Senatsverwaltung für Inneres und Sport Verfassungsschutzbericht Senatsverwaltung für Inneres und Sport Abteilung Verfassungsschutz Verfassungsschutzbericht 2010 Erreichbarkeit des Berliner Verfassungsschutzes Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Abteilung Verfassungsschutz Adresse: Klosterstraße 47, 10179 Berlin Postanschrift: Postfach 62 05 60, 10795 Berlin Internet: www.verfassungsschutz-berlin.de E-Mail: info@verfassungsschutz-berlin.de Vermittlung: Tel.: (030) 90 129-0 Fax: (030) 90 129-844 Kontakttelefon: Tel.: (030) 90 129-440 Pressestelle: Tel.: (030) 90 129-565 Vertrauliches Telefon: Tel.: (030) 90 129-400 Deutsch / Englisch (030) 90 129-401 Türkisch (030) 90 129-402 Arabisch Herausgeber: Senatsverwaltung für Inneres und Sport Abteilung Verfassungsschutz Redaktion: Arbeitsgruppe Öffentlichkeitsarbeit Druck: April, Berlin Redaktionsschluss: März 2011 Abdruck gegen Quellenangabe gestattet, Belegexemplar erbeten. Hinweis: Dieser Verfassungsschutzbericht erwähnt nicht alle Beobachtungsobjekte des Berliner Verfassungsschutzes. Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 III Vorwort Der Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 macht die Breite des Aufgabenund Beobachtungsspektrums des Berliner Verfassungsschutzes deutlich. Er gibt einen Überblick über Gefahren für unsere freiheitlich demokratische Grundordnung. Damit leistet der Verfassungsschutz einen wichtigen Beitrag auch für die öffentliche Diskussion über die unterschiedlichen Extremismusformen. Wenn man sich die Entwicklung ansieht wird aber auch deutlich, dass der Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland in verschiedenen Bereichen nur auf eine Teilresonanz trifft. Die Zahlen der Mitglieder extremistischer Organisationen sind nach wie vor gering. Unsere demokratische Staatsform wird von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung getragen. Extremisten aus dem rechtsextremistischen, aus dem linksextremistischen und aus einem religiösen Extremismus heraus sind eine verschwindende Minderheit in unserer Gesellschaft. Gleichwohl ist es richtig, dass wir ein wachsames Auge auf sie haben, weil man den Anfängen wehren muss. Im Bereich des Rechtsextremismus hat die NPD versucht, bundesweit durch einen Zusammenschluss mit der DVU Aufwind zu bekommen. Dies hat nicht funktioniert. Der Fusionsvertrag ist nicht rechtskräftig, es gibt weiterhin Streitereien auf allen Parteiebenen und die dahin dümpelnde DVU dürfte kaum zur Beflügelung der NPD beitragen. Auch die Zustimmung, die der NPD bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt zuteil wurde, ändert an der Gesamteinschätzung der Stärke der NPD auf Bundesebene nichts. Regional hatte die NPD in Sachsen und in Mecklenburg-Vorpommern Erfolge erzielt, regional hatte sie solche Erfolge auch in einigen Berliner Bezirken gehabt. Die DVU war in Sachsen-Anhalt und in Brandenburg in den Landtagen vertreten. Insofern fügt sich das Landtagswahlergebnis von Sachsen-Anhalt in die bisherige politische Landschaft ein, ohne sie zu verändern. Gefährlicher ist die Entwicklung bei den "Autonomen Nationalisten", die inzwischen auch innerhalb der Berliner NPD eine führende Rolle einnehmen. Ihr Mobilisierungspotential und die Gewaltbereitschaft machen sie zu einer besonders gefährlichen Gruppierung, zumal sie sich weitgehend abschottet und konspirativ vorgeht. Der Bereich des islamistischen Terrorismus ist geprägt worden durch ernstzunehmende Warnungen, mit denen das Bundesministerium des Innern am 17. November 2010 an die Öffentlichkeit getreten ist. Alles, was die Sicherheitsbehörden im letzten Jahr an Gefahrenhinweisen bekommen haben, zeigt, dass wir wachsam bleiben müssen. IV Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Das zeigt auch der Anschlag eines radikalisierten Einzeltäters, der Anfang März 2011 in Frankfurt zwei amerikanische Soldaten tötete und mehrere zum Teil schwer verletzte. Es ist der erste Terroranschlag, der in Deutschland "erfolgreich" war. Die öffentliche Wahrnehmung ist zu schnell darüber hinweggegangen, der Anschlag hat uns gezeigt, dass Terrorismus aus unserer Gesellschaft heraus entsteht und nicht durch einreisende Täter. Der Einzeltäter von Frankfurt am Main hat sich offenbar über das Internet radikalisiert, bis hin zur terroristischen Tat. Der Anschlag macht deutlich, dass neben der Gefahrenabwehr auch das frühzeitige Erkennen und Verhindern von Radikalisierung eine große Aufgabe bleibt. Radikalisierung wird erleichtert durch Ausgrenzung von einzelnen Bevölkerungsgruppen. Sie wird auch erleichtert durch die Ausgrenzung einer Religion, der man abspricht, auch in unsere westliche demokratische Grundordnung integrierbar zu sein. Es geht mir nicht um "Friede-Freude-Eierkuchen". Dort, wo aus islamisch geprägten Ländern Auffassungen und Mentalitäten mitgebracht werden, die sich mit unserem Demokratieverständnis und unserem Grundrechtsverständnis nicht vereinbaren lassen, muss man das klar benennen und auch eine klare Kante ziehen. Das betrifft das gebrochene Verhältnis zur Demokratie, das nicht nur bei islamistischen terroristischen Organisationen vorherrscht, sondern auch Bewegungen wie HAMAS oder Hizb Allah prägt. Auch die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs und die Muslimbruderschaft mit ihrem deutschen Ableger Islamische Gemeinschaft in Deutschland haben zwar zu befürwortende interne Diskussionen über ein westliches Demokratieverständnis, das auf Volkssouveränität und Wahlen beruht, sie sind aber ideologisch nach wie vor bei den nichtdemokratischen Gründern ihrer Bewegung angebunden. In der Debatte um Muslime in Deutschland, die das vergangene Jahr beherrscht hat, sind viele pauschale Vorurteile hochgeschwemmt worden. Es ist völlig verkannt worden, dass die überwältigende Mehrheit der Muslime in Deutschland sich in unserer demokratischen Staatsform wohlfühlt und sie mitnichten infrage stellt. Deshalb muss verantwortungsvolle Politik und verantwortungsvolle Verwaltung sehr darauf achten, dass wir Defizite, Fehler und Missbräuche von einzelnen Organisationen sehr genau benennen, ohne dass dies pauschal auf ganze Bevölkerungsgruppen übertragen wird. Für mich stellt sich deshalb auch die Frage, ob die Begrifflichkeiten, die wir verwenden, richtig sind. Das gilt insbesondere für den Begriff "Islamismus", mit dem die Wissenschaft und auch der Verfassungsschutz Gruppierungen und Menschen umschreibt, die den Islam für politische Zwecke instrumentalisieren und missbrauchen. Der Begriff scheint mir wissenschaftlich verfehlt. In der Öffentlichkeit wird zwischen einem Anhänger des Islam und einem sogenannten Islamisten kaum differenziert. Die Öffentlichkeit hat die feine Differenzierung, die von Wissenschaft und Verfassungsschutz gemacht wurde, nicht verinnerlicht. Islamisten und Islamanhänger werden im öffentlichen Sprachgebrauch gleichgestellt. Damit besteht aber genau die Gefahr, die ich beschrieben habe: Dass eine ganze Bevölkerungsgruppe ausschließlich wegen ihrer Religionszugehörigkeit ausgegrenzt wird. Im Grunde geht es darum, diejenigen zu benennen, die wie Linksextremisten oder Rechtsextremisten als religiöse Extremisten unsere demokratische Grundordnung in Frage stellen. Das ist durch den verkürzten Begriff des "Islamismus" eben nicht zu vermitteln. Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 V Im Vergleich zu anderen Religionsanhängern zeigt der Begriff, dass er im allgemeinen Sprachgebrauch nicht ausreichend verstanden werden kann. Der Katholizismus, Hinduismus oder Buddhismus wird in der öffentlichen Wahrnehmung nie mit extremistischen Bestrebungen in Verbindung gebracht. Warum die öffentliche Wahrnehmung für eine einzige Religion, nämlich den Islam, aus der Kennzeichnung etwas anderes herleiten soll als bei den anderen Religionen, ist nicht nachvollziehbar. Ich plädiere deshalb dafür, unsere Begrifflichkeit zu ändern und den Begriff "Extremisten" auch bei den sich auf den Islam berufenden Extremisten zu verwenden. Im Bereich des Linksextremismus war das Jahr 2010 vom Rückgang der politisch motivierten Gewalt geprägt. Insbesondere wurden im Jahre 2010 deutlich weniger Autos in Brand gesetzt. Aber auch im Bereich des Linksextremismus werden wir weiter wachsam bleiben müssen. Die Gewaltbereitschaft ist nach wie vor da. Das zeigt der Anschlag auf Polizeibeamte während einer Demonstration im Juni 2010. Das zeigen auch die jüngsten Ausschreitungen Anfang 2011 nach der Räumung eines Hauses in der Liebigstraße. Der Verfassungsschutzbericht 2010 gibt für alle politisch Verantwortlichen im Abgeordnetenhaus und im Senat aber auch für den Bereich der Öffentlichkeit einen guten Überblick über die Entwicklung im Jahr 2010 und damit auch Hinweise, wo Gesellschaft, Parlament und Regierung ansetzen müssen, um unseren demokratischen Staat vor Gefahren zu schützen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meiner Behörde danke ich für ihr Engagement, das durch den Bericht deutlich wird. Dr. Ehrhart Körting Senator für Inneres und Sport VI Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Inhaltsverzeichnis Vorwort ........................................................................III Aktuelle Entwicklungen in den Beobachtungsfeldern ..... 1 1 Islamistischer Terrorismus ...................................................... 2 1.1 Personenpotentiale ................................................................. 2 1.2 Transnationaler islamistischer Terrorismus ............................. 3 1.3 Jihad-Propaganda ................................................................. 11 1.3.1 Propaganda Kern-"al-Qaida" ................................................. 11 1.3.2 "Inspire": Neues Internet-Magazin der "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel"........................................................... 12 1.3.3 Deutschsprachige Jihad-Propaganda in Deutschland aufgewachsener Jihadisten ................................................... 14 1.3.4 Deutschsprachige Jihad-Propaganda der "Deutschen Taliban Mujahidin"(DTM) und der Medienstelle "Elif Medya" ............. 17 1.4 Exekutivmaßnahmen ............................................................ 20 1.5 Prävention und Deradikalisierung als neue Herausforderungen ...................................................... 23 2 Regional gewaltausübende Islamisten: 8. Jahreskonferenz der Palästinenser in Europa (HAMAS) ................... 25 3 Zunahme salafistischer Da'wa-Aktivitäten in Berlin ............... 27 4 Legalistischer Islamismus ..................................................... 32 4.1 Personenpotential................................................................. 32 4.2 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V." (IGMG)............... 32 4.3 Kurz notiert.......................................................................... 38 4.3.1 Reaktionen auf Ereignisse der Gaza-Flotille ........................... 38 4.3.2 IHH-Verbot ........................................................................... 39 5 Rechtsextremismus............................................................... 40 5.1 Personenpotential und Straftaten .......................................... 40 5.2 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus ........................... 43 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 VII 5.2.1 Versuch einer Neustrukturierung der rechtsextremistischen Parteienlandschaft................................................................ 43 5.2.2 NPD auf Profilsuche .............................................................. 49 5.3 Aktionsorientierter Rechtsextremismus ................................ 58 5.3.1 Netzwerk "Freie Kräfte" dominiert den Berliner Rechtsextremismus.................................................. 58 5.3.2 Netzwerk "Rechtsextremistische Musik" unter unverändert hohem staatlichem Verfolgungsdruck .................................... 71 5.4 Kurz notiert.......................................................................... 74 5.4.1 Drohbriefe nach Demonstrationsblockade in Dresden ............. 74 5.4.2 Bundesministerium des Inneren prüft HNG-Verbot ................ 74 6 Exkurs: Rechtsextremisten nehmen gesellschaftliche Debatte um Muslimfeindlichkeit auf ..................................... 75 7 Linksextremismus ................................................................ 84 7.1 Personenpotentiale und Straftaten ........................................ 84 7.2 "Langfristige Perspektive" statt "kurzatmiger Kampagnenpolitik": Berliner Linksextremisten setzen auf politische und organisatorische Strukturen ..................... 87 7.3 Berliner Linksextremisten setzen Militanzdebatte fort .......... 104 7.4 Kurz notiert........................................................................ 117 7.4.1 Linksextremisten rufen anlässlich der Fußballweltmeisterschaft Wettbewerb "capture the flag" aus................. 117 7.4.2 Griechische Paketbomben auch an das Bundeskanzleramt.... 120 7.4.3 Linksextremistische Atomgegner sorgen mit Anschlägen für erhebliche Verkehrsstörungen bei Berliner S-Bahn .............. 121 8 Extremistische Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) ...................................... 122 8.1 Personenpotential und Straftaten ........................................ 122 8.2 "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) ...................................... 123 8.3 Kurz notiert........................................................................ 129 8.3.1 Exekutivmaßnahmen gegen die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) ...................................... 129 9 "Scientology Organisation" ................................................. 132 VIII Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 10 Spionageabwehr ................................................................. 134 11 Geheimund Sabotageschutz .............................................. 137 11.1 Personeller und materieller Geheimschutz im öffentlichen Bereich ........................................................... 137 11.2 Mitwirkung bei Einbürgerungsverfahren und sonstigen gesetzlich vorgeschriebenen Überprüfungen ....................... 142 Hintergrundinformationen ................................................. 147 1 Ideologien .......................................................................... 148 1.1 Definition Extremismus ...................................................... 148 1.2 Islamistische Ideologie ....................................................... 149 1.3 Ideologie des Rechtsextremismus ........................................ 152 1.4 Ideologie des Linksextremismus ......................................... 153 2 Islamistische Terroristen und gewaltorientierte Islamisten .......................................................................... 157 2.1 Transnationale Terrornetzwerke .......................................... 157 2.1.1 "Ansar al-Islam" ("Anhänger des Islam")............................ 157 2.1.2 "Al-Qaida" und "Mujahidin-Netzwerke" .............................. 158 2.2 Regional gewaltausübende Islamisten ................................. 163 2.2.1 "Hizb Allah ("Partei Gottes") .............................................. 163 2.2.2 "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS) ............ 165 2.3 Gewaltbefürwortende Islamisten ......................................... 166 2.3.1 "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung") .......................... 166 3 Legalistische Islamisten ...................................................... 168 3.1.1 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V." ........................ 168 3.1.2 "Muslimbruderschaft" /"Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V."................................................................ 173 3.1.3 "Tabligh-i Jama 'at" /"Jama 'at-i Tabligh" ("Gemeinschaft der Verkündigung und Mission")................ 176 4 Rechtsextremismus ............................................................. 178 4.1 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus ......................... 178 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 IX 4.1.1 "Deutsche Volksunion" ....................................................... 178 4.1.2 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" ..................... 179 4.2 Aktionsorientierter Rechtsextremismus .............................. 183 4.2.1 Neonazis ............................................................................ 183 4.2.2 Skinheads .......................................................................... 183 4.2.3 "Autonome Nationalisten" .................................................. 184 4.2.4 Netzwerk "Freie Kräfte" (vorm. Netzwerk Kameradschaften) .................................... 185 4.2.5 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V." ...................................................... 186 4.2.6 Rechtsextremistische Musik ................................................ 188 4.3 Diskursorientierter Rechtsextremismus ............................... 190 4.3.1 Die "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V." .............................. 190 4.3.2 Revisionismus .................................................................... 191 5 Linksextremismus .............................................................. 193 5.1 Aktionsorientierter Linksextremismus ................................ 193 5.1.1 "Antifaschistische Linke Berlin" ......................................... 193 5.1.2 "Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin" ................. 196 5.1.3 Autonome ........................................................................... 198 5.1.4 "militante gruppe" ............................................................. 201 5.1.5 "radikal"/ RL...................................................................... 203 5.1.6 "Rote Hilfe" ....................................................................... 204 5.2 Parlamentsorientierter Linksextremismus ........................... 206 5.2.1 "Deutsche Kommunistische Partei" ..................................... 206 5.2.2 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" ................ 208 5.2.3 "marx21" ........................................................................... 210 5.2.4 "Sozialistische Alternative e. V." ......................................... 212 6 Extremistische und sicherheitsgefährdende Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) ................ 215 6.1 Kurdische Extremisten ........................................................ 215 6.1.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" ("Partiya Karkeren Kurdistan") .......................................... 215 6.1.2 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front"/ "Volksbefreiungspartei-Front der Türkei - Revolutionäre Linke" .. 217 X Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 7 "Scientology Organisation" ................................................. 219 Verfassungsschutz Berlin ............................................221 1 Struktur ............................................................................. 222 2 Gesetzliche Grundlagen....................................................... 223 2.1 Aufgaben und Befugnisse ................................................... 223 2.2 Entwicklungen in der Rechtsprechung und Gesetzesnovellierungen ...................................................... 223 2.3 Kontrolle ............................................................................ 225 3 Arbeitsweise ....................................................................... 226 4 Für Bürger und Politik: Die Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes ..................................................... 230 Anhang ......................................................................233 1. Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin ....................... 234 2. Personenund Sachregister ................................................. 253 3. Publikationen des Verfassungsschutzes Berlin ..................... 263 I Aktuelle Entwicklungen in den Beobachtungsfeldern 2 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 1. Islamistischer Terrorismus 1.1 Personenpotentiale Der islamistische Terrorismus zeigt sich in vielfältigen Erscheinungsformen. Transnationale Terrornetzwerke, regional gewaltausübende Organisationen und gewaltbefürwortende Gruppen sind dabei zu unterscheiden. Transnationale Transnationale Terrornetzwerke wie "Al-Qaida" oder die "Mujahidin", "AnTerrornetzwerke sar al-Islam" oder das "Islamische Emirat Kaukasus" sind äußerst klandestin, haben unterschiedlich ausgeprägte Organisationsstrukturen und sind teilweise untereinander vernetzt. Der Einfluss von "al-Qaida" geht zudem weit über die eigenen Strukturen hinaus, indem sie mit ihrem jihadistischen Gedankengut ideologische Begründungen für unabhängige Kleingruppen oder Einzeltäter liefert, sie "inspiriert" und zu deren Radikalisierung beiträgt. Ein zentrales Propagandainstrument ist dabei das Internet. Quantitativ ist dieses Personenpotential kaum zu erfassen. Informationen liegen den Sicherheitsbehörden aber zu 255 Personen aus Deutschland vor, die sich in einem islamistisch-terroristischen Ausbildungslager aufgehalten haben sollen. Regionalgewalt Regional gewaltausübende Organisationen agieren vor allem in ihren Heiausübende Organisa matländern terroristisch - etwa zur Beseitigung der dortigen Herrschaftstionen strukturen. In Berlin zählen dazu die arabischen Organisationen "Hizb Allah" und HAMAS. Die Angehörigen dieser Gruppen verhalten sich in Deutschland in der Regel zurückhaltend und größtenteils gewaltfrei. Gewaltbefürwortende Desweiteren gibt es in Berlin Anhänger gewaltbefürwortender Gruppen wie Gruppen der "Hizb ut-Tahrir" (HuT) und des Kalifatsstaats. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 3 Personenpotential Gewaltorientierte Islamisten* Berlin Bund 2009 2010 2009 2010 Gesamt (soweit statistisch erfassbar) 410 450 2 900 2 950 Transnationale Terrornetzwerke, davon Al-Qaida / Keine Keine Keine Keine Mujahidin-Netzwerke / gesicherten gesicherten gesicherten gesicherten Ansar al-Islam etc. Zahlen Zahlen Zahlen Zahlen Islamisches Emirat Kaukasus 50 50 500 500 Regional gewaltausübende Gruppen, davon: Hizb Allah 180 250 900 900 HAMAS 50 50 300 300 Gewaltbefürwortende Gruppen, davon: Hizb ut-Tahrir 80 50 300 300 (Einzel(EinzelKalifatsstaat 750 800 mitglieder) mitglieder) Iranische Islamisten 50 50 150 150 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotentiale ab. Das Personenpotential der Hizb Allah ist aufgrund aktueller Erkenntnisse gestiegen. Der Rückgang des Personenpotentials bei der Hizb ut-Tahrir steht vor allem damit im Zusammenhang, dass die HuT-Mitglieder seit dem Betätigungsverbot 2003 äußert konspirativ agieren. 1.2. Transnationaler islamistischer Terrorismus Aktuelle Lage Die Aktivitäten im Spektrum des transnationalen islamistischen TerrorisDeutschland weiterhin mus zeigen, dass Deutschland weiterhin Teil eines weltweiten Gefahrenrauim unmittelbaren mes ist und im unmittelbaren Zielspektrum terroristischer Gruppierungen Zielspektrum terroristi liegt. Einer unverändert erhöhten Gefährdung unterliegen sowohl das Bunscher Gruppierungen desgebiet als auch deutsche Vertretungen und Einrichtungen im Ausland. Die Sicherheitslage in der Bundesrepublik ist zum einen bedingt durch einschlägige Drohungen des Netzwerks "al-Qaida" und hiermit verbündeter Organisationen, die mehrfach die deutsche Beteiligung am Einsatz der ISAF in Afghanistan als Vorwand für Anschläge in Deutschland benannten. Zum anderen ist eine deutliche Zunahme von - in Deutschland aufgewachsenen - Personen festzustellen, die jihadistische Radikalisierungsprozesse durchlaufen haben, in terroristische Ausbildungslager im afghanisch-pakistanischen 4 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Grenzgebiet reisen und von dort aus einschlägige Drohungen sowie terroristische Aktivitäten gegen Deutschland oder deutsche Interessen im Ausland richten. Anschlagsplanungen Parallel zum deutlichen Anstieg von Ausreisen dieser so genannten "homeauch gegen grown"-Terroristen waren die Drohbotschaften der "Deutschen Taliban Deutschland Mujahidin" (DTM) für die verschärfte Sicherheitslage in Deutschland von besonderer Bedeutung. Zudem gab es seit August vermehrt Informationen über Anschlagsplanungen gegen einige europäische Staaten, darunter auch Deutschland. In Folge dieser Hinweise wurden bundesweit auch die öffentlich sichtbaren Sicherheitsvorkehrungen intensiviert. Die für Europa gestiegene Bedrohung belegen der Selbstmordanschlag im Stockholmer Stadtzentrum am 11. Dezember sowie der vereitelte Angriff auf das Redaktionsgebäude der Zeitung "Jyllands-Posten" in Kopenhagen am Jahreswechsel. Inhaftierung von zwei Jihadisten mit Deutschlandbezügen und Informationen zu Anschlagsplanungen Anschlagspläne Im September wurde durch zwei von "alQaida" Jihadisten bekannt, dass "al-Qaida" Anschläge in Europa plane. Die Informationen beruhen zum einen auf Aussagen des Rami M. aus Hamburg, der im Juni wegen illegalen Aufenthalts in Pakistan inhaftiert und im August nach Deutschland ausgeliefert wurde. Zum anderen sagte der im Juli in Jihadistische Drohbotschaft der "Elif Medya" mit Afghanistan festgenommene HamBerlinbezug (Screenshot) burger Jihadist Ahmad S. aus, er habe den "al-Qaida"-Führer Younis al-Mauretani 1 getroffen und mit ihm über Anschläge in Frankreich und Großbritannien gesprochen. Diese soll auch Bin Ladin gebilligt und teilweise finanziert haben. 1 Eine Führungsperson von "al-Qaida" mit Namen "Younis al-Mauretani" war bislang nicht bekannt. Der zweite Namensteil weist auf eine Herkunft aus Mauretanien hin. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 5 Im November erhielt das Bundeskriminalamt Hinweise, nach denen Attentäter bereits nach Deutschland eingereist seien, die Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen planten, darunter auf den Reichstag in Berlin. 2 Daraufhin wurden in Abstimmung aller deutschen Sicherheitsbehörden auch öffentlich sichtbare Sicherheitsmaßnahmen an Bahnhöfen, Flughäfen und öffentlichen Gebäuden verschärft. Das Reichstagsgebäude wurde weiträumig abgesperrt und die Kuppel für Besucher zeitweise geschlossen. Internationale Anschläge von "al-Qaida" und verbündeter Gruppen Mit Blick auf terroristische Aktivitäten haben 2010 vor allem die regionalen Ableger von "al-Qaida" das Geschehen geprägt. Dies betrifft insbesondere die unter der Bezeichnung "Islamischer Staat Irak" (ISI) firmierende "alQaida im Irak" sowie die in Nordafrika und in der westlichen Sahel-Zone operierende "al-Qaida im Islamischen Maghreb" (AQM). Ferner gab es im Jemen verstärkte terroristische Aktivitäten von "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) sowie Anschläge der mit "al-Qaida" verbündeten "Tehrik-i Taleban Pakistan (TTP) und somalischen "Bewegung der Jungen Mujahidin" (Shabab-Miliz). Anschläge von "al-Qaida im Irak" ("Islamischer Staat Irak", ISI) Insbesondere "al-Qaida im Irak", die seit 2006 unter dem Namen "IslamiAnführer von ISI bei scher Staat im Irak" (ISI) operiert, war im Berichtszeitraum für eine VielKampfhandlungen zahl schwerster Anschläge verantwortlich, bei denen Hunderte Zivilisten zu getötet Tode kamen. Bei einer irakisch-amerikanischen Militäroperation wurden im April die beiden Anführer dieses regionalen "al-Qa'ida"-Ablegers, der von der Organisation als "Emir" ("Anführer") titulierte Abu Umar al-Baghdadi sowie der als "Kriegsminister" bezeichnete Abu Hamza al-Muhajir, getötet. Dennoch verübte der IstI auch unter seinem neuen "Kriegsminister" Suleiman weitere, zum Teil schwere Anschläge. Diese richteten sich nicht allein gegen staatliche und wirtschaftliche Einrichtungen des Irak, sondern auch gegen die Medien, gegen Moscheen und Heiligtümer der Schiiten sowie gegen die christliche Minderheit. 2 Die Vorgehensweise der Attentäter sollte sich dabei am Anschlag auf die indische Metropole Mumbai vom 26. November 2008 orientieren. damals hatten bewaffnete Jihadisten mutmaßlich pakistanischer und südasiatischer Herkunft zeitgleich zehn Gebäude angegriffen, darunter ein Cafe, den Bahnhof und zwei Hotels und töteten 175 Menschen. Eine bis dahin unbekannte Organisation "Deccan Mujahideen" bekannte sich schriftlich zu den Anschlägen. 6 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Die deutsche Beteiligung am Einsatz der ISAF in Afghanistan wurde als Rechtfertigung des IstI für einen Terrorangriff auf eine deutsche Einrichtung im Irak benannt. Am 4. April kam es zu Anschlägen des IstI auf die iranische, ägyptische und die deutsche Botschaft innerhalb der besonders gesicherten "Grünen Zone" in Bagdad, bei denen 30 Menschen starben und mehr als 200 verletzt wurden. Das Selbstbezichtigungschreiben des IstI begründet den Anschlag auf die iranische Botschaft mit feindlichen Plänen des schiitischen Iran. Die deutsche Botschaft sei dagegen zum Ziel geworden, weil sie "den Banner des kreuzzüglerischen Krieges gegen das Emirat Afghanistan trägt".3 Anschläge gegen Die Anschläge gegen die autochthonen christlichen Minderheiten im Irak christliche Minder erreichten am 31. Oktober einen weiteren Höhepunkt. Ein Terrorkommando heiten im Irak des IstI hatte in der Sayidat al-Nejat-Kathedrale der Syrisch-Katholischen Kirche in Bagdad während der sonntäglichen Abendmesse etwa 120 Besucher als Geiseln genommen. Nachdem die Geiselnehmer mit der Erschießung ihrer Opfer begonnen haben sollen, erfolgte eine Befreiungsaktion, bei der mindestens 53 Menschen ums Leben kamen und mehr als 60 verletzt wurden. Auf jihadistischen Internetseiten bezichtigte sich kurz darauf der IstI der Geiselnahme, um Gesinnungsgenossen in Irak und Ägypten freizupressen und drohte ähnliche Aktionen auch gegen andere Kirchen im Nahen und Mittleren Osten an. Als Folge der Terrorakte und der gesellschaftlichen Ausgrenzung sind von einstmals über eine Million Christen im Irak seit 2003 etwa zwei Drittel geflohen, viele nach Libanon und Syrien. Anschlag auf koptische Kirche in Ägypten Schwere Zusammen Am 1. Januar 2011 kam es in Alexandria zur Explosion einer Autobombe, stöße zwischen als Kopten, die als christliche Minderheit etwa zehn Prozent der BevölkeMuslimen und Ange rung Ägyptens ausmachen, die Neujahrsmesse der Al-Qiddissin-Kirche verhörigen der koptischen ließen. Bei diesem seit Jahren folgenschwersten Angriff auf Kopten wurden Minderheit 23 Personen getötet und etwa 100 verletzt. Unter den Toten waren auch acht Muslime, die sich vor der Kirche aufgehalten hatten. In Folge des Anschlags kam es in Ägypten zu schweren Zusammenstößen zwischen Muslimen und Angehörigen der koptischen Minderheit, die sich trotz bekannter Gefährdung nicht ausreichend geschützt sahen. Bislang ist unklar, ob der Anschlag in Zusammenhang mit der Drohung von "al-Qaida im Irak" steht, die sie im Oktober gegen sämtliche christlichen Minderheiten im Nahen und mittleren Osten gerichtet hatte. 3 Selbstbezichtigungsschreiben. In: Jihadistisches Internetforum, eingestellt am 9.4.2010. Fehler im Original. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 7 Anschlagsversuche der AQAH im Luftfrachtverkehr Nach Hinweisen ausländischer Sicherheitsbehörden befanden sich am 29. Oktober als Druckerkartuschen für Laserdrucker getarnte Sprengsätze an Bord zweier Frachtmaschinen. Einer der funktionsfähigen Sprengsätze konnte an Bord einer Maschine des United Parcel Service (UPS) in East Midlands (Großbritannien) und der andere an Bord einer Federal ExpressMaschine in Dubai (Vereinigte Arabische Emirate) gefunden und entschärft werden. Deutschland war von diesen Vorfällen betroffen, weil der über UPS transportierte Sprengsatz am Flugdrehkreuz des US-Unternehmens am Köln-Bonner Flughafen umgeladen worden war. In der Folge wurden der Luftfrachtverkehr aus dem Jemen nach DeutschLuftfrachtverkehr zeit land zeitweise unterbrochen und die Luftfrachtkontrollen intensiviert. Die weise unterbrochen Vorfälle führten in zahlreichen Staaten, darunter Deutschland zu einer Überprüfung der Sicherheitsmaßnahmen im Luftfrachtverkehr. Der Anschlagsversuche bezichtigte sich "al-Qaida" auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH), die sie in ihrem Online-Magazin "Inspire - Special Issue $ 4.200" als "Operation Hemorrhage" ("Operation Blutsturz") bezeichnete. Darin reklamiert die AQAH auch die Verantwortung für den Absturz eines UPSFrachtjumbojets am 3. September unweit des Dubai International Airport, bei dem die beiden Piloten starben. Noch ist unklar, ob diese Selbstbezichtigung den Tatsachen entspricht. Selbstmordanschlag in Stockholm Inmitten einer der zentralen Einkaufsstraßen der schwedischen Hauptstadt Glimpflicher Ausgang zündete am 11. Dezember der 28 Jahre alte Taimur A. am Körper getragene des Anschlags Sprengsätze. Obgleich diese nur teilweise explodierten, starb der Attentäter sofort. Wenige Minuten zuvor war sein unweit geparktes Fahrzeug explodiert, wodurch zwei Menschen leicht verletzt wurden. Wegen des äußerst glimpflichen Ausgangs des Anschlags und des Umstandes, dass die Sprengsätze nur teilweise funktionierten, wird eine vorzeitige Zündung vermutet; eigentliches Ziel könnten der Bahnhof oder ein Kaufhaus gewesen sein. Der Familienvater Taimur A. war als Kind Schwedische ISAF aus dem Irak nach Schweden gekommen Beteiligung als und 1992 eingebürgert worden. Er lebte AnschlagsBegründung mit seiner Familie seit seinem Studium im englischen Luton und soll sich dort vor Jahren islamistischen Gruppierungen Der Selbstmordattentäter Taimur A. angeschlossen haben. Kurz vor dem An(jihadistisches Internetforum) schlag soll Taimur A. einer schwedischen Nachrichtenagentur eine E-Mail zugesandt haben, wonach seine Tat einen jihadistischen Hintergrund habe und durch die schwedische Beteiligung am Einsatz der ISAF in Afghanistan motiviert sei. 8 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Anschlagspläne gegen "Jyllands-Posten" in Dänemark Mohammed Am 29. Dezember nahmen dänische und schwedische Sicherheitsbehörden Karrikaturen fünf Personen fest, die kurz davor gestanden haben sollen, das Redaktionsgebäude der dänischen Zeitung "Jyllands-Posten" zu stürmen und eine Vielzahl an Personen zu töten. Von den fünf Personen im Alter von 26 bis 44 Jahren wurden vier inhaftiert. Nur der jüngste ist irakischer Asylbewerber in Dänemark; bei den anderen handelt es sich um schwedische Staatsbürger, die unter anderem aus Tunesien und dem Libanon stammen. Die mutmaßlichen Attentäter sollen bereits früher Verbindungen zu internationalen Terrornetzwerken unterhalten haben; sie waren den Sicherheitsbehörden bekannt und wurden überwacht. Motiv für den Angriff auf die Zeitung sind mutmaßlich die bereits 2005 erschienenen "Mohammad-Karikaturen". Deren Erscheinen haben insbesondere jihadistische Kreise mehrfach als Vorwand für Anschläge gegen Karikaturisten und Zeitungsverlage benannt. Reisen von "home-grown-Terroristen" aus Deutschland in terroristische Ausbildungslager Zahl der Ausreisen Inzwischen sind ca. 255 Personen mit Bezügen nach Deutschland 4 bekannt, deutlich gestiegen die seit Beginn der 1990er Jahre eine militärische Ausbildung in Terrorcamps absolviert haben oder anstrebten. Sorge bereitet, dass die Reisebewegungen von Islamisten aus Deutschland nach Afghanistan und Pakistan deutlich angestiegen ist. Ihr Ziel ist es, sich dort ausbilden lassen und sich am Jihad zu beteiligen. Es besteht die Gefahr, dass Einzelne den gewalttätigen Jihad auch in Deutschland austragen wollen. Seit Anfang 2009 konnten die Sicherheitsbehörden 26 Ausreiseversuche militanter Jihadisten rechtzeitig erkennen und verhindern. Ausreisen auch Auch aus Berlin reisten junge von Berlinern Erwachsene im Alter von 18-25 Jahren, darunter gebürtige Muslime und Konvertiten, teilweise in Begleitung ihrer Ehefrauen aus, um sich am Jihad zu beteiligen. Mindestens ein Berliner Jihadist wurde 2010 bei Kampfhandlungen getötet, andere wurden auf ihrer Reise festgenommen und befinden Video der "Elif Medya" (Screenshot) sich wieder in Deutschland. Gegen mehrere Personen bestehen Ausreiseuntersagungen; ein Berliner Jihadist wird mit internationalem Haftbefehl gesucht. Mehrere Prozesse, insbesondere ein Verfahren vor dem Kammerge- 4 Bei "Personen mit Bezügen nach Deutschland" handelt es sich um deutsche Staatsangehörige mit und ohne Migrationshintergrund, um Konvertiten sowie um Personen anderer Staatsangehörigkeit, die sich zeitweise in Deutschland aufhielten. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 9 richt Berlin wegen Unterstützung der DTM und der IJU, zeigen die Existenz jihadistischer Strukturen in Berlin. 5 Auch aktuell halten sich Personen mit Bezügen nach Deutschland in jihaPersonen mit distischen Kampfgebieten und den dortigen Ausbildungslagern auf, seien DeutschlandBezügen es - sämtlich zu Jihadisten radikalisierte - Konvertiten, deutschsprachige mehrfach von Kampf handlungen betroffen Migranten oder Muslime mit einem zeitweiligen Aufenthalt in Deutschland. Waren diese Jihadisten 2009 noch mit dem Ziel ausgereist, sich an Waffen ausbilden zu lassen und mit deutschsprachiger Jihad-Propaganda 6 aufgefallen, hat sich deren Situation 2010 drastisch verändert. Der stark gestiegene militärische Verfolgungsdruck im afghanisch-pakistaPersonen mit nischen Grenzgebiet hatte zur Folge, dass auch Personen mit DeutschlandDeutschlandBezügen Bezügen mehrfach von Kampfhandlungen direkt betroffen waren. Bereits mehrfach von Kampf Ende April waren Eric B., der Deutsch-Türke Ahmet M. und der aus Holland handlungen betroffen stammende Berliner Danny R. getötet worden. Anfang Oktober wurden bei einem amerikanischen Drohnenangriff im pakistanischen Grenzgebiet die beiden Hamburger Jihadisten Namen M. und Shahab Dashti Sineh S., genannt "Abu Askar", sowie der Wuppertaler Jihadist Bünyamin E., genannt "Imran Almani", mutmaßlich getötet. 2010 sind damit vermutlich mindestens sechs Jihadisten mit Deutschland-Bezügen umgekommen. Nach weiteren deutschen Jihadisten wird international gefahndet, darunter nach dem Berliner Hayrettin Burhan S. Rückkehr eines Berliners Am 1. September wurden in Istanbul ein Berliner Konvertit und seine Berliner Konvertit und schwangere Ehefrau festgenommen und kurz darauf nach Deutschland ausseine Ehefrau festge geliefert. Es besteht der Verdacht, dass die beiden 25-Jährigen im Sepnommen tember 2009 Deutschland verlassen und sich einer Jihadisten-Gruppe mutmaßlich im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet angeschlossen haben. Es ist nicht auszuschließen, dass der ungarisch-stämmige Konvertit mit Kampfnamen "Hamza al-Majari" auch mit den "Deutschen Taliban Mujahidin" (DTM) in Kontakt stand. Ideologische Stärkung durch Testamente Bei polizeilichen Maßnahmen in Berlin wurden im Oktober 2009 Testamente Salafistische Radikali aufgefunden. Sie stammen von radikalisierten Personen, die im Verdacht stansierung den, Ausreisepläne zu verfolgen, um sich am militanten Jihad zu beteiligen. Es handelte sich dabei um handgeschriebene Testamente sehr junger Muslime 5 Vgl. Aktuelle Entwicklungen "Exekutivmaßnahmen", S. 24. 6 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 5-19. 10 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 und Konvertiten, in denen verfügt worden war, wie nach ihrem Tode zu verfahren sei. Dies betraf den Umgang mit dem Leichnam, die Verantwortlichkeiten der Testamentsvollstreckung, Details der Beerdigung wie auch die Bitte um Spenden, damit niemand mit Verbindlichkeiten beerdigt werde. Inhaltliche Auffälligkeiten der Testamente zeigen, dass ihre Verfasser salafistisch radikalisiert worden waren.7 Die Testamente enthielten scharfe Abgrenzungen gegenüber Nichtmuslimen, die sogar Christen und Juden verketzerten, obgleich diese vom Islam als Anhänger einer Buchreligion ausdrücklich anerkannt und geachtet sind: "Ich will auf einem muslimischen Friedhof beerdigt werden. Es soll darauf geachtet werden, dass in meiner Nähe kein Ungläubiger (auch Juden und Christen) begraben ist." Detaillierte Jegliche Art von Grabschmuck, Inschriften und Bildern sowie eine TrauBestattungs erzeremonie werden explizit abgelehnt; erlaubt sind allenfalls sehr flache anweisungen Grababdeckungen. Selbst in der Nähe eines Muslim, dessen Grabstein eine Inschrift trägt, wolle man nicht begraben sein. Damit sollen vermeintliche "Akte des Unglaubens" (arab. kufr) vermieden und Praktiken der Frühzeit des Islam vor 1400 Jahren befolgt werden. Derartige Anweisungen weichen deutlich von üblichen muslimischen Begräbnisformen ab. Zahlreiche Vorberei Jihadistisch-salafistische Traktate verlangen vor der Teilnahme am militantungshandlungen ten Jihad eine Reihe von Vorbereitungen. Dazu zählen unter anderem das zur Teilnahme am Begleichen von Schulden oder die Bitte um Nachlass, die Rückgabe entmilitanten Jihad liehener Gegenstände und auch das Abfassen eines Testaments. Derartige Testamente können einen Hinweis auf ein fortgeschrittenes Stadium der Radikalisierung geben. 7 Vgl. Aktuelle Entwicklungen "Zunahme salafistischer Da'wa-Aktivitäten in Berlin", S. 31. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 11 1.3. Jihad-Propaganda 1.3.1 Propaganda Kern-"al-Qaida" Die Propaganda der Kern-"al-Qaida" durch Audiound Videobotschaften ist 2010 deutlich zurückgegangen. Von Usama Bin Ladin gibt es fünf teils sehr kurze Audiobotschaften. In Usama Bin Ladin einer unbetitelten Kurzbotschaft an die USA vom 25. März droht er mit der Tötung von US-Bürgern, sollten inhaftierte "al-Qaida"-Mitglieder in den USA von Gerichten zum Tode verurteilt werden. In einer an Frankreich gerichteten Botschaft vom 27. Oktober drohte er mit der Tötung der in Niger von "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM) entführten französischen Geiseln, falls Frankreich seine Soldaten nicht aus Afghanistan abziehe. Vom "al-Qaida"-Vize Aiman al-ZaAiman alZawahiri wahiri wurden vier Botschaften bekannt, darunter zwei Nachrufe auf getötete Führungspersonen und zwei programmatische Verlautbarungen. Am 19. Juli thematisierte er unter dem Titel "Jerusalem ... wird nicht judaisiert" zahlreiche Schauplätze des Jihad. Dabei diente ihm der Nahost-Konflikt und die Zukunft Palästinas als Leitfaden: Die dortigen Muslime hätten sich den "Kreuzfahrern" und den mit ihnen kollaborierenden Herrschercliquen unterworfen, anstatt sich am militanten Jihad zu beteiligen. Generell würde das Verhalten der als unislamisch verketzerten Oberhäupter arabischer Staaten unverändert den Jihad gegen sie als den "nahen Feind" erfordern. Genauso unverzichtbar sei jedoch der Jihad gegen den "fernen Feind", vor allem die USA und Israel. In seiner einzigen Videobotschaft wendet sich al-Zawahiri mit ähnlicher Jihadistische Forde Diktion schon im Titel "An das muslimische türkische Volk" und fordert rungen an die Türkei es auf, seine Regierung zu zwingen, die Kooperation mit Israel und seine Beteiligung am Einsatz der ISAF in Afghanistan zu beenden. Er vergleicht die "Epoche des Osmanischen Reiches" mit der heutigen Türkei und fordert eine Rückkehr zu deren Rolle als Verteidiger des Islam. Als Vorbild für die türkischen Muslime preist al-Zawahiri schließlich den aus Deutschland stammenden Selbstmordattentäter Cüneyt Ciftci.8 8 Der in Ansbach (Bayern) aufgewachsene Cüneyt Ciftci hatte im Namen der IJU 2008 in der ostafghanischen Provinz Khost einen Selbstmordanschlag verübt und dabei zwei US-Soldaten sowie mehrere afghanische Zivilisten getötet. 12 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Mustafa Abu al-Yazid Finanzchef der Im Mai wurde in Pakistan das hochrangige "al-Qaida"-Mitglied Mustafa Abu "alQaida" al-Yazid getötet. Von Bedeutung ist eine erst nach seinem Tode im Juni bekannt gewordene Videobotschaft. Darin räumt er als "Finanzchef der al-Qaida" ein, dass "al-Qaida" zahlreiche Anschlagsplanungen wegen finanzieller Engpässe aufschieben musste und fordert Sympathisanten zur eigenständigen Durchführung von Anschlägen auf. Vielleicht ist dieser Geldmangel auch eine Erklärung für den genannten Rückgang der Propagandaaktivitäten. "Abu Talha der Deutsche" Deutschsprachiger Von dem in Bonn aufgewachsenen, marokkanisch-stämmigen Bekkay H. Propagandist der gab es im Berichtsjahr keine Drohbotschaften. 2009 war er unter seinem "alQaida" Kampfnamen "Abu Talha der Deutsche" als deutschsprachiger Propagandist der "al-Qaida" in fünf Audiound Videobotschaften aufgetreten, davon drei im Vorfeld der Bundestagswahlen am 27. September 2009. Diese enthielten massive Drohungen gegen Deutschland. 9 Bekkay H. soll im August 2010 bei einem amerikanischen Drohnenangriff im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet getötet worden sein. 1.3.2 "Inspire": Neues Internet-Magazin der "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" Jihadistische Propaganda Die wichtigste Neuerung im Bereich der jihadistischen Propaganda und ein Beleg für professionelle Öffentlichkeitsarbeit war 2010 das dreimalige Erscheinen eines Hochglanzmagazins in englischer Sprache im Internet, die "al-Malahim", die Medienabteilung von "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) 10 mit dem Titel "Inspire" (Deutsch etwa: "erwecke" / "erwache") verantwortet. Im Sommer und Herbst erschienen zwei Ausgaben mit zusammen mehr als 140 Seiten, im November schließlich ein "Special Issue" mit 23 Seiten und dem Titel "$ 4.200". 11 Derartige Schriften können wegen ihres ideologisch appellierenden Charakters eine Radikalisierung sowie die Bereitschaft zur Gewaltausübung fördern. 9 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 6 f. und 11 f. 10 Der Server der AQAH-Medienabteilung "al-Malahim", die das Magazin online publiziert, soll sich in Malaysia befinden. 11 Zwischenzeitlich wurde eine arabischsprachige Ausgabe des Magazins angekündigt, eine indonesische Version ist bereits im Netz verfügbar. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 13 Der Jihad-Ideologe Anwar al-Aulaqi Ideologische Leitfigur des Magazins ist Anwar al-Aulaqi, ein im Jemen geJihadIdeologe borener Geistlicher, der lange in den USA lebte und früh auf die Bedeutung Anwar alAulaqi des Internets für jihadistische Propaganda hingewiesen hat. Wegen seiner umfangreichen Internetaktivitäten wird er auch der "Bin Ladin des Internet" genannt. 12 "Das Internet ist zu einem großartigen Medium geworden, um den Ruf zum Jihad zu verbreiten und die Neuigkeiten der Mujahidin zu verfolgen." 13 Aufforderungen zu Anschlägen in westlichen Ländern Das Magazin "Inspire" wendet sich gezielt Geringe Kosten - große an radikalisierte Muslime in der westlichen Anschlagswirkung Welt. Diese werden aufgefordert, Anschläge in ihren Aufenthaltsländern, darunter auch in Deutschland, zu begehen und hierfür einfachste Mittel zu verwenden. In einem Artikel der Oktober-Ausgabe des Magazins mit dem Titel "Open Source Jihad" (Deutsch etwa: "Jihad für jedermann") werden etwa Ratschläge gegeben, wie sich mit geringen Kosten eine möglichst große Anschlagswirkung erzielen lässt. Dazu empfiehlt der Autor Yahya Ibrahim unter anderem den Umbau eines Pick-Ups mit seitlich angebrachten Stahlklingen, um möglichst viele Menschen in der Öffentlichkeit "niederzumähen". "Ideal ist ein Platz, wo sich eine möglichst hohe Zahl an Fußgängern und eine möglichst geringe an Fahrzeugen befinden. In der Tat wäre es fabelhaft, wenn du in eine Fußgängerzone eindringen kannst, die in einigen Stadtzentren existieren. Dort gibt es Bereiche, deren Zugang wegen der Menschenmengen für Fahrzeuge zu bestimmten Zeiten geschlossen ist." 14 12 Al-Aulaqi belässt es jedoch nicht beim virtuellen Jihad: Mit drei Selbstmordattentätern der Londoner Anschläge 2005 soll er in Verbindung gestanden haben. Belegt sind auch sein radikalisierender Einfluss auf Nidal Malik Hassan, einen amerikanischen Militärpsychiater, der im November 2009 auf dem US-Militärstützpunkt Fort Hood 13 Menschen erschoss, wie auch seine Kontakte zu Umar Faruk Abdulmutallab, der im Dezember 2009 auf einem Flug von Amsterdam nach Detroit versuchte, die Passagiermaschine durch einen Sprengsatz in seiner Unterwäsche zum Absturz zu bringen. 13 Anwar al-Aulaqi: "44 Ways to support Jihad". Online-Essay, engl. 14 Yahya Ibrahim: "The ultimate mowing machine". In: "Inspire", Herbst 2010, S. 54, Online-Text, engl. 14 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 AQAH übernimmt Das "Inspire - Special Issue $ 4.200" beschreibt die "Operation Hemorrhage" Verantwortung für (deut. "Blutsturz / Aderlass"), mit der AQAH Verantwortung für einen Aneinen Anschlag auf schlag und zwei Anschlagsversuche auf den internationalen LuftfrachtverLuftfrachtverkehr kehr reklamiert. 15 Deren Gesamtkosten hätten nur US-$ 4.200 betragen, aber den Feind dazu gezwungen, nun tausendfach höhere Beträge für die Abwehr der Gefahren aufzuwenden. Dieser finanzielle Aderlass werde die westlichen Staaten auf Dauer schwächen. 1.3.3 Deutschsprachige Jihad-Propaganda in Deutschland aufgewachsener Jihadisten Gegen Deutschland gerichtete Jihad-Propaganda der "Islamischen Bewegung Usbekistan" (IBU) Die "Islamische Bewegung Usbekistan" (IBU) hat 2010 mehr als 20 Audiound Videobotschaften herausgegeben, von denen die Mehrheit von der Medienstelle der IBU "Jundullah" produziert worden ist. Die IBU, ideologisch von "al-Qaida" inspiriert, war ursprünglich eine usbekische Bewegung, die sich den Kämpfern der Taliban im afghaMounir C. alias Abu Adam in einem Video der nisch-pakistanischen Grenzgebiet IBU-Medienstelle Jundullah angeschlossen hat. Deutschland und In den Verlautbarungen der IBU werden insbesondere Deutschland und auch Berlin als Ziel für Berlin als Ziel für Anschläge benannt. Die Bonner Brüder Yassin und Mounir Anschläge benannt C. fordern Jugendliche in deutscher Sprache auf, sich am Jihad zu beteiligen und richten Appelle an die Eltern von Jihadisten, ihren Kindern auf dem Weg in den Jihad beizustehen. Die nachfolgend ausgewählten Botschaften der IBU belegen die thematische Bandbreite ihrer Propaganda. Mehrere der Botschaften richten sich vorrangig an deutschsprachige Muslime und rufen sie zum Jihad auf. 15 Vgl. Aktuelle Entwicklungen "Terroristische Aktivitäten", S. 8. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 15 Am 11. Januar wurde ein usbekischsprachiges Video der IBU mit dem Titel "Soldaten Allahs "Soldaten Allahs Teil II" bekannt. 16 Es beginnt mit einer Rede des IBUTeil II" Anführers Yuldashev, der im August 2009 getötet wurde und glorifiziert "lebende Märtyrer" sowie als "Märtyrer" verehrte getötete Kämpfer. Weitere Szenen zeigen Kampfhandlungen, mutmaßlich aus nordwest-pakistanischen Grenzprovinz Waziristan. Es kommt ein "Kommandeur Muhammad" zu Wort, der bereits in einem IBU-Video vom Januar 2009 mitwirkte. Er hält eine Mörsergranate in der Hand; die deutsche Texteinblendung dazu lautet: Insha' Allah [so Gott will] fliegt diese [Mörsergranate] hier nach Berlin oder noch besser nach Washington und insha' Allah [so Gott will] fällt sie genau auf das Weiße Haus und zerschmettert es. Schreit den Takbeer!" 17 Mehrfach treten im Video Jihadisten mit Deutschland-Bezügen auf, darunter die Brüder Yassin und Mounir C. sowie Djavad S., der zwischenzeitlich getötet wurde. Pseudoreligiöse Rechtfertigungen für den militanten Jihad Zentrales Thema einer überwiegend deutschsprachigen Botschaft vom 11. August ist ein an "die Muslime" gerichteter Aufruf, ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen und sich dem militanten Jihad anzuschließen. In dem Video mit dem Titel "Boden der Ehre" und dem Untertitel "Die Will"Begrüßung" von kommensrede: Und gedenkt Allahs Gnaden an euch" wird aus vermeintlich Neuankömmlingen religiösen Gründen die Teilnahme am Jihad als eine individuelle Pflicht proim Jihad pagiert, die allein dazu diene, das eigene Leben zu vervollkommnen und ins Paradies zu gelangen. In einer deutschsprachigen Szene wendet sich Mounir C. an die Zuschauer und erweckt den Eindruck, er würde Neuankömmlinge in den Lagern der IBU begrüßen. 16 Der Titel weist es als "Fortsetzung" eines Videos der IBU vom Februar 2009 mit dem Titel "Soldaten Allahs" aus. 17 "Takbeer" (= "takbir") ist die arabische Aufforderung, "Allahu Akbar" ("Gott ist groß!") zu rufen. 16 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 "Und alhamdulillah [Gott sei Dank], es freut mich, hier unter uns neue Gesichter zu sehen. Zu euch sage ich [...] herzlich willkommen auf dem Boden der Ehre, [...] wo Allahs Wort das höchste ist [...] Meine geehrten Geschwister, einzig und allein [...] durch Allahs Gnade konnten wir uns der Karawane auf dem Boden der Ehre anschließen. Diese Karawane [...] ehrt jeden, der sich ihr anschließt. [...] So wissen wir, die drei gewaltigsten Themen zu denen das Buche Allahs, der Koran, aufruft und die das Leben unseres edlen Propheten [...] bestimmten, sind der Tauhid [Monotheismus], die Hijra [Auswanderung] und der Jihad fisabilillah [Jihad auf dem Weg Gottes]. Wer nun glaubt, auswandert und fisabillillah [auf dem Weg Gottes] kämpft, ist [...] ein wahrer Gläubiger." Eltern sollen Kinder im Ebenfalls auf Deutsch gibt es von Jihad unterstützen Yassin C. alias "Abu Ibraheem" am 7. Oktober ein Video der IBUMedienstelle "Jundullah". Mit dem Titel "Mutter bleibe standhaft" bittet er seine Mutter, seine Entscheidung für den militanten Jihad zu verstehen und ihn darin zu unterstützen. Er wandte sich auch an die Eltern von Kindern, die in den Jihad gezogen sind und sich um ihre Kinder sorgen. Er verurteilt diese Eltern und wirft ihnen vor, sich mit "Ungläubigen" und "tyrannischen Herrschern" arrangiert und sich von Gott entfernt zu haben. Im Vordergrund habe der Jihad zu stehen und nicht die Sorge um den Nachwuchs. Weitere deutschsprachige Jihad-Propaganda deutscher Jihadisten IBU feiert sich für In einem weiteren Video von Ende August treten erneut die Brüder Yasangebliche Erfolge sin und Mounir C. auf, wie auch eine weitere Deutsch sprechende, jedoch vermummte Person. Unter dem Titel "Labbaik" ("Dir zu Diensten") thematisiert das Video die angeblichen Erfolge der IBU im Kampf gegen die pakistanische Armee sowie eine Lobpreisung des Alltagslebens als Jihadist. Verschiedene Szenen scheinen eine Beteiligung der IBU an Kämpfen in der ersten Jahreshälfte nahe zu legen, ohne allerdings die von ihnen gemeldeten Erfolge belegen zu können. Präsentiert werden die Ereignisse in deutscher Sprache von einem "Abdul Aziz", der als Medienverantwortlicher des "Studio Jundullah" auftritt und mit "Live-Schaltungen im Korrespondentenstil" von einem Geschehen zum nächsten wechselt: Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 17 "Meine lieben, geehrten Geschwister in Deutschland. Der Jihad in Pakistan nimmt weiterhin seinen Lauf. [...] Und so zerfällt auch [...] die Regierung in Pakistan, während die Mujahidin einen Erfolg nach dem anderen feiern. Dies waren die Bilder aus Badr/Waziristan und nun schalten wir in das Stammesgebiet. [...]" 1.3.4 Deutschsprachige Jihad-Propaganda der "Deutschen Taliban Mujahidin" (DTM) und der Medienstelle "Elif Medya" Die "Deutschen Taliban Mujahidin" Erste eigenständi (DTM) sind die erste eigenstänge deutsche bzw. dige deutsche bzw. deutschspradeutschsprachige chige jihadistische Gruppe, der es jihadistische Gruppe gelungen ist, sich im afghanischpakistanischen Grenzgebiet zu formieren und von dort insbesondere propagandistisch aktiv zu sein. Aus dem autobiographisch gefärbten jihadistischen Traktat des Eric B. 18 wurde im Mai bekannt, dass die Mitglieder der DTM von der IJU ausgebildet worden waren und sich als eigenständige Gruppe mit Erlaubnis der afghanischen Taliban abgespalten haben sollen. Die DTM traten erstmals im September 2009 in einem deutschsprachigen Medienagentur Video in Erscheinung. Dieses hatte die Medienagentur "Elif Medya" pro"Elif Medya" duziert, die seit Februar 2009 zunächst für die "Islamische Jihad Union" (IJU) propagandistisch tätig war. Als Führungsfigur der "Elif Medya" gilt der Deutsch-Türke Ahmet M. mit dem Kampfnamen Selahaddin Turki, der als propagandistisches Bindeglied zur DTM fungierte und viele ihrer Videound Audiobotschaften produzierte. 19 18 Vgl. S. 22. 19 Eine von "Elif Medya" unabhängig von der DTM produzierte Videobotschaft vom März belegt darüber hinaus Verbindungen der "Elif Medya" zu anderen kämpfenden Gruppierungen. Das Video dankt für die mit ausländischen Spendengeldern gekauften Tiere zum islamischen Opferfest 2009 und zeigt neben unkenntlich gemachten deutschsprachigen Personen auch den deutschen Jihadisten Eric B. 18 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Jihad-Werbung für "deutsche Mujahedeen" Bekämpfung In einem Ende Januar von der Medienstelle "Elif Medya" veröffentlichten sämtlicher Besatzungs Beitrag mit dem programmatischen Titel "Der einzige Weg ist der Widermächte auf muslimi stand und die Verbundenheit mit dem Jihad" informiert der Anführer der schem Territorium DTM mit dem Kampfnamen Abu Ishaq al-Muhajir 20 über die Zusammensetzung und die Ziele der DTM. Sie sei demnach eine Bewegung, die unter dem Banner der "Islamischen Emirate Afghanistan" agiere und "ausschließlich aus deutschen Mujahedeen" bestehe. Ziel sei die Bekämpfung sämtlicher Besatzungsmächte auf muslimischem Territorium. Hierzu seien Anschläge auf der gesamten Welt gerecht gefertigt. Sieben überwiegend In sieben überwiegend deutschsprachigen Videobotschaften, davon fünf deutschsprachige im Berichtsjahr, wandten sich die DTM mehrfach sowohl an die westliche Videobotschaften Öffentlichkeit, so im Februar wegen des Verbots der Burka in Frankreich, wie auch an sämtliche Muslime der Welt. So forderten sie in ihrer mit "Im Namen Allahs" betitelten Botschaft vom 13. April Muslime zum bewaffneten Jihad auf und warben für eine personelle wie materielle Unterstützung ihrer Ziele. Das Video zeigt auch Eric B. bei Schießübungen und enthält Drohungen gegen die USA, Großbritannien und Deutschland. Es nennt die für jihadistische Propaganda typische Begründung, es gäbe einen "Krieg des Westens gegen den Islam": "Egal wie sehr sie es auch Krieg gegen den Terror nennen, ihre eigentliche Absicht ist der Krieg gegen den Islam. In Wahrheit sind sie [...] die Terroristen. Und die Aussagen die [...] Angela Merkel über den terroristischen Staat Israel macht, bezeugen nur, dass die Ungläubigen sich beim Terror gegen die Muslime stets unterstützen [...]." Bei Kämpfen mit pakistanischen Sicherheitskräften Ende April wurden neben Eric B. auch die Führungsfigur der "Elif Medya" Ahmet M. und der Berliner Jihadist Danny R. getötet. 20 Zu seiner Person erklärt er in der Botschaft, er sei in Deutschland geboren und habe dort bis zum "Universitätsalter" gelebt. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 19 Nachdem der Fortbestand der DTM zeitweise unklar schien und keine Botschaften der "Elif Medya" mehr bekannt wurden, erschien im Januar 2011 die Erklärung einer türkischsprachigen Jihadisten-Gruppe. Darin hieß es, man habe den neuen "Emir" (Führer) der "Elif Medya" und der DTM "Abdul Fettah Almani" getroffen und wolle nun über dessen Absicht informieren, die Aktivitäten beider Gruppen in Kürze wieder aufzunehmen. Bei "Abdul Fettah Almani" handelt es sich vermutlich um den Berliner Fatih T., der im Mai 2009 in das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet aufgebrochen sein soll. Jihad-Propaganda in Testamentsform Wenige Tage nach dem Tod von Eric B. ge"Mein Weg nach langte dessen autobiographisch gefärbtes Jannah (Paradies)" Traktat "Mein Weg nach Jannah (Paradies)" über islamistische Internetforen an die Öffentlichkeit. Eric B. war unter anderem von Daniel Martin S., einem verurteiltem Mitglied der "Sauerland-Gruppe", 21 für den Jihad angeworben worden und hatte sich seit Herbst 2008 im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet aufgehalten, wo er mit internationalem Haftbefehl gesucht wurde. In dem 108-seitigen Text schildert Eric B. seine Ausbildung in einem Lager der Islamischen Jihad Union (IJU). Eric B.s Aussagen über seine Konversion und seine spätere RadikalisieEinblicke im Radikali rung geben interessante Einblicke. Sie lassen erkennen, dass er in einer sierungsprozess bestimmten Lebensphase auf Fragen zum Gottesverständnis und zur Rolle der Religion im Leben keine adäquaten Antworten in seinem schulischen Umfeld erhielt. Antworten auf diese Fragen fand er vielmehr in einem muslimischen Umfeld, das allerdings teilweise bereits hochgradig radikalisiert war. Diese neuen Bezugspersonen gaben ihm emotionalen Halt und ließen ihn in wenigen Monaten zum Anhänger einer den Jihad bejahenden islamistischen Ideologie werden. 21 Vgl. Aktuelle Entwicklungen "Exekutivmaßnahmen", S. 24. 20 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Kinder als "beson Am Schluss seiner Schrift appelliert er an unverheiratete Musliminnen, sich dere Generation von dem Jihad anzuschließen und mit einem Jihadisten eine Familie zu grünTerroristen" den. Nach Eric B.s "jihadistischer Utopie" sollen deren Kinder als "besondere Generation von Terroristen" Anschläge in westlichen Ländern begehen: "Mit Allahs Erlaubnis wird dieser Nachwuchs zu einer ganz besonderen Generation von Terroristen, der in keiner Datenbank und keiner Liste [...] erfasst ist. Sie sprechen die Sprachen der Feinde, kennen ihre Sitten und Gebräuche und können sich auf Grund ihres europäischen Aussehens hervorragend tarnen und so die Länder der Kuffar [Ungläubigen] unauffällig infiltrieren um dort insh Allah [so Gott will] eine Operation nach der anderen [...] auszuführen und so Angst und Terror in ihren Herzen zu sähen." 22 1.4. Exekutivmaßnahmen Lange Haftstrafen für die "Sauerland-Gruppe" Mitgliedschaft in einer Am 4. März verurteilte das Oberterroristischen landesgericht Düsseldorf die vier Vereinigung im Mitglieder der sogenannten "SauAusland erland-Gruppe" unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland, Verabredung zum Mord und Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion zu langjährigen Haftstrafen. 23 Fritz G., der Anführer, und Daniel S. erhielten je zwölf Jahre Freiheitsstrafe, Adem Y. 11 Jahre. Attila S., der erst im November 2008 von der Türkei nach Deutschland ausgeliefert wurde und sich an der Beschaffung von Sprengzündern beteiligt hatte, erhielt fünf Jahre Haft. Anschlagsplanungen Die drei Mitglieder der Kerngruppe waren am 4. September 2007 im sauerauf USAmerikanische ländischen Medebach (Nordrhein-Westfalen) festgenommen worden, als sie Militäreinrichtungen in einer Ferienwohnung mit der Verarbeitung von 700 kg Wasserstoffperoxyd begannen. Ihr Ziel war der Bau von Sprengsätzen, mit denen sie im Auftrag der "Islamischen Jihad Union" (IJU) insbesondere US-amerikanische Militäreinrichtungen angreifen sollten. 24 22 Eric B.: "Mein Weg nach Jannah", Online Text, Mai 2010, S. 104. Fehler im Original. 23 Vgl. Pressemitteilung des OLG Düsseldorf vom 4.3.2010. AZ: III-VI 11/08 und III-VI 15/08. Die Verurteilung in der Hauptsache erfolgte nach SS 129 a, b StGB. 24 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 21 f. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 21 Die Geständnisse der Angeklagten machten deutlich, dass sie sich in Deutschland radikalisiert hatten und sich die organisatorische Anbindung an die IJU erst im Zuge der Ausreise und späteren militärischen Ausbildung durch die IJU in der pakistanischen Region Waziristan ergab. Eine organisierte Rekrutierungsund Schleusungsstruktur der IJU hatte in Deutschland nicht existiert. Es kam jedoch mehrfach zu Prozessen wegen Unterstützung der "Sauerland-Gruppe" bzw. der IJU. Urteile wegen Unterstützung der "Sauerland-Gruppe" und der IJU Bereits im Oktober 2009 waren zwei Jihadisten aus Südhessen vom Oberlandesgericht Frankfurt a. M. (OLG) wegen Unterstützung der "SauerlandGruppe" und der IJU zu Haftstrafen verurteilt worden. Es folgten weitere Verfahren in gleicher Sache vor dem OLG Frankfurt a. M. Zu einer Bewährungsstrafe wurde im 26. Januar der 24-jährige Kadir T. verurteilt, der dem Mitglied der "Sauerland-Gruppe" Adem Y. bei der Beschaffung einer Videokamera und eines Nachtsichtgerätes geholfen hatte, die dieser der IJU zuleitete. Die Bewährungsstrafe wurde verhängt, weil sich Kadir T. glaubhaft von seinen jihadistischen Einstellungen distanziert hatte. 25 Aus dem gleichen Grund wurde auch der Bruder jenes IJU-Mitglieds Adem Y., der 23-jährige Burhan Y., am 8. März vom OLG Frankfurt a.M. zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Er hatte auf Anweisung seines Bruders der IJU Geld zukommen lassen und in der Türkei technisches Gerät an die IJU übergeben. 26 Für radikalisierte Einzelpersonen scheinen die Mitglieder der "Sauerland"SauerlandGruppe" Gruppe" unverändert Vorbildcharakter zu haben. So wurde am 5. November hat offensichtlich ein aus Kamerun stammender 18 Jahre alter Jugendlicher in Neunkirchen unverändert Vorbild (Saarland) festgenommen, der in den Wochen zuvor insgesamt drei Drohcharakter videos auf die Internetplattform "Youtube" eingestellt hatte. In diesen Videos drohte er mit Anschlägen in Deutschland, wenn das Mitglied der "Sauerland-Gruppe" Daniel S. nicht unverzüglich aus der Haft entlassen würde. Der Jugendliche hatte sich binnen weniger Monate radikalisiert, ohne aber Kontakte zu islamistischen Gruppierungen oder Netzwerken zu unterhalten. 27 25 Pressemitteilung des OLG Frankfurt a. M. vom 26.1.2010. AZ: 5-2 StE 8/09-512/09. Die Verurteilung erfolgte nach SS 129 a StGB. 26 Pressemitteilung des OLG Frankfurt a. M. vom 8. März 2010. AZ: 5-2 StE 1/095-2/09). Die Verurteilung erfolgte nach SS 129 a StGB. 27 Pressemitteilung des LKA Saarland vom 5.11.2010. 22 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Verfahren wegen Mitgliedschaft und Unterstützung von "al-Qaida" Beteiligung an Am 19. Juli wurden der 32 Jahre alte türkische Staatsangehörige Ömer Ö. Kampfhandlungen wegen Mitgliedschaft und der gleichaltrige deutsche Staatsbürger Sermet I. wegen Unterstützung der "al-Qaida" vor dem Oberlandesgericht Koblenz zu Freiheitsstrafen von sechs bzw. zweieinhalb Jahren verurteilt. Obgleich das Urteil 28 noch nicht rechtskräftig ist, zeigten die Aussagen des geständigen Ömer Ö., dass er sich 2006 und 2008 im afghanischen-pakistanischen Grenzgebiet aufgehalten und bei seinem ersten Aufenthalt in Kämpfen selbst Waffen eingesetzt habe. Beide Jihadisten hatten "al-Qaida" seit 2005 unterstützt und in Deutschland beschaffte Ausrüstungsgegenstände zu Vertretern des Terror-Netzwerks im Ausland transportiert. Rekrutierung Zu den Aufgaben des Ömer Ö. zählte auch die Rekrutierung von Kämpfern in Deutschland. So hatte er um die Jahreswende 2006/2007 zur Rekrutierung des Bekkay H. beigetragen, der 2009 Protagonist der "al-Qaida"Drohbotschaften gegen Deutschland werden sollte. 29 Anklage gegen Berliner Jihadisten wegen Unterstützung der DTM und der IJU Ehefrau des Anführers Auf Betreiben der Bundesanwaltschaft wurden am 20. März die 31 und der "Sauerland 20 Jahre alten Deutsch-Türken Fatih K. und Alican T. aus Berlin sowie Gruppe" angeklagt die 28 Jahre alte Deutsch-Türkin Filiz G. aus Ulm (Baden Württemberg), Ehefrau des als Anführer der "Sauerland-Gruppe" 30 verurteilten Fritz G. festgenommen. Bis zur Eröffnung des Verfahrens am 5. November vor dem Kammergericht Berlin verblieben die Beschuldigten Alican T. und Filiz G. in Untersuchungshaft. Für Fatih K. wurde der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt, so dass es ihm trotz einer Ausreiseuntersagung gelang, sich in die Türkei abzusetzen, vermutlich, um in das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet zu reisen. In der Türkei wurde er im August festgenommen und im Dezember an Deutschland ausgeliefert; das Verfahren gegen ihn wurde abgetrennt. 28 Pressemitteilung des OLG Koblenz vom 19.7.2010. AZ: 2 StE 3/09-8. 29 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. Vgl. S. 6. 30 Vgl. Aktuelle Entwicklungen "Deutschsprachige Jihad-Propaganda der DTM und der Medienstelle "Elif Medya", S. 20. Aktuelle Entwicklungen - Islamistischer Terrorismus 23 Den Angeklagten Alican T. und Filiz G. wird vorgeworfen, die ausländischen Unterstützung einer terroristischen Vereinigungen DTM und IJU mit Geldzuwendungen unterausländischen terroris stützt 31 sowie in Deutschland Kämpfer für den Jihad angeworben und ins tischen Vereinigung afghanisch-pakistanische Grenzgebiet geschleust zu haben. Der IJU sollen sie mehrfach Geldbeträge zugeleitet und im Internet jihadistische Videos verbreitet haben, um Mitglieder oder Unterstützer für die IJU wie auch die DTM zu werben. 1.5. Prävention und Deradikalisierung als Herausforderungen Die radikalisierenden Tendenzen in Teilen des islamistischen Milieus und "Gemeinsames die zunehmende Beteiligung von Personen mit Deutschland-Bezügen an Terrorismus Abwehr jihadistisch-terroristischen Aktivitäten sind von den deutschen Sicherzentrum" (GTAZ) heitsbehörden als besondere Herausforderung erkannt worden. Bereits Ende in Berlin 2009 wurde im Gemeinsamen Terrorismus Abwehrzentrum (GTAZ) in Berlin eine Arbeitsgemeinschaft zur "Prävention und Deradikalisierung" eingerichtet, die 2010 mit der Arbeit begonnen hat. In mehreren Arbeitsgruppen beschäftigen sich zahlreiche Experten aller dort vertretenen Behörden mit der Entwicklung von Methoden, Strategien und Maßnahmen zur Prävention und Früherkennung einer islamistischen Radikalisierung wie auch zur Deradikalisierung bei einer bereits verfestigten gewaltbefürwortenden Gesinnung. Um über die Einflussfaktoren eiSymposium "Islamis ner Radikalisierung von Muslimen mus: Prävention und und über jihadistische RekrutieDeradikalisierung" rung zu informieren und zu diskutieren, hatte der Berliner Verfassungsschutz unter dem Titel "Islamismus: Prävention und Deradikalisierung" am 22. November in das "Haus der Kulturen der Welt" eingeladen. Unter Mitwirkung von Experten aus Deutschland, Großbritannien und Holland gelang es, mehr als 150 Multiplikatoren DVD-Dokumentation der Veranstaltung "Islamisaus den Bereichen Wissenschaft mus: Prävention und Deradikalisierung" und Politik, Sicherheitsbehörden, 31 Die Strafbarkeit der Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung folgt hier aus SS 129 a, b StGB. 24 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Justizvollzugsanstalten und freie Organisationen über relevante Phänomene ihrer Arbeit und erfolgreiche Projekte miteinander ins Gespräch zu bringen und Netzwerke zur Deradikalisierung aufzubauen. Betont wurde die Notwendigkeit, bei einer erkannten Radikalisierung früh zu intervenieren. Hieran sollen verschiedene religiöse und zivilgesellschaftliche Akteure mitwirken. Die DVD-Dokumentation der Veranstaltung ist unter www.verfassungsschutz-berlin.de zu bestellen. Aktuelle Entwicklungen - Regional gewaltausübende Islamisten 25 2. Regional gewaltausübende Islamisten: 8. Jahreskonferenz der Palästinenser in Europa (HAMAS) Die wichtigste Aktivität von HAMAS-Anhängern in Berlin 2010 war die Verbindung der Durchführung er "8. Jahreskonferenz der Palästinenser in Europa" am Organisation zur 8. Mai. Diese Konferenz findet seit 2002 jährlich in verschiedenen europäiHAMAS schen Großstädten statt. Organisiert wird sie durch das "Palestinian Return Center" (PRC) sowie durch das sogenannte "Generalsekretariat der Konferenz der Palästinenser" mit Sitz in Wien. Bei dem PRC handelt es sich um eine in London ansässige Organisation, die Verbindungen zur islamistischen HAMAS unterhält. Das PRC setzt sich seit Jahren hauptsächlich für das uneingeschränkte Rückkehrrecht aller Palästinenser nach "Palästina" ein, worunter die Organisation das historische Palästina einschließlich des israelischen Staatsgebietes versteht. Das PRC und das Generalsekretariat werden bei den Konferenzvorbereitungen stets von einer palästinensischen Organisation aus dem jeweiligen Land unterstützt. In diesem Jahr fiel diese Rolle der "Palästinensischen Gemeinschaft in Deutschland" (PGD) zu. Auf der Konferenz in Berlin traten HAMAS-nahe Redner auf. Darüber hinaus wurde deutlich, wie Aktivisten der HAMAS in Berlin vorgehen. Nähe zur HAMAS und zur "Muslimbruderschaft" (MB) Die Nähe der Veranstaltung zur HAMAS zeigen sowohl die Rednerliste als Publikum zeigte auch die Reaktionen der etwa 6000 Teilnehmer. So war als Redner per ViSympathie für HAMAS deokonferenz das HAMAS-Mitglied Aziz Duwaik zugeschaltet, der palästinensischer Parlamentspräsident im Gaza-Streifen ist. Duwaik war von Israel wegen seiner Verbindung zu einer terroristischen Organisation jahrelang inhaftiert. Ein weiterer Redner war Raid Salah, der Führer der "Islamischen Bewegung Nordisraels", einer Gruppierung, die der HAMAS vor allem ideologisch nahe steht. Eine Stelle in seiner frenetisch gefeierten Rede zeigte die Sympathien des Publikums für die HAMAS besonders deutlich: Als Ismail Haniye, der international nicht anerkannte Ministerpräsident der HAMASRegierung im Gazastreifen, in der Rede adressiert wurde, brandete Jubel auf. Dagegen folgte, als der Palästinensische Präsident Mahmud ABBAS (als Vorsitzender der "FATAH" der größte innerpalästinensische Gegner der HAMAS) erwähnt wurde, ein gellendes Pfeifkonzert. Der Redebeitrag Shakib Makhloufs, Vorsitzender der "Federation of Islamic Organisations in Europe" (FIOE), dem Dachverband der MB in Europa, verdeutlicht darüber hinaus die ideologische Nähe der Veranstalter zur islamistischen Muslimbruderschaft. 26 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Politische Ziele der HAMAS und anderer Gegner des Osloabkommens 32 waren erkennbar Rückkehrrecht aller Die Veranstaltung hatte das Motto "Unsere Heimkehr ist gewiss ... Freiheit Palästinenser gefordert für unsere Gefangenen!". Wie in jedem Jahr war das Rückkehrrecht aller Palästinenser, unabhängig davon, ob diese im historischen Palästina geboren sind, die wichtigste Forderung der Veranstaltung. Die kompromisslose Haltung zum Rückkehrrecht der Palästinenser ist kennzeichnend für die Gegner der Oslo-Verträge, die eine aus einem palästinensischen Staat und Israel bestehende Zweistaatenlösung kategorisch ablehnen. Sie ist auch eine der wichtigsten Forderungen der HAMAS, die das Existenzrecht Israels nach wie vor negiert. "Jahr der Palästinen Die HAMAS hatte 2010 zum "Jahr der Palästinensischen Gefangenen" sischen Gefangenen" erklärt. Der zweite Teil des Veranstaltungsmottos "Freiheit für unsere Gefangenen", findet hier ebenfalls eine Entsprechung. Allerdings wird die Gefangenenproblematik auch in der nicht-islamistischen arabischen Öffentlichkeit häufig diskutiert. Sie führt seit langem zu harscher Kritik an der Politik Israels. Typische Die Konferenz verdeutlicht in augenfälliger Weise die Vorgehensweise von Vorgehensweise von HAMAS-Aktivisten in Europa. Dies e halten sich mit martialischen Aussagen HAMASAktivisten weitestgehend zurück, rufen nicht zur Gewalt oder zum bewaffneten Kampf in Europa auf und betonen stattdessen die Rechte der Palästinenser auf Selbstbestimmung sowie auf Rückkehr und betreiben vor allem politische Lobbyarbeit. Zur Stützung der eigenen Ansprüche beruft man sich auf UN-Resolutionen, wie die Resolution 194, die das Recht der Flüchtlinge auf Rückkehr und Entschädigung bekräftigt. Hierbei geht es den HAMAS-Aktivisten vor allem darum, die europäische Öffentlichkeit für ihre Ziele zu gewinnen. Dies wird auch durch die Teilnahme europäischer Parlamentarier und die Einbindung von Medienvertretern an den jährlichen Veranstaltungen zu erreichen versucht. 32 Das 1993 geschlossene Osloabkommen führte zum sogenannten Oslo-Friedensprozess, dessen Ziel die Bildung eines souveränen palästinensischen Staates sein sollte (sog. Zweistaatenlösung). Die Gegner des Abkommens wenden sich vor allem gegen die Anerkennung sämtlicher Gebietsansprüche Israels. Hauptziel der meisten "Oslogegner" ist die Nichtexistenz des israelischen Staates. Aktuelle Entwicklungen - Salafismus 27 3. Zunahme salafistischer Da'waAktivitäten in Berlin In Berlin haben im Berichtsjahr so genannte salafistische "Da'waIdeologie des politi Aktivitäten" 33 deutlich zugenommen. Diese reichen von umfangreichen schen Salafismus Publikationen eines Online-Verlags, mehrtägigen so genannten "IslamSeminaren", der Verherrlichung des militanten Jihad durch den ehemaligen Rapper Deso Dogg, über einschlägige Aktivitäten zweier salafistischer Prediger, Infostände in der Innenstadt bis hin zur Gründung einer salafistisch ausgerichteten Moschee. Nach Darstellung von Salafisten geht es bei den Islamseminaren und den Publikationen um die Vermittlung von Grundkenntnissen über den Islam. Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass hierbei vor allem Grundzüge der Ideologie des politischen Salafismus 34 vermittelt werden. Die Indoktrination mit salafistischem Gedankengut bewirkt in vielen Fällen eine Radikalisierung der Adressaten. Publikationen eines Online-Verlags Der As-Sunna-Verlag 35 stellt ein bezeichnendes Beispiel für die zunehmenAsSunnaVerlag den Aktivitäten der Salafisten im Internet dar. Bei der Mehrzahl seiner Online-Veröffentlichungen handelt es sich um Werke salafistisch orientierter Autoren. Hierzu gehören neben Übersetzungen salafistischer Literatur aus dem Arabischen auch zahlreiche Bücher, Audiound Video-Medien von in Deutschland aktiven Predigern. 33 Hierzu gehört vor allem intensive Propagandatätigkeit zur Verbreitung der salafistischen Ideologie in Deutschland. Die Aktivitäten richten sich an Muslime, die in ihren Augen vom wahren Islam abgewichen sind, sowie an Nichtmuslime, die als Konvertiten für die salafistische Islam-Interpretation gewonnen werden sollen. 34 Salafismus bezeichnet eine unbedingte Orientierung an der muslimischen Urgesellschaft vor 1400 Jahren, wie sie im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel existierte. Salafisten glauben, in den religiösen Quellen des Islam ein detailgetreues Abbild der idealisierten islamischen Frühzeit gefunden zu haben und versuchen, die Gebote Gottes wortgetreu in die Tat umzusetzen. Dies mündet häufig in die wörtliche Auslegung des Koran, der Heiligen Schrift des Islam sowie der Sunna (wörtl. Brauch), der Tradition des Propheten und Religionsstifters Muhammad. Die Schriftgläubigkeit von Salafisten kann dazu führen, dass frühislamische Herrschaftsund Rechtsformen befürwortet werden. Diese sind mit den Werten der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar. 35 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 34. 28 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Das Buch "Fatawa des ehrenwerten Gelehrten Muhammad Ibn Salih Al-Utaimin" 36 gehört zu den aus dem Arabischen übersetzten Publikationen, für die der Verlag auf seiner Internetseite wirbt. Es handelt sich um eine Zusammenstellung von Rechtsgutachten (fatawa) der salafistischen religiösen Autorität Al-Uthaimin. 37 Christen und Juden In diesem Buch lehnt Al-Uthaimin das Judenund Christentum als vom als "Ungläubige" Islam anerkannte Buchreligionen ab und diffamiert Christen und Juden als "Ungläubige". Muslime, die das Judenund Christentum als dem Islam gleichgestellte Religionen anerkennen, werden von ihm als "Ungläubige" und Apostaten bezeichnet: "Und deshalb darf niemand glauben, dass die Religion der Juden und Christen, der sie heutzutage anhängen, richtig ist und von Allah angenommen wird und, dass sie dem Islam gleichgestellt ist. Vielmehr ist derjenige, der dies glaubt, ungläubig und aus dem Islam ausgetreten, ... ." 38 "Deshalb begeht der, der die Juden und Christen als Geschwister bezeichnet, einen großen Fehler, oder, indem er sagt, ihre heutigen Religionen seien noch richtig, wie bereits erwähnt." 39 "Der Ungläubige muss den Islam annehmen, selbst wenn er Christ oder Jude ist, ..." 40 Die massive Ablehnung und Diffamierung von Christen und Juden als "Ungläubige" ist Teil der salafistischen Ideologie. Sie zieht in der Regel die Aufforderung salafistischer Prediger an ihre Zuhörerschaft nach sich, keinerlei Kontakt zum nichtsalafistischen Umfeld zu unterhalten. Dies beinhaltet nicht allein die strikte Abgrenzung gegenüber Christen und Juden sondern auch gegenüber nicht-salafistisch gesinnten Muslimen. Veranstaltung mehrtägiger "Islam-Seminare" Mindestens drei 2010 wurden in Berlin mindestens drei mehrtägige so genannte "Islammehrtägige Seminare" veranstaltet. Zwei Seminare fanden im Februar und Mai in der "IslamSeminare" Neuköllner Al-Nur-Moschee statt, eines wurde im November in der neuen Gebetsstätte "As-Sahaba/Die Gefährten e.V." im Wedding durchgeführt. 36 Fatawa des ehrenwerten Gelehrten Muhammad Ibn Salih Al-Utaimin, Band 1, Aqidah der sunnitischen Glaubensgemeinschaft (Schreibweise wie Original). 37 Al-Uthaimin (1926 bis 2001) gilt als einer der bedeutendsten salafistischen religiösen Autoritäten Saudi-Arabiens und predigte an der Großen Moschee in Mekka. 38 Ebenda, S. 51. 39 Ebenda, S. 52. 40 Ebenda, S. 66. Aktuelle Entwicklungen - Salafismus 29 Das überwiegend junge Publikum reiste aus dem gesamten Bundesgebiet Überwiegend junges an. "Attraktion" der Veranstaltungen waren die Vorträge von vor Ort akPublikum tiven Predigern sowie von Gastrednern. Mit ihren Namen wurde für die "Islam-Seminare" auf einschlägigen Seiten im Internet oder auf Youtube geworben. In der Regel achten die Prediger in ihren Vorträgen darauf, dass ihre ÄußeÄußerungen bieten rungen keinen Anlass für staatliche Sanktionen bieten. Problematisch sind meist keinen Anlass diese Seminare dennoch, weil sie einen geeigneten Rahmen für Gruppenfür staatliche Sank tionen bildung und die Beeinflussung mit extremistischem Gedankengut durch die oft charismatischen Vortragenden bieten. Die "Islam-Seminare" werden häufig zu Ostern, Pfingsten oder Weihnachten veranstaltet, um arbeitsund schulfreie Tage zu nutzen. Gleichzeitig fungieren sie als ein gezieltes Gegenprogramm, da sich Muslime unbedingt von den von Salafisten als "ungläubig" (arab. kufr) stigmatisierten Festtagen der Christen fernzuhalten hätten. Ehemaliger Rapper beteiligt sich an salafistischer Da'wa mit Jihad-Lied Für das im Mai veranstaltete Aufforderung zur Ein "Islam-Seminar" in der Al-Nurführung von Scharia Moschee warb der ehemalige Strafen in Deutschland Rapper Deso Dogg zusammen mit dem aus Marokko stammenden Prediger Abdul Adhim. Das Vdeo mit den beiden Berlinern war auf Youtube eingestellt. 41 In einem weiteren dort abrufbaren Gespräch zwischen dem Rapper und dem - durch seine Aufforderung zur Einführung von Scharia-Strafen in Deutschland umstrittenen - Bonner Salafisten Pierre Vogel wurde deutlich, dass die Attraktivität des bei Jugendlichen beliebten Rappers gerade für diese Zielgruppe erhöht werden soll und man sich bei der Anwerbung von Jugendlichen mehr Erfolg erhofft. 42 41 "Deso Dogg & Abdul adhim rufen dich nach Berlin!!", eingestellt auf Youtube am 5.5.2010. 42 "Pierre Vogel Interview mit Deso Dogg, Rapper aus Berlin", eingestellt auf Youtube am 21.4.2010. 30 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Jihad und Märtyrertum Auf einem am Jahresende durchgeführten "Islam-Seminar" in Mayen, verherrlichendes Lied Rheinland-Pfalz, trug Deso Dogg ein den militanten Jihad und das Märtyrertum verherrlichendes Lied vor: "Wacht doch auf, wacht doch auf, Krieg überall auf der Welt, Muslime fallen für Öl und Geld, Allahu akbar, Allahu akbar, Bombenfall, Bombenfall, auf Irak und Filistin [Palästina], sie zerstören unseren Din [Religion], Allahu akbar, Allahu akbar [Gott ist groß], Mütter schrei'n, Kinder wei'n, fi sabillillah Jihad [wörtl. "Jihad auf auf dem Wege Gottes", der militante Jihad], warum blieben unsere Herzen hart, Allahu akbar, Allahu akbar, Macht Du'a [freies Gebet], macht Du'a, für die Brüder in Tschetschen', wie könnt ihr ruhig schlafen geh'n, Allahu akbar, Allahu akbar, Keine Angst, keine Angst, kehrt zurück, subhanallah [gepriesen sei Gott], keine Angst vor den Kuffar [Ungläubigen], Allahu akbar, Allahu akbar, Mujahid [Glaubenskämpfer], Mujahid, Sharia [islamisches Recht] Somalia, la ilaha illallah [es gibt keinen Gott außer Gott], Allahu akbar, Allahu akbar, Wandert aus, wandert aus, Usbekistan, Afghanistan, wir kämpfen in Khorasan, Allahu akbar, Allahu akbar, Inshallah [so Gott will], inshallah, wir kämpfen, fallen Shuhada [Märtyrer], den Feind im Auge bismillah [im Namen Gottes], Allahu akbar, Allahu akbar." 43 Märtyrertum Die in dem Vortrag genannten bewaffneten Konflikte werden als Kampf wird heroisiert der westlichen Staaten gegen die islamische Religion interpretiert. Deren Ziel sei es, den Islam zu vernichten. Dem Zuhörer wird suggeriert, er habe bislang die Augen vor dieser Entwicklung verschlossen. Nachdem zum Gebet für die in Tschetschenien Kämpfenden aufgerufen wird, erfolgt der Appell, die eigene Angst zu überwinden, um persönlich am militanten Jihad in Usbekistan oder Afghanistan teilzunehmen. Den Märtyrertod heroisierend beendet der ehemalige Rapper das Lied mit den Worten, dass man hoffentlich nicht nur kämpfen, sondern auch als Märtyrer fallen werde. Das Lied enthält eine Aufforderung an die Zuhörer, sich an Kampfhandlungen zu beteiligen. 43 "Seminar in Mayen 2011", eingestellt auf Youtube am 2.1.2011. Aktuelle Entwicklungen - Salafismus 31 Salafistische Prediger In Berlin sind mittlerweile zwei salafistische Prediger aktiv, die bundesweit Bundesweite durch Vortragsreisen bekannt geworden sind. Beide Personen waren an der Vortragsreisen Organisation von zwei "Islam-Seminaren" beteiligt. Der salafistische Prediger Abdul Adhim ist Ehrenmitglied eines Vereins, der Kampagne "Islam... seit dem Jahreswechsel 2009/2010 unter dem Motto "Islam... was steckt was steckt dahinter?" dahinter?" an Infoständen in Steglitz und Neukölln Bücher und Broschüren verteilt. Hier wird offensiv geworben, und es wird durch Gespräche mit Passanten sowie die Verteilung kostenloser Broschüren versucht, vor allem Nichtmuslime für das salafistische Islamverständnis zu gewinnen. Gründung einer Moschee Im Wedding wurde im Juni die salafistische Moschee "As-Sahaba/ Moschee "AsSahaba/ Die Gefährten e.V." eröffnet. Für die Veranstaltungen der Moschee wird im Die Gefährten e.V." eröffnet Internet geworben. Neben dem Freitagsgebet wird Islam-, Koranund Arabischunterricht angeboten. Auf einem im November veranstalteten mehrtägigen "Islam-Seminar" trat als Gastredner ein salafistischer Prediger aus Wiesbaden auf. Seit der Eröffnung hat es zwei Angriffe auf die Moschee gegeben. Am Angriffe auf Moschee 25. August wurden mehrere Glasscheiben beschädigt und mehrmals das Wort "Krieg" an die Hauswände geschrieben. Am 6. September wurden vor dem Eingang die Reste eines Wildschweins abgelegt. Die Hintergründe zu den beiden Taten konnten bislang nicht aufgeklärt werden, die Ermittlungen der Polizei dauern an. 32 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 4. Legalistischer Islamismus 4.1 Personenpotential Die legalistischen islamistischen Gruppierungen "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V." (IGMG) und "Muslimbruderschaft" (MB) lehnen Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele ab. Auch sie werden in Berlin nur von einer kleinen Minderheit unterstützt. Innerhalb der ca. 3 000 Angehörigen legalistischer islamistischer Gruppierungen in Berlin stellen die türkischen Islamisten, die überwiegend in der IGMG organisiert sind, mit ca. 2 900 Personen weiterhin die große Mehrheit. Der arabischen nicht-gewaltorientierten islamistischen MB werden ca. 100 Personen zugerechnet. Personenpotential Islamisten* Berlin Bund 2009 2010 2009 2010 Legalistische Islamisten, davon 3 000 3 000 30 300 31 300 IGMG 2 900 2 900 29 000 30 000 Muslimbruderschaft 100 100 1 300 1 300 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotentiale ab. 4.2 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V." (IGMG) IGMG keine durch Die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V." (IGMG) ist keine durchgehend gehend homogene homogene Organisation. Während sich die Organisation früher eng an ihrer Organisation Mutterorganisation in der Türkei, der dortigen "Milli Görüs"-Bewegung orientierte, scheinen seit einigen Jahren einige Führungsfunktionäre bemüht zu sein, eine größere Eigenständigkeit zu erlangen und sich allmählich vom strikt islamistischen Kurs des "Milli Görüs"-Anführers Necmettin Erbakan zu lösen. Dieser starb am 27. Februar 2011. Welche Auswirkungen sein Tod auf die IGMG in Deutschland haben wird, ist unklar. Dennoch besteht die sehr enge Bindung zwischen der IGMG und der "Milli Görüs"-Bewegung in der Türkei fort. Eine Distanzierung von Erbakan und seiner Ideologie war 2010 nicht erkennbar. Auch die aktuelle Entwicklung in der "Milli Görüs"Bewegung in der Türkei, die Abspaltung der "Halkin Sesi" ("Die Stimme des Volkes") von der "Saadet Partisi" (SP), 44 hatte bislang keine erkennbaren Auswirkungen auf die IGMG. 44 "Saadet Partisi" (Glückseligkeitspartei - SP), Partei der "Milli Görüs"-Bewegung. Vgl. Hintergrundinformation zur IGMG, S. 197. Aktuelle Entwicklungen - Legalistischer Islamismus 33 Erbakan in Deutschland und Berlin Diese enge Bindung wurde vor allem am Besuch Erbakans in Deutschland Enge Bindung an deutlich. Necmettin Erbakan kam am 15. April nach Berlin. Am Flughafen Necmettin Erbakan Tegel wurde er von Führungspersonen der IGMG-Zentrale wie Yavuz Celik Karahan und dem Vorsitzenden des IGMG Landesverbandes Berlin, 45 Siyami Öztürk, sowie zahlreichen anderen Personen empfangen. In Erbakans Begleitung befanden sich auch ehemalige Minister der "Saadet Partisi" (SP). 46 Wenige Tage vor dem geplanten Erbakan-Besuch wurde dieses Ereignis in der "Milli Gazete", dem inoffiziellen Sprachrohr der "Milli Görüs", angekündigt und auch publizistisch begleitet. Diese Meldungen wurden in einigen türkischsprachigen Internetseiten aufgegriffen, um in Berlin ein breiteres Publikum zu erreichen. Eine Berichterstattung auf den Internetseiten der IGMG fand nicht statt, obwohl die IGMG mehrere Veranstaltungen durchführte. Erbakan nahm an einer Veranstaltung in Berlin-Kreuzberg anlässlich des 40. Jahrestag der 40. Jahrestages der"Milli Görüs" teil. Gastgeber waren Karahan, der IGMG"Milli Görüs Generalsekretär Oguz Ücüncü, Exekutivmitglieder der IGMG-Zentrale und Öztürk. 47 Zu Beginn der Veranstaltung richtete Siyami Öztürk Dankesworte an Necmettin Erbakan. Erbakan sowie Karahan, Ücüncü, und Funktionäre der SP hielten Reden. Erbakan wurde von ca. 1 500 Teilnehmern mit den Rufen "Mücahit Erbakan" (Glaubenskämpfer Erbakan) begrüßt. Auch Funktionäre der "Islamischen Föderation in Berlin e. V." nahmen an der Veranstaltung teil. Die "gerechte Ordnung" als ideales Gesellschaftsmodell Während seiner Rede in Berlin zeigte sich, dass Erbakan nach wie vor sein Gesellschaftsmodell Gesellschaftsmodell der "gerechten Ordnung" ("adil düzen") 48 propagiert, der "gerechten das seiner Meinung nach nur mit Hilfe der "Milli Görüs" verwirklicht werden Ordnung" kann. Ihm gegenüber steht der "Imperialismus", den es zu überwinden gilt. Sein islamistisches Gesellschaftsmodell betonte Erbakan bei jeder Gelegenheit. 45 Die vollständige Bezeichnung lautet "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, Landesverband Berlin e.V.", abgekürzt "IGMG Landesverband Berlin". 46 "Milli Gazete" vom 17./18.4.2010, S. 1 und 10. 47 Ebenda. 48 Vgl. Hintergrundinformation zur IGMG, S. 197 (adil düzen). 34 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 So sagte er in seiner Rede, dass "Milli Görüs" nicht für eine Ansicht und Idee stehe, sondern für eine Bewegung, die gegen den Imperialismus kämpfe. Sie sei "der Glaube, die Geschichte, die Identität unseres Volkes - und ihrer selbst". "Die "Milli Görüs"-Bewegung ist eine Bewegung, die für den Beginn einer neuen gerechten Welt steht. [...] Die "Milli Görüs"-Bewegung ist der Beginn der Errichtung einer neuen Welt und setzt sich nicht nur für die Glückseligkeit der Menschen in der Türkei, sondern auf der ganzen Welt ein." 49 Kapitalismus und Kommunismus seien "Zwillingsgeschwister" und Systeme der Unterdrückung. Seit den 1990er Jahren habe sich die Welt zweigeteilt: in die "Milli Görüs" und in die imperialistischen Kollaborateure. Antisemitisches Erbakan verwendete das antisemitische Klischee der jüdischen WeltherrKlischee der jüdischen schaft. So behauptete er, dass Juden die Welt seit 5 700 Jahren regieren Weltherrschaft würden und dass ihnen das Ziel der Weltherrschaft durch den jüdischen Glauben vorgegeben werde: "Seit 5 700 Jahren regieren Juden die Welt. Es ist eine Herrschaft des Unrechts, der Grausamkeit und der Gewalt. Sie haben einen starken Glauben, eine Religion, die ihnen sagt, dass sie die Welt beherrschen sollen." 50 Mit dieser Äußerung in einem Interview mit der Berliner Morgenpost wandte sich Erbakan nicht nur an seine potenziellen Wähler, sondern auch an die deutsche, insbesondere türkischstämmige Bevölkerung. Freitagsgebet von Erbakan in der Mevlana Moschee Großveranstaltung Im Rahmen seines Berlinbesuchs verrichtete Erbakan in der "Mevlana Moin Duisburg schee e. V." das Freitagsgebet. Dies unterstreicht die besondere Bedeutung dieser Moschee innerhalb der "Milli Görüs"-Bewegung, die im Dachverband "Islamische Föderation in Berlin e. V." neben anderen Vereinen organisiert ist. Nach seinem Berlinaufenthalt reiste Erbakan nach Köln und Duisburg, wo ebenfalls eine Großveranstaltung mit über 2 500 Teilnehmern durchgeführt wurde. Nach wie vor besteht eine Diskrepanz zwischen der nach außen propagierten Abkehr der IGMG von der Ideologie Erbakans und ihrem Verhalten während seines Deutschlandaufenthalts. Gleiches gilt für die Behauptung einiger Vereine, dass sie nicht zur IGMG gehören würden. 49 "Milli Gazete" vom 17./18.4.2010, S. 1 und 10. 50 Interview der Berliner Morgenpost mit Erbakan, online erschienen am 8.11.2010. Aktuelle Entwicklungen - Legalistischer Islamismus 35 Machtdemonstration von Erbakan in der Türkei Anfang Oktober verkündete der bisherige Vorsitzende der "Saadet Partisi" Rücktritt des Parteivor Numan Kurtulmus seinen Rücktritt als Parteivorsitzender und seinen Aussitzenden der tritt aus der Partei. Mit ihm traten weitere Personen aus der Partei aus. 51 "Saadet Partisi" Kurze Zeit danach gründete er seine eigene Partei namens "Halkin Sesi" ("Die Stimme des Volkes"). Die "Rücktrittswelle" von Anfang Oktober ist Folge einer Krise, die die SP seit dem 4. Außerordentlichen Parteitag am 11. Juli in Ankara in zwei Lager spaltete. Kurtulmus widersetzte sich den Vorschlägen Erbakans zu den Kandidatenlisten für die Parteigremien. Stattdessen legte er dem Parteitag für die Wahlen zu den Parteigremien eine Parteiinterner Streit Kandidatenliste vor, die einen Generationswechsel für die SP bedeutet hätum Kandidatenliste te. Erbakan hingegen präsentierte eine Liste, auf der seine Vertrauensleute und Familienmitglieder, aber auch Kurtulmus als Parteivorsitzender nominiert waren. Da Kurtulmus dieser Liste nicht zustimmte, wurde sie ungültig, und es kam zu einem offenen Bruch zwischen Kurtulmus und Erbakan. Die Folge davon war der Austritt Kurtulmus' aus der Partei. Am 17. Oktober wurde Erbakan während eines neu einberufenen Parteitages Erbakan zum Partei in Ankara beim ersten Wahlgang zum Parteivorsitzenden gewählt. Er erhielt vorsitzenden gewählt 684 von 687 Stimmen. Außerdem sind seine Familienmitglieder sowie langjährige Weggefährten im Vorstand. 52 Auf dem Parteitag stimmten die Delegierten auch für Änderungen im ParÄnderungen im Partei teiprogramm und in der Satzung der "Saadet Partisi". In dem neuen Parteiprogrammm programm werden die "Grundprinzipien" der "Milli Görüs", "die Gründung einer erneuten Großtürkei und einer neuen Welt", die "Schaffung einer gerechten Ordnung" betont, während die Mitgliedschaft in der EU abgelehnt wird. Ferner wird von den USA gefordert, mit der Besetzung von muslimischen Ländern aufzuhören und sich vom "Projekt Großer Naher Osten" zu verabschieden, das als "blutige Besatzungspolitik" bezeichnet wird und den "Weltfrieden in einem sehr starken Maße" bedrohe. 51 "Milli Gazete" vom 2./3.10.2010, S. 1 und 10. 52 "Hürriyet" vom 18.10.2010, S. 1 und 8. 36 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 "Die Türkei wird ein führendes Land werden. [...] Wir werden auf der (gesamten) Welt eine gerechte Ordnung erschaffen. [...] Eine glückliche Welt kann nur mit Milli Görüs errichtet werden. Wer nicht Milli Görüs-Anhänger ist, kann keine glückliche Welt errichten." [...] "Genauso wie der Kommunismus verschwunden ist, ist auch der Kapitalismus gezwungen, zu verschwinden. Aus diesem Grunde ist die "gerechte Ordnung" keine Alternative, sondern eine Verpflichtung. Anders ist die Errettung der Menschheit nicht möglich." 53 Die extremistische Vorstellung eines Gesellschaftsmodells der "gerechten Ordnung" ("adil düzen"), 54 wie sie von Erbakan auch in Berlin vertreten wurde, ist demnach für die Mitglieder der SP weiterhin gültig. Solidarisierung der "Milli Görüs"-Bewegung in der Türkei mit der HAMAS Kongress des Das "Zentrum für Wirtschaftsund Sozialstudien" (ESAM) 55 führte in Istan"Zentrums für Wirt bul einen Kongress durch, auf dem neben Erbakan auch der HAMAS-Vertreschafts und Sozial ter Mohammed Nazzal auftrat. Nazzal wird als "persönlicher Vertreter des studien" (ESAM) HAMAS-Führers Khalid Maschal" bezeichnet. 56 In seiner Rede, die mit den Worten "Ich überbringe Grüße von der HAMAS, von Palästina" eingeleitet wurde, ging Nazzal auf die Gaza-Flotille ein. 57 Neben Nazzal nahm auch der Vorsitzende der IGMG-Zentrale an dem Kongress teil. Mit derartigen Veranstaltungen zeigt die "Milli-Görüs"-Bewegung ihre Sympathie für eine terroristische Organisation. Sie bietet darüber hinaus Vertretern der HAMAS in der Türkei eine Plattform. "Milli Gazete" Inoffizielles Die türkischsprachige Tageszeitung "Milli Gazete" nimmt weiter eine wichSprachrohr der tige Funktion innerhalb der "Milli Görüs"-Bewegung ein. Ihr wird von der "Milli Görüs"Bewegung Organisation mehr Wert beigemessen als lediglich dem eines "inoffiziellen Sprachrohrs", wie auch an Äußerungen Erbakans deutlich wird. 53 Vgl. Internetauftritt der "Saadet Partisi", Aufruf am 16.11.2010. 54 Vgl. Hintergrundinformation zur IGMG, S. 197 ("adil düzen"). 55 Das Zentrum ist ein "Milli Görüs"-Institut in der Türkei, das 1969 gegründet wurde; Vorsitzender ist Recai Kutan, der zudem ehemaliger Vorsitzender der SP-Vorgängerorganisationen war. 56 "Milli Gazete" vom 29./30.5.2010, S. 1 und 11. 57 Vgl. Kurz notiert: "Reaktionen auf Ereignis der Gaza-Flotille", S. 44. Aktuelle Entwicklungen - Legalistischer Islamismus 37 Von den IGMG-Landesverbänden in Deutschland wird die "Milli Gazete" als Landesverband Berlin Plattform für ihre Verbandsinformationen genutzt. Regelmäßig wird für lädt Kolumnisten als IGMG-Veranstaltungen geworben und in der Regel im Nachgang über diese Referenten ein berichtet. In diesem Jahr ging der IGMG Landesverband Berlin zudem dazu über, Kolumnisten der "Milli Gazete" als Referenten einzuladen, um die Angebote für ihre Mitglieder zu erweitern. Die Bedeutung der Zeitung verdeutlichte Erbakan in einem Gespräch mit Strategische Rolle der Journalisten der "Milli Gazete" sowie Moderatoren des türkischen Fernseh"Milli Gazete" senders TV5, 58 indem er sie in seine Ziele einband, als er über verschiedene Themen der türkischen Innenpolitik sprach. Er propagierte eine neue GroßTürkei und eine neue Welt, deren Schaffung nur durch die "Milli Görüs" möglich werde. Dabei fiele der "Milli Gazete" folgende wichtige Aufgabe zu: "Dass die "Partei der Glückseligkeit" aus den nächsten Wahlen als Regierungspartei hervorgeht, ist die größte Aufgabe. Und diese Aufgabe fällt der Milli Gazete zu." 59 Neben aktuellen Themen, die in der Zeitung behandelt werden, wird auch Islamistische Themen zu scheinbar religiösen Themen, tatsächlich aber islamistischen Themen, Stellung bezogen. So fordert etwa der Kolumnist Mehmed Sevket Eygi, kein politisches System, das nicht auf dem Koran basiert, zu akzeptieren, sondern sich an der Gesamtheit aller religiösen Gesetze in Form der Scharia zu orientieren. In einer Kolumne zählt Eygi 32 Punkte auf, die ein Muslim befolgen sollte, wenn er dem Höllenfeuer nicht ausgeliefert sein möchte. Dort heißt es unter anderem: "Erkennt keine Ideologie, kein System als göttliche Ordnung an, das nicht dem Koran entspricht oder das dem Koran widerspricht und akzeptiert sie nicht als etwas Korrektes. [...] Erkennt die Gesamtheit aller religiösen Gesetze an, die aus dem Koran, aus der Sunna und der einheitlichen Ansicht islamischer Gelehrter abgeleitet werden und zum Begriff Scharia zusammengefasst werden, klammert euch an die Scharia, wendet euch nicht von der Scharia ab." 60 58 Der Fernsehsender TV5 wird der "Milli Görüs"-Bewegung in der Türkei zugerechnet. 59 "Milli Gazete" vom 7.9.2010, S. 1. 60 "Milli Gazete" vom 28.5.2010, S. 4. 38 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Ausblick Es bleibt abzuwarten, wie sich der Rücktritt Kurtulmus' und die damit einhergegangene neue Parteigründung sowie der Tod Necmettin Erbakans auf die IGMG in Deutschland auswirken. Es ist jedoch anzunehmen, dass es, um eine Spaltung des IGMG-Verbandes zu vermeiden, wie in der Vergangenheit zu keinem offenen Bruch mit dem strikt islamistischen Kurs Erbakans kommen wird. Eine programmatische Neuausrichtung zwischen Traditionalisten und so genannten Reformern ist bisher nicht erkennbar. In Berlin ist darüber hinaus eine mangelnde Transparenz festzustellen, da es weiterhin kein Bekenntnis der IGMG-Moscheegemeinden zur IGMG bzw. zur Ideologie Erbakans gibt. 4.3 Kurz notiert 4.3.1 Reaktionen auf Ereignisse der Gaza-Flotille In der Nacht auf den 31. Mai stoppte die israelische Marine mit militärischer Gewalt die von der türkischen IHH ("IHH Insan Hak ve Hürriyetleri Insani Yardim Vakfi. Human Rights and Freedom and Humanitarian Relief") initiierte Solidaritätsflotte für Gaza und tötete dabei neun Menschen. Die Aktion löste eine diplomatische Krise zwischen der Türkei und Israel sowie weltweite Proteste gegen das israelische Vorgehen aus. Auch in Berlin gab es mehrere Demonstrationen, an denen sich Gruppierungen aus verschiedenen extremistischen Spektren beteiligten. Die größte Kundgebung fand am 4. Juni statt und umfasste ca. 2 000 Personen. Zur Teilnahme an den Protesten rief auch der "IGMG Landesverband Berlin" auf seiner Homepage auf. Neben den türkischen Islamisten, beteiligten sich an den Demonstrationen Anhänger der HAMAS, regimetreue Iraner und Personen aus dem deutschen linksextremistischen Spektrum. Aktuelle Entwicklungen - Legalistischer Islamismus 39 4.3.2 IHH-Verbot Der Bundesminister des Innern hat den Spendensammelverein "Internationale Humanitäre Hilfsorganisation e.V." (IHH e.V.) 61 verboten. Laut Begründung des Verbots richtet sich die "IHH e.V." gegen den Gedanken der Völkerverständigung, da der Verein gesammelte Spendengelder über einen langen Zeitraum in erheblichem Umfang an Vereinigungen transferierte, die der Terrororganisation HAMAS zugerechnet werden können oder diese unterstützen. Insgesamt überwies der IHH über 6,6 Mio. Euro an Organisationen mit HAMAS-Bezug. Das vereinsrechtliche Verbot wurde am 12. Juli vollzogen und der Verein aufgelöst. Die Geschäftsunterlagen des Vereins wurden sichergestellt. Zeitgleich fanden Hausdurchsuchungen bei 18 Funktionären des "IHH e.V." in Hessen, Nordrhein-Westfalen und Hamburg statt. Das Bankguthaben und die sonstigen Vermögenswerte des "IHH e.V." wurden beschlagnahmt, eingezogen und die Homepage des "IHH e.V." ("www.ihh.com") ab dem Zeitpunkt des Vollzugs gesperrt. Mit dem Vollzug des Vereinsverbotes ist es untersagt, Kennzeichen des "IHH e.V." öffentlich zu verwenden und die Tätigkeit des "IHH e.V." in Ersatzorganisationen fortzuführen. 62 61 Gem. SS 3 Abs. 1, 3. Var. Vereinsgesetz. 62 Siehe Pressemitteilung des BMI vom 12.07.2010, www.bmi.bund.de. 40 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 5. Rechtsextremismus 5.1 Personenpotential und Straftaten Die vielfältigen Krisen, denen der parlamentsorientierte Rechtsextremismus in den vergangenen Jahren ausgesetzt war, schlugen sich 2010 auch in den Mitgliederzahlen von NPD und DVU nieder. Vor allem innerhalb der DVU führten der immer offenkundigere Niedergang der Partei und die Aussicht auf ein endgültiges Verschwinden im Zuge der Verschmelzung mit der NPD zu einem Ausscheiden zahlreicher Mitglieder aus der Parteiarbeit. Demgegenüber steht ein stabiles Personenpotential des aktionsorientierten Rechtsextremismus, dessen Dominanz im rechtsextremistischen Spektrum Berlins 2010 auch quantitativ noch klarer zum Ausdruck kam. Personenpotential Gesamtpotential rechtsextremistischer Personenzusammenschlüsse: ca. 1 510* 0 200 400 600 Rechtsextremistische Parteien 400 Neonazis 550 Subkulturell geprägt und sonstige 500 gewaltbereite Rechtsextremisten Sonstige rechtsextremistische 150 Organisationen * Gesamtpotential nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften. Insgesamt waren 2010 ca. 1 510 Personen rechtsextremistischen Personenzusammenschlüssen zuzurechnen und damit ca. 160 Personen weniger als im Jahr zuvor, was vor allem auf den Mitgliederschwund der rechtsextremistischen Parteien zurückzuführen ist. Dies geht einher mit einer inneren Festigung des Aktivistenstamms und einer fortschreitenden Radikalisierung der NPD, die auf dem zunehmenden Einfluss der Autonomen Nationalisten in der Partei gründet. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 41 Rechtsextremistisches Personenpotential* Berlin Bund 2009 2010 2009 2010 Gesamt 1 760 1 600 27 800 26 000 ./. Mehrfachmitgliedschaften 90 90 1 200 1 000 Tatsächliches Personenpotential, davon 1 670 1 510 26 600 25 000 gewaltbereite 700 700 9 500 9 500 Rechtsextremisten * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotentiale ab. Personenpotentiale einzelner Personenzusammenschlüsse Berlin Bund 2009 2010 2009 2010 Subkulturell geprägte und sonstige gewaltbereite 500 500 9 000 8 300 Rechtsextremisten Neonazis 550 550 5 000 5 600 Rechtsextremistische Parteien, davon 550 400 11 300 9 500 "Deutsche Volksunion" 250 150 4 500 3 000 "Nationaldemokratische 300 250 6 800 6 500 Partei Deutschlands"* Sonstige rechtsextremistische 160 150 2 500 2 500 Organisationen * Die NPD-Zahlen beinhalten die Mitglieder der JN (2010 : 50, 2009 : 50). 42 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Straftaten Fallzahlen Politisch motivierte Kriminalität - Rechts* 2009 2010 Gewaltdelikte, davon 65 29 antisemitisch 6 1 fremdenfeindlich 37 15 gegen links 22 6 Propagandadelikte, davon 873 744 antisemitisch 23 21 fremdenfeindlich 51 64 gegen links 15 21 sonstige Delikte, davon 323 354 antisemitisch 149 103 fremdenfeindlich 107 123 gegen links 46 61 Gesamt, davon 1 261 1 127 antisemitisch 178 125 fremdenfeindlich 195 202 gegen links 83 88 * Auszug aus dem Bericht "Lagedarstellung der Politisch motivierten Kriminalität in Berlin für das Jahr 2010" des Landeskriminalamtes Berlin (LKA). Der vollständige Bericht ist im Internet eingestellt unter www.berlin.de/sen/inneres/sicherheit/ statistiken/index.html. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 43 5.2 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus 5.2.1 Versuch einer Neustrukturierung der rechtsextremistischen Parteienlandschaft Nachdem sich die Krise der rechtsextremistischen Parteien in den schlechKein neuer Schub ten Ergebnissen der Wahlen im Jahr 2009 auch öffentlich manifestiert hatte, durch Fusion im sollte 2010 im Zeichen der Erneuerung der rechtsextremistischen ParteienJahr 2010 landschaft stehen. Im Zentrum dieser Bemühungen stand der Versuch, dem parlamentsorientierten Rechtsextremismus mit einer Verschmelzung von NPD und DVU neuen Schub zu verleihen. Trotz der - bei allerdings geringer Beteiligung - hohen Zustimmungsrate der hierzu befragten Parteimitglieder ging von dieser Ankündigung und der damit verbundenen Aussicht auf eine Einigung des rechtsextremistischen Parteienlagers nicht das von beiden Parteiführungen erhoffte Aufbruchsignal aus. Zu weit fortgeschritten war hierfür bereits der Niedergang einer DVU, in der die Verschmelzung mit der NPD zudem nicht auf ungeteilte Zustimmung stieß. Dieser DVU-interne Widerstand gipfelte darin, dass vier Landesverbände der Partei eine gerichtliche Entscheidung erzwangen, mit der die Verschmelzung beider Parteien vorläufig gestoppt wurde. Verschmelzung von NPD und DVU Die Bilanz des "Superwahljahrs 2009" fiel für die beiden rechtsextremisWahlniederlagen tischen Parteien NPD und DVU alles andere als positiv aus. Mit Ausnahme beschleunigen Fusions des Wiedereinzuges in den sächsischen Landtag scheiterte die NPD bei allen willen weiteren Landtagswahlen ebenso wie bei der Bundestagswahl deutlich an der 5%-Hürde. 63 Die DVU rutschte mit den desaströsen Wahlergebnissen des Jahres 2009 endgültig in die Bedeutungslosigkeit ab und geriet zudem auch finanziell in existenzielle Bedrängnis. Der NPD wurde diese Entwicklung bei der einzigen Landtagswahl am 9. Mai Konkurrenz in NRW 2010 nochmals in aller Deutlichkeit vor Augen geführt. Mit lediglich 0,71 % der Zweitstimmen blieb die Partei in Nordrhein-Westfalen weit von einem Einzug in den Landtag entfernt und verfehlte darüber hinaus die Beteiligung an der staatlichen Wahlkampfkostenerstattung. Zusätzlich unter Druck geriet die NPD durch das Ergebnis der Partei "Pro NRW", die nahezu doppelt so viele Zweitstimmen auf sich vereinen konnte. 64 63 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 43 f. 64 Im Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2009 wird "Pro NRW" als Gruppierung erwähnt, bei der tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht einer verfassungsfeindlichen Bestrebungen bestehen. 44 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Als Ausweg aus dieser Situation präsentierte der NPD-Bundesvorsitzende Udo Voigt gemeinsam mit seinem DVU-Pendant Matthias Faust auf dem Bundesparteitag der NPD am 4. Juni 2010 Pläne zur Verschmelzung beider Parteien. Fusionsankündigung Nachdem die NPD die DVU im überraschend vergangenen Jahr mit dem Bruch des sogenannten "DeutschlandPaktes", der Wahlabsprachen zur Vermeidung konkurrierender Wahlantritte vorgesehen hatte, völlig überrumpelt hatte, kam die Ankündigung einer Fusion durchaus überraschend. Der DVU-VorsitzenDie Parteivorsitzenden von NPD und DVU auf de hatte noch im Sommer 2009 dem NPD-Parteitag von "Verrat" gesprochen und eine weitere Zusammenarbeit mit dem aktuellen NPD-Bundesvorstand ausgeschlossen. Der kritische Zustand beider Parteien und nicht zuletzt auch die sich hieran entzündende innerparteiliche Kritik an beiden Parteivorsitzenden dürfte Udo Voigt und Matthias Faust dazu bewogen haben, die Konflikte der jüngeren Vergangenheit zu beenden und eine Fusion von NPD und DVU voran zu treiben. Parteimitglieder votieren für Verschmelzung Mitgliederbefragung Rückenwind für diesen Kurs brachten die Ergebnisse zweier im Juli 2010 mit niedriger durchgeführter Mitgliederbefragungen, in denen NPDund DVU-Mitglieder Beteiligung getrennt voneinander zu einer möglichen Fusion beider Parteien befragt wurden. Nach Parteiangaben beteiligte sich hieran auf Seiten der NPD mit 1 872 Personen knapp ein Drittel aller Mitglieder, von denen 92,5 % für eine Fusion mit der DVU votierten. In der DVU nahm weniger als ein Viertel aller Parteimitglieder an der Abstimmung teil (ca. 1 100 Personen), von denen sich dann 91 % für einen Zusammenschluss aussprachen. 65 NPD der Die Zustimmung der NPD-Anhänger dominierende Partner war zu erwarten, da die NPD ihrem Selbstverständnis entsprechend für ihre Anhänger der eindeutig dominierende Partner der Fusion war. Ihre Größe und vor allem der Einfluss innerhalb der rechtsextremistischen Szene ließen den Verschmelzungsprozess de facto als eine Übernahme der DVU erscheinen. Da hiermit absehbar keine nennenswerten Folgen für Programmatik und Strategie der NPD einhergehen würden, war die Zustimmung zu einer Fusion innerhalb der NPD folgerichtig. 65 "Eindeutiges Votum für Zusammenschluss von NPD und DVU". Internetauftritt der NPD, datiert 23.7.2010. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 45 Das eindeutige Votum der sich an der Abstimmung beteiligenden DVU-MitZerfallsprozess glieder kam hingegen durchaus überraschend. Offensichtlich hatte aber der der DVU rasante Zerfallsprozess der Partei auch die eigene Basis davon überzeugt, dass die DVU neben der NPD nicht länger konkurrenzund damit auch nicht überlebensfähig sein würde. Dass mehr als drei Viertel der Parteimitglieder die existenzielle Frage nach einem eigenständigen Fortbestand der Partei ignoriert und sich gar nicht an der Befragung beteiligt hatten, war ein weiteres Indiz dafür, dass sich das Gros der DVU-Anhänger bereits lange vor derem geplanten Aufgehen in der NPD von der Partei verabschiedet hatte. NPD treibt Fusion voran Nur einen Monat nach dem Abschluss der Mitgliederbefragungen legte der Sonderparteitag der NPD-Bundesvorstand bereits den Entwurf eines Verschmelzungsvertrages NPD in Hohenmölsen vor, dem sowohl der Parteivorstand als auch alle Landesvorsitzenden ohne Diskussionsprozess zustimmten. Zugleich wurde beschlossen, die Fusion in nur vier Monaten, bis zum 31. Dezember, abzuschließen. Der hierfür erforderliche Sonderparteitag fand am 6. November in Hohenmölsen (SachsenAnhalt) statt, in dessen unmittelbarem Anschluss auch die Urabstimmung unter den Parteimitgliedern durchgeführt wurde. Erwartungsgemäß fielen die Voten mit Zustimmungsraten von jeweils mehr als 90 % für die Verschmelzung eindeutig aus. 66 Hintergrund des enormen TemVorbereitung auf das pos, mit dem der Fusionsprozess Wahljahr 2011 vorangetrieben wurde, war laut dem NPD-Bundesvorsitzenden der Wunsch, sich im Wahljahr 2011 als "deutsche Rechte gestärkt dem Wähler präsentieren" 67 zu können. Tatsächlich hofft die Partei, im März 2011 in Sachsen-Anhalt in einen dritten Landtag einzuziehen und im September 2011 in Mecklenburg-Vorpommern den Wiedereinzug in den Landtag zu erreichen. Ob sich die Chancen hierfür durch die Vereinigung mit der DVU signifikant verbessert haben, darf allerdings bezweifelt werden. Die DVU verfügt in beiden Bundesländern weder über nennenswerte personelle Ressourcen noch über funktionierende Strukturen. Tatsächlich dürfte die NPD-Führung mit dem von ihr eingeschlagenen Tempo vor allem darum bemüht gewesen sein, die Gunst der Stunde zu nutzen, sich eines schwächelnden Parteikonkurrenten zu entledigen. 66 Auf dem Sonderparteitag der NPD votierten 93,7 % der 207 NPD-Delegierten für die Verschmelzung mit der DVU, und 93 % stimmten dem Verschmelzungsvertrag zu. An der Urabstimmung beteiligten sich nach Parteiangaben 2 375 Parteimitglieder, von denen sich 2 260 (95 %) für einen Zusammenschluss mit der DVU aussprachen. 67 Erklärung der NPD-Pressestelle zur Parteivorstandsitzung der NPD in Berlin, Internetauftritt der NPD, datiert 23. 8.2010. 46 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 DVU-interne Konflikte eskalieren DVU unter Druck Die DVU hatte Mühe, mit dem von der NPD vorgegebenen Tempo des Vereinigungsprozesses Schritt zu halten. Zudem unterliefen der Parteiführung infolge des zeitlichen Drucks formale Fehler, an denen sich eine juristische Auseinandersetzung über die Rechtmäßigkeit des Verschmelzungsprozesses entzündete. Zwar sprach die Partei noch im September 2010 von einer "Verschmelzung von NPD und DVU auf gleichberechtigter Basis". 68 Zeitpunkte und Inhalte der DVU-Vorstandsund Mitgliederbeschlüsse hinterließen allerdings den Eindruck, dass die Partei keineswegs auf Augenhöhe mit der NPD agierte. DVUSchulden Verstärkt wurde dieser Gesamteindruck durch Berichte, nach denen es nicht als Hindernis der DVU-, sondern der NPD-Führung gelungen sein soll, eines der größten DVU-internen Hindernisse des Vereinigungsprozesses aus dem Weg zu räumen. Die NPD hatte als Bedingung einer Fusion festgelegt, dass ihr hierdurch keine neuen Schulden erwachsen dürfen. Aufgrund mehrerer Darlehen sollte die DVU allerdings ca. 1 Mio. Euro Verbindlichkeiten bei ihrem Gründer und langjährigen Vorsitzenden Dr. Gerhard Frey angehäuft haben. Nach Gesprächen mit der NPD-Führung verzichtete Frey im September 2010 auf die Rückzahlung der Forderung und ebnete damit den Weg für eine Fusion beider Parteien. Kritik am Führungsstil Die DVU-internen Querelen konnte der Wegfall der Schulden nicht beenden. des DVUVorsitzenden Die katastrophale Entwicklung der DVU hatte bereits länger Kritik an dem seit Januar 2009 amtierenden Vorsitzenden laut werden lassen. Neben einem selbstherrlichen Führungsstil warfen ihm seine parteiinternen Kritiker vor, bei dem Versuch, der DVU ein eigenständiges und vor allem moderneres Profil zu verleihen, gescheitert zu sein. Der Auftritt des DVU-Vorsitzenden auf dem Bundesparteitag der NPD am 4. Juni 2010 ließ die innerparteilichen Konflikte dann eskalieren. Parteiausschluss des Faust soll in die Fusionsverhandlungen mit der NPD eingetreten sein, ohne DVUVorsitzenden sich mit dem Parteivorstand abgestimmt zu haben oder von diesem hierfür mandatiert worden zu sein. Seine Gegner warfen ihm daraufhin parteischädigendes Verhalten vor und entzogen ihm durch einen Beschluss des DVUSchiedsgerichts am 8. Juni 2010 den DVU-Vorsitz und die Mitgliedschaft in der Partei. 68 "Bundesvorstand beschließt Entwurf zum Verschmelzungsvertrag". Internetauftritt der DVU, datiert 18. 9.2010. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 47 Die daraufhin vom DVU-Vorsitzenden und seinen Gegnern wechselseitig Vier Landesver angestrengten juristischen Auseinandersetzungen über die Parteimitgliedbände sprechen sich schaft und den Vorsitz Fausts endeten zwar Ende Oktober 2010 mit einem gegen Fusion aus Urteil zugunsten Fausts. 69 Zugleich formierte sich jedoch eine innerparteiliche Opposition, die den DVU-Vorsitzenden mit einem Misstrauensvotum stürzen und den Fusionsprozess stoppen wollte. Neben den DVU-Landesverbänden von Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen reihte sich auch die Berliner DVU in die innerparteiliche Opposition ein. Im Anschluss an ein Treffen Anfang November 2010 in Berlin gaben die Vorsitzenden dieser vier Landesverbände eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie sich unmissverständlich gegen die "beabsichtigte Auflösung und die daraus erfolgende Übernahme der DVU seitens der NPD" aussprachen. Vor dem Hintergrund, dass der Berliner DVU-Landesvorsitzende Torsten Berliner Landesvor Meyer seit 2006 in der Bezirksverordnetenversammlung von Lichtenberg sitzender gegen Fusion ein kommunal-politisches Mandat der NPD wahrnimmt, kam die Vehemenz, mit der er die Parteienfusion für die Berliner DVU ablehnte, vordergründig durchaus überraschend. Die eindeutig neonazistische Ausrichtung der Berliner NPD und auch die großen soziokulturellen Unterschiede zwischen den Mitgliedern der beiden Berliner Landesverbände von NPD und DVU erschwerten jedoch bereits in der Vergangenheit die Zusammenarbeit beider Parteien. Zudem dürfte auch persönlicher Ehrgeiz eine nicht unerhebliche Rolle bei der Ablehnung der Fusion durch den Berliner Landesverband der DVU gespielt haben, da von der Berliner NPD offensichtlich noch nicht einmal erwogen wurde, einen Posten im Landesvorstand mit einem DVUVorstandsmitglied zu besetzen. Als Folge des Streits um die Fusion trat Meyer am 16. Dezember aus der NPD verliert Lichtenberger NPD-Fraktion aus. Da er sein kommunal-politisches Mandat Fraktionsstatus in behielt, verlor die NPD in der Lichtenberger BVV den Fraktionsstatus und BVV Lichtenberg damit auch nicht unerhebliche Finanzund Infrastrukturmittel. Die Lichtenberger NPD revanchierte sich, indem sie Meyer verbal attackierte, öffentlich als "Verräter" bezeichnete und damit die Beziehungen zur Berliner DVU endgültig vergiftete. 70 Von diesem Konflikt, aber auch der innerparteilichen Opposition völlig Sonderparteitag der unbeeindruckt, setzte der Bundesvorsitzende der DVU den Prozess zur DVU in Kirchheim Verschmelzung mit der NPD unbeirrt fort. Nachdem der zunächst für den 28. November angesetzte Verschmelzungsparteitag aufgrund formaler Fehler bei der Einladung verschoben werden musste, stimmten die DVU-Delegierten dann auf einem Parteitag am 12. Dezember in Kirchheim (Thüringen) einer Parteienfusion mehrheitlich zu. 69 von 78 abstimmenden Delegierten 69 LG München I, AZ. 20 O 14780/10, vom 26.10.2010. 70 "Vom Verrat und vom Verräter - Der Judaskuss". Internetauftritt des NPD-Kreisverbandes Berlin-Lichtenberg, datiert 17.12.2010. 48 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 votierten für die Auflösung der DVU und damit für eine Verschmelzung mit der NPD. Das Ergebnis der erforderlichen Urabstimmung, die sich an den Sonderparteitag anschloss, wurde schon nicht mehr von der DVU, sondern auf der NPD-Homepage bekannt gegeben. Ohne konkrete Zahlen zu benennen, hieß es in der entsprechenden Erklärung lediglich, dass sich die DVU-Mitglieder in der schriftlichen Urabstimmung "deutlich [...] für die Verschmelzung mit der NPD" ausgesprochen hätten. 71 Verschmelzungsvertrag Daraufhin unterzeichneten die beiden Vorsitzenden von NPD und DVU noch unterschrieben am 29. Dezember den notariellen Vertrag zur Verschmelzung beider Parteien und besiegelten auch formal das Ende der DVU. Noch nicht gesichert ist die rechtliche Gültigkeit des Fusionsprozesses. Das Landgericht München stärkte in einem von den vier oppositionellen DVU-Landesverbänden angestrengten Verfahren zunächst die Position der Fusionsgegner. Da es bei der Urabstimmung unter den DVU-Mitgliedern zu "erheblichen, mit den Anforderungen an demokratische Abstimmungen unvereinbaren Mängeln" gekommen sei, untersagte das Gericht dem DVU-Vorsitzenden einen Vertrag über die Verschmelzung mit der NPD zu unterzeichnen. 72 Die NPD hat Rechtsmittel gegen diese Entscheidung eingelegt und erklärt, dass nach ihrem Verständnis die Entscheidung des Gerichts ins Leere laufen würde, da die Fusion beider Parteien mit der Unterzeichnung des Verschmelzungsvertrages am 29. Dezember abgeschlossen wurde. Da auch die Fusionsgegner an ihrer Rechtsauffassung festhalten, ist mit einem kurzfristigen Ende der juristischen Auseinandersetzungen über den Verschmelzungsprozess nicht zu rechnen. Symbolische Wirkung der Fusion NPD entledigt sich Die tatsächlichen Folgen der Parteienfusion dürften unabhängig vom Auseines Partei gang des Gerichtsverfahrens eher gering und von symbolischer Bedeutung konkurrenten sein. Die konturlose DVU verfügte bereits seit langem weder über Personal noch über Strukturen oder Finanzen, die geeignet gewesen wären, einer stagnierenden NPD neuen Schwung zu verleihen. Die positiven Effekte der Vereinigung beschränken sich für die NPD insofern auf den Wegfall eines Konkurrenten und das Entstehen einer rechtsextremistischen Partei mit einer - auf dem Papier - knapp fünfstelligen Mitgliederzahl, sofern alle Mitglieder in die künftige Partei eintreten, was nicht zu erwarten ist. 71 "NPD - Die Volksunion: Verschmelzungsvertrag ist unterzeichnet". Internetauftritt der NPD, datiert 30.12.2010. 72 LG München I, AZ. 20 O 25065/10, vom 25.1.2011. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 49 Auf die Berliner NPD wird die Fusion beider Parteien noch weniger AuswirKaum Auswirkungen kungen haben. Dies nicht nur wegen des tiefen Zerwürfnisses beider Lanin Berlin desverbände, sondern auch weil die Berliner DVU bereits seit Jahren nicht mehr öffentlich wahrnehmbar war. Das Aktivpotential des Landesverbandes ist in den letzten Jahren mehr und mehr geschrumpft, mit der Folge, dass in Berlin nur noch wenige Einzelpersonen für die DVU aktiv gewesen sind. Der Widerstand dieser verbliebenen DVU-Aktivisten gegen eine Fusion mit der NPD lässt beträchtliche Zweifel daran aufkommen, ob diese überhaupt Mitglieder in der vereinigten rechtsextremistischen Partei werden. Mit dem Auftauchen neuer Konkurrenten mit explizit muslimfeindlicher Ausrichtung wurden den örtlichen DVU-Mitgliedern Alternativen für ihre weitere politische Betätigung eröffnet, die außerhalb des für sie wenig attraktiven Landesverbandes der NPD liegen. 5.2.2 NPD auf Profilsuche Bevor die Fusion mit der DVU alle weiteren Themen in den Hintergrund drängte, war die Suche nach einem zukunftsfähigen Profil Ausgangspunkt durchaus heftiger Kontroversen in der NPD. Dabei standen die Verfechter eines in der Außendarstellung gemäßigteren Auftretens um den sächsischen Landesverband der Partei den Anhängern des dezidiert neonazistischen Parteiflügels gegenüber. 73 Der Wiedereinzug der sächsischen NPD in den Landtag und der Tod Jürgen Riegers - eines der prominentesten und einflussreichsten Vertreter der neonazistischen Parteikreise - stärkten Ende 2009 zunächst das Gewicht des nach außen gemäßigter agierenden Parteiflügels. Folgenlose Strategiekommission Dessen Positionen bestimmten auch die Erklärungen zur Arbeit einer AnStrategiekommission fang 2010 ins Leben gerufenen Strategiekommission. Dieses ca. 30-köpfige tagt nur einmal Gremium, das nur einmal in der Berliner NPD-Parteizentrale zusammenkam, sollte Vorschläge für eine neue und vor allem zeitgemäße Vermittlung der NPD-Programmatik erarbeiten. Der NPD-Vorsitzende gab sich große Mühe, diese Kommission und deren Ergebnisse als richtungsweisende Neuerungen in der Parteiarbeit darzustellen. 73 Diese Auseinandersetzung wurde ausgelöst durch den Vorsitzenden der sächsischen NPD, der in einem Artikel unter der Überschrift "Der sächsische Weg" einen "gegenwartsbezogenen und volksnahen Nationalismus" einforderte. Der Bundesvorsitzende der Partei konterte mit dem "Deutschen Weg" und erklärte die "Überwindung des liberal-kapitalistischen Systems" zum unveränderten Ziel der NPD. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009, Berlin 2010, S. 50. 50 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 "programmatischer Was in zwei ganzseitigen Artikeln in den Aprilund Maiausgaben des NPDDreiklang aus Presseorgans "Deutsche Stimme" hierzu dann veröffentlicht wurde, war Identität, Souveräni allerdings alles andere als spektakulär. Die NPD solle eine "seriöse Radikatät und Solidarität" lität" entwickeln. Zudem solle ein "programmatischer Dreiklang aus Identität, Souveränität und Solidarität Grundlage der Außenwirkung" werden, um "ein Magnet einer neuen vereinigten Rechten" sein zu können. 74 Bei weiten Teilen der NPD-Basis stießen diese Worthülsen auf keinerlei Resonanz. Ohne erkennbaren Diskussionsprozess wurden die Phrasen ihrer Parteiführung von den meisten NPD-Anhängern schlicht ignoriert. "Programmparteitag" ohne Richtungsentscheidung Vor dem Hintergrund dieser wenig greifbaren Aussagen waren auch die Erwartungen an den Bundesparteitag der NPD relativ bescheiden. Nachdem auf dem letztjährigen Parteitag die komplette Führungsriege der Partei neu gewählt worden war, standen auch keine konfliktträchtigen Personalentscheidungen an. Die NPD-Führung erhoffte sich daher von dem "Programmparteitag", der am 4. und 5. Juni im oberfränkischen Bamberg stattfand, ein Zeichen der Geschlossenheit. Kontroverse um Dies sollte trotz aller Bemühungen der Parteispitze jedoch nicht gelingen. Programm Bereits an der Frage nach der Anwesenheit von Pressevertretern auf dem Parteitag entzündete sich eine kontroverse Diskussion. Diese setzte sich bei den Beratungen zu einem neuen Parteiprogramm fort. Neben einem kompletten Konkurrenzentwurf des neonazistischen Parteiflügels wurden mehr als 200 Änderungsanträge zum Programmentwurf des NPD-Vorstandes eingebracht. Höhepunkt dieser innerparteilichen Kontroversen war die Ablehnung der von der Parteispitze vorgeschlagenen Änderung des Namenszusatzes in "Die soziale Heimatpartei". Knapp zwei Drittel der Delegierten votierten in dieser Frage offen gegen den Vorstand. Anstelle der von der NPD-Führung erhofften Geschlossenheit prägten die Differenzen zwischen "politikfähigem" und neonazistischem Parteiflügel den Eindruck vom Parteitag. 74 "Wie bringen wir die NPD nach vorn?". In: "Deutsche Stimme" April / Mai 2010. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 51 Diese innerparteilichen Spannungen spiegeln Angebote an den sich auch im dann beschlossenen neuen Parteineonazistischen Flügel programm der NPD wider. Mit Forderungen wie "Deutschland muss wieder deutsch werden", "Rückkehrpflicht statt Bleiberecht" oder der Herstellung eines "nationalen Geschichtsbildes" ohne "staatlich verordnetem Schuldkult" war die Partei darum bemüht, die Erwartungen des neonazistischen Parteiflügels zu bedienen. Das bewusste Vermeiden antisemitischer Anklänge und auch der breite Raum, der sozial-, wirtschaftsoder umweltpolitischen Themen eingeräumt wird, bekräftigen hingegen den Einfluss der um eine gemäßigtere Außendarstellung bemühten Kreise innerhalb der NPD. 75 Ohne eine Entscheidung zugunsten des einen oder des anderen ParteiflüWeitere inner gels zu treffen, versucht sich das neue Parteiprogramm als Kompromiss parteiliche Konflikte zwischen beiden Lagern. Ein Kompromiss, der allerdings keine der beiden zu erwarten Seiten zufrieden stellen und insofern keinen entscheidenden Beitrag zur Beendigung der innerparteilichen Konflikte leisten dürfte. Finanzsituation weiterhin unklar Ungeachtet der organisatorischen und inhaltlichen Neupositionierung war Bemühen um die NPD im Jahr 2010 betont um die Konsolidierung ihrer Finanzen bemüht. Konsolidierung Die finanzielle Situation der NPD war in den vergangenen Jahren immer wieder Gegenstand juristischer Auseinandersetzungen und hatte Anlass zu Spekulationen um einen möglichen Bankrott der Partei gegeben. 75 "Das Parteiprogramm. Arbeit. Familie. Vaterland.". Internetauftritt der NPD, datiert 27.9.2010. 52 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Thematischer Exkurs: Finanzaffären der NPD: Ihren Ursprung haben die finanziellen Probleme der NPD bereits in den 1990er Jahren. Nach den Erkenntnissen der Bundestagsverwaltung kam es seitdem immer wieder zu Unregelmäßigkeiten größeren Umfangs an den jährlichen Rechenschaftsberichten der Partei. Die NPD sieht sich daher mit Rückforderungen zu Unrecht bezogener staatlicher Mittel in Millionenhöhe konfrontiert, gegen die sie sich juristisch zur Wehr setzt. Neben der Veruntreuung von Parteigeldern durch den ehemaligen Schatzmeister der Partei muss auch das Kontrollversagen der NPD-Gremien als Ursache für die finanziellen Probleme der Partei benannt werden. 1. Finanzaffäre: Mit fingierten Spendenquittungen aus den Jahren 1996 bis 1999 soll die Partei aufgrund überhöht dargestellter Einnahmen in den RechenUrsprung schaftsberichten der Jahre 1997 bis 2000 zu Unrecht Gelder aus der staatlichen Parteienfinanzierung bezogen haben. Umfang der in Rede stehenden ca. 870 000 EUR Mittel noch ca. 180 000 EUR Höhe der Rückforderung (ca. 690 000 EUR wurden bereits beglichen) Nachdem eine Klage der NPD gegen den Rückforderungsbescheid der Bundestagsverwaltung im Mai 2008 vom VG Berlin zurückgewiesen Aktueller Stand worden war, ist das Verfahren nach der Berufung der NPD beim OVG Berlin-Brandenburg anhängig. 2. Finanzaffäre: Im Rechenschaftsbericht für das Jahr 2007 sollen falsche und Ursprung ungenügende Angaben zur Höhe bezogener Gelder und bestehender Forderungen gemacht worden sein. Umfang der in Rede stehenden ca. 650 000 EUR Mittel Höhe der Rückforderung ca. 1,27 Mio. EUR Nachdem das VG Berlin aufgrund einer Klage der NPD die Forderung gegen die Partei im Mai 2009 auf die o.a. Beträge reduziert hat, Aktueller Stand haben sowohl die NPD als auch die Bundestagsverwaltung gegen die Entscheidung Berufung beim OVG Berlin-Brandenburg eingelegt. Das Verfahren ist dort weiter anhängig. 3. Finanzaffäre: Nach Ermittlungen des LKA Nordrhein-Westfalen sollen in den Rechenschaftsberichten der Jahre 2002 bis 2006 Mitgliedsbeiträge Ursprung und Spendeneinnahmen überhöht dargestellt und der Partei dadurch zu viel staatliche Mittel ausgezahlt worden sein. Umfang der in Rede stehenden ca. 1 Mio. EUR Mittel Höhe der Rückforderung ca. 2 Mio. EUR Die Rechenschaftsberichte der Jahre 2002 bis 2006 werden von der Aktueller Stand Bundestagsverwaltung geprüft. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 53 Unabhängig vom Ausgang der Prozesse um die von der NPD bezogenen "Professionalisierung" staatlichen Mittel, erklärte der Schatzmeister der Partei, dass im vergander Finanzverwaltung genen Jahr viel für die Professionalisierung der Finanzverwaltung der NPD getan worden sei. So sollen das parteiinterne Rechnungswesen und der Finanzfluss zwischen den einzelnen Parteiebenen verbessert sowie eine weitere Reduzierung der Ausgaben vorgenommen worden sein. 76 Von einer nachhaltigen Verbesserung der Finanzsituation ist die NPD noch Großspende immer weit entfernt. Neben der 3. Finanzaffäre um die Rechenschaftsberichte der Jahre 2002 bis 2006 erregte eine Großspende, die der Partei im September in Höhe von ca. 150 000 EUR zuging, öffentliche Aufmerksamkeit. Presseberichten zufolge bestanden bei der Spende des "Vereins zur Pflege nationaler Politik e.V." Anhaltspunkte für den Verdacht illegaler Transaktionen. Personelle Neuaufstellung der Berliner NPD Für den Berliner Landesverband Dünne Personaldecke der NPD stand das Jahr im Zeichen eines Neuanfangs. Den zum Ende des Jahres 2009 immer deutlicher werdenden Auflösungserscheinungen 77 versuchte die Berliner NPD mit einer im Februar 2010 neu gewählten Führungsspitze zu begegnen. Der Neuwahl vorausgegangen war jedoch die monatelange Suche Der neue (li.) und der alte (re.) Parteivorsitzende nach einem geeigneten Landesvorsitzenden, die nicht nur die Parteiarbeit lähmte, sondern auch deutlich die dünne Personaldecke der Berliner NPD offenbarte. Mit dem aus Bayern stammenden Uwe Meenen wurde schließlich ein "exter"externer" Landes ner" NPD-Funktionär zum neuen Vorsitzenden der Berliner NPD gewählt. Bei vorsitzender der Besetzung der weiteren Vorstandsposten war die Partei sichtlich darum bemüht, ein möglichst breites rechtsextremistisches Spektrum abzubilden. Mit der Einbindung altgedienter Parteikader, ehemaliger DVU-Aktivisten und auch junger Neonazis in die Parteivorstandsarbeit sollte der Parteibasis das Ende der zurückliegenden Grabenkämpfe signalisiert werden. Als Ziel formulierte der neue Landesvorstand, für eine "neue, schwungvolle Entwicklung der NPD in der Hauptstadt" 78 sorgen zu wollen. 76 "Wir werden es meistern". In: "Deutsche Stimme", März 2010. 77 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2009, Berlin 2010, S. 51 f. 78 "Weichenstellung im Landesverband Berlin". Internetauftritt des NPD-Landesverbandes Berlin, datiert 25. 1.2010. 54 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Zwiespältige Bilanz des neuen Landesvorstandes Kein neuer Diesem selbst formulierten Anspruch konnte der neue Landesvorstand Aufschwung allenfalls bedingt gerecht werden. Zwar wurden die offenen Streitigkeiten der jüngeren Vergangenheit beendet. Verlorenen Einfluss und ausgetretene Mitglieder konnte der neue Vorstand allerdings nicht zurückgewinnen. Auch inhaltlich wurden vom Berliner Landesverband der NPD keine Akzente gesetzt. In seinen wenigen öffentlichen Stellungnahmen beschränkte sich der Landesverband vielmehr ausschließlich auf die von der Bundesführung vorgegebenen Themen. Neuer Landes Mitverantwortlich hierfür war das bisher blasse Auftreten des neuen vorsitzender Landesvorsitzenden. Uwe Meenen ist großen Teilen der hiesigen Parteibasis "fremdelt" auch nach mehr als einem Jahr im Amt noch immer weitgehend unbekannt. Sollte es ihm auch künftig nicht gelingen, persönlich mit der Parteibasis in Kontakt zu kommen, dürfte es in Zukunft schwer für ihn werden, sich die Unterstützung der Berliner NPD-Anhänger zu sichern. "Freie Kräfte" im Aber auch von den meisten anderen Mitgliedern des Landesvorstandes ginLandesvorstand aktiv gen kaum Impulse aus. In den meisten Fällen übernahmen immer dieselben drei bis vier Personen innerhalb des insgesamt zwölfköpfigen Landesvorstandes Verantwortung für die Partei. Am aktivsten zeigen sich hierbei die den "Freien Kräften" nahestehenden Vorstandsmitglieder. Dadurch konnten auch die Konflikte der Berliner NPD mit Teilen der "Freien Kräfte", die sich vor allem am Führungsstil des vorherigen Landesvorsitzenden entzündet hatten, 79 wieder weitgehend befriedet werden. Da die NPD in Berlin in ihrem aktuellen Zustand ohne den Einsatz der "Freien Kräfte" nicht zu flächendeckenden Aktivitäten in der Lage ist, wird sie speziell im Hinblick auf den Wahlkampf 2011 darum bemüht sein, diese traditionell guten Verbindungen in vollem Umfang wiederzubeleben. Die bereits jetzt unschwer zu erkennende Abhängigkeit des Berliner NPD-Landesverbandes von den "Freien Kräften" wird damit zukünftig noch weiter zunehmen. Steigendes Aktivitätsniveau Öffentlichkeitswirksame Das wieder stärkere Engagement der "Freien Kräfte" war schließlich auch Veranstaltungen mitentscheidend dafür, dass es dem neuen Vorstand gelungen ist, die letztjährige Untätigkeit des Berliner NPD-Landesverbandes zu beenden. Neben einem wieder regelmäßig aktualisierten Internetauftritt und diversen Infotischen richtete die Partei in Neukölln am 8. Mai mit ca. 30 Teilnehmern und am 17. Juni mit ca. 60 Teilnehmern zwei Rednerveranstaltungen in öffentlichen Räumen aus, bei denen Vertreter der NPD-Landtagsfraktionen von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern auftraten. 79 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009, Berlin 2010, S. 51 f. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 55 In diesem Zusammenhang konnte die NPD einen juristischen Teilerfolg verbuchen. Das Verwaltungsgericht Berlin hatte am 16. Juli mit einem noch nicht rechtskräftigen Urteil entschieden, dass die Teile eines Überlassungsbescheids aus dem Jahr 2009, die dem zuständigen Bezirksamt das Recht eingeräumt hatten, den Bescheid im Falle rassistischer, antisemitischer oder antidemokratischer Äußerungen während eines NPD-Parteitages zu widerrufen, unzulässig waren. 80 Diese Entscheidung dürfte auch Auswirkungen auf die im Januar 2010 von allen zwölf Berliner Bezirken mit entsprechenden Klauseln versehenen "Mustermietverträge" haben. Die meisten Unterstützer konnte die Berliner NPD am 18. September zu ei"Überfremdungs ner von ihr organisierten "Überfremdungskundgebung" mobilisieren. Neben kundgebung" fünf Rednern - darunter der Bundesvorsitzende und der Berliner Landesvorsitzende der NPD - traten auch drei Bands auf. 81 An dieser Kundgebung, die ohne nennenswerte Zwischenfälle im Stadtteil Treptow-Köpenick stattfand, nahmen ca. 300 Personen teil. Damit konnte die NPD zwar das rechtsextremistische Aktivpotential aus Berlin und dem näheren Umland nahezu vollständig ausschöpfen. Das von ihr erhoffte Aufbruchsignal ging von der Kundgebung allerdings nicht aus. Hierfür war die Teilnehmerzahl unter Berücksichtigung der organisationsübergreifenden und bundesweiten Mobilisierungsbemühungen zu gering. Auch die erhoffte öffentliche Resonanz auf die Veranstaltung blieb weitgehend aus, so dass die weitgehend störungsfreie Durchführung der Kundgebung den größten Erfolg der Veranstaltung aus Sicht der Berliner NPD darstellen dürfte. 80 VG Berlin, Az. 2 K 93.09, vom 16.7.2010. 81 Vgl. Aktuelle Entwicklungen "Netzwerk "Rechtsextremistische Musik"' unter unverändert hohem staatlichem Verfolgungsdruck", S. 83. 56 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Unterschiedlich aktive Das Bemühen um eine stärkere öffentliche Wahrnehmung bestimmte auch BVVMitglieder die kommunalpolitischen Aktivitäten der Partei. Mit einem im Vergleich zum Vorjahr höheren Aktivitätsniveau versuchte die Berliner NPD die öffentlichen Sitzungen der Bezirksverordnetenversammlungen (BVVen) wieder stärker als Bühne zu nutzen. Nach wie vor bestehen jedoch deutliche qualitative und quantitative Unterschiede in der Arbeit der einzelnen NPD-Verordneten. Anzahl der Anträge und Kleinen Anfragen der NPD-Verordneten in den Bezirksverordnetenversammlung 30 28 25 20 20 19 15 11 10 6 5 5 1 1 0 BVV Lichtenberg BVV TreptowBVV MarzahnBVV Neukölln Köpenick Hellersdorf 2009 2010 Zunehmend Lokal Am aktivsten zeigten sich auch 2010 die NPDthemen Verordneten in den BVVen von Lichtenberg und Treptow-Köpenick. Bei den von diesen beiden Fraktionen gestellten Anträgen und Anfragen überwog im Vergleich zu den Vorjahren zunehmend Berliner Lokalkolorit, wie z.B. in der Kleinen Anfrage vom 23. August der NPD-Fraktion in der BVV Treptow-Köpenick zur Plastik "Vietnamesische Mutter mit Kind" am Schloss Köpenick.82 Nur in Ausnahmefällen, wie in der Solidaritätserklärung der NPDFraktion in der BVV Treptow-Köpenick an ein rechtsextremistisches Szenelokal, kam die Gesinnung der NPD-Verordneten ungeschminkt zum Ausdruck. 83 In den meisten Fällen versuchte sich die NPD in den BVVen jedoch als kommunal verankerte Interessenvertreterin des "Kleinen 82 Kleine Anfrage VI/1045. 83 "Solidarität mit dem Wirtshaus 'Zum Henker'". Internetauftritt der NPD-Fraktion Treptow-Köpenick, datiert 25.8.2010. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 57 Mannes" darzustellen. Beispielhaft hierfür steht der Titel einer im Oktober von der NPD-Fraktion in der BVV Treptow-Köpenick veröffentlichten Broschüre: "Wir sagen, was Sie denken". Für öffentliches Aufsehen sorgte allerdings auch 2010 nicht die politische Arbeit der NPD-Verordneten, sondern eine Rede mit möglicherweise strafbarem Inhalt. Der Bundesvorsitzende der NPD, Udo Voigt, der in der BVV Treptow-Köpenick ein kommunales Mandat innehat, wurde wegen einer Stellungnahme zu den Feierlichkeiten zum 8. Mai wegen Volksverhetzung angezeigt. Voigt hatte die BRD als "besetztes Land" bezeichnet, vom "alliierten Bombenholocaust" gesprochen und sich "vor den tapferen Soldaten der [...] Waffen-SS" verneigt. 84 Das Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Berlin läuft noch. Mit der Beendigung der offenen Streitigkeiten und dem Bemühen um eine Vorbereitung auf stärkere öffentliche Wahrnehmung ist es dem neuen Landesvorstand gelunAbgeordnetenhaus gen, die Berliner NPD, wenn auch auf niedrigem Niveau, zu konsolidieren. Wahlen Nachdem Konflikte mit Teilen der "Freien Kräfte" ausgeräumt worden sind und diese sich wieder stärker an der Parteiarbeit beteiligen, wird es der Berliner NPD vermutlich auch gelingen, im anstehenden AbgeordnetenhausWahlkampf weitgehend flächendeckend Präsenz zu zeigen. Zugleich dürfte sich die NPD in Berlin durch die stärkere Wiedereinbindung Neonazistische der "Freien Kräfte" unverhohlen neonazistisch präsentieren. Ein solcher Ausrichtung Kurs wäre aber zugleich mit dem Risiko verbunden, dass breitere Wählerschichten von der Partei eher abgeschreckt und in die Arme neuer, insbesondere muslimfeindlicher Konkurrenten getrieben würden. Von ihrem Anspruch eine politische Kraft sein zu wollen, würde sich die NPD in Berlin mit einer solchen Strategie immer weiter entfernen. 84 "Linke in der BVV kündigt Strafanzeige gegen den Parteivorsitzenden Udo Voigt an". Internetauftritt der NPD-Fraktion in der BVV Treptow-Köpenick, datiert 25. 3.2010. 58 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 5.3 Aktionsorientierter Rechtsextremismus 5.3.1 Netzwerk "Freie Kräfte" dominiert den Berliner Rechtsextremismus Konstantes Personen Die größte Dynamik innerhalb der rechtsextremistischen Szene Berlins entpotential faltete auch 2010 das Netzwerk "Freie Kräfte". Es setzt sich im Wesentlichen aus den "Autonomen Nationalisten", einem Teil des Personenkreises, der bis zum Verbot die Kameradschaft "Frontbann 24" bildete und den 2010 erstmals in Erscheinung getretenen "Freien Nationalisten Berlin Mitte" (FNBM) zusammen. Das Personenpotential des Netzwerkes "Freie Kräfte" ist trotz hoher Fluktuation seit Jahren konstant und beläuft sich auf ca. 200 überwiegend männliche Anhänger. Regionale Agitationsund Aktionsschwerpunkte des Netzwerkes waren 2010 neben Pankow und Treptow-Köpenick vor allem der Norden Neuköllns sowie sporadisch auch die Bezirke Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg. Neonazistisches Als einigendes Band zwischen den einzelnen Personen und Gruppierungen Weltbild innerhalb des heterogenen Netzwerkes "Freie Kräfte" fungiert ein neonazistisches Weltbild. Neben der Verherrlichung des historischen Nationalsozialismus und seiner Repräsentanten wird auf Demonstrationen und im Internet zunehmend offensiver für einen neuen "Nationalen Sozialismus" geworben. Wichtigstes Aktionsfeld des Netzwerkes "Freie Kräfte" ist die Straße. Dabei wird mit Flyern, Graffiti und sogenannten "Spuckis" sowohl im Kiez als auch mit Demonstrationen, Trauermärschen und Mahnwachen regional und überregional in der Öffentlichkeit Präsenz gezeigt. "AntiAnifa"Arbeit Von zentraler Bedeutung für das Netzwerk ist die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Im Rahmen der sogenannten "Anti-Antifa"-Arbeit werden Daten über aus ihrer Sicht "linke" Personen, Institutionen und Objekte gesammelt und in Teilen auch veröffentlicht: Aktionen, die vor allem darauf abzielen, eine Drohkulisse aufzubauen. In diesen Kontext gehören auch die rechtsextremistischen Schmierereien und Sachbeschädigungen an den Häusern von Initiativen gegen Rechtsextremismus, Parteien und Einzelpersonen. Besonders im Vorfeld oder im Nachgang zu für die Szene bedeutenden Ereignissen oder historischen Daten wie etwa dem rechtsextremistischen "Trauermarsch" in Dresden oder dem Todestag des Hitlerstellvertreters Rudolf Heß häufen sich entsprechende Vorkommnisse. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 59 Lange Zeit beruhte der Zusammenhalt des Netzwerkes "Freie Kräfte" ausschließlich auf losen, nicht formalisierten Verbindungen. Es bot die Möglichkeit, allein durch die wiederholte Teilnahme an rechtsextremistischen Veranstaltungen, in die Szene einzusteigen. Zunehmend zeigen sich in diesem Punkt aber auch gegenläufige Tendenzen. Während das Netzwerk "Freie Kräfte" in seiner Gesamtheit nach wie vor eine niedrigschwellige Einstiegsmöglichkeit in die Szene bietet, trifft dies auf die größte Gruppierung innerhalb des Netzwerkes nicht mehr in gleichem Maß zu. Vielmehr zeigen sich Ansätze, dass sich die "Autonomen Nationalisten" mehr und mehr gegen Neueinsteiger abschotten. Dies ist mit der ideologischen und organisatorischen Festigung des Kerns der Gruppierung und einem noch konspirativeren Verhalten verbunden. Das Prinzip der "Mitgliedschaft durch Mitmachen" gilt insofern uneingeschränkt nur noch für den Einstieg in das offene Netzwerk "Freie Kräfte". Den aus den organisatorischen Abschottungstendenzen der "Autonomen Festere Nationalisten" resultierenden Raum innerhalb des Netzwerkes "Freie KräfOrganisations te" versuchten andere Gruppen mit Strukturen zu besetzen. Dabei hat das strukturen chancenlos Erscheinungsbild der "Autonomen Nationalisten" das uniformierte Auftreten früherer Kameradschaften wie etwa "Frontbann 24" zunehmend abgelöst. Hohe Fluktuation, fehlende Führungspersönlichkeiten und die abschreckende Wirkung früherer Vereinsverbote verhinderten jedoch, dass sich eine Gruppierung dauerhaft etablieren konnte. Versuche, Teile des Netzwerkes "Freie Kräfte" in festere Strukturen einzubinden, sind auch in Zukunft zu erwarten. Die Neugründung einer Gruppierung wie die FNBM ist hierfür ein Indiz. "Autonome Nationalisten" festigen ihre exponierte Stellung Bereits 2009 lösten die "Autonomen Nationalisten" eine schwächelnde NPD Zentraler Akteur als zentralen Akteur des Berliner Rechtsextremismus ab. Diese Stellung im Berliner Rechts innerhalb der rechtsextremistischen Szene Berlins konnten sie auch 2010 extremismus behaupten. Keine andere Gruppierung verfügt zurzeit über ein ähnlich hohes Mobilisierungspotential wie die "Autonomen Nationalisten". Nahezu alle öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen und Aktionen der rechtsextremistischen Szene in Berlin gingen 2010 von den "Autonomen Nationalisten" aus oder wurden von diesen unterstützt. 60 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Thematischer Exkurs: Autonome Nationalisten Die jüngere Entwicklung des aktionsorientierten Rechtsextremismus in Berlin ist eng mit dem Aufstieg der "Autonomen Nationalisten" verbunden. Hinter dem Begriff "Autonome Nationalisten" verbirgt sich ein Phänomen, das Organisationsund Aktionsformen ebenso wie eine spezifische Form des Auftretens in der Öffentlichkeit umfasst. Lose Personenzusammenschlüsse, die diesen Begriff für sich besetzten, tauchten in Berlin erstmals im Jahr 2002 als eine Art "Gegenwehr" zur "Antifa" und als Reaktion auf staatlichen Verfolgungsdruck auf. Dabei orientierten sie sich vor allem am Vorbild der linksextremistischen Autonomen, deren Vorgehensweisen wie z. B. das Bilden "Schwarzer Blöcke" sie bei Demonstrationen kopierten. Mit konspirativen Kommunikationsnetzwerken und flachen Hierarchien haben die "Autonomen Nationalisten" die klassischen Kameradschaftsstrukturen zunehmend abgelöst. Der erlebnisorientierte Charakter vieler Aktionen der "Autonomen Nationalisten" aber auch ihre sozial-revolutionäre Ideologie wirken gerade auf Jugendliche anziehend, und ihr Auftreten gilt mittlerweile als stilbildend für einen großen Teil der aktionsorientierten Neonaziszene weit über die Grenzen Berlins hinaus. Kein monolithischer Die Aktionsfähigkeit der "Autonomen Nationalisten" ist untrennbar mit Block einer funktionierenden Netzwerkstruktur verbunden. Da die "Autonomen Nationalisten" keinen monolithischen Block bilden, kommt der internen Vernetzung besondere Bedeutung zu. Nur durch gesicherte Informationsflüsse im Rahmen moderner Kommunikationsmöglichkeiten wird das spontane und flexible Agieren, was zu einem "Markenzeichen" der "Autonomen Nationalisten" geworden ist, sichergestellt. Informations und Die einzelnen Gruppen, aus denen sich die "Autonomen Nationalisten" in Kommunikations Berlin zusammensetzen, sind regional gegliedert, mit Schwerpunkten in den netzwerk Bezirken Pankow, Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf, Treptow-Köpenick und Neukölln. In jeder dieser Regionalgruppen sind Führungspersönlichkeiten aktiv, deren Rolle im Gegensatz zu traditionellen rechtsextremistischen Organisationen allerdings nicht auf einem hierarchischen Überund Unterordnungsverhältnis beruht. Vielmehr agieren die Anführer der "Autonomen Nationalisten" als Informationsfilter und -verteiler und bestimmen damit auf effektive Weise, wer wann welche Informationen erhält. Grundsätzlich gehört zur Gruppe der "Autonomen Nationalisten" nur, wer in ihre Kommunikationsnetzwerke eingebunden ist. Dieses Informationsnetzwerk, das überwiegend per Mobilfunk und im Internet, aber auch über informelle Gruppentreffen funktioniert, ist dabei ebenso leistungsfähig wie konspirativ. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 61 Verbindungen zur NPD werden weiter ausgebaut Der exponierten Stellung der "Autonomen Nationalisten" in der rechtsexHohe Personen tremistischen Szene Berlins musste auch die NPD Rechnung tragen. Von identität mit JN den schätzungsweise 50 registrierten oder Beitrag zahlenden Mitgliedern der NPD-Jugendorganisation "Jungen Nationaldemokraten" (JN) gehören bereits mindestens 40 den "Autonomen Nationalisten" an. Die Jugendorganisation der Partei wird damit bereits vollständig von den "Autonomen Nationalisten" kontrolliert und fungiert als deren organisatorischer Arm. Auch innerhalb des Berliner NPD-Landesverbandes übernahmen die "AuMitarbeit in NPD tonomen Nationalisten" 2010 zunehmend eine tragende Rolle. Drei ihrer Strukturen Hauptakteure sind seit Februar 2010 Mitglieder des neugewählten Landesvorstandes. Auch an der Parteibasis werden immer häufiger Aktivisten der "Autonomen Nationalisten" mit Aufgaben betraut und damit in die Kreisverbandsarbeit der Berliner NPD eingebunden. Für die "Autonomen Nationalisten" eröffnet sich dadurch die Möglichkeit, die Infrastruktur der Partei, wie Infostände oder Räumlichkeiten, zu nutzen. Faktisch ist in Berlin zurzeit allerdings die NPD weit mehr auf die NPD profitiert von AN "Autonomen Nationalisten" angewiesen als umgekehrt. Ohne Beteiligung der "Autonomen Nationalisten" würden NPD-Veranstaltungen wie die "Überfremdungskundgebung" am 18. September fehlschlagen. Auch ein flächendeckender Wahlkampf für die Abgeordnetenhausund BVV-Wahlen 2011 wäre für die NPD ohne Unterstützung der "Autonomen Nationalisten" nicht möglich. Neben einem etwa doppelt so hohen aktiven Personenpotential sind die "Autonomen Nationalisten" der NPD in Berlin auch strukturell - durch eine breite Verteilung von Verantwortung, die Fähigkeit, schnell Beschlüsse fassen und umsetzen zu können und ihre spontan mobilisierbare Basis - deutlich überlegen. 62 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Autonome Nationalisten beginnen sich abzuschotten Das Personenpotential der "Autonomen Nationalisten" ist seit zwei Jahren nahezu konstant bzw. sogar leicht rückläufig. 2010 gehörten ca. 110 Personen den "Autonomen Nationalisten" an (2009: 120). Personenpotential der "Autonomen Nationalisten" in Berlin 140 130 120 120 110 Anzahl der Mitglieder 100 100 80 60 40 20 0 2007 2008 2009 2010 Permanenter Aktivi Der Rückgang im Vergleich zum Vorjahr war vor allem der beschriebenen tätsdruck Tendenz zur Abschottung geschuldet, die mit dem Ausscheiden ohnehin nur lose angebundener Personen einher ging. Die einfache "Mitgliedschaft durch Mitmachen" wurde 2010 durch die Forderung nach einer permanenten Beteiligung an Aktionen der "Autonomen Nationalisten" deutlich qualifiziert. Wer sich die Zugehörigkeit zu den "Autonomen Nationalisten" nicht durch einen anhaltenden Aktionismus ständig neu "verdiente", wurde zunehmend aus ihren Kommunikationsnetzwerken, und damit aus der Gruppierung selbst, verdrängt. Die wachsende innere Geschlossenheit und hohe Handlungsfähigkeit, die mit diesem Aktivitätsdruck einhergehen, sind entscheidend mitverantwortlich dafür, dass sich die "Autonomen Nationalisten" zum zentralen Akteur der rechtsextremistischen Szene Berlins entwickeln konnten. "Nationales In die Bemühungen, ihre operativen Möglichkeiten noch weiter auszubauJugendzentrum" en, reihen sich auch die fortgesetzten Versuche der "Autonomen Nationalisten" ein, ein "Nationales Jugendzentrum" zu errichten. Öffentlich wird ein solches Zentrum als "Freiraum" bezeichnet, den man nicht mit "Menschen anderer Herkunft" teilen und in dem man sich "unabhängig von pseudodemokratischen Schulmeinungen" ausprobieren wolle. 85 Anhand der Vehe85 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 47 ff. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 63 menz und Ausdauer, mit der die rechtsextremistische Szene Berlins dieses Anliegen seit Jahren verfolgt, lässt sich ablesen, dass ein solches Jugendzentrum längst zu einem Prestigeprojekt der "Autonomen Nationalisten" geworden ist. Nachdem weitgehend unbemerkt von der Pankower Treffpunkt Öffentlichkeit in Pankow im ersten Halbjahr kurzlebig 2010 vorübergehend ein Ladenlokal als Treffpunkt der örtlichen Szene betrieben worden war, versuchten "Autonome Nationalisten" im weiteren Verlauf des Jahres, in verschiedenen ihrer regionalen Schwerpunkte kleinere bis mittlere Immobilien anzumieten, zu pachten oder zu kaufen. Zu diesem Zweck wurde sogar ein vorgeblich sozial engagierter Verein gegründet, der als Tarnorganisation für diese Bemühungen der "Autonomen Nationalisten" dienen soll. In seiner Satzung gibt dieser Verein explizit die "Bereitstellung von Immobilien für Jugendliche und junge Erwachsene" als Zweck an. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass die "Autonomen Nationalisten" ihr Ziel der Errichtung eines "Nationalen Jugendzentrums" weiter verfolgen. Es ist zu erwarten, dass sie dabei ihre tatsächlichen Zwecke zu verbergen suchen. Daher informierte der Verfassungsschutz Berlin im August die Öffentlichkeit mit einer Pressemitteilung über die Anmietversuche, um unbewusste Vermietungen zu verhindern. 86 1. Mai - Demonstration mit neuer Strategie Neben den Bemühungen, Objekte für ein "Nationales Jugendzentrum" anLangfristige Planung zumieten, war der Fokus der "Autonomen Nationalisten" in der ersten Jahreshälfte auf die Durchführung einer Großveranstaltung am 1. Mai gerichtet. Die Demonstration unter dem Motto: "Unserem Volk eine Zukunft! Den bestehenden Verhältnissen den Kampf ansagen" war bereits im August 2009 angemeldet und langfristig vorbereitet worden. Bundesweit wurde kampagnenartig für die Demonstration im Rahmen eines "Antikapitalismus von "Anti-Kapitalismus von rechts" geworben. Dabei beließen es die "Autonorechts" men Nationalisten" nicht bei der bloßen schlagwortartigen Verwendung des Begriffes "Anti-Kapitalismus", sondern versuchten dieses Konzept mit Inhalten zu füllen. Diese Bemühungen, zu denen auch eine Veranstaltung am 10. Januar zählt, die unter dem Motto "Kapitalismus ist heilbar" in einem Schulungsraum der NPD-Parteizentrale stattfand, mündeten in einer im 86 "Autonome Nationalisten planen die Errichtung Nationaler Jugendzentren". www.verfassungsschutz-berlin.de/aktuell, datiert 2.8.2010. 64 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Internet abrufbaren 28-seitigen Broschüre. Unter dem Titel "Antikapitalismus von rechts" werden hierin Grundzüge einer "Nationalen und Sozialistischen Grundordnung" 87 dargelegt. Im Mittelpunkt des Interesses der "Autonomen Nationalisten" standen allerdings weniger inhaltliche Aspekte, sondern strategische Überlegungen, die sich mit der Durchführung der Demonstration beschäftigten. Nachdem Gegendemonstranten am 13. Februar in Dresden den jährlichen sogenannten "Trauermarsch" der rechtsextremistischen Szene verhindert hatten, sollte eine entsprechende Blockade am 1. Mai in Berlin unter allen Umständen vermieden werden. Vielsagend wurde schon im Vorfeld der Demonstration Broschüre "Antikapitalismus von rechts" angekündigt: "Wir sehen uns am 1. Mai auf der Straße. Egal wie und egal wo! Nationaler Sozialismus - jetzt!" 88 Flexible Zur Umsetzung dieser AnkündiDemonstrationstaktik gung wurde von Aktivisten der "Autonomen Nationalisten" eine Strategie entwickelt, die ein flexibles Reagieren auf Blockaden oder Polizei-Absperrungen ermöglichen sollte. Dazu gehörte, die Demonstrationsteilnehmer dezentral zum Versammlungsort zu leiten, bei "Demo-Training" Autonomer Nationalisten sich abzeichnendem Scheitern an verschiedenen Orten Ersatzveranstaltungen durchzuführen und ggf. auch einen gewaltsamen Durchbruchsversuch zu unternehmen. Im Vorfeld der Veranstaltung wurde zudem ein Demonstrationstraining durchgeführt und nach dem Vorbild linksextremistischer Autonomer ein "Ermittlungsausschuss" (EA) eingerichtet. 87 "Veranstaltung - Kapitalismus ist heilbar". Internetauftritt des "Nationalen Widerstands Berlin", datiert 11.1.2010. 88 "Aktionstage zum 1. Mai in Neukölln, Tempelhof und Kreuzberg durchgeführt". Internetauftritt des "Nationalen Widerstandes Berlin", datiert 29.4.2010. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 65 Am 1. Mai, dem Tag der Demonstration, waren in Berlin dann insgesamt Spontanversammlung etwa 960 Rechtsextremisten an den Aktionen der "Autonomen Nationalisauf dem Kurfürsten ten" beteiligt. 640 von ihnen fanden sich am geplanten Versammlungsort damm am S-Bahnhof Bornholmer Straße mit dem Ziel der Demonstration durch Prenzlauer Berg ein. Zusätzlich führten 320 Rechtsextremisten eine Spontanversammlung auf dem Kurfürstendamm durch. Letztere befanden sich ursprünglich auf der S-Bahn-Anfahrt zum Versammlungsort, stiegen dann jedoch plötzlich am S-Bahnhof Halensee aus und liefen im Laufschritt etwa 1,5 Kilometer zum Kurfürstendamm. Hier konnten sie von der Polizei gestoppt und in Gewahrsam genommen werden. Die eigentliche Demonstration startete verspätet und musste nach einigen hundert Metern wegen Blockaden der Gegenöffentlichkeit wieder umkehren. 89 Im Zusammenhang mit den Ereignissen rund um den 1. Mai in Berlin hat Ermittlungsverfahren die Staatsanwaltschaft Aachen Anklage gegen zwei Rechtsextremisten aus wegen Vorbereitung Nordrhein-Westfalen unter anderem wegen der Vorbereitung eines Sprengeines Sprengstoffan schlages stoffanschlages erhoben. Die beiden 20bzw. 25jährigen Männer waren auf dem Weg zur geplanten Demonstration in Prenzlauer Berg und sollen dabei Sprengkörper aus pyrotechnischen Gegenständen und Glasscherben mit sich geführt haben. Durch vorgeschaltete Polizeikontrollen konnten die Gegenstände sichergestellt und damit mögliche Personenund Sachschäden verhindert werden. Das Resümee des 1. Mai fiel innerhalb der rechts-extremistischen Szene Zwiespältiges Resümee zwiespältig aus. Die knapp ein Jahr vorbereitete, dann aber frühzeitig gestoppte Demonstration durch Prenzlauer Berg wurde überwiegend als Misserfolg betrachtet. Dagegen fielen die Reaktionen auf den Spontanaufmarsch auf dem Kurfürstendamm - obwohl er nicht mit der Versammlungsleitung abgestimmt war - positiver aus. Vor allem die Tatsache, dass man den zahlreichen Blockadeaufrufen zum Trotz tatsächlich, wenn auch nur kurz und im Laufschritt, demonstriert hatte, wurde von Teilen der Szene als Erfolg gewertet. Andere Stimmen kritisierten allerdings auch die dadurch entstandene Schwächung der Hauptveranstaltung, die mitverantwortlich für deren Scheitern gewesen sei. Unabhängig von diesen geteilten Reaktionen zeigten sich die strategischen Ansätze der dezentralen Anreise und des Durchführens von Spontanaktionen nach dem 1. Mai auch bundesweit bei anderen Veranstaltungen der rechtsextremistischen Szene. 89 Vgl. Aktuelle Entwicklungen "Langfristige Perspektive" statt "kurzatmiger Kampagnenpolitik": Berliner Linksextremisten setzen auf politische und organisatorische Strukturen", S. 110. 66 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Breiterer Aktionsrahmen mit veränderter Schwerpunktsetzung Externe Nach dem 1. Mai lag ein SchwerDemonstrationen punkt der Aktionen der "Autonomen Nationalisten" in der Beteiligung an rechtsextremistischen Demonstrationsund Propagandaaktivitäten. So engagierten sich größere Gruppen Berliner Rechtsextremisten an Aufmärschen in Hildesheim und Leipzig und führten beim sogenannten "Anti-Kriegstag" in Dortmund sogar Teile eines Demonstrationszuges an. Umfangreiche Neben den Demonstrationen lag der zweite Tätigkeitsschwerpunkt der "AuPropaganda tonomen Nationalisten" in der Ausarbeitung und Verbreitung rechtsextremistischer Propaganda. Hierfür bedienten sie sich nicht nur ihrer unter der fiktiven Bezeichnung "Nationaler Widerstand Berlin" unterhaltenen Internetpräsenz, sondern auch "traditionellen" Schmier-, Sprühund Klebeaktionen. Während die Webseite auch 2010 vor allem als szeneinterne Informationsplattform diente, richteten sich die Schmierereien und Plakate im öffentlichen Raum sowohl an Mitstreiter als auch an die Öffentlichkeit und insbesondere den politischen Gegner. Inhaltlich standen wiederholt geschichtsrevisionistische Themen im Mittelpunkt solcher Aktionen, wie zum Beispiel im Rahmen der sogenannten "Rudolf-Heß-Gedenkwochen". Der Ausbau und die "Professionalisierung" der Demonstrationsund Propagandaaktivitäten ging 2010 einher mit einem tendenziellen Rückgang aggressiver Aktionsformen wie der unmittelbaren Gewaltanwendung gegenüber dem politischen Gegner. Eine Beendigung oder Aufgabe des "Kampfes um die Straße" ist mit dieser temporären Konzentration auf andere Aktivitäten allerdings nicht verbunden. Vielmehr wurden von den "Autonomen Nationalisten" in einem erweiterten Aktionsspektrum lediglich andere Schwerpunkte als in den Vorjahren gesetzt. Das konfrontative Verhalten bei der 1. Mai-Demonstration in Berlin oder beim "Anti-Kriegstag" in Dortmund belegen das weiterhin hohe Aggressionspotential der "Autonomen Nationalisten". Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 67 Zudem kam es im Rahmen der "Anti-Antifa"-Arbeit auch 2010 wieder zu Störung von Schmierereien und Sachbeschädigungen an "linken Läden". Auch mit dem Veranstaltungen Stören von Veranstaltungen "gegen rechts" sollte eine Drohkulisse gegenüber politisch Andersdenkenden aufrecht erhalten werden. So tauchten etwa mehrere vermummte "Autonome Nationalisten" am 20. Januar bei einer Buchvorstellung zum Thema "Vermächtnis DDR" in Lichtenberg auf und störten die Veranstaltung mit einem Transparent und lauten Parolen. Dass die bei solchen Aktionen im Aggressionspotential Vordergrund stehende Provokation bleibt hoch jederzeit zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung eskalieren kann, wird von den "Autonomen Nationalisten" bewusst in Kauf genommen. Die Drohung mit physischer Gewalt aber auch deren tatsächliche Anwendung wird auch zukünftig integraler Bestandteil Störung einer Buchvorstellung in Lichtenberg des Selbstverständnisses und des Aktionsspektrums der "Autonomen Nationalisten" bleiben. Habitus der "Autonome Nationalisten" prägt das Netzwerk "Freie Kräfte" Nach den Verboten der "Kameradschaft Tor" (KTB) und der "Berliner Alternative Süd-Ost" (BASO) im Jahr 2005 sowie von "Frontbann 24" im Jahr 2009 hat das Phänomen "Autonome Nationalisten" die Kameradschaften endgültig als dominierendes Strukturmerkmal der aktionsorientierten rechtsextremistischen Szene Berlins abgelöst. Die konspirativen, wenig greifbaren Informationsund Organisationsstrukturen, vor allem aber das öffentliche Auftreten als "schwarzer Block" dienen zunehmend als "Vorbild" für das gesamte Netzwerk "Freie Kräfte". Auch die 2010 erstmals in Erschei"Freie Nationalisten nung getretene Gruppierung "Freie Berlin Mitte" Nationalisten Berlin Mitte" (FNBM) orientierte sich in ihrem Auftreten am Typus "Autonomer Nationalisten". Dabei entsprach sie aufgrund ihrer festen Gruppenbezeichnung, einer strengen Hierarchie und bestimmter Regularien eher einer rechtsextremistischen Kameradschaft. Mit ihrem öffentlichen Erscheinungsbild, vor allem aber ihrem aggressiven "Anti-Antifa"Gebaren bemühte sie in ihrer Außendarstellung jedoch ganz bewusst den Habitus der "Autonomen Nationalisten". 68 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Ihr Selbstverständnis gaben die FNBM auf ihrer Mitte April eröffneten Internetpräsenz bekannt: "Wir sehen uns als nationale Freiheitskämpfer. Als Kämpfer für ein freies Deutschland, unser oberstes Ziel ist es, Deutschland aus den Klauen der Alliierten zu befreien." 90 FNBM sucht Die Klebe-, Schmierund SprühakAuseinandersetzungen tionen, die Auseinandersetzungen mit "Antifa"-Gruppen und die diversen Demonstrationsteilnahmen, über die seitdem regelmäßig auf der Homepage der Gruppe berichtet wurde, ließen unschwer erkennen, dass der "Freiheitskampf" der FNBM "auf der Straße" stattfinden und vor allem in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner bestehen sollte. Übergriffe auf Mit dieser Zielrichtung und ihrem breiten Aktionismus wurden die FNBM Aktivisten recht schnell zur Zielscheibe auch links-extremistischer Gruppierungen. 91 Mehrere "Outings" im Internet und auf Plakaten, Protestveranstaltungen aber auch tätliche Übergriffe auf FNBM-Aktivisten waren die Folge. Möglicher Übergriff auf In den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit geriet die Gruppe schließlich Jugendeinrichtung mit einem angeblichen Übergriffsversuch mehrerer FNBM-Aktivisten auf eine Jugendeinrichtung in Weißensee. Obwohl nicht gesichert ist, ob die von der Polizei am 10. Juli in der Nähe der Einrichtung festgestellte Gruppe von FNBM-Angehörigen tatsächlich einen Übergriff geplant hatte, passte sich diese Aktion nahtlos in das "Anti-Antifa"-Gebaren der Gruppierung ein. Die große mediale Aufmerksamkeit, mit der die FNBM in der Folge bedacht wurden, stand allerdings in einem gewissen Widerspruch zu ihrem tatsächlichen Potential. Zu keinem Zeitpunkt verfügte die einer hohen Fluktuation unterworfene Gruppe über mehr als 10 bis 15 Anhänger. Plötzliche Auflösung Ohne Vorankündigung und nur ein halbes Jahr nach ihrer Gründung gab der FNBM die Gruppierung dann Ende September 2010 im Internet ihre Auflösung bekannt. Vorausgegangen war eine Durchsuchungsmaßnahme bei einem FNBM-Aktivisten wegen des Verdachts auf Sachbeschädigungen und des 90 "Über uns". Internetauftritt der "Freien Nationalisten Berlin Mitte", datiert 20.4.2010 91 Vgl. Aktuelle Entwicklungen "'Langfristige Perspektive' statt 'kurzatmiger Kampagnenpolitik': Berliner Linksextremisten setzen auf politische und organisatorische Strukturen", S. 120. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 69 Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. Daher dürfte die Hoffnung, sich weiteren staatlichen Exekutivmaßnahmen entziehen zu können, eine nicht unerhebliche Rolle für die Auflösung gespielt haben. Darauf, dass es sich hierbei tatsächlich nur um eine taktisch bedingte Scheinauflösung handelte, deutet auch hin, dass die Anhänger der Gruppierung weiter in der rechtsextremistischen Szene aktiv sind. Im November eröffneten FNBM-Aktivisten schließlich eine neue Internet"Nationale Bürger präsenz, auf der sie seitdem unter der neuen Bezeichnung "Nationale Bürbewegung Berlin" gerbewegung Berlin" bzw. "Nationalistische Befreiungsfront Berlin" (NBFB) firmieren. In wechselnden personellen Zusammensetzungen tritt die Gruppierung seitdem wieder regelmäßig bei rechtsextremistischen Veranstaltungen auf, wo sie zunehmend mit den "Autonomen Nationalisten" kooperiert. Eine Konkurrenz zu den "Autonomen Nationalisten" stellt sie trotz ihres anhaltenden Aktionismus nicht dar. Dafür verfügt die Gruppe und insbesondere deren Führungspersonal beim Gros der "Freien Kräfte" über keine hinreichende Anziehungskraft. Nachhaltige Wirkung des "Frontbann 24 - Verbots" Anders verhielt sich dies beim letzten Versuch eines formalen Organisationsaufbaus im Netzwerk "Freie Kräfte", der in den Jahren 2008 / 2009 in der kurzzeitigen Renaissance der Kameradschaftsstrukturen mündete. Aus einer Gruppe unzufriedener aktionsorientierter NPD-Anhänger aus Niederschöneweide erwuchs eine rechts-extremistische Organisation, die sich in Anlehnung an die Vorläuferorganisation der SA "Frontbann 24" nannte und binnen kurzer Zeit zwischen 40 und 60 Anhänger an sich binden konnte. 92 Da sich der "Frontbann 24" gegen die verfassungsmäßige Ordnung richtete OVG bestätigt Verbot und nach Zweck und Tätigkeiten den Strafgesetzen zuwider lief, wurde die Vereinigung am 5. November 2009 von der Berliner Senatsverwaltung für Inneres und Sport verboten. Die hiergegen erhobene Klage von "Frontbann 24"-Aktivisten wurde vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg am 10. Juni abgewiesen und die Rechtmäßigkeit des Verbots damit bestätigt. 93 92 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009, Berlin 2010, S. 63 ff. 93 OVG Berlin-Brandenburg, Az. OVG 1 A 4.09 vom 10.6.2010. 70 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Aktivisten ziehen Konnten unmittelbar nach dem Verbot noch gelegentliche gemeinschaftlisich zurück che Besuche rechtsextremistischer Veranstaltungen durch einige ehemalige Mitglieder und die Präsentation eines neuen Logos, bestehend aus dem Wort "Bruderschaft" in Verbindung mit gekreuzten Schwertern oder der sogenannten "Schwarzen Sonne", festgestellt werden, so versiegte der verbliebene Aktionismus Mitte des Jahres endgültig. Es verblieben nur noch wenige ehemalige "Frontbann 24"-Anhänger in der rechtsextremistischen Szene. Keine dauerhaften Das "Frontbann 24"-Verbot hatte damit im doppelten Sinne Erfolg. Zum Organisations einen wurde eine der am schnellsten wachsenden rechtsextremistischen strukturen Berliner Organisationen der jüngeren Vergangenheit wirkungsvoll verboten. Zum anderen sorgte die Verunsicherung in diesem Bereich des Rechtsextremismus für einen rapiden Schwund an Aktivisten. Ein Großteil der ehemaligen "Frontbann 24"-Mitglieder zog sich aus dem organisierten Rechtsextremismus zurück. Viele Anhänger hatten offenbar nur über legale Strukturen Zugang zur rechtsextremistischen Szene gefunden. Der Aufbau belastbarer Strukturen im Netzwerk "Freie Kräfte" wie beim "Frontbann 24" ist seither nicht festzustellen. Schwindende Popularität eines Szenelokals in Schöneweide Reduzierung auf Eng verbunden mit der verbotenen Kameradschaft "Frontbann 24" war der regionale Klientel Aufstieg eines Lokals in Niederschöneweide zum wichtigsten rechtsextremistischen Treffort in Berlin. Diesen Status konnte es 2010 allerdings nur noch bedingt halten. Nach wie vor dient das Lokal zwar als Rückzugsraum für Koordinierungsabsprachen oder zur Pflege persönlicher Kontakte. Dies beschränkt sich jedoch stark auf einen Personenkreis aus dem Netzwerk "Freie Kräfte", der vor allem aus den östlichen Bezirken der Stadt und angrenzenden Regionen stammt. Gruppenund regionenübergreifend konnte sich das Lokal nicht als Szenetreffort etablieren. Dies zeigte sich auch in einer 2010 deutlich gesunkenen Besucherfrequenz. Sogar ein Teil der Stammgäste wich auf andere Lokalitäten in der Umgebung aus, die nicht ausschließlich von Rechtsextremisten besucht werden. Weiterhin hohe Dessen ungeachtet verfügt das Lokal nach wie vor über eine hohe SymSymbolkraft bolkraft für die gesamte rechtsextremistische Szene Berlins. Eine Protestkundgebung linker Gruppierungen wie am 30. April unter dem Motto Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 71 "Zum Führer mit Zum Henker - Nazikneipen dichtmachen!" und die anhaltenden Forderungen nach einer Schließung des Lokals im Rahmen öffentlicher und politischer Debatten führen immer wieder zu Solidarisierungseffekten, die über die Stammgästeschaft des Lokals hinausgehen. Am 26. August forderte die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Treptow-Köpenick das Bezirksamt auf Antrag aller Fraktionen (außer der NPD) auf, alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um das Szene-Lokal so schnell wie möglich schließen zu können. 94 Hiergegen protestierten etwa 30 Rechtsextremisten öffentlich vor der BVV Treptow-Köpenick und der NPD-Bundesvorsitzende und BVV-Verordnete Udo Voigt gab eine Solidaritätsadresse zugunsten der Gaststätte ab. 95 5.3.2 Netzwerk "Rechtsextremistische Musik" unter unverändert hohem staatlichem Verfolgungsdruck Neben dem Netzwerk "Freie Kräfte" bildet das Netzwerk "RechtsextremistiBands wichtigste Säule sche Musik", das ca. 200 Personen umfasst, die zweite Säule des aktionsodes Netzwerks rientierten Rechtsextremismus in Berlin. Diesem Netzwerk gehören neben den Bands Personenzusammenschlüsse, die mit zum Teil unterstützenden Funktionen im Umfeld der Bands aktiv sind, und Liedermacher an. Letztere finden in der rechtsextremistischen Szene allerdings weniger Beachtung als die Bands. Da die Bedeutung der sonstigen, meist subkulturell geprägten Personenzusammenschlüsse in den letzten Jahren kontinuierlich abgenommen hat, wird das Netzwerk von den rechtsextremistischen Bands dominiert. Ein hoher staatlicher Verfolgungsdruck in den vergangenen Jahren (IndiAktivitäten rückläufig zierungsund Strafverfahren, Verbote und Auflösung von Konzerten etc.) hat dazu geführt, dass die Aktivitäten der rechtsextremistischen Musikszene in Berlin seit Jahren rückläufig sind. Berliner Bands nehmen allerdings weiterhin an Konzerten in anderen Bundesländern und im Ausland teil. Darüber hinaus beteiligten sich auch 2010 Berliner Rechtsextremisten an den anhaltenden Bemühungen der Szene, rechtsextremistische Musik und zugehörige Devotionalien über das Internet zu verbreiten. Rechtsextremistische Bands Der Kern der rechtsextremistischen Bandszene Berlins um die Gruppen Zusammensetzung "Deutsch, Stolz, Treue" ("D.S.T./X.x.X."), "Die Lunikoff-Verschwörung", weitgehend konstant "Legion of Thor" und "Kahlschlag" ist seit Jahren aktiv. An Popularität gewinnen konnte 2010 vor allem die Band "Second Class Citizen", obwohl deren bereits 2008 veröffentlichte CD zunächst auf wenig Resonanz stieß. 94 Drs. BVV Treptow-Köpenick VI/1561 vom 17.8.2010. 95 "Solidarität mit dem Wirtshaus "Zum Henker". Internetauftritt der NPD-Fraktion in der BVV Treptow-Köpenick, Aufruf vom 14.12.2010. 72 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Mit zahlreichen Live-Auftritten vor allem in den ostdeutschen Ländern, die beim Publikum gut ankamen, ist es der Band im vergangenen Jahr allerdings gelungen, sich in der rechtsextremistischen Musikszene zu etablieren. "Schiffbruch 88" Aus der sogenannten "National Socialist Black Metal"-Szene96 erregte im vergangenen Jahr eine Band mit dem Namen "Schiffbruch 88" öffentliche Aufmerksamkeit. Die Band glorifiziert in ihren Texten das nationalsozialistische "Dritte Reich" und ruft zu Gewalttaten gegen Personen jüdischen Glaubens sowie Angehörige anderer Nationen auf: "Wir von Schiffbruch tragen Stiefel und Bomberjacken, und verprügeln alle Nigger Juden und Kanaken. Auf jeder Party wird nur Rechtsrock gehört. Danach die Judenbude an der Ecke zerstört. Sieg Heil! Juda vereckeeeeeeeeeeeeeeeeeee!" 97 Indizierung Eine von "Schiffbruch 88" unter dem Titel "Melodien für 6 Millionen" veröffentlichte CD indizierte die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien im April 2010. 98 Tonträgerveröffentlichungen auf dem Tiefpunkt "Die LunikoffVer 2010 veröffentlichte lediglich die Berliner Band "Die Lunikoff-Verschwöschwörung" rung" einen Tonträger. Die zwei Lieder der Veröffentlichung "Fridericus Rex" waren allerdings nicht neu, sondern wurden bereits 2004 auf der CD "Höllische Saat" veröffentlicht. "Die Lunikoff-Verschwörung" beteiligte sich zudem mit drei Titeln an den Samplern "Die Deutschen kommen mit Freunden" und der Schulhof-CD "Freiheit statt BRD" des NPD-Landesverbandes MecklenburgVorpommern. Letztere wurde nur knapp eine Woche nach ihrem Erscheinen von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien zunächst vorläufig und 96 NSBM knüpft an neuheidnische und antichristliche Elemente an, wie sie auch in der grundsätzlich unpolitischen "Black Metal"-Szene vorkommen. Im Bereich des NSBM werden diese Elemente jedoch mit nationalsozialistischer Propaganda verknüpft. 97 Aus dem Lied "Wir von Schiffbruch" der CD "Melodien für 6 Millionen". 98 Indiziert laut BAnz. Nr. 66 vom 30.4.2010. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 73 im Oktober endgültig indiziert. 99 Ursächlich für die Entscheidung waren allerdings nicht der Beitrag der "Lunikoff-Verschwörung", sondern vier Titel anderer Bands, in denen der Nationalsozialismus verherrlicht und Minderheiten diskriminiert wurden. Alle übrigen Berliner Bands haben sich 2010 weder an Samplern beteiligt noch eigene Tonträger veröffentlicht. Einziges Konzert nur unter NPD-Deckmantel möglich Der staatliche Verfolgungsdruck ist entscheidend mitverantwortlich dafür, Auftritt auf dass die Konzerttätigkeit im Berliner Stadtgebiet seit Jahren auf niedrigem "Überfremdungs Niveau stagniert. 2010 fand lediglich ein rechtsextremistisches Konzert in kundgebung" Berlin statt. Organisiert wurde es nicht von Angehörigen des Netzwerkes "Rechtsextremistische Musik", sondern vom Berliner Landesverband der NPD. Am 18. September traten im Rahmen der sogenannten "Überfremdungskundgebung" der Partei drei Bands auf, darunter die Berliner Band "Kahlschlag". 100 Erneut Exekutivmaßnahmen Nicht nur die Berliner Bandszene sondern auch die Vertreiber rechtsextreErmittlungsverfahren mistischer Musik waren 2010 von Exekutivmaßnahmen betroffen. Im Januar gegen "X.x.X." wurden Ermittlungsverfahren gegen die Mitglieder der Band "X.x.X." wegen der auf der CD "Virus" veröffentlichten Texte eingeleitet.101 Am 14. April wurden bei der Durchsuchung eines CD-Presswerkes in Mittelhessen Stamper, Labelfilme, CDs sowie schriftliche Bestellund Vertragsunterlagen zu inkriminierten Liedgutproduktionen verschiedener rechtsextremistischer Bands beschlagnahmt. Auch eine Person, die in Berlin einen rechtsextremistischen Internethandel betrieb, soll einen Großteil ihrer CDs in diesem Presswerk herstellen lassen haben. Bei zwei Betreibern eines weiteren Durchsuchung bei rechtsextremistischen InternetInternetversand versandes in Berlin erfolgten am 13. Juli Durchsuchungsmaßnahmen. Neben ca. 6 500 Tonträgern wurden mehrere Videos (unter anderem "Der ewige Jude") und Buttons mit strafrechtlich relevanten Abbildungen aufgefunden. 99 Indiziert laut BAnz. Nr. 165 vom 29.10.2010. 100 Vgl. Aktuelle Entwicklungen "NPD auf Profilsuche", S. 64. 101 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009, Berlin 2010, S. 72 f. 74 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Internetradio Anfang November 2010 fanden in zehn Bundesländern, darunter auch Ber"WiderstandRadio" lin, Durchsuchungen statt. Den Betreibern des im Internet betriebenen rechtsextremistischen "Widerstand-Radios" wurde die Bildung einer kriminellen Vereinigung und Volksverhetzung vorgeworfen. 21 Beschuldigte wurden festgenommen, und es wurden zahlreiche Computer, Laptops, Festplatten, Mobiltelefone und Gegenstände, die nach vorläufiger Bewertung dem Waffengesetz unterliegen, beschlagnahmt. Finanzielle Interessen Die Ergebnisse dieser verschiedenen Durchsuchungsmaßnahmen dokumentieren die unveränderte Notwendigkeit staatlicher Repression gegen das Netzwerk "Rechtsextremistische Musik". Nur der hohe Verfolgungsdruck verhinderte, dass aus den Aktivitäten des Netzwerkes Strukturen oder eine breite Außenwirkung resultierten. Nicht zuletzt aus finanziellen Interessen wird sich die Szene dessen ungeachtet auch weiterhin darum bemühen, Wege für die Produktion und den Vertrieb rechtsextremistischer Musik zu finden. 5.4 Kurz notiert 5.4.1 Drohbriefe nach Demonstrationsblockade in Dresden "Kommando Die Ereignisse rund um den sogenannten "Trauermarsch", mit dem die 13. Februar" rechtsextremistische Szene jährlich versucht, das Gedenken an die Zerstörung Dresdens für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, waren vermutlich Auslöser aggressiver Drohgebärden in Berlin. 16 Privatpersonen und Vertreter von Parteien, die öffentlich zur Blockade des "Trauermarsches" am 13. Februar aufgerufen hatten, erhielten im Nachgang der Veranstaltung Briefe, in denen sie mit den Worten "...dein Leben interessiert uns brennend..." bedroht wurden. Als Absender der Briefe war ein fiktives "Kommando 13. Februar" aufgeführt, wodurch ein Bezug zum "Trauermarsch" in Dresden und damit zur rechtsextremistischen Szene angenommen wurde. Der Absender der Drohbriefe konnte bisher nicht ermittelt und damit keine Bezüge zum organisierten Rechtsextremismus in Berlin festgestellt werden. 5.4.2 Bundesministerium des Inneren prüft HNG-Verbot Vereinsrechtliches Das Bundesministerium des Inneren leitete 2010 ein vereinsrechtliches ErErmittlungsverfahren mittlungsverfahren gegen die "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V." (HNG) ein. Die HNG fördert und vermittelt den Kontakt zu rechtsextremistischen Straftätern und ist darum bemüht, sie während ihrer Haftzeit in der rechtsextremistischen Szene zu halten und nach einer Haftentlassung wieder in die Szene zu integrieren. Mit bundesweit ca. 600 Mitgliedern ist die HNG nach den rechtsextremistischen Parteien der mitgliederstärkste rechtsextremistische Personenzusammenschluss. In Berlin verfügt die HNG über ein Mitgliederpotential von ca. 20 Personen. (Hintergrundteil HNG) Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 75 Ausgangspunkt für das vereinsrechtliche Ermittlungsverfahren waren Hausdurchsuchungen Anhaltspunkte dafür, dass die Zwecke der HNG und ihre Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen und sie sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung richtet (SS 3 VereinsG). Am 7. September wurden im Zuge der Ermittlungen bei 29 HNG-Mitgliedern bundesweit Wohnungen durchsucht, unter anderem bei zwei Berliner Rechtsextremisten. 6. Exkurs: Rechtsextremisten nehmen gesellschaftliche Debatte um Muslimfeindlichkeit auf 102 Muslimfeindlichkeit in der gesellschaftlichen Debatte Migration und Integration waren die beherrschenden Themen der gesellschaftlichen Debatte der Bundesrepublik in der zweiten Hälfte des Jahres 2010. 103 In unterschiedlichen Medien wurden Ziele und Rahmenbedingungen, Erfolge und Misserfolge der Integration diskutiert. Die Diskussionen fanden ihren Höhepunkt in der Publikation eines Buches des ehemaligen Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin im Herbst des Jahres. Ein Teilaspekt der Debatte war die Frage, ob und wie mangelnde Integration von vielen Muslimen im Zusammenhang mit dem Islam stehe oder ob dies die Folge sozialer Missstände ist. Deutlich wurde, dass es sich um ein Thema von breitem gesellschaftlichem Interesse handelt, bei dem selbst über grundlegende Ausgangsannahmen kein Konsens herrscht. Entsprechend emotional wurde die Diskussion teilweise geführt. 102 Muslimfeindlichkeit soll hier verstanden werden als Feindschaft gegen Muslime, weil sie Muslime sind. Andreas Zick / Beate Küpper: Meinungen zum Islam und Muslimen in Deutschland und Europa. Ausgewählte Ergebnisse der Umfrage Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Europe (!). Internetauftritt der Universität Bielefeld, datiert 6.12.2009, S. 2. "Islamophobie" erscheint gegenüber "Muslimfeindlichkeit" als Begriff ungeeignet, da der Begriff zu sehr auf ein Angstgefühl ("Phobie") zielt. Zur Debatte um die Begriffe "Muslimfeindlichkeit", "Islamophobie", "Antiislamismus" und "Islamkritik" vgl. Armin Pfahl-Traughber: Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Antisemitismus und "Islamophobie". In: Armin Pfahl-Traughber (Hg.): Jahrbuch für Extremismus und Terrorismusforschung 2009/2010. Brühl 2010, S. 604-628, insbesondere S. 607 ff. 103 Das Thema polarisiert nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern. Vgl. die Warnung der geschäftsführenden Vorsitzenden der britischen konservativen Tories vor Islamophobie in Großbritannien, Spiegel online, 21.1.2011 und die Diskussion in den Niederlanden durch die Regierungsbeteiligung der Partij voor de Vrijheid (Partei für die Freiheit). 76 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Rechtsextremistische Gruppierungen und solche, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen bestehen, 104 versuchen, die Debatte für sich zu nutzen. Auch wenn sie sich in den Ergebnissen zum Ausmaß muslimfeindlicher Einstellungen in der Bevölkerung unterscheiden, haben verschiedene Untersuchungen im vergangenen Jahr die Relevanz dieser Frage herausgearbeitet. 105 So zeigt beispielsweise eine Studie der Universität Bielefeld, dass 46 % der Deutschen meinen, es gäbe "zu viele Muslime" in Deutschland, obwohl diese tatsächlich lediglich fünf Prozent der Gesamtbevölkerung darstellen.106 Diese Einstellungen werden verstärkt durch einen latenten Terrorismusverdacht, den 17 % der deutschen Bevölkerung gegen Muslime allgemein hegen nach dem Motto "Die Mehrheit der Muslime findet islamistischen Terrorismus gerechtfertigt". 107 Dieser Haltung versuchen Politik und Sicherheitsbehörden seit langem mit klarer Differenzierung entgegenzuwirken, indem sie darauf hinweisen, dass selbst innerhalb des Islamismus 108, der seinerseits nur von wenigen Muslimen getragen wird, nur ein Bruchteil der Personen im Bereich des islamistischen Terrorismus aktiv ist oder diesen befürwortet. 109 104 Vgl. Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 2009, S. 67 und Verfassungsschutbericht des Bundesministerium des Innern 2009, S. 135 105 So geht eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von über 50 % Verbreitung in der deutschen Bevölkerung aus, während Infratest dimap rund 35 % angibt; vgl. Infratest dimap im Auftrag für Report Mainz. In: Report Mainz: "Neue Studie: Islamfeindlichkeit in Deutschland nimmt zu". Internetauftritt des SWR, datiert 11.10.2010. Oliver Decker u.a.: Die Mitte in der Krise. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010. Berlin 2010, S. 122 ff. Zick / Küpper, a.a.O. Die Vorgängerstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung hatte Muslimfeindlichkeit noch nicht als eigenes Einstellungsmuster ausgewiesen und nur von "Migranten", nicht aber "Muslimen" gesprochen; Oliver Decker u.a.: Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellungen und ihre Einflussfaktoren in Deutschland. Berlin 2006. 106 Zum Folgenden: Zick / Küpper, a.a.O., S. 3 f. Im übrigen wächst der Anteil der Muslime entgegen mit Blick auf Kinderreichtum von Migranten oft geäußerten Behauptungen nicht. Haug / Stichs / Müssig, a.a.O. 107 Zick / Küpper, a.a.O., S. 4. 108 Zum Begriff "Islamismus" vgl. Hintergrundinformationen, S. 174. 109 Vgl. Brettfeld, Katrin / Wetzels, Peter: Muslime in Deutschland. Integration, Integrationsbarrieren, Religion sowie Einstellungen zu Demokratie, Rechtsstaat und politisch-religiös motivierter Gewalt. Hamburg, Juli 2007. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 77 Zwar führen Einstellungen nicht zwangsläufig zu Handlungen, doch kann die Art und Weise, wie das gesellschaftlich relevante Thema von Migration, Integration und Islam behandelt wird, einen Resonanzboden darstellen, den Einzelne als (Selbst-)Legitimation für ihre Taten nutzen. 110 So beklagen nicht nur die muslimischen Verbände vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Debatte eine Zunahme muslimfeindlicher Einstellungen und einen Anstieg muslimfeindlicher Äußerungen und Aktivitäten. 111 Rechtsextremismus und Rechtspopulismus In einigen europäischen Nachbarstaaten haben Bewegungen und Parteien zum Teil große Wahlerfolge erzielt, die sich inhaltlich auf Muslimfeindlichkeit konzentrieren. Sie setzen auf in der Bevölkerung vorhandene Ressentiments und einige von ihnen schüren diese durch aggressive Kampagnen. Auch in Deutschland haben 2010 islamkritische und -feindliche Personenzusammenschlüsse für öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt. Bei veränderten Rahmenbedingungen wie dem Auftreten eines charismatischen Politikers, einem von Islamfeinden skandalisierbaren Anlass sowie einer breiten gesellschaftlichen Proteststimmung infolge einer emotionalisierten Debatte ist nicht ausgeschlossen, dass muslimfeindlich ausgerichtete Parteien auch hier neue Protestwählerschichten gewinnen und Wahlerfolge erzielen. In einigen europäischen Ländern wie Österreich, Italien, der Schweiz haben es rechtspopulistische Gruppierungen bis in Koalitionsregierungen geschafft. Ihre einfachen Parolen und simpel erscheinenden Lösungen für komplexe gesellschaftliche Themen basieren auf einer monokausalen Schuldzuweisung an Muslime, wobei diesen weitgehend pauschal "Eroberungs"-Absichten, Bildungsunfähigoder -willigkeit, Gewaltneigung und eine mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbare Kultur unterstellt werden. Für diese Form der Parteien und Bewegungen hat sich der Begriff "Rechtspopulismus" eingebürgert. 110 Vgl. unter anderem infratest dimap, a.a.O.; Zick / Küpper, a.a.O., S. 4. 111 Als der Leiter des Berliner Zentrums für Antisemitismus "bestimmte Formen der gegenwärtigen Islamkritik" mit dem Antisemitismus des Kaiserreichs verglich, führte dies zu einer teils heftig geführten öffentlichen Debatte. Vgl. "Das hat einige sehr aufgeregt. Darf man Antisemitismus und antiislamische Ressentiments vergleichen? Ein Gespräch mit dem Berliner Historiker Wolfgang Benz über Motive der NS-Forschung, und alte, unüberwindliche Vorurteilsstrukturen". In: "Die Zeit" Nr. 47, S. 25. 78 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Einige Politikwissenschaftler sehen hier einen "Rechtsextremismus light". Tatsächlich gehe es bei der Muslimfeindlichkeit um "grundsätzliche Fremdenfeindlichkeit, oft auch um Rassismus", während andere Argumente wie die Kritik an konkreten Moscheebauten lediglich vorgeschoben seien. 112 In der Tat bestehen bei einigen dieser Gruppierungen tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht rechtsextremistischer Bestrebungen. So stellte das Verwaltungsgericht Düsseldorf für die "Bürgerbewegung pro Köln" "in einer Gesamtschau hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte[..] für den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen" fest. Zwar könnten die angesprochenen Themen "für sich genommen grundsätzlich durchaus Gegenstand eines verfassungstreuen Diskurses sein". Die "Bürgerbewegung pro Köln" lasse jedoch "in Verbindung mit der überwiegend drastischen Wortwahl und der nahezu vollständigen Ausblendung positiver oder auch nur neutraler Berichte über Ausländer und Migranten [...] keinen anderen Schluss als den zu, dass die Klägerin Ausländer bzw. Migranten generell bzw. solche bestimmter Volksoder Religionsgruppen bewusst als unerwünschte, nicht integrierbare Menschen zweiter Klasse darstellt, diese herabsetzen und in der Bevölkerung Ablehnung und Hass gegenüber diesen Personen schüren will." Die Bürgerbewegung setze "pauschalierend und undifferenziert" die Anwesenheit von Ausländern und den Bau von Moscheen mit Kriminalität und sozialen Problemen gleich. Durch die Art und Weise ihrer Bekundungen ginge die "Bürgerbewegung pro Köln" über die bloße Kritik an Verfassungswerten hinaus und richte sich gegen die Menschenrechte, insbesondere die Menschenwürde und das Diskriminierungsverbot. 113 Ebenso stellte das Verwaltungsgericht Hamburg am 13. Dezember 2007 fest, dass von der "Bürgerbewegung pro Deutschland" eine Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung ausgehe, die eine Einstufung als rechtsextremistischen Verdachtsfall durch den Verfassungsschutz Hamburg rechtfertige. 114 Wie das OVG Berlin-Brandenburg allerdings feststellte, ist Fremdenfeindlichkeit - analog Muslimfeindlichkeit - allein kein ausreichender Grund zur Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Vielmehr muss eine zielgerichtete Bestrebung, die freiheitliche demokratische Grundordnung abzuschaffen, also wesentliche Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Kraft zu setzen, zusätzlich nachgewiesen werden. 115 Damit hat das Gericht klargestellt, dass diese Debatte grundsätzlich unbeeinträchtigt von staatlichen 112 "Das ist Rechtsextremismus light". Interview mit dem Politologen Richard Stöss. In: "die tageszeitung" vom 16.7.2010 zu "Pro Berlin". 113 VG Düsseldorf, Az 22 K 3117/08 vom 10.11.2009. 114 VG Hamburg, Az. 8 K 3483/06 vom 13.12.2007, S. 13. Vgl. auch VG Berlin, Az. VG 1 K 296.09 vom 18.11.2010. 115 Vgl. OVG Berlin Brandenburg, Az 3 B.99 vom 6.4.2006. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 79 Eingriffen von der Gesellschaft zu führen ist, die sich auch mit überspitzten und provokanten Äußerungen als Teil der Meinungsfreiheit auseinanderzusetzen hat. Muslimfeindlichkeit im Rechtsextremismus 2010 stellte auch die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) das Thema Muslimfeindlichkeit in den Mittelpunkt ihrer Propaganda. Zuvor agitierte die rechtsextremistische Szene eher anlassbezogen gegen Muslime oder "den Islam". So meldeten in Berlin aktionsund parlamentsorientierte Rechtsextremisten im September 2004 eine Demonstration in Kreuzberg unter dem Motto "gegen islamische Zentren - Berlin bleibt deutsch" an und ab dem Jahr 2006 engagierten sich verschiedene rechtsextremistische Gruppierungen, darunter auch der örtliche NPD-Kreisverband mit einigen Aktionen gegen den Moscheebau in Pankow-Heinersdorf. 116 Deutlich wird der neue Themenschwerpunkt an der erstmaligen Aufnahme von "Islam" und "Islamisierung" in das NPD-Parteiprogramm auf dem Bundesparteitag am 4./5. Juni 2010 in Bamberg. Darin wird "Anti-Islamisierung" strategisch auf die gleiche Ebene gehoben wie die traditionellen Themen "Fremdenfeindlichkeit" und "Antiamerikanismus". "Der ethnischen Überfremdung Deutschlands durch Einwanderung ist genauso entschieden entgegenzutreten wie der kulturellen Überfremdung durch Amerikanisierung und Islamisierung." Mit der stets wiederholten Behauptung einer muslimischen Eroberungsstrategie ("Landnahme" oder "Imperialismus") passten die Rechtsextremisten die Agitation gegen Muslime in ihre bisherige fremdenfeindliche Agitation ein und schürten "Überfremdungs"-Ängste. "Keine hiesige Ausländergruppe erzeugt bei den Deutschen soviel Unbehagen wie die fremdartigen Moslems. [...] Es ist ein offenes Geheimnis, daß das Gros der muslimischen Einwanderer ein bildungsloses Subproletariat ist, das nur am Tropf des Sozialstaats hängt. [...] Es ist offensichtlich, dass die Gewaltneigungen, Bildungsdefizite und Sozialschmarotzereien vieler Moslems eine Folge ihrer religiös-kulturellen Prägung sind." 117 116 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 55 f. sowie Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2006. Berlin 2007, S. 19 f. Die Demonstration im Jahr 2004 wurde vom Polizeipräsidenten in Berlin verboten, der Bescheid nach Klage der NPD durch das Bundesverfassungsgericht bestätigt. 117 "Niemals deutsches Land in Moslem-Hand!". Internetauftritt der NPD, datiert 7.1.2010. 80 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 In zahlreichen Veröffentlichungen verunglimpft die Partei Muslime und den Islam und stellt eine "grundsätzliche Europaunfähigkeit des Islam" 118 fest. Insbesondere die absichtliche Verwischung der Unterscheidung zwischen der Religion Islam und der politischen Ideologie Islamismus 119 soll den Islam als Ganzes in die Nähe von Extremismus und Terrorismus rücken und Ängste in der Bevölkerung schüren. "Hier zeigt sich, daß der Islam im Reisegepäck von Millionen Fremden kein harmloses Mitbringsel zur Identitätspflege ist, sondern daß diese Religion das mentale Rüstzeug zur kulturellen Eroberung und Inbesitznahme fremden Landes liefert. Die feinsinnige Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus kann man sich sparen, derzufolge der Islam gut und friedlich und nur der Islamismus schlecht und militant ist. Nicht wenige IslamKenner meinen, dass der Islamismus den Islam nicht missbraucht, sondern nur sein wahres Wesen enthüllt. Moslems haben neben der Pflicht zur Glaubensverteidigung auch die Schuldigkeit, den Islam in alle Winkel der Welt zu tragen und die Nichtmuslime zu unterwerfen." 120 Spannungen im Rechtsextremismus: Islamoder Judenfeindschaft Muslimfeindliche Gruppierungen unterscheiden sich von den rechtsextremistischen Gruppierungen insbesondere auch dadurch, dass sie sich betont Israel-freundlich geben, da sie im Staat Israel einen Vorposten des gemeinsamen Kampfes gegen den Islam sehen. Sie lehnen den Antisemitismus der rechtsextremistischen Gruppen eindeutig ab. Aufgrund der großen öffentlichen Aufmerksamkeit und der zum Teil erreichten Wahlerfolge muslimfeindlicher Parteien in anderen europäischen Ländern stellen einige Wissenschaftler die Frage, ob dies Einfluss auf die rechtsextremistische Szene haben werde. "Noch sind die USA und Israel der Erzfeind des Rechtsextremismus. Aber, ausgehend von den weitaus erfolgreicheren Rechtspopulisten mit dem Niederländer Pim Fortuyn als Vorreiter, tritt zunehmend der Islamismus an deren Stelle." 121 118 "Minarettbau in der BRD. Argumentationshilfe für Nationalisten". Internetauftritt der NPD, datiert 12.2.2010. 119 Vgl. Hintergrundinformation "Ideologie, Islamismus", S. 174. 120 "Niemals deutsches Land in Moslem-Hand!". Internetauftritt der NPD, datiert 7.1.2010. 121 Karin Priester: Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Europa. In: Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 44/2010 vom 1. November 2010, S. 33-39, hier: S. 39. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 81 Tatsächlich hat diese Frage bereits für Spannungen unter rechtsextremistischen Gruppierungen gesorgt. Bislang ist eine pro-israelische Haltung unter Rechtsextremisten nur schwer vermittelbar. Bei der rechtsextremistischen "Kontinent Europa-Stiftung" (KES) 122 führte ein Streit um die Positionierung zwischen Islamund Judenfeindschaft beispielsweise 2007 zum Rücktritt eines Vorstandsmitglieds. Deren seit April 2007 in Berlin wohnender Gründer, der auch dem Berliner Landesverband der "Bürgerbewegung pro Deutschland" vorsteht, prangert den Antisemitismus "traditioneller" rechtsextremistischer Gruppierungen, die er "NS-Rechte" nennt, an. In den letzten Jahren war er Mitglied in verschiedenen rechtsextremistischen Gruppierungen wie der NPD oder der "Deutschen Volksunion" (DVU). "Gerade ein Patriot muss heute sehen, wie es zu einem Miteinander zwischen Deutschland und Israel kommen kann [...] Es ist mir völlig unverständlich, warum die NS-Rechte stets das Bild des modernden [!] und Menschenrechte verletzenden Israeli herausarbeitet [...] Eines muss uns Europäern klar sein. Es geht heute um die Frage der Vorherrschaft des Islam. [...] Der Islam möchte erst das kleine Israel unterwerfen und islamisieren und danach Europa." 123 Bei "traditionellen" Rechtsextremisten wie der NPD stößt diese Argumentation auf heftige Gegenreaktionen: "Konkret heißt das: der Jude ist nicht plötzlich mein Freund, weil ich innenpolitisch gegen Moslems bin, und der Moslem nicht mein Freund, weil ich außenpolitisch gegen USrael bin." 124 Der Gründer der KES rief schließlich zu einer "Pilger-Reise" nach Israel auf, um anschließend in Europa einen "Kreuzzug" gegen den Islam zu führen. "Für ein Erlebnis, das uns stark mach[t] für einen politischen Kreuzzug im eigenen Land, ohne des das Abendland vom hereindrängenden Islam zerstört wird." 125 122 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 81 f.. 123 Patrick Brinkmann: "Den inneren Kompass finden". Internetauftritt von PRO Deutschland, datiert 19.3.2010. 124 "Niemals deutsches Land in Moslem-Hand!". Internetauftritt der NPD, datiert 7.1.2010. 125 Patrick Brinkmann: "Den inneren Kompass finden". Internetauftritt von PRO Deutschland, datiert 19.3.2010. 82 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Die NPD kritisierte die Reise, da es eindeutig sei, "[...] dass der Kampf gegen die Überfremdung Europas durch zionistische Kreise zum Kampf gegen den Islam umfunktioniert werde." 126 Für die NPD ist eine Revision ihrer bisherigen ideologischen Ausrichtung trotz der oben beschriebenen aktuellen muslimfeindlichen Schwerpunktsetzung in nächster Zeit nicht zu erwarten. Für sie stehen weiterhin die USA und "die Juden" im Fokus ihres Feindbildes. In einer kruden, von Verschwörungstheorien geleiteten Argumentationskette, die sich für eingängige Parolen kaum eignet, versucht die NPD nachzuweisen, dass auch hinter der von ihr als Problem ausgemachten, derzeitigen "Islamisierung" Deutschlands lediglich die alt bekannten Feinde stecken. Aus ihrer Sicht ist der Islam von sich aus imperialistisch, wird jedoch von den USA und Israel lediglich benutzt, um ihre imperialistische Politik zulasten des deutschen Volkes betreiben zu können. "Bemerkenswert ist, dass dieses falsche und verzerrende Bild auch von westlichen Geheimdiensten im Rahmen einer die weltweite US-Hegemonialpolitik legitimierenden Desinformationskampagne verbreitet wird. [...] Die Türkei und die arabischen Quellländer der muslimischen Migration sind wichtige Operationsgebiete der USA. [...] Zur inneren Stabilisierung der Türkei unter Aufrechterhaltung sozialer Ungerechtigkeit, von Ausbeutung und Unterdrückung im Inneren zwingen die US-Amerikaner die Europäer und besonders uns Deutsche, den sozialen Sprengstoff der Türkei aufzunehmen und durchzufüttern. Als Abfallprodukt nehmen die US-Strategen gerne in Kauf, dass Deutschland überfremdet wird. Dieses Vorgehen kann als ein modifizierter Morgenthau-Plan gewertet werden." 127 Im aktionsorientierten Rechtsextremismus Berlins, in dem Muslimfeindlichkeit bislang nur anlassbezogen eine Rolle spielt, wird dieses Thema lediglich als Spielart "klassischer" fremdenfeindlicher Argumentation aufgegriffen. In einem Flugblatt, mit dem "Autonome Nationalisten" gegen ein islamistisches "Islamseminar" vom 24. bis 26. Dezember in Neukölln protestierten, schlussfolgern sie: 126 "Reise nach Jerusalem". Internetauftritt der NPD, datiert 13.12.2010. 127 "Minarettbau in der BRD. Argumentationshilfe für Nationalisten". Internetauftritt der NPD, datiert 12.2.2010. Aktuelle Entwicklungen - Rechtextremismus 83 "Einen Ausweg aus dieser Situation kann es nur geben, wenn sich das Deutsche Volk endlich gegen Überfremdung und Umerziehung zur Wehr setzt und Fremde dort hinschickt, wo sie hingehören, nämlich raus aus Deutschland!" 128 In diesem Sinn macht die NPD auch keinen Hehl daraus, dass es ihr mit dem zunehmenden Aufgreifen muslimfeindlicher Argumentation allein um Wahltaktik und die Verbreitung fremdenfeindlicher Ressentiments geht. "Die nationale Opposition ist also wahltaktisch gut beraten, die Ausländerfrage auf die Moslemfrage zuzuspitzen [...] und die Moslems als Projektionsfläche für all das anzubieten, was den Durchschnittsdeutschen an Ausländern stört. [...] Salopp formuliert: Man hat die Moslems zu schlagen um noch ganz andere Ausländergruppen politisch zu treffen." 129 In Nordrhein-Westfalen führte die NPD daher explizit einen "Anti-MoslemWahlkampf". 130 Das marginale Ergebnis dieses Wahlkampfes (0,7 % der Zweitstimmen) zeigt, dass zumindest für die NPD eine Instrumentalisierung der Muslimfeindlichkeit bisher nicht zu Erfolgen führt, zumal ihr in den neuen und nicht nur aus taktischen Gründen muslimfeindlichen Parteien eine Konkurrenz bei Wahlen erwachsen ist. 128 "Hass-Prediger Pierre Vogel in Berlin". Rechtsextremistisches Internetportal, Aufruf am 22.1.2011. Vgl. hierzu auch Aktuelle Entwicklungen "Aktivitäten im politischen Salafismus", S. 24. 129 "Niemals deutsches Land in Moslem-Hand!". Internetauftritt der NPD, datiert 7.1.2010. 130 "NPD-NRW will den Volkszorn gegen Westerwelle mobilisieren". Internetauftritt der NPD, datiert 20.2.2010. 84 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 7. Linksextremismus 7.1 Personenpotentiale und Straftaten Personenpotential Das Personenpotential linksextremistischer Organisationen ist mit ca. 2 260 Personen leicht gestiegen (2009: ca. 2 200). Die Zahl der aktionsorientierten, auch gewaltbereiten Personen, zu denen auch die Autonomen gehören, blieb mit ca. 1 100 Personen gegenüber 2009 unverändert. Von diesen sind ca. 950 Personen Autonome, weitere ca. 150 gehören kleineren anarchistischen Gruppierungen an. Die Zahl der nicht-gewaltbereiten Personen stieg von ca. 750 Personen 2009 auf ca. 860 im Jahr 2010. Zugenommen hat hier die Mitgliederzahl der "Roten Hilfe e.V." von ca. 540 auf ca. 650 Personen. Das Potential im linksextremistischen Parteienbereich und in den innerparteilichen Zusammenschlüssen sank dagegen von ca. 370 Personen 2009 auf ca. 300 Personen 2010. Gesamtpotential linksextremistischer Personenzusammenschlüsse: ca. 2 260* Linksextremistische Parteien und 300 innerparteiliche Zusammenschlüsse Nicht-gewaltbereite Linksextremisten 860 Aktionsorientierte, auch gewaltbereite Linksextremisten 1100 0 200 400 600 800 1000 1200 1400 Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 85 Personenpotentiale einzelner Personenzusammenschlüsse* Berlin Bund 2009 2010 2009 2010 Gesamt 2 220 2 260 31 900 32 200 Aktionsorientierte auch gewaltbereite 1 100 1 100 6 600 6 800 Linksextremisten, davon Autonome 950 950 Sonstige 150 150 Nicht-gewaltbereite Linksextremisten, 750 860 25 300 25 400 davon "Marx 21" 60 60 "Sozialistische Alternative e.V." 50 50 "Rote Hilfe e.V." 540 650 Sonstige 100 100 Linksextremistische Parteien und 370 300 s.o. s.o. innerparteiliche Zusammenschlüsse * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotentiale ab. 86 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Fallzahlen Politisch motivierte Kriminalität - links* 2009 2010 Terrorismus - - Gewaltdelikte, davon 417 208 Sicherheitsbehörden 209 131 Bildungspolitik 9 11 gegen rechts 61 45 Umstrukturierung 81 34 sonstige Delikte, davon 875 615 Sicherheitsbehörden 148 86 Bildungspolitik 49 20 gegen rechts 206 162 Umstrukturierung 151 121 Gesamt, davon 1 292 823 Sicherheitsbehörden 357 217 Bildungspolitik 58 31 gegen rechts 267 207 Umstrukturierung 232 155 * Auszug aus dem Bericht "Lagedarstellung der Politisch motivierten Kriminalität in Berlin für das Jahr 2010" des Landeskriminalamtes Berlin (LKA). Der vollständige Bericht ist im Internet eingestellt unter www.berlin.de/sen/inneres/sicherheit/ statistiken/index.html. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 87 7.2 "Langfristige Perspektive" statt "kurzatmiger Kampagnenpolitik": Berliner Linksextremisten setzen auf politische und organisatorische Strukturen Nachdem das Jahr 2009 durch einen deutlichen Anstieg an politisch links motivierten Gewalttaten geprägt war, setzten aktionsorientierte Linksextremisten 2010 stärker auf politische und organisatorische Strukturen. Parallel zu der internen Debatte um Sinn und Grenzen von Gewalt 131 richtete die Szene ihre Aktivitäten - zum Teil - wieder stärker an weniger gewalttätigen oder zielgerichteteren militanten Aktionsformen aus. Aber auch 2010 wurden einige, zum Teil schwere Gewalttaten wie zum Beispiel mittels Gaskartuschen begangen. Insbesondere bei größeren Demonstrationen gingen aktionsorientierte Vernetzung und inter linksextremistische Gruppierungen wie die "Antifaschistische Linke Berne Organisierung lin" (ALB) wieder anlassbezogene Bündnisse mit nicht-extremistischen Akteuren ein. Daneben bemühte sich die aktionsorientierte Szene, die von den Autonomen dominiert ist, um überregionale und regionale Vernetzung auf der Grundlage dauerhafterer Strukturen. Hier spielten in Berlin die vor einigen Jahren eingerichteten, 2010 professionalisierten "Autonomen Vollversammlungen" (AVV) eine wichtige Rolle. Es entspricht nicht dem Selbstverständnis der grundsätzlich organisationskritischen Autonomen, Strukturen, feste Funktionen und Abläufe zu installieren. Frühere Ansätze sich zu organisieren, scheiterten meist oder führten zu szeneinternen Spaltungen. Durch dieses Umdenken versuchte die linksextremistische Szene Berlins, ihre personelle, thematische und strategische Zersplitterung der vergangenen Jahre 132 zu überwinden und eine langfristigere Handlungsfähigkeit zu erreichen. Aktionsorientierte Gruppierungen nutzten die im Jahr 2010 ausgebauten Organisationsformen möglicherweise auch zur Rekrutierung neuer Mitglieder. 131 Vgl. S. 121. 132 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 81 ff. 88 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Rückgang der politisch motivierten Gewalt Die auffälligste Entwicklung war der deutliche Rückgang der politisch motivierten Gewalt von 471 (2009) auf 208 (2010) Delikte. Dies zeigt sich insbesondere an den politisch motivierten Brandstiftungen an PKW, einer seit Jahren in der linksextremistischen Szene vorherrschenden "Aktionsform". (2009: 145 Brandstiftungen an Fahrzeugen, 2010: 44). Auch bei der revolutionären 1. Mai-Demonstration war ein Rückgang an Gewalt zu verzeichnen. Gleichwohl wurden auch 2010 schwere Gewalttaten verübt. Die 2009 für Anschläge verwendeten Gaskartuschen (Szenejargon "Gasakis") wurden auch Anfang 2010 eingesetzt. Insgesamt wurden sieben Anschläge mit "Gasakis" verübt. Genauso plötzlich wie diese Anschlagsform aufkam, hörte sie ab Februar auf. Für den Rückgang der Brandstiftungen existieren unterschiedliche Erklärungsansätze. Neben dem starken Repressionsund Präventionsdruck der Berliner Polizei hat zum einen die politische und gesellschaftliche Debatte der vergangenen Monate möglichen Tätern verdeutlicht, dass sie sich nicht auf Unterstützung oder breite Zustimmung berufen können. Zum anderen findet in der linksextremistischen Szene eine verstärkte Reflexion der Gewalt statt, die auch die Frage stellt, inwieweit Brandstiftungen ohne thematischen Bezug Sinn machen. Schließlich sorgten der lange, kalte und "helle" Winter mit einer geschlossenen Schneedecke bis in den März für schlechte Tatgelegenheitsstrukturen, und die abnehmende Medienpräsenz des Themas senkte die Zahl der möglichen Trittbrettfahrer. Neben der Diskussion um Sinn und Vermittelbarkeit von Gewalt könnte der Rückgang der Gewalttaten 2010 auch auf das Bemühen um eine politischere Arbeit in langfristiger ausgerichteten organisatorischen Strukturen zurückzuführen sein. Interne Organisierung soll langfristige Perspektive sichern Kampagnen der Ausgangspunkt der wiederholten Auseinletzten Jahre ohne andersetzung mit der eigenen Binnenorgalangfristige Wirkung nisation war offensichtlich die Erkenntnis relevanter Gruppen des aktionsorientierten Spektrums, dass die bisherigen Strategien keine langfristige Wirkung erzielten. Oftmals zusammenhanglose Gewalttaten und anlassbezogene Kampagnen, wie die Proteste gegen den NATO-Gipfel in Straßburg und Baden-Baden oder gegen den Umweltgipfel in Kopenhagen, waren die Strukturmerkmale der vergangenen Jahre. 133 133 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 100 f. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 89 Tragfähigere Strukturen sollten nun dazu führen, die "kurzatmige Kampagnenpolitik" abzulösen und insgesamt handlungsfähiger zu werden. Die Akteure gingen von der Annahme aus, dass es einer intern gut organisierten Gruppe leichter falle, ihre Positionen abzustimmen und zu artikulieren, Veranstaltungen zu organisieren und Menschen zu mobilisieren. Selbstkritisch stellten "Anonyme Autonome Berlin" bereits Ende 2009 in einer auf dem überregionalen "Autonomen-Kongress" in Hamburg veröffentlichten Analyse fest: "Die autonome Linke ist durch eine große Fluktuation und Vereinzelung geprägt. Neben wenigen, die sich in festen Strukturen organisieren, gibt es viele Unorganisierte. In der politischen (Zusammen-) Arbeit führt dies häufig zu fehlender Verbindlichkeit und Verlässlichkeit. [...] Autonome Politik ist häufig von kurzatmiger Kampagnenpolitik geprägt, die auf bestimmte Ereignisse abzielt, anstatt langfristige Perspektiven aufzumachen. [...] im größeren Rahmen gesehen lässt sich kein roter Faden erkennen. Letztlich drehen sich die einzelnen Gruppen mit all ihren Spezialthemen doch immer wieder im Kreis." 134 Das bislang vorherrschende "Event-Hopping" der linksextremistischen Szene wird kritisiert und eine Perspektive in Form einer "gemeinsame[n] Utopie" gefordert: "Events und Kampagnen werden mit einem großen logistischen Aufwand inszeniert und laden zum Bewegungskonsum ein. Zurück vor Ort haben die Gruppen, sofern es überhaupt Gruppen sind, bestenfalls ein gutes Gefühl für eine Weile, aber keine gemeinsame Utopie [...] Die Großereignisse bestechen zwar insgesamt durch eine Massensichtbarkeit, man spürt sich mächtig, aber überdecken damit, dass insgesamt eine Perspektive fehlt." 135 Die "Revolutionären Aktionszellen" (RAZ) stellten fest, es fehle "an gut strukturierten Keimzellen einer revolutionären Organisation, die in der Lage ist, Signale eines sozial-revolutionären Aufstands zu setzen. [...] Protest bleibt mit schlechter Regelmäßigkeit in den Anfängen stecken, ebbt ab, bis er vollends zum Erliegen kommt." 136 134 "Anonyme Autonome Berlin": "Evergreens in den Organisierungsdebatten der autonomen Linken". Linksextremistische Kampagnenseite, datiert 5.11.2010. 135 "Freie Radikale / Freunde Dora Kaplans": "Hoffnung, Militanz & Perspektive". In: "INTERIM" Nr. 721 vom 10.12.2010, S. 9. Dora Kaplan verübte 1918 ein Attentat auf Wladimir Iljitsch Uljanow Lenin. 136 "Revolutionäre Aktionszellen (RAZ) - Zelle Mara Cagol": "Kommunique der Revolutionaeren Aktionszellen (RAZ)". In: "radikal" Nr. 163, 2010, S. 44. 90 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Auch im Zusammenhang mit Großereignissen wird eine bessere Selbstorganisierung und eine gesteigerte Radikalität gefordert: Feste Verantwortlich "Das autonome Prinzip "Organisiere dich selbst" ist überholt. Die Leute keiten und Arbeits treffen sich nicht (mehr) einfach so und organisieren sich. Wir müssen so abläufe wie Block G8 anfangen, den Leuten Angebote zu machen, sich zu organisieren - nur radikaler eben." 137 Nach intensiven Diskussionen zu Beginn des Jahres 2010 legten einige autonome Gruppierungen trotz ihres eigentlich organisationskritischen Selbstverständnisses Verantwortlichkeiten und Arbeitsabläufe fest. Im April veröffentlichte die ALB eine Broschüre mit dem Titel "Antifa... ...und wie!? Tipps und Trix zur politischen Praxis", in der das Bemühen um einen langfristigen politischen Ansatz deutlich wurde. Die ALB hob hervor, "[...] dass für das Erreichen gesellschaftlicher Veränderung ein langer Atem notwendig ist und Organisierungsprozesse zwar einerseits stets wie von selbst im Raum stehen, wenn sich Menschen zusammenschließen; andererseits lässt sich dennoch allein aus Spontaneität oder 'aus dem Bauch' wohl auf Dauer kein politischer Ansatz verfolgen." 138 Die Verfasser beschreiben es als sinnvoll, sich mit "Gleichgesinnten zusammenzuschließen und in einer Gruppe zu organisieren". 139 Gründer einer neuen Gruppe sollten sich beispielsweise überlegen, ob sie lieber in einer offenen, halboffenen oder geschlossenen Organisationsstruktur auftreten wollen. Die Broschüre beschreibt, wie Veranstaltungen vorbereitet und durchgeführt und wie Öffentlichkeitsund Pressearbeit betrieben werden. Es sei wichtig, seine Positionen auf Flyern, in Interviews oder Presseerklärungen der Öffentlichkeit zu vermitteln: 137 "Anonyme Autonome Berlin": "Evergreens in den Organisierungsdebatten der autonomen Linken". Linksextremistische Kampagnenseite, datiert 5.11.2010. 138 "Antifaschistische Linke Berlin": "Kein Ende in Sicht". In: "Antifa... ...und wie!? Tips und Trix zur politischen Praxis", o.O. 2010, S. 84, Fehler im Original. 139 "Antifaschistische Linke Berlin": "Das beste Mittel gegen Rechts ist linke Politik! Die Notwendigkeit der Organisierung.". In: "Antifa... ...und wie!? Tips und Trix zur politischen Praxis", o.O. 2010, S. 4. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 91 "Die Verbreitung von Informationen ist eine der wichtigsten Aufgaben einer (radikalen) Politik. Nur so können Menschen aufgeklärt und somit damit ermuntert werden, selbst aktiv zu werden!" 140 Autonome Vollversammlungen werden institutionalisiert Ein weiterer Schritt in Richtung dauerhafterer, verlässlicher Strukturen war 2010 die "Professionalisierung" "Autonomen Vollversammlungen" (AVV). In den an wechselnden Örtlichkeiten der Szene tagenden Vollversammlungen nehmen meist rund 50 Einzelpersonen und Mitglieder linksextremistischer Zusammenschlüsse wie der ALB, der "Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin" (ARAB) und von "Wir bleiben alle" (WBA) teil. Die Treffen dienen dazu, Erfahrungen auszutauschen, sich über anstehende Planungen zu verständigen und grundlegende Themen wie linksextremistische Militanz oder Fragen der Organisierung und Vernetzung zu diskutieren: "Einerseits ist die AVV ein Ort für Mobilisierung, Vernetzung und Koordination von Aktionen [...] Es sollen inhaltliche Themen besprochen und sie soll als Plattform zum gegenseitigen persönlichen Austausch dienen. Auch für Analysen, Eindrucksschilderungen und Nachbereitungen von Aktionen, die häufig zu kurz kommen, muss die AVV Platz bieten. Im Idealfall soll der gegenseitige Austausch der Beteiligten, die aus verschiedensten Zusammenhängen [...] kommen, dazu führen gemeinsame Arbeitsgruppen und Aktionen aufzubauen." 141 Die AVV werden nicht von einer festen Gruppe vorbereitet, sondern haben "do it yourself" "Do it yourself"-Charakter: Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung Charakter der "Autonomen Vollversammlungen" werden von Freiwilligen von Fall zu Fall übernommen. 140 Antifaschistische Linke Berlin": "Kein Ende in Sicht". In: "Antifa... ...und wie!? Tips und Trix zur politischen Praxis", o.O. 2010, S. 84. 141 "m": "Berlin: Autonome Vollversammlung 13.07.2010". Internetportal, datiert 14.7.2010. 92 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Professionalisierung Im Zuge der Diskussion um tragfähigere der AVV Strukturen wurden die seit 2007 tagenden AVV professionalisiert. Sie haben sich auf einen Monatstakt eingependelt, es werden Einladungen erstellt, Protokolle geschrieben und nachbereitende Texte verfasst. Zu den Terminen veröffentlichen die organisierenden Gruppen Einladungen mit einer Sammlung von Diskussionsthemen wie Demonstrationskonzepte, "Antirepression" oder die Vernetzung mit AVV in anderen Städten. Flyer und Poster zum Ausdrucken werden im Internet bereitgestellt. Die Sitzungsprotokolle werden auf einer eigens für die AVV erstellten Homepage und meist auch auf Szeneportalen sowie unregelmäßig in der linksextremistischen Zeitschrift INTERIM veröffentlicht. Überregionale Darüber hinaus waren die Bemühungen erfolgreich, die AVV überregional Vernetzung zu vernetzen. Gruppierungen aus der Berliner autonomen Szene stehen in Kontakt zu Linksextremisten aus Bremen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen, die das Konzept der "Autonomen Vollversammlungen" in diesem Jahr übernahmen. Insbesondere zwischen Berlin und Hamburg tauschen sich Linksextremisten rege aus und besuchen gegenseitig ihre Vollversammlungen. Für den Augusttermin wurde mit einem Einladungsflyer zu den Vollversammlungen in beiden Städten eingeladen. Neben der verbesserten Vernetzung der Szenen beider Städte zeitigte diese Zusammenarbeit bislang keine konkreten kurzfristigen Ergebnisse. Die Treffen haben sich als regelmäßige Vernetzungsund Austausch-Plattform durchgesetzt. Der "Do it yourself"-Charakter der Veranstaltung trug dabei zur Akzeptanz im autonomen Spektrum bei. Szeneinterne Kritik Dennoch stieß nicht bei allen Teilnehmern auf Zustimmung, dass die AVV mehr Struktur bekamen. Es blieb strittig, ob vorab festgelegte Themenlisten sinnvoll waren oder man lieber spontan diskutieren solle. Im Übrigen zöge die Internet-Veröffentlichung von Protokollen zum Thema "Militanz" nur staatliche Repressionen nach sich. Hervorgehoben wurde aber, dass die AVV ein Treffort für Gleichgesinnte seien, die in Zukunft gemeinsam strafrechtlich relevante militante (Szenejargon: "direkte") Aktionen begehen könnten, da Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 93 "[...] die AVV Berlin insbesondere wegen ihrem sehr offenen Charakter nicht unbedingt der geeignete Ort ist um direkte Aktionen vorzubereiten. Aber vielleicht kann sie ja der Ort sein, an dem sich Menschen kennen lernen, die dann später einmal miteinander in kleineren Zusammenhängen ihre Vorstellungen direkt umsetzen." 142 Bündnispolitik ermöglicht Beteiligung an Massenprotest Ein weiteres Anzeichen für ein Umdenken in der linksextremistischen Szene Berlins war die verstärkte Zusammenarbeit mit nichtextremistischen Akteuren in anlassbezogenen Bündnissen. Anlässlich des "Trauermarschs" der rechtsextremistischen "Jungen Landsmannschaft Ostdeutschland" (JLO) am 13. Februar in Dresden bildete sich das von Linksextremisten dominierte Bündnis "No Pasaran!", an dem auch Berliner Autonome Gruppen beteiligt waren. Als Teil des Gesamtbündnisses "Dresden Nazifrei" beteiligten sie sich daran, die bundesweit größte rechtsextremistische Veranstaltung anlässlich des Jahrestags der alliierten Luftangriffe auf Dresden zu verhindern. 143 Hierbei kam ein so genannter "Aktionskonsens" zwischen Linksextremisten und gesellschaftlichen Gruppen wie Gewerkschaften, Verbänden und Parteien zum Tragen, wonach von Blockaden keine Eskalation ausgeht, jedoch auch keine Distanzierung gegenüber anderen Aktionen erfolgt. "Im [...] bundesweiten Bündnis 'Dresden Nazifrei!' verständigten sich erstmalig antifaschistische Kräfte aller Art - von Parteien, Gewerkschaften und Verbänden über engagierte Dresdenerinnen und Dresdener bis hin zu autonomen Antifa-Gruppen - auf ein gemeinsames Vorgehen. [...] 'Von uns wird keine Eskalation ausgehen. Unsere Blockaden sind Menschenblockaden. Wir sind solidarisch mit allen, die mit uns das Ziel teilen, den Naziaufmarsch zu verhindern'." 144 142 "m": "Berlin: Autonome Vollversammlung 13.07.2010". Internetportal, datiert 14.7.2010. 143 Vgl. Sächsisches Staatsministerium des Innern und Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen: Verfassungsschutzbericht 2009. Dresden 2010, S. 36-37. 144 ALB: "Ein kollektiver, kalkulierbarer Regelverstoß". In: "Antifaschistisches Infoblatt" 87, Februar 2010, S. 31. 94 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Rechtsextremistischer Rund 9 500 Gegendemonstranten, darunter bis zu 3 000 gewaltbereite Aufmarsch verhindert Linksextremisten, protestierten gegen die Rechtsextremisten. Die Gegendemonstranten errichteten Sitzblockaden, Straßensperren und Barrikaden und verhinderten den rechtsextremistischen "Trauermarsch". Auch wenn nicht die gesamte Palette linksextremistischer Zielsetzungen erreicht worden sei, so ein Resümee in der linksextremistischen Szene, habe man doch einen "politischen Erfolg" errungen und "gesellschaftliche Relevanz" unter Beweis gestellt. Es sei gelungen, die Anschlussfähigkeit zum demokratischen Spektrum zu erhöhen. Brennende Straßenbarrikaden Deutlich wird das taktische Verständnis der Bündnispolitik, die als Mittel zum Zweck einer langfristigen Umwälzung der Gesellschaftsordnung dienen soll. "In Dresden hat rund um den 13. Februar eine Diskursverschiebung stattgefunden. [...] Zugegeben, wir haben weder den deutschen Opferdiskurs entsorgt noch das Kapitalverhältnis ins Wanken gebracht, aber eine Linke, die ihren Anspruch auf radikale Veränderung ernst nimmt, kommt nicht an der Frage vorbei, wie sie zu gesellschaftlicher Relevanz, Interventionsfähigkeit und politischen Erfolgen kommt. In Dresden wurde ein Schritt in diese Richtung gegangen." 145 Das von Linksextremisten dominierte Bündnis "No Pasaran!" hob die Bedeutung der Vernetzung mit den nicht-extremistischen Akteuren hervor. "Die Entwicklung eines spektrenübergreifenden Aktionskonsenses für die Blockaden war für den Erfolg der wesentliche Schlüssel." 146 Daran anknüpfend kündigten sie an, die jährlichen rechtsextremistischen Demonstrationen am 1. Mai zu verhindern: 145 Jana Meiser: "'Dresden nazifrei' ist nun als Akteur etabliert". In: "Jungle World" Nr. 8 vom 25.2.2010. 146 "No Pasaran!": "Ohne Titel". Internetauftritt von "No Pasaran!", Aufruf am 18.9.2010. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 95 "Mit der erfolgreichen Blockade des letzten neonazistischen Großaufmarsches im Februar diesen Jahres gewinnen die alljährlichen Aufmärsche zum 1. Mai weiter an Bedeutung für die Neonazis. [...] Es gilt den Neonazis nach der Verhinderung ihres Aufmarsches in Dresden keine Erholung zu gönnen." 147 1. Mai - Doppelstrategie zur Verhinderung der rechtsextremistischen Demonstration Bestärkt durch die gemeinsamen Protestaktionen mit nichtextremistischen Gestärktes Selbst Gruppen in Dresden rief ein "Bündnis Berliner Antifa-Gruppen" zu einer Zubewusstsein sammenarbeit mit der bürgerlichen Protestbewegung zur Verhinderung der Demonstration der "Autonomen Nationalisten" am Vormittag des 1. Mai auf. "Angesichts der mörderischen Qualität der neonazistischen Bedrohung ist ihre wirkungsvolle Bekämpfung notwendig. Daher halten wir zur Verhinderung des Nazi-Aufmarsches auch eine Zusammenarbeit mit Bündnispartner_innen für geboten, von denen uns in vielen anderen Fragen einiges trennt." 148 Gleichzeitig machten die Aktivisten in traditioneller linksextremistischer Argumentation deutlich, dass es ihnen nicht allein um den Protest gegen Rechtsextremismus geht, sondern dass sie die Gesellschaftsform als Ganzes als Kern des Problems ansehen und bekämpfen. Für sie ist "Faschismus" das notwendige Resultat der bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaft. "Der Kampf um eine Gesellschaft jenseits von Ausbeutung und Unterdrückung kann jedoch nicht bei den Neonazis enden. Einerseits trägt die bürgerliche Demokratie selbst die Möglichkeit der faschistischen Barbarei immer in sich. [...] Andererseits ist der alltägliche Vollzug bürgerlicher Herrschaft auch jenseits dieser Möglichkeit eine ständige Zumutung." 149 Nachdem sich linksextremistische Gruppen neben vielen nicht-extremistischen Gruppierungen und Einzelpersonen in mehreren Vorbereitungsbündnissen beteiligten, nahmen etwa 6 000 Personen an den Protestveranstaltungen zur Verhinderung der rechtsextremistischen Demonstration teil. Darunter waren rund 200 Personen, die einen Schwarzen Block bildeten. Die Gegendemonstranten verhinderten, dass die "Autonomen Nationalisten" ihre Demonstration in Gänze durchführen konnten. 147 "Bündnis Berliner Antifa-Gruppen": "Jeder Naziaufmarsch hat seinen Preis". Linksextremistische Internetseite, datiert 1.4.2010. 148 "Bündnis Berliner Antifa-Gruppen": "Jeder Naziaufmarsch hat seinen Preis", Linksextremistische Internetseite, datiert 1.4.2010. 149 Ebenda. 96 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Das "Bündnis Berliner Antifa-Gruppen" verfolgte in ihrer Bündnispolitik eine Doppelstrategie. In dem "Aktionskonsens" mit den Parteien, Gewerkschaften und anderen bürgerlichen Gruppen im Bündnis "1. Mai nazifrei" wurde vereinbart, dass von den Massenblockaden keine Eskalation ausgehen werde. Andererseits machten sie keinen Hehl daraus, dass diese Absprachen taktisch, und militante ("direkte") Aktionen geplant waren. "Das Bündnis "1. Mai nazifrei", in dem sich Antifa-Gruppen, Parteien und Gewerkschaften zusammengefunden haben, bereitet Massenblockaden gegen den Aufmarsch vor. Für diese wurde sich auf einen Aktionskonsens geeinigt: 'Wir sind bunt und wir stellen uns den Nazis in den Weg. Von uns wird dabei keine Eskalation ausgehen. Dabei sind wir solidarisch mit allen, die mit uns das Ziel teilen den Naziaufmarsch verhindern zu wollen.' Gleichwohl halten wir als Autonome Antifa auch direkte Aktionen im Umfeld des Naziaufmarsch für unerlässlich." 150 Gleichzeitig warb das "Revolutionäre 1. Mai-Bündnis" für Gewalt und machte in einer Videobotschaft klar, "[...] dass jedes Mittel recht ist, um Rassisten und Antisemiten zu stoppen und deren Aufmärsche zu verhindern. Wir lassen uns nicht an der Frage der Militanz spalten. Jedes umgekippte Auto, jede brennende Mülltonne, jede zerstörte Bushaltestelle kann ein Hindernis auf der Strecke der Nazis sein. [...] Die mörderische Ideologie der NaMobilisierungsvideo des 1. Mai-Bündnisses (Screenshot) zis und deren Aktivitäten der letzten Wochen zeigen, dass es an der Zeit ist, den Nazis am 1. Mai einen ordentlichen Tritt in den Arsch zu verpassen. Nazis raus aus unseren Stadtteilen. Antifa heißt Angriff." 151 Tatsächlich kam es bei den Protesten zu Ausschreitungen, als Hindernisse in Brand gesetzt und Polizisten mit Steinen und Flaschen beworfen wurden. Dennoch verlief der Vormittag des 1. Mai insgesamt weniger gewalttätig als im Vorfeld befürchtet. Dies lag zum einen an dem Einsatzkonzept der Polizei. Zum anderen hatte die Vereinbarung friedlicher Massenblockaden möglicherweise auch eine gewisse deeskalierende Wirkung. 150 Ebenda. 151 "Revolutionäres 1. Mai-Bündnis": "Videobotschaft # 2". Internetportal, Aufruf am 1.9.2010. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 97 "Revolutionäre 1. Mai-Demonstration" politischer als in den Vorjahren Auch im Zusammenhang mit der "Revolutionären 1. Mai-Demonstration" Weniger politisch unter dem Motto "Die Krise beenden: Kapitalismus abschaffen!" ging der motivierte Gewalt Anteil der politisch motivierten Gewalt im Vergleich zum Vorjahr 2010 zurück. Ein Sprecher der ALB hatte die Strategie verkündet, im Vergleich zum Vorjahr stärker die Inhalte der Demonstration in den Vordergrund zu stellen: "Uns geht es um eine politische Demonstration und nicht um Party, Bratwurst und Saufen." 152 Der verstärkten Vermittlung von Inhalten und der Ideologisierung von Jugendlichen diente auch die Herausgabe der Broschüre "1. Mai Jugendinfo" durch das "Revolutionäre 1. Mai-Bündnis" und ein sogenanntes "AntifaBündnis", an dem sich nahezu ausschließlich linksextremistische Autonome beteiligten. Neben diversen Beiträgen linksextremistischer Gruppen wurden darin auch "Tipps und Tricks" zum Verhalten auf Demonstrationen gegeben. Im Vorfeld wurde auch dazu aufgerufen, keinen Alkohol zu konsumieren. 153 An der "Revolutionären 1. Mai-De"Revolutionäre monstration" beteiligten sich rund 1. MaiDemonstration" 8 000 Personen. Damit schlossen sich im Vergleich zum Vorjahr rund 1 000 Menschen mehr dem Aufzug in Kreuzberg an. Vereinzelt wurden Steine auf Polizisten geworfen und Pyrotechnik abgebrannt. Es kam zu einem Vorfall mit erheblicher Gefährdung von Menschen, als Unbekannte am Kottbusser Damm einen Feuerlöscher von einem Hausdach warfen. Hätte dieser einen Menschen getroffen, wäre dies lebensgefährdend gewesen. Nach dem Ende der Demonstration kam es vereinzelt zu Ausschreitungen gegen Polizeibeamte, die jedoch überwiegend nicht von Angehörigen der linksextremistischen Szene begangen wurden, sondern von Schaulustigen oder anderen gewaltgeneigten Personen. 152 "Linke rüsten zum 1. Mai". In: "Der Tagesspiegel" vom 26.3.2010. 153 Vgl. Sabine Rennefanz: "Die linke Szene bereitet sich auf den 1. Mai vor". In: "Berliner Zeitung" vom 6.4.2010. 98 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 "Revolutionäre Im Nachgang zeigte sich ein Teil der Linksextremisten mit dem Verlauf der 1. MaiDemonstration" "Revolutionären 1. Mai-Demonstration" im Großen und Ganzen zufrieden, da die "Revolutionäre 1. Mai-Demonstration" im Vergleich zum Vorjahr als "politischer" gewertet wurde. 154 Das hohe Maß an Gewalt im Vorjahr wurde von diesem Teil als wenig zielführend im Sinne der politischen Arbeit kritisiert. 155 Linksextremistische Gewalt im Rahmen der AntimilitarismusKampagne Ein Themenfeld, in dem weiterhin kontinuierlich und zum Teil schwere Gewalttaten begangen wurden, ist die so genannte "AntimilitarismusKampagne". "Antimilitarismus Seit dem Spätsommer 2008 beteiligen sich Kampagne" Linksextremisten aus verschiedenen Bundesländern an dieser Kampagne, die sich gegen die Bundeswehr und Verteidigungspolitiker oder gegen Unternehmen richtet, die sich - im weitesten Sinne - im Bereich der Verteidigung engagieren. 156 Regelmäßig werden in diesem Zusammenhang Farbschmierereien oder auch Brandanschläge verübt. Im Internet werden Zwischenberichte mit Sachständen veröffentlicht und Angehörige der linksextremistischen Szene zum Fortsetzen der Kampagne angehalten. Zeitgleich begangene Straftaten deuten auf eine überregionale Abstimmung hin. Anschläge auf Häuser Am 29. und 30. August wurden die Wohnhäuser von zwei Bundestagsmitvon Politikern gliedern aus Hamburg und Kiel, die im Verteidigungsausschuss tätig sind, und in Berlin das Wohnhaus des Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages durch Steinwürfe und Farbe beschädigt. Eine unbekannte Gruppe bezichtigte sich der Aktionen und begründete diese mit der Rolle der Politiker des Verteidigungsausschusses als "Rüstungslobbyist_innen". Der Wehrbeauftragte dagegen sei ein "parlamentarischer Propagandist und Waffenbeschaffer für die Bundeswehr", der den 154 Vgl. Wladek Flakin: "Der 1. Mai in Berlin". Internetportal, datiert 3.5.2010. 155 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 111 f. 156 Vgl. ebenda, S. 92-93 und 103-105. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 99 Luftangriff in Kunduz habe verschleiern wollen. Die Linksextremisten veröffentlichten zudem die Adressen der Verteidigungspolitiker und riefen zur Nachahmung ihrer Straftaten auf: "Nachahmungen gegen alle Krieger_innen, Lobbyist_innen etc. sind drinDHL im Fokus der Kampagne gend erwünscht." 157 Eine besondere Rolle im Rahmen der "Antimilitarismus-Kampagne" spielte auch in diesem Jahr das Unternehmen DHL. Weil es sich um logistische Aufträge der Bundeswehr beworben hatte, hatten Linksextremisten DHL 2008 als "Deutsche Heeres Logistik" bezeichnet und zu Straftaten aufgerufen.158 Im Rahmen der Kampagne verübten Linksextremisten bundesweit Brandanschläge auf Unternehmensfahrzeuge und begingen zahlreiche Sachbeschädigungen. Vom 24. bis 26. August beschäBundesweit Brand digten Linksextremisten in Baanschläge gegen DHL den-Württemberg, Berlin und Nordrhein-Westfalen Packstationen von Deutscher Post / DHL, die sie in Tarnfarben lackierten. Bei den Aktionen in Nordrhein-Westfalen war hoher Sachschaden entstanden, die Täter hatten acht Fahrzeuge der Deutschen Post AG zerstört und vier weitere beschädigt. Zu einem Anschlag in Berlin am 24. August und einem Brandanschlag, der bereits im April in Nordrhein-Westfalen verübt worden war, wurden in Teilen identische Selbstbezichtigungsschreiben verfasst. Darin werden derartige Anschläge zur Schaffung einer "Welt ohne Krieg und Ausbeutung" als "legitim" bezeichnet. "Uns eint die Überzeugung, dass es keinen Sinn hat, auf den nächsten Wahltermin zu warten und dann zu hoffen, es möge eine Regierung gewählt werden, die den Krieg, die Armee und die Waffenproduktion abschafft. Wir müssen es selbst in die Hand nehmen. Uns eint auch die Überzeugung, dass es nicht nur legitim, sondern notwendig ist, den Rahmen des legalen Protestes gelegentlich zu verlassen, um diese Welt ohne Krieg und Ausbeutung Wirklichkeit werden zu lassen." 159 157 "AG Arschkarte für die Taschenkarte": Selbstbezichtigungsschreiben vom 31.8.2010. 158 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 92 f. 159 Ohne Gruppenbezeichnung: Selbstbezichtigungsschreiben vom 30.8.2010. 100 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Linksextremistischer Nachdem Ende 2009 bekannt wurde, dass sich die DHL aus dem AusschreiFarbanschlag auf eine bungsverfahren bei der Bundeswehr zurückgezogen hat, wurde in der JuliDHLPackstation Ausgabe der linksextremistischen INTERIM die "Entschlossenheit und Militanz" in der DHL-Kampagne gelobt, auch wenn eine Kausalität für den Rückzug nicht belegbar sei. "Das gesamte linke Spektrum zeichnet sich gerade durch einen sehr hohen Grad an Entschlossenheit und Militanz aus, wenn es darum geht, gegen militärische Institutionen vorzugehen. Nehmen wir die DHL-Kampagne [...] Es gab ziemlich viele Anschläge auf DHL-Fahrzeuge. DHL ist jetzt aus dem Verfahren ausgestiegen [...] Es wird sich nie beweisen lassen, ob die Brandanschläge und die Kampagne der Grund für den Rückzug sind. Jedenfalls gibt es eine sehr starke Bereitschaft, tatsächlich etwas zu riskieren." 160 In der Dezember-Ausgabe der INTERIM hoben die Autoren hervor, dass es lediglich bei der DHL-Kampagne gelungen sei, Brandanschläge auf PKW einem breiteren Publikum zu vermitteln. Dies sei in anderen Zusammenhängen selbst dann nicht der Fall gewesen, wenn es sich um Firmenwagen gehandelt habe. "Weitgehend sprachlos knisterten die Luxuskarossen des Nachts vor sich hin, dass auch viele Firmenwagen dabei waren konnte in den dazugehörigen Kampagnen bis auf DHL kaum vermittelt werden." 161 Politischere Ansätze nehmen im Themenfeld Stadtumstrukturierung zu Mit Bezug zum Thema Umstrukturierung, das auch 2010 von Bedeutung für die linksextremistische Szene war, ging die Zahl der Gewalttaten dagegen von 81 auf 34 zurück. Dieser Rückgang liegt auch an dem Rückgang an PKW-Brandstiftungen, die oft im Zusammenhang mit dem "Kampf gegen Gentrifizierung" standen. Zudem verliefen im Gegensatz zu den vergangenen Jahren die "Aktionstage" 2010 friedlicher. Unter dem Motto "Wir bleiben Alle!" (WBA) waren im Mai 2008, im Juni 2009 und im Dezember 2009 so genannte "Actiondays", "Freiraum-ActionWeeks" bzw. "Aktionswochen" in Berlin ausgerufen worden, in deren Rahmen 2008 und 2009 zahlreiche Strafund Gewalttaten begangen worden waren. 162 160 "Sand und Sirup Gesprächsrunde". In: "INTERIM" Nr. 714 vom 9.7.2010, S. 7. 161 "INTERIM", Nr. 721, 10.12.2010, S. 27. 162 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 85 f. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 101 Im September fand in Berlin ein "Intersquat "IntersquatFestival" Festival" zu den Themen Gentrifizierung und Freiräume statt. Zu dem Festival, das gleichartige Veranstaltungen in anderen europäischen Regionen zum Vorbild hatte, mobilisierten überwiegend Linksextremisten. Die Organisatoren betonten, dass das "Intersquat-Festival zwar ein ähnliches Konzept habe wie die "action days", aber politischer in der Ausrichtung und weniger "aktionsorientiert" sei. Vielmehr soll die Veranstaltung einen Netzwerkeffekt über die linksextremistische Szene Berlins hinaus. Sie erklärten, das "Intersquat-Festival" sei: "[...] weitaus weniger aktionsorientiert als die action days 2008. Beim Intersquat geht es vielmehr um inhaltliche Diskussionen, um einen internationalen Austausch [...]" 163 Die Veranstalter riefen dazu auf, das Programm selbst aktiv mitzugestalten Loser Aktions und und konzipierten das Festival als losen Aktionsund Vernetzungsrahmen. Vernetzungsrahmen So konnten sie den Vorbereitungsaufwand reduzieren und weitere Themen integrieren. Im Programm waren Demonstrationen, Kiez-Spaziergänge, Workshops und Partys eingeplant. Aufgrund organisatorischer Schwierigkeiten und schlechter Witterung war die Teilnehmerzahl an den meisten dieser Veranstaltungen gering. Im Rahmen des "Intersquat-Festivals" demonstrierten am 16. September in Demonstration "Raus Berlin-Mitte bis zu 350 Personen unter dem Motto "Raus aus'm Kiez - rein aus'm Kiez - rein in in die City". Man habe die Route durch die "nach Konsum stinkende Indie City" nenstadt gewählt", wo ein Großteil der "Profiteurinnen" der Gentrifikation wohne. Sachbeschädigungen gegen einzelne Immobilien sollten dabei zumindest in Kauf genommen werden. Die Verantwortung hierfür trage jedoch "das System". 163 "Steffi": "Berlin: Intersquat Festival weiterhin ohne Ort". Internetportal, datiert 1.9.2010. 102 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 "Gentrification - das ist kein tolles neues Modewort, dass durch die sogenannte 'linke Szene' und einige Lifestyle-Magazine geistert, sondern bedeutet Vertreibung, Schikane, permanente Überwachung durch Kameras und uniformierte und private Bullen. [...] Wir haben eine Route durch die von uns gehasste, glasfrontverspiegelte, penibel gereinigte und nach Konsum stinkende Innenstadt gewählt. Da ein Großteil der Profiteur_innen in Mitte wohnt, wüssten wir keinen Grund, genau diesen gegenüber unseren Unmut nicht zu äußern und wollen deswegen mit euch gemeinsam am 16.9.2010 durch Mitte ziehen. Wir wissen, dass es zwar Profiteur_innen gibt, die Verantwortung jedoch im System begründet liegt. [...] Mitte in die Suppe pissen!'" 164 Der Verlauf dieser Demonstration war weitgehend friedlich und störungsfrei. 2010 fanden ferner sogenannte "Herbstaktionstage gegen die sozialen Angriffe auf unser Leben" / "Berlin on sale - nicht mit uns!" statt. Ziel der Veranstalter war es, sich "gemeinsam statt einsam gegen die vielfältigen Angriffe auf ein würdiges und selbstbestimmtes Leben in Berlin zur Wehr zu setzen". In diesem Zusammenhang wurden verschiedene Aktionen unter den Hauptthemen Stadtumstrukturierung und Gentrifizierung, Bildung und Arbeit, Gesundheit und Pflege, sowie Militarisierung und Migration durchgeführt, welche jeweils weitgehend friedlich verliefen. An dem Gebäude der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung in Wilmersdorf wurden am 22. Oktober Fensterscheiben eingeworfen. In dem Selbstbezichtigungsschreiben wird gedroht, die Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft zukünftig "direkt an ihre Verantwortung zu erinnern", da weder friedliche noch gewalttätige Aktionen bisher erfolgreich gewesen seien: "da offensichtlich weder hundertfaches flambieren von hochwertigen luxuskarossen, zahlreiche angriffe auf luxusbauten -etwa das carloft in kreuzbergund unzählige demonstrationen, friedlich und militant noch vielfältigste friedliche mittel (etwa der volksentscheid zu mediaspree) den senat zum überdenken seiner politik veranlassen konnten, werden wir in zukunft die entscheidungsträger, egal aus welcher partei oder wirtschaftlichen branche, direkt an ihre verantwortung erinnern: von der arbeitsstelle bis zum privat pkw, die konsequenzen müssen für die verantwortlichen deutlich und schmerzhaft bleiben. wir haben gerade erst angefangen." 165 "Umstrukturierung" wird auch in Zukunft ein wichtiges Aktionsfeld der linksextremistischen Szene in Berlin sein. 164 Programm "Intersquat Festival Berlin 10.-19.09.2010". Internetauftritt des Intersquat-Festivals, Aufruf am 10.11.2010, Fehler im Original. 165 Unbekannt: Selbstbezichtigungsschreiben vom 22.10.2010. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 103 "Antifaschistischer Kampf" weiter Schwerpunkt Daneben war das Thema "Antifaschismus" auch 2010 von anhaltend hoher Bedeutung und ermöglichte gruppenübergreifende Mobilisierungen. "Antifaschismus" ist ein Minimalkonsens der linksextremistischen Szene und umfasst zahlreiche unterschiedliche Aktionsformen wie Gegendemonstrationen zu rechtsextremistischen Veranstaltungen, Ausspähen und Veröffentlichen von Daten erkannter Rechtsextremisten mit dem Ziel der Einschüchterung bis hin zu gewalttätigen Angriffen. Linksextremisten sehen in Rechtsextremisten ("Faschisten") ein zwar extremes, aber zwangsläufiges Ergebnis der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft. Sie werden daher stellvertretend für das gesamte Gesellschaftssystem angegriffen. 166 Das Großereignis "Dresden Nazifrei" im Februar und die Aktionen gegen die Demonstrationen der Aufmärsche 1. Mai hatten erneut einen erheblichen Stellenwert, die zu einer umfangreichen Mobilisierung der linksextremistischen Szene Berlins führten. 2010 wurden auf Internetportalen Struktur, Gewalttaten im Aktivitäten und Akteure der rechtsextremistiLebensumfeld schen Gruppierung "Freie Nationalisten Berlin Mitte" (FNBM) ausführlich dargestellt, Bilder von Angehörigen veröffentlicht und ihre Namen und Wohnadressen genannt. Am 15. Oktober setzten Linksextremisten ein Auto in Brand, das der damalige mutmaßliche Anführer der FNBM nutzte. In einem Selbstbezichtigungsschreiben erklärten die Brandstifter: "Wo Nazis auftauchen, werden wir sie und ihre Autos angreifen. Es gibt kein ruhiges Hinterland." 167 166 Dieses Verständnis wurde maßgeblich durch den Bulgaren Georgi Dimitroff vor dem VII. Weltkongress der Komintern 1935 geprägt. Die nach ihm benannte These besagte, dass Faschismus "die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals" sei. In diesem Sinne seien alle kapitalistischen Systeme potentiell faschistisch. 167 "Autonome Nachbarschaftshilfe Steglitz / Zehlendorf": Selbstbezichtigungsschreiben vom 15.10.2010. Tatsächlich gehörte es einer Verwandten des Angegriffenen. 104 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Am 11. August wurde eine Farbflasche in das Wohnzimmer eines Rechtsextremisten in Friedrichshain geworfen. Auf einem Szeneportal im Internet war der Rechtsextremist zuvor als Neonazi "geoutet" worden. Am 26. August schlugen Linksextremisten eine Person, die sie der rechtsextremistischen Szene zuschrieben, vor ihrem Wohnhaus nieder. Sie flüchteten, als Anwohner die Tat bemerkten. 7.3 Berliner Linksextremisten setzen Militanzdebatte fort Parallel zum Rückgang der politisch links motivierten Gewalt 168 wurde 2010 die Militanzdebatte von mehreren Gruppierungen wie den "Revolutionären Aktionszellen" (RAZ), aber auch Gruppen mit Phantasienamen wie "Bewegung Schwarzer Phoenix" mit zahlreichen Textbeiträgen wiederbelebt. 169 Anwendung und Grenzen der Akzeptanz von Gewalt werden von aktionsorientierten Linksextremisten regelmäßig neu diskutiert, da das staatliche Gewaltmonopol und der damit einhergehende individuelle Gewaltverzicht von ihnen abgelehnt wird. Es liegt in ihrem Selbstverständnis begründet, dass sie das staatliche Gewaltmonopol nicht nur kritisieren, sondern bekämpfen möchten. Gewalt als integraler Linksextremistische Gruppen begründeten ihre Militanz damit, dass der Teil des Selbstver Staat eine alltägliche, strukturelle Gewalt ausübe. Es bliebe keine andere ständnis Wahl, als Gewalt auszuüben, schreibt die "Revolutionäre Linke": 168 Vgl. Aktuelle Entwicklungen "Langfristige Perspektiven", S. 101. 169 Vgl. Senatsverwaltungs für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010. S. 207f. 2010 ergingen insgesamt neun Beschlagnahmebeschlüsse gegen Publikationen der linksextremistischen Szene. Davon betroffen waren die Ausgaben 708 (offiziell ohne Nummer), 713, 714, 715, 718, 720 sowie 721 der Szenezeitschrift "Interim", die Publikation "p.r.i.s.m.a." sowie die Ausgabe Nr. 162 der Zeitschrift "radikal". Vgl. S. 130. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 105 "Der Begriff 'Gewaltfreiheit' unterstellt, man habe als politische Aktivistinnen die Wahlfreiheit der Anwendung oder des Verzichts auf Gewalt, während die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft auf Gewalt gründet. Der gewalttätige Klassenstaat mit seiner "repressiven Toleranz" ist der Normalzustand; eine Gewaltverzichtserklärung ist nicht nur eine unbegründetunnachvollziehbare Reaktion, sondern ein purer Akt der Selbstaufgabe."170 Die RAZ fordern die Anwendung der "gesamten Bandbreite der Methoden" zur Bekämpfung des politischen Systems: "[...] die gesamte Bandbreite von Methoden des revolutionären Kampfes in Anspruch zu nehmen und einen gesicherten Umgang damit zu erlernen. [...] unser Klasseninteresse liegt in der Sprengung der bürgerlich-kapitalistischen Ordnung - sinnbildlich und wortwörtlich." 171 Die wiederangelaufene Militanzdebatte ist auch eine Reaktion der Szene Militanzdebatte als auf die im vergangenen Jahr geführte gesellschaftliche Debatte um die Reaktion auf gesell Brandanschläge auf private Kfz und Firmenwagen. Sie dient auch der nachschaftliche Diskussion träglichen Reflexion über Legitimität und Grenzen dieser Straftaten. Gewalttaten PMK - links 450 417 400 350 300 250 208 187 171 200 150 117 100 50 0 2006 2007 2008 2009 2010 170 Vgl. "Revolutionäre Linke (RL)": "Grundsatzpapier zur Organisierung als Revolutionaere Linke (RL)". In: "radikal" Nr. 163, Sommer 2010, S. 17. 171 "RAZ": "gasaki - ein kombinierter brand-/sprengsatz niedriger intensität. Praxisanleitung der Revolutionären Aktionszellen (RAZ)." In: "radikal" Nr. 162, Februar 2010, S. 22. 106 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Linksextremisten wollen eine "Gegenmacht" aufbauen, die "die Herzen und Köpfe" erreicht: "Generell geht es um den Aufbau oder die Weiterentwicklung einer Gegenmacht, die die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse verändern und die Herzen und Köpfe erreichen will und nicht um ein militärisches Gewinnen gegen einen hoch gerüsteten Apparat." 172 Seit 2001 war die Debatte maßgeblich von den Beiträgen der "militante(n) gruppe" (mg) geprägt. 173 Deren theorielastigen und komplizierten Texte fanden in der linksextremistischen Szene aber immer weniger Anklang. Dennoch rief die mg in ihren "Abschlussworten zur Militanzdebatte", die im Sommer 2009 zeitgleich mit einer Auflösungserklärung der Gruppe erschienen, 174 dazu auf, die Debatte weiterzuentwickeln. Es gehe darum, "dass [...] jene GenossInnen, die [...] mit der von uns entwickelten konzeptionellen Orientierung politisch eine große Schnittmenge haben, Verantwortung [...] übernehmen." [Ziel sei eine] "konkret werdende kommunistische Perspektive" [sowie ein] "komplexer revolutionärer Aufbauprozess" 175 Publikationen als Die Militanzdebatte wurde überwiegend in Publikationen geführt. Die Träger der Verschriftlichung bot vier Vorteile: Zum ersten sollten auf diese Art mögMilitanzdebatte lichst viele Leser und neue Mitdiskutanten erreicht werden. Zweitens erhofften sich die Autoren, durch klandestin veröffentlichte Schriften polizeiliche Maßnahmen umgehen zu können. Zum dritten setzten sie darauf, dass ihre Diskussionsbeiträge so für die Nachwelt erhalten bleiben und damit einem längerfristigen Erfahrungsaustausch dienen: "[...] in einer Debatte Ergebnisse erzielen zu wollen, die keiner so raschen Halbwertszeit unterliegen und der einen oder anderen Überprüfung standhalten" 176 172 "prisma", Frühjahr 2010, S. 3; Vgl. auch "Bauwas!" Frühjahr 2010, S. 1-4: "Ein Rückblick auf das Jahr 2009 aus militanter Sicht ... und einige Denkanstöße, um das Jahr 2010 weiterhin militant zu begehen..." 173 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010. S. 211 f. 174 Ebenda.. 175 "schriftliches Interview zu fragen der organisierung des revolutionären widerstandes mit der militanten gruppe (mg)". In: "radikal" Nr. 161. Sommer 2009. S. 33 bzw. 43. 176 "einige aus der ex-(mg)": "Der Weg von der 'Hassbrennerei' zum organisierten Sozial-Rebellismus. Ein Nachtrag zur Militanzdebatte." In: "radikal" Nr. 162, Februar 2010, S. 10. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 107 Viertens entspricht die Schriftform dem verhältnismäßig hohen AbstraktiVerhältnismäßig hohes onsniveau der Beiträge und ermöglicht eine tiefer gehende AuseinandersetAbstraktionsniveau zung auch in Form von Zitaten. Veröffentlicht wurden die Debattenbeiträge in den Szene-Zeitschriften INTERIM, radikal, "p.r.i.s.m.a." 177 und "Bauwas!". "p.r.i.s.m.a." und "Bauwas!" erschienen 2010 zum ersten Mal. Die Beiträge in den Zeitschriften befassten sich fast nur mit dem Thema Gewalt in theoretischer und praktischer Form. Sie enthielten Bauanleitungen, beispielsweise für Brandsätze mit Gaskartuschen oder elektronisch gesteuerte Brandsätze. Zunächst wurde diskutiert, ob es überhaupt notwendig sei, die MilitanzDie fünf inhaltlichen debatte wieder aufzunehmen. Weiter befassten sich die Diskutanten mit Aspekte der Militanz der Frage der Gefährdung von Menschenleben und erörterten technische debatte Details von "Hilfsmitteln". Es wurden Bedingungen für Militanz formuliert und Fragen nach einer möglichen Organisierung zum Zweck der Gewaltausübung behandelt. Militanzdebatte als Reaktion auf gesellschaftliche Diskussion der Brandanschläge auf Autos Es herrschte 2010 im aktionsorientierten Linksextremismus weitgehend Weitgehender Konsens über Notwendigkeit Konsens darüber, dass das Thema Militanz diskutiert werden müsse. Eine der Debatte Gruppe "Bewegung Schwarzer Phoenix" 178 setzte das Thema für den 13. Juni auf die Tagesordnung einer "Autonomen Vollversammlung" (AVV). Es wurden zwar Gegenstimmen laut, die davor warnten, das Thema Gewalt Nachträgliche öffentlich zu diskutieren, da dies unnötig sei und staatliche Repressionen Legitimierungsver nach sich zöge. Die Mehrheit der Anwesenden war sich aber einig, dass eine suche der Gewalt 2009 Debatte über Militanz vonnöten sei. 179 Auch die Autoren der "Bauwas!" schrieben, ebenso wichtig wie das Verüben von Gewalt sei die Diskussion darüber. Eine solche Diskussion böte die Möglichkeit, Erfahrungen in der 177 Die Abkürzung "p.r.i.s.m.a." steht für "prima radikales info sammelsurium militanter aktionen". 178 Der autonome Zusammenschluss "Bewegung Schwarzer Phoenix" (teilweise auch "Bewegung Schwarzer Phönix" geschrieben) publizierte bisher auf Szeneportalen und in der INTERIM. 179 Vgl. "Bewegung Schwarzer Phoenix": "Einladung zu den Autonomen Vollversammlungen". Internetportal, datiert 10.8.2010. 108 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Szene zu teilen, Fehler zu vermeiden und Gewalt in der Bevölkerung zu vermitteln. "Bauwas!" rief zur Militanzdebatte, insbesondere zum Thema Brandanschläge, auf: "Wir hoffen mit diesen Fragestellungen, eine feurige Debatte unter uns zu entfachen, um das Jahr 2010 mit vielen gemeinsamen, unkontrollierbaren Momenten zu erleben". 180 Die Ausgabe 162 der "radikal" widmete sich in Form eines eigens auf der Titelseite ausgewiesenen "Themas" der Militanzdebatte und räumte dafür rund ein Drittel des Heftumfanges ein. "Einige aus der ex-(mg)" regten als Reaktion auf die gesellschaftliche Diskussion um die Brandanschläge auf PKW eine "Teildiskussion" dazu an: "Wir wagen uns deshalb ins Diskussionsrund, weil wir die Kontroverse um die 'Hassbrennerei' (Modewort der Berliner Boulevardpresse') für einen geeigneten Anknüpfungspunkt halten, um eine Teildiskussion innerhalb der Militanzdebatte aufzugreifen" bzw. zu rekonstruieren." 181 Die anonymen Autoren der INTERIM bemängelten, dass es nicht gelungen sei, die mediale Aufmerksamkeit zu nutzen und eigene politische Inhalte zu vermitteln. Sie beklagten, dass eine Distanzierung "bis fast ins linksradikale Lager" erfolgt sei. "Der Rekord an Autobränden im Jahr 2009 wurde um einen hohen Preis erkauft; Unschuldige kamen in Untersuchungshaft und eine breite Koalition aus bürgerlichen Medien, sämtlichen Parteien (Kieztaliban Ratzmann), der mg und ihrem Transformer RAZ, der KommiRadikal und anderen trieb einen Distanzierungskeil bis fast ins linksradikale Lager. Es gelang nicht die dadurch erlangte mediale Aufmerksamkeit mit Inhalt zu füllen. Weitgehend sprachlos knisterten die Luxuskarossen des Nachts vor sich hin, dass auch viele Firmenwagen dabei waren konnte in den dazugehörigen Kampagnen bis auf DHL kaum vermittelt werden." 182 180 "BAUWAS!", Frühjahr 2010, S. 4. 181 "einige aus der ex-mg": "Der Weg von der 'Hassbrennerei' zum organisierten Sozial-Rebellismus. Ein Nachtrag zur Militanzdebatte" In: "radikal" Nr. 162, Februar 2010, S. 9. 182 "INTERIM", Nr. 721, 10.12.2010, S. 27. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 109 Kritisiert wurde die im Jahr 2009 oft zufällig erscheinende Auswahl von Angriffszielen. Es wird problematisiert, ob der Halter einer sog. "Nobelkarosse" tatsächlich "Teil des Gentrification-Problems" ist, oder ob es sich nur um "Bonzen-Habitus" handelt. "Wenn eine 'Nobelkarosse' ins Visier genommen wird, dann ist im Vorfeld zu recherchieren, ob es sich bei dem Halter/der Halterin um jemanden/ jemande handelt, der/die z.B. eine luxussanierte Wohnung in einem proletarischen Wohnquartier bezogen hat und damit Teil des Gentrification-Problems ist, alteingesessene MieterInnen zu vertreiben. Ein (vermeintlicher) Bonzen-Habitus von Personen und ihres fahrbaren Untersatzes allein reicht für einen Brandanschlag nicht aus." 183 Gefährdung von Menschenleben wird diskutiert Einer der Kernpunkte der Militanzdebatte war erneut die Frage, ob es verGewalt gegen Poli antwortbar sei, bei Gewalttaten Menschenleben zu gefährden. Überwiegend zisten weitgehend akzeptiert wird in der autonomen Szene Gewalt gegen (vermeintliche) akzeptiert Rechtsextremisten sowie Polizisten. Ein Angriff auf die Polizei sei immer ein symbolischer Angriff auf den Staat: "Ein Angriff auf die Polizei ist somit immer auch ein symbolischer Angriff auf den Staat als Ganzes - und damit auf den Herrschaftsapperat, der bei der Aufrechterhaltung dieser beschissenen Ausbeutungsund Herrschaftsverhältnisse eine zentrale Rolle spielt. 184 In einer Ausgabe der INTERIM wird empfohlen, Objektschutzstreifen anzugreifen: "Als taktisches Mittel bietet sich der Hinterhalt an. Das bedeutet den Gegner anzugreifen wenn er nicht damit rechnet und wenn er dich nicht stellen kann. [...] Sehr gut sind Objektschutzstreifen (z.B. jene die TS-Läden anfahren) weil dort nur ein Trottel drin sitzt." 185 183 Vgl. "einige aus der ex-(mg): "Der Weg von der 'Hassbrennerei' zum organisierten Sozial-Rebellismus. Ein Nachtrag zur Militanzdebatte". In: "radikal" Nr. 162, Februar 2010, S. 15. 184 "Einige Autonome aus Berlin": "Wir betteln nicht beim König, denn wir wollen ihn stürzen!" In: "1. Mai Jugendinfo", S. 8. Fehler im Original. 185 "INTERIM" Nr. 718, 15.10.2010, S. 11. 110 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 "Splitterbomben Sichtbar wird die Akzeptanz von diskussion" Gewalt gegen Polizisten auch an der so genannten "Splitterbombendiskussion": Am 12. Juni fand eine Demonstration unter dem Motto "Die Krise heißt Kapitalismus - Banken und Konzerne sollen zahlen" statt, die von einem Bündnis aus demokratischen und linksextremistischen Gruppen vorbereitet wurde. Aus dem "antikapitalistischen Block" heraus wurden Feuerwerkskörper in Richtung einer Gruppe von Polizeibeamten geworfen, von denen 15 verletzt wurden. In einigen Medien wurde zunächst über eine "Splitterbombe" berichtet. Tatsächlich handelte es sich um Pyrotechnik. Während die Mehrheit der linksextremistischen Szene zu der Tat schwieg, wurden auch Stimmen laut, die die Aktion rechtfertigten. Mit der für Autonome typischen Argumentation der "strukturellen Gewalt" wurde behauptet, dass Gewalt bei Demonstrationen stets von der Polizei ausgehe und man insofern lediglich reagiere. 186 Gefährdung Unbe Eine "Bewegung Schwarzer Phoenix" diskutierte die Gefährdung von Pförtteiligter nicht aus nern und Bauarbeitern als "lebende Schutzschilde" bei Anschlägen mit Gasgeschlossen kartuschen. Sie stellte zynisch die Frage, ob man diese Menschen gefährden sollte und regte an, die Idee weiter "auszuarbeiten". "Der prekär beschäftigte Pförtner, die nachts arbeitende Bauarbeiterin oder das darüberliegende Fitnesstudio sind solche lebenden Schutzschilde [...] Entweder wir sagen, 'sie wissen schon für wen sie arbeiten' und gefährden diese Menschen, oder wir lassen diese Weise militanter Aktionen bleiben. Vielleicht könnt ihr ja diese Idee weiter ausarbeiten und uns vorstellen." 187 186 Vgl. "1. Mai Jugendinfo. Euer Frieden kotzt uns an". Frühjahr 2010. S. 8. 187 "Bewegung Schwarzer Phoenix": "the hand of the handless". In: "INTERIM" Nr. 708, 16.4.2010, S. 18. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 99_100. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 111 Die RAZ plädierten dafür, beim Einsatz von Gaskartuschen eine Gefährdung unbeteiligter Personen auszuschließen. Letztlich nehmen die RAZ jedoch die Möglichkeit der Gefährdung von Menschenleben in Kauf, "[...] denn ein Null-Risiko gibt es nur bei einer' militanten Praxislosigkeit'". 188 Eine Gruppe forderte mehr Informationen zur Wirkungsweise von GaskartuGaskartuschen schen ein, um das Gefährdungsrisiko von Menschenleben einschätzen und ("Gasakis") ausschließen zu können. Überhaupt solle man Militanz politisch bewusst und nur dann einsetzen, wenn sie tatsächlich einen Mehrwert gegenüber friedlichen Aktionsformen verspräche. 189 Eine andere Gruppe hingegen befürwortete auch Angriffe auf "politisch Verantwortliche": "wir sehen es als notwendig an, direkt dort anzugreifen, wo der staat sitzt. das sind für uns immer wieder direkte angriffe auf die schweine. [...] das direkte angreifen von schweineställen übt für den späteren angriff auf die institutionen dieses staates. auch die politischen verantwortlichen müssen unserer meinung nach noch stärker mit einbezogen werden." 190 Publikationen veröffentlichen technische Anleitungen Dem mehrfach geäußerten Wunsch nach mehr technischen Informationen Anschläge auf Agentur zum Einsatz von Gaskartuschen kamen die RAZ in der Ausgabe 163 der für Arbeit und Haus "radikal" nach. Sie empfahlen Maßnahmen, um diese Gefahren zu verrinder Wirtschaft gern, wie zum Beispiel den Einsatz von Warntafeln oder den Einsatz auf einem eingezäunten Gelände. 188 "RAZ": "Mittel und Zweck in militanter Politik - ein Nachtrag zum 'Gasaki'Modell". In: "radikal" Nr. 163, Sommer 2010, S. 39. 189 Vgl. "Freunde Erich Mühsams angedockt an Freie Radikal.e": "Lärmende Inhalte. Anmerkungen zu Ohnmacht, Militarismus und Militanz". In: "INTERIM" Nr. 708, 16.4.2010, S. 21-23. Der autonome Zusammenschluss "Freunde Erich Mühsams angedockt an Freie Radikal.e" hat sich nach dem in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager ermordeten Anarchisten Erich Mühsam benannt. 190 eine gruppe aus den autonomen gruppen": Ohne Titel. In: "INTERIM" Nr. 706, ohne Datum, S. 8. 112 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 In der vorangegangenen Ausgabe der "radikal" vom Februar 2010 hatten die RAZ eine ausführliche Bauanleitung für die Gaskartuschen veröffentlicht, mit denen von Oktober 2009 bis Februar 2010 sechs Anschläge begangen wurden.191 Die RAZ erklärten sich selbst für die Anschläge auf die Agentur für Arbeit in Wedding und das Haus der Wirtschaft in Charlottenburg verantwortlich. Die RAZ regten "Erprobungen" und einen Erfahrungsaustausch an: "An dieser Stelle werden wir das Modell Gasaki sicherlich bis zur Serienproduktion noch Brandanschlag auf das Haus der um einige Elemente ausreifen und verbessern Wirtschaft müssen. Von daher setzen wir darauf, das von militanten AktivistInnen Ergebnisse weiterer Erprobungen und praktischer Anwendungen bekannt gemacht werden." 192 Allein aus technischen Gründen bemängelte eine Gruppe die Gaskartuschenanschläge der RAZ als "nett", aber mangels "ordentlichen zündern" nicht effektiv genug. 193 Zudem warb sie dafür, Brandsätze innerhalb von geschlossenen Gebäuden einzusetzen. Zahlreiche Die Veröffentlichungen der Bauanleitungen führten zu ErmittlungsverfahErmittlungsverfahren ren wegen SSSS 111 und 130a StGB (öffentliche Aufforderung zu Straftaten und Anleitung zu Straftaten). 2010 wurden neun Ausgaben linksextremistischer Zeitschriften beschlagnahmt. Dabei handelt es sich um jeweils eine Ausgabe von radikal und p.r.i.s.m.a. sowie um fünf Ausgaben der INTERIM. Die Zeitschriften enthielten Anleitungen zum Bau von Brandsätzen mit Gaskartuschen oder für einen Molotowcocktail. Im Oktober wurden mehrere Szeneläden in Kreuzberg und Prenzlauer Berg, in denen diese Zeitschriften auslagen, durchsucht. 191 Die Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren wegen SSSS 130a StGB (Anleitung zu Straftaten) sowie SS40 Abs. 1 WaffG (Verstoß gegen das Waffengesetz) ein. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 99 f. 192 "RAZ": "Kommunique der Revolutionaeren Aktionszellen". In: "radikal" Nr. 163, 2010, S. 44. 193 "eine gruppe aus den autonomen gruppen": Ohne Titel. In: "INTERIM" Nr. 706, ohne Datum, S. 8. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 113 Die Szene protestierte mit mehreren Demonstrationen und Spontanzusammenkünften gegen diese Durchsuchungsmaßnahmen. Am 27. Oktober demonstrierten rund 100 Personen spontan in Kreuzberg aus Solidarität mit einem Szenebuchladen. Dieser war neben anderen Geschäften tags zuvor wegen einer Ausgabe der "INTERIM" durchsucht worden. Die Ausgabe enthält die Bauanleitung für einen sogenannten "spurenarmen" Molotowcocktail (Hände und Textilien der "Anwender" werden nicht mit Spuren behaftet). Außerdem ist eine Anleitung zum Bau eines zeitverzögerten Brandsatzes, des sogenannten "Nobelkarossentodes" abgedruckt. In dem Laden war zudem in der Nacht vom Brand eines 26. auf den 27. Oktober aus bisher unbekannSzeneladens ter Ursache ein Brand ausgebrochen. Aufgrund von Farbschmierereien in der Nähe des Ladens wurde der Brand der rechtsextremistischen Szene zugeschrieben. In einem Internetportal machten Szeneangehörige die Polizei hierfür mitverantwortlich: "Die Bullen bereiten ein willkommenes Klima für die Faschos, indem sie unsere Strukturen permanent kriminalisieren und mit der Presse weiter ihre Hetzjagd gegen die radikale Linke vorantreibt - die Faschos wähnen sich dann als die vollstreckende Hand der konservativen Schlacke [...] Nutzen wir also die Angriffe, wandeln Wut in Widerstand, bleiben respektlos gegenüber Staat und offensiv gegenüber Nazis!" 194 Vereinzelte Stimmen forderten, man solle nicht nur gegen Rechtsextremisten demonstrieren, sondern "antifaschistische Recherchearbeit" stärken, um die Täter von Straftaten benennen zu können. 194 "Rigaer94": Kommentar zu Artikel "BLN: Über 1500 auf Antifa-Demo/ Polizeigewalt". Internetportal, datiert 3. 11.2010. 114 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Brandanschlag auf Einen Brandanschlag auf das BunBundesverwaltungsamt desverwaltungsamt in Wilmersdorf am 18. November begründeten die RAZ in einem Selbstbezichtigungsschreiben ebenfalls mit den Durchsuchungsmaßnahmen gegen die Buchläden: "Wir halten nichts davon, verhalten auf die Kette von staatlichen Übergriffen auf unsere Projekte zu reagieren. Wir denken, dass es längst überfällig ist, die weit verbreitete Passivität durch ein demonstratives Signal zu durchbrechen." 195 Bemühen um Vermittelbarkeit Weitgehend einig waren sich die Diskutanten der Militanzdebatte darin, dass Gewalt vermittelbar und zielgenau sein müsse. Auch dies zeigt, dass die Militanzdebatte eine nachgeholte Diskussion aufgrund der zahlreichen Gewalttaten des vergangenen Jahres und der darauf folgenden gesellschaftlichen Gegenreaktion war. Die Autoren der "p.r.i.s.m.a" schrieben, autonomes Agieren, insbesondere Gewalt, müsse gesellschaftlich verankert und vermittelt werden. 196 Dem stimmten auch "einige aus der ex-mg" zu, um "[...] diese Distanz, die sich zwischen militanter Politik und ihrer Vermittelbarkeit in Bevölkerungskreise hinein durch die mediale Meinungsund Stimmungsmacherei ergeben hat, wieder zu verringern." 197 Rechtfertigungsdruck Die Autoren der "ex-mg" warnten, wenn man die Ziele für Straftaten nicht sorgfältig genug auswähle, dass es auf die gesamte Szene negativ zurückfallen werde.198 Man solle daher Firmenfahrzeuge schädigen oder aber Autos in teuren Wohnvierteln anzünden, die die "ex-mg" in ihrem Artikel auch 195 "Revolutionäre Aktionszellen (RAZ) - Zelle Gudrun Ensslin": "Kommunique der Revolutionären Aktionszellen (RAZ)". Internetauftritt der "radikal", datiert 18.11.2010. 196 Vgl. "2. Ziele und Beweggründe militanter Politik". In: "prisma", 16.4.2010, S. 6. 197 "einige aus der ex-(mg)": "Der Weg von der 'Hassbrennerei' zum organisierten Sozial-Rebellismus. Ein Nachtrag zur Militanzdebatte." In: "radikal" Nr. 162, Februar 2010, S. 10. 198 Ebenda, S. 10 und 15. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 115 benennt. Dennoch müsse man vorher recherchieren, um auch "den Richtigen" zu treffen und wirklich nur das ausgewählte Fahrzeug zu beschädigen.199 Auf eine breite gesellschaftliche Verankerung und Vermittlung von Militanz und autonomem Handeln setzten die Autoren der "p.r.i.s.m.a.". Eine andere Gruppe betonte, Gewalt dürfe nicht "im luftleeren Raum" verübt werden. Man müsse darauf achten, dass Militanz in der Bevölkerung "verankert" werde. 200 Einen Weg zur besseren Vermittelbarkeit sah eine Gruppe in einer intensiDiskussion um veren Vernetzung. Man solle mit den eigenen "Klassenangehörigen" zusamVermittelbarkeit von menkommen und ihnen zum Beispiel in Versammlungen erklären, warum Gewalttaten man militant handele: "Wir müssen die Menschen dort abholen wo sie sind und nicht darauf warten, dass sie in unseren plakatierten Hinterzimmern auftauchen." 201 Auf die Bezugnahme auf größere gesellschaftliche Themen und "linke Kampagnen" legten die Autoren der "p.r.i.s.m.a." wert. Es sei wichtig, Gewalthandeln einzubetten und auf diese Weise "[...] auf gärende gesellschaftliche oder linke Kampagnen bezogen [zu] agieren und nicht im luftleeren Raum." 202 Daher fordern sie, Militanz nicht unkommentiert zu verüben, sondern sie mittels Flugblättern oder Selbstbezichtigungsschreiben zu vermitteln. Von der Militanzzur Organisierungsdebatte Folgerichtig mündete die Militanzdebatte in eine Debatte einer möglichen Diskussionsforum Organisierung.203 Einige Gruppierungen wollten verstärkt Kontakt zu degesucht mokratischen Akteuren aufnehmen, andere Zusammenhänge forderten eine rein extremistische Plattform, auf denen Diskussionen stattfinden und gemeinsame Handlungsstrategien entwickelt werden könnten. "Einige aus der ex-mg" meinten damit ein Forum, auf dem sich linksextremistische 199 Ebenda, S. 12 und 15. 200 Vgl. "Bewegung Schwarzer Phoenix": "the hand of the handless" In: "INTERIM" Nr. 708, 16.4.2010, S. 20. 201 Vgl. "Bewegung Schwarzer Phoenix": "the hand of the handless". In: "INTERIM" Nr. 708, 16.4.2010, S. 20. 202 "2. Ziele und Beweggründe militanter Politik". In: "prisma", 16.4.2010, S. 6. 203 Vgl. S. 103 ff. 116 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Gruppen über Militanz austauschen könnten. Die militanten Aktionsformen seien zu bevorzugen, die eine Organisierung erfordern. Der Wert einer Aktionsform bemisst sich für "einige aus der ex-mg" auch daran "[...] inwiefern sich aus dem praktischen Tun [...] organisatorische Strukturen ergeben, die an einem längerfristigen Projekt arbeiten. Demnach meinen wir kein kurzatmiges Aufflackern von temporären Zusammenschlüssen von (sporadisch) Aktiven, sondern die Orientierung, beständige organisatorische Kerne zu bilden, die ausbaufähig sind." 204 "radikal" als "militan Das Herausgeberkollektiv der "radikal" bot sich selbst als "militante Plattte Plattform" form" innerhalb der linksextremistischen Szene an, um für eine gewisse Kontinuität in der Militanzdebatte zu sorgen und um unterschiedliche Wissensstände der Diskutanten zu harmonisieren. 205 Einige Teilnehmer der Militanzdebatte lehnen die "radikal" und die darin veröffentlichten Texte aber als hochgestochen und "kadermäßig" ab. 206 Kritik an Folgen Auch die RAZ sprachen sich dafür aus, die Militanzdebatte mit einer Orlosigkeit bisheriger ganisierungsdebatte zu verbinden. Ansonsten blieben die zahlreichen GeGewalt walttaten ohne längerfristige Ergebnisse und führten zu Enttäuschung der Aktivisten: "Wir werden uns in diesen erweiterten Diskussionsprozess, der aus der Militanzdebatte hervorgegangen ist, inhaltlich-praktisch einzubringen haben, wenn wir an organisatorischen Ergebnissen interessiert sind - ja, und das sind wir. [...] 204 "einige aus der ex-(mg)": "Der Weg von der 'Hassbrennerei' zum organisierten Sozial-Rebellismus. Ein Nachtrag zur Militanzdebatte." In: "radikal" Nr. 162, Februar 2010, S. 16. 205 "radikal-redaktion": "Ueber die Widerhaken einer fortgesetzten Fortsetzung der Militanzdebatte - oder wie ist der Sprung in eine Organisierungsdebatte zu vollbringen". In: "radikal" Nr 163, Sommer 2010, S. 26-30. 206 Vgl. "Bewegung Schwarzer Phoenix": "the hand of the handless" In: "INTERIM" Nr. 708, 16.4.2010, S. 18; "Freunde Erich Mühsams angedockt an Freie Radikal.e": "Lärmende Inhalte. Anmerkungen zu Ohnmacht, Militarismus und Militanz". In: "INTERIM" Nr. 708, 16.4.2010, S. 22; "eine gruppe aus den autonomen gruppen": Ohne Titel. In: "INTERIM" Nr. 706, 26. 2.2010, S. 7. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 117 Für uns als Militante ist klar, dass wir nur im Rahmen eines Organisierungsprozesses der revolutionären Linken zu einem stabilen Aufbau klandestin-militanter Kerne, die miteinander strukturell vernetzt sind, kommen können. Militante Aktionen, die punktuell, ohne erkennbaren, oft konstruierten thematischen Zusammenhang sind, sind - falls überhaupt - als 'Übungsversuche' anzuerkennen. Letztlich führen sie dazu, enttäuscht zu sein, da man mit diesen "Momentaufnahmen" nicht nachhaltig vorwärts kommen kann." 207 In der Militanzdebatte 2010 wird versucht, der Gewaltausübung ein theoretisches Fundament zu geben, auch um dem szeneinternen Vorwurf der Beliebigkeit, insbesondere bei den Brandanschlägen auf PKW, entgegenzutreten. Weitgehender Konsens herrschte, dass Zielgerichtetheit und Vermittelbarkeit von Gewalt die kleinsten gemeinsamen Nenner und zugleich auch zentrale Forderungen der aktuellen Diskussion sind. Gewaltanwendung gegen Sachen wird dabei als legitimes Mittel angesehen und eingesetzt. Gewalt gegen Menschen wird mehrheitlich "als nicht vermittelbar" abgelehnt. Der Einsatz von Gewalt gegen Polizisten und (vermeintliche) Rechtsextremisten wird hingegen überwiegend akzeptiert. Trotz des Rückgangs befindet sich die Zahl der politisch links motivierten Gewaltdelikte noch immer auf einem hohen Niveau. Es herrscht unvermindert eine hohe Gewaltbereitschaft in der aktionsorientierten linksextremistischen Szene. Diese kann bei entsprechenden Anlässen auch wieder für ein Ansteigen der Gewalttaten aus diesem Spektrum sorgen. 7.4 Kurz notiert 7.4.1 Linksextremisten rufen anlässlich der Fußballweltmeisterschaft Wettbewerb "capture the flag" aus Anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 riefen aktionsorientierte Aufruf der Linksextremisten, insbesondere aus dem Spektrum der so genannten "An"Antideutschen" tideutschen" 208 zu einem "Wettbewerb" auf, der darin bestand, möglichst viele Deutschlandfahnen und andere Devotionalien zu entwenden. Ein "anti-nationaler Weltfussballverband (aWfV)" bezeichnete die WM-Fanartikel in einem Szeneportal im Internet als Symbole von Nationalismus und Rassismus, die es zu bekämpfen gelte. 207 "Revolutionäre Aktionszellen (RAZ) - Zelle Gudrun Ensslin": "Kommunique der Revolutionären Aktionszellen (RAZ)". Internetauftritt der "radikal", datiert 18.11.2010. 208 Vgl. Hintergrundinformationen "Ideologie des Linksextremismus, S. 180. 118 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 "Die nationalen und rassistischen Auswüchse der Fußball-WM sind entschieden abzulehnen und zu bekämpfen. [...] Hier ist jeder und jede gefragt, Initiative zu zeigen und sich Fahnen schwingenden Nationalisten [...] entgegenzustellen." 209 Punkte für In dem vom "aWfV" initiierten "Wettbewerb" erhielten die Teilnehmer für gestohlene Fanartikel jeden gestohlenen Fanartikel und jedes Nationalsymbol Sammelpunkte. Auf einem Szeneportal wurden Flyer veröffentlicht, die während des "Wettbewerbs" an Fahrzeuge gesteckt werden konnten. Diese sollten "Aufklärungsarbeit" leisten, "um die/den ein oder andere(n) vielleicht doch etwas zum Nachdenken zu bewegen". 210 Zur Bewertung wurde ein nach der Größe der Flaggen abgestuftes Punktesystem veröffentlicht. Eine so genannte "autonome wm-gruppe" reagierte auf den Aufruf des "aWfV" und forderte "mehr Deutschlandfahnen" im Wettbewerb zu entwenden. Der Online-Shop "DirAction" warb auf seiner Seite damit, dass jeder, der 30 WM-Fahnen einsenden würde, ein T-Shirt mit der Aufschrift "Deutschland Du Opfer" geschenkt bekommen solle. 211 Wettbewerb führt zu Eine gruppenübergreifende Auswertung von "Punkteständen" aus dem hoher Zahl an gestoh "Wettbewerb" fand zwar nicht statt. Allerdings brüstete sich das "Antiraslenen Fanartikeln sistische Bündnis Neukölln" damit, 5 000 Fahnen gestohlen zu haben. Ein "Kommando Kevin Prince Boateng Berlin-Ost" behauptete Ende Juni, es habe rund 1 700 Fahnen entwendet. 212 Besondere Aufmerksamkeit erregte der Diebstahl einer rund 85 Quadratmeter großen Flagge, die ein Bewohner mit Migrationshintergrund an seinem Wohnhaus in Neukölln angebracht hatte. Dem Vorwurf, die Linksextremisten würden Menschen mit Migrationshintergrund in eine festgeschriebene Rolle drängen, wodurch ihnen eine Identifikation mit Deutschland abgesprochen werde, 213 widersprach ein "Antirassistisches Bündnis Neukölln", das sich des Diebstahls der Fahne in der Sonnenallee bezichtigte, vehement: 209 "antinationaler Weltfussballverband (aWfv)": ohne Titel. Internetportal, ohne Datum: Aufruf am 30.6.2010. 210 "Wider den nationalen Taumel": "Deutschland entflaggen?". Internetportal, datiert 29.6.2010. 211 Szeneportal, Aufruf am 30.6.2010. 212 Vgl. "AntiraBündnis44": "(B) Diebe der Neuköllner Fahne melden sich". Internetportal, datiert 13.7.2010; "Kommando Kevin-Prince-Boateng Berlin-Ost": "[B] Deutschland? Heute nicht...". Internetportal, datiert 13.7.2010. Das Kommando nannte sich nach einem Fußballspieler, der den deutschen Nationalmannschaftskapitän kurz vor der Weltmeisterschaft in einem Fußballspiel so schwer verletzte, dass dieser nicht an der Weltmeisterschaft teilnehmen konnte. 213 Vgl.: Jörg Lau: "Nachtwache an der Sonnenallee". In: "DIE ZEIT" vom 2. Juli 2010. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 119 "Wir wenden uns gegen einen medialen Diskurs, der uns beschuldigt, unsere Nachbar_innen zu 'Ausländern' zu machen. Nur einem dient die Debatte um den 'Neuköllner Fahnenstreit': Dem Image einer 'weltoffenen' deutschen Nation!" 214 Nach dem Ende der Fußball-WeltWettbewerb endet mit meisterschaft erklärte sich die am WMFinale Wettbewerb mitbeteiligte "autonome wm-gruppe" in einem InternetArtikel für aufgelöst. Die Gruppe feierte sich als "eventgebundene[n] Dorn im Zeh der schwarz-rot-geilen-Bevölkerung", auch wenn dies eine breite Vermittlung der eigenen Taten ins demokratische Spektrum hinein verhindere. Der Wettbewerb Linksextremisten posieren mit Fan-Artikeln brachte die Teilnehmer allerdings in die Zwickmühle von antideutscher und antirassistischer Positionen. Die Aktivisten stellten fest, dass sie mit ihren Straftaten sowohl bei Menschen mit Migrationshintergrund als auch bei "linken", nicht-extremistischen Personen Ablehnung hervorgerufen hätten: "Wenn man abseits des gesellschaftlichen Konsenses agiert, prasseln immer wieder die dämlichsten Vorurteile auf einen ein, aber der konstruierte Rassismus-Vorwurf, versaute manchen von uns den Tag. Und so bleibt eine der Konsequenzen, die wir aus all dem Quatsch ziehen können, die Frage, wie wir mit Menschen mit Migrationshintergrund [...] gerade in antinationaler Praxis umgehen können. Vielleicht hätten wir im Blitzlichtgewitter der Medien mehr Wert darauf legen sollen, unsere Positionen zu vermitteln." 215 214 Vgl. "AntiraBündnis44": "(B) Diebe der Neuköllner Fahne melden sich". Internetportal, datiert 13.7.2010. 215 "autonome wm-gruppe": "Von 5 Sekunden Ruhm und Bewegungsnomaden. Auflösungserklärung". Linksextremistische Kampagnenseite, Aufruf am 14.9.2010. 120 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 7.4.2 Griechische Paketbomben auch an das Bundeskanzleramt Griechische Anfang November verübten griechische Linksextremisten mit dem Namen Paketbombenserie "Verschwörung der Feuerzellen" 216 mit 14 Paketbomben eine Anschlagsserie auf mehrere Botschaften in Athen und verschiedene europäische Regierungsund Verwaltungsstellen. Betroffen war auch die deutsche Botschaft in Athen. In diesem Zusammenhang ging am 2. November auch im Bundeskanzleramt eine an die Bundeskanzlerin gerichtete Paketbombe ein. Der funktionsfähige Sprengsatz konnte rechtzeitig entdeckt und entschärft werden. Täter fordern Nach In einem 23-seitigen Selbstbezichtigungsschreiben begründete die Organiahmer in Europa sation die Anschläge mit "Solidarität und Unterstützung rebellischer Gruppen und gefangener Revolutionäre", darunter ein deutscher Anarchist. 217 Die "Verschwörung der Feuerzellen" forderte in einem weiteren Schreiben dazu auf, Anschläge auf Einrichtungen Griechenlands zu begehen: "Wir bereuen nichts und wir unterstützen alle Kommandos und Aktionen unserer Organisation, sowie solche, die von nun an geschehen werden, was gemacht wurde, macht uns stolz. [...] Genossinnen und Genossen, lasst uns die Apathie und sozialen Betäubung brechen! Lasst uns die Ordnungsmäßigkeit der Gesellschaft ein für allemal sprengen! [...] Also schicken wir unseren aufrichtigsten Grüßen an die Guerillas, die trotz der Zeiten weiterhin mit Feuer diese miserablen Nächte der Metropolen in Flammen setzten!" 218 Anfang Dezember nahm die griechische Polizei sechs Tatverdächtige fest. Solidarisierung Deutsche Linksextremisten zeigten ihre Solidarität mit der Gruppe "Verdurch deutsche schwörung der Feuerzellen". Eine Organisation "gruppen der flammenden Linksextermisten herzen" beging am 30. November in Friedrichshain und Kreuzberg Brandstiftungen an Geldautomaten. In ihrem Selbstbezichtigungsschreiben bekundete sie ihre Verbundenheit mit den inhaftierten Griechen. 219 Bereits im Vorjahr hatten sich deutsche Linksextremisten mit inhaftierten Mitgliedern der "Verschwörung der Feuerzellen" solidarisiert, indem sie am 4. Dezember 2009 einen Brandanschlag auf dem Gelände des Bundeskrimi216 Englisch "Conspiracy of Cells of Fire" 217 Vgl. "Conspiracy of Cells of Fire": Selbstbezichtigungsschreiben vom 25. November 2010. 218 "Conspiracy of Cells of Fire - Kommando Praktische Theorie. Gerasimos Tsakalos & Panagiotis Argirou": Selbstbezichtigungsschreiben vom 23. November 2010, deutsche Übersetzung. 219 Vgl. "gruppen der flammenden herzen": Selbstbezichtigungsscheiben vom 30. November 2010. Aktuelle Entwicklungen - Linksextremismus 121 nalamts in Berlin verübten. 220 Dazu bekannte sich eine "autonome gruppe alexandros grigoropoulus" und äußerte ihre Solidarität mit festgenommenen Personen, die mutmaßlich der Gruppe "Verschwörung der Feuerzellen" angehörten. 7.4.3 Linksextremistische Atomgegner sorgen mit Anschlägen für erhebliche Verkehrsstörungen bei Berliner S-Bahn Anlässlich des Beschlusses der "kommando Bundesregierung für längere sebastian briard" Laufzeiten von Kernkraftwerken verübte ein linksextremistisches "kommando sebastian briard" 221 am 1. November zwei Brandanschläge in Berlin. Zunächst legten die Täter in einem Kabelkanal der Deutschen Bahn AG Feuer. Durch den entstandenen Schaden störten Reparaturarbeiten nach einem linksextremistisie den S-Bahn-Verkehr für einige schen Anschlag auf die S-Bahn Stunden erheblich. Zur gleichen Zeit setzten sie ein Fahrzeug des Unternehmens Siemens AG in Brand. Offensichtlich legten die Linksextremisten besonderen Wert darauf, mit Breitenwirkung ihren Brandstiftungen in die Breite zu wirken. Während die Täter mit der beabsichtigt Siemens AG symbolisch einen "Profiteur" der Kernenergiewirtschaft angriffen, sollte der Anschlag auf die S-Bahn den öffentlichen Nahverkehr behindern und betraf eine Vielzahl von Fahrgästen. Großspurig wurde angekündigt, "weiter ins Mark der Unternehmen" eindringen zu müssen. "der flächendeckende ausfall des unternehmens deutsche bahn war geplant und sollte zeigen, dass die profiteure der atommafia kein ruhiges hinterland haben. weder im wendland, noch in den großstädten. Die verlängerung der der atomlaufzeiten, sind für uns noch ein weiteres zeichen das wir weiter ins mark der unternehmen und der bundesregierung eindringen müssen, bis zu vollständigen lähmung dieser profiteure und hinaus." 222 220 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 98. 221 Sebastien Briat war ein französischer Atomkraftgegner, der bei einem Unfall mit einem Zug, der Atommüll transportierte, 2004 ums Leben kam. 222 "kommando sebastian briard": Selbstbezichtigungsschreiben vom 1. November 2010, Fehler im Original. 122 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 8. Extremistische Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 8.1 Personenpotential und Straftaten Personenpotential Insgesamt etwa 1 600 Personen waren für das Jahr 2010 extremistischen Ausländerorganisationen zuzurechnen (2009: ca. 1 600). Die gleichbleibend größte Gruppe stellen hier unverändert die kurdischen Linksextremisten, organisiert in der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK), dar. Personenpotential Ausländerextremisten* Berlin Bund 2009 2010 2009 2010 Gesamt 1 600 1 600 24 710 24 910 Linksextremisten, davon 1 300 1 300 16 870 17 070 arabischen Ursprungs 30 30 150 150 türkischen Ursprungs 165 165 3 150 3 150 iranischen Ursprungs 55 55 1 150 1 150 kurdischen Ursprungs 1 050 1 050 11 500 11 500 Sonstige 920 1 120 Extreme Nationalisten, davon 300 300 7 840 7 840 türkischen Ursprungs 300 300 7 000 7 000 Sonstige 840 840 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotentiale ab. Aktuelle Entwicklungen - Ausländerextremismus 123 8.2 "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verfolgt nach wie vor eine Doppelstrategie aus bewaffnetem Kampf in der Türkei und weitgehend friedlichen Aktionen in Europa. Dadurch wird einerseits Druck auf den türkischen Staat erzeugt. Andererseits versucht die PKK, in der europäischen Öffentlichkeit und Politik Sympathien für ihre politische Agenda zu gewinnen sowie Unterstützung im Kampf um die Haftbedingungen des PKK-Führers Abdullah Öcalans zu erlangen. Ende 2009 kam es wegen einer Beschwerde Öcalans über seine Haftbedingungen zu gewalttätigen Aktionen in der Türkei, Besetzungsaktionen in Europa und Demonstrationen in Deutschland. 223 Die Haftsituation Öcalans auf der Gefängnisinsel Imrali wurde erneut vom "Europäischen Komitee zur Verhinderung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe" (CPT) begutachtet. Laut Bericht des CPT vom 9. Juli gab es keine Anhaltspunkte, dass er misshandelt, vergiftet oder in unzumutbarer Art gefangen gehalten wurde. Zudem entsprächen die Standards des Hochsicherheitsgefängnisses Imrali denen europäischer Gefängnisse. 224 Die Beschwerde über die Haftbedingungen wurde von den Organisationsanhängern nicht mehr thematisiert. Anschläge der Freiheitsfalken Kurdistans in der Türkei Im Frühjahr verstärkten sich an der Grenze zum Irak militärische Operationen der türkischen Armee gegen die Guerillaeinheiten der PKK, die "Volksverteidigungskräfte" (HPG). 225 Daraufhin beendete die PKK zum 1. Juni den im März 2009 ausgerufenen "einseitigen Waffenstillstand". Bereits Mitte Mai hatte Öcalan beim Treffen mit seinen Anwälten erklärt, dass er sich nicht mehr um eine friedliche Lösung bemühen werde: 223 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 117. 224 Vgl. Bericht des "Europäischen Komitees zur Verhinderung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe" vom 9.7.2010. 225 Vgl. Hintergrundinformation zur PKK, S. 245. 124 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 "Weil ich keinen Ansprechpartner finden konnte, werde ich mich nach dem 31. Mai zurückziehen. [...] Von nun an trägt die KCK 226 die Verantwortung, ja sogar die BDP 227 und der Staat." 228 Die Aussage Öcalans wurde in PKKKreisen als Aufforderung zur Wiederaufnahme des aktiven Kampfes aufgefasst, dessen Ausmaß über die Auseinandersetzungen mit der türkischen Armee in Waffenstillstandszeiten hinaus geht. Daraufhin nahmen die Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) 229 nach zweijähriger Pause im Juni ihre Anschläge auf türkische Sicherheitskräfte wieder auf, bei denen fünf Personen getötet und mindestens 27 verletzt wurden. Daneben gab es in zahlreichen türkischen Städten gewalttägige Aktionen, vor allem Brandanschläge von Jugendlichen. Als Reaktion organisierte die "kurdische Jugend" in Berlin unter dem Motto "Stoppt den Krieg in Kurdistan - Freiheit für Öcalan" am 20. Juni einen Aufzug mit etwa 450 Personen. Dabei wurden sie vom so genannten "Volksrat Berlin" 230 unterstützt. Die Aufzugsteilnehmer riefen PKK-Slogans. 231 Am 14. August verkündete die PKK einen erneuten "einseitigen Waffenstillstand". Die Erklärung zielte darauf ab, einen baldigen Friedensprozess zu signalisieren. 226 Die "Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans" (KCK) ist die aktuelle Organisation, unter deren Dach der "Volkskongress Kurdistans" (Kongra Gel) als oberstes Beschlussorgan und Legislative der PKK Vorschriften ausarbeitet. 227 "Partei für Frieden und Demokratie" (BDP): Partei in der Türkei, die die Interessen der Kurden vertritt. 228 Vgl. Internetauftritt der PKK-nahen Tageszeitung "Yeni Özgür Politika" vom 29.5.2010 229 Die TAK sind nach eigenen Angaben 2004 aus der HPG hervorgegangen und seitdem für zahlreiche terroristische Aktionen in der Türkei verantwortlich. 230 Mit der Gründung lokaler Volksräte wird Öcalans System des "Demokratischen Konföderalismus" umgesetzt. Das Modell soll den Anschein von Mitbestimmung und Basisdemokratie erwecken. In der streng hierarchischen PKK-Führungsstruktur haben sie jedoch keine wesentlichen inhaltlichen Einflussmöglichkeiten. 231 Vgl. Internetauftritt der "Yeni Özgür Politika" vom 23.6.2010. Aktuelle Entwicklungen - Ausländerextremismus 125 Am 31. Oktober verübte ein ehemaliger Angehöriger der HPG und, laut Selbstbezichtungsschreiben, Kommandant der TAK mit dem Decknamen Derwes einen Selbstmordanschlag auf dem Taksim-Platz in Istanbul. Er versuchte, in einen geparkten Polizeibus einzudringen, um dort eine an seinem Körper angebrachte Bombe zu zünden. Der Sprengsatz explodierte jedoch außerhalb des Busses und verletzte 32 Menschen, darunter 15 Polizisten. Die TAK bezichtigten sich am 4. November dieses Selbstmordattentats. Ihre Erklärung endet mit den Parolen: "Es lebe der Anführer Apo! 232 Es lebe der Kommandant Derwes! Es lebe Kurdistan! Es lebe die heldenhafte kurdische Jugend! Nieder mit dem türkischen Faschismus! Es lebe die TAK!" 233 Laut dieser Interneterklärung habe Derwes den Anschlag in Eigeninitiative organisiert und durchgeführt. Im Gegensatz zur PKK verübte die TAK erstmals einen Selbstmordanschlag. 234 Die PKK distanzierte sich von dem Anschlag und verlängerte die Waffenruhe bis zur türkischen Parlamentswahl im Sommer 2011. 235 Der Anschlag in der Türkei wirkte sich nicht radikalisierend auf die Organisationsanhänger in Berlin aus. Europaweite Aktionen und Anschläge nach Exekutivmaßnahmen in Belgien In Belgien durchsuchte die Polizei am 4. März PKK-nahe Objekte, u.a. die Räume des Senders "Roj TV", und nahm hochrangige Funktionäre fest. Die Maßnahmen basierten auf Ermittlungen der belgischen Generalstaatsanwaltschaft u. a. wegen des Verdachts der Rekrutierung und Beschaffung von Ausrüstungsgegenständen für die HPG sowie der Finanzierung der PKK. Die Exekutivmaßnahmen wurden von den PKKAnhängern als Teil eines "internationalen schmutzigen Komplotts" bewertet. Nach entsprechenden Aufrufen demonstrierten am 3. März in Brüssel etwa 5 000 Personen gegen die Durchsuchungen und Festnahmen der belgischen Behörden. Auch in Deutschland demonstrierten mehrere hundert PKK-Anhänger. Dies betraf Hamburg, Hannover, Frankfurt/ Main, München, Stuttgart sowie Köln. Logo der YEK-KOM 232 "Apo" ist der gebräuchliche Kurzname für Abdullah Öcalan. 233 Internetauftritt der TAK vom 4.11.2010. 234 Die PKK verübte in den 1980er bis Mitte der 1990er Jahre zahlreiche Selbstmordanschläge. Ferner gab es auch öffentlichkeitswirksame Selbstverbrennungen. 235 Vgl. Internetauftritt der "Yeni Özgür Politika" vom 2.11.2010. 126 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Diese Kundgebungen verliefen weitgehend friedlich. In Berlin fand am 5. März ein friedlicher Protest mit ca. 150 Teilnehmern vor der belgischen Botschaft statt. Ein Vorstandsmitglied der "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e. V." (YEK-KOM)236 hatte die Veranstaltung in Berlin angemeldet. In Münster warfen am 7. März unbekannte Täter Brandsätze gegen das Gebäude des türkischen Generalkonsulats. An einem Rolltor des Konsulats wurde der Schriftzug "Roj TV" aufgesprüht. Reaktionen auf das Verbotsverfahren von "Roj TV" in Dänemark Das Bundesministerium des Innern verhängte am 13. Juni 2008 ein Verbot der redaktionellen Betätigung von "Roj TV" in Deutschland, das durch das in Dänemark ansässige Medienunternehmen Mesopotamia Broadcast repräsentiert wird. 237 Der Verbotsverfügung zufolge betreibt der Sender Propaganda für die PKK und verstößt damit gegen deutsche Strafgesetze sowie gegen den Gedanken der Völkerverständigung. 238 Nach Klageerhebung vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde das Verbot am 14. Mai 2009 aufgehoben 239 und setzte das Verfahren in Deutschland am 24. Februar 2010 aus. 240 Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg soll nun klären, inwieweit das Verbot eines im europäischen Ausland ansässigen Fernsehsenders durch eine deutsche Behörde mit EU-Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Eventuell sei Dänemark für die Kontrolle der Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Mindestnormen zuständig. In diesem Jahr erhob die dänische Generalstaatsanwaltschaft Anklage gegen "Roj TV" und das Medienunternehmen Mesopotamia Broadcast wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Die im Dezember 2003 erteilte dänische Rundfunklizenz soll widerrufen werden. Aufgrund der Anklage hatte die dänische Polizei mehrere Konten des Fernsehsenders gesperrt. Die Beschlagnahmung der Gelder von "Roj TV" wurde vom Gericht in Kopenhagen für unzulässig erklärt und aufgehoben. Die Verhandlung in Dänemark wird voraussichtlich 2011 eröffnet. 236 Die YEK-KOM ist die deutsche Dachorganisation der PKK-nahen Vereine. Auf europäischer Ebene ist sie Mitglied der "Konföderation der kurdischen Vereine in Europa" (KON-KURD). 237 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 115 f. 238 Vgl. Verbotsverfügung des BMI vom 13.6.2008. 239 BVerwG 6 VR 3.08 und 4.08. 240 BVerwG 6 A 6.08 und 7.08. Aktuelle Entwicklungen - Ausländerextremismus 127 In Berlin demonstrierten am 15. Oktober etwa 40 Personen friedlich vor der dänischen Botschaft gegen das Verbotsverfahren in Dänemark. 241 Im Internet rief unter anderem der Berliner Verein "Deutsch-Mesopotamische Bildung Zentrum e. V." zur Teilnahme auf. Verbot der PKK-Jahresfeier in Berlin In Berlin wurde die geplante Saalveranstaltung zum 32. Jahrestag der PKK am 28. November verboten. Das Verwaltungsgericht Berlin bestätigte das Verbot am 26. November. In der Begründung heißt es, dass die in den letzten zwei Jahren durchgeführten vergleichbaren Versammlungen zum Gründungstag der PKK eindeutig als PKK-getragen zu bewerten sei. Die Eintrittskarten und Internetbeiträge einer geplanten und ebenfalls verbotenen Veranstaltung vom 29.11.2009, die offenbar nachgeholt wurde, enthielten gestalterische Parallelen. Die auf der Internetplattform www.youtube.com im Nachhinein eingestellten Videos dokumentierten die Räume mit Abbildungen von Öcalan und verbotenen Fahnen. Im Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin heißt es: "Die geplante Veranstaltung sei dazu geeignet, eine zumindest vorteilhafte Wirkung für die PKK und deren originäre Bestätigung zu bewirken, [...]." 242 Eine geplante Ersatzveranstaltung am 19. Dezember wurde ebenfalls verboten. Jugendliche Anhänger verüben Brandanschlag in Berlin In Zusammenhang mit dem Jahrestag der Festnahme von Abdullah Öcalan am 15. Februar 1999 kam es bundesweit zu mehreren Brandanschlägen. Die "Apoistische Jugend" bezichtigte sich eines Brandanschlags auf einen LKW am 4. Februar in Kreuzberg. "Wir wollen, dass alle unsere Jugendlichen in Europa dem internationalen Komplott gegenüber nicht stumm bleiben. Und wir laden sie ein, für den Führer Apo einzutreten. Wir rufen die ganze Jugend zu den Aktionsfeldern." 243 241 Anmelderin war ein Berliner Vorstandsmitglied der YEK-KOM. 242 VG Berlin 1 L 325.10. 243 Internetauftritt der PKK-Jugendorganisation "Komalen Ciwan" vom 5.2.2010. 128 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Schon in der Vergangenheit hatten die Mitglieder der PKK-Jugendorganisation sich unter der Bezeichnung "Apoistische Jugend" die Verantwortung für verschiedene Brandstiftungen und Anschläge in Deutschland übernommen. Im Vorfeld des Brandanschlags hatte die "Apoistische Jugend Stuttgart" in einem Internetvideo jugendliche PKK-Anhänger zu Gewaltaktionen in Europa aufgerufen. Die Erklärung wurde in der Art islamistischer Terrorvideos von einer Gruppe vermummter Organisationsanhänger zuerst auf Deutsch, später auf Türkisch verlesen, Internetvideo der "Apoistischen anschließend folgten Aufnahmen randalieJugend Stuttgart" (Screenshot) render und Parolen rufender Jugendlicher. Es wurde eine PKK-Fahne sowie das Bild eines "PKK-Märtyrers" gezeigt. Zum Schluss zeigten die Jugendlichen unter dreimaligem "Rache!"-Rufen das PKK-Symbol, den ausgestreckten Zeigeund Mittelfinger analog zum Victory-Zeichen. Die Initiatoren kündigten Rache für Angriffe auf Öcalan, das kurdische Volk und die Guerilla an und erklärten: "Wir sind die Falken Apos. Jeder, der an dem internationalen Komplott beteiligt war, ist unser Ziel. Von nun an werden unsere Aktionen weitergehen. Wir gehen diesen Weg bis in den Tod." 244 Exekutivmaßnahme mit Berlin-Bezug Im April und Oktober fanden in Berlin bei mehreren mutmaßlichen PKKAnhängern Durchsuchungen wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Vereinsgesetz statt. Die Personen werden verdächtigt, ein PKK-Rekrutierungscamp im Jahr 2007 durchgeführt zu haben. Bundesgerichtshof ändert Rechtsprechung zur PKK Der Bundesgerichtshof hob das Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt 245 auf, das Vakuf M. am 1. Dezember 2009 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. 246 Vakuf M. war als Mitglied einer deutschen kriminellen Vereinigung nach SSSS 129, 129a StGB verurteilt worden. 244 Internetvideo der "Apoistischen Jugend Stuttgart" vom 2.2.2010. 245 GBA-2 StE 5/08-6 - 2 BJs 63/07-6. 246 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 121. Aktuelle Entwicklungen - Ausländerextremismus 129 Der Bundesgerichtshof stellte erstmals fest, dass die deutschen Funktionäre der PKK lediglich Ausführende der Gesamtorganisation seien. Nach den bisherigen Feststellungen deute nichts auf eine eigenständige deutsche Vereinigung hin.247 In der Begründung der neuen Rechtsprechung heißt es: "Eine in Deutschland tätige Teilorganisation einer ausländischen Vereinigung ist nur dann als eigenständige inländische Vereinigung im Sinne der SSSS 129, 129a StGB anzusehen, wenn die Gruppierung für sich genommen alle für eine Vereinigung notwendigen personellen, organisatorischen, zeitlichen und voluntativen Voraussetzungen erfüllt." 248 Im Gegensatz dazu sei es entscheidend, "dass die PKK insgesamt die Voraussetzungen einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung im Ausland erfüllt, bei welcher der maßgebende Vereinigungswille außerhalb der Bundesrepublik Deutschland gebildet wird und der Schwerpunkt der Strukturen sowie das eigentliche Aktionsfeld in den von Kurden bevölkerten Gebieten in der Türkei, in Syrien, im Irak und im Iran liegen". 249 Die Rechtsstreitigkeit wurde zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht Frankfurt zurückverwiesen. 8.3 Kurz notiert 8.3.1 Exekutivmaßnahmen gegen die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei - Front" (DHKP-C) Wie in den vergangenen Jahren stand die türkische DHKP-C wiederholt im Visier der Strafverfolgungsbehörden in Deutschland. Die zahlreichen Exekutivmaßnahmen richteten sich hauptsächlich gegen Funktionäre im Bundesgebiet. So wurden aufgrund von Haftbefehlen des Ermittlungsrichters des BundesVerhaftung führender gerichtshofs zwei türkische Staatsangehörige am 24. Februar in Düsseldorf Funktionäre der und im Großraum Köln festgenommen. Es wurden sieben Objekte in Nord"Rückfront" in Europa rhein-Westfalen durchsucht, darunter ein Vereinsheim. 247 Vgl. BGH 3 StR 179/10. 248 BGH 3 StR 179/10. 249 Ebenda. 130 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Die Beschuldigten sind verdächtig, sich als hochrangige Führungsfunktionäre der "Rückfront" der DHKP-C in Europa an der innerhalb der DHKP-C bestehenden terroristischen Vereinigung in der Türkei beteiligt zu haben. 250 Beide sollen in die hierarchischen Strukturen der Europaorganisation der DHKP-C eingebunden gewesen sein und als professionelle Kader für die Vereinigung Aufgaben wahrgenommen haben. Einer der Beschuldigten soll von November 2008 bis Anfang Februar 2009 Deutschlandverantwortlicher der DHKP-C gewesen sein. In dieser Funktion sei er daran beteiligt gewesen, neue Mitglieder und Unterstützer für die Vereinigung zu gewinnen. Er habe die Spendenkampagne der DHKP-C in Deutschland koordiniert und die Weiterleitung der finanziellen Mittel ins Ausland organisiert. Darüber hinaus soll er seinem Nachfolger Hilfe geleistet haben, illegal in die Bundesrepublik Deutschland einzureisen und sich somit wegen Einschleusens von Ausländern strafbar gemacht haben. 251 Gegen diesen Beschuldigten hat die Bundesanwaltschaft am 10. August vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf Anklage wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung 252 und Verstößen gegen das Aufenthaltsgesetz 253 erhoben. Dem zweiten Beschuldigten wird zur Last gelegt, von November 2008 bis Oktober 2009 Gebietsverantwortlicher für Köln und anschließend bis zu seiner Festnahme Regionsverantwortlicher für Westfalen gewesen zu sein. Zu seinen Aufgaben soll es gehört haben, finanzielle Mittel und sonstige Vermögensgegenstände für die Organisation zu beschaffen. Zudem soll er an der Öffentlichkeitsarbeit der DHKP-C zwecks Anwerbung neuer Mitglieder und Unterstützer beteiligt gewesen sein. Im Dezember 2009 soll er im Rahmen der damals laufenden "Spendenkampagne" der DHKP-C zusammen mit weiteren Personen versucht haben, einen Zahlungsunwilligen mit körperlicher Gewalt zur Zahlung von 20 000 Euro zu veranlassen. 254 250 Gemäß SS 129b Abs. 1 i.V.m. SS 129a Abs. 1 Nr. 1 Abs. 4 StGB. 251 Gemäß SS 95 Abs. 1 Nr. 3, SS 96 Abs. 1 Nr. 1b AufenthG. 252 Gemäß SS 129b Abs. 1 i.V.m. SS 129a Abs. 1 StGB. 253 Gemäß SS 95 Abs. 1 Nr. 3, SS 96 Abs. 1 Nr. 1b, Abs.2 Nr. 2 AufenthG. 254 SSSS 253, 255 i.V.m. SS 250 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Aktuelle Entwicklungen - Ausländerextremismus 131 Am 15. Juli verkündete in einem anderen Fall der 6. Strafsenat des Langjähriges Verfahren Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart gegen zwei hochrangige Führungsendet mit fünf funktionäre der "Rückfront" der DHKP-C in Deutschland ein Urteil. Verurteilungen Wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung wurden die Angeklagten zu Freiheitsstrafen von vier Jahren und zehn Monaten und von fünf Jahren und vier Monaten verurteilt. Das Verfahren war zunächst gegen fünf Angeklagte geführt worden. Gegen drei Angeklagte erging am 7. August 2009 bereits ein Urteil u. a. wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung. Am 28. September wurde die Revision eines zum Zeitpunkt seiner Festnahme im Jahr 2006 in Berlin aktiven Führungskaders der DHKP-C gegen das besagte Urteil des OLG Stuttgart vom 7. August 2009 mit Beschluss des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofes (BGH) vom 28. September verworfen. Die Verurteilung zu zwei Jahren und elf Monaten Freiheitsstrafe ist nunmehr rechtskräftig. 255 In seinem Beschluss führt der BGH aus, dass derjenige als Mitglied einer ausländischen terroristischen Vereinigung einzustufen ist, der sich in Kenntnis von Zielen, Programmatik und Methoden der DHKP-C dieser anschließt und sich in ihr betätigt, auch wenn er nicht dem Kreis der führenden Funktionäre oder den mit den Anschlägen der Organisation befassten Kadern angehört. Im sachlichen Zusammenhang mit den im Bundesgebiet durchgeführten Maßnahmen führte die Berliner Gliederung der Organisation zahlreiche friedlich verlaufene Kundgebungen mit jeweils kleinem Teilnehmerkreis durch. Wie im Vorjahr stießen sie in der Öffentlichkeit auf wenig Resonanz. Die fortgesetzten Exekutivmaßnahmen dürften der Grund für die in den letzten Jahren auch in Berlin zu beobachtende verminderte Bereitschaft der Anhänger der DHKP-C sein, sich an Aktivitäten der Organisation zu beteiligen. Der Umstand, dass die vorgenannten Exekutivmaßnahmen relativ aktuelle Fälle zum Inhalt haben, belegt, dass die DHKP-C weder von ihrer revolutionären Ideologie noch von Gewalt zur Erreichung ihrer Ziele abgerückt ist. 255 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2009. Berlin 2010, S. 123. 132 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 9. "Scientology Organisation" Scientology ohne spürbaren Erfolg Zahlreiche Wie in den Vorjahren entfaltete die Berliner Organisation von Scientology Aktivitäten (SO) auch 2010 verschiedene Aktivitäten, die darauf abzielten, neue Mitglieder und Kunden für ihre Kurssysteme anzuwerben und ihre Ideologie zu verbreiten. Sie bemühte sich, im Stadtbild Berlins präsent zu sein. Dies hat sich allerdings weder auf ihre öffentliche Akzeptanz noch auf ihre Mitgliederzahlen positiv ausgewirkt. DVD "Der Weg zum Neben unregelmäßigen "Mahnwachen" mit Glücklichsein" denen sich vereinzelte Scientology-Aktivisten an eine breitere Öffentlichkeit wandten, waren 2010 erneut mehrere Berliner Schulen, aber auch Polizeidienststellen Adressaten der erfolglosen Scientology-Propaganda. Bot die Organisation in den vergangenen Jahren Veranstaltungen wie Anti-Drogen-Seminare oder Vorträge im Ethikund Religionsunterricht an, stand 2010 eine DVD mit dem Titel "Der Weg zum Glücklichsein" im Mittelpunkt ihrer Kampagne. Bei der DVD handelt es sich um die Filmpräsentation einer gleichnamigen Broschüre der Scientology, die in den Worten der Organisation als "Wegweiser zu einem glücklicheren Leben voller Mitgefühl und Fürsorge" 256 dienen soll. Tatsächlich dient diese Broschüre allerdings lediglich als Einstieg in die Scientology-Ideologie. Verschleierung der Ur Es gelang Scientology auch nicht, heberschaft durch SO ihre Urheberschaft an der DVD hinter der "Way to Happiness Foundation" zu verstecken. Hier wie auch im Fall der jährlichen SO-Ausstellung: "Psychiatrie: Tod statt Hilfe", für die offiziell ein Verein mit dem Namen "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e. V." (KVPM) verantwortlich ist, waren die Bemühungen um Aufklärungsarbeit der Sektenleitstelle erfolgreich eine Verschleierung des Scientology-Ursprunges erfolglos. Oft steht hinter der Verwendung von Pseudonymen oder Tarnorganisationen aber nicht 256 "Der Weg zum Glücklichsein". Internetauftritt der "Scientology Organisation", datiert 23.11.2010. Aktuelle Entwicklungen - "Scientology - Organisation" 133 nur der Versuch den Scientology-Bezug zu verschleiern, sondern auch das Bemühen, der Scientology-Ideologie einen pseudowissenschaftlichen Anstrich zu verleihen. Allerdings verfing auch diese Taktik bislang nicht bei der Berliner BevölLadenobjekt in Spandau aufgegeben kerung. Sämtliche Veranstaltungen der SO wurden auch 2010 weitgehend ignoriert. Das mangelnde Interesse der Berlinerinnen und Berliner dürfte auch mitentscheidend dafür gewesen sein, dass das von SO in Spandau begründete und großspurig "Dianetik und Scientology Informationszentrum" genannte Geschäft ohne nennenswerte öffentliche oder mediale Reaktion von der SO aufgegeben wurde. Das erst im März 2009 eröffnete Objekt ähnelte einem Buchladen in dem allerdings ausschließlich Bücher des Scientology-Gründers L. Ron Hubbard angeboten und Werbefilme der SO gezeigt wurden. Die Schließung des Ladens in Laden der SO Spandau steht durchaus symboin Spandau lisch für die Vergeblichkeit der bisherigen Rekrutierungsversuche der SO in Berlin. Maßgeblich mitverantwortlich dafür, dass die Propagandaund Rekrutierungsbemühungen ins Leere laufen, ist die intensive Aufklärungsarbeit, die von staatlichen und sonstigen Stellen seit der Eröffnung der SO-Niederlassung in der Otto-Suhr-Allee im Jahr 2007 betrieben wird, insbesondere durch das Informationsund Beratungsangebot der bei der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung angesiedelten Sektenleitstelle. Die Sektenleitstelle bietet auch Hilfe und Unterstützung bei persönlichen Konfliktlagen im Zusammenhang mit der SO an. 257 257 Internetauftritt der Leitstelle für Sektenfragen bei der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung unter www.berlin.de/familie/sektenpsychogruppen. 134 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 10. Spionageabwehr Unveränderte Aktivitä Die Aufklärungsaktivitäten der Nachrichtendienste fremder Staaten in der ten fremder Dienste Bundesrepublik Deutschland setzen sich in unverändertem Maß fort. Eine Vielzahl von Staaten versucht sich mit Hilfe ihrer Nachrichtendienste Interessenvorteile im politischen, militärischen und wirtschaftlichen Bereich zu verschaffen. Darüber hinaus hat insbesondere für Nachrichtendienste totalitärer Staaten die Ausforschung von in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Oppositionellen und Dissidenten ihrer Heimatländer Priorität. Verurteilungen in Berlin Der Staatschutzsenat des Kammergerichts Berlin hat am 12.1.2011 zwei libysche Staatsangehörige wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit verurteilt. Ein Angeklagter hat laut Urteil als Führungsoffizier ein Netz informeller Mitarbeiter geleitet, sich dadurch Informationen aus Oppositionskreisen beschafft und diese an seine Vorgesetzten in Libyen weitergegeben. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Der zweite Angeklagte hat laut Urteil als Informant des Führungsoffiziers gearbeitet, libysche Oppositionelle ausgespäht und seine Erkenntnisse gegen Agentenlohn an den ersten Angeklagten weitergeleitet. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt. 258 Am 8.2.2011 verurteilte der 1. Strafsenat des Kammergerichts Berlin einen weiteren libyschen Staatsangehörigen wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten, deren Vollstreckung für die Dauer von drei Jahren zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Der Angeklagte räumte in der Hauptverhandlung ein, für den libyschen Nachrichtendienst Informationen gesammelt und gegen Agentenlohn an den vorgenannten Führungsoffizier weitergegeben zu haben. 259 Berlin als Das Agieren fremder Nachrichtendienste unter dem schützenden DiploEntscheidungszentrum matenstatus der Botschaften in Berlin zählt zu den typischen Tarnmethoden. Zudem ist in Berlin die Präsenz fremder Nachrichtendienste besonders hoch, da es bundespolitisches Entscheidungszentrum mit vielen politikberatenden Einrichtungen, Interessenverbänden und entsprechenden Veranstaltungen ist. 258 KG Berlin, Az. (1) 3 StE 5/10-2 (7/10) vom 12.1.2011. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. 259 KG Berlin, Az. (1) 3 StE 7/10-2 (9/10) vom 8.2.2011. Aktuelle Entwicklungen - Spionageabwehr 135 Die in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Unternehmen und Wirtschaftsspionage Forschungseinrichtungen sind bevorzugte Zielobjekte von Ländern, die Wirtschaftsspionage 260 und Proliferation 261 betreiben. Für die deutsche Wirtschaft stellen Wirtschaftsspionage und Konkurrenzausspähung einen Deliktbereich mit hohem Gefährdungspotential dar. Der durch ungewollten Informationsfluss eintretende Schaden dürfte in Deutschland pro Jahr in Milliardenhöhe liegen. Des Weiteren registriert der Verfassungsschutz immer mehr internetgeElektronische Angriffe bundene Angriffe auf Computersysteme von Wirtschaftsunternehmen und Regierungsstellen. Ziel der verwendeten Viren, Trojaner, Würmer und BotNetze ist unter anderem die Spionage und Sabotage. Der Wurm Stuxnet infizierte sogenannte SCADA-Systeme, 262 die weltweit für die Überwachung und Steuerung technischer Prozesse verwendet werden. Die technischen Eigenschaften, die Komplexität des verwendeten Programmcodes und das Ziel des Wurms sind einzigartig, was auf enorme finanzielle wie materielle Ressourcen der derzeit unbekannten Urheber der Schadsoftware schließen lässt. Im Phänomenbereich Proliferation bemühen sich insbesondere KrisenlänProliferation der, 263 in den Besitz von atomaren, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen, der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte und Vorprodukte oder des für die Herstellung erforderlichen Wissens zu gelangen. Besonders problematisch ist dabei, dass die Wissenschaft und die gewerbliche Wirtschaft die wahren Absichten ihrer "Partner" aus proliferationsrelevanten Ländern häufig nicht erkennen können. 260 Wirtschaftsspionage ist die staatlich gelenkte oder unterstützte, von fremden Nachrichtendiensten ausgehende Ausforschung von Wirtschaftsunternehmen. Sie ist abzugrenzen vom Begriff der Konkurrenzausspähung / Industriespionage, die ein konkurrierendes Unternehmen gegen ein anderes betreibt. 261 Unter Proliferation wird die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte einschließlich des dafür erforderlichen Wissens sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen verstanden. 262 SCADA-System: "Supervisory Control and Data Acquisition", System der Firma Siemens zur Überwachung und Steuerung technischer Prozesse. 263 Krisenländer sind in diesem Fall Länder, von denen zu befürchten ist, dass von dort aus ABC-Waffen eingesetzt werden oder ihr Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele angedroht wird. 136 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Kontakt zum Die Spionageabwehr ist bei ihrer Arbeit auch auf Hinweise aus der ÖffentVerfassungsschutz lichkeit angewiesen. Diesen Hinweisen geht sie vertraulich und diskret nach. Im Falle einer bereits vorhandenen nachrichtendienstlichen Verstrickung kann die Spionageabwehr Hilfe anbieten, sich aus ihr zu lösen. Für weitere Informationen und die Sensibilisierung zu Fragen der Wirtschaftsspionage und Proliferation steht der Berliner Verfassungsschutz jederzeit zur Verfügung. Kontaktadressen und Telefonnummern des Berliner Verfassungsschutzes, darunter auch ein "Vertrauliches Telefon", finden Sie am Schluss dieses Verfassungsschutzberichts. Aktuelle Entwicklungen - Geheimund Sabotageschutz 137 11. Geheimund Sabotageschutz Der Schutz von Informationen, deren Kenntnisnahme durch Unbefugte den Bestand oder lebenswichtige Interessen, die Sicherheit und die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden kann, ist unverzichtbar. Die Verfassungsschutzbehörde wirkt auf Antrag der zuständigen öffentlichen Stelle daran mit, durch personelle, technische und organisatorische Vorkehrungen Ausforschungen durch Unbefugte in sicherheitsempfindlichen Bereichen zu verhindern. 264 Ferner sind sicherheitsempfindliche Stellen bei lebensund verteidigungswichtigen öffentlichen Einrichtungen zu schützen, deren Ausfall oder Zerstörung eine erhebliche Bedrohung für die Gesundheit und das Leben zahlreicher Menschen verursachen könnte oder die für das Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbar sind. Welche Einrichtungen dazu zählen, wird durch eine Rechtsverordnung der Senatsverwaltung für Inneres und Sport festgelegt. 265 Die Verfassungsschutzbehörde überprüft bei öffentlichen Stellen und WirtSicherheitsüber schaftsunternehmen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (so genannte Siprüfungen cherheitsüberprüfungen) und trifft selbst oder veranlasst Maßnahmen zum materiellen Geheimschutz. Zum Zweck des so genannten personellen Sabotageschutzes sind Sicherheitsüberprüfungen gesetzlich vorgesehen. 11.1 Personeller und materieller Geheimschutz im öffentlichen Bereich Der personelle Geheimschutz soll den Schutz von im öffentlichen Interesse Personeller geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen Geheimschutz (so genannten Verschlusssachen) gewährleisten. Verschlusssachen sind je nach dem Schutz, dessen sie bedürfen, nach SS 6 des Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetzes (BSÜG) in folgende Geheimhaltungsgrade einzustufen: 1. Streng Geheim 2. Geheim 3. VS-Vertraulich 4. VS-Nur für den Dienstgebrauch 264 SS 5 Abs. 3 Nr. 1 u. Nr. 3 VSG Bln, Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz (BSÜG) vom 2.3.1998 (GVBl. S. 26) in der Fassung vom 25.6.2001 (GVBl. S. 243), zuletzt geändert durch Art. XV des Gesetzes vom 17.12.2003 (GVBl. S. 617). Das Gesetz ist im Anhang abgedruckt. 265 Verordnung zur Festlegung der Arten lebenswichtiger Einrichtungen im Land Berlin vom 2.9.2003 (GVBl. S. 316). 138 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Verschlusssachen Um Sicherheitsrisiken auszuschließen, werden Personen, denen Verschlusssachen mit dem Geheimhaltungsgrad VS-Vertraulich und höher anvertraut werden sollen, vorher einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen. Sicherheitsüber Alle Details zur Definition eines Sicherheitsrisikos, zum Verfahren und zu prüfungsgesetz den Folgen für den Betroffenen sind im BSÜG geregelt. Dabei berücksichtigt das BSÜG die Mindestanforderungen an Sicherheitsüberprüfungen, zu denen sich die Bundesrepublik Deutschland gegenüber ausländischen Staaten und als Mitglied zwischenstaatlicher Einrichtungen (z. B. NATO, WEU, EU) vertraglich verpflichtet hat, damit die Sicherheitsmaßnahmen einen möglichst einheitlichen Standard haben. Überprüfung freiwillig Um die Grundrechte der Betroffenen zu gewährleisten, wird im BSÜG kein Zwang zur Sicherheitsüberprüfung festgelegt. Dieser Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht 266 wird nur mit Zustimmung der Betroffenen durchgeführt. Auch beim Ehegatten oder Lebenspartner, der bei bestimmten Überprüfungsarten in die Sicherheitsüberprüfung einbezogen wird, ist die Zustimmung Voraussetzung. Sicherheitsrisiko Der Umfang der Sicherheitsüberprüfung richtet sich nach der Höhe des Geheimhaltungsgrades, zu dem der Betroffene Zugang erhalten soll oder sich verschaffen kann. Ein Sicherheitsrisiko ist nach SS 7 Abs. 2 BSÜG dann als gegeben anzusehen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die Zweifel am Bekenntnis des Betroffenen zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder an seiner Zuverlässigkeit begründen. Ein weiterer Aspekt ist die Besorgnis der Erpressbarkeit und damit die Anwerbungsmöglichkeit für eine gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete nachrichtendienstliche Tätigkeit. Die Verfassungsschutzbehörde wird nicht von sich aus tätig, sondern nur auf Antrag des Geheimschutzbeauftragten der Behörde, bei der die zu überprüfende Person beschäftigt ist (so genannte zuständige Stelle). Im Jahr 2010 führte der Berliner Verfassungsschutz 290 Überprüfungen durch (2009: 363). Materieller Der personelle Geheimschutz wird durch den materiellen Geheimschutz erGeheimschutz gänzt, der technische und organisatorische Maßnahmen gegen die unbefugte Kenntnisnahme von Verschlusssachen umfasst. Der Verfassungsschutz berät die öffentlichen Stellen des Landes Berlin: Er informiert über Verschlusssysteme wie den Einbau von Sicherheitstüren und die Installierung von Alarmsystemen, er berät über die Datensicherheit bei der Bearbeitung von Verschlusssachen in Datenverarbeitungssystemen und begleitet die Planung und Durchführung der Maßnahmen. 266 BVerfGE 65, 1. Aktuelle Entwicklungen - Geheimund Sabotageschutz 139 Zum materiellen Geheimschutz gehört auch die Information über die Vorgaben der Verschlusssachenanweisung für das Land Berlin vom 1. Dezember 1992, welche die Bearbeitung, Verwahrung und Verwaltung von Verschlusssachen regelt, und die Kontrolle der Einhaltung dieser Anweisung. Diese Aufgabe obliegt den Geheimschutzbeauftragten, die in jeder Behörde, die Verschlusssachen bearbeitet und verwaltet, eingesetzt sind. Der wichtigste Grundsatz der Verschlusssachenanweisung lautet: "Kenntnis "Kenntnis nur, wenn nur, wenn nötig!" Nur die Personen, die mit einer bestimmten Verschlusssanötig!" che befasst sind, sollen Kenntnis erlangen. Deshalb ist es Mitarbeitern, die Verschlusssachen bearbeiten oder sich Zugang verschaffen können, nicht erlaubt, mit Kollegen oder nach Feierabend mit Familienangehörigen über die zu erledigenden Aufgaben zu sprechen. Jede technische Sicherheitsmaßnahme ist sinnlos, wenn die Verschwiegenheit der Beschäftigten nicht gegeben ist. Geheimschutz in der Wirtschaft Wirtschaftsunternehmen, die geheimschutzbedürftige Aufträge von BundesSicherheitsstandards und Landesbehörden ausführen, müssen vor Ausspähung fremder Nachrichschaffen tendienste geschützt und deshalb in das Geheimschutzverfahren von Bund und Ländern aufgenommen werden. Es sollen Sicherheitsstandards geschaffen und eingehalten werden, um zu verhindern, dass Unbefugte Kenntnis von den im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen (Verschlusssachen) erhalten. Ein Unternehmen kann die Aufnahme in die Geheimschutzbetreuung Geheimschutz grundsätzlich nicht für sich selbst beantragen. Lediglich Firmen, die sich betreuung an NATO-Infrastruktur-Ausschreibungen beteiligen wollen, sind zur Antragstellung in eigener Sache befugt. 267 Voraussetzung für die Aufnahme eines Unternehmens in das Geheimschutzverfahren des Bundes ist die öffentliche Ausschreibung eines Auftrags mit Verschlusssachen im Bundesausschreibungsblatt. Öffentliche Auftraggeber können z. B. der Bundesminister für Verteidigung oder das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung sein. Bei derartigen Verschlusssachen-Aufträgen beantragt der Auftraggeber die Aufnahme des Unternehmens in das amtliche Geheimschutzverfahren beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie. Die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen führt die Geheimschutzverfahren für die Berliner Firmen durch, wenn diese einen Verschlusssachen-Auftrag von einer Landesbehörde erhalten haben. 267 Zuständig hierfür ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) mit Sitz in Eschborn. 140 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Ausschreibung Berliner Behörden schreiben geheimschutzbedürftige Aufträge im Amtsim Amtsblatt blatt für Berlin aus. Wesentlich für die Ausschreibung bei vertraulichen Staatsaufträgen ist die Formulierung: "Es können sich geeignete Firmen bewerben, die bereits dem Geheimschutz in der Wirtschaft unterliegen, bzw. die sich dem Geheimschutzverfahren in der Wirtschaft unterziehen wollen." Aufgaben des Sicher Vor Auftragserteilung sind mindestens ein gesetzlicher Vertreter des Unterheitsbevollmächtigten nehmens, ein Sicherheitsbevollmächtigter und auch die Firmenmitarbeiter, die von staatlicher Seite aus mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betraut werden sollen, einer freiwilligen Sicherheitsüberprüfung nach den Bestimmungen des BSÜG zu unterziehen. Mitwirkende Behörde bei der Sicherheitsüberprüfung ist nach SS 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 des VSG Bln die Verfassungsschutzbehörde. 2010 wurden 124 Sicherheitsüberprüfungen für Angehörige Berliner Unternehmen durchgeführt (2009:105). Eine weitere grundlegende Voraussetzung für die Aufnahme in den amtlichen Geheimschutz bei Landesaufträgen ist der Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags zwischen der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen und der Unternehmensleitung. Dies bedeutet die rechtsverbindliche Anerkennung der Bestimmungen der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie herausgegebenen Sicherheitsanleitung "Handbuch für den Geheimschutz in der Wirtschaft" (GHB). Der Sicherheitsbevollmächtigte des Unternehmens ist in Angelegenheiten des Geheimschutzes für die ordnungsgemäße Durchführung der Sicherheitsüberprüfungen verantwortlich. Nach SS 28 Abs. 4 BSÜG wird der Sicherheitsbevollmächtigte für den personellen Geheimschutz von der Verfassungsschutzbehörde in seine Aufgaben eingeführt. Nach Überprüfung der erforderlichen Geheimschutzmaßnahmen erteilt die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen dem staatlichen Auftraggeber und dem Unternehmen einen Sicherheitsbescheid. Die Firma kann nunmehr an geheimhaltungsbedürftigen Auftragsverhandlungen beteiligt werden. Fast alle Berliner Firmen, die von staatlichen Auftraggebern einen Verschlusssachen-Auftrag erhalten haben, bearbeiten keine Verschlusssachen. Sie sind vielmehr mit Lieferungen und Leistungen beauftragt worden, bei denen sie Zugang zu Verschlusssachen haben bzw. sich verschaffen können, die VS-Vertraulich und höher eingestuft sind. Dazu zählen Montageund Wartungsarbeiten sowie Instandsetzungen in sicherheitsempfindlichen Bereichen. Aktuelle Entwicklungen - Geheimund Sabotageschutz 141 Seit Inkrafttreten des Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetzes 1998 und Aufklärungs und der damit verbundenen Regelung des Geheimschutzverfahrens fanden mit Sensibilisierungs den Sicherheitsbevollmächtigten und Vertretern von Unternehmen 504 gespräche Aufklärungsund Sensibilisierungsgespräche statt, davon 62 im Jahr 2010. Zentrale Themen bei den Informationsgesprächen mit Wirtschaftsunternehmen sind Auslandsreisen und "social-networking" in Internet-Plattformen. Ansprachen oder Anbahnungsversuche fremder Nachrichtendienste erfolgen häufig auf Auslandsreisen. Dabei sind Unternehmensmitarbeiter, die eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit ausüben, für fremde Nachrichtendienste von besonderem Interesse. Wichtig ist für diese Mitarbeiter, sich über die im Reiseland geltenden Vorschriften zu informieren und sie genau einzuhalten. Handlungen, die in der Bundesrepublik erlaubt sind, können im Reiseland strafbar sein. In den Informationsgesprächen werden die Beschaffung von Informationen über das Reiseland, die Vermeidung von Ansatzpunkten für eine Ansprache fremder Nachrichtendienste, das Verhalten gegenüber den Behörden des Reiselandes nachdem eine Person verschuldet oder unverschuldet in Schwierigkeiten geraten ist und das Verhalten nach der Rückkehr aus dem Reiseland erläutert. Eine weitere Gefahr für den Abfluss von Informationen über Unternehmen Sicherheitsrisiko und deren Mitarbeiter ist das "social-networking" in Internet-Plattformen. "socialnetworking" Die im Internet öffentlich zugänglichen Informationen über Firmen oder deren Mitarbeiter werden durch fremde Nachrichtendienste oder so genannte "social-networking Dienste" beschafft, ausgewertet und weitergegeben. Auch nicht für jeden zugängliche Websites werden genutzt. Über Tarnidentitäten loggen sich Mitarbeiter dieser Dienste in passwortgeschützte Seiten ein. Informationsquellen finden sich im beruflichen und im privaten Bereich. Firmen-Mitarbeiter, die detaillierte Profile zu ihrer Person erstellen, sich in Diskussionen einbringen, über Stärken und Schwächen der eigenen Person und der Firma berichten, öffnen das Tor zur Wirtschaftsspionage. Um die vertrauensvolle Kooperation der betroffenen Unternehmen mit den Kontakt zur Wirtschaft Sicherheitsbehörden zu vertiefen, unterstützt der Berliner Verfassungsschutz den "Länderarbeitskreis der Sicherheitsbevollmächtigten BerlinBrandenburg" (SIBE AK BR-BB), die "Industrieund Handelskammer zu Berlin" (IHK Berlin) und den "Verband für Sicherheit in der Wirtschaft Berlin-Brandenburg e.V." (VSW BB) durch fachkundige Referenten und die Bereitstellung von Informationsmaterialien bei Seminaren und Tagungen. Diese Einrichtungen sollen den in sicherheitsempfindlichen Bereichen tätigen Berliner Unternehmen ein Austauschforum bieten. 142 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Intensivierte Die IHK Berlin, der VSW BB und die Senatsverwaltung für Inneres und Sport Zusammenarbeit vereinbarten am 24. November 2010 eine engere Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität und in anderen Bereichen der inneren Sicherheit. Die Zusammenarbeit erfolgt auf der Grundlage der gesetzlichen Befugnisse, Rechte und Pflichten der Sicherheitspartner. Wesentlicher Inhalt der Sicherheitspartnerschaft ist der verstärkte Austausch von Informationen zwischen der Wirtschaft und den Sicherheitsbehörden. So sollen Unternehmen Hinweise von Wirtschaftsspionage, Proliferation, politischem Extremismus, Markenund Produktpiraterie, Produkterpressung und sonstiger Wirtschaftskriminalität oder Informationen zur Ergänzung von polizeilichen Lagebildern weiterleiten. Die Sicherheitsbehörden ihrerseits informieren über IT-Sicherheit, den Schutz vor Wirtschaftsspionage, Proliferation, Markenund Produktpiraterie, Produkterpressung, sonstiger Wirtschaftskriminalität oder politischen Extremismus. Außerdem können sie der Wirtschaft bei Bedarf allgemeine Lagebilder, Gefährdungsanalysen und zielgruppenorientierte Warnmeldungen zur Verfügung stellen. Beratungsangebote Weitere Felder der Zusammenarbeit sollen gegenseitige Unterstützung bei Ausund Fortbildungsveranstaltungen, die gemeinsame Erstellung von Informationsmaterial und regelmäßige oder anlassbezogene Informationsgespräche sein. Durch die Partnerschaft von Wirtschaft und Sicherheitsbehörden trägt der Verfassungsschutz zu einem effektiven Wirtschaftsund Informationsschutz bei, um Wirtschaftsspionage zu verhindern. Die Verfassungsschutzbehörde Berlin steht nicht nur geheimschutzbetreuten Unternehmen beratend zur Verfügung. Auch Unternehmen, die nicht mit geheimschutzbedürftigen Aufträgen befasst sind, können sich an den Verfassungsschutz wenden, um Beratungsgespräche zum Schutz vor Abschöpfung firmeneigenen Know-Hows zu vereinbaren. Referenten zu verschiedenen Themen im Rahmen des Wirtschaftsschutzes können für Vorträge angefordert werden. Sabotageschutz Sicherheitsrisiken Ziel des Sabotageschutzes ist es, die Beschäftigung von Personen, bei denen Sicherheitsrisiken vorliegen, an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebenswichtigen öffentlichen Einrichtungen zu verhindern. Auch zu diesem Zweck ist die Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen gesetzlich vorgesehen (SSSS 1 Nr. 2; 2 Nr. 4 BSÜG). Regelungen zum Sabotageschutz sind erforderlich, weil Sabotageakte gegen lebenswichtige Einrichtungen erhebliche Risiken für die Gesundheit oder das Leben zahlreicher Menschen zur Folge haben oder das Funktionieren des Gemeinwesens gefährden können. In der Verordnung vom 2. September 2003 wurden die Arten der lebenswichtigen Einrichtungen für das Land Berlin festgelegt. 268 268 Verordnung zur Festlegung der Arten lebenswichtiger Einrichtungen im Land Berlin vom 2.9.2003, GVBl., S. 316. Aktuelle Entwicklungen - Geheimund Sabotageschutz 143 11.2 Mitwirkung bei Einbürgerungsverfahren und sonstigen gesetzlich vorgeschriebenen Überprüfungen Der Verfassungsschutz wirkt nach SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG Bln mit bei Überprüfungen in Einbürgerungsverfahren. Auf Antrag der Einbürgerungsbehörde wird geprüft, ob über Personen, die einen Antrag auf Einbürgerung gestellt haben, Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörden der Länder oder des Bundes vorliegen. Seit dem 1. Januar 2000 ist eine Einbürgerung für Personen zwingend ausgeschlossen, 269 welche * die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden, * sich bei der Verfolgung politischer Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligen, * öffentlich zur Gewaltanwendung aufrufen, * mit Gewaltanwendung drohen. Eine Einbürgerung kann versagt werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte Einbürgerungen: die Annahme rechtfertigen, dass der Einbürgerungsbewerber verfassungsAusschließungsgründe feindliche Bestrebungen unterstützt oder verfolgt. 270 Im Januar 2001 legte die Senatsverwaltung für Inneres fest, dass bei Einbürgerungsbewerbern aus bestimmten Herkunftsländern stets eine Anfrage beim Verfassungsschutz zu erfolgen hat. Unabhängig von der Herkunft ist eine Anfrage auch immer dann zu stellen, wenn Anhaltspunkte für eine extremistische Haltung oder sicherheitsgefährdende Tätigkeiten vorliegen. 2010 wurden 7360 Anfragen bearbeitet (2009: 6464). Vergleichbare Sicherheitsanforderungen gelten auch für das AufenthaltsEinreise und recht von Ausländern. Das 2005 neu gefasste Aufenthaltsgesetz (AufentAufenthaltsverbote haltG) 271 sieht vor, dass Personen, die gewaltbereit sind, terroristische Aktivitäten begehen oder unterstützen, keine Visa oder Aufenthaltsgenehmigungen erhalten oder einem Einreiseund Aufenthaltsverbot in Deutschland unterliegen. Zur Versagung der Einreise muss festgestellt werden, dass 269 Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG), vom 22.7.1913 i. d. F. des Art. 6 Nr. 9 Gesetz zur Änderung des AufenthaltsG vom 14.3.2005, BGBl. I S. 721. 270 SS 11 Nr. 1 StAG - zuletzt geändert durch Art. 3 G vom 19.8.2007, BGBl. I S. 1970. 271 Aufenthaltsgesetz (AufenthaltsG), BGBl. I S. 1953. 144 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland besteht. 272 Aus rechtsstaatlichen Gründen reichen Vermutungen nicht aus. Ausweisungen Um terroristischen oder gewaltbereiten Ausländern keinen Ruheraum in Deutschland zu gewähren, wurden ferner die Regelausweisungstatbestände erweitert. Im Regelfall wird ausgewiesen, wer nach dem neuen Versagungsgrund nicht hätte einreisen dürfen.273 Zur Feststellung von Versagungsgründen können die Ausländerbehörden den Verfassungsschutzbehörden der Länder und weiteren Sicherheitsbehörden die von ihnen erhobenen Personalien übermitteln. Die angefragten Behörden teilen der Ausländerbehörde unverzüglich mit, ob Versagungsgründe vorliegen.274 2010 gingen 7790 Anfragen bei der Verfassungsschutzbehörde ein (2009: 6824). Luftsicherheitsgesetz Der Verfassungsschutz wirkt nach SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG auch bei Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach SS 7 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG)275 mit. Die gemeinsame Luftfahrtbehörde der Länder Berlin und Brandenburg und zugleich gemeinsame Luftsicherheitsbehörde führt danach auch die Zuverlässigkeitsüberprüfungen von Personen durch, die Zutritt zu den nicht allgemein zugänglichen Bereichen des Berliner Flughafens Tegel bzw. des im Land Brandenburg befindlichen Flughafens Schönefeld haben sollen. Hierfür bewertet die Luftsicherheitsbehörde die von der Polizei, aus dem Bundeszentralregister und vom Verfassungsschutz übermittelten Informationen. Über die Verwendung im Bereich der Flughäfen entscheidet die Behörde selbst. 2010 wurden 4100 Personen gemäß SS 7 LuftSiG durch den Verfassungsschutz überprüft (2009: 5401). Atomgesetz Auch das Atomgesetz (AtomG) 276 sieht Zuverlässigkeitsüberprüfungen vor, an denen der Verfassungsschutz gemäß SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG mitwirkt. Da kerntechnische Anlagen im Hinblick auf mögliche unbefugte Handlungen besonders zu schützende Objekte darstellen, sind Sicherungsmaßnahmen auch in Form der Überprüfung von Personen erforderlich, die Zutritt zu den kerntechnischen Anlagen erhalten sollen. In Berlin werden die Personen überprüft, denen der Zutritt zum Forschungsreaktor des Helmholtz-Zentrums Berlin gewährt werden soll. Weitere kerntechnische Anlagen sind nicht vorhanden. 272 SS 5 Abs. 4 AufenthaltsG. 273 SS 55 Abs. 2 AufenthaltsG. 274 SS 73 Abs. 2 u. 3 AufenthaltsG. 275 BGBl. I S. 78 vom 11.1.2005. 276 BGBl. I S. 1565 mit letzten Änderungen vom 27.7.2001 (BGBl. I S. 1950). Aktuelle Entwicklungen - Geheimund Sabotageschutz 145 Die Überprüfung gemäß SS 12 b AtomG wird von der Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz als zuständige atomrechtliche Behörde durchgeführt. Für die Prüfung der Zuverlässigkeit werden auch hier Auskünfte von der Polizei, der Verfassungsschutzbehörde und aus dem Bundeszentralregister eingeholt. Die Bewertung der übermittelten Erkenntnisse obliegt der atomrechtlichen Behörde. 2010 wurden durch den Verfassungsschutz 383 Personen überprüft (2009: 253). Seit 2005 gibt es gesetzliche Regelungen über die Beteiligung der VerfasWaffen und sungsschutzbehörden bei Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem WafSprengstoffgesetz fengesetz, dem Sprengstoffgesetz und der Bewachungsverordnung. Seit 1. September 2005 sind die Verfassungsschutzbehörden der Länder an der Überprüfung von Personen beteiligt, die gewerbsmäßig mit explosionsgefährlichen Stoffen umgehen oder den Verkehr mit solchen Stoffen betreiben wollen. 277 Zuständige Behörde für die Durchführung der Zuverlässigkeitsüberprüfung in Berlin ist das Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheit und technische Sicherheit. 2010 erfolgten 189 Anfragen (2009: 31). Wer gewerbsmäßig Leben und Eigentum fremder Personen bewachen will, Bewachungsver bedarf einer Erlaubnis auf der Grundlage der Bewachungsverordnung durch ordnung die Gewerbeämter der Berliner Bezirke. In begründeten Einzelfällen können diese gemäß SS 9 Abs. 2 Nr. 2 der Bewachungsverordnung bei der örtlich zuständigen Verfassungsschutzbehörde anfragen, ob Erkenntnisse vorliegen, die für die Beurteilung der persönlichen Zuverlässigkeit der Antragsteller von Bedeutung sind. 2010 gingen wie auch 2009 keine Anfragen ein. Ebenfalls zu den Mitwirkungsangelegenheiten gehören auf Grund des 7. GeÜberprüfung von setzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) vom 16. Mai Spätaussiedlern nach 2007278 seit dem 24. Mai 2007 auch Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach Bundesvertriebenen dem BVFG279 (Neufassung des Bundesvertriebenengesetzes vom 10. August gesetz 2007, BGBl. I S. 1 902). Die bislang in SS 5 BVFG aufgeführten Gründe, die den Erwerb der Rechtsstellung als Vertriebener ausschließen, wurden erweitert. Diese Erweiterung wurde von der Bundesregierung u. a. damit begründet, dass es bislang keine Regelungen gab, die sicherstellen, dass Schwerkriminelle, gewaltbereite Extremisten und Terroristen nicht auf dem Weg des Verfahrens zur Aufnahme von Spätaussiedlern nach Deutschland kommen können. 280 277 SSSS 7 u. 8a Abs. 5 Nr. 4 Sprengstoffgesetz ( SprengG) , BGBl. I S. 3518, zuletzt geändert durch Art. 1 des dritten ÄnderungsG vom 15.6.2005 (BGBl. I S. 1676) Art. 35 des Gesetzes zur Umbenennung des BGS in Bundespolizei vom 21.7.2005 (BGBl. I S. 1818). 278 BGBl. I S. 748. 279 Neufassung des Bundesvertriebenengesetzes vom 10.8.2007; BGBl. I S. 1902. 280 Bundesdrucksache 16/4017 vom 11.1.2007. 146 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Die Rechtsstellung als Spätaussiedler kann nach SS 5 Nr. 1 e BVFG nicht erwerben, wer nach einer durch tatsächliche Anhaltspunkte gerechtfertigten Schlussfolgerung * einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, oder eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat, * bei der Verfolgung politischer Ziele sich an Gewalttätigkeiten beteiligt oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufgerufen oder mit Gewaltanwendung gedroht hat oder * Bestrebungen verfolgt oder unterstützt oder verfolgt oder unterstützt hat, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet sind, es sei denn, er macht glaubhaft, dass er sich von den früheren Handlungen abgewandt hat. Das Bundesverwaltungsamt, zuständig für das Aufnahmeverfahren von Spätaussiedlern, beteiligt zur Feststellung von Ausschlussgründen neben dem Bundesnachrichtendienst, dem militärischen Abschirmdienst, dem Bundeskriminalamt, dem Zollkriminalamt auch das Bundesamt für Verfassungsschutz, wenn die zu überprüfende Person das 16. Lebensjahr vollendet hat. Das Bundesamt für Verfassungsschutz gleicht die vom Bundesverwaltungsamt übermittelten Daten mit dem "Nachrichtendienstlichen Informationssystem" (NADIS) ab und beteiligt im Falle einer Fundstelle die jeweilige Landesbehörde, wenn sie nachrichtengebende Stelle ist. 2010 gab es keine Überprüfungen. II Hintergrundinformationen 148 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 1. Ideologien 1.1 Definition Extremismus Der Begriff Extremismus bezeichnet kein einheitliches Phänomen, sondern ist eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Bestrebungen, "die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen". 281 Die verfassungsmäßige Grenze des politischen Handelns ist in der Bundesrepublik Deutschland eindeutig festgelegt. Anlässlich des Verbots der "Sozialistischen Reichspartei" (SRP) bestimmte das Bundesverfassungsgericht 1952 den Kern des demokratischen Verfassungsstaates, die freiheitliche demokratische Grundordnung. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind zu rechnen: * die Achtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, vor allem des Rechtes der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, * die Volkssouveränität, * die Gewaltenteilung, * die Verantwortlichkeit der Regierung, * die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, * die Unabhängigkeit der Gerichte, * das Mehrparteienprinzip, * die Chancengleichheit aller politischen Parteien, * das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition. 282 Die Verfassungsschutzbehörden verwenden den Extremismusbegriff seit Anfang der 1970er Jahre in Abgrenzung zu dem Begriff des Radikalismus. Während extremistische Positionen die Grenze der verfassungsmäßigen Ordnung überschreiten, bezeichnet der Radikalismus Auffassungen, die zwar grundlegende systemoppositionelle Positionen vertreten, die sich aber mit ihrer fundamentalen Kritik innerhalb der Grenzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewegen. 281 Uwe Backes/Eckhard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 4. Auflage Bonn 1996, S. 45. 282 Vgl. BVerfGE 2, 1 ff; BverfGE 5, 85 ff.; SS 6 VSG Bln. Hintergrundinformationen - Ideologien 149 1.2 Islamistische Ideologie Islamismus lässt sich als der Versuch politischer Bewegungen des 20. Jahrhunderts definieren, den Islam zu ideologisieren und dort, wo dies möglich ist, eine islamistische Herrschaftsordnung zu errichten oder die Gesellschaft zu islamisieren. Islamisten begreifen den Islam insofern nicht allein als eine Religion, sondern als eine Herrschaftsideologie und als ein Gesellschaftssystem und versuchen, ihre Vorstellungen auf unterschiedliche Weise durchzusetzen. Das zentrale Ideologem des Islamismus ist die Behauptung, dass der Islam nicht allein "Religion und Welt" verkörpere, sondern darüber hinaus eine unteilbare Einheit von "Religion" und "Politik" bilde. Dem hieraus abgeleiteten politischen Anspruch versuchen Islamisten mit dem Slogan, der Islam sei "Religion und Staat" (Arabisch "al-islam din wa daula"), Nachdruck zu geben. Dieses ca. 100 Jahre alte Schlagwort wird in Bilddarstellungen häufig mit Koran (für Religion) und Schwert (für Politik) symbolisiert. Kennzeichnend für einige islamistische Gruppen ist ferner die Favorisierung frühislamischer und mittelalterlicher Herrschaftskonzepte - etwa ein globales Kalifat, in dem die Führungsperson (Kalif) zugleich die weltliche und die religiöse Herrschaft ausübt. Darüber hinaus begreifen Islamisten die islamische Rechtsund Werteordnung Scharia nicht allein als ein Recht, sondern als ein politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip. So werben sie mit dem Schlagwort der "Anwendung der Scharia" meist für eine vollständige Umsetzung der Bestimmungen des islamischen Rechts. Schließlich versuchen insbesondere gewaltorientierte islamistische Gruppen, Gewalt durch Bezüge auf die Religion zu legitimieren. Hierbei reduzieren sie den Begriff des Jihad (wörtl. Bemühung) vorrangig auf die Bedeutung von Kampf und kriegerischer Handlung und verstehen ihn nicht - wie im islamischen Recht fixiert - als eine vorrangig zum Zwecke der Verteidigung muslimischen Territoriums zulässige Methode. Vielmehr wird der Jihad zu einer offensiven militanten Kampfform uminterpretiert und zu einer vermeintlich individuellen Pflicht eines jeden Muslims erklärt. Trotz gemeinsamer ideologischer Merkmale folgen die islamistischen Gruppen keinem einheitlichen Konzept. Der Islamismus umfasst vielmehr unterschiedliche bis konkurrierende Vorstellungen und Agenden, die meist von den differierenden politischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Herkunftsländer bestimmt werden. So verketzern Einige etwa Demokratie als vermeintlich unislamisch, während Andere sich an Wahlen in ihren Heimatländern beteiligen. Insofern gibt es keinen "Einheits-Islamismus". Abgesehen von den gewaltorientierten Netzwerken um "al-Qaida" existiert auch nicht so etwas wie eine "islamistische Internationale". 150 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Gewaltorientierung In der Frage des Einsatzes von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele bestehen zwischen den Organisationen erhebliche Unterschiede. Das Spektrum reicht von der Ablehnung jeglicher Gewaltanwendung bis zur pseudoreligiösen Legitimation von Terrorismus. Zwei Hauptgruppen mit deutlich unterschiedlichen Zielrichtungen sind zu unterscheiden: Die erste und von der Anzahl her größte Kategorie bilden die nicht-gewaltorientierten Islamisten, die auch als "legalistische Islamisten" bezeichnet werden. Hierzu gehören Gruppen, die entweder nie gewaltorientiert waren (etwa die türkische "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs", IGMG) oder die - häufig nach langen Phasen des Terrorismus - der Gewalt inzwischen abgeschworen haben (etwa die arabische "Muslimbruderschaft", MB). Das Fehlen der Gewaltorientierung gilt insbesondere für die deutschen Ableger der "legalistischen Islamisten". Die zweite Kategorie bilden die gewaltorientierten Islamisten, die sich wiederum in drei Unterkategorien einteilen lassen. Zur ersten Unterkategorie gehören Gruppen, die Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele zwar befürworten, selbst aber vorrangig keine Gewalt ausüben. Dies betrifft etwa die in Deutschland seit Januar 2003 mit einem Betätigungsverbot belegte "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung", HuT). Zur zweiten Unterkategorie gehören Gruppen, die ihre terroristischen Aktivitäten vorrangig auf den Nahen Osten beschränken. Dies gilt etwa für die libanesische "Hizb Allah" (Partei Gottes") und die palästinensische "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS). Die dritte Unterkategorie gewaltorientierter Islamisten bilden schließlich transnational agierende Terrornetzwerke. Hierzu gehört in erster Linie das Netzwerk "al-Qaida" ("die Basis"), von dem inzwischen mehrere regionale Zweige - "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM), "Islamischer Staat Irak" (ISI) oder "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) - existieren. Zu den transnationalen terroristischen Netzwerken gehören auch die kurdischen "Ansar al-Islam" bzw. "Ansar al-Sunna" (AAI bzw. AAS) und die "Islamische Jihad-Union" (IJU). Die Bedeutung traditioneller Islamismus-Varianten Innerhalb des islamistischen Spektrums erweist sich der Salafismus als eine der weltweit am schnellsten anwachsenden Strömungen. Salafismus bezeichnet eine unbedingte Orientierung an der muslimischen Urgesellschaft vor 1400 Jahren, wie sie im siebten Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel existierte. Salafisten glauben, in den religiösen Quellen des Islam ein detailgetreues Abbild dieser idealisierten islamischen Frühzeit gefunden zu Hintergrundinformationen - Ideologien 151 haben und versuchen, die Gebote Gottes wortgetreu in die Tat umzusetzen. Dies mündet häufig in die wörtliche Auslegung des Koran, der Heiligen Schrift des Islam sowie der Sunna (wörtl. Brauch), der Tradition des Propheten und Religionsstifters Muhammad (570-632). Die Schriftgläubigkeit von Salafisten und ihr meist wortgetreues Verständnis religiöser Texte können dazu führen, dass frühislamische Herrschaftsund Rechtsformen befürwortet werden. Diese sind mit den Werten unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar. Im Gegensatz zu den übrigen islamistischen Gruppen in Deutschland, die wie die IGMG, MB, "Hizb Allah", HAMAS und HuT mehrheitlich nicht salafistisch ausgerichtet sind, verkörpert der Salafismus eine eher traditionelle Islamismus-Variante. Hierzu gehört neben der strikten Orientierung an der Gesellschaftsform des ersten muslimischen Gemeinwesens in Medina (gegr. 622) auch ein Exklusivanspruch des eigenen Islam-Verständnisses gegenüber jeglichen anderen Islam-Interpretationen. So versuchen Salafisten, die Scharia meist in ihrer ursprünglichen Form durchzusetzen. Sie beharren darauf, dass sämtliche Bestimmungen der Scharia zeitlos seien und deshalb keinesfalls neu interpretiert oder an heutige Lebensumstände angepasst werden dürften. Insbesondere Muslime werden von Salafisten aufgefordert, salafistische Islam-Interpretationen zu übernehmen und entsprechende Vorschriften minutiös zu befolgen. Hierzu schreiben sie ein umfassendes Regelwerk vor. Dieses betrifft das Tragen sogenannter "islamischer Kleidung" und die Übernahme alltäglicher Handlungen aus der Zeit des Propheten wie auch das Befolgen einer strikten Geschlechtertrennung und die Abgrenzung von einer nicht-muslimischen Umwelt. Hierzu gehört vor allem die - von den meisten anderen islamistischen Gruppen so nicht praktizierte - Diffamierung als "Ungläubige" ("kuffar"). Diese zielt bei Salafisten nicht allein auf Juden und Christen, sondern auch auf jene Muslime, die ihre politischen und gesellschaftlichen Auffassungen nicht teilen. Entsprechend gibt es einschlägige Aufforderungen zur Kontaktvermeidung und zum Abbruch der Beziehungen zu sämtlichen so genannten "Ungläubigen" sowie die Zurückweisung jeglicher Integrationskonzepte und Warnungen vor dem Zusammenleben von Nicht-Muslimen und Muslimen. In Abgrenzung zur Strömung des "puristischen Salafismus", die keine politischen Zielsetzungen verfolgt, gibt es im Salafismus eine politische und eine jihadistische Strömung. Diese unterscheiden sich in der Wahl ihrer Mittel prinzipiell voneinander. Der "politische Salafismus" stützt sich auf intensive Propagandatätigkeit zur Verbreitung seiner Ideologie - die so genannte "Da'wa" (Missionierung). "Jihadistische Salafisten" - etwa von "al-Qa'ida" inspirierte transnationale Terroristen - setzen hingegen auf Gewaltanwendung. Die Übergänge zwischen dem "politischen Salafismus" und dem "jihadistischen Salafismus" können allerdings fließend sein. 152 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Das Gefährdungspotential salafistischer Ideologie besteht in ihrer radikalisierungsfördernden Wirkung - gerade auch auf Konvertiten, die als "IslamAnfänger" häufig nicht zu erkennen vermögen, dass es sich hierbei um eine überaus strenge Glaubensauslegung handelt. 1.3 Ideologie des Rechtsextremismus Mit der Sammelbezeichnung Rechtsextremismus verbindet sich keine geschlossene politische Ideologie. Der Begriff umschreibt eine vielschichtige politische und soziale Gedankenwelt und ein Handlungssystem, das in der Gesamtheit seiner Einstellungen und Verhaltensweisen auf die Beseitigung oder nachhaltige Beeinträchtigung demokratischer Rechte, Strukturen und Prozesse gerichtet ist. Rechtsextremistischen Strömungen sind in jeweils unterschiedlichen Gewichtungen und Ausprägungen folgende Inhalte gemeinsam: 283 * Ablehnung des Gleichheitsprinzips: Die Ideologie der Ungleichheit äußert sich in der gesellschaftlichen Diskriminierung bestimmter Menschen und Gruppen aufgrund ethnischer, körperlicher und geistiger Unterschiede. * Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit: Die eigene "Nation" oder "Rasse" wird zum obersten Kriterium der Identität erhoben. Ihr wird ein höherwertiger Status zugeschrieben, was die Abwertung und Geringschätzung von nicht zur eigenen "Nation" oder "Rasse" gehörenden Menschen und Gruppen zur Folge hat. * Antipluralismus: Der pluralistische Interessenund Meinungsstreit wird als die Homogenität der Gemeinschaft zersetzend angesehen. Rechtsextremisten streben eine geschlossene Gesellschaft an, in der Volk und Führung eine Einheit bilden. * Autoritarismus: In demokratischen Ordnungssystemen ist der Staat ein Instrument der Selbstorganisation der Gesellschaft, das Wechselbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft vorsieht. Im autoritären Staatsverständnis steht der Staat in einem einseitig dominierenden Verhältnis über der Gesellschaft. 283 Vgl. Armin Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 2. Auflage München 2000, S. 11-16. Hintergrundinformationen - Ideologien 153 Im Phänomenbereich des Rechtsextremismus treten zahlreiche ideologische Überschneidungen und Mischformen auf. Die Überbewertung der eigenen Nation im Vergleich zu anderen Nationen wird als Nationalismus bezeichnet. Der Rassismus behauptet die Ungleichwertigkeit von "Menschenrassen" aufgrund ihrer unveränderlichen biologischen und sozialen Anlagen. Rassistische Ideologien leiten daraus ein "naturgegebenes" Recht zur Ausgrenzung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen ab. Eine besondere Form des Rassismus ist der Antisemitismus. Darunter versteht man die Feindschaft gegenüber den Juden als Gesamtheit aufgrund stereotypischer rassistischer, sozialer, politischer und/oder religiöser Vorurteile. Ein weiteres Element des Rechtsextremismus ist der Neonazismus, der durch seinen Bezug zum historischen Phänomen des Nationalsozialismus gekennzeichnet ist. Eine rechtsextreme Ideologie wird als neonazistisch bezeichnet, wenn sie an den historischen Nationalsozialismus anknüpft. 1.4 Ideologie des Linksextremismus Linksextremismus ist eine Sammelbezeichnung für Ideologien oder Ideologieelemente, die sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richten und auf eine "herrschaftsfreie Ordnung" 284 abzielen. Bei letzterer handelt es sich um ein mit politischer, sozialer und ökonomischer Freiheit ausgestattetes Gemeinwesen gleicher Menschen. Sie kann direkt oder über Zwischenstufen wie etwa im Marxismus-Leninismus (Diktatur des Proletariats) erreicht werden. Diese Ordnung reicht weit über das in demokratischen Verfassungsstaaten akzeptierte Prinzip der menschlichen Fundamentalgleichheit hinaus. Linksextremistische Ideologien richten sich gegen zentrale Grundrechte und Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung wie Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, Parlamentarismus und Gewaltenteilung. Konkret lehnen Linksextremisten die herrschende Staatsordnung als imperialistisch oder kapitalistisch ab und unterstellen ihr, sie diene lediglich dazu, die Bevölkerung strukturell zu unterdrücken. Gleichzeitig, so die extremistische Kritik, stelle die herrschende Ordnung die Herrschaft einer gesellschaftlichen Elite sicher. Linksextremistisches Hauptziel ist daher, die Staatsordnung durch einen revolutionären Akt zu überwinden. Allen linksextremistischen Ansätzen ist gemein, dass sie eine "herrschaftsfreie Ordnung" anstreben. Sie unterscheiden sich aber stark voneinander, wenn es in der Umsetzung darum geht, wie diese erreicht werden kann. 284 Vgl. u. a. Uwe Backes/Eckard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1996, S. 60. 154 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Anarchisten Anarchisten haben kein zentrales Theoriegebäude ausgebildet. Ihre ideologische Position stellt eine Überspitzung und Fortführung des linksextremistischen Gedankens der Herrschaftsfreiheit dar. Anarchisten streben die Auflösung sämtlicher staatlicher Einrichtungen an und wollen diese durch dezentrale Selbstverwaltungseinheiten ersetzen. Mit der Betonung von Autonomie und Selbstorganisation weist anarchistisches Denken ideologische Schnittmengen mit autonomen Theorie-Versatzstücken auf. Bei der Abschaffung staatlicher Institutionen sehen Anarchisten auch den Einsatz von Gewalt als gerechtfertigt an. Autonome Autonomen fehlt es an einem geschlossenen theoretischen Konstrukt. Verbindendes ideologisches Element ist die Ablehnung der bestehenden staatlichen Ordnung und das Streben nach Zerschlagung des demokratischen Verfassungsstaates. In ihr Denken beziehen Autonome kommunistische und anarchistische Versatzstücke mit ein. Insbesondere mit dem anarchistischen Denken besteht eine Schnittmenge in der autonomen Vorstellung von der "Politik der ersten Person". Ideologisch fest verankerte Vorstellungen des traditionellen Anarchismus oder von kommunistischen Parteien teilen Autonome nicht. Innerhalb der Autonomen gibt es zwei unterschiedlich große Strömungen. Dabei handelt es sich um die in Größe und Einfluss dominierenden "Antiimperialisten" und um die wesentlich kleinere Strömung der "Antideutschen". Beide sind sich darin einig, die Bundesrepublik Deutschland abzulehnen, unterscheiden sich jedoch in Hinblick auf die Begründung ihrer Ablehnung. Antiimperialisten nehmen an, dass die Bundesrepublik Deutschland wie die übrigen westlichen Staaten aufgrund ihrer demokratischen und kapitalistischen Verfasstheit zu politischer, wirtschaftlicher und kultureller Expansion neige. Dieser "Imperialismus" gehe zu Lasten des "Trikonts" (Afrikas, Asiens und Mittel-/ Südamerikas). "Antiimperialisten" lehnen den deutschen Staat also vorrangig wegen seines angeblich kapitalistisch-imperialistischen Charakters ab. "Antideutsche" nehmen hingegen an, dass Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland weiterhin faschistisch geprägt seien. Dies sei mit Ende des Zweiten Weltkrieges nicht überwunden worden. Antideutsche solidarisieren sich mit Israel und zuweilen den USA. Sie lehnen den deutschen Staat hauptsächlich wegen seiner angeblichen faschistischen Kontinuität ab. Hintergrundinformationen - Ideologien 155 Das Ziel, den demokratischen Verfassungsstaat zu zerschlagen und die Methode der Politik der "ersten Person" werden nur selten in theoretische Erwägungen übersetzt. Sie schlagen sich vor allem in aktionistischen Taten nieder. In aller Regel befürworten Autonome den Einsatz von Gewalt und wenden sich damit gegen das staatliche Gewaltmonopol. Der Bedeutungsgehalt des Begriffs "Militanz" reicht dabei von einer "kämpferischen Grundhaltung" bis zur "militanten Aktion", verstanden als "Politik der ersten Person". Die zwei "klassischen" Ausprägungen autonomer Gewaltanwendung sind hierbei Massenmilitanz einerseits (im Rahmen oder im Nachgang zu Demonstrationen sowie anderen szenerelevanten Großereignissen) und klandestine Anschläge andererseits (zumeist konspirativ vorbereitete Sachbeschädigungen). Die Massenmilitanz hat in jüngster Zeit eine Bedeutungserweiterung erfahren. Diesbezügliche konfrontative Handlungsformen beziehen sich unmittelbar auf politische Gegner und äußern sich in erster Linie durch Angriffe auf Rechtsextremisten und Repräsentanten des (verhassten) "Systems". Darüber hinaus kommt es zunehmend zu initialisierendem Gewalthandeln. Dabei initiieren gewaltorientierte Linksextremisten (in erster Linie im Rahmen von Großveranstaltungen) Gewalthandlungen, die dann von nichtextremistischen Gewalttätern aufgenommen und fortgeführt werden. Kommunisten Kommunisten sind orthodoxer in der Lehre als Anarchisten und Autonome. Sie richten sich bei der Auswahl der zu thematisierenden Politikfelder strategischer aus und sind organisierter in der Betreuung ihrer Anhänger. Ausgangsbasis ist die Annahme des gesellschaftlichen Klassenkampfes. In unterschiedlichen Ausprägungen strebt der Kommunismus eine klassenlose Gesellschaft an. Dabei fordert er, dass sich das Individuum den revolutionären Zielen und den diese anstrebenden Organisationen völlig unterordnet. Schließlich soll das Proletariat die herrschende Elite im "Klassenkampf" stürzen. Über Revolutionen und interrevolutionäre Zwischenstufen sei die klassenlose Gesellschaft erreichbar. Von der Ideologie des Kommunismus als klassenloser Gesellschaft ist der real existierende Sozialismus als Übergangsphase vom Kapitalismus zum klassenlosen Gemeinwesen zu unterscheiden. Der Begriff des real existierenden Sozialismus stellt keine eigenständige ideologische Variante dar, er beschreibt vielmehr die gesellschaftlichen Gegebenheiten sozialistischer Staaten: 156 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 "Kommunist zu sein heißt, [...] für die Einheit und Reinheit des Marxismus-Leninismus zu kämpfen und gemäß der Lehren von Marx, Engels, Lenin und Stalin gegen alle Angriffe der bürgerlichen Ideologie und des Revisionismus und Reformismus innerhalb der Arbeiterklasse mit allen Mitteln zu verteidigen und zu vertreten, sich zur proletarischen Revolution, zur Diktatur des Proletariats und zum proletarischen Internationalismus zu bekennen."285 285 Internetauftritt der KPD, Aufruf am 10.9.2002. Hintergrundinformationen - Islamistische Terroristen und gewaltorientierte Islamisten 157 2. Islamistische Terroristen und gewaltorientierte Islamisten 2.1 Transnationale Terrornetzwerke 2.1.1 "Ansar al-Islam" ("Anhänger des Islam") Abkürzung AAI Entstehung/ 2001 Irak (als Nachfolgeorganisation des "Jund al-Islam"/ Gründung "Heer des Islam") Organisationsstruktur Transnationales Netzwerk Die 2001 im Nordirak aus verschiedenen Splittergruppen entstandene Organisation "Ansar al-Islam" (AAI) besteht hauptsächlich aus islamistischen Kurden, die die Errichtung eines islamistischen kurdischen Staatswesens im Nordirak nach dem Vorbild des früheren Taliban-Regimes in Afghanistan anstreben. Hierzu bekämpft sie mit Waffengewalt die laizistischen kurdischen Gruppen "Patriotische Union Kurdistan" (PUK) und die "Kurdische Demokratische Partei" (KDP). Die AAI richtet ihre terroristischen Aktionen seit 2003 auch gegen die alliierten Streitkräfte im Irak. Ihr Ziel ist, das irakische Staatswesen gewaltsam zu beseitigen. Von 2004 an operierte die "Ansar al-Islam" zwischenzeitlich unter der Bezeichnung "Jaish Ansar al-Sunna" ("Armee der Anhänger der Sunna"; kurz: "Ansar al-Sunna"; AAS). Mittlerweile verwendet die Organisation allerdings wieder ihren ursprünglichen Namen. 286 Im Irak, wo sie in den letzten Jahren erheblich an Zulauf gewann, fungiert die AAI als Dachorganisation und als Sammelbecken für nicht-kurdischstämmige ausländische "Mujahidin". Die AAI ist jihadistisch-salafistisch ausgerichtet. 287 Sie sucht frühislamische Herrschafts-, Rechtsund Gesellschaftsformen umzusetzen und propagiert die Bekämpfung von Juden und Christen. Die Organisation, die bis 2004 von dem in Norwegen lebenden Mullah Krekar angeführt wurde, unterhält zur logistischen und finanziellen Unterstützung auch in Westeuropa ein Netzwerk. Die AAI-Anhänger in Deutschland unterstützen die Organisation durch die Beschaffung von Geldmitteln und deren Transfer in den Irak. Die noch vor einigen Jahren feststellbaren 286 Vgl. "al-Hayat" vom 31.1.2008, S. 3. 287 Zum Jihad-Salafismus vgl. das Kapitel "Islamistische Ideologie", S. 174. 158 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Rekrutierungen von "Jihad-Kämpfern" für den Irak sind deutlich zurückgegangen. Gleichwohl fielen ihre Anhänger in Deutschland nicht allein durch werbende und unterstützende Tätigkeiten auf, sondern auch durch die Vorbereitung terroristischer Aktivitäten. Im Juli 2008 wurden drei Personen aus Berlin, Stuttgart und Augsburg vom OLG Stuttgart wegen Mitgliedschaft in dieser terroristischen Vereinigung und wegen eines Anschlagsversuchs auf den ehemaligen irakischen Ministerpräsidenten Dr. Iyad Allawi zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. 288 Nach Hinweisen der deutschen Sicherheitsbehörden wurde Allawis Teilnahme an einer Veranstaltung in Berlin abgesagt, so dass es zu keiner konkreten Gefahrensituation für ihn kam. 2.1.2 "Al-Qaida" und "Mujahidin-Netzwerke" Der Begriff "Mujahidin" bezeichnet pan-islamistisch orientierte Kämpfer unterschiedlicher ethnischer Herkunft, die an Kampfeinsätzen etwa in Afghanistan, Bosnien, Tschetschenien oder im Kaschmir teilgenommen haben. Das Entstehen der - auch als Jihadisten bezeichneten - "Mujahidin" geht auf den Afghanistan-Krieg zurück, als sich 1979 freiwillige "Kämpfer" dem - unter dem Motto des Jihad geführten - Krieg gegen die sowjetische Besatzung anschlossen und dafür vor allem in afghanischen und pakistanischen Militärlagern ausgebildet wurden. Die Lage im von Krieg und Bürgerkrieg gezeichneten Afghanistan bot ideale Bedingungen für die ideologische Schulung und terroristische Ausbildung der "Mujahidin". Hierzu gehörten ein weitgehend rechtsfreier Raum, Kampfgebiete sowie die Tatsache, dass sich im Bürgerkrieg 1996 die islamistischen "Taliban-Kämpfer" durchsetzten. Die terroristischen Aktivitäten der "Mujahidin" richteten sich ab 1992 vor allem gegen Ägypten und Algerien, nachdem sich einzelne Kämpfer des Afghanistan-Kriegs den dortigen militanten islamistischen Gruppierungen angeschlossen hatten. Im Zentrum der "Mujahidin" steht die von Usama Bin Ladin Ende der 80er Jahre gegründete Organisation "al-Qaida" ("Die Basis"), die sich vermutlich Mitte der 90er Jahre mit Teilen der militanten ägyptischen Gruppen "alJihad al-islami" ("Der islamische Kampf") und "al-Jama'a al-islamiya" 289 ("Die islamische Gemeinschaft") zu einem transnationalen Netzwerk zusammenschloss. Als zweiter Mann hinter Bin Ladin gilt der ehemalige Führer der ägyptischen Gruppe "al-Jihad al-islami", Aiman al-Zawahiri. Programmatische Grundlage der internationalen Anschläge von "al-Qaida" war 288 Az. OLG Stuttgart: 5-2 StE 2/05. Das Urteil ist seit dem 23.9.2009 rechtskräftig. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 24 f. 289 Hierbei handelt es sich um die hocharabische Schreibweise. Im ägyptischen Dialekt werden die Gruppierungen phonetisch als "al-Gihad al-islami" und "alGama'a al-islamiya" wiedergegeben. Hintergrundinformationen - Islamistische Terroristen und gewaltorientierte Islamisten 159 der von Usama Bin Ladin 1998 mitunterzeichnete290 Aufruf der "Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler", den die Verfasser als ein religiöses "Rechtsgutachten" ("fatwa")291 deklarierten. Darin waren die Tötung von Amerikanern zur individuellen Pflicht eines jeden Muslims erhoben, die Stationierung von US-Truppen in Saudi-Arabien für unzulässig erklärt und als Ziel die Verdrängung der USA von der Arabischen Halbinsel genannt worden. Hierzu sollten die USA als Schutzmacht Saudi-Arabiens angegriffen und - wie bereits die Anschläge auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania 1998 sowie auf das Marineschiff USS Cole 2000 zeigten - möglichst viele US-Bürger getötet werden. "Das Urteil, die Amerikaner und ihre Alliierten, Zivilisten und Militärs gleichermaßen zu töten, wo immer ihm dies möglich ist, ist eine individuelle Pflicht für jeden Muslim, der hierzu in der Lage ist, bis die Aqsa-Moschee [in Jerusalem] und die Heilige Moschee [in Mekka] von ihnen befreit sind und bis ihre Armeen das gesamte Territorium des Islam verlassen haben, geschlagen und unfähig, irgendeinen Muslim noch zu bedrohen." 292 Statt Anschlägen von "al-Qaida" standen seit 2004 terroristische Aktivitäten anderer Mujahidin-Organisationen, eigenständig operierender Kleingruppen oder radikalisierter Einzeltäter im Vordergrund. Auch wenn sie nicht organisatorisch mit "al-Qaida" verbunden sind, sind sie von der "alQaida"-Ideologie "inspiriert". Jüngstes Beispiel dafür ist der Nigerianer Umar Farouk A., der am 25. Dezember versuchte, in Detroit (USA) einen Sprengstoffanschlag auf ein US-Flugzeug zu verüben. Passagiere und Besatzungsmitglieder überwältigten den Attentäter, der nach der planmäßigen Landung festgenommen wurde. 290 Zu den fünf Unterzeichnern gehörten Usama Bin Ladin ("al-Qaida"), Aiman al-Zawahiri ("al-Jihad al-islami"), Abu Yasir Rifa'i Ahmad Taha ("al-Jama'a alislamiya"), Mir Hamza (Generalsekretär der "Jam'iyat-ul-Ulama Pakistan") und Fazlur Rahman (Chef der "Jihad"-Gruppe, Bangladesch). 291 Diese Fatwa ist aus Sicht der islamischen Theologie nicht gültig, da der federführende Usama Bin Ladin als Laie weder die theologische Qualifikation noch die religiöse Autorität zur Erstellung von Rechtsgutachten, geschweige denn zur Ausrufung des Jihad im Namen der Muslime besitzt. Entsprechend wurden die Anschläge vom 11. September 2001 von einem Großteil der islamischen Religionsgelehrten als nicht mit dem Islam vereinbar zurückgewiesen, da die islamische Religion sowohl den Mord an unschuldigen Zivilisten als auch den Selbstmord verbiete. Vgl. Hanspeter Mattes: Ein Jahr danach. Der islamistische Terrorismus und seine Bekämpfung. In: "Herder Korrespondenz 56" Nr. 9/2002, S. 444 - 448. 292 Vgl. Nass Bayan al-Jabha al-islamiya al-alamiya li-Jihad al-Jahud wa'l-Salibiyin. In: "al-Quds al-arabi" vom 23.2.1998. Eine englische Übersetzung findet sich im Internet unter www.fas.org/irp/world/para/docs/ 980223-fatwa.htm. 160 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Am 28. Dezember wurde eine Selbstbezichtigung mit dem Titel "Operation des Bruders und Mujahidis Umar al-Faruq al-N. - Vergeltung der amerikanischen Feindseligkeiten gegen den Jemen" der "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) in einem militant-islamistischen arabischsprachigen Internetforum festgestellt. Der Anschlag wird darin als Erfolg und legitime Vergeltung sowie als Reaktion auf die "bösen amerikanischen Feindseligkeiten gegen die arabische Halbinsel" dargestellt. Für einen Teil der Anschläge sind so genannte "homegrown"-Terroristen verantwortlich. Dabei handelt es sich um radikalisierte Muslime der zweiten und dritten Einwanderergeneration oder radikalisierte Konvertiten. Obwohl diese Personen in europäischen Ländern geboren oder aufgewachsen sind, bekämpfen sie das westliche Wertesystem mit terroristischen Mitteln. Die Anschläge von Madrid (2004) und London (2005) sowie das Attentat auf den niederländischen Filmemacher Theo van Gogh (2004) wurden durch "homegrown"-Täter begangen. In Deutschland wurden 2007 zwei Konvertiten und zwei hier lebende Personen türkischer Herkunft wegen der Planung von Anschlägen festgenommen und am 4. März 2010 in Düsseldorf zu langjährigen Haftstrafen verurteilt (so genannte "Sauerland-Gruppe" 293). Auch der deutsche Konvertit Eric B. 294 und der aus Deutschland stammende Türke Cüneyt C. 295 sind Beispiele für in Deutschland radikalisierte Jihadisten. Cüneyt C. tötete sich im März 2008 bei einem Selbstmordanschlag in Afghanistan, mit dem er vier Soldaten tötete und zahlreiche Personen verletzte. Eric B., der sich seit Herbst 2007 bei der IJU im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet aufgehalten hatte, wurde Ende April bei Kämpfen getötet. Mit ihm starben der Deutsch-Türke Ahmet M. und der aus Holland stammende Berliner Danny R. Bei den regionalen "al-Qaida"-Organisationen, die überwiegend unabhängig agieren, gab es folgende Entwicklungen: Die "al-Qaida im Irak", bezeichnet sich seit Oktober 2006 als "Islamischer Staat Irak". Die Anhänger eint das Ziel, die alliierten Besatzungstruppen, die irakische Regierung sowie Schiiten und Kurden zu bekämpfen. Obwohl seit 2007 infolge erhöhten Verfolgungsdrucks sowie verbesserter Zusammenarbeit zwischen dem irakischen Staat, den US-Truppen und zentralirakischen Stämmen ein spürbarer Rückgang terroristischer Gewaltakte festzustellen ist, beging der "Islamische Staat Irak" auch 2010 eine Reihe besonders schwerer Anschläge. Ziele waren die Zivilbevölkerung und 293 Zum Prozess gegen die Mitglieder der "Sauerland-Gruppe" vgl. S. 25 f. 294 Zu Eric B. vgl. S. 22 ff. 295 Zum Selbstmordanschlag von Cüneyt C. im März 2008 auf eine Militäreinrichtung in Afghanistan vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 9 ff. Hintergrundinformationen - Islamistische Terroristen und gewaltorientierte Islamisten 161 irakische Sicherheitskräfte sowie Angehörige der so genannten "Erweckungsräte" ("Majalis al-Sahwa" oder "al-Sahawat").296 Auch die Anschläge gegen christliche Gemeinschaften haben 2010 stark zugenommen. Vermutlich versucht der "Islamische Staat Irak" durch dieses Vorgehen, die interkonfessionellen Auseinandersetzungen erneut anzufachen. Anschluss an das Terrornetzwerk "al-Qaida" fand im Januar 2007 die algerische "Groupe Salafiste pour la Predication et le Combat" (GSPC),297 als sie ihre Umbenennung in "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM) verkündete. Sie unterstrich damit eine stärkere internationale Ausrichtung und ist seither der zentrale Gewaltakteur in der Region. Mit der Umbenennung näherte sich der Modus Operandi bei der Durchführung von Anschlägen dem der "al-Qaida" an. Die Anschläge richteten sich nunmehr verstärkt gegen westliche Ausländer und regionale Sicherheitskräfte. Nach der Tötung eines Amerikaners und einer britischen Geisel 2009 wurden am 16. September 2010 sieben Mitarbeiter eines französischen Unternehmens in Niger, darunter fünf Franzosen sowie ein Staatsbürger aus Togo und Madagaskar entführt. Zu den Anschlägen auf Sicherheitskräfte zählen ein Angriff auf algerische Grenzschützer am 30. Juni mit elf Toten und ein Selbstmordanschlag auf eine Kaserne des mauretanischen Militärs am 25. August, die dem mindestens zwei Soldaten starben Die Ende Januar durch den Zusammenschluss der "al-Qaida im Jemen" (AQJ) und der saudischen "al-Qaida"-Zelle entstandene "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) hat sich im Laufe des Jahres zu einer schlagkräftigen Terrororganisation entwickelt und erneut den internationalen Luftverkehr attackiert Nach dem versuchten Sprengstoffanschlag auf ein US-amerikanisches Flugzeug in Detroit am 25. Dezember 2009 durch den nigerianischen Staatsangehörigen Umar Farouk A. folgten am 29. Oktober Anschlagsversuche auf zwei Luftfrachtmaschinen, bei denen die Sprengsätze noch rechtzeitig entschärft werden konnten. Die reklamierte Verantwortung der AQAH für den Absturz eines Jumbos am 3. September in Dubai ist noch unklar. Die AQAH hat damit ihren Modus Operandi signifikant verändert und beschränkt ihre gewaltsamen Aktionen nicht länger auf die Arabische Halbinsel. Eine durch "al-Qaida" inspirierte Gruppe ist die "Islamische JihadUnion" (IJU). Die IJU wurde 2002 als Abspaltung von der "Islamischen Bewegung Usbekistan" (IBU) gegründet. Ihre Führung verfügt über Kontakte 296 Bei diesen "Erweckungsräten" - auch als "Sahwa-Räte" bezeichnet - handelt es sich um den Zusammenschluss lokaler bewaffneter, primär sunnitischer Stammeskräfte und Bürgerwehren, die mit den Koalitionstruppen gegen den "Islamischen Staat Irak" zusammenarbeiten. 297 "Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf". 162 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 zu "al-Qaida" und ist von deren Ideologie beeinflusst. Die Mitglieder der IJU verstehen sich als Mujahidin, die bereit sind, ihr Leben im Kampf gegen die "Ungläubigen" und zur Verteidigung der islamischen Welt einzusetzen. Zunächst verfolgte die IJU regionale Ziele, weitete aber ihren zunächst auf Usbekistan beschränkten Aktionsradius seit 2005 aus und orientiert sich nun an einer transnationalen Jihad-Ideologie. Die 2007 enttarnte "Sauerland-Gruppe" hatte ihre Anschläge im Auftrag der IJU geplant. Ende 2009 spaltete sich von der IJU eine Gruppe deutschsprachiger Muslime ab, die sich Deutsche Taliban Mujahidin (DTM) nannten. Nachdem der mutmaßliche Protagonist der DTM Ahmet M. sowie weitere Mitglieder im Frühjahr 2010 bei Kämpfen starben, ist deren Fortbestand unklar. Auch die "Islamische Bewegung Usbekistan" (IBU) ist von der "al-Qaida"Ideologie inspiriert. Sie wurde 1997 gegründet, verfolgte ursprünglich eine regionale Agenda und strebte den Sturz des usbekischen Präsidenten Karimov in ihrem Herkunftsland an. Seit 2000 fand jedoch eine zunehmende Internationalisierung ihrer Ziele statt. Die IBU operiert hauptsächlich im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet. In der Bundesrepublik ist sie bislang vor allem durch Veröffentlichungen deutschsprachiger Videos der beiden aus Bonn stammenden Brüder Monir und Yassin C. bekannt geworden. Zu den Mujahidin gehören auch die Kämpfer des im Oktober 2007 gegründeten "Kaukasischen Emirats" im südlichen Russland. Während sie zunächst hauptsächlich in Tschetschenien aktiv waren, haben sie ihre bewaffneten Operationen auf den gesamten Nordkaukasus, hier insbesondere auf Dagestan und Inguschetien, und bis in den russischen Kernraum ausgedehnt. Am 29. März 2010 zündeten zwei junge Selbstmordattentäterinnen aus dem Kaukasus in zwei Stationen der Moskauer U-Bahn im Berufsverkehr ihre Sprengsätze und töten 40 Menschen, mehr als hundert wurden verletzt. Der Anführer des "Kaukasischen Emirats" Dokku Umarov - selbsternannter "Emir der kaukasischen Völker" gab an, die Anschläge angeordnet zu haben. Er verfolgt eine jihad-salafistische Ideologie und erklärte die Russische Föderation, die USA, Großbritannien, Israel sowie alle zu Feinden, die einen angeblichen "Krieg gegen den Islam" führten. Die Vertreibung der "Ungläubigen" nicht nur aus dem Kaukasus, sondern vom gesamten historischen Boden der Muslime, betrachtet Umarov als zentrales Ziel. Hintergrundinformationen - Islamistische Terroristen und gewaltorientierte Islamisten 163 2.2 Regional gewaltausübende Islamisten 2.2.1 "Hizb Allah ("Partei Gottes") Entstehung / Gründung 1982 Beirut Bund: ca. 900 (2009: ca. 900) Mitgliederzahl Berlin: ca. 250 (2009: ca. 180) "Al-Ahd - Al-Intiqad" ("Die Verpflichtung - Die Kritik") Veröffentlichungen (überregional, wöchentlich) "Al-Manar-TV" ("Der Leuchtturm") Die Gründung der schiitisch-islamistischen "Hizb Allah" ("Partei Gottes") erfolgte 1982, als Israel in den libanesischen Bürgerkrieg (1976-1989) militärisch eingriff. Aus ideologischen, regionalpolitischen und konfessionellen Motiven wird die hierarchisch strukturierte Bewegung vom Iran und von Syrien unterstützt, die sie als militärisches Drohpotential vor allem gegenüber Israel einsetzen und hierüber Stellvertreterkriege gegen Israel führen. Deren militärische und finanzielle Unterstützung bedingt auch die Sonderstellung der "Hizb Allah" im Libanon, die als einzige ehemalige Bürgerkriegsmiliz eine schwer bewaffnete Armee, den so genannten "Islamischen Widerstand" ("al-Muqawama al-islamiya") unterhält. 298 Seit ihrem Bestehen negiert die "Hizb Allah" das Existenzrecht Israels und propagiert den - von ihr als "legitimen Widerstand" bezeichneten - bewaffneten Kampf gegen Israel. Das Ziel der Vernichtung Israels ist fester Bestandteil ihrer Strategie, die sich an dem 1979 vom "Revolutionsführer" Khumaini propagierten anti-israelischen Kurs der "Islamischen Republik Iran" orientiert. Auch in ihrem 2009 veröffentlichen Manifest 299 lehnt sie eine Anerkennung des jüdischen Staates und Kompromisse mit Israel ab. Ihr umfangreiches Waffenarsenal rechtfertigt sie darüber hinaus mit der Verteidigung des Libanon vor israelischen Angriffen und dessen abschreckender Wirkung. 298 Im Jahre 2004 forderte der UN-Sicherheitsrat mit Resolution 1559 die Entwaffnung der "Hizb Allah"; auch die Resolution 1701, die am 14.8.2006 den Waffenstillstand im Libanon einleitete, hält die Forderung nach einer Entwaffnung aufrecht. 299 Die "Hizb Allah" präsentierte das Strategiepapier als Revision ihres Grundsatzmanifestes von 1985. Das aktualisierte Papier belegt, dass sich die Organisation strategisch auf ein Andauern der Instabilität im Libanon sowie im gesamten Nahen Osten einstellt. 164 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Im Juli 2006 löste die Entführung zweier israelischer Soldaten im israelischlibanesischen Grenzgebiet einen mehrwöchigen Krieg zwischen der "Hizb Allah" und Israel aus, der Hunderte von zivilen Todesopfern und Verletzten forderte. Der anschließende Waffenstillstand wird seitdem von UN-Truppen überwacht. Hieran ist auch die deutsche Marine im Seeraum vor der libanesischen Küste beteiligt. Die "Hizb Allah" hat sich im Libanon als parteiähnliche politische Bewegung etabliert, die wegen ihrer sozialen Aktivitäten vor allem unter der schiitischen Bevölkerung des Landes über breiten gesellschaftlichen Rückhalt verfügt. Insbesondere im Südlibanon verfügt die Organisation über quasistaatliche Strukturen. Im libanesischen Parlament ist sie seit 1992 vertreten. Bei den libanesischen Parlamentswahlen im Jahr 2009 konnte das Oppositionsbündnis aus "Hizb Allah" und mit ihr verbündeten Gruppen keine Mehrheit gewinnen. In der nach den Wahlen gebildeten Allparteienregierung war die "Hizb Allah" mit zwei Ministern beteiligt. Im Januar 2011 brach die Regierung auseinander. Die Anhänger der "Hizb Allah" in Deutschland verhalten sich weitgehend unauffällig. Eine hervorgehobene Rolle spielt das "Waisenkinderprojekt Libanon e.V." (WKP) mit Sitz in Göttingen. Das WKP vermittelt innerhalbder "Hizb Allah"-Anhängerschaft Patenschaften von libanesischen Waisenkindern. Das WKP kooperiert mit der "Al-Shahid Association" (MärtyrerStiftung) im Libanon. Diese gehört zum sozialen Netzwerk der "Hizb Allah" und unterstützt Hinterbliebene von im "Märtyrern" im Kampf gegen Israel. Zu einem internationalen Streitfall wurde der parteieigene TV-Sender "alManar" ("Der Leuchtturm"), durch den die "Hizb Allah" ihre militante "Widerstandsideologie" verbreitet. Fester Bestandteil im Programm des über Satellit auch in Deutschland zu empfangenden Senders sind die Propagierung des bewaffneten Kampfes, die vor allem - als "Märtyrer-Operationen" bezeichnete - Selbstmordanschläge bewirbt. Zur anti-israelischen Hetze des Senders gehört auch die Aussage ihres Generalsekretärs Hassan Nasrallah, dass "Israel in seiner Existenz vergehen wird". Die Propagandafilme beinhalten auch Bilder israelischer Attentatsopfer sowie den Aufruf "Gewiss wird Israel verschwinden". Da "al-Manar" mit diesen Sendeinhalten das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern sowie von verschiedenen Ausländergruppen im Bundesgebiet, die öffentliche Sicherheit und Ordnung und sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wurde vom Bundesministerium des Innern am 11. November 2008 ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot gegen den Sender erlassen. Zuvor war "al-Manar" bereits in Frankreich und den USA verboten worden. Die "Hizb Allah" wird von den USA auf der Liste der "Foreign Terrorist Organizations" aufgeführt. Hintergrundinformationen - Islamistische Terroristen und gewaltorientierte Islamisten 165 2.2.2 "Bewegung des Islamischen Widerstands"(HAMAS) Abkürzung HAMAS Entstehung / Gründung 1987 Gaza Bund: ca. 300 (2009: ca. 300) Mitgliederzahl Berlin: ca. 50 (2009: ca. 50) Die mit dem Kurzwort HAMAS 300 bezeichnete "Bewegung des Islamischen Widerstands" wurde 1987 im Gaza-Streifen von Ahmad Yassin als regionaler Zweig der "Muslimbruderschaft" ( MB) gegründet. In ihrer Charta von 1988 verneint die HAMAS das Existenzrecht Israels und strebt die "Befreiung ganz Palästinas" durch bewaffneten Kampf sowie die Errichtung eines islamistischen Staatswesens an. Den 1993 begonnenen Oslo-Friedensprozess lehnt die HAMAS als "Ausverkauf palästinensischer Interessen" ab und konkurriert gleichzeitig mit der von der laizistischen FATAH dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde um die Führung der Palästinenser. Durch ihre Kritik an den Friedensverhandlungen der Autonomiebehörde mit Israel sowie durch den kontinuierlichen Ausbau ihrer Basis im sozialen Bereich entwickelte sie sich im innerpalästinensischen Machtgefüge zu einem bedeutenden politischen Faktor. In der Folge verzeichnete die HAMAS bei den Kommunalwahlen 2004 und 2005 deutliche Erfolge und siegte überraschend auch bei den Parlamentswahlen 2006. Damit wurde in den palästinensischen Gebieten neben dem Nationalismus der Islamismus zur zweiten dominierenden politischen Ideologie. Dies gilt insbesondere für den GazaStreifen, in dem die HAMAS seit Juni 2007 die alleinige Kontrolle ausübt. Die von der HAMAS verfolgte Gewaltstrategie schloss seit 1994 vor allem Selbstmordanschläge ein. Mit dem Ausbruch der "al-Aqsa-Intifada" im September 2000 und der Verschärfung des israelisch-palästinensischen Konflikts hatten die Selbstmordanschläge ihres militärischen Flügels, der "Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden", gegen israelische Ziele erheblich zugenommen. Diese als "Märtyrer-Operationen" verbrämten Anschläge begrenzte die HAMAS dabei nicht auf die palästinensischen Gebiete des Westjordanlands und Gaza-Streifens, sondern führte sie vor allem im israelischen Kernland aus. Die Anschläge zielten nicht allein auf Militärpersonal, sondern auch auf die israelische Zivilbevölkerung. Dieses seit Errichten des Grenzzauns erschwerte und von Waffenstillstandsabkommen zeitweise unterbrochene terroristische Vorgehen begründet die HAMAS nach wie vor mit einem "Recht auf Selbstverteidigung". Die "Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden" 300 Arabisch: "Harakat al-Muqawama al-islamiya". Der Begriff "Hamas" stellt zugleich ein - bereits im Koran enthaltenes - arabisches Wort dar, das "Begeisterung", "Eifer" und "Leidenschaft" bedeutet. Islamisten interpretieren den Begriff als "Tapferkeit". 166 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 wurden im Juni 2002 in die EU-Liste terroristischer Organisationen aufgenommen; im September 2003 die Gesamtorganisation HAMAS. Zu Propagandazwecken betreibt die HAMAS den Fernsehsender "al-AqsaTV", der auch in Deutschland empfangen werden kann. Bereits die Zielgruppe Kinder wird im Nachmittagsprogramm islamistisch indoktriniert und militarisiert. Visuell dargestellt werden vermummte Kinder, die Exerzierübungen mit Waffenattrappen ausführen und von den Moderatoren auf den militanten Jihad eingeschworen werden. Hauptbestandteile der Kindersendungen sind neben Gewaltverherrlichung vor allem Tötungsaufrufe und antisemitische Hetze. So rief in einem arabischsprachigen Mehrteiler von 2007 eine der Disney-Maus ähnelnde Figur namens Farfour mehrfach zur Tötung von Juden auf. Nach dem "Märtyrertod" der Tierfigur präsentierte der Sender weitere Figuren, die ankündigten, den Kampf der Maus fortzusetzen. In Deutschland tritt die HAMAS nicht offen in Erscheinung. Ihre Anhänger treffen sich in Moscheen, Moscheevereinen und Islamischen Zentren. Als Berliner Treffpunkt von HAMAS-Anhängern gilt das "Islamische Kulturund Erziehungszentrum Berlin e. V. " (IKEZ). 2.3 Gewaltbefürwortende Islamisten 2.3.1 "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung") Abkürzung HuT 1953 Jordanien Entstehung / Gründung 1987 Landesverband Berlin Mitgliederzahl Bund: ca. 300 (2009: ca. 300) Berlin: ca. 50 (2009: ca. 80) Organisationsstruktur 2003 vereinsrechtliches Betätigungsverbot "Explizit" (überregional, bis Januar 2003) "Al-Wa'i" Veröffentlichungen ("Bewusstsein") (überregional, monatlich) "Khalifa" / "Hilafet" ("Kalifat") (überregional, monatlich) Die 1953 in Jordanien von Taqi ad-Din an-Nabhani (1909-1977) gegründete "Hizb ut-Tahrir" (HuT) ist eine pan-islamistische parteiähnliche Bewegung, die sich die weltweite Missionierung von Muslimen im Sinne ihrer Ideologie zum Ziel gesetzt hat. Ideologisch verfolgt die HuT eine universelle Staatsund Gesellschaftsdoktrin, die auf frühislamische und mittelalterliche Herrschaftskonzepte zurückgeht. Im Zentrum stehen die Betonung des pan-islamischen Gedankens (in der Behauptung der Existenz einer weltumfassenden islamischen Gemeinde, der "Umma") sowie die Forderung nach Hintergrundinformationen - Islamistische Terroristen und gewaltorientierte Islamisten 167 Errichtung einer weltweiten Kalifatsherrschaft. Erklärte Ziele der Organisation sind die Überwindung nationalstaatlicher Strukturen, die Vernichtung des Staates Israel, die Befreiung der muslimischen Welt von westlichen Einflüssen sowie die Einführung der Scharia als politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip. Die Ideologie der HuT kennzeichnet eine ausgeprägte Judenfeindschaft sowie die Rechtfertigung von Gewaltanwendung durch vermeintlich religiöse Bezüge. So werden Koranverse aus ihrem historischen Kontext herausgelöst und Begriffe wie "Jihad" (Bemühen, Kampf) fast durchgängig militant interpretiert. In den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wurde die HuT aufgrund ihrer radikalen Ausrichtung - insbesondere wegen ihrer Aufrufe zum gewaltsamen Umsturz der Regierungen - unmittelbar nach ihrer Gründung verboten. Seitdem operiert sie weitgehend im Geheimen; ihre Anhänger sind strikter Verfolgung ausgesetzt. Begründet werden die Maßnahmen mit der Beteiligung der HuT an Staatstreichen - etwa in Jordanien (1968), Irak (1969), Ägypten (1974) sowie Syrien (1976). Nach eigener Darstellung ist die HuT in diesen Ländern wie auch in Kuwait aber weiter aktiv. Darüber hinaus agiert sie im zentralasiatischen Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan. Derzeitiger Vorsitzender ist der 1943 geborene Jordanier Ata Abu al-Rashta, dessen Aufenthaltsort im Libanon vermutet wird. In Deutschland trat die HuT vorwiegend in Universitätsstädten durch die Verteilung von Flugblättern und Zeitschriften in Erscheinung, in denen sie regelmäßig antiwestliche Positionen sowie massive antisemitische Hetze verbreitete. Am 10. Januar 2003 erließ der Bundesminister des Innern ein Betätigungsverbot gegen die HuT. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte das Verbot am 25. Januar 2006. 301 Das Urteil wurde damit begründet, dass die HuT mehrmals "zur gewaltsamen Beseitigung des Staates Israel und zur Tötung von Menschen aufgefordert" und auf diese Weise "der friedlichen Lösung der israelisch-palästinensischen Interessensgegensätze entgegengewirkt" habe. In seiner Begründung verwies das Bundesverwaltungsgericht auch auf Art. 9 Abs. 2 GG, wonach Organisationen verboten werden, die sich gegen die Verfassung oder den Gedanken der Völkerverständigung richten. Seit dem Betätigungsverbot tritt die HuT in Deutschland nicht mehr offen auf. Die Mitglieder verhalten sich konspirativ und sind bestrebt, bei ihren Aktivitäten die Organisationszugehörigkeit zu verschleiern. 301 Vgl. Bundesverwaltungsgericht, Az.: BVerwG 6A 6.05. 168 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 3. Legalistische Islamisten 3.1.1 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V." Abkürzung IGMG 1985 Köln Entstehung / Gründung (als Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e. V. / AMGT) Bund: ca. 30 000 (2009: ca. 29 000) Mitgliederzahl Berlin: ca. 2 900 (2009: ca. 2 900) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Kerpen u. a. "IGMG Perspektive" / seit Januar 2009 unter dem Titel Veröffentlichungen "Perspektif" (überregional, monatlich) Die IGMG ist die größte islamistische Organisation in Deutschland. Ihr Vorläufer wurde 1985 unter der Bezeichnung "Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e. V." ("Avrupa Milli Görüs Teskilatlari" / AMGT) in Köln gegründet. Hieraus gingen 1995 die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V." (IGMG) und die "Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft e. V." (EMUG) hervor. Die EMUG ist für die Verwaltung des Immobilienbesitzes der Vereinigung verantwortlich. Die islamistische Ausrichtung der "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e. V." geht auf das politische Konzept von Necmettin Erbakan zurück, das dieser 1973 in dem gleichnamigen Buch "Milli Görüs" ("Nationale Sicht") veröffentlichte. Erbakans Ziel ist es, die türkischen Bürger unter dem Dach von Nationalismus und Islamismus zu einen und in der Türkei ein islamistisches Staatswesen zu errichten. Als politisches und gesellschaftliches Ordnungsmodell propagiert er eine "gerechte Ordnung" ("adil düzen"), in welcher die Scharia gilt und politisches Handeln sich an den Prinzipien von Koran und Sunna orientiert. Erbakan lehnt wesentliche rechtsstaatliche Prinzipien wie Volkssouveränität oder Parteienpluralismus als unvereinbar mit der "gerechten Ordnung" ab. Er forderte in der Vergangenheit einen Systemwechsel nicht allein in der Türkei, sondern auch in der Bundesrepublik Deutschland: Hintergrundinformationen - Legalistische Islamisten 169 "Du willst dich von diesen Sorgen befreien? Um dich von diesen Sorgen befreien zu können, muss aus der Staatsordnung in Deutschland eine 'gerechte Ordnung' werden. Bevor hier keine 'gerechte Ordnung' herrscht, wirst du nicht zu deinem Recht kommen. Alles hängt letztlich davon ab, ob aus der hiesigen Staatsordnung eine gerechte Ordnung wird." 302 Erbakan betrachtet den Islam als Gesellschaftsmodell, das sämtlichen westlichen Gesellschaftssystemen überlegen sein soll: "Wo immer die Imperialisten hinkommen, verbreiten sie Tod und Verderben. Die islamische Zivilisation wird den Menschen Frieden und Gerechtigkeit bringen." 303 Dieses Gesellschaftsmodell wird bis heute in der "Milli Görüs"-Bewegung propagiert. So führte der damalige stellvertretende Vorsitzende der "Saadet Partisi" (SP / "Partei der Glückseligkeit)", Partei der "Milli Görüs"-Bewegung, Mete Gündosan, aus: "Auch wenn sie (die Imperialisten) versuchen, ihre Absichten zu verbergen, müssen wir diese aufdecken und eine Neue Welt auf gerechtem Fundament errichten. Denn wir befinden uns auf der Schwelle einer neuen Eroberung. Eroberung steht für eine neue Phase. Eine neue Phase bedeutet eine Neue Welt. Eine Neue Welt bedeutet Görüs. Görüs steht für unser edles Volk. Unser edles Volk steht für Sieg. Der Sieg ist unser und der Sieg ist nah." 304 Die Ideologie der "Milli Görüs" spiegelt sich nicht nur in den Verlautbarungen der Funktionäre, sondern auch in der breiten Diskussion an der Basis - etwa in der "Milli Gazete". Die türkische Tageszeitung, die mit einer Europaausgabe in Deutschland erscheint, kann als inoffizielles Sprachrohr der "Milli Görüs"-Bewegung bezeichnet werden. 302 Rede von Necmettin Erbakan: "Adil Düzen" ("Gerechte Ordnung"), 1990. Im Juli 2002 auch als Videomitschnitt im Internet eingestellt. 303 "Milli Gazete" vom 20.10.2005. 304 "Milli Gazete" vom 16.6.2008, S. 17. 170 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 So werden in einem in der "Milli Gazete" veröffentlichten Gedicht die Pflichten des "Milli Görüs"-Anhängers benannt. Von ihm wird erwartet, dass er sich mit ganzer Kraft für die Bewegung einsetzt, damit "der Islam zur Herrschaft gelangt". Das Ziel ist demnach die Errichtung eines islamistischen Staatswesens: "Der Milli Görüs Mann ... tut alles für die Ordnung (nizam), das Heil (selamet), die Wohlfahrt ( refah), die Tugend (fazilet) und die Glückseligkeit (saadet) der Menschheit. 305 ... weiß, dass der einzige Weg, der ihn zur Wahrheit (hak; auch: Gott) führt, in der Milli Görüs liegt; setzt sich für seine Zeitung, seinen Fernsehsender, seine Stiftung, seine Partei ein. ... trifft die notwendigen Maßnahmen dafür, dass der Islam zur Herrschaft gelangt, und ergibt sich in Gottes Willen." 306 Vorgesehen ist dabei nicht nur eine politische Neuordnung der Türkei sondern der gesamten Welt: "Die Milli Görüs ist eine wichtige Bewegung nicht nur für dieses Land, sondern für die ganze Welt. Sie ist unter allen politischen Bewegungen weltweit die einzige Bewegung, die das Ziel verfolgt, eine Neue Welt zu schaffen." 307 Necmettin Erbakan hatte 1970 - auf der Grundlage der "Milli Görüs"Ideologie - seine erste islamistische Partei in der Türkei gegründet. Er konnte trotz mehrmaliger Parteiverbote und anschließender Neugründungen eine Spaltung seiner Anhängerschaft bis 2001 verhindern. Interne Flügelkämpfe zwischen den so genannten Traditionalisten und den Erneuerern in der "Fazilet Partisi" (FP/"Tugendpartei") führten nach ihrem Verbot im Juni 2001 zur Gründung von zwei Nachfolgeparteien. Hierzu gehört die im Juli 2001 vom ehemaligen Vorsitzenden der "Tugendpartei", Recai Kutan, gegründete "Saadet Partisi" (SP/"Partei der Glückseligkeit"), in der sich die "Traditionalisten" wiederfinden, die sich zur "Milli Görüs"-Ideologie und deren Begründer Erbakan, der seit Oktober 2010 auch Parteivorsitzender ist, bekennen. Die zweite Nachfolgepartei stellt die - im August 2001 vom ehemaligen Istanbuler Oberbürgermeister und früheren Anhänger der FP, dem 305 Es handelt sich hier um die ehemaligen Namen der "Milli Görüs"-Parteien, bis hin zur heute existierenden "Glückseligkeitspartei" (Saadet Partisi, SP). 306 "Milli Gazete" vom 9.6.2007, S. 17. 307 "Milli Gazete" vom 25.7.2007, S. 12. Hintergrundinformationen - Legalistische Islamisten 171 jetzigen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, gegründete - "Adalet ve Kalkinma Partisi" (AKP/"Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei") dar, die als politisches Lager der "Erneuerer" gilt. Zwischen der IGMG in Deutschland, Necmettin Erbakan und der SP bestehen - wie bei den anderen früher von Erbakan geführten Parteien - enge Verbindungen. Erbakan und andere SP-Parteifunktionäre nehmen häufig an Veranstaltungen der IGMG teil. Darüber wurden in der Vergangenheit Funktionäre der IGMG in Ämter der islamistischen Parteien Erbakans in Ankara gewählt. So wurden 1995 drei ehemalige AMGT-Mitglieder als Abgeordnete der "Wohlfahrtspartei" in das türkische Parlament gewählt, unter ihnen Osman Yumakogullari, der bis 1995 Vorsitzender der "Milli Görüs" in Deutschland und Verantwortlicher der Deutschlandausgabe der "Milli Gazete" gewesen war. Die IGMG präsentiert sich insbesondere seit den Terroranschlägen in den USA vom 11. September 2001 in ihren offiziellen Verlautbarungen als eine auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehende Organisation, die sich für den Dialog zwischen türkischen Muslimen und der deutschen Gesellschaft einsetzt. Auch der Berliner Landesverband, dessen Vorstand von der IGMG-Zentrale ernannt wird, bemüht sich, Dialogbereitschaft zu demonstrieren. Von der islamistischen "Milli Görüs"-Ideologie Erbakans hat die IGMG sich jedoch bislang genauso wenig distanziert wie von der "Milli Gazete". In dieser Tageszeitung, die für den Zusammenhalt der "Milli Görüs"-Bewegung von zentraler Bedeutung ist, findet sich immer wieder antisemitische Propaganda - etwa in der Leugnung des Holocausts: "Und die große Lüge. Diese Lüge ist die Legende, dass 6 Millionen Juden ermordet worden seien. Diese Legende, die zu einem Dogma und (wie es das Wort Holocaust auch als Bedeutung beinhaltet) in eine heilige Legende verwandelt wurde, wird dafür missbraucht, um das Unrecht von Israel in Palästina, im ganzen Mittleren Osten, in den USA und mit Hilfe der USA in der gesamten Weltpolitik [...] zu rechtfertigen. [...] Die Legende des Genozids an den Juden passte den Interessen von allen, denn von ihm als dem größten Genozid der Geschichte zu reden, bedeutete für die westlichen Kolonialisten, ihre eigenen Verbrechen in Vergessenheit geraten zu lassen, für Stalin dagegen bedeutete das, seine grausamen Ungerechtigkeiten unter den Teppich zu kehren." 308 308 "Milli Gazete", Onlineausgabe vom 22.8.2006. Vgl. auch Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2006. Berlin 2007, S. 240. 172 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Der Antisemitismus wird häufig als Kritik am Zionismus formuliert. Neben den als "Imperialisten" bezeichneten westlichen Staaten ist aus "Milli Görüs"-Sicht die "zionistische Verschwörung" an den politischen Missständen schuld, wie ein Text des "Milli Görüs"-Ideologen Arif Ersoy darlegt: "Die Konferenzteilnehmer betonten, der Zweite Weltkrieg habe geheime Ziele verfolgt, und es sei notwendig, die Gründe und das wahre Gesicht des "Völkermords an den Juden", der geradezu eine Religion geworden sei, aufzudecken. Sie forderten, anhand wissenschaftlicher Fakten müsse neu belegt werden, wie die Zionisten Hitler an die Macht gebracht und unterstützt hätten, damit auf palästinensischem Boden der rassistische und aggressive Staat Israel gegründet werden konnte." 309 Durch Mitgliedsbeiträge und Spenden verfügt die IGMG über erhebliche finanzielle Mittel. Dies ermöglicht ihr, eine Vielzahl von Aktivitäten anzubieten. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in der Erziehungsund Bildungsarbeit für Kinder und Jugendliche. Der hessische Jugendvorsitzende führte hierzu in der "Milli Gazete" aus: "Stahl ist deshalb Stahl, weil sich darin keine Zusätze und keine Schlacken befinden; wir wünschen uns auch eine Jugend, die sich von außen nicht beeinflussen lässt, die zugunsten ihrer Ideale Opfer erbringen kann und die der Gesellschaft von Nutzen ist. Deswegen nennen wir dies "Stählung." 310 Der ehemalige Vorsitzende der IGMG-Jugend in Berlin betonte bei einem Jugendfest der IGMG in Berlin: "In Anbetracht all dieser Geschehnisse ist das einzige, was zu machen ist, die Verteidigung unserer Werte. Also, dass die Lösung im Islam und in der Milli Görüs liegt, ist offensichtlich." 311 Die zahlreichen Angebote sowie die Mitarbeit in islamischen Dachverbänden nutzt die IGMG auch für ihr Ziel, hinsichtlich der Interessenvertretung der in Deutschland lebenden türkischen Muslime eine Vorrangstellung einzunehmen. Im Oktober 2002 trat der Vorsitzende des IGMG-Hauptverbandes, Mehmet Sabri Erbakan, von seinem Amt zurück. Dieser Schritt, die deutliche Niederlage der SP von Necmettin Erbakan bei den türkischen Parlamentswahlen vom 3. November 2002 sowie der Wahlsieg der "Gerechtigkeitsund Ent309 "Die Geschichte wird neu geschrieben", Teil 1 und 2, veröffentlicht am 15./16.12.2006 in "Milli Gazete Online". 310 Hessischer Jugendvorsitzender in "Milli Gazete" vom 12.12.2006, S. 19. 311 "Milli Gazete" vom 12.6.2006, S. 18. Hintergrundinformationen - Legalistische Islamisten 173 wicklungspartei" (AKP) von Recep Tayyip Erdogan 312 lösten in der IGMG in Deutschland eine Krise aus und führten zu internen Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten und so genannten Reformern über die zukünftige Ausrichtung der Organisation. Die darauf folgenden Parlamentswahlen am 22. Juli 2007 in der Türkei bestätigten das Wahlergebnis von 2002: Während die AKP mit rund 46 Prozent noch weiter an Stimmen gewann, erreichte die SP nur 2,3 Prozent und überwand die 10 Prozent-Sperrklausel erneut nicht. Die Traditionalisten in der IGMG erwarten, dass die Organisation weiter auf die Verwirklichung politischer Ziele in der Türkei hinarbeitet und Necmettin Erbakans Forderungen nachkommt. Die so genannten Reformer hingegen fordern eine Neuausrichtung auf die veränderten Bedürfnisse vor allem der Anhänger der zweiten und dritten Generation in Europa. Diese wünschen den Ausbau des religiösen und sozialen Angebots. Sie fordern eine Emanzipation von Erbakan sowie der SP und wollen mehr Mitbestimmung in der IGMG durchsetzen. Die IGMG-Führung versucht, beiden Positionen gerecht zu werden, um eine Spaltung des Verbandes zu vermeiden. Eine programmatische Neuausrichtung der IGMG hat bisher nicht stattgefunden. 3.1.2 "Muslimbruderschaft" / "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." MB Abkürzung IGD 1928 Ägypten (MB) Entstehung / Gründung 1960 Deutschland (IGD) Bund: ca. 1 300 (2009: ca. 1 300) Mitgliederzahl Berlin: ca. 100 (2009: ca. 100) Organisationsstruktur Eingetragener Verein (IGD) Veröffentlichungen "Al-Islam" (Der Islam) (nur noch als Online-Version) Die 1928 in Ägypten gegründete "Muslimbruderschaft" (MB) ist die älteste und zugleich bedeutendste arabische islamistische Gruppierung. Die panislamistische Organisation ist heute, teils unter anderen Namen, in fast allen Ländern des Vorderen Orients vertreten und unterhält auch Zweige in westeuropäischen Ländern. Ein öffentlich kaum in Erscheinung getretenes Gremium, die "Internationale Organisation", ist in über 70 Ländern mit der 312 Von ehemals 15,4 Prozent vor der Spaltung der FP sank das Ergebnis der SP auf 2,5 Prozent. Die AKP erhielt hingegen 34,2 Prozent der Wählerstimmen. 174 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Koordination der Aktivitäten der verschiedenen nationalen MB-Vereinigungen betraut. In Europa existieren zudem zahlreiche Institutionen, Verbände und Vereine, die direkt oder indirekt mit der MB verbunden sind. 313 In den meisten nahöstlichen Staaten bildet die MB eine halbbis illegale Opposition zur Regierung, wobei ihre Aktivitäten von den jeweiligen politischen Verhältnissen abhängen: Während in Syrien der Aufstand gegen die Staatsmacht 1982 gewaltsam beendet wurde, nahm die Bereitschaft der MB zur Anpassung dort zu, wo eine Einbindung in den parlamentarischen Prozess gelang. Dies war in Ägypten bereits in den 80er Jahren der Fall; auch in Jordanien ist die MB im Parlament vertreten. Die ägyptische MB, größte der MB-Organisationen, durchlief verschiedene historische Phasen: In ihrer Frühphase in den 20er und 30er Jahren hatte für sie die Lehre und Erziehung der Gläubigen Vorrang. In den 40er, 50er und 60er Jahren agierte sie militant und verübte zahlreiche politische Attentate auf Repräsentanten des ägyptischen Staates. Höhepunkt der drei Jahrzehnte andauernden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen MB und dem Staat war die Hinrichtung ihres Chefideologen Sayyid Qutb 1966. Als nicht mehr gewaltorientiert gilt die ägyptische MB erst nach Abspaltung ihrer militanten Flügel in den späten 70er Jahren (mit dem Entstehen der terroristischen Gruppen "Takfir wa'l-Hijra" 314 und "al-Jihad al-islami"). Darauf folgte eine Phase der Integrationsbereitschaft in das politische System. Der Entschluss der MB, sich im politischen System Ägyptens auch an Wahlen zu beteiligen und im Parlament mitzuarbeiten, wird teilweise als ein "Marsch durch die Institutionen" gewertet. Ideologisch verkörpert die MB ein breites Spektrum, das bis zur Schaffung einer so genannten "islamischen Demokratie" reicht. Aus den 30er Jahren stammt der Anspruch der MB, dass es eine "Ordnung des Islams" gebe. Dieser relativ unkonkrete Anspruch definiert die islamische Religion als ein "System", das "zu jeder Zeit und an jedem Ort" anwendbar sein soll und das den Koran und die Sunna zur Richtschnur politischen Handelns erhebt. Zeitgenössische Vorstellungen zu Staat und Gesellschaft vertritt die MB mit der Forderung nach "Anwendung der Scharia", des islamischen Rechts und der Schaffung eines islamistischen Staatswesens. Da hierin Religion und Staat nicht getrennt sein sollen, wäre das von der MB angestrebte Staatswesen zwangsläufig ein Staat, der westlichen Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zuwiderläuft. Die islamistische Ausrichtung der Organisation zeigte sich auch in ihrem ersten 'Parteiprogramm', das sie 313 Vgl. Johannes Grundmann. In: "SIAK-Journal", Ausgabe 3/2006, S. 20. 314 Wörtlich übersetzt: "Exkommunizierung [des bestehenden Gesellschaftssystems] und [innere] Emigration". Das Wort "Hijra" (wörtlich "Auswanderung") bezieht sich zugleich auf die 622 a. D. erfolgte "Auswanderung" des Propheten Muhammad von Mekka nach Medina, wo er die Grundlagen des ersten islamischen Gemeinwesens schuf. Hintergrundinformationen - Legalistische Islamisten 175 2007 vorlegte. Hierin schließt die Organisation Frauen und Christen von den Ämtern des Präsidenten sowie des Premierministers aus. Ferner positioniert sie einen "religiösen Rat" neben dem Parlament, dessen Auffassungen verbindlich sein sollen. 315 Ambivalenz kennzeichnet nach wie vor die Haltung der MB in der Gewaltfrage. Zwar lehnt sie seit den 70er Jahren Gewaltanwendung zur Durchsetzung ihrer politischen Agenda ab. Andererseits befürwortet die MB Gewalt in spezifischen Konflikten - etwa im israelisch-palästinensischen Konflikt. Hier rechtfertigt sie den militanten Jihad mit einer Verteidigungssituation und erklärt ihn für vermeintlich legitim. In einschlägigen Äußerungen führender MB-Vertreter, die bis zur expliziten Verneinung des Existenzrechts Israels reichen, werden Jihad und Selbstmordanschläge mit der militärischen Unterlegenheit der Palästinenser gegenüber Israel sowie mit dem vermeintlich militärischen Charakter der israelischen Gesellschaft begründet. So äußerte Muhammad Mahdi Akif, der von 2004 bis 2009 amtierende "Oberste Führer" (murshid 'amm) der ägyptischen MB, dass es "für Israels Existenz in der Region keinen Grund gibt". Ferner prophezeite er, dass die MB bei einer Machtübernahme in Ägypten das Friedensabkommen zwischen Ägypten und Israel von 1979 annullieren werde.316 2010 stellte Akif sein Amt wie angekündigt zur Verfügung. Zu seinem Nachfolger wählte die ägyptische MB am 16. Januar 2010 mit Mohammad Badei einen Vertreter des konservativen Flügels. Die in Deutschland mitgliederstärkste Organisation von MB-Anhängern ist die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD), die aus der 1960 in München von dem ägyptischen Muslimbruder Said Ramadan gegründeten "Moscheebau-Kommission e. V." hervorgegangen ist. Die IGD existiert seit 1982 unter ihrer heutigen Bezeichnung. Sie ist Mitgliedsorganisation des in Großbritannien ansässigen Dachverbands von der MB nahestehenden europäischen Organisationen und Verbänden, der "Föderation Islamischer Organisationen in Europa" (FIOE). Die IGD ist auch mittelbar an der Deutschen Islam Konferenz (DIK) beteiligt. 317 Mit gewaltbefürwortenden Äußerungen trat sie bisher nicht in Erscheinung. Die IGD wurde von 2002 bis Anfang 2010 von Ibrahim El-Zayat geleitet, der eine Zugehörigkeit zur MB bestreitet. Allerdings wurde El-Zayat in einem ARD-Interview vom 23.2.2007 seitens des damaligen "Obersten Führers" der MB, Muhammad Mahdi Akif, als "Chef der Muslimbrüder in Deutschland" 315 "Der Tagesspiegel" vom 29.10.2007. Das Programm ist in arabischer Sprache im Internet abrufbar. 316 Vgl. "al-Hayat" vom 6.10.2006. 317 Die IGD ist eine der Gründungsorganisationen des "Zentralrats der Muslime in Deutschland" (ZMD), der auf der DIK vertreten ist. 176 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 bezeichnet. Als die Tageszeitung "Die Welt" diese Aussage wiedergab, erwirkte El-Zayat eine Gegendarstellung. 318 Allerdings rechnen auch die ägyptischen Behörden El-Zayat der MB zu. So verurteilte ihn ein ägyptisches Militärgericht im April 2008 in einem gegen 40 MB-Mitglieder gerichteten Verfahren in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren. Der Vorwurf gegen die Angeklagten lautete auf Geldwäsche und Finanzierung der Aktivitäten der in Ägypten offiziell verbotenen MB. Seit Anfang 2010 ist der bisher weitgehend unbekannte Samir Falah neuer Präsident der IGD. Da El-Zayats Nähe zur MB mittlerweile der Öffentlichkeit weitestgehend bekannt ist, könnte sein Rückzug durch taktische Erwägungen begründet sein. Die IGD hat Verbindungen zu einer Reihe von Vereinen. In Berlin zählen hierzu das "Interkulturelle Zentrum für Dialog und Bildung e. V." (IZDB), das "Islamische Kulturund Erziehungszentrum e. V." (IKEZ) sowie der "Verband Interkultureller Zentren e. V." (VIZ). 3.1.3 "Tabligh-i Jama'at" / "Jama'at-i Tabligh" ("Gemeinschaft der Verkündigung und Mission") TJ Abkürzung JT Entstehung / Gründung 1927 Indien Bund: ca. 700 (2009: ca. 700) Mitgliederzahl Berlin: ca. 60 (2009: ca. 60) Organisationsstruktur Organisation Die 1927 in Indien von Muhammad Ilyas (1885 - 1944) gegründete "Tabligh-i Jama'at" (TJ) ist eine pan-islamische Missionierungsbewegung, die hierarchisch organisiert ist und weltweit mehrere Millionen Anhänger umfasst. Ihr organisatorisches und geistiges Zentrum hat die TJ in Indien, Pakistan und Bangladesh, von wo aus die weltweiten Aktivitäten der TJ gesteuert werden. In diesen Zentren werden TJ-Mitglieder aus der ganzen Welt geschult. Die europäische Zentrale der TJ befindet sich in Großbritannien. In Deutschland sind mehrere TJ-Gruppen aktiv, darunter auch in Berlin. Zu den Aktivitäten der TJ gehören Missionsreisen, auf denen Muslime von der Ideologie der TJ überzeugt und als Mitglieder rekrutiert werden sollen. Die einzelnen TJ-Gruppen werden von der Führung in Asien hinsichtlich ihrer Missionierungstätigkeiten kontrolliert. In Pakistan findet jährlich ein Welttreffen mit mehreren Hunderttausend Anhängern statt. 318 Vgl. "Die Welt Online" vom 10.4.2007. Hintergrundinformationen - Legalistische Islamisten 177 Die TJ beschreibt sich selbst als apolitisch und gewaltlos. Sie orientiert sich an frühislamischen Vorschriften und Lebensgewohnheiten wie sie im siebten Jahrhundert in Mekka und Medina vorherrschten. Ihr Bemühen, eine muslimische Idealgesellschaft nach dem Vorbild des Frühislam zu schaffen, schließt ein weitgehend wörtliches Verständnis des Korans und der Sunna ein. Dies hat zur Konsequenz, dass ihre gegenwärtige Vorstellungswelt von der Befürwortung der rechtlichen Benachteiligung der Frau und der Abgrenzung gegenüber Nicht-Muslimen geprägt ist. Die in Lehrbüchern und Schriften der TJ vertretene Weltanschauung deutet auf ein dualistisches Weltbild hin, wonach die Menschheit in Muslime und Nichtmuslime eingeteilt wird. Dabei lässt sich eine Tendenz zur Abschottung gegenüber Nicht-Muslimen feststellen. So ist in der TJ-Literatur beispielsweise davon die Rede, dass Kinder in "unislamischen" Gesellschaften von ihrem Glauben entfremdet würden. Hieraus wird ein Erziehungskonzept deutlich, das sich gegenüber außerislamischen Einflüssen abschottet. Die Verinnerlichung dieser Überzeugung trägt zu einem elitären Bewusstsein und zur Bildung parallelgesellschaftlicher Strukturen bei. Erfolgreich Missionierten werden häufig mehrmonatige Schulungsveranstaltungen in pakistanischen Koranschulen vermittelt. Solche intensiven Schulungen sind geeignet, die Teilnehmer zu indoktrinieren und für militant-islamistisches Gedankengut empfänglich zu machen. In Einzelfällen haben Schulungsteilnehmer anschließend den Weg in Mujahidin-Ausbildungslager in Afghanistan gefunden. Auch wenn die Bewegung nach eigenem Bekunden Gewalt ablehnt und sich als unpolitisch darstellt, ist die Gefahr gegeben, dass sie aufgrund ihres strengen Islamverständnisses und der weltweiten Missionierungstätigkeit islamistische Radikalisierungsprozesse fördert. In Berlin fand im Mai 2010 ein "Deutschlandtreffen" der TJ statt. An der mehrtägigen Veranstaltung, zu der auch hochrangige TJ-Gelehrte aus mehreren europäischen Ländern angereist waren, nahmen ca. 500 Personen aus dem Inund Ausland teil. 178 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 4. Rechtsextremismus 4.1 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus 4.1.1 "Deutsche Volksunion" Abkürzung DVU Bund: 1987 Entstehung / Gründung Landesverband Berlin: 1988 Bund: ca. 3 000 (2009: ca. 4 500) Mitgliederzahl Berlin: ca. 150 (2009: ca. 250) Organisationsstruktur Partei Sitz Hamburg "National-Zeitung / Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ) Veröffentlichungen (überregional, wöchentlich, Auflage: ca. 30 000) Die "Deutsche Volksunion" (DVU) wurde 1987 auf Initiative des Münchner Geschäftsmanns und Verlegers Dr. Gerhard Frey mit Unterstützung der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) als "Deutsche Volksunion - Liste D" gegründet. 1991 vollzog Frey mit der Streichung des Namensbestandteils "Liste D" die Trennung von der NPD. Frey betreibt den "DSZ Druckschriftenund Zeitungs-Verlag GmbH" (DSZVerlag) mit der "National-Zeitung / Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ) und den "FZ Freiheitlicher Buchund Zeitschriften-Verlag GmbH" (FZ-Verlag) als Buchund Devotionalienversand. Nach Jahren kontinuierlichen Mitgliederund Bedeutungsverlustes hatte die DVU 2007 ihre Stellung als mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei an die NPD verloren. Im Januar 2009 wählten die Delegierten auf einem Bundesparteitag bei Magdeburg Matthias Faust zum Bundesvorsitzenden und damit zum Nachfolger von Gerhard Frey, der nicht mehr kandidierte. Überalterung, Mitgliederschwund und finanzielle Schwierigkeiten aufgrund der ausbleibenden Zuwendungen des ehemaligen Vorsitzenden und Finanziers Gerhard Frey nahmen im Verlauf des Jahrs 2009 existenzbedrohende Züge an. Dieser Entwicklung trug der zunehmend auch persönlich in die Kritik geratende Parteivorsitzende Anfang 2010 Rechnung und entschied, in Fusionsverhandlungen mit der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) einzutreten. Nach einer Mitgliederbefragung, einem Sonderparteitag Hintergrundinformationen - Rechtsextremismus 179 und einer Urabstimmung endeten diese Verhandlungen am 29. Dezember 2010 mit der Auflösung der DVU und deren Verschmelzung mit der NPD. Begleitet wurde dieser Prozess jedoch von innerparteilichen Konflikten und gerichtlichen Auseinandersetzungen. 319 In ihrem Parteiprogramm bekannte sich die DVU formal zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. In der praktischen Arbeit der Partei spielte diese Programmatik allerdings kaum eine Rolle. Die politisch-ideologischen Standpunkte, die maßgeblich in der NZ als quasi inoffiziellem Presseorgan der Partei publiziert wurden, kreisten um die Themenfelder der vermeintlich einseitigen Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und der Relativierung von Verbrechen der Nationalsozialisten. Allen offiziellen Bekundungen der DVU zum Trotz bestätigte die Vereinigung mit der NPD und das damit verbundene Bekenntnis zur neonazistischen Ideologie dieser Partei die rechtsextremistische Ausrichtung der DVU. In Berlin war die DVU schon in den Jahren vor ihrem Aufgehen in der NPD nicht mehr öffentlich wahrnehmbar. Ein passiver, überalterter Mitgliederstamm, ein unklares politisches Profil und fehlende finanzielle Ressourcen hatten den Berliner DVU-Landesverband in den vergangenen Jahren zunehmend in die Bedeutungslosigkeit gedrängt. 4.1.2 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" Abkürzung NPD Bund: 1964 Entstehung / Gründung Landesverband Berlin: 1966 Bund: ca. 6 500 (2009: ca. 6 800) Mitgliederzahl Berlin: ca. 250 (2009: ca. 300) Organisationsstruktur Partei Sitz Berlin Deutsche Stimme" (überregional, monatlich, Auflage ca. 25 000) "Zündstoff - Deutsche Stimme für Berlin und Veröffentlichungen Brandenburg" (regional, vierteljährlich) "Weiterdenken" Mitteilungsblatt der NPD Berlin (halbjährlich) Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) ging 1964 aus der rechtsextremistischen "Deutschen Reichspartei" (DRP) hervor. Der Vorsitzende der DRP, Adolf von Thadden, war Initiator der NPD-Gründung 319 Vgl. Aktuelle Entwicklungen "Versuch einer Neustrukturierung der rechtsextremistischen Parteienlandschaft", S. 48 ff. 180 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 und von 1967 bis 1971 deren Vorsitzender. Die NPD verfügt mit den "Jungen Nationaldemokraten" (JN) über eine Jugendund mit dem "Ring Nationaler Frauen" (RNF) über eine Frauen-Organisation. Darüber hinaus existiert die "Kommunalpolitische Vereinigung" (KPV) als Organisation für die kommunalen Mandatsträger der NPD sowie ein eigener "Ordnungsdienst". Bestehende innerparteiliche Interessengruppen wie der "Arbeitskreis Christen" und der "Arbeitskreis Rußlanddeutscher" besitzen keine Relevanz. Als Parteizeitung vertreibt die NPD die Monatsschrift "Deutsche Stimme" (DS) und ist an der "Deutsche Stimme Verlags GmbH" beteiligt. Die Partei, deren Bundesgeschäftsstelle sich seit 2000 in Berlin befindet, verfügt über 16 Landesverbände. Der Berliner Landesverband untergliedert sich derzeit in acht Kreisverbände, von denen einige zur Zeit inaktiv sind. Seit 2006 ist die Partei in vier Berliner Bezirksverordnetenversammlungen (BVVen) vertreten. Die NPD vertritt fremdenfeindliche, rassistische und antisemitische Positionen. Durch Verallgemeinerungen und Verbreitung von negativen Stereotypen schürt sie Überfremdungsängste: "Eine multikulturelle Gesellschaft ist immer auch eine multikriminelle Gesellschaft. Wer den inneren Frieden bewahren will, muß die Zuwanderung stoppen und kulturfremde Ausländer in ihre Heimatländer zurückschicken." 320 Sie versteht sich als Fundamentalopposition und diffamiert regelmäßig Institutionen, Parteien und Vertreter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Als "sozialrevolutionäre Erneuerungsbewegung" propagiert sie in aggressiver Weise die grundsätzliche Neuordnung des politischen Systems: "Anstatt sich dem Schutz von Identität, Souveränität und Solidarität der Deutschen zu verschreiben, betrieb das antideutsche Politikerkartell eine planvolle Interessenpolitik für Ausländer, das Ausland und das Großkapital. [...] Hier hilft kein bloßer Politikerwechsel, weil durch den Austausch eines Volksbetrügers durch einen anderen nichts gewonnen ist, sondern nur ein radikaler, also an die Wurzel des Übels gehender Politikwechsel." 321 320 "Durchblick - Die Zeitung für junge Leute". Internetauftritt der NPD, Aufruf am 26.1.2010. 321 Jürgen Gansel: "Die Systemkrise beginnt im kommunalen Unterbau". Internetauftritt der NPD, datiert 23.2.2010. Hintergrundinformationen - Rechtsextremismus 181 Unter der Überschrift "Eigenes Selbstverständnis - Systemüberwindung" heißt es ein einem Positionspapier des Parteivorstands der NPD: "Das Rezept dieser zwischenzeitlichen Erfolge, die uns in aller Munde brachte, war eine ganz klare und vor allem kompromisslose Ausrichtung auf Überwindung des liberalkapitalistischen Systems und des bestehenden volksfeindlichen Parteienstaats." 322 Ideologische Grundlagen der NPD sind ein anti-individualistisches Menschenbild und der völkische Kollektivismus. Das Ziel der NPD ist, wie der sächsische NPD-Landesvorsitzende Holger Apfel schrieb, die Schaffung einer "ethnisch homogenen Volksgemeinschaft":323 "Nationalisten lehnen die Zusammenschließung fremder Kulturund Volksteile in die Nationalkultur ab. Sie sind bestrebt, nationale Eigenart auch der Fremden zu erhalten; schon deshalb, damit eine spätere Rückführung der Fremden in ihre angestammte Heimat nicht verbaut wird." 324 Wenige Jahre nach ihrer Gründung verzeichnete sie mit dem Einzug in mehrere Landesparlamente ihre ersten Erfolge. Den Höhepunkt in dieser Phase erlebte die NPD im Jahr 1969, als sie bei der Bundestagswahl mit 4,3 Prozent der Stimmen nur knapp den Einzug in den Deutschen Bundestag verpasste. Danach kam es aufgrund innerparteilicher Querelen zu einem Bedeutungsverlust der Partei. Der seit 1996 amtierende Parteivorsitzende Udo Voigt versucht mit einem "Drei-Säulen-Konzept" eine strategische Neuausrichtung und Wiederbelebung zu erreichen. 325 Demnach konzentriert sich die Arbeit auf drei Ebenen: den "Kampf um die Straße", den "Kampf um die Köpfe" und den "Kampf um die Parlamente". Das Konzept formuliert das Ziel, die NPD nicht nur als Wahlpartei zu etablieren ("Kampf um die Parlamente"), sondern auch Einfluss auf intellektuelle Diskurse zu nehmen ("Kampf um die Köpfe") und durch provokante Aktionen und Demonstrationen die Basis ihrer Anhängerschaft zu verbreitern ("Kampf um die Straße"). 322 "Der Deutsche Weg" - Grundsatzpapier des NPD-Parteivorstands zur zukünftigen Ausrichtung nationaler Politik in Deutschland. Dok. in DS 6/09 (Juni 2009), S. 15 f., hier S. 15. 323 Holger Apfel (Fraktionsund Landesvorsitzender der NPD in Sachsen): Weder Recht noch Menschlichkeit. In: "Deutsche Stimme" Nr. 9/2003, September 2003. 324 Schlagwortartige Darstellung der Positionen der NPD auf deren Homepage; Artikel zum Stichwort "multikulturell" vom 30.1.2009. 325 Vgl. Holger Apfel: "35 Jahre NPD - Alles Große steht im Sturm. Tradition und Zukunft einer großen Partei." Stuttgart 1999. 182 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Mit dem "Drei-Säulen-Konzept" und der Öffnung der Partei konnte die NPD insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern in den 90er Jahren neue, überwiegend jüngere Mitglieder gewinnen. Mit der konzeptionellen Neuausrichtung war auch eine Radikalisierung der Partei verbunden, die im Jahr 2000 Anlass für die Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht war. 326 Das Verfahren zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der NPD und Auflösung ihrer Parteiorganisation wurde mit Entscheidung des Zweiten Senats vom 18. März 2003 eingestellt. 327 Nach einem anschließenden Aufschwung der NPD zwischen 2004 und 2008, der mit dem Einzug der NPD in die Landesparlamente von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern einherging, stagnierte die Entwicklung der Partei seither. Finanzielle Unregelmäßigkeiten und parteiinterne Streitigkeiten erschütterten die Glaubwürdigkeit der Partei und ließen die Bedeutung der NPD in der rechtsextremistischen Szene schwinden.. Neue Impulse erhofft sich die Parteiführung von einer Fusion mit der "Deutschen Volksunion" (DVU), die - vorbehaltlich der Rechtsstreitigkeiten - im Dezember 2010 nach einem Prozess von nur wenigen Monaten mit der Unterzeichnung eines Verschmelzungsvertrages abgeschlossen wurde. Seitdem führt die Partei offiziell den Namen "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) - Die Volksunion". 328 Der Berliner Landesverband der NPD ging 2003 aus dem 1991 zunächst gemeinsam gegründeten Parteiverband für Berlin/Brandenburg hervor. Seine jüngere Entwicklung ist von Höhen und Tiefen geprägt. Nachdem sich die NPD in den Jahren 2005 bis 2008 zum zentralen Akteur des Berliner Rechtsextremismus entwickeln konnte, eskalierten unter der Führung eines 326 Vgl. Beschluss des BVerfG vom 18.3.2003, 2 BvB 1/01. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2001. Berlin 2002, S. 32 - 36; Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2002. Berlin 2003, S. 17 - 20; Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, S. 53 - 56. 327 Im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts fand sich nicht die nach SS 15 Abs. 4 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) für eine Fortsetzung notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit. Eine Minderheit der Richter (drei von sieben) vertrat die Auffassung, dass die Beobachtung der NPD durch V-Personen, die unmittelbar vor und während des Verbotsverfahrens als Mitglieder des Bundesvorstands oder eines Landesvorstands fungieren, in der Regel unvereinbar mit den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren sei. Die Mehrheit hielt eine Fortsetzung des Verbotsverfahrens für geboten. Sie sah in dem Vorgehen der Verfassungsschutzbehörden keinen schwerwiegenden Mangel, der eine Verfahrenseinstellung rechtfertigen könnte (Pressemitteilung des BVerfG vom 18.3.2003, AZ 2 BVB 1/01). 328 Vgl. Aktuelle Entwicklungen "Versuch einer Neustrukturierung der rechtsextremistischen Parteienlandschaft", S. 48 ff. Hintergrundinformationen - Rechtsextremismus 183 umstrittenen Landesvorsitzenden persönliche Konflikte mit der Folge, dass die Partei 2009 erheblich an Mitgliedern und Aktionsfähigkeit verlor. Ein im Februar 2010 neu gewählter Landesvorstand ist darum bemüht, den Niedergang zu stoppen und die Partei zu konsolidieren. 4.2 Aktionsorientierter Rechtsextremismus 4.2.1 Neonazis Neonationalsozialisten (Neonazis) orientieren sich am historischen Nationalsozialismus, wie er von der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP) zwischen 1920 und 1945 vertreten wurde. Wie in der NSDAP sind auch im Neonazi-Spektrum unterschiedliche ideologische Strömungen festzustellen. So gibt es Bezüge zum sozialrevolutionären Flügel innerhalb des Nationalsozialismus und dem damit verbundenen Antikapitalismus Ernst Röhms und der Gebrüder Strasser. Allen Versionen des Neonationalsozialismus gemeinsam ist die Glorifizierung der Führungspersonen des NS-Regimes und die Verharmlosung der NS-Verbrechen. Ein Teil der bundesweiten Neonazi-Szene ist in festen Strukturen wie den so genannten Kameradschaften organisiert, deren Bedeutung in Berlin nach mehreren Vereinsverboten kontinuierlich abgenommen hat. Hier sind Neonazis unter dem Dach der "Autonomen Nationalisten" aktiv und nehmen unregelmäßig an politischen Aktionen der NPD teil. 4.2.2 Skinheads Die Subkultur der Skinheads 329 wird oft mit jugendlichem Rechtsextremismus gleichgesetzt. Dies ist eine unzutreffende Verkürzung, da die Skinheads zunächst eine jugendliche Subkultur wie die der Punks, Hippies oder Raver darstellen. Die Skinhead-Subkultur entstand in den 60er Jahren in Großbritannien und orientierte sich hinsichtlich ihrer Werte und ihres "Outfits" an einer proletarischen Attitüde. In Deutschland gibt es Skinheads seit Anfang der 80er Jahre, die größten Szenen entwickelten sich in Hamburg und Berlin. Erst im Laufe der Zeit driftete ein Teil der Skinhead-Szene in den Rechtsextremismus ab. Die von rechtsextremistischen Skinheads, von denen ein großer Teil nur ein diffuses rechtsextremistisches Weltbild hat, ausgehende Gefahr besteht vor allem in ihrer Gewaltbereitschaft. Rechtsextremistische Gewalt kann allerdings nicht auf die Gewalt der Skinheads reduziert werden. 329 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Rechtsextremistische Skinheads. Berlin 2003. 184 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Umgekehrt haben zahlreiche Gewalttaten von Skinheads keinen politischen Hintergrund. 330 Rechtsextremistische Skinheads sind zum großen Teil organisationsfeindlich eingestellt und lehnen eine Einbindung in feste (Partei)-Strukturen ab. Versuche rechtsextremistischer Parteien, das Skinhead-Potential dauerhaft an sich zu binden (z. B. durch die "Aktionsfront Nationaler Sozialisten" Anfang der 80er Jahre, die "Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei" (FAP) Mitte der 80er Jahre oder die "Nationale Alternative" Anfang der 90er Jahre), scheiterten. Den jüngsten Versuch machte die NPD mit ihrem "Drei-SäulenKonzept". Im Gegensatz zu den Parteien, die von den rechtsextremistischen Skinheads überwiegend als szenefremd wahrgenommen werden, konnten sich in Deutschland seit Anfang der 90er Jahre zwei rechtsextremistische Skinhead-Zusammenschlüsse etablieren: "Blood & Honour" 331 und die "Hammerskins". 4.2.3 "Autonome Nationalisten" Seit 2002 ist innerhalb des Netzwerks "Freie Kräfte" in Berlin die Tendenz zu beobachten, sich hinsichtlich Habitus, Organisationsund Aktionsformen dem Stil autonomer Linksextremisten anzunähern. Von den traditionellen "Kameradschaften" grenzen sich neu entstandene rechtsextremistische Personenzusammenschlüsse durch einen niedrigschwelligen Zugang, ein jugendnäheres Erscheinungsbild und ein aggressiveres Auftreten in der Öffentlichkeit ab. Diese Entwicklung erklärt sich aus einer Art "Gegenwehr" zur linken "Antifa" und als Reaktion auf vermeintlichen oder tatsächlichen staatlichen Repressionsdruck. Als Bezeichnung für diese Rechtsextremisten modernen Typs, die von Außenstehenden und teilweise auch von Szeneangehörigen, kaum von Linksautonomen zu unterscheiden sind, hat sich der Begriff "Autonome Nationalisten" durchgesetzt. Auf Eigennamen wird meist verzichtet, stattdessen werden unterschiedlichste "Labels" wie "Freie Kräfte Berlin" oder "Nationaler Widerstand Berlin " verwendet. 332 Den "Autonomen Nationalisten" zugerechnet werden Personen, die sich auf der Grundlage neonazistischer (vorzugsweise nationalrevolutionärer und kapitalismuskritischer) Ideologiefragmente in informellen und teilweise konspirativen Gruppenstrukturen vernetzen, die spontan mobilisierbar und situativ handlungsfähig sind. Die eher losen Zusammenschlüsse dienen dem Zweck der Durchführung politischer Aktionen im öffentlichen Raum, 330 Vgl. ebenda, S. 37 - 42. 331 "Blood & Honour" wurde 2000 vom Bundesminister des Innern in Deutschland verboten. 332 Vgl. Aktuelle Entwicklungen "'Netzwerk "Freie Kräfte' dominiert den Berliner Rechtsextremismus", S. 67 ff. Hintergrundinformationen - Rechtsextremismus 185 die teilweise den Charakter von Machtdemonstrationen besitzen und sich vornehmlich gegen den politischen Gegner ("Anti-Antifa") richten. Dabei wird Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung unter Berufung auf ein abstraktes "Selbstverteidigungsrecht" legitimiert. Sichtbarster Ausdruck ihres Auftretens in der Öffentlichkeit ist die Bildung "Schwarzer Blöcke" bei rechtsextremistischen Demonstrationen.333 Mittlerweile sind 110 (2010: 120) "Autonome Nationalisten" vornehmlich in den Bezirken Pankow, Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf, Treptow-Köpenick und Neukölln aktiv. Sie sind nicht nur in lokalen Aktionsgruppen organisiert, sondern auch berlinweit vernetzt. Ihre zentrale Informationsund Kommunikationsplattform ist die Internetpräsenz des fiktiven "Nationalen Widerstand Berlin". Berlin ist neben dem Ruhrgebiet ein regionaler Schwerpunkt der "Autonomen Nationalisten". 4.2.4 Netzwerk "Freie Kräfte" (vorm. Netzwerk Kameradschaften) Das Netzwerk "Freie Kräfte" ist ein loser, hoher Fluktuation unterworfener Zusammenschluss von ca. 200 Rechtsextremisten, die anlassbezogen miteinander politisch agieren. Sie nehmen an Demonstrationen teil, erstellen und verbreiten Flugblätter und organisieren politische Schulungen sowie Internetauftritte. Obwohl sich das Netzwerk "Freie Kräfte" in den letzten Jahren organisatorisch und zum Teil auch personell gewandelt hat, sind die regionalen informellen Grundstrukturen und die Personalstärke weitgehend identisch geblieben. Endgültig haben sich in den letzten beiden Jahren die "Autonomen Nationalisten" zur vorherrschenden Struktur im ehemals von Kameradschaften dominierten Netzwerk "Freie Kräfte" entwickelt. Ihnen gehören etwa 110 der ca. 200 Personen des Netzwerks "Freie Kräfte" an. Neben den "Autonomen Nationalisten" gibt es immer wieder Versuche, die per se nicht organisationsgebundenen Anhänger des Netzwerkes in feste Strukturen einzubinden. Mehr und mehr werden auch hier die "Autonomen Nationalisten", vor allem mit ihrem äußeren Erscheinungsbild, zum "Vorbild" für das gesamte Netzwerk "Freie Kräfte". 333 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Lageanalyse "Autonome Nationalisten" 2008. Berlin 2008. 186 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Kameradschaften, die bis vor fünf Jahren noch die Strukturen des Netzwerkes beherrschten, wurden durch polizeiliche und strafrechtliche Maßnahmen sowie durch Vereinsverbote, wie zuletzt 2009 "Frontbann 24", nachhaltig geschwächt. Rechtsextremistische Kameradschaften sind Personenzusammenschlüsse, die einen * abgegrenzten Aktivistenstamm mit beabsichtigter geringer Fluktuation, * eine lediglich lokale oder maximal regionale Ausdehnung * eine mindestens rudimentäre Struktur und * die Bereitschaft zu gemeinsamer politischer Arbeit auf der Basis einer rechtsextremistischen, insbesondere neonazistischen Grundorientierung haben. Vor dem Hintergrund dieses staatlichen Verfolgungsdrucks sind Aktivisten des Netzwerkes verstärkt darum bemüht, kameradschaftsähnliche Strukturen hinter einem konspirativen und informellen Auftreten im Stile der "Autonomen Nationalisten" zu verbergen. Regionale Schwerpunkte der Aktionen und Präsenz von Angehörigen des Netzwerks "Freie Kräfte" befinden sich in Lichtenberg, Pankow, TreptowKöpenick, Marzahn-Hellersdorf sowie in Neukölln. 4.2.5 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V." Abkürzung HNG Entstehung / Gründung 1979 Bund: ca. 600 (2009: ca. 600) Mitgliederzahl Berlin: ca. 20 (2009: ca. 20) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Frankfurt am Main Nachrichten der HNG" Veröffentlichungen (überregional, monatlich, Auflage ca. 600) Die "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V." (HNG) ist mit bundesweit ca. 600 Personen nach den größeren rechtsextremistischen Parteien der mitgliederstärkste Zusammenschluss im Rechtsextremismus. Die HNG wird zentral von ihrer Vorsitzenden in Mainz-Gonsenheim gesteuert. Laut Satzung verfolgt sie "ausschließlich karitative Zwecke, indem sie nationale und politische Gefangene und deren Hintergrundinformationen - Rechtsextremismus 187 Angehörige im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden Mittel unterstützt". 334 Tatsächlich ist es ihr Ziel, die Einbindung der Straftäter in die rechtsextremistische Szene während der Haftzeit zu gewährleisten und sie nach der Haftentlassung nahtlos wieder zu integrieren. Zu diesem Zweck nutzt die HNG ihre Publikation "Nachrichten der HNG". Darin sind "Gefangenenlisten" abgedruckt sowie eine Liste inhaftierter Rechtsextremisten, die Briefkontakt wünschen. In Einzelfällen erhalten Häftlinge geringe Geldspenden. Die HNG bezeichnet die von ihr betreuten Straftäter als "politische Gefangene". Dabei nimmt sie keinen Anstoß daran, dass einige der Häftlinge für Kapitalverbrechen wie Mord oder Totschlag verurteilt worden sind. Die Gefangenen sind, in der Diktion der Vorsitzenden der HNG, "Verfolgte der Demokratie". Sie bezeichnet die Bundesrepublik als "BRDDR" und somit als Fortbestand einer Diktatur und bestreitet deren Rechtstaatlichkeit. 335 Aufgrund des eng umrissenen Vereinszwecks spielen ideologische oder strategische Meinungsverschiedenheiten der HNG-Mitglieder keine große Rolle. Die HNG hält sich aus politischen Auseinandersetzungen im rechtsextremistischen Spektrum heraus, um einen "neutralen" Status zu wahren und die Vernetzung im Rechtsextremismus zu fördern. Die HNG geriet 2010 infolge von Durchsuchungsmaßnahmen, die im September 2010 bei mehreren Aktivisten der Organisation in einigen Bundesländern, darunter auch Berlin stattfanden, in den Fokus einer breiteren Öffentlichkeit. Ausgangspunkt der Durchsuchungen waren laut Bundesministerium des Inneren (BMI) Anhaltspunkte für das Vorliegen von Verbotsgründen nach SS 3 Abs. 1 Satz 1 VereinsG. In Berlin verfügt die HNG über ein Mitgliederpotential von rund 20 Personen, die sich dem Bericht auf einer rechtsextremistischen Internetseite zufolge, zu einer Berliner Ortsgruppe zusammengeschlossen haben sollen. Öffentliche Aktivitäten entfaltet die HNG in Berlin nicht. Auch in Berliner Haftanstalten werden Rechtsextremisten von der HNG betreut. Diese Betreuung wird erschwert, da die Publikation der HNG - die "Nachrichten der HNG" - in den Berliner Justizvollzugsanstalten verboten ist und dort beschlagnahmt wird. 334 SS 2 Satzung der HNG vom 13.3.1999. 335 Interview mit der Vorsitzenden der HNG vom Dezember 2009 in der "Deutschen Stimme" Nr. 12/09, S. 3. 188 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 4.2.6 Rechtsextremistische Musik Rechtsextremistische Musik kombiniert rechtsextremistische Texte mit verschiedenen Musikstilen (u. a. Rock / Hardrock, Liedermacher, Schlager, Volkslieder). 336 Die Musik-Szene ist seit Mitte der 90er Jahre einer der dynamischeren Bereiche des Rechtsextremismus. Im strukturarmen aktionsorientierten Rechtsextremismus stellt sie - und hier besonders durch die Konzerte und zunehmend auch im Rahmen von Internetforen und -radios - eine wichtige Kommunikationsplattform dar. Für den Einzelnen bietet die Mitgliedschaft in einer Band oder die Moderation einer Radiosendung im Internet die Möglichkeit, sich innerhalb der Szene zu profilieren. Eng mit dem Bedeutungszuwachs der Musikszene war in den 90er Jahren der Aufstieg der "Blood & Honour"-Organisation" 337 (B & H) verbunden. Strategisch denkende Köpfe wie der B & H-Gründer Ian Stuart Donaldson versuchten, die Musik als Mittel der ideologischen Beeinflussung und Rekrutierung einzusetzen. Diese Strategie war nur begrenzt erfolgreich, da eine Rekrutierung für die Szene selten über das alleinige Hören rechtsextremistischer Musik erfolgt. Hierfür ist der persönliche Kontakt, wie er beispielsweise auf Konzerten zustande kommt, wichtiger. Mit der Etablierung professioneller Händler, die die Szene mit Tonträgern und Szenebedarf (vor allem Bekleidung) versorgen, gewann der Musikbereich zunehmend auch finanzielle Bedeutung für den aktionsorientierten Rechtsextremismus. Die Aktivitäten der rechtsextremistischen Musikszene in Berlin erreichten Mitte der 90er Jahre ihren Höhepunkt, bevor sie gegen Ende der 90er Jahre unter erheblichen Druck durch das Vorgehen der Sicherheitsbehörden geriet: Rechtsextremistische Veranstaltungen wurden aufgelöst, Tonträger indiziert und Hausdurchsuchungen durchgeführt. Mit der Verurteilung der Mitglieder der Band "Landser" im Dezember 2003 wurde erstmals eine Band als kriminelle Vereinigung eingestuft. 338 336 Oft verwendete Schlagwörter wie "Rechtsrock" oder "Skinhead-Musik" sind unpräzise, da sie entweder nur einen kleinen Teil rechtsextremistischer Musik bezeichnen (Rechtsrock) oder aber mit ihr nicht deckungsgleich sind. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Rechtsextremistische Skinheads. Berlin 2003, S. 56 ff und Senatsverwaltung für Inneres: Rechtsextremistische Musik. Berlin 2007. 337 "Blood & Honour" wurde 2000 vom Bundesminister des Innern in Deutschland verboten. B & H-Stukturen sind in Berlin nicht mehr vorhanden. 338 Urteil des Kammergerichts Berlin vom 22.12.2003, Az: (2) 3 StE 2/025(1) (2/02). Das Urteil des Kammergerichts Berlin wurde im März 2005 im Wesentlichen durch den Bundesgerichtshof bestätigt. Az: 3 StR 233/04. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, S. 46-48. Hintergrundinformationen - Rechtsextremismus 189 Obwohl dieses Urteil durchaus Wirkung in der rechtsextremistischen Musikszene entfaltete und sich die Szene seitdem darum bemüht, jugendgefährdende und strafrechtlich relevante Aussagen zu vermeiden, wie das Beispiel der "Landser"-Nachfolgeband "Die Lunikoff-Verschwörung" zeigt, geraten immer wieder Bands in den Fokus der Strafverfolgungsbehörden. In Berlin betrifft dies die Band "Deutsch, Stolz, Treue" (D.S.T. bzw. X.x.X.), von deren drei Mitgliedern zwei im März 2009 vom Landgericht Berlin wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Volksverhetzung zu Freiheitsstrafen von einem Jahr und zwei Monaten sowie zehn Monaten verurteilt wurden. 2010 wurde die anonym veröffentlichte CD "Melodien für 6 Millionen" der Band "Schiffbruch 88" wegen der hierin enthaltenen Verherrlichung des Nationalsozialismus und der Aufrufe zu Gewalttaten gegen Personen jüdischen Glaubens und Angehörige anderer Nationen, von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert. Neben der Produktion und dem Vertrieb von Tonträgern kann die Ausrichtung von Konzerten als zweite tragende Säule der rechtsextremistischen Musikszene betrachtet werden. In Berlin ist der rechtsextremistische Konzertbetrieb aufgrund des konsequenten Vorgehens der Sicherheitsbehörden in den vergangenen Jahren weitgehend zum Erliegen gekommen. Die Berliner Bands haben ihre Auftritte überwiegend ins Bundesgebiet und ins Ausland verlegt. 2010 wurde in Berlin lediglich ein Konzert im Rahmen der NPD-Kundgebung am 18. September durchgeführt. 339 339 Vgl. Aktuelle Entwicklungen "NPD auf Profilsuche", S. 64. 190 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 4.3 Diskursorientierter Rechtsextremismus 4.3.1 Die "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V." Entstehung / Gründung 1951 Bund: ca. 150 (2009: ca. 150) Mitgliederzahl Berlin: unter 20 (2009: ca. 20) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Berlin "Nordische Zeitung" Veröffentlichungen (überregional, vierteljährlich, Auflage ca. 300) Die "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V." (Artgemeinschaft) ist eine heidnisch-germanische Weltanschauungsgemeinschaft. Vorsitzender war bis zu seinem Tod im Oktober 2009 der Neonazi und rechtsextremistische Multi-Funktionär Jürgen Rieger (Hamburg). Da der neue Vorsitzende der "Artgemeinschaft" weder über das Charisma noch die Integrationskraft Riegers verfügt, hat der Verein den Verlust seines langjährigen Vorsitzenden, der das Vereinsleben nahezu im Alleingang organisiert hatte, bislang nicht kompensieren können. Die "Artgemeinschaft" versteht sich als religiöse Gemeinschaft, die sich "zum germanischen Kulturerbe und dessen Weiterentwicklung" 340 bekennt. Dahinter verbirgt sich eine völkisch-rassistische Weltanschauung, die auf der biologistisch-rassistischen Annahme von verschiedenen "Menschenarten" mit unterschiedlichen Wertigkeiten basiert. Die Bewahrung und Förderung der eigenen Art ist für die "Artgemeinschaft" das höchste Ziel. Erreicht werden soll dieses Ziel durch "gleichgeartete Gattenwahl" und damit "die Gewähr für gleichgeartete Kinder". 341 Mitteilungsorgan der "Artgemeinschaft" ist die "Nordische Zeitung". Daneben publiziert die "Artgemeinschaft" zwei Schriftenreihen, eine Buchreihe und Einzelschriften in geringerer Auflage. 340 Vgl. u. a. Das Artbekenntnis Art. 7. In: "Nordische Zeitung", Heft 3/77 2009. 341 Vgl. u. a. Das Sittengesetz unserer Art. Art. 22, In: "Nordische Zeitung", Heft 3/77 2009, Rückseite. Hintergrundinformationen - Rechtsextremismus 191 Die Aktivitäten der "Artgemeinschaft" beschränkten sich in den vergangenen Jahren fast ausschließlich auf die Ausrichtung von bundesweiten und regionalen Festen wie Sommerund Wintersonnenwendfeiern ("Julfeiern"). Die Feste sollen Gemeinschaftserlebnisse sein und tragen meist den Charakter von Familienfeiern; sie haben selten größere Außenwirkung. Sie bietet ihren meist aktionsorientierten Teilnehmern einen lebensweltlichen Gegenentwurf auf heidnischer und völkisch-rassistischer Grundlage . Allerdings schränkt der antimoderne Habitus der "Artgemeinschaft" ihre Anziehungskraft insbesondere auf Jugendliche ein. In der "Artgemeinschaft" sind auch Berliner Rechtsextremisten vertreten. Öffentlichkeitswirksame Aktivitäten entfaltet der Personenzusammenschluss in Berlin jedoch nicht, da für Veranstaltungen ländliche Räume bevorzugt werden. 4.3.2 Revisionismus Revisionismus ist eine Sammelbezeichnung für die "politisch motivierte Umdeutungen durch einseitige, leugnende, relativierende oder verharmlosende Darstellungen der Zeit des Dritten Reiches". 342 Revisionisten benutzen pseudowissenschaftliche Argumente, um ihre rechtsextremistischen Positionen zu rechtfertigen und moralisch zu entlasten. Typische Argumentationsmuster der Revisionisten sind: * die Leugnung der Kriegsschuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg, * die Umdeutung des Angriffskrieges Adolf Hitlers gegen die Sowjetunion als notwendigen Präventivkrieg gegen die "bolschewistische Expansion", * die Leugnung der Existenz oder des Umfangs des Holocaust, * das "Aufrechnen" der NS-Verbrechen mit den alliierten Bombenangriffen gegen deutsche Städte oder den Vertreibungen von "Volksdeutschen" nach Ende des Zweiten Weltkriegs, * die Betonung vermeintlich positiver Leistungen des NS-Regimes (Autobahn-Bau, Senkung der Arbeitslosigkeit) oder die Argumentation, der Nationalsozialismus sei eigentlich eine gute Idee gewesen, die nur schlecht ausgeführt worden sei. 342 Armin Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 2. Auflage München 2000, S. 47. 192 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Die Veröffentlichung revisionistischer Literatur setzte in den 50er Jahren ein. Bekannt wurden Autoren wie Peter Kleist ("Auch Du warst dabei"), David Hoggan ("Der erzwungene Krieg. Die Ursachen und Urheber des Zweiten Weltkriegs") und Udo Walendy ("Wahrheit für Deutschland. Die Schuldfrage des zweiten Weltkriegs"). Der Revisionismus ist kein Phänomen, das auf Deutschland beschränkt ist, sondern spielt vor allem in den USA aber auch im europäischen Ausland eine Rolle. Da die Leugnung des Holocaust in Deutschland strafbar ist (SS 130 Abs. 3 StGB), agieren die Propagandisten der "Auschwitz-Lüge" vor allem vom Ausland aus, so bis zu seinem Tod Thies Christophersen ("Die AuschwitzLüge") und bis zu seiner Auslieferung nach Deutschland Ernst Zündel. Von besonderer Bedeutung waren bzw. sind der "Leuchter-Report", der im Zusammenhang mit dem Prozess gegen den damals in Kanada lebenden Zündel verfasst wurde, und das "Rudolf-Gutachten" des deutschen Rechtsextremisten Germar Rudolf. In beiden Studien wird mit pseudo-naturwissenschaftlichen Methoden versucht, die Massenermordung in Auschwitz als technisch unmöglich darzustellen. Die Holocaustleugner in Deutschland konzentrierten sich bis zu dessen Verbot im Mai 2008 um den "Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten", dessen Hauptagitator und -initiator lange Zeit Horst Mahler war, der neben der Rechtsanwältin Sylvia S. derzeit als letzter prominenter Holocaustleugner eine mehrjährige Haftstrafe absitzt. Ernst Zündel wurde am 1. März 2010 aus dem Strafvollzug entlassen. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 193 5. Linksextremismus 5.1 Aktionsorientierter Linksextremismus 5.1.1 "Antifaschistische Linke Berlin" Abkürzung ALB Entstehung / Gründung 2003 Mitgliederzahl Ca. 50 (2009: ca. 60) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Internet, Flugund Faltblätter Veröffentlichungen "Antiberliner" (überregional, unregelmäßig, Auflagenhöhe nicht bekannt) Die Vorgängerorganisation der "Antifaschistischen Linken Berlin" (ALB) wurde Mitte 1993 in Berlin von gewaltorientierten Autonomen aus Passau - zunächst unter der Bezeichnung "Antifa A+P" bzw. "Agitation und Praxis", danach "Antifaschistische Aktion Berlin" (AAB) - gegründet. Diese war eine der mitgliederstärksten und politisch aktivsten autonomen "Antifa"Gruppen in Berlin. Nach eigener Darstellung hat sich die AAB am 13. Februar 2003 aufgelöst und in zwei etwa gleich starke Gruppen - die "Antifaschistische Linke Berlin" (ALB) und die heute nicht mehr existierende Gruppe "Kritik & Praxis Berlin" - gespalten. 343 Auf ihrer Internet-Homepage bietet die ALB grundlegende Ausführungen etwa zum praktizierten "Antifaschismus" sowie aktuelle Informationen zu Aktionsschwerpunkten, Kampagnen und regionalen wie überregionalen Aktivitäten. 343 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, S. 97 f. 194 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Die ALB verfolgt Ziele, die gegen den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet sind. Sie tritt für den Kommunismus als politische Ordnungsform ein: "Denn der Kapitalismus ist keine natürliche Gegebenheit, die unabänderlich festgeschrieben steht. [...] Der Kapitalismus verwehrt den Menschen, ihre Bedürfnisse zu befrieden, da sein einziges Ziel die Vermehrung des Kapitals ist. Daher ist der Kapitalismus in seiner ganzen Verfasstheit durch eine Revolution zu überwinden. [...] Die Revolution ist und bleibt auf der Tagesordnung aller linken Kräfte und der Kämpfe, die sie führen. Für den Kommunismus!" 344 Um dieses Ziel zu erreichen, setzt die ALB auf die "Lohnabhängigen". Diese gelte es zu radikalisieren: "Sie sind also - augenscheinlich - die natürlichen Verbündeten der radikalen Linken als politische Strömung, um die soziale Revolution zu verwirklichen. Die Realität sieht anders aus: Die meisten Beschäftigten und Arbeitslosen befinden sich nicht in den Startlöchern, um auf ein Zeichen hin die roten Bajonette aufzupflanzen und den ganzen Laden umzukrempeln. [...] Die Überwindung des Kapitalismus wird dann möglich sein, wenn die Lohnabhängigen eigene Widerstandserfahrungen im Klassenkampf sammeln, sich selbst bewegen und organisieren." 345 Die ALB fordert die Überwindung des politischen Systems auch aus einem revolutionären Antifaschismusverständnis heraus. Der demokratische Verfassungsstaat sei nicht reformierbar. In ihm sei ein Faschismus angelegt, der sich nicht von dem Rassismus etwa der rechtsextremistischen NPD unterscheide: 344 "Kein Friede mit dem Kapitalismus". Aufruf der ALB zur Liebknecht-Luxemburg-Demonstration am 11.1.2009. 345 "Berlin: Antikapitalistische Demo". Internetauftritt der ALB, datiert 13.9.2010. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 195 "Die schlagkräftigste Antifa ist nichts wert, wenn sie nicht ihr politisches Profil schärft. Die autonome Antifa unterscheidet von den Akteuren der demokratischen Zivilgesellschaft die Analyse, dass Faschismus und faschistische Bewegungen nicht als Äußeres, der parlamentarischen Demokratie Wesensfremdes zu verstehen sind, sondern als daraus hervorgehend. Ein radikaler Antifaschismus macht nicht davor Halt, den gesellschaftlichen und institutionalisierten Rassismus - auch gegen politische Opportunitäten - anzugreifen. Liegt doch sowohl dem demokratisch legitimierten Rassismus als auch der rassistischen Hetze der NPD dieselbe Ideologie der Ungleichwertigkeit zu Grunde." 346 Die Ablehnung des Staates und der bestehenden Gesellschaftsordnung wird auch aus dem von der ALB mitunterzeichneten Aufruf zum "Tag X", dem Tag der Urteilsverkündung im Prozess gegen Mitglieder der "militanten gruppe" (mg) vor dem Kammergericht Berlin, deutlich: "Nicht nur dieser Prozess hat deutlich gemacht, dass Gerichte Institutionen des bürgerlichen Staates sind - ein Staat, den wir als radikale Linke grundsätzlich in Frage stellen, da er eine Gesellschaftsform absichert, die zu Armut, Hunger und Krieg führt. Deshalb ist es für uns auch in diesem Fall irrelevant, ob die drei schuldig sind oder nicht. Denn die bestehende Rechtsordnung ist nicht der Maßstab unseres politischen Handelns." 347 In ihrem Aufruf zur "Revolutionären 18-Uhr-Demonstration" am 1. Mai 2010 forderten ALB und ARAB im Zusammenhang mit dem Thema Gentrifizierung eine klassenlose Gesellschaft und den Kommunismus. "Hohe Mieten und Verdrängung setzen die Stadt in Brand - lassen wir Investorenträume platzen, holen wir uns die Stadt zurück! An jedem Tag - und erst recht am Tag des Aufbegehrens, dem 1. Mai! In diesem Sinne: Für eine klassenlose Gesellschaft - Für den Kommunismus!" 348 346 "... Angriff!" In: "Antifaschistisches Info-Blatt" Nr. 77, April 2007, S. 35 f. 347 "Aufruf zum Tag X: Feuer und Flamme der Repression". Internetseite des Bündnisses für die Einstellung des SS 129a-Verfahrens, Aufruf am 10.12.2009. 348 ALB/ ARAB: "Berlin's Burning. Hohe Mieten stecken die Stadt in Brand". Internetauftritt der ALB, Aufruf am 6.9.2010. 196 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Die ALB setzt auf Bündnisarbeit mit Gruppierungen sowohl aus dem linksextremistischen wie auch dem demokratischen Spektrum: "Neben einer möglichst breiten Aufklärungsarbeit [...] ist die linke Szene gut beraten auch weiterhin Bündnisarbeit zu betreiben, Kontakte zu anderen Spektren zu pflegen sowie offen und selbstbewusst mit ihren eigenen Aktivitäten und inhaltlichen Stoßrichtungen umzugehen. Je stabiler die eigene Basis, je stärker das eigene Politikfeld, je größer der öffentliche Zuspruch, desto schwieriger ist eine Kriminalisierung linker Politik." 349 5.1.2 "Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin" Abkürzung ARAB Entstehung / Gründung 2007 Mitgliederzahl Ca. 25 (2009: ca. 30) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter Die ARAB gehört zu den aktivsten autonomen Gruppierungen Berlins. Sie ist innerhalb der linksextremistischen Szene gut vernetzt und verfolgt offensiv eine breite Bündnisstrategie. Die ARAB setzt sich für die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie ein und propagiert die "klassenlose Gesellschaft": "Wir kämpfen für die vollständige Überwindung kapitalistischer Verhältnisse. Unsere Kritik richtet sich gegen die kapitalistische Totalität als Ganzes und nicht nur gegen die schlimmsten Ausprägungen des Systems. [...] Unser Ziel ist nicht die reine Lehre [...] zeigen wir unser Vertrauen in die Kreativität von revolutionären Bewegungen, die sich ihre notwendigen Strukturen und Theorien selbst erschaffen. Diesen Prozess wollen wir vorantreiben. [...] Nur weil etwas utopisch ist, heißt es nicht, dass es unrealistisch ist! [...] Unser Ziel ist es, wie Karl Marx so schön sagte: 'alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist' und endlich mit der 'ganzen ökonomischen Scheiße' aufzuräumen!" 350 349 ALB: "Epilog... ...was wird kommen und was tun?!", in: "Total extrem.. die (neue) Funktion der Totalitarismusund Extremismusideologien", S. 64. 350 "Let the revolution rock!" Internetauftritt der ARAB, Aufruf am 30.3.2010. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 197 Die ARAB gehört zu den gewaltausübenden autonomen Gruppen. Ein Mitglied der ARAB befürwortete in einem Interview Angriffe auf staatliche Einrichtungen und Konzerne: "Das Anzünden von Nobelwagen in Szenebezirken wie Friedrichshain oder Kreuzberg wird als Ausdruck gegen Gentrifizierung verstanden. Die Klassenzugehörigkeit anhand eines Autos einzuschätzen sehe ich aber eher kritisch. Anders ist es bei gezielten Angriffen auf Fahrzeuge der Bundeswehr, von DHL oder der Deutschen Bank. Auf diese Konzerne politischen Druck aufzubauen hat seine Legitimität. Nicht jede Protestbewegung muss sich auf die Mittel des Staates beschränken lassen." 351 In ihrem Grundsatzpapier propagiert die ARAB einen militanten Antifaschismus und verknüpft ihn mit dem Kampf gegen das "herrschende System": "Wir überlassen den 1. Mai nicht den Nazis. Uns geht es um eine befreite Gesellschaft. Wir wollen ein Leben ohne Staat, Nation und Kapital. Wir wollen in Kaufhäusern Partys feiern, mit Bullenwannen ans Meer fahren, im Park grillen, am Alex Bier trinken, Wände anmalen, Zäune einreißen, zum Mond fahren... Unserer Vorstellungskraft sind keine Grenzen gesetzt. Die Freiheit nehmen wir uns [...] Wir fordern nichts aber wir wollen alles! Zusammen kämpfen! Gegen Staat, Nation und Kapital! Fight the system!" 352 Die ARAB engagiert sich auch in weiteren Aktionsfeldern wie Antikapitalismus, Sozialabbau, Antiglobalisierung und Antimilitarismus. Im Jahr 2010 war sie an allen relevanten Ereignissen der linksextremistischen Szene Berlins - zum Teil federführend - beteiligt. Anlässlich der Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit rief sie dazu auf, "Deutschland in den Rücken [zu] fallen! Kämpft mit uns gegen Staat, Nation und Kapital!" 353 351 Jonas Schiesser: "Diese bürgerliche Gewaltdiskussion langweilt nur". In: "die tageszeitung" (Onlineausgabe) vom 21.4.2009. 352 "Let the revolution rock!" Internetauftritt der ARAB, Aufruf am 30.3.2010. 353 "3. Oktober: Deutschland in den Rücken fallen!" Internetauftritt der ARAB, datiert 7.9.2010. 198 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Für die Silvio-Meier-Demonstration 2010 mobilisierte die ARAB ebenfalls, wobei sie zusätzlich zum Aufruf des Vorbereitungsbündnisses einen eigenen Text veröffentlichte. Darin machte sie aus ihrem Ziel der Abschaffung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung keinen Hehl: "Unser Ziel ist eine befreite Gesellschaft, in der alle Verhältnisse umgeworfen werden "unter denen der Mensch ein unterdrücktes, verächtliches, geknechtetes Wesen ist" (Marx) [...] Staat, Repression, Pressehetze, Naziterror - Gegen Anti-Antifa auf allen Ebenen!" 354 5.1.3 Autonome Entstehung / Gründung Ab 1980 Bund: ca. 6 200 (2009: ca. 6 100) Mitgliederzahl Berlin: ca. 950 (2009: ca. 950) Organisationsstruktur Netzwerk Veröffentlichungen Mehrere Szenezeitschriften Berlin bildet einen regionalen Schwerpunkt des autonomen Spektrums: Mit 950 von bundesweit rund 6 100 Autonomen sind knapp 16 Prozent der Autonomen in Berlin. Die Anfänge des autonomen Spektrums liegen zu Beginn der 80er Jahre. Linksextremisten, die weder organisationsgebunden noch im traditionellen Sinne ideologisch festgelegt waren, bezeichneten sich als "autonom" und veröffentlichten Diskussionspapiere. Sie sprachen von einer "neuen autonomen Protestbewegung", die den "Koloss Staat" mit dezentralen Aktionen, mit "Phantasie und Flexibilität", mit "vielfältigen Widerstandsformen auf allen Ebenen" angreifen müsse. Es gelte, "den bürgerlichen Staat zu zerschlagen". Innerhalb des aktionsorientierten Linksextremismus in Berlin spielt das autonome Spektrum eine herausgehobene Rolle. 2010 waren ihm ungefähr 950 Personen und damit nahezu die Hälfte des gesamten linksextremistischen Personenpotentials zuzurechnen. Im Laufe der Jahre hat sich unter dem Begriff "Autonome" ein vielgestaltiges Spektrum von Gruppierungen herausgebildet, die verschiedene Merkmale verbinden: Dies sind ihre Gewaltorientierung, ihre undogmatische ideologische Ausrichtung und ihre Distanz zu festgefügten Formen der Selbstorganisation. 354 Aufruf "Silvio-Meier-Demo 2010". Internetauftritt der ARAB, datiert 26.10.2010. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 199 Autonomen fehlt es an einem geschlossenen theoretischen Konstrukt. Sie sind undogmatisch ausgerichtet. Verbindendes ideologisches Element ist die Ablehnung der bestehenden staatlichen Ordnung und das Streben nach Zerschlagung des demokratischen Verfassungsstaates. In ihr Denken beziehen Autonome anarchistische und/ oder kommunistische Ideologieelemente mit ein. Zuweilen variieren und instrumentalisieren Autonome ihren Grad der theoretischen Fundierung: Sie möchten ihr linksextremistisches Gedankengut öffentlichkeitswirksam vermitteln und versuchen daher, Protestbewegungen zu instrumentalisieren und neue Anhänger zu gewinnen. Geht es darum, Jugendliche und erlebnisorientierte Personen zur Umsetzung von "Aktionen" zu rekrutieren, verzichten Autonome häufig auf eine ideologische Form der Ansprache und Auseinandersetzung. Darum kommen als Ziel autonomer Werbungsversuche auch politisch nicht interessierte oder anpolitisierte Menschen in Frage. Wollen Autonome potenzielle Bündnispartner gewinnen, reicht ein aktionistisch orientiertes Handeln alleine zumeist nicht aus. Autonome bedienen sich verschiedener ideologischer Versatzstücke daher anlassund themenbezogen mit unterschiedlicher Frequenz und Intensität. Autonome sind in der Regel organisationskritisch und lehnen formelle Hierarchien und Strukturen ab. Seit Beginn der 90er Jahre verstärkte sich aber die Tendenz, Organisierungsmodelle zu erproben, um zu einer dauerhaften Umsetzung von Theorie in Praxis zu gelangen. Daher ist eine leicht zunehmende, aber fortwährende organisatorische Verdichtung des Spektrums zu verzeichnen. Diese Entwicklung hat mehrere Gründe: Zum Ersten sind Autonome zunehmend überregional und international vernetzt und benötigen dafür ein gewisses Maß an formalisierter Absprache. Zum Zweiten sehen einige Personenzusammenhänge in gruppeninternen Regelwerken und standardisierten Abläufen Sicherungsmaßnahmen, um weiterhin konspirativ arbeiten zu können und staatlicher "Repression" zu entgehen. Zum Dritten ist ein Mindestmaß an organisierter Verfasstheit Bedingung dafür, potenzielle Bündnispartner innerhalb oder außerhalb der linksextremistischen Szene für Kampagnen zu gewinnen. 355 355 Vgl. "Aktuelle Entwicklungen", "'Langfristige Perspektive' statt 'kurzatmiger Kampagnenpolitik': Berliner Linksextremisten setzen auf politische und organisatorische Strukturen", S. 101. 200 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Nicht alle Autonomen üben selbst Gewalt aus. In der Regel befürworten sie aber den Einsatz von Gewalt als politische Aktionsform. 356 Sie sehen sie als legitimes Mittel, um der "strukturellen Gewalt" der Gesellschaft und des Staates zu begegnen, und lehnen das staatliche Gewaltmonopol ab. Autonome, die selbst Gewalt ausüben, bringen ihre Abneigung des politischen und gesellschaftlichen Systems durch so genannte "militante Aktionen" zum Ausdruck. Das Ziel einer "unterdrückungsfreien Gesellschaftsordnung" versuchen autonome Gruppen auch durch Anschläge zumeist gegen Unternehmen oder staatliche Stellen, die in ihren Augen das System repräsentieren, der Öffentlichkeit zu vermitteln. Besonders weil bei Autonomen weder eine ausgeprägte theoretische Fundierung noch formal organisierte Strukturen vorhanden sind, kann Gewalt innerhalb des Spektrums als "Militanzklammer" 357 wirken und eine identitätsstiftende Funktion ausüben. Zudem ist Gewalt ein Rekrutierungsfaktor für anpolitisierte und erlebnisorientierte Personen: "Militanz und Randale waren schon immer die Gründe, warum sich Leute zu den Autonomen hingezogen gefühlt haben. Um als Autonome mehr und wahrnehmbarer zu werden, brauchen wir mehr militante Aktionen, mehr Randgelegenheiten - der Rest kommt dann schon von selber." 358 Es gibt aber immer wieder auch differenzierte Diskussionen, in denen bestimmte Gewalttaten per se nicht abgelehnt, aber aus verschiedenen Gründen kritisiert werden. 359 Im Jahr 2010 bewegte sich das autonome Spektrum in Berlin nicht mehr auf dem erhöhten Aktionsniveau des Vorjahres. 356 Vgl. Fridolin: "Wo ist Behle?" In: "INTERIM", Sonderheft "Bewegung - Militanz - Kampagne" vom März 1998 (Es handelt sich um ein unter Pseudonym geschriebenes Papier, das sich mit strategischen Fragen, auch dem Einsatz von Gewalt, auseinandersetzt.). 357 "Anonyme Autonome Berlin": "Evergreens in den Organisierungsdebatten der autonomen Linken". Internetauftritt des "autonomen kongresses", Aufruf am 12.10.2009. 358 Ebenda. 359 Vgl. "Aktuelle Entwicklungen" "Berliner Linksextremisten setzen Militanzdebatte fort", S. 121. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 201 5.1.4 "militante gruppe" Abkürzung mg Entstehung / Gründung Vor 2001 Die "militante gruppe" (mg) war eine klandestine Gruppe, die - ähnlich den "Revolutionären Zellen" (RZ) in den 80er Jahren - in Berlin und Umgebung Anschläge verübte. Erstmals trat die mg im Sommer 2001 in Erscheinung, als sie Patronen an den damaligen Regierungsbeauftragten für die Entschädigung der Zwangsarbeiter Otto Graf Lambsdorff und an zwei Mitglieder der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft schickte. Ihre gewalttätigen Aktionen richteten sich gegen Kraftfahrzeuge und Gebäude staatlicher Einrichtungen, aber auch von Unternehmen und Privatpersonen sowie sonstige nichtstaatliche Stellen wie zum Beispiel gegen ein Forschungsinstitut. Die mg begründete ihre Anschläge vor allem mit den Themengebieten Zwangsarbeiterentschädigung, Sozialabbau, Antirassismus, Antiimperialismus und Repression. Sie bezichtigte sich bis zum Mai 2007, insgesamt 25 Brandanschläge begangen zu haben. Am 31. Juli 2007 wurden nach einem versuchten Brandanschlag auf Fahrzeuge der Bundeswehr in Brandenburg drei mutmaßliche Mitglieder der mg festgenommen. Das Kammergericht Berlin verurteilte die drei Angeklagten am 16. Oktober wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und versuchter Brandstiftung und versuchter Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel. Mit einer Verurteilung zu Haftstrafen von drei Jahren und sechs Monaten bzw. drei Jahren folgte das Gericht den Anträgen des Generalbundesanwalts. 360 Innerhalb der linksextremistischen Szene wurde unter dem Motto "Feuer und Flamme der Repression" bereits im Vorfeld zu Aktionen am Tag der Urteilsverkündung ("Tag X") aufgerufen. Nach dem Urteil wurden in zahlreichen Städten Demonstrationen und Solidaritätsbekundungen sowie Gewaltstraftaten durchgeführt. So kam es noch am Tag der Urteilsverkündigung zu Widerstandsdelikten im Rahmen eines Solidaritätsdemonstration am 16. Oktober. In der Nacht vom 16. zum 17. Oktober setzten Linksextremisten zwei Fahrzeuge einer im Anlagenbau tätigen Firma in Brand. In einem Selbstbezichtigungsschreiben gaben "Autonome Gruppen" an, ihre Straftat gegen den "Rüstungskonzern [...] anlässlich des Urteils im mg-Prozess" begangen zu haben. 361 360 Die Verurteilungen erfolgten gemäß SS 129 StGB, SSSS 306 Abs. 1 Nr. 4, 22 StGB sowie SSSS 305a Abs. 1 Nr. 2, 22 StGB. Die Angeklagten haben gegen das Urteil Revision eingelegt. 361 "Autonome Gruppen": Selbstbezichtigungsschreiben. In: "INTERIM" Nr. 699 vom 6.11.2009, S. 3. 202 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Während des Prozesses meldete sich die mg in mittels zweier Texte in einer linksextremistischen Szenezeitschrift zu Wort. In einem Interview bezichtigte sie sich dreier weiterer Anschläge und gab gleichzeitig ihre Auflösung bekannt. Sie wolle "neu gesammelt und umgruppiert" in anderen Strukturen weiterarbeiten und "das eine oder andere Zeichen praktischer Art setzen, damit die staatskapitalistisch eingehegte Krise nicht eingedämmt, sondern verschärft wird." 362 Das Interview endete mit der Aussage: "Die proletarisch-revolutionäre Linke trug immer einen Klassenkampf aus, und das Endziel dieses Klassenkampfes, die Aufhebung der Klassenunterschiede insgesamt, war immer eindeutig als Ziel gesetzt. Und das ist auch unsere erklärte Zentralperspektive im Kontext des Kampfes für den Kommunismus!" 363 In einem weiteren Text führte die mg aus, mit den Festnahmen der drei Angeklagten sei die Gruppe "weder personell getroffen und schon gar nicht zerschlagen" worden: "Wir können (...) feststellen, dass wir weder durch die Festnahme von linken Aktivisten im Sommer 2007 in unserer personellen Gruppenstruktur tangiert worden wären, noch sonst in unserer Existenz gefährdet sind." 364 Obwohl sie im Interview ihre Auflösung bekannt gab, benannte die mg in ihren Texten mögliche Anschlagsziele für die Zukunft. Sie wollte offensichtlich betonen, dass sie sich in einer Neuorientierungsphase befand. Nach Veröffentlichung der Texte ist die mg als Gruppe nicht mehr in Erscheinung getreten. In der Frühjahrsausgabe der "radikal" veröffentlichte ein autonomer Zusammenschluss namens "einige aus der (ex-)mg" einen Beitrag. Die Autoren gaben an, mit Erlaubnis der ehemaligen mg auf deren Namen zurückzugreifen: 362 "militante gruppe": "schriftliches interview zu fragen der organisierung des revolutionären widerstandes mit der militanten gruppe". In: "radikal. publikation der revolutionären linken." Nr. 161, 2009, S. 54. 363 Ebenda. 364 "militante gruppe": "'Militanz ohne Organisation ist wie Suppe ohne Salz' - Abschlussworte zur Militanzdebatte - von der Militanten Gruppe (mg)". In: "radikal. publikation der revolutionären linken." Nr. 161, 2009, S. 15. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 203 "Wir haben uns selbstverständlich bei unserem ehemaligen klandestinen Gruppenzusammenhang rückversichert, dass wir uns ganz im Sinne der Auflösung in die Transformation der (mg), die im schriftlichen Interview in der letzten radikal 161 vom Juli 2009 ausführlich dargelegt wurde, als 'ex-(mg)' titulieren können. Also sind wir zu dieser Stellungnahme autorisiert." 365 Die Autoren der "ex-(mg)" fordern eine Wiederaufnahme der Militanzdebatte 366 5.1.5 "radikal"/ RL Entstehung / Gründung 1976 Organisationsstruktur Netzwerk/ Gruppe Veröffentlichungen "radikal" Die Zeitschrift "radikal" wird seit 1976 innerhalb der linksextremistischen Szene aus Berlin heraus vertrieben. Seit 1984 wird sie konspirativ vertrieben und produziert. Insbesondere gewaltorientierten aktionsorientierten Linksextremisten dient sie als Sprachrohr. Sie enthielt zahlreiche Selbstbezichtigungsschreiben und Bauanleitungen, beispielsweise für "Gaskartuschen"Brandsätze. Während des 34-jährigen Bestehens der radikal sind 163 Ausgaben unter wechselnden Redaktionskollektiven erschienen. Im Juli 2009 veröffentlichte ein Redaktionskollektiv namens "Revolutionäre Linke" (RL) nach fast dreijähriger Pause eine neue Ausgabe im Februar und im Juni 2010 folgten zwei weitere Ausgaben der "radikal". Die Autoren der RL erklärten zu ihrem Selbstverständnis: "Unsere inhaltliche Linie gründet sich auf der Dialektik eines sozialrevolutionär-klassenkämpferischen (also antikapitalistisch, antirassistisch und antipatriarchal) und antiimperialistisch-internationalistischen Ansatzes mit der klar definierten Zentralperspektive des Kampfes für den (libertären) Kommunismus. [...] Stärkt die proletarisch-revolutionäre Seite im internationalen Klassenkrieg! Organisiert die Klassenautonomie! Für den revolutionären Aufbauprozess!! Für den Kommunismus!" 367 365 "einige aus der ex-(mg)": "Der Weg von der 'Hassbrennerei' zum organisierten Sozial-Rebellismus. Ein Nachtrag zur Militanzdebatte". In: "radikal" Nr. 162, Februar 2010, S. 9. 366 Vgl. "Aktuelle Entwicklungen" "Berliner Linksextremisten setzen Militanzdebatte fort", S. 121. 367 "eure radicien von der RL": "vorwort zu dieser ausgabe". In: "radikal" Nr. 163, 2010, S. 3-4. 204 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Die Tatsache, dass die Linksextremisten nach fast knapp dreijähriger Unterbrechung ein neues Redaktionskollektiv aufgebaut und binnen Jahresfrist drei Ausgaben herausgegeben haben, zeigt ihre Handlungsfähigkeit innerhalb des gewaltorientierten linksextremistischen Spektrums Berlins. Die RL versuchte, die "radikal" als Vernetzungsmedium gewaltorientierter Linksextremisten zu etablieren. Sie druckte Texte von mutmaßlichen Angehörigen der ehemaligen "mg" sowie Selbstbezichtigungsschreiben der "Revolutionären Aktionszellen" (RAZ) ab. Die RAZ platzierten in der Ausgabe 162 eine ausführliche Bauanleitung für einen Gaskartuschenbrandsatz. Aufgrund dessen wurde die betreffende Ausgabe der "radikal" beschlagnahmt. Die RL hatte sich für eine Wiederaufnahme der Militanzdebatte stark gemacht und die "radikal" wiederholt als Medium für die Militanzdebatte angeboten. Nicht wenige Gruppierungen empfinden die Texte von RL/ "radikal" als hochgestochen und "kadermäßig" und lehnen sie daher ab. 368 5.1.6 "Rote Hilfe" Abkürzung RH Entstehung / Gründung 1995 Mitgliederzahl Berlin ca. 650 (2009: ca. 540) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Dortmund (Rote Hilfe e.V.) Sitz Berlin (Ortsgruppe Berlin) "Die Rote Hilfe. Zeitung der Roten Hilfe e.V." Veröffentlichungen (vierteljährlich), Flugblätter, Broschüren und Internetveröffentlichungen Die "Rote Hilfe" (RH) wurde als bundesweite Organisation unter dem Namen "Rote Hilfe Deutschlands" (RHD) am 26. Januar 1975 neu gegründet. Historisch bezog sie sich auf eine gleichnamige Vorläuferorganisation, welche von 1924 bis 1936 bestand. 1986 beschloss der Bundesvorstand, die RHD in "Rote Hilfe e.V." umzubenennen. Am 7. April 1995 wurde die Ortsgruppe Berlin gegründet. 368 Vgl. Aktuelle Entwicklungen "Berliner Linksextremisten setzen Militanzdebatte fort", S. 121.. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 205 Die RH versteht sich als "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation". Sie organisiert "die Solidarität für alle (...), die in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer politischen Betätigung verfolgt werden." 369 Die Organisation bereitet Gerichtsverfahren vor und hilft Angeklagten bei der Suche nach Anwälten. Sie begleitet Prozesse durch Öffentlichkeitsarbeit und organisiert Solidaritätsveranstaltungen. Die RH leistet Angeklagten finanzielle Hilfestellungen, indem sie Spenden sammelt, anteilige Anwaltskosten übernimmt und Zuschüsse gewährt. Zudem hält sie persönlichen Kontakt zu so genannten "politischen Gefangenen". Sie analysiert "Repressionsmaßnahmen" und bietet als "bundesweit vernetzte Organisation" die Möglichkeit, "gemeinsam dagegen vorzugehen". 370 In seinen Publikationen beschreibt der Verein regelmäßig Fälle, in denen er Angeklagte unterstützt und nennt die Höhe der jeweiligen finanziellen Zuwendungen. 371 Die RH bezeichnet sich als Solidaritätsorganisation für die gesamte Linke und stellt an sich selbst den Anspruch, dabei keine Ausgrenzungen zum linkextremistischen Spektrum vorzunehmen. Sie lehnt nur Fälle ab, in denen Betroffene bei der Polizei ausgesagt haben, in denen die Antragsteller alkoholisiert waren und/ oder wenn ein Prozess durch die Angeklagten "absichtlich unpolitisch" geführt wird. Das sei "keine Prozessführung im Sinne der Roten Hilfe". 372 Stattdessen setze die RH auf Solidarität, welche sie der "politischen Verfolgung" entgegensetze, um "zum Weiterkämpfen" zu ermutigen. 373 Ausschlaggebend für eine Unterstützung durch die "Rote Hilfe" ist nicht der persönliche Hintergrund der Angeklagten oder der Beschuldigten, sondern allein die Motivation der Tat. Zentrale Organe der RH sind die Bundesdelegiertenversammlung und der Bundesvorstand. Die Bundesdelegiertenversammlung entscheidet über die Grundsätze und Schwerpunkte der Arbeit. Sie konstituiert sich aus Delegierten, die von den Mitgliedern gewählt werden. Der Bundesvorstand, dem auch Berliner Linksextremisten angehören, entscheidet über die Verwendung der Mitgliedsbeiträge, organisiert Kampagnen und Spendenaktionen und ist für die laufende Arbeit zuständig. Dezentrale Organe sind regelmäßig einmal im Monat stattfindende Ortsgruppenmitgliederversammlungen sowie in der Regel wöchentliche (Rechts-) Beratungstreffen. 369 SS 2 der Satzung der Roten Hilfe e.V. Politische Betätigung ist nach dem Verständnis der Roten Hilfe "z.B. das Eintreten für die Ziele der ArbeiterInnenbewegung, der antifaschistische, antisexistische, antirassistische, demokratische oder gewerkschaftliche Kampf und der Kampf gegen die Kriegsgefahr", ebenda. 370 Rote Hilfe e.V.: "Rote Hilfe e.V." (Flyer, o.O., o.J.) 371 Vgl. z.B. "Die Rote Hilfe" Nr. 3, 2009, S. 4 ff. 372 Ebenda, S. 7 373 Internetauftritt der "Rote(n) Hilfe", Aufruf am 14.12.2009 206 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Da alle Mitglieder Beiträge bezahlen und zudem Spenden akquiriert werden, verfügt die "Rote Hilfe" über erhebliche finanzielle Mittel. Mit 650 Mitgliedern ist die hiesige Ortsgruppe der "Roten Hilfe" die größte Organisation im aktionsorientierten Linksextremismus in Berlin. Dabei sind nicht alle Mitglieder Extremisten, diese sitzen jedoch an Schaltstellen und steuern die Berliner Ortsgruppe. Die Mitgliederzahlen steigen seit Jahren kontinuierlich. Dies liegt vermutlich an den Solidaritätsund Unterstützungsaktionen, die die Ortsgruppe für Inhaftierte organisierte und die großen Zulauf fanden. Die "Rote Hilfe" hat auf Grund ihrer langen Tradition und ihrer anerkannten Stellung in der linksextremistischen Szene eine themenfeldübergreifende Funktion und dient darüber hinaus als Vernetzungsplattform. Die RH möchte lokale Institutionen wie beispielsweise so genannte "Ermittlungsausschüsse" nach eigenem Anspruch nicht ersetzen, sondern die Akteurslandschaft im Bereich "Antirepression" ergänzen. 374 Auf Grund ihrer internen Ausrichtung wirkt die Gruppierung strukturstabilisierend auch für gewaltbereite Teile der linksextremistischen Szene. 2010 war die "Rote Hilfe" an allen bedeutenden regionalen und überregionalen Veranstaltungen der linksextremistischen Szene Berlins beteiligt. Für den 12. Juni rief sie im Rahmen eines linksextremistisch dominierten Bündnisses zur Teilnahme am "antikapitalistischen Block" an dem Demonstration unter dem Motto "Die Krise heißt Kapitalismus - Banken eine und Konzerne sollen zahlen" auf. 5.2 Parlamentsorientierter Linksextremismus 5.2.1 "Deutsche Kommunistische Partei" Abkürzung DKP Entstehung / Gründung 1968 Bund: ca. 4 000 (2009: ca. 4 200) Mitgliederzahl Berlin: ca. 130 (2009: ca. 130) Organisationsstruktur Partei Sitz Essen "Unsere Zeit" (UZ) (überregional, wöchentlich) Veröffentlichungen "Berliner Anstoß" (regional, monatlich) 374 Ebenda. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 207 Die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) wurde am 25. September 1968 von früheren Funktionären der 1956 verbotenen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD) gegründet. Der Aufbau einer Parteiorganisation in Berlin begann 1990.375 Sie ist mit bundesweit rund 4 000 Mitgliedern die größte kommunistische Partei. Ideologisch gesehen hält die Partei am Marxismus-Leninismus fest. Während des 15. Parteitages im Juni 2000 stimmten die Delegierten einem Leitantrag unter dem Titel "DKP - Partei der Arbeiterklasse - Ihr politischer Platz heute" zu. Dieser beinhaltet "Thesen zur programmatischen Erneuerung" und soll der Partei als Arbeitsgrundlage dienen, um ihr Programm zu überarbeiten. Gemäß dem Beschluss strebt die DKP die revolutionäre Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung an: "Das Ziel der DKP ist der Sozialismus als erste Stufe auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft. Sie strebt den grundlegenden Bruch mit den kapitalistischen Eigentumsund Machtverhältnissen an, orientiert auf die Arbeiterklasse als entscheidende gesellschaftsverändernde Kraft. Grundlage ihres Handelns ist die wissenschaftliche Theorie von Marx, Engels und Lenin, die sie entsprechend ihrer Möglichkeiten weiterentwickelt." 376 Trotz ihrer Mitgliederstärke spielt die DKP innerhalb der bundesdeutschen Parteienlandschaft keine Rolle. In Berlin trat sie im Jahr 2009 erstmals seit 26 Jahren wieder mit einer Landesliste zu den Bundestagswahlen an und erreichte 0,1 Prozent der Zweitstimmen. Zuvor hatte sie eine Bündnisstrategie unter anderem mit nicht-extremistischen gesellschaftlichen Gruppen verfolgt und Kandidaten auf "offenen Listen" anderer Parteien aufgestellt: 375 Während der Teilung Deutschlands gab es aufgrund von Chruschtschows "DreiStaaten-Theorie" (Deutschland zerfalle in drei Staaten: BRD, DDR, Berlin) in Berlin keinen Landesverband der DKP. Statt dessen gründete sich die "Sozialistische Einheitspartei Westberlins" (SEW), die ebenso wie die DKP massiv durch die DDR unterstützt wurde. Die Nachfolge der SEW trat 1990 die "Sozialistische Initiative" (SI) an, welche sich schon 1991 wieder auflöste. Noch im gleichen Jahr gründeten SEWund SI-Mitglieder eine DKP-Gruppe Berlin. 376 "Die DKP. Partei der Arbeiterklasse. Ihr politischer Platz heute". Internetauftritt der DKP Bonn, Aufruf am 30.3.2010. 208 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 "In der vor uns liegenden Etappe kommt es darauf an, gesellschaftliche Kräfte weit über die Linke hinaus im Widerstand gegen die neoliberale Politik zu bündeln. Allianzen verschiedener sozialer und gesellschaftlicher Kräfte, die sich an verschiedenen Fragen immer wieder neu bilden und in denen die Arbeiterklasse die entscheidende gesellschaftliche Kraft sein muss, sind die Voraussetzung, um die Rechtsentwicklung und den neoliberalen Umbau der Gesellschaft zu stoppen." 377 Die DKP rief 2010 zu Demonstrationen auf und positionierte sich zu lokalen Fragestellungen. In einer themenbezogenen Arbeitsgemeinschaft setzte sie sich gemeinsam mit nicht-extremistischen Akteuren für einen kostenlosen Öffentlichen Personennahverkehr ein. Sie mobilisierte zu zahlreichen Kundgebungen und Demonstrationen unterschiedlicher Veranstalter vor allem gegen Sozialreformen. Die DKP beteiligt sich an der jährlichen Berliner Luxemburg-Liebknecht (LL)-Demonstration. Ein Sommerfest der DKP-Berlin fand im Juli mit rund 1 000 Teilnehmern statt. 5.2.2 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" Abkürzung MLPD Entstehung / Gründung 1982 Bund: ca. 2 000 (2009: ca. 2 300) Mitgliederzahl Berlin: ca. 100 (2009: ca. 100) Organisationsstruktur Partei Sitz Gelsenkirchen "Rote Fahne" (überregional, wöchentlich) "Lernen und Kämpfen" Veröffentlichungen (überregional, mehrmals jährlich) "REBELL" (überregional, monatlich) Die 1982 in Bochum gegründete "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) bekennt sich zur Theorie des Marxismus-Leninismus in der Interpretation durch Stalin und Mao Zedong. Sie ist aus dem "Kommunistischen Arbeiterverbund Deutschlands" (KABD) 378 hervorgegangen. Die MLPD 377 Parteiprogramm der DKP. Internetauftritt der DKP, datiert 8.4.2006. Zur Bündnisstrategie vgl. auch "Allianz ohne Alternative. Interview mit dem DKP-Vorsitzenden". In: "junge Welt" vom 11.1.2008, S. 10. 378 Der Zusammenschluss besteht seit 1972 aus der "Kommunistischen Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten (Revolutionärer Weg)" und dem "Kommunistischen Arbeiterbund Deutschlands (Marxisten-Leninisten)". Hintergrundinformationen - Linksextremismus 209 unterhält Nebenund Vorfeldorganisationen wie den Jugendverband "REBELL", die Kinderorganisation "Rotfüchse" oder das "Arbeiterbildungszentrum" (ABZ) mit einer Außenstelle in Berlin. Ihr Ziel ist "der revolutionäre Sturz der Diktatur des Monopolkapitals und die Errichtung der Diktatur des Proletariats für den Aufbau des Sozialismus als Übergangsstadium zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft." 379 Anderen Parteien aus DDR und Bundesrepublik wirft sie vor, den Marxismus-Leninismus verraten zu haben: "Der Verrat an den kommunistischen Idealen, die Verbrechen entarteter Elemente an der Spitze der Partei-, Staatsund Wirtschaftsführung in der ehemaligen DDR, ihre Machtergreifung als neue Bourgeoisie und der moderne Revisionismus der Sozialistischen Einheitspartei (SED) haben den Begriff des 'Kommunismus' bei den Werktätigen in Misskredit gebracht. Die Hauptträger des modernen Revisionismus in Deutschland sind heute die Linkspartei ("Die Linke") und die Deutsche Kommunistische Partei (DKP). Um einen neuen Aufschwung im Kampf um den Sozialismus vorzubereiten, ist es notwendig, sich entscheiden von diesen revisionistischen und entarteten "Kommunisten" abzugrenzen." 380 Der politische Einfluss der Partei ist angesichts ihrer Wahlergebnisse gering. 2009 trat die Partei zur Bundestagswahl an und erreichte in Berlin 0,1 Prozent der Zweitstimmen. Inhaltliche Schwerpunkte der MLPD sind die Themen Arbeit und Soziales. Am 16. Oktober rief die MLPD zur "7. Herbstdemonstration gegen die Regierung" auf, die unter dem Motto "Weg mit Hartz IV - das Volk sind wir! Aufstehen für eine lebenswerte Zukunft" mit rund 1 800 Teilnehmern stattfand. 379 Präambel zum Statut der MLPD. Internetauftritt der MLPD, Aufruf am 30.3.2010. 380 Präambel zum Statut der MLPD. Internetauftritt der MLPD, Aufruf am 30.3.2010. 210 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 5.2.3 "marx21" Entstehung / Gründung 1./2. September 2007 Bund: ca. 400 (2009: ca. 400) Mitgliederzahl Berlin: ca. 60 (2009: ca. 60) Organisationsstruktur Netzwerk Sitz Berlin marx21" Veröffentlichungen (ab August 2007 überregional, fünfmal jährlich) Die Im September 2007 löste sich die Gruppe "Linksruck" als eigenständige Vereinigung zu Gunsten der Partei "Die Linke" auf. 381 Als Nachfolgeprojekt entstand unter der Bezeichnung "marx21" ein so genanntes "Netzwerk für internationalen Sozialismus". Das neugegründete Netzwerk beabsichtigt, seine trotzkistischen Positionen vor allem durch die Arbeit in dem innerparteilichen Zusammenschluss "Sozialistische Linke" in die Partei zu tragen. 382 Ehemalige Angehörige von "Linksruck" geben die Zeitschrift "marx21 - Magazin für internationalen Sozialismus" heraus. Im Gegensatz zu anderen trotzkistischen Gruppierungen wie der "Sozialistischen Alternative" (SAV) hatte "Linksruck" die Fusion der "Wahlalternative für Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" (WASG), in deren Bundesvorstand "Linksruck"-Aktivisten vertreten waren, und der "Linkspartei.PDS" befürwortet. 383 Allerdings haben sich durch den Eintritt in die Partei "Die Linke" die politisch-ideologischen Zielvorstellungen der ehemaligen Mitglieder von "Linksruck" nicht verändert. Auf ihrer Homepage vertritt die Gruppe "marx21" inhaltliche Positionen, die über das offizielle Parteiprogramm hinausgehen. In den "Politischen Leitsätzen" fordert das Netzwerk die Abschaffung der demokratischen Ordnung durch die Überwindung des Kapitalismus: 381 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2007. Berlin 2008, S. 211 f. 382 Vgl. "Netzwerk marx21 gegründet". Internetauftritt von "marx21", datiert 1./2.9.2007. 383 Die Auflösung von "Linksruck" und die Fusion von WASG und "Linke.PDS" fanden zeitgleich am 1./2. September 2007 statt. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 211 "Der Kapitalismus beruht auf der Ausbeutung der Arbeitskraft der Lohnabhängigen und der privaten Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums durch die Kapitalistenklasse. [...] Die kapitalistische Produktionsweise ist untrennbar verbunden mit wiederkehrenden Krisen, Massenarbeitslosigkeit, Armut, Umweltzerstörung, Unterdrückung. Die internationale wirtschaftliche Konkurrenz führt zu politischen und militärischen Rivalitäten zwischen Nationalstaaten bzw. Blöcken. Aufrüstung und Kriege sind die Konsequenz. Angesichts dieser verheerenden Auswirkungen des Kapitalismus ist eine auf die Regulierung des Kapitals beschränkte staatliche Intervention keine ausreichende Antwort. Deshalb vertrauen wir nicht auf die 'Zähmbarkeit des Kapitalismus', sondern wirken auf seine Überwindung hin." 384 Mittlerweile haben einzelne Aktivisten von "marx21" herausgehobene Funktionen in der Partei übernommen. Durch die gezielte Mitarbeit in und die offene Einflussnahme auf "Die Linke" soll die Systemüberwindung verwirklicht werden. Eine "Regierungsbeteiligung auf der Grundlage der heutigen Kräfteverhältnisse" 385 lehnt "marx21" ab. In der Partei sieht das Netzwerk einen "Motor außerparlamentarischer Bewegungen" 386 auf dem Weg zur Rätedemokratie: "Die Linke kann das Kapital schlagen, wenn Massenbewegungen bereit und in der Lage sind, die herrschende Klasse zu enteignen und den bestehenden, undemokratischen Staatsapparat durch Organe der direkten Demokratie zu ersetzen." 387 Das Netzwerk versucht, innerhalb des parlamentsorientierten Linksextremismus Themen zu setzen und neue Schwerpunkte anzuregen. Neben dem Veröffentlichen von Internetbeiträgen hat marx21 eigene Veranstaltungen durchgeführt oder sich an der Durchführung beteiligt. Im Frühjahr und Herbst veranstaltete die zum Netzwerk gehörende Zeitschrift "marx21" einen Kongress in verschiedenen Städten Deutschlands, darunter in Berlin. Unter dem Titel "marx is' muss" diskutierten die Teilnehmer, auch Personen aus dem nicht-extremistischen Spektrum, die Bedeutung von Themen wie Antikapitalismus und Antisemitismus für ihre politische Arbeit. Die Diskussionsergebnisse stießen auf keine nennenswerte Resonanz. 384 "Politische Leitsätze". Internetauftritt von "marx21", Aufruf am 30.3.2010. 385 Ebenda. 386 Ebenda. 387 Ebenda. 212 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 5.2.4 "Sozialistische Alternative e. V." Abkürzung SAV Entstehung / Gründung 1994 Bund: ca. 400 (2009: ca. 400) Mitgliederzahl Berlin: ca. 50 (2009: ca. 50) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Berlin Solidarität - Sozialistische Zeitung" Veröffentlichungen (überregional, monatlich) Die "Sozialistische Alternative e. V." (SAV) 388 bildet die deutsche Sektion des in London ansässigen trotzkistischen Dachverbands "Committee for a Workers International" (CWI). Die Bundesleitung der SAV hat ihren Sitz in Berlin. Die SAV finanziert sich über Mitgliedsbeiträge, Spenden und durch den Vertrieb ihres Organs "Solidarität - Sozialistische Zeitung". Ziel der SAV ist nach ihrem Grundsatzprogramm der Aufbau einer Arbeiterpartei als einer revolutionären, sozialistischen Massenpartei. Mit ihrer Hilfe soll der Kapitalismus abgeschafft und - verbunden mit der Auflösung des Mehrparteienstaates - durch ein sozialistisches System ersetzt werden. "Sozialismus bedeutet für sie [die SAV] im Sinne von Marx, Engels, Lenin, Luxemburg und Trotzki: weltweit Gemeineigentum an Produktionsmitteln, demokratische Planung und Kontrolle von Wirtschaft und Gesellschaft durch die arbeitende Bevölkerung. Das setzt eine sozialistische Revolution voraus. Die Aufgabe der sozialistischen Revolution ist es, die Produktionsmittel in Gemeineigentum zu überführen und demokratische Verwaltungsorgane der Arbeiterklasse an Stelle des bürgerlichen Staatsapparats aufzubauen." 389 388 Das "V" in der Kurzbezeichnung steht für "Voran" und weist auf eine frühere Publikation der SAV hin. 389 Grundsatzprogramm der SAV. Internetauftritt der SAV, Aufruf am 30.3.2010. Hintergrundinformationen - Linksextremismus 213 Die Partei müsse "[...] eine klare Absage an den Kapitalismus und die ihm innewohnenden Strukturen von Privateigentum an Banken und Konzernen, Markt und Konkurrenz formulieren, den Klassenkampf und die Selbstorganisation der Lohnabhängigen und der Jugend als zentrale Aufgabe der Partei formulieren, die internationale Solidarität der Arbeiterklasse propagieren und jeder Beteiligung an Mitverwaltung der kapitalistischen Klassenherrschaft eine Absage erteilen." 390 Mittel zum Zweck der Überwindung des demokratischen Verfassungsstaates ist ein taktisches Verhältnis der SAV zur repräsentativen Demokratie: "Darum ist für mich die Teilhabe am Parlamentarismus auch kein Ziel an sich, sondern nur Mittel zum Zweck. Als Bühne zur Popularisierung unserer Positionen: ja. Aber als Instrument zur grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse: nein." 391 Mit dieser Zielrichtung engagierten sich Aktivisten der SAV in der Partei "Wahlalternative für Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" (WASG). Bis zu ihrer Fusion mit der "Linkspartei.PDS" nahmen SAV-Mitglieder in der WASG Parteifunktionen auf Landesund Bezirksebene war. Ein Vorstandsmitglied der SAV trat als Spitzenkandidatin der WASG bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl 2006 an. Bei den Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) gelang SAV-Mitgliedern auf den Listen der WASG der Einzug in die Bezirksverordnetenversammlungen der Bezirke Mitte und Pankow. 392 Die SAV lehnte die Fusion der beiden Parteien im Jahr 2007 ausdrücklich ab und strebte - mit Blick auf die Abgeordnetenhauswahl 2011 - den Aufbau einer eigenständigen Berliner Regionalorganisation unter der Bezeichnung "Berliner Alternative für Solidarität und Gegenwehr e. V." (BASG) an. 393 Dieser Versuch ist offenbar gescheitert. In Folge eines Strategiewechsels schlossen sich ab September 2008 maßgebliche Berliner SAV-Funktionäre 394 390 Sascha Stanicic: "Ein Schritt nach links." In: "sozialismus.info, Magazin der SAV", Nr. 10 vom 8.5.2010. 391 Lucy Redler zitiert nach Robert Allertz: Was will die rote Lucy? Gespräch mit der Rebellin Redler, Berlin 2007, S. 15. 392 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2006. Berlin 2007, S. 80 ff. 393 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2007. Berlin 2008, S. 216. 394 Vgl. "Lucy Redler tritt in Die Linke ein". Pressemitteilung der SAV, datiert 11.9.2008. 214 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 der Partei "Die Linke" an. 395 Erklärtes Ziel ist die Fortsetzung der "Entrismus"-Strategie und der Versuch der politisch-ideologischen Einflussnahme: "Wir wollen als Marxisten mit anderen unseren Beitrag dazu leisten, einen starken sozialistischen Flügel in der Linken aufzubauen, der Regierungsbeteiligungen wie in Berlin ablehnt." 396 Der Strategiewechsel der SAV stieß in der Partei "Die Linke" zunächst auf Widerstand. Die Mitgliedsanträge der SAV-Funktionäre wurden zunächst zweimal abgewiesen, bis es im August zur Aufnahme in die Partei "Die Linke" kam. Mit der"Entrismus-Strategie" versuchen die SAV-Aktivisten, Einfluss auf die Ausrichtung der Partei "Die Linke" zu nehmen und ihr Ziel, den Aufbau einer sozialistischen Massenpartei, zu erreichen: "Wir stehen für eine Partei, die den Sozialismus nicht nur auf dem Papier einfordert, sondern sich als sozialistische Kraft präsentiert und eine Brücke schlägt von den Kämpfen gegen Schwarz-Gelb, gegen Entlassungen und lokalen Auseinandersetzungen zur Notwendigkeit der sozialistischen Gesellschaft." 397 395 Bis zu diesem Zeitpunkt war die SAV lediglich in den Landesverbänden in den alten Bundesländern vertreten, da sich die Partei "Die Linke" im Osten Deutschlands an Regierungen und kommunalen Bündnissen beteiligt habe. Vgl. "Für den Aufbau einer kämpferischen, sozialistischen LINKEN!" Internetauftritt der SAV, datiert 11.9.2008. 396 "Wir wollen als Marxisten unseren Beitrag leisten". Gespräch mit Lucy Redler. In: "junge Welt" vom 12.9.2008. 397 Vgl. SAV: "DIE LINKE als kämpferische, sozialistische Partei aufbauen". Internetportal der SAV, datiert 1.9.2010, Fehler im Original. Hintergrundinformationen - Ausländerextremismus 215 6. Extremistische und sicherheitsgefährdende Bestrebungen ausländischer Organisationen (ohne Islamismus) 6.1 Kurdische Extremisten 6.1.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" ("Partiya Karkeren Kurdistan") Abkürzung PKK Entstehung / Gründung 1978 Türkei Bund: ca. 11 500 (2009: ca. 11 500) Mitgliederzahl Berlin: ca. 1 050 (2009: ca. 1 050) Türkei: Verbotene Organisation Organisationsstruktur Deutschland: 1993 vereinsrechtliches Betätigungsverbot Serxwebun" ("Unabhängigkeit") (überregional, monatlich) Veröffentlichungen "Sterka Ciwan" ("Stern der Jugend") (überregional, monatlich) Die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) wurde 1978 vor dem Hintergrund des jahrzehntelangen Konflikts der im Ländereck Türkei, Iran, Irak und Syrien lebenden 25 Millionen Kurden im Südosten der Türkei gegründet. Erklärtes Ziel der Organisation war die Anerkennung der Kurden als Nation und die Erlangung der politischen Autonomie für die kurdische Minderheit innerhalb des türkischen Staatsgebiets. Von 1984 bis 1999 führte die PKK in der südöstlichen Türkei einen Guerillakrieg für ein unabhängiges Kurdistan. 1992 und 1993 verübten Anhänger der PKK zahlreiche Brandanschläge auf türkische Einrichtungen in Deutschland; bei Demonstrationen kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen. Am 24. Juni 1993 besetzten 13 Kurden das türkische Generalkonsulat in München und nahmen 20 Geiseln. Die gewalttätigen Aktionen führten 1993 zum vereinsrechtlichen Betätigungsverbot in Deutschland, das sich auch auf die Nachfolgeorganisationen erstreckt. Ab Mitte 1996 bis zur Festnahme des PKK-Führers Abdullah Öcalan im Jahre 1999 verliefen Demonstrationen und Kundgebungen der Anhänger der PKK in Deutschland in der Regel gewaltfrei. Die Festnahme und die Auslieferung Öcalans an die Türkei führte dagegen zu weltweiten militanten Protesten. In Berlin erstürmten am 17. Februar 1999 PKK-Anhänger das israelische Generalkonsulat, wobei vier Kurden von israelischen Sicherheitskräften erschossen wurden. 216 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Seit 1999 verfolgte die Organisation einen strategischen Kurswechsel mit dem Ziel, sich durch die Ankündigung interner Reformen als politischer Gesprächspartner zu etablieren. Dies sollte nach außen sichtbar werden, indem die Organisation sich selbst wie auch ihre Teilund Nebenorganisationen mehrfach umbenannte. 398 Fussnote 399 Gesamtorganisation Organisation der Jugendorganisation Frontorganisation in Frauen Europa "Arbeiterpartei "Partei der Freien Frau" "Union der Jugendli"Nationale BefreiKurdistans" (PJA) chen Kurdistans" ungsfront Kurdistans" (PKK) (YCK) (ERNK) "Freiheitsund "Freiheitspartei der "Bewegung der freien "Demokratische Union Demokratiekongress Frauen Kurdistans" Jugend Kurdistans" des kurdischen Volkes" Kurdistans" (KADEK) (PAJK) (TECAK) (YDK) "Volkskongress Kurdistans" (Kongra Gel) Heute: Dreiteilung Analog: Dreiteilung "Gemeinschaft der "Koordination der unter dem Gesamtsysunter dem System der Kommunen der demoDemokratischen tem der "Gemeinschaft "Gemeinschaft der kratischen Jugend Gesellschaft Kurdisder Gesellschaften hohen Frauen" (KJB): Kurdistans" tans" (CDK) Kurdistans" (KCK) (Komalen Ciwan) (zuvor: "Gemeinschaft politischer Teil: "Union der Kommunen Kurdisder freien Frauen" tans" (KKK)): (YJA) politischer Teil: ideologischer Teil: Kongra Gel "Freiheitspartei der Frauen Kurdistans" ideologischer Teil: (PAJK) "neue" PKK2 militärischer Teil: militärischer Teil: "Verband freier Frauen "VolksverteidigungsStar" (YJA Star) kräfte" (HPG)399 In Deutschland sind PKK-Anhänger meist in örtlichen, organisationsnahen Vereinen aktiv. Etwa 45 dieser Vereine sind unter dem Dach der "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e. V." (YEK-KOM) 400 zusammengefasst. 401 398 Folg. Tabelle: Aufstellung der Namen der wichtigsten Organisationsteile der PKK. 399 In einer Presseverlautbarung zum 10. (Sic!) Parteikongress der PKK im August 2008 wurde erklärt: "Zwar wurde in diesen zwei Jahren nicht mit dem Namen gearbeitet, aber in "der Praxis war es immer PKK." Die Vollendung des Neuaufbaus. In: "Kurdi-stan Report Nr. 140. Hamburg November/Dezember 2008, S. 20-29, hier: S. 24. 400 Sie ist auf europäischer Ebene Mitglied der "Konföderation der kurdischen Vereine in Europa" (KON-KURD). 401 Vgl.: Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 274 f. Hintergrundinformationen - Ausländerextremismus 217 Die ursprünglichen Hierarchieund Befehlsstrukturen blieben allerdings stets erhalten. Im Gegensatz zu den als Reformprozess deklarierten Veränderungen steht zudem, dass die Guerillaeinheiten der PKK bereits zum 1. Juni 2004 den am 1. September 1998 von Öcalan erklärten "einseitigen Waffenstillstand" aufgekündigt hatten und seitdem - mit einigen Unterbrechungen - immer wieder offensiv gekämpft wird. Der Guerillakrieg führt zusammen mit terroristischen Anschlägen der "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK), einer nach eigenen Angaben aus den HPG entstandenen Gruppe, dazu, dass bislang keine Lösung des Konflikts abzusehen ist. 6.1.2 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" / "Volksbefreiungspartei-Front der Türkei - Revolutionäre Linke" DHKP-C Abkürzung THKP-C Entstehung / Gründung 1994 Türkei Bund: ca. 650 (2009: ca. 650) Mitgliederzahl Berlin: ca. 65 (2009: ca. 65) Türkei: Verbotene Organisation Organisationsstruktur Deutschland: 1998 Vereinsverbot Yürüyüs" ("Protestmarsch") (überregional, wöchentlich) Veröffentlichungen "Devrimci Sol" ("Revolutionäre Linke") unregelmäßig Die miteinander rivalisierenden Organisationen "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) und "Volksbefreiungspartei-Front der Türkei - Revolutionäre Linke" (THKP-C / "Devrimci Sol") sind aus der 1978 in der Türkei gegründeten Organisation "Devrimci Sol" ("Revolutionäre Linke") hervorgegangen, die 1983 in Deutschland verboten wurde. Beide Organisationen sind in der Türkei terroristisch aktiv und streben die Beseitigung des türkischen Staates und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Ideologie an. Sie wurden am 13. August 1998 durch den Bundesminister des Innern verboten. Die DHKP-C ist auch unter den Namen "Revolutionäre Volksbefreiungspartei" (DHKP) bzw. "Revolutionäre Volksbefreiungsfront" (DHKC) aktiv. Meist wird die DHKC als "bewaffneter Arm" der Organisation bezeichnet. 218 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Laut ihrem Statut kämpft die DHKP-C für die "Befreiung der türkischen und kurdischen Nation und aller anderen Nationen" von "Imperialismus" und "Faschismus". Die DHKP-C geht davon aus, dass es in einem "vom Imperialismus abhängigen, durch den Faschismus regierten Land unmöglich" sei, die Machtverhältnisse durch Wahlen zu verändern. Deshalb könne "die faschistische Macht, die unter der Kontrolle des Imperialismus und der Oligarchie [stehe], nur durch den bewaffneten Kampf des Volkes zerstört werden". Personen, deren Aktivitäten sich gegen die "Revolution" richten, droht die DHKP-C eine "gnadenlose Bestrafung" 402 an. In Deutschland engagieren sich DHKP-C-nahe Organisationen wie zum Beispiel das "Tayad-Komitee" ("Solidaritätsverein der Familien von Inhaftierten und Verurteilten" 403) oder die "Anatolische Föderation e. V." ("Anadolu Federasyonu") für die Positionen der DHKP-C. 402 Programm der DHKP. 403 Abgeleitet aus der türkischen Bezeichnung "Tutuklu Hükümlü Aileleri Yardimlasma Dernegi" (TAYAD). Hintergrundinformationen - Scientology Organisationen 219 7. "Scientology Organisation" Abkürzung SO USA: 1954 Entstehung / Gründung Deutschland: 1971 Bund: ca. 4 000-5 000 (2009: ca. 4 500-5 000) Mitgliederzahl Berlin: ca. 130 (2009: ca. 150) Organisationsstruktur In Berlin eingetragener Verein Los Angeles (Church of Scientology International - CSI) Sitz Berlin: "Scientology Kirche Berlin e.V.", Charlottenburg Freiheit", "Impact", "Freewinds" "Source", "The AudiVeröffentlichungen tor" u. a. (Erscheinungsweise je ca. 2-4 Ausgaben pro Jahr, Auflagenhöhe unbekannt) Die "Scientology Organisation" (SO) wurde 1954 von dem amerikanischen Science-Fiction-Autor L. Ron Hubbard gegründet. Sie verbreitet ihre Lehre in diversen Publikationen, Kurssystemen und weltweiten Veranstaltungen mit dem Ziel, eine rein scientologische Gesellschaft zu etablieren, propagiert als "Expansion". Zur Erreichung dieses Zieles bemüht sie sich um Einflussnahme auf gesellschaftliche und politisch Willensund Entscheidungsträger sowie Rekrutierung und Schulung neuer Mitglieder. Durch die Anwendung scientologischer Ideologie und Techniken soll ein perfekt funktionierender Mensch, der sog. "Clear" bzw. der höher trainierte "operierende Thetan" erzeugt werden. Nur diesen Menschen sollen Bürgerrechte zugestanden werden, um mit ihnen eine scientologische Gesellschaftsordnung zu errichten. Personen, die außerhalb dieser Gesellschaft stehen oder der SO gegenüber kritisch eingestellt sind, wird jeglicher Wert abgesprochen. Zudem wird anhand einer imaginären scientologischen "Tonskala" zwischen höherund minderwertigen Menschen unterschieden. Nicht-Scientologen werden verunglimpft und sollen "beiseite geschafft und ausgesondert" werden; Gegner und Kritiker sind "durch Zwang zu entfernen, möglichst zu ruinieren, ihres Eigentums zu berauben und müssten zerstört werden". 404 404 VG Köln Az 20 K 1882/03 vom 11.11.2004, bestätigt durch OVG Münster Az 5A 130/05 vom 12.2.2008. 220 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 SO unterhält viele, international agierende Unterund Tarnorganisationen, die alle jeweils einem sogenannten "kirchlichen", wirtschaftlichen oder sozialen Bereich zuzuordnen sind. 405 Die Gesamtstruktur und Logistik ähnelt der eines multinationalen Wirtschaftskonzerns, der aus der "Konzernzentrale", der "Church of Scientology International" (CSI) in Los Angeles und über "Kontinentale Verbindungsbüros" streng hierarchisch und straff geführt wird. Die Europäische Zentrale hat ihren Sitz in Kopenhagen. Unterhalb dieser Ebene befinden sich diverse Unterorganisationen (sog. "Orgs"), die als "Kirchen", "Missionen", "Celebrity Centers" 406 direkt der SO zuzuordnen sind. Das Innenverhältnis der Organisation ist durch ein rigides System von Belohnungen und Bestrafungen und eine eigene Justiz geprägt. Der Einstieg in die Organisation erfolgt in der Regel durch den noch kostenfreien Persönlichkeitstest, dessen Auswertung immer Defizite aufzeigt, die durch - dann kostenpflichtige - Seminare korrigiert werden können. Durch umfassende Fragetechnik bei "Auditing"-Sitzungen 407 mittels "E-Meter" 408 sollen die persönlichen Schwachpunkte aufgespürt und bearbeitet werden. Mit dieser Methode sichert die SO die ständige Kontrolle und Manipulation ihrer Anhänger, die durch immer weitere Kurse und eingeforderte "Spenden" nicht nur wirtschaftlichen Schaden nehmen können. Insbesondere Menschen in schwierigen Lebenssituationen laufen Gefahr, durch die als "individuelle Lebenshilfe" getarnten Angebote in eine psychisch schädliche Abhängigkeit zu geraten. 405 Angaben zu Tarnvereinen von SO sind auf der Internetseite des Berliner Verfassungsschutzes unter www.verfassungsschutz-berlin.de eingestellt. 406 Organisationen zur Werbung und Betreuung von Personen des öffentlichen Lebens. 407 Durch einen "Auditor", d.h. einen speziell hierzu "ausgebildeten" Scientologen durchgeführte Befragungen. 408 Gerät zum Messen des Körperwiderstandes, ähnlich einem primitiven "Lügendetektor". III Verfassungsschutz Berlin 222 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 1. Struktur Verfassungsschutzbehörde für das Land Berlin ist die Senatsverwaltung für Inneres und Sport. Die Aufgaben werden durch die Abteilung II wahrgenommen: Abteilung II - Verfassungsschutz - Abteilungsleiterin Referat II A Referat II B Referat II C Referat II D Grundsatz, Recht, Auswertung Auswertung Beschaffung Öffentlichkeitsarbeit, Verwaltung, Rechtsextremismus, Ausländerextremismus Informationstechnik Linksextremismus Spionageabwehr Geheimschutz Während das Grundsatzreferat II A Querschnittsaufgaben wie Verwaltung, Recht, Informationstechnik und Öffentlichkeitsarbeit abdeckt, sind die Auswertungsreferate II B und II C für die Analyse und Bewertung von Informationen zuständig. Das Referat II D beschafft Informationen mit nachrichtendienstlichen Mitteln. Für die Aufgaben des Verfassungsschutzes standen 2009 ebenso wie 2010 Haushaltsmittel in Höhe von 10,7 Mio. EUR und 188 Stellen zur Verfügung. Verfassungsschutz Berlin 223 2. Gesetzliche Grundlagen 2.1 Aufgaben und Befugnisse Die Arbeit des Verfassungsschutzes ist hinsichtlich der Aufgabenstellungen, der Befugnisse und der Kontrollverfahren im Grundgesetz und in Einzelgesetzen festgeschrieben. 409 Von Bedeutung sind hier: * das Grundgesetz (GG), Artikel 73 und 87, * das Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin (VSG Bln), 410 * das Gesetz zur Beschränkung des Postund Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz) 411 sowie das Gesetz zur Ausführung des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz, 412 * das Bundesverfassungsschutzgesetz, 413 * das Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz (BSÜG). 2.2 Entwicklungen in der Rechtsprechung und Gesetzesnovellierungen Novellierung des G-10 Gesetzes Das Artikel 10-Gesetz (G 10) wurde zum 1. August 2009 novelliert. Der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung würde mit SS 3a G 10 sowie mit SS 3b G 10 der Schutz zeugnisverweigerungsberechtigter Personen aufgenommen. 409 Detaillierte Darstellungen sowie Gesetzestexte sind auf der Internetseite des Verfassungsschutzes unter www.verfassungsschutz-berlin.de/Grundlagen eingestellt. 410 GVBl. Nr. 28 vom 21.7.2001, S. 235, zuletzt geändert durch Gesetz vom 5.12.2003 (GVBl. S. 571). Der vollständige Gesetzestext ist im Anhang abgedruckt und kann auf der Internetseite des Berliner Verfassungsschutzes unterwww.verfassungsschutz-berlin.de abgerufen werden. 411 BGBl. I S. 1254 ff. vom 26.6.2001, zuletzt geändert durch Gesetz vom 31.7.2009 (BGBl. I S. 2499). 412 Gesetz vom 25.6.2001 (GVBl. S. 251), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5.12.2003. 413 Gesetz vom 20.12.1990 (BGBl. I S. 2954) zuletzt geändert durch Art. 10, 2 und 1 des Gesetzes vom 5.1.2007 (BGBl. I S. 2). 224 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Entsprechend der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG regelt SS 3a G 10 den Schutz des Kernbereichs privater Lebensführung bei Beschränkungen nach SS 1 Abs. 1 Nr. 1 G 10. 414 Eine Beschränkungsmaßnahme (Telekommunikationsoder Postüberwachung) ist nach der Neufassung unzulässig, wenn die Annahme besteht, dass durch sie allein Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst werden. Bestehen insoweit Zweifel, darf nicht "life" mitgehört und nur eine automatische Aufzeichnung fortgesetzt werden. Diese Aufzeichnungen sind unverzüglich einem Mitglied der G 10-Kommission zur Entscheidung über die Verwertbarkeit oder Löschung der Daten vorzulegen. Weiterhin sieht SS 3 a G 10 ein Verwertungsverbot und Löschungsgebot vor. Ein solches Verwertungsverbot und Löschungsgebot regelt SS 3b G 10 für nach SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 4 Strafprozessordnung (StPO) zeugnisverweigerungsberechtigte Personen (SS 53a StPO gilt entsprechend). Beschränkungen sind bei voraussichtlichen Erkenntnissen, die diesen Zeugnisverweigerungsrechten unterliegen, im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu prüfen und gegebenenfalls zu unterlassen oder einzuschränken. Keine Anwendung findet SS 3b G 10 auf Personen die selbst nach SS 3 Abs. 1 G 10 verdächtig sind. 414 Vgl. zur "akustischen Wohnraumüberwachung" BVerfG 2 BvR 543/06 vom 11.5.2007 und zur so genannten "Online-Durchsuchung" BVerfG 1 BvR 370/07 vom 27.2.2008. Verfassungsschutz Berlin 225 2.3 Kontrolle Die Verfassungsschutzbehörde unterliegt bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben einer Kontrolle auf mehreren Ebenen: Öffentliche Kontrolle Revision durch Bürger Kontrollinstanz der und Medien Leitung der Senatsverwaltung für Inneres und Sport Datenschutz Allgemeine parlamentarische Beauftragter für Kontrolle durch das Datenschutz und Abgeordnetenhaus Informationsfreiheit Debatten, Aktuelle Abteilung II Stunden, Kleine und Große Anfragen, - Verfassungsschutz - Petitionen Abteilungsleiterin Gerichtliche Besondere Kontrolle parlamentarische Kontrolle durch Verwaltungsgerichte Ausschuss für Verfassungsschutz / ggf. Untersuchungsausschuss G10-Kommission Vertrauensperson Kontrolle von Eingrifdes Ausschusses für fen in das Postund Verfassungsschutz Fernmeldegeheimnis nach Art. 10 GG 226 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 3. Arbeitsweise Der Verfassungsschutz Berlin hat laut VSG Bln die Aufgabe, den Senat und das Abgeordnetenhaus, andere zuständige staatliche Stellen und die Öffentlichkeit über Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung zu unterrichten. 415 Die Behörde beschafft Informationen, analysiert sie und unterrichtet Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit über ihre Erkenntnisse. Informationsbeschaffung Bei der Informationsbeschaffung ist zwischen offenen und verdeckt erhobenen Informationen zu unterscheiden. Der Verfassungsschutz erhält einen hohen Anteil seiner Informationen aus allgemein zugänglichen Veröffentlichungen und Veranstaltungen. Nachrichtendienstliche Mittel dürfen nach dem VSG Bln. eingesetzt werden, wenn verfassungsfeindliche Bestrebungen weitgehend konspirativ agieren und sich wegen der Abschottung auf andere Weise keine Informationen gewinnen lassen. Nach den Vorgaben des VSG Bln. darf der Einsatz dieser Mittel nur erfolgen, wenn sie im Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachverhalts stehen. Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel kommt deshalb erst dann in Betracht, wenn die anderen Mittel der Nachrichtenbeschaffung erschöpft sind, d. h. wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Zu den nachrichtendienstlichen Mitteln zählen der Einsatz von Vertrauenspersonen (so genannten V-Personen, die aus Beobachtungsobjekten berichten), 416 die Observation sowie die Überwachung des Postund Fernmeldeverkehrs, deren besonders engen rechtlichen Voraussetzungen im Gesetz zu Artikel 10 GG 417 geregelt sind. Zur Bekämpfung gewalttätiger, insbesondere terroristischer Bestrebungen dürfen Anfragen an Luftverkehrsunternehmen, Telekommunikationsanbieter und Kreditinstitute gestellt werden. Gerade zur Aufklärung 415 Vgl. SSSS 1, 5 und 6 VSG Bln. 416 Die Informationsbeschaffung durch V-Personen ist ein Kernbereich nachrichtendienstlicher Arbeit, der in einem außerordentlichen Spannungsfeld steht: Einerseits bedarf es des Schutzes unserer freiheitlichen Demokratie, andererseits der Beschaffung von Informationen durch Mitglieder extremistischer Organisationen. V-Personen sind Privatpersonen, die in der Regel der zu beobachtenden verfassungsfeindlichen Organisation angehören oder ihr nahe stehen. Sie berichten über deren Strukturen und Aktivitäten. Der Gesetzgeber hat dieses Mittel der Informationsbeschaffung den Verfassungsschutzbehörden ausdrücklich zugewiesen (SS 8 Abs. 2 Nr. 1 VSG Bln). Aufgrund der besonderen Sensibilität der Maßnahme sind dem Einsatz von V-Personen aber enge rechtsstaatliche Grenzen gesetzt. Voraussetzung beim Einsatz von V-Personen ist die Vertraulichkeit (so genannter Quellenschutz). Vgl. auch Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutz - nehmen Sie uns unter die Lupe. Berlin 2002. 417 BGBl. I 2001, S. 1254 ff.; BGBl. I 2002, S. 361 und 364. Verfassungsschutz Berlin 227 islamistischer terroristischer Netzwerke kann es erforderlich sein, Flüge festzustellen, Finanzierungsströme aufzuklären und Telefonverbindungsdaten zur Feststellung von Kontakten zu erlangen. Wegen der Eingriffstiefe dieser Befugnisse wurde die Umsetzung 2005 auf Bundesebene evaluiert. Danach wurden die Regelungen als erfolgreich und angemessen bewertet. Auf der Grundlage dieser Evaluation hat der Bundesgesetzgeber im so genannten Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz 418 diese Instrumente nicht nur für weitere fünf Jahre bestätigt, sondern auch Voraussetzungen für ihren Einsatz je nach Eingriffstiefe differenziert. Zudem wurde der Anwendungsbereich ausgeweitet. Die Anfragen können vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) nunmehr auch eingesetzt werden, wenn schwerwiegende Gefahren abzuwehren sind und es um extremistische Bestrebungen geht, die auf Gewalt gerichtet sind. Informationsbearbeitung Die durch die Informationsbeschaffung gesammelten Rohdaten müssen gefiltert, systematisiert und analysiert werden. Dabei kommt der Informationstechnik für die Verarbeitung großer Datenmengen eine wichtige Rolle zu. Als bundesweite Hinweisdatei existiert für die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder das "Nachrichtendienstliche Informationssystem" (NADIS). Hierüber ist es möglich abzufragen, ob Daten zu einer Person bei einer Verfassungsschutzbehörde erfasst sind. 419 Ende 2010 waren für Berlin 28 521 Datensätze im NADIS gespeichert (2009: 25 002). Zugenommen haben weiterhin die Sicherheitsund Zuverlässigkeitsüberprüfungen, auf die rund 85 % der Datensätze entfallen. Die übrigen verteilen sich auf die Aufgabenbereiche Spionageabwehr, Ausländer-, Rechtsund Linksextremismus. Für die Auswertung der Daten spielt die präzise Definition von Analysebegriffen etwa zur Risikobewertung und die Entwicklung von Instrumenten wie die computergestützte geographische Analyse eine wichtige Rolle. Durch letztere können lokale Schwerpunkte herausgearbeitet werden (vgl. "Im Fokus"-Studien "Rechte Gewalt in Berlin" und "Linke Gewalt in Berlin" sowie zahlreiche Lageanalysen). 420 418 BGBl. I 2007, S. 2. 419 Die Speicherungsgrundlagen sowie die Speicherungsdauer sind in den SSSS 11 - 17 VSG Bln geregelt. 420 Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Rechte Gewalt in Berlin. Berlin 2004; Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Rechte Gewalt in Berlin 2003 bis 2006. Berlin 2007; Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Linke Gewalt in Berlin. Berlin 2009. 228 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Informationsweitergabe Die Informationsweitergabe an andere Behörden ermöglicht diesen, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr dieser Gefahren zu ergreifen. Die Zusammenarbeit mit anderen Behörden geschieht auf Grundlage der Regelungen des VSG Bln über die Informationsweitergabe. 421 Neben repressiven Maßnahmen dient auch die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Extremismus dem Schutz der Demokratie. Die Unterrichtung der Öffentlichkeit ist deshalb als Aufgabe im VSG Bln festgeschrieben. 422 Zusammenarbeit mit anderen Behörden Bei der Weitergabe von Erkenntnissen über Personen wird danach unterschieden, ob es sich um Sicherheitsbehörden, andere öffentliche Stellen oder ausländische Institutionen handelt. * Bei der Zusammenarbeit im Verfassungsschutzverbund besteht eine Informationspflicht für alle anfallenden Erkenntnisse, die für die Aufgabenerfüllung der anderen Behörden erforderlich sind (SS 19 VSG Bln). * Die Zusammenarbeit mit Polizei und Staatsanwaltschaft wird durch besondere Übermittlungsbefugnisse flankiert. Wenn es zur Verhinderung und Verfolgung von Straftaten im Zusammenhang mit extremistischen Bestrebungen erforderlich ist, dürfen Erkenntnisse weitergegeben werden (SS 21 VSG Bln). * An andere öffentliche Stellen dürfen Erkenntnisse über Personen insbesondere übermittelt werden, wenn sie die Informationen zum Schutz vor verfassungsfeindlichen Bestrebungen benötigen oder wenn es zur Aufgabenerfüllung der Verfassungsschutzbehörde erforderlich ist (SS 22 VSG Bln). * Besondere Beschränkungen gelten für die Weitergabe personenbezogener Informationen an ausländische Stellen (SSSS 24 und 25 VSG Bln). Angesichts der anhaltenden Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus haben die Innenminister die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren ausgebaut. 421 Vgl. speziell SSSS 18-25 VSG Bln. 422 Vgl. SS 5 VSG Bln. Verfassungsschutz Berlin 229 2004 hat das "Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum" (GTAZ) in BerlinTreptow seine Arbeit aufgenommen. Neben Experten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Bundeskriminalamtes (BKA), des Bundesnachrichtendienstes (BND), des Generalbundesanwalts (GBA) sowie ausländischer Partnerdienste sind die Länder mit Verbindungsbeamten der Polizei und der Verfassungsschutzbehörden dort vertreten. Das GTAZ ermöglicht, Informationen zum islamistischen Terrorismus umgehend gemeinsam zu analysieren und die operativen Maßnahmen abzustimmen. Gerade bei der Bewältigung besonderer Gefährdungslagen wie anlässlich der Bundestagswahl 2009 hat sich die Institution bewährt. Ende 2006 trat das Gesetz zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizei und Nachrichtendiensten in Kraft. 423 Von besonderer Bedeutung ist die Anti-Terror-Datei (ATD). 424 Sie dient dem Erkenntnisaustausch zu Personen, die dem internationalen Terrorismus mit Bezug zur Bundesrepublik Deutschland zugerechnet werden. Das "Gemeinsame Internet-Zentrum" (GIZ) wurde im Januar 2007 eingerichtet. In ihm arbeiten Mitarbeiter von BfV, BKA, BND, MAD und GBA zusammen, um ihr Expertenwissen in der Beobachtung islamistischer Aktivitäten im Internet zu bündeln. Die stetig wachsende Zahl islamistischer Webseiten belegt die zunehmende Bedeutung des Internets für militante Islamisten, die dieses Medium vor allem als Propagandaund Rekrutierungsinstrument intensiv nutzen. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die Analyse und Bewertung entsprechender Webseiten an Bedeutung für die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus. 423 Gesetz zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder vom 22.12.2006 (BGBl I S. 3409). 424 Aus Art. 5 II des o.g. Gesetzes geht hervor, dass fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes (2011) das "Anti-Terror-Gesetz" unter Einbeziehung eines wissenschaftlichen Sachverständigen evaluiert wird. 230 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 4. Für Bürger und Politik: Die Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes Die Information von Politik und Öffentlichkeit über Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung ist die Aufgabe des Berliner Verfassungsschutzes, die im Verfassungsschutzgesetz an erster Stelle genannt wird. Als das Landesamt für Verfassungsschutz im Jahr 2000 aufgelöst und die Abteilung II bei der Senatsverwaltung für Inneres und Sport gegründet wurde, war es politischer Konsens, dass der Öffentlichkeitsarbeit ein gewichtiger Stellenwert eingeräumt wird. Diesen Auftrag erfüllen wir seit zehn Jahren mit großem Engagement. Wir informieren Senat, Parlament und die Öffentlichkeit über aktuelle Entwicklungen in den Beobachtungsfeldern - so weitgehend und intensiv wie möglich. Dem Verfassungsschutz sind selbstverständlich in der Art und im Umfang seiner offenen Informationen Grenzen gesetzt. Oftmals werden die politische Leitung und das parlamentarische Kontrollgremien in vertraulicher oder nicht-öffentlicher Sitzung über gravierende Ereignisse und Entwicklungen informiert. Gleichwohl sind wir bestrebt, interessante und bemerkenswerte Aktivitäten und Veränderungen in den Extremismusspektren auch der Öffentlichkeit mitzuteilen. Sei es in wissenschaftlichen Analysen oder knappen "Aktuellen Meldungen" im Internet - dem Thema angemessen, informieren wir aktuell und präzise. Weil wir dazu beitragen, die gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit dem Extremismus zu führen, leistet die Öffentlichkeitsarbeit einen aktiven Beitrag zur Prävention, indem er hinsichtlich extremistischer Hintergründe und Entwicklungen sensibilisiert. Wir informieren aber nicht nur in unterschiedlichen Publikationen und über das Internet. Wir halten auch Vorträge an Bildungseinrichtungen und bei interessierten Organisationen. Zudem veranstaltet der Berliner Verfassungsschutz Symposien zu wechselnden Themen. Im Jahr 2010 fand das Symposium "Islamismus: Prävention und Deradikalisierung" am 22. November im "Haus der Kulturen der Welt" statt. Rund 160 Teilnehmer aus Politik, Wissenschaft, Sicherheitsbehörden und freien Vereinen diskutierten unterschiedliche Aspekte des Phänomens. Eine Dokumentation der Tagung wurde Anfang 2011 veröffentlicht. Verfassungsschutz Berlin 231 Dies sind die Formate der Öffentlichkeitsarbeit im Einzelnen: Publikationen Der Berliner Verfassungsschutz hat mehrere Publikationsreihen entwickelt, um dem unterschiedlichen Informationsbedarf gerecht zu werden. Das Publikationsangebot des Berliner Verfassungsschutzes findet große Resonanz: 2010 wurden 30 000 Broschüren verteilt und angefordert. Darüber hinaus sind alle Publikationen im Internet abrufbar. * Verfassungsschutzberichte: Den umfassendsten Überblick über die einzelnen Beobachtungsfelder geben die jährlichen Verfassungsschutzberichte. Sie informieren über das aktuelle Geschehen im extremistischen Spektrum, über die ideologischen Grundlagen des Rechts-, Linksund Ausländerextremismus sowie über die wichtigsten in Berlin vertretenen extremistischen Gruppierungen. * Reihe "Im Fokus": Die Reihe behandelt einzelne Themenkomplexe des Extremismus wie rechte oder linke Gewalttaten oder Phänomene des Islamismus. Stärker als im Verfassungsschutzbericht steht die Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Forschung im Vordergrund. 2009 legte der Berliner Verfassungsschutz eine "Im Fokus"Broschüre zur "Linken Gewalt in Berlin" vor. Aufgrund der empirischen Ausrichtung kann die Studie als Grundlage für die seit dem vergangenen Jahr sehr aktuelle Diskussion um linke Gewalttaten dienen. Die seit Veröffentlichung rege Nachfrage zeigt, wie aktuell das Thema ist. * Lageund Wahlanalysen: Diese Reihe bietet kurze Analysen zu Detailthemen. * Reihe "Info": Die "Info"-Reihe bietet praxisnahe kompakte Informationen über Erscheinungsformen des Extremismus. Die Publikationen "Symbole und Kennzeichen des Rechtsextremismus", "Rechtsextremistische Musik" und "Islamismus" sind stark nachgefragt und werden regelmäßig aktualisiert. * "Lupe": Die Broschüre "Verfassungsschutz - nehmen Sie uns unter die Lupe" gibt Basisinformationen über Aufgaben und Befugnisse, Arbeitsfelder und Vorgehensweisen des Verfassungsschutzes. 232 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Gremienarbeit Der Berliner Verfassungsschutz beteiligt sich in der Gremienarbeit am Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen. So nahm er weiter am Berliner Islamforum 425 teil. Zudem ist er im "Berliner Beratungsnetzwerk" gegen Rechtsextremismus vertreten und hat am Aufbau des ressortübergreifenden Berliner "Verbundes gegen Sekten" mitgewirkt, der von der Sektenleitstelle der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung koordiniert wird.. Internet Über den Internetauftritt können unter www.verfassungsschutzberlin.de Aktuelle Meldungen, Informationen über die Grundlagen der Verfassungsschutzarbeit sowie die Veranstaltungen des Verfassungsschutzes Berlin und alle Publikationen abgerufen werden. Bürgerund Hinweistelefon Das Bürgertelefon als Teil der Öffentlichkeitsarbeit nimmt Ihre Hinweise oder Fragen gerne entgegen. Zu erreichen sind wir unter der Telefonnummer (030) 90 129-0 oder unter der E-Mail-Adresse info@verfassungsschutz-berlin.de. Daneben haben wir ein vertrauliches Telefon für Hinweise, z. B. zur Aufklärung des islamistischen Terrorismus, an den Berliner Verfassungsschutz eingerichtet: * (030) 90 129-400 (in deutscher Sprache) * (030) 90 129-401 (in türkischer Sprache) * (030) 90 129-402 (in arabischer Sprache) Die Anschlüsse sind werktags von 9.00 bis 15.00 Uhr von sprachkundigen Mitarbeitern besetzt. Außerhalb der genannten Zeiten ist ein Anrufbeantworter geschaltet. Darüber hinaus können auch vertrauliche E-Mails an die Adressen info@verfassungsschutz-berlin.de oder aman@verfassungsschutz-berlin.de gesendet werden. 425 Das Islamforum ist ein Kooperationsprojekt des Beauftragten des Berliner Senats für Integration und Migration und der 2003 gegründeten Muslimischen Akademie Deutschlands. IV Anhang 234 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 1. Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin Gesetz über den Verfassungs(3) Bei der Leitung der Senatsverwaltung schutz in Berlin für Inneres wird eine Revision eingerichtet. Die Revision ist unbeschadet ihrer Verantwortung gegenüber dem Se(Verfassungsschutzgesetz Berlin - VSG Bln) nator im Übrigen in der Durchführung in der Fassung vom 25. Juni 2001, geändert von Prüfungen und der Beurteilung von durch Art. V des Gesetzes vom 30. Juli 2001 Prüfungsvorgängen unabhängig. (GVBl. S. 305), geändert durch Art. II des Gesetzes vom 5. Dezember 2003 (GVBl. 571), zuSS3 letzt geändert durch Gesetz vom 1. Dezember Dienstkräfte 2010 (GVBl., S. 534) (1) Die Dienstkräfte der Verfassungsschutzabteilung haben neben den allgemeinen ERSTER ABSCHNITT Pflichten die sich aus dem Wesen des VerAufgaben und Befugnisse der fassungsschutzes und ihrer dienstlichen Verfassungsschutzbehörde Stellung ergebenden besonderen Pflichten. Sie haben sich jederzeit für den Schutz der freiheitlichen demokratischen SS1 Grundordnung im Sinne des GrundgesetZweck des Verfassungsschutzes zes und der Verfassung von Berlin einzuDer Verfassungsschutz dient dem Schutz der setzen. Die Funktion des Leiters der für freiheitlichen demokratischen Grundordnung, den Verfassungsschutz zuständigen Abdes Bestandes und der Sicherheit der Bundesteilung soll nur einer Person übertragen republik Deutschland und ihrer Länder. werden, die die Befähigung zum Richteramt besitzt. SS2 Organisation (2) Der Senat von Berlin kann jährlich bestimmen, in welchem Umfang Dienstkräf(1) Verfassungsschutzbehörde ist die Seten der Verfassungsschutzabteilung freie, natsverwaltung für Inneres. Die für den frei werdende und neu geschaffene StelVerfassungsschutz zuständige Abteilung len in der Hauptverwaltung für Zwecke nimmt ihre Aufgaben gesondert von der der Personalentwicklung vorbehalten für die Polizei zuständigen Abteilung werden. wahr. SS4 (2) Die für den Verfassungsschutz zustänZusammenarbeit dige Abteilung ist datenverarbeitende Stelle im Sinne des SS 4 Abs. 3 Nr. 1 des (1) Die Verfassungsschutzbehörde ist verBerliner Datenschutzgesetzes in der Faspflichtet, mit Bund und Ländern in sung vom 17. Dezember 1990 (GVBl. 1991 Angelegenheiten des VerfassungsS. 16, 54), das zuletzt durch Art. IX des schutzes zusammenzuarbeiten. Die ZuGesetzes vom 30. November 2000 (GVBl. sammenarbeit besteht insbesondere in S. 495) geändert worden ist. Die Übergegenseitiger Unterstützung und Inmittlung an andere Organisationseinformation sowie in der Unterhaltung heiten der Senatsverwaltung für Inneres gemeinsamer Einrichtungen (wie z. B. ist ungeachtet der fachund dienstaufdas nachrichtendienstliche Informasichtlichen Befugnisse zulässig, wenn tionssystem des Bundes und der Länder dies für die Aufgabenerfüllung nach SS 5 [NADIS] und die Schule für VerfassungsAbs. 1 erforderlich ist. schutz). Anhang 235 (2) Verfassungsschutzbehörden anderer gegen das friedliche ZusammenleLänder dürfen im Geltungsbereich dieben der Völker (Art. 26 Abs. 1 des ses Gesetzes nur im Einvernehmen, das Grundgesetzes) gerichtet sind. Bundesamt für Verfassungsschutz nur im (3) Die Verfassungsschutzbehörde wirkt auf Benehmen mit der VerfassungsschutzErsuchen der zuständigen öffentlichen behörde tätig werden. Stellen mit SS5 1. bei der Sicherheitsüberprüfung von Aufgaben der Verfassungsschutzbehörde Personen, denen im öffentlichen (1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die Interesse geheimhaltungsbedürftige Aufgabe, den Senat und das AbgeTatsachen, Gegenstände oder Erordnetenhaus von Berlin, andere zustänkenntnisse anvertraut werden, die dige staatliche Stellen und die ÖffentlichZugang dazu erhalten sollen oder keit über Gefahren für die freiheitliche ihn sich verschaffen können, demokratische Grundordnung, den Be2. bei der Sicherheitsüberprüfung von stand und die Sicherheit des Bundes und Personen, die an sicherheitsempder Länder zu unterrichten. Dadurch soll findlichen Stellen von lebensoder es den staatlichen Stellen insbesondere verteidigungswichtigen Einrichtunermöglicht werden, rechtzeitig die erforgen beschäftigt sind oder werden derlichen Maßnahmen zur Abwehr dieser sollen, Gefahren zu ergreifen. 3. bei technischen Sicherheits(2) Zur Erfüllung dieser Aufgaben sammelt maßnahmen zum Schutz von im und wertet die Verfassungsschutzbehöröffentlichen Interesse geheimde Informationen, insbesondere sachhaltungsbedürftigen Tatsachen, und personenbezogene Daten, AuskünfGegenständen oder Erkenntnissen te, Nachrichten und Unterlagen aus über gegen die Kenntnisnahme durch 1. Bestrebungen, die gegen die freiheitUnbefugte, liche demokratische Grundordnung, 4. bei aufenthaltsrechtlichen Verden Bestand oder die Sicherheit des fahren, Einbürgerungsverfahren, Bundes oder eines Landes gerichtet jagdund waffenrechtlichen Verfahsind oder eine ungesetzliche Beeinren sowie bei sonstigen gesetzlich trächtigung der Amtsführung der vorgeschriebenen Überprüfungen; Verfassungsorgane des Bundes oder die Mitwirkung ist nur zulässig, wenn eines Landes oder ihrer Mitglieder diese zum Schutz der freiheitlichen zum Ziele haben, demokratischen Grundordnung oder 2. sicherheitsgefährdende oder geheimfür Zwecke der öffentlichen Sicherdienstliche Tätigkeiten im Geltungsheit erforderlich ist; Näheres wird in bereich des Grundgesetzes für eine einer Verwaltungsvorschrift des Sefremde Macht, nators für Inneres im Benehmen mit dem Berliner Beauftragten für den 3. Bestrebungen im Geltungsbereich Datenschutz und für das Recht auf des Grundgesetzes, die durch AnAkteneinsicht bestimmt. wendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen Die Befugnisse der Verfassungsschutzbehörde auswärtige Belange der Bundesrebei der Mitwirkung nach Satz 1 Nr. 1 und 2 publik Deutschland gefährden oder sind im Berliner Sicherheitsüberprüfungsgese vom 2. März 1998 (GVBl. S. 26) geregelt. 236 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 SS6 4. die Ablösbarkeit der Regierung und Begriffsbestimmungen ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, (1) Bestrebungen im Sinne des SS 5 Abs. 2 Nr. 1 und 3 sind politisch motivierte, ziel5. die Unabhängigkeit der Gerichte, und zweckgerichtete Verhaltensweisen 6. der Ausschluss jeder Gewaltund oder Betätigungen von Organisationen, Willkürherrschaft und Personenzusammenschlüssen ohne feste hierarchische Organisationsstrukturen 7. die im Grundgesetz konkretisierten (unorganisierte Gruppen) oder EinzelperMenschenrechte. sonen gegen die in SS 5 Abs. 2 bezeichneten Schutzgüter. Für eine Organisation (3) Im Sinne dieses Gesetzes sind oder eine unorganisierte Gruppe handelt, 1. Bestrebungen gegen den Bestand des wer sie in ihren Bestrebungen nachBundes oder eines Landes solche, die drücklich unterstützt. Verhaltensweisen darauf gerichtet sind, die Freiheit von Einzelpersonen, die nicht in einer des Bundes oder eines Landes von oder für eine Organisation oder in einer fremder Herrschaft aufzuheben, ihre oder für eine unorganisierte Gruppe hanstaatliche Einheit zu beseitigen oder deln, sind Bestrebungen im Sinne dieses ein zu ihm gehörendes Gebiet abGesetzes, wenn sie auf Anwendung von zutrennen, Gewalt gerichtet sind oder aufgrund ihrer Wirkungsweise geeignet sind, ein 2. Bestrebungen gegen die Sicherheit Schutzgut dieses Gesetzes erheblich zu des Bundes oder eines Landes solche, beschädigen. die darauf gerichtet sind, den Bund, die Länder oder deren Einrichtungen (2) Bestrebungen im Sinne dieses Gein ihrer Funktionsfähigkeit erhebsetzes, die gegen die freiheitliche demolich zu beeinträchtigen. kratische Grundordnung gerichtet sind, sind solche, die auf die Beseitigung (4) Auswärtige Belange im Sinne des SS 5 oder Außerkraftsetzung wesentlicher Abs. 2 Nr. 3 werden nur gefährdet, Verfassungsgrundsätze abzielen. Hierzu wenn innerhalb des Geltungsbereichs gehören: des Grundgesetzes Gewalt ausgeübt oder durch Handlungen vorbereitet wird und 1. das Recht des Volkes, die Staatsgediese sich gegen die politische Ordnung walt in Wahlen und Abstimmungen oder Einrichtungen anderer Staaten richund durch besondere Organe der ten. Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausSS7 zuüben und die Volksvertretung in Voraussetzung und Rahmen für die Tätigkeit allgemeiner, unmittelbarer, freier, der Verfassungsschutzbehörde gleicher und geheimer Wahl zu wählen, (1) Soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, darf die Verfassungsschutzbehör2. die Bindung der Gesetzgebung an de bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben die verfassungsmäßige Ordnung nach SS 5 Abs. 2 nur tätig werden, wenn und die Bindung der vollziehenden im Einzelfall tatsächliche Anhaltspunkte Gewalt und der Rechtsprechung an für den Verdacht der dort genannten Gesetz und Recht, Bestrebungen oder Tätigkeiten vorliegen. 3. das Recht auf Bildung und Aus(2) Die Verfassungsschutzbehörde darf für übung einer parlamentarischen die Prüfung, ob die Voraussetzungen des Opposition, Absatzes 1 vorliegen, die dazu erforderlichen personenbezogenen Daten aus Anhang 237 allgemein zugänglichen Quellen erheben, lung personenbezogener Daten darf nur speichern und nutzen. Eine Speicherung diejenigen personenbezogenen Daten dieser Daten im nachrichtendienstlichen enthalten, die für die Erteilung der AusInformationssystem (NADIS) oder in ankunft unerlässlich sind. Schutzwürdige deren Verbunddateien ist nicht zulässig. Interessen des Betroffenen dürfen nur im Eine Speicherung der nach Satz 1 erhobeunvermeidbaren Umfang beeinträchtigt nen personenbezogenen Daten in Akten werden. und Dateien über den Ablauf eines Jah(2) Die Verfassungsschutzbehörde darf res seit der Speicherung hinaus ist nur zur heimlichen Informationsbeschafzulässig, wenn spätestens von diesem fung, insbesondere zur Erhebung Zeitpunkt an die Voraussetzungen des personenbezogener Daten, nur in Absatzes 1 vorliegen. Dasselbe gilt für begründeten Fällen folgende nachrichdas Anlegen personenbezogener Akten. tendienstliche Mittel anwenden: (3) Zur Erfüllung ihrer Aufgaben darf die 1. Einsatz von Vertrauensleuten, sonsVerfassungsschutzbehörde nur die dazu tigen geheimen Informanten, zum erforderlichen Maßnahmen ergreifen; Zweck der Spionageabwehr überwordies gilt insbesondere für die Erhebung benen Agenten, Gewährspersonen und Verarbeitung personenbezogener und verdeckten Ermittlern, Informationen. Von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen hat sie die2. Observation, jenige auszuwählen, die den einzelnen, insbesondere in seinen Grundrechten, 3. Bildaufzeichnungen (Fotografieren, und die Allgemeinheit voraussichtlich Videografieren und Filmen), am wenigsten beeinträchtigt. Eine Maß4. verdeckte Ermittlungen und Befranahme hat zu unterbleiben, wenn sie eigungen, nen Nachteil herbeiführt, der erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten 5. Mithören ohne Inanspruchnahme Erfolg steht. Sie ist nur solange zulässig, technischer Mittel, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, 6. Mithören und Aufzeichnen des nicht dass er nicht erreicht werden kann. öffentlich gesprochenen Wortes un(4) Soweit in diesem Gesetz besondere Einter Einsatz technischer Mittel, griffsbefugnisse das Vorliegen gewalttäti7. Beobachtungen des Funkverkehrs ger Bestrebungen oder darauf gerichtete auf nicht für den allgemeinen EmpVorbereitungshandlungen voraussetzen, fang bestimmten Kanälen sowie die ist Gewalt die Anwendung körperlichen Sichtbarmachung, Beobachtung, Zwanges gegen Personen oder eine nicht Aufzeichnung und Entschlüsselung unerhebliche Einwirkung auf Sachen. von Signalen in Kommunikationssystemen, SS8 Befugnisse der Verfassungsschutzbehörde 8. Verwendung fingierter biografischer, beruflicher oder gewerblicher (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf die Angaben (Legenden), zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen Informationen einschließlich 9. Beschaffung, Erstellung und Verwenpersonenbezogener Daten verarbeiten dung von Tarnpapieren und Tarnund bei Behörden, sonstigen öffentlichen kennzeichen, Stellen sowie nicht öffentlichen Stellen, insbesondere bei Privatpersonen, erheben, soweit die Bestimmungen dieses Gesetzes dies zulassen. Ein Ersuchen der Verfassungsschutzbehörde um Übermitt- 238 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 10. Überwachung des Brief-, Post-, und 3. auf diese Weise die zur Erforschung Fernmeldeverkehrs nach Maßgabe von Bestrebungen oder Tätigkeiten des Art. 10-Gesetzes, vom 26. Juni nach SS 5 Abs. 2 erforderlichen Quel2001 (BGBl. I S. 1254, 2298), zulen erschlossen werden können oder letzt geändert durch Art. 5 Abs. 1 4. dies zum Schutz der Dienstkräfte, Eindes Gesetzes vom 22. August 2002 richtungen, Gegenstände und Quel(BGBl. I S. 3390), len der Verfassungsschutzbehörde 11. Einsatz von weiteren vergleichgegen sicherheitsgefährdende oder baren Methoden, Gegenständen geheimdienstliche Tätigkeiten erforund Instrumenten zur heimlichen derlich ist. Informationsbeschaffung, insbeDatenerhebungen nach Satz 1 Nr. 2 dürfen sondere das sonstige Eindringen sich gegen andere als die in SS 6 Abs. 1 Satz 2 in technische Kommunikationsund 3 genannten Personen nur richten, soweit beziehungen durch Bild-, Ton-, und dies zur Gewinnung von Erkenntnissen unerDatenaufzeichnungen; dem Einsatz lässlich ist. derartiger Methoden, Gegenstände und Instrumente hat der Aus(4) Die Erhebung nach Absatz 2 ist unzuschuss für Verfassungsschutz des lässig, wenn die Erforschung des SachAbgeordnetenhauses von Berlin verhalts auf andere, die betroffene Pervorab seine Zustimmung zu erteison weniger beeinträchtigende Weise len. möglich ist; eine geringere Beeinträchtigung ist in der Regel anzunehmen, wenn Personen, die berechtigt sind, in Strafsachen die Informationen aus allgemein zugängaus beruflichen Gründen das Zeugnis zu verlichen Quellen oder durch eine Auskunft weigern (SSSS 53 und 53a der Strafprozessnach SS 27 gewonnen werden können. Die ordnung), darf die VerfassungsschutzbehörAnwendung eines Mittels gemäß Absatz de nicht von sich aus nach Satz 1 Nr. 1 zur 2 soll erkennbar im Verhältnis zur BedeuBeschaffung von Informationen in Anspruch tung des aufzuklärenden Sachverhalts nehmen, auf die sich ihr Zeugnisverweigestehen. Der Einsatz nachrichtendienstrungsrecht bezieht. Die Behörden des Landes licher Mittel nach Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 Berlin sind verpflichtet, der Verfassungsschutzund 7 ist grundsätzlich nur zur Inforbehörde technische Hilfe für Tarnungsmaßmationsbeschaffung über Bestrebungen nahmen zu geben. gegen die freiheitliche demokratische (3) Die Verfassungsschutzbehörde darf InforGrundordnung zulässig, wenn diese Bemationen einschließlich personenbezostrebung die Anwendung von Gewalt gener Daten mit den Mitteln gemäß Abbilligen oder sich in aktiv kämpferischer, satz 2 erheben, wenn aggressiver Weise betätigen. Die Maßnahme ist unverzüglich zu beenden, wenn 1. sich ihr Einsatz gegen Organisatiihr Zweck erreicht ist oder sich Anhaltsonen, unorganisierte Gruppen, in punkte dafür ergeben, dass er nicht oder ihnen oder einzeln tätige Personen nicht auf diese Weise erreicht werden richtet, bei denen tatsächliche kann. Daten, die für das Verständnis der Anhaltspunkte für den Verdacht der zu speichernden Informationen nicht Bestrebungen oder Tätigkeiten nach erforderlich sind, sind unverzüglich SS 5 Abs. 2 bestehen, zu löschen. Die Löschung kann unter2. auf diese Weise Erkenntnisse über bleiben, wenn die Informationen von gewalttätige Bestrebungen oder anderen, die zur Erfüllung der Aufgaben geheimdienstliche Tätigkeiten geerforderlich sind, nicht oder nur mit unwonnen werden können, vertretbarem Aufwand getrennt werden können; in diesem Fall dürfen die Daten nicht verwertet werden. Anhang 239 (5) Die näheren Voraussetzungen für die Maßnahmen nach den Sätzen 1 bis 3 Anwendung der Mittel nach Absatz 2 dürfen nur aufgrund richterlicher Ansind in einer Verwaltungsvorschrift des ordnung getroffen werden. Bei Gefahr im Senators für Inneres zu regeln, die auch Verzuge kann die Maßnahme auch durch die Zuständigkeit für die Anordnung solden Senator für Inneres, der im Verhindecher Informationsbeschaffung regelt. Die rungsfall durch den zuständigen StaatsVerwaltungsvorschrift ist dem Ausschuss sekretär vertreten wird, angeordnet werfür Verfassungsschutz des Abgeordnetenden; eine richterliche Entscheidung ist hauses von Berlin vorab zur Kenntnis zu unverzüglich nachzuholen. geben. (2) Die Anordnung ist auf höchstens drei (6) Für die Speicherung und Löschung der Monate zu befristen. Verlängerungen durch Maßnahmen nach Absatz 2 erum jeweils nicht mehr als drei weitere langten personenbezogenen Daten gilt Monate sind auf Antrag zulässig, soweit SS 4 Abs. 1 des Art. 10-Gesetzes entspredie Voraussetzungen der Anordnung fortchend. bestehen. Liegen die Voraussetzungen der Anordnung nicht mehr vor oder ist (7) Polizeiliche Befugnisse stehen der Verfasder verdeckte Einsatz technischer Mittel sungsschutzbehörde nicht zu; sie darf die zur Informationsgewinnung nicht mehr Polizei auch nicht im Wege der Amtshilfe erforderlich, ist die Maßnahme unverum Maßnahmen ersuchen, zu denen sie züglich zu beenden. Der Vollzug der selbst nicht befugt ist. Anordnung erfolgt unter Aufsicht eines (8) Die Verfassungsschutzbehörde ist an die Bediensteten der Verfassungsschutzallgemeinen Rechtsvorschriften gebunbehörde, der die Befähigung zum Richden (Art. 20 des Grundgesetzes). teramt hat. (3) Sind technische Mittel ausschließlich SS9 zum Schutze der bei einem Einsatz in Einsatz technischer Mittel zur Überwachung Wohnungen tätigen Personen vorgesevon Wohnungen hen, kann die Maßnahme durch den Sena(1) Das in einer Wohnung nicht öffentlich tor für Inneres, der im Verhinderungsfall gesprochene Wort darf mit technischen durch den zuständigen Staatssekretär Mitteln ausschließlich bei der Wahrnehvertreten wird, angeordnet werden. Eine mung der Aufgaben auf dem Gebiet der anderweitige Verwertung der hierbei erSpionageabwehr und des gewaltbereiten langten Erkenntnisse zum Zwecke der politischen Extremismus heimlich mitGefahrenabwehr ist nur zulässig, wenn gehört oder aufgezeichnet werden. Eine zuvor die Rechtmäßigkeit der Maßnahme solche Maßnahme ist nur zulässig, wenn richterlich festgestellt worden ist; bei sie im Einzelfall zur Abwehr einer drinGefahr im Verzuge ist die richterliche genden Gefahr für die öffentliche SicherEntscheidung unverzüglich nachzuholen. heit, insbesondere einer gemeinen Gefahr (4) Zuständig für richterliche Entscheidunoder einer Lebensgefahr für einzelne Pergen nach den Absätzen 1 und 3 ist das sonen, unerlässlich ist, ein konkreter VerAmtsgericht Tiergarten. Für das Verfahdacht in Bezug auf eine Gefährdung der ren gelten die Vorschriften des Gesetzes vorstehenden Rechtsgüter besteht und über die Angelegenheiten der freiwilligen der Einsatz anderer Methoden und Mittel Gerichtsbarkeit entsprechend. zur heimlichen Informationsbeschaffung keine Aussicht auf Erfolg bietet. Die Sät(5) Der Senat unterrichtet die Kommission ze 1 und 2 gelten entsprechend für einach SS 2 des Gesetzes zur Ausführung nen verdeckten Einsatz technischer Mitdes Art. 10-Gesetzes in der Fassung vom tel zur Anfertigung von Bildaufnahmen 25. Juni 2001 (GVBl. S. 251), das zuletzt und Bildaufzeichnungen in Wohnungen. durch Art. 1 des Gesetzes vom 5. Dezem- 240 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 ber 2003 (GVBl. S. 571) geändert worden SS 10 ist, unverzüglich, möglichst vorab, und Registereinsicht durch die Verfassungsumfassend über den Einsatz technischer schutzbehörde Mittel nach Absatz 1 und, soweit richter(1) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur lich überprüfungsbedürftig, nach Absatz Aufklärung 3. SS 3 des Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz gilt ent- * von sicherheitsgefährdenden oder sprechend. geheimdienstlichen Tätigkeiten für eine fremde Macht oder (6) Eine Maßnahme nach den Absätzen 1 und 3 ist nach ihrer Beendigung der be- * von Bestrebungen, die durch Anwentroffenen Person mitzuteilen, sobald eine dung von Gewalt oder darauf gerichGefährdung des Zwecks der Maßnahme tete Vorbereitungshandlungen gemit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr gen die freiheitliche demokratische zu erwarten ist. Die durch Maßnahmen Grundordnung, den Bestand oder im Sinne des Satzes 1 erhobenen Infordie Sicherheit des Bundes oder eines mationen dürfen nur nach Maßgabe des Landes gerichtet sind oder SS 4 Abs. 1 des Art. 10-Gesetzes verwendet werden. * von Bestrebungen, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichSS 9a tete Vorbereitungshandlungen ausEingriffe, die in ihrer Art und Schwere einer wärtige Belange der Bundesrepublik Beschränkung des Brief-, Postund FernmelDeutschland gefährden, degeheimnisses gleichkommen von öffentlichen Stellen geführte Register, (1) Ein Eingriff, der in seiner Art und Schwere z. B. Melderegister, Personalausweisregister, einer Beschränkung des Brief-, Postund Passregister, Führerscheinkarteien, WaffenFernmeldegeheimnisses gleichkommt scheinkarteien, einsehen. und nicht den Regelungen des SS 9 un(2) Eine solche Einsichtnahme ist nur zuterliegt, wozu insbesondere das Abhören lässig, wenn und Aufzeichnen des nicht öffentlich gesprochenen Wortes mit dem verdeckten 1. die Aufklärung auf andere Weise Einsatz technischer Mittel gehört, bedarf nicht möglich erscheint, insbesondeder Anordnung durch den Senator für re durch eine Übermittlung der DaInneres, der im Verhinderungsfall durch ten durch die registerführende Stelle den zuständigen Staatssekretär vertreten der Zweck der Maßnahme gefährdet wird. würde, und (2) Die SSSS 2 und 3 des Gesetzes zur Aus2. die betroffene Person durch eine anführung des Gesetzes zu Art. 10 Grundderweitige Aufklärung unverhältnisgesetz gelten entsprechend. mäßig beeinträchtigt würde, und (3) SS 9 Abs. 6 gilt entsprechend. 3. eine besondere gesetzliche Geheimhaltungsvorschrift oder ein Berufsgeheimnis der Einsichtnahme nicht entgegensteht. (3) Die Anordnung für die Maßnahme nach Absatz 1 trifft der Leiter der Verfassungsschutzabteilung, im Falle der Verhinderung der Vertreter. Anhang 241 (4) Die auf diese Weise gewonnenen Erkennt3. dies zur Schaffung oder Erhaltung nisse dürfen nur zu den in Absatz 1 genachrichtendienstlicher Zugänge nannten Zwecken verwendet werden. Geüber Bestrebungen oder Tätigkeiten speicherte Informationen sind zu löschen nach SS 5 Abs. 2 erforderlich ist oder und Unterlagen zu vernichten, sobald sie 4. dies zum Schutz der Dienstkräfte, Einfür diese Zwecke nicht mehr benötigt richtungen, Gegenstände und Quelwerden. len der Verfassungsschutzbehörde (5) Über die Einsichtnahme ist ein gegegen sicherheitsgefährdende oder sonderter Nachweis zu führen, aus dem geheimdienstliche Tätigkeiten erforihr Zweck, die in Anspruch genommene derlich ist oder Stelle, die Namen der Betroffenen, de5. sie auf Ersuchen der zuständigen ren Daten für eine weitere Verwendung Stelle nach SS 5 Abs. 3 tätig wird. erforderlich sind, sowie der Zeitpunkt der Einsichtnahme hervorgehen. Diese In Akten dürfen über Satz 1 Nr. 2 hinaus perAufzeichnungen sind gesondert aufzusonenbezogene Daten auch gespeichert, verbewahren, durch technische und organiändert und genutzt werden, wenn dies sonst satorische Maßnahmen zu sichern und, zur Erforschung und Bewertung von Bestresoweit sie für die Aufgabenerfüllung der bungen nach SS 5 Abs. 2 zwingend erforderlich Verfassungsschutzbehörde nach SS 5 Abs. ist. 2 nicht mehr benötigt werden, am Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr der Er(2) In Dateien gespeicherte Informatistellung folgt, zu vernichten. onen müssen durch Aktenrückhalt belegbar sein. (3) In Dateien ist die Speicherung von InforZWEITER ABSCHNITT mationen aus der Intimsphäre der betrofDatenverarbeitung fenen Person unzulässig. SS 11 SS 12 Speicherung, Veränderung und Nutzung Speicherung, Veränderung und Nutzung personenbezogener Informationen personenbezogener Informationen von Minderjährigen (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur Erfüllung ihrer Aufgaben rechtmäßig Die Speicherung personenbezogener Informaerhobene personenbezogene Informatitionen über Minderjährige, die das 14. Lebensonen speichern, verändern und nutzen, jahr nicht vollendet haben, ist unzulässig. wenn SS 13 1. tatsächliche Anhaltspunkte für Speicherungsdauer Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 vorliegen oder (1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die Speicherungsdauer auf das für ihre 2. dies für die Erforschung oder BewerAufgabenerfüllung erforderliche Maß zu tung von gewalttätigen Bestrebunbeschränken. Die in Dateien gespeichergen oder geheimdienstlichen Tätigten Informationen sind bei der Einzelkeiten nach SS 5 Abs. 2 erforderlich fallbearbeitung, spätestens aber fünf ist oder Jahre nach Speicherung der letzten Information, auf ihre Erforderlichkeit zu überprüfen. Sofern die Informationen Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 Nr. 1 oder 3 betreffen, sind sie spätestens zehn Jahre nach der zuletzt gespeicherten relevanten Information zu löschen. 242 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 (2) Sind Informationen über Minderjährige wahrung zur Wahrung schutzwürdiger in Dateien oder in Akten, die zu ihrer Interessen der betroffenen Person notPerson geführt werden, gespeichert, ist wendig ist. Die Vernichtung unterbleibt, nach zwei Jahren die Erforderlichkeit wenn die Unterlagen von anderen, die der Speicherung zu überprüfen und späzur Erfüllung der Aufgaben erforderlich testens nach fünf Jahren die Löschung sind, nicht oder nur mit unvertretbarem vorzunehmen, es sei denn, dass nach Aufwand getrennt werden können. Eintritt der Volljährigkeit weitere Er(5) Personenbezogene Informationen, kenntnisse nach SS 5 Abs. 2 angefallen die ausschließlich zu Zwecken der sind, die zur Erfüllung der Aufgaben im Datenschutzkontrolle, der DatensiSinne dieses Gesetzes eine Fortdauer cherung oder zur Sicherstellung eider Speicherung rechtfertigen. nes ordnungsgemäßen Betriebes einer SS 14 Datenverarbeitungsanlage gespeichert Berichtigung, Löschung und Sperrung persowerden, dürfen nur für diese Zwecke und nenbezogener Informationen in Dateien zur Verfolgung der in der jeweiligen Fassung des Berliner Datenschutzgesetzes (1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die als Straftaten bezeichneten Handlungen in Dateien gespeicherten personenbezoverwendet werden. genen Informationen zu berichtigen, wenn sie unrichtig sind; sie sind zu erSS 15 gänzen, wenn sie unvollständig sind und Berichtigung und Sperrung personenbezogedadurch schutzwürdige Interessen der ner Informationen in Akten betroffenen Person beeinträchtigt sein (1) Stellt die Verfassungsschutzbehörde fest, können. dass in Akten gespeicherte personenbe(2) Die Verfassungsschutzbehörde hat die zogene Informationen unrichtig sind, in Dateien gespeicherten personenbezooder wird ihre Richtigkeit von dem Begenen Informationen zu löschen, wenn troffenen bestritten, so ist dies in der ihre Speicherung irrtümlich erfolgt war, Akte zu vermerken oder auf sonstige unzulässig war oder ihre Kenntnis für Weise festzuhalten. die Aufgabenerfüllung nicht mehr erfor(2) Die Verfassungsschutzbehörde hat persoderlich ist und schutzwürdige Interessen nenbezogene Informationen in Akten zu der betroffenen Person nicht beeinsperren, wenn sie im Einzelfall feststellt, trächtigt werden. dass ohne die Sperrung schutzwürdi(3) Die Verfassungsschutzbehörde hat die ge Interessen von Betroffenen beeinin Dateien gespeicherten personenbezoträchtigt würden und die Daten für ihre genen Informationen zu sperren, wenn Aufgabenerfüllung nicht mehr erforderdie Löschung unterbleibt, weil Grund zu lich sind. Gesperrte Informationen sind der Annahme besteht, dass durch die Lömit einem entsprechenden Vermerk zu schung schutzwürdige Interessen der beversehen; sie dürfen nicht mehr genutzt troffenen Person beeinträchtigt würden; oder übermittelt werden. Eine Aufhegesperrte Informationen sind entsprebung der Sperrung ist möglich, wenn ihre chend zu kennzeichnen und dürfen nur Voraussetzungen nachträglich entfallen. mit Einwilligung der betroffenen Person verwendet werden. SS 16 Dateianordnungen (4) In Dateien gelöschte Informationen sind gesperrt. Unterlagen sind zu vernichten, (1) Für jede automatisierte Datei der Verwenn sie zur Erfüllung der Aufgaben fassungsschutzbehörde sind in einer nach SS 5 nicht oder nicht mehr erforderDateianordnung im Benehmen mit lich sind, es sei denn, dass ihre Aufbedem Berliner Beauftragten für den Anhang 243 Datenschutz und für das Recht auf würdigen und der Informationsübermittlung Akteneinsicht festzulegen: zugrunde zu legen. Erkennbar unvollständige Informationen sind vor der Übermittlung im 1. Bezeichnung der Datei, Rahmen der Verhältnismäßigkeit durch Ein2. Zweck der Datei, holung zusätzlicher Auskünfte zu vervollständigen. 3. Inhalt, Umfang, Voraussetzungen der Speicherungen, Übermittlung SS 19 und Nutzung (betroffener PersonenInformationsübermittlung zwischen kreis, Arten der Daten), den Verfassungsschutzbehörden 4. Eingabeberechtigung, Die Verfassungsschutzbehörde unterrichtet das Bundesamt für Verfassungsschutz 5. Zugangsberechtigung, und die Verfassungsschutzbehörden der 6. Überprüfungsfristen, SpeicherungsLänder über alle Angelegenheiten, deren dauer, Kenntnis zur Erfüllung der Aufgaben der empfangenden Stellen erforderlich ist. 7. Protokollierung, 8. Datenverarbeitungsgeräte und BeSS 20 triebssystem, Informationsübermittlung an den Bundesnachrichtendienst und den 9. Inhalt und Umfang von TextzusätMilitärischen Abschirmdienst zen, die der Erschließung von Akten dienen. Die Verfassungsschutzbehörde übermittelt dem Bundesnachrichtendienst und dem Mili(2) Die Verfassungsschutzbehörde hat in tärischen Abschirmdienst die ihr bekannt angemessenen Abständen die Notwengewordenen Informationen einschließlich digkeit der Weiterführung oder Änderung personenbezogener Daten, wenn tatsächliihrer Dateien zu prüfen. che Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Übermittlung für die Erfüllung der Aufgaben SS 17 der empfangenden Stellen erforderlich ist. Gemeinsame Dateien Handelt die Verfassungsschutzbehörde auf Bundesgesetzliche Vorschriften über Ersuchen, so ist sie zur Übermittlung nur die Datenverarbeitung in gemeinsamen verpflichtet und berechtigt, wenn sich die Dateien der Verfassungsschutzbehörden Voraussetzungen aus den Angaben der ersudes Bundes und der Länder bleiben unchenden Behörde ergeben. berührt. SS 21 Informationsübermittlung an StrafverfolDRITTER ABSCHNITT gungsbehörden in Angelegenheiten des Staatsund Verfassungsschutzes Informationsübermittlung Die Verfassungsschutzbehörde übermittelt den SS 18 Staatsanwaltschaften und, vorbehaltlich der Grundsätze bei der Informationsübermittstaatsanwaltlichen Sachleitungsbefugnis, den lung durch die Verfassungsschutzbehörde Polizeibehörden des Landes die ihr bekannt gewordenen Informationen einschließlich Die Übermittlung von personenbezogenen personenbezogener Daten, wenn tatsächliche Informationen ist aktenkundig zu machen. Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die ÜberIn der entsprechenden Datei ist die Informamittlung zur Verhinderung oder Verfolgung tionsübermittlung zu vermerken. Vor der von Straftaten, die im Zusammenhang mit Informationsübermittlung ist der Akteninhalt Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 5 Abs. im Hinblick auf den Übermittlungszweck zu 2 stehen, erforderlich ist. 244 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 SS 22 Nachweise sind gesondert aufzubewahren, geÜbermittlung von Informationen an den gen unberechtigten Zugriff zu sichern und am öffentlichen Bereich Ende des Kalenderjahres, das dem Jahr seiner Erstellung folgt, zu vernichten. Der Empfän(1) Die im Rahmen der gesetzlichen Aufger darf die übermittelten personenbezogenen gabenerfüllung gewonnenen, nicht Informationen nur für den Zweck verwenden, personenbezogenen Erkenntnisse der zu dem sie ihm übermittelt wurden. Der EmpVerfassungsschutzbehörde können an anfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung dere Behörden und Stellen, insbesondere und darauf hinzuwiesen, dass die Verfassungsan die Polizei und die Staatsanwaltschaft, schutzbehörde sich vorbehält, um Auskunft übermittelt werden, wenn sie für die über die vorgenommene Verwendung der Aufgabenerfüllung der empfangenden Informationen zu bitten. Stellen erforderlich sein können. (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf SS 24 personenbezogene Informationen an Übermittlung von Informationen an die inländische Behörden und juristiStationierungsstreitkräfte sche Personen des öffentlichen Rechts Die Verfassungsschutzbehörde darf personenübermitteln, wenn dies zur Erfülbezogene Informationen an Dienststellen der lung ihrer Aufgaben erforderlich ist Stationierungsstreitkräfte übermitteln, sooder der Empfänger die Informationen weit die Bundesrepublik Deutschland dazu im zum Schutz vor Bestrebungen oder Rahmen von Art. 3 des Zusatzabkommens zu Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 oder zur dem Abkommen zwischen den Parteien des Strafverfolgung benötigt oder nach SS 5 Nordatlantikpaktes über die Rechtsstellung Abs. 3 tätig wird. ihrer Truppen hinsichtlich der in der Bundes(3) Die empfangende Stelle von Informarepublik Deutschland stationierten ausläntionen nach Absatz 2 ist darauf hindischen Streitkräfte vom 3. August 1959 zuweisen, dass sie die übermittelten (BGBl. 1961 II S. 1183) verpflichtet ist. Die personenbezogenen Informationen Übermittlung ist aktenkundig zu machen. nur zu dem Zweck verwenden darf, zu Der Empfänger ist darauf hinzuweisen, dass dessen Erfüllung sie ihr übermittelt die übermittelten Informationen nur zu dem wurden. Zweck verwendet werden dürfen, zu dem sie ihm übermittelt wurden. SS 23 Übermittlung von Informationen an PersoSS 25 nen und Stellen außerhalb des Übermittlung von Informationen an öffentlichen Bereichs öffentliche Stellen außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes Personenbezogene Informationen dürfen an Personen oder Stellen außerhalb des öffentliDie Verfassungsschutzbehörde darf personenchen Bereichs nicht übermittelt werden, es sei bezogene Informationen an ausländische denn, dass dies zum Schutz der freiheitlichen öffentliche Stellen sowie an überoder demokratischen Grundordnung, des Bestanzwischenstaatliche Stellen übermitteln, des oder der Sicherheit des Bundes oder eines wenn die Übermittlung zur Erfüllung ihrer Landes erforderlich ist und der Senator für Aufgaben oder zur Wahrung erheblicher SiInneres, der im Verhinderungsfall durch den cherheitsinteressen des Empfängers erforzuständigen Staatssekretär vertreten wird, im derlich ist. Die Übermittlung unterbleibt, Einzelfall seine Zustimmung erteilt hat. Die wenn auswärtige Belange der Bundesrepublik Verfassungsschutzbehörde führt über die AusDeutschland oder überwiegende schutzwürkunft nach Satz 1 einen Nachweis, aus dem dige Interessen der betroffenen Person entder Zweck der Übermittlung, die Aktenfundgegenstehen. Die Übermittlung ist nur im stelle und der Empfänger hervorgehen; die Einvernehmen mit dem Bundesamt für Verfas- Anhang 245 sungsschutz zulässig. Sie ist aktenkundig zu die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erformachen. Der Empfänger ist darauf hinzuweiderlichen Informationen einschließlich sen, dass die übermittelten personenbezogepersonenbezogener Daten übermittelt, nen Informationen nur zu dem Zweck verwenwenn die Informationen nicht aus alldet werden dürfen, zu dem sie ihm übermittelt gemein zugänglichen Quellen oder nur wurden, und die Verfassungsschutzbehörde mit unverhältnismäßigem Aufwand oder sich vorbehält, um Auskunft über die vorgenur durch eine den Betroffenen stärker nommene Verwendung der Informationen zu belastende Maßnahme erhoben werden bitten. können. Es dürfen nur die Informationen übermittelt werden, die bei der ersuchten SS 26 Behörde bereits bekannt sind. Unterrichtung der Öffentlichkeit (3) Die Verfassungsschutzbehörde braucht Die Verfassungsschutzbehörde unterrichtet Ersuchen nicht zu begründen, soweit die Öffentlichkeit mindestens einmal jährlich dies dem Schutz der betroffenen Person über Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 5 dient oder eine Begründung den Zweck Abs. 2. Dabei ist die Übermittlung von perder Maßnahme gefährden würde. sonenbezogenen Informationen nur zulässig, wenn die Bekanntgabe für das Verständnis des (4) Die Übermittlung personenbezogener InZusammenhanges oder der Darstellung von formationen, die aufgrund einer MaßnahOrganisationen oder unorganisierten Gruppieme nach SS 100a der Strafprozessordnung rungen erforderlich ist und die Interessen der bekannt geworden sind, ist nur zulässig, Allgemeinheit an sachgemäßen Informationen wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür das schutzwürdige Interesse des Betroffenen bestehen, dass jemand eine der in SS 3 des überwiegen. Art. 10-Gesetzes genannten Straftaten plant, begeht oder begangen hat. Auf SS 27 die der Verfassungsschutzbehörde nach Übermittlung von Informationen an die Satz 1 übermittelten Informationen finVerfassungsschutzbehörde det SS 4 Abs. 6, auf die dazugehörenden Unterlagen findet SS 4 Abs. 1 Satz 2 des (1) Die Behörden des Landes und die sonArt. 10-Gesetzes entsprechende Anwenstigen der Aufsicht des Landes unterstedung. henden juristischen Personen des öffentlichen Rechts übermitteln von sich aus (5) Vorschriften zur Informationsübermittder Verfassungsschutzbehörde die ihnen lung an die Verfassungsschutzbehörde bekannt gewordenen Informationen, nach anderen Gesetzen bleiben unbeinsbesondere personenbezogene Daten, rührt. über Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2, die (6) Die Verfassungsschutzbehörde hat die durch Anwendung von Gewalt oder darübermittelten Informationen nach ihrem auf gerichtete Vorbereitungshandlungen Eingang unverzüglich darauf zu überverfolgt werden, und über geheimprüfen, ob sie zur Erfüllung ihrer in SS 5 dienstliche Tätigkeiten. Die Staatsgenannten Aufgaben erforderlich sind. anwaltschaften und, vorbehaltlich der Ergibt die Prüfung, dass sie nicht erforstaatsanwaltlichen Sachleitungsbefugnis, derlich sind, sind die Unterlagen unverdie Polizei übermitteln darüber hinaus züglich zu vernichten. Die Vernichtung auch andere im Rahmen ihrer Aufgabenunterbleibt, wenn die Trennung von anerfüllung bekannt gewordene Informaderen Informationen, die zur Erfüllung tionen über Bestrebungen im Sinne des der Aufgaben erforderlich sind, nicht SS 5 Abs. 2. oder nur mit unvertretbarem Aufwand (2) Die Verfassungsschutzbehörde kann von erfolgen kann; in diesem Fall sind die Injeder der in Absatz 1 genannten öfformationen gesperrt und entsprechend fentlichen Stellen verlangen, dass sie ihr zu kennzeichnen. 246 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 (7) Soweit andere gesetzliche Vorschrif(4) Die Verfassungsschutzbehörde darf im ten nicht besondere Regelungen über Einzelfall zur Beobachtung gewalttätidie Dokumentation treffen, haben die ger Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 Nr. 2 Verfassungsschutzbehörde und die überund 3 und wenn tatsächliche Anhaltsmittelnde Stelle die Informationsüberpunkte für Gefahren für Leib und Leben mittlung aktenkundig zu machen. vorliegen unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. 1 des Art. 10-Gesetzes SS 27a bei denjenigen, die geschäftsmäßig Übermittlung von Informationen durch Telekommunikationsdienste und Telenicht öffentliche Stellen an die dienste erbringen oder daran mitwirken, Verfassungsschutzbehörde unentgeltlich Auskünfte über Telekommunikationsverbindungsdaten und Tele(1) Die Verfassungsschutzbehörde darf dienstnutzungsdaten einholen. Die Ausim Einzelfall bei Kreditinstituten, kunft kann auch in Bezug auf zukünftige Finanzdienstleistungsinstituten und Telekommunikation und zukünftige NutFinanzunternehmen unentgeltlich Auszung von Telediensten verlangt werden. künfte zu Konten, Kontoinhabern und Telekommunikationsverbindungsdaten sonstigen Berechtigten sowie weiteren und Teledienstnutzungsdaten sind: am Zahlungsverkehr Beteiligten und zu Geldbewegungen und Geldanlagen einho1. Berechtigungskennungen, Kartenlen, wenn dies zur Beobachtung gewaltnummern, Standortkennung sowie tätiger Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 Nr. Rufnummer oder Kennung des anru- 2 und 3 erforderlich ist und tatsächliche fenden und angerufenen AnschlusAnhaltspunkte für Gefahren für Leib und ses oder der Endeinrichtung, Leben vorliegen. 2. Beginn und Ende der Verbindung (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf im nach Datum und Uhrzeit, Einzelfall zur Beobachtung gewalttätiger Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3. Angaben über die Art der vom 3 und wenn tatsächliche Anhaltspunkte Kunden in Anspruch genommenen für Gefahren für Leib und Leben vorlieTelekommunikationsund Telegen unter den Voraussetzungen des SS 3 dienst-Dienstleistungen, Abs. 1 des Art. 10-Gesetzes bei Perso4. Endpunkte festgeschalteter Verbinnen und Unternehmen, die geschäftsdungen, ihr Beginn und ihr Ende mäßig Postdienstleistungen erbringen, nach Datum und Uhrzeit. sowie bei denjenigen, die an der Erbringung dieser Dienstleistungen mitwirken, (5) Auskünfte nach den Abs. 1 bis 4 dürfen unentgeltlich Auskünfte zu Namen, nur auf Antrag eingeholt werden. Der AnAnschriften, Postfächern und sonstigen trag ist von der Leitung der VerfassungsUmständen des Postverkehrs einholen. schutzabteilung, im Falle ihrer Verhinderung von ihrem Vertreter schriftlich zu (3) Die Verfassungsschutzbehörde darf im stellen und zu begründen. Über den AnEinzelfall bei Luftfahrtunternehmen trag entscheidet der Senator für Inneres, unentgeltlich Auskünfte zu Namen, Anim Fall seiner Verhinderung der Staatsseschriften und zur Inanspruchnahme von kretär. Die Senatsverwaltung für Inneres Transportleistungen und sonstigen Umunterrichtet die Kommission nach SS 2 des ständen des Luftverkehrs einholen, wenn Gesetzes zur Ausführung des Art. 10-Gedies zur Beobachtung gewalttätiger Besetzes über die beschiedenen Anträge vor strebungen nach SS 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3 deren Vollzug. Bei Gefahr in Verzug kann erforderlich ist und tatsächliche Anhaltsder Senator für Inneres, im Falle seiner punkte für Gefahren für Leib und Leben Verhinderung der Staatssekretär den Vollvorliegen. zug der Entscheidung auch bereits vor Anhang 247 der Unterrichtung der Kommission anSS 28 ordnen. Die Kommission prüft von Amts Übermittlungsverbote wegen oder aufgrund von Beschwerden Die Übermittlung von Informationen nach den die Zulässigkeit und Notwendigkeit der Vorschriften dieses Abschnitts unterbleibt, Einholung von Auskünften. SS 15 Abs. wenn 5 des Art. 10-Gesetzes ist mit der Maßgabe entsprechend anzuwenden, dass die 1. eine Prüfung durch die übermittelnde Kontrollbefugnis der Kommission sich Stelle ergibt, dass die Informationen zu auf die gesamte Erhebung, Verarbeitung löschen oder für die empfangende Stelle und Nutzung der nach den Abs. 1 bis 4 nicht mehr bedeutsam sind, erlangten personenbezogenen Daten erstreckt. Entscheidungen über Auskünfte, 2. überwiegende Sicherheitsinteressen dies die die Kommission für unzulässig oder erfordern, nicht notwendig erklärt, hat die Se3. für die übermittelnde Stelle erkennbar natsverwaltung für Inneres unverzüglich ist, dass unter Berücksichtigung der aufzuheben. Für die Verarbeitung der Art der Informationen und ihrer Erhenach den Abs. 1 bis 4 erhobenen Daten bung die schutzwürdigen Interessen der ist SS 4 des Art. 10-Gesetzes entsprechend betroffenen Personen das Allgemeininanzuwenden. Das Auskunftsersuchen teresse an der Übermittlung überwiegen und die übermittelten Daten dürfen dem oder Betroffenen oder Dritten nicht mitgeteilt werden. SS 12 Abs. 1 und 3 des Art. 10-Ge4. besondere gesetzliche Übermittlungsresetzes findet entsprechende Anwendung. gelungen entgegenstehen; die Verpflichtung zur Wahrung gesetzlicher Geheim(6) Die Senatsverwaltung für Inneres unterhaltungspflichten oder von Berufsoder richtet im Abstand von höchstens sechs besonderen Amtsgeheimnissen, die nicht Monaten den Ausschuss für Verfassungsauf gesetzlichen Vorschriften beruhen, schutz des Abgeordnetenhauses über die bleibt unberührt. Durchführung der Absätze 1 bis 5; dabei ist insbesondere ein Überblick über AnSS 29 lass, Umfang, Dauer, Ergebnis und Kosten Minderjährigenschutz der im Berichtszeitraum durchgeführten Maßnahmen nach den Absätzen 1 bis 4 (1) Informationen einschließlich personenzu geben. bezogener Daten über das Verhalten Minderjähriger dürfen nach den Vor(7) Die Senatsverwaltung für Inneres unterschriften dieses Gesetzes übermittelt richtet das Parlamentarische Kontrollwerden, solange die Voraussetzungen gremium des Bundes jährlich über der Speicherung nach SS 13 Abs. 2 erfüllt die nach den Absätzen 1 bis 5 durchsind. geführten Maßnahmen; Abs. 6 gilt entsprechend. (2) Informationen einschließlich personenbezogener Daten über das Verhal(8) Das Grundrecht des Brief-, Postund ten Minderjähriger vor Vollendung des Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 des 16. Lebensjahres dürfen nach den VorGrundgesetzes, Art. 16 der Verfassung schriften dieses Gesetzes nicht an ausvon Berlin) wird nach Maßgabe der Abländische oder überoder zwischensätze 2, 4 und 5 eingeschränkt. staatliche Stellen übermittelt werden. 248 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 SS 30 1. eine Gefährdung der AufgabenerfülNachberichtspflicht lung durch die Auskunftserteilung zu besorgen ist, Erweisen sich Informationen nach ihrer Übermittlung nach den Vorschriften 2. durch die Auskunftserteilung Queldieses Gesetzes als unvollständig oder len gefährdet sein können oder die unrichtig, so hat die übermittelnde Ausforschung des Erkenntnisstandes Stelle ihre Informationen unverzüglich oder der Arbeitsweisen der Verfasgegenüber der empfangenden Stelle zu sungsschutzbehörde zu befürchten ergänzen oder zu berichtigen, wenn ist, dies zu einer anderen Bewertung der 3. die Auskunft die öffentliche SicherInformationen führen könnte oder zur heit gefährden oder sonst dem Wohl Wahrung schutzwürdiger Interessen der des Bundes oder eines Landes Nachbetroffenen Person erforderlich ist. Die teile bereiten würde oder Ergänzung oder Berichtigung ist aktenkundig zu machen und in den entspre4. die Informationen oder die Tatsache chenden Dateien zu vermerken. der Speicherung nach einer Rechtsvorschrift oder ihrem Wesen nach, insbesondere wegen der überwieVIERTER ABSCHNITT genden berechtigten Interessen DritAuskunftserteilung ter, geheimgehalten werden müssen. Die Entscheidung nach den Sätzen 1 und 2 SS 31 trifft der Leiter der VerfassungsschutzabteiAuskunft an den Betroffenen lung oder ein von ihm besonders beauftragter (1) Die Verfassungsschutzbehörde erteilt Mitarbeiter. einer natürlichen Person über die zu (3) Die Ablehnung einer Auskunft ist zuihr gespeicherten Informationen auf mindest insoweit zu begründen, dass Antrag unentgeltlich Auskunft. Die eine verwaltungsgerichtliche NachprüAuskunftsverpflichtung erstreckt sich fung der Verweigerungsgründe gewährnicht auf Informationen, die nicht der leistet wird, ohne dabei den Zweck der alleinigen Verfügungsberechtigung der Auskunftsverweigerung zu gefährden. Verfassungsschutzbehörde unterliegen, Die Gründe der Ablehnung sind in jedem sowie auf die Herkunft der InformaFall aktenkundig zu machen. tionen und die Empfänger von Übermittlungen. (4) Wird die Auskunftserteilung ganz oder teilweise abgelehnt, ist die betroffe(2) Die Verfassungsschutzbehörde darf den ne Person darauf hinzuweisen, dass sie Antrag ablehnen, wenn das öffentlisich an den Berliner Beauftragten für che Interesse an der Geheimhaltung den Datenschutz und für das Recht auf ihrer Tätigkeit oder ein überwiegendes Akteneinsicht wenden kann. Dem BerGeheimhaltungsinteresse Dritter gegenliner Beauftragten für den Datenschutz über dem Interesse der antragstellenund für das Recht auf Akteneinsicht ist den Person an der Auskunftserteilung auf sein Verlangen Auskunft zu erteilen, überwiegt. In einem solchen Fall hat die soweit nicht der Senator für Inneres im Verfassungsschutzbehörde zu prüfen, ob Einzelfall feststellt, dass dadurch die Siund inwieweit eine Teilauskunft möglich cherheit des Bundes oder eines Landes geist. Ein Geheimhaltungsinteresse liegt fährdet würde. Mitteilungen des Berliner vor, wenn Beauftragten für den Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht an den Betroffenen dürfen keine Rückschlüsse auf den Erkenntnisstand der Verfas- Anhang 249 sungsschutzbehörde zulassen, soweit sie FÜNFTER ABSCHNITT nicht einer weitergehenden Auskunft Parlamentarische Kontrolle zustimmt. Der Kontrolle durch den Berliner Beauftragten für den Datenschutz SS 33 und für das Recht auf Akteneinsicht Ausschuss für Verfassungsschutz unterliegen nicht personenbezogene (1) In Angelegenheiten des VerfassungsInformationen, die der Kontrolle durch schutzes unterliegt der Senat von Berlin die Kommission nach SS 2 des Gesetzes der Kontrolle durch den Ausschuss für zur Ausführung des Gesetzes zu Art. 10 Verfassungsschutz des AbgeordnetenGrundgesetz unterliegen, es sei denn, die hauses von Berlin. Die Rechte des AbKommission ersucht den Berliner Beaufgeordnetenhauses und seiner anderen tragten für den Datenschutz und für das Ausschüsse bleiben unberührt. Recht auf Akteneinsicht, die Einhaltung der Vorschriften über den Datenschutz (2) Der Ausschuss für Verfassungsschutz bebei bestimmten Vorgängen oder in besteht in der Regel aus höchstens zehn stimmten Bereichen zu kontrollieren und Mitgliedern. Das Vorschlagsrecht der ausschließlich ihr darüber zu berichten. Fraktionen für die Wahl der Mitglieder richtet sich nach der Stärke der FrakSS 32 tionen, wobei jede Fraktion mindestens Akteneinsicht durch ein Mitglied vertreten sein muss. (1) Sind personenbezogene Daten in Akten Eine Erhöhung der im Satz 1 bestimmten gespeichert, so kann dem Betroffenen Mitgliederzahl ist nur zulässig, soweit sie auf Antrag Akteneinsicht gewährt werzur Beteiligung aller Fraktionen notwenden, soweit Geheimhaltungsinteressen dig ist. Es werden stellvertretende Mitoder schutzwürdige Belange Dritter nicht glieder gewählt, die im Fall der Verhindeentgegenstehen. SS 31 gilt entsprechend. rung eines ordentlichen Mitglieds dessen Rechte und Pflichten wahrnehmen. Die (2) Die Einsichtnahme in Akten oder AktenAnzahl der stellvertretenden Mitglieder teile ist insbesondere dann zu versagen, entspricht der Anzahl der ordentlichen wenn die Daten des Betroffenen mit Mitglieder. Kann das ordentliche MitDaten Dritter oder geheimhaltungsglied seine Rechte und Pflichten nicht bedürftigen sonstigen Informationen wahrnehmen, so wird es durch ein stellderart verbunden sind, dass ihre Trenvertretendes Mitglied derselben Fraktion nung auch durch Vervielfältigung und vertreten. Unkenntlichmachung nicht oder nur mit unverhältnismäßig großem Aufwand (3) Scheidet ein Mitglied aus dem Abgemöglich ist. In diesem Fall ist dem Betrofordnetenhaus oder seiner Fraktion aus, fenen zusammenfassende Auskunft über so verliert es die Mitgliedschaft im Ausden Akteninhalt zu erteilen. schuss für Verfassungsschutz. Für dieses Mitglied ist unverzüglich ein neues Mit(3) Das Berliner Informationsfreiheitsgesetz glied zu wählen; das gleiche gilt, wenn vom 15. Oktober 1999 (GVBl. S. 561) finein Mitglied aus dem Ausschuss ausdet auf die von der Verfassungsschutzabscheidet. Für stellvertretende Mitglieder teilung der Senatsverwaltung für Inneres des Ausschusses gelten die Vorgaben der geführten Akten keine Anwendung. Sätze 1 und 2 entsprechend. 250 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 SS 34 (3) Der Senat kann die Unterrichtung über Geheimhaltung einzelne Vorgänge verweigern und bestimmten Kontrollbegehren widerspre(1) Die Öffentlichkeit wird durch einen Bechen, wenn dies erforderlich ist, um vom schluss des Ausschusses ausgeschlossen, Bund oder einem deutschen Land Nachwenn das öffentliche Interesse oder beteile abzuwenden; er hat dies vor dem rechtigte Interessen eines einzelnen dies Ausschuss zu begründen. gebieten. Sofern die Öffentlichkeit ausgeschlossen ist, sind die Mitglieder des (4) Das Abgeordnetenhaus kann den AusAusschusses zur Verschwiegenheit über schuss für einen bestimmten UntersuAngelegenheiten verpflichtet, die ihchungsgegenstand als Untersuchungsausnen dabei bekannt geworden sind. Das schuss (Art. 48 der Verfassung von gleiche gilt auch für die Zeit nach dem Berlin) einsetzen. SS 3 des Gesetzes Ausscheiden aus dem Ausschuss. Die Verüber die Untersuchungsausschüsse des pflichtung zur Verschwiegenheit kann Abgeordnetenhauses von Berlin vom von dem Ausschuss aufgehoben werden, 22. Juni 1970 (GVBI. S. 925), zuletzt gesoweit nicht berechtigte Interessen eines ändert durch Gesetz vom 24. Juni 1991 Einzelnen entgegenstehen oder der Se(GVBI. S. 154), findet keine Anwendung. nat widerspricht; in diesem Fall legt der (5) Für den Ausschuss gelten im Übrigen die Senat dem Ausschuss seine Gründe dar. Bestimmungen der Geschäftsordnung des (2) Die Vorschriften des Absatzes 1 gelten Abgeordnetenhauses von Berlin. für stellvertretende Mitglieder des Ausschusses entsprechend. SS 36 Vertrauensperson des Ausschusses SS 35 für Verfassungsschutz Aufgaben und Befugnisse des Ausschusses Der Ausschuss für Verfassungsschutz kann (1) Der Senat hat den Ausschuss umfaszur Wahrnehmung seiner Kontrollaufgaben im send über die allgemeine Tätigkeit der Einzelfall nach Anhörung des Senats mit der Verfassungsschutzbehörde und über Mehrheit seiner Mitglieder eine VertrauensVorgänge von besonderer Bedeutung zu person beauftragen, Untersuchungen durchzuunterrichten; er berichtet auch über den führen und dem Ausschuss über das Ergebnis Erlass von Verwaltungsvorschriften. Der in nicht öffentlicher Sitzung zu berichten. Ausschuss hat Anspruch auf UnterrichDie Vertrauensperson soll die Befähigung tung. zum Richteramt besitzen und wird für die Dauer der jeweils laufenden Wahlperiode (2) Der Ausschuss hat auf Antrag mindestens vom Ausschuss für Verfassungsschutz mit der eines seiner Mitglieder das Recht auf Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder Erteilung von Auskünften, Einsicht in gewählt. Die Vertrauensperson erhält für ihre Akten und andere Unterlagen, Zugang Dienstleistungen im Einzelfall auf Antrag eine zu Einrichtungen der VerfassungsschutzVergütung entsprechend den SSSS 8, 9 des Jusbehörde sowie auf Anhörung von deren tizvergütungsund -entschädigungsgesetzes Dienstkräften. Die Befugnisse des Ausvom 5. Mai 2004 (BGBl. I S. 718, 776), das schusses nach Satz 1 erstrecken sich zuletzt durch Artikel 7 Absatz 3 des Gesetzes nur auf Gegenstände, die der alleinigen vom 30. Juli 2009 (BGBl. I S. 2449) geändert Verfügungsberechtigung der Verfassungsworden ist, in der jeweils geltenden Fassung. schutzbehörde unterliegen. Die Höhe des Honorars richtet sich nach der Honorargruppe M 3. Anhang 251 SECHSTER ABSCHNITT SS 39 Schlussvorschriften Inkrafttreten, Außerkrafttreten SS 37 (1) Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Einschränkung von Grundrechten Verkündung im Gesetzund Verordnungsblatt für Berlin in Kraft. Aufgrund dieses Gesetzes kann das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung nach SS 27a tritt außer Kraft, sobald das BundesArt. 13 des Grundgesetzes eingeschränkt werverfassungsschutzgesetz vom 20. Dezember den. 1990 (BGBl. I S. 2954, 2970), zuletzt geändert durch Art. 9 des Gesetzes vom 16. August SS 38 2002 (BGBl. I S. 3202), gemäß Art. 22 Abs. 2 Anwendbarkeit des Berliner Datenschutzgedes Terrorismusbekämpfungsgesetzes vom setzes 9. Januar 2002 (BGBl. I S. 361, 3142) wieder in seiner am 31. Dezember 2001 maßgeblichen Bei der Erfüllung der Aufgaben nach SS 5 durch Fassung gilt. Der Tag des Außerkrafttretens ist die Verfassungsschutzbehörde finden die im Gesetzund Verordnungsblatt für Berlin beSSSS 6a, 10 bis 17 und 19 Abs. 2 bis 4 des Berkannt zu machen. liner Datenschutzgesetzes in der Fassung vom 17. Dezember 1990 (GVBI. 1991 S. 16, 54), das zuletzt durch Art. I des Gesetzes vom 30. Juli 2001 (GVBI. S. 305) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung keine Anwendung. 252 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Anhang 253 2. Personenund Sachregister 1. Al-Manar-TV 163 1. Mai 63 al-Mauretani, Younis 4 11. September 159, 171 al-Muhajir, Abu Ishaq 18 Al-Nur-Moschee 28, 29 A al-Qaida 2, 3, 4, 5, 6, 7, 11, 12, 14, 22, 149, 150, 158, 159, 160, 161, 162 AAB 193 al-Qaida auf der Arabischen AAI 2, 3, 150, 157 Halbinsel 5, 12, 150, 160, 161. AAS 150, 157 Siehe AQAH Abdul Adhim 29, 31 al-Qaida im Irak 5, 6, 160 Abdullah Öcalan 123, 125, 127, al-Qaida im islamischen Maghreb. 215, 217 Siehe AQM Abu al-Yazid, Mustafa 12 al-Quds 159 Abu Hamza al-Muhajir 5 Al-Uthaimin 28 Abu Talha der Deutsche 12 al-Zawahiri, Aiman 158 Abu Umar al-Baghdadi 5 AMGT 168, 171 adil düzen 33, 36 Anarchisten 154 AG Arschkarte für die Taschenkarte 99 Anonyme Autonome Berlin 89, 90, Agentur für Arbeit 112 200 Akif, Muhammad Mahdi 175 Ansar al-Islam. Siehe AAI AKP 171, 173 Ansar al-Sunna 150, 157 Aktionsfront Nationaler Anti-Antifa 58 Sozialisten 184 Antideutsche 117, 154, 180 aktionsorientierter LinksAntifa 60, 68, 90, 95, 96, 97, 113, extremismus 85, 87, 104, 107, 117, 184, 193, 198 193, 198, 206 Antifa A+P (Agitation und Praxis) 193 aktionsorientierter RechtsAntifa-Gruppen 93, 96 extremismus 40, 58, 60, 71, 83, Antifaschismus 103, 193, 195, 197 183, 188 Antifaschistische Aktion Berlin. Al-Ahd - Al-Intiqad 163 Siehe AAB al-Aqsa-TV 166 Antifaschistische Linke Berlin. al-Aulaqi, Anwar 13 Siehe ALB ALB 87, 90, 193, 195 Antifaschistische Revolutionäre Aktion al-Jama'a al-islamiya 158 Berlin. Siehe ARAB al-Jihad al-islami 158, 174 Antiglobalisierung 197 Allawi, Iyad 158 Antiimperialismus 201 254 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Antiimperialisten 154 AVV 87, 91, 92, 107 Antikapitalismus 64, 183, 197, 211 aWfV 117 Anti-Kapitalismus von rechts 63 Antimilitarismus 197 B Antimilitarismus-Kampagne 98, 99 BASO 67 anti-nationaler Weltfussballverband. Bauwas! 107 Siehe aWfV Berliner Alternative Süd-Ost. AntiraBündnis44 118 Siehe BASO Antirassismus 201 Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz. Antirassistische Bündnis Neukölln 118 Siehe BSÜG Antirepression 92, 206 Bewachungsverordnung 145 Antisemitismus 153, 172 Bewegung der Jungen Mujahidin. Anti-Terror-Datei. Siehe ATD Siehe Shabab-Miliz Apoistische Jugend 127 Bewegung des Islamischen Widerstands. AQAH 5, 7, 12, 14, 150, 161 Siehe HAMAS AQM 5, 11, 150, 161 Bewegung Schwarzer Phoenix 104, ARAB 91, 196 107, 110, 115, 116 Arbeiterpartei Kurdistans. Siehe PKK Bezirksverordnetenversammlungen. Arbeitskreis Christen 180 Siehe BVV Arbeitskreis Rußlanddeutscher 180 B&H 188 Artgemeinschaft 190, 191 Bin Ladin, Usama 11, 158, 159 Artgemeinschaft - Germanische. Blood&Honour. Siehe B&H Siehe Artgemeinschaft BND 229 As-Sahaba/Die Gefährten e.V. 28, 31 Bruderschaft 70 As-Sunna-Verlag 27 ATD 229 BSÜG 137, 138, 140, 142, 223 Atomgesetz 144 Bundeskanzleramt 120 Aufenthaltsgesetz 130, 143 Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Autonome 84, 85, 89, 91, 97, 103, Medien 72 110, 154, 155, 198, 199, 200 Bundestagsverwaltung 52 Autonome Gruppen 93, 201 Bundestagswahl 181 Autonome Nachbarschaftshilfe Bundesverfassungsgericht 148, 182 Steglitz/Zehlendorf 103 Bundesverwaltungsamt 114, 146 Autonomen Nationalisten III, 40, 58, Bundeswehr 98, 99, 100, 197, 201 59, 60, 61, 62, 63, 66, 67, 69, 83, 95, 183, 184, 185 Bündnis Berliner Antifa-Gruppen 95 Autonome Vollversammlung. Siehe AVV Bürgerund Hinweistelefon 232 autonome wm-gruppe 118 BVV 47, 56, 61, 71, 213 Anhang 255 C Donaldson, Ian Stuart 188 Christophersen, Thies 192 Drei-Säulen-Konzept 181, 184 Committee for a Workers International. Dritte Reich 72, 191 Siehe CWI DRP 179 Conspiracy of Cells of Fire 120 DS 180 CWI 212 D.S.T./X.x.X. 71, 189 DSZ Druckschriftenund Zeitungs- D Verlag GmbH 178 Das Artbekenntnis 190 DTM 4, 9, 17, 18, 22, 162 Da'wa-Aktivitäten 10, 27 Duwaik, Aziz 25 Deradikalisierung 23, 230 DVU 40, 43, 46, 178 Der Weg zum Glücklichsein 132 E Deutsche Kommunistische Partei. Siehe DKP Einbürgerungsverfahren 143, 235 Deutschen Reichspartei. Siehe DRP eine gruppe aus den autonomen Deutsche Stimme. Siehe DS gruppen 111, 112, 116 Deutsche Stimme Verlags GmbH 180 einige aus der ex-mg 114, 115, 116 Deutsche Taliban Mujahidin. Siehe DTM El-Zayat, Ibrahim 175 Deutsche Volksunion. Siehe DVU EMUG 168 Deutsche Volksunion-Liste D 178 Erbakan, Mehmet Sabri 172 Deutschland-Pakt 44 Erbakan, Necmettin 32, 33, 168, 169, 170, 171, 172 Deutsch, Stolz, Treue. Siehe D.S.T./X.x.X. Erdogan, Recep Tayyip 171, 173 DHKC 217 Eric B 9, 17, 18, 19, 160 DHKP 217, 218 Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft e. V.. DHKP-C 129, 130, 131, 217, 218 Siehe EMUG DHL 99, 100, 108, 197 DHL-Kampagne 100 F Dianetik und Scientology Informationszentrum 133 FAP 184 Die Deutschen kommen mit Faschismus 95, 125, 194, 218 Freunden 72 FATAH 25, 165 Die Lunikoff-Verschwörung 71, 72, Faust, Matthias 44, 178 189 Fazilet Partisi. Siehe FP Die soziale Heimatpartei 50 Federation of Islamic Organisations in Die Volksunion 182 Europe. Siehe FIOE DirAction 118 FIOE 25, 175 DKP 206, 207 FNBM 58, 59, 67, 68, 103 256 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Föderation Islamischer Organisationen GIZ 229 in Europa. Siehe FIOE GTAZ 23, 229 Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e. V.. Siehe YEK-KOM H FP 170 Halkin Sesi ("Die Stimme des Freie Nationalisten Berlin Mitte 67, Volkes 32, 35 103 HAMAS IV, 2, 3, 25, 26, 36, 38, 150, Freie Nationalisten Berlin Mitte (FNBM). 151, 165. Siehe Bewegung des Siehe FNBM Islamischen Widerstands Freie Radikale/ Hammerskins 184 Freunde Dora Kaplans 89 Haniye, Ismail 25 Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei. Siehe FAP Heß, Rudolf 58 Freiheitsfalken Kurdistans. Siehe TAK Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige Freiheit statt BRD 72 e. V.. Siehe HNG Freunde Erich Mühsams angedockt an Hitler, Adolf 191 Freie Radikal.e 111, 116 Hizb Allah IV, VIII, 2, 3, 150, 151, Frey, Dr. Gerhard 178 163, 164 Fridericus Rex 72 Hizb ut-Tahrir VIII, 2, 3, 150, 166. Friedrichshain 104 Siehe HuT Frontbann 24 58, 59, 67, 69, 70, 186 HNG 74, 186, 187 FZ Freiheitlicher Buchund Hoggan, David 192 Zeitschriften-Verlag GmbH 178 Hohenmölsen 45 Holger Apfel 181 G Höllische Saat 72 Gansel, Jürgen 180 Holocaust 171, 191, 192 Gaskartuschen 87, 88, 107, 110, 111, home-grown-Terroristen 4 112 HPG 123, 125, 216, 217 Gebrüder Strasser 183 Hubbard, L. Ron 133, 219 Geheimhaltungsgrade 137 HuT 2, 3, 150, 151, 166, 167 Geheimschutz 137, 138, 139, 140, 222 Gemeinsame Internet-Zentrum. I Siehe GIZ Gemeinsame TerrorismusabwehrzentIGD 173, 175, 176 rum. Siehe GTAZ IGMG 32, 33, 34, 36, 37, 38, 150, 151, Gentrifizierung 100, 101, 102, 195, 171, 172, 173 197 IHH e.V. 39 Gerechtigkeitsund EntwicklungsIHH Insan Hak ve Hürriyetleri Insani partei 171 Yardim Vakfi. Siehe IHH e.V. Gewaltdelikte 42, 86, 117 IJU 161 Anhang 257 IKEZ 166, 176 Jundullah 14, 16 Inspire 7, 12, 13, 14 Jungen Landsmannschaft OstdeutschINTERIM 92, 100, 107, 108, 109, 113, land. Siehe JLO 116, 200, 201 Jungen Nationaldemokraten. Siehe JN Interkulturelle Zentrum für Dialog und Bildung e. V.. Siehe IZDB K Interkulturelle Zentrum für Dialog und KABD 208 Bildung e.V. 168. Siehe IGMG Kahlschlag 71, 73 Internationale Humanitäre Hilfsorganisation e.V.. Siehe IHH Kalifatsstaat 2, 3 Internet 2, IV, VI, 2, 12, 13, 23, 27, Kameradschaften IX, 59, 67, 183, 184 29, 31, 42, 58, 60, 64, 68, 71, 74, 86, Kameradschaft Tor. Siehe KTB 92, 98, 104, 117, 119, 127, 141, 159, Kapitalismus 34, 36, 63, 64, 97, 110, 169, 175, 188, 193, 196, 229, 230, 231, 155, 194, 206, 210, 212, 213 232 Karahan, Yavuz Celik 33 Intersquat Festival 101 KDP 157 ISI 5, 150 Kommando 13. Februar 74 Islamische Föderation in Berlin e.V. 34 Kommando Kevin Prince Boateng Islamische Gemeinschaft in Deutschland Berlin-Ost 118 e.V.. Siehe IGD Kommission für Verstöße der Islamische Gemeinschaft Milli Görüs Psychiatrie gegen Menschenrechte e. V.. e.V. 32, 168. Siehe IGMG Siehe KVPM Islamische Kulturund ErziehungsKommunalpolitische Vereinigung. zentrum Berlin e. V.. Siehe IKEZ Siehe KPV Islamische Kulturund ErziehungsKommunismus 34, 36, 155, 194, 195, zentrum Berlin e.V. 27 202, 203, 209 Islamischer Staat Irak. Siehe ISI Kommunisten 209 Islamisches Emirat Kaukasus 3 Kommunistischen Arbeiterverbund Islamseminar 27, 83 Deutschlands. Siehe KABD IZDB 176 Kommunistischen Partei Deutschlands. Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden 165 Siehe KPD Konvertiten 8, 10, 27, 152, 160 J Konzerte 71, 188 KPD 156, 207 Jaish Ansar al-Sunna 157 KPV 180 Jihad 149, 150, 158, 159, 162, 166, 167, 174, 175 Kriegsschuld 191 JLO 93 Kritik & Praxis Berlin 193 JN 41, 61, 180 KTB 67 JT 176 Kunduz 99 Julfeiern 191 258 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Kurdische Demokratische Partei. Milli Görüs-Bewegung 32, 34, 36, 37, Siehe KDP 169, 171 Kurtulmus, Numan 35, 38 MLPD 208, 209 Kutan, Recai 170 Mujahidin 2, 3, 4, 5, 9, 13, 17, 157, KVPM 132 158, 159, 162, 177 Musikszene 188 L Muslimbruderschaft. Siehe MB Lambsdorff, Otto Graf 201 N Landser 188 Legion of Thor 71 Nachrichtenbeschaffung 226 Lernen und Kämpfen 208 Nachrichtendienstliche Informationssystem. Siehe NADIS Leuchter-Report 192 Nachrichtendienstliche Mittel 226, Liedermacher 71, 188 238 Linksruck 210 NADIS 146, 227, 234, 237 Luftsicherheitsgesetz 144 Nasrallah, Hassan 164 Nationale Alternative 184 M Nationale Bürgerbewegung Berlin 69 Mahler, Horst 192 Nationalen Sozialismus 58 Makhloufs, Shakib 25 Nationaler Widerstand 66, 184 marx21 210, 211 Nationales Jugendzentrum 62, 63 Marxismus-Leninismus 153, 156, Nationalistische Befreiungsfront Berlin 207, 208 Siehe NBFB Marxistisch-Leninistische Partei National Socialist Black Metal 72 Deutschlands 208 Nationalsozialismus 58, 73, 153, 183, MB 25, 32, 150, 151, 165, 173, 174, 189, 191 175, 176 Nationalsozialistischen Deutschen Mecklenburg-Vorpommern 45, 54 Arbeiterpartei. Siehe NSDAP Medienagentur "Elif Medya" 17 National-Zeitung Siehe NZ Meenen, Uwe 53 NATO-Gipfel 88 Melodien für 6 Millionen 72 Nazzal, Mohammed 36 Mevlana Moschee e.V 34 NBFB 69 Meyer, Torsten 47 Neonationalsozialisten 183 mg 201, 202 Neonazis 41, 53, 95, 183 militante gruppe. Siehe mg Neonazismus 153 Milli Gazete 33, 34, 35, 36, 37, 169, Netzwerk "Freie Kräfte" 58, 59, 67, 170, 171, 172 69, 70, 71, 185 Milli Görüs 32, 33, 34, 35, 36, 37, 150, Netzwerk "Rechtsextremistische 168, 169, 170, 171, 172 Musik" 71, 74 Anhang 259 Niedersachsen 47 Radikalisierung IV, 2, 9, 10, 12, 19, No Pasaran! 93, 94 23, 27, 40, 182 Nordische Zeitung 190 Ramadan, Dr. Said 175 Nordrhein-Westfalen 20, 39, 43, 47, Rapper Deso Dogg 27, 29 52, 65, 76, 83, 92, 99, 129 Rassismus 153 NPD 49, 52, 53, 79, 178, 179, 180, RAZ 89, 104, 108, 111, 112, 114, 116, 183, 194 117, 204 NSDAP 183 REBELL 208 NZ 178, 179 Rechtsextremismus 71, 74 rechtsextremistische Bands 71 O rechtsextremistische Liedermacher 71 Observation 226, 237 Rechtsextremistische Musik 73 Öztürk, Siyami 33 Revisionismus 156, 191, 192, 209 Revisionisten 191 P Revolution 194, 212, 218 Palästinensischen Gemeinschaft in Revolutionäre 1. MaiDeutschland. Siehe PGD Demonstration 88, 97, 98 Palestinian Return Center. Siehe PRC Revolutionäre Aktionszellen (RAZ) - Zelle Mara Cagol 89 parlamentsorientierter Rechtsextremismus 43 Revolutionäre Linke. Siehe RL Parteiverbotsverfahren 182 Revolutionäres 1. Mai-Bündnis 96, 97 Patriotische Union Kurdistan. Siehe PUK Revolutionäre Volksbefreiungsfront. Siehe DHKC PGD 25 Revolutionäre VolksbefreiungsPKK 122, 123, 124, 125, 126, 128, partei 217 129, 215, 216, 217 Revolutionäre Volksbefreiungspartei - PRC 25 Front. Siehe DHKP-C p.r.i.s.m.a 107, 112, 114, 115 Revolutionäre Zellen. Siehe RZ Proliferation 135, 142 RH 204, 205, 206 Pro NRW 43 Richter, Karl 182 PUK 157 Rieger, Jürgen 49, 190 Ring Nationaler Frauen. Siehe RNF Q RL 104 Quellenschutz 226 RNF 180 Qutb, Sayyid 174 Röhm, Ernst 183 Roj TV 125, 126 R Rote Fahne 208 radikal 89, 105, 106, 107, 108, 111, Rote Hilfe 204. Siehe RH 112, 114, 116, 117, 202, 203, 204 260 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Rudolf, Germar 192 Stiftungsinitiative der deutschen Rudolf-Gutachten 192 Wirtschaft 201 RZ 201 Stuxnet 135 S T SA 69 TAK 124, 217 Saadet Partisi 170. Siehe SP Takfir wa'l-Hijra 174 Saadet Partisi - Partei der Taliban 157, 158 Glückseligkeit 169 Tayad-Komitee 218 Sabotageschutz 137, 142 Tehrik-i Taleban. Siehe TTP sächsischer Landtag 43 Terrorcamp 8 Salafismus 27, 150, 151, 157 Terrorismus III, 2, 3, 23, 76, 80, 86, Sauerland-Gruppe 19, 20, 21, 22, 146, 150, 159, 228, 229, 232 160, 162 Thadden, Adolf von 179 SAV 210, 212, 213 THKP-C/"Devrimci Sol 217 SCADA-System 135 TJ 176 Scharia 167, 168, 174 Tonträger 72, 188 Schiffbruch 72 TTP 5 Schleswig-Holstein 47 Tugendpartei 170 Schulhof-CD 72 TV-Sender "al-Manar" Schwarzer Block 67, 95, 185 ("Der Leuchtturm") 164 Scientology Organisation. Siehe SO Second Class Citizen 71 U Sektenleitstelle 133 Überfremdungskundgebung 73 Shabab-Miliz 5 Überwachung des Postund FernSicherheitsüberprüfung 137, 138, 140, meldeverkehrs 226 142, 235 Ücüncü, Oguz 33 Silvio-Meier-Demonstration 198 Umstrukturierung 86, 100, 102 Skinhead 183, 188, 263 Umweltgipfel 88 SO 132, 219 Solidarität - Sozialistische V Zeitung 212 Verband Interkultureller Zentren Sozialistische Alternative. Siehe SAV VIZ 176 SP 32, 33, 35, 169, 170, 171, 172 Vereinigung der Neuen Weltsicht in Spionageabwehr 134, 136, 227, 237 Europa e. V.. Siehe AMGT Sprengstoffgesetz 145 Verein zur Pflege nationaler Politik e.V. 53 Anhang 261 Verein zur Rehabilitierung der Weiterdenken 179 wegen Bestreitens des Holocaust Widerstand-Radio 74 Verfolgten 192 Wir bleiben Alle! 100 Verschlusssachen 137, 138, 139, 140 WKP 164 Verschwörung der Feuerzellen 120 WM 117, 119 Virus 73 Vogel, Pierre 29, 83 Y Voigt, Udo 44, 57, 71, 181 YEK-KOM 125, 126, 127, 216 Volksbefreiungspartei-Front der Türkei - Revolutionäre Linke. Siehe THKP C/"Devrimci Sol" Z Volksverhetzung 57, 74, 189 Zündel, Ernst 192 Volksverteidigungskräfte. Siehe HPG Zündstoff 179 V-Personen 182, 226 Zuverlässigkeitsüberprüfungen 144, 145 W Waffengesetz 145 Waisenkinderprojekt Libanon e.V. Siehe WKP Walendy, Udo 192 Way to Happiness Foundation 132 262 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Anhang 263 3. Publikationen des Verfassungsschutzes Berlin Reihe Im Fokus Zerrbilder von Islam und Demokratie 1. Auflage Berlin 2011. 128 Seiten. Linke Gewalt in Berlin 1. Auflage Berlin 2009. 84 Seiten. Rechte Gewalt in Berlin 2003 bis 2006 1. Auflage Berlin 2007. 84 Seiten. Antisemitismus im extremistischen Spektrum Berlins 2. Auflage Berlin 2006. 56 Seiten. Islamismus. Diskussion eines vielschichtigen Phänomens 2. Auflage Berlin 2006. 116 Seiten. Rechtsextremistische Skinheads 1. Auflage Berlin 2003 (im Internet abrufbar). 86 Seiten. 264 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Reihe Info Rechtsextremistische Musik 2. Auflage Berlin 2007. 36 Seiten. Symbole und Kennzeichen des Rechtsextremismus 6. Auflage Berlin 2007. 33 Seiten. Islamismus 3. Auflage Berlin 2006. 42 Seiten. Anhang 265 Sonstiges Verfassungsschutz - Nehmen Sie uns unter die Lupe 1. Auflage Berlin 2002. 19 Seiten. Islamismus: Prävention und Deradikalisierung (DVD) 1. Auflage Berlin 2011. 59 min. Diese sowie weitere Publikationen des Berliner Verfassungsschutzes können Sie unter der rückseitig angegebenen Adresse sowie telefonisch unter (030) 90 129-440 bestellen oder aber im Internet unter www.verfassungsschutz-berlin.de abrufen. Der Verfassungsschutz Berlin bietet zudem Vorträge zu den einzelnen Extremismusfeldern und zum Thema Spionage an. Nähere Informationen erhalten Sie ebenfalls unter (030) 90 129-440. 266 Verfassungsschutzbericht Berlin 2010 Senatsverwaltung für Inneres und Sport Abteilung Verfassungsschutz Postfach 62 05 60 10795 Berlin Tel.: (030) 90 129-0 Internet: http://www.verfassungsschutz-berlin.de E-Mail: info@verfassungsschutz-berlin.de