutschen Reichspartei" (DRP) hervor. Der Vorsitzende der DRP, Adolf von Thadden, war Initiator der NPD-Gründung und von 1967 bis 1971 deren Vorsitzender. Die NPD verfügt mit den "Jungen Nationaldemokraten" (JN) über eine Jugendund mit dem "Ring Nationaler Frauen" (RNF) über eine Frauen-Organisation. Darüber hinaus existiert die "Kommunalpolitische Vereinigung" (KPV) als Organisation für die kommunalen Mandatsträger der NPD sowie ein eigener "Ordnungsdienst". Bestehende innerparteiliche Interessengruppen wie der "Arbeitskreis Christen" und der "Arbeitskreis Rußlanddeutscher" besitzen keine Relevanz. Als Parteizeitung vertreibt die NPD die Monatsschrift "Deutsche Stimme" (DS) und ist an der "Deutsche Stimme Verlags GmbH" beteiligt. Die Partei, deren Bundesgeschäftsstelle sich seit 2000 in Berlin befindet, verfügt über 16 Landesverbände. Der Berliner Landesverband untergliedert sich in acht Kreisverbände, von denen einige zurzeit inaktiv sind. Nachdem die Partei 2006 mit 11 Verordneten in 323 Inklusive der "Jungen Nationaldemokraten" (JN): 50 Mitglieder in Berlin, 430 bundesweit. 220 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 vier Berliner Bezirksverordnetenversammlungen (BVVen) einziehen konnte, verlor sie bei den Berliner Wahlen 2011 knapp die Hälfte ihrer kommunalpolitischen Mandate. Aktuell ist sie mit jeweils zwei Verordneten in den BVVen von Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick vertreten. Die NPD vertritt fremdenfeindliche, rassistische und antisemitische Positionen. Durch Verallgemeinerungen und Verbreitung von negativen Stereotypen schürt sie Überfremdungsängste: "Die aus der Türkei und den arabischen Ländern stammenden Einwanderer sind im Vergleich zu deutschen oder europäischen Altersgenossen überproportional bildungsresistent und daher für eine Wissensgesellschaft wie die deutsche auch volkswirtschaftlich kaum von Nutzen. Von ihrer Landnahmementalität und ihrem überdurchschnittlich ausgeprägten Hang zur Kriminalität einmal ganz zu schweigen. [...] Die kulturfremden Ausländer sind in der Regel nicht integrationsfähig und werden immer Fremdkörper in unserem Land bleiben. [...] Diese [...] durch Heranführung an ihrer eigene Kultur schrittweise wieder in ihre Heimat zurückzuführen, ist das Gebot der Stunde." 324 Hinter Kritik am Staat Israel versteckt die NPD in öffentlichen Stellungnahmen zusehends ihre antisemitische Haltung. Dass diese antizionistische Komponente allerdings nur Tarnung für den dahinterliegenden Antisemitismus der NPD ist, zeigt sich in den wiederkehrenden antijüdischen Stereotypen, die in nahezu jeder vordergründig israelkritischen Stellungnahme der Partei zu finden sind. "Gewalt ist eine historische Konstante des Zionistenstaates. Man könnte auch sagen: Israel hat nicht nur ein Sonderverhältnis zum Geld, sondern auch eine besondere Affinität zum Staatsterror! [...] Und wird Israel doch mal in einem UNO-Gremium kritisiert, ducken sich die Vertreter der Bundesrepublik vor der Israel-Lobby und der blühenden Holocaust-Industrie; stärken sie dem Apartheidstaat demonstrativ den Rücken. [...] Dennoch ist offenkundig: Terrorismus und Unterdrückung tragen einen Namen: Den Namen des Staates Israel!" 325 Die NPD versteht sich als Fundamentalopposition, die regelmäßig staatliche Institutionen, Abgeordnete und Parteien verunglimpft. 324 Ronny Zasowk: "Getroffene Hunde bellen - Kreuzberg zeigt sein wahres Gesicht". Internetauftritt der NPD, datiert 20.7.2011. 325 "Kritik am Zionistenstaat Israel lässt Blockparteien Amok laufen.", Internetauftritt der NPD, datiert 18.6.2010. Hintergrundinformationen - Rechtsextremismus 221 "Diese Politiker, die für das Wohl und Wehe unseres Volkes Verantwortung übernommen haben, sind schlimmer als jede "Heuschrecke". [...] Doch Verrat muß seinen Preis haben. Der Verräter zur Kasse gebeten werden. Verrat verdient die Höchststrafe, die in schweren Fällen nur der Tod sein kann." 326 Als "sozialrevolutionäre Erneuerungsbewegung" propagiert sie in aggressiver Weise die grundsätzliche Neuordnung des politischen Systems. "Anstatt sich dem Schutz von Identität, Souveränität und Solidarität der Deutschen zu verschreiben, betrieb das antideutsche Politikerkartell eine planvolle Interessenpolitik für Ausländer, das Ausland und das Großkapital. [...] Hier hilft kein bloßer Politikerwechsel, weil durch den Austausch eines Volksbetrügers durch einen anderen nichts gewonnen ist, sondern nur ein radikaler, also an die Wurzel des Übels gehender Politikwechsel." 327 "Die NPD hat den Mut für die Verwirklichung einer neuen nationalen und sozialen Ordnung aller Deutschen, weil die alte Ordnung von den Machthabern zerstört wird und deshalb dem deutschen Volk seine Zukunft nicht mehr sichern kann." 328 Unter der Überschrift "Eigenes Selbstverständnis - Systemüberwindung" heißt es in einem Positionspapier des Parteivorstands der NPD: "Das Rezept dieser zwischenzeitlichen Erfolge, die uns in aller Munde brachte, war eine ganz klare und vor allem kompromisslose Ausrichtung auf Überwindung des liberalkapitalistischen Systems und des bestehenden volksfeindlichen Parteienstaats." 329 Ideologische Grundlagen der NPD sind ein anti-individualistisches Menschenbild und der völkische Kollektivismus. Immer wieder bemüht sie hierfür den Begriff der so genannten "Volksgemeinschaft". 326 Dr. Kersten Radzimanowski: "Zieht die Politiker zur Verantwortung", Internetauftritt der NPD, datiert 19.5.2010. 327 Jürgen Gansel: "Die Systemkrise beginnt im kommunalen Unterbau.", Internetauftritt der NPD, datiert 23.2.2010. 328 "Wir sagen was sie denken. Landesaktionsprogramm für ein deutsches Berlin.", Internetauftritt des NPDLandesverbandes Berlin, datiert 27.6.2011. 329 "Der Deutsche Weg" - Grundsatzpapier des NPD-Parteivorstands zur zukünftigen Ausrichtung nationaler Politik in Deutschland. Dok. in DS 6/09 (Juni 2009), S. 15 f., hier: S. 15. 222 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 "Dieser potentiell nationalrevolutionären Mehrheit im Volk muß klar werden, dass die Volksgemeinschaft in der Globalisierungsära die einzig denkbare Schutzund Solidargemeinschaft ist." 330 Der Begriff der von der NPD nahezu mystisch verklärten "Volksgemeinschaft" dient der Partei vor allem als ideologischer Überbau für ihre rassistischen und fremdenfeindlichen Positionen. Die "Volksgemeinschaft" in der Diktion der NPD basiert einzig und allein auf ethnischer Homogenität, von der alles "Fremde" ausgeschlossen bleibt. Wenige Jahre nach ihrer Gründung verzeichnete die NPD mit dem Einzug in mehrere Landesparlamente ihre ersten Erfolge. Den Höhepunkt in dieser Phase erlebte die NPD im Jahr 1969, als sie bei der Bundestagswahl mit 4,3 Prozent der Stimmen nur knapp den Einzug in den Deutschen Bundestag verpasste. Danach kam es aufgrund innerparteilicher Querelen zu einem Bedeutungsverlust der Partei. Der 1996 zum Parteivorsitzenden gewählte Udo Voigt versuchte mit einem "Drei-Säulen-Konzept" eine strategische Neuausrichtung und Wiederbelebung der NPD zu erreichen.331 Demnach konzentriert sich die Arbeit auf drei Ebenen: den "Kampf um die Straße", den "Kampf um die Köpfe" und den "Kampf um die Parlamente". Das Konzept formuliert das Ziel, die NPD nicht nur als Wahlpartei zu etablieren ("Kampf um die Parlamente"), sondern auch Einfluss auf intellektuelle Diskurse zu nehmen ("Kampf um die Köpfe") und durch provokante Aktionen und Demonstrationen die Basis ihrer Anhängerschaft zu verbreitern ("Kampf um die Straße"). Mit dem "Drei-Säulen-Konzept" und der Öffnung der Partei konnte die NPD insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern in den 90er Jahren neue, überwiegend jüngere Mitglieder gewinnen. Mit der konzeptionellen Neuausrichtung war auch eine Radikalisierung der Partei verbunden, die im Jahr 2000 Anlass für die Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht war.332 Das Verfahren zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der NPD und Auflösung ihrer Parteiorganisation wurde mit Entscheidung des Zweiten Senats vom 18. März 2003 eingestellt.333 330 Jürgen Gansel: "Weckruf an die 'kleinen Leute' im Volk". Internetauftritt der NPD, datiert 4.2.2011. 331 Vgl. Holger Apfel: "35 Jahre NPD - Alles Große steht im Sturm. Tradition und Zukunft einer großen Partei.", Stuttgart 1999. 332 Vgl. Beschluss des BVerfG vom 18.3.2003, 2 BvB 1/01. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2001. Berlin 2002, S. 32 - 36; Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2002. Berlin 2003, S. 17 - 20; Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, S. 53 - 56. 333 Im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts fand sich nicht die nach SS 15 Abs. 4 BVerfGG für eine Fortsetzung notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit. Eine Minderheit der Richter (drei von sieben) vertrat die Auffassung, dass die Beobachtung der NPD durch V-Personen, die unmittelbar vor und während des Verbotsverfahrens als Mitglieder des Bundesvorstands oder eines Landesvorstands fungieren, in der Regel unvereinbar mit den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren sei. Die Mehrheit hielt eine Fortsetzung des Verbotsverfahrens für geboten. Sie sah in dem Vorgehen der Verfassungsschutzbehörden keinen schwerwiegenden Mangel, der eine Verfahrenseinstellung rechtfertigen könnte (Pressemitteilung des BVerfG vom 18.3.2003, AZ.: 2 BVB 1/01). Hintergrundinformationen - Rechtsextremismus 223 Nach Aufdeckung der Mordserie des "Nationalsozialistischen Untergrundes" (NSU) hat sich die Innenminister-Konferenz darauf verständigt, im November 2011 ein erfolgreiches NPD-Verbot anzustreben. Eine Bund-Länder-Expertengruppe prüft die rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen eines entsprechenden Verfahrens. Der sich an die Einstellung des Verbotsverfahrens 2003 anschließende Aufschwung der Partei mündete in den Einzug der NPD in die Landtage von Sachsen und MecklenburgVorpommern. In beiden Ländern konnte die NPD 2009 und 2011 erneut in das jeweilige Landesparlament einziehen. Trotz intensivster Bemühungen ist es der Partei jedoch nicht gelungen, diese Erfolge in anderen Bundesländern zu wiederholen. Vielmehr sorgten finanzielle Unregelmäßigkeiten und parteiinterne Streitigkeiten dafür, dass die Entwicklung der Partei stagnierte und sie an Bedeutung innerhalb der rechtsextremistischen Szene verlor. Hieran konnte auch die Ende 2010 beschlossene Fusion mit der "Deutschen Volkspartei" (DVU) nichts ändern. Unabhängig von der Frage, ob diese Parteienfusion juristisch Bestand haben wird334, konnte die NPD durch die Verschmelzung mit der DVU weder an Mitgliedern, noch im finanziellen Bereich nennenswerte Zuwächse verzeichnen. Auch der im November 2011 neugewählte Bundesvorsitzende der NPD, der Vorsitzende der NPD-Fraktion im sächsischen Landtag Holger Apfel, mit seiner nebulösen Strategie einer "seriösen Radikalität" wird die Stagnation der Partei kurzfristig nicht beenden können. Finanzielle Probleme und ein strategischer Spagat zwischen "Wahlpartei" und "Weltanschauungspartei" dürften dem bis auf Weiteres im Wege stehen. Der Berliner Landesverband der NPD ging 2003 aus dem 1991 zunächst gemeinsam gegründeten Parteiverband für Berlin/Brandenburg hervor. Seine jüngere Entwicklung ist von Höhen und Tiefen geprägt. Nachdem sich die NPD in den Jahren 2005 bis 2008 zum zentralen Akteur des Berliner Rechtsextremismus entwickeln konnte, eskalierten unter der Führung eines umstrittenen Landesvorsitzenden persönliche Konflikte mit der Folge, dass die Partei 2009 erheblich an Mitgliedern und Aktionsfähigkeit verlor. Nach dem nur zweijährigen und wenig glücklichen Intermezzo eines auswärtigen Parteifunktionärs an der Spitze der Berliner NPD hat im Februar 2012 ein junger und in der rechtsextremistischen Szene Berlins bestens vernetzter "Autonomer Nationalist" die Führung der Partei übernommen. 334 Beim Landgericht München I ist die Klage dreier DVU-Landesverbände anhängig, mit der die Parteienfusion für ungültig erklärt werden soll. Der Ausgang des Verfahrens ist noch offen. 224 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 7.2 Aktionsorientierter Rechtsextremismus 7.2.1 Netzwerk "Freie Kräfte" (vorm. Netzwerk Kameradschaften) Das Netzwerk "Freie Kräfte" ist ein loser, hoher Fluktuation unterworfener Zusammenschluss von ca. 180 Rechtsextremisten, die anlassbezogen politisch agieren. Sie nehmen an Demonstrationen teil, erstellen und verbreiten Flugblätter, organisieren politische Schulungen und sind im Internet aktiv. Obwohl sich das Netzwerk "Freie Kräfte" in den letzten Jahren vor allem personell gewandelt hat, sind die regionalen informellen Grundstrukturen und die Personalstärke weitgehend identisch geblieben. In den letzten Jahren haben sich die "Autonomen Nationalisten" zur vorherrschenden Struktur im ehemals von Kameradschaften dominierten Netzwerk "Freie Kräfte" entwickelt. Ihnen gehören etwa 100 Personen des Netzwerks "Freie Kräfte" an. Neben den "Autonomen Nationalisten" gibt es immer wieder Versuche, die per se nicht organisationsgebundenen Anhänger des Netzwerkes in feste Strukturen einzubinden, etwa in Kreisverbände der NPD oder im Rahmen eigenständiger, zumeist nur kurzlebiger kameradschaftsähnlicher Kleinstgruppen. Ihrer äußeren Erscheinung nach ähneln diese zunehmend den "Autonomen Nationalisten", an die sie zwar organisatorisch nicht angebunden sind, die aber mehr und mehr als "Vorbild" für das gesamte Netzwerk "Freie Kräfte" fungieren. Kameradschaften, die bis vor fünf Jahren noch die Strukturen des Netzwerkes beherrschten, spielen derzeit keine Rolle mehr. Durch polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Maßnahmen sowie durch Vereinsverbote, wie zuletzt 2009 gegen "Frontbann 24", wurden die Kameradschaftsstrukturen soweit geschwächt, dass diese zurzeit in Berlin faktisch nicht mehr existieren. Aktiv sind die Angehörigen des Netzwerks "Freie Kräfte" vor allem in den Bezirken Lichtenberg, Pankow, Treptow-Köpenick, Marzahn-Hellersdorf und Neukölln. 7.2.2 "Autonome Nationalisten" Seit 2002 ist innerhalb des Netzwerks "Freie Kräfte" in Berlin die Tendenz zu beobachten, sich hinsichtlich Habitus, Organisationsund Aktionsformen dem Stil autonomer Linksextremisten anzunähern. Von den traditionellen "Kameradschaften" grenzen sich diese rechtsextremistischen Personenzusammenschlüsse durch einen niedrigschwelligen Zugang, ein jugendnäheres Erscheinungsbild und ein aggressiveres Auftreten ab. Diese Entwicklung erklärt sich aus einer Art "Gegenwehr" zur linken "Antifa" und als Reaktion auf staatlichen Repressionsdruck. Als Bezeichnung für diese Rechtsextremisten modernen Typs, die von Außenstehenden und teilweise auch von Szeneangehörigen, kaum von Linksautonomen zu unterscheiden sind, hat sich der Begriff "Autonome Nationalisten" durchgesetzt. Auf Eigennamen wird meist verzichtet, stattdessen werden Hintergrundinformationen - Rechtsextremismus 225 unterschiedlichste "Labels" wie "Freie Kräfte Berlin" oder "Nationaler Widerstand Berlin" verwendet.335 Den "Autonomen Nationalisten" zugerechnet werden Personen, die sich auf der Grundlage neonazistischer (vorzugsweise nationalrevolutionärer und kapitalismuskritischer) Ideologiefragmente in informellen und teilweise konspirativen Gruppenstrukturen vernetzen, die spontan mobilisierbar und situativ handlungsfähig sind. Sie agieren nicht streng hierarchisch. Ihre Handlungsfähigkeit basiert vielmehr auf einem funktionierenden Informationsund Kommunikationsnetzwerk. Die Führungspersönlichkeiten in diesem Netzwerk koordinieren den Informationsfluss unter den Aktivisten. Die "Autonomen Nationalisten" führen politische Aktionen im öffentlichen Raum durch, die den Charakter von Machtdemonstrationen besitzen und sich vornehmlich gegen den politischen Gegner ("Anti-Antifa") richten. Dabei wird Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung unter Berufung auf ein abstraktes "Selbstverteidigungsrecht" legitimiert. Die Aktivitäten der "Autonomen Nationalisten" erschöpfen sich jedoch nicht in der Konfrontation mit der linken "Antifa". Neben der Verbreitung neonazistischer und antikapitalistischer Propaganda ist eine aggressive Fremdenfeindlichkeit zu einem festen Bestandteil ihres Ideologieund Aktionsspektrums geworden. Im Rahmen einer so genannten "Ausländer-raus-Kampagne" wurde Migranten zum Ziel von Beleidigungen und Bedrohungen. Eine zentrale Rolle bei allen Aktionen der "Autonomen Nationalisten" spielt die von ihnen unter der fiktiven Bezeichnung "Nationaler Widerstand Berlin" unterhaltene Internetpräsenz. Sie dient nicht nur als Informationsund Kommunikationsplattform, sondern wird auch als Instrument in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner verwandt. In Rubriken wie "Chronik" und "Recherche" werden Informationen über "Linke Läden" und Personen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren, veröffentlicht. So sollen eine Drohkulisse aufgebaut und die betroffenen Personen eingeschüchtert werden. Mittlerweile sind 100 (2010: 110) "Autonome Nationalisten" vornehmlich in den Bezirken Pankow, Lichtenberg, Treptow-Köpenick und Neukölln aktiv. Berlin ist neben dem Ruhrgebiet ein regionaler Schwerpunkt der "Autonomen Nationalisten". 7.2.3 Neonazis Neonationalsozialisten (Neonazis) orientieren sich am historischen Nationalsozialismus, wie er von der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP) zwischen 1920 335 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Lageanalyse "Autonome Nationalisten". Berlin 2008. 226 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 und 1945 vertreten wurde. Wie in der NSDAP sind auch im Neonazi-Spektrum unterschiedliche ideologische Strömungen festzustellen. So gibt es Bezüge zum sozialrevolutionären Flügel innerhalb des Nationalsozialismus und dem damit verbundenen Antikapitalismus Ernst Röhms und der Gebrüder Strasser. Allen Versionen des Neonationalsozialismus ist die Glorifizierung der Führungspersonen des NS-Regimes und die Verharmlosung der NSVerbrechen gemein. Ein Teil der bundesweiten Neonazi-Szene ist in festen Strukturen wie den so genannten Kameradschaften organisiert, deren Bedeutung in Berlin nach mehreren Vereinsverboten kontinuierlich abgenommen hat. Hier sind Neonazis unter dem Dach der "Autonomen Nationalisten" und im Netzwerk "Freie Kräfte" aktiv und nehmen auch häufig an politischen Aktionen der NPD teil. 7.2.4 Skinheads Die Subkultur der Skinheads336 wird oft mit jugendlichem Rechtsextremismus gleichgesetzt. Dies ist eine unzutreffende Verkürzung, da die Skinheads zunächst eine jugendliche Subkultur wie die der Punks, Hippies oder Raver darstellen. Die Skinhead-Subkultur entstand in den 60er Jahren in Großbritannien und orientierte sich hinsichtlich ihrer Werte und ihres "Outfits" an einer proletarischen Attitüde. In Deutschland gibt es Skinheads seit Anfang der 80er Jahre, die größten Szenen entwickelten sich in Hamburg und Berlin. Erst im Laufe der Zeit driftete ein Teil der Skinhead-Szene in den Rechtsextremismus ab. Die von rechtsextremistischen Skinheads, von denen ein großer Teil nur ein diffuses rechtsextremistisches Weltbild hat, ausgehende Gefahr besteht vor allem in ihrer Gewaltbereitschaft. Rechtsextremistische Gewalt kann allerdings nicht auf die Gewalt der Skinheads reduziert werden. Umgekehrt haben zahlreiche Gewalttaten von Skinheads keinen politischen Hintergrund.337 Rechtsextremistische Skinheads sind zum großen Teil organisationsfeindlich eingestellt und lehnen eine Einbindung in feste (Partei)-Strukturen ab. Versuche rechtsextremistischer Parteien, das Skinhead-Potenzial dauerhaft an sich zu binden (z.B. durch die "Aktionsfront Nationaler Sozialisten" Anfang der 80er Jahre, die "Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei" (FAP) Mitte der 80er Jahre oder die "Nationale Alternative" Anfang der 90er Jahre), scheiterten. Einen weiteren Versuch machte die NPD mit ihrem "Drei-Säulen-Konzept". Im Gegensatz zu den Parteien, die von den rechtsextremistischen Skinheads überwiegend als szenefremd wahrgenommen werden, konnten sich in Deutschland seit An336 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Rechtsextremistische Skinheads. Berlin 2003. 337 Ebenda, S. 37 - 42. Hintergrundinformationen - Rechtsextremismus 227 fang der 90er Jahre zwei rechtsextremistische Skinhead-Zusammenschlüsse etablieren: "Blood & Honour"338 und die "Hammerskins". 7.2.5 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V." Abkürzung HNG Entstehung/Gründung 1997; Verbot durch den BMI am 21.9.2011339 Mitgliederzahl Bund: ca. 600 (2010: ca. 600) Berlin: ca. 20 (2010: ca. 20) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Frankfurt am Main Veröffentlichungen "Nachrichten der HNG" (überregional, mantlich, Auflage ca. 600) Die "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) war mit bundesweit ca. 600 Personen nach den größeren Parteien der mitgliederstärkste rechtsextremistische Personenzusammenschluss. Die HNG wurde zentral von ihrer Vorsitzenden in Mainz-Gonsenheim gesteuert. Laut Satzung verfolgte sie "ausschließlich karitative Zwecke, indem sie nationale und politische Gefangene und deren Angehörige im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden Mittel unterstützt".340 Tatsächlich war es ihr Ziel, die Einbindung der Straftäter in die rechtsextremistische Szene während der Haftzeit zu gewährleisten und sie nach der Haftentlassung nahtlos wieder zu integrieren. Zu diesem Zweck nutzte die HNG ihre Publikation "Nachrichten der HNG". Darin waren "Gefangenenlisten" abgedruckt sowie eine Liste inhaftierter Rechtsextremisten, die Briefkontakt wünschten. In Einzelfällen erhielten Häftlinge geringe Geldspenden. Die HNG bezeichnete die von ihr betreuten Straftäter als "politische Gefangene". Dabei nahm sie keinen Anstoß daran, dass einige der Häftlinge für Kapitalverbrechen wie Mord oder Totschlag verurteilt worden waren. Die Gefangenen waren, in der Diktion der Vorsitzenden der HNG, "Verfolgte der Demokratie". Die langjährige HNG-Vorsitzende bezeichnete die Bundesrepublik als "BRDDR" und somit als Fortbestand einer Diktatur und bestreitet deren Rechtstaatlichkeit.341 338 "Blood & Honour" wurde 2000 vom Bundesminister des Innern in Deutschland verboten. 339 Das Verbot ist noch nicht rechtskräftig. 340 SS 2 Satzung der HNG vom 13.3.1999. 341 Interview mit der Vorsitzenden der HNG vom Dezember 2009 in der "Deutschen Stimme" Nr. 12/09, S. 3. 228 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Aufgrund des eng umrissenen Vereinszwecks spielten ideologische oder strategische Meinungsverschiedenheiten der HNG-Mitglieder keine große Rolle. Die HNG hielt sich aus politischen Auseinandersetzungen im rechtsextremistischen Spektrum heraus, um einen "neutralen" Status zu wahren und die Vernetzung im Rechtsextremismus zu fördern. Gegen die HNG wurde 2010 ein vereinsrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet. Im September 2011 wurde sie durch den Bundesminister des Inneren verboten, da sich die HNG gegen die verfassungsmäßige Ordnung richtete und nach Zweck und Tätigkeit den Strafgesetzen zuwider lief. Das Verbot ist noch nicht rechtskräftig. In Berlin verfügte die HNG über ein Mitgliederpotenzial von rund 20 Personen. Öffentliche Aktivitäten entfaltete die HNG in Berlin nicht. 7.2.6 Rechtsextremistische Musik Rechtsextremistische Musik kombiniert rechtsextremistische Texte mit verschiedenen Musikstilen (u.a. Rock / Hardrock, Liedermacher, Schlager, Volkslieder).342 Die Musik-Szene ist seit Mitte der 90er Jahre einer der dynamischeren Bereiche des Rechtsextremismus. Im strukturarmen aktionsorientierten Rechtsextremismus stellt sie - und hier besonders durch die Konzerte und zunehmend auch im Rahmen von Internetforen und -radios - eine wichtige Kommunikationsplattform dar. Für den Einzelnen bietet die Mitgliedschaft in einer Band oder die Moderation einer Radiosendung im Internet die Möglichkeit, sich innerhalb der Szene zu profilieren. Eng mit dem Bedeutungszuwachs der Musikszene war in den 90er Jahren der Aufstieg der "Blood & Honour"-Organisation"343 (B & H) verbunden. Strategisch denkende Köpfe wie der B & H-Gründer Ian Stuart Donaldson versuchten, die Musik als Mittel der ideologischen Beeinflussung und Rekrutierung einzusetzen. Diese Strategie war nur begrenzt erfolgreich, da eine Rekrutierung für die Szene selten über das alleinige Hören rechtsextremistischer Musik erfolgt. Hierfür ist der persönliche Kontakt, wie er beispielsweise auf Konzerten zustande kommt, wichtiger. Mit der Etablierung professioneller Händler, die die Szene mit Tonträgern und Szenebedarf (vor allem Bekleidung) versorgen, gewann der Musikbereich zunehmend auch finanzielle Bedeutung für den aktionsorientierten Rechtsextremismus. 342 Oft verwendete Schlagwörter wie "Rechtsrock" oder "Skinhead-Musik" sind unpräzise, da sie entweder nur einen kleinen Teil rechtsextremistischer Musik bezeichnen (Rechtsrock) oder aber mit ihr nicht deckungsgleich sind. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Rechtsextremistische Skinheads. Berlin 2003, S. 56 ff. und Senatsverwaltung für Inneres: Rechtsextremistische Musik. Berlin 2007. 343 "Blood & Honour" (B & H) wurde 2000 vom Bundesminister des Innern in Deutschland verboten. B & H-Stukturen sind in Berlin nicht mehr vorhanden. Hintergrundinformationen - Rechtsextremismus 229 Die Aktivitäten der rechtsextremistischen Musikszene in Berlin erreichten Mitte der 90er Jahre ihren Höhepunkt. Sie geriet aber unter erheblichen Druck durch die Sicherheitsbehörden: Rechtsextremistische Veranstaltungen wurden aufgelöst, Tonträger indiziert und Hausdurchsuchungen durchgeführt. Mit der Verurteilung der Mitglieder der Band "Landser" im Dezember 2003 wurde erstmals eine Band als kriminelle Vereinigung eingestuft.344 Obwohl dieses Urteil durchaus Wirkung in der rechtsextremistischen Musikszene zeigte und sich die Szene seitdem darum bemüht, jugendgefährdende und strafrechtlich relevante Aussagen zu vermeiden, wie das Beispiel der "Landser"-Nachfolgeband "Die Lunikoff-Verschwörung" zeigt, geraten immer wieder Bands in den Fokus der Strafverfolgungsbehörden. In Berlin betrifft dies die Band "Deutsch, Stolz, Treue" (D.S.T. bzw. X.x.X.). Im September 2011 wurden drei Mitglieder der Band vom Landgericht Berlin wegen Volksverhetzung zu Freiheitsstrafen von einem Jahr und drei Monaten bis zu drei Jahren und fünf Monaten verurteilt.345 Neu erschienene Tonträger rechtsextremistischer Bands und Liedermacher werden regelmäßig vom Verfassungsschutz an die Polizei zur Prüfung möglicher strafrechtlicher Inhalte weitergeleitet. Außerdem wird die Jugendgefährdung, die von rechtsextremistischer Musik ausgeht, berücksichtigt und eine Indizierung der Tonträger durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) angeregt. Folgt die BPjM diesen Anregungen, unterliegen die indizierten Tonträger strengen Vertriebs-, Verbreitungsund Werbebeschränkungen und sind für Jugendliche unter 18 Jahren nicht zu erwerben. Neben der Produktion und dem Vertrieb von Tonträgern kann die Ausrichtung von Konzerten als zweite tragende Säule der rechtsextremistischen Musikszene betrachtet werden. In Berlin ist der rechtsextremistische Konzertbetrieb aufgrund des konsequenten Vorgehens der Sicherheitsbehörden in den vergangenen Jahren weitgehend zum Erliegen gekommen. Die Berliner Bands haben ihre Auftritte überwiegend ins Bundesgebiet und ins Ausland verlegt. 344 Urteil des Kammergerichts Berlin vom 22.12.2003, AZ.: (2) 3 StE 2/02-5(1) (2/02). Das Urteil des Kammergerichts Berlin wurde im März 2005 im Wesentlichen durch den Bundesgerichtshof bestätigt. AZ.: 3 StR 233/04. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, S. 46 - 48. 345 LG Berlin, 23.9.2011, AZ.: 81 Js 2667/06. 230 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 8 Linksextremismus 8.1 Parlamentsorientierter Linksextremismus 8.1.1 "Deutsche Kommunistische Partei" Abkürzung DKP Entstehung/Gründung 1968 Mitgliederzahl Bund: ca. 4 000 (2010: ca. 4 000) Berlin: ca. 130 (2010: ca. 130) Organisationsstruktur Partei Sitz Essen Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter, Zeitschrift "Unsere Zeit" (überregional, wöchentlich), Zeitschrift "Berliner Anstoß" (regional, monatlich) Die DKP wurde 1968 von früheren Funktionären der 1956 verbotenen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD) gegründet. Der Aufbau einer Parteiorganisation in Berlin begann erst 1990346. Sie ist mit bundesweit rund 4 000 Mitgliedern die größte kommunistische Partei, spielt aber trotz ihrer Mitgliederstärke innerhalb der deutschen Parteienlandschaft keine Rolle. Mit ihrer Landesliste zu den Bundestagswahlen 2009 ebenso wie bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011 erreichte sie lediglich Ergebnisse im unteren Promillebereich. Die Partei hält am Marxismus-Leninismus fest. Sie versteht sich als "revolutionäre Partei der Arbeiterklasse" und strebt einen "grundlegenden Bruch mit den kapitalistischen Eigentumsund Machtverhältnissen" an.347 In dieser Hinsicht mobilisiert sie insbesondere zu sozialen Protestkundgebungen und versucht diese für ihre Zwecke zu instrumentali346 Während der Teilung Deutschlands gab es aufgrund von Chruschtschows "Drei-Staaten-Theorie" (Deutschland zerfalle in drei Staaten: BRD, DDR, Berlin) in Berlin keinen Landesverband der DKP. Statt dessen gründete sich die "Sozialistische Einheitspartei Westberlins" (SEW), die ebenso wie die DKP massiv durch die DDR unterstützt wurde. Die Nachfolge der SEW trat 1990 die "Sozialistische Initiative" (SI) an, welche sich schon 1991 wieder auflöste. Noch im gleichen Jahr gründeten SEWund SI-Mitglieder eine DKP-Gruppe Berlin. 347 Aus dem "Parteiprogramm der Deutschen Kommunistischen Partei" auf der Internetpräsenz der DKP mit Stand vom 8.4.2006. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 231 sieren. Die DKP beteiligt sich darüber hinaus regelmäßig an der jährlichen LuxemburgLiebknecht-Demonstration. 8.1.2 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" Abkürzung MLPD Entstehung/Gründung 1982 Mitgliederzahl Bund: ca. 2 000 (2010: ca. 2 000) Berlin: ca. 100 (2010: ca. 100) Organisationsstruktur Partei Sitz Gelsenkirchen Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter, Zeitschrift "Rote Fahne" (überregional, wöchentlich) Zeitschrift "Lernen und Kämpfen" (überregional, mehrmals jährlich), Zeitschrift "REBELL" (überregional, monatlich) Die 1982 gegründete MLPD bekennt sich zur Theorie des Marxismus-Leninismus in der Interpretation durch Stalin und Mao Zedong. Sie versteht sich als "politische Vorhutorganisation der Arbeiterklasse in Deutschland". Ihr Ziel ist "der revolutionäre Sturz der Diktatur des Monopolkapitals und die Errichtung der Diktatur des Proletariats für den Aufbau des Sozialismus als Übergangsstadium zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft".348 Anderen linken bzw. linksextremistischen Parteien aus der DDR und der Bundesrepublik wirft sie vor, den Marxismus-Leninismus verraten zu haben. Die MLPD unterhält Nebenund Vorfeldorganisationen wie den Jugendverband "REBELL", die Kinderorganisation "Rotfüchse" oder das "Arbeiterbildungszentrum" (ABZ) mit einer Außenstelle in Berlin. Der politische Einfluss der Partei ist angesichts ihrer Wahlergebnisse gering. Bei der Bundestagswahl 2009 erreichte sie in Berlin gerade ein Promille der Zweitstimmen. Zu den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus 2011 ist sie nicht angetreten. 348 Aus der Präambel zu den "Organisationspolitischen Grundsätzen der Marxistisch-Leninistischen Partei: Statut der MLPD" auf der Internetpräsenz der MLPD mit Datum vom März 2009. 232 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 8.2 Aktionsorientierter Linksextremismus 8.2.1 Autonome Abkürzung - Entstehung/Gründung ab 1980 Mitgliederzahl Bund: ca. 6 800 (2010: ca. 6 200) Berlin: ca. 950 (2010: ca. 950) Organisationsstruktur Netzwerk Sitz - Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter, mehrere Szenezeitschriften Berlin bildet einen regionalen Schwerpunkt des autonomen Spektrums. Mit ca. 950 von bundesweit etwa 6 800 Autonomen lebt jeder siebente Autonome in der Stadt. Etwa 40 Prozent des gesamten linksextremistischen Personenpotenzials Berlins ist ihnen zuzurechnen. Die Anfänge des autonomen Spektrums liegen am Beginn der 80er Jahre. Linksextremisten, die weder organisationsgebunden noch im traditionellen Sinne ideologisch gefestigt waren, bezeichneten sich als "autonom" und veröffentlichten Diskussionspapiere. Sie sprachen von einer "neuen autonomen Protestbewegung", die den bürgerlichen Staat zerschlagen wolle. Im Laufe der Jahre hat sich unter dem Begriff "Autonome" ein vielgestaltiges Spektrum von Einzelpersonen und Gruppierungen herausgebildet, die verschiedene Merkmale verbinden. Dies sind ihre undogmatische ideologische Ausrichtung zwischen Anarchismus und Kommunismus, ihre kritische Distanz zu festgefügten Formen der Selbstorganisation und insbesondere ihre Gewaltorientierung. Nicht alle Autonomen üben selbst Gewalt aus. In der Regel befürworten sie aber den Einsatz von Gewalt als politischer Aktionsform.349 Sie sehen diese als legitimes Mittel, um der "strukturellen Gewalt" des politischen Systems zu begegnen, und lehnen das staatliche Gewaltmonopol ab. Autonome, die selbst Gewalt ausüben, bringen ihre Abneigung des aus ihrer Sicht "repressiven" demokratischen Verfassungsstaates durch so genannte "militante Aktionen" zum Ausdruck. Das Ziel einer "unterdrückungsfreien Gesellschaftsordnung" versuchen sie nicht nur durch Anschläge gegen staatliche Institutionen, sondern auch gegen Unternehmen, die in ihren Augen gemeinsam das "kapitalistische System" repräsentieren, der Öffentlichkeit zu vermitteln. Dabei sind sie bestrebt, Protestbewe349 Artikel "Wo ist Behle?" in der Zeitschrift "INTERIM", Sonderheft "Bewegung - Militanz - Kampagne", mit Datum vom März 1998. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 233 gungen zu instrumentalisieren und neue Anhänger zu gewinnen. Häufig verschwimmen jedoch die Grenzen zwischen politisch vermittelbaren Aktionen und reinem Rowdytum. 8.2.2 "Antifaschistische Linke Berlin" Abkürzung ALB Entstehung/Gründung 2003 Mitgliederzahl ca. 50 (2010: ca. 50) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter, Zeitschrift "Antiberliner" (überregional, unregelmäßig) Die ALB ist innerhalb der autonomen Szene Berlins eine der bedeutendsten und einflussreichsten Gruppen. Sie ist im Jahr 2003 aus der Spaltung der "Antifaschistischen Aktion Berlin" (AAB) hervorgegangen.350 Auf ihrer Internetseite bietet die ALB grundlegende Ausführungen etwa zum "praktizierten Antifaschismus" sowie aktuelle Informationen zu ihren Aktivitäten. Sie tritt regelmäßig als Veranstalter größerer Kampagnen und Demonstrationen in Erscheinung, die oft von politisch motivierter Gewalt gekennzeichnet sind. Neben Kooperationen mit anderen linksextremistischen Gruppen schließt die ALB auch anlassbezogene Bündnisse mit nicht-extremistischen Akteuren, wie zum Beispiel anlässlich der Proteste gegen Rechtsextremisten im Februar 2011 in Dresden. Die ALB fordert die Überwindung des politischen Systems aus einem revolutionären Antifaschismusverständnis heraus. Der Faschismus wird als ein zwar extremes, aber im System angelegtes Ergebnis der bürgerlich kapitalistischen Herrschaft angesehen. Die Gruppe zielt auf eine Radikalisierung gesellschaftlicher Konflikte, da nach ihrer Auffassung das gesellschaftliche System nicht durch Reformen überwunden werden könne, sondern "nur durch eine entschlossene revolutionäre Bewegung".351 350 Im Februar 2003 erfolgte die Spaltung der "Antifaschistischen Aktion Berlin" (AAB) in zwei etwa gleich starke Gruppen: die "Antifaschistische Linke Berlin" (ALB) und die heute nicht mehr existierende Gruppe "Kritik & Praxis Berlin". 351 Artikel "Projektionsfläche, um radikale Linke zu diffamieren" auf der Internetpräsenz der ALB mit Datum vom 19.4.2011. 234 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 8.2.3 "Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin" Abkürzung ARAB Entstehung/Gründung 2007 Mitgliederzahl ca. 30 (2010: ca. 25) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter Die ARAB ist eine der aktivsten autonomen Gruppierungen Berlins. Sie ist innerhalb der linksextremistischen Szene sehr gut vernetzt und verfolgt offensiv eine breite Bündnisstrategie. Sie beteiligt sich an allen relevanten Szeneereignissen der Stadt und organisiert sie oft selbst in federführender Funktion. Darüber hinaus ist sie in überregionalen Zusammenschlüssen aktiv und sucht - eher erfolglos - den Anschluss an zivilgesellschaftliche Protestgruppen, wie der "Occupy"-Bewegung. Ein wichtiges Mobilisierungsinstrument der ARAB ist ihre stets aktuelle Internetpräsenz, auf der sie ihr Handeln zudem ideologisch reflektiert. In einem Grundsatzpapier propagiert sie einen militanten Antifaschismus und verknüpft ihn mit dem Kampf gegen "Staat, Nation und Kapital".352 Dabei sucht sie auch den Schulterschluss mit Gruppen aus dem Anti-Repressions-Spektrum353. Zur Durchsetzung ihrer Ziele schließt die ARAB die Anwendung von Gewalt nicht aus. Ein Gruppenmitglied verteidigte in einem Interview gewalttätige Angriffe auf staatliche Einrichtungen und Wirtschaftskonzerne als legitim. Nicht jede Protestbewegung müsse sich auf die Mittel des Staates beschränken lassen.354 352 Artikel "Grundsätze - the revolution rock!" auf der Internetpräsenz der ARAB aus dem Jahr 2007, aufgerufen am 23.12.2011. 353 Autonome mit dem Themenschwerpunkt "Anti-Repression" lehnen das staatliche Gewaltmonopol ab und suchen gezielt die Auseinandersetzung mit dessen Vertretern aus Polizei und Justiz, um vermeintlich den "gewalttätigen Repressionsapparat" zu entlarven. 354 Artikel "Diese bürgerliche Gewaltdiskussion langweilt nur" in der "tageszeitung" (Onlineausgabe) mit Datum vom 21.4.2009. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 235 8.2.4 "North-East Antifascists" Abkürzung NEA Entstehung/Gründung 2007 Mitgliederzahl ca. 20 (2010 ca. 20) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet Die Gruppe "North-East Antifascists" ist - dem Namen entsprechend - im Nordosten Berlins ansässig und zeichnet für antifaschistische Aktivitäten in ihrer Region verantwortlich, bei denen es auch zur Anwendung von Gewalt kommt. Sie beteiligt sich aber auch regelmäßig an berlinweiten Aktivitäten und kooperiert dabei mit anderen autonomen Gruppen wie ALB und ARAB, z.B. beim im Mai 2011 gegründeten Bündnis "Nazis auf die Pelle rücken". Auf ihrer Internetseite bietet die NEA stets aktuelle Informationen zu ihren Aktionsschwerpunkten, zu denen neben dem "Antifaschismus" vor allem das Thema "Stadtumstrukturierung" (Gentrifizierung) gehört. So war die Gruppe einer der Organisatoren der Demonstration zur Antikapitalistischen Walpurgisnacht am 30. April 2011, die unter dem Motto "Wir bleiben alle! Gegen Mieterhöhung & Verdrängung linker Projekte!" stand. Die NEA äußert sich ideologisch weniger dezidiert als ALB oder ARAB, verknüpft ihr vordergründig antifaschistisches Engagement aber ebenso kausal mit ihrem revolutionären Kampf gegen die "herrschenden Verhältnisse" und fordert: "Die Kämpfe gegen Nazis, Bullen und Kapitalismus vereinen!"355 355 Demonstrationsaufruf "Wir stellen uns quer" der NEA vom 9.12.2008. 236 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 8.2.5 "Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen" Abkürzung NFG Entstehung/Gründung 2006 Mitgliederzahl Berlin ca. 15 (2010 ca. 15) Organisationsstruktur Netzwerk/Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter, Zeitschrift "gefangenen info" (überregional, rund sechsmal jährlich) Das "Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen" (NFG) ist in mehreren Bundesländern aktiv und in regionalen Untergliederungen organisiert. In Berlin unterhält es seit Beginn eine Ortsgruppe, die inzwischen einen festen Platz in der aktionsund gewaltorientierten linksextremistischen Szene Berlins besitzt. Kontakte bestehen zu etablierten Organisationen ebenso wie zu neuen Gruppen wie "Zusammen Kämpfen Berlin" (ZK), mit der personelle Überschneidungen bestehen. Hauptaufgabenfeld des Netzwerkes ist die "Antirepressionsarbeit", insbesondere die Solidarität mit "politischen Gefangenen", die damit begründet wird, dass "die politische Gefangenschaft aus den existierenden Verhältnissen hervorgeht, d. h. die Gefängnisse die Reaktion des kapitalistischen Systems gegen den Widerstand für Gerechtigkeit sind".356 Das NFG begleitet Haftaufenthalte von Linksextremisten durch Öffentlichkeitsarbeit und organisiert entsprechende Informationsund Solidaritätsveranstaltungen. Seit 2009 gibt es die Zeitschrift "gefangenen info" heraus. Darin macht es auf konkrete Fälle "politischer Gefangener" im Inund Ausland aufmerksam und wirbt für Solidarität. 8.2.6 "Zusammen Kämpfen Berlin" Abkürzung ZK Entstehung/Gründung 2010 Mitgliederzahl ca. 25 (2010 ca. 10) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter 356 Artikel "über uns" auf der Internetpräsenz des NFG mit Datum vom 18.3.2006. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 237 Die Gruppe "Zusammen Kämpfen Berlin" (ZK) ist erst seit Herbst 2010 bekannt und hat sich binnen kurzer Zeit zu einem wichtigen Akteur im aktionsorientierten Berliner Linksextremismus entwickelt. Derzeit gehören ihr um die 25 überwiegend jüngere Personen an. Die ZK betrachtet sich als "Teil der international um Befreiung kämpfenden revolutionären Linken", die für eine "klassenlose, staatenlose und herrschaftsfreie Gesellschaft" kämpft. Die "Solidarisierung mit den revolutionären Gefangenen" sieht sie dabei als eine vorrangige Aufgabe jeder "revolutionären Organisation".357 Die ZK engagiert sich auch gegen Militarismus. Zum Beispiel erstellte die Gruppe zum Antikriegstag im September 2011 einen umfangreichen Text und führte insbesondere in Spandau Informationsveranstaltungen durch. ZK-Mitglieder beteiligen sich an vielen relevanten Ereignissen des aktionsorientierten Linksextremismus innerhalb und außerhalb Berlins. Aufgrund ihres gewaltbereiten Auftretens sind sie in Teilen der autonomen Szene jedoch umstritten. Dennoch sind sie mit anderen Organisationen aus dem Bereich Antirepression, wie der "Roten Hilfe" und ABC, wohlwollend verbunden. Mit dem "Netzwerk Freiheit für alle politischen Gefangenen" (NFG) bestehen personelle Überschneidungen. Auch in anderen Bundesländern entstehen ZK-Gruppen gerade dort, wo das NFG aktiv ist. 8.2.7 "Revolutionäre Aktionszellen" Abkürzung RAZ Entstehung/Gründung 2009 Mitgliederzahl ca. 5 -10 (2010 ca. 5 -10) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Selbstbezichtigungsschreiben und Grundsatzpapiere (in der Zeitschrift "radikal") Die "Revolutionären Aktionszellen" (RAZ) sind eine klandestin agierende Kleingruppe mit einem revolutionär-marxistischen Weltbild, welche die Etablierung eines kommunistischen Systems und die "Sprengung der bürgerlich kapitalistischen Ordnung - sinnbildlich und wortwörtlich"358 anstrebt. Gewalt ist ein integraler Bestandteil ihrer Strategie und wird als unverzichtbares Mittel des revolutionären Kampfes nicht nur propagiert, sondern auch in militanten Aktionen ausgeübt. Nach außen tritt die RAZ als Gesamtorganisation 357 Artikel "über uns" auf der Internetpräsenz der ZK mit Datum vom Januar 2011. 358 Artikel "Praxisanleitung der Revolutionären Aktionszellen (RAZ): gasaki - ein kombinierter brand-/sprengsatz niedriger intensität". Zeitschrift "radikal", Nr. 162, 2010, S. 22. 238 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 und in Form von "Zellen" auf. Ideologisch, konzeptionell und strategisch beziehen sich die RAZ dabei auf die nicht mehr existierenden Personenzusammenschlüsse "militante gruppe" (mg) und "Klasse gegen Klasse" (KgK). Auch die Aktionsformen der RAZ lehnen sich an die genannten, nicht mehr aktiven Personenzusammenschlüsse, an. Seit ihrem erstmaligen Auftreten Ende 2009 übernahm sie die Verantwortung für fünf Straftaten in Berlin, dazu gehörten vier Brandanschläge mit Gaskartuschen. 8.2.8 "radikal"/ "Revolutionäre Linke" Abkürzung radikal/RL Entstehung/Gründung 1976 Mitgliederzahl unbekannt Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Zeitschrift "radikal" (überregional, mehrmals jährlich) Die Zeitschrift "radikal" existiert seit 1976 und wird seit 1984 innerhalb der linksextremistischen Szene konspirativ produziert und vertrieben. Während des 35-jährigen Bestehens der "radikal" sind 164 Ausgaben unter wechselnden Redaktionskollektiven erschienen, zuletzt im Juni 2011. Seit Jahresmitte 2009 zeichnet sich ein Redaktionskollektiv namens "Revolutionäre Linke" (RL) für das Blatt verantwortlich. Die RL versucht, die "radikal" als Vernetzungsmedium gewaltorientierter Linksextremisten zu etablieren. Die Ausgaben enthalten zahlreiche Selbstbezichtigungsschreiben und Bauanleitungen, beispielsweise für "Gaskartuschen"-Brandsätze, "Molotow-Cocktails" oder zur "Sprengung von Propangasflaschen".359 Die militante Gruppe "Revolutionäre Aktionszellen" (RAZ) veröffentlichte ihre Selbstbezichtigungsschreiben bisher stets in der "radikal" und hinterließ Druckausgaben am Tatort. In der linksextremistischen Szene stoßen die Texte wegen ihrer bemüht elitären Ausdrucksformen jedoch teilweise auf Ablehnung. 359 Artikel "Anleitungen für die militante Aktion". Zeitschrift "radikal", Nr. 164, 2011, S. 18 f. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 239 8.2.9 "Anarchist Black Cross Berlin" Abkürzung ABC Entstehung/Gründung 2004 Mitgliederzahl ca. 10 (2010 ca. 10) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter, Zeitschrift "Entfesselt" (überregional, dreimonatlich) Das "Anarchist Black Cross" ist eine internationale Bewegung, die 1905 als "Anarchistisches Rotes Kreuz" in Russland gegründet wurde. Ihre zentrale Aufgabe sieht sie in der Unterstützung inhaftierter Anarchisten. Die seit 2004 existierende Gruppe ABC Berlin beruft sich auf deren Tradition. Sie ist im anarchistischen Spektrum des gewaltorientierten Berliner Linksextremismus verankert und engagiert sich für "autonome Freiräume". Laut Selbstdarstellung sei sie geprägt "von einem gemeinsamen Hass gegen diese kapitalistische Gesellschaft und deren Formen des Wegsperrens". Ihr Ziel sei die "Abschaffung aller Zwangsanstalten" in einem Prozess, der "die gesamten aktuellen Zustände umwirft"360. Der Aktionsschwerpunkt von ABC ist das Themenfeld "Anti-Repression"361, in dem sie sich vor allem durch die Organisation von meist kleineren Demonstrationen, insbesondere vor Haftanstalten, engagiert. Zuletzt fanden solche so genannten "Knastdemos" am Sylvesterabend 2011/2012 statt. Auch auf ihrer Internetpräsenz ruft ABC regelmäßig zur Solidarität mit vermeintlichen "politischen Gefangenen" auf, zu denen sie unter anderem verurteilte Linksterroristen rechnet. 360 Artikel "Was ist ABC? Warum gegen Knäste?" auf der Internetpräsenz von ABC Berlin, ohne Datum, aufgerufen am 23.12.2011. 361 Autonome mit dem Themenschwerpunkt "Anti-Repression" lehnen das staatliche Gewaltmonopol ab und suchen gezielt die Auseinandersetzung mit dessen Vertretern aus Polizei und Justiz, um vermeintlich den "gewalttätigen Repressionsapparat" zu entlarven. 240 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 8.2.10 "Wir bleiben alle!" Abkürzung WBA Entstehung/Gründung 2008 Mitgliederzahl ca. 20-30 (2010 ca. 20 -30) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter Bei "Wir bleiben alle!" (WBA) handelt es sich um einen seit 2008 bestehenden Personenzusammenschluss mit einem geringen formalen Organisationsgrad. Der Slogan "Wir bleiben alle!" war ursprünglich die Bezeichnung für eine Kampagne gegen Gentrifizierung und wies zunächst keine auf Dauer angelegten Strukturen auf. Aus Vollversammlungen mit bis zu 50 Teilnehmern, Arbeitsgruppen und einem Internetauftritt bildete sich dann aber ein beständiger organisatorischer Rahmen. Der unverbindliche Charakter der Beteiligung führt jedoch zu erheblichen Schwankungen in Mitgliederstamm und Aktionsniveau. Anlässe wie die Räumung der Liebigstraße 14 im Februar 2011 bewirken starke Ausschläge nach oben. In einem Eckpunktepapier formuliert WBA als Ziel den "Erhalt, Ausbau und das Erkämpfen neuer selbstorganisierter Räume [...] als Gegenmodell zu den herrschenden Verhältnissen". Es wird zu einem "aktiven Kampf [...] auf allen Ebenen und mit vielfältigen Mittel" aufgerufen. Diese sollen dazu dienen, private Investoren und ihre potenziellen Kunden abzuschrecken. Dritte werden dazu aufgerufen, eigenständig unter dem WBA-Label aktiv zu werden. Dabei wird ausdrücklich betont, dass es in diesem Zusammenhang "keine öffentliche Distanzierung von Aktionsformen" gäbe, womit z.B. strafbare und gewaltsame Aktionen gemeint sind.362 362 Artikel "WIR BLEIBEN ALLE!!! Selbstorganisierte Räume erkämpfen und verteidigen" auf der Internetpräsenz der WBA, ohne Datum, aufgerufen am 23.12.2011. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 241 8.2.11 "Rote Hilfe e. V." Abkürzung RH Entstehung/Gründung 1995 Mitgliederzahl Berlin ca. 760 (2010: ca. 650) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Dortmund (Rote Hilfe e.V.) Berlin (Ortsgruppe Berlin) Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter, Zeitschrift "Die Rote Hilfe. Zeitung der Roten Hilfe e.V." (überregional, vierteljährlich) Die "Rote Hilfe e.V." (RH) wurde unter historischer Bezugnahme auf einen von 1924 bis 1936 bestehenden gleichnamigen Vorläufer 1975 als eingetragener Verein neu gegründet. 1995 entstand die Ortsgruppe Berlin, welche sich mittlerweile zur mit Abstand größten linksextremistischen Organisation der Stadt entwickelt hat. Die RH versteht sich gemäß Satzung als "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation". Sie organisiert "die Solidarität für alle (...), die in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer politischen Betätigung verfolgt werden".363 Eine Abgrenzung zum linksextremistischen Spektrum wird dabei bewusst nicht vorgenommen. Die hiesige Ortsgruppe der RH ist die größte Organisation im aktionsorientiertem Linksextremismus in Berlin. Dabei sind nicht alle Mitglieder Extremisten, diese sitzen jedoch an den Schaltstellen und steuern die Berliner Ortsgruppe. Die "Rote Hilfe e.V." unterstützt von Strafermittlungen Betroffene materiell und politisch. Ausschlaggebend ist allein die politische Motivation der Tat. Da alle Mitglieder Beiträge zahlen und zudem Spenden akquiriert werden, verfügt die RH über erhebliche finanzielle Mittel. Diese setzt sie ein, um Angeklagte auf Gerichtsverfahren vorzubereiten, ihnen bei der Suche nach Anwälten zu helfen und anteilige Anwaltskosten zu übernehmen. Außerdem begleitet sie Prozesse durch Öffentlichkeitsarbeit und organisiert Solidaritätsveranstaltungen. Zudem betreut sie Menschen, die nach ihrem Verständnis als "politische Gefangene" gelten. 2011 war die RH an allen bedeutenden regionalen und überregionalen Veranstaltungen der linksextremistischen Szene Berlin beteiligt. 363 "Zweck der Roten Hilfe", SS 2 aus der Satzung des "Rote Hilfe e. V." mit Stand vom 25. / 26.9. 2010. 242 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 9 Extremistische und sicherheitsgefährdende Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 9.1 Kurdische Extremisten 9.1.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" ("Partiya Karkeren Kurdistan") Abkürzung PKK Entstehung/Gründung 1978 Türkei Mitgliederzahl Bund: ca. 13 000 (2010: ca. 11 500) Berlin: ca. 1 050 (2010: ca. 1 050) Organisationsstruktur Türkei: Verbotene Organisation Deutschland: 1993 vereinsrechtliches Betätigungsverbot Veröffentlichungen "Serxwebun" ("Unabhängigkeit") überregional, monatlich "Sterka Ciwan" ("Stern der Jugend")(überregional, monatlich) Die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) wurde 1978 im Südosten der Türkei vor dem Hintergrund des jahrzehntelangen Konflikts im Ländereck Türkei, Iran, Irak und Syrien gegründet. Erklärtes Ziel der Organisation war die Anerkennung der Kurden als Nation und die Erlangung der politischen Autonomie für die kurdische Minderheit innerhalb des türkischen Staatsgebiets. Von 1984 bis 1999 führte die PKK in der südöstlichen Türkei einen Guerillakrieg für ein unabhängiges Kurdistan. 1992 und 1993 verübten Anhänger der PKK zahlreiche Brandanschläge auf türkische Einrichtungen in Deutschland; bei Demonstrationen kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen. Am 24. Juni 1993 besetzten 13 Kurden das türkische Generalkonsulat in München und nahmen 20 Geiseln. Die gewalttätigen Aktionen führten am 22. November 1993 zum vereinsrechtlichen Betätigungsverbot in Deutschland, das sich auch auf die Nachfolgeorganisationen erstreckt. Ab Mitte 1996 bis zur Festnahme des PKK-Führers Abdullah Öcalan im Jahre 1999 verliefen Demonstrationen und Kundgebungen der Anhänger der PKK in Deutschland in der Regel gewaltfrei. Die Festnahme und die Auslieferung Öcalans an die Türkei führte dagegen Hintergrundinformationen - Ausländerextremismus 243 zu weltweiten militanten Protesten. In Berlin erstürmten am 17. Februar 1999 PKK-Anhänger das israelische Generalkonsulat, wobei vier Kurden von israelischen Sicherheitskräften erschossen wurden. Seit 1999 verfolgte die Organisation einen strategischen Kurswechsel mit dem Ziel, sich durch die Ankündigung interner Reformen als politischer Gesprächspartner zu etablieren. Dies sollte nach außen sichtbar werden, indem die Organisation sich selbst wie auch ihre Teilund Nebenorganisationen mehrfach umbenannte.364 Frontorganisation Gesamtorganisation Organisation der Frauen Jugendorganisation in Europa "Arbeiterpartei Kurdistans" "Partei der Freien Frau" "Union der Jugend"Nationale Befreiungs(PKK) (PJA) lichen Kurdistans" front Kurdistans" (YCK) (ERNK) "Freiheitsund Demokra"Freiheitspartei der "Bewegung der freien "Demokratische Union tiekongress Kurdistans" Frauen Kurdistans" Jugend Kurdistans" des kurdischen Volkes" (KADEK) (PAJK) (TECAK) (YDK) "Volkskongress Kurdistans" (Kongra Gel) Heute: Dreiteilung unter Dreiteilung unter dem "Gemeinschaft "Koordination dem Gesamtsystem der System der "Gemeinschaft der Kommunen der Demokratischen "Gemeinschaft der Gesellder hohen Frauen" (KJB): der demokratischen Gesellschaft schaften Kurdistans" (KCK) * politischer Teil: "Union Jugend Kurdistans" Kurdistans" (CDK) [zuvor: "Gemeinschaft der der freien Frauen" (YJA) (Komalen Ciwan) Kommunen Kurdistans" (KKK)]: * ideologischer Teil: "Freiheitspartei der Frauen * politischer Teil: Kurdistans" (PAJK) Kongra Gel * militärischer Teil: * ideologischer Teil: "Verband freier Frauen "neue" PKK 365 Star" (YJA Star) * militärischer Teil: "Volksverteidigungskräfte" (HPG)366 Die PKK ist auf der europäischen Liste terroristischer Organisationen verzeichnet. In Deutschland sind PKK-Anhänger meist in örtlichen, organisationsnahen Vereinen aktiv. Dachverband dieser Vereine ist die "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V." (YEK-KOM)367, die der Weisung des politischen Arms der PKK in Europa, der CDK, unter364 Folgende Tabelle: Aufstellung der Namen der wichtigsten Organisationsteile der PKK. 365 In einer Presseverlautbarung zum 10. Parteikongress der PKK im August 2008 wurde erklärt: "Zwar wurde in diesen zwei Jahren nicht mit dem Namen gearbeitet, aber in "der Praxis war es immer PKK." Die Vollendung des Neuaufbaus. In: "Kurdistan Report Nr. 140, Hamburg, November/Dezember 2008, S. 20 -29, hier: S. 24. 366 Früher "Volksbefreiungsarmee Kurdistans" (ARGK). 367 Sie ist auf europäischer Ebene Mitglied der "Konföderation der kurdischen Vereine in Europa" (KON-KURD). 244 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 liegt. Die PKK erhebt einen Alleinvertretungsanspruch für alle Kurden. Daher schuf sie bereits in den 1990er Jahren so genannte "Massenorganisationen" für Angehörige einzelner Interessen-, Berufsoder Religionsgruppen. Durch diese gewinnt sie Einfluss auf alle wichtigen Bereiche kurdischen Engagements in Deutschland.368 Parallel zu diesen Strukturen wird mit der Gründung lokaler "Volksräte" Öcalans System des "Demokratischen Konföderalismus"369 umgesetzt. Die ursprünglichen Hierarchieund Befehlsstrukturen blieben allerdings stets erhalten. Im Gegensatz zu den als Reformprozess deklarierten Veränderungen steht zudem, dass die Guerillaeinheiten der PKK bereits zum 1. Juni 2004 den am 1. September 1998 von Öcalan erklärten "einseitigen Waffenstillstand" aufgekündigt hatten und seitdem - mit einigen Unterbrechungen - immer wieder offensiv gekämpft wird. Der Guerillakrieg führt zusammen mit terroristischen Anschlägen der "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK), einer nach eigenen Angaben aus den HPG entstandenen Gruppe,370 dazu, dass bislang keine Lösung des Konflikts abzusehen ist. 9.2 Türkische Extremisten 9.2.1 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" Abkürzung DHKP-C Entstehung/Gründung 1994 Syrien Mitgliederzahl Bund: ca. 650 (2010: ca. 650) Berlin: ca. 65 (2010: ca. 65) Organisationsstruktur Türkei: Verbotene Organisation Deutschland: 1998 Vereinsverbot Sitz Frankfurt am Main Veröffentlichungen "Yürüyüs" ("Marsch"), überregional, wöchentlich "Devrimci Sol" ("Revolutionäre Linke"), unregelmäßig 368 Neben den Jugendlichen ist vor allem die "Kurdische Frauenbewegung in Europa" (AKKH), der "Verband der Studierenden aus Kurdistan" (YXK), die "Union kurdischer Familien" (YEK-MAL) sowie die "Islamische Gemeinschaft Kurdistans" (CIK) zu nennen. Es gibt jedoch weitere Verbände für Journalisten, Lehrer, Juristen, Schriftsteller sowie für Aleviten oder Yeziden. 369 Das Modell soll den Anschein von Mitbestimmung und Basisdemokratie erwecken. In der streng hierarchischen PKK-Führungsstruktur bestehen jedoch keine wesentlichen inhaltlichen Einflussmöglichkeiten. 370 Seit 2006 sind auch die TAK auf der europäischen Liste terroristischer Organisationen verzeichnet. Hintergrundinformationen - Ausländerextremismus 245 Die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) ging aus der 1978 in der Türkei gegründeten Organisation "Devrimci Sol" ("Revolutionäre Linke") hervor, die 1983 in Deutschland verboten wurde. In der Türkei ist sie terroristisch aktiv und strebt die Beseitigung des türkischen Staates und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Ideologie an. Sie wurde am 6. August 1998 durch den Bundesminister des Innern verboten. Die DHKP-C ist auch unter den Namen "Revolutionäre Volksbefreiungspartei" (DHKP) bzw. "Revolutionäre Volksbefreiungsfront" (DHKC) aktiv. Meist wird die DHKC als "bewaffneter Arm" der Organisation bezeichnet. Laut ihrem Statut kämpft die DHKP-C für die "Befreiung der türkischen und kurdischen Nation und aller anderen Nationen" von "Imperialismus" und "Faschismus". Die DHKP-C geht davon aus, dass es in einem "vom Imperialismus abhängigen, durch den Faschismus regierten Land unmöglich" sei, die Machtverhältnisse durch Wahlen zu verändern. Deshalb könne "die faschistische Macht, die unter der Kontrolle des Imperialismus und der Oligarchie [stehe], nur durch den bewaffneten Kampf des Volkes zerstört werden". Personen, deren Aktivitäten sich gegen die "Revolution" richten, droht die DHKP-C eine "gnadenlose Bestrafung"371 an. Die DHKP-C ist auf der europäischen Liste terroristischer Organisationen seit 2002 verzeichnet. In Deutschland engagieren sich DHKP-C-nahe Organisationen wie zum Beispiel das "Tayad-Komitee" ("Solidaritätsverein der Familien von Inhaftierten und Verurteilten")372 oder die "Anatolische Föderation e.V." ("Anadolu Federasyonu") für die Positionen der DHKP-C. 371 Programm der DHKP. 372 Abgeleitet aus der türkischen Bezeichnung "Tutuklu Hükümlü Aileleri Yardimlasma Dernegi" (TAYAD). 246 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 9.2.2 "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e. V." (ADÜTDF) Abkürzung ADÜTDF Entstehung/Gründung 1978 Mitgliederzahl Bund: ca. 7 000 (2010: ca. 7 000) Berlin: ca. 300 ( 2010: ca. 300) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Frankfurt am Main Veröffentlichungen "Türk Federasyon Bülteni" (Bulletin der Türk. Föderation) Das extrem-nationalistische türkische Spektrum - oft mit dem generalisierenden Begriff "Graue Wölfe"373 bezeichnet - ist hauptsächlich in der "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e.V." (ADÜTDF)374 organisiert. Die 1978 gegründete ADÜTDF, die auch als "Türkische Föderation" auftritt, unterstützt die politischen Ziele der von Alparslan Türkes375 gegründeten türkischen "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP)376. Die Ideologie basiert auf einem übersteigerten Nationalbewusstsein, das die türkische Nation politisch-territorial und ethnisch-kulturell als höherwertig ansieht. Feindbilder sind vor allem Kurden, Armenier, Juden und Amerikaner sowie Angehörige gesellschaftlicher Minderheiten wie Homosexuelle. Zu den vermittelten "idealistischen" Werten gehört die Botschaft, die türkisch-islamische Kultur in der "Fremde" verteidigen und erhalten zu müssen: 373 Der Begriff wird sowohl von extrem nationalistischen Türken als auch von ihren Gegnern verwendet und geht auf eine Abstammungslegende der Turkvölker zurück. Angelehnt an diesen Wolf als Identifikationsfigur der türkischen Mythologie ist das Erkennungszeichen der "Ülkücü"-Anhänger ("Idealisten") das Wolfssymbol bzw. der mit fünf Fingern geformte Wolfsgruß. 374 Bis 2007 unter dem Namen "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e. V." (ADÜTDF). 375 Türkes starb am 4.2.1997. Sein Bild findet sich in der Regel in jedem ADÜTDF-Verein. Ihm wird der Ausspruch zugeschrieben: "Die Größe der türkischen Rasse wird am Wert der anderen Rassen gemessen. Und die türkische Rasse ist wertvoller als die anderen Rassen." Dr. Kemal Bozay: Rechtsextremistische Türkische Organisationen und Verbände in Deutschland. Geschichte, Ideologie und Praxis. Bochum 2009, S. 8. 376 Die MHP vertritt eine nationalistische und antikommunistische Politik sowie die Ideologie einer "türkischislamischen Synthese". Ziel ist die Errichtung einer Groß-Türkei unter Vereinigung aller Turkvölker. Das Logo der MHP gehört auch zu den Erkennungszeichen türkischer Nationalisten: drei weiße Halbmonde auf rotem Untergrund (vereinfacht dargestellt durch den Schriftzug "cCc"). Hintergrundinformationen - Ausländerextremismus 247 "Ihr habt denjenigen, die euch um eure Identität bringen wollen, indem sie von Integration sprechen, keine Chance gegeben." 377 Die ADÜTDF finanziert sich im Wesentlichen aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und durch Veranstaltungen. Sie ist Gründungsmitglied des Dachverbands "Türkische Konföderation in Europa" (ATK), dem die jeweiligen nationalen Verbände angehören. In Berlin bietet die ADÜTDF ein moderates Erscheinungsbild und ist in den vergangenen Jahren nicht mit Gewalthandlungen in Erscheinung getreten.378 Die Führung der ADÜTDF wirkt mäßigend auf ihre Anhängerschaft ein und ruft gerade auch im Hinblick auf Gewaltanwendungen zur Zurückhaltung auf. Gleichwohl bestehen Anhaltspunkte für eine latent vorhandene Konfrontationsund Gewaltbereitschaft einzelner Mitglieder gegenüber Anhängern der PKK und türkischen Linksextremisten. Das Konzept der ADÜTDF erscheint auch taktisch bestimmt. Es bestehen Zweifel, ob eine Kontrolle der Anhängerschaft tatsächlich gewährleistet ist. Ethnische Konflikte in Berlin wie in diesem Jahr belegen die Gefahr der gewaltsamen Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. 377 Internetauftritt der MHP: Devlet Bahceli, Vorsitzender der MHP, in seiner Rede am 19.11.2011 bei der 27. Hauptversammlung der ADÜTDF in Essen. 378 Nicht alle türkischen Nationalisten, die durch verbalen Radikalismus, entsprechende Symbolik, provokantes Verhalten oder Hetzvideos im Internet auffallen, können der ADÜTDF zugeordnet werden. 248 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 10 "Scientology Organisation" (SO) Abkürzung SO Entstehung / Gründung USA: 1954 Deutschland: 1971 Mitgliederzahl Bund: ca. 4 000 -5 000 (2010: ca. 4 000 - 5 000) Berlin: ca. 130 (2010: ca. 130) Organisationsstruktur In Berlin eingetragener Verein Sitz Los Angeles (Church of Scientology International - CSI) Berlin: "Scientology Kirche Berlin e.V.", Charlottenburg Veröffentlichungen "Freiheit", "Impact", "Freewinds" "Source", "The Auditor" u. a. (Erscheinungsweise je ca. 2 - 4 Ausgaben pro Jahr, Auflagenhöhe unbekannt) Die "Scientology Organisation" (SO) geht auf den amerikanischen Science-Fiction-Autor L. Ron Hubbard zurück, der 1950 das für die SO grundlegende Buch "Dianetik - die moderne Wissenschaft der geistigen Gesundheit" veröffentlichte. Hierin behauptet er, die Welt von Armut, Krieg, Verbrechen, Krankheit und anderen Übeln befreien zu können. Die erste "Scientology Kirche" wurde 1954 in Los Angeles/USA gegründet. Seitdem verbreitet die SO ihre Lehre in diversen Publikationen, Kurssystemen, auf weltweiten Veranstaltungen und im Internet mit dem Ziel, eine ausschließlich nach scientologischen Richtlinien funktionierende Welt zu schaffen. Zur Erreichung dieses Zieles bemüht sie sich um Einflussnahme auf gesellschaftliche und politisch Willensund Entscheidungsträger sowie Rekrutierung und Schulung neuer Mitglieder und Mitarbeiter. Durch die Anwendung scientologischer Ideologie und Techniken soll ein perfekt funktionierender Mensch, der so genannte "Clear" bzw. der höher trainierte "operierende Thetan" erzeugt werden. Nur diesen Menschen sollen Bürgerrechte zugestanden werden, um mit ihnen eine scientologische Gesellschaftsordnung zu errichten. Personen, die außerhalb dieser Gesellschaft stehen oder der SO gegenüber kritisch eingestellt sind, wird Hintergrundinformationen - Scientology Organisation 249 jeglicher Wert abgesprochen. Sie sind "aberrierte Persönlichkeiten"379, das heißt "geistig gestört". Zudem wird anhand einer imaginären scientologischen "Tonskala" zwischen höherund minderwertigen Menschen unterschieden. Nicht-Scientologen werden verunglimpft und sollen "beiseite geschafft und ausgesondert" werden; Gegner und Kritiker sind "durch Zwang zu entfernen, möglichst zu ruinieren, ihres Eigentums zu berauben und müssten zerstört werden".380 Diese Mission, an deren Ende eine ausschließlich aus Scientologen bestehende Zivilisation stehen soll, wird als "Clear Planet" bezeichnet. SO unterhält viele, international agierende Unterorganisationen, die alle jeweils einem so genannten "kirchlichen", wirtschaftlichen oder sozialen Bereich zuzuordnen sind und deren Zugehörigkeit zur SO häufig nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist.381 Die Gesamtstruktur und Logistik ähnelt der eines multinationalen Wirtschaftskonzerns, der aus der "Konzernzentrale", der "Church of Scientology International" (CSI) in Los Angeles und über "Kontinentale Verbindungsbüros" streng hierarchisch und straff geführt wird. Die Europäische Zentrale hat ihren Sitz in Kopenhagen. Unterhalb dieser Ebene befinden sich diverse Unterorganisationen (so genannte "Orgs"), die als "Kirchen", "Missionen", "Celebrity Centers"382 direkt der SO zuzuordnen sind. Die offizielle Mitgliedervereinigung der SO, die "International Association of Scientologists" (IAS), unterstützt über Mitgliederbeiträge und eingeworbene Spenden weltweit Projekte der SO. Das Innenverhältnis der Organisation ist durch ein rigides System von Belohnungen und Bestrafungen und eine eigene Justiz geprägt. Der Einstieg in die Organisation erfolgt in der Regel durch einen kostenfreien "Persönlichkeits-" oder Stresstest, der als individuelle Lebenshilfe angeboten wird. Durch umfassende Fragetechnik bei "Auditing"-Sitzungen383 mittels "E-Meter"384 sollen die persönlichen Schwachpunkte aufgespürt und bearbeitet werden. Das "E-Meter" dient auch zur Durchführung von "Sicherheitsüberprüfungen", so genannten "Sec Checks" (Security Checks), durch die Verstöße gegen scientologische Regeln festgestellt und daran anschließend geahndet werden. 379 Der Begriff "Aberration" steht in der Diktion der Scientology dafür, Fehler zu machen oder genauer, fixierte Ideen zu haben, die nicht wahr sind, [...] Aberration ist geistiger Gesundheit entgegengesetzt". L. Ron Hubbard, "Was ist Scientology?", 1998, S. 684. 380 Vgl. VG Köln, AZ.: 20 K 1882/03 vom 11.11.2004, bestätigt durch OVG Münster, AZ.: 5A 130/05 vom 12.2.2008. 381 Angaben zu Tarnvereinen von SO sind auf der Internetseite des Berliner Verfassungsschutzes unter www.verfassungsschutz-berlin.de eingestellt. 382 Organisationen zur Werbung und Betreuung von Personen des öffentlichen Lebens. 383 Durch einen "Auditor", das heißt einen speziell hierzu "ausgebildeten" Scientologen durchgeführte Befragungen. 384 Gerät zum Messen des Körperwiderstandes, ähnlich einem primitiven "Lügendetektor". 250 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 So sichert die SO die ständige Kontrolle und Manipulation ihrer Anhänger, die durch immer weitere Kurse und eingeforderte "Spenden" nicht nur wirtschaftlichen Schaden nehmen können. Insbesondere Menschen in schwierigen Lebenssituationen laufen Gefahr, durch die als "individuelle Lebenshilfe" getarnten Angebote in eine psychisch schädliche Abhängigkeit zu geraten. III Verfassungsschutz Berlin 252 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 1 Struktur Verfassungsschutzbehörde für das Land Berlin ist die Senatsverwaltung für Inneres und Sport. Die Aufgaben werden durch die Abteilung II wahrgenommen: Abteilung II - Verfassungsschutz - Planung, Organisation, Kommunikation (POK) Referat II A Referat II B Referat II C Referat II D Grundsatz, Auswertung Auswertung Beschaffung Recht, Rechtsextremismus, Islamismus, Verwaltung, Linksextremismus, Ausländerextremismus, Informationstechnik Spionageabwehr, Geheimschutz, Scientology Wirtschaftsschutz Während das Grundsatzreferat II A Querschnittsaufgaben wie Verwaltung, Recht und Informationstechnik abdeckt, sind die Auswertungsreferate II B und II C für die Analyse und Bewertung von Informationen zuständig. Das Referat II D beschafft Informationen mit nachrichtendienstlichen Mitteln. Für die Aufgaben des Verfassungsschutzes standen 2011 Haushaltsmittel in Höhe von 10,8 Mio. EUR und 188 Stellen zur Verfügung. Verfassungsschutz Berlin 253 2 Gesetzliche Grundlagen 2.1 Aufgaben und Befugnisse Die Arbeit des Verfassungsschutzes ist hinsichtlich der Aufgabenstellungen, der Befugnisse und der Kontrollverfahren im Grundgesetz und in Einzelgesetzen festgeschrieben.385 Von Bedeutung sind hier: * das Grundgesetz (GG), Artikel 73 und 87, * das Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin (VSG Bln),386 * das Gesetz zur Beschränkung des Postund Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz) sowie das Gesetz zur Ausführung des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz, * das Bundesverfassungsschutzgesetz, * das Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz (BSÜG). 385 Detaillierte Darstellungen sowie Gesetzestexte sind auf der Internetseite des Verfassungsschutzes unter www.verfassungsschutz-berlin.de/Grundlagen eingestellt. 386 Der vollständige Gesetzestext ist im Anhang abgedruckt und kann auf der Internetseite des Berliner Verfassungsschutzes unter www.verfassungsschutz-berlin.de abgerufen werden. 254 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 2.2 Entwicklungen in der Rechtsprechung und Gesetzesnovellierungen Novellierung des G-10 Gesetzes Das Artikel 10-Gesetz (G 10) wurde zum 1. August 2009 novelliert. Der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung würde mit SS 3a G 10 sowie mit SS 3b G 10 der Schutz zeugnisverweigerungsberechtigter Personen aufgenommen. Entsprechend der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG regelt SS 3a G 10 den Schutz des Kernbereichs privater Lebensführung bei Beschränkungen nach SS 1 Abs. 1 Nr. 1 G 10.387 Eine Beschränkungsmaßnahme (Telekommunikationsoder Postüberwachung) ist nach der Neufassung unzulässig, wenn die Annahme besteht, dass durch sie allein Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst werden. Bestehen insoweit Zweifel, darf nicht "life" mitgehört und nur eine automatische Aufzeichnung fortgesetzt werden. Diese Aufzeichnungen sind unverzüglich einem Mitglied der G 10-Kommission zur Entscheidung über die Verwertbarkeit oder Löschung der Daten vorzulegen. Weiterhin sieht SS 3 a G 10 ein Verwertungsverbot und Löschungsgebot vor. Ein solches Verwertungsverbot und Löschungsgebot regelt SS 3b G 10 für nach SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 4 Strafprozessordnung (StPO) zeugnisverweigerungsberechtigte Personen (SS 53a StPO gilt entsprechend). Beschränkungen sind bei voraussichtlichen Erkenntnissen, die diesen Zeugnisverweigerungsrechten unterliegen, im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu prüfen und gegebenenfalls zu unterlassen oder einzuschränken. Keine Anwendung findet SS 3b G 10 auf Personen die selbst nach SS 3 Abs. 1 G 10 verdächtig sind. 387 Vgl. zur "akustischen Wohnraumüberwachung" BverfG 2 BvR 543/06 vom 11.5.2007 und zur so genannten "Online-Durchsuchung" BverfG 1 BvR 370/07 vom 27.2.2008. Verfassungsschutz Berlin 255 2.3 Kontrolle Die Verfassungsschutzbehörde unterliegt bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben einer Kontrolle auf mehreren Ebenen: Revision Kontrollinstanz Öffentliche Kontrolle der Leitung der durch Bürger und Medien Senatsverwaltung für Inneres und Sport Allgemeine parlamentaDatenschutz rische Kontrolle durch Beauftragter für das Abgeordnetenhaus Datenschutz und Debatten, Aktuelle Informationsfreiheit Stunden, Kleine u. Große Anfragen, Petitionen Abteilung II - Verfassungsschutz - Besondere parlamentarische Kontrolle Gerichtliche Kontrolle Ausschuss für durch Verfassungsschutz / Verwaltungsgerichte ggf. Untersuchungsausschuss G10-Kommission Kontrolle von Eingriffen Vertrauensperson in das Postund des Ausschusses für Fernmeldegeheimnis Verfassungsschutz nach Art. 10 GG 256 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 3 Arbeitsweise Der Verfassungsschutz Berlin hat laut VSG Bln die Aufgabe, den Senat und das Abgeordnetenhaus, andere zuständige staatliche Stellen und die Öffentlichkeit über Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung zu unterrichten.388 Die Behörde beschafft Informationen, analysiert sie und unterrichtet Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit über ihre Erkenntnisse. Informationsbeschaffung Bei der Informationsbeschaffung ist zwischen offenen und verdeckt erhobenen Informationen zu unterscheiden. Der Verfassungsschutz erhält einen hohen Anteil seiner Informationen aus allgemein zugänglichen Veröffentlichungen und Veranstaltungen. Nachrichtendienstliche Mittel dürfen nach dem VSG Bln eingesetzt werden, wenn verfassungsfeindliche Bestrebungen weitgehend konspirativ agieren und sich wegen der Abschottung auf andere Weise keine Informationen gewinnen lassen. Nach den Vorgaben des VSG Bln darf der Einsatz dieser Mittel nur erfolgen, wenn sie im Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachverhalts stehen. Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel kommt deshalb erst dann in Betracht, wenn die anderen Mittel der Nachrichtenbeschaffung erschöpft sind, d.h. wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Zu den nachrichtendienstlichen Mitteln zählen der Einsatz von Vertrauenspersonen (so genannten V-Personen, die aus Beobachtungsobjekten berichten),389 die Observation sowie die Überwachung des Postund 388 Vgl. SSSS 1, 5 und 6 VSG Bln. 389 Die Informationsbeschaffung durch V-Personen ist von großer Bedeutung für die Gewinnung von Informationen über verfassungsfeindliche, insbesondere gewaltbereite, Organisationen. Der Einsatz von V-Personen steht in einem Spannungsfeld: Einerseits bedarf es des Schutzes unserer freiheitlichen Demokratie, andererseits der Beschaffung von Informationen durch Mitglieder extremistischer Organisationen. V-Personen sind Privatpersonen, die in der Regel der zu beobachtenden verfassungsfeindlichen Organisation angehören oder ihr nahe stehen. Sie berichten über deren Strukturen und Aktivitäten. Der Gesetzgeber hat dieses Mittel der Informationsbeschaffung den Verfassungsschutzbehörden zugewiesen (SS 8 Abs. 2 Nr. 1 VSG Bln). Aufgrund der besonderen Sensibilität der Maßnahme sind dem Einsatz von V-Personen aber enge rechtsstaatliche Grenzen gesetzt. Voraussetzung beim Einsatz von V-Personen ist die Vertraulichkeit (so genannter Quellenschutz). Die Innenministerkonferenz von Bund und Ländern hat im Dezember 2011 ihre Unterarbeitsgruppen damit beauftragt, "zu prüfen, inwieweit bei dem Einsatz von V-Leuten die Vorgaben zur Art und Weise der Auswahl, Führung und des Einsatzes von V-Leuten zu optimieren und als bundesweiter Standard konsequent anzuwenden ist." (Quelle: IMK-Beschluss vom 8.12.2011). Verfassungsschutz Berlin 257 Fernmeldeverkehrs, deren besonders engen rechtlichen Voraussetzungen im Gesetz zu Artikel 10 GG geregelt sind. Zur Bekämpfung gewalttätiger, insbesondere terroristischer Bestrebungen dürfen Anfragen an Luftverkehrsunternehmen, Telekommunikationsanbieter und Kreditinstitute gestellt werden. Gerade zur Aufklärung islamistischer terroristischer Netzwerke kann es erforderlich sein, Flüge festzustellen, Finanzierungsströme aufzuklären und Telefonverbindungsdaten zur Feststellung von Kontakten zu erlangen. Wegen der Eingriffstiefe dieser Befugnisse wurde die Umsetzung 2005 auf Bundesebene evaluiert. Danach wurden die Regelungen als erfolgreich und angemessen bewertet. Auf der Grundlage dieser Evaluation hat der Bundesgesetzgeber im so genannten Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz diese Instrumente nicht nur für weitere fünf Jahre bestätigt, sondern auch Voraussetzungen für ihren Einsatz je nach Eingriffstiefe differenziert. Zudem wurde der Anwendungsbereich ausgeweitet. Die Anfragen können vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) nunmehr auch eingesetzt werden, wenn schwerwiegende Gefahren abzuwehren sind und es um extremistische Bestrebungen geht, die auf Gewalt gerichtet sind. Informationsbearbeitung Die durch die Informationsbeschaffung gesammelten Rohdaten müssen gefiltert, systematisiert und analysiert werden. Dabei kommt der Informationstechnik für die Verarbeitung großer Datenmengen eine wichtige Rolle zu. Als bundesweite Hinweisdatei existiert für die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder das "Nachrichtendienstliche Informationssystem" (NADIS). Hierüber ist es möglich abzufragen, ob Daten zu einer Person bei einer Verfassungsschutzbehörde erfasst sind.390 Ende 2011 waren für Berlin 28 346 Datensätze im NADIS gespeichert (2010: 28 521). Der überwiegende Anteil dieser Datensätze fällt auf die Sicherheitsund Zuverlässigkeitsüberprüfungen. Die übrigen verteilen sich auf die Aufgabenbereiche Spionageabwehr, Islamismus, Ausländer-, Rechtsund Linksextremismus. Für die Auswertung der Daten spielt die präzise Definition von Analysebegriffen etwa zur Risikobewertung und die Entwicklung von Instrumenten wie die computergestützte geographische Analyse eine wichtige Rolle. Durch letztere können lokale Schwerpunkte herausgearbeitet werden (vgl. "Im Fokus"-Studien "Rechte Gewalt in Berlin" und "Linke Gewalt in Berlin" sowie zahlreiche Lageanalysen).391 390 Die Speicherungsgrundlagen sowie die Speicherungsdauer sind in den SSSS 11 - 17 VSG Bln. geregelt. 391 Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Rechte Gewalt in Berlin. Berlin 2004, Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Rechte Gewalt in Berlin 2003 bis 2006. Berlin 2007, Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Linke Gewalt in Berlin. Berlin 2009. 258 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Informationsweitergabe Die Informationsweitergabe an andere Behörden ermöglicht diesen, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr dieser Gefahren zu ergreifen. Die Zusammenarbeit mit anderen Behörden geschieht auf Grundlage der Regelungen des VSG Bln über die Informationsweitergabe.392 Neben repressiven Maßnahmen dient auch die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Extremismus dem Schutz der Demokratie. Die Unterrichtung der Öffentlichkeit ist deshalb als Aufgabe im VSG Bln festgeschrieben.393 Zusammenarbeit mit anderen Behörden Bei der Weitergabe von Erkenntnissen über Personen wird danach unterschieden, ob es sich um Sicherheitsbehörden, andere öffentliche Stellen oder ausländische Institutionen handelt. * Bei der Zusammenarbeit im Verfassungsschutzverbund besteht eine Informationspflicht für alle anfallenden Erkenntnisse, die für die Aufgabenerfüllung der anderen Behörden erforderlich sind (SS 19 VSG Bln). * Die Zusammenarbeit mit Polizei und Staatsanwaltschaft wird durch besondere Übermittlungsbefugnisse flankiert. Wenn es zur Verhinderung und Verfolgung von Straftaten im Zusammenhang mit extremistischen Bestrebungen erforderlich ist, dürfen Erkenntnisse weitergegeben werden (SS 21 VSG Bln). * An andere öffentliche Stellen dürfen Erkenntnisse über Personen insbesondere übermittelt werden, wenn sie die Informationen zum Schutz vor verfassungsfeindlichen Bestrebungen benötigen oder wenn es zur Aufgabenerfüllung der Verfassungsschutzbehörde erforderlich ist (SS 22 VSG Bln). * Besondere Beschränkungen gelten für die Weitergabe personenbezogener Informationen an ausländische Stellen (SSSS 24 und 25 VSG Bln). Angesichts der anhaltenden Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus haben die Innenminister die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren ausgebaut. 2004 hat das "Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum" (GTAZ) in Berlin-Treptow seine Arbeit aufgenommen. Neben Experten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Bundeskriminalamtes (BKA), des Bundesnachrichtendienstes (BND), des Generalbundesanwalts (GBA) sowie ausländischer Partnerdienste sind die Länder mit Verbindungsbeam392 Vgl. speziell SSSS 18 - 25 VSG Bln. 393 Vgl. SS 5 VSG Bln. Verfassungsschutz Berlin 259 ten der Polizei und der Verfassungsschutzbehörden dort vertreten. Das GTAZ ermöglicht, Informationen zum islamistischen Terrorismus umgehend gemeinsam zu analysieren und die operativen Maßnahmen abzustimmen. Gerade bei der Bewältigung besonderer Gefährdungslagen wie anlässlich der Bundestagswahl 2009 hat sich die Institution bewährt. Ende 2006 trat das Gesetz zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizei und Nachrichtendiensten in Kraft.394 Von besonderer Bedeutung ist die Anti-Terror-Datei (ATD). Sie dient dem Erkenntnisaustausch zu Personen, die dem internationalen Terrorismus mit Bezug zur Bundesrepublik Deutschland zugerechnet werden. Das "Gemeinsame Internet-Zentrum" (GIZ) wurde im Januar 2007 eingerichtet. In ihm arbeiten Mitarbeiter von BfV, BKA, BND, MAD und GBA zusammen, um ihr Expertenwissen in der Beobachtung islamistischer Aktivitäten im Internet zu bündeln. Die stetig wachsende Zahl islamistischer Webseiten belegt die zunehmende Bedeutung des Internets für militante Islamisten, die dieses Medium vor allem als Propagandaund Rekrutierungsinstrument intensiv nutzen. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die Analyse und Bewertung entsprechender Webseiten an Bedeutung für die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus. Nach der Aufdeckung der Gruppierung "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) und ihrer Taten im November wird analog zum Arbeitsgebiet islamistischer Terrorismus auch im Rechtsextremismus eine Intensivierung der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden angestrebt. Im Dezember wurde bereits das "Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus" (GAR) eingerichtet, dass im Wechsel beim BKA in Meckenheim und dem BfV in Köln tagt. Es dient der engeren Koordination und Kooperation zwischen den Nachrichtendiensten und den Polizeibehörden von Bund und Ländern. Eine Verbunddatei Rechtsextremismus (RED) für Polizeibehörden und Nachrichtendienste sowie eine koordinierte Internetauswertung Rechtsextremismus (KIAR) befinden sich im Aufbau. 394 Gesetz zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder vom 22.12.2006. 260 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 4 Öffentlichkeitsarbeit Die Information von Politik und Öffentlichkeit über Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung ist die Aufgabe des Berliner Verfassungsschutzes, die im Verfassungsschutzgesetz an erster Stelle genannt wird. Als das Landesamt für Verfassungsschutz im Jahr 2000 aufgelöst und die Abteilung II bei der Senatsverwaltung für Inneres und Sport gegründet wurde, war es politischer Konsens, dass der Öffentlichkeitsarbeit ein gewichtiger Stellenwert eingeräumt wird. Diesen Auftrag erfüllen wir seit über zehn Jahren mit großem Engagement. Wir informieren Senat, Parlament und die Öffentlichkeit über aktuelle Entwicklungen in den Beobachtungsfeldern - so weitgehend und intensiv wie möglich. Dem Verfassungsschutz sind selbstverständlich in der Art und im Umfang seiner offenen Informationen Grenzen gesetzt. Oftmals werden die politische Leitung und das parlamentarische Kontrollgremien in vertraulicher oder nicht-öffentlicher Sitzung über gravierende Ereignisse und Entwicklungen informiert. Gleichwohl sind wir bestrebt, interessante und bemerkenswerte Aktivitäten und Veränderungen in den Extremismusspektren auch der Öffentlichkeit mitzuteilen. Sei es in wissenschaftlichen Analysen oder knappen "Aktuellen Meldungen" im Internet - dem Thema angemessen, informieren wir aktuell und präzise. Weil wir dazu beitragen, die gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit dem Extremismus zu führen, leistet die Öffentlichkeitsarbeit einen aktiven Beitrag zur Prävention, indem er hinsichtlich extremistischer Hintergründe und Entwicklungen sensibilisiert. Wir informieren aber nicht nur in unterschiedlichen Publikationen und über das Internet. Wir halten auch Vorträge für Bildungseinrichtungen und interessierte Organisationen. Zudem veranstaltet der Berliner Verfassungsschutz Symposien zu den verschiedenen Themen. Dies sind die Formate der Öffentlichkeitsarbeit im Einzelnen: Publikationen Der Berliner Verfassungsschutz hat mehrere Publikationsreihen entwickelt, um dem unterschiedlichen Informationsbedarf gerecht zu werden. Das Publikationsangebot des Berliner Verfassungsschutzes findet große Resonanz: 2011 wurden 25 000 Broschüren verteilt und angefordert. Darüber hinaus sind alle Publikationen im Internet abrufbar. Verfassungsschutz Berlin 261 * Verfassungsschutzberichte: Den umfassendsten Überblick über die einzelnen Beobachtungsfelder geben die jährlichen Verfassungsschutzberichte. Sie informieren über das aktuelle Geschehen im extremistischen Spektrum, über die ideologischen Grundlagen des Rechts-, Linksund Ausländerextremismus sowie über die wichtigsten in Berlin vertretenen extremistischen Gruppierungen. * Reihe "IM FOKUS": Die Reihe behandelt einzelne Themenkomplexe des Extremismus wie rechte oder linke Gewalttaten oder Phänomene des Islamismus. Stärker als im Verfassungsschutzbericht steht die Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Forschung im Vordergrund. 2011 veröffentlichte der Berliner Verfassungsschutz zwei "IM FOKUS"Broschüren. "Zerrbilder von Islam und Demokratie", eine dreisprachig Publikation, identifiziert Thesen einiger islamistischer Ideologen, die für sich beanspruchen den einzig wahren Islam zu vertreten, als politisch-extremistische Auffassungen, die sie tatsächlich sind. Die zweite "IM FOKUS"-Broschüre zum Thema Scientology wurde gemeinsam mit der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung herausgegeben. Diese Broschüre informiert über die Organisation und klärt über die von ihr ausgehenden Gefahren auf. * Lageund Wahlanalysen: Diese Reihe bietet kurze Analysen zu Detailthemen. * Reihe "INFO": Die "INFO"-Reihe bietet praxisnahe kompakte Informationen über Erscheinungsformen des Extremismus. Die "INFO"-Publikation "Symbole und Kennzeichen des Rechtsextremismus" wurde 2011 bereits zum siebten Mal in überarbeiteter Fassung aufgelegt und wird stark nachgefragt. * "Lupe": Die Broschüre "Verfassungsschutz - nehmen Sie uns unter die Lupe" gibt Basisinformationen über Aufgaben und Befugnisse, Arbeitsfelder und Vorgehensweisen des Verfassungsschutzes. Gremienarbeit Der Berliner Verfassungsschutz beteiligt sich in der Gremienarbeit am Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen. So nahm er weiter am Berliner Islamforum395 teil. Zudem ist er im "Berliner Beratungsnetzwerk" gegen Rechtsextremismus vertreten und hat am Aufbau des ressortübergreifenden Berliner "Verbundes gegen Sekten" mitgewirkt, der von der Sektenleitstelle der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung koordiniert wird. 395 Das Islamforum ist ein Kooperationsprojekt des Beauftragten des Berliner Senats für Integration und Migration und der 2003 gegründeten Muslimischen Akademie Deutschlands. 262 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Internet Über den Internetauftritt können unter www.verfassungsschutz-berlin.de Aktuelle Meldungen, Informationen über die Grundlagen der Verfassungsschutzarbeit sowie die Veranstaltungen des Verfassungsschutzes Berlin und alle Publikationen abgerufen werden. Bürgerund Hinweistelefon Das Bürgertelefon als Teil der Öffentlichkeitsarbeit nimmt Ihre Hinweise oder Fragen gerne entgegen. Zu erreichen sind wir unter der Telefonnummer (030) 90 129-440 oder unter der E-Mail-Adresse info@verfassungsschutz-berlin.de. Daneben haben wir ein vertrauliches Telefon für Hinweise, z.B. zur Aufklärung des islamistischen Terrorismus, an den Berliner Verfassungsschutz eingerichtet: * (030) 90 129-400 (in deutscher Sprache) * (030) 90 129-401 (in türkischer Sprache) * (030) 90 129-402 (in arabischer Sprache) Die Anschlüsse sind werktags von 9.00 bis 15.00 Uhr von sprachkundigen Mitarbeitern besetzt. Außerhalb der genannten Zeiten ist ein Anrufbeantworter geschaltet. Darüber hinaus können auch vertrauliche E-Mails an die Adressen info@verfassungsschutz-berlin.de oder aman@verfassungsschutz-berlin.de gesendet werden. IV Anhang 264 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 1 Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin Gesetz über den VerfassungsSS 3 Dienstkräfte (1) Die Dienstkräfte der Verfassungsschutzabteilung schutz in Berlin haben neben den allgemeinen Pflichten die sich aus (Verfassungsschutzgesetz Berlin - VSG Bln) in der dem Wesen des Verfassungsschutzes und ihrer dienstFassung vom 25. Juni 2001, geändert durch Art. V lichen Stellung ergebenden besonderen Pflichten. Sie des Gesetzes vom 30. Juli 2001 (GVBl. S. 305), geändert haben sich jederzeit für den Schutz der freiheitlichen durch Art. II des Gesetzes vom 5. Dezember 2003 demokratischen Grundordnung im Sinne des Grund(GVBl. 571), zuletzt geändert durch Gesetz vom gesetzes und der Verfassung von Berlin einzusetzen. 1. Dezember 2010 (GVBl., S. 534) Die Funktion des Leiters der für den Verfassungsschutz zuständigen Abteilung soll nur einer Person übertragen werden, die die Befähigung zum Richteramt besitzt. (2) Der Senat von Berlin kann jährlich bestimmen, in Erster Abschnitt welchem Umfang Dienstkräften der VerfassungsschutzAufgaben und Befugnisse der abteilung freie, frei werdende und neu geschaffene Stellen in der Hauptverwaltung für Zwecke der PersoVerfassungsschutzbehörde nalentwicklung vorbehalten werden. SS 1 Zweck des Verfassungsschutzes SS 4 Zusammenarbeit Der Verfassungsschutz dient dem Schutz der frei(1) Die Verfassungsschutzbehörde ist verpflichtet, mit heitlichen demokratischen Grundordnung, des Bund und Ländern in Angelegenheiten des VerfassungsBestandes und der Sicherheit der Bundesrepublik schutzes zusammenzuarbeiten. Die Zusammenarbeit Deutschland und ihrer Länder. besteht insbesondere in gegenseitiger Unterstützung und Information sowie in der Unterhaltung gemeinsamer Einrichtungen (wie z. B. das nachrichtendienstliche SS 2 Organisation Informationssystem des Bundes und der Länder [NADIS] (1) Verfassungsschutzbehörde ist die Senatsverwalund die Schule für Verfassungsschutz). tung für Inneres. Die für den Verfassungsschutz (2) Verfassungsschutzbehörden anderer Länder dürfen zuständige Abteilung nimmt ihre Aufgaben gesondert im Geltungsbereich dieses Gesetzes nur im Einvervon der für die Polizei zuständigen Abteilung wahr. nehmen, das Bundesamt für Verfassungsschutz nur im (2) Die für den Verfassungsschutz zuständige AbteiBenehmen mit der Verfassungsschutzbehörde tätig lung ist datenverarbeitende Stelle im Sinne des SS 4 Abs. werden. 3 Nr. 1 des Berliner Datenschutzgesetzes in der Fassung vom 17. Dezember 1990 (GVBl. 1991 S. 16, 54), das zuletzt durch Art. IX des Gesetzes vom 30. November 2000 SS 5 Aufgaben (GVBl. S. 495) geändert worden ist. Die Übermittlung an der Verfassungsschutzbehörde andere Organisationseinheiten der Senatsverwaltung (1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die Aufgabe, für Inneres ist ungeachtet der fachund dienstaufsichtden Senat und das Abgeordnetenhaus von Berlin, andelichen Befugnisse zulässig, wenn dies für die Aufgabenre zuständige staatliche Stellen und die Öffentlichkeit erfüllung nach SS 5 Abs. 1 erforderlich ist. über Gefahren für die freiheitliche demokratische (3) Bei der Leitung der Senatsverwaltung für Inneres Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit des wird eine Revision eingerichtet. Die Revision ist unbeBundes und der Länder zu unterrichten. Dadurch soll schadet ihrer Verantwortung gegenüber dem Senator es den staatlichen Stellen insbesondere ermöglicht im Übrigen in der Durchführung von Prüfungen und der werden, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Beurteilung von Prüfungsvorgängen unabhängig. Abwehr dieser Gefahren zu ergreifen. (2) Zur Erfüllung dieser Aufgaben sammelt und wertet die Verfassungsschutzbehörde Informationen, Verfassungsschutzgesetz 265 insbesondere sachund personenbezogene Daten, zelpersonen, die nicht in einer oder für eine OrganisaAuskünfte, Nachrichten und Unterlagen aus über tion oder in einer oder für eine unorganisierte Gruppe 1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokrahandeln, sind Bestrebungen im Sinne dieses Gesetzes, tische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit wenn sie auf Anwendung von Gewalt gerichtet sind des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder oder aufgrund ihrer Wirkungsweise geeignet sind, ein eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung Schutzgut dieses Gesetzes erheblich zu beschädigen. der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes (2) Bestrebungen im Sinne dieses Gesetzes, die gegen oder ihrer Mitglieder zum Ziele haben, die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet 2. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche sind, sind solche, die auf die Beseitigung oder AußerTätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes kraftsetzung wesentlicher Verfassungsgrundsätze für eine fremde Macht, abzielen. Hierzu gehören: 3. Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundge1. das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen setzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf und Abstimmungen und durch besondere Organe gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Beder Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der lange der Bundesrepublik Deutschland gefährden oder Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung gegen das friedliche Zusammenleben der Völker in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und (Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes) gerichtet sind. geheimer Wahl zu wählen, (3) Die Verfassungsschutzbehörde wirkt auf Ersuchen 2. die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsder zuständigen öffentlichen Stellen mit mäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden 1. bei der Sicherheitsüberprüfung von Personen, denen Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftige 3. das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlaTatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse anvertraut mentarischen Opposition, werden, die Zugang dazu erhalten sollen oder ihn sich 4. die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortverschaffen können, lichkeit gegenüber der Volksvertretung, 2. bei der Sicherheitsüberprüfung von Personen, die 5. die Unabhängigkeit der Gerichte, an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebensoder 6. der Ausschluss jeder Gewaltund Willkürherrschaft verteidigungswichtigen Einrichtungen beschäftigt sind und oder werden sollen, 7. die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte. 3. bei technischen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz (3) Im Sinne dieses Gesetzes sind von im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürfti1. Bestrebungen gegen den Bestand des Bundes oder gen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen eines Landes solche, die darauf gerichtet sind, die Freigegen die Kenntnisnahme durch Unbefugte, heit des Bundes oder eines Landes von fremder Herr4. bei aufenthaltsrechtlichen Verfahren, Einbürgerungsschaft aufzuheben, ihre staatliche Einheit zu beseitigen verfahren, jagdund waffenrechtlichen Verfahren oder ein zu ihm gehörendes Gebiet abzutrennen, sowie bei sonstigen gesetzlich vorgeschriebenen 2. Bestrebungen gegen die Sicherheit des Bundes oder Überprüfungen; die Mitwirkung ist nur zulässig, wenn eines Landes solche, die darauf gerichtet sind, den diese zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Bund, die Länder oder deren Einrichtungen in ihrer Grundordnung oder für Zwecke der öffentlichen SicherFunktionsfähigkeit erheblich zu beeinträchtigen. heit erforderlich ist; Näheres wird in einer Verwaltungs(4) Auswärtige Belange im Sinne des SS 5 Abs. 2 Nr. 3 vorschrift des Senators für Inneres im Benehmen mit werden nur gefährdet, wenn innerhalb des Geltungsbedem Berliner Beauftragten für den Datenschutz und für reichs des Grundgesetzes Gewalt ausgeübt oder durch das Recht auf Akteneinsicht bestimmt. Handlungen vorbereitet wird und diese sich gegen die Die Befugnisse der Verfassungsschutzbehörde bei politische Ordnung oder Einrichtungen anderer Staaten der Mitwirkung nach Satz 1 Nr. 1 und 2 sind im Berliner richten. Sicherheitsüberprüfungsgese vom 2. März 1998 (GVBl. S. 26) geregelt. SS 7 Voraussetzung und Rahmen für die Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde SS 6 Begriffsbestimmungen (1) Soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, (1) Bestrebungen im Sinne des SS 5 Abs. 2 Nr. 1 und 3 darf die Verfassungsschutzbehörde bei der Wahrnehsind politisch motivierte, zielund zweckgerichtete Vermung ihrer Aufgaben nach SS 5 Abs. 2 nur tätig werden, haltensweisen oder Betätigungen von Organisationen, wenn im Einzelfall tatsächliche Anhaltspunkte für Personenzusammenschlüssen ohne feste hierarchische den Verdacht der dort genannten Bestrebungen oder Organisationsstrukturen (unorganisierte Gruppen) oder Tätigkeiten vorliegen. Einzelpersonen gegen die in SS 5 Abs. 2 bezeichneten (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf für die Prüfung, Schutzgüter. Für eine Organisation oder eine unorgaob die Voraussetzungen des Absatzes 1 vorliegen, die nisierte Gruppe handelt, wer sie in ihren Bestrebungen dazu erforderlichen personenbezogenen Daten aus allnachdrücklich unterstützt. Verhaltensweisen von Eingemein zugänglichen Quellen erheben, speichern und 266 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 nutzen. Eine Speicherung dieser Daten im nachrichtengesprochenen Wortes unter Einsatz technischer Mittel, dienstlichen Informationssystem (NADIS) oder in ande7. Beobachtungen des Funkverkehrs auf nicht für den ren Verbunddateien ist nicht zulässig. Eine Speicherung allgemeinen Empfang bestimmten Kanälen sowie der nach Satz 1 erhobenen personenbezogenen Daten die Sichtbarmachung, Beobachtung, Aufzeichnung und in Akten und Dateien über den Ablauf eines Jahres seit Entschlüsselung von Signalen in Kommunikationsder Speicherung hinaus ist nur zulässig, wenn spätesystemen, stens von diesem Zeitpunkt an die Voraussetzungen 8. Verwendung fingierter biografischer, beruflicher des Absatzes 1 vorliegen. Dasselbe gilt für das Anlegen oder gewerblicher Angaben (Legenden), personenbezogener Akten. 9. Beschaffung, Erstellung und Verwendung von Tarn(3) Zur Erfüllung ihrer Aufgaben darf die Verfassungspapieren und Tarnkennzeichen, schutzbehörde nur die dazu erforderlichen Maßnah10. Überwachung des Brief-, Post-, und Fernmeldemen ergreifen; dies gilt insbesondere für die Erhebung verkehrs nach Maßgabe des Art. 10-Gesetzes, vom und Verarbeitung personenbezogener Informationen. 26. Juni 2001 (BGBl. I S. 1254, 2298), zuletzt geändert Von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen durch Art. 5 Abs. 1 des Gesetzes vom 22. August 2002 hat sie diejenige auszuwählen, die den einzelnen, (BGBl. I S. 3390), insbesondere in seinen Grundrechten, und die Allge11. Einsatz von weiteren vergleichbaren Methoden, meinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Gegenständen und Instrumenten zur heimlichen Eine Maßnahme hat zu unterbleiben, wenn sie einen Informationsbeschaffung, insbesondere das sonstige Nachteil herbeiführt, der erkennbar außer Verhältnis Eindringen in technische Kommunikationsbeziehungen zu dem beabsichtigten Erfolg steht. Sie ist nur solange durch Bild-, Ton-, und Datenaufzeichnungen; dem zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass Einsatz derartiger Methoden, Gegenstände und er nicht erreicht werden kann. Instrumente hat der Ausschuss für Verfassungsschutz (4) Soweit in diesem Gesetz besondere Eingriffsbefugdes Abgeordnetenhauses von Berlin vorab seine nisse das Vorliegen gewalttätiger Bestrebungen Zustimmung zu erteilen. oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen Personen, die berechtigt sind, in Strafsachen aus voraussetzen, ist Gewalt die Anwendung körperlichen beruflichen Gründen das Zeugnis zu verweigern Zwanges gegen Personen oder eine nicht unerhebliche (SSSS 53 und 53a der Strafprozessordnung), darf die VerEinwirkung auf Sachen. fassungsschutzbehörde nicht von sich aus nach Satz 1 Nr. 1 zur Beschaffung von Informationen in Anspruch SS 8 Befugnisse der Verfassungsschutznehmen, auf die sich ihr Zeugnisverweigerungsrecht bezieht. Die Behörden des Landes Berlin sind verpflichbehörde tet, der Verfassungsschutzbehörde technische Hilfe (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf die zur Erfülfür Tarnungsmaßnahmen zu geben. lung ihrer Aufgaben erforderlichen Informationen ein(3) Die Verfassungsschutzbehörde darf Informationen schließlich personenbezogener Daten verarbeiten und einschließlich personenbezogener Daten mit den bei Behörden, sonstigen öffentlichen Stellen sowie nicht Mitteln gemäß Absatz 2 erheben, wenn öffentlichen Stellen, insbesondere bei Privatpersonen, 1. sich ihr Einsatz gegen Organisationen, unorganierheben, soweit die Bestimmungen dieses Gesetzes dies sierte Gruppen, in ihnen oder einzeln tätige Personen zulassen. Ein Ersuchen der Verfassungsschutzbehörde richtet, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte für den um Übermittlung personenbezogener Daten darf Verdacht der Bestrebungen oder Tätigkeiten nach nur diejenigen personenbezogenen Daten enthalten, SS 5 Abs. 2 bestehen, die für die Erteilung der Auskunft unerlässlich sind. 2. auf diese Weise Erkenntnisse über gewalttätige Schutzwürdige Interessen des Betroffenen dürfen nur Bestrebungen oder geheimdienstliche Tätigkeiten im unvermeidbaren Umfang beeinträchtigt werden. gewonnen werden können, (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur heimlichen 3. auf diese Weise die zur Erforschung von BestrebunInformationsbeschaffung, insbesondere zur Erhebung gen oder Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 erforderlichen personenbezogener Daten, nur in begründeten Fällen Quellen erschlossen werden können oder folgende nachrichtendienstliche Mittel anwenden: 4. dies zum Schutz der Dienstkräfte, Einrichtungen, Ge1. Einsatz von Vertrauensleuten, sonstigen geheimen genstände und Quellen der Verfassungsschutzbehörde Informanten, zum Zweck der Spionageabwehr übergegen sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche worbenen Agenten, Gewährspersonen und verdeckten Tätigkeiten erforderlich ist. Ermittlern, Datenerhebungen nach Satz 1 Nr. 2 dürfen sich gegen 2. Observation, andere als die in SS 6 Abs. 1 Satz 2 und 3 genannten 3. Bildaufzeichnungen (Fotografieren, Videografieren Personen nur richten, soweit dies zur Gewinnung von und Filmen), Erkenntnissen unerlässlich ist. 4. verdeckte Ermittlungen und Befragungen, (4) Die Erhebung nach Absatz 2 ist unzulässig, wenn 5. Mithören ohne Inanspruchnahme technischer Mittel, die Erforschung des Sachverhalts auf andere, die 6. Mithören und Aufzeichnen des nicht öffentlich betroffene Person weniger beeinträchtigende Weise Verfassungsschutzgesetz 267 möglich ist; eine geringere Beeinträchtigung ist in der entsprechend für einen verdeckten Einsatz technischer Regel anzunehmen, wenn die Informationen aus allgeMittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und Bildmein zugänglichen Quellen oder durch eine Auskunft aufzeichnungen in Wohnungen. Maßnahmen nach den nach SS 27 gewonnen werden können. Die Anwendung Sätzen 1 bis 3 dürfen nur aufgrund richterlicher Anordeines Mittels gemäß Absatz 2 soll erkennbar im nung getroffen werden. Bei Gefahr im Verzuge kann die Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden SachverMaßnahme auch durch den Senator für Inneres, der im halts stehen. Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel Verhinderungsfall durch den zuständigen Staatssekrenach Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 und 7 ist grundsätzlich nur zur tär vertreten wird, angeordnet werden; eine richterliche Informationsbeschaffung über Bestrebungen gegen die Entscheidung ist unverzüglich nachzuholen. freiheitliche demokratische Grundordnung zulässig, (2) Die Anordnung ist auf höchstens drei Monate wenn diese Bestrebung die Anwendung von Gewalt billizu befristen. Verlängerungen um jeweils nicht mehr als gen oder sich in aktiv kämpferischer, aggressiver Weise drei weitere Monate sind auf Antrag zulässig, soweit betätigen. Die Maßnahme ist unverzüglich zu beenden, die Voraussetzungen der Anordnung fortbestehen. wenn ihr Zweck erreicht ist oder sich Anhaltspunkte Liegen die Voraussetzungen der Anordnung nicht mehr dafür ergeben, dass er nicht oder nicht auf diese Weise vor oder ist der verdeckte Einsatz technischer Mittel zur erreicht werden kann. Daten, die für das Verständnis Informationsgewinnung nicht mehr erforderlich, ist die der zu speichernden Informationen nicht erforderlich Maßnahme unverzüglich zu beenden. Der Vollzug der sind, sind unverzüglich zu löschen. Die Löschung kann Anordnung erfolgt unter Aufsicht eines Bediensteten unterbleiben, wenn die Informationen von anderen, der Verfassungsschutzbehörde, der die Befähigung zum die zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich sind, nicht Richteramt hat. oder nur mit unvertretbarem Aufwand getrennt werden (3) Sind technische Mittel ausschließlich zum Schutze können; in diesem Fall dürfen die Daten nicht verwertet der bei einem Einsatz in Wohnungen tätigen Personen werden. vorgesehen, kann die Maßnahme durch den Senator für (5) Die näheren Voraussetzungen für die Anwendung Inneres, der im Verhinderungsfall durch den zuständider Mittel nach Absatz 2 sind in einer Verwaltungsvorgen Staatssekretär vertreten wird, angeordnet werden. schrift des Senators für Inneres zu regeln, die auch die Eine anderweitige Verwertung der hierbei erlangten Zuständigkeit für die Anordnung solcher InformationsErkenntnisse zum Zwecke der Gefahrenabwehr ist nur beschaffung regelt. Die Verwaltungsvorschrift ist dem zulässig, wenn zuvor die Rechtmäßigkeit der MaßnahAusschuss für Verfassungsschutz des Abgeordnetenme richterlich festgestellt worden ist; bei Gefahr im hauses von Berlin vorab zur Kenntnis zu geben. Verzuge ist die richterliche Entscheidung unverzüglich (6) Für die Speicherung und Löschung der durch Maßnachzuholen. nahmen nach Absatz 2 erlangten personenbezogenen (4) Zuständig für richterliche Entscheidungen nach Daten gilt SS 4 Abs. 1 des Art. 10-Gesetzes entsprechend. den Absätzen 1 und 3 ist das Amtsgericht Tiergarten. (7) Polizeiliche Befugnisse stehen der VerfassungsFür das Verfahren gelten die Vorschriften des Gesetzes schutzbehörde nicht zu; sie darf die Polizei auch nicht über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarim Wege der Amtshilfe um Maßnahmen ersuchen, zu keit entsprechend. denen sie selbst nicht befugt ist. (5) Der Senat unterrichtet die Kommission nach SS 2 (8) Die Verfassungsschutzbehörde ist an die allgemeides Gesetzes zur Ausführung des Art. 10-Gesetzes nen Rechtsvorschriften gebunden (Art. 20 des Grundin der Fassung vom 25. Juni 2001 (GVBl. S. 251), gesetzes). das zuletzt durch Art. 1 des Gesetzes vom 5. Dezember 2003 (GVBl. S. 571) geändert worden ist, unverzüglich, SS 9 Einsatz technischer Mittel möglichst vorab, und umfassend über den Einsatz technischer Mittel nach Absatz 1 und, soweit richterlich zur Überwachung von Wohnungen überprüfungsbedürftig, nach Absatz 3. SS 3 des Gesetzes (1) Das in einer Wohnung nicht öffentlich gesprochene zur Ausführung des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz Wort darf mit technischen Mitteln ausschließlich bei gilt entsprechend. der Wahrnehmung der Aufgaben auf dem Gebiet der (6) Eine Maßnahme nach den Absätzen 1 und 3 ist Spionageabwehr und des gewaltbereiten politischen nach ihrer Beendigung der betroffenen Person mitzuteiExtremismus heimlich mitgehört oder aufgezeichnet len, sobald eine Gefährdung des Zwecks der Maßnahme werden. Eine solche Maßnahme ist nur zulässig, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu erwarten sie im Einzelfall zur Abwehr einer dringenden Gefahr ist. Die durch Maßnahmen im Sinne des Satzes 1 erhofür die öffentliche Sicherheit, insbesondere einer benen Informationen dürfen nur nach Maßgabe des gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne SS 4 Abs. 1 des Art. 10-Gesetzes verwendet werden. Personen, unerlässlich ist, ein konkreter Verdacht in Bezug auf eine Gefährdung der vorstehenden Rechtsgüter besteht und der Einsatz anderer Methoden und Mittel zur heimlichen Informationsbeschaffung keine Aussicht auf Erfolg bietet. Die Sätze 1 und 2 gelten 268 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 SS 9a Eingriffe, die in ihrer Art und sowie der Zeitpunkt der Einsichtnahme hervorgehen. Diese Aufzeichnungen sind gesondert aufzubewahren, Schwere einer Beschränkung des Brief-, durch technische und organisatorische Maßnahmen zu Postund Fernmeldegeheimnisses sichern und, soweit sie für die Aufgabenerfüllung der gleichkommen Verfassungsschutzbehörde nach SS 5 Abs. 2 nicht mehr (1) Ein Eingriff, der in seiner Art und Schwere einer benötigt werden, am Ende des Kalenderjahres, das dem Beschränkung des Brief-, Postund FernmeldegeheimJahr der Erstellung folgt, zu vernichten. nisses gleichkommt und nicht den Regelungen des SS 9 unterliegt, wozu insbesondere das Abhören und Aufzeichnen des nicht öffentlich gesprochenen Wortes mit dem verdeckten Einsatz technischer Mittel gehört, Zweiter Abschnitt bedarf der Anordnung durch den Senator für Inneres, der im Verhinderungsfall durch den zuständigen Datenverarbeitung Staatssekretär vertreten wird. (2) Die SSSS 2 und 3 des Gesetzes zur Ausführung des SS 11 Speicherung, Veränderung und NutGesetzes zu Art. 10 Grundgesetz gelten entsprechend. zung personenbezogener Informationen (3) SS 9 Abs. 6 gilt entsprechend. (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur Erfüllung ihrer Aufgaben rechtmäßig erhobene personenbezoSS 10 Registereinsicht gene Informationen speichern, verändern und nutzen, durch die Verfassungsschutzbehörde wenn (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur Aufklärung 1. tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen oder * von sicherheitsgefährdenden oder geheimdienstlichen Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 vorliegen oder Tätigkeiten für eine fremde Macht oder 2. dies für die Erforschung oder Bewertung von * von Bestrebungen, die durch Anwendung von Gewalt gewalttätigen Bestrebungen oder geheimdienstlichen oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen gegen Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 erforderlich ist oder die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Be3. dies zur Schaffung oder Erhaltung nachrichtenstand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes dienstlicher Zugänge über Bestrebungen oder Tätiggerichtet sind oder keiten nach SS 5 Abs. 2 erforderlich ist oder * von Bestrebungen, die durch Anwendung von Gewalt 4. dies zum Schutz der Dienstkräfte, Einrichtungen, oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen Gegenstände und Quellen der Verfassungsschutzbehörauswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland de gegen sicherheitsgefährdende oder geheimdienstgefährden, liche Tätigkeiten erforderlich ist oder von öffentlichen Stellen geführte Register, z. B. Melde5. sie auf Ersuchen der zuständigen Stelle nach SS 5 register, Personalausweisregister, Passregister, FührerAbs. 3 tätig wird. scheinkarteien, Waffenscheinkarteien, einsehen. In Akten dürfen über Satz 1 Nr. 2 hinaus personen(2) Eine solche Einsichtnahme ist nur zulässig, wenn bezogene Daten auch gespeichert, verändert und 1. die Aufklärung auf andere Weise nicht möglich genutzt werden, wenn dies sonst zur Erforschung und erscheint, insbesondere durch eine Übermittlung Bewertung von Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 zwingend der Daten durch die registerführende Stelle der Zweck erforderlich ist. der Maßnahme gefährdet würde, und (2) In Dateien gespeicherte Informationen müssen 2. die betroffene Person durch eine anderweitige Aufdurch Aktenrückhalt belegbar sein. klärung unverhältnismäßig beeinträchtigt würde, und (3) In Dateien ist die Speicherung von Informationen 3. eine besondere gesetzliche Geheimhaltungsvorschrift aus der Intimsphäre der betroffenen Person unzulässig. oder ein Berufsgeheimnis der Einsichtnahme nicht entgegensteht. SS 12 Speicherung, Veränderung (3) Die Anordnung für die Maßnahme nach Absatz 1 und Nutzung personenbezogener trifft der Leiter der Verfassungsschutzabteilung, im Falle der Verhinderung der Vertreter. Informationen von Minderjährigen (4) Die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse Die Speicherung personenbezogener Informationen dürfen nur zu den in Absatz 1 genannten Zwecken über Minderjährige, die das 14. Lebensjahr nicht verwendet werden. Gespeicherte Informationen sind vollendet haben, ist unzulässig. zu löschen und Unterlagen zu vernichten, sobald sie für diese Zwecke nicht mehr benötigt werden. SS 13 Speicherungsdauer (5) Über die Einsichtnahme ist ein gesonderter Nach(1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die Speiweis zu führen, aus dem ihr Zweck, die in Anspruch cherungsdauer auf das für ihre Aufgabenerfüllung genommene Stelle, die Namen der Betroffenen, deren erforderliche Maß zu beschränken. Die in Dateien Daten für eine weitere Verwendung erforderlich sind, gespeicherten Informationen sind bei der Einzelfallbe- Verfassungsschutzgesetz 269 arbeitung, spätestens aber fünf Jahre nach Speicherung SS 15 Berichtigung und Sperrung persoder letzten Information, auf ihre Erforderlichkeit zu überprüfen. Sofern die Informationen Bestrebungen nenbezogener Informationen in Akten (1) Stellt die Verfassungsschutzbehörde fest, dass in nach SS 5 Abs. 2 Nr. 1 oder 3 betreffen, sind sie Akten gespeicherte personenbezogene Informationen spätestens zehn Jahre nach der zuletzt gespeicherten unrichtig sind, oder wird ihre Richtigkeit von dem relevanten Information zu löschen. Betroffenen bestritten, so ist dies in der Akte zu ver(2) Sind Informationen über Minderjährige in Dateien merken oder auf sonstige Weise festzuhalten. oder in Akten, die zu ihrer Person geführt werden, (2) Die Verfassungsschutzbehörde hat personengespeichert, ist nach zwei Jahren die Erforderlichkeit bezogene Informationen in Akten zu sperren, wenn der Speicherung zu überprüfen und spätestens nach sie im Einzelfall feststellt, dass ohne die Sperrung fünf Jahren die Löschung vorzunehmen, es sei denn, schutzwürdige Interessen von Betroffenen beeinträchtidass nach Eintritt der Volljährigkeit weitere Erkenntgt würden und die Daten für ihre Aufgabenerfüllung nisse nach SS 5 Abs. 2 angefallen sind, die zur Erfüllung nicht mehr erforderlich sind. Gesperrte Informationen der Aufgaben im Sinne dieses Gesetzes eine Fortdauer sind mit einem entsprechenden Vermerk zu versehen; der Speicherung rechtfertigen. sie dürfen nicht mehr genutzt oder übermittelt werden. Eine Aufhebung der Sperrung ist möglich, wenn ihre SS 14 Berichtigung, Löschung Voraussetzungen nachträglich entfallen. und Sperrung personenbezogener Informationen in Dateien SS 16 Dateianordnungen (1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in Dateien (1) Für jede automatisierte Datei der Verfassungsgespeicherten personenbezogenen Informationen schutzbehörde sind in einer Dateianordnung im zu berichtigen, wenn sie unrichtig sind; sie sind zu Benehmen mit dem Berliner Beauftragten für den ergänzen, wenn sie unvollständig sind und dadurch Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht schutzwürdige Interessen der betroffenen Person festzulegen: beeinträchtigt sein können. 1. Bezeichnung der Datei, (2) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in Dateien 2. Zweck der Datei, gespeicherten personenbezogenen Informationen zu 3. Inhalt, Umfang, Voraussetzungen der Speicherungen, löschen, wenn ihre Speicherung irrtümlich erfolgt war, unÜbermittlung und Nutzung (betroffener Personenkreis, zulässig war oder ihre Kenntnis für die Aufgabenerfüllung Arten der Daten), nicht mehr erforderlich ist und schutzwürdige Interessen 4. Eingabeberechtigung, der betroffenen Person nicht beeinträchtigt werden. 5. Zugangsberechtigung, (3) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in Dateien 6. Überprüfungsfristen, Speicherungsdauer, gespeicherten personenbezogenen Informationen 7. Protokollierung, zu sperren, wenn die Löschung unterbleibt, weil Grund 8. Datenverarbeitungsgeräte und Betriebssystem, zu der Annahme besteht, dass durch die Löschung 9. Inhalt und Umfang von Textzusätzen, die der Erschutzwürdige Interessen der betroffenen Person schließung von Akten dienen. beeinträchtigt würden; gesperrte Informationen sind (2) Die Verfassungsschutzbehörde hat in angemesentsprechend zu kennzeichnen und dürfen nur mit senen Abständen die Notwendigkeit der Weiterführung Einwilligung der betroffenen Person verwendet werden. oder Änderung ihrer Dateien zu prüfen. (4) In Dateien gelöschte Informationen sind gesperrt. Unterlagen sind zu vernichten, wenn sie zur Erfüllung SS 17 Gemeinsame Dateien der Aufgaben nach SS 5 nicht oder nicht mehr erforBundesgesetzliche Vorschriften über die Datenverarderlich sind, es sei denn, dass ihre Aufbewahrung zur beitung in gemeinsamen Dateien der VerfassungsWahrung schutzwürdiger Interessen der betroffenen schutzbehörden des Bundes und der Länder bleiben Person notwendig ist. Die Vernichtung unterbleibt, unberührt. wenn die Unterlagen von anderen, die zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich sind, nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand getrennt werden können. (5) Personenbezogene Informationen, die ausschließlich zu Zwecken der Datenschutzkontrolle, der Datensicherung oder zur Sicherstellung eines ordnungsgemäßen Betriebes einer Datenverarbeitungsanlage gespeichert werden, dürfen nur für diese Zwecke und zur Verfolgung der in der jeweiligen Fassung des Berliner Datenschutzgesetzes als Straftaten bezeichneten Handlungen verwendet werden. 270 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Dritter Abschnitt SS 22 Übermittlung von Informationen Informationsübermittlung an den öffentlichen Bereich (1) Die im Rahmen der gesetzlichen Aufgabenerfüllung gewonnenen, nicht personenbezogenen Erkenntnisse SS 18 Grundsätze bei der Informationsder Verfassungsschutzbehörde können an andere Behörden und Stellen, insbesondere an die Polizei und übermittlung durch die Verfassungsdie Staatsanwaltschaft, übermittelt werden, wenn sie schutzbehörde für die Aufgabenerfüllung der empfangenden Stellen Die Übermittlung von personenbezogenen Informatioerforderlich sein können. nen ist aktenkundig zu machen. In der entsprechenden (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf personenbeDatei ist die Informationsübermittlung zu vermerken. zogene Informationen an inländische Behörden und juVor der Informationsübermittlung ist der Akteninhalt ristische Personen des öffentlichen Rechts übermitteln, im Hinblick auf den Übermittlungszweck zu würdigen wenn dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich ist und der Informationsübermittlung zugrunde zu legen. oder der Empfänger die Informationen zum Schutz vor Erkennbar unvollständige Informationen sind vor Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 oder der Übermittlung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zur Strafverfolgung benötigt oder nach SS 5 Abs. 3 tätig durch Einholung zusätzlicher Auskünfte zu vervollwird. ständigen. (3) Die empfangende Stelle von Informationen nach Absatz 2 ist darauf hinzuweisen, dass sie die übermitSS 19 Informationsübermittlung zwischen telten personenbezogenen Informationen nur zu dem Zweck verwenden darf, zu dessen Erfüllung sie ihr den Verfassungsschutzbehörden übermittelt wurden. Die Verfassungsschutzbehörde unterrichtet das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Verfassungsschutzbehörden der Länder über alle Angelegenheiten, deren SS 23 Übermittlung von Informationen Kenntnis zur Erfüllung der Aufgaben der empfangenden an Personen und Stellen außerhalb Stellen erforderlich ist. des öffentlichen Bereichs Personenbezogene Informationen dürfen an Personen SS 20 Informationsübermittlung an oder Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs nicht den Bundesnachrichtendienst übermittelt werden, es sei denn, dass dies zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, und den Militärischen Abschirmdienst des Bestandes oder der Sicherheit des Bundes oder Die Verfassungsschutzbehörde übermittelt dem eines Landes erforderlich ist und der Senator für InneBundesnachrichtendienst und dem Militärischen res, der im Verhinderungsfall durch den zuständigen Abschirmdienst die ihr bekannt gewordenen InformaStaatssekretär vertreten wird, im Einzelfall seine tionen einschließlich personenbezogener Daten, wenn Zustimmung erteilt hat. Die Verfassungsschutzbehörde tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass führt über die Auskunft nach Satz 1 einen Nachweis, die Übermittlung für die Erfüllung der Aufgaben der aus dem der Zweck der Übermittlung, die Aktenfundempfangenden Stellen erforderlich ist. Handelt die stelle und der Empfänger hervorgehen; die Nachweise Verfassungsschutzbehörde auf Ersuchen, so ist sie zur sind gesondert aufzubewahren, gegen unberechtigten Übermittlung nur verpflichtet und berechtigt, wenn Zugriff zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, sich die Voraussetzungen aus den Angaben der ersudas dem Jahr seiner Erstellung folgt, zu vernichten. Der chenden Behörde ergeben. Empfänger darf die übermittelten personenbezogenen Informationen nur für den Zweck verwenden, zu dem SS 21 Informationsübermittlung an Strafsie ihm übermittelt wurden. Der Empfänger ist auf die verfolgungsbehörden in Angelegenheiten Verwendungsbeschränkung und darauf hinzuwiesen, dass die Verfassungsschutzbehörde sich vorbehält, des Staatsund Verfassungsschutzes um Auskunft über die vorgenommene Verwendung der Die Verfassungsschutzbehörde übermittelt den Informationen zu bitten. Staatsanwaltschaften und, vorbehaltlich der staatsanwaltlichen Sachleitungsbefugnis, den Polizeibehörden des Landes die ihr bekannt gewordenen Informationen SS 24 Übermittlung von Informationen einschließlich personenbezogener Daten, wenn an die Stationierungsstreitkräfte tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Die Verfassungsschutzbehörde darf personenbezogene Übermittlung zur Verhinderung oder Verfolgung von Informationen an Dienststellen der StationierungsStraftaten, die im Zusammenhang mit Bestrebungen streitkräfte übermitteln, soweit die Bundesrepublik oder Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 stehen, erforderlich ist. Deutschland dazu im Rahmen von Art. 3 des Zusatz- Verfassungsschutzgesetz 271 abkommens zu dem Abkommen zwischen den Parteien staatsanwaltlichen Sachleitungsbefugnis, die Polizei des Nordatlantikpaktes über die Rechtsstellung übermitteln darüber hinaus auch andere im Rahmen ihrer Truppen hinsichtlich der in der Bundesrepublik ihrer Aufgabenerfüllung bekannt gewordene InformaDeutschland stationierten ausländischen Streitkräfte tionen über Bestrebungen im Sinne des SS 5 Abs. 2. vom 3. August 1959 (BGBl. 1961 II S. 1183) verpflichtet (2) Die Verfassungsschutzbehörde kann von jeder der ist. Die Übermittlung ist aktenkundig zu machen. in Absatz 1 genannten öffentlichen Stellen verlangen, Der Empfänger ist darauf hinzuweisen, dass die überdass sie ihr die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erfordermittelten Informationen nur zu dem Zweck verwendet lichen Informationen einschließlich personenbezogener werden dürfen, zu dem sie ihm übermittelt wurden. Daten übermittelt, wenn die Informationen nicht aus allgemein zugänglichen Quellen oder nur mit unverSS 25 Übermittlung von Informationen hältnismäßigem Aufwand oder nur durch eine den Betroffenen stärker belastende Maßnahme erhoben an öffentliche Stellen außerhalb werden können. Es dürfen nur die Informationen überdes Geltungsbereichs des Grundgesetzes mittelt werden, die bei der ersuchten Behörde bereits Die Verfassungsschutzbehörde darf personenbezogene bekannt sind. Informationen an ausländische öffentliche Stellen (3) Die Verfassungsschutzbehörde braucht Ersuchen sowie an überoder zwischenstaatliche Stellen nicht zu begründen, soweit dies dem Schutz der betrofübermitteln, wenn die Übermittlung zur Erfüllung fenen Person dient oder eine Begründung den Zweck ihrer Aufgaben oder zur Wahrung erheblicher Sicherder Maßnahme gefährden würde. heitsinteressen des Empfängers erforderlich ist. Die (4) Die Übermittlung personenbezogener InformatiÜbermittlung unterbleibt, wenn auswärtige Belange onen, die aufgrund einer Maßnahme nach SS 100a der der Bundesrepublik Deutschland oder überwiegende Strafprozessordnung bekannt geworden sind, ist nur schutzwürdige Interessen der betroffenen Person zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür besteentgegenstehen. Die Übermittlung ist nur im Einverhen, dass jemand eine der in SS 3 des Art. 10-Gesetzes nehmen mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz genannten Straftaten plant, begeht oder begangen zulässig. Sie ist aktenkundig zu machen. Der Empfänhat. Auf die der Verfassungsschutzbehörde nach Satz 1 ger ist darauf hinzuweisen, dass die übermittelten übermittelten Informationen findet SS 4 Abs. 6, auf die personenbezogenen Informationen nur zu dem Zweck dazugehörenden Unterlagen findet SS 4 Abs. 1 Satz 2 verwendet werden dürfen, zu dem sie ihm übermittelt des Art. 10-Gesetzes entsprechende Anwendung. wurden, und die Verfassungsschutzbehörde sich (5) Vorschriften zur Informationsübermittlung an die vorbehält, um Auskunft über die vorgenommene Verfassungsschutzbehörde nach anderen Gesetzen Verwendung der Informationen zu bitten. bleiben unberührt. (6) Die Verfassungsschutzbehörde hat die übermitSS 26 Unterrichtung der Öffentlichkeit telten Informationen nach ihrem Eingang unverzüglich Die Verfassungsschutzbehörde unterrichtet die darauf zu überprüfen, ob sie zur Erfüllung ihrer in Öffentlichkeit mindestens einmal jährlich über BestreSS 5 genannten Aufgaben erforderlich sind. Ergibt die bungen und Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2. Dabei ist die Prüfung, dass sie nicht erforderlich sind, sind die UnÜbermittlung von personenbezogenen Informationen terlagen unverzüglich zu vernichten. Die Vernichtung nur zulässig, wenn die Bekanntgabe für das Verständunterbleibt, wenn die Trennung von anderen Informatinis des Zusammenhanges oder der Darstellung von onen, die zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich sind, Organisationen oder unorganisierten Gruppierungen nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand erfolgen erforderlich ist und die Interessen der Allgemeinheit kann; in diesem Fall sind die Informationen gesperrt an sachgemäßen Informationen das schutzwürdige und entsprechend zu kennzeichnen. Interesse des Betroffenen überwiegen. (7) Soweit andere gesetzliche Vorschriften nicht besondere Regelungen über die Dokumentation treffen, haben die Verfassungsschutzbehörde und die übermitSS 27 Übermittlung von Informationen telnde Stelle die Informationsübermittlung aktenkundig an die Verfassungsschutzbehörde zu machen. (1) Die Behörden des Landes und die sonstigen der Aufsicht des Landes unterstehenden juristischen SS 27a Übermittlung von Informationen Personen des öffentlichen Rechts übermitteln von sich aus der Verfassungsschutzbehörde die ihnen durch nicht öffentliche Stellen bekannt gewordenen Informationen, insbesondere an die Verfassungsschutzbehörde personenbezogene Daten, über Bestrebungen nach (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einzelfall SS 5 Abs. 2, die durch Anwendung von Gewalt oder bei Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen verfolgt und Finanzunternehmen unentgeltlich Auskünfte werden, und über geheimdienstliche Tätigkeiten. zu Konten, Kontoinhabern und sonstigen Berechtigten Die Staatsanwaltschaften und, vorbehaltlich der sowie weiteren am Zahlungsverkehr Beteiligten und 272 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 zu Geldbewegungen und Geldanlagen einholen, wenn vor deren Vollzug. Bei Gefahr in Verzug kann der dies zur Beobachtung gewalttätiger Bestrebungen nach Senator für Inneres, im Falle seiner Verhinderung der SS 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3 erforderlich ist und tatsächliche Staatssekretär den Vollzug der Entscheidung auch beAnhaltspunkte für Gefahren für Leib und Leben reits vor der Unterrichtung der Kommission anordnen. vorliegen. Die Kommission prüft von Amts wegen oder aufgrund (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einzelfall von Beschwerden die Zulässigkeit und Notwendigkeit zur Beobachtung gewalttätiger Bestrebungen nach der Einholung von Auskünften. SS 15 Abs. 5 des Art. SS 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3 und wenn tatsächliche Anhalts10-Gesetzes ist mit der Maßgabe entsprechend anzupunkte für Gefahren für Leib und Leben vorliegen wenden, dass die Kontrollbefugnis der Kommission sich unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. 1 des auf die gesamte Erhebung, Verarbeitung und Nutzung Art. 10-Gesetzes bei Personen und Unternehmen, der nach den Abs. 1 bis 4 erlangten personenbezogenen die geschäftsmäßig Postdienstleistungen erbringen, Daten erstreckt. Entscheidungen über Auskünfte, die sowie bei denjenigen, die an der Erbringung dieser die Kommission für unzulässig oder nicht notwendig Dienstleistungen mitwirken, unentgeltlich Auskünfte erklärt, hat die Senatsverwaltung für Inneres unverzügzu Namen, Anschriften, Postfächern und sonstigen lich aufzuheben. Für die Verarbeitung der nach den Umständen des Postverkehrs einholen. Abs. 1 bis 4 erhobenen Daten ist SS 4 des Art. 10-Geset(3) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einzelfall zes entsprechend anzuwenden. Das Auskunftsersuchen bei Luftfahrtunternehmen unentgeltlich Auskünfte und die übermittelten Daten dürfen dem Betroffenen zu Namen, Anschriften und zur Inanspruchnahme von oder Dritten nicht mitgeteilt werden. SS 12 Abs. 1 und 3 Transportleistungen und sonstigen Umständen des des Art. 10-Gesetzes findet entsprechende Anwendung. Luftverkehrs einholen, wenn dies zur Beobachtung (6) Die Senatsverwaltung für Inneres unterrichtet im gewalttätiger Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 Nr. 2 und Abstand von höchstens sechs Monaten den Ausschuss 3 erforderlich ist und tatsächliche Anhaltspunkte für für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses über Gefahren für Leib und Leben vorliegen. die Durchführung der Absätze 1 bis 5; dabei ist ins(4) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einzelfall besondere ein Überblick über Anlass, Umfang, Dauer, zur Beobachtung gewalttätiger Bestrebungen nach Ergebnis und Kosten der im Berichtszeitraum durchgeSS 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3 und wenn tatsächliche führten Maßnahmen nach den Absätzen Anhaltspunkte für Gefahren für Leib und Leben vor- 1 bis 4 zu geben. liegen unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. 1 des (7) Die Senatsverwaltung für Inneres unterrichtet das Art. 10-Gesetzes bei denjenigen, die geschäftsmäßig Parlamentarische Kontrollgremium des Bundes jährlich Telekommunikationsdienste und Teledienste erbringen über die nach den Absätzen 1 bis 5 durchgeführten oder daran mitwirken, unentgeltlich Auskünfte Maßnahmen; Abs. 6 gilt entsprechend. über Telekommunikationsverbindungsdaten und (8) Das Grundrecht des Brief-, Postund FernmeldeTeledienstnutzungsdaten einholen. Die Auskunft kann geheimnisses (Art. 10 des Grundgesetzes, Art. 16 der auch in Bezug auf zukünftige Telekommunikation und Verfassung von Berlin) wird nach Maßgabe der Absätze zukünftige Nutzung von Telediensten verlangt werden. 2, 4 und 5 eingeschränkt. Telekommunikationsverbindungsdaten und Teledienstnutzungsdaten sind: SS 28 Übermittlungsverbote 1. Berechtigungskennungen, Kartennummern, Die Übermittlung von Informationen nach den VorStandortkennung sowie Rufnummer oder Kennung schriften dieses Abschnitts unterbleibt, wenn des anrufenden und angerufenen Anschlusses oder 1. eine Prüfung durch die übermittelnde Stelle ergibt, der Endeinrichtung, dass die Informationen zu löschen oder für die empfan2. Beginn und Ende der Verbindung nach Datum gende Stelle nicht mehr bedeutsam sind, und Uhrzeit, 2. überwiegende Sicherheitsinteressen dies erfordern, 3. Angaben über die Art der vom Kunden in Anspruch 3. für die übermittelnde Stelle erkennbar ist, dass genommenen Telekommunikationsund Teledienstunter Berücksichtigung der Art der Informationen und Dienstleistungen, ihrer Erhebung die schutzwürdigen Interessen der 4. Endpunkte festgeschalteter Verbindungen, ihr Beginn betroffenen Personen das Allgemeininteresse an der und ihr Ende nach Datum und Uhrzeit. Übermittlung überwiegen oder (5) Auskünfte nach den Abs. 1 bis 4 dürfen nur auf 4. besondere gesetzliche Übermittlungsregelungen Antrag eingeholt werden. Der Antrag ist von der Leitung entgegenstehen; die Verpflichtung zur Wahrung gesetzder Verfassungsschutzabteilung, im Falle ihrer Verhinlicher Geheimhaltungspflichten oder von Berufsoder derung von ihrem Vertreter schriftlich zu stellen und besonderen Amtsgeheimnissen, die nicht auf gesetzzu begründen. Über den Antrag entscheidet der Senator lichen Vorschriften beruhen, bleibt unberührt. für Inneres, im Fall seiner Verhinderung der Staatssekretär. Die Senatsverwaltung für Inneres unterrichtet die Kommission nach SS 2 des Gesetzes zur Ausführung des Art. 10-Gesetzes über die beschiedenen Anträge Verfassungsschutzgesetz 273 SS 29 Minderjährigenschutz 4. die Informationen oder die Tatsache der Speicherung (1) Informationen einschließlich personenbezogener nach einer Rechtsvorschrift oder ihrem Wesen nach, Daten über das Verhalten Minderjähriger dürfen nach insbesondere wegen der überwiegenden berechtigten den Vorschriften dieses Gesetzes übermittelt werden, Interessen Dritter, geheimgehalten werden müssen. solange die Voraussetzungen der Speicherung nach Die Entscheidung nach den Sätzen 1 und 2 trifft der SS 13 Abs. 2 erfüllt sind. Leiter der Verfassungsschutzabteilung oder ein von ihm (2) Informationen einschließlich personenbezogener besonders beauftragter Mitarbeiter. Daten über das Verhalten Minderjähriger vor Vollen(3) Die Ablehnung einer Auskunft ist zumindest insodung des 16. Lebensjahres dürfen nach den Vorschrifweit zu begründen, dass eine verwaltungsgerichtliche ten dieses Gesetzes nicht an ausländische oder überNachprüfung der Verweigerungsgründe gewährleistet oder zwischenstaatliche Stellen übermittelt werden. wird, ohne dabei den Zweck der Auskunftsverweigerung zu gefährden. Die Gründe der Ablehnung sind in jedem Fall aktenkundig zu machen. SS 30 Nachberichtspflicht (4) Wird die Auskunftserteilung ganz oder teilweise Erweisen sich Informationen nach ihrer Übermittlung abgelehnt, ist die betroffene Person darauf hinzuweinach den Vorschriften dieses Gesetzes als unvollständig sen, dass sie sich an den Berliner Beauftragten für oder unrichtig, so hat die übermittelnde Stelle ihre den Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht Informationen unverzüglich gegenüber der empfangenwenden kann. Dem Berliner Beauftragten für den den Stelle zu ergänzen oder zu berichtigen, wenn dies Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht ist zu einer anderen Bewertung der Informationen führen auf sein Verlangen Auskunft zu erteilen, soweit könnte oder zur Wahrung schutzwürdiger Interessen nicht der Senator für Inneres im Einzelfall feststellt, der betroffenen Person erforderlich ist. Die Ergänzung dass dadurch die Sicherheit des Bundes oder eines oder Berichtigung ist aktenkundig zu machen und in Landes gefährdet würde. Mitteilungen des Berliner den entsprechenden Dateien zu vermerken. Beauftragten für den Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht an den Betroffenen dürfen keine Rückschlüsse auf den Erkenntnisstand der Verfassungsschutzbehörde zulassen, soweit sie nicht einer Vierter Abschnitt weitergehenden Auskunft zustimmt. Der Kontrolle Auskunftserteilung durch den Berliner Beauftragten für den Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht unterliegen nicht personenbezogene Informationen, die der Kontrolle SS 31 Auskunft an den Betroffenen durch die Kommission nach SS 2 des Gesetzes zur (1) Die Verfassungsschutzbehörde erteilt einer natürAusführung des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz unterlichen Person über die zu ihr gespeicherten Informatioliegen, es sei denn, die Kommission ersucht den Berliner nen auf Antrag unentgeltlich Auskunft. Die AuskunftsBeauftragten für den Datenschutz und für das Recht verpflichtung erstreckt sich nicht auf Informationen, auf Akteneinsicht, die Einhaltung der Vorschriften über die nicht der alleinigen Verfügungsberechtigung den Datenschutz bei bestimmten Vorgängen oder in der Verfassungsschutzbehörde unterliegen, sowie auf bestimmten Bereichen zu kontrollieren und ausschließdie Herkunft der Informationen und die Empfänger lich ihr darüber zu berichten. von Übermittlungen. (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf den Antrag SS 32 Akteneinsicht ablehnen, wenn das öffentliche Interesse an der (1) Sind personenbezogene Daten in Akten gespeichert, Geheimhaltung ihrer Tätigkeit oder ein überwiegendes so kann dem Betroffenen auf Antrag Akteneinsicht Geheimhaltungsinteresse Dritter gegenüber dem Integewährt werden, soweit Geheimhaltungsinteressen resse der antragstellenden Person an der Auskunftsoder schutzwürdige Belange Dritter nicht entgegensteerteilung überwiegt. In einem solchen Fall hat die hen. SS 31 gilt entsprechend. Verfassungsschutzbehörde zu prüfen, ob und inwieweit (2) Die Einsichtnahme in Akten oder Aktenteile ist eine Teilauskunft möglich ist. Ein Geheimhaltungsinsbesondere dann zu versagen, wenn die Daten des interesse liegt vor, wenn Betroffenen mit Daten Dritter oder geheimhaltungs1. eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung durch die bedürftigen sonstigen Informationen derart verbunden Auskunftserteilung zu besorgen ist, sind, dass ihre Trennung auch durch Vervielfältigung 2. durch die Auskunftserteilung Quellen gefährdet sein und Unkenntlichmachung nicht oder nur mit unverhältkönnen oder die Ausforschung des Erkenntnisstandes nismäßig großem Aufwand möglich ist. In diesem Fall oder der Arbeitsweisen der Verfassungsschutzbehörde ist dem Betroffenen zusammenfassende Auskunft über zu befürchten ist, den Akteninhalt zu erteilen. 3. die Auskunft die öffentliche Sicherheit gefährden (3) Das Berliner Informationsfreiheitsgesetz vom oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines Landes 15. Oktober 1999 (GVBl. S. 561) findet auf die von der Nachteile bereiten würde oder 274 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Verfassungsschutzabteilung der Senatsverwaltung für SS 35 Aufgaben und Befugnisse Inneres geführten Akten keine Anwendung. des Ausschusses (1) Der Senat hat den Ausschuss umfassend über die allgemeine Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde Fünfter Abschnitt und über Vorgänge von besonderer Bedeutung zu unterrichten; er berichtet auch über den Erlass von Parlamentarische Kontrolle Verwaltungsvorschriften. Der Ausschuss hat Anspruch auf Unterrichtung. (2) Der Ausschuss hat auf Antrag mindestens eines seiSS 33 Ausschuss für Verfassungsschutz ner Mitglieder das Recht auf Erteilung von Auskünften, (1) In Angelegenheiten des Verfassungsschutzes Einsicht in Akten und andere Unterlagen, Zugang zu unterliegt der Senat von Berlin der Kontrolle durch den Einrichtungen der Verfassungsschutzbehörde sowie auf Ausschuss für Verfassungsschutz des AbgeordnetenAnhörung von deren Dienstkräften. Die Befugnisse hauses von Berlin. Die Rechte des Abgeordnetenhauses des Ausschusses nach Satz 1 erstrecken sich nur auf und seiner anderen Ausschüsse bleiben unberührt. Gegenstände, die der alleinigen Verfügungsberechti(2) Der Ausschuss für Verfassungsschutz besteht gung der Verfassungsschutzbehörde unterliegen. in der Regel aus höchstens zehn Mitgliedern. Das Vor(3) Der Senat kann die Unterrichtung über einzelne schlagsrecht der Fraktionen für die Wahl der Mitglieder Vorgänge verweigern und bestimmten Kontrollbegehrichtet sich nach der Stärke der Fraktionen, wobei jede ren widersprechen, wenn dies erforderlich ist, um vom Fraktion mindestens durch ein Mitglied vertreten sein Bund oder einem deutschen Land Nachteile abzuwenmuss. Eine Erhöhung der im Satz 1 bestimmten Mitglieden; er hat dies vor dem Ausschuss zu begründen. derzahl ist nur zulässig, soweit sie zur Beteiligung aller (4) Das Abgeordnetenhaus kann den Ausschuss für Fraktionen notwendig ist. Es werden stellvertretende einen bestimmten Untersuchungsgegenstand als Mitglieder gewählt, die im Fall der Verhinderung eines Untersuchungsausschuss (Art. 48 der Verfassung von ordentlichen Mitglieds dessen Rechte und Pflichten Berlin) einsetzen. SS 3 des Gesetzes über die Untersuwahrnehmen. Die Anzahl der stellvertretenden chungsausschüsse des Abgeordnetenhauses von Berlin Mitglieder entspricht der Anzahl der ordentlichen vom 22. Juni 1970 (GVBI. S. 925), zuletzt geändert Mitglieder. Kann das ordentliche Mitglied seine Rechte durch Gesetz vom 24. Juni 1991 (GVBI. S. 154), findet und Pflichten nicht wahrnehmen, so wird es durch ein keine Anwendung. stellvertretendes Mitglied derselben Fraktion vertreten. (5) Für den Ausschuss gelten im Übrigen die Bestim(3) Scheidet ein Mitglied aus dem Abgeordnetenhaus mungen der Geschäftsordnung des Abgeordnetenoder seiner Fraktion aus, so verliert es die Mitgliedhauses von Berlin. schaft im Ausschuss für Verfassungsschutz. Für dieses Mitglied ist unverzüglich ein neues Mitglied zu wählen; das gleiche gilt, wenn ein Mitglied aus dem SS 36 Vertrauensperson des Ausschusses Ausschuss ausscheidet. Für stellvertretende Mitglieder für Verfassungsschutz des Ausschusses gelten die Vorgaben der Sätze 1 und 2 Der Ausschuss für Verfassungsschutz kann zur entsprechend. Wahrnehmung seiner Kontrollaufgaben im Einzelfall nach Anhörung des Senats mit der Mehrheit seiner Mitglieder eine Vertrauensperson beauftragen, UnterSS 34 Geheimhaltung suchungen durchzuführen und dem Ausschuss über (1) Die Öffentlichkeit wird durch einen Beschluss des das Ergebnis in nicht öffentlicher Sitzung zu berichten. Ausschusses ausgeschlossen, wenn das öffentliche Die Vertrauensperson soll die Befähigung zum Interesse oder berechtigte Interessen eines einzelnen Richteramt besitzen und wird für die Dauer der jeweils dies gebieten. Sofern die Öffentlichkeit ausgeschlossen laufenden Wahlperiode vom Ausschuss für Verfasist, sind die Mitglieder des Ausschusses zur Verschwiesungsschutz mit der Mehrheit von zwei Dritteln seiner genheit über Angelegenheiten verpflichtet, die ihnen Mitglieder gewählt. Die Vertrauensperson erhält für dabei bekannt geworden sind. Das gleiche gilt auch für ihre Dienstleistungen im Einzelfall auf Antrag eine Verdie Zeit nach dem Ausscheiden aus dem Ausschuss. gütung entsprechend den SSSS 8, 9 des JustizvergütungsDie Verpflichtung zur Verschwiegenheit kann von dem und -entschädigungsgesetzes vom 5. Mai 2004 (BGBl. I Ausschuss aufgehoben werden, soweit nicht berechS. 718, 776), das zuletzt durch Artikel 7 Absatz 3 des tigte Interessen eines Einzelnen entgegenstehen oder Gesetzes vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2449) geändert der Senat widerspricht; in diesem Fall legt der Senat worden ist, in der jeweils geltenden Fassung. Die Höhe dem Ausschuss seine Gründe dar. des Honorars richtet sich nach der Honorargruppe M 3. (2) Die Vorschriften des Absatzes 1 gelten für stellvertretende Mitglieder des Ausschusses entsprechend. Verfassungsschutzgesetz 275 Sechster Abschnitt Schlussvorschriften SS 37 Einschränkung von Grundrechten Aufgrund dieses Gesetzes kann das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 des Grundgesetzes eingeschränkt werden. SS 38 Anwendbarkeit des Berliner Datenschutzgesetzes Bei der Erfüllung der Aufgaben nach SS 5 durch die Verfassungsschutzbehörde finden die SSSS 6a, 10 bis 17 und 19 Abs. 2 bis 4 des Berliner Datenschutzgesetzes in der Fassung vom 17. Dezember 1990 (GVBI. 1991 S. 16, 54), das zuletzt durch Art. I des Gesetzes vom 30. Juli 2001 (GVBI. S. 305) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung keine Anwendung. SS 39 Inkrafttreten, Außerkrafttreten (1) Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung im Gesetzund Verordnungsblatt für Berlin in Kraft. SS 27a tritt außer Kraft, sobald das Bundesverfassungsschutzgesetz vom 20. Dezember 1990 (BGBl. I S. 2954, 2970), zuletzt geändert durch Art. 9 des Gesetzes vom 16. August 2002 (BGBl. I S. 3202), gemäß Art. 22 Abs. 2 des Terrorismusbekämpfungsgesetzes vom 9. Januar 2002 (BGBl. I S. 361, 3142) wieder in seiner am 31. Dezember 2001 maßgeblichen Fassung gilt. Der Tag des Außerkrafttretens ist im Gesetzund Verordnungsblatt für Berlin bekannt zu machen. 276 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 2 Personenund Sachregister A al-Qaida im islamischen Maghreb AAI 16, 37 f, 187, 196 f siehe AQM ABC 117 f, 127 f, 133, 237, 239 Al-Shahid Association (MärtyrerAbu Adam siehe C., Mounir Stiftung) 199 Abu Askar siehe S., Shahab Dashti Sineh al-Shamikha 34 f, 204 Abu Ibraheem siehe C., Yassin al-Zawahiri, Aiman 17, 19 f, 31, 193 Abu Safiyya siehe S., Djavad Anarchist Black Cross siehe ABC Abu Talha al-Almani Anatolische Föderation e.V. 245 siehe Cuspert, Denis Ansar al-Islam siehe AAI Abu Usama al-Gharib Ansarul-Aseer 43 siehe M., Mohamed Anti-Antifa-Aktivitäten 83, 88 f, 225 adil düzen 52, 209 Antideutsche 131, 190, 221 ADÜTDF 143, 147, 246 f Antifa 65, 80, 88 f, 110, 119, 120 ff, 133 al-Almani, Abdul Fettah siehe T., Fatih Antifaschistische Jugend Berlin al-Almani, Farooq 29 siehe ALJ al-Aqsa-TV 200 f Antifaschistische Linke Berlin siehe ALB al-Aulaqi, Anwar 22, 31 ff, 43 Antifaschistische Revolutionäre Aktion ALB 116 ff, 133, 233, 235 Berlin siehe ARAB al-Fajr-Media Center 34 Apfel, Holger 71 f, 75 ff, 222 f al-Jama'a al-islamiya 192 f AQAH 17, 31 ff, 43, 186 f, 194 f al-Jihad al-islami 192 f, 214 AQM 17, 20, 32, 186, 194 f ALJ 119 f, 139 ARAB 116, 119 f, 125 f, 129, 133, al-Khattab, Isa siehe M., Harry 139, 144, 234 f al-Malahim 32 f Arbeiterpartei Kurdistans siehe PKK Al-Manar-TV 198 ff As-Sahaba-Moschee 207 al-Mauretani, Younis 20, 23 f As-Sunna-Verlag 207 Al-Nur-Moschee 207 Autonome 101, 114, 119, 123 ff, 133, al-Qaida 6, 16 ff, 36 ff, 46 ff, 186, 192 ff 136, 141, 190, 232, 234, 239 al-Qaida auf der Arabischen autonome gruppen 111 Halbinsel siehe AQAH Personenund Sachregister 277 Autonome Nationalisten 54, 65, Deutsch-Mesopotamisches Bildung 79 ff, 224 f Zentrum e.V. (Schreibweise lt. VereinsAutonome Vollversammlungen register) 147, 150 siehe AVV DHKP-C 143, 154, 244 f AVV 118 Die Lunikoff-Verschwörung 94 ff, 229 Ayyub al-Almani siehe O., Yusuf DKP 141, 230 f Azzam, Abdallah 22 DTM 26 f, 31, 36, 195 Düsseldorfer Zelle 18, 20, 22 ff, 194 B DVU 54, 72 ff, 223 B & H 228 B., Robert 34 E Berliner SicherheitsüberprüfungsE., Bünyamin 25, 29 gesetz siehe BSÜG E., Christian David 34 Bewegung der Jungen Mujahidin E., Emrah 25 siehe Shabab-Miliz El.-K., Abdeladim 20, 22 f Bewegung des Islamischen WiderElif Medya 31 stands siehe HAMAS EMUG 209 Bin Ladin, Usama 17, 19 f, 30 ff, 48, 192 f Erbakan, Necmettin 51 f, 209 ff Blood & Honour-Organisation Ergün, Kemal 52 f siehe B & H Europäische Moscheebauund UnterstütBSÜG 162 ff, 253 zungsgemeinschaft e.V. siehe EMUG Extremismus-Theorie 108 C C., Amid 23 F C., Mounir 27, 29 Federation of Islamic Organisations C., Yassin 27, 30, 196 in Europe siehe FIOE Carlo Giuliani 132 f FIOE 216, 41 Cuspert, Denis 44, 46 ff FNBM 90 f Föderation der Türkisch-Demokratischen D Idealistenvereine in DeutschD.S.T./X.x.X. 94 ff, 229 land e.V. siehe ADÜTDF Das Grollen des Eyafjallajökull 105 Föderation kurdischer Vereine Deutsch, Stolz, Treue siehe D.S.T. / X.x.X. in Deutschland e.V. siehe YEK-KOM Deutsche Kommunistische Partei Freie Kräfte 54, 64 f, 70 f, 79 f, 85, siehe DKP 90 ff, 224 ff Deutsche Taliban Mujahidin siehe DTM Freie Nationalisten Berlin Mitte Deutsche Volksunion siehe DVU siehe FNBM Freiheitsfalken Kurdistans siehe TAK 278 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Frontbann 24, 90 f, 224 Islamfeindlichkeit 63 f Fylgien 96 f Islamische Bewegung Usbekistan siehe IBU G Islamische Gemeinschaft G., Filiz 36, 44 Milli Görüs e.V. siehe IGMG GAR 5, 58, 259 Islamische Jihad Union siehe IJU Gemeinsames Abwehrzentrum gegen Islamische Schriften Verlag 208 Rechtsextremismus siehe GAR Islamischer Staat Irak siehe ISI GIMF 38, 46 Islamischer Widerstand (al-Muqawama Globale Islamische Medienfront al-islamiya) 198 siehe GIMF Islamisches Emirat Kaukasus 16, 201 Graue Wölfe 147, 246 Islamisches Kulturund Erziehungs- H zentrum Berlin e.V. siehe IKEZ H., Maiwand 39 IZDB 216 H., Omid 37 Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden 200 f HAMAS 19, 40 f, 186 f, 200 J Haniyya, Ismail 19 JN 55, 75, 83, 219 Harrach, Bekkay 28 Junge Nationaldemokraten siehe JN Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren K Angehörige e.V. siehe HNG K., Fatih 36, 44 HNG 227 f K., Rajib 33 Hizb Allah 40, 186 f, 198 ff KADEK 243 Hizb ut-Tahrir siehe HuT Kahlschlag 94 HuT 186 f, 202 f Kalifatsstaat 40 Kamalak, Mustafa 210, 51 f I Karahan, Yavuz Celik 52 IBU 24 f, 27 f, 31, 37, 195 KgK 130, 238 IGMG 50 ff, 186 f, 209 ff Khan, Samir 32 IJU 31, 187, 194 f Klasse gegen Klasse siehe KgK IKEZ 201, 216 Komalen Ciwan 148, 153, 243 Imran Almani siehe E., Bünyamin Kommission für Verstöße der Psychiatrie Inspire 27, 31 ff, 204 gegen die Menschenrechte siehe KVPM Interkulturelles Zentrum für Dialog Kongra Gel 243 und Bildung e.V. siehe IZDB Konvertiten 49, 194, 205 ff INTERIM 126, 133, 232 KVPM 156 ISI 17, 186 Islambrüderschaft 37 Personenund Sachregister 279 L Nationaler Widerstand Berlin 82, Landser 229 122, 225 L., Maqsood 25 f Nationalsozialistischer Untergrund Laumeyer 121 siehe NSU Legion of Thor 94 Nazis auf die Pelle rücken 110, Linksterrorismus 6, 142 121 f, 235 NEA 116 ff, 235 M Neonazis 54 f, 110, 121, 127, 225 f M., Ahmad 31 Netzwerk Freiheit für alle politischen M., Harry 37 Gefangenen siehe NFG M., Mohamed 44 ff, 46 f, 49 NFG 127 ff, 131, 236 f M., Rami 24 No pasaran! 124 M., Samir 35, 44 North East Antifascists siehe NEA Mahler, Horst 94 NPD 5, 54 ff, 83 ff, 110, 119, 122, 219 ff Makhlouf, Shakib 41 NSU 56 f, 78, 98 f, 223, 259 Marci & Kapelle 94, 97 Marxistisch-Leninistische Partei O Deutschlands siehe MLPD O., Yusuf 25 f, 44 MB 41, 50, 186 f, 200, 214 ff Öcalan, Abdullah 144 ff, 242, 244 Meenen, Uwe 60, 65, 69, 71 P Mevlana Moschee e.V. 51 Palestinian Return Center siehe PRC mg 108, 130 f, 238 Partei der Nationalistischen MHP 246 f Bewegung siehe MHP Midgards Stimme 96 PKK 143 ff, 242 ff militante gruppe siehe mg PRC 41 Militanzdebatte 104, 109 Proliferation 160 f, 181 Millatu-Ibrahim 42, 45 ff, 205 Punk Front 94 Milli Gazete 52, 210 f MLPD 141, 231 R Mujahidin 28, 33 f, 49, 192 f, 196, 217 radikal 108, 127, 130, 237 f Mujahidin-Netzwerke 16, 192 Radio Irminsul 100 Muslimbruderschaft siehe MB RAF 117 RAZ 108 f, 117, 127, 129 f, 237 ff N Revolutionäre Aktionszellen siehe RAZ N., Hani 35, 44 Revolutionäre Linke siehe RL Nationaldemokratische Partei Revolutionäre VolksbefreiungsparteiDeutschlands siehe NPD Front siehe DHKP-C RH 127 f, 241 280 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Ring Nationaler Frauen siehe RNF Takfir wa'l-Hijra 214 RL 130, 238 Taqi ad-Din an-Nabhani 202 RNF 219 Tayad-Komitee 245 Roj TV 149 TÜB 147 Rote Armee Fraktion siehe RAF Türkische Idealisten Gemeinschaft Rote Hilfe siehe RH in Berlin e.V. siehe TÜB Türkischer Idealisten Verein e.V. 147 S S., Ahmad Wali 24 f U S., Daniel Martin 38 U., Arid 6, 18, 21 f, 44, 207 S., Djavad 29 Ü., Gülaferit 154 S., Halil 23 Unsterbliche 92 S., Hussam 37 f S., Jamil 23 V S., Shahab Dashti Sineh 29 Verband Interkultureller Zentren e.V. Saadet Partisi siehe SP siehe VIZ Salafimedia 42 f, 45 ff Verbunddatei 5, 58, 259 Salafismus 42 ff, 187, 204 ff VIZ 216 Sauerland-Gruppe/Sauerlandzelle Voigt, Udo 62 f, 68 f, 71 f, 75 f, 93, 222 38, 194 f Volksrat Berlin 144 Schmidtke, Sebastian 70 f von Rauch, Georg 108, 127 Schwarzer Block 80 W Scientology Organisation siehe SO Waisenkinderprojekt Libanon e.V. Second Class Citizen 93 ff siehe WKP Selahaddin Turki siehe M., Ahmad WBA 117, 135 ff, 240 Shabab-Miliz 17 Widerstand-Radio 99 f Sheik Abdellatif 22 Wir bleiben alle siehe WBA Silvio Meier 123 Wirtschaftsspionage 160 f, 173 ff, 178 ff Skinheads 226 f WKP 199 SO 155 ff, 248 ff Sofi, Nurettin 153 Y SP 51 f, 210 ff YEK-KOM 144 ff, 243 Stilus Design GmbH 208 Z T ZK 117, 126 f, 131 ff, 144, 236 f T., Alican 36 Zusammen Kämpfen siehe ZK T., Fatih 26 Zwickauer Terrorzelle 5 TAK 151 f, 244 Publikationsübersicht 281 3 Publikationsübersicht Reihe IM FOKUS Scientology - Eine kritische Bestandsaufnahme 1. Auflage 2011. 83 Seiten. Zerrbilder von Islam und Demokratie 1. Auflage Berlin 2011. 128 Seiten. Linke Gewalt in Berlin 1. Auflage Berlin 2009. 84 Seiten. Antisemitismus im extremistischen Spektrum Berlins 2. Auflage Berlin 2006. 56 Seiten. Rechte Gewalt in Berlin 2003 bis 2006 1. Auflage Berlin 2007. 84 Seiten. Islamismus. Diskussion eines vielschichtigen Phänomens 2. Auflage Berlin 2006. 116 Seiten. Rechtsextremistische Skinheads 1. Auflage Berlin 2003 (im Internet abrufbar). 86 Seiten. 282 Verfassungsschutzbericht Berlin 2011 Reihe INFO Symbole und Kennzeichen des Rechtsextremismus 7. überarbeitete Auflage Berlin 2011. 38 Seiten. Rechtsextremistische Musik 2. Auflage Berlin 2007. 36 Seiten. Islamismus 2. überarbeitete Auflage Berlin 2006. 42 Seiten. Sonstiges Islamismus: Prävention und Deradikalisierung (DVD) 1. Auflage Berlin 2011. 59 min. Verfassungsschutz - Nehmen Sie uns unter die Lupe 1. Auflage Berlin 2002. 19 Seiten. Diese sowie weitere Publikationen des Berliner Verfassungsschutzes können Sie unter der rückseitig angegebenen Adresse sowie telefonisch unter (030) 90 129-440 bestellen oder aber im Internet unter www.verfassungsschutz-berlin.de abrufen. Der Verfassungsschutz Berlin bietet zudem Vorträge zu den einzelnen Extremismusfeldern und zum Thema Spionage an. Nähere Informationen erhalten Sie ebenfalls unter (030) 90 129-440. Der Verfassungsschutz Dient Dem schutz Der freiheitlichen Demokratischen grunDorDnung, Des BestanDes unD Der sicherheit Der BunDesrepuBlik DeutschlanD unD ihrer länDer. senatsverwaltung für inneres und sport senatsverwaltung für inneres und sport abteilung Verfassungsschutz klosterstraße 47, 10179 Berlin telefon (030) 901 29-0 www.verfassungsschutz-berlin.de info@verfassungsschutz-berlin.de