Senatsverwaltung für Inneres und Sport Verfassungsschutzbericht Senatsverwaltung für Inneres und Sport Abteilung Verfassungsschutz Verfassungsschutzbericht 2009 Erreichbarkeit des Berliner Verfassungsschutzes Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Abteilung Verfassungsschutz Adresse: Klosterstraße 47, 10179 Berlin Postanschrift: Postfach 62 05 60, 10795 Berlin Internet: www.verfassungsschutz-berlin.de E-Mail: info@verfassungsschutz-berlin.de Vermittlung: (030) 90 129-0 Fax: (030) 90 129-844 Kontakttelefon: (030) 90 129-440 Pressestelle: (030) 90 129-565 Vertrauliches Telefon: (030) 90 129-400 Deutsch / Englisch (030) 90 129-401 Türkisch (030) 90 129-402 Arabisch Herausgeber: Senatsverwaltung für Inneres und Sport Abteilung Verfassungsschutz Redaktion: Arbeitsgruppe Öffentlichkeitsarbeit Druck: Mercedes-Druck, Berlin Redaktionsschluss: April 2009 Abdruck gegen Quellenangabe gestattet, Belegexemplar erbeten. Hinweis: Dieser Verfassungsschutzbericht erwähnt nicht alle Beobachtungsobjekte des Berliner Verfassungsschutzes. VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2008 III VORWORT Die Arbeit der Verfassungsschutzbehörde des Landes Berlin hat ihre Schwerpunkte auf drei Feldern: - dem islamistischen Terrorismus - dem Linksextremismus und - dem Rechtsextremismus. Der islamistische Terrorismus stellt eine besondere Gefahr für unser Land dar. Vor allem in den Monaten vor der Bundestagswahl im September 2009 machten uns die diversen Videobotschaften, die über Internet verbreitet wurden, besorgt. Bei Drohungen gegen Deutschland steht auch Berlin immer im Fokus. Die Veröffentlichung von Propagandamaterial auch auf Deutsch in so großer Zahl und so kurzem Abstand hat es bislang noch nicht gegeben und zeigt die erhöhte Gefährdungslage. Insgesamt 24 Drohbotschaften mit unmittelbaren Deutschlandbezügen gab es. Unser Land ist neben den USA der einzige Staat, dessen Bevölkerung von ausländischen terroristischen Organisationen in der Muttersprache angesprochen wird. Dass die Terroristen keine Anschläge durchführen konnten, ist auch dem Verfolgungsdruck der Sicherheitsbehörden zu verdanken, der Anschläge erschwert, aber wie wir von Madrid, von London oder jüngst von Moskau wissen, nicht völlig ausschließt. Die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus ist inzwischen nicht mehr eine Bedrohung von außen, sondern eine im Lande durch radikalisierte Islamisten. Die Verhinderung der Radikalisierung ist als Prävention die wichtigste Schutzmaßnahme. Nachrichtendienstliche Maßnahmen helfen bei der Erkennung gefährlicher Tendenzen, aber sie können die Prävention nicht ersetzen. Insofern überrascht, dass in der öffentlichen Diskussion die Debatten um die Speicherung von Telefonverbindungsdaten oder nachrichtendienstliche Mittel die Schlagzeilen beherrschen. Viel wichtiger ist der Dialog mit den Muslimen in unserem Land, ihre Einbeziehung in den Kampf gegen Terrorismus. Deshalb müssen in Berlin das Islamforum und auf Bundesebene die Deutsche Islamkonferenz fortgesetzt werden. Der Dialog ist das einzige Mittel, Vertrauen zu schaffen und Misstrauen abzubauen. Wenn wir Radikalisierung stoppen wollen, müssen wir früh ansetzen. Der Verfassungsschutz IV VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 des Landes Berlin setzt hier einen besonderen Schwerpunkt auf Teile des Salafismus, der einen rückwärts gerichteten Islam vertritt und Zulauf von orientierungslosen Migrantenkindern der dritten Generation und von Konvertiten hat. Der gewaltbereite Linksextremismus stellte die Berliner Sicherheitsbehörden im Jahre 2009 vor besondere Herausforderungen. Es gab einen deutlichen Anstieg der linksextremistischen Gewalt. Das Anzünden von Fahrzeugen war eine besonders die Öffentlichkeit zu Recht erregende Facette der linksextremistischen Gewalt, mit der unsere Stadt konfrontiert war. Politisch links motivierte Gewalt umfasste aber auch Angriffe auf Polizeibeamte und -beamtinnen sowie Übergriffe auf politische Gegner. Dabei verursachten die Täter nicht nur großen Sachschaden, sondern sie nahmen auch schwerste Verletzungen von Menschen in Kauf. Wir haben einen gesellschaftlichen Konsens, dass politisch rechts motivierte Gewalt nicht hinzunehmen ist, weil sie ein Angriff auf die Grundwerte unseres Gemeinwesens ist. Im Abgeordnetenhaus von Berlin haben alle Parteien deutlich gemacht, dass es einen ähnlichen demokratischen Konsens auch in der Ausgrenzung linksextremistischer Gewalttaten gibt. Teile unserer Gesellschaft haben aber noch nicht die nötige Distanz. Auch wenn linksextremistische Gewalttäter sich auf Werte und Ziele berufen, die auch Demokraten wichtig sind, wie "soziale Gerechtigkeit" oder "Antifaschismus", so können diese nicht dafür herhalten, die eigene Intoleranz und Gewaltbereitschaft zu rechtfertigen. Wir müssen ein gesellschaftliches Klima befördern, in dem jegliche Gewalt geächtet wird und Verständnis für Gewalt oder Verharmlosung als das erkannt wird, was es darstellt: eine eigene latente Gewaltbereitschaft. Im Bereich des Rechtsextremismus haben vor allem die so genannten Freien Kräfte auf sich aufmerksam gemacht. Dabei übernehmen die "Autonomen Nationalisten" eine zentrale Rolle. Die von ihnen ins Leben gerufene Organisationsform der "Mitgliedschaft durch Mitmachen" und die hierarchiereduzierte Kommunikationsweise unter Nutzung moderner Medien haben stärker zu ihrer nachhaltigen Entwicklung beigetragen als ihr vieldiskutiertes Erscheinungsbild oder das aggressive Auftreten in der Öffentlichkeit. Um diesen Umtrieben einen Riegel vorzuschieben, habe ich im November 2009 die rechtsextremistische Vereinigung VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2008 V "Frontbann 24" verboten. Im parlamentarischen Bereich dümpelt die NPD weiter vor sich hin. Der bisherige Landesvorsitzende ist aus seiner Position rausgedrängt worden. Ob der neue Chef es schaffen wird, die NPD wieder zu beleben, bleibt abzuwarten. Bislang machte die Partei eher mit Richtungsstreitigkeiten und Personalquerelen auf sich aufmerksam. Der "Kampf um den organisierten Willen" mit dem Ziel, alle "nationalen Kräfte" zu bündeln, ist gescheitert. Nach der Aufkündigung der "Volksfront von rechts" durch führende Köpfe der organisatorisch ungefestigten "Freien Kräfte" und dem Ende der Wahlabsprachen zwischen NPD und DVU im Rahmen des "Deutschlandpakts" gehen die rechtsextremistischen Parteien geschwächt aus dem Jahr 2009 hervor. Der nachfolgende Verfassungsschutzbericht dokumentiert eindrucksvoll die Doppelfunktion der Berliner Verfassungsschutzbehörde: einerseits die Erkenntnisgewinnung über verfassungsfeindliche Tendenzen, andererseits die Aufklärung und Sensibilisierung der Öffentlichkeit. In der Debatte um die Aufgaben der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder wird häufig die Möglichkeit der nachrichtendienstlichen Erkenntnisgewinnung überbetont und die genauso wichtige Funktion der Politikberatung vergessen. Der Bericht des Jahres 2009 erfüllt beide Aufgaben. Auch dafür danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Behörde. Dr. Ehrhart Körting Senator für Inneres und Sport VI VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Inhaltsverzeichnis VORWORT AKTUELLE ENTWICKLUNGEN IN DEN BEOBACHTUNGSFELDERN ..............................................................1 1 ISLAMISTISCHER TERRORISMUS ...................................................... 2 1.1 Überblick.......................................................................................... 2 1.2 Transnationaler islamistischer Terrorismus................................ 4 1.2.1 Erhöhte Gefährdungslage durch deutsches Engagement in Afghanistan ....................................................................................... 4 1.3 Regional gewaltausübende Islamisten......................................... 23 1.3.1 Der Gaza-Konflikt im Januar 2009 und die Reaktionen in Berlin............................................................................................... 23 1.4 Kurz notiert ................................................................................... 25 1.4.1 "al-Quds"-Demonstration ............................................................... 25 2 LEGALISTISCHER ISLAMISMUS....................................................... 26 2.1 Überblick........................................................................................ 26 2.2 Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) ............. 27 3 RECHTSEXTREMISMUS ................................................................... 35 3.1 Überblick........................................................................................ 35 3.2 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus............................... 40 3.2.1 Strukturkrise der rechtsextremistischen Parteien............................ 40 3.2.2 NPD reibt sich in internen Auseinandersetzungen auf ................... 48 3.3 Aktionsorientierter Rechtsextremismus ..................................... 55 3.3.1 Das Netzwerk "Freie Kräfte" als aktives Zentrum des Berliner Rechtsextremismus ......................................................................... 55 3.3.2 Netzwerk "Rechtsextremistische Musik" im Fokus staatlicher Exekutivmaßnahmen....................................................................... 70 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2008 VII 4. LINKSEXTREMISMUS....................................................................... 76 4.1 Überblick........................................................................................ 76 4.2 Berliner Szene: zersplittert, aber hohes Aktionsniveau............ 81 4.2.1 Das Thema "Umstrukturierung" gewinnt weiter an Bedeutung..... 82 4.2.2 Brennende Autos............................................................................. 89 4.2.3 "Antimilitarismus" .......................................................................... 92 4.2.4 "Antifaschistischer Kampf" wirkt mobilisierend ........................... 94 4.2.5 "Antirepression" - Bedrohung von Politikern, Angriffe auf Polizei.............................................................................................. 95 4.3 Linksextremisten nutzen Großveranstaltungen als Bühne für gewalttätigen Protest ............................................................ 100 4.3.1 Proteste gegen den NATO-Gipfel................................................. 101 4.3.2 UN-Klimakonferenz...................................................................... 106 4.3.3 Gewalttätige Ausschreitungen am 1. Mai..................................... 109 4.4 Kurz notiert ................................................................................. 112 4.4.1 Mutmaßliche Mitglieder der "militanten gruppe" verurteilt ........ 112 5 EXTREMISTISCHE BESTREBUNGEN AUSLÄNDISCHER ORGANISATIONEN (OHNE ISLAMISMUS) ...................................... 115 5.1 Überblick...................................................................................... 115 5.2 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK): Neuer Gewaltausbruch auf Grund veränderter Haftbedingungen Öcalans ................. 117 5.3 Kurz notiert ................................................................................. 122 5.3.1 Exekutivmaßnahmen gegen die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei - Front" (DHKP-C)................................... 122 6 "SCIENTOLOGY ORGANISATION" ................................................ 124 6.1 Scientology wirbt in Berlin weitgehend erfolglos .................... 124 7 SPIONAGEABWEHR ....................................................................... 127 VIII VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 8 GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ ................................................ 129 8.1 Personeller und materieller Geheimschutz im öffentlichen Bereich .................................................................... 129 8.2 Geheimschutz in der Wirtschaft................................................ 132 8.3 Sabotageschutz ............................................................................ 136 8.4 Mitwirkung bei Einbürgerungsverfahren und sonstigen gesetzlich vorgeschriebenen Überprüfungen ........................... 136 HINTERGRUNDINFORMATIONEN ............................................ 143 1 IDEOLOGIEN .................................................................................. 144 1.1 Definition Extremismus.............................................................. 144 1.2 Islamistische Ideologie ................................................................ 145 1.3 Ideologie des Rechtsextremismus .............................................. 148 1.4 Ideologie des Linksextremismus ................................................ 150 2 ISLAMISTISCHE TERRORISTEN UND GEWALT-ORIENTIERTE ISLAMISTEN ................................................................................... 153 2.1 Transnationale Terrornetzwerke .............................................. 153 2.1.1 "Ansar al-Islam" ("Anhänger des Islam") .................................... 153 2.1.2 "Al-Qaida" und "Mujahidin-Netzwerke" ..................................... 154 2.2 Regional gewaltausübende Islamisten....................................... 159 2.2.1 "Hizb Allah" ("Partei Gottes") ..................................................... 159 2.2.2 "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS) ................ 161 2.3 Gewaltbefürwortende Islamisten .............................................. 163 2.3.1 "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung") .................................... 163 3 SONSTIGE ISLAMISTEN ................................................................. 165 3.1 "Tabligh-i Jama'at" / "Jama'at-i Tabligh" ("Gemeinschaft der Verkündigung und Mission").................. 165 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2008 IX 4 LEGALISTISCHE ISLAMISTEN ....................................................... 167 4.1 Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. .......................... 167 4.2 "Muslimbruderschaft" / "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V."....................................................................... 172 5 RECHTSEXTREMISMUS ................................................................. 177 5.1 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus............................. 177 5.1.1 "Deutsche Volksunion"................................................................. 177 5.1.2 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands"............................. 179 5.2 Aktionsorientierter Rechtsextremismus ................................... 183 5.2.1 Neonazis........................................................................................ 183 5.2.2 Skinheads ...................................................................................... 184 5.2.3 "Autonome Nationalisten"............................................................ 185 5.2.4 "Vandalen - Ariogermanische Kampfgemeinschaft"................... 186 5.2.5 Netzwerk "Freie Kräfte" (vorm. Netzwerk Kameradschaften) .... 187 5.2.6 "Kameradschaft Spreewacht" ....................................................... 189 5.2.7 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V." ............................................................... 190 5.2.8 Rechtsextremistische Musik ......................................................... 191 5.2.9 "Hammerskins"............................................................................. 194 5.3 Diskursorientierter Rechtsextremismus ................................... 195 5.3.1 Die "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V."...................................... 195 5.3.2 "Heimattreue Deutsche Jugend e. V." .......................................... 197 5.3.3 Revisionismus ............................................................................... 199 X VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 6 LINKSEXTREMISMUS ..................................................................... 201 6.1 Aktionsorientierter Linksextremismus..................................... 201 6.1.1 "Antifaschistische Linke Berlin" .................................................. 201 6.1.2 "Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin"......................... 204 6.1.3 Autonome ...................................................................................... 206 6.1.4 "militante gruppe"......................................................................... 210 6.1.5 "Rote Hilfe" .................................................................................. 212 6.2 Parlamentsorientierter Linksextremismus............................... 215 6.2.1 "Deutsche Kommunistische Partei"" ............................................ 215 6.2.2 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" ........................ 217 6.2.3 "marx21" ....................................................................................... 219 6.2.4 "Sozialistische Alternative e. V." ................................................. 221 7 EXTREMISTISCHE UND SICHERHEITSGEFÄHRDENDE BESTREBUNGEN AUSLÄNDISCHER ORGANISATIONEN (OHNE ISLAMISMUS)...................................... 224 7.1 Kurdische Extremisten ............................................................... 224 7.1.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" ("Partiya Karkeren Kurdistan")....... 224 7.2 Türkische Extremisten ............................................................... 227 7.2.1 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" / "Volksbefreiungspartei-Front der Türkei - Revolutionäre Linke" .................................................................... 227 8 "SCIENTOLOGY ORGANISATION" ................................................ 229 VERFASSUNGSSCHUTZ BERLIN................................................... 231 1 STRUKTUR ..................................................................................... 232 2 GESETZLICHE GRUNDLAGEN ....................................................... 233 2.1 Aufgaben und Befugnisse ........................................................... 233 2.2 Entwicklungen in der Rechtsprechung und Gesetzesnovellierungen............................................................... 233 2.3 Kontrolle ...................................................................................... 235 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2008 XI 3 ARBEITSWEISE .............................................................................. 236 3.1 Informationsbeschaffung ........................................................... 236 3.2 Informationsbearbeitung ........................................................... 237 3.3 Informationsweitergabe ............................................................. 238 3.3.1 Zusammenarbeit mit anderen Behörden ....................................... 238 3.3.2 Öffentlichkeitsarbeit...................................................................... 240 ANHANG.............................................................................................245 1 Gesetz über den Verfassungsschutz Berlin .......................258 2 Personenund Sachregister ................................................271 KTUELLE ENTWICKLUNGEN - ISLAMISTISCHER TERRORISMUS1 Aktuelle Entwicklungen in den Beobachtungsfeldern 2 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 1 ISLAMISTISCHER TERRORISMUS 1.1 Überblick Personenpotenzial vielfältige ErscheiDer islamistische Terrorismus zeigt sich in vielfältigen Ernungsformen scheinungsformen. Transnationale Terrornetzwerke, regional gewaltausübende Organisationen und gewaltbefürwortende Gruppen sind dabei zu unterscheiden. transnationale TerrorTransnationale Terrornetzwerke wie "Al-Qaida" oder die netzwerke "Mujahidin", "Ansar al-Islam" oder das "Islamische Emirat Kaukasus" sind äußerst klandestin, haben unterschiedlich ausgeprägte Organisationsstrukturen und sind teilweise untereinander vernetzt. Der Einfluss von "al-Qaida" geht zudem weit über die eigenen Strukturen hinaus, indem sie mit ihrem jihadistischen Gedankengut ideologische Begründungen für unabhängige Kleingruppen oder Einzeltäter liefert, sie "inspiriert" und zu deren Radikalisierung beiträgt. Ein zentrales Propagandainstrument ist dabei das Internet. Quantitativ ist dieses Personenpotenzial im Ganzen kaum zu erfassen. Informationen liegen den Bundessicherheitsbehörden aber zu rund 200 Personen mit Deutschland-Bezug vor, die sich in einem islamistisch-terroristischen Ausbildungslagern aufgehalten haben sollen. regional gewaltausRegional gewaltausübende Organisationen agieren vor allem übende Organisationen in ihren Heimatländern terroristisch - etwa durch terroristische Aktivitäten gegen den Staat Israel. In Berlin zählen dazu die arabischen Organisationen "Hizb Allah" und HAMAS. Die Angehörigen dieser Gruppen verhalten sich in Deutschland in der Regel zurückhaltend und gewaltfrei. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - ISLAMISTISCHER TERRORISMUS 3 Des Weiteren gibt es in Berlin Anhänger gewaltbefürwortender Gruppen wie der "Hizb ut-Tahrir" ( HuT) und des Kalifatsstaats. Personenpotenzial Gewaltorientierte Islamisten* Berlin Bund 2008 2009 2008 2009 Gesamt 430 410 2 950 2 900 (soweit statistisch erfassbar) unterteilt nach den Personenpotenzialen einzelner Personenzusammenschlüsse: Transnationale Terrornetzwerke, davon Al-Qaida / Keine gesiKeine gesiKeine gesiKeine gesiMujahidin-Netzwerke / cherten cherten cherten cherten Ansar al-Islam etc. Zahlen Zahlen Zahlen Zahlen Islamisches Emirat Kaukasus 50 50 500 500 Regional gewaltausübende Gruppen, davon: Hizb Allah 180 180 900 900 Hamas 50 50 300 300 Gewaltbefürwortende Gruppen, davon: Hizb ut-Tahrir 100 80 350 300 (Einzel(EinzelKalifatsstaat 750 750 personen) personen) Iranische Islamisten 50 50 150 150 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. 4 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Entwicklungen Deutschland unveränDeutschland liegt unverändert im Zielspektrum des islamistidert im Zielspektrum schen Terrorismus. Seit Anfang 2009 verschärften militante des islamistischen Terrorismus Islamisten die Drohkulisse gegenüber Deutschland durch eine massive Medienoffensive. Neu ist die Veröffentlichung von Propagandamaterial auf Deutsch in so großer Zahl und so kurzem Zeitabstand. Berlin rückte dabei als mögliches Anschlagsziel in den Blickpunkt militant-islamistischer Propaganda. Als Begründung für die Drohungen nennen die Täter das deutsche Engagement in Afghanistan. Auch die Ausreise in terroristische Ausbildungslager hat stark zugenommen: Ende 2009 hatten schätzungsweise 185 Personen mit Deutschland-Bezug entweder bereits eine paramilitärische Ausbildung absolviert oder planten eine solche. 1.2 Transnationaler islamistischer Terrorismus 1.2.1 Erhöhte Gefährdungslage durch deutsches Engagement in Afghanistan militante Islamisten Deutschland liegt weiterhin im Fokus des islamistischen Terverschärfen Drohkulisse gegen Deutschland rorismus. Zum einen verschärften militante Islamisten seit Anfang 2009 die Drohkulisse gegenüber Deutschland durch eine Medienoffensive in bisher unbekanntem Ausmaß, zum anderen nahm die Zahl der Ausreisen in terroristische Ausbildungslager zu. Die Entwicklung im Jahr 2009 prägten vor allem die Veröffentlichung der ersten Videobotschaft von "al-Qaida" auf Deutsch sowie zahlreiche deutschsprachige Aufrufe zum bewaffneten Jihad. Dabei warb auch eine Frau AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - ISLAMISTISCHER TERRORISMUS 5 in deutscher Sprache dafür, sich den Mujahidin anzuschließen. Berlin rückte als potenzielles Anschlagsziel in den Blickpunkt militant-islamistischer Propaganda. Mit Anschlägen gegen deutsche Interessen und Einrichtunjihad-salafistische gen muss gerechnet werden - vor allem in den Regionen AfIdeologie ghanistan/Pakistan und Maghreb/Sahel, aber auch in Deutschland. Als Rechtfertigungsgrund für Anschläge dient den islamistischen Terroristen, die in ihrer überwiegenden Mehrheit Anhänger der jihad-salafistischen Ideologie 1 sind, vor allem das deutsche Engagement in Afghanistan, das sie als Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Muslime betrachten. Darüber hinaus begründen sie die Anwendung von Gewalt mit der aus ihrer Sicht einseitigen Parteinahme Deutschlands zugunsten Israels im Nahost-Konflikt sowie mit dem angeblich islamfeindlichen Verhalten der Deutschen, das sich etwa in der Veröffentlichung von Karikaturen des Propheten Muhammad zeige. 2 Medienoffensive gegen Deutschland Seit Beginn des Jahres 2009 intensivierte sich die militantpolitische Einflussnahme und Rekrutieislamistische Propaganda mit unmittelbaren Deutschlandberung als Ziel zügen deutlich. Zum einen soll damit Einfluss auf die politische Willensbildung in Deutschland genommen und der Rückzug deutscher Soldaten und Polizeikräfte aus Afghanistan erreicht werden. Zum anderen sollen hier lebende Muslime für den bewaffneten Kampf rekrutiert werden. Die Veröffentlichung von Propagandamaterial auf Deutsch Anstieg der in so großer Zahl und so kurzem Zeitabstand stellt ein NoDrohbotschaften vum dar. Im Vergleich zu 2008 war ein deutlicher Anstieg von sechs auf 24 Botschaften mit unmittelbaren Deutschlandbezügen zu verzeichnen. Deutschland ist neben den USA der einzige Staat, dessen Bevölkerung von ausländi- 1 Zur jihad-salafistischen Ideologie vgl. das Kapitel "Ideologie des Islamismus", S. 5. Weitere Einzelheiten zum Salafismus finden sich in: Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 5, 13 f., 29-34. 2 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 19 f., 22. 6 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 schen terroristischen Organisationen in der Muttersprache angesprochen wird - "al-Qaida" setzt dafür sogar eigens einen deutschsprachigen Propagandisten ein. 3 Neben "alQaida" haben auch die "Islamische Bewegung Usbekistan" (IBU) sowie die "Islamische Jihad-Union" (IJU) Internetbotschaften auf Deutsch veröffentlicht. Die "deutschen Jihadisten" in den Videound Audiobotschaften wirken an den Kampfschauplätzen authentischer und auf junge Muslime und Konvertiten beeindruckender als die nur im virtuellen Raum aktiven Personen des globalen Jihad, wie etwa von der "Globalen Islamischen Medienfront" (GIMF). 4 Es besteht durch Identifikation mit diesen "Vorbildern" eine erhöhte Gefahr der Radikalisierung und Rekrutierung potenzieller Anhänger in Deutschland. Zahlreiche deutschsprachige Drohbotschaften bis April 2009 erste deutschsprachiEine erste Welle deutschsprachiger Videobotschaften wurde ge Videobotschaft zu Beginn des Jahres veröffentlicht. Einen besonderen Stelvon ("al-Qaida") lenwert hatte dabei die im Januar publizierte erste deutschsprachige Videobotschaft von "al-Qaida". In ihr forderte der deutsche Staatsangehörige Bekkay H. die Deutschen auf, bei den kommenden Wahlen eine Regierung zu wählen, die die Bundeswehr aus Afghanistan abzieht. Andernfalls müssten sie mit Anschlägen auch durch gewaltbereite Konvertiten rechnen: "Doch haben die Deutschen im September 2009 eine einmalige und greifbare Chance [ ]. Ich gehe davon aus, dass das deutsche Volk die richtige Wahl treffen wird und jeden unnötigen Ärger vermeiden will. Die Deutschen haben eine neue Hoff- 3 Zuvor hatte sich nur der US-amerikanische Konvertit Adam G. in englischer Sprache an die US-Bevölkerung mit Propaganda für "al-Qaida" gewandt. 4 Die "Globale Islamische Medienfront" (GIMF) hatte im März und November 2007 zwei deutschsprachige Drohvideos gegen Deutschland und Österreich produziert. Festnahmen mehrerer ihrer Internetaktivisten sowie Durchsuchungsmaßnahmen der Generalbundesanwaltschaft führten dazu, dass die deutschsprachige GIMF gegenwärtig keine Rolle mehr spielt. Zu den Aktivitäten der GIMF vgl. auch Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Der Medienjihad der Islamisten, Berlin 2008. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - ISLAMISTISCHER TERRORISMUS 7 nung, wieder in Sicherheit zu leben [ ], ohne ständig von der Angst begleitet zu werden, dass der Schwarzkopf oder der bärtige Blonde eine Bombe sein könnten. Es liegt einzig und allein in Eurer Hand. Sollten die Deutschen diesmal jedoch nicht diesen Weg gehen, dann haben sie ihr eigenes Urteil gefällt." 5 Deutschland als drittgrößter Truppensteller in Afghanistan solle nicht "leichtgläubig und naiv" meinen, von "al-Qaida" und den Taliban verschont zu werden. Der gebürtige Marokkaner Bekkay H., der bis vor drei Jahdeutschsprachiger ren in Bonn lebte, veröffentlichte im Laufe des Jahres fünf Propagandist von "al-Qaida" Videound Audiobotschaften. Er wurde von "al-Qaida" gezielt zu einem Propagandisten aufgebaut, der ihre Ideologie im deutschsprachigen Raum verbreitet. Er soll junge Muslime radikalisieren und für die Belange der Organisation gewinnen. In den deutschsprachigen Videos der "Islamischen Bewedeutschsprachige Vigung Usbekistan" (IBU) stand das Ziel im Vordergrund, undeos der "Islamischen Bewegung Usbekister den hiesigen Muslimen Kämpfer für den Jihad in Afghatan" (IBU) nistan zu rekrutieren. Auch die vermeintliche Pflicht zur Vertreibung der "Ungläubigen" ("Mushrikin") sowie der "vom Islam abgefallenen" arabischen Herrscher ("Murtaddin") war ein wiederkehrendes Thema. Hierzu rief etwa der aus Bonn stammende "Abu Ibraheem" alias Yassin C. auf: "Und wenn auf der Arabischen Halbinsel auf dem gesegneten Boden von Mohammad [...] sich immer noch Mushrikin und [...] Murtaddin befinden, so ist es unsere Aufgabe, sie von dort zu vertreiben. Und wenn in Palästina in der Al-Aqsa-Moschee im- 5 Vgl. deutschsprachige Videobotschaft von "Al-Hafidh Abu Talha der Deutsche" (alias Bekkay H.): "Das Rettungspaket für Deutschland" vom 17.1.2009. Weitere Einzelheiten zu diesem Video vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 6 ff. 8 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 mer noch kein Azan [Gebetsruf] ausgerufen wird, so ist es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen." 6 Die IBU-Videos enthielten keine direkten Drohungen gegen Deutschland, betonten aber immer wieder die feindliche Haltung auch gegenüber der Bundesrepublik. So erklärte Yassin C. zum Kampf der Mujahidin: "Die beste Zeit unseres Lebens ist, wenn die Bomben uns auf die Köpfe fallen. Wir genießen diese Momente [...], im Fadenkreuz der Amerikaner zu stehen, im Kugelhagel der NATO und unter den Tornado-Flugzeugen der Deutschen [...]. Wir genießen diese Momente, die Nähe Allahs." 7 In einem arabischsprachigen Video unterstellte ein "Mohammad Taher Faruq", bei dem es sich um den mittlerweile vermutlich getöteten Anführer der IBU - Tahir Yoldashev - handelt, der deutschen Regierung, sich "im Dienste der Juden" am Krieg in Afghanistan zu beteiligen: "Die deutsche Regierung ist eine verbrecherische Regierung, die sich an diesem Krieg beteiligt. Ihr Großvater Hitler tötete die Juden; aber heute stehen ihre Söhne im Dienste der Juden." 8 Dagegen begründete die "Islamische Jihad-Union" (IJU) ihre Drohbotschaften zwischen dem 27. Dezember 2008 und dem 18. Januar 2009 in erster Linie mit der Haltung der Bundesregierung im Gaza-Konflikt. 9 Intensivierung der Medienkampagne aus Anlass der Bundestagswahl zahlreiche VideoIm Zusammenhang mit der Bundestagswahl am und Audiobotschaf27. September starteten "al-Qaida" und ihr ideologisch naheten ab September stehende terroristische Gruppierungen eine erneute großan- 6 Vgl. deutschsprachige Videobotschaft der "Islamischen Bewegung Usbekistan" (IBU): "Soldaten Allahs" vom 26.2.2009. 7 Vgl. deutschsprachige Videobotschaft der "Islamischen Bewegung Usbekistan" (IBU): "Sieg oder Shahada" vom 10.4.2009. (Schreibweise wie im Original.) 8 Ebenda. 9 Vgl. Videobotschaft der "Islamischen Jihad-Union" (IJU): "Ihr seid nicht alleine..." vom 27.1.2009. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 8 f. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - ISLAMISTISCHER TERRORISMUS 9 gelegte Medienoffensive, die die Kampagne von Anfang des Jahres noch übertraf. Dabei handelte es sich um Videound Audiobotschaften vor allem deutschsprachiger Mujahidin, aber auch von Usama Bin Ladin und Ayman al-Zawahiri. In einem Video des "al"Elif Medya" droht mit "Angriff auf Qaida" nahestehenden MeDeutschland" dienproduktionszentrums "Elif Medya" rückte Deutschland in das Zielspektrum. Ein "Ayyub Almani" drohte in deutscher Sprache wegen des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan mit einem "Angriff auf Deutschland": "Merkt euch [...] Eure Grenzen werden am Hindukusch nicht verteidigt. Erst durch euren Einsatz hier gegen den Islam wird der Angriff auf Deutschland für uns Mujahidin verlockend. Damit auch ihr etwas [...] von dem Leid kostet, welches das unschuldige afghanische Volk Tag für Tag ertragen muss. Daher ist euer Sicherheitsgefühl nur eine Illusion. Und es ist nur eine Frage der Zeit bis der Jihad die deutschen Mauern einreißt." 10 Es wurden Bilder vom Brandenburger Tor, der Skyline von Frankfurt a. M., des Oktoberfests in München, des Hamburger Hauptbahnhofs sowie des Kölner Doms eingeblendet. "Ayyub Almani" kündigt die Vernichtung der Amerikaner Propaganda für die und Deutschen in Afghanistan an und lehnt die Demokratie Einführung der Scharia als für Afghanistan ungeeignet ab. Stattdessen tritt er für die Einführung der Scharia ein: "Versteht, ihr habt dem dreckigen Kriegstreiber USA nichts zu schulden. [...] Sie versuchen mit allen Mitteln ihre Demokratie dem afghanischen Volk aufzuzwingen. Doch das Volk will diesen Schrott nicht. In Deutschland funktioniert die Demokratie doch seit 60 Jahren nicht. Und in Afghanistan wird es erst recht nicht funktionieren. Denn die einzige Gesetzgebung, die zwischen den Geschöpfen funktionieren kann, ist die vom Schöpfer selbst und das ist die Scharia. Diesen Krieg könnt ihr und euer Onkel Sam niemals gewinnen. [...] Auf diesem Boden wurden die Briten vernichtend geschlagen, die Russen wurden 10 Ebenda. 10 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 vernichtend geschlagen und jetzt werden die amerikanischen Kreuzzügler und ihr Deutschen vernichtet... ." 11 Bedrohung deutscher Die Produzenten des Videos personalisierten die DrohkulisPolitiker se, indem sie Bilder des damaligen Innenministers Wolfgang Schäuble sowie der beiden ehemaligen Verteidigungsminister Peter Struck und Franz-Josef Jung einblendeten. Auf Letzteren, der als "Kriegsminister" tituliert wurde, konzentrierte sich die Propaganda. Im Zusammenhang mit dem am 3. September von der Bundeswehr angeordneten Luftschlag gegen zwei von den Taliban entführte Tanklastzüge drohte "Ayyub Almani": "Ihr Blut klebt an den Händen, an den Händen eurer dreckigen Truppen und denen von Franz-Josef Jung, einem Mann ohne Rückgrat, ein Verbrecher, ein Lügner, ein Fall für den Henker." 12 Das Video zeigte vermummte Kämpfer der sogenannten "Deutschen Taliban Mujahidin" beim Schießtraining. "Deutsche Taliban In einer kurz darauf veröffentlichten schriftlichen Erklärung Mujahidin" der "Deutschen Taliban Mujahidin", die in deutscher Sprache die in Afghanistan eingesetzten Bundeswehrsoldaten bedrohte, behaupteten die Verfasser, es gebe eine Einheit militanter deutscher Islamisten unter dem Dach der Taliban. 13 11 Ebenda. 12 Ebenda. (Schreibweise wie im Original.) 13 Vgl. deutschsprachige Erklärung der "Deutschen Taliban Mujahidin": "Die einzige Alternative ist der Widerstand und die Verbundenheit mit dem Jihad" vom 8.10.2009. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - ISLAMISTISCHER TERRORISMUS 11 Neben "Ayyub Almani" richtete Bekkay H. die deutlichsten versuchte EinflussDrohungen an die deutsche Adresse. In der Videobotschaft nahme auf die Bundestagswahl "Sicherheit - ein geteiltes Schicksal" bekräftigte er im Namen von "al-Qaida" seine bereits zu Anfang des Jahres erhobene Forderung, Deutschland müsse seine Truppen aus Afghanistan abziehen. Hierbei machte er das deutsche Volk für den Afghanistaneinsatz verantwortlich, weil es die Regierung durch Wahlen legitimiert: "In einer Demokratie geht jede Gewalt vom Volk aus, auch die Gewalt gegen die afghanische Zivilbevölkerung". 14 Wie zu Beginn des Jahres bezeichnete er die Wahlentscheidung bei der Bundestagswahl im September als Richtungsentscheidung, bei der das deutsche Volk die Parteien zum Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan veranlassen sollte. Für diesen Fall versprach er den Rückzug von Mujahedin aus Deutschland: "Wenn das deutsche Volk sich dem Frieden jetzt zuneigt, dann werden die Mujahidin sich dem Frieden auch zuneigen. Und mit dem Abzug des letzten deutschen Soldaten aus Afghanistan wird der letzte Mujahid aus Deutschland zurückgezogen. Dafür steht al-Qaida mit ihrem Namen." 15 Andernfalls drohte er nach den Wahlen Konsequenzen an: "Sollte allerdings das deutsche Volk seine zur Auswahl stehenden Parteien nicht mehrheitlich dazu bewegen wollen, die deutschen Soldaten aus Afghanistan abzuziehen, dann wird es nach den Wahlen ein böses Erwachen geben." 16 Seine Drohung unterstrich er durch die Warnung an die Muslime in Deutschland, sich für die Dauer von zwei Wochen nach der Wahl "von allem, was nicht lebensnotwendig ist", fernzuhalten, sollten die Deutschen am 27. September nicht die richtige Entscheidung getroffen haben. Außerdem riet er ihnen, auf ihre Kinder aufzupassen: 14 Ebenda. 15 Ebenda. 16 Ebenda. 12 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 "Behält [sic!] in dieser Zeit bitte Eure Kinder in Eurer Nähe. Möge Allah [...] Eure Kinder und auch alle Kinder beschützen." 17 Weiterhin hob er hervor, Afghanistan sei nicht das 17. Bundesland und auch kein Bierzelt, in dem das ganze Jahr über Oktoberfest gefeiert werden könne. Bemühen um AkzepEine Besonderheit dieses Videos stellte der Bekleidungsstil tanz beim westlichen von Bekkay H. dar, der hier im Gegensatz zu seinen anderen Publikum Verlautbarungen in Anzug und Krawatte auftrat. Seine Ansprache wies nicht nur inhaltlich Parallelen zur Kairoer Rede des US-Präsidenten Obama an die muslimische Welt vom 4. Juni auf. Er versuchte auf diese Weise Akzeptanz bei einem westlichen Publikum zu erreichen. Zahlreiche deutschsprachige Rekrutierungsversuche für den militanten Jihad Aufruf zum Jihad In weiteren deutschsprachigen Verlautbarungen standen nicht Drohungen gegen Deutschland, sondern der Aufruf zum Jihad im Vordergrund. Einige Botschaften zielten darauf ab, den bewaffneten Kampf ideologisch und islamrechtlich zu "legitimieren". Verfasser dieser Veröffentlichungen waren bekannte Personen aus dem Spektrum des militanten Jihad. 18 17 Ebenda. (Schreibweise wie im Original.) 18 Im Einzelnen sind dies die Videobotschaften des IBUMedienproduktionszentrums "Jundullah": "Vorzüge des Jihad" vom 3.10.2009 sowie die IBU-Videobotschaft "Soldaten Allahs Teil 2" vom 11.1.2010 mit Yassin und Monir C., die Videobotschaft des Medienproduktionszentrums "Elif Medya": "Die Hilfskarawane setzt ihren Weg fort" vom 11.9.2009 mit Eric B., die beiden "al-Qaida"Audiobotschaften "O Allah, ich liebe Dich" (Teil I und II) vom 20. und 25.9.2009 mit Bekkay H. sowie die Videobotschaft des IBU- AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - ISLAMISTISCHER TERRORISMUS 13 Die zum Teil hohe theologische Qualität der Ausführungen - steigende Zahl von etwa eines Yassin C. in dem Video "Vorzüge des Jihad" 19 - Konvertiten und deutschen Muttersprachlern kann dazu beitragen, deutschsprachige Muslime zu radikaliunter den Mujahidin sieren. Tatsächlich gibt es eine steigende Zahl von Konvertiten und deutschen Muttersprachlern unter den Mujahidin. Der deutsche Konvertit Eric B. trat erstmals in einem Video auf, das nicht von der IJU, sondern von dem Medienproduktionszentrum "Elif Medya" veröffentlicht wurde. 20 Mit Shahab D. alias "Abu Askar" aus Hamburg sowie Javad S. alias "Abu Safiyya" aus Bonn beteiligten sich weitere deutschsprachige Mujahidin an der Propagandaoffensive. Laut dem IBU-Medienproduktionszentrum "Jundullah" ist Javad S. im Oktober - möglicherweise bei Kämpfen gegen die pakistanische Armee - den "Märtyrertod" gestorben. 21 Medienproduktionszentrums "Jundullah": "Abu Safiyya in Er kam, sah und siegte!" vom 24.11.2009 mit Javad S. und Shahab D. 19 Vgl. deutschsprachige Videobotschaft des IBU-Medienproduktionszentrums "Jundullah": "Vorzüge des Jihad" vom 3.10.2009. 20 Vgl. deutschsprachige Videobotschaft des Medienproduktionszentrums "Elif Medya": "Die Hilfskarawane setzt ihren Weg fort" vom 11.9.2009. Zu Eric B. und seinem im April 2008 per Video erfolgten Aufruf zum militanten Jihad an die Muslime in Deutschland vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 11 f. 21 Vgl. deutschsprachige Videobotschaft des IBU-Medienproduktionszentrums "Jundullah": "Abu Safiyya in Er kam, sah und siegte!" vom 24.11.2009. 14 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Frauen als Zielgruppe "Ummu Safiyya" In dem "Jundullah"-Video vom 24. November trat mit "Ummu Safiyya" - vermutlich die Ehefrau von Javad S. - erstmals eine Frau in einem deutschsprachigen Propagandavideo auf und rief Frauen zum Jihad auf. "Ummu Safiyya" erklärte, sie sei voller Stolz, dass Allah ihrem Mann die Gunst des "Märtyrertodes" erwiesen habe. Darüber hinaus wandte sie sich an andere Frauen und rief sie auf, sich den Mujahidin anzuschließen: "Ich habe mich für das Leben hier entschieden und werde auch weiterhin meine Pflicht im Jihad erfüllen. Meine lieben Schwestern. Ich rate Euch, leistet Euren Beitrag und schließt Euch den Mujahidin an. Macht Euch auf den Weg, leicht oder schwer, mit oder ohne mahram 22 und folgt dem Beispiel unserer Schwestern, die sich uns alleine angeschlossen haben. Die Freiheit, die Ehre und die Würde der Frau werdet Ihr nirgendwo so zu spüren bekommen, wie bei uns. Die Mujahidin, sie erfüllen sowohl ihre Pflicht gegenüber der gesamten umma als auch ihre persönlichen Pflichten als Ehemänner und Familienväter und Versorger von Witwen und Waisen, so wie Allah es ihnen vorschreibt." 23 Bekräftigung der Drohungen gegen Deutschland in arabischsprachigen Verlautbarungen Neben den deutschsprachigen Botschaften von Bekkay H. veröffentlichte "al-Qaida" auch mehrere arabischsprachige Verlautbarungen, in denen ihre Führungsriege - Usama Bin Ladin, Ayman al-Zawahiri und das ranghohe Mitglied Shaykh Atiyatullah - mit Anschlägen gegen deutsche Interessen und Einrichtungen drohten. Erneut bezogen sie sich in 22 Der arabische Ausdruck "mahram" bedeutet übersetzt "nicht heiratbar". Er steht hier für einen männlichen Begleiter, der in einem die Ehe ausschließenden verwandtschaftlichen Verhältnis zur Frau steht. 23 Vgl. deutschsprachige Videobotschaft des IBU-Medienproduktionszentrums "Jundullah": "Abu Safiyya in Er kam, sah und siegte!", a.a.O., vom 24.11.2009. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - ISLAMISTISCHER TERRORISMUS 15 erster Linie auf die Bundestagswahl und den Afghanistaneinsatz deutscher Truppen. In dem Video zum Jahrestag der Anschläge vom "al-Qaida" nennt 11. September 2001 "Der Westen und der dunkle Tunnel", Bundestagswahl "Weggabelung" rief Ayatulla die Bundeskanzlerin auf, "ihre Haltung [zum Militäreinsatz deutscher Truppen] zu revidieren". 24 Dabei nahm er explizit Bezug auf die Warnung, die Bekkay H. in seiner Videobotschaft "Sicherheit - ein geteiltes Schicksal" an die Adresse Deutschlands gerichtet hatte. Ebenso wie Bekkay H. sprach auch Shaykh Atiyatullah davon, dass Deutschland angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl "an einer Weggabelung" 25 stehe. Das Aufgreifen der Botschaft von Bekkay H. durch ein führendes "alQaida"-Mitglied zeigt dessen herausgehobene Bedeutung. Am Tag der Bundestagswahl meldete sich auch der ChefForderung nach ideologe von "al-Qaida", Ayman al-Zawahiri, mit einer AuRückzug der deutschen Truppen aus diobotschaft zu Wort, in der er den Rückzug deutscher TrupAfghanistan pen aus Afghanistan und den übrigen islamischen Ländern forderte. Es sei eine "Dreistigkeit" der Bundeskanzlerin zu behaupten, die Entsendung deutscher Soldaten nach Afghanistan sei notwendig für die internationale Sicherheit: "Die deutsche Bundeskanzlerin lügt im Bundestag die Deutschen an, indem sie die Entsendung deutscher Kräfte nach Afghanistan als notwendig für die internationale Sicherheit und den internationalen Frieden darstellt. Welche Dreistigkeit besitzt die Kanzlerin, so zu lügen? Denn der internationale Frieden und die internationale Sicherheit werden erst verwirklicht, wenn ihr die islamischen Länder verlasst, euch nicht mehr in die Angelegenheiten der Muslime einmischt und mit der Plünderung ihrer 24 Vgl. Videobotschaft von "al-Qaida": "Der Westen und der dunkle Tunnel" vom 22.9.2009 25 Ebenda. 16 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Schätze und der Unterstützung der Regentern in den islamischen Ländern aufhört." 26 Die Deutschen bezeichnete al-Zawahiri zusammen mit den US-Amerikanern und Briten als eine "kreuzzüglerische Verbrecher-Bande" und sagte deren Niederlage voraus. In diesem Zusammenhang hieß er ironisch "die Karawane der Verlierer und der Besiegten" in Afghanistan willkommen. Mit Anschlägen in Deutschland drohte al-Zawahiri zwar nicht, kündigte aber an, dass jeder nach Afghanistan geschickte Soldat getötet werde. "Botschaft an die Der Höhepunkt der Propagandaoffensive war die VerlautbaVölker Europas" von rung "Botschaft an die Völker Europas" von Usama Bin LaUsama Bin Ladin din. Darin kündigte er die Fortsetzung des bewaffneten Jihad gegen die europäischen Truppen in Afghanistan an, sollten diese nicht ihren Krieg gegen das afghanische Volk beenden und das Land verlassen. 27 Die Erwähnung der Anschläge von Madrid 2004 und London 2005 waren eine Drohung mit Konsequenzen für Europa. 26 Vgl. Audiobotschaft von Ayman al-Zawahiri: "Nachruf auf den Märtyrer und Emir Baitullah, Vorbild der Jugend" vom 27.9.2009. Der Titel der Verlautbarung bezieht sich auf Baitullah Mehsud, den im August 2009 getöteten Anführer des pakistanischen Zweiges der Taliban "Tehrik-e Taliban Pakistan" (TTP). Nachfolgende Zitate ebenda. 27 Hierzu und im folgenden vgl. Audiobotschaft von Usama Bin Ladin: "Botschaft an die Völker Europas" vom 25.9.2009. Schon am 30.11.2007 hatte Bin Ladin eine Audiobotschaft mit demselben Titel veröffentlicht, in der er sich in ähnlicher Weise äußerte. Auch die damalige Verlautbarung enthielt deutsche Untertitel. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2007. Berlin 2008, S. 85 f. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - ISLAMISTISCHER TERRORISMUS 17 Obwohl Deutschland - anders als in den restlichen hier beschriebenen Botschaften - in dieser Verlautbarung nicht explizit genannt wurde, deuten eine Reihe von Hinweisen darauf hin, dass die Bundesrepublik der Hauptadressat war. Bin Ladin sprach im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise vom "Herz Europas", das "vom ersten Platz der Liste der exportierenden Länder der Welt zurückgedrängt wurde". Die Botschaft weist deutsche Untertitel sowie ein Standbild mit schwarz-rot-goldenem Hintergrund auf und wurde unmittelbar vor der Bundestagswahl veröffentlicht. Die Veröffentlichung von Videound Audiobotschaften in Aufbau einer Drohkuso großer Zahl zu bestimmten Anlässen wie der Bundeslisse soll Bevölkerung verunsichern tagswahl oder dem Tag der deutschen Einheit ist Teil der "psychologischen Kriegsführung" al-Qaidas und anderer jihadistischer Gruppen. Durch den Aufbau einer Drohkulisse soll die Bevölkerung verunsichert und Druck auf die politisch Verantwortlichen ausgeübt werden, die Truppen aus Afghanistan abzuziehen. Teil dieser Strategie war auch eine im Januar 2010 veröffentlichte Videobotschaft der IBU, in der ein Kämpfer mit Mörsergranate in der Hand auch Berlin bedrohte: "Insha' Allah [So Gott will] fliegt diese [Mörsergranate] hier nach Berlin oder noch besser nach Washington und insha' Allah fällt sie genau auf das weiße Haus und zerschmettert es." 28 Reaktionen auf die Medienoffensive in militantislamistischen Internetforen Die Drohbotschaften führten in militant-islamistischen Internetforen zu zahlreichen befürwortenden und aggressiven Reaktionen. Anschlagsdrohungen und islamistische Propaganda wurden Massen-Emails an durch Massen-Emails an Unternehmen, Vereine, Behörden Unternehmen, Vereine, Behörden oder oder Privatpersonen versandt. Viele Internetnutzer begrüßten Privatpersonen Anschläge in Deutschland, manche unterbreiteten sogar Vorschläge zu erwünschten Angriffszielen. 28 Ebenda. Bei dem Zitat handelt es sich um einen deutschsprachigen Untertitel. 18 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Als Reaktion auf das Ergebnis der Bundestagswahl kündigte ein anonymer Teilnehmer eines Internetforums einen Anschlag an einem der Sonntage des Monats Oktober an. In einem arabischsprachigen Beitrag vom 3. Oktober, der zusätzlich als Massen-email in englischer Sprache an zahlreiche Empfänger gesandt wurde, drohte er: "Diese arroganten Völker [US-Amerikaner, Spanier und Briten] wurden sicherlich über die Anschläge und ihre Tage nicht informiert, im Gegensatz zu Euch, denn Ihr wart sehr glücklich, dass wir Euch die Wahl überlassen haben, und Ihr habt Blut, Leichenteile und Zerstörung gewählt. [...] Was meint Ihr zum Sonntag? Er ist ein schöner Tag und [auch] ein Feiertag für Euch sowie für die anderen Angehörigen Eurer Religion! Angela Merkel, Du hast bestimmt den Toast des Sieges getrunken! [...] Sein Geschmack und seine Farbe werden aber dieses Mal anders sein, denn das Glas wird voll von dem Blut Deines Volkes sein, welches Dich gewählt und sich für den Krieg entschieden hat" 29 Das Anschlagsziel ließ er offen, neben Berlin nannte er auch Bonn, Frankfurt oder Hamburg. Drohung gegen Berlin Eine Reihe von Reaktionen in diesen Foren betrafen auch Berlin. So wünschte sich ein arabischsprachiger Autor einen Gedenktag für Berlin, der den Gedenktagen für die Anschläge in New York, London und Madrid entspreche. Seine Botschaft verdeutlichte er mit Fotos dieser Attacken. Er fragte, wann der "grauenvolle Tag" nach Deutschland komme, und kritisierte mehrfach die angebliche Arroganz der Bundesrepublik: "Oh Deutschland, wenn Ihr hochmütig seid, macht Euch gefasst auf etwas, was Euch Schaden zufügt. Bereitet die [Presse-] Erklärungen [für die Zeit] nach den Angriffen vor. Bereitet die Ambulanzen und Krankenhäuser vor und fordert eine große Menge von Beruhigungstabletten an." 30 29 Vgl. "An die ungläubige Nation Deutschlands! Wir erweisen Euch zum dritten Mal eine Gnade, indem wir den gelobten Tag festlegen!" vom 3.10.2009. 30 Vgl. "Erhebt Euch! Der Angriff des Rechts, der Angriff des Ruhms [und] der Angriff der Mujahidin kommt, oh Deutschland" vom 27.9.2009. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - ISLAMISTISCHER TERRORISMUS 19 Ein anderes Forumsmitglied stellte eine Deutschlandund eine Europakarte sowie Fotos mit Vorschlägen für eine Reihe möglicher Anschlagsziele unter anderem in Berlin ein. 31 Es waren Fotos vom Innenstadtbereich rund um den Fernsehturm am Alexanderplatz, vom Potsdamer Platz, aber auch vom "Roten Rathaus". Dieser Nutzer veröffentlichte auch Fotoserien von Hamburg, München und Köln. Ein weiterer Nutzer stellte ein "Bittgebet" zur Auslöschung deutscher Städte in das Internet: "Wir versprechen Gott, täglich für sie [die Mujahidin] zu beten, Berlin und Frankfurt auszulöschen." 32 Ein Forumsmitglied veröffentlichte Bilder verschiedener deutscher Städte - darunter Berlin - mit Angaben über Geografie, Einwohnerzahl und Sehenswürdigkeiten verbunden mit der Drohung: "Lerne das Land kennen, das bald, wenn Gott es will, von alQaida gesprengt wird." 33 Diese aggressiven und hasserfüllten Beiträge zeigen, dass es Forenbeiträge zeigen in Deutschland ein Personenpotenzial gibt, bei dem die ProGefährdungspotenzial in Deutschland paganda und Hetze von al-Qaida und anderen jihadistischen Gruppen auf fruchtbaren Boden fällt. Auch wenn diese Drohungen in den verschiedenen Internetforen nicht anschlagsrelevant waren, zeigen sie doch eine bedenkliche Radikalisierung. Ausreisen in terroristische Ausbildungslager nehmen zu Seit Beginn des Jahres 2009 war eine verstärkte Ausreise verstärkte Ausreisen gewaltbereiter Islamisten aus Deutschland in das pakistain pakistanischafghanisches nisch-afghanische Grenzgebiet festzustellen. Grenzgebiet 31 Vgl. "Oh ihr Deutschen, wir kommen zu Euch zum Schlachten. Die Ziele sind zahlreich, vielfältig und weit verbreitet" vom 29.9.2009. 32 "Wir versprechen Gott, für unsere Brüder [die Mujahidin], die sich auf seinem Pfade bewegen, zu beten, dass sie die Ungläubigen vernichten mögen" vom 5.10.2009. 33 "Lerne das Land kennen, das bald, wenn Gott es will, von al-Qaida gesprengt wird" vom 6.10.2009. 20 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Den Bundessicherheitsbehörden lagen Ende 2009 Informationen zu rund 185 Personen mit Deutschland-Bezug vor, die eine paramilitärische Ausbildung erhalten haben sollen bzw. eine solche beabsichtigten. Zu etwa 65 von ihnen existieren konkrete Hinweise, die für eine absolvierte paramilitärische Ausbildung sprechen. Rund 85 dieser 185 Personen halten sich derzeit vermutlich wieder in Deutschland auf, davon sind ca. 15 Personen inhaftiert. Etwa 30 dieser 185 Personen haben sich mutmaßlich seit Beginn des Jahres 2001 an Kampfhandlungen in Krisenregionen beteiligt. Auch gegenwärtig befinden sich Personen mit Deutschland-Bezug (deutsche Staatsangehörige mit Migrationshintergrund bzw. Konvertiten sowie in Deutschland aufhältig gewesene Personen anderer Staatsangehörigkeit) in Regionen wie dem pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet, in denen Ausbildungslager islamistisch-terroristischer Organisationen liegen. Stammesgebiete im Die Stammesgebiete in diesem Grenzgebiet zwischen PakisGrenzgebiet als tan und Afghanistan sind als Rückzugsund ReorganisatiRückzugsund Reorganisationsraum onsraum für "al-Qaida", die IJU, die IBU oder die Taliban von großer Bedeutung. Zwischen diesen Organisationen gibt es nicht nur enge ideologische, sondern auch persönliche Beziehungen, die bisweilen sogar in eine direkte Kooperation münden. RadikalisierungsAufenthalte in Ausbildungslagern einer Terrororganisation prozesse markieren das Ende eines Radikalisierungsprozesses. Hier sollen künftige Mujahidin in ihrer jihadistischen Glaubensinterpretation bestärkt und für militante Aktionen gewonnen werden. Diese können von der Teilnahme an Kampfeinsätzen an den so genannten "Jihad-Schauplätzen" (Palästinensische Autonomiegebiete, Irak, Afghanistan, Nordkaukasus) über die Beteiligung an Anschlägen, Anschlagsvorbereitungen und -planungen bis hin zu Unterstützeraktivitäten für islamistisch-terroristische Netzwerkstrukturen reichen. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - ISLAMISTISCHER TERRORISMUS 21 Die Rückkehrer aus den Ausbildungslagern nach DeutschRückkehrer nach land stellen ein besonderes Gefährdungspotenzial dar. Man Deutschland sind besonderes Gefährmuss davon ausgehen, dass sie die notwendigen Kenntnisse dungspotenzial und den Willen haben, Anschläge zu begehen. Ein Beispiel ist die so genannte "Sauerland-Gruppe", deren "Sauerland-Gruppe" Mitglieder nach ihrer Rückkehr aus dem pakistanischafghanischen Grenzgebiet im Auftrag der IJU Sprengstoffanschläge in Deutschland geplant haben. Die Konvertiten Fritz G. und Daniel S. sowie der türkischstämmige Adem Y. hatten sich mehr als 700 kg Wasserstoffperoxyd sowie militärische Sprengzünder beschafft. Nachdem sie mehrere Anschlagsziele ausgespäht hatten und in einer Ferienwohnung im sauerländischen Medebach begannen, Sprengstoff herzustellen, wurden sie am 4. September 2007 von der Polizei festgenommen. Der deutsche Staatsangehörige Atilla S. wurde am 20. November 2008 von der Türkei nach Deutschland ausgeliefert. Er war an der Beschaffung von 26 Sprengzündern beteiligt. Am 4. März 2010 verurteilte das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf Fritz G. und Daniel S. unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland, Verabredung zum Mord und Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion zu jeweils zwölf Jahren Freiheitsstrafe, Adem Y. zu elf Jahren und Atilla S. zu fünf Jahren Freiheitsstrafe. 22 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Daniel S. wurde zudem auch wegen versuchten Mordes an einem Polizisten verurteilt. 34 Omid S. Ein weiteres Beispiel ist der Fall des Omid S. Der deutsche Staatsangehörige afghanischer Herkunft hat sich in der Zeit von Mai bis Ende Juli 2007 in einem Lager der IJU aufgehalten und wurde dort für den bewaffneten Kampf ausgebildet. Zusammen mit Hüseyin Ö. wurde Omid S. u. a. wegen Unterstützung dieser ausländischen terroristischen Vereinigung vom OLG Frankfurt am 13. Oktober zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. 35 Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Omid S. die IJU durch Übergabe von Geld und Ausrüstungsgegenständen wie Nachtsichtgeräten und einem Scharfschützengewehr unterstützt hat. Auch Hüseyin Ö. erbrachte für die IJU logistische Unterstützungsleistungen. Zudem überließen Omid S. und Hüseyin Ö. dem mutmaßlichen IJU-Angehörigen und Mitglied der "Sauerland-Gruppe" Adem Y. ihre EC-Karten nebst Geheimnummern, der die auf den Konten eingehenden Sozialleistungen für die Zwecke der IJU einsetzen konnte. Wegen seiner Ausbildung im Terrorlager der IJU wurde Omid S. nicht verurteilt, da die entsprechenden Straftatbestände im Strafgesetzbuch erst am 4. August 2009 in Kraft getreten sind. mehrere Berliner solAuch mehrere Berliner sollen bereits in terroristische Auslen in terroristische bildungslager in Pakistan ausgereist sein. Im Rahmen eines Ausbildungslager ausgereist sein Ermittlungsverfahrens gegen drei Berliner Islamisten wegen des Verdachts der Vorbereitung von Terroranschlägen im Ausland wurden im Oktober 27 Objekte in Berlin durchsucht. Die Ermittler erlangten Hinweise darauf, dass aus deren Kreis einige Personen aus Deutschland ausgereist waren, um sich in pakistanischen Terrorcamps ausbilden zu lassen. Bei den Durchsuchungen konnten unter anderem Computer, 34 Vgl. OLG Düsseldorf: Pressemitteilung Nr. 09/2010 vom 4.3.2010. Die Verurteilung erfolgte gemäß SS 129b, SS 129a Abs. 2, SS 30 sowie SS 211 StGB. 35 OLG Frankfurt a. M.; 5-2 StE 2/09-5-3/09. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - ISLAMISTISCHER TERRORISMUS 23 verschiedene Speichermedien und Outdoor-Bekleidung sichergestellt werden. 1.3 Regional gewaltausübende Islamisten 1.3.1 Der Gaza-Konflikt im Januar 2009 und die Reaktionen in Berlin Der Gaza-Konflikt im Dezember 2008/Januar 2009 spiegelte zahlreiche Demonssich in Berlin durch zahlreiche Demonstrationen und Kundtrationen und Kundgebungen gebungen wider. An diesen Veranstaltungen nahmen auch Anhänger islamistischer Organisationen teil, die sich jedoch selten in der Öffentlichkeit zu erkennen geben. Ausgelöst wurde der Gaza-Konflikt, als die HAMAS nach Beendigung der Waffenstillstandsvereinbarung am 19. Dezember 2008 den Süden Israels unter massiven Raketenbeschuss nahm. Darauf reagierte Israel am 27. Dezember 2008 mit einer Militäroffensive gegen den Gaza-Streifen zunächst durch den Einsatz von Luftstreitkräften und ab dem 3. Januar 2009 auch mit Bodentruppen. Am 18. Januar 2009 verkündete Israel eine einseitige Waffenruhe und begann mit dem Rückzug seiner Truppen aus dem Gaza-Streifen. Auch die HAMAS, die während der Kampfhandlungen weiterhin Raketen auf Israel abschoss, erklärte eine vorläufige Waffenruhe. Während des Waffengangs gab es nur wenige offizielle ÄuAufruf zur dritten ßerungen der HAMAS. Am 27. Dezember 2008 rief der in Intifada Syrien lebende HAMAS-Führer Khaled Mashaal in einem Interview zu einer dritten Intifada auf. Der HAMAS-Führer Mahmoud Sahar drohte am 5. Januar 2009 über den der HAMAS zuzurechnenden TV-Sender "Al-Aqsa-TV" mit weltweiten Anschlägen auf israelische Zivilpersonen und Einrichtungen und erklärte die Tötung israelischer Kinder 24 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 für erlaubt. Anschläge außerhalb Israels und der besetzten Gebiete wurden jedoch nicht durchgeführt. Insbesondere in den muslimischen Ländern, aber auch weltweit kam es zu einer Solidarisierung mit den im GazaStreifen lebenden Menschen. Auch in Deutschland gab es zahlreiche Demonstrationen. Demonstrationen in In Berlin wurde nahezu täglich mit Veranstaltungen gegen Berlin die israelische Militärintervention protestiert. Die größten dieser Demonstrationen fanden am 10. Januar mit ca. 9 000 und am 17. Januar mit ca. 6 000 mehrheitlich arabischstämmigen Teilnehmern unter den Motti "Ereignisse im GazaSteifen" und "Stoppt den Krieg in Gaza" statt. Eine vergleichbare Kundgebung zum Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern mit einer Teilnehmerzahl in dieser Größenordnung fand in Berlin das letzte Mal in der Hochphase der 2. Intifada im Jahr 2002 statt. 36 An den Demonstrationen beteiligten sich Anhänger mehrerer islamistischer Organisationen aber auch nichtextremistische Palästinenser. Diese vertraten dabei ein breites Spektrum von sunnitischund schiitisch-extremistischen Gruppierungen, die sowohl aus dem legalistischen als auch aus dem gewaltbereiten Bereich kamen. Sympathisanten der HAMAS waren an den von der Organisation benutzten grünen Flaggen mit weißem Glaubensbekenntnis erkennbar. Anhänger der islamistischen Gruppierungen Hizb Allah und der IGMG zeigten ebenfalls organisationsbezogene Fahnen. Die Demonstrationen verliefen überwiegend friedlich. Vereinzelte Freiheitsentziehungen standen teilweise in Zusammenhang mit Äußerungen wie zum Beispiel "Oh Nasrallah, du Geliebter, wir zerstören Tel Aviv!". 37 Es wurden auch israelische Fahnen verbrannt. 36 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2002. Berlin 2003, S. 71-73. 37 Hassan Nasrallah ist der Generalsekretär der Hizb Allah. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - ISLAMISTISCHER TERRORISMUS 25 Die Tatsache, dass sich Anhänger dieser Gruppierungen enthohe Emotionalisiegegen ihrem üblichen Verhalten hier öffentlich zu erkennen rung gaben, zeigt den hohen Emotionalisierungsgrad, den dieses Thema unter ihnen auslöst. 1.4 Kurz notiert 1.4.1 "al-Quds"-Demonstration Am 27. September fand in Berlin die jährliche "al-Quds"Demonstration statt (al-Quds: arabische Bezeichnung für Jerusalem). An der als Schweigemarsch konzipierten Demonstration nahmen bis zu 600 Personen teil, die vor allem dem schiitisch-extremistischen Spektrum zuzurechnen sind. Dazu zählen Anhänger des Regimes im Iran und der "Hizb Allah". Auf der Demonstration, die ohne besondere Vorkommnisse verlief, waren Plakate mit Parolen wie "Merkel! Kein Schulterschluss mit den israelischen Kriegsverbrecher" 38 zu sehen. Darüber hinaus wurden auch Bilder der iranischen religiösen Führer Khomeini und Khamenei gezeigt. Der iranische "Revolutionsführer" Ayatollah Khomeini hatte 1979 den "al-Quds"-Tag initiiert, um das Ziel der "Befreiung" der auch für Muslime heiligen Stadt al-Quds zu propagieren. 38 Schreibweise wie im Original. 26 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 2 LEGALISTISCHER ISLAMISMUS 2.1 Überblick Personenpotenzial Die legalistischen islamistischen Gruppierungen "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) und Muslimbruderschaft" (MB) lehnen Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele ab. 39 Auch sie werden in Berlin nur von einer kleinen Minderheit unterstützt. IGMG weiterhin Innerhalb der ca. 3 000 Angehörigen legalistischer islamistigrößter Personenzuscher Gruppierungen in Berlin stellen die türkischen Islasammenschluss misten, die überwiegend in der IGMG organisiert sind, mit ca. 2 900 Personen weiterhin die große Mehrheit. Der arabischen nicht-gewaltorientierten islamistischen MB werden ca. 100 Personen zugerechnet. Personenpotenzial Islamisten* Berlin Bund 2008 2009 2008 2009 Legalistische Islamisten, 3 000 3 000 28 300 30 300 davon IGMG 2 900 2 900 27 000 29 000 Muslimbruderschaft 100 100 1 300 1 300 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. Entwicklungen Verhältnis zur "Milli Die IGMG versuchte im Jahr 2009, ihr Image als politischGörüsBewegung extremistische Bewegung abzustreifen und sich in Deutschland als Religionsgemeinschaft zu präsentieren, dennoch bestehen weiterhin enge Bindungen zwischen der IGMG und der islamistischen Milli Görüs-Bewegung in der Türkei. Die Dialogbemühungen der IGMG haben einen Rückschlag erlitten. Der Bundesminister des Innern hatte den von der IGMG dominierten "Islamrat für die Bundesrepublik 39 Zur Bedeutung legalistischer Islamismus vgl. Kapitel "Islamistische Ideologie", S. 145. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LEGALISTISCHER ISLAMISMUS 27 Deutschland e.V." (IRD) für die am 17. Mai 2010 tagende "Deutsche Islam Konferenz" (DIK) wegen laufender Ermittlungsverfahren gegen führende Mitglieder der IGMG suspendiert und eine "ruhende Mitgliedschaft" angeboten. Dies hat der Islamrat abgelehnt. 2009 setzte sie ihre Jugendund Bildungsarbeit sowie die Unterstützungstätigkeiten im Zusammenhang mit dem Gazakonflikt fort. Diese Trends spiegelten sich auch in der Arbeit der einzelnen Regionalverbände wider. 2.2 Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V." (IGMG) Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) ist keine homogene keine durchgehend homogene Organisation. Während sich Organisation die Organisation früher eng an ihrer Mutterorganisation in der Türkei, der dortigen Milli Görüs-Bewegung, orientierte, scheinen seit einigen Jahren einige Führungsfunktionäre bemüht zu sein, eine größere Eigenständigkeit zu erlangen und sich allmählich vom strikt islamistischen Kurs des "Milli Görüs-Anführers Necmettin Erbakan zu lösen. Dennoch besteht die enge Bindung zwischen der IGMG und der "Milli Görüs-Bewegung in der Türkei sowie Erbakan fort. Die IGMG bietet der "Saadet Partisi" (SP) 40 mit ihren Veranstaltungen eine Plattform, auf der deren Vertreter regelmäßig auftreten. Auch 2009 war ein Schwerpunkt des Berliner LandesverSchwerpunkt des bandes die Jugendund Bildungsarbeit, er setzte zudem die Landesverbandes auf Jugendund Unterstützungstätigkeiten im Zusammenhang mit dem GaBildungsarbeit zakonflikt fort. Eine programmatische Neuausrichtung des eher dem traditionellen Flügel angehörenden Berliner Landesverbandes war nicht erkennbar. Die anhaltende Intransparenz der IGMG-Strukturen wird Bekenntnis zur IGMG daran sichtbar, dass sich Berliner Moscheegemeinden in der bleibt Ausnahme Regel nicht öffentlich zur IGMG bekennen. Eine Ausnahme bildete der Verein Gazi Osman Pasa Camii e. V., der dem 40 Saadet Partisi (Glückseligkeitspartei), Partei der Milli GörüsBewegung. 28 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Dachverband "Islamische Föderation in Berlin e.V." angehört. In einer Anzeige in der "Milli Gazete", die im Namen ihres Vorstandes aufgegeben wurde, bezeichnete der Moscheeverein sich als "IGMG-Moschee". 41 Solche öffentlichen Bekenntnisse haben sich seither nicht wiederholt, so dass offensichtlich keine neue Strategie der Transparenz beabsichtigt ist. Islamrat nimmt nicht mehr an der DIK teil Das Bemühen der IGMG, ihre Kontakte zu Politik und Gesellschaft zu intensivieren und als offizielle Ansprechpartnerin für muslimische Belange und für den Dialog mit Behörden und Politik mit den Muslimen anerkannt zu werden, hat einen Rückschlag erlitten. Der Bundesminister des Innern hat den von der IGMG dominierten "Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland e.V." (IRD) für die am 17. Mai 2010 tagende "Deutsche Islam Konferenz" (DIK) wegen laufender Ermittlungsverfahren gegen führende Mitglieder der IGMG suspendiert und eine "ruhende Mitgliedschaft" angeboten. Dies hat der Islamrat abgelehnt. 42 Ermittlungsverfahren Hintergrund ist ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltgegen führende Funkschaft München gegen führende Funktionäre der IGMG und tionäre der IGMG der "Islamischen Gemeinschaft in Deutschland" (IGD). Es besteht der Verdacht der Bildung einer kriminellen Vereinigung, 43 die durch Erschleichung von öffentlichen Fördermitteln Gelder für islamistische Ziele gesammelt habe. Am 10. März 2009 wurden in diesem Zusammenhang bundesweit zahlreiche Wohnungen, Geschäftsund Vereinsräume durchsucht. Am 2. Dezember wurden die Räume der IGMG-Zentrale und einiger Regionalverbände - darunter der Berliner IGMGLandesverband - durchsucht. Anlass war ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Köln wegen des Verdachts des 41 MillA(r) Gazete vom 15.9.2009, S. 16. 42 Vgl. Internetauftritt der "Deutschen Islam Konferenz", Aufruf 23.4.2010. 43 Gemäß SS 129 StGB. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LEGALISTISCHER ISLAMISMUS 29 Spendenbetrugs sowie des Vorenthaltens von Arbeitnehmerentgelt. 44 Weiterhin enge Verflechtungen zur Milli GörüsBewegung in der Türkei Es bestehen weiterhin enge Bindungen der IGMG zur islamistischen Milli Görüs-Bewegung in der Türkei. Hohe Parteifunktionäre der türkischen SP treten regelmäßig Auftritte hoher SPauf Veranstaltungen der IGMG auf. Insbesondere der SPFunktionäre auf IGMGVeranstaltungen Vorsitzende Numan Kurtulmus war häufig bei den bundesund europaweiten Veranstaltungen der IGMG anwesend. Im Januar 2009 nahm er in Köln an einer Sitzung der Regionalvorsitzenden der IGMG teil und wies auf die Bedeutung der Kooperation zwischen SP und IGMG hin: "Auch wenn es institutionelle Wesensunterschiede gibt, teilen wir als ein Teil der gemeinsamen Zivilisation die gleichen Gefühle und Sorgen wie Sie, die in Europa leben. Daher ist es wichtig, dass wir uns mit Ihnen aus Europa über unsere Probleme austauschen, miteinander kooperieren und füreinander Verständnis entwickeln. Daher sollten wir uns bemühen, uns gegenseitig die Arbeit zu erleichtern." 45 Im Anschluss an die Sitzung der Regionalvorsitzenden be"Tag der Brüderlichsuchte Kurtulmus gemeinsam mit dem Generalsekretär der keit in Köln SP, Turan Alcelik, den von der IGMG organisierten "Tag der Brüderlichkeit" in Köln, wo er sich zu den Ereignissen im Gazastreifen und zur Finanzkrise äußerte. Am zweiten Tag des "Tages der Brüderlichkeit" in Augsburg warb Alcelik offensiv für die SP: "Alcelik teilte mit, dass sich jeden Tag Menschen zu Zehnerund Hundertergruppen der Saadet Partei anschließen und sie bereit für die dritte Aufrichtung 46 sind. Er sagte, dass sie aus 44 Gemäß SS 63 und SS 266 StGB. 45 MillA(r) Gazete vom 3./4.1.2009, S. 1 und 5. MillA(r) Gazete ist das inoffizielle Sprachrohr der Milli Görüs-Bewegung. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 39. 46 Die "erste Aufrichtung" fand gegen Ende der 70er Jahre statt, als Erbakan kurz nach dem Verbot seiner Partei mit einer der Nachfolgeparteien stellvertretender Ministerpräsident wurde. Die "zweite Aufrichtung" erfolgte nach der Verhaftung Erbakans und dem zehnjährigen Politikver- 30 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 den Kommunalwahlen, die am 29. März abgehalten werden, als erste Partei herausgehen werden und auch für die Parlamentswahlen ambitioniert sind. Er teilte mit, dass die Unterdrückungen gegen die Muslime beendet werden, wenn die Saadet Partei in der Türkei an die Macht kommt." 47 Im Gegensatz zum propagierten Machtanspruch der SP, gelang es der Partei mit einem Stimmanteil von rund 5,2 Prozent nicht, bei den Kommunalwahlen in der Türkei die 10 Prozent-Sperrklausel zu überwinden. Relevanz der Jugendund Bildungsarbeit RekrutierungsDie Bildung von Kindern und Jugendlichen nimmt bei der bemühungen IGMG und ihren Regionalverbänden weiterhin einen hohen Stellenwert ein. Hierbei verfolgt die Organisation das Ziel, Jugendliche möglichst früh an sich zu binden, indem sie die unterschiedlichsten Programme für alle Altersstufen anbietet. Neben der Vermittlung religiöser Inhalte geht es der Organisation hierbei vor allem um die Schaffung einer "islamischen Identität". 48 Ziel der Veranstaltungen ist es unter anderem, dass die Teilnehmer "auf der Verbandsebene wichtige Positionen einnehmen". 49 Um den "gegenwärtigen Kampf" der Muslime gegen "den Feind" zu gewinnen, sei eine qualifizierte und gute Ausbildung erforderlich: "Wenn die Muslime wirklich unabhängig, frei und geachtet werden wollen, sind sie gezwungen, qualifizierte Muslime auszubilden, die über einen ausreichenden Bildungsgrad verfügen. [...] Die Muslime dürfen nicht vergessen, dass der gegenwärtige Kampf nicht mit mangelnden Kenntnissen der türkischen, englischen, arabischen Sprache sowie geringen Kenntnissen der klassischen Kultur, der modernen Kultur und der islamischen Kultur zu gewinnen ist. [...] Um stärker, qualifizierter, kultivierter, moralischer, ehrlicher, aufrichtiger und tugendhafter als der bot Erbakans, als dieser 1996 und 1997 Ministerpräsident der Türkei wurde. 47 MillA(r) Gazete vom 5.1.2009, S. 20. 48 Internetauftritt der IGMG vom 6.7.2009. 49 Internetauftritt der IGMG vom 25.4.2009. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LEGALISTISCHER ISLAMISMUS 31 Feind zu sein", müsse man, "um es in einem Satz zu sagen, qualifizierte Muslime ausbilden." 50 Dies geschieht durch die frühe Anbindung der Kinder bzw. Projekt "2 000 Jugendlichen mittels altersgerechter Veranstaltungen. Neben Hausgespräche" der Möglichkeit, an einem IGMG-Kinderclub teilzunehmen, existieren diverse Freizeitangebote (Fußball, Ausflüge), Koranrezitationswettbewerbe sowie Bildungsseminare und Sommerschulen. In sogenannten "Hausgesprächen" werden Vorträge zu unterschiedlichsten Themen in Privathaushalten angeboten. Der IGMG Landesverband Berlin beteiligte sich am Projekt "2 000 Hausgespräche" des Hauptverbandes. 51 Ziel des Projektes war es, 2 000 "Hausgespräche" durchzuführen. Neben diesen Angeboten, die eher in kleineren Kreisen stattfanden, bot der IGMG-Landesverband Berlin zwei Großveranstaltungen mit mehreren hundert Teilnehmern für Kinder und Jugendliche an ("Maide-i Koran" - "Botschaft des Koran - und Namazla Dirilis Auferstehung mit dem Gebet"). Der SP-Vorsitzende Kurtulmus unterstrich die besondere Uniday2009 Bedeutung von Jugendund Bildungsarbeit nicht allein durch seine Anwesenheit am "Uniday2009" am 4. April in Dortmund mit etwa 3 000 Teilnehmern, sondern auch damit, dass er an einer Versammlung "mit Studenten aus ganz Europa" teilnahm, die von dem Leiter der IGMGStudentenabteilung organisiert wurde. Auch diese Veranstaltungen dienten der SP als Plattform für die Verbreitung ihrer Agenda. So äußerte Kurtulmus sich zu weltpolitischen und nationalen Themen und betonte, dass die Welt einer vielschichtigen Krise gegenüberstehe. Er erinnerte die Studenten daran, dass im Zeitalter der globalen Information die Unwissenheit am größten sei und betonte, dass "eine neue Ordnung" vonnöten sei, die all diese Probleme bekämpfe 52 Propagiert wird hier das islamistische Staatsund Gesellislamistisches Staatsschaftsmodell Erbakans. Die "neue Ordnung" Erbakans und Gesellschaftsmodell Erbakans 50 MillA(r) Gazete vom 5.5.2009, S. 4. 51 Internetauftritt der IGMG vom 18.12.2009 52 MillA(r) Gazete vom 8.8.2009, S. 1 und 11. 32 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 meint ein islamistisches Staatsund Gesellschaftsmodell, das dieser nicht allein für die Türkei, sondern für die gesamte Staatengemeinschaft fordert: Die Milli Görüs erneut auf die Beine zu bringen, ist als ein Befreiungsrezept nicht nur für die Türkei und den Islam, sondern für die gesamte Menschheit zu verstehen." 53 Anlässlich der Feierlichkeiten zum 40jährigen Bestehen der Milli Görüs-Bewegung machte Erbakan das Freund Feind - Denken" seines Weltbildes deutlich: "Nach 1990 haben sich die Menschen in zwei Gruppen geteilt. Entweder waren sie Anhänger der Milli Görüs oder Befürworter des Imperialismus. Letztlich laufen alle Definitionen auf das Gleiche hinaus. Milli Görüs bedeutet, sich gegen Sklaventum, Ausbeutung und Knechtschaft aufzulehnen und das Recht zu achten. Es ist eine Bewegung unserer Nation, um zum eigenen Ursprung und um sich selbst zu finden. Mit anderen Worten ist die Milli Görüs-Bewegung die Tatsache, dass eine neue Welt gegründet wird." 54 Deutlich wurde dieses Weltbild Erbakans, das auch antisemitische Züge enthält, anlässlich der "4. Internationalen Konferenz zur kulturellen Zusammenarbeit muslimischer Jugendlicher" in Istanbul im Juli 2009: "Bis heute dauert der Kampf zwischen 'Wahrheit' (hak; auch: Gott) und 'Nichtigem' (batil) an. Wir befinden uns jetzt an einem Wendepunkt: Entweder dauert die Herrschaft des Westens noch eine Weile an, oder die Herrschaft der Wahrheit setzt sich durch. Den Schlüssel dazu haben wir in der Hand. Es hängt von unserem Kampf ab. Die Osmanen wurden gestoppt, und es begann die Herrschaft des Zionismus. Wir kämpfen jetzt dafür, die Geschichte auf den ursprünglichen Weg zurückzubringen (...) Es ist unmöglich, sich nicht gegen dieses System aufzulehnen. (...) Dieses System macht uns zu nichts anderem als zu Sklaven." 55 53 MillA(r) Gazete vom 19.10.2009, S. 1, 10 und 11. 54 MillA(r) Gazete vom 19.10.2009, S. 1. 55 Internetausgabe der Tageszeitung "Radikal" vom 17.7.2009. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LEGALISTISCHER ISLAMISMUS 33 Reaktionen auf den Gaza-Krieg Im Zusammenhang mit der israelischen Militäraktion gegen die HAMAS im Gazastreifen kam es insbesondere in muslimischen Ländern, aber auch in Deutschland zu Solidarisierungsbewegungen. 56 Höhepunkt der von der IGMG organisierten SolidaritätsverSolidaritätsveranstalanstaltungen war eine Demonstration am 10. Januar 2009 in tungen für Palästinenser Duisburg, an der ca. 10 000 Personen teilnahmen. Auch in Berlin gab es seit Beginn der israelischen Militäroffensive mehrere Protestveranstaltungen, an denen sich neben Anhängern der palästinensischen HAMAS auch Anhänger der IGMG beteiligten. Zudem berichtete die IGMG über den Konflikt intensiv auf ihrer Internetpräsenz. Diese Artikel stellten insbesondere die aktuelle Lage der Palästinenser dar und gingen auf die Hilfsmaßnahmen der IGMG und der "Internationalen Humanitären Hilfsorganisation e.V." (IHH) ein. Ali Kzlkaya früherer IGMG-Generalsekretär und seit 2002 Vorsitzender des "Islamrates für die Bundesrepublik Deutschland e.V." - appellierte an die Muslime in Deutschland, "sich an demokratischen Protestaktionen zu beteiligen". 57 Daneben rief die Generalzentrale der IGMG "dringend zur Teilnahme an der Spendenaktion für Palästinenser" 58 auf und leistete humanitäre Hilfe vor Ort. Auch der Vorsitzende des IGMG-Landesverbandes Berlin reiste mit einer Delegation an die ägyptisch-palästinensische Grenze. 59 In der als inoffizielles Sprachrohr der Milli GörüsBewegung anzusehenden "Milli Gazete" wurde Israel als "Terrorstaat" bezeichnet. "Der Terrorstaat Israel, der im Gazastreifen vor Augen der Weltöffentlichkeit ein Massaker an der Menschlichkeit anrichtet, 56 Vgl. Kapitel Der Gaza-Konflikt im Januar 2009 und die Reaktionen in Berlin", S. 23. 57 Internetauftritt der IGMG, datiert 5.1.2009. 58 MillA(r) Gazete vom 29.12.2008, S. 19. 59 Internetauftritt der IGMG, datiert 20.1.2009. 34 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 verhindert nun den Transfer der für die bedürftigen Menschen in Gaza gesammelten Finanzhilfe." 60 Ein Kolumnist der "Milli Gazete" verwandte ein antisemitisches Stereotyp und erhob den Vorwurf einer vermeintlich historisch begründeten Wortbrüchigkeit von Juden. Der damalige israelische Ministerpräsident Ehud Olmert tue alles dafür, um die Palästinenser vor einem Drama zu retten, in dem er sie ausrotte. Man dürfe Israel und den USA nicht glauben, da die jüdische Geschichte viele Beispiele für ihre Wortbrüchigkeit liefere. 61 Ausblick IGMG zwischen ReAuch wenn einige Reformer eine Neuausrichtung der IGMG form und Dogmatismus fordern, halten maßgebliche Protagonisten nach wie vor dogmatisch an ideologischen Positionen der "Milli Görüs" fest. Vor dem Hintergrund der Einbindung in die "Milli Görüs-Bewegung ist es somit zweifelhaft, ob inhaltliche Reformen innerorganisatorisch durchzusetzen oder gar nachhaltig zu etablieren sind. Solange nicht erkennbar ist, dass sich die IGMG kritisch mit der Ideologie Erbakans, insbesondere mit dem ihr inne wohnenden Islamismus und Antisemitismus erfolgreich auseinandersetzt, vielleicht sogar Einrichtungen schafft, um diesen entgegenzuwirken, wird die Bewertung als islamistische Bestrebung bestehen bleiben. 60 MillA(r) Gazete vom 5.3.2009. 61 MillA(r) Gazete vom 31.1.2008, S. 9. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 35 3 RECHTSEXTREMISMUS 3.1 Überblick Personenpotenzial 2009 war ein weiteres Jahr des Niedergangs von parlamentsund diskursorientierten Strukturen im Berliner Rechtsextremismus. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in den rückläufigen Personenpotenzialen rechtsextremistischer Personenzusammenschlüsse wider. Gesamtpotenzial rechtsextremistischer Personenzusammenschlüsse: ca. 1 670* Sonstige rechtsextremistische 160 Organisationen Subkulturell geprägte und sonstige 500 gewaltbereite Rechtsextremisten Neonazis 550 Rechtsextremistische Parteien 550 0 100 200 300 400 500 600 * Gesamtpotenzial nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften. Nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften liegt das GePersonenpotenzial samtpotenzial rechtsextremistischer Personenzusammenweiter rückläufig schlüsse im Jahr 2009 bei etwa 1 670 Personen und ist damit gegenüber dem Vorjahr um 120 gesunken. Der Rückgang geht zum einen auf Mitgliederverluste bei den rechtsextremistischen Parteien (DVU minus 50, NPD minus 40) zurück, zum anderen auf weniger Personen in sonstigen rechtsextremistischen Organisationen (minus 40), zu denen auch die diskursorientierten Personenzusammenschlüsse gehören. Allein bei den "Jungen Nationaldemokraten" (JN) ist ein Zuwachs von 40 auf 50 Personen zu verzeichnen. Im übrigen sind die Zahlen konstant geblieben. Damit bestätigt sich in Berlin weitgehend ein Bundestrend. 36 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Rechtsextremistisches Personenpotenzial* Berlin Bund 2008 2009 2008 2009 Gesamt 1 880 1 760 31 100 27 800 Mehrfachmitgliedschaften 100 90 1 100 1 200 Tatsächliches Personenpotenzial 1 780 1 670 30 000 26 600 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. Potenziale einzelner Personenzusammenschlüsse Berlin Bund 2008 2009 2008 2009 Subkulturell geprägte und sonstige gewaltbereite Rechts500 500 9 500 9 000 extremisten Neonazis 550 550 4 800 5 000 Rechtsextremistische Parteien, 630 550 13 000 11 300 davon "Deutsche Volksunion" 300 250 6 000 4 500 "Nationaldemokratische 330 300 7 000 6 800 Partei Deutschlands"* Sonstige rechtsextremistische 200 160 3 800 2 500 Organisationen * Die NPD-Zahlen beinhalten die Mitglieder der JN (2009: 50, 2008: 40). Straftaten Straftaten deutlich Die Fallzahlen der politisch rechts motivierten Kriminalität zurück gegangen in Berlin sind 2009 deutlich gesunken. Das Landeskriminalamt hat 147 Straftaten weniger und damit einen Rückgang gegenüber dem Vorjahr um 10 Prozent registriert. Gewalt und fremdenBei deliktspezifischer Differenzierung fällt der Rückgang feindliche Delikte unterschiedlich stark aus. So sind 29 Prozent weniger rechte rückläufig Gewalttaten zu verzeichnen, während Propagandaund sonstige Delikte um 6 bzw. 17 Prozent sanken. In opferspezifischer Betrachtung fallen die um genau ein Drittel rückläufigen fremdenfeindlichen Straftaten ins Auge; fremdenfeindliche Gewaltdelikte gingen sogar um annähernd die Hälfte zurück (von 65 auf 37, minus 43 Prozent). Ansonsten haben antisemitisch motivierte Delikte leicht abgenommen (minus AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 37 10 Prozent), Straftaten gegen links dagegen zugenommen (plus 14 Prozent). Der Rückgang der politisch motivierten Kriminalität rechts beruht also überwiegend auf der Abnahme fremdenfeindlicher Straftaten. Fallzahlen Politisch motivierte Kriminalität - Rechts* 2008 2009 Gewaltdelikte 92 65 davon antisemitisch 6 6 fremdenfeindlich 65 37 gegen links 17 22 Propagandadelikte 928 873 davon antisemitisch 40 23 fremdenfeindlich 84 51 gegen links 21 15 sonstige Delikte 388 323 davon antisemitisch 151 149 fremdenfeindlich 144 107 gegen links 35 46 Gesamt 1 408 1 261 davon antisemitisch 197 178 fremdenfeindlich 293 195 gegen links 73 83 * Auszug aus dem Bericht "Lagedarstellung der Politisch motivierten Kriminalität in Berlin für das Jahr 2009" des Landeskriminalamtes Berlin (LKA). Der vollständige Bericht unter www.berlin.de/sen/inneres/sicherheit/statistiken/index.html im Internet eingestellt. Die Entwicklung der rechts motivierten Kriminalität in BerAbweichungen lin weist im Gegensatz zur Tendenz bei den rechtsextremistivom Bundestrend schen Personenpotenzialen Unterschiede zum Bundestrend auf. Zwar ist auch bundesweit ein Rückgang rechter Gewalt zu verzeichnen, allerdings fällt dieser geringer aus als in Berlin. Aus diesen quantitativen Schlaglichtern können allerdings dauerhafter Rückgang keine Trends für den organisierten Rechtsextremismus in nicht prognostizierbar Berlin abgeleitet werden. Rechte und vor allem fremdenfeindlich motivierte Strafund Gewalttäter sind häufig eher 38 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 im subkulturellen Milieu anzusiedeln und weisen überwiegend keine Bezüge zu rechtsextremistischen Personenzusammenschlüssen auf. 62 Zudem sind die Fallzahlen rechter Gewalt von einer Größenordnung, die statistische Schwankungen wahrscheinlich machen. Rückläufige Personenpotenziale und Straftaten bedürfen daher der qualitativen Einordnung in allgemeinere Entwicklungstendenzen und sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Berliner Rechtsextremismus sich im Kern weiter radikalisiert. Entwicklungen Parteien in der Nach der Aufkündigung der "Volksfront von rechts" durch Strukturkrise führende Köpfe der organisatorisch ungefestigten "Freien Kräfte" und dem Ende der Wahlabsprachen zwischen NPD und DVU im Rahmen des "Deutschlandpakts" gehen die rechtsextremistischen Parteien geschwächt aus dem Jahr 2009. Der "Kampf um den organisierten Willen" mit dem Ziel, alle "nationalen Kräfte" zu bündeln, ist vorläufig gescheitert. Fehlende Wahlkampfhelfer und eine verfehlte Wahlkampfstrategie haben dazu geführt, dass die NPD nicht von einem gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten anfallenden Protestwählerpotenzial profitieren konnte. Allerdings hat sie ihre Stammwählerschaft stabilisiert und die Wahlkampfkostenerstattung gesichert. Das ist der DVU als Hauptverlierer dieser Entwicklung nicht gelungen; sie steht vor existenziellen Problemen. Erosionen beim Zu dieser strukturellen Krise des parlamentsorientierten Landesverband Rechtsextremismus hat beigetragen, dass sich die NPD durch der NPD Richtungsstreitigkeiten, Personalquerelen und hausgemachte Finanzprobleme intern aufgerieben hat. Sowohl auf Bundesals auch auf Landesebene gelang es den Vorsitzenden nicht, die aus einer Gemengelage ideologischer Grundsatzdifferenzen und kultureller Milieukonflikte entstandenen Lager zu einen. Der Berliner Landesverband zeigte nach Parteiaustritten einiger führender, vor allem die subkulturellen Milieus bindenden Mitglieder, Erosionserscheinungen. Mehrere der 62 Zur Vertiefung vgl. Senatsveraltung für Inneres und Sport: Rechte Gewalt in Berlin 2003 - 2006 Berlin 2007. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 39 vormals vitalsten Kreisverbände in Tempelhof-Schöneberg, Neukölln und Marzahn-Hellersdorf waren kaum noch aktiv. Der Landesverband konnte abgesehen von einigen provozierenden Auftritten seines Vorsitzenden in der Bezirksverordnetenversammlung Lichtenberg und seltenen Aktualisierungen der Internetpräsenz 2009 praktisch nicht mehr wahrgenommen werden. Eine neugewählte Führungsspitze verbreitet seit Anfang 2010 jedoch wieder eine Art "Aufbruchstimmung" in der Berliner NPD. Nachdem die NPD ihre Stellung als zentraler Akteur des "Freie Kräfte" setzen Berliner Rechtsextremismus vorläufig eingebüßt hat, wurden Akzente die wesentlichen Akzente von Akteuren aus dem Netzwerk "Freie Kräfte" gesetzt. Dazu beigetragen haben die organisatorische Festigung der per se eigentlich unorganisierten "Autonomen Nationalisten", das vorübergehende Auftreten der Kameradschaft "Frontbann 24", die bis zu ihrem Verbot eine Lücke zwischen NPD und den "Autonomen Nationalisten" geschlossen hat, und die Nutzung eines Lokals in Schöneweide als zentraler Treffort der aktionsorientierten Rechtsextremisten der Stadt. Darüber hinaus haben vermeintliche und tatsächliche "linke" Übergriffe innerhalb des Netzwerks "Freie Kräfte" eine hohe integrative Wirkung entfaltet und zu partiellen Kooperationen sich prinzipiell ablehnend gegenüberstehenden Gruppierungen wie den "Autonomen Nationalisten" und "Frontbann 24" geführt. Sichtbarster Ausdruck dieser Entwicklung war die Demonstration "Vom nationalen Widerstand zum nationalen Angriff" am 10. Oktober 2009 für die innerhalb einer Woche ca. 650 Teilnehmer mobilisiert werden konnten. Diese Fähigkeit zur Ad-hoc-Mobilisierung ist ein Indiz für die engmaschiger werdende überregionale Vernetzung "Autonomer Nationalisten". Nachdem der Einfluss der rechtsextremistischen Musikszene Musikszene unter in Berlin durch einen hohen staatlichen Repressionsdruck Veränderungsdruck zurückgedrängt werden konnte, gewinnen Versuche, Musik über neue Medien wie Internetradios zu verbreiten, an Bedeutung. Dass Exekutivmaßnahmen aber auch an dieser Stelle greifen, zeigen die Festnahme und Verurteilung der verantwortlichen Betreiber des "European Brotherhood Radio" 40 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 (EBR). Konzerttätigkeiten und Tonträgerveröffent-lichungen blieben weiterhin auf einem niedrigen Niveau. Subkulturelle Gruppierungen wie die "Kameradschaft Spreewacht" (KSW) treten kaum noch öffentlich in Erscheinung. Der diskursorientierte Rechtsextremismus in Berlin wurde in den vergangenen Jahren durch Vereinsverbote und Selbstauflösungen weitgehend marginalisiert. Das so genannte "Dienstagsgespräch", ein Versuch, mit rechtsextremistischen Inhalten bürgerliche Kreise zu durchdringen, verlor seinen Tagungsort im Rathaus Schmargendorf. In diskursorientierten Kreisen sind zur Zeit weder ernsthafte Restrukturierungsversuche noch Neugründungen zu beobachten. Und auch die zwischenzeitlich im Fokus der Medien stehende "Stiftung Kontinent Europa" konnte bisher keine entsprechenden Akzente setzen. Intellektueller Nachwuchs ist in der eher aktionsorientierten Szene der Stadt derzeit nicht zu erkennen. Somit ist der "Kampf um die Köpfe" in Berlin momentan bedeutungslos. 3.2 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus 3.2.1 Strukturkrise der rechtsextremistischen Parteien Bei seinem Amtsantritt 1996 verkündete der NPDParteivorsitzende Udo Voigt die so genannte "Drei-SäulenStrategie" des Kampfes um Köpfe, Straße und Parlamente. 2004 fügte er als vierte Säule den "Kampf um den organisierten Willen" hinzu, um das "nationale Lager" zu einen. Die "Volksfront von rechts" sollte die Unterstützung der "Freien Kräfte" sichern, der "Deutschland-Pakt" zu Wahlabsprachen mit anderen rechtsextremistischen Parteien führen. Eine Zeit lang schien es, als würde diese Strategie aufgehen. Doch der Spagat zwischen "Autonomen Nationalisten" auf der einen und der in die bürgerliche Mitte strebenden DVU auf der anderen Seite misslang. Sowohl die "Volksfront von rechts" als auch der "Deutschland-Pakt" scheiterten. Die NPD zerrieb sich in internen Streitigkeiten und wirkte plan- AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 41 los, als es im Bundestagswahlkampf darum ging, das gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten anfallende Protestwählerpotenzial abzuschöpfen. Statt mit Gerechtigkeitsthemen versuchte sie mit platter Fremdenfeindlichkeit zu punkten. Aber während die NPD wenigstens ihren Stammwählersockel stabilisieren konnte, wurde die konturlose DVU vom Wähler weitgehend ignoriert. Da sie in direkter Konkurrenz mit der NPD die Wahlkampfkostenerstattung verfehlte, ist die überalterte Partei in ihrer Existenz bedroht. Aufkündigung der "Volksfront von rechts" Im September 2004 wurde von bundesweit führenden Verbrüchiger Pakt tretern "Freier Kräfte" und der NPD die Bildung einer gezwischen NPD und "Freien Kräften" meinsamen "Volksfront von rechts" verkündet. Die Zusammenarbeit wurde durch Parteieintritte und die Besetzung von Vorstandsposten durch "Freie Kräfte" besiegelt. In der Folge unterstützte die NPD Veranstaltungen der rechtsextremistischen Kameradschaftsund Musikszene, im Gegenzug konnte sie auf deren Unterstützung bei Parteiveranstaltungen und Wahlkämpfen bauen. Mitte 2007 bekam das Bündnis durch Abgrenzungsbeschlüsgegen "verREPse der Partei gegenüber dem radikalen Teil der "Freien Kräfzung" der NPD te", den "Autonomen Nationalisten", zunehmend Risse. Als sich Ende 2008 mit der angekündigten Kandidatur von Andreas Molau um den Bundesvorsitz innerparteiliche Strömungen durchzusetzen schienen, die wieder mehr auf das bürgerliche Wählerspektrum setzen, verkündete einer der Initiatoren der Volksfrontidee, Thomas "Steiner" Wulff, in einem offenen Brief das "Ende der Volksfront". Seiner Einschätzung nach wurden die "Freien Kräfte" von der Partei "schmählich verleumdet und verraten, ausgenutzt und verheizt". Den Weg einer "verREPzung" der NPD würden die Freien Kräfte "auf Bundesebene nicht mitgehen". 63 Zwar beruft sich Wulff in seinen Ausführungen indirekt auf Aufkündigung für ein vorausgegangenes bundesweites Koordinierungstreffen Berlin bedeutungslos der "Freien Kräfte", doch wird ihm in vielen Erklärungen ein 63 Artikel: "2008 - Das Ende der Volksfront". Internetportal "Altermedia", datiert 1.1.2009. 42 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Vertretungsanspruch dieser heterogenen Szene abgesprochen. Tatsächlich sind auf regionaler Ebene die Beziehungen der "Freien Kräfte" zu den jeweiligen NPD-Landesund Kreisverbänden sehr unterschiedlich. Im neonazistisch geprägten Landesverband Berlin sind die Kontakte traditionell eng und von der Erklärung Wulffs nahezu unberührt geblieben. Die insbesondere im Wahlkampf 2006 erfolgreiche Zusammenarbeit litt hier eher an innerparteilichen Erosionstendenzen als am Unwillen der "Freien Kräfte". Ende des "Deutschlandpakts" Konkurrenz zwischen Der zweite zentrale Bestandteil des "Kampfes um den orgaNPD und DVU vorünisierten Willen" war der im Januar 2005 zwischen NPD und bergehend ausgesetzt DVU geschlossene "Deutschlandpakt" zur Vermeidung konkurrierender Wahlantritte. Die Parteivorsitzenden Udo Voigt und Dr. Gerhard Frey einigten sich für fünf Jahre befristet darauf, dass bei Kommunal-, Landtags-, Bundestagsund Europawahlen künftig jeweils nur eine der beiden Parteien antritt. Im Gegenzug sollten Mitglieder der verzichtenden Partei auf der Kandidatenliste der antretenden Partei berücksichtigt werden. Diese Strategie hatte sich schon bei den Landtagswahlen 2004 in Sachsen (NPD) und Brandenburg (DVU) als gewinnbringend erwiesen und bewährte sich im Rahmen des Pakts 2006 in Mecklenburg-Vorpommern (NPD) erneut mit dem Überspringen der Fünf-ProzentHürde. NPD bricht Pakt und Der "Deutschland-Pakt" bekam erste Risse, als der NPDüberrumpelt die DVU Landesverband Thüringen im Oktober 2008 ankündigte, entgegen den ursprünglichen Vereinbarungen zur thüringischen Landtagswahl im August 2009 antreten zu wollen. Nach den vernichtenden Ergebnissen für die DVU bei der Europawahl im Juni 2009 beschloss der NPD-Bundesvorstand darüber hinaus auch bei der Brandenburger Landtagswahl im September anzutreten und begründete dies mit den mangelnden Wahlchancen der DVU - in einem Land, in dem die DVU zweimal hintereinander im Landtag saß, ein besonderer Affront. Der DVU-Bundesvorsitzende Matthias Faust wertete das Vorgehen als "Verrat" und schloss eine weitere Zusam- AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 43 menarbeit mit dem gegenwärtigen NPD-Bundesvorstand unter seiner Führung aus. Wahlziele weitgehend verfehlt Der Bruch des "Deutschland-Pakts" hatte noch AuswirkunBilanz des "Supergen auf verschiedene andere Wahlen im Jahr 2009. Insgewahljahres 2009" samt fanden neben der Europaund Bundestagswahl noch sechs Landtagsund acht Kommunalwahlen statt. In den bundesweiten Wahlgängen blieben NPD und DVU unter den "Sonstigen". Auf Länderebene schaffte die NPD in Sachsen zwar knapp den Wiedereinzug ins Parlament, scheiterte aber bei allen weiteren Landtagswahlen an der Fünf-ProzentHürde. Die DVU, die lediglich in Brandenburg antrat, verpasste den erneuten Einzug in den Landtag deutlich. Auf kommunaler Ebene errang die NPD einige Mandate, gemessen an den vorherigen Ergebnissen allerdings auf niedrigerem Niveau. Insgesamt fällt die Bilanz des "Superwahljahres 2009" für die NPD mäßig, für die DVU verheerend aus. Wahlergebnisse rechtsextremistischer Parteien 2009 Europawahl (Prozent) Bundestagswahl (Prozent) 2009 2004 2009 2005 Differenz Bund NPD - 0,9 1,5 1,6 -0,1 DVU 0,4 - 0,1 - 0,1 Berlin NPD - 0,9 1,6 1,6 0,0 DVU 0,6 - 0,1 - 0,1 Berlin-West NPD - 0,5 1,2 1,1 0,1 DVU 0,5 - 0,1 - 0,1 Berlin-Ost NPD - 1,6 2,2 2,3 -0,1 DVU 0,7 - 0,2 - 0,2 Zur Europawahl am 7. Juni 2009 trat gemäß des zu diesem NPD-Ergebnis Zeitpunkt noch bestehenden "Deutschlandpakts" lediglich bei Europawahl halbiert 44 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 die DVU an. Obwohl die Konkurrenz der NPD fehlte, verpasste diese mit 0,4 Prozent der Stimmen nicht nur den Einzug ins Europaparlament, sondern auch die Beteiligung an der staatlichen Wahlkampfkostenerstattung. Im Vergleich zur Europawahl 2004 hat sie den Stimmenanteil der NPD mehr als halbiert. In Berlin gingen im Ostteil der Stadt massiv Stimmen verloren. Das Ergebnis ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass die DVU weder für das rechtsextremistische noch das Protestwählerpotenzial eine Alternative zu den demokratischen Parteien darstellt. fremdenfeindlicher Nach der Aufkündigung des "Deutschland-Pakts" Ende Juni und antisemitischer 2009 führten NPD und DVU getrennte Wahlkämpfe um den Bundestagswahlkampf der NPD Bundestag. Im Gegensatz zum verkürzten Bundestagswahlkampf 2005 bot sich den Parteien 2009 ausreichend Zeit, eine Strategie für den Wahlkampf zu entwickeln. Die Wahlkampfstrategie der NPD zielte darauf ab, sich zum einen als "authentische Systemalternative" zu den etablierten Parteien darzustellen und zum anderen durch offen antisemitische und fremdenfeindliche Provokationen größtmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu erzielen. So veröffentlichte die Partei im Juli 2009 auf ihrer Homepage ein "Wahlkämpferlied", in dem es mit Bezug auf ein prominentes Mitglied der Jüdischen Gemeinde heißt: "Bei Himmler, Voigt und Rommel, da wirft man gerne ein. Briefkastendeckel trommelnd (hau) ich Friedman eine rein". 64 Im August 2009 wurde einem dunkelhäutigen CDU-Mitglied aus Thüringen vom dortigen Landesverband der NPD indirekt gedroht, man werde "das direkte Gespräch mit dem CDU-Quotenneger suchen", um diesen dazu zu animieren, "in seiner Heimat Angola (...) ein neues Leben zu beginnen". 65 64 Tondokument "Wahlkämpferlied". Internetauftritt der NPD, datiert 22.7.2009. Die Formulierung "hau" ist akustisch nicht eindeutig zu verstehen. 65 Internetauftritt des NPD-Landesverbandes Thüringen, datiert 11.8.2009. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 45 Und auch in einem von ihrer Nachwuchsorganisation JN "Enten gegen Hühner" verbreiteten Comic unter dem Titel "Der große Kampf - Enten gegen Hühner", mit dem gezielt Erstund Jungwähler angesprochen werden sollten, finden sich unverkennbar antisemitische, fremdenfeindliche und verschwörungs66 theoretische Anspielungen. In Berlin lief der Wahlkampf der NPD erst spät und sehr "Ihr Ausländerrückschleppend an. Kurz vor der Bundestagswahl gelang es dem führungsbeauftragter informiert" Landesvorsitzenden Jörg Hähnel mit einer, an Politiker nichtdeutscher Herkunft versandten, "Nichtamtlichen Bekanntmachung" öffentliche Aufmerksamkeit zu erzielen. In dem Schreiben, das mit "Ihr Ausländerrückführungsbeauftragter informiert" eingeleitet wird, wurden die Adressaten, unter Verweis auf ein fünfstufiges "Rückführungsprogramm" der NPD, aufgefordert, Deutschland zu verlassen und sich "mit den Einzelheiten Ihrer Rückreise" vertraut zu machen. 67 Für die DVU war die Ausgangslage vor dem Bundestagswahlkampf ungleich schwieriger. Erst nach Aufkündigung des "Deutschlandpaktes" Ende Juni hatte sich die Partei zum Wahlantritt entschlossen. In der verbliebenen Zeit gelang es ihr aber nicht, materielle und personelle Ressourcen zu mobilisieren. Insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass es der DVU nicht gelungen ist, ein sich von der NPD absetzendes, eigenständiges Profil zu entwickeln. 66 Comic "Enten gegen Hühner". Internetauftritt der NPD, datiert 5.9.2009. 67 Bilddokument "Der Brief ...". Internetauftritt "Ex K3 Berlin", datiert 23.9.2009. 46 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 NPD und DVU Das Ergebnis der Bundestagswahl fiel für beide Parteien neunter "Sonstige" gativ aus. Für die DVU könnte das schlechte Wahlergebnis sogar existenzbedrohende Folgen haben. Die NPD, die sich flächendeckend mit 16 Landeslisten und 293 Direktkandidaten zur Wahl gestellt hat, scheiterte mit 1,5 Prozent der Zweitstimmen deutlich an der Fünf-Prozent-Hürde. Immerhin konnte sie mit diesem Ergebnis aber ihr Minimalziel, die Beteiligung an der staatlichen Wahlkampfkostenerstattung, erreichen. Prozentual erzielte die NPD nahezu das gleiche Ergebnis wie 2005. In absoluten Zahlen verlor sie allerdings auf Grund der geringeren Wahlbeteiligung über 100 000 Zweitstimmen. Die mit nur zwölf Landeslisten angetretene DVU erhielt mit 0,1 Prozent ein Ergebnis, das sie an den Rand der Bedeutungslosigkeit bringt. Berlin im Analog zum Bundestrend stabilisierte die NPD in Berlin mit Bundestrend 1,6 Prozent ihren Zweitstimmenanteil aus dem Jahr 2005, verlor absolut aber über 1 200 Stimmen. Im Ostteil der Stadt (2,2 Prozent) ist sie weiterhin stärker als im Westen (1,2 Prozent). Ihre besten Wahlergebnisse erzielte die NPD, wie bereits 2005, in Marzahn-Hellersdorf (3,0 Prozent), Lichtenberg (2,8 Prozent) und Treptow-Köpenick (2,6 Prozent). Im Westteil war sie in Neukölln (2,0 Prozent) am erfolgreichsten, gefolgt von Reinickendorf und Spandau (je 1,6 Prozent). Auch die Bezirksergebnisse blieben weitgehend stabil, mit leicht fallenden Tendenzen Ost und Steigerungen West. Die DVU kam in Berlin nicht über ihr Bundesergebnis hinaus. Während sie in allen westlichen Stadtteilen bei 0,1 Prozent lag, konnte sie diesen Wert lediglich in einigen östlichen Stadtbezirken unwesentlich übertreffen. DVU existenziell bedroht DVU nur noch Die DVU hat ihre Rolle als zweiter Hauptakteur des parlaNebendarsteller mentsorientierten Rechtsextremismus verloren. Sie ist lediglich noch ein Nebendarsteller. Verantwortlich hierfür ist vor allem das strukturelle Vakuum, in dem sich die Partei nach der über zwei Jahrzehnte andauernden autoritären und zentralistischen Führung durch Dr. Gerhard Frey befindet. Zudem fehlt es der bereits seit Jahren von einem stetigen Mitgliederschwund betroffenen DVU an einer aktiven Parteiba- AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 47 sis. Durch die lange vernachlässigte Nachwuchsarbeit ist die DVU inzwischen stark überaltert. Restrukturierung, Mitgliedereinbindung und Verjüngung gefehlende hörten zu den zentralen Vorhaben des auf dem BundesparteiRessourcen tag der DVU im Januar 2009 neu gewählten Parteivorsitzenden Matthias Faust. Umgesetzt wurden diese Ankündigungen jedoch allenfalls in Ansätzen. So sollte durch die Gründung einer Nachwuchsorganisation, der sogenannten "Jungen Rechten", der Versuch unternommen werden, Aktivpotenzial an die DVU heranzuführen. Viele Gründungsmitglieder sind nach den Wahlpleiten inzwischen aber bereits wieder aus der Organisation ausgetreten und haben sich teilweise der NPD oder den JN angeschlossen. Das Nichterreichen der Wahlkampfkostenerstattung trifft die DVU umso härter, da entstehende Finanzlücken nicht mehr von Frey gedeckt werden. Sollte sich kein neuer Finanzier finden, scheitert die Neuausrichtung womöglich schon an den fehlenden materiellen Ressourcen. Auch der Berliner Landesverband agierte bisher, wie alle erstarrter anderen Landesverbände der DVU, in enger Ausrichtung an Landesverband der Bundeszentrale. Ein eigenständiges Profil entwickelte dieser selbst nach dem Wechsel des Bundesvorsitzenden nicht. Versuche von Seiteneinsteigern, sich in und mit der DVU zu profilieren, scheiterten am Unwillen der in Passivität erstarrten und überalterten Mitgliederschaft. So trat der DVU-Landesverband Berlin 2009 weder im Wahlkampf noch sonst wahrnehmbar in Erscheinung. Die Entwicklungen und Rückschläge des Jahres 2009 haben 30 Prozent die DVU in eine existenzbedrohende Krise gestürzt. WähÜberlebenschance rend sich der Vorsitzende Faust einer kritischen Analyse der Partei nach den Wahlen verschloss und in Durchhalteparolen flüchtete, taxierte der von der NPD übergewechselte Parteisprecher Molau die Chancen für eine Zukunft der DVU auf 30 zu 70 Prozent, "70 dafür, dass es schwierig wird". 68 68 "Der langsame Tod der DVU". In: "die tageszeitung" vom 7.1.2009. 48 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 3.2.2 NPD reibt sich in internen Auseinandersetzungen auf Bundesvorsitzender Ursächlich für die Krise des parlamentsorientierten Rechtsgeschwächt extremismus waren neben den Beziehungen zwischen NPD und "Freien Kräften" auf der einen sowie NPD und DVU auf der anderen Seite vor allem NPD-interne Konflikte. Die zurückliegenden Wahlerfolge haben Differenzen innerhalb der Partei eine Zeit lang überdeckt. Dann wurde der langjährige Parteivorsitzende Udo Voigt durch die "Finanzaffäre Kemna" in seiner integrativen Position geschwächt. Ein "Putschversuch" ambitionierter "Landesfürsten" gegen Voigt scheiterte zwar, hat jedoch die innerparteilichen Gräben weiter vertieft. Zudem bleiben die finanziellen Folgen der Spendenaffären und des Todes des NPD-Vorstandsmitglieds und Geldgebers Jürgen Rieger im Oktober 2009 noch unklar. Landesvorsitzender Auch der Berliner Landesverband zeigte nach dem vorüberabgelöst gehenden Rückzug seines Bindeglieds zu den "Freien Kräften" Eckart Bräuniger Mitte 2008 deutliche Auflösungserscheinungen. Das eher intellektuelle und initiativlose Gebaren seines auch als Liedermacher auftretenden Nachfolgers Jörg Hähnel auf dem Posten des Landesvorsitzenden fand insbesondere in den aktionsorientierten Teilen der Partei wenig Akzeptanz. In Folge seines ungelenken Führungsstils traten seine beiden Stellvertreter und eine weitere Kreisvorsitzende aus der NPD aus. Während seiner Amtszeit hat der NPD-Landesverband erstmals seit Jahren wieder Mitglieder verloren. Im Februar 2010 wurde der Landesvorsitzende schließlich von einer neuen Führungsriege abgelöst. Streit um den Bundesvorsitz ein Gegenkandidat Der damals stellvertretende Landesvorsitzende der NPD rüttelt am Thron Niedersachsen, Andreas Molau, hat durch eine am von Voigt 29. Dezember 2008 im Internet verbreiteten Erklärung, auf dem anstehenden Bundesparteitag gegen Amtsinhaber Udo Voigt um den Bundesvorsitz der NPD kandidieren zu wollen, einen Führungsund Richtungsstreit in der NPD eröffnet. Sein Konzept zielte auf einen Umbau der Partei nach dem Vorbild rechtspopulistischer Parteien im europäischen AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 49 Ausland. Zudem kritisierte er Voigts Rolle in der Finanzaffäre um den ehemaligen Schatzmeister der NPD, Erwin Kemna. 69 Nachdem er parteiintern und von "Freien Kräften" wegen der "Putsch" seines vermeintlich systemkonformen Kurses angefeindet scheitert worden war, zog Molau seine Bewerbung im Februar 2009 wieder zurück und trat der DVU bei. Dazu beigetragen hat das sukzessive bekundete Interesse des Landesvorsitzenden aus Mecklenburg-Vorpommern, Udo Pastörs, selbst gegen Voigt zu kandidieren. Dieser steht mit einschlägigen Äußerungen zum Holocaust und zu führenden Vertretern des "Dritten Reichs" eher für eine neonazistische Ausrichtung der Partei. Auf dem Bundesparteitag am 4. und 5. April 2009 in Berlin-Reinickendorf setzte sich Voigt deutlich mit 136 zu 72 Stimmen gegen Pastörs durch. Entschieden wurde die Wahl aber wohl weniger auf Grund programmatischer Unterschiede als durch die bessere Vernetzung Voigts in den übrigen Landesverbänden. Im Anschluss an den Parteitag wurde der Bundesvorstand Voigt ausschließlich mit Anhängern Voigts besetzt. Auch Thomas wackelt weiter Wulff ist wieder als Beisitzer vertreten. Die Zusammensetzung des Vorstands nach Loyalitätsgesichtspunkten erleichtert dem Vorsitzenden zwar die Führung der Partei, verengt jedoch seinen strategischen Spielraum in der Politikgestaltung. Die in ihren Landtagen vertretenen und dadurch mit besseren infrastrukturellen und finanziellen Möglichkeiten ausgestatteten Landesverbände aus Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern entziehen sich zunehmend seiner Einflusssphäre. Dass sich die Partei nach den letzten Wahlergebnissen ereine "Strategieneuern muss, ist dem Bundesvorsitzenden bewusst. So räumkommission" als letzter Strohhalm te dieser in einer Ende 2009 im Internet verbreiteten VideoBotschaft ein, dass im "Superwahljahr" vor allem Misserfolge zu verbuchen waren und kündigte die Einberufung einer "Strategiekommission" an, die Vorschläge zur künftigen 69 Erklärung von Andreas Molau zu seiner Kandidatur für den NPDBundesvorsitz. Internetportal "Altermedia", datiert 29.12.2008. 50 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Entwicklung der Partei machen soll. 70 Mitte Januar 2010 tagte diese erstmalig in Berlin. Auf der Internetpräsenz der NPD veröffentlichte Ergebnisse deuten auf eine stärkere Ausrichtung auf den sächsischen Weg, d.h. einer rechtspopulistischen Orientierung hin, 71 die der Vorsitzende der sächsischen NPD, Holger Apfel, wie folgt definierte: "Dieser sächsische Weg steht für einen gegenwartsbezogenen und volksnahen Nationalismus, der die soziale Frage in den Mittelpunkt der Programmatik stellt und der sich von unpolitischer Nostalgiepflege, ziellosem Verbalradikalismus und pubertärem Provokationsgehabe abgrenzt." 72 Derzeit ist aber noch nicht abzusehen, wohin der Weg der Bundes-NPD tatsächlich führen wird. Finanzschwierigkeiten in der Bundes-NPD Kumulation von Dass die weitere Entwicklung der Partei sich zuverlässigen Finanzproblemen Prognosen entzieht, liegt nicht zuletzt daran, dass auch ihre finanzielle Situation nach der Untreue des ehemaligen Schatzmeisters Erwin Kemna und dem Tod ihres Kreditgebers Jürgen Rieger ungeklärt ist. Verurteilung Nachdem der frühere Bundesschatzmeister Kemna vom wegen falscher ReLandgericht Münster wegen der jahrelangen Veruntreuung chenschaftsberichte von Parteigeldern rechtskräftig verurteilt wurde, machte die Bundestagsverwaltung wegen der durch die Veruntreuung fehlerhaften Rechenschaftsberichte gegen die NPD Rückzahlungsforderungen geltend. Nach Widerspruch gegen den Bescheid verurteilte das Verwaltungsgericht Berlin die Partei schließlich im Mai 2009 zur Zahlung von 1,27 Mio. Euro. 73 Voigt schloss vor der Urteilsverkündung zwar aus, dass die Partei dadurch in die Pleite getrieben würde, räumte aber ein, 70 "Aktuelle Videobotschaft von Udo Voigt". Internetportal "Altermedia", datiert 20.11.2009. 71 "Strategische Neuaufstellung". Internetauftritt der NPD, datiert 17.1.2010. 72 "Konzentration auf Sachsen und Werben für den sächsischen Weg. Das Modell eines politikfähigen Weges". Internetauftritt von Holger Apfel, datiert 24.3.2010. 73 VG Berlin, Az. VG 2K 39.09, vom 15.5.2009. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 51 dass man die Gehälter der Vorstände bereits gekürzt und die Hälfte die Mitarbeiter entlassen habe. 74 Sollten sich zudem Ermittlungen des LKA Nordrheinweitere Strafzahlung Westfalen bestätigen, nach denen die Partei über Jahre hinmöglich weg Spenden und Mitgliedsbeiträge nach oben frisiert habe, um so überhöhte Beiträge aus der staatlichen Parteienfinanzierung zu kassieren, droht eine weitere Strafe in Millionenhöhe. In diesem Zusammenhang wurde im Dezember 2009 vor dem Landgericht Münster ein weiterer Strafprozess gegen Erwin Kemna eröffnet, in dessen Folge im Januar 2010 weitere staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen einen früheren Rechnungsprüfer der NPD eingeleitet wurden. Angesichts dieser prekären finanziellen Perspektive der NPD das unbekannte Erbe Jürgen Riegers ist der überraschende Tod Jürgen Riegers im Oktober 2009, durch dessen Rolle als Geber und Beschaffer von Darlehen, ein für die Partei nur schwer zu verkraftender Verlust. Die Unterstützungsleistungen des ehemaligen stellvertretenden Bundesvorsitzenden für seine Partei umfassten nach eigenen Angaben ein Gesamtvolumen von etwa 350 000 Euro, die vor allem in Ausgaben für Wahlkämpfe flossen. Die finanziellen Konsequenzen seines Todes für die NPD sind noch unklar. Alleinerben des Vermögens sind Riegers Kinder; die Partei erbt nichts. Über eventuelle Rückforderungen der Erben von der NPD oder die Kündigung von Darlehen ist bisher nichts bekannt. Niedergang des NPD-Landesverbandes Berlin Auch die weitere Entwicklung der Berliner NPD lässt Raum Führungsschwäche des für Spekulationen. Das Jahr 2009 war geprägt von AuflöLandesvorsitzenden sungserscheinungen des Landesverbandes, die fast zwangsläufig in der Entmachtung seines Vorsitzenden Jörg Hähnel mündeten. Schon bald nach seinem Amtsantritt 2008 hatte sich abgezeichnet, dass dem neugewählten Landesvorsitzenden die Schuhe seines Vorgängers Eckart Bräuniger zu groß sein würden. Im Unterschied zur Bundesebene war in Berlin die Ursache der Probleme jedoch weniger ein Richtungsstreit 74 "Millionenstrafe für die NPD". In: "Süddeutsche Zeitung" vom 15.5.2009. 52 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 als ein Milieukonflikt. Anders als seinem rustikalen Vorgänger gelang es dem intellektuell distanzierten Hähnel nicht, die aktionsund die parlamentsorientierten Komponenten der Parteiarbeit in Einklang zu bringen. Statt die von Hyperaktivismus getriebenen subkulturellen Teile der Parteibasis für den "Kampf um die Straße" einzubinden, bremste er diese bei eigenständig geplanten Aktionen immer wieder aus. Trotz seiner langjährigen Erfahrung als Multifunktionär der NPD war er nicht in der Lage, den vorhandenen Elan zu kanalisieren und Verantwortung zu delegieren. Personalfluktuation Der daraufhin aufkommenden Kritik begegnete er dünnhäuals Krisensymptom tig. So drängte er mit dem stellvertretenden Landesvorsitzenden und Kreisvorsitzenden Tempelhof-Schöneberg sowie der Landesvorsitzenden des "Rings Nationaler Frauen" (RNF) und Kreisvorsitzenden Marzahn-Hellersdorf zwei seiner stärksten Kritiker zu Beginn des Jahres 2009 aus der Partei. Ihnen folgten zahlreiche Mitglieder, teilweise um sich dann anderen rechtsextremistischen Organisationen anzuschließen. Mitte des Jahres verließ auch noch der letzte stellvertretende Landesvorsitzende und Kreisvorsitzende Neukölln die Partei. In Folge dieser Verluste zeigten nunmehr drei der vormals vitalsten Kreisverbände in TempelhofSchöneberg, Marzahn-Hellersdorf und Neukölln kaum noch erwähnenswerte Aktivitäten. Schon Ende 2008 traten einige Mitglieder des Kreisverbandes Treptow-Köpenick im Streit aus der NPD aus, um die Kameradschaft "Frontbann 24" zu gründen. Der Verlust der aktiven Teile der Berliner NPD spiegelte sich in der schwindenden öffentlichen Wahrnehmbarkeit der Partei. Bis auf eine Mahnwache gegen den "Holocaust im Gaza-Streifen" am 28. Januar 2009, die mit gerade 50 Teilnehmern ohne größere Resonanz blieb, fand keine nennenswerte öffentliche Aktion statt, die auf Initiative des Landesverbandes zurückzuführen wäre. Vom Bundestags- AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 53 wahlkampf, der 2009 einen Schwerpunkt der Parteiarbeit bilden sollte, blieb lediglich der schon geschilderte Versuch Hähnels in Erinnerung, als fiktiver "Ausländerrückführungsbeauftragter" Aufmerksamkeit zu provozieren. Ansonsten konzentrierte sich der - erst im September ernsthaft aufgenommene - Wahlkampf der NPD in Berlin auf die üblichen Aktivitäten wie das Plakatieren, Informationsstände oder das Verteilen und Versenden von Flyern und Zeitungen. Dabei unterstützte sie ihre Jugendorganisation JN. Im übrigen dominierte Passivität die Arbeit der Berliner NPD. Selbst ihre Internetpräsenz wurde nur noch unregelmäßig aktualisiert. Die Lethargie des Landesverbandes setzte sich bis in die UnPankow und Lichtenterorganisationen der Partei fort. Lediglich die Kreisverbänberg als letzte Getreue de Pankow und Lichtenberg engagierten sich neben dem Wahlkampf noch regelmäßig: Pankow durch eine vergleichsweise hohe Frequenz an Infoständen, Lichtenberg durch eine fast täglich aktualisierte Homepage. Das sind die beiden Kreisverbände, zu denen der damalige Landesvorsitzende noch eine direkte Beziehung besaß: zu Pankow als seinem "Heimat"-Kreisverband, zu Lichtenberg als Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung (BVV). Die größte Aufmerksamkeit erregte er noch mit den Folgen Verurteilungen als von Auftritten, die er in dieser Funktion absolvierte. Zuletzt einziges Lebenszeichen wurde er im Juli 2009 wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt, nachdem er im November 2008 in einer öffentlichen Sitzung der BVV die Integration von Zuwanderern als "Völkermord" bezeichnet hatte und außerdem äußerte: "jeder, der dem Wort Integration zustimmt, muss sich auch gefallen lassen, als Verbrecher bezeichnet zu werden." 75 In den Bezirken zeigte 2009 allein die NPD-Fraktion in der auch BVV-Arbeit BVV Lichtenberg durch Anträge und kleine Anfragen noch liegt danieder Leben. Dabei versuchte sie sich mit Kiezthemen wie "Grünflächenpflege vor der Max-Taut-Schule", "Sitzbänke am Luch Margaretenhöhe" oder "Baby-Inspektoren auch in Berlin-Lichtenberg" zu profilieren. Alle Anträge der NPD75 Wortprotokoll der fortgesetzten 23. Sitzung der BVV Lichtenberg vom 6.11.2008. 54 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Abgeordneten wurden von den Bezirksverordneten der demokratischen Parteien abgelehnt. Dagegen traten die NPDBezirksverordneten in Marzahn-Hellersdorf, TreptowKöpenick und Neukölln inhaltlich überhaupt nicht mehr in Erscheinung. In Marzahn-Hellersdorf und Neukölln erschöpfte sich ihre Tätigkeit in ein paar unbedeutenden Kleinen Anfragen. In Treptow-Köpenick fiel die NPD-Fraktion lediglich damit auf, dass ein ehemaliger Berliner Landesvorsitzender im Frühjahr sein Mandat niedergelegte und gegen ein weiteres Fraktionsmitglied Ende des Jahres StasiVorwürfe erhoben wurden. Landesvorsitzender Die Erosion des Landesverbandes und vieler Kreisverbände amtsmüde der NPD sowie die Wirkungslosigkeit ihrer BVV-Tätigkeit zeigen, dass sich die Partei in Berlin weit von ihrer Vision einer "völkischen Graswurzelrevolution" entfernt hat. Vor zwei Jahren galt die NPD noch als zentraler Akteur des Berliner Rechtsextremismus; Ende 2009 ist sie bestenfalls das größte verbliebene Rudiment rechtsextremistischer Parteistrukturen der Stadt. Die Mitgliederzahlen sind erstmals seit Jahren wieder gesunken. Ohne die vitalen JN blieben noch etwa 250, überwiegend in Lethargie verfallene Mitglieder. Schließlich verkündete Hähnel sogar den Medien seine Amtsmüdigkeit, doch seine Ablösung scheiterte zunächst an einem geeigneten Nachfolger. Ein neuer Aufbruch? Ende Januar 2010 kündigte der Landesverband auf seiner fast drei Monate nicht mehr aktualisierten Internetpräsenz schließlich eine neue "Weichenstellung" an. 76 Dabei wurde das aus Bayern nach Berlin verzogene Bundesvorstandsmitglied der NPD Uwe Meenen als Kandidat für den Landesvorsitz vorgestellt und schließlich auf einem Landesparteitag am 6. Februar 2010 gewählt. Als Stellvertreter unterstützen ihn ein ehemaliger Landesvorsitzender der DVU, ein führender Vertreter der "Autonomen Nationalisten" sowie insbesondere sein bis Mitte 2008 amtierender Vorvorgänger. Speziell die Rückkehr des im Berliner Rechtsextremismus hoch angesehenen ehemaligen Landesvorsitzenden Bräuniger, die 76 "Weichenstellung im Landesverband Berlin". Internetauftritt des NPDLandesverbandes Berlin, datiert 25.1.2010. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 55 auf einschlägigen Internetpräsenzen schon länger gefordert wurde, verbreitet in der Szene eine Art "Aufbruchstimmung". Eine Reintegration ausgetretener Kreisvorsitzender in die Partei und eine Wiederannäherung an subkulturelle rechtsextremistische Milieus erscheint möglich. Der breite Hintergrund der neuen Führungsriege vom "Deutschen Kolleg" bis zu den "Autonomen Nationalisten" zeigt, dass die NPD ihre Rolle als zentraler Akteur des Berliner Rechtsextremismus zurück erkämpfen möchte. 3.3 Aktionsorientierter Rechtsextremismus 3.3.1 Das Netzwerk "Freie Kräfte" als aktives Zentrum des Berliner Rechtsextremismus Im Netzwerk "Freie Kräfte" sammelt sich der aktivste Teil Struktur und Funktionsweise der rechtsextremistischen Szene Berlins. Es umfasst etwa des Netzwerks 200 Personen, deren gemeinsamer Nenner der neonazistische "Kampf um die Straße" ist. Ihr Zusammenhalt beruht eher auf losen als auf festen organisatorischen Strukturen, dennoch ist eine Tendenz zur Reorganisation unverkennbar. Die Gründung des Landesverbandes Berlin der "Jungen Nationaldemokraten" durch die "Autonomen Nationalisten" und das vorübergehende Auftreten der Kameradschaft "Frontbann 24" sind Ausdruck dieser Tendenz. Der überwiegende Teil der Aktivisten bindet sich durch die wiederholte Teilnahme an rechtsextremistischen Demonstrationen und die wiederkehrende Verabredung zu Aktionen im kleinen Kreis selbst in das Netzwerk ein. Auf diese Weise eröffnen die "Freien Kräfte", oft ausgehend von persönlichen Bekanntschaften, eine niedrigschwellige Einstiegsmöglichkeit in die rechtsextremistische Szene. Entscheidend für die Aufrechterhaltung dieser freien Strukzentrale Rolle turen sind Informationsflüsse, die von Personen an den zentder "Autonomen Nationalisten" ralen Knotenpunkten im Netzwerk gesteuert werden. Diese fungieren sowohl als Ansprechpartner nach innen als auch als Schnittstellen zu anderen rechtsextremistischen Akteuren. 56 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Dabei übernehmen die "Autonomen Nationalisten" in Berlin zweifellos die zentrale Rolle. Die von ihnen initiierte Organisationsform der "Mitgliedschaft durch Mitmachen" und die hierarchiereduzierte Kommunikationsweise unter Nutzung moderner Medien haben sicherlich stärker zu ihrer nachhaltigen Entwicklung beigetragen als ihr vieldiskutiertes Erscheinungsbild oder das aggressive Auftreten in der Öffentlichkeit. Mit der breiten Verteilung von Verantwortung und ihrer spontan mobilisierbaren Basis stellen sie hinsichtlich Geschlossenheit und Handlungsfähigkeit das Gegenprogramm zum NPD-Landesverband des Jahres 2009 dar. "Frontbann 24" zwiWährend die "Autonomen Nationalisten" durch die Reanischen "Autonomen Namation der JN-Strukturen in Berlin noch die letzte Stütze des tionalisten" und NPD inzwischen abgelösten NPD-Landesvorsitzenden Hähnel bildeten, ist ein neuer Akteur im Netzwerk "Freie Kräfte" aus eindeutiger Opposition zu diesem entstanden. Aus einer Abspaltung unzufriedener Mitglieder des NPD-Kreisverbandes Treptow-Köpenick gründete sich Ende 2008 die Kameradschaft "Frontbann 24". Mit ihrem geschlossenen und teilweise uniformierten Auftreten grenzte diese sich vom Habitus "Autonomer Nationalisten" ausdrücklich ab, bot damit aber auch Angriffsflächen für ein Vereinsverbot, das am 5. November 2009 vom Senator für Inneres und Sport ausgesprochen wurde. Von der Randerscheinung zum zentralen Akteur: die "Autonomen Nationalisten" ein neuer Typus von Die seit 2002 zu beobachtende Entwicklung der "AutonoRechtsextremisten men Nationalisten" 77 erklärt sich aus einer Art "Gegenwehr" setzt sich durch zur linken "Antifa" und als Reaktion auf staatlichen Repressionsdruck (u.a. Verbote der Kameradschaften "Tor" und "BASO"). Beim Aufbau informeller, konspirativer Strukturen und ihren "Anti-Antifa"-Aktionen haben sie sich am Vorbild der linksextremistischen "Autonomen" orientiert. Im öffentlichen Auftreten, z.B. in Form von "Schwarzen Blöcken" bei rechtsextremistischen Demonstrationen, sind sie 77 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2002. Berlin 2003, S. 27 f. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 57 kaum von diesen zu unterscheiden. Mit dem Ausspähen, Provozieren und Bedrohen politischer Gegner zielen sie auf Machtausübung im öffentlichen Raum. Die Unverbindlichkeit der Teilnahme und der erlebnisorientierte Charakter vieler Aktionen wirkt gerade auf ideologisch nicht gefestigte Jugendliche anziehend. Mit diesem Angebot haben sich die "Autonomen Nationalisten" zum größten Rekrutierungspool für die rechtsextremistische Szene der Stadt entwickelt. 78 Insgesamt gehören den "Autonomen Nationalisten" in Berlin Umfang und etwa 120 überwiegend gewaltbereite Aktivisten an. Bis auf Struktur der "Autonomen Nationalisten" wenige Ausnahmen sind diese zwischen 18 und 28 Jahren alt. Der Frauenanteil beträgt etwa 20 Prozent. Ihre Schwerpunkte liegen in den Bezirken Pankow, Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf, Treptow-Köpenick und Neukölln, wo sie in regionalen Aktionsgruppen lose organisiert sind. Die führenden Vertreter stimmen ihre Aktionen untereinander ab und sind auch außerhalb ihrer eigenen Anhängerschaft weitreichend vernetzt. Sie verfügen über enge Kontakte zur Berliner NPD und über Beziehungen zu führenden "Autonomen Nationalisten" und "Jungen Nationaldemokraten" im gesamten Bundesgebiet. Auf Grund dieser Netzwerke sind die "Autonomen Nationaspontan mobilisierbar listen" in der Lage, in Reaktion auf aktuelle Ereignisse kurzund hoch flexibel fristig mehrere hundert Personen auf die Straße zu bringen, wie beispielsweise am 10. Oktober 2009. Vorausgegangen war ein vermeintlich linker Angriff auf ein Szenelokal in Schöneweide am 4. Oktober 2009, bei dem ein Rechtsextre78 Zur Vertiefung vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Lageanalyse "Autonome Nationalisten" 2008. Berlin 2008. 58 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 mist lebensgefährlich verletzt wurde. Polizeiliche Ermittlungen ergaben zwar, dass der Täter nicht aus dem vermuteten Spektrum stammt. Trotzdem zogen knapp eine Woche später vom Alexanderplatz aus startend etwa 650 Rechtsextremisten zu einer Demonstration unter dem Motto "Vom nationalen Widerstand zum nationalen Angriff" durch den als "linken Szenebezirk" angesehenen Friedrichshain. Ein Beleg für die funktionierenden Netzwerke ist, dass ein für den selben Tag im nahen Brandenburger Umland geplanter Aufmarsch "Freier Kräfte" von den dortigen Anmeldern kurzfristig abgesagt wurde und diese stattdessen für eine Teilnahme in Berlin mobilisierten. Die Organisatoren traten dann gemeinsam mit dem "NW Berlin" als Veranstalter auf. "NW" steht dabei als Abkürzung für "Nationaler Widerstand", einem der vielen Pseudonyme "Autonomer Nationalisten". Angemeldet und geleitet wurde die Versammlung von einem für diese Aufgabe regelmäßig zuständigen Führungsaktivisten aus diesem Spektrum. Dieser hielt die einleitende Ansprache, in der er die Leiterin einer Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus und den Fraktionsvorsitzenden der Partei "Die Linke" im Bundestag als "geistige Brandstifter" bezeichnete und abschließend äußerte: "Die Geduld ist zu Ende. Die Zeit ist vorbei, in der wir uns alles gefallen lassen. Wenn sie es so wollen, dann kann ganz schnell aus dem nationalen Widerstand der nationale Angriff werden." Während der weitgehend friedlich verlaufenen Demonstration wurde neben den üblichen Parolen skandiert: "Linke haben Namen und Adressen, kein Vergeben, kein Vergessen." Fokus 1. Mai 2010 Dagegen wurde die jährliche Demonstration "Jugend braucht Perspektiven - Für ein nationales Jugendzentrum", die in AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 59 den Jahren 2003 bis 2008 jeweils im Dezember in Berlin stattfand, 2009 nicht durchgeführt. 79 Diese Versammlung der "Freien Kräfte Berlin" (tatsächlich der "Autonomen Nationalisten") hatte sich in den beiden Vorjahren mit ca. 550 und ca. 800 Teilnehmern aus dem gesamten Bundesgebiet zur größten rechtsextremistischen Veranstaltung der Stadt entwickelt. Der Grund für ihr Nichtstattfinden war aber nicht etwa, wie von einigen Medien kolportiert, ein Ausweichen vor dem Druck der Gegenöffentlichkeit, sondern eine schon länger geplante Konzentration der Mobilisierungsressourcen auf den 1. Mai 2010. Zu diesem Termin wurde eine Demonstration zum Thema "Unserem Volk eine Zukunft! Den bestehenden Verhältnissen den Kampf ansagen" angemeldet. Als Anmelder fungiert wiederum der o.g. Aktivist der "Autonomen Nationalisten". Im Aufruf werden "parteifreie Nationalisten", JN und NPD als Veranstalter genannt. Auf einer Mobilisierungsseite zur Demonstration wird zum "den bestehenden "Tag der Arbeit" per Video, Tonund Textdokumenten mit Verhältnissen den Kampf ansagen" kapitalismuskritischen Inhalten geworben. Dabei ist die Rede von einer "verkommenen Gesellschaft" und einem Volk, das Alternativen erkennen, "aktiv werden und sich wehren" müsse. Im Aufruf heißt es abschließend: "Unser Volk leidet unter dem Kapitalismus, und wenn ein Volk leidet, muss gehandelt werden. Daher gehen wir, die deutsche Jugend, am 01. Mai 2010, dem Tag der Deutschen Arbeit, auf die Straße und sagen diesen Verhältnissen den Kampf an. Nationaler Sozialismus - jetzt!" 80 79 Eine im Bundesland Brandenburg am 5.12.2009 zum selben Thema durchgeführte Demonstration, an der etwa 150 berliner Rechtsextremisten teilnahmen, war lediglich der Ersatztermin für die zunächst am 10.10.2009 geplante Veranstaltung von lokalen "Freien Kräften". 80 Internetauftritt "Demo-Mobilisierungsseite der Widerstandsbewegung in Berlin", datiert 11.1.2010. 60 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 "Autonome NationaWie erkennbar wird, treten die "Autonomen Nationalisten" listen" unter bei öffentlichen Anlässen unter wechselnden Bezeichnungen fiktiven Namen auf. So mobilisierten sie für überregionale Veranstaltungen zuletzt unter den Bezeichnungen "Freie Kräfte Berlin", "Nationaler Widerstand", "Nationale Sozialisten" und "parteifreie Nationalisten". Dahinter steckt jeweils der selbe Personenzusammenhang. Auch die regionalen Strukturen treten teilweise unter eigenen Bezeichnungen auf, so die "Vereinten Nationalisten Nordost" (VNNO) in Pankow, die "Freien Nationalisten Rudow" in Neukölln oder die "Freien Kräfte Marzahn-Hellersdorf". der "Nationale Rechtsextremistisches Propagandamaterial verweist häufig Widerstand" im Netz auf die Internetpräsenz des fiktiven "Nationalen Widerstands Berlin", die sich als zentrale Informationsplattform der "Autonomen Nationalisten" der Stadt etabliert hat. Die eingestellten Artikel lassen keine Zweifel an dem neonazistischen Hintergrund ihrer Urheber und enden häufig mit kämpferischen Phrasen für einen "Nationalen Sozialismus". Aktionsberichte dokumentieren - oft mit Fotos unterlegt - die Durchführung von oder die Teilnahme an rechtsextremistischen Veranstaltungen, z.B. zum Gedenken an Rudolf Heß oder aus Solidarität mit dem NS-Kriegsverbrecher Erich Priebke. Geradezu ritualhaft wird eine unbeugsame Haltung beschworen. Das Schlusswort eines Artikels über eine Vortragsveranstaltung zur Geschichte der SA lautet: "Es gibt keinen anderen Dank als zu geloben, dass wir für Deutschland weiterkämpfen wollen, für das ihr gestorben seid." 81 "Liste linker Läden" Die "Anti-Antifa"-Komponente, ursprünglich konstituierendes Element der "Autonomen Nationalisten", spiegelt sich in einer "Liste linker Läden" wider, die bereits medial thematisiert wurde. Diese ist mittlerweile in fünf Teilen auf der Internetpräsenz des "Nationalen Widerstands" eingestellt, zuletzt im September 2009. In der ersten Liste vom März 2009 heißt es einleitend: 81 Internetauftritt "Nationaler Widerstand Berlin". Artikel vom 11.11.2009. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 61 "Nachdem es in letzter Zeit wieder zu vermehrten Angriffen auf echte oder vermeintliche nationale Einrichtungen kam, wird eine Reaktion notwendig. Aus diesem Grund werden wir nun in regelmäßigen Abständen linke Läden und Lokalitäten beleuchten, um auch einmal diese an die Öffentlichkeit zu ziehen. Denn, wie sagt man doch so schön, es gibt kein ruhiges Hinterland." 82 Ende des Jahres kam es tatsächlich zu einigen Sachbeschädigungen an Objekten, die sich auf dieser Liste befanden. Dabei wurden Parolen wie "Neun Millimeter" oder "C 4 for Reds" geschmiert. 83 Die JN als organisatorischer Arm der "Autonomen Nationalisten" Vergleicht man das Tätigkeitsniveau der "Autonomen NatiIntegration onalisten" 2009 mit dem des Vorjahres, dann sind weniger vor Expansion neonazistische Kampagnen und "Anti-Antifa"-Aktivitäten zu verzeichnen. 2008 lag der Schwerpunkt auf Kampagnenarbeit mit jugendnahen Themen wie "Umweltschutz ist Heimatschutz" und vor allem "Jugend braucht Perspektiven", mit der erfolgreich weitere Jugendliche für die rechtsextremistische Szene rekrutiert werden konnten. Außerdem wurde mit mehreren Störaktionen bei Veranstaltungen zum Thema Nationalsozialismus in ihren Kiezen der Kampf um den öffentlichen Raum aufrecht erhalten. Das Jahr 2009 stand dagegen eher im Zeichen der Festigung ihrer organisatorischen Strukturen und könnte mit dem Motto "Integration vor Expansion" überschrieben werden. Der weitgehende Verzicht auf weitere Rekrutierungskamquantitativ pagnen und erlebnisorientierte Angebote ging zu Lasten eigeschwächt nes weiteren quantitativen Wachstums der "Autonomen Nationalisten". Durch den Abbruch von Kontakten zu lose angebundenen Aktivisten aus dem Rudower Norden und dem Wechsel einiger Buckower Skinheads zur inzwischen verbotenen Kameradschaft "Frontbann 24" ist sogar von einem leichten Rückgang ihres Mobilisierungspotenzials auf berlinweit etwa 120 Personen auszugehen. 82 Internetauftritt "Nationaler Widerstand Berlin". Artikel vom 17.3.2009. 83 Mit "Neun Millimeter" ist ein Schusswaffenkaliber, mit "C 4" ein Plastiksprengstoff und mit "Reds" der politische Gegner gemeint. 62 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 qualitativ Stattdessen haben die "Autonomen Nationalisten" im Sinne gestärkt eines eher qualitativen Wachstums die NPD-Nachwuchsorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) weiter zu ihrem organisatorischen Arm ausgebaut. Seit 2007 ist zu beobachten, dass sich der "harte Kern" der "Autonomen Nationalisten" durch JN-Mitgliedschaften straffer organisiert, ohne dabei seine eigentliche Ausrichtung auf den "Kampf um die Straße" aufzugeben. Mit Unterstützung der Parteispitze und der Infrastruktur des Landesverbandes der Berliner NPD hat der radikale Teil der "Freien Kräfte" schrittweise vier regionale Stützpunkte in Lichtenberg, Treptow-Köpenick, Pankow und Neukölln gegründet sowie Anfang 2009 schließlich einen Landesverband Berlin der "Jungen Nationaldemokraten". Konvergenz Die JN-Stützpunkte liegen ausnahmslos in den regionalen von "Autonomen Schwerpunkten der "Autonomen Nationalisten" und werden Nationalisten" und JN ebenso wie der Landesverband ausschließlich von diesen geführt. Die Führungskräfte der "Autonomen Nationalisten" und der JN in Berlin sind - auch in ihrer Rollenverteilung - identisch. Von den insgesamt etwa 50 JN-Mitgliedern in Berlin stammt der überwiegende Teil aus diesem Spektrum. Stützpunkttreffen und Wahlkampfeinsätze für die Mutterpartei hindern die Aktivisten jedoch nicht daran, auch weiterhin im Stile und mit dem Habitus "Autonomer Nationalisten" aufzutreten. Aktionsberichte der JN werden nur noch auf der Internetpräsenz des "Nationalen Widerstands" veröffentlicht; die eigene Homepage der JN ist inzwischen redundant. Die JN Berlin können als organisatorischer Arm der "Autonomen Nationalisten" bezeichnet werden. immer Über den JN-Landesvorsitzenden besitzen die "Autonomen stärkere Rolle Nationalisten" qua Satzung eine Stimme im Landesvorstand in und für die NPD der NPD. Ein zweiter führender Vertreter bekleidet seit Februar 2010 das Amt eines stellvertretenden Landesvorsitzenden. Weitere Aktivisten sind in Kreisvorständen aktiv. Die "Autonomen Nationalisten" haben die NPD bei ihrem lethargischen Wahlkampf in Berlin personell unterstützt und auf ihrer Internetpräsenz einen kämpferischen Wahlaufruf zu deren Gunsten verfasst. Darin heißt es trotz kritischer Nebentöne: AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 63 "Die Aussage freier Kräfte der Berliner Widerstandsbewegung ist kurz, eindeutig und klar (...) Jeder nationale Deutsche hat nicht nur die Pflicht, in der heutigen Zeit NPD zu wählen, sondern sie auch in jeder ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeit zu unterstützen. Eine Zusammenarbeit mit der DVU, den Republikanern oder jeglichen 'Pro'Bündnissen ist in jeder Hinsicht auszuschließen (...) - wählt die NPD - unterstützt die NPD im Wahlkampf - und bekämpft jeden verlogenen Rechtspopulismus Für ein besseres Deutschland in einem nationalen Sozialismus!" 84 Die Konvergenz von "Autonomen Nationalisten" und JN "Autonome Nationalisten" als radikal soverdeutlicht, dass der Strukturwandel im Netzwerk "Freie zialisierende Instanz Kräfte" mit der Entwicklung von den Kameradschaften zu den "Autonomen Nationalisten" nicht ihr Ende gefunden hat, sondern auf eine Reorganisation in formellen Strukturen zielt. Die "Autonomen Nationalisten" dienen als "Rekrutierungspool" und "Durchlauferhitzer" und tragen als sozialisierende Instanz mittelfristig zu einer Radikalisierung des organisierten Rechtsextremismus bei. 85 Perspektivisch werden die "Autonomen Nationalisten" beein "nationales strebt sein, sich organisatorisch weiter zu festigen. Ein weiteJugendzentrum?" res Mosaikstück im Sinne ihrer jahrelangen Kampagne "Für ein nationales Jugendzentrum" könnte der Versuch sein, sich durch die Anmietung oder den Kauf von Räumlichkeiten eine infrastrukturelle Basis zu schaffen. Ihr Fokus wird künftig weniger auf Kiezdominanz als auf überregionaler Wahrnehmbarkeit liegen. Die zum 1. Mai 2010 geplante Demonstration ist ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg. "Frontbann 24" als temporärer Lückenfüller Durch die Erosion des NPD-Landesverbandes auf der einen "Bedarfslücke" zwiSeite und dem Erstarken der "Autonomen Nationalisten" auf schen NPD und "Autonomen Nationalisten" der anderen Seite ist im rechtsextremistischen Spektrum eine "Angebotslücke" für aktionsorientierte und meist etwas lebensältere Personen entstanden, die eher zu traditionellen 84 Internetauftritt "Nationaler Widerstand Berlin", Artikel vom 14.8.2009. 85 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Lageanalyse "Autonome Nationalisten" 2008 Berlin 2008, S. 9. 64 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Ausdrucksformen neonazistischer Gesinnung neigen. In diese Lücke stieß die Kameradschaft "Frontbann 24". Ihre Namensgebung bezog sich auf die 1924 gegründete SAVorläuferorganisation "Frontbann". Mit einem geschlossenen und teilweise im SA-Stil uniformierten Auftreten grenzte diese sich vom Habitus der an linksextremistischen Vorbildern orientierten "Autonomen Nationalisten" deutlich ab. Durch eine hierarchische Organisationsform mit Anwärterund Mitgliederstatus erfüllte sie einen "Bedarf" an kameradschaftsähnlichen Strukturen, der nach verschiedenen Vereinsverboten in Berlin seit 2005 nicht mehr erfüllt werden konnte. schnelle Expansion "Frontbann 24" wurde am 1. Oktober 2008 von einer Abspaltung unzufriedener Mitglieder des NPD-Kreisverbandes Treptow-Köpenick gegründet. Um diese scharte sich schnell ein Kreis von zunächst etwa 15 bis 20 Männern aus dem Ortsteil Schöneweide, überwiegend zwischen 30 und 45 Jahre alt, mit rechtsextremistischem Vorlauf, aber ohne aktuelle Organisationsanbindung. Weiteren Zulauf erhielt die Kameradschaft im Frühjahr 2009 durch den Austritt der NPDKreisvorsitzenden Marzahn-Hellersdorf, die sich mit Teilen ihrer Gefolgschaft "Frontbann 24" anschloss, sowie aus der unorganisierten Buckower Skinheadszene. Das Personenpotenzial wuchs bis zum Sommer auf 50 bis 60 Personen - fast ausschließlich Männer - an, darunter auch vermehrt jüngere Mitglieder. Folgt man den Selbstdarstellungen der Kameradschaft, dann bestand zuletzt eine regionale Struktur mit Ortsgruppen in Schöneweide, Lichtenberg, Hohenschönhausen, Marzahn-Hellersdorf und Neukölln. In der Öffentlichkeit trat die Kameradschaft jedoch nie in unterschiedlichen Gruppenzusammenhängen auf. intensive Der schnelle und starke Mitgliederzulauf spricht dafür, dass Rekrutierungsarbeit das Angebot von "Frontbann 24" passgenau war. Über zwei inzwischen abgeschaltete Internetpräsenzen und ein Mobilisierungsvideo, das vorübergehend auf dem Internetportal "Youtube" eingestellt war, wurde versucht, weitere Interessenten zu werben und dabei auch ein jüngeres Publikum an- AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 65 zusprechen. Das Video eröffnete - untermalt von einem Musikstück einer bekannten rechtsextremistischen Band - mit dem in altdeutsch gehaltenen Schriftzug "Heil Euch Kameraden beim Frontbann 24" und fuhr dann fort: "Sucht ihr Freunde und Kameraden! Wollt ihr was in Deutschland verändern! Tretet doch bei uns ein" 86 Später wurde ein Bild eingeblendet, das mit "Die Schutzstafdiffuse Propaganda fel" unterschrieben war, am oberen Rand ein Stahlhelm zeigte und dazwischen in kreisförmiger Anordnung den SSLeitspruch "Meine Ehre heißt Treue!" beinhaltete. Innerhalb dieses Kreises stand der Name "Frontbann 24". Die Verwendung eines SS-Leitspruchs steht im Widerspruch zur SA-Affinität von "Frontbann 24", da sich SS und SA im historischen Nationalsozialismus feindlich gegenüber standen. In einem auch als Hochglanzflugblatt verbreiteten Pamphlet auf der Internetpräsenz von "Frontbann 24" wurden Versatzstücke antisemitischer, xenophober, revisionistischer und systemfeindlicher Propaganda zusammenhanglos aneinander gereiht. Nachhaltiger als durch ihr politisches Programm verschaffte öffentliches sich "Frontbann 24" durch ein markantes Erscheinungsbild Auftreten Aufmerksamkeit. Öffentlich wahrgenommen wurde eine mit "Frontbann 24"-Fahne marschierende, geschlossene Personengruppe erstmals beim so genannten "Trauermarsch" zum 86 Musikvideo "Frontbann 24" auf "Youtube", datiert 16.6.2009. 66 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 "Gedenken an die Bombardierung Dresdens" am 14. Februar 2009. Anschließend trat die Kameradschaft bei verschiedenen rechtsextremistischen Veranstaltungen in Berlin und Brandenburg auf. Dazu gehörten eine Mahnwache "Härteste Strafen für Kinderschänder" am 27. März 2009 vor dem Amtsgericht Tiergarten und ein Hoffest in der Köpenicker Parteizentrale der Bundes-NPD am 1. Mai 2009. markantes Zu diesem auffälligen Erscheinungsbild gehörten eine einErscheinungsbild heitliche, überwiegend in schwarz gehaltene, uniformartige Bekleidung und schwarz-weiß-rote Fahnen, was im Gesamterscheinungsbild an das Auftreten des historischen "Frontbann" und der SA erinnert. Die besonders markanten Uniformhemden sind schwarz mit einem Reichsadler auf der Brust und der Zahl 24 auf dem Kragenspiegel. Da zum Tragen dieser Hemden nur Mitglieder berechtigt waren, erschien der Personenzusammenhang in der Öffentlichkeit kleiner als er tatsächlich war. Ermittlungsverfahren Mitte des Jahres wurde gegen elf Kameradschaftsmitglieder eingeleitet ein Ermittlungsverfahren wegen des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz eingeleitet. Bei Hausdurchsuchungen wurden Uniformierungsbestandteile, diverse Devotionalien mit nationalsozialistischem Bezug, Waffen sowie Mitgliedsanträge und -ausweise gefunden. Auch nach den Hausdurchsuchungen nahm "Frontbann 24" weiter an rechtsextremistischen Veranstaltungen teil, die Mitglieder verzichteten aber auf das Tragen ihrer Uniformen. Mehrfach traten Mitglieder sogar als Veranstalter auf, so bei einer Spontanversammlung als Protest gegen die angebliche "Vergewaltigung einer Kameradin" durch Migranten am 27. August 2009 in Neukölln (90 Teilnehmer) und bei einer Mahnwache "Drogen Nein Danke - Die Schule ist die Schranke" in Lichtenberg am 5. September 2009 (30 Teilnehmer). "Frontbann 24" Da sich die Ziele der Kameradschaft "gegen die verfaswird verboten sungsmäßige Ordnung richten und nach Zweck und Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen", hat der Senator für Inneres und Sport "Frontbann 24" mit Wirkung zum 5. November 2009 verboten. In der Verbotsverfügung heißt AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 67 es, dass die Vereinigung "in Vorstellungswelt und Gesamtstil eine Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus aufweist", sich "in Name, Zweck und Tätigkeiten am historischen Vorbild der SA-Vorläuferorganisation 'Frontbann'" orientiert und in "aktiv-kämpferischer und aggressiver Weise gegen die politischen Institutionen und Akteure" richtet. Das Vereinsvermögen wurde sichergestellt. Des weiteren sind Ermittlungsverfahren gegen einzelne Mitglieder von "Frontbann 24" wegen des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz, des Verbreitens von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen, Volksverhetzung sowie des Verstoßes gegen das Waffenund Betäubungsmittelgesetz anhängig. Führende Protagonisten von "Frontbann 24" haben Anfang Kameradschaftsszene Dezember 2009 Rechtsmittel gegen das Verbot eingelegt. Es noch nicht am Ende ist nicht auszuschließen, dass es weitere Versuche geben wird, in Berlin kameradschaftsähnliche Strukturen zu etablieren, um die Lücke zwischen NPD und den "Autonomen Nationalisten" zu schließen. Symbolund Integrationskraft eines Lokals in Schöneweide Das Verbot von "Frontbann 24" blieb in der übrigen rechtsKristallisationspunkt extremistischen Szene Berlins ohne nennenswerte Resonanz. der aktionsorientierten Rechtsextremisten Der Grund liegt darin, dass die Kameradschaft durch die selbstgewählte Distanz zum NPD-Landesverband auf der einen und zu den "Autonomen Nationalisten" auf der anderen Seite in der Stadt weitgehend isoliert war. Ihr subkulturell geprägter Habitus scheint am ehesten noch in der rechtsextremistischen Musikszene anschlussfähig, wohin vereinzelt Kontakte gepflegt wurden. Trotzdem kam es 2009 zu partiellen Kooperationen zwischen "Frontbann 24" und den "Autonomen Nationalisten", was nicht zuletzt mit der Nutzung eines Szenelokals in Schöneweide zusammenhängt. Die im Februar 2009 eröffnete Gaststätte entwickelte sich geschlossene Gesellschaft innerhalb kürzester Zeit zu einem Kristallisationspunkt der aktionsorientierten rechtsextremistischen Szene Berlins. Sie wurde nicht nur für die Mitglieder von "Frontbann 24" zum zentralen Treffpunkt, sondern für Angehörige fast aller 68 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Gruppierungen aus den Netzwerken "Freie Kräfte" und "Musik". Während andere einschlägige Lokalitäten von einem gemischten Publikum besucht werden, kann hier von einer geschlossenen rechtsextremistischen Gesellschaft gesprochen werden. Auf diese Weise ist ein geschützter Raum entstanden, in dem die Möglichkeit zu gruppenübergreifender Kontaktaufnahme und für konspirative Absprachen geboten wird. Das Lokal war auch mehrfach Ausgangspunkt von Demonstrationen. Ziel von Anschlägen Aufgrund seines rasch über die rechtsextremistische Szene hinaus wachsenden Bekanntheitsgrades wurde das Lokal mehrfach Ziel von Anschlägen, bei denen es sich zumeist um Sachbeschädigungen handelte. In der Nacht zum 4. Oktober 2009 kam ein Rechtsextremist in mittelbarer Folge eines versuchten Brandanschlags auf die Gaststätte fast ums Leben, als er von den flüchtenden Tätern mit einem Kraftfahrzeug überrollt wurde. Als Reaktion auf diese Tat wurde von Lokalgästen noch am selben Abend ein Spontanaufzug am Bahnhof Schöneweide organisiert, an dem etwa 250 Personen teilnahmen. Unter Einbeziehung der eine Woche später durchgeführten Demonstration "Vom nationalen Widerstand zum nationalen Angriff" weisen somit die beiden größten rechtsextremistischen Veranstaltungen des Jahres direkte Bezüge zum inzwischen symbolträchtig gewordenen Treffpunkt der rechtsextremistischen Szene auf. integrierende Wirkung Vermeintliche und tatsächliche "linke" Übergriffe gegen von Angriffen gegen "rechts", zu denen auch Sachbeschädigungen im Wohnum"rechts" feld und an Fahrzeugen von NPDund DVU-Mitgliedern gehörten, haben in ihrer Kumulation dazu geführt, dass sich das Netzwerk "Freie Kräfte" stärker nach innen integriert hat. Trotz eines angespannten Verhältnisses kooperierten "Frontbann 24" und die "Autonomen Nationalisten" bei der Mobilisierung für beide Demonstrationen. Obwohl der geschilderte Brandanschlag keinen linksextremistischen Hintergrund hatte, hat er die bereits auf Grund einiger ähnlich gelagerter Vorfälle gereizte Stimmung in der rechtsextremistischen Szene weiter angeheizt. Ungeachtet der zwischenzeitlich bekannt gewordenen polizeilichen Ermittlungsergebnisse zum Hintergrund der Tat geht die rechtsextremisti- AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 69 sche Szene weiterhin von einem linksextremistisch motivierten Anschlag aus: "So sprach man nach einem linksextremistischen Brandanschlag auf die Berliner Kneipe (...) und nach dem Mordversuch an dem Nationalisten Enrico davon, dass der Anschlag natürlich keinerlei politischen Hintergrund hat. Dem Druck auf die Polizei durch rote, schwule und Multikulti-Politiker sei Dank. Auch etablierte Berliner Rotfaschisten versuchen sich aus dem Schussfeld der zentralratsgesteuerten Medien zu bringen in dem man behauptet, dass ANTI-Faschisten niemals Menschenleben gefährden würden." 87 Trotz der gereizten Stimmung gab es in unmittelbarem zeitKultivierung lichen Zusammenhang keine bedeutenden Übergriffe auf der "Opferrolle" linke Ziele. Erst gegen Ende des Jahres kam es zu den bereits erwähnten Sachbeschädigungen an Objekten, die auf der "Liste linker Trefforte" des "Nationalen Widerstand Berlin" verzeichnet waren. Betroffen waren u.a. linke Szenekneipen und eine Galerie in Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg. Tendenziell zeichnet sich im Berliner Rechtsextremismus eine Strategie ab, die darauf zielt, eine Rolle als "Opfer linker Gewalt" zu kultivieren. Auf der besagten Internetpräsenz findet sich neuerdings - in Anlehnung an AntifaDokumentationen rechter Übergriffe - eine "Chronik" linker Gewalttaten, die regelmäßig aktualisiert wird. Es ist allerdings fraglich, ob die hitzköpfigen Teile der Szene diese Linie dauerhaft durchhalten werden. Die aufsehenerregende Gewalttat vom 12. Juni vor einer "Bordsteinkick" ohne Diskothek in Friedrichhain, bei der dem Opfer eine lebensBezug zum organisierten Rechtsextremismus gefährliche Kopfverletzung zugefügt wurde, weist keine Bezüge zum organisierten Rechtsextremismus in Berlin auf. Der Haupttäter wurde wegen versuchten Totschlags zu einer Haftstrafe von fünfeinhalb Jahren verurteilt, zwei weitere Täter wegen gefährlicher Körperverletzung zu Jugendstrafen von zwei Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt wurden. 88 87 Anonyme Erklärung auf dem Internetportal "Altermedia" zu den Vorkommnissen am 4.9.2009. 88 LG Berlin, Az. (524) 1 Kap Js 141/09 (71/09) vom 28.1.2010. 70 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 3.3.2 Netzwerk "Rechtsextremistische Musik" im Fokus staatlicher Exekutivmaßnahmen Bands und Neben dem Netzwerk "Freie Kräfte" existiert im aktionsoriGruppierungen entierten Rechtsextremismus das Netzwerk "Rechtsextremistische Musik". Neben den Berliner Bands "Deutsch, Stolz, Treue" (D.S.T., auch "X.x.X."), "Spreegeschwader" (SG), "Legion of Thor" (LoT) und "Die Lunikoff-Verschwörung", "Macht & Ehre" und "Kahlschlag" gehören dazu auch Gruppierungen wie die "Vandalen - Ariogermanische Kampfgemeinschaft", "Kameradschaft Spreewacht" (KSW) und "Hammerskins". staatlicher VerfolDas verbindende Element im etwa 200 Personen umfassengungsdruck hält an den Netzwerk ist die gegenseitige logistische Unterstützung bei Bandproben, der Organisation von Konzerten sowie bei der Herstellung und dem Vertrieb von Tonträgern. Wie in den Vorjahren dominieren die rechtsextremistischen Bands, während die "Vandalen", KSW und "Hammerskins" kaum noch in Erscheinung treten. Im Vergleich zum Netzwerk "Freie Kräfte" agiert das Musik-Netzwerk weitaus weniger öffentlichkeitswirksam. Ursache dafür ist vermutlich anhaltender Verfolgungsdruck durch die Strafverfolgungsbehörden. Internetradios als Propagandaplattform neue Wege Musik besitzt eine Schlüsselfunktion bei der Rekrutierung junger Menschen für den Rechtsextremismus. Nachdem der Einfluss der "traditionellen" rechtsextremistischen Musikszene in Berlin zurückgedrängt werden konnte, gewinnen Versuche, Musik über neue Medien wie Internetradios zu verbreiten, an Bedeutung. Internetradio Das "European Brotherhood Radio" (EBR) bot mit 24EBR Stunden-Sendungen überwiegend rechtsextremistische Musik, von der eine Vielzahl von Titeln Straftatbestände erfüllten. Auch in Moderationsbeiträgen wurden wiederholt strafrechtlich relevante Parolen geäußert, u.a. der Holocaust geleugnet. Ferner wurde das Internetradio als Plattform für Live-Auftritte von rechtsextremistischen Liedermachern oder AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 71 Interviews mit ehemaligen bzw. aktiven Protagonisten der rechtsextremistischen Szene genutzt. Auf einer durch einen der Radiobetreiber eingerichteten Unterseite des EBRInternetauftritts wurden Bauanleitungen für die Herstellung von unterschiedlichen Sprengstoffen sowie Sprengund Brandvorrichtungen veröffentlicht. Für diese sogenannte "Sprengmeisterseite" wurden in moderierten EBRSendungen mittels eingespielter "Jingles" geworben. 89 Die sieben Betreiber des Internetradios wurden wegen BilHaftstrafen für dung einer kriminellen Vereinigung, Volksverhetzung, Verdie Betreiber stoßes gegen das Waffengesetz und des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen zu Haftstrafen von einem Jahr auf Bewährung bis zu zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die beiden Berliner Angeklagten erhielten Haftstrafen von zwei Jahren und neun Monaten bzw. zwei Jahren und fünf Monaten. 90 Vier Betroffene, darunter die beiden Personen aus Berlin, haben Rechtsmittel eingelegt. Konzerttätigkeit weiterhin gering Die Konzerttätigkeit in Berlin ist aufgrund des staatlichen ein durchgeführtes, Verfolgungsdrucks weiterhin sehr gering. 2009 fand ein ein verhindertes Konzert rechtsextremistisches Konzert statt, ein weiteres wurde durch die Polizei verhindert. Während es der Polizei am 21. Februar 2009 gelang, ein auf dem Gelände eines Clubs in Lichtenberg geplantes Konzert zu verhindern, konnte die rechtsextremistische Musikszene am 18. Juli 2009 ein konspirativ geplantes Konzert in Pankow mit etwa 100 Teilnehmern durchführen. Dort traten die rechtsextremistischen Bands "Cynic" (Brandenburg), "Propaganda" (BadenWürttemberg) und "White Law" (Großbritannien) auf. 89 Pressemitteilung des Polizeipräsidenten in Berlin und der Generalstaatsanwaltschaft Berlin vom 13.3.2009. 90 LG Berlin, Az. 81 Js 250/09 vom 30.11.2009. Die Verurteilung erfolgte gemäß SS 129 Abs. 1 StGB in Tateinheit mit SS 130 StGB, SS 131 StGB, SS 86 und SS 86a StGB, SS 40 WaffG und SS 52 WaffG. 72 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Tonträgerveröffentlichungen weiterhin selten drei neue CDs Die rechtsextremistischen Berliner Bands veröffentlichten in diesem Jahr drei Tonträger und blieben damit auf dem geringen Niveau der Vorjahre (2006 drei, 2007 und 2008 jeweils zwei Veröffentlichungen). Die Band "Legion of Thor" gab die CD "Feuer und Flamme" heraus, "X.x.X." die CD "Virus" und die Band "Macht & Ehre" die CD "Europa erwache!". "Legion of Thor": Auf der CD "Feuer und Flamme" wird zum Sturz des Sys"Feuer und Flamme" tems aufgerufen: "Wir haben uns ein Ziel gesetzt, wir stürzen das System (...) Feuer und Flamme für das System! Feuer und Flamme es wird untergehen! Wir sind Feuer und Flamme für eine Macht, die euch zu Grunde rafft!" "X.x.X.": Anlässlich des 15jährigen Band-Jubiläums von "X.x.X." ali"Virus" as "Deutsch, Stolz, Treue" wurde die CD "Virus" mit Metallbox, T-Shirt, Button, Aufkleber sowie Schlüsselband angeboten. "Das Lied vom Klaus" stellt den Holocaust indirekt als Fantasieprodukt eines "Holo-Klaus" dar. Im Lied "Auf immer und ewig" wird das Parteizeichen der NSDAP, das Hakenkreuz, glorifiziert: "Doch du zahlst in Deutschland mit Jahren im Knast, weil du dem Zeichen gehuldigt hast. Sechstausend Jahre alt ist deine Geschichte, doch seit '45 wollen sie dich vernichten ( ) Auf immer und ewig werden stolze Menschen für dich streiten. Auf immer und ewig wirst du unser Leben begleiten." AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 73 Wegen der Texte auf der CD wurde ein Ermittlungsverfah"Macht & Ehre": ren eingeleitet. Am 13. Januar 2010 fanden bei zwei Mit"Europa erwache" gliedern von "X.x.X." in Berlin sowie einem in Sachsen ansässigen Versandhandel Durchsuchungen statt. Dabei wurden 140 CDs sichergestellt. Die CD "Virus" von "X.x.X." wurde ebenso wie die CD "Europa Erwache" von "Macht & Ehre" von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien indiziert. 91 Der CD-Titel "Europa erwache!" weckt gezielt Assoziationen zur SA-Losung "Deutschland erwache". Im Lied "Alternative" wird der Kampf "gegen das System" und ein "Nationaler Sozialismus" propagiert. "Nationaler Sozialismus führt uns in die neue Zeit (...) Wir kämpfen gegen das System, für unser Vaterland. Wir streiten und wir stellen uns vereint im Widerstand. Wir sind die Alternative zu dieser schlechten Welt." "Lunikoff" unter Auflagen "Die Lunikoff-Verschwörung" veröffentlichte 2009 lediglich 4 000 bei "Rock für Deutschland" den Tonträger "Heilfroh", der schon 2008 als CD herausgegeben wurde, als "Promo-Picture-LP". Darüber hinaus hat sich die Band an drei Samplern, u.a. an der Live-CD "Rock für Deutschland Gera 2009", beteiligt. Hierbei handelt es sich um den Live-Mitschnitt eines Konzertes, das anlässlich der NPD-Veranstaltung "Hier bleiben - Anpacken! Rock für Deutschland" am 11. Juli 2009 in Gera (Thüringen) stattfand. An dieser Veranstaltung nahmen etwa 4 000 Personen teil. Ansonsten ist nur ein weiterer Auftritt beim "Nationalen Frankentag" am 4. Juli 2009 in Geschwand (Bayern) vor etwa 500 Personen bekannt. Die geringe Anzahl von Konzertauftritten dürfte auf die FühKonkretisierung rungsauflagen 92 für ihren Sänger zurückzuführen sein. Mit der Auflagen Beschluss des Landgerichts Berlin vom 17. Juni 2009 wur91 BAnz. Nr. 164 vom 30.10.2009. 92 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 74. 74 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 den die ihm 2008 erteilten Auflagen hinsichtlich der Konzertauftritte noch einmal konkretisiert. So muss der Sänger dem Landeskriminalamt seine musikalischen Auftritte nunmehr mit genauem Veranstaltungsort und exakten Zeitangaben eine Woche im Voraus anzeigen. Ferner ist kontrollierenden Polizeibeamten der Zugang zur Veranstaltung zu gewähren. nachlassendes Da wegen der Auflagen Konzerte im Vorfeld bekannt werInteresse den und daher mit Personenkontrollen oder einer Verhinderung bzw. Auflösung der Veranstaltung gerechnet werden muss, hat das Interesse an Auftritten der Band "Die Lunikoff-Verschwörung" in der Szene spürbar nachgelassen. Weitere Exekutivmaßnahmen Freiheitsstrafen Zwei Mitglieder der Band D.S.T. wurden am 17. März 2009 gegen D.S.T. vom Landgericht Berlin auf Grund der 2002 veröffentlichten CD "Ave et victoria" wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Volksverhetzung zu Freiheitsstrafen von einem Jahr und zwei Monaten sowie zehn Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wurden, verurteilt. Ein dritter Angeklagter wurde freigesprochen. Das Urteil ist rechtskräftig. 93 Schlag gegen die NSSeit Ende der 90er Jahre ist auch der "National Socialist "Black-Metal"-Szene Black Metal" (NSBM) in der rechtsextremistischen Musikszene verbreitet. Der NSBM knüpft an - auch für die unpolitische Black Metal-Szene typischen - neuheidnische und antichristliche Elemente an und nutzt sie, um ihr nationalsozialistisches Weltbild zu propagieren. Am 15. Oktober 2009 fanden in Berlin bei zwei professionellen CD-Händlern aus der NSBM-Szene, die den Internetversandhandel "Merchant Of Death" (M.O.D.) betreiben, Durchsuchungen statt. Dabei wurden etwa 12 000 Tonträger sichergestellt, die zum Teil strafrechtlich relevante Cover (Hakenund Keltenkreuze) und Inhalte aufwiesen. Durchsuchungen Auch die "Kameradschaft Spreewacht" war in diesem Jahr bei der KSW von Exekutivmaßnahmen betroffen. Durch einen Artikel des 93 LG Berlin, Az. 81 Js 1401/02 vom 17.3.2009. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - RECHTSEXTREMISMUS 75 Tagesspiegels vom 31. Juli, in dem unter der Überschrift "Nazis bedrohen Grüne" befürchtet wurde, dass einem weiblichen Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses auf deren Internetpräsenz "indirekt mit Vergewaltigung gedroht" würde, ist die "Kameradschaft Spreewacht" ins Visier der Öffentlichkeit geraten. Das Landeskriminalamt konnte jedoch keine direkte oder indirekte Bedrohung der Abgeordneten feststellen. Wegen der Darstellung eines Keltenkreuzes auf der KSW-Homepage wurde ein Ermittlungsverfahren wegen der Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und des Verstoßes gegen das Kunsturheberrechtsgesetz eingeleitet. Die Polizei durchsuchte am 2. September das KSW-Clubhaus in Lichtenberg sowie die Privatwohnung des vermutlich verantwortlichen Mitglieds und beschlagnahmte PC-Technik sowie diverse Speichermedien. Das Netzwerk "Rechtsextremistische Musik" wird auch in Alternative Zukunft Schwierigkeiten haben, in Berlin nachhaltige Au"Web 2.0" ßenwirkung zu erzielen. Die subkulturell geprägte Szene ü- beraltert und zieht sich zunehmend in sich selbst zurück. Die Bedeutung des Internet bei der Verbreitung rechtsextremistischer Musik wird weiter zunehmen. Dabei sind Internetradios nur eine von vielen neuen Möglichkeiten. 76 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 4. LINKSEXTREMISMUS 4.1 Überblick Personenpotenzial Personenpotenzial Die erhebliche Zunahme von Straftaten (insbesondere Kfznahezu konstant Brandanschläge und Übergriffe gegen Polizeibeamte) hat im vergangenen Jahr zu einer starken medialen Aufmerksamkeit geführt. Das Personenpotenzial linksextremistischer Organisationen ist mit ca. 2 220 Personen nahezu gleichgeblieben. (2008: ca. 2 200). Es gab lediglich leichte Verschiebungen innerhalb des linksextremistischen Spektrums: Während die Zahl der aktionsorientierten, auch gewaltbereiten Personen mit ca. 1 100 Personen gegenüber 2008 unverändert geblieben ist, stieg die Zahl der nichtgewaltbereiten Personen leicht (von ca. 720 Personen in 2008 auf ca. 750 in 2009). Die gewaltbereite linksextreme Szene ist nicht nur aktiver, sondern auch deutlich aggressiver geworden. Zugenommen hat die Mitgliederzahl der "Roten Hilfe e.V." (RH) von ca. 410 auf ca. 540 Personen, vermutlich aufgrund der vielen Solidaritätskampagnen mit inhaftierten Tätern aus dem linken Spektrum. Das Potenzial im linksextremistischen Parteienbereich und in den innerparteilichen Zusammenschlüssen blieb mit ca. 370 Personen 2009 nahezu unverändert. Gesamtpotenzial linksextremistischer Personenzusammenschlüsse: ca. 2 220 1 100 750 370 Aktionsorientierte auch gewaltbereite Linksextremisten Nicht-gewaltbereite Linksextremisten Linksextremistische Parteien und innerparteiliche Zusammenschlüsse AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 77 Personenpotenziale einzelner Personenzusammenschlüsse* Berlin Bund 2008 2009 2008 2009 Gesamt 2 200 2 220 31 500 31 900 Aktionsorientierte auch gewalt- 1 100 1 100 6 300 6 600 bereite Linksextremisten, davon Autonome 950 950 Sonstige 150 150 Nicht-gewaltbereite Linksextre720 750 25 200 25 300 misten, davon "Marx 21" 94 60 60 "Sozialistische Alternative e.V." 50 50 "Rote Hilfe e.V." 410 540 Sonstige 200 100 Linksextremistische Parteien und innerparteiliche Zusam380 370 s.o. s.o. menschlüsse * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. Straftaten Die Zahl der Straftaten im Bereich "Politisch motivierter erhebliche Zunahme Kriminalität-links" hat mit 1 292 Delikten einen neuen der Straftaten Höchststand erreicht. Die steigende Tendenz der vergangenen Jahre hat sich fortgesetzt. Dies betrifft sowohl die Gewaltdelikte mit einem Anstieg um 246 Fälle als auch die sonstigen Delikte mit einem Anstieg um 355 Fälle. Anlass für die politisch motivierten Straftaten waren zahlreiche Aktionen, Demonstrationen und politische Großereignisse. Allein im Zusammenhang mit den so genannten "actionweeks" vom 6. bis 21. Juni registrierte die Polizei 147 Straftaten (Anteil am Gesamtaufkommen von 11 Prozent). Ein zweiter Aktionsmonat wurde im Zusammenhang mit der Räumung eines Wohnhauses in der Brunnenstraße im Dezember ausgerufen. Während sich die Szene 2008 noch auf Aktionstage beschränkte, waren es im vergangenen Jahr bereits -wochen. 94 Vormals "Linksruck" (bis September 2008). 78 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Fallzahlen Politisch motivierte Kriminalität - links* 2008 2009 Terrorismus** ----Gewaltdelikte 171 417 Sicherheitsbehörden 53 209 Bildungspolitik 4 9 gegen rechts 47 61 Umstrukturierung 49 81 sonstige Delikte 520 875 Sicherheitsbehörden 83 148 Bildungspolitik 7 49 gegen rechts 172 206 Umstrukturierung 119 151 Gesamt 691 1 292 Sicherheitsbehörden 136 357 Bildungspolitik 11 58 gegen rechts 219 267 Umstrukturierung 168 232 * Auszug aus dem Bericht "Lagedarstellung der Politisch motivierten Kriminalität in Berlin für das Jahr 2009" des Landeskriminalamtes Berlin (LKA). Der vollständige Bericht ist im Internet unter www.berlin.de/sen/inneres/sicherheit/statistiken/ index.html eingestellt. ** Die Fallzahlen im Deliktbereich Terrorismus für das Jahr 2006 enthalten acht Anschläge der "militanten gruppe" (mg). Nach dem Urteil des BGH vom 28.11.2007 (Az.: BGH StB 43/07), nach dem die mg nicht als terroristische sondern als kriminelle Vereinigung zu betrachten ist, wurden ihre Anschläge im Jahr 2008 nicht mehr zum Deliktbereich Terrorismus gezählt. Auch im Zusammenhang mit den Veranstaltungen anlässlich der Walpurgisnacht und des 1. Mai stieg die Kriminalität von 19 Fällen im Jahr 2008 auf 90 Fälle im vergangenen Jahr. Übergriffe auf 31 Prozent der Fälle (402) wurden im Zusammenhang mit Polizeibeamte demonstrativen Aktionen wie der Kundgebung am 9. Februar anlässlich des Europäischen Polizeikongresses und den Gegendemonstrationen zum Aufzug der rechtsextremistischen Freien Kräfte am 10. Oktober begangen. Dabei kam es zu Übergriffen auf Polizeibeamte (198 Fälle) und zu Verstößen gegen das Versammlungsgesetz (171 Fälle). AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 79 Bei den Gewaltdelikten sind vor allem Brandstiftungen von starker Anstieg von 78 Fällen auf 161 Fälle angestiegen. Diese richteten sich in Brandstiftungen 145 Fällen gegen Fahrzeuge (2008: 73 Fälle). Die Polizei nahm bei sechs Delikten eine Einordnung als versuchte Tötungsdelikte vor, die sich in fünf Fällen (davon vier im Zusammenhang mit den Ausschreitungen am 1. Mai) gegen Polizeibeamte richteten. 95 In einem Fall waren Angehörige der Bundeswehr betroffen. Linksextremisten versuchten einen Bus anzuzünden, in dem sich mehrere Bundeswehrangehörige befanden. Die Soldaten konnten den Bus unverletzt verlassen. Die höchste Steigerung ist im Bereich "Innen/Sicherheitspolitik", Unterthema "Sicherheitsbehörden", festzustellen. Hier stiegen die Zahlen um 156 Fälle auf 209. Insbesondere in den Deliktsbereichen Landfriedensbruch (2009: 86 Fälle, 2008: 21 Fälle), Körperverletzung (2009: 57 Fälle, 2008: 18 Fälle) und Widerstandsdelikte (2009: 44 Fälle, 2008: acht Fälle) stieg das Fallaufkommen. Auch im Themenfeld "Umstrukturierung" stiegen die Ge"Umstrukturierung" - waltdelikte von 49 Fällen im Jahr 2008 auf 81 Fälle im Jahr viele Gewalttaten 2009. Demonstrationen, wie "wba - wir bleiben alle" am 14. März, die versuchte Neubesetzung des ungenutzten Gebäudes Michaelkirchplatz 4 am 12. Juni und die Räumung des besetzten Hauses Brunnenstraße 183 am 24. November führten zu teilweise gewalttätigen Ausschreitungen. Es kam zu 48 Brandstiftungen in diesem Themenbereich (2008: 26 Fälle). Die Gewaltdelikte im Themenfeld "gegen rechts" sind ebenGewalt "gegen rechts" nimmt zu falls von 47 Fällen auf 61 Fälle gestiegen. Vor allem bei den Widerstandsdelikten ist ein Anstieg von einem Fall auf neun Fälle im Jahr 2009 zu verzeichnen. Hintergrund sind die Demonstrationen der rechtsextremistischen Szene am 1. Mai und am 10. Oktober, bei denen Gegendemonstranten durch körperliche Gewalt gegen Polizeibeamte versuchten, Absperrmaßnahmen zu durchbrechen, um die Demonstrationsteilnehmer der rechtsextremistischen Szene zu erreichen. 95 Vgl. Kapitel "1. Mai" ,S. 110 f. 80 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Entwicklungen Szene zersplitttert Die linksextremistische Szene in Berlin ist noch immer perund in Phase der sonell, thematisch und strategisch "zersplittert" und befindet Neuorientierung sich weiterhin in einer Phase der Neuorganisation. Das gesamte Jahr 2009 war von einem hohen Aktionsniveau mit einer starken Zunahme der Straftaten im Bereich Politisch motivierte Kriminalität - links gekennzeichnet. Auffallend waren auch die Übergriffe auf Polizeibeamte und staatliche Einrichtungen, den "politischen Gegner" sowie Taten, die in Einzelfällen das Lebensumfeld von Politikern betrafen. Aktionen der Linksextremisten standen in unterschiedlichen Themenzusammenhängen: die Palette reichte von regionalen Themen im Zusammenhang mit der Stadtumstrukturierung über "Antimilitarismus", "Antirepression" bis hin zum "Antifaschismus". "Antimilitarismus" ist Das Thema "Antimilitarismus" war im gesamten Jahr 2009 Schwerpunktthema ein Schwerpunkt bundesweit und auch in Berlin. Linksextremisten aus Berlin hatten sich an den überwiegend von nicht-extremistischen Akteuren getragenen Protesten gegen den NATO-Gipfel im April in Baden-Baden, Kehl und Straßburg beteiligt und versucht, diesen als Aktionsfeld zur Profilierung und Rekrutierung zu nutzen. Der Ablauf der Proteste hat das Selbstbewusstsein in der Szene deutlich gestärkt. Neben dem NATO-Gipfel war der Klimagipfel im Dezember in Kopenhagen die zweite herausragende Großveranstaltung, an deren Gegenprotesten sich Linksextremisten beteiligten. Linksextremisten gehen Linksextremisten gingen anlässlich dieser GroßveranstaltunBündnisse ein gen Bündnisse mit nicht-extremistischen Akteuren ein, um ihre Anhängerschaft auszuweiten, innerhalb breiterer Kreise Anerkennung für ihre Positionen zu gewinnen sowie sich und ihre Positionen gesellschaftlich "verankern" zu können. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 81 Nach einer Reihe relativ friedlich verlaufener "Revolutionärer 1. Mai-Demonstrationen" in den vergangenen Jahren wurden 2009 bereits kurz nach Beginn der Demonstration Gewalttaten begangen. Wie 2008 kam es 2009 in den A- bendstunden zu Ausschreitungen überwiegend erlebnisorientierter Personen. Es wurden 297 Personen festgenommen und 479 Polizeibeamte verletzt. Das herausragende regionale Thema der Szene war die "Umregionales Thema: strukturierung". In diesem Zusammenhang wurden vor allem "Umstrukturierung" während des Zeitraums der so genannten FreiraumAktionswochen Kraftfahrzeuge in Brand gesteckt und Einrichtungen beschädigt. Ein weiteres Handlungsfeld war die "Antirepression": vor allem Polizeibeamte und -einrichtungen wurden angegriffen. Insbesondere im zeitlichen Zusammenhang mit Maßnahmen des Staates (Festnahmen, Ermittlungsverfahren, Wohnungsdurchsuchungen, Räumungen oder Gerichtsverhandlungen und Gerichtsurteilen) war in diesem Themenfeld ein hohes Aktionsniveau festzustellen. Die Hemmschwelle zur Gewaltanwendung gegen staatliche Einrichtungen und gegen Vertreter der staatlichen Gewalt ist im vergangenen Jahr stark gesunken. Im Zusammenhang mit dem Aktionsfeld "Antirepression" versuchten Linksextremisten im Jahr 2009 auch mehrfach, politische Funktionsträger und Angehörige des öffentlichen Dienstes gezielt einzuschüchtern und zu bedrohen. 4.2 Berliner Szene: zersplittert, aber hohes Aktionsniveau Die linksextremistische Szene in Berlin ist noch immer perAggressivität in Szene steigt sonell, thematisch und strategisch "zersplittert" und befindet sich weiterhin in einer Phase der Neuorganisation. Die Zahl der aktionsorientierten auch gewaltbereiten Linksextremisten ist zwar mit ca. 1 100 Personen konstant geblieben; die Aggressivität und Gewaltbereitschaft sind jedoch deutlich gestiegen. Die Protestveranstaltungen rund um den NATOGipfel im Frühjahr 2009 und die damit verbundene "Antimilitarisierungskampagne" sowie die "revolutionäre 1. Mai 82 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Demonstration" hatten in der Szene für einen gewissen Auftrieb und ein gesteigertes Selbstbewusstsein gesorgt. hohes Aktionsniveau Das gesamte Jahr 2009 war von einem hohen Aktionsniveau mit einer starken Zunahme der Straftaten im Bereich Politisch motivierte Kriminalität - links um 87 Prozent von 691 auf 1 292 Straftaten gekennzeichnet. Gewaltdelikte stiegen um 144 Prozent von 171 auf 417 im Jahr 2009, darunter 145 vermutlich politisch motivierte Brandanschläge auf Kraftfahrzeuge (221 angegriffene Fahrzeuge und 74 in Mitleidenschaft gezogene Fahrzeuge). 96 Auffallend waren auch die Übergriffe auf Polizeibeamte und staatliche Einrichtungen, den "politischen Gegner" sowie Taten, die das Lebensumfeld von Politikern betrafen. Aktionen der Linksextremisten standen in unterschiedlichen Themenzusammenhängen: die Palette reichte von regionalen Bezügen wie der Stadtumstrukturierung über "Antimilitarismus" und "Antirepression" bis hin zum "Antifaschismus". 4.2.1 Das Thema "Umstrukturierung" gewinnt weiter an Bedeutung "Umstrukturierung" ist Der Erhalt und die Schaffung "autonomer Freiräume" - als wichtigstes Thema Gegenbewegung zur städtebaulichen Umstrukturierung ("Gentrifikation") gewann im linksextremistischen autonomen Spektrum 2009 an Bedeutung. Das kapitalistische System wird für die Stadtumstrukturierung und die Verdrängung bisheriger Einwohner durch höhere Mieten und Lebenshaltungskosten verantwortlich gemacht, daher sei eine "Lösung" im Rahmen dieses Gesellschaftssystems nicht möglich. Linksextremisten fordern den Erhalt von mit Räumungstiteln versehenen "Wohnprojekten" oder von "besetzten Häusern". 97 "Und vergessen wir auch nicht, dass es innerhalb des Kapitalismus für die Wohnungsfrage keine angemessene Lösung gibt, 96 Bei der hohen Zahl von KfZ-Brandstiftungen muss von einer relevanten Anzahl an Trittbrettfahrern ausgegangen werden. 97 Vgl. "Räumung eines Szeneobjektes - Aktionswochen wiederholen sich", S. 88. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 83 schon gar nicht in diesen Zeiten massiv zunehmender Ungleichheit." 98 Um eine derartige "Umstrukturierung" von Stadtvierteln "Nobelkarossentod" durch hochpreisige Neubauten, Sanierung und andere stadtentwicklungspolitische Maßnahmen zu verhindern, griffen Linksextremisten 2009 Baustellen, Baugerätschaften und Baumaterialien, Büros, Ausstellungsräume von Hausverwaltungen, Parkhäuser, Gebäude des Quartiersmanagements und Wohnhäuser an. Auch Brandstiftungen an (vermeintlich) hochwertigen Fahrzeugen (Szenejargon "Nobelkarossen") wurden zumeist als Teil des "Kampfes gegen Umstrukturierung" gerechtfertigt. Mit friedlichen Mitteln gelänge es nicht, der Gentrifizierung Einhalt zu gebieten, führte ein Aktivist des linksextremistischen Zusammenschlusses "Wir bleiben Alle" (WBA) aus: "Es ist leider so, dass man mit bestimmten Sachen, die eigentlich eine sehr große Rechtfertigung haben, die anzusprechen, wie zum Beispiel Mietsteigerungen oder Verdrängung, erst dann wahrgenommen werden, wenn irgendwas passiert. Und mir wär's lieber, wenn man einfach Politik machen könnte, wenn man Demonstrationen machen könnte, meinetwegen auch Häuser besetzen würde, das ist meiner Meinung nach okay, und darüber hinaus wirken könnte schon. Aber leider geht das halt nicht, und insofern wählen halt manche Leute einen anderen Ansatz." 99 Linksextremisten entwickelten dabei eine sehr weitgehende Kampf um "Freiräume" Auffassung davon, was einerseits schützenswerte "Freiräume" sind und welche "Luxusprojekte" es andererseits zu verhindern gilt. Ihre Argumentation läuft darauf hinaus, dass sie nach eigenen Kriterien bestimmen wollen, wer in welchen Bezirken wohnen, bauen und sanieren darf. Ein Auto98 Unbekannt: "Luxus-Auto-Lofts in Kreuzberg Teil II (B)". Internetportal, datiert 18.6.2009. 99 "Brandanschläge in Berlin - auf Spurensuche in der linken Haupstadtszene". Onlineauftritt rbb online, datiert 30.4.2009. 84 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 brandstifter spielte seine Straftaten in einem Interview als eine Art "Notwehr" gegen Gentrifizierung herunter: "Wer einen Porsche fährt und diesen in einem von Gentrifizierung betroffenen Stadtteil abstellt, macht einen Fehler. Autos sind für Yuppies keine Gegenstände, es sind Statussymbole, auf die sie sich einen runterholen. Und auf die haben wir es abgesehen. [...] Es ist eine Art Krieg, der uns aufgezwungen wurde. Ich hätte lieber Frieden. Doch es gibt eine Schieflage - Leute mit Geld verdrängen Leute ohne Geld aus der Innenstadt. [...] So lange werden Autos brennen, bis es wieder ausreichend Räume gibt, die nicht kapitalistischen Interessen dienen. [...] Wir können nicht länger warten, bis die breite Masse sich erhebt, sondern beginnen die revolutionären Taten hier und jetzt." 100 Beschädigung von "Luxusobjekten" Wohnhäuser in KreuzHochwertige Fahrzeuge und bestimmte Bauprojekte werden berg angegriffen von Linksextremisten zu Symbolen der Umstrukturierung stilisiert. Zum wiederholten Mal beschädigten am 29. November Linksextremisten Fassade und Fenster eines Wohnhauses in Kreuzberg. In einer E-Mail, die im Internet veröffentlicht wurde, wandten sich die Verfasser direkt an die Bewohner des Hauses und forderten sie zum Auszug auf: "[...] haben wir es uns erlaubt, den BewohnerInnen [...] einen weiteren Besuch abzustatten und zwar mit Steinen und Teer. Es lohnt sich also nicht [...] einzuziehen und zu denken, die AutobesitzerInnen hätten ein ruhiges Leben. Wir sagen Pech und schlagen den baldigen Auszug vor." 101 Eine Person, die üblicherweise als Sprecher der "Antifaschistischen Linken Berlin" (ALB), in einem AbendschauBeitrag aber als Vertreter der "Antifa Berlin" auftrat, befürwortete Sachbeschädigungen an dem Wohnhaus in Kreuzberg als "sinnvoll": 100 "Wo gehobelt wird, fallen Späne": Interview Tim Godemann. In: "die tageszeitung" vom 31.12.2009. 101 Unbekannt: Selbstbezichtigungsschreiben, undatiert, veröffentlicht auf dem Internetauftritt "direct action news from germany" am 30.11.2009. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 85 "Sachbeschädigungen können in einzelnen Fällen sinnvoll sein, wenn sie dann auch zu einem Ergebnis führen. Beim [...] scheint das der Fall zu sein." 102 Noch deutlicher sind Linksextremisten eines sich als "Eine Autonome Gruppe" bezeichnenden Zusammenschlusses, die als Ziel derartiger Aktionen die "Abschreckung von Investoren" nennen: "Wir haben uns vor allem über einen kleinen Erfolg gefreut, welcher nicht unbedingt auf die Actionweeks zurückzuführen ist, sondern auf einen lang anhaltenden Atem im Bezug auf die direkten Aktionen, die sich auf ein spezielles Bauprojekt beziehen. Und zwar, dass die kontinuierlichen Angriffe auf das Luxusprojekt Carloft zu seinem andauernden Leerstand führen. Dies offenbart die Notwendigkeit weiter auf dieser Schiene zu fahren: ein klares, abschreckendes Beispiel für zukünftige Investoren. Dadurch werden sich andere überlegen, ob Berlin wirklich ein gemütlicher Spielplatz für Investoren ist. Auch geht es darum zu zeigen, dass direkte Aktionen nicht nur symbolische Wirkung haben, sondern sich damit auch konkrete 'Erfolge' erzielen lassen." 103 In einem Fall legten Unbekannte eine Gaskartusche an einem sanierten Loftgebäude im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ab. Zahlreiche Straftaten im Rahmen der "Aktionswochen" Vom 6. bis 21. Juni rief der linksextremistische Zusammen"Aktionswochen" im Juni schluss "Wir bleiben Alle" (WBA) zu so genannten "action weeks against gentrification" ("Aktionswochen") auf. Die Aktivisten gaben an, den Zeitraum von 16 Tagen als eine Weiterentwicklung der sechs Tage dauernden Aktionstage aus dem Vorjahr zu begreifen. 104 Insbesondere bemühten sich die Initiatoren um die gegenseitige Unterstützung bei den Auseinandersetzungen um besetzte Häuser und um den 102 Abendschau Berlin vom 8.5.2009. 103 "Eine Autonome Gruppe": "Auswertung der Action Weeks 2009". Internetauftritt von WBA, datiert 7.2.2010. 104 Im Vorjahr stand die Veranstaltung unter dem Titel "action days for autonomous spaces" ("Aktionstage"). Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 90-92. 86 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Ausbau bestehender internationaler Vernetzungen. Zwar hatten die Aktivisten das Motto der Aktionswochen auf das Thema "Gentrifizierung" verengt, mobilisierten aber auch außerhalb des selbst abgesteckten Themenfeldes. Sie erklärten, man wolle an der "dezentralen" Taktik aus dem Vorjahr festhalten und benannten eine breite Palette an Angriffszielen. Davon ließen nicht alle einen Bezug zu den Themen "Gentrifizierung" und "Umstrukturierung" erkennen: "Berlin bietet viele Angriffsflächen. Die Möglichkeiten sind fast unbegrenzt, Landesvertretungen, Botschaften, Immobilienspekulanten, Firmensitze, Regierungssitze, Bankenzentralen." 105 Brandstiftungen Von den ausgerufenen "vielen Angriffsflächen" wurde reger während der Gebrauch gemacht: Während der "Aktionswochen" wurden "Aktionswochen" 147 Straftaten, hauptsächlich Sachbeschädigungen, begangen. Unter den geschädigten Objekten befanden sich Baustellen, mehrere Jobcenter, ein Fernsehstudio und das Gebäude einer Burschenschaft. Mehrfach wurde der Zaun des ehemaligen Flughafengeländes in Tempelhof beschädigt. Darüber hinaus kam es zu Fällen von Hausund Landfriedensbrüchen, zur versuchten Brandstiftung an einer Unternehmensniederlassung, zu Brandstiftungen an Kraftfahrzeugen und Baustellen und -materialien und zu Verstößen gegen das Versammlungsgesetz. breite Themenpalette In Selbstbezichtigungsschreiben zu mehreren Taten wurde zwar der Bezug zu den Aktionswochen hergestellt, aber nicht in jedem Fall im Begründungszusammenhang "Umstrukturierung" argumentiert, sondern auch entlang der Themenfelder "Antirepression", "Antimilitarismus" und "Antifaschismus": Am 17. Juni setzten Linksextremisten zehn Transporter eines Cateringunternehmens in Brand. In ihrem Selbstbezichtigungsschreiben beziehen sie sich auf die Ausweisung von Asylbewerbern und begründen die Wahl des angegriffenen Objekts damit, dass das Unternehmen Unterbringungsstätten für Asylbewerber und Justizvollzugsanstalten beliefere. Sie schreiben: 105 Vgl. WBA: Präsentation "Wir bleiben Alle. Infoveranstaltung", Internetauftritt von WBA, undatiert, Aufruf am 30.3.2010. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 87 "Diese Aktion sehen wir als Teil der Aktionweeks, denn wir bleiben alle-wo wir wollen." 106 Die "Aktionswochen" dienten gewaltorientierten LinksextAktionswochen als "Plattform" für Geremisten als Plattform, ihre Gewaltbereitschaft, losgelöst von walttaten einer eng gefassten thematischen Anbindung, auszuleben. Den Straftätern wurde während des Aktionszeitraums eine erhöhte Aufmerksamkeit durch die Medien und ein gesteigertes Interesse aus dem linkextremistischen Lager zuteil. Selbstbezichtigungsschreiben wurden auf der WBAHomepage im Rahmen eines "Aktionstagetickers" veröffentlicht. Die Aktivisten betrieben während der Aktionswochen einen Radiosender ("PiratInnen Sender Berlin"), über den sie Stellungnahmen und Hinweise verlasen. Auch Linksextremisten aus dem europäischen Ausland waren zu dem Aktionszeitraum nach Berlin gereist. Beteiligte zogen ein überwiegend positives Fazit und begrüßten es, dass "[...] die vielen militanten Zellen oder Individuen dieser Stadt die Actionweeks wieder zum Anlass genommen haben, um ihre aktive Ablehnung gegen die herrschenden Zustände zum Ausdruck zu bringen." 107 Versuchte Tempelhof-Besetzung Einen Höhepunkt der "Aktionswochen" sollte der Versuch darstellen, den ehemaligen Flughafen Tempelhof zu besetzen, um gegen die Nachnutzungspläne zu protestieren. Die europaweite Mobilisierung ging über das extremistische Spektrum hinaus und auch demokratische Organisationen riefen zur Teilnahme auf. Linksextremisten inszenierten "das Thema Tempelhof als exemplarisches Beispiel für die Gefahren der Gentrifizierung (Um106 Unbekannt: Selbstbezichtigungsschreiben vom 17.6.2009. (Fehler im Original). 107 "Eine Autonome Gruppe": "Auswertung der Action Weeks 2009", Internetauftritt von WBA, datiert 7.2.2010. 88 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 strukturierung)" 108 Unter dem Motto "Squat Tempelhof!" riefen die Aktivisten der Aktionswochen für den 20. Juni mit den Worten "seid kreativ, tobt euch aus, nehmt euch den Freiraum" zur Besetzung des Tempelhofer Feldes auf. 109 versuchte Linksextremisten hatten sich im Vorfeld erhofft, über das Tempelhofbesetzung Thema der Nachnutzung des Geländes möglichst breite Bevölkerungskreise anzusprechen, was ihnen zeitweise gelang. Zur Veranstaltung kamen ca. 1 500 Menschen, auch über das linksextremistische Spektrum hinaus. Die angekündigte Besetzung des Geländes wurde durch die Polizei verhindert. Einige Personen beschädigten den Flughafenzaun und versuchten ihn einzureißen. Sie warfen Steine und Flaschen auf Polizisten. Die Aktion wurde als Misserfolg bewertet: "Es war viel los an dem Tag, allerdings hat es unserer Meinung nach an Dynamik und Entschlossenheit gefehlt, weil es hätte doch einige Stellen und Möglichkeiten gegeben zur Zaunüberwindung, oder um zumindest den anwesenden Bullen einen Denkzettel zu verpassen. Die Stimmung war zum Teil sehr schleppend, was wir bei denjenigen, die keine feste Bezüge zu unserer Bewegung haben, verstehen können, jedoch in unseren Zusammenhängen eher kritisieren wollen und uns fragen, wieso wir nicht intensiver versucht haben die Situation zu unseren Gunsten zu nutzen..." 110 Räumung eines Szeneobjektes - Aktionswochen wiederholen sich Räumung von Am 28. November riefen Linksextremisten erneut zu einem Szeneobjekt "Aktionsmonat für autonome Freiräume und gegen Repression" auf, der bis zum 3. Januar 2010 andauern sollte. Anlass war die Räumung eines Szeneobjekts in der Brunnenstraße im Bezirk Mitte durch die Polizei vier Tage zuvor, für das der Eigentümer zivilrechtliche Räumungstitel erwirkt hatte. 108 "PM: Bilanz Squat Tempelhof!". Homepage von "Squat Tempelhof!", datiert 24.6.2009. 109 Aufruf "Squat Tempelhof!". Homepage von "Tempelhof für alle!", Aufruf am 30.3.2010. 110 "Eine Autonome Gruppe": "Auswertung der Action Weeks 2009". Internetauftritt von WBA am 7.2.2010, Fehler im Original. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 89 Die Aktivisten hofften auf Solidaritätsaktionen in anderen Städten und riefen zu "subversiven und kreativen" Aktionsformen auf: "Wir erhoffen uns einen ähnlichen Effekt wie es damals bei der Räumung des Ungdomshuset gab, dort kam es hier spontan in über 20 Städten zu Solidaritätsaktionen. [...] sucht eure Aktionsformen und zeigen wir gemeinsam, dass wir diese Scheiße satt haben. [...] Unkontrollierbar, vielfältig, subversiv, kreativ - sorgen wir für einen heißen Winter!" 111 Selbstbewusst kündigten sie einen "heißen Herbst" an: "Die Autonome Szene Berlins ist so aktiv wie noch nie in diesem Jahrzehnt. [...] Mobilisierungspotenzial und Militanz der radikalen Linken in Berlin sind wieder ein politischer Faktor. Wir kündigen keinen heißen Herbst an, wir haben ihn schon!" 112 Zahlreiche Straftaten folgten dem Aufruf. Wie bereits bei weiter Straftaten während der "Akden im Juni ausgerufenen "Aktionswochen" wurde ein "Titionswochen" cker" im Netz eingerichtet, über den Terminhinweise und Presseartikel, aber auch Informationen zu begangenen Straftaten und Selbstbezichtigungsschreiben veröffentlicht wurden. 4.2.2 Brennende Autos Im vergangenen Jahr hat sich die Zahl der in Brand gesetzten Zahl der Brandstiftungen verdoppelt Kraftfahrzeuge gegenüber dem Vorjahr nahezu verdoppelt. 2009 begingen Straftäter in Berlin 145 als politisch links motiviert eingestufte Brandstiftungen an Kraftfahrzeugen (2008: 73). 221 Fahrzeuge wurden dabei direkt angegriffen (2008: 104). Eine erhöhte Anzahl von Taten war während der oben beschriebenen Aktionszeiträume festzustellen, die für die linksextremistische Szene von besonderer Bedeutung waren. Nur in wenigen Fällen, bei knapp 30 Taten, veröffentlichten die Täter Selbstbezichtigungsschreiben. In diesen Schreiben 111 "Und nun gehts weiter...". Internetauftritt von WBA, datiert 29.11.2009. 112 "3 000 gegen die Räumung der Brunnen 183". Internetportal am 27.11.2009. 90 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 ordneten Linksextremisten ihre Taten in sehr weitgefächerte Begründungszusammenhänge ein: Diese reichten von dem "Kampf gegen Umstrukturierung" bis hin zu "Antikapitalismus" oder "Antimilitarismus". Weitere Begründungszusammenhänge waren "Antifaschismus", "staatliche Repression" und "Protest gegen die Atomindustrie". Anstatt feststehender Gruppenbezeichnungen wurden Aktionsbezeichnungen wie "Autonome Gruppen" oder "Autonome Antifas" verwandt. Oft endeten die Selbstbezichtigungen auch mit Schlussparolen wie "Wir bleiben alle" oder verzichteten gänzlich auf die Nennung einer Gruppenoder Aktionsbezeichnung. Verharmlosung von Bei den Brandstiftungen an Kraftfahrzeugen wurde in der Brandstiftungen Regel keine körperliche Schädigung von Menschen intendiert, sondern Eigentum wie Fahrzeuge oder Gerätschaften angezündet. Bei dieser Art von Taten ist eine Gefahr für Leib und Leben allerdings selten ganz auszuschließen, da Brandherde außer Kontrolle geraten können. Dennoch verharmlosen, rechtfertigen oder befürworten zahlreiche Linksextremisten die Brandstiftungen an Kraftfahrzeugen. Ein Sprecher der "Antifaschistischen Linken Berlin" (ALB) sagte, er fasse die an hochwertigen Kraftfahrzeugen begangenen Brandstiftungen nicht als kriminell auf, sondern als Ausdruck von "Widerstand gegen Umstrukturierungsprozes- AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 91 se". 113 Ein weiteres ALB-Mitglied wird mit den Worten zitiert: "[D]as Anzünden von Autos ist im Rahmen von Stadtumstrukturierung ein radikaler Akt der Negation, der die Grenzen der konstruktive Kritik verlässt." 114 Brandanschläge auf Kraftfahrzeuge sind seit Anfang der Brandanschläge bereits 80er Jahre eine Aktionsform von Teilen der linksextremistiseit den 80er Jahren schen Szene in Berlin. Es kursierten Bauanleitungen für einen "Nobelkarossentod" genannten Brandsatz. Unter dem Titel "Wagensportliga" verübten Linksextremisten schon damals Sachbeschädigungen und Brandstiftungen an (vermeintlich) hochwertigen Kraftfahrzeugen. Die Art der Tatbegehung ist, anders als in den 80er Jahren, äußerst unkompliziert: Es sind weder eine detaillierte Planung und Vorbereitung noch eine Absprache in einem feststehenden Gruppenzusammenhang erforderlich. Die Gruppe der Täter ist vermutlich sehr heterogen strukturiert. Es ist davon auszugehen, dass einige Brandanschläge auch durch "Trittbrettfahrer" ohne extremistische Motivation begangen wurden. Günstige Tatgelegenheiten, einfache Tatmittel und ein gefeste gewalttätige ringes Entdeckungsrisiko dürften ebenso wie die steigende Aktionsform Wahrnehmung in Presse und Öffentlichkeit und die damit verbundene Darstellung von politischen Zielen zum rapiden 113 Kas Dubro: "Gegen Rassismus, Ausverkauf und Stadtumstrukturierung". In: "die tageszeitung" vom 23.2.2010. 114 Julia Schaaf: "Berlin soll brennen". In: "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 25.4.2010. 92 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Anstieg dieser Deliktzahlen 2009 beigetragen haben. Das im Szenejargon "Abfackeln" genannte Inbrandsetzen eines Fahrzeuges entwickelte sich für die linksextremistische Szene in Berlin zu einer festen gewalttätigen Aktionsform. Es wird als symbolträchtiger Akt gesehen, der für entsprechende Aufmerksamkeit auch in den bürgerlichen Medien sorgt. Zudem wurde unter anderem durch verniedlichende Wortwahl ein vermeintlicher "Spaßfaktor" beim Begehen dieser Straftaten suggeriert. Es gibt in der Szene aber auch kritische Stimmen gegen die Brandstiftung an Kraftfahrzeugen. So könne nicht genau bestimmt werden, ob sie "die Richtigen" träfen, führt ein Sprecher der ARAB an: "Die Klassenzugehörigkeit anhand eines Autos einzuschätzen sehe ich aber eher kritisch. Anders ist es bei gezielten Angriffen auf Fahrzeuge der Bundeswehr, von DHL oder der Deutschen Bank." 115 Die "militante gruppe" kritisierte Brandstiftungen an Kraftfahrzeugen wegen ihrer "mangelnden Vermittelbarkeit" in anderen linksextremistischen Spektren und vor allem im demokratischen Spektrum: "Außerhalb jedes Vermittlungsverhältnisses steht dabei die narzisstische Brandsatzlegerei des 'Nobelkarossentodes'. [...] Die allabendliche alternative Freizeitbeschäftigung des automobilen Herumzündelns trägt nur noch zur Diskreditierung von militanten und klandestinen Aktionsformen bei." 116 4.2.3 "Antimilitarismus" Schwerpunkt: Seit der zweiten Jahreshälfte 2008 und im Verlauf des Jahres "Antimilitarisierungs2009 stellte "Antimilitarismus" einen Aktionsschwerpunkt kampagne" eines Großteils der linksextremistischen Szene in Berlin dar. 115 Konrad Litschko: "Diese bürgerliche Gewaltdiskussion nervt nur". Interview mit Jonas Schiesser, Sprecher der ARAB. In: "die tageszeitung" vom 21.4.2009. 116 "militante gruppe": "schriftliches interview zu fragen der organisierung des revolutionären widerstandes mit der militanten gruppe". In: "radikal". publikation der "revolutionären linken". Nr. 161, 2009, S. 34, vgl. auch Kapitel "Kurz notiert", S. 112 f. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 93 Anlässlich des Bundestagsbeschlusses, das Bundeswehrmandat in Afghanistan zu verlängern und im Zusammenhang mit dem Prozessbeginn gegen drei mutmaßliche Mitglieder der "militanten gruppe" hatte im Spätsommer 2008 eine bundesweite "Antimilitarismuskampagne" begonnen. Neben zahlreichen nicht-extremistischen Akteuren haben sich auch weite Teile des linksextremistischen autonomen Spektrums daran beteiligt. Die Kampagne thematisierte auch die "Münchener Sicherheitskonferenz" am 6. und 7. Februar sowie die Feierlichkeiten zum 60-jährigen Bestehen der NATO am 3. und 4. April in Straßburg, Baden-Baden und Kehl. In Bezug auf Aktionsformen und Beteiligungsmöglichkeiten war die Kampagne bewusst offen gehalten worden. Mehrere Unternehmen wurden wegen ihrer Zusammenarbeit Anschläge auf DHLFahrzeuge mit der Bundeswehr von Linksextremisten als mögliche Ziele benannt. Im Visier einer so genannten "Competitive Resistance"-Kampagne war vor allem das Unternehmen DHL, auf deren Fahrzeuge in Berlin 2009 fünf Brandanschläge verübt wurden (zwölf angegriffene Fahrzeuge). Zudem wurden zahlreiche Sachbeschädigungen, z.B. an Postfilialen, DHL-Packstationen und Briefkästen, verübt. "Es geht darum, den Postdienstleister und Kriegslogistiker DHL ins Visier zu nehmen. [...] Die Deutsche PostTochter entpuppt sich nämlich als 'Deutsche Heeres Logistik' und bietet sich deswegen für eine aktionsbezogene Mobilisierung im Vorfeld der NATO-Feierlichkeiten an". 117 Auch gegen Soldaten selbst wurde in aggressiver Weise geAufruf zu Angriffen hetzt. Der Juni-Ausgabe der Szenezeitschrift INTERIM lag auf Bundeswehr ein Faltblatt mit dem Titel "FEINDerkennung. Eine Gebrauchsanweisung für den Alltag" bei. Darin wurde zu Angriffen auf Angehörige der Bundeswehr - in der Intensität differenziert nach Rang - aufgerufen. 118 117 "DHL - olivgrün mit postgelbem Tarnanstrich". Internetauftritt der Kampagne, datiert 28.10.2009. 118 Vgl. S. 105. 94 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 4.2.4 "Antifaschistischer Kampf" wirkt mobilisierend Das Thema "Antifaschismus" war auch 2009 von weiterhin hoher Bedeutung und ermöglichte gruppenübergreifende Mobilisierungen. "Antifaschismus" ist ein Minimalkonsens der heterogenen linksextremistischen Szene und umfasst zahlreiche unterschiedliche Aktionsformen wie Gegendemonstrationen zu rechtsextremistischen Veranstaltungen, Ausspähen und Veröffentlichen von Daten erkannter Rechtsextremisten mit dem Ziel der Einschüchterung sowie gewalttätige Angriffe. So drangen am 21. August mehrere Personen in das Wohnhaus eines NPD-Bezirksverordneten ein. Die Täter brachten die Schriftzüge "Antifa Area" und den Namen des Geschädigten im Wohnhaus an und entzündeten Pappe im Innenhof. Gewalt "gegen Gewalt gegen (vermeintliche) Rechtsextremisten und ihre rechts" steigt Trefforte wird als gerechtfertigt, sogar als notwendig angesehen. So kommt es häufig zu körperlichen Auseinandersetzungen sowie zu Sachbeschädigungen und Brandstiftungen an Szenelokalen, Szeneläden, Parteieinrichtungen oder privaten Fahrzeugen. Die Zahl der Straftaten der "Politisch motivierten Kriminalität-links" "gegen rechts" stieg 2009 auf 267 (2008: 219). Gewalttaten stiegen von 47 (2008) auf 61 (2009). Mehrfach wurde ein Anfang 2009 eröffnetes Lokal in Treptow, das Rechtsextremisten als Treffort dient, Ziel "antifaschistischer" Angriffe. Am 25. August schlugen Linksextremisten die Fensterscheiben ein und beschmierten die Hauswand mit Farbe. Das Wohnhaus des Landesvorsitzenden der "Deutschen Volksunion" (DVU) und Kandidaten der Partei für die Bundestagswahl bewarfen Linksextremisten am 26. August mit Farbflaschen. Darüber hinaus setzten sie das Auto eines Vorstandsmitglieds des DVU-Landesverbands in Neukölln in Brand. Im Selbstbezichtigungsschreiben bedankten sich "Autonome Antifas" für die "Recherchearbeit" einer Szenezeitschrift, der sie die Daten der Betroffenen entnommen hätten. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 95 Zudem übernahmen sie die Verantwortung für diverse Angriffe auf "Strukturen und Personen der Berliner Neonazi Szene" im August 2009 in Berlin. "Neonazis stellen sich mit ihren menschenverachtenden Ansichten bewusst außerhalb jedes demokratischen Diskurses und haben daher für uns auch keinen Anspruch auf die Rechte einer freiheitlichen Gesellschaft. Militante Aktionen stellen somit ein legitimes und effektives Mittel dar, um die Arbeit von Neonazis zu behindern." 119 Eine weitere Aktionsform im Themenfeld "Antifaschismus" Demonstrationen in Berlin ist die Vorbereitung und die Durchführung von bzw. die Teilnahme an anlassbezogenen Demonstrationen. Am 18. Juli fand in Friedrichshain eine Demonstration unter dem Motto "Gegen rechte Gewalt. Für ein weltoffenes Friedrichshain" statt. Es beteiligten sich rund 4 000 Personen, darunter auch Linksextremisten. Polizisten wurden mit Transparent-/ und Fahnenstangen angegriffen sowie mit Flaschen beworfen. Jährlich findet in Berlin eine Demonstration zum Gedenken an den von Rechtsextremisten getöteten Hausbesetzer Silvio Meier statt, zu der zahlreiche Gruppierungen aus dem linksextremistischen autonomen Spektrum Berlins aufrufen. 2009 fand diese Demonstration am 21. November unter dem Motto "Enough is enough! Linke Freiräume schaffen - Gegen Nazis, Staat & Kapital!" mit 2 000 Personen statt. Nach Abschluss wurde die Polizei mit Steinen und Flaschen beworfen. 4.2.5 "Antirepression" - Bedrohung von Politikern, Angriffe auf Polizei Auch "Antirepression" war 2009 ein zentrales HandlungsSolidaritätsaktionen feld der linksextremistischen Szene. Insbesondere im zeitliim Zusammenhang mit der "mg" chen Zusammenhang mit Maßnahmen des Staates (Festnahmen, Ermittlungsverfahren, Wohnungsdurchsuchungen, Räumungen oder Gerichtsverhandlungen und Urteilen) war ein hohes Aktionsniveau festzustellen. So wurde zum Beispiel das von September 2008 bis Oktober 2009 andauernde 119 Vgl. "Autonome Antifas": Selbstbezichtigungsschreiben. Linksextremistischer Internetauftritt, datiert 25./26.8.2009. 96 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Verfahren gegen mutmaßliche Mitglieder der "militanten gruppe" (mg) vor dem Kammergericht Berlin von Beginn an mit zahlreichen Solidaritätsaktionen begleitet. Nach der Verurteilung der Angeklagten zu jeweils mehrjährigen Haftstrafen verübten Linksextremisten bundesweit Sachbeschädigungen und Brandstiftungen. 120 Hemmschwelle zur Die Hemmschwelle zur Gewaltanwendung gegen staatliche Gewaltanwendung sinkt Einrichtungen und gegen Polizeibeamte ist im vergangenen Jahr stark gesunken. Entsprechend stieg die Zahl der Straftaten der "Politisch motivierten Kriminalität-links" in diesem Themenfeld von 136 (2008) auf 357 (2009) stark an. Insbesondere bei den Gewalttaten kam es zu einem Anstieg auf 209 Taten (2008: 53). Es war ein Trend zur Personalisierung von Angriffen auf Politiker und Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes durch Einschüchterungsversuche festzustellen. Die Täter drangen bis in das private Lebensumfeld der Betroffenen vor. Am 16. April wurde ein mit Hundekot gefülltes Paket vor der Privatadresse der Justizsenatorin abgelegt. In einem beigefügten Schreiben wurde sie aufgefordert, einen inhaftierten Linksextremisten freizulassen. Die Festnahmen während des NATO-Gipfels am 3. und 4. April in Straßburg und Baden-Baden wurden als "politische Geiselnahmen" bezeichnet. Zum bevorstehenden 1. Mai wurde gefordert, auf die Haftanträge zu verzichten: "Wir fordern von der Justizsenatorin, dass sie die Staatsanwaltschaft anweist, in Bezug auf den diesjährigen 1. Mai auf die üblichen massenhaften Haftanträge zu verzichten. Das politisch motivierte Ausstellen von Haftbefehlen am 1. Mai gefährdet den sozialen Frieden in unserer Stadt!" 121 Die Linksextremisten begründeten das Aufsuchen der Senatorin an ihrem Privatwohnsitz: 120 Siehe auch Kapitel "Mutmaßliche Mitglieder der "militanten gruppe" verurteilt", S. 112 f. 121 "Antirepressionsgruppen": Selbstbezichtigungsschreiben, datiert 16.4.2009. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 97 "Wir waren etwas enttäuscht, dass die Berliner Justiz zu feige ist, ihre Defizite und Entgleisungen mit Bürgern zu diskutieren. Deshalb besuchten wir abends die Justizsenatorin an ihrer Privatadresse". 122 Am 18. Juni setzten Linksextremisten zwei Fahrzeuge im Angriffe auf Fahrzeuge Bezirk Neukölln in der Wohnstraße des innenpolitischen Sprechers der CDU-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus in Brand. In einem Selbstbezichtigungsschreiben wurde dem Politiker vorgeworfen, er setze sich für Repressionsmaßnahmen gegen die Szene ein. 123 Am 12. Juli wurde das Privatfahrzeug eines Bediensteten der Jugendstrafanstalt in Brand gesetzt. In dem Selbstbezichtigungsschreiben nannten die Täter unter der Bezeichnung "militante gruppe gegen knast" ihre Tat eine "direkte aktion gegen prügelschliesser". 124 In der Jugendstrafanstalt, in der der Geschädigte arbeitet, waren Personen inhaftiert, denen vorgeworfen wird, sich an den Ausschreitungen am 1. Mai beteiligt zu haben. Am 3. September setzten Linksextremisten einen Transporter eines Sicherheitsunternehmens in Brand. In dem Selbstbezichtigungsschreiben warfen sie dem Unternehmen vor, Dienstleistungen in Justivollzugsanstalten anzubieten. Die Verfasser forderten die Überwindung des Rechtstaats und die "Beseitigung" von Justizangehörigen. Dabei nannten sie einen Berliner Oberstaatsanwalt namentlich, dem das gleiche Schicksal widerfahren solle wie einem Polizisten, der 2006 im Bezirk Neukölln erschossen wurde: "system abschaffen, profiteure und mitmacher angreifen besser beseitigen. das gilt auch für den staatsanwalt [...] im 1. mai verfahren [...] wir wünschen ihm, dass er so endet wie khk [...] an der hasenheide." 125 122 Ebenda. 123 Vgl. Unbekannt: Selbstbezichtigungsschreiben, datiert 18.6.2009. 124 Vgl. "militante gruppe gegen knast": Selbstbezichtigungsschreiben, undatiert. 125 Vgl. "autonome gruppen": Selbstbezichtigungsschreiben, datiert 3./ 4.9.2009 (Fehler im Original, Namen abgeändert). 98 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Polizeibeamte werden als "Symbol der Staatsmacht" 126 begriffen und Gewalt gegen Angehörige der Polizei freudig begrüßt: "Wir freuen uns über die vermehrten Angriffe auf die Staatsbüttel und zeigen uns solidarisch mit all denen, die von Repression bedroht sind und sie täglich erleben." 127 Polizeieinrichtungen Einen Höhepunkt erreichte die Aggression gegen die Polizei angegriffen in der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember. Nahezu zeitgleich wurden in Berlin und Hamburg Polizeieinrichtungen angegriffen. In Berlin verübten Linksextremisten einen Brandanschlag auf ein Gebäude auf dem Gelände des Bundeskriminalamts. Auf der Zufahrtsstraße legten sie so genannte "Krähenfüße" aus. In dem Selbstbezichtigungsschreiben wird die Solidarität mit denen erklärt, die die "Herrschaft von Staat und Kapital angreifen": "unsere solidarität gilt all denen die beginnen die herrschaft von staat und kapital anzugreifen, ihre wut auf die strasse tragen und zurückschlagen, sowie jenen die als folge dessen in den staatlichen kerkern gefangen sind." 128 Menschenleben In Hamburg wurde eine Polizeiwache angegriffen, wobei gefährdet bewusst Menschenleben gefährdet wurden. Beamte wurden massiv mit Steinen beworfen und zwei Polizeifahrzeuge in Brand gesetzt. Der Haupteingang der Wache sollte verriegelt werden, um Polizisten daran zu hindern, das Gebäude zu verlassen. Zudem behinderten die Täter die Feuerwehr durch brennende Barrikaden auf der Fahrbahn. 129 Hamburgs Polizeipräsident sprach von einer "bisher nicht da gewesenen 126 "Das ist schief gelaufen": Interview mit Tim Laumeyer (Pressesprecher der "Interventionistischen Linken") aus 2007 (genaues Erscheinungsdatum nicht veröffentlicht), Internetportal, Aufruf am 30.3.2010. 127 Unbekannt: Selbstbezichtigungsschreiben. Internetportal, datiert 22.8.2009. 128 "autonome gruppe alexandros grigoropoulus": Selbstbezichtigungsschreiben vom 6.12.2009. 129 Zu der Tat bekannte sich eine Gruppe unter der Bezeichnung "KOULOFORI". AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 99 Gewalt gegen Menschen". 130 Der Bundesanwalt attestierte der Tat "terroristische Strukturen". 131 Die Bundesanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren wegen versuchten Mordes ein, das Bundeskriminalamt ermittelt im Auftrag des Generalbundesanwalts. Anschläge mit Gaskartuschen Von Oktober 2009 bis Jahresende wurden in Berlin vier Angefährliche "Gasakis" schläge mit Gaskartuschen (Szenejargon "Gasaki") begangen. Anschlagsziele waren ein Wohnneubau in Kreuzberg am 22. Oktober, das Amtsgericht Tiergarten am 5. November, die Geschäftsstelle der Deutschen Polizeigewerkschaft am 27. Dezember sowie die Agentur für Arbeit in Wedding am 30. Dezember. Anschläge mit Gaskartuschen setzten sich auch 2010 fort. Bei den Taten wurde keine Person verletzt - obgleich mit den "Gasaki" ein besonderes Gefährdungsrisiko für Menschenleben verbunden ist. Die Anschläge wurden aus den Begründungszusammenhängen "Antikapitalismus", "Gentrifizierung", "Antirepression" und "Antimilitarismus" heraus begangen. Die Szenezeitschrift "radikal. publikation der revolutionären linken" veröffentlichte im Februar 2010 ein Selbstbezichtigungsschreiben einer Gruppe "Revolutionäre Aktionszellen" (RAZ). Diese begründete die Anschläge auf die Agentur für Arbeit in Wedding am 30. Dezember und auf das Haus der Wirtschaft am 4. Februar 2010: "Wir sind als militanter Sektor der klassenautonomen und proletarischen Linken längst nicht mehr bereit, still und leise zuzusehen, wie uns Stück für Stück der Boden entzogen wird. [...] Es ist u.a. unsere Aufgabe, innerhalb der sich entfaltenden Proteste gegen die Zerschlagung des Restes des 'Sozialstaates' die Option der militanten Seite eines künftig sozial-revolutionären 130 Pressemeldung der Polizei Hamburg: "Gewalttätige Aktionen gegen Polizeibeamte und Behörden in Hamburg", datiert 4.12.2009. 131 Vgl.: "'Terroristische Strukturen' bei Anschlag auf Wache." In: "Hamburger Abendblatt" vom 19.12.2009. 100 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Widerstands stark zu machen. [...] Es braucht jetzt zündender Initiativen, um einen Flächenbrand auslösen zu können." 132 Interim veröffentlicht Die Szenezeitschrift "INTERIM" veröffentlichte in der AusBauanleitungen gabe vom 11. Dezember eine Bauanleitung der "Gasaki". Auf Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 16. Dezember wurde die "INTERIM" beschlagnahmt. Das Amtsgericht Tiergarten beschloss am 4. Februar 2010 auch die Beschlagnahmung der "radikal"-Ausgabe vom Januar 2010, in der unter der Autorenbezeichnung "Revolutionäre Aktionszellen" eine weitere Anleitung zum Bau der "Gasaki" veröffentlicht worden war. 4.3 Linksextremisten nutzen Großveranstaltungen als Bühne für gewalttätigen Protest Extremisten versuchen, Wie in den vergangenen Jahren beteiligten sich LinksextreBündnisse einzugehen misten aus Berlin auch 2009 an überwiegend von nichtextremistischen Akteuren getragenen Protesten gegen internationale politische Großveranstaltungen. 2009 konzentrierten sie ihren Protest auf den NATO-Gipfel im April in Baden-Baden, Kehl und Straßburg und den Klimagipfel im Dezember in Kopenhagen. Linksextremisten versuchen bei solchen Anlässen, Bündnisse mit anderen nicht-extremistischen Gruppen einzugehen und diese zur Profilierung und Rekrutierung zu nutzen. Sie bemühen sich so innerhalb breiterer Kreise um Anerkennung und eine gesellschaftliche Verankerung ihrer Positionen. Zu dieser Taktik führt die Gruppe A- vanti in einem Grundsatzpapier aus: "Gesellschaftliche Verankerung meint also die Einbettung [...] in ein Netzwerk von Bündnissen und/oder Kontakten sowohl mit anderen linken (nicht unbedingt revolutionären) Organisationen als auch mit politisch interessierten und engagierten Menschen, die z.B. in politischen Gruppen oder Bürgerinitiativen aktiv sind. Hierfür ist unsere aktive Mitarbeit in verschiedenen sozialen Bewegungen, in Initiativen und Bündnissen unverzichtbar. Denn Verankerung entsteht zuallererst in der praktischen Zusammenarbeit, durch gemeinsame Erfahrungen in politischen 132 "Kommunique der Revolutionären Aktionszellen" (RAZ). In: "radikal. publikation der revolutionären linken" Nr. 162, Winter 2010. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 101 Kampagnen und Kämpfen. [...] Schließlich bemühen wir uns um ein offensives Politikverständnis; d.h. dass wir - wo angebracht und nützlich - auch Kontakt mit bürgerlich-reformistischen Organisationen suchen [...]." 133 Durch die Bündnisse streben Autonome eine Radikalisierung und inhaltliche Beeinflussung der nicht-extremistischen Gruppen an: "In der Mobilisierung zum Antiraund Klimacamp in Hamburg 2008 und zum UN Klima Gipfel 2009 in Kopenhagen arbeiten Autonome mit anderen Leuten und Organisationen zusammen, wie solid, attac, die bund jugend und die grüne jugend [...]. Eine Radikalisierung findet statt. Dieser Effekt ist nicht zu unterschätzen. Bis wohin die Bündnispartner gewählt werden, ist je nach Mobilisierung und Situation unterschiedlich. [...] Die Angst von anderen beeinflusst und verwässert zu werden, übersieht, dass wir andere beeinflussen und radikalisieren." 134 Aktionsorientierte Linksextremisten versuchten 2009, die Bühne für Gewalt Proteste gegen die Großveranstaltungen in Straßburg und Kopenhagen als Bühne für die Ausübung von Gewalt zu nutzen. 4.3.1 Proteste gegen den NATO-Gipfel Für die Berliner linksextremistische Szene nahmen die Proteste gegen den Gipfel zum 60-jährigen Bestehen der NATO vom 3. bis 4. April in Straßburg, Baden-Baden und Kehl einen ebenso hohen Stellenwert ein wie die gegen den G 8- Gipfel 2007 in Heiligendamm. 135 Zum Teil knüpften Berliner Linksextremisten bei der Vorbereitung von Protesten an Bündnisstrukturen an, in denen sie während der Proteste gegen den G 8-Gipfel gearbeitet hatten. Gruppierungen wie die "Antifaschistische Linke Berlin" (ALB), die "Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin" 133 "Grundsatzpapier. V. Strategische Ziele". Internetauftritt von "AVANTI. Projekt undogmatische Linke", datiert 16.5.2004. 134 six hills Berlin: "Ein erster Schritt, der auf Vertiefung wartet. Autonom (!) Kongreß - ein Rückblick". In: INTERIM Nr. 705, S. 5 vom 12.2.2010. 135 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2007. Berlin 2008, S. 40-53. 102 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 (ARAB), "Für eine linke Strömung" (FelS) und die "Rote Hilfe e.V." riefen im Rahmen von Bündnissen zur Teilnahme an den Protesthandlungen auf. Maßgeblicher Träger der Mobilisierung gegen den NATO-Gipfel war die "No-NATOKampagne", der neben nicht-extremistischen Gruppierungen die Gruppierungen ARAB, "Deutsche Kommunistische Partei Berlin" (DKP), "Gegeninformationsbüro" (GIB), "Interventionistische Linken" (IL) und "Rote Hilfe e.V." angehörten. Die IL forderte in einem Ende Dezember 2008 veröffentlichten Aufruf "Make NATO History! Auf die Straße gegen den NATO-Gipfel", den NATO-Gipfel "zu belagern, zu umzingeln, zu blockieren". 136 Ausschreitungen Ab dem 1. April organisierte das "No to Nato"-Bündnis eine während der "Aktionswoche" mit zahlreichen Aktionen. Diese wurden "Aktionswochen" überschattet von massiven Ausschreitungen anlässlich der "internationalen Großdemonstration" unter dem Motto "No to War -- No to NATO" am 4. April in Straßburg. Die Teilnehmerzahlen blieben mit rund 16 000 Personen, darunter etwa 300 Berliner Linksextremisten aus dem autonomen Spektrum, deutlich hinter den Erwartungen der Organisatoren zurück, die mit bis zu 30 000 Teilnehmern gerechnet hatten. Der Gipfel selbst und die Proteste auf deutscher Seite verliefen störungsfrei. Auf französischer Seite hingegen kam es zu massiven Ausschreitungen: Gewalttäter griffen Polizisten mit Molotow-Cocktails an, plünderten eine Tankstelle, errichteten brennende Barrikaden und setzten sechs Gebäude in Brand. Neben den angereisten gewaltbereiten Linksextremisten beteiligten sich auch zahlreiche eher unpolitische Gewalttäter in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld an den Protesthandlungen. Zeitgleich mit dem Nato-Gipfel wurden am 4. April in Berlin die Niederlassung eines Transportunternehmens und das "Deutsche Institut für internationale Politik und Sicherheit" mit Steinen, Flaschen und Farbbeuteln beworfen, um, laut 136 IL: "Make Nato History". Internetauftritt der IL, datiert vom Dezember 2008. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 103 Selbstbezichtigungsschreiben, "die NATO-Geburtstagsfeierlichkeiten auch in Berlin nicht unkommentiert zu lassen". 137 Der NATO-Gipfel führte zu einem Motivationsschub und zu Motivationsschub für einem gesteigerten Selbstbewusstsein in der linksextremistiExtremisten schen Szene. Berlins linksextremistische Gruppierungen bewerteten es in der Nachbereitung als positiv, dass es ihnen gelungen war, eine weitgehend einheitliche Protestplattform zu bilden. Darüber hinaus begrüßte die "Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin" (ARAB) die "direkte Konfrontation" während des Gipfels: "Wir begrüßen die kräftige Artikulation des Protests während der Aktionen. Eine radikale Kritik an den hiesigen Verhältnissen von Staat, Kapital und deren Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen sollte sich nicht nur in dem massenhaften Auftreten von linken Aktivisten äußern, sondern sollte sich auch theoretisch, wie praktisch in einer direkten Konfrontation zu äußern wissen. Bei der Wahl der Aktionsformen gilt es einem breiten Spektrum an Leuten Möglichkeiten zu bieten, dass sich diese am Protest beteiligen können und sich solidarisch aufeinander beziehen." 138 Proteste gegen den Nato-Gipfel als Teil einer bundesweiten "Antimilitarismuskampagne" Die Proteste gegen den Gipfel waren Teil einer bundesweiten "Antimilitarismuskampagne", die bereits Ende 2008 begonnen hatte. Anlass war der Beschluss des Bundestags, das Bundeswehrmandat in Afghanistan zu verlängern. Neben der Bundeswehr standen auch Unternehmen wie DHL aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit der Bundeswehr im Fokus. "Die Deutsche Post-Tochter DHL entpuppt sich nämlich als 'Deutsche Heeres Logistik' und bietet sich deswegen für eine aktionsbezogene Mobilisierung im Vorfeld der NATOFeierlichkeiten an." 139 137 Selbstbezichtigungsschreiben. Internetportal, datiert 4.4.2009. 138 "Kraftvolle Proteste gegen NATO-Gipfel", Internetauftritt der ARAB, Aufruf am 30.3.2010. 139 "DHL - olivgrün unter postgelbem Tarnanstrich." Internetauftritt der Libertad!, datiert 28.10.2008. 104 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Als "Teil der Mobilisierung gegen den NATO-Gipfel in Strasbourg" wurde im Januar 2009 eine Kampagne unter dem Titel "Competitive Resistance" ins Leben gerufen. In dem Aufruf hieß es, Ziel der Kampagne solle sein, einen Rückzug von DHL aus der Zusammenarbeit mit der Bundeswehr zu erwirken. Dazu müsse diese Zusammenarbeit zunächst öffentlich thematisiert werden. Die Initiatoren erhofften sich von dem Großereignis NATOGipfel einen öffentlichkeitswirksamen Effekt für ihr Projekt: "Strasbourg kann ein Kristallisationspunkt werden, die Kampagne bis dahin im Vorfeld breit vorgestellt und mit diversen publicityträchtigen Nadelstichen in Schwung zu bringen. [sic]" 140 Brandanschläge auf In Berlin wurden 2009 fünf Brandanschläge auf DHLDHL-Fahrzeuge Fahrzeuge und weitere Sachbeschädigungen zum Nachteil von DHL verübt. Fortsetzung der Aktionen nach dem Gipfel Die gewalttätigen "antimilitaristischen" Aktionen wurden auch nach dem NATO-Gipfel fortgesetzt. Am 6. April griffen bis zu 100 Personen das Gebäude einer Softwarefirma im Bezirk Mitte mit Steinen und einem später nicht umgesetzten Brandsatz an. Es wurden Hindernisse auf der Fahrbahn errichtet, ein vorbeifahrendes Auto angehalten und der aussteigende Fahrer mit einem Stuhl beworfen. Bereits am Vortag waren Fensterscheiben des Unternehmens beschädigt worden. Die Szenezeitschrift INTERIM veröffentlichte im Juni einen Flyer mit dem Titel "FEINDerkennung. Eine Gebrauchsanweisung für den Alltag". Darin wird, nach Dienstgrad abgestuft, zu unterschiedlichen Formen der Gewaltanwendung gegen Angehörige der Bundeswehr aufgerufen: 140 "Wir wollen die Rolle der Deutschen Post als Militärlogistiker skandalisieren". In: Linksextremistische Kampagnenseite, datiert 20.7.2009. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 105 "[...] allerhöchstens noch bis zum Leutnant: diskutieren, anpöbeln, nerven. Ab Hauptmann: Farbe, schlechtes Parfüm, Auto kaputtmachen, Uniform ausziehen, aggressiv angehen. Ab Oberstleutnant: Schienbein treten, Ohrfeige, Hauswand besprühen, Auto abfackeln, öffentliche Empfänge versauen. Ab General: Nicht zögern. Reinhauen. Und zwar richtig. Scheiben einhauen, Auto abfackeln, Öffentliche Empfänge versauen etc. Ab Gold auf der Schulter gilt: Wer direkt reinhaut, macht nichts verkehrt." 141 Noch am 27. November kam es im Nachgang zum NatoGipfel zu einer politisch motivierten Straftat in Berlin. Zwei Wagen der Marke Citroen wurden auf dem Parkplatz eines Autohauses in Brand gesetzt, nachdem ein französisches Gericht zwei während der Proteste gegen den NATO-Gipfel in Straßburg festgenommene Personen zu Haftstrafen verurteilt hatte. 142 Fünf weitere Fahrzeuge und ein Bürogebäude wurden mitgeschädigt. 141 "FEINDerkennung. Eine Gebrauchsanweisung für den Alltag". In: "INTERIM" Nr. 694 vom 26.6.2009. 142 Vgl. Unbekannt: Selbstbezichtigungsschreiben, datiert vom 24.11.2009. 106 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 4.3.2 UN-Klimakonferenz Extremisten wollen Die zweite internationale politische Großveranstaltung, auf Gipfel "stürmen" die sich Linksextremisten im Bündnis mit nicht extremistischen Gruppierungen konzentrierten, war die "15. Vertragsstaatenkonferenz der UN-Klimarahmenkonvention" vom 7. bis 18. Dezember in Kopenhagen. Von Linksextremisten wie der ALB wurde dazu aufgerufen, den Gipfel zu "belagern" und zu "stürmen": "Es geht bei diesem Treffen [dem Klimagipfel] nicht nur um die Diskussion über irgendwelche 'Klimaziele', vielmehr wird hier der Grundstein für den Umbau des gesamten kapitalistischen Wirtschaftssystems gelegt. Dabei werden die Interessen der Mehrheit mit Füßen getreten. Deshalb gilt es ihr Treffen zu belagern, zu stürmen, es öffentlich zu delegitimieren." 143 Autonome Gruppen forderten, die Gipfelteilnehmer "aus der Stadt zu jagen" und dem "Kapitalismus einen weiteren Tritt in Richtung Abgrund" zu geben: "Geben wir dem Kapitalismus einen weiteren Tritt in Richtung Abgrund! Lasst und in Kopenhagen gemeinsam mit linksradikalen Zusammenhängen aus ganz Europa kämpfen! [...] Sorgen wir dafür, dass Wirtschaftslobbyisten und Politiker sich nirgendwo in Kopenhagen sicher fühlen können! [...] Jagen wir Politiker, Lobbyisten und Bullen aus der Stadt! Reclaim Copenhagen!" 144 Die Kritik am Kopenhagener Klimagipfel wurde von Linksextremisten mit der Ablehnung des politischen und wirtschaftlichen Systems verknüpft: "Der Klimagipfel in Kopenhagen wird scheitern. [...] Fragend werfen wir euch an. Wir fordern ein radikales Umdenken der Gesellschaft denn die Befreiung von Markt und Staat ist die notwendige Aufgabe der Zeit." 145 143 Vgl. Aufruf der ALB zu Kopenhagen. Internetauftritt der ALB, datiert vom 20.11.2009. 144 Autonome Gruppen - Mehr als Politik!: "Reclaim Copenhagen". In: "INTERIM" Nr. 700, S. 10 vom 25.11.2009. 145 "Aktion". Linksextremistische Kampagnenseite, datiert 4.12.2009. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 107 Die mit der Protest-Mobilisierung befassten internationalen Berliner Extremisten Netzwerke hatten sich auf gemeinsame Protestaktionen verspielen wichtige Rolle ständigt. Dazu gehörten Großdemonstrationen, Aktionen des "zivilen Ungehorsams" und Kleingruppenaktionen. In Deutschland wurden circa 100 Vorbereitungsveranstaltungen durchgeführt, schwerpunktmäßig im norddeutschen Raum und in Berlin. 146 Berliner linksextremistische Gruppierungen spielten bei den bundesdeutschen Protestvorbereitungen eine wichtige Rolle. Sie brachten sich im Rahmen der "Interventionistischen Linken" (IL) in die Vorbereitung einer "Aktionswoche" in Kopenhagen ein. Bereits im Vorfeld des Gipfels wurden von Linksextremisten Anschläge auf Fahrzahlreiche Straftaten begangen. Am 23. November wurden zeuge der Deutschen Bahn in Berlin und Hamburg Brandanschläge auf Fahrzeuge der Deutschen Bahn verübt. Unter der Gruppenbezeichnung "Bewegte Autonome" begründeten die Täter den Angriff mit der angeblichen Rolle der Deutsche Bahn als "Profiteur der Atomtechnologie" und hofften "auf breiten Widerstand gegen den Klimagipfel". 147 Am 3. und 4. Dezember wurden in Berlin das Bundeskanzleramt, ein Verlag, ein Stromanbieter, ein Einkaufszentrum, ein Reisebüro, ein Discounter, eine Bank, ein Bürogebäude und ein Schnellrestaurant mit Farbeiern und Christbaumkugeln, die mit Farbe gefüllt waren, beworfen. In dem Selbstbezichtigungsschreiben wird begründet, die Taten begangen zu haben, um "[...] unsere Kritik an den bestehenden Verhältnissen und ihrem Resultat, dem Klimawandel auszudrücken." 148 An der internationalen Großdemonstration am 12. Dezember Großdemonstration nahmen ca. 100 000 Personen teil, darunter eine verschwinweitgehend friedlich dende Minderheit von einigen hundert gewaltbereiten Links146 Vgl. "Aktivisten planen Unterbrechung des Klimagipfels. Climate Justice Action fordert Klimagerechtigkeit statt Emissionshandel". Internetauftritt "Linkezeitung.de", datiert 30.11.2009. 147 Bewegte Autonome: Selbstbezichtigungsschreiben, datiert vom 23.11.2009. 148 "Aktionstag". Linksextremistische Kampagnenseite, datiert 4.12.2009. 108 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 extremisten. Aus einem Block vermummter Personen heraus kam es zu Sachbeschädigungen an dem Gebäude einer Bank, des Außenministeriums und der Börse. Insgesamt verlief die Veranstaltung im Großen und Ganzen friedlich. Durch präventives polizeiliches Vorgehen konnten Störaktionen der linksextremistischen Szene weitgehend verhindert werden. Es wurden - zumeist präventiv - circa 1 700 Personen in Gewahrsam genommen, darunter 400 Deutsche. Während und nach dem Gipfel kam es in verschiedenen Städten Deutschlands auch zu Protestaktionen gegen das Vorgehen der dänischen Polizei gegen Demonstranten. Am 25. Dezember bewarfen Linksextremisten die dänische Botschaft in Berlin mit Farbflaschen. In einem Selbstbezichtigungsschreiben erklärten "einige AktivistInnen": "Diese Aktion bezog sich auf die Repression des dänischen Staates und der Polizei gegen AktivistInnen vor, während und nach dem Klimagipfel 'COP15' in Kopenhagen. [...] Für mehr Wut!" 149 Ernüchterung nach Die Protestnachbereitungen der linksextremistischen Szene dem Gipfel Berlins waren von Ernüchterung geprägt. Ein Autor eines Szene-Internetportals bilanzierte, es seien die falschen, zu wenig wirksamen Aktionsformen gewählt worden. Dies habe vor Ort bei den Protestierenden zu "einem Ohnmachtgefühl" geführt. Er bemängelte das Fehlen "autonomer Kleingruppen-Aktionen": "Wo waren die autonomen Kleingruppen-Aktionen in der Innenstadt am 12. Dezember? Was wäre gewesen hätten sich massenhaft, vorbereitete Kleingruppen über die Stadt verteilt und bestimmte, inhaltlich wichtige Ziele angegriffen? [...] Meine These: Die Bullen vollkommen überfordert, exzellente Vermittlung und ermächtigte Aktivist*Innen." 149 "einige AktivistInnen": Selbstbezichtigungsschreiben. Linksextremistische Kampagnenseite, datiert 25.12.2009. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 109 4.3.3 Gewalttätige Ausschreitungen am 1. Mai Nach einer Reihe relativ friedlich verlaufener 1. Maifrühe und heftige Demonstrationen in den vergangenen Jahren, kam es 2009 Ausschreitungen erneut zu heftigen Ausschreitungen. Die "Revolutionäre 1. Mai-Demonstration" unter dem Motto "Kapitalismus ist Krise und Krieg. Für die soziale Revolution" stellte den organisatorischen Rahmen für Ausschreitungen sowohl von gewaltorientierten Linksextremisten als auch von unpolitischen, erlebnisorientierten Gewalttätern dar. Die Ausschreitungen begannen verglichen mit den Vorjahren deutlich früher, aus der Demonstration heraus und wurden härter geführt. Es wurden 297 Personen festgenommen und 479 Polizeibeamte verletzt. Wie 2008 kam es 2009 in den Abendstunden zu Ausschreitungen überwiegend erlebnisorientierter Personen. 150 "Antifaschistische Linke Berlin" (ALB) und "AntifaschistiALB und ARAB wersche Revolutionäre Aktion Berlin" (ARAB) hatten in einem ben für Teilnahme Flugblatt für die Teilnahme an der "Revolutionären 1. MaiDemonstration" geworben und hofften, dass der "heiße Frühling" seit den Protesten gegen den NATO-Gipfel sich am 1. Mai fortsetzen würde: "Anfang April kam der europäische Widerstand in Straßburg und Baden-Baden gegen den NATO-Gipfel zusammen und wir hoffen, dass dieser heiße Frühling sich am 1. Mai fortsetzen wird - die Gründe, auf die Straße zu gehen, werden nicht weniger, sondern mehr." 151 Auch die ALB prophezeite einen "heißen 1. Mai" und griff auf verschiedene Begründungszusammenhänge wie "Antikapitalismus", "Umstrukturierung" und "Antifaschismus" zurück. "Berlin erwartet in diesem Jahr ein heißer 1. Mai. Seit Monaten entlädt sich die Wut über unsoziale Stadtumstrukturierung, die 150 Vgl. dazu auch den Forschungsbericht der Freien Universität Berlin: "Analyse der Gewalt am 1. Mai 2009 in Berlin. Triangulierte kriminologische Studie", Berlin 2010. 151 ALB / ARAB: "Gegen Krise, Krieg und Kapitalismus - Heraus zum revolutionären 1. Mai". (Fehler im Original). 110 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Folgen der Krise und das Morgenluft witternde Nazipack immer häufiger in direkten Aktionen." 152 Auf Plakaten wurde neben Bildern von brennenden Polizeibeamten zur Gewalt gegen Polizeifahrzeuge aufgerufen. Pressekonferenz Die Organisatoren der "Revolutionären 1. Mai-Demonstration" hielten am 28. April eine Pressekonferenz ab. Dort erläuterten sie, als Ziel ihrer Kampagne "soziale Unruhen" anzustreben. Die Sprecher, darunter ein Bezirksverordneter in Lichtenberg der Partei "Die Linke", dessen Haltung sowohl vom Parteivorsitzenden wie auch vom Fraktionsvorsitzenden scharf kritisiert wurde, distanzierten sich von keiner Aktionsform. "Wir hoffen, dass die Polizei diesmal an ihre Grenzen kommt und sich möglichst nicht in Kreuzberg blicken lässt." 153 "Wir wollen soziale Unruhen, und wir werden alles tun, um sie zu erreichen." 154 Schwarzer Block Die "Revolutionäre 1. Mai-Demonstration" startete nach der während der Auftaktkundgebung am Kottbusser Tor gegen 19 Uhr. Mit Demonstration rund 5 000 Personen blieben die Teilnehmerzahlen hinter den Vorjahreszahlen von ca. 6 000 Teilnehmern zurück. Bereits zu Beginn des Aufzugs vermummten sich zahlreiche Demonstranten und bewaffneten sich mit Steinen. Die Ausschreitungen begannen kurze Zeit nach Beginn aus der Demonstration heraus. An der Spitze des Demonstrationszuges bildeten zahlreiche vermummte Personen einen Schwarzen Block. In diesem Teil des Aufzugs sowie an dem Bühnenwagen waren linksextremistische Parolen und Fahnen sowie Transparente der ALB zu erkennen. 700 gewaltbereite Am Endplatz des Aufzuges am Kottbusser Tor griffen bis zu Personen 700 gewaltbereite Personen Polizeibeamte mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern an. Sie steckten Müllcontainer 152 "1. Mai: Gegen Nazis und Kapitalismus". Internetseite der ALB, datiert 14.4.2009. (Fehler im Original.) 153 "Antifa will den Kiez für sich". In: "die tageszeitung" vom 29.4.2009. 154 "Diese Chaoten erklären der Polizei den Krieg... Und keiner tut was dagegen!". In: "BILD" vom 30.4.2009. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 111 in Brand und warfen Hindernisse auf die Straße. Sie attackierten zwei Fahrzeuge des Verkehrsdienstes, beschädigten die Sicherheitsverglasung einer Feuerwache durch Steinwürfe und mit einer Schreckschusswaffe sowie die Scheibe einer Bankfiliale. In zwei Fällen wurden Molotow-Cocktails in Richtung der Polizeibeamten geworfen. Dabei erlitt eine Frau erhebliche Brandverletzungen. 155 Die Reaktionen der Beteiligten auf die gewalttätigen Ausschreitungen fielen zwiespältig aus. Zahlreiche Wortmeldungen in Internet-Szeneportalen begrüßten die Ausschreitungen als "stärkste[n] 1. Mai in Berlin seit 2004". 156 Negativ wurde jedoch bemerkt, dass sich trotz der internationalen Finanzkrise insgesamt weniger Menschen an den Aktionen beteiligten. Auch die gewalttätigen Auseinandersetzungen wurden konkontroverse Diskustrovers diskutiert. Neben positiven Reaktionen wurde der sion über Gewalt Verlust politischer Inhalte moniert. Ein Demonstrationsteilnehmer nannte die Gewalt gegen Polizisten "ein mittlerweile total entleertes Ritual, das einige Leute jedes Jahr in Kreuzberg wiederholen wollen, um die tollen Bilder mit brennen (!) und behelmten Bullen und wutverzerrten Demonstranten zu reproduzieren [...] Nächstes Jahr ohne mich". 157 Der Anmelder gab in einem Interview die Schuld an den Ausschreitungen der Polizei. Er räumte ein, dass bei vielen Demonstrationsteilnehmern in diesem Jahr eine "allgemeine Wut" vorhanden gewesen sei, "die sie ausdrücken wollten". Zudem hätten "im Vorfeld Scharfmacher in Teilen der Presse und des Polizeiapparates bürgerkriegsähnliche Szenarien heraufbeschworen mit einem Interesse, dass ihre Prophezeiungen auch eintreten." 158 Selbstkritisch stellte er fest, dass es 155 Am 28.1.2010 sprach das Landgericht Berlin zwei 17 bzw. 20 Jahre alte Angeklagte vom Tatvorwurf des versuchten Mordes in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung und Verstoßes gegen das Waffengesetz frei. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. 156 "Berlin: 15 000 auf rev. 1. Mai-Demo". Internetportal, datiert 2.5.2009. 157 Kommentar zu "Berlin: 15 000 auf rev. 1. Mai-Demo". Internetportal, datiert, 2.5.2009. 158 "Führungslose Polizei". In: "die tageszeitung" vom 4.5.2009. 112 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 nur im Vorfeld gelungen sei, politische Inhalte zu vermitteln und man auf der Demonstration daran nicht mehr habe anschließen können. Als Grund für die "deutliche Wut" der Demonstranten, die "auf Provokationen der Polizei" empfindlicher reagiert hätten, nannte die Organisatoren der Demonstration die Finanzkrise und die damit einhergehende "immer dreistere Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums". 159 4.4 Kurz notiert 4.4.1 Mutmaßliche Mitglieder der "militanten gruppe" verurteilt Urteile im "mg"Am 16. Oktober verurteilte der 1. Strafsenat des KammergeVerfahren richts Berlin drei Angehörige der "militanten gruppe" (mg) wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie wegen versuchter Brandstiftung und versuchter Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel zu drei Jahren und sechs Monaten beziehungsweise zu drei Jahren Freiheitsstrafe. 160 Die drei Männer hatten am 31. Juli 2007 versucht, drei Lkw der Bundeswehr in Brandenburg an der Havel in Brand zu setzen. Die linksextremistische Szene berichtete im Internet ausführlich über den Prozess und begleitete ihn mit Solidaritätsveranstaltungen und Demonstrationen. Darüber hinaus wurden Straftaten, insbesondere Sachbeschädigungen, verübt. Während des laufenden Gerichtsverfahrens erschien nach mehr als zweijähriger Pause im Juli eine Ausgabe der linksextremistischen Szenezeitschrift "radikal. publikation der 159 "Pressemitteilung des 1. Mai-Bündnis". Kampagnenseite, datiert 2.5.2009. 160 Vgl. Kammergericht, Pressemitteilung Nr. 56/ 2009 vom 16.10.2009, AZ: 2 StE 2/08 - 2 (1) (21/08). Das Urteil war bei Drucklegung noch nicht rechtskräftig, da Revision eingelegt wurde. Die Verurteilung erfolgte gemäß SS 129 StGB, SSSS 306 Abs. 1 Nr. 4, 22 StGB, SSSS 305a Abs. 1 Nr. 2, 22 StGB. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - LINKSEXTREMISMUS 113 revolutionären linken". Den Schwerpunkt des Heftes bildete ein Interview mit angeblichen Mitgliedern der mg. Darin übernahmen die Interviewten die Verantwortung für drei Brandanschläge, die im Verlauf des Prozesses begangen worden waren, und führten aus: "Diese militanten Aktionen stehen im Kontext unserer sozialrevolutionär-klassenkämpferischen und antiimperialistischinternationalistischen Linie, die wir seit Jahren auf einer kommunistischen Grundlage im Rahmen des Aufbaus einer militanten Plattform forcieren." 161 In dem Text erklärten die Aktivisten die mg für aufgelöst. Aktivisten erklären Weiterhin stellte die Gruppe fest, dass es sich bei der Auflö"mg" für aufgelöst sung nicht um eine Beendigung des Projekts organisierter Militanz handele, sondern lediglich um ein strategisch notwendiges Element eines "Transformationsprozesses". "Wir lösen uns heute und hier mit diesem Beitrag als (mg) auf! Von nun an ist die (mg) in der Widerstandsgeschichte der revolutionären Linken in der BRD eingegangen. Es gibt von nun an nur noch eine ex-(mg); und demzufolge auch nur noch ehemalige Mitglieder der (mg). [...] Als DialektikerInnen ist es selbstverständlich unsere Aufgabe, dass wir nicht unser Projekt selbst demontieren und uns als Individuen in alle Himmelsrichtungen demobilisieren. Nein, wir überführen es in eine erweiterte strukturelle Form". 162 Im Interview führten die Linksextremisten mit der Nennung von Jobcentern, Gerichten, "Planungsstäbe[n] in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft" oder "Kriegsmaterial" mögliche Zielobjekte für weitere Anschläge auf. 163 Zugleich enthielt die "radikal"-Ausgabe ein auf den Winter 2008/2009 datiertes Papier der mg mit dem Titel "'Militanz ohne Organisation ist wie Suppe ohne Salz' - Abschlussworte zur Militanzdebatte - von der militanten gruppe (mg)". Es 161 "militante gruppe": "schriftliches interview zu fragen der organisierung des revolutionären widerstandes mit der militanten gruppe". In: "radikal. publikation der revolutionären linken." Nr. 161, 2009, S. 30. 162 Ebenda, S. 32-33. 163 Vgl. ebenda, S. 30-54. 114 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 soll den Schluss nahe legen, dass die drei im mg-Verfahren Angeklagten nicht zur mg gehören, wenn die Verfasser "[...] feststellen, dass wir weder durch die Festnahme von linken Aktivisten im Sommer 2007 in unserer personellen Gruppenstruktur tangiert worden waren noch sonst in unserer Existenz gefährdet sind." 164 Die Ausgabe der "radikal" erschien nahezu zeitgleich mit dem Ende der Beweisaufnahme gegen die drei Angeklagten im mg-Verfahren erschienen. Obwohl sich die Linksextremisten im Interview der Verübung von drei Brandanschlägen bezichtigten, sollten die beiden Texte vermutlich dazu beitragen, den Vorwurf der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung gegen die Angeklagten zu entkräften. mg im Zustand der Indem sie mögliche Anschlagsziele benannten, verlagerten Umwälzung? die interviewten Linksextremisten den Fokus weg von der erklärten Selbstauflösung hin zu einer zukunftsorientierten Perspektive. Damit wollten sie zeigen, dass sich die mg in einem andauernden Zustand der Umwälzung und der Neuorientierung befindet. Möglicherweise treten Mitglieder der ehemaligen mg in Zukunft erneut in Erscheinung und treiben die Umgestaltung des Projekts voran. 164 "militante gruppe": "'Militanz ohne Organisation ist wie Suppe ohne Salz' - Abschlussworte zur Militanzdebatte - von der militanten gruppe (mg)". In: "radikal. publikation der revolutionären linken." Nr. 161, 2009, S. 15. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - AUSLÄNDEREXTREMISMUS 115 5 EXTREMISTISCHE BESTREBUNGEN AUSLÄNDISCHER ORGANISATIONEN (OHNE ISLAMISMUS) 5.1 Überblick Personenpotenzial Im Jahr 2009 waren dem Bereich "extremistische und sicherheitsgefährdende Bestrebungen ausländischer Organisationen ca. 1 600 Personen zuzurechnen (2008: ca. 1 570 Personen). Gesamtpotenzial extremistischer Ausländerorganisationen: ca. 1 600 300 1300 Linksextremisten Extreme Nationalisten Innerhalb des Spektrums der linksextremistischen Ausländerorganisationen (ca. 1 300 Personen) nehmen die kurdischen Linksextremisten, organisiert in der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) mit ca. 1 050 Personen den weitaus größten Anteil ein, während den türkischen linksextremistischen Organisationen nur ca. 165 Personen angehören. Zu diesen türkischen Organisationen zählt die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front. 116 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Personenpotenzial Ausländerextremisten* Berlin Bund 2008 2009 2008 2009 Gesamt 1 570 1 600 24 750 24 710 Linksextremisten, 1 270 1 300 16 870 16 870 davon arabischen Ursprungs 30 30 150 150 türkischen Ursprungs 185 185 3 150 3 150 iranischen Ursprungs 55 55 1 150 1 150 kurdischen Ursprungs 1 000 1 050 11 500 11 500 Sonstige 920 920 Extreme Nationalisten, 300 300 7 880 7 840 davon türkischen Ursprungs 300 300 7 000 7 000 Sonstige 880 840 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. linksextremistische Die linksextremistischen Ausländerorganisationen gelten alle Ausländerorganisatioals gewaltorientiert. Sie sind im Ausland - regional unternen in Berlin größtenteils gewaltfrei schiedlich - entweder terroristisch aktiv oder befürworten ausdrücklich Gewalt, z. B. zur Beseitigung der Herrschaftsstrukturen im jeweiligen Heimatland. In Berlin verhalten sich Angehörige dieser Gruppierungen größtenteils zurückhaltend und gewaltfrei. Straftaten Rückgang der KrimiVon den Straftaten in der Statistik der "Politisch motivierten nalität im Bereich Kriminalität - Ausländer" wurden 2009 26 Fälle dem ThePKK/Kurdenproblematik menfeld PKK/Kurdenproblematik zugeordnet. 165 Dies bedeutet einen Rückgang um 32 Fälle (55 Prozent). 2008 wurden zahlreiche politisch motivierte Straftaten anlässlich der Bodenoffensive der türkischen Armee im Februar 2008 begangen. 165 Vgl. Landeskriminalamt Berlin (LKA): Lagedarstellung der Politisch motivierten Kriminalität in Berlin für das Jahr 2009. Insgesamt wurden im Bereich "Politisch motivierte Kriminalität - Ausländer" 163 Delikte begangen (2008: 136). Diese können nur zum Teil einzelnen Themenfeldern wie "Islamismus/Fundamentalismus" (20 Fälle) oder "PKK/Kurdenproblematik" (26 Fälle) zugeordnet werden. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - AUSLÄNDEREXTREMISMUS 117 Entwicklungen Wegen der Beschwerde des PKK-Führers Abdullah Öcalan Haftbedingungen über seine Haftbedingungen kam es Ende 2009 unter den Öcalans führen zu Gewaltausbruch Anhängern in der Türkei zu einer neuen Welle gewalttätiger Aktionen und in Europa zu Besetzungsaktionen und Demonstrationen. Anlass war die Beschwerde des PKK-Führers Abdullah Öcalan über seine Haftbedingungen. Zuvor hatte sich die PKK - vermutlich aufgrund der erwarteten Änderungen der Unterbringung Öcalans - fast das ganze Jahr über ruhig verhalten. Der Ausbruch der Gewalt aufgrund der Beschwerden Öcalans zeigt, dass dieser nach wie vor der unbestrittene Führer der PKK ist, der die Organisation auch aus dem Gefängnis heraus steuert. Einem Gewaltaufruf leisten die PKKAnhänger dabei genauso Folge wie einem Friedenskurs. Auswirkungen davon sind bis nach Europa, Deutschland und Berlin zu spüren. 5.2 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK): Neuer Gewaltausbruch auf Grund veränderter Haftbedingungen Öcalans Im Dezember 2009 kam es unter den Anhängern der "Arbeineue Welle gewalttätige Aktionen der terpartei Kurdistans" (PKK) zu einer neuen Welle gewalttäPKK tiger Aktionen in der Türkei, Besetzungsaktionen in Europa und Demonstrationen in Deutschland. Anlass war eine Beschwerde des PKK-Führers Abdullah Öcalan über seine Haftbedingungen. Zuvor hatte sich die PKK - vermutlich aufgrund der erwarteten Änderungen der Unterbringung Öcalans - fast das ganze Jahr über ruhig verhalten. Anlass für Öcalans Beschwerde war seine Verlegung in ein Ende der Einzelhaft Öcalans neu errichtetes Gefängnisgebäude auf der Insel Imral am 17. November. Gleichzeitig wurden weitere Häftlinge dort untergebracht und so die fast elfjährige Einzelhaft beendet. 118 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Die türkische Regierung erfüllte damit Forderungen des Europarats. PKK und Öcalan Obwohl die Verlegung in das neue Gefängnis objektiv eine lehnen die neuen Verbesserung darstellte, reagierten Öcalan und die PKK abHaftbedingungen ab lehnend. Die Zelle sei kleiner und schlechter belüftet als die alte, ließ Öcalan über seine Anwälte mitteilen. Er bezeichnete den Raum als "Todesgrube" und erklärte, er wisse nicht, wie lange er diese Bedingungen aushalte, er sei "halb tot". 166 Die türkische Regierung hielt dem entgegen, die neue Zelle sei lediglich 17 Quadratzentimeter kleiner als die alte, und lud das Anti-Folter-Komitee des Europarats ein, den Raum zu inspizieren. Die Aussagen Öcalans trieben PKK-Anhänger in der ganzen Welt auf die Straßen. Die "Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans" (KCK) 167 sprach von einer "Todeszelle" und erklärte, Widerstand sei der einzige Weg. 168 Die Jugendorganisation der PKK, Komalen Ciwan, warnte: "Alle Institutionen des türkischen Staates, die das Konzept des Angriffs gegen die Führung durchführen, und alle, die diesen Angriff unterstützen, sind Ziele unserer Aktionen. Alle Aktionen, die diesen verräterischen Angriff ins Leere laufen lassen können, sind legitim." 169 Anschläge in der TürDarauf kam es in der Türkei zu Brandanschlägen und Auskei und Besetzungen schreitungen gegen staatliche Einrichtungen, die bald auf in Europa als Reaktion Europa übergriffen. Die PKK-nahe Nachrichtenagentur Firat (ANF) meldete im Dezember mehrere Besetzungsaktionen von Fernsehsendern, Menschenrechtsvereinen oder europäi166 Vgl. Internetauftritt der PKK-nahen "Nachrichtenagentur Firat" (ANF) vom 27.11.2009. 167 Die KCK ist die aktuelle Organisation, unter deren Dach der "Volkskongress Kurdistans" (Kongra Gel) als oberstes Beschlussorgan und Legislative der PKK Vorschriften ausarbeitet. 168 Vgl. Internetauftritt der ANF vom 8.12.2009. 169 Internetauftritt der ANF vom 1.12.2009. Mit "Führung" ist Öcalan gemeint. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - AUSLÄNDEREXTREMISMUS 119 schen Einrichtungen in der Schweiz, Frankreich, Italien und Großbritannien. In Deutschland fanden Protestaktionen statt, etwa in NeuDemonstrationen kölln am 5. Dezember eine Demonstration mit ca. 250 Teilin Berlin nehmern unter dem Motto "Protest - Demo gegen Haftbedingungen von A. Öcalan und Freiheit für Öcalan". Bereits vor Beginn des Aufzugs skandierten Teilnehmer wiederholt PKK-Parolen wie "Es lebe der Führer Apo!" 170 oder "Blut um Blut, Zahn um Zahn, wir sind mit Dir Öcalan!" und beendeten dies auch auf Aufforderung der Polizei nicht. Diese nahm im Verlauf der Veranstaltung elf Personen vorläufig fest und leitete Ermittlungsverfahren unter anderem wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz, gefährlicher Körperverletzung und Landfriedensbruchs ein. Sechs Polizisten wurden während des Einsatzes verletzt. Der Ausbruch der Gewalt aufgrund der Beschwerden ÖcaÖcalan weiterhin lans zeigt, dass dieser nach wie vor der unbestrittene Führer Führungsfigur der Organisation der PKK ist, der die Organisation auch aus dem Gefängnis heraus steuert. Einem Gewaltaufruf leisten die PKKAnhänger dabei genauso Folge wie einem Friedenskurs. Auswirkungen davon sind bis nach Europa, Deutschland und Berlin zu spüren. Emotionalisierte jugendliche Anhänger verüben Gewalttaten auch in Berlin Trotz der relativen Friedensphase begingen Anhänger der PKK und ihrer Teilorganisationen auch im vergangenen Jahr Gewaltdelikte. Anlass sind zumeist staatliche Maßnahmen sowohl in der Türkei als auch in Deutschland. 170 Apo ist der gebräuchliche Kurzname für Abdullah Öcalan. 120 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Brandstiftung in So bezichtigte sich am 28. November die "Apoistische JuBerlin nach Verbot gendinitiative" der Brandstiftung an vier Fahrzeugen am einer Veranstaltung zum Jahrestag der Vortag im Wedding. Als Grund für die Aktion wurde die PKK "feindliche Haltung" der Polizei in Deutschland angegeben. 171 Die Tat war vermutlich als Rache für das Verbot einer Festveranstaltung zum 31. Jahrestag der PKK in Berlin gedacht. Diese fiel auf Grund der Verwendung eindeutiger PKK-Symbolik unter das Betätigungsverbot, dem die PKK in Deutschland unterliegt. Schon in der Vergangenheit hatten sich unter der Bezeichnung "Apoistische Jugend" Mitglieder der PKK-Jugendorganisation verschiedener Brandstiftungen und Anschläge in Deutschland bezichtigt. Guerillaeinheiten Zudem gibt es während des Jahres Phasen, in denen die und JugendorganiStimmung unter den PKK-Anhängern traditionell angesation emotionalisieren Jugendliche spannt ist. Dies betrifft meist den Zeitraum vom Jahrestag der Festnahme Öcalans am 15. Februar bis zum Newrozfest 172 am 21. März. Aktionsaufrufe der Guerillaeinheiten oder der PKK-Jugendorganisation Komalen Ciwan emotionalisieren vor allem jüngere Organisationsmitglieder. "Lasst uns den Monat Februar mit Aktionen empfangen. [ ] Lasst uns den Mächten, die die kurdische Sonne durch das Komplott des 15. Februar verdunkeln wollten, mit dem Feuer des 15. Februar entgegentreten, sie erhellen und ihnen damit eine Antwort geben. Jedes Feuer, das wir entzünden werden, jeder Ort, der brennen wird, wird die Dunkelheit verringern und uns der Helligkeit einen Schritt näher bringen." 173 In Berlin kam es in dieser Zeit zu zwei Anschlägen kurdi- B j scher Jugendlicher: s - Bereits am 28. Januar verübte die "Apoistische Aufopfe- B rungsjugend" einen Brandanschlag auf einen türkischen 171 Vgl. Internetauftritt der ANF vom 28.11.2009. 172 Das "Neujahrsfest" wird traditionell im Iran, Afghanistan, im Nahen Osten sowie in allen Ländern turkstämmiger Völker Asiens gefeiert. Die PKK nutzt das Fest wegen eines damit verbundenen Mythos um Unterdrückung und Freiheitskampf für Propagandazwecke. 173 Internetauftritt der PKK-Jugend vom 14.2.2009. Die Bilder der Sonne und der Helligkeit stehen dabei für Abdullah Öcalan und die Freiheit. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - AUSLÄNDEREXTREMISMUS 121 Sportclub im Wedding als Reaktion auf eine Disziplinarstrafe gegen Öcalan. - Am 7. Februar wurde in Kreuzberg ein PKW angezündet. Das am Tatort zurück gelassene Selbstbezichtigungsschreiben verwies ebenfalls auf "Apo" und war mit "KC" (für Komalen Ciwan) unterschrieben. An drei weiteren PKW kam es zu versuchten Brandstiftungen. Verurteilung eines PKK-Funktionärs Am 1. Dezember verurteilte der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt/Main den im Vorjahr in Berlin festgenommenen PKK-Führungsfunktionär Vakuf M. ("Dersim") wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Das Gericht folgte dem Antrag des Generalbundesanwalts in vollem Umfang und sprach eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten aus. 174 Politische Lösung des Konflikts rückt in weite Ferne Angesichts der aktuellen gewalttätigen Entwicklung der Gewaltaufrufe und PKK rückt eine politische Lösung des Konflikts in weite Rekrutierung neuer Kämpfer steht im GeFerne. Die Organisation ruft weiterhin zu Gewalt auf und gensatz zu Wafunterhält bewaffnete Guerillaeinheiten. Eine Rückkehr zum fenstillstandsrhethorik Konfrontationskurs droht daher jederzeit. Die fortwährende Rekrutierung von neuen Kämpfern 175 stellt die Ernsthaftigkeit des Waffenstillstands in Frage. Gleichzeitig wird die Situation durch das am 11. Dezember Verbot der DTP vom türkischen Verfassungsgericht ausgesprochene Verbot verschärft Situation in der Türkei der "Partei für eine Demokratische Gesellschaft" (DTP), 176 die von PKK-Anhängern als politische Repräsentanz angesehen wurde, verschärft. Die DTP richtete sich nach Ansicht des Gerichts gegen die "unteilbare Einheit von Vaterland 174 GBA-2 StE 5/08-6 - 2 BJs 63/07-6. Die Verurteilung erfolgte gemäß SS 129 StGB. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 120. 175 Die organisationsnahe Presse berichtete von knapp 600 neuen Guerillamitgliedern in fünf Monaten. Vgl. Internetauftritt der ANF vom 5.12.2009. 176 Türkisch: Demokratik Toplum Partisi. 122 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 und Nation", wobei neben ihren Aktionen auch ihre Verbindungen zur PKK bewertet worden seien. 177 Im Vorfeld des Verbots kam es neben Ausschreitungen wegen der Haftbedingungen Öcalans zu einem Hinterhalt der PKK-Guerillaeinheiten HPG in der türkischen Provinz Tokat, bei dem sieben Soldaten getötet wurden. 178 Zudem hatte sich die Regierungspartei unter Recep Tayyip Erdogan zwar wiederholt gegen ein Verbot der DTP ausgesprochen, das entsprechende Gesetz jedoch nicht geändert. Auf der anderen Seite hatte sich die DTP nicht von der PKK distanziert. keine Entspannung Aufgrund der beschriebenen Entwicklung ist daher auch in der Lage zu erwarten Zukunft mit Gewalttaten von PKK-Anhängern zu rechnen. Die "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK) kündigen bereits neue Anschläge an: "Auf dieser Grundlage grüßen wir die Jugendlichen, die [ ] Polizeistationen angreifen, Panzer verfolgen, Faschisten mit Molotows bewerfen, und geben unserem Volk bekannt, dass wir sehr bald unsere ersehnten Racheaktionen aufnehmen werden." 179 5.3 Kurz notiert 5.3.1 Exekutivmaßnahmen gegen die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei - Front" (DHKP-C) Anklageerhebung Am 6. Oktober hat die Bundesanwaltschaft bei dem Obergegen Funktionäre landesgericht Düsseldorf Anklage gegen zwei türkische der DHKP-C Staatsangehörige erhoben. Ihnen wird Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung und Verstöße ge177 Veröffentlicht im "Amtsblatt" der Türkei, Nr. 27432 vom 14.12.2009. 178 Vgl. Internetauftritt der HPG vom 10.12.2009. 179 Internetauftritt der TAK vom 9.12.2009. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - AUSLÄNDEREXTREMISMUS 123 gen das Außenwirtschaftsgesetz vorgeworfen. 180 Beide sollen sich als hochrangige Funktionäre der DHKP-C in Europa von Mai 2002 bis zu ihrer Festnahme am 5. November 2008 an der Beschaffung von Geld und sonstigen Vermögenswerten oder Ressourcen zur Unterstützung des bewaffneten Kampfes der DHKP-C in der Türkei beteiligt haben. 181 Mit zahlreichen kleineren Kundgebungen im Verlauf des Jahres forderte die Berliner Gliederung der DHKP-C die Freilassung der im Zuge dieses Verfahrens inhaftierten Angehörigen. Die Veranstaltungen verliefen ohne besondere Vorkommnisse und erregten nur geringes Interesse in der Öffentlichkeit. In einem weiteren Verfahren verurteilte das OberlandesgeHaftstrafen gegen Funktionäre der richt Stuttgart am 7. August drei Funktionäre der DHKP-C DHKP-C zu Freiheitsstrafen zwischen zwei Jahren und elf Monaten und fünf Jahren. 182 Das Verfahren gegen zwei weitere Angeklagte läuft getrennt weiter. Nach Überzeugung des Gerichts waren die Angeklagten als hochrangige Führungsfunktionäre der DHKP-C in Europa seit dem 30. August 2002 183 Mitglieder der innerhalb der DHKP-C bestehenden terroristischen Vereinigung in der Türkei und unterstützten deren Ziele aktiv. Als professionelle Kader nahmen sie zahlreiche Aufgaben wahr: Unter anderem beschafften sie Finanzmittel und präparierten Schmuggelfahrzeuge. Der ursprünglich mitangeklagte Verstoß gegen das AWG wurde nach SS 154a StPO eingestellt. 180 Gemäß SS 129a Abs. 1, SS 129b StGB, SS 34 Abs. 4 AWG. 181 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008, Berlin 2009, S. 121. 182 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 120. 183 Seither ist die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung in SS 129b StGB unter Strafe gestellt. 124 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 6 "SCIENTOLOGY ORGANISATION" 6.1 Scientology wirbt in Berlin weitgehend erfolglos SO stagniert Die Berliner Organisation von Scientology (SO) entfaltete auch 2009 Aktivitäten, mit denen sie temporär öffentliche Aufmerksamkeit erzielte, die aber weder für ihre öffentliche Akzeptanz noch ihre Mitgliederzahlen förderlich waren. erfolglose Kampagne Zu den Werbeaktivitäten von SO gehörte neben der unrean Berliner Schulen gelmäßigen Veranstaltung von "Mahnwachen" zu den Themen "Menschenrechte" und "Religionsfreiheit" auch eine Kampagne an Berliner Schulen. Verschiedene Schulleiter erhielten Werbematerial für Informationsveranstaltungen wie Anti-Drogen-Seminare oder Vorträge im Ethikbzw. Religionsunterricht. Die Schulen wurden von der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung in Zusammenarbeit mit der dort ansässigen Sektenleitstelle rechtzeitig sensibilisiert. Keine Berliner Schule hat auf die Angebote der SO reagiert. Diffamierung der Thema des Scientology-Vereins 184 "Kommission für VerstöPsychiatrie ohne ße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e.V." (KVPM) ist Resonanz die Aufdeckung vermeintlicher Missstände in der Psychiatrie. Erneut organisierte die KVPM 2009 zwei Ausstellungen unter dem Titel "Psychiatrie: Tod statt Hilfe", in der sie angebliche psychiatrische "Fehlschläge und Behandlungen die mit Todesfällen endeten" thematisierte. Die Diffamierung der Psychiatrie dient dem Zweck, SO als einzig sinnvolle Instanz der Lebensberatung darzustellen. Trotz aktiver Bewerbung der Ausstellung auf der Internetseite des Vereins und des Angebots, an Schulen Vorträge zu diesem Thema zu halten, stieß die Veranstaltung auf keine öffentliche Resonanz. Ebenfalls auf Desinteresse stieß das im Frühjahr in Spandau von der SO eröffnete "Informationszentrum". Das wie ein 184 Angaben zu Tarnvereinen von SO sind auf der Internetseite des Berliner Verfassungsschutzes unter www.verfassungsschutz-berlin.de eingestellt. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - "SCIENTOLOGY-ORGANISATION" 125 Buchladen aussehende Objekt, in dem ausschließlich Bücher des Scientology-Gründers L. Ron Hubbard angeboten und Werbefilme der SO gezeigt werden, wird von den Passanten in der Spandauer Altstadt weitgehend ignoriert. Alle Versuche der SO, über Werbeaktionen und öffentliche weitere Zentren Auftritte das Interesse der Berliner Bevölkerung an der Orangekündigt ganisation zu wecken, sind bisher fehlgeschlagen. Es ist der SO weder gelungen, neue Mitglieder zu rekrutieren noch eine nennenswerte Anzahl von Interessenten anzusprechen. Die Organisation hat angekündigt, in mehreren Stadtteilen weitere Informationszentren zu eröffnen. Außerdem überlege man, zusätzlich zur Zentrale ein zweites größeres Gemeindezentrum in der Hauptstadt zu errichten. 185 Bezirksamt darf nicht warnen Anders als bei den Rekrutierungsbemühungen, erzielte SO SO geht juristisch gegen Warnhinweis vor zumindest einen juristischen Teilerfolg. Das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf, in dessen Bezirk sich die Berliner Scientology-Zentrale befindet, hatte im Januar 2009 vor dem Gebäude eine Litfaßsäule mit einem Stopschild-Motiv aufgestellt. Ein Plakat informierte über die Aktivitäten der SO und wies außerdem auf die Leitstelle für Fragen zu Sekten bei der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung sowie bei Verdacht einer Straftat auf das Bürgertelefon der Polizei hin. SO ging gegen den Warnhinweis im Rahmen eines vorläufiBezirksamt nicht gen Rechtschutzverfahrens vor. Auf Beschluss des Berliner zuständig Verwaltungsgerichts, der zwischenzeitlich vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg 186 bestätigt worden ist, musste der Warnhinweis wieder entfernt werden. Das OVG Berlin-Brandenburg hat gebilligt, dass das Verwaltungsgericht für das vorläufige Rechtsschutzverfahren davon ausgegangen ist, dass SO den Schutz der Religion und Weltanschauungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) genieße. Das Argument des Bezirksamtes, dass Gewinnerzielung das eigentli185 "Scientology macht sich in Berlin breit". In: "BZ" vom 30.11.2009. 186 OVG Berlin-Brandenburg, AZ: 5 S 5.09 vom 2.7.2009. 126 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 che Ziel von SO sei, hat das OVG nicht überzeugt. Außerdem hat das OVG festgestellt, dass das Bezirksamt mangels Zuständigkeit für Angelegenheiten der Religionsund Weltanschauungsfragen nicht für eine Warnung vor der Organisation zuständig sei. Scientology in Frankreich wegen Betruges verurteilt Scientology als In Frankreich waren die Aktivitäten von SO Gegenstand eiOrganisation nes Strafprozesses. Mit der "Association spirituelle de verurteilt l'Eglise des Scientology-Celebrity Center" (Ases-CC) und der "Scientologie Espace Liberte" (SEL) wurden zwei französische Ableger der SO und deren Führungsmitglieder wegen Betruges angeklagt. Aufgrund ihrer Praktiken bei der Anwerbung und finanziellen Ausbeutung von Mitgliedern verurteilte ein Pariser Strafgericht diese im Oktober 2009 zu hohen Geldund Bewährungsstrafen. Staatsanwaltschaft Ein gerichtliches Verbot der SO in Frankreich, das die forderte Verbot Staatsanwaltschaft gefordert hatte, scheiterte nach der Verurteilung der Organisation an einer zuvor in Kraft getretenen Gesetzesänderung. Vor allem die Tatsache, dass mit dem Pariser Urteil nicht nur einzelne Mitglieder der SO, sondern erstmals Scientology als Organisation wegen organisiertem gemeinschaftlichen Betruges strafrechtlich belangt wurde, sorgte für weltweite Aufmerksamkeit. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - SPIONAGEABWEHR 127 7 SPIONAGEABWEHR Die Aufklärungsaktivitäten der Nachrichtendienste fremder unveränderte Aktivtäten Staaten in der Bundesrepublik Deutschland setzen sich in fremder Dienste unverändertem Maß fort. Eine Vielzahl von Staaten versucht sich mit Hilfe ihrer Nachrichtendienste Interessenvorteile im politischen, militärischen und wirtschaftlichen Bereich zu verschaffen. Darüber hinaus hat insbesondere für Nachrichtendienste totalitärer Staaten die Ausforschung von in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Oppositionellen und Dissidenten ihrer Heimatländer Priorität. Das Agieren fremder Nachrichtendienste unter dem schütBerlin als Entscheizenden Diplomatenstatus der Botschaften in Berlin zählt zu dungszentrum den typischen Tarnmethoden. Zudem ist in Berlin die Präsenz fremder Nachrichtendienste besonders hoch, da es bundespolitisches Entscheidungszentrum mit vielen politikberatenden Einrichtungen, Interessenverbänden und entsprechenden Veranstaltungen ist. Die in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen UnterWirtschaftsspionage nehmen und Forschungseinrichtungen sind bevorzugte Zielobjekte von Ländern, die Wirtschaftsspionage 187 und Proliferation 188 betreiben. Für die deutsche Wirtschaft stellen Wirtschaftsspionage und Konkurrenzausspähung einen Deliktbereich mit hohem Gefährdungspotenzial dar. Der durch ungewollten Informationsfluss eintretende Schaden dürfte in Deutschland pro Jahr in Milliardenhöhe liegen. 189 187 Wirtschaftsspionage ist die staatlich gelenkte oder unterstützte, von fremden Nachrichtendiensten ausgehende Ausforschung von Wirtschaftsunternehmen. Sie ist abzugrenzen vom Begriff der Konkurrenzausspähung / Industriespionage, die ein konkurrierendes Unternehmen gegen ein anderes betreibt. 188 Unter Proliferation wird die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte einschließlich des dafür erforderlichen Wissens sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen verstanden. 189 Vgl. u. a. Universität Lüneburg: Fallund Schadensanalyse bezüglich Know-how- / Informationsverlusten in Baden-Württemberg ab 1995. Studie im Auftrag des Sicherheitsforums Baden-Württemberg, www.sicherheitsforum-bw.de. 128 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Verurteilung in Berlin Im Februar 2010 wurde in einer Berliner Firma ein chinesischer Austauschstudent durch Firmenangehörige dabei beobachtet, wie er mit einer externen Festplatte Daten aus dem internen Firmennetzwerk kopierte. Bei Überprüfung der Festplatte wurde festgestellt, dass die kopierten Daten teilweise als Betriebsgeheimnisse anzusehen waren und keinen Bezug zum Arbeitsbereich des Studenten aufwiesen. Das betroffene Unternehmen brachte den Sachverhalt zur Anzeige und der chinesische Student wurde im März 2010 wegen Verrat von Geschäftsund Betriebsgeheimnissen zu einer Geldstrafe in Höhe von 2 250 Euro verurteilt. 190 Proliferation Im Phänomenbereich Proliferation bemühen sich insbesondere Krisenländer 191, in den Besitz von atomaren, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen, der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte und Vorprodukte oder des für die Herstellung erforderlichen Wissens zu gelangen. Besonders problematisch ist dabei, dass die Wissenschaft und die gewerbliche Wirtschaft die wahren Absichten ihrer "Partner" aus proliferationsrelevanten Ländern häufig nicht erkennen können. Kontakt zum Die Spionageabwehr ist bei ihrer Arbeit auch auf Hinweise Verfassungsschutz aus der Öffentlichkeit angewiesen. Diesen Hinweisen geht sie vertraulich und diskret nach. Im Falle einer bereits vorhandenen nachrichtendienstlichen Verstrickung kann die Spionageabwehr Hilfe anbieten, sich aus ihr zu lösen. Für weitere Informationen und die Sensibilisierung zu Fragen der Wirtschaftsspionage und Proliferation steht der Berliner Verfassungsschutz jederzeit zur Verfügung. Kontaktadressen und Telefonnummern des Berliner Verfassungsschutzes, darunter auch ein "Vertrauliches Telefon", finden Sie am Schluss dieses Verfassungsschutzberichts. 190 Az. Wi Js 162/20 vom 24.3.2010. SS 17 Abs. 2 UWG. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. 191 Krisenländer sind in diesem Fall Länder, von denen zu befürchten ist, dass von dort aus ABC-Waffen eingesetzt werden oder ihr Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele angedroht wird. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ 129 8 GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ Der Schutz von Informationen, deren Kenntnisnahme durch Unbefugte den Bestand oder lebenswichtige Interessen, die Sicherheit und die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden kann, ist unverzichtbar. Die Verfassungsschutzbehörde wirkt auf Antrag der zuständigen öffentlichen Stelle daran mit, durch personelle, technische und organisatorische Vorkehrungen Ausforschungen durch Unbefugte in sicherheitsempfindlichen Bereichen zu verhindern. 192 Ferner sind sicherheitsempfindliche Stellen bei lebensund verteidigungswichtigen öffentlichen Einrichtungen zu schützen, deren Ausfall oder Zerstörung eine erhebliche Bedrohung für die Gesundheit und das Leben zahlreicher Menschen verursachen könnte oder die für das Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbar sind. Welche Einrichtungen dazu zählen, wird durch eine Rechtsverordnung der Senatsverwaltung für Inneres und Sport festgelegt. 193 Die Verfassungsschutzbehörde überprüft bei öffentlichen SicherheitsStellen und Wirtschaftsunternehmen Mitarbeiterinnen und überprüfungen Mitarbeiter (so genannte Sicherheitsüberprüfungen) und trifft selbst oder veranlasst Maßnahmen zum materiellen Geheimschutz. Zum Zweck des so genannten personellen Sabotageschutzes sind Sicherheitsüberprüfungen gesetzlich vorgesehen. 8.1 Personeller und materieller Geheimschutz im öffentlichen Bereich Der personelle Geheimschutz soll den Schutz von im öffentpersoneller lichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, GeGeheimschutz genständen oder Erkenntnissen (so genannten Verschluss192 SS 5 Abs. 3 Nr. 1 u. Nr. 3 VSG Bln, Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz (BSÜG) vom 2.3.1998 (GVBl. S. 26) in der Fassung vom 25.6.2001 (GVBl. S. 243), zuletzt geändert durch Art. XV des Gesetzes vom 17.12.2003 (GVBl. S. 617). Das Gesetz ist im Anhang abgedruckt. 193 Verordnung zur Festlegung der Arten lebenswichtiger Einrichtungen im Land Berlin vom 2.9.2003 (GVBl. S. 316). 130 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 sachen) gewährleisten. Verschlusssachen sind je nach dem Schutz, dessen sie bedürfen, nach SS 6 des Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetzes (BSÜG) in folgende Geheimhaltungsgrade einzustufen: Verschlusssachen 1. Streng Geheim 2. Geheim 3. VS-Vertraulich 4. VS-Nur für den Dienstgebrauch Um Sicherheitsrisiken auszuschließen, werden Personen, denen Verschlusssachen mit dem Geheimhaltungsgrad VSVertraulich und höher anvertraut werden sollen, vorher einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen. SicherheitsAlle Details zur Definition eines Sicherheitsrisikos, zum überprüfungsgesetz Verfahren und zu den Folgen für den Betroffenen sind im BSÜG geregelt. Dabei berücksichtigt das BSÜG die Mindestanforderungen an Sicherheitsüberprüfungen, zu denen sich die Bundesrepublik Deutschland gegenüber ausländischen Staaten und als Mitglied zwischenstaatlicher Einrichtungen (z. B. NATO, WEU, EU) vertraglich verpflichtet hat, damit die Sicherheitsmaßnahmen einen möglichst einheitlichen Standard haben. Überprüfung freiwillig Um die Grundrechte der Betroffenen zu gewährleisten, wird im BSÜG kein Zwang zur Sicherheitsüberprüfung festgelegt. Dieser Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht 194 wird nur mit Zustimmung der Betroffenen durchgeführt. Auch beim Ehegatten oder Lebenspartner, der bei bestimmten Überprüfungsarten in die Sicherheitsüberprüfung einbezogen wird, ist die Zustimmung Voraussetzung. Sicherheitsrisiko Der Umfang der Sicherheitsüberprüfung richtet sich nach der Höhe des Geheimhaltungsgrades, zu dem der Betroffene Zugang erhalten soll oder sich verschaffen kann. Ein Sicherheitsrisiko ist nach SS 7 Abs. 2 BSÜG dann als gegeben anzusehen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die Zweifel am Bekenntnis des Betroffenen zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder an seiner Zuverlässigkeit be194 BVerfGE 65, 1. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ 131 gründen. Ein weiterer Aspekt ist die Besorgnis der Erpressbarkeit und damit die Anwerbungsmöglichkeit für eine gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete nachrichtendienstliche Tätigkeit. Die Verfassungsschutzbehörde wird nicht von sich aus tätig, sondern nur auf Antrag des Geheimschutzbeauftragten der Behörde, bei der die zu überprüfende Person beschäftigt ist (so genannte zuständige Stelle). Im Jahr 2009 führte der Berliner Verfassungsschutz 368 Überprüfungen durch (2008: 363). Der personelle Geheimschutz wird durch den materiellen materieller Geheimschutz ergänzt, der technische und organisatorische Geheimschutz Maßnahmen gegen die unbefugte Kenntnisnahme von Verschlusssachen umfasst. Der Verfassungsschutz berät die öffentlichen Stellen des Landes Berlin: Er informiert über Verschlusssysteme wie den Einbau von Sicherheitstüren und die Installierung von Alarmsystemen, er berät über die Datensicherheit bei der Bearbeitung von Verschlusssachen in Datenverarbeitungssystemen und begleitet die Planung und Durchführung der Maßnahmen. Zum materiellen Geheimschutz gehört auch die Information über die Vorgaben der Verschlusssachenanweisung für das Land Berlin vom 1. Dezember 1992, welche die Bearbeitung, Verwahrung und Verwaltung von Verschlusssachen regelt, und die Kontrolle der Einhaltung dieser Anweisung. Diese Aufgabe obliegt den Geheimschutzbeauftragten, die in jeder Behörde, die Verschlusssachen bearbeitet und verwaltet, eingesetzt sind. Der wichtigste Grundsatz der Verschlusssachenanweisung "Kenntnis nur, lautet: "Kenntnis nur, wenn nötig!" Nur die Personen, die wenn nötig!" mit einer bestimmten Verschlusssache befasst sind, sollen Kenntnis erlangen. Deshalb ist es Mitarbeitern, die Verschlusssachen bearbeiten oder sich Zugang verschaffen können, nicht erlaubt, mit Kollegen oder nach Feierabend mit Familienangehörigen über die zu erledigenden Aufgaben zu sprechen. Jede technische Sicherheitsmaßnahme ist sinnlos, wenn die Verschwiegenheit der Beschäftigten nicht gegeben ist. 132 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 8.2 Geheimschutz in der Wirtschaft Sicherheitsstandards Wirtschaftsunternehmen, die geheimschutzbedürftige Aufschaffen träge von Bundesund Landesbehörden ausführen, müssen vor Ausspähung fremder Nachrichtendienste geschützt und deshalb in das Geheimschutzverfahren von Bund und Ländern aufgenommen werden. Es sollen Sicherheitsstandards geschaffen und eingehalten werden, um zu verhindern, dass Unbefugte Kenntnis von den im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen (Verschlusssachen) erhalten. GeheimschutzEin Unternehmen kann die Aufnahme in die Geheimschutzbetreuung betreuung grundsätzlich nicht für sich selbst beantragen. Lediglich Firmen, die sich an NATO-Infrastruktur-Ausschreibungen beteiligen wollen, sind zur Antragstellung in eigener Sache befugt. 195 Voraussetzung für die Aufnahme eines Unternehmens in das Geheimschutzverfahren des Bundes ist die öffentliche Ausschreibung eines Auftrags mit Verschlusssachen im Bundesausschreibungsblatt. Öffentliche Auftraggeber können z. B. der Bundesminister für Verteidigung oder das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung sein. Bei derartigen Verschlusssachen-Aufträgen beantragt der Auftraggeber die Aufnahme des Unternehmens in das amtliche Geheimschutzverfahren beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie. Die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen führt die Geheimschutzverfahren für die Berliner Firmen durch, wenn diese einen Verschlusssachen-Auftrag von einer Landesbehörde erhalten haben. Ausschreibung Berliner Behörden schreiben geheimschutzbedürftige Aufim Amtsblatt träge im Amtsblatt für Berlin aus. Wesentlich für die Ausschreibung bei vertraulichen Staatsaufträgen ist die Formulierung: "Es können sich geeignete Firmen bewerben, die bereits dem Geheimschutz in der Wirtschaft unterliegen, bzw. die sich dem Geheimschutzverfahren in der Wirtschaft unterziehen wollen." 195 Zuständig hierfür ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) mit Sitz in Eschborn. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ 133 Vor Auftragserteilung sind mindestens ein gesetzlicher VerAufgaben des treter des Unternehmens, ein Sicherheitsbevollmächtigter Sicherheitsbevollmächtigten und auch die Firmenmitarbeiter, die von staatlicher Seite aus mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betraut werden sollen, einer freiwilligen Sicherheitsüberprüfung nach den Bestimmungen des BSÜG zu unterziehen. Mitwirkende Behörde bei der Sicherheitsüberprüfung ist nach SS 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 des VSG Bln die Verfassungsschutzbehörde. 2009 wurden Sicherheitsüberprüfungen für Angehörige Berliner Unternehmen durchgeführt (2008: 156). Eine weitere grundlegende Voraussetzung für die Aufnahme in den amtlichen Geheimschutz bei Landesaufträgen ist der Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags zwischen der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen und der Unternehmensleitung. Dies bedeutet die rechtsverbindliche Anerkennung der Bestimmungen der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie herausgegebenen Sicherheitsanleitung "Handbuch für den Geheimschutz in der Wirtschaft" (GHB). Der Sicherheitsbevollmächtigte des Unternehmens ist in Angelegenheiten des Geheimschutzes für die ordnungsgemäße Durchführung der Sicherheitsüberprüfungen verantwortlich. Nach SS 28 Abs. 4 BSÜG wird der Sicherheitsbevollmächtigte für den personellen Geheimschutz von der Verfassungsschutzbehörde in seine Aufgaben eingeführt. Nach Ü- berprüfung der erforderlichen Geheimschutzmaßnahmen erteilt die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen dem staatlichen Auftraggeber und dem Unternehmen einen Sicherheitsbescheid. Die Firma kann nunmehr an geheimhaltungsbedürftigen Auftragsverhandlungen beteiligt werden. Fast alle Berliner Firmen, die von staatlichen Auftraggebern einen Verschlusssachen-Auftrag erhalten haben, bearbeiten keine Verschlusssachen. Sie sind vielmehr mit Lieferungen und Leistungen beauftragt worden, bei denen sie Zugang zu Verschlusssachen haben bzw. sich verschaffen können, die VS-Vertraulich und höher eingestuft sind. Dazu zählen Mon- 134 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 tageund Wartungsarbeiten sowie Instandsetzungen in sicherheitsempfindlichen Bereichen. Aufklärungsund Seit Inkrafttreten des Berliner SicherheitsüberprüfungsgeSensibilisierungssetzes 1998 und der damit verbundenen Regelung des Gegespräche heimschutzverfahrens fanden mit den Sicherheitsbevollmächtigten und Vertretern von Unternehmen Aufklärungsund Sensibilisierungsgespräche statt, davon 66 im Jahr 2009. Zentrale Themen bei den Informationsgesprächen mit Wirtschaftsunternehmen sind Auslandsreisen und "socialnetworking" in Internet-Plattformen. Ansprachen oder Anbahnungsversuche fremder Nachrichtendienste erfolgen häufig auf Auslandsreisen. Dabei sind Unternehmensmitarbeiter, die eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit ausüben, für fremde Nachrichtendienste von besonderem Interesse. Wichtig ist für diese Mitarbeiter, sich über die im Reiseland geltenden Vorschriften zu informieren und sie genau einzuhalten. Handlungen, die in der Bundesrepublik erlaubt sind, können im Reiseland strafbar sein. In den Informationsgesprächen wurden die Beschaffung von Informationen über das Reiseland, die Vermeidung von Ansatzpunkten für eine Ansprache fremder Nachrichtendienste, das Verhalten gegenüber den Behörden des Reiselandes nachdem eine Person verschuldet oder unverschuldet in Schwierigkeiten geraten ist und das Verhalten nach der Rückkehr aus dem Reiseland erläutert. Sicherheitsrisiko Eine weitere Gefahr für den Abfluss von Informationen über "social-networking" Unternehmen und deren Mitarbeiter ist das "socialnetworking" in Internet-Plattformen. Die im Internet öffentlich zugänglichen Informationen über Firmen oder deren Mitarbeiter werden durch fremde Nachrichtendienste oder so genannte "social-networking Dienste" beschafft, ausgewertet und weitergegeben. Auch nicht für jeden zugängliche Websites werden genutzt. Über Tarnidentitäten loggen sich Mitarbeiter dieser Dienste in passwortgeschützte Seiten ein. Informationsquellen finden sich im beruflichen und im privaten Bereich. Firmen-Mitarbeiter, die detaillierte Profile zu ihrer Person erstellen, sich in Diskussionen einbringen, über AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ 135 Stärken und Schwächen der eigenen Person und der Firma berichten, öffnen das Tor zur Wirtschaftsspionage. Um die vertrauensvolle Kooperation der betroffenen UnterSIBE und AKUS nehmen mit den Sicherheitsbehörden zu vertiefen, unterstützt der Berliner Verfassungsschutz den "Berliner Arbeitskreis für Sicherheitsbevollmächtigte" (SIBE-Arbeitskreis) und den "Arbeitskreis für Unternehmenssicherheit BerlinBrandenburg" (AKUS) durch fachkundige Referenten und die Bereitstellung von Informationsmaterialien bei Seminaren und Tagungen. Beide Arbeitskreise sollen den in sicherheitsempfindlichen Bereichen tätigen Berliner Unternehmen ein Austauschforum bieten. Der AKUS und die Senatsverwaltung für Inneres und Sport vereinbarten bereits 2006 eine engere Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität und in anderen Bereichen der inneren Sicherheit. Die Zusammenarbeit erfolgt auf der Grundlage der gesetzlichen Befugnisse, Rechte und Pflichten der Sicherheitspartner. Wesentlicher Inhalt der Sicherheitspartnerschaft ist der verstärkte Austausch von Informationen zwischen der Wirtschaft und den Sicherheitsbehörden. So sollen Unternehmen Informationen über Fälle von Wirtschaftskriminalität oder zur Ergänzung von polizeilichen Lagebildern weiterleiten. Die Sicherheitsbehörden informieren über IT-Sicherheit, den Schutz vor Wirtschaftsspionage, Markenund Produktpiraterie oder politischen Extremismus. Außerdem können sie der Wirtschaft bei Bedarf allgemeine Lagebilder, Gefährdungsanalysen und zielgruppenorientierte Warnmeldungen zur Verfügung stellen. Weitere Felder der Zusammenarbeit sollen gegenseitige UnBeratungsangebote terstützung bei Ausund Fortbildungsveranstaltungen, die gemeinsame Erstellung von Informationsmaterial und regelmäßige oder anlassbezogene Informationsgespräche sein. Durch die Partnerschaft von Wirtschaft und Sicherheitsbehörden trägt der Verfassungsschutz zu einem effektiven Wirtschaftsund Informationsschutz bei, um Wirtschaftsspionage zu verhindern. Die Verfassungsschutzbehörde Berlin steht nicht nur geheimschutzbetreuten Unternehmen beratend zur Verfügung. Auch Unternehmen, die nicht mit ge- 136 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 heimschutzbedürftigen Aufträgen befasst sind, können sich an den Verfassungsschutz wenden, um Beratungsgespräche oder Vorträge zu vereinbaren. 8.3 Sabotageschutz Sicherheitsrisiken Ziel des Sabotageschutzes ist es, die Beschäftigung von Personen, bei denen Sicherheitsrisiken vorliegen, an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebenswichtigen öffentlichen Einrichtungen zu verhindern. Auch zu diesem Zweck ist die Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen gesetzlich vorgesehen (SSSS 1 Nr. 2; 2 Nr. 4 BSÜG). Regelungen zum Sabotageschutz sind erforderlich, weil Sabotageakte gegen lebenswichtige Einrichtungen erhebliche Risiken für die Gesundheit oder das Leben zahlreicher Menschen zur Folge haben oder das Funktionieren des Gemeinwesens gefährden können. In der Verordnung vom 2. September 2003 wurden die Arten der lebenswichtigen Einrichtungen für das Land Berlin festgelegt. 196 8.4 Mitwirkung bei Einbürgerungsverfahren und sonstigen gesetzlich vorgeschriebenen Überprüfungen Einbürgerungen: Der Verfassungsschutz wirkt nach SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG Bln Ausschließungsmit bei Überprüfungen in Einbürgerungsverfahren. Auf Angründe trag der Einbürgerungsbehörde wird geprüft, ob über Personen, die einen Antrag auf Einbürgerung gestellt haben, Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörden der Länder oder des Bundes vorliegen. Seit dem 1. Januar 2000 ist eine Einbürgerung für Personen zwingend ausgeschlossen, 197 welche * die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden, 196 Verordnung zur Festlegung der Arten lebenswichtiger Einrichtungen im Land Berlin vom 2.9.2003, GVBl., S. 316. 197 Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) vom 22.7.1913 i. d. F. des Art. 6 Nr. 9 Gesetz zur Änderung des AufenthaltsG vom 14.3.2005, BGBl. I S. 721. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ 137 * sich bei der Verfolgung politischer Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligen, * öffentlich zur Gewaltanwendung aufrufen, * mit Gewaltanwendung drohen. Eine Einbürgerung kann versagt werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass der Einbürgerungsbewerber verfassungsfeindliche Bestrebungen unterstützt oder verfolgt. 198 Im Januar 2001 legte die Senatsverwaltung für Inneres fest, dass bei Einbürgerungsbewerbern aus bestimmten Herkunftsländern stets eine Anfrage beim Verfassungsschutz zu erfolgen hat. Unabhängig von der Herkunft ist eine Anfrage auch immer dann zu stellen, wenn Anhaltspunkte für eine extremistische Haltung oder sicherheitsgefährdende Tätigkeiten vorliegen. 2009 wurden 7 534 Anfragen bearbeitet (2008: 6 824). Vergleichbare Sicherheitsanforderungen gelten auch für das Einreiseund AufAufenthaltsrecht von Ausländern. Das 2005 neu gefasste enthaltsverbote Aufenthaltsgesetz (AufenthaltG) 199 sieht vor, dass Personen, die gewaltbereit sind, terroristische Aktivitäten begehen oder unterstützen, keine Visa oder Aufenthaltsgenehmigungen erhalten oder einem Einreiseund Aufenthaltsverbot in Deutschland unterliegen. Zur Versagung der Einreise muss festgestellt werden, dass eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland besteht. 200 Aus rechtsstaatlichen Gründen reichen Vermutungen nicht aus. Um terroristischen oder gewaltbereiten Ausländern keinen Ausweisungen Ruheraum in Deutschland zu gewähren, wurden ferner die Regelausweisungstatbestände erweitert. Im Regelfall wird ausgewiesen, wer nach dem neuen Versagungsgrund nicht 198 SS 11 Nr. 1 StAG - zuletzt geändert durch Art. 3 G vom 19.8.2007, BGBl. I S. 1970. 199 Aufenthaltsgesetz (AufenthaltsG), BGBl. I S. 1953. 200 SS 5 Abs. 4 AufenthaltsG. 138 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 hätte einreisen dürfen. 201 Zur Feststellung von Versagungsgründen können die Ausländerbehörden den Verfassungsschutzbehörden der Länder und weiteren Sicherheitsbehörden die von ihnen erhobenen Personalien übermitteln. Die angefragten Behörden teilen der Ausländerbehörde unverzüglich mit, ob Versagungsgründe vorliegen. 202 2009 gingen 7 459 Anfragen bei der Verfassungsschutzbehörde ein (2008:6 824). Luftsicherheitsgesetz Der Verfassungsschutz wirkt nach SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG auch bei Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach SS 7 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG) 203 mit. Die gemeinsame Luftfahrtbehörde der Länder Berlin und Brandenburg und zugleich gemeinsame Luftsicherheitsbehörde führt danach auch die Zuverlässigkeitsüberprüfungen von Personen durch, die Zutritt zu den nicht allgemein zugänglichen Bereichen des Berliner Flughafens Tegel bzw. des im Land Brandenburg befindlichen Flughafens Schönefeld haben sollen. Hierfür bewertet die Luftsicherheitsbehörde die von der Polizei, aus dem Bundeszentralregister und vom Verfassungsschutz ü- bermittelten Informationen. Über die Verwendung im Bereich der Flughäfen entscheidet die Behörde selbst. 2009 wurden 6 572 Personen gemäß SS 7 LuftSiG durch den Verfassungsschutz überprüft (2008: 5 401). Atomgesetz Auch das Atomgesetz (AtomG) 204 sieht Zuverlässigkeitsüberprüfungen vor, an denen der Verfassungsschutz gemäß SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG mitwirkt. Da kerntechnische Anlagen im Hinblick auf mögliche unbefugte Handlungen besonders zu schützende Objekte darstellen, sind Sicherungsmaßnahmen auch in Form der Überprüfung von Personen erforderlich, die Zutritt zu den kerntechnischen Anlagen erhalten sollen. In Berlin werden die Personen überprüft, denen der Zutritt zum Forschungsreaktor des Helmholtz-Zentrums Ber201 SS 55 Abs. 2 AufenthaltsG. 202 SS 73 Abs. 2 u. 3 AufenthaltsG. 203 BGBl. I S. 78 vom 11.1.2005. 204 BGBl. I S. 1565 mit letzten Änderungen vom 27.7.2001 (BGBl. I S. 1950). AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ 139 lin gewährt werden soll. Weitere kerntechnische Anlagen sind nicht vorhanden. Die Überprüfung gemäß SS 12 b AtomG wird von der Senatsverwaltung für Gesundheit, Umwelt und Verbraucherschutz als zuständige atomrechtliche Behörde durchgeführt. Für die Prüfung der Zuverlässigkeit werden auch hier Auskünfte von der Polizei, der Verfassungsschutzbehörde und aus dem Bundeszentralregister eingeholt. Die Bewertung der übermittelten Erkenntnisse obliegt der atomrechtlichen Behörde. 2009 wurden durch den Verfassungsschutz 253 Personen überprüft (2008: 293). Seit 2005 gibt es gesetzliche Regelungen über die BeteiliWaffenund gung der Verfassungsschutzbehörden bei ZuverlässigkeitsSprengstoffgesetz überprüfungen nach dem Waffengesetz, dem Sprengstoffgesetz und der Bewachungsverordnung. Seit 1. September 2005 sind die Verfassungsschutzbehörden der Länder an der Überprüfung von Personen beteiligt, die gewerbsmäßig mit explosionsgefährlichen Stoffen umgehen oder den Verkehr mit solchen Stoffen betreiben wollen. 205 Zuständige Behörde für die Durchführung der Zuverlässigkeitsüberprüfung in Berlin ist das Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheit und technische Sicherheit. 2009 erfolgten 108 Anfragen (2008: 31). Wer gewerbsmäßig Leben und Eigentum fremder Personen Bewachungsbewachen will, bedarf einer Erlaubnis auf der Grundlage der verordnung Bewachungsverordnung durch die Gewerbeämter der Berliner Bezirke. In begründeten Einzelfällen können diese gemäß SS 9 Abs. 2 Nr. 2 der Bewachungsverordnung bei der örtlich zuständigen Verfassungsschutzbehörde anfragen, ob Erkenntnisse vorliegen, die für die Beurteilung der persönlichen Zuverlässigkeit der Antragsteller von Bedeutung sind. 2009 gingen keine Anfragen ein (2008: 2). 205 SSSS 7 u. 8 a Abs. 5 Nr. 4 Sprengstoffgesetz (SprengG), BGBl. I S. 3 518, zuletzt geändert durch Art. 1 des dritten ÄnderungsG vom 15.6.2005 (BGBl. I S. 1 676) Art. 35 des Gesetzes zur Umbenennung des BGS in Bundespolizei vom 21.7.2005 (BGBl. I S. 1 818). 140 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Überprüfung von Ebenfalls zu den Mitwirkungsangelegenheiten gehören auf Spätaussiedlern Grund des 7. Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenach Bundesvertriebenengesetz nengesetzes (BVFG) vom 16. Mai 2007 206 seit dem 24. Mai 2007 auch Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem BVFG. 207 (Neufassung des Bundesvertriebenengesetzes vom 10. August 2007, BGBl. I S. 1 902) Die bislang in SS 5 BVFG aufgeführten Gründe, die den Erwerb der Rechtsstellung als Vertriebener ausschließen, wurden erweitert. Diese Erweiterung wurde von der Bundesregierung u. a. damit begründet, dass es bislang keine Regelungen gab, die sicherstellen, dass Schwerkriminelle, gewaltbereite Extremisten und Terroristen nicht auf dem Weg des Verfahrens zur Aufnahme von Spätaussiedlern nach Deutschland kommen können. 208 Die Rechtsstellung als Spätaussiedler kann nach SS 5 Nr. 1 e BVFG nicht erwerben, wer nach einer durch tatsächliche Anhaltspunkte gerechtfertigten Schlussfolgerung - einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt, oder eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat, - bei der Verfolgung politischer Ziele sich an Gewalttätigkeiten beteiligt oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufgerufen oder mit Gewaltanwendung gedroht hat oder - Bestrebungen verfolgt oder unterstützt oder verfolgt oder unterstützt hat, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet sind, es sei denn, er macht glaubhaft, dass er sich von den früheren Handlungen abgewandt hat. Das Bundesverwaltungsamt, zuständig für das Aufnahmeverfahren von Spätaussiedlern, beteiligt zur Feststellung von 206 BGBl. I S. 748. 207 Neufassung des Bundesvertriebenengesetzes vom 10.8.2007; BGBl. I S. 1 902. 208 Bundesdrucksache 16/4017 vom 11.1.2007. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN - GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ 141 Ausschlussgründen neben dem Bundesnachrichtendienst, dem militärischen Abschirmdienst, dem Bundeskriminalamt, dem Zollkriminalamt auch das Bundesamt für Verfassungsschutz, wenn die zu überprüfende Person das 16. Lebensjahr vollendet hat. Das Bundesamt für Verfassungsschutz gleicht die vom Bundesverwaltungsamt übermittelten Daten mit dem "Nachrichtendienstlichen Informationssystem" (NADIS) ab und beteiligt im Falle einer Fundstelle die jeweilige Landesbehörde, wenn sie nachrichtengebende Stelle ist. 142 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Hintergrundinformationen 144 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 1 IDEOLOGIEN 1.1 Definition Extremismus Der Begriff Extremismus bezeichnet kein einheitliches Phänomen, sondern ist eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Bestrebungen, "die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen". 209 Die verfassungsmäßige Grenze des politischen Handelns ist in der Bundesrepublik Deutschland eindeutig festgelegt. Anlässlich des Verbots der "Sozialistischen Reichspartei" (SRP) bestimmte das Bundesverfassungsgericht 1952 den Kern des demokratischen Verfassungsstaates, die freiheitliche demokratische Grundordnung. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind zu rechnen: * die Achtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, vor allem des Rechtes der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, * die Volkssouveränität, * die Gewaltenteilung, * die Verantwortlichkeit der Regierung, * die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, * die Unabhängigkeit der Gerichte, * das Mehrparteienprinzip, * die Chancengleichheit aller politischen Parteien, * das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition. 210 Die Verfassungsschutzbehörden verwenden den Extremismusbegriff seit Anfang der 1970er Jahre in Abgrenzung zu dem Begriff des Radikalismus. Während extremistische Positionen die Grenze der verfassungsmäßigen Ordnung überschreiten, bezeichnet der Radikalismus Auf209 Uwe Backes / Eckhard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 4. Auflage Bonn 1996, S. 45. 210 Vgl. BVerfGE 2, 1 ff; BverfGE 5, 85 ff.; SS 6 VSG Bln. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - IDEOLOGIEN 145 fassungen, die zwar grundlegende systemoppositionelle Positionen vertreten, die sich aber mit ihrer fundamentalen Kritik innerhalb der Grenzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewegen. 1.2 Islamistische Ideologie Islamismus lässt sich als der Versuch politischer Bewegungen des 20. Jahrhunderts definieren, den Islam zu ideologisieren und dort, wo dies möglich ist, eine islamistische Herrschaftsordnung zu errichten oder die Gesellschaft zu islamisieren. Islamisten begreifen den Islam insofern nicht allein als eine Religion, sondern als eine Herrschaftsideologie und als ein Gesellschaftssystem und versuchen ihre Vorstellungen auf unterschiedliche Weise durchzusetzen. Das zentrale Ideologem des Islamismus ist die Behauptung, dass der Islam nicht allein "Religion und Welt" verkörpere, sondern darüber hinaus eine unteilbare Einheit von "Religion" und "Politik" bilde. Dem hieraus abgeleiteten politischen Anspruch versuchen Islamisten mit Slogan, der Islam sei "Religion und Staat" (Arabisch "al-islam din wa daula"), Nachdruck zu geben. Dieses ca. 100 Jahre alte Schlagwort wird in Bilddarstellungen häufig mit Koran (für Religion) und Schwert (für Politik) symbolisiert. Kennzeichnend für einige islamistische Gruppen ist ferner die Favorisierung frühislamischer und mittelalterlicher Herrschaftskonzepte - etwa ein globales Kalifat, in dem die Führungsperson (Kalif) zugleich die weltliche und die religiöse Herrschaft ausübt. Darüber hinaus begreifen Islamisten die islamische Rechtsund Werteordnung Scharia nicht allein als ein Recht, sondern als ein politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip. So werben sie mit dem Schlagwort der "Anwendung der Scharia" meist für eine vollständige Umsetzung der Bestimmungen des islamischen Rechts. Schließlich versuchen insbesondere gewaltorientierte islamistische Gruppen, Gewalt durch Bezüge auf die Religion zu legitimieren. Hierbei reduzieren sie den Begriff des Jihad (wörtl. Bemühung) vorrangig auf die Bedeutung von Kampf und kriegerischer Handlung und verstehen ihn nicht - wie im islamischen Recht fixiert - als eine vorrangig zum Zwecke der Verteidigung muslimischen Territoriums zulässige Methode. Vielmehr wird der Jihad zu einer offensiven militanten Kampfform uminterpretiert und zu einer vermeintlich individuellen Pflicht eines jeden Muslims erklärt. 146 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Trotz gemeinsamer ideologischer Merkmale folgen die islamistischen Gruppen keinem einheitlichen Konzept. Der Islamismus umfasst vielmehr unterschiedliche bis konkurrierende Vorstellungen und Agenden, die meist von den differierenden politischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Herkunftsländer bestimmt werden. So verketzern Einige etwa Demokratie als vermeintlich unislamisch, während Andere sich an Wahlen in ihren Heimatländern beteiligen. Insofern gibt es keinen "Einheits-Islamismus". Abgesehen von den gewaltorientierten Netzwerken um "al-Qa'ida" existiert auch nicht so etwas wie eine "islamistische Internationale". Gewaltorientierung In der Frage des Einsatzes von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele bestehen zwischen den Organisationen erhebliche Unterschiede. Das Spektrum reicht von der Ablehnung jeglicher Gewaltanwendung bis zur pseudoreligiösen Legitimation von Terrorismus. Zwei Hauptgruppen mit deutlich unterschiedlichen Zielrichtungen sind zu unterscheiden: Die erste und von der Anzahl her größte Kategorie bilden die nicht-gewaltorientierten Islamisten, die auch als "legalistische Islamisten" bezeichnet werden. Hierzu gehören Gruppen, die entweder nie gewaltorientiert waren (etwa die türkische "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, IGMG) oder die häufig nach langen Phasen des Terrorismus - der Gewalt inzwischen abgeschworen haben (etwa die arabische "Muslimbruderschaft", MB). Das Fehlen der Gewaltorientierung gilt insbesondere für die deutschen Ableger der "legalistischen Islamisten". Die zweite Kategorie bilden die gewaltorientierten Islamisten, die sich wiederum in drei Unterkategorien einteilen lassen. Zur ersten Unterkategorie gehören Gruppen, die Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele zwar befürworten, selbst aber vorrangig keine Gewalt ausüben. Dies betrifft etwa die in Deutschland seit Januar 2003 mit einem Betätigungsverbot belegte "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung", HuT). Zur zweiten Unterkategorie gehören Gruppen, die ihre terroristischen Aktivitäten vorrangig auf den Nahen Osten beschränken. Dies gilt etwa für die libanesische "Hizb Allah" ("Partei Gottes") und die palästinensische "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS). HINTERGRUNDINFORMATIONEN - IDEOLOGIEN 147 Die dritte Unterkategorie gewaltorientierter Islamisten bilden schließlich transnational agierende Terrornetzwerke. Hierzu gehört in erster Linie das Netzwerk "al-Qa'ida" ("die Basis"), von dem inzwischen mehrere regionale Zweige - "al-Qa'ida im islamischen Maghreb" (AQM), "Islamischer Staat Irak" (ISI) oder "al-Qa'ida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) - existieren. Zu den transnationalen terroristischen Netzwerken gehören auch die kurdischen "Ansar al-Islam" bzw. "Ansar al-Sunna" (AAI bzw. AAS) und die "Islamische Jihad-Union (IJU). Die Bedeutung traditioneller Islamismus-Varianten Innerhalb des islamistischen Spektrums erweist sich der Salafismus als eine der weltweit am schnellsten anwachsenden Strömungen. Salafismus bezeichnet eine unbedingte Orientierung an der muslimischen Urgesellschaft vor 1 400 Jahren, wie sie im siebten Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel existierte. Salafisten glauben, in den religiösen Quellen des Islam ein detailgetreues Abbild dieser idealisierten islamischen Frühzeit gefunden zu haben und versuchen, die Gebote Gottes wortgetreu in die Tat umzusetzen. Dies mündet häufig in die wörtliche Auslegung des Koran, der Heiligen Schrift des Islam sowie der Sunna (wörtl. Brauch), der Tradition des Propheten und Religionsstifters Muhammad (570-632). Die Schriftgläubigkeit von Salafisten und ihr meist wortgetreues Verständnis religiöser Texte können dazu führen, dass frühislamische Herrschaftsund Rechtsformen befürwortet werden. Diese sind mit den Werten unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar. Im Gegensatz zu den übrigen islamistischen Gruppen in Deutschland, die wie die IGMG, MB, "Hizb Allah", HAMAS und HuT mehrheitlich nicht salafistisch ausgerichtet sind, verkörpert der Salafismus eine eher traditionelle Islamismus-Variante. Hierzu gehört neben der strikten Orientierung an der Gesellschaftsform des ersten muslimischen Gemeinwesens in Medina (gegr. 622) auch ein Exklusivanspruch des eigenen Islam-Verständnisses gegenüber jeglichen anderen Islam-Interpretationen. So versuchen Salafisten, die Scharia meist in ihrer ursprünglichen Form durchzusetzen. Sie beharren darauf, dass sämtliche Bestimmungen der Scharia zeitlos seien und deshalb keinesfalls neu interpretiert oder an heutige Lebensumstände angepasst werden dürften. Insbesondere Muslime werden von Salafisten aufgefordert, salafistische Islam-Interpretationen zu übernehmen und entsprechende Vorschriften 148 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 minutiös zu befolgen. Hierzu schreiben sie ein umfassendes Regelwerk vor. Dieses betrifft das Tragen sogenannter "islamischer Kleidung" und die Übernahme alltäglicher Handlungen aus der Zeit des Propheten wie auch das Befolgen einer strikten Geschlechtertrennung und die Abgrenzung von einer nicht-muslimischen Umwelt. Hierzu gehört vor allem die - von den meisten anderen islamistischen Gruppen so nicht praktizierte - Diffamierung als "Ungläubige" ("kuffar"). Diese zielt bei Salafisten nicht allein auf Juden und Christen, sondern auch auf jene Muslime, die ihre politischen und gesellschaftlichen Auffassungen nicht teilen. Entsprechend gibt es einschlägige Aufforderungen zur Kontaktvermeidung und zum Abbruch der Beziehungen zu sämtlichen so genannten "Ungläubigen" sowie die Zurückweisung jeglicher Integrationskonzepte und Warnungen vor dem Zusammenleben von Nicht-Muslimen und Muslimen. In Abgrenzung zur Strömung des "puristischen Salafismus", die keine politischen Zielsetzungen verfolgt, gibt es im Salafismus eine politische und eine jihadistische Strömung. Diese unterscheiden sich in der Wahl ihrer Mittel prinzipiell voneinander. Der "politische Salafismus" stützt sich auf intensive Propagandatätigkeit zur Verbreitung seiner Ideologie - die so genannte "Da'wa" (Missionierung). "Jihadistische Salafisten" - etwa von "al-Qa'ida" inspirierte transnationale Terroristen - setzen hingegen auf Gewaltanwendung. Die Übergänge zwischen dem "politischen Salafismus" und dem "jihadistischen Salafismus" können allerdings fließend sein. Das Gefährdungspotenzial salafistischer Ideologie besteht in ihrer radikalisierungsfördernden Wirkung - gerade auch auf Konvertiten, die als "Islam-Anfänger" häufig nicht zu erkennen vermögen, dass es sich hierbei um eine überaus strenge Glaubensauslegung handelt. 1.3 Ideologie des Rechtsextremismus Mit der Sammelbezeichnung Rechtsextremismus verbindet sich keine geschlossene politische Ideologie. Der Begriff umschreibt eine vielschichtige politische und soziale Gedankenwelt und ein Handlungssystem, das in der Gesamtheit seiner Einstellungen und Verhaltensweisen auf die Beseitigung oder nachhaltige Beeinträchtigung demokratischer Rechte, Strukturen und Prozesse gerichtet ist. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - IDEOLOGIEN 149 Rechtsextremistischen Strömungen sind in jeweils unterschiedlichen Gewichtungen und Ausprägungen folgende Inhalte gemeinsam: 211 * Ablehnung des Gleichheitsprinzips: Die Ideologie der Ungleichheit äußert sich in der gesellschaftlichen Diskriminierung bestimmter Menschen und Gruppen aufgrund ethnischer, körperlicher und geistiger Unterschiede. * Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit: Die eigene Nation oder "Rasse" wird zum obersten Kriterium der Identität erhoben. Ihr wird ein höherwertiger Status zugeschrieben, was die Abwertung und Geringschätzung von nicht zur eigenen "Nation" oder "Rasse" gehörenden Menschen und Gruppen zur Folge hat. * Antipluralismus: Der pluralistische Interessenund Meinungsstreit wird als die Homogenität der Gemeinschaft zersetzend angesehen. Rechtsextremisten streben eine geschlossene Gesellschaft an, in der Volk und Führung eine Einheit bilden. * Autoritarismus: In demokratischen Ordnungssystemen ist der Staat ein Instrument der Selbstorganisation der Gesellschaft, das Wechselbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft vorsieht. Im autoritären Staatsverständnis steht der Staat in einem einseitig dominierenden Verhältnis über der Gesellschaft. Im Phänomenbereich des Rechtsextremismus treten zahlreiche ideologische Überschneidungen und Mischformen auf. Die Überbewertung der eigenen Nation im Vergleich zu anderen Nationen wird als Nationalismus bezeichnet. Der Rassismus behauptet die Ungleichwertigkeit von "Menschenrassen" aufgrund ihrer unveränderlichen biologischen und sozialen Anlagen. Rassistische Ideologien leiten daraus ein "naturgegebenes" Recht zur Ausgrenzung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen ab. Eine besondere Form des Rassismus ist der Antisemitismus. Darunter versteht man die Feindschaft gegenüber den Juden als Gesamtheit aufgrund stereotypischer rassistischer, sozialer, politischer und / oder religiöser Vorurteile. Ein weiteres Element des Rechtsextremismus ist der Neonazismus, der durch seinen Bezug zum historischen Phänomen des Nationalsozialismus gekennzeichnet ist. Eine rechtsextreme Ideologie wird als neonazistisch bezeichnet, wenn sie an den historischen Nationalsozialismus anknüpft. 211 Vgl. Armin Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 2. Auflage München 2000, S. 11 - 16. 150 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 1.4 Ideologie des Linksextremismus Linksextremismus ist eine Sammelbezeichnung für Ideologien oder Ideologieelemente, die sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richten und auf eine "herrschaftsfreie Ordnung" 212 abzielen. Bei letzterer handelt es sich um ein mit politischer, sozialer und ökonomischer Freiheit ausgestattetes Gemeinwesen gleicher Menschen. Sie kann direkt oder über Zwischenstufen wie etwa im Marxismus-Leninismus (Diktatur des Proletariats) erreicht werden. Diese Ordnung reicht weit über das in demokratischen Verfassungsstaaten akzeptierte Prinzip der menschlichen Fundamentalgleichheit hinaus. Linksextremistische Ideologien richten sich gegen zentrale Grundrechte und Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung wie Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit, Parlamentarismus und Gewaltenteilung. Konkret lehnen Linksextremisten die herrschende Staatsordnung als imperialistisch oder kapitalistisch ab und unterstellen ihr, sie diene lediglich dazu, die Bevölkerung strukturell zu unterdrücken. Gleichzeitig, so die extremistische Kritik, stelle die herrschende Ordnung die Herrschaft einer gesellschaftlichen Elite sicher. Linksextremistisches Hauptziel ist daher, die Staatsordnung durch einen revolutionären Akt zu überwinden. Allen linksextremistischen Ansätzen ist gemein, dass sie eine "herrschaftsfreie Ordnung" anstreben. Sie unterscheiden sich aber stark voneinander, wenn es in der Umsetzung darum geht, wie diese erreicht werden kann. Anarchisten Anarchisten haben kein zentrales Theoriegebäude ausgebildet. Ihre ideologische Position stellt eine Überspitzung und Fortführung des linksextremistischen Gedankens der Herrschaftsfreiheit dar. Anarchisten streben die Auflösung sämtlicher staatlicher Einrichtungen an und wollen diese durch dezentrale Selbstverwaltungseinheiten ersetzen. Mit der Betonung von Autonomie und Selbstorganisation weist anarchistisches Denken ideologische Schnittmengen mit autonomen TheorieVersatzstücken auf. Bei der Abschaffung staatlicher Institutionen sehen Anarchisten auch den Einsatz von Gewalt als gerechtfertigt an. 212 Vgl. u. a. Uwe Backes / Eckard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1996, S. 60. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - IDEOLOGIEN 151 Autonome Autonomen fehlt es an einem geschlossenen theoretischen Konstrukt. Verbindendes ideologisches Element ist die Ablehnung der bestehenden staatlichen Ordnung und das Streben nach Zerschlagung des demokratischen Verfassungsstaates. In ihr Denken beziehen Autonome kommunistische und anarchistische Versatzstücke mit ein. Insbesondere mit dem anarchistischen Denken besteht eine Schnittmenge in der autonomen Vorstellung von der "Politik der ersten Person". Das Ziel, den demokratischen Verfassungsstaat zu zerschlagen und die Methode der Politik der "ersten Person" werden selten in theoretische Erwägungen übersetzt. Stattdessen schlagen sie sich vor allem in aktionistischen Taten nieder. In aller Regel befürworten Autonome den Einsatz von Gewalt und wenden sich damit gegen das staatliche Gewaltmonopol. Einige üben selbst Gewalt aus, um bestimmte Ziele zu erreichen. Andere üben Gewalt um "ihrer selbst willen" aus. Eine besondere Form ist hier die so genannte Massenmilitanz. Dabei begehen zumeist anlassbezogen gebildete Gruppen von Autonomen Straftaten im öffentlichen Raum. Kommunisten Kommunisten sind orthodoxer in der Lehre als Anarchisten und Autonome. Sie richten sich bei der Auswahl der zu thematisierenden Politikfelder strategischer aus und sind organisierter in der Betreuung ihrer Anhänger. Ausgangsbasis ist die Annahme des gesellschaftlichen Klassenkampfes. In unterschiedlichen Ausprägungen strebt der Kommunismus eine klassenlose Gesellschaft an. Dabei fordert er, dass sich das Individuum den revolutionären Zielen und den diese anstrebenden Organisationen völlig unterordnet. Schließlich soll das Proletariat die herrschende Elite im "Klassenkampf" stürzen. Über Revolutionen und interrevolutionäre Zwischenstufen sei die klassenlose Gesellschaft erreichbar. Von der Ideologie des Kommunismus als klassenloser Gesellschaft ist der real existierende Sozialismus als Übergangsphase vom Kapitalismus zum klassenlosen Gemeinwesen zu unterscheiden. Der Begriff des real existierenden Sozialismus stellt keine eigenständige ideologische Variante dar, er beschreibt vielmehr die gesellschaftlichen Gegebenheiten sozialistischer Staaten: "Kommunist zu sein heißt, [...] für die Einheit und Reinheit des MarxismusLeninismus zu kämpfen und gemäß der Lehren von Marx, Engels, Lenin und 152 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Stalin gegen alle Angriffe der bürgerlichen Ideologie und des Revisionismuss und Reformismus innerhalb der Arbeiterklasse mit allen Mitteln zu verteidigen und zu vertreten, sich zur proletarischen Revolution, zur Diktatur des Proletariats und zum proletarischen Internationalismus zu bekennen." 213 213 Internetauftritt der KPD, Aufruf am 10.9.2002. HINTERGRUND-ISLAMISTISCHE TERRORISTEN UND GEWALTORIENTIERTE ISLAMISTEN 153 2 ISLAMISTISCHE TERRORISTEN UND GEWALT-ORIENTIERTE ISLAMISTEN 2.1 Transnationale Terrornetzwerke 2.1.1 "Ansar al-Islam" ("Anhänger des Islam") ÜBERSICHT Abkürzung AAI Entstehung / Gründung 2001 Irak (als Nachfolgeorganisation des "Jund al-Islam" / "Heer des Islam") Organisationsstruktur Transnationales Netzwerk Die 2001 im Nordirak aus verschiedenen Splittergruppen entstandene Organisation "Ansar al-Islam" (AAI) besteht hauptsächlich aus islamistischen Kurden, die die Errichtung eines islamistischen kurdischen Staatswesens im Nordirak nach dem Vorbild des früheren TalibanRegimes in Afghanistan anstreben. Hierzu bekämpft sie mit Waffengewalt die laizistischen kurdischen Gruppen "Patriotische Union Kurdistan" (PUK) und die "Kurdische Demokratische Partei" (KDP). Ihre terroristischen Aktionen richtet sie seit 2003 auch gegen die alliierten Streitkräfte im Irak sowie gegen dort tätige humanitäre Hilfsorganisationen. Von 2004 an agierte die "Ansar al-Islam" zwischenzeitlich unter der Bezeichnung "Jaish Ansar al-Sunna" ("Armee der Anhänger der Sunna"; kurz: "Ansar al-Sunna"; AAS). Mittlerweile ist sie allerdings wieder zu ihrem ursprünglichen Namen zurückgekehrt. 214 Im Irak, wo sie in den letzten Jahren erheblich an Zulauf gewann, fungiert die AAI als Dachorganisation und als Sammelbecken für nicht-kurdischstämmige ausländische "Mujahidin". 214 Vgl. "al-Hayat" vom 31.1.2008, S. 3. 154 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Ideologisch ist die AAI den jihadistischen Salafisten 215 zuzuordnen. Sie propagiert die Bekämpfung von Juden und Christen und befürwortet die Umsetzung frühislamischer Herrschafts-, Rechtsund Gesellschaftsformen. Die Organisation, die bis 2004 von dem in Norwegen lebenden Mullah Krekar angeführt wurde, unterhält zur logistischen und finanziellen Unterstützung auch in Westeuropa ein Netzwerk. In Deutschland fielen Anhänger nicht allein durch werbende und unterstützende Tätigkeiten auf, sondern auch durch die Vorbereitung terroristischer Aktivitäten. Mehrere Personen haben die AAI durch Logistik, Geldbeschaffung, die Einschleusung irakischer Staatsbürger sowie durch die Rekrutierung von "Jihad-Kämpfern" für den Irak-Krieg unterstützt. Von diesen Personen wurden im Juli 2008 drei Personen aus Berlin, Stuttgart und Augsburg vom OLG Stuttgart wegen Mitgliedschaft in dieser terroristischen Vereinigung und wegen eines Anschlagsversuchs auf den ehemaligen irakischen Ministerpräsidenten Dr. Iyad Allawi zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. 216 Nach Warnhinweisen der deutschen Sicherheitsbehörden wurde Allawis Teilnahme an einer Veranstaltung in Berlin abgesagt, so dass es zu keiner konkreten Gefahrensituation für ihn kam. 2.1.2 "Al-Qaida" und "Mujahidin-Netzwerke" Der Begriff "Mujahidin" bezeichnet pan-islamistisch orientierte Kämpfer unterschiedlicher ethnischer Herkunft, die an Kampfeinsätzen etwa in Afghanistan, Bosnien, Tschetschenien oder im Kaschmir teilgenommen haben. Das Entstehen der - auch als Jihadisten bezeichneten - "Mujahidin" geht auf den Afghanistan-Krieg zurück, als sich 1979 freiwillige "Kämpfer" dem - unter dem Motto des Jihad geführten - Krieg gegen die sowjetische Besatzung anschlossen und dafür vor allem in afghanischen und pakistanischen Militärlagern ausgebildet wurden. Die Lage im von Krieg und Bürgerkrieg gezeichneten Afghanistan bot ideale Bedingungen für die ideologische Schulung und terroristische Ausbildung der "Mujahidin". Hierzu gehörten ein weitgehend rechtsfreier Raum, Kampfgebiete sowie die Tatsache, dass sich im Bürger215 Zum Jihad-Salafismus vgl. das Kapitel "Islamistische Ideologie", S. 144. 216 Az. OLG Stuttgart: 5-2 StE 2/05. Das Urteil ist seit dem 23.9.2009 rechtskräftig. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 24 f. HINTERGRUND-ISLAMISTISCHE TERRORISTEN UND GEWALTORIENTIERTE ISLAMISTEN 155 krieg 1996 die islamistischen "Taliban-Kämpfer" durchsetzten. Die terroristischen Aktivitäten der "Mujahidin" richteten sich ab 1992 vor allem gegen Ägypten und Algerien, nachdem sich einzelne Kämpfer des Afghanistan-Kriegs den dortigen militanten islamistischen Gruppierungen angeschlossen hatten. Im Zentrum der "Mujahidin" steht die von Usama Bin Ladin Ende der 80er Jahre gegründete Organisation "al-Qaida" ("Die Basis"), die sich vermutlich Mitte der 90er Jahre mit Teilen der militanten ägyptischen Gruppen "al-Jihad al-islami" ("Der islamische Kampf") und "al-Jama'a al-islamiya" 217 ("Die islamische Gemeinschaft") zu einem transnationalen Netzwerk zusammenschloss. Als zweiter Mann hinter Bin Ladin gilt der ehemalige Führer der ägyptischen Gruppe "al-Jihad al-islami", Ayman al-Zawahiri. Programmatische Grundlage der internationalen Anschläge von "al-Qaida" war der von Usama Bin Ladin 1998 mitunterzeichnete 218 Aufruf der "Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler", den die Verfasser als ein religiöses "Rechtsgutachten" ("fatwa") 219 deklarierten. Darin waren die Tötung von Amerikanern zur individuellen Pflicht eines jeden Muslims erhoben, die Stationierung von US-Truppen in Saudi-Arabien für unzulässig erklärt und als Ziel die Verdrängung der USA von der Arabischen Halbinsel genannt worden. Hierzu sollten die USA als Schutzmacht Saudi-Arabiens angegriffen und - wie bereits die Anschläge auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania 1998 sowie auf das Marineschiff USS Cole 2000 zeigten - möglichst viele US-Bürger getötet werden. 217 Hierbei handelt es sich um die hocharabische Schreibweise. Im ägyptischen Dialekt werden die Gruppierungen phonetisch als "al-Gihad al-islami" und "al-Gama'a alislamiya" wiedergegeben. 218 Zu den fünf Unterzeichnern gehörten Usama Bin Ladin ("al-Qaida"), Ayman alZawahiri ("al-Jihad al-islami"), Abu Yasir Rifa'i Ahmad Taha ("al-Jama'a alislamiya"), Mir Hamza (Generalsekretär der "Jam'iyat-ul-Ulama Pakistan") und Fazlur Rahman (Chef der "Jihad"-Gruppe, Bangladesch). 219 Diese Fatwa ist aus Sicht der islamischen Theologie nicht gültig, da der federführende Usama Bin Ladin als Laie weder die theologische Qualifikation noch die religiöse Autorität zur Erstellung von Rechtsgutachten, geschweige denn zur Ausrufung des Jihad im Namen der Muslime besitzt. Entsprechend wurden die Anschläge vom 11. September 2001 von einem Großteil der islamischen Religionsgelehrten als nicht mit dem Islam vereinbar zurückgewiesen, da die islamische Religion sowohl den Mord an unschuldigen Zivilisten als auch den Selbstmord verbiete. Vgl. Hanspeter Mattes: Ein Jahr danach. Der islamistische Terrorismus und seine Bekämpfung. In: "Herder Korrespondenz 56" Nr. 9/2002, S. 444 - 448. 156 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 "Das Urteil, die Amerikaner und ihre Alliierten, Zivilisten und Militärs gleichermaßen zu töten, wo immer ihm dies möglich ist, ist eine individuelle Pflicht für jeden Muslim, der hierzu in der Lage ist, bis die Aqsa-Moschee [in Jerusalem] und die Heilige Moschee [in Mekka] von ihnen befreit sind und bis ihre Armeen das gesamte Territorium des Islam verlassen haben, geschlagen und unfähig, irgendeinen Muslim noch zu bedrohen." 220 Statt Anschlägen von "al-Qaida" standen seit 2004 terroristische Aktivitäten anderer Mujahidin-Organisationen, eigenständig operierender Kleingruppen oder radikalisierter Einzeltäter im Vordergrund. Auch wenn sie nicht organisatorisch mit "al-Qaida" verbunden sind, sind sie von der "al-Qaida"-Ideologie "inspiriert". Jüngstes Beispiel dafür ist der Nigerianer Umar Farouk A., der am 25. Dezember versuchte, in Detroit (USA) einen Sprengstoffanschlag auf ein US-Flugzeug zu verüben. Passagiere und Besatzungsmitglieder überwältigten den Attentäter, der nach der planmäßigen Landung festgenommen wurde. Am 28. Dezember wurde eine Tatbekennung mit dem Titel "Operation des Bruders und Mujahidis Umar al-Faruq al-N. - Vergeltung der amerikanischen Feindseligkeiten gegen den Jemen" der "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) in einem militant-islamistischen arabischsprachigen Internetforum festgestellt. Der Anschlag wird darin als Erfolg und legitime Vergeltung sowie als Reaktion auf die "bösen amerikanischen Feindseligkeiten gegen die arabische Halbinsel" dargestellt. Für einen Teil der Anschläge sind so genannte "homegrown"-Terroristen verantwortlich. Dabei handelt es sich um radikalisierte Muslime der zweiten und dritten Einwanderergeneration oder radikalisierte Konvertiten. Obwohl diese Personen in europäischen Ländern geboren oder aufgewachsen sind, bekämpfen sie das westliche Wertesystem mit terroristischen Mitteln. Die Anschläge von Madrid (2004) und London (2005) sowie das Attentat auf den niederländischen Filmemacher Theo van Gogh (2004) wurden durch "homegrown"-Täter begangen. In Deutschland wurden 2007 zwei Konvertiten und zwei hier lebende Personen türkischer Herkunft wegen der Planung von Anschlägen festgenommen und am 4. März 2010 in Düsseldorf zu langjährigen Haftstrafen verurteilt (so genannte "Sauerland-Gruppe" 221). Auch der deutsche Kon220 Vgl. Nass Bayan al-Jabha al-islamiya al-alamiya li-Jihad al-Jahud wa'l-Salibiyin. In: "al-Quds al-arabi" vom 23.2.1998. Eine englische Übersetzung findet sich im Internet unter www.fas.org/irp/world/para/docs/ 980223-fatwa.htm. 221 Zum Prozess gegen die Mitglieder der "Sauerland-Gruppe" vgl. S. 21. HINTERGRUND-ISLAMISTISCHE TERRORISTEN UND GEWALTORIENTIERTE ISLAMISTEN 157 vertit Eric B. 222 und der aus Deutschland stammende Türke Cüneyt C. 223 sind Beispiele für in Deutschland radikalisierte Jihadisten. Eric B. hält sich mutmaßlich seit Herbst 2007 bei der IJU im pakistanischafghanischen Grenzgebiet auf. Cüneyt C. tötete sich im März 2008 bei einem Selbstmordanschlag in Afghanistan, mit dem er vier Soldaten tötete und zahlreiche Personen verletzte. Bei den regionalen "al-Qaida"-Organisationen, die überwiegend unabhängig agieren, gab es folgende Entwicklungen: Die "al-Qaida im Irak", bezeichnet sich seit Oktober 2006 als "Islamischer Staat Irak". Die Anhänger eint das Ziel, die alliierten Besatzungstruppen, die irakische Regierung sowie Schiiten und Kurden zu bekämpfen. Obwohl seit 2007 infolge erhöhten Verfolgungsdrucks sowie verbesserter Zusammenarbeit zwischen dem irakischen Staat, den USTruppen und zentral-irakischen Stämmen ein spürbarer Rückgang terroristischer Gewaltakte festzustellen ist, beging der "Islamische Staat Irak" 2009 eine Reihe besonders verlustreicher Anschläge. Ziele waren die Zivilbevölkerung, irakische Sicherheitskräfte sowie Angehörige der so genannten "Erweckungsräte" ("Majalis al-Sahwa" oder "alSahawat"). 224 Vermutlich versucht der "Islamische Staat Irak" durch dieses Vorgehen, die interkonfessionellen Auseinandersetzungen erneut anzufachen. Anschluss an das Terrornetzwerk "al-Qaida" fand im Januar 2007 die algerische "Groupe Salafiste pour la Predication et le Combat" (GSPC), 225 als sie ihre Umbenennung in "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQM) verkündete. Sie unterstrich damit eine stärkere internationale Ausrichtung und ist seither der zentrale Gewaltakteur in der Region. Mit der Umbenennung näherte sich der Modus Operandi bei der Durchführung von Anschlägen dem der "al-Qaida" an. Die Anschläge richteten sich nunmehr verstärkt gegen westliche Ausländer. Beispiele 222 Zu Eric B. vgl. S. 13. 223 Zum Selbstmordanschlag von Cüneyt C. im März 2008 auf eine Militäreinrichtung in Afghanistan vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 9 ff. 224 Bei diesen "Erweckungsräten" - auch als "Sahwa-Räte" bezeichnet - handelt es sich um den Zusammenschluss lokaler bewaffneter, primär sunnitischer Stammeskräfte und Bürgerwehren, die mit den Koalitionstruppen gegen den "Islamischen Staat Irak" zusammenarbeiten. 225 "Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf". 158 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 hierfür sind die gezielte Tötung eines US-Amerikaners in Mauretanien am 23. Juni sowie die Tötung einer britischen Geisel am 31. Mai. Die Ermordung des Briten erfolgte erstmals im Zusammenhang mit politischen Forderungen. Bisher hatten bei Geiselnahmen der AQM monetäre Zielsetzungen im Vordergrund gestanden. Die Ende Januar durch den Zusammenschluss der "al-Qaida im Jemen" (AQJ) und der saudischen "al-Qaida"-Zelle entstandene "al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel" (AQAH) hat sich im Laufe des Jahres zu einer schlagkräftigen Terrororganisation entwickelt. Im Verlauf des Jahres beging sie einige spektakuläre Anschläge und Anschlagsversuche auf Ausländer in der Region sowie ein Mitglied der saudi-arabischen Königsfamilie. Auch für den versuchten Sprengstoffanschlag auf ein USamerikanisches Flugzeug in Detroit am 25. Dezember durch den nigerianischen Staatsangehörigen Umar Farouk A. übernahm die AQAH in einem Selbstbezichtigungsschreiben die Verantwortung. Dies würde eine signifikante Änderung ihres Modus Operandi bedeuten, da sich gewaltsame Aktionen der AQAH bislang auf die Arabische Halbinsel beschränkten. Eine durch "al-Qaida" inspirierte Gruppe ist die "Islamische Jihad-Union" (IJU). Die IJU wurde 2002 als Abspaltung von der "Islamischen Bewegung Usbekistan" (IBU) gegründet. Ihre Führung verfügt über Kontakte zu "al-Qaida" und ist von deren Ideologie beeinflusst. Die Mitglieder der IJU verstehen sich als Mujahidin, die bereit sind, ihr Leben im Kampf gegen die "Ungläubigen" und zur Verteidigung der islamischen Welt einzusetzen. Zunächst verfolgte die IJU regionale Ziele, weitete aber ihren zunächst auf Usbekistan beschränkten Aktionsradius seit 2005 aus und orientiert sich nun an einer transnationalen JihadIdeologie. In Deutschland erlangte die Gruppierung im Zusammenhang mit der "Sauerland-Gruppe" 2007 Aufmerksamkeit, die ihre Anschläge im Auftrag der IJU geplant haben. Auch die "Islamische Bewegung Usbekistan" (IBU) ist von der "alQaida"-Ideologie inspiriert. Sie wurde 1997 gegründet, verfolgte ursprünglich eine regionale Agenda und strebte den Sturz des usbekischen Präsidenten Karimov in ihrem Herkunftsland an. Seit 2000 fand jedoch eine zunehmende Internationalisierung ihrer Ziele statt. Die IBU operiert hauptsächlich im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet. In der Bundesrepublik ist sie bislang vor allem durch Veröffentlichungen deutschsprachiger Videos der beiden aus Bonn stammenden Brüder Monir und Yassin C. bekannt geworden. HINTERGRUND-ISLAMISTISCHE TERRORISTEN UND GEWALTORIENTIERTE ISLAMISTEN 159 Zu den Mujahidin gehören auch die Kämpfer des im Oktober 2007 gegründeten "Kaukasischen Emirats" im südlichen Russland. Während sie zunächst hauptsächlich in Tschetschenien aktiv waren, haben sie ihre bewaffneten Operationen auf den gesamten Nordkaukasus, hier insbesondere auf Dagestan und Inguschetien, und bis in den russischen Kernraum ausgedehnt. Bei zwei folgenschweren Anschläge kamen dort mehr als 60 Menschen ums Leben, Hunderte wurden verletzt. Am 27. November 2009 brachte eine Bombenexplosion einen Schnellzug im Nordwesten Russlands zum Entgleisen und am 29. März 2010 zündeten zwei junge Selbstmordattentäterinnen aus dem Kaukasus in der Moskauer U-Bahn im Berufsverkehr getrennt ihre Sprengsätze. Der Anführer des "Kaukasischen Emirats" Dokku Umarov - selbsternannter "Emir der kaukasischen Völker" - verfolgt eine jihadsalafistische Ideologie. Zu Feinden erklärte er die Russische Föderation, die USA, Großbritannien, Israel sowie alle, die einen angeblichen "Krieg gegen den Islam" führen. Die Vertreibung der "Ungläubigen" nicht nur aus dem Kaukasus, sondern vom gesamten historischen Boden der Muslime, betrachtet Umarov als zentrales Ziel. 2.2 Regional gewaltausübende Islamisten 2.2.1 "Hizb Allah ("Partei Gottes") ÜBERSICHT Entstehung / Gründung 1982 Beirut Mitgliederzahl Bund: ca. 900 (2008: ca. 900) Berlin: ca. 180 (2008: ca. 180) Veröffentlichungen "Al-Ahd - Al-Intiqad" ("Die Verpflichtung - Die Kritik") (überregional, wöchentlich) "Al-Manar-TV" ("Der Leuchtturm") Die schiitisch-islamistische "Hizb Allah" ("Partei Gottes") wurde 1982 nach dem Einmarsch israelischer Truppen in den Libanon gegründet. Aus ideologischen, regionalpolitischen und konfessionellen Motiven wird die hierarchisch strukturierte Bewegung vom Iran und von Syrien unterstützt, die sie als militärisches Drohpotenzial vor allem gegenüber Israel einsetzen. 160 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Aus dieser umfassenden militärischen und finanziellen Unterstützung und ihrem Kampf gegen die israelische Besatzung resultiert eine Sonderstellung der "Hizb Allah" im Libanon. Als einzige der ehemaligen Milizen des libanesischen Bürgerkriegs (1976 - 1989) unterhält sie weiter einen bewaffneten Arm, den so genannten "Islamischen Widerstand" ("al-Muqawama al-islamiya"). 226 Unter ihrem Generalsekretär Hassan Nasrallah negiert die "Hizb Allah" das Existenzrecht Israels und propagiert den - von ihr als "legitimen Widerstand" bezeichneten - bewaffneten Kampf gegen Israel. So lehnte sie auch in ihrem Manifest vom November 2009 227 jegliche Form der Anerkennung von und jedweden Kompromiss mit Israel ab. Darüber hinaus betonte sie in dem Papier, ihr umfangreiches Waffenarsenal zu benötigen, um israelische Angriffe auf den Libanon abzuschrecken und die Heimat zu verteidigen. Im Juli 2006 löste die Entführung zweier israelischer Soldaten im israelisch-libanesischen Grenzgebiet einen mehrwöchigen Krieg zwischen der "Hizb Allah" und Israel aus, der auf beiden Seiten Hunderte von zivilen Todesopfern und Verletzten forderte. Der anschließende Waffenstillstand wird seitdem von UN-Truppen überwacht, an denen sich auch die deutsche Marine im Seeraum vor der libanesischen Küste beteiligt. Die "Hizb Allah" hat sich im Libanon als parteiähnliche politische Bewegung konstituiert, die wegen ihrer sozialen Aktivitäten vor allem unter der schiitischen Bevölkerung des Landes über breiten gesellschaftlichen Rückhalt verfügt. Insbesondere im Südlibanon baute die "Hizb Allah" quasistaatliche Strukturen auf. Im libanesischen Parlament ist sie seit 1992 vertreten. Bei den libanesischen Parlamentswahlen im Jahr 2009 konnte das Oppositionsbündnis aus "Hizb Allah" und mit ihr verbündeten Gruppen keine Mehrheit gewinnen. In der nach den Wahlen gebildeten Allparteienregierung stellt die "Hizb Allah" zwei Minister. Zu einem internationalen Streitfall wurde der parteieigene TV-Sender "al-Manar" ("Der Leuchtturm"), durch den die "Hizb Allah" ihre "Wi226 Im Jahre 2004 forderte der UN-Sicherheitsrat mit Resolution 1559 die Entwaffnung der "Hizb Allah"; auch die Resolution 1701, die am 14.8.2006 den Waffenstillstand im Libanon einleitete, hält die Forderung nach einer Entwaffnung aufrecht. 227 Die "Hizb Allah" stellte das Strategiepapier als Nachfolger und als Revision ihres Grundsatzpapieres von 1985 dar. Mit dem Manifest richtet sich die "Hizb Allah" strategisch darauf ein, dass die von Instabilität geprägte Lage im Libanon und im Nahen Osten in den nächsten Jahren unverändert andauern wird. HINTERGRUND-ISLAMISTISCHE TERRORISTEN UND GEWALTORIENTIERTE ISLAMISTEN 161 derstandsideologie" verbreitet. Fester Bestandteil im Programm des über Satellit auch in Deutschland zu empfangenden Senders sind die Propagierung des bewaffneten Kampfes und von als "Märtyrer-Operationen" bezeichneten Selbstmordanschlägen. Die anti-israelische Hetze des Senders zeigt etwa den Generalsekretär Nasrallah, der seinen Anhängern versichert, dass "Israel in seiner Existenz vergehen wird". Die Propagandafilme beinhalten auch Bilder israelischer Attentatsopfer - unterlegt mit dem Text "Gewiss wird Israel verschwinden". Da "al-Manar" mit diesen Sendeinhalten das friedliche Zusammenleben von Deutschen und Ausländern sowie von verschiedenen Ausländergruppen im Bundesgebiet, die öffentliche Sicherheit und Ordnung und sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wurde vom Bundesministerium des Innern am 11. November 2008 ein vereinsrechtliches Betätigungsverbot gegen den Sender erlassen. Zuvor war "al-Manar" bereits in Frankreich und den USA verboten worden. Die "Hizb Allah" wird von den USA auf der Liste der "Foreign Terrorist Organizations" aufgeführt. 2.2.2 "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS) ÜBERSICHT Abkürzung HAMAS Entstehung / Gründung 1987 Gaza Mitgliederzahl Bund: ca. 300 (2008: ca. 300) Berlin: ca. 50 (2008: ca. 50) Die mit dem Kurzwort HAMAS 228 bezeichnete "Bewegung des Islamischen Widerstands" wurde 1987 im Gaza-Streifen von Ahmad Yassin als ein Zweig der "Muslimbruderschaft" ( MB) gegründet. In ihrer Charta von 1988 verneint die HAMAS das Existenzrecht Israels und strebt die "Befreiung ganz Palästinas" durch bewaffneten Kampf sowie die Errichtung eines islamistischen Staatswesens an. Den 1993 begonnenen 228 Arabisch: "Harakat al-Muqawama al-islamiya". Der Begriff "Hamas" stellt zugleich ein - bereits im Koran enthaltenes - arabisches Wort dar, das "Begeisterung", "Eifer" und "Leidenschaft" bedeutet. Islamisten interpretieren den Begriff als "Tapferkeit". 162 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Oslo-Friedensprozess lehnte die HAMAS als "Ausverkauf palästinensischer Interessen" ab und konkurrierte gleichzeitig mit der von der laizistischen FATAH dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde um die Führung der Palästinenser. Durch ihre Kritik an den Friedensverhandlungen der Autonomiebehörde mit Israel sowie durch den kontinuierlichen Ausbau ihrer Basis im sozialen Bereich entwickelte sie sich im innerpalästinensischen Machtgefüge zu einem bedeutenden politischen Faktor. In der Folge verzeichnete die HAMAS bei den Kommunalwahlen 2004 und 2005 deutliche Erfolge und siegte überraschend auch bei den Parlamentswahlen am 25. Januar 2006. Damit wurde in den palästinensischen Gebieten neben dem Nationalismus der Islamismus zur zweiten dominierenden politischen Ideologie. Dies gilt insbesondere für den Gaza-Streifen, in dem die HAMAS seit Juni 2007 die alleinige Kontrolle ausübt. Die von der HAMAS verfolgte Gewaltstrategie schloss seit 1994 vor allem Selbstmordanschläge ein. Mit dem Ausbruch der "al-Aqsa-Intifada" im September 2000 und der Verschärfung des israelisch-palästinensischen Konflikts hatten die Selbstmordanschläge ihres militärischen Flügels, der "Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden", gegen israelische Ziele erheblich zugenommen. Die "Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden" wurden im Juni 2002 in die EU-Liste terroristischer Organisationen aufgenommen; im September 2003 die Gesamtorganisation. Die als "Märtyrer-Operationen" bezeichneten Anschläge begrenzte die HAMAS dabei nicht auf die palästinensischen Gebiete des Westjordanlands und Gaza-Streifens, sondern führte sie vor allem im israelischen Kernland aus. Die Anschläge zielten nicht allein auf Militärpersonal, sondern auch auf die israelische Zivilbevölkerung. Dieses seit Errichten des Grenzzauns erschwerte und von Waffenstillstandsabkommen zeitweise unterbrochene terroristische Vorgehen begründet die HAMAS nach wie vor mit einem "Recht auf Selbstverteidigung". Als Propagandamittel betreibt die HAMAS den Fernsehsender "al-AqsaTV", der auch in Deutschland empfangen werden kann. Schon in Kindersendungen wird islamistisch indoktriniert. Gewaltausübung und Selbstmordanschläge werden neben antisemitischer Hetze gutgeheißen. So brachte 2007 eine Maus, die große Ähnlichkeit mit Walt Disneys Mickey Mouse hatte, bereits Vorschulkindern die Ideologie der HAMAS nahe. Nachdem die Maus in einer Sendung von einem "israelischen A- genten" erschlagen wurde, was bei den Kindern eine starke Emotionali- HINTERGRUND-ISLAMISTISCHE TERRORISTEN UND GEWALTORIENTIERTE ISLAMISTEN 163 sierung auslösen sollte, folgten bald eine Biene und ein Löwe als Identifikationsfiguren, mit denen die Kindersendung im Sinne der HAMAS fortgesetzt wurde. In Deutschland tritt die HAMAS nicht offen in Erscheinung. Ihre Anhänger treffen sich in Moscheen, Moscheevereinen und Islamischen Zentren. Als Berliner Treffpunkt von HAMAS-Anhängern gilt das "Islamische Kulturund Erziehungszentrum Berlin e. V." (IKEZ). 2.3 Gewaltbefürwortende Islamisten 2.3.1 "Hizb ut-Tahrir" ("Partei der Befreiung") ÜBERSICHT Abkürzung HuT Entstehung / Gründung 1953 Jordanien 1987 Landesverband Berlin Mitgliederzahl Bund: ca. 300 (2008: ca. 350) Berlin: ca. 80 (2008: ca. 100) Organisationsstruktur 2003 vereinsrechtliches Betätigungsverbot Veröffentlichungen "Explizit" (überregional, bis Januar 2003) "Al-Wa'i" ("Bewusstsein") (überregional, monatlich) "Khalifa" / "Hilafet" ("Kalifat") (überregional, monatlich) Die 1953 in Jordanien von Taqi ad-Din an-Nabhani (1909 - 1977) gegründete "Hizb ut-Tahrir" (HuT) ist eine pan-islamistische parteiähnliche Bewegung, die sich die weltweite Missionierung von Muslimen im Sinne ihrer Ideologie zum Ziel gesetzt hat. Ideologisch verfolgt die HuT eine universelle Staatsund Gesellschaftsdoktrin, die sie auf vermeintlich authentisch islamische Herrschaftskonzepte zurückführt. Im Zentrum stehen die Betonung des pan-islamischen Gedankens (in der Behauptung der Existenz einer weltumfassenden islamischen Gemeinde, der "Umma") sowie die Forderung nach Errichtung einer weltweiten Ka- 164 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 lifatsherrschaft. Erklärte Ziele sind die Überwindung nationalstaatlicher Strukturen, die Vernichtung des Staates Israel, die Befreiung der muslimischen Welt von westlichen Einflüssen sowie die Einführung der Scharia als politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip. Die Ideologie der HuT kennzeichnet eine ausgeprägte Judenfeindschaft sowie die Rechtfertigung von Gewaltanwendung durch vermeintlich religiöse Bezüge. So werden Koranverse aus ihrem historischen Kontext herausgelöst und Begriffe wie "Jihad" (Bemühen, Kampf) fast durchgängig militant interpretiert. In den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wurde die HuT aufgrund ihrer radikalen Ausrichtung - insbesondere wegen ihrer Aufrufe zum gewaltsamen Umsturz der Regierungen - unmittelbar nach ihrer Gründung verboten. Seitdem operiert sie weitgehend im Geheimen, ihre Anhänger sind strikter Verfolgung ausgesetzt. Begründet werden die Maßnahmen mit der Beteiligung der HuT an Staatstreichen - etwa in Jordanien (1968), Irak (1969), Ägypten (1974) sowie Syrien (1976). Nach eigener Darstellung ist die HuT in diesen Ländern wie auch in Kuwait weiter aktiv. Darüber hinaus agiert sie im zentralasiatischen Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan. Derzeitiger Vorsitzender ist der 1943 geborene Jordanier Ata Abu al-Rashta, dessen Aufenthaltsort im Libanon vermutet wird. In Deutschland trat die HuT vorwiegend in Universitätsstädten durch die Verbreitung von Flugblättern und Zeitschriften in Erscheinung. Diese enthielten regelmäßig antiisraelische und antiwestliche Positionen. Am 10. Januar 2003 erließ der Bundesminister des Innern ein Betätigungsverbot gegen die HuT. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte das Verbot am 25. Januar 2006. 229 Das Urteil wurde damit begründet, dass die HuT mehrmals "zur gewaltsamen Beseitigung des Staates Israel und zur Tötung von Menschen aufgefordert" und auf diese Weise "der friedlichen Lösung der israelisch-palästinensischen Interessensgegensätze entgegengewirkt" habe. In seiner Begründung verwies das Bundesverwaltungsgericht auch auf Art. 9 Abs. 2 GG, wonach Organisationen verboten werden, die sich gegen die Verfassung oder den Gedanken der Völkerverständigung richten. 229 Vgl. Bundesverwaltungsgericht, Az.: BVerwG 6A 6.05. HINTERGRUND-ISLAMISTISCHE TERRORISTEN UND GEWALTORIENTIERTE ISLAMISTEN 165 3 SONSTIGE ISLAMISTEN 3.1 "Tabligh-i Jama'at" / "Jama'at-i Tabligh" ("Gemeinschaft der Verkündigung und Mission") ÜBERSICHT Abkürzung TJ JT Entstehung / Gründung 1927 Indien Mitgliederzahl Bund: ca. 700 (2008: ca. 700) Berlin: ca. 60 (2008: ca. 60) Organisationsstruktur Organisation Die 1927 in Indien von Muhammad Ilyas (1885 - 1944) gegründete "Tabligh-i Jama'at" (TJ) ist eine pan-islamische Missionierungsbewegung, die hierarchisch organisiert ist und weltweit mehrere Millionen Anhänger umfasst. Ihr organisatorisches und geistiges Zentrum hat die TJ in Indien, Pakistan und Bangladesh, von wo aus die weltweiten Aktivitäten der TJ gesteuert werden. In diesen Zentren werden TJ-Mitglieder aus der ganzen Welt geschult. Die europäische Zentrale der TJ befindet sich in Großbritannien. In Deutschland sind mehrere TJGruppen aktiv, darunter auch in Berlin. Zu den Aktivitäten der TJ gehören Missionsreisen, auf denen Muslime von der Ideologie der TJ überzeugt und als Mitglieder rekrutiert werden sollen. Die einzelnen TJ-Gruppen werden von der Führung in Asien hinsichtlich ihrer Missionierungstätigkeiten kontrolliert. In Pakistan findet jährlich ein Welttreffen mit mehreren Hunderttausend Anhängern statt. Die TJ beschreibt sich selbst als apolitisch und gewaltlos. Sie orientiert sich an frühislamischen Vorschriften und Lebensgewohnheiten wie sie im siebten Jahrhundert in Mekka und Medina vorherrschten. Ihr Bemühen, eine muslimische Idealgesellschaft nach dem Vorbild des Frühislam zu schaffen, schließt ein weitgehend wörtliches Verständnis des Korans und der Sunna ein. Die in Lehrbüchern und Schriften der TJ vertretene Weltanschauung deutet auf ein dualistisches Weltbild hin, wonach die Menschheit in 166 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Muslime und Nichtmuslime eingeteilt wird. Dabei lässt sich eine Tendenz zur Abschottung gegenüber Nicht-Muslimen feststellen. So ist in der TJ-Literatur beispielsweise davon die Rede, dass Kinder in "unislamischen" Gesellschaften von ihrem Glauben entfremdet würden. Hieraus wird ein Erziehungskonzept deutlich, das sich gegenüber außerislamischen Einflüssen abschottet. Die Verinnerlichung dieser Überzeugung trägt zu einem elitären Bewusstsein und zur Bildung parallelgesellschaftlicher Strukturen bei. Erfolgreich Missionierten werden häufig mehrmonatige Schulungsveranstaltungen in pakistanischen Koranschulen vermittelt. Solche intensiven Schulungen sind geeignet, die Teilnehmer zu indoktrinieren und für militant-islamistisches Gedankengut empfänglich zu machen. In Einzelfällen haben Schulungsteilnehmer anschließend den Weg in Mujahidin-Ausbildungslager in Afghanistan gefunden. Auch wenn die Bewegung nach eigenem Bekunden Gewalt ablehnt und sich als unpolitisch darstellt, ist die Gefahr gegeben, dass sie aufgrund ihres strengen Islamverständnisses und der weltweiten Missionierungstätigkeit islamistische Radikalisierungsprozesse fördert. Nachdem das "Deutschlandtreffen" der TJ 2007 noch in Berlin stattgefunden hatte, war in diesem Jahr Saarbrücken der Veranstaltungsort. An der dreitägigen Großveranstaltung vom 16. bis 18. Mai, zu der auch hochrangige TJ-Gelehrte aus Indien und Pakistan angereist waren, nahmen mit etwa 1 000 Besuchern aus dem Inund Ausland rund doppelt so viele Personen teil wie im Jahr zuvor. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - LEGALISTISCHE ISLAMISTEN 167 4 LEGALISTISCHE ISLAMISTEN 4.1 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. ÜBERSICHT Abkürzung IGMG Entstehung / Gründung 1985 Köln (als Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e. V. / AMGT) Mitgliederzahl Bund: ca. 29 000 (2008: ca. 27 500) Berlin: ca. 2 900 (2008: ca. 2 900) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Bonn u. a. "IGMG Perspektive" / seit Januar 2009 unter dem Titel Veröffentlichungen "Perspektif" (überregional, monatlich) Der Vorläufer dieser islamistischen Organisation wurde 1985 unter der Bezeichnung "Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e. V." ("Avrupa Milli Görüs Teskilatlar / AMGT) in Köln gegründet. Hieraus gingen 1995 die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) und die "Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft e. V." (EMUG) hervor. Die EMUG ist für die Verwaltung des Immobilienbesitzes der Vereinigung verantwortlich. Die islamistische Ausrichtung der "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e. V. geht auf das politische Konzept von Necmettin Erbakan zurück, das dieser 1973 in dem gleichnamigen Buch Milli Görüs (Nationale Sicht") veröffentlichte. Erbakans Ziel ist es, die türkischen Bürger unter dem Dach von Nationalismus und Islamismus zu einen und in der Türkei ein islamistisches Staatswesen zu errichten. Als politisches und gesellschaftliches Ordnungsmodell propagiert er eine "gerechte Ordnung" ("Adil Düzen"), in welcher die Scharia gilt und politisches Handeln sich an den Prinzipien von Koran und Sunna orientiert. Erbakan lehnt wesentliche rechtsstaatliche Prinzipien wie Volkssouveränität oder Parteienpluralismus als unvereinbar mit der "gerechten Ordnung" ab. Er forderte in der Vergangenheit einen Systemwechsel nicht allein in der Türkei, sondern auch in der Bundesrepublik Deutschland: 168 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 "Du willst dich von diesen Sorgen befreien? Um dich von diesen Sorgen befreien zu können, muss aus der Staatsordnung in Deutschland eine 'gerechte Ordnung' werden. Bevor hier keine 'gerechte Ordnung' herrscht, wirst du nicht zu deinem Recht kommen. Alles hängt letztlich davon ab, ob aus der hiesigen Staatsordnung eine gerechte Ordnung wird." 230 Erbakan betrachtet den Islam als Gesellschaftsmodell, das sämtlichen westlichen Gesellschaftssystemen überlegen sein soll: "Wo immer die Imperialisten hinkommen, verbreiten sie Tod und Verderben. Die islamische Zivilisation wird den Menschen Frieden und Gerechtigkeit bringen." 231 Dieses Gesellschaftsmodell wird bis heute in der Milli GörüsBewegung propagiert. So führte der stellvertretende Vorsitzende der "Saadet Partisi" (SP / "Partei der Glückseligkeit"), Mete Gündogan, aus: "Auch wenn sie (die Imperialisten) versuchen, ihre Absichten zu verbergen, müssen wir diese aufdecken und eine Neue Welt auf gerechtem Fundament errichten. Denn wir befinden uns auf der Schwelle einer neuen Eroberung. Eroberung steht für eine neue Phase. Eine neue Phase bedeutet eine Neue Welt. Eine Neue Welt bedeutet Görüs. Görüs steht für unser edles Volk. Unser edles Volk steht für Sieg. Der Sieg ist unser und der Sieg ist nah." 232 Die Ideologie der Milli Görüs spiegelt sich nicht nur in den Verlautbarungen der Funktionäre, sondern auch in der breiten Diskussion an der Basis - etwa in der "Milli Gazete". Die türkische Tageszeitung, die mit einer Europaausgabe in Deutschland erscheint, kann als inoffizielles Sprachrohr der Milli Görüs-Bewegung bezeichnet werden. So werden in einem in der "Milli Gazete" veröffentlichten Gedicht die Pflichten des Milli Görüs-Anhängers benannt. Von ihm wird erwartet, dass er sich mit ganzer Kraft für die Bewegung einsetzt, damit "der Islam zur Herrschaft gelangt". Das Ziel ist demnach die Errichtung eines islamistischen Staatswesens: 230 Rede von Necmettin Erbakan: "Adil Düzen" ("Gerechte Ordnung"), 1990. Im Juli 2002 auch als Videomitschnitt im Internet eingestellt. 231 "Milli Gazete" vom 20.10.2005. 232 "Milli Gazete" vom 16.6.2008, S. 17. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - LEGALISTISCHE ISLAMISTEN 169 Der Milli Görüs Mann ... tut alles für die Ordnung (nizam), das Heil (selamet), die Wohlfahrt ( refah), die Tugend (fazilet) und die Glückseligkeit (saadet) der Menschheit. 233 ... weiß, dass der einzige Weg, der ihn zur Wahrheit (hak; auch: Gott) führt, in der Milli Görüs liegt; setzt sich für seine Zeitung, seinen Fernsehsender, seine Stiftung, seine Partei ein. ... trifft die notwendigen Maßnahmen dafür, dass der Islam zur Herrschaft gelangt, und ergibt sich in Gottes Willen." 234 Vorgesehen ist dabei nicht nur eine politische Neuordnung der Türkei sondern der gesamten Welt: Die Milli Görüs ist eine wichtige Bewegung nicht nur für dieses Land, sondern für die ganze Welt. Sie ist unter allen politischen Bewegungen weltweit die einzige Bewegung, die das Ziel verfolgt, eine Neue Welt zu schaffen." 235 Necmettin Erbakan hatte 1970 auf der Grundlage der Milli GörüsIdeologie - seine erste islamistische Partei in der Türkei gegründet. Er konnte trotz mehrmaliger Parteiverbote und anschließender Neugründungen eine Spaltung seiner Anhängerschaft bis 2001 verhindern. Interne Flügelkämpfe zwischen den so genannten Traditionalisten und den Erneuerern in der "Fazilet Partisi" (FP / "Tugendpartei") führten nach ihrem Verbot im Juni 2001 zur Gründung von zwei Nachfolgeparteien. Hierzu gehört die im Juli 2001 vom ehemaligen Vorsitzenden der "Tugendpartei", Recai Kutan, gegründete "Saadet Partisi" (SP / "Partei der Glückseligkeit"), in der sich die "Traditionalisten" wiederfinden, die sich zur Milli Görüs-Ideologie und deren Begründer Erbakan bekennen. Die zweite Nachfolgepartei stellt die - im August 2001 vom ehemaligen Istanbuler Oberbürgermeister und früheren Anhänger der FP, dem jetzigen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan, gegründete - "Adalet ve Kalknma Partisi (AKP / Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei") dar, die als politisches Lager der "Erneuerer" gilt. Zwischen IGMG, Necmettin Erbakan und der SP bestehen - wie bei den anderen früher von Erbakan geführten Parteien - enge Verbindungen. Erbakan sowie SP-Parteifunktionäre nehmen häufig an Veranstaltungen 233 Es handelt sich hier um die ehemaligen Namen der Milli Görüs-Parteien, bis hin zur heute existierenden "Glückseligkeitspartei" (Saadet Partisi, SP). 234 "Milli Gazete" vom 9.6.2007, S. 17. 235 "Milli Gazete" vom 25.7.2007, S. 12. 170 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 der IGMG teil. Darüber hinaus sind Funktionäre der IGMG in Ämter der islamistischen Parteien Erbakans in Ankara gewählt worden. So wurden 1995 drei ehemalige AMGT-Mitglieder als Abgeordnete der "Wohlfahrtspartei" in das türkische Parlament gewählt, unter ihnen Osman Yumakogullar, der bis 1995 Vorsitzender der Milli Görüs in Deutschland und Verantwortlicher der Deutschlandausgabe der "Milli Gazete" gewesen war. Heute ist Yumakogullari Vorstandsmitglied des Istanbuler SP-Landesverbands. Die IGMG präsentiert sich insbesondere seit den Terroranschlägen in den USA vom 11. September 2001 in ihren offiziellen Verlautbarungen als eine auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehende Organisation, die sich für den Dialog zwischen türkischen Muslimen und der deutschen Gesellschaft einsetzt. Auch der Berliner Landesverband, dessen Vorstand von der IGMG-Zentrale ernannt wird, bemüht sich, Dialogbereitschaft zu demonstrieren. Von der islamistischen Milli Görüs-Ideologie Erbakans hat die IGMG sich jedoch bislang genauso wenig distanziert wie von der "Milli Gazete". In dieser Tageszeitung, die für den Zusammenhalt der "Milli Görüs-Bewegung von zentraler Bedeutung ist, findet sich immer wieder antisemitische Propaganda - etwa in der Leugnung des Holocausts: "Und die große Lüge. Diese Lüge ist die Legende, dass 6 Millionen Juden ermordet worden seien. Diese Legende, die zu einem Dogma und (wie es das Wort Holocaust auch als Bedeutung beinhaltet) in eine heilige Legende verwandelt wurde, wird dafür missbraucht, um das Unrecht von Israel in Palästina, im ganzen Mittleren Osten, in den USA und mit Hilfe der USA in der gesamten Weltpolitik [...] zu rechtfertigen. [...] Die Legende des Genozids an den Juden passte den Interessen von allen, denn von ihm als dem größten Genozid der Geschichte zu reden, bedeutete für die westlichen Kolonialisten, ihre eigenen Verbrechen in Vergessenheit geraten zu lassen, für Stalin dagegen bedeutete das, seine grausamen Ungerechtigkeiten unter den Teppich zu kehren." 236 Der Antisemitismus wird häufig als Kritik am Zionismus formuliert. Neben den als "Imperialisten" bezeichneten westlichen Staaten ist aus Milli Görüs-Sicht die zionistische Verschwörung an den politischen Missständen schuld, wie ein Text des Milli Görüs-Ideologen Arif Ersoy darlegt: 236 "Milli Gazete", Onlineausgabe vom 22.8.2006. Vgl. auch Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2006. Berlin 2007, S. 240. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - LEGALISTISCHE ISLAMISTEN 171 "Die Konferenzteilnehmer betonten, der Zweite Weltkrieg habe geheime Ziele verfolgt, und es sei notwendig, die Gründe und das wahre Gesicht des "Völkermords an den Juden", der geradezu eine Religion geworden sei, aufzudecken. Sie forderten, anhand wissenschaftlicher Fakten müsse neu belegt werden, wie die Zionisten Hitler an die Macht gebracht und unterstützt hätten, damit auf palästinensischem Boden der rassistische und aggressive Staat Israel gegründet werden konnte." 237 Die IGMG ist die größte islamistische Organisation in Deutschland. Durch Mitgliedsbeiträge und Spenden verfügt sie über erhebliche finanzielle Mittel. Dies ermöglicht ihr, eine Vielzahl von Aktivitäten anzubieten. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in der Erziehungsund Bildungsarbeit für Kinder und Jugendliche. Der hessische Jugendvorsitzende führte hierzu in der "Milli Gazete" aus: "Stahl ist deshalb Stahl, weil sich darin keine Zusätze und keine Schlacken befinden; wir wünschen uns auch eine Jugend, die sich von außen nicht beeinflussen lässt, die zugunsten ihrer Ideale Opfer erbringen kann und die der Gesellschaft von Nutzen ist. Deswegen nennen wir dies 'Stählung'." 238 Der ehemalige Vorsitzende der IGMG-Jugend in Berlin betonte bei einem Jugendfest der IGMG in Berlin: "In Anbetracht all dieser Geschehnisse ist das einzige, was zu machen ist, die Verteidigung unserer Werte. Also, dass die Lösung im Islam und in der Milli Görüs liegt, ist offensichtlich. 239 Die zahlreichen Angebote sowie die Mitarbeit in islamischen Dachverbänden nutzt die IGMG auch für ihr Ziel, hinsichtlich der Interessenvertretung der in Deutschland lebenden türkischen Muslime eine Vorrangstellung einzunehmen. Im Oktober 2002 trat der Vorsitzende des IGMG-Hauptverbandes, Mehmet Sabri Erbakan, von seinem Amt zurück. Dieser Schritt, die deutliche Niederlage der SP von Necmettin Erbakan bei den türkischen Parlamentswahlen vom 3. November 2002 sowie der Wahlsieg der "Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei" (AKP) von Recep Tayyip Erdo237 "Die Geschichte wird neu geschrieben", Teil 1 und 2, veröffentlicht am 15./16.12.2006 in "Milli Gazete Online". 238 Hessischer Jugendvorsitzender in "Milli Gazete" vom 12.12.2006, S. 19. 239 "Milli Gazete" vom 12.6.2006, S. 18. 172 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 gan 240 lösten in der IGMG in Deutschland eine Krise aus und führten zu internen Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten und so genannten Reformern über die zukünftige Ausrichtung der Organisation. Die darauf folgenden Parlamentswahlen am 22. Juli 2007 in der Türkei bestätigten das Wahlergebnis von 2002: Während die AKP mit rund 46 Prozent noch weiter an Stimmen gewann, erreichte die SP nur 2,3 Prozent und überwand die 10 Prozent-Sperrklausel erneut nicht. Die Traditionalisten in der IGMG erwarten, dass die Organisation weiter auf die Verwirklichung politischer Ziele in der Türkei hinarbeitet und Necmettin Erbakans Forderungen nachkommt. Die so genannten Reformer hingegen fordern eine Neuausrichtung auf die veränderten Bedürfnisse vor allem der Anhänger der zweiten und dritten Generation in Europa. Diese wünschen den Ausbau des religiösen und sozialen Angebots. Sie fordern eine Emanzipation von Erbakan sowie der SP und wollen mehr Mitbestimmung in der IGMG durchsetzen. Die IGMG-Führung versucht, beiden Positionen gerecht zu werden, um eine Spaltung des Verbandes zu vermeiden. Eine programmatische Neuausrichtung der IGMG hat bisher nicht stattgefunden. 4.2 "Muslimbruderschaft" / "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." ÜBERSICHT Abkürzung MB IGD Entstehung / Gründung 1928 Ägypten (MB) 1960 Deutschland (IGD) Mitgliederzahl Bund: ca. 1 300 (2008: ca. 1 300) Berlin: ca. 100 (2008: ca. 100) Organisationsstruktur Eingetragener Verein (IGD) Veröffentlichungen "Risalat al-Ikhwan" (Rundschreiben der Bruderschaft) "Al-Islam" (Der Islam) (nur noch als Online-Version) 240 Von ehemals 15,4 Prozent vor der Spaltung der FP sank das Ergebnis der SP auf 2,5 Prozent. Die AKP erhielt hingegen 34,2 Prozent der Wählerstimmen. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - LEGALISTISCHE ISLAMISTEN 173 Die 1928 in Ägypten gegründete "Muslimbruderschaft" (MB) ist die älteste und zugleich bedeutendste arabische islamistische Gruppierung. Die pan-islamistische Organisation ist heute, teils unter anderen Namen, in fast allen Ländern des Vorderen Orients vertreten und unterhält auch Zweige in westeuropäischen Ländern. Ein internationales Gremium, die "Internationale Organisation", das kaum öffentlich in Erscheinung tritt, ist mit der Koordination der Aktivitäten der verschiedenen nationalen Vereinigungen der MB in über 70 Ländern betraut. In Europa gibt es zudem zahlreiche Institutionen, Verbände und Vereine, die direkt oder indirekt mit der MB verbunden sind. 241 In den meisten nahöstlichen Staaten bildet die MB eine halbbis illegale Opposition zur Regierung, wobei ihre Aktivitäten von den jeweiligen politischen Verhältnissen abhängen: Während in Syrien der Aufstand gegen die Staatsmacht 1982 gewaltsam beendet wurde, nahm die Bereitschaft der MB zur Anpassung dort zu, wo eine Einbindung in den parlamentarischen Prozess gelang. Dies war in Ägypten bereits in den 80er Jahren der Fall; auch in Jordanien ist die MB im Parlament vertreten. Die ägyptische MB, größte der MB-Organisationen, durchlief verschiedene historische Phasen: In ihrer Frühphase in den 20er und 30er Jahren hatte für sie die Lehre und Erziehung der Gläubigen Vorrang. In den 40er, 50er und 60er Jahren agierte sie militant und verübte zahlreiche politische Attentate auf Repräsentanten des ägyptischen Staates. Höhepunkt der drei Jahrzehnte andauernden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen MB und dem Staat war die Hinrichtung ihres Chefideologen Sayyid Qutb 1966. Als nicht mehr gewaltorientiert gilt die ä- gyptische MB erst nach Abspaltung ihrer militanten Flügel in den späten 70er Jahren (mit dem Entstehen der terroristischen Gruppen "Takfir wa'l-Hijra" 242 und "al-Jihad al-islami"). Darauf folgte eine Phase der Integrationsbereitschaft in das politische System. Der Entschluss der MB, sich im politischen System Ägyptens auch an Wahlen zu beteiligen und im Parlament mitzuarbeiten, wird teilweise als ein "Marsch durch die Institutionen" gewertet. 241 Vgl. Johannes Grundmann. In: "SIAK-Journal", Ausgabe 3/2006, S. 20. 242 Wörtlich übersetzt: "Exkommunizierung [des bestehenden Gesellschaftssystems] und [innere] Emigration". Das Wort "Hijra" (wörtlich "Auswanderung") bezieht sich zugleich auf die 622 a. D. erfolgte "Auswanderung" des Propheten Muhammad von Mekka nach Medina, wo er die Grundlagen des ersten islamischen Gemeinwesens schuf. 174 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Ideologisch verkörpert die MB ein breites Spektrum, das bis zur Schaffung einer so genannten "islamischen Demokratie" reicht. Aus den 30er Jahren stammt der Anspruch der MB, dass es eine "Ordnung des Islams" gebe. Dieser relativ unkonkrete Anspruch definiert die islamische Religion als ein "System", das "zu jeder Zeit und an jedem Ort" anwendbar sein soll und das den Koran und die Sunna zur Richtschnur politischen Handelns erhebt. Zeitgenössische Vorstellungen zu Staat und Gesellschaft vertritt die MB mit der Forderung nach "Anwendung der Scharia", des islamischen Rechts und der Schaffung eines islamistischen Staatswesens. Da in diesem islamistischen Staatswesen Religion und Staat nicht getrennt sein sollen, wäre das von der MB angestrebte Staatswesen zwangsläufig ein Staat, der westlichen Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zuwiderläuft. Die islamistische Ausrichtung der MB zeigte sich auch in ihrem 2007 vorgelegten Parteiprogramm, das vom Obersten Führer der Muslimbrüder im September dieses Jahres offiziell vorgestellt wurde. Hierin schließt die Organisation Frauen und Christen von den Ämtern des Präsidenten und des Premiers aus und stellt dem Parlament einen Geistlichenrat zur Seite, dessen Auffassungen verbindlich sein sollten. 243 Ambivalenz kennzeichnet nach wie vor die Haltung der MB in der Gewaltfrage. Zwar lehnt sie seit den 70er Jahren Gewaltanwendung zur Durchsetzung ihrer politischen Agenda ab. Andererseits befürwortet die MB Gewalt in spezifischen Konflikten - etwa im israelisch-palästinensischen Konflikt. Hier rechtfertigt die MB den militanten Jihad mit einer Verteidigungssituation und erklärt ihn für vermeintlich legitim. In einschlägigen Äußerungen führender MB-Vertreter, die bis zur expliziten Verneinung des Existenzrechts Israels reichen, werden Jihad und Selbstmordanschläge mit der militärischen Unterlegenheit der Palästinenser gegenüber Israel sowie mit dem vermeintlich militärischen Charakter der israelischen Gesellschaft zu begründen versucht. So äußerte der von 2004 bis 2009 amtierende "Oberste Führer" (al-murshid al'amm) der ägyptischen MB, Muhammad Mahdi Akif, dass es "für Israels Existenz in der Region keinen Grund gibt". Ferner prophezeite er, dass die MB bei einer Machtübernahme in Ägypten das zwischen Ägypten und Israel 1979 unterzeichnete Friedensabkommen annullieren wer243 "Der Tagesspiegel" vom 29.10.2007. Das Programm ist in arabischer Sprache im Internet abrufbar. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - LEGALISTISCHE ISLAMISTEN 175 de. 244 2010 stellte Akif wie angekündigt sein Amt zur Verfügung. Zu seinem Nachfolger wählte die ägyptische MB am 16. Januar 2010 mit Mohammad Badei einen Vertreter des konservativen Flügels. Die in Deutschland mitgliederstärkste Organisation von Anhängern der "Muslimbruderschaft" (MB) ist die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD), die aus der 1960 in München von dem ägyptischen Muslimbruder Said Ramadan gegründeten "MoscheebauKommission e. V." hervorgegangen ist. Die IGD existiert seit 1982 unter ihrer heutigen Bezeichnung. Sie ist Mitgliedsorganisation des in Großbritannien ansässigen Dachverbands der MB nahestehenden Organisationen und Verbände aus Europa, der "Föderation Islamischer Organisationen in Europa" (FIOE). Die IGD ist mittelbar an der Deutschen Islam Konferenz (DIK) beteiligt. 245 Sie ist mit gewaltbefürwortenden Äußerungen nicht in Erscheinung getreten. Die IGD wurde seit 2002 von Ibrahim El-Zayat geleitet. 246 Er bestreitet seine Zugehörigkeit zur MB. Er wurde jedoch vom ehemaligen "Obersten Führer" der MB, Akif, in einem Interview der ARD, das am 23. Februar 2007 ausgestrahlt wurde, als der "Chef der Muslimbrüder in Deutschland" bezeichnet. Als die Zeitung "Die Welt" diese Aussage in einem Artikel verbreitete, erwirkte El-Zayat eine Gegendarstellung. 247 Auch von den ägyptischen Behörden wird El-Zayat als der MB zugehörig angesehen. Im April 2008 wurde er in einem Verfahren gegen 40 MB-Angehörige von einem ägyptischen Militärgericht in Abwesenheit zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Der Vorwurf gegen die Angeklagten lautete auf Geldwäsche und Finanzierung der Aktivitäten der in Ägypten offiziell verbotenen MB. Die IGD hat Verbindungen zu einer Reihe von Vereinen. In Berlin zählen hierzu das "Interkulturelle Zentrum für Dialog und Bildung e. V." (IZDB), das "Islamische Kulturund Erziehungszentrum e. V." (IKEZ), aber auch "INSSAN für kulturelle Interaktion e. V." sowie der "Verband Interkultureller Zentren VIZ e. V." 244 Vgl. "al-Hayat" vom 6.10.2006. 245 Die IGD ist eine der Gründungsorganisationen des "Zentralrats der Muslime in Deutschland" (ZMD), der auf der DIK vertreten ist. 246 Am 11.1.2010 gab die IGD in einer Presseerklärung bekannt, dass ein neuer Präsident der IGD gewählt wurde. Damit endete die achtjährige Amtszeit El-Zayats als Präsident der IGD. 247 Vgl. "Die Welt Online" vom 10.4.2007. 176 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 HINTERGRUNDINFORMATIONEN - RECHTSEXTREMISMUS 177 5 RECHTSEXTREMISMUS 5.1 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus 5.1.1 "Deutsche Volksunion" ÜBERSICHT Abkürzung DVU Entstehung / Gründung Bund: 1987 Landesverband Berlin: 1988 Mitgliederzahl Bund: ca. 4 500 (2008: ca. 6 000) Berlin: ca. 250 (2008: ca. 300) Organisationsstruktur Partei Sitz Hamburg Veröffentlichungen "National-Zeitung / Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ) (überregional, wöchentlich, Auflage: ca. 30 000) Die "Deutsche Volksunion" (DVU) wurde 1987 auf Initiative des Münchner Geschäftsmanns und Verlegers Dr. Gerhard Frey mit Unterstützung der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) als "Deutsche Volksunion - Liste D" gegründet. 1991 vollzog Frey mit der Streichung des Namensbestandteils "Liste D" die Trennung von der NPD. Frey betreibt den "DSZ Druckschriftenund Zeitungs-Verlag GmbH" (DSZ-Verlag) mit der "National-Zeitung / Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ) und den "FZ Freiheitlicher Buchund Zeitschriften-Verlag GmbH" (FZ-Verlag) als Buchund Devotionalienversand. Die DVU ist mit 16 Landesverbänden im gesamten Bundesgebiet vertreten. Nach Jahren kontinuierlichen Mitgliederund Bedeutungsverlustes hatte sie 2007 ihre Stellung als mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei an die NPD verloren. Im Januar 2009 wählten die Delegierten auf einem Bundesparteitag bei Magdeburg Matthias Faust zum Bundesvorsitzenden und damit zum Nachfolger von Gerhard Frey, der nicht mehr kandidierte. Der sich dieser personellen Veränderung anschließenden Aufbruchstimmung 178 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 folgten jedoch nur Rückschläge, von denen die Aufkündigung des Deutschlandpaktes durch die NPD die Position der DVU innerhalb des parlamentsorientierten Rechtsextremismus am deutlichsten schwächte. 248 Auch gelang es dem neuen Bundesvorsitzenden nicht, der Partei neue Impulse zu geben und diese für die Wahlkämpfe oder weitere Parteiaktivitäten zu motivieren. Hinzu kommen finanzielle Schwierigkeiten aufgrund der ausbleibenden Zuwendungen ihres ehemaligen Vorsitzenden und Finanziers Gerhard Frey. In ihrem Parteiprogramm bekennt sich die DVU formal zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. In der praktischen Arbeit der Partei spielt die Programmatik allerdings kaum eine Rolle. Die politischideologischen Standpunkte, die maßgeblich in der NZ als quasi inoffizielle Presseorgan der Partei publiziert werden, kreisen immer um die Themenfelder der vermeintlich einseitigen Vergangenheitsbewältigung in Deutschland und der Relativierung von Verbrechen der Nationalsozialisten. Auch unter der neuen Führungsriege der Partei wurden diesbezüglich keine neuen inhaltlichen Akzente gesetzt, sondern mit Äußerungen wie der des Bundesvorsitzenden Matthias Faust, der in einem InternetLivestream erklärte, dass zwischen "1933 und 1945 nicht alles schlecht war und wir keinen Grund haben, uns für irgendwas zu schämen" in bekannter Manier argumentiert. Die DVU tritt bei Wahlen überwiegend auf Landesebene in loser Folge mit zumeist geringem Erfolg in den nordund ostdeutschen Bundesländern an. Seit dem Ausscheiden aus dem Landesparlament Brandenburg im Jahr 2009 und dem Scheitern des Deutschlandpakts ist sie in keinem Landtag mehr vertreten. In den letzten Jahren verlor die DVU massiv Mitglieder und überalterte zunehmend. Ein Parteileben fand bereits in den letzten Jahren nur in geringem Umfang statt. Die Partei wurde bislang von ihrem Gründer und Vorsitzenden autokratisch geleitet. Als Redner trat auf Parteiveranstaltungen neben Frey regelmäßig nur ein sehr kleiner, aus fast immer denselben Personen bestehender Kreis auf. In Berlin haben zwei DVU-Mitglieder als NPD-Verordnete ein Mandat der Bezirksverordnetenversammlungen in Lichtenberg und MarzahnHellersdorf. Ein weiteres DVU-Mitglied, das ein Mandat der Bezirksverordnetenversammlung Lichtenberg besitzt, trat 2008 zur NPD über. 248 Vgl. S. 42. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - RECHTSEXTREMISMUS 179 er Landesverband ist seit Jahren durch die Passivität seiner Mitglieder geprägt. Auch unter dem neuen, seit Januar 2008 amtierenden Landesvorsitzenden entwickelte die Berliner DVU kein eigenständiges politisches Profil und agiert lediglich in enger Anlehnung an die Bundeszentrale der DVU. Die Gründung der DVU-Jugendorganisation "Junge Rechte" scheiterte in Berlin mangels Interessenten. 249 5.1.2 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" ÜBERSICHT Abkürzung NPD Entstehung / Gründung Bund: 1964 Landesverband Berlin: 1966 Mitgliederzahl Bund: ca. 6 800 (2008: ca. 7 000) 250 Berlin: ca. 300 (2008: ca. 330) Organisationsstruktur Partei Sitz Berlin Veröffentlichungen "Deutsche Stimme" (überregional, monatlich, Auflage ca. 25 000) "Zündstoff - Deutsche Stimme für Berlin und Brandenburg" (regional, vierteljährlich) "Weiterdenken" Mitteilungsblatt der NPD Berlin (halbjährlich) Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) ging 1964 aus der rechtsextremistischen "Deutschen Reichspartei" (DRP) hervor. Der Vorsitzende der DRP, Adolf von Thadden, war Initiator der NPDGründung und von 1967 bis 1971 deren Vorsitzender. Die NPD verfügt mit den "Jungen Nationaldemokraten" (JN) über eine Jugendund mit dem "Ring Nationaler Frauen" (RNF) über eine Frauen-Organisation. 249 Vgl. S. 47 f. 250 Inklusive der "Jungen Nationaldemokraten" (JN): 50 Mitglieder in Berlin, 430 bundesweit. 180 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Darüber hinaus existiert die "Kommunalpolitische Vereinigung" (KPV) als Organisation für die kommunalen Mandatsträger der NPD sowie ein eigener "Ordnungsdienst". Bestehende innerparteiliche Interessengruppen wie der "Arbeitskreis Christen" und der "Arbeitskreis Rußlanddeutscher" besitzen keine Relevanz. Als Parteizeitung vertreibt die NPD die Monatsschrift "Deutsche Stimme" (DS) und ist an der "Deutsche Stimme Verlags GmbH" beteiligt. Die Partei, deren Bundesgeschäftsstelle sich seit 2000 in Berlin befindet, verfügt über 16 Landesverbände. Der Berliner Landesverband untergliedert sich derzeit in 8 Kreisverbände, von denen einige zur Zeit inaktiv sind. Nachdem im Frühjahr 2009 zwei führende Kreisfunktionäre aus der Partei gedrängt wurden, verließen auch zahlreiche Mitglieder den Berliner Landesverband. Die NPD vertritt fremdenfeindliche, rassistische und antisemitische Positionen. Durch Verallgemeinerungen und Verbreitung von negativen Stereotypen schürt sie Überfremdungsängste: "Es ist offensichtlich, dass die Gewaltneigungen, Bildungsdefizite und Sozialschmarotzereien vieler Moslems eine Folge ihrer religiös-kulturellen Prägung sind." 251 Sie versteht sich als Fundamentalopposition zur freiheitlich demokratischen Grundordnung. Als "sozialrevolutionäre Erneuerungsbewegung" strebt sie in aggressiver Weise die grundsätzliche Neuordnung des politischen Systems an. Unter der Überschrift "Eigenes Selbstverständnis - Systemüberwindung" heißt es ein einem Positionspapier des Parteivorstands der NPD: "Das Rezept dieser zwischenzeitlichen Erfolge, die uns in aller Munde brachte, war eine ganz klare und vor allem kompromisslose Ausrichtung auf Überwindung des liberalkapitalistischen Systems und des bestehenden volksfeindlichen Parteienstaats." 252 Antisemitismus wird mit der angeblichen Illegitimität des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland verknüpft. Auf einer Veran251 NPD-Pressestelle vom Januar 2010: "Niemals deutsches Land in Moslemhand", Internetauftritt der NPD, Aufruf am 11.1.2010. 252 "Der Deutsche Weg" - Grundsatzpapier des NPD-Parteivorstands zur zukünftigen Ausrichtung nationaler Politik in Deutschland. Dok. in DS 6/09 (Juni 2009), S. 15 f., hier S. 15. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - RECHTSEXTREMISMUS 181 staltung der NPD sagte der Vorsitzende der NPD-Landtagsfraktion in Mecklenburg-Vorpommern, Udo Pastörs: "Und wenn wir den Schulterschluss haben, dann sind wir auch wieder in der Lage, anzugreifen dieses System auf der Straße und in den Parlamenten. [...] Weil das gesamte Finanzgebäude dieser Judenrepublik in den nächsten zwei Jahren zusammenbrechen wird." 253 Zu diesem Zweck agitiert die NPD gegen die "Systemparteien" als Träger der rechtsstaatlichen Ordnung und gegen demokratische Prinzipien wie den Pluralismus. Ideologische Grundlage sind ein antiindividualistisches Menschenbild und der völkische Kollektivismus. Das Ziel der NPD ist, wie der sächsische NPD-Landesvorsitzende Holger Apfel schrieb, die Schaffung einer "ethnisch homogenen Volksgemeinschaft" 254: "Nationalisten lehnen die Zusammenschließung fremder Kulturund Volksteile in die Nationalkultur ab. Sie sind bestrebt, nationale Eigenart auch der Fremden zu erhalten; schon deshalb, damit eine spätere Rückführung der Fremden in ihre angestammte Heimat nicht verbaut wird." 255 Wenige Jahre nach ihrer Gründung verzeichnete sie mit dem Einzug in mehrere Landesparlamente ihre ersten Erfolge. Den Höhepunkt in dieser Phase erlebte die NPD im Jahr 1969, als sie bei der Bundestagswahl mit 4,3 Prozent der Stimmen nur knapp den Einzug in den Deutschen Bundestag verpasste. Danach kam es aufgrund innerparteilicher Querelen zu einem Bedeutungsverlust der Partei. Der seit 1996 amtierende Parteivorsitzende Udo Voigt versucht mit einem "Drei-Säulen-Konzept" eine strategische Neuausrichtung und Wiederbelebung zu erreichen. 256 Demnach konzentriert sich die Arbeit auf drei Ebenen: den "Kampf um die Straße", den "Kampf um die Köpfe" und den "Kampf um die Parlamente". Das Konzept formuliert das Ziel, die NPD nicht nur als Wahlpartei 253 Rede Udo Pastörs, auf dem politischen Aschermittwoch der NPD in Saarbrücken am 25.2.2009. Wegen Passagen dieser Rede wurde wegen des Verdachts der Volksverhetzung von der Staatsanwaltschaft Anklage erhoben, das Verfahren wird im Mai 2010 beim AG Saarbrücken eröffnet. 254 Holger Apfel (Fraktionsund Landesvorsitzender der NPD in Sachsen): Weder Recht noch Menschlichkeit. In: "Deutsche Stimme" Nr. 9/2003, September 2003. 255 Schlagwortartige Darstellung der Positionen der NPD auf deren Homepage; Artikel zum Stichwort "multikulturell" vom 30.1.2009. 256 Vgl. Holger Apfel: "35 Jahre NPD - Alles Große steht im Sturm. Tradition und Zukunft einer großen Partei." Stuttgart 1999. 182 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 zu etablieren ("Kampf um die Parlamente"), sondern auch Einfluss auf intellektuelle Diskurse zu nehmen ("Kampf um die Köpfe") und durch provokante Aktionen und Demonstrationen die Basis ihrer Anhängerschaft zu verbreitern ("Kampf um die Straße"). Mit dem "Drei-Säulen-Konzept" und der Öffnung der Partei konnte die NPD insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern in den 90er Jahren neue, überwiegend jüngere Mitglieder gewinnen. Mit der konzeptionellen Neuausrichtung war auch eine Radikalisierung der Partei verbunden, die im Jahr 2000 Anlass für die Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht war. 257 Das Verfahren zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der NPD und Auflösung ihrer Parteiorganisation wurde mit Entscheidung des Zweiten Senats vom 18. März 2003 eingestellt. 258 Nach Abschluss des Verbotsverfahrens bemühte sich die NPD erfolgreich um die Überwindung der Isolation im rechtsextremistischen Lager. In den vergangenen Jahren konnte die Partei aufgrund einer Wahlabsprache mit der rechtsextremistischen "Deutschen Volksunion" in die Landtage von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern einziehen. Der Versuch, in Kooperation mit der DVU dauerhaft ein nationales Lager zu etablieren, wurde von der NPD durch die Aufkündigung des Deutschlandpakts einseitig beendet. Nach dem vorübergehenden Aufstieg zum zentralen Akteur der rechtsextremistischen Szene in den letzten Jahren folgte 2009 aufgrund finanzieller Unregelmäßigkeiten und parteiinternen Streitereien ein Bedeutungsverlust. 259 Insbesondere deswegen kam es in der Spitze der Partei zu Streitigkeiten über die strategische Ausrichtung 257 Vgl. Beschluss des BVerfG vom 18.3.2003, 2 BvB 1/01. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2001. Berlin 2002, S. 32 - 36; Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2002. Berlin 2003, S. 17 - 20; Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, S. 53 - 56. 258 Im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts fand sich nicht die nach SS 15 Abs. 4 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) für eine Fortsetzung notwendige ZweiDrittel-Mehrheit. Eine Minderheit der Richter (drei von sieben) vertrat die Auffassung, dass die Beobachtung der NPD durch V-Personen, die unmittelbar vor und während des Verbotsverfahrens als Mitglieder des Bundesvorstands oder eines Landesvorstands fungieren, in der Regel unvereinbar mit den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren sei. Die Mehrheit hielt eine Fortsetzung des Verbotsverfahrens für geboten. Sie sah in dem Vorgehen der Verfassungsschutzbehörden keinen schwerwiegenden Mangel, der eine Verfahrenseinstellung rechtfertigen könnte (Pressemitteilung des BVerfG vom 18.3.2003, AZ 2 BVB 1/01). 259 Vgl. S. 51. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - RECHTSEXTREMISMUS 183 und den zukünftigen Kurs der Partei. Ein Vorstoß des sächsischen Landesverbands, die NPD an bürgerlichen Themen auszurichten (der so genannte "sächsische Weg"), wurde mit dem vom Bundesvorstand befürworteten Konzept des "Deutschen Wegs" beantwortet, der für weiterhin radikal systemoppositionelle Positionen steht. Diese Strategiedebatte mündete in die Bildung einer "Strategiekommission" der NPD, die Anfang 2010 ihre Arbeit aufnahm. Nach deren ersten Verlautbarungen soll sich die Bundespartei stärker an den Positionen des "sächsischen Wegs" ausrichten. In Berlin verlor die NPD aufgrund personeller und strategischer Differenzen in den letzten Jahren einen Teil ihrer aktionsorientierten Mitglieder. Da diesen der Kurs des letzten Vorsitzenden zu wenig aktionistisch war, büßte die NPD ihren Einfluss im "Netzwerk Freie Kräfte" weitgehend ein. 260 Nach der Neubesetzung des Landesvorstands im Februar 2010 ist die NPD bemüht, Angehörige des Netzwerks "Freie Kräfte" wieder in die Partei einzubinden. Dies könnte jedoch an der Strategie des neuen Landesvorstands scheitern, die NPD für bürgerliche Wähler attraktiv zu machen. Sollte sich dieses an den "sächsische Weg" angelehnte Konzept der Bundespartei auch in Berlin durchsetzen, dürfte der NPD eine erneute Zerreißprobe insbesondere mit Teilen der aktionsorientierten Kräften drohen. Aktionsorientierter Rechtsextremismus 5.1.3 Neonazis Neonationalsozialisten (Neonazis) orientieren sich am historischen Nationalsozialismus, wie er von der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP) zwischen 1920 und 1945 vertreten wurde. Wie in der NSDAP sind auch im Neonazi-Spektrum unterschiedliche ideologische Strömungen festzustellen. So gibt es Bezüge zum sozialrevolutionären Flügel innerhalb des Nationalsozialismus und dem damit verbundenen Antikapitalismus Ernst Röhms und der Gebrüder Strasser. Allen Versionen des Neonationalsozialismus gemeinsam ist die Glorifizierung der Führungspersonen des NS-Regimes und die Verharmlosung der NS-Verbrechen. Ein Teil der bundesweiten Neonazi-Szene ist in festen Strukturen wie den so genannten Kameradschaften organisiert. In Berlin war 2009 erst260 Vgl. Internetseite des Berliner Verfassungsschutzes unter www.verfassungsschutzberlin.de: Aktuelle Meldung vom 11.2.2009. 184 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 mals seit Jahren wieder eine Kameradschaft öffentlich aktiv. 261 Diese Kameradschaft "Frontbann 24" wurde im November durch den Senator für Inneres und Sport verboten. Andere Neonazis nehmen lediglich unregelmäßig an politischen Aktionen wie Demonstrationen oder Wahlkampf für die NPD teil oder betätigen sich bei den "Autonomen Nationalisten". 5.1.4 Skinheads Die Subkultur der Skinheads 262 wird oft mit jugendlichem Rechtsextremismus gleichgesetzt. Dies ist eine unzutreffende Verkürzung, da die Skinheads zunächst eine jugendliche Subkultur wie die der Punks, Hippies oder Raver darstellen. Die Skinhead-Subkultur entstand in den 60er Jahren in Großbritannien und orientierte sich hinsichtlich ihrer Werte und ihres "Outfits" an einer proletarischen Attitüde. In Deutschland gibt es Skinheads seit Anfang der 80er Jahre, die größten Szenen entwickelten sich in Hamburg und Berlin. Erst im Laufe der Zeit driftete ein Teil der Skinhead-Szene in den Rechtsextremismus ab. Zum einen bestanden Abgrenzungsbestrebungen gegenüber den "linken" Punks, zum anderen bekam die Szene Zulauf aus dem neonazistischen Lager, nachdem die Skinheads aufgrund der Provokation mit rechtsextremistischen Zeichen in der Öffentlichkeit zum Symbol des Rechtsextremismus schlechthin wurden. Das Thema Rechtsextremismus spaltet die Skinhead-Szene. Viele Skinheads - wie zum Beispiel die sich selbst als unpolitisch bezeichnenden "Oi!-Skins" oder politisch links orientierte Skinheads ("Redskins") - wehren sich gegen ihre Vereinnahmung. Obwohl es auch überzeugte, ideologisch gefestigte rechtsextremistische Skinheads gibt (so genannte Nazi-Skins), hat ein großer Teil nur ein diffuses rechtsextremistisches Weltbild. Rechtsextremistische Skinheads sind dem aktionsorientierten Rechtsextremismus zuzuordnen. Die von ihnen ausgehende Gefahr besteht vor allem in ihrer Gewaltbereitschaft. Rechtsextremistische Gewalt kann allerdings nicht auf die Gewalt der Skinheads reduziert werden. Umgekehrt haben zahlreiche Gewalttaten von Skinheads keinen politischen Hintergrund. 263 261 Vgl. S. 63 ff. 262 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Rechtsextremistische Skinheads. Berlin 2003. 263 Vgl. ebenda, S. 37 - 42. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - RECHTSEXTREMISMUS 185 Rechtsextremistische Skinheads sind zum großen Teil organisationsfeindlich eingestellt und lehnen eine Einbindung in feste (Partei)-Strukturen ab. Versuche rechtsextremistischer Parteien, das SkinheadPotenzial dauerhaft an sich zu binden (z. B. durch die "Aktionsfront Nationaler Sozialisten" Anfang der 80er Jahre, die "Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei" (FAP) Mitte der 80er Jahre oder die "Nationale Alternative" Anfang der 90er Jahre), scheiterten. Den jüngsten Versuch machte die NPD mit ihrem "Drei-Säulen-Konzept". Im Gegensatz zu den Parteien, die von den rechtsextremistischen Skinheads überwiegend als szenefremd wahrgenommen werden, konnten sich in Deutschland seit Anfang der 90er Jahre zwei rechtsextremistische Skinhead-Zusammenschlüsse etablieren: "Blood & Honour" 264 und die "Hammerskins". 5.1.5 "Autonome Nationalisten" Seit 2002 gibt es in dem Netzwerk "Freie Kräfte" in Berlin die Tendenz, sich hinsichtlich Habitus, Organisationsund Aktionsformen dem Stil autonomer Linksextremisten anzunähern. Von den traditionellen "Kameradschaften" grenzen sich die in einigen Berliner Bezirken neu entstandene rechtsextremistische Personenzusammenschlüsse durch einen niedrigschwelligen Zugang, ein insbesondere in Bezug auf den Dresscode jugendnäheres Erscheinungsbild und ein aggressiveres Auftreten in der Öffentlichkeit ab. Diese Entwicklung ist einerseits eine Reaktion auf die linke "Antifa" und andererseits auf den Druck staatlicher Stellen auf rechtsextremistische Strukturen wie z.B. die Kameradschaften. Als Bezeichnung für diese Rechtsextremisten modernen Typs, die von Außenstehenden und teilweise auch von Szeneangehörigen, kaum von Linksautonomen zu unterscheiden sind, hat sich der Begriff "Autonome Nationalisten" durchgesetzt. Eigenbezeichnungen gibt es, im Gegensatz zu den ehemaligen Kameradschaften, nicht. Es werden für den gleichen Personenzusammenschluss bisweilen unterschiedliche "Labels" wie z.B. "Freie Kräfte Berlin" oder "Nationale Sozialisten" verwendet. Schwerpunkte der "Autonomen Nationalisten" liegen in Berlin und dem Ruhrgebiet. Die regionalen Personenzusammenschlüsse sind untereinander nur lose vernetzt. Die "Autonomen Nationalisten" sind Personen, die sich auf der Grundlage neonazistischer (vorzugsweise nationalrevolutionärer und kapita264 "Blood & Honour" wurde 2000 vom Bundesminister des Innern in Deutschland verboten. 186 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 lismuskritischer) Ideologiefragmente informell und konspirativ vernetzen und spontan mobilisierbar und situativ handlungsfähig sind. Diese losen Zusammenschlüsse führen politische Aktionen im öffentlichen Raum durch, z.B. Demonstrationen oder Verbreitung von Plakaten, Flugblättern und Aufklebern. 265 Die Aktionen besitzen teilweise den Charakter von Machtdemonstrationen und richten sich vornehmlich gegen den politischen Gegner ("Anti-Antifa"). Dabei wird Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung unter Berufung auf ein "Selbstverteidigungsrecht" legitimiert. Sichtbarster Ausdruck ihres Auftretens in der Öffentlichkeit ist die Bildung "Schwarzer Blöcke" bei rechtsextremistischen Demonstrationen. 266 In Berlin existiert ein Netzwerk von etwa 120 Aktivisten, der im Kern aus Angehörigen des ehemaligen "Netzwerks Kameradschaften" besteht, die zunächst als "Autonome Nationalisten Berlin" (ANB) und "Aktionsgruppe Rudow" (AGR) mit "Anti-Antifa"-Aktionen aufgefallen sind. Mittlerweile sind "Autonome Nationalisten" in den Bezirken Pankow, Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf, Treptow-Köpenick und Neukölln in lokalen Aktionsgruppen organisiert, aber auch berlinweit vernetzt. Ihre zentrale Informationsund Kommunikationsplattform ist die Internetpräsenz des fiktiven "Nationalen Widerstand Berlin". 5.1.6 "Vandalen - Ariogermanische Kampfgemeinschaft" ÜBERSICHT Abkürzung Vandalen Entstehung / Gründung 1982 Mitgliederzahl unter 20 (2008: unter 20) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin 265 Z.B. mit dem Inhalt: "Ich kämpfe für Nationalen Sozialismus [im Text hervorgehoben] damit meine Kinder eine Zukunft haben" (Fehler im Original), Aufkleber mit Hinweis auf die von Autonomen Nationalisten betriebene Internetauftritt. 266 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Lageanalyse "Autonome Nationalisten" 2008. Berlin 2008. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - RECHTSEXTREMISMUS 187 Die "Vandalen - Ariogermanische Kampfgemeinschaft" (Vandalen) ist eine Gruppe ideologisch gefestigter Neonazis, die sich 1982 in OstBerlin gründete. Ihre Mitglieder sind zwischen 30 und 45 Jahre alt. Sie machen sich subkulturelle Codes der Rocker und der "Skinheads" zu eigen. Durch das uniforme Tragen einer "Kutte" verdeutlichen sie ihren Gruppenzusammenhalt. Im Zentrum ihrer Ideologie steht ein neonazistisches Weltbild in Verbindung mit einem völkischen Germanenkult. Der Anführer der "Vandalen" war Initiator und Sänger der rechtsextremistischen Band "Landser". Die Bandmitglieder wurden im Dezember 2003 vom Kammergericht wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung verurteilt. Der Hauptangeklagte und Initiator der Band wurde nach Verbüßung seiner Haftstrafe im Februar 2008 unter Auflagen entlassen. Die "Vandalen" verfügen über persönliche Kontakte zu beinahe allen Personenzusammenschlüssen im Netzwerk "Rechtsextremistische Musik" in Berlin. Ihr Anführer wird als ehemaliger Texter und Sänger von "Landser" von vielen Rechtsextremisten idolisiert und inszenierte sich nach seiner Verurteilung als "Märtyrer". Die "Vandalen" haben daher eine wichtige Stellung im rechtsextremistischen Berliner Musiknetzwerk inne. Die "Vandalen" verfügen über ein Clubhaus in BerlinHohenschönhausen. Öffentliche Aktivitäten waren 2009 nicht feststellbar. 5.1.7 Netzwerk "Freie Kräfte" (vorm. Netzwerk Kameradschaften) Das Netzwerk "Freie Kräfte" ist ein loser Zusammenschluss von ca. 200 Rechtsextremisten, die sporadisch miteinander politisch agieren. Sie nehmen an Demonstrationen teil, erstellen und verbreiten Flugblätter und organisieren politische Schulungen sowie Internetauftritte. Zentrale öffentliche Veranstaltung des Netzwerks "Freie Kräfte" in Berlin ist die jährlich stattfindende Demonstration für ein "nationales Jugendzentrum" Anfang Dezember. An dieser Demonstration nahmen in den letzten Jahren bis zu 700 Personen aus dem ganzen Bundesgebiet teil. Die im Netzwerk "Freie Kräfte" vormals aktiven Gruppierungen - sofern es sich nicht nur um Gruppenkürzel ("Label") handelte, hinter denen sich keine Strukturen verbargen - waren fast ausschließlich als Kameradschaften organisiert. Rechtsextremistische Kameradschaften sind Personenzusammenschlüsse, die einen 188 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 - abgegrenzten Aktivistenstamm mit beabsichtigter geringer Fluktuation, - eine lediglich lokale oder maximal regionale Ausdehnung - eine mindestens rudimentäre Struktur und - die Bereitschaft zu gemeinsamer politischer Arbeit auf der Basis einer rechtsextremistischen, insbesondere neonazistischen Grundorientierung haben. Kameradschaften entstanden als Reaktion auf die zahlreichen Organisationsverbote in den 90er Jahren. An die Stelle der zerschlagenen überregionalen Strukturen sollten kleinere, unabhängige Einheiten treten, die aufgrund ihres informellen Charakters weniger Angriffspunkte für staatliches Vorgehen bieten sollten. Nach den Verboten der "Kameradschaft Tor Berlin" (KTB) und der "Berliner Alternative Süd-Ost" (BASO) 2005 ist auch diese Organisationsform unattraktiv geworden. Viele ehemalige Kameradschaftsmitglieder engagierten sich in der Jugendorganisation der NPD ("Junge Nationaldemokraten" /JN), oder in dem losen Netzwerk "Freie Kräfte" ohne formale Gruppenzugehörigkeit. 2009 war mit "Frontbann 24" erstmals wieder eine Kameradschaft in Berlin aktiv, die im November vom Senator für Inneres und Sport verboten wurde. 267 Die "Autonomen Nationalisten" haben sich zur vorherrschenden Struktur im ehemals von Kameradschaften dominierten Netzwerk "Freie Kräfte" entwickelt. Ihnen gehören etwa 120 der ca. 200 Personen des Netzwerks "Freie Kräfte" an, die durch ehemalige Kameradschaftsanführer organisiert werden. Obwohl sich das Netzwerk "Freie Kräfte" in den letzten Jahren organisatorisch und zum Teil auch personell gewandelt hat, sind die regionalen informellen Grundstrukturen und die Personalstärke weitgehend identisch geblieben. Regionale Schwerpunkte der Aktionen und Präsenz von Angehörigen des Netzwerks "Freie Kräfte" sind in Lichtenberg, Pankow, TreptowKöpenick, Marzahn-Hellersdorf sowie im Süden von Neukölln. 267 Vgl. S. 67 f. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - RECHTSEXTREMISMUS 189 5.1.8 "Kameradschaft Spreewacht" ÜBERSICHT Abkürzung KSW Entstehung / Gründung Ende der 90er Jahre Mitgliederzahl unter 20 (2008: unter 20) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Die Mitglieder der "Kameradschaft Spreewacht" (KSW) sind der Subkultur der rechtsextremistischen Skinheads zuzurechnen. Sie gehören zum Netzwerk "Rechtsextremistische Musik" in Berlin und betreiben ein Clubhaus in Berlin-Lichtenberg. Die lebensälteren Rechtsextremisten propagieren neonazistisches Gedankengut und transportieren das subkulturelle Lebensgefühl der Mitglieder in Abgrenzung zur bürgerlichen Gesellschaft. Nach eigener Aussage gründete sich die Gruppe Ende der 90er Jahre und schottete sich ab, um sich der Beobachtung durch die Sicherheitsbehörden zu entziehen: "Wir die Kameradschaft Spreewacht ein feierfreudiges Völkchen haben uns Ende der 90er Jahre zusammen gerauft. Da gerade in Berlin die sogenannte Staatsmacht [...] alles daran setzte um geistig gefestigte Menschen zu kriminalisieren, und zu unterwandern, haben wir uns abgeschottet [...]." 268 2009 wurde die im Vorjahr überwiegend nicht abrufbare Internetseite derart überarbeitet, dass offensichtliche Hinweise auf die rechtsextremistische Ausrichtung weitgehend fehlen. Auch auf martialische Darstellungen wie gekreuzten Waffen wurde nunmehr verzichtet. Die Startseite machte weiterhin die Gesinnung der Gruppe deutlich. Die Darstellung von Patronen mit dem Gruppenlogo, der Abbildung eines "szenetypisch" tätowierten Mannes (u.a. "SKIN" und "HASS" mit Vorschlaghammer) sowie einem "Anti-Antifa"-Logo zeigt, dass die KSW gewaltbereit und rechtsextremistisch ist. Die Internetpräsenz war 2009 268 Vgl. Internetauftritt der KSW, Aufruf am 1.2.2007. 190 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 überwiegend inaktiv. Inzwischen ist sie seit mehreren Monaten nicht mehr aufrufbar. Wegen der Darstellung eines Keltenkreuzes auf der Internetseite der KSW wurden 2009 Exekutivmaßnahmen der Strafverfolgungsbehörden durchgeführt. Öffentliche Aufmerksamkeit erlangte die KSW darüber hinaus durch die Nennung eines Mitglieds des Berliner Abgeordnetenhauses auf ihrer Internetseite. 5.1.9 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V." ÜBERSICHT Abkürzung HNG Entstehung / Gründung 1979 Mitgliederzahl Bund: ca. 600 (2008: ca. 600) Berlin: ca. 20 (2008: ca. 30) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Frankfurt am Main Veröffentlichungen "Nachrichten der HNG" (überregional, monatlich, Auflage ca. 600) Die "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V." (HNG) ist mit bundesweit ca. 600 Personen nach den größeren rechtsextremistischen Parteien der mitgliederstärkste Zusammenschluss im Rechtsextremismus. In Berlin verfügt die HNG über ein Mitgliederpotenzial von rund 20 Personen. Laut Satzung verfolgt sie "ausschließlich karitative Zwecke, indem sie nationale und politische Gefangene und deren Angehörige im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden Mittel unterstützt". 269 Tatsächlich ist es ihr Ziel, die Einbindung der Straftäter in die rechtsextremistische Szene während der Haftzeit zu gewährleisten und sie nach der Haftentlassung nahtlos wieder zu integrieren. Zu diesem Zweck nutzt die HNG ihre 269 SS 2 Satzung der HNG vom 13.3.1999. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - RECHTSEXTREMISMUS 191 Publikation "Nachrichten der HNG". Darin sind "Gefangenenlisten" abgedruckt sowie eine Liste inhaftierter Rechtsextremisten, die Briefkontakt wünschen. Auch in Berliner Haftanstalten werden Rechtsextremisten von der HNG betreut. Die Betreuung geht kaum über die Versendung der "Nachrichten der HNG" hinaus. Da diese Publikation in den Berliner Justizvollzugsanstalten verboten ist, wird sie dort beschlagnahmt. Die Häftlinge sind in der"Gefangenenliste" der "Nachrichten der HNG" aufgeführt, manche erhalten Briefe der Vorsitzenden der HNG. Antworten auf diese Briefe werden teilweise in der Publikation veröffentlicht. In Einzelfällen erhalten Häftlinge geringe Geldspenden. Die HNG bezeichnet die von ihr betreuten Straftäter als "politische Gefangene". Dabei nimmt sie keinen Anstoß daran, dass einige der Häftlinge für Kapitalverbrechen wie Mord oder Totschlag verurteilt worden sind. Die Gefangenen sind, in der Diktion der Vorsitzenden der HNG, "Verfolgte der Demokratie". Sie bezeichnet die Bundesrepublik als "BRDDR" und somit als Fortbestand einer Diktatur und bestreitet deren Rechtstaatlichkeit. 270 Aufgrund des eng umrissenen Vereinszwecks spielen ideologische oder strategische Meinungsverschiedenheiten der HNG-Mitglieder keine große Rolle. Die HNG hält sich aus politischen Auseinandersetzungen im rechtsextremistischen Spektrum heraus, um einen "neutralen" Status zu wahren und die Vernetzung im Rechtsextremismus zu fördern. Die HNG wird zentral von ihrer Vorsitzenden in Mainz-Gonsenheim gesteuert. Im Jahr 2009 wurde auf einer rechtsextremistischen Internetseite die Gründung einer Berliner Ortsgruppe behauptet. Weitere öffentliche Aktivitäten entfaltete die HNG in Berlin nicht. 5.1.10 Rechtsextremistische Musik Rechtsextremistische Musik kombiniert rechtsextremistische Texte mit verschiedenen Musikstilen (u. a. Rock / Hardrock, Liedermacher, Schlager, Volkslieder). 271 Die Musik-Szene ist seit Mitte der 90er Jahre einer 270 Interview mit der Vorsitzenden der HNG vom Dezember 2009 in der "Deutschen Stimme" Nr. 12/09, S. 3. 271 Oft verwendete Schlagwörter wie "Rechtsrock" oder "Skinhead-Musik" sind unpräzise, da sie entweder nur einen kleinen Teil rechtsextremistischer Musik bezeichnen (Rechtsrock) oder aber mit ihr nicht deckungsgleich sind. Vgl. Senatsverwaltung 192 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 der dynamischeren Bereiche des Rechtsextremismus. Im strukturarmen aktionsorientierten Rechtsextremismus stellt sie - und hier besonders durch die Konzerte - eine wichtige Kommunikationsplattform dar. Die Mitgliedschaft in einer Band bietet die Möglichkeit, sich innerhalb der Szene zu profilieren - je menschenverachtender die Texte einer Band sind, desto größer das Ansehen unter den Szene-Angehörigen. Eng mit dem Bedeutungszuwachs der Musikszene war der Aufstieg der "Blood & Honour"-Organisation" 272 verbunden. Strategisch denkende Köpfe wie der B & H-Gründer Ian Stuart Donaldson versuchten, die Musik als Mittel der ideologischen Beeinflussung und Rekrutierung einzusetzen. Diese Strategie war nur begrenzt erfolgreich - eine Rekrutierung für die Szene erfolgt selten über das alleinige Hören rechtsextremistischer Musik. Für die Gewinnung Außenstehender ist der persönliche Kontakt, der auch auf Konzerten zustande kommt, wichtiger. Daneben erlangte der Musikbereich auch finanzielle Bedeutung für den aktionsorientierten Rechtsextremismus. Seit Mitte der 90er Jahre etablierten sich professionelle Händler, welche die Szene mit Tonträgern und sonstigem Szenebedarf (vor allem Kleidung) versorgen. Die Aktivitäten der rechtsextremistischen Musikszene in Berlin erreichten Mitte der 90er Jahre ihren Höhepunkt, bevor sie gegen Ende der 90er Jahre unter erheblichen Druck durch das Vorgehen der Sicherheitsbehörden geriet: Rechtsextremistische Veranstaltungen wurden aufgelöst, Tonträger indiziert und Hausdurchsuchungen durchgeführt. Mit der Verurteilung der Mitglieder der Band "Landser" im Dezember 2003 wurde erstmals eine Band als kriminelle Vereinigung eingestuft. 273 Gegen die Bandmitglieder von "Deutsch, Stolz, Treue" (D.S.T.) hat die Berliner Staatsanwaltschaft wegen der CD "Ave et Victoria" 274 im Frühjahr 2007 Anklage erhoben. Das Landgericht Berlin hat am 17. März 2009 zwei Mitglieder der Band wegen Verwendens von Kennzeichen für Inneres: Rechtsextremistische Skinheads. Berlin 2003, S. 56 ff und Senatsverwaltung für Inneres: Rechtsextremistische Musik. Berlin 2007. 272 "Blood & Honour" wurde 2000 vom Bundesminister des Innern in Deutschland verboten. B & H-Stukturen sind in Berlin nicht mehr vorhanden. 273 Urteil des Kammergerichts Berlin vom 22.12.2003, Az: (2) 3 StE 2/02-5(1) (2/02). Das Urteil des Kammergerichts Berlin wurde im März 2005 im Wesentlichen durch den Bundesgerichtshof bestätigt. Az: 3 StR 233/04. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, S. 46 - 48. 274 Deren Texte verwirklichen Straftatbestände nach SS 86a (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) und SS 130 StGB (Volksverhetzung). HINTERGRUNDINFORMATIONEN - RECHTSEXTREMISMUS 193 verfassungswidriger Organisationen und Volksverhetzung zu Freiheitsstrafen von einem Jahr und zwei Monaten sowie zehn Monaten verurteilt und die Strafen zur Bewährung ausgesetzt. Ein dritter Angeklagter wurde freigesprochen. Wegen der 2005 unter dem Pseudonym "X.x.X." 275 veröffentlichten CD "Die Antwort auf's System" und den 2007 herausgegebenen CDs "Gift für die Ohren" und "Gift für die Ohren 2", an denen auch die Band "Burn Down" beteiligt ist, wurden ebenfalls Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Volksverhetzung eingeleitet. Der rechtsextremistische Konzertbetrieb im Land Berlin ist aufgrund des konsequenten Vorgehens der Sicherheitsbehörden in den vergangenen Jahren weitgehend zum Erliegen gekommen. Die Berliner Bands haben ihre Auftritte überwiegend ins Bundesgebiet und ins Ausland verlegt. 2009 wurde in Berlin ein Konzert durchgeführt, ein weiteres wurde von der Polizei verhindert. 276 Von den Berliner rechtsextremistischen Bands veröffentlichten 2009 "X.x.X.", "Legion of Thor" und "Macht & Ehre" eigene Tonträger. 277 Die Zahl der Tonträgerveröffentlichungen bleibt damit auf dem geringen Niveau der Vorjahre. 278 Tonträger-Veröffentlichungen Berliner Bands 12 10 10 8 7 7 6 6 5 5 5 5 4 3 3 3 2 2 2 2 2 2 1 1 1 0 0 90 19 9 19 1 19 92 9 19 3 94 9 19 5 19 19 96 9 19 7 98 9 20 9 00 19 1920 20 20 20 0 20 1 02 0 20 3 04 0 20 5 20 06 0 20 7 08 09 275 " X.x.X ". ist das Pseudonym der Band D.S.T. 276 Vgl. S. 72. 277 Vgl. S. 73. 278 Ebenda. 194 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Die Berliner Bands bemühen sich im Gegensatz zu früheren Jahren, jugendgefährdende oder strafrechtlich relevante Aussagen weitgehend zu vermeiden. Das ist allerdings nicht immer der Fall gewesen. Die von den Bands "Macht & Ehre" und "X.x.X." im Mai 2009 veröffentlichten Tonträger wurden im Oktober 2009 von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien wegen Verherrlichung des Nationalsozialismus indiziert. Mit der Herausgabe von CDs, der Beteiligung an Samplern und Konzerten haben die rechtsextremistischen Berliner Bands auch überregionale Bedeutung. Sie sind vor allem im so genannten "Hardcore"Bereich angesiedelt. 5.1.11 "Hammerskins" ÜBERSICHT Abkürzung HS Entstehung / Gründung Mitte der 80er Jahre USA 1994 Deutschland Mitgliederzahl Bund: ca. 100 (2008: ca. 100) Berlin: unter 20 (2008: unter 20) Organisationsstruktur Internationale Vereinigung Regional untergliedert in Chapter und Sektionen Die "Hammerskins" (HS) sind eine internationale rechtsextremistische Skinhead-Organisation. Die HS wurden Mitte der 80er Jahre als neonazistische "Elite"-Organisation in den USA gegründet. Die Bemühungen um eine länderübergreifende Zusammenarbeit leiten sich aus einem rassistischen Weltbild ab. Ziel der HS ist die Vereinigung aller "weißen" Skinheads über Ländergrenzen hinweg in einer "Hammerskin-Nation". Das Symbol der HS sind zwei gekreuzte Zimmermannshämmer, die auf die Wurzeln der Skinhead-Subkultur im Arbeitermilieu hinweisen und dessen Kraft symbolisieren sollen. In Deutschland bildeten sich ab etwa Mitte der 90er Jahre regionale Zusammenschlüsse ("Sektionen"). Aufgrund mangelnder Organisations- HINTERGRUNDINFORMATIONEN - RECHTSEXTREMISMUS 195 strukturen und einer fehlenden Führungspersönlichkeit in ihren Reihen konnten die HS aber weder in Konkurrenz zu "Blood & Honour" 279 treten, noch ihr Selbstbild als Elite der rechtsextremistischen Skinheads durchsetzen. Angesichts des postulierten Ziels einer "Hammerskin Nation" fällt die Konzeptionslosigkeit der HS auf. Eine Strategie zur Umsetzung ihres Ziels ist nicht erkennbar. Überregionale Koordinierungstreffen finden zwar regelmäßig statt, Impulse gehen von diesen Treffen jedoch nicht aus. Die Berliner Sektion gründete sich 1994. Innerhalb der Gruppe gab es in den letzten Jahren kaum personelle Veränderungen. Im Gegensatz zu dem von den "Hammerskins" formulierten Anspruch geht von der Berliner Sektion keine Außenwirkung aus. 5.2 Diskursorientierter Rechtsextremismus 5.2.1 Die "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V." ÜBERSICHT Entstehung / Gründung 1951 Mitgliederzahl Bund: ca. 150 (2008: ca. 150) Berlin: unter 20 (2008: ca. 20) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Berlin Veröffentlichungen "Nordische Zeitung" (überregional, vierteljährlich, Auflage ca. 300) Die "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V." (Artgemeinschaft) ist eine heidnischgermanische Weltanschauungsgemeinschaft. Vorsitzender war bis zu seinem Tod im Oktober 2009 der Neonazi Jürgen Rieger (Hamburg). Der rechtsextremistische Multi-Funktionär war auch Mitglied des Bun279 Blood & Honour" wurde 2000 vom Bundesminister des Innern in Deutschland verboten. 196 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 desvorstands der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD). Zuvor hatte er mehrfach durch vermeintliches Interesse an Immobilien, die angeblich zu Schulungszentren ausgebaut werden sollten, öffentliches Aufsehen erregt. Mitteilungsorgan der "Artgemeinschaft" ist die "Nordische Zeitung", deren Schriftleiter ebenfalls Rieger war. Daneben publiziert die "Artgemeinschaft" zwei Schriftenreihen, eine Buchreihe und Einzelschriften in geringerer Auflage. Die "Artgemeinschaft" versteht sich als religiöse Gemeinschaft, die sich "zum germanischen Kulturerbe und dessen Weiterentwicklung" 280 bekennt. Dahinter verbirgt sich eine völkisch-rassistische Weltanschauung, die auf der biologistisch-rassistischen Annahme von verschiedenen "Menschenarten" mit unterschiedlichen Wertigkeiten basiert. Die Bewahrung und Förderung der eigenen Art ist für die "Artgemeinschaft" das höchste Ziel. Erreicht werden soll dieses Ziel durch "gleichgeartete Gattenwahl" und damit "die Gewähr für gleichgeartete Kinder" 281. Die "Artgemeinschaft" nimmt eine klare Unterscheidung in "Eigene" und "Fremde" - "Freunde" und "Feinde" vor: "Das Sittengesetz in uns gebietet Treue und Vertrauen, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Freimut, Rücksichtnahme, Zuneigung und Liebe gegenüber Verwandten, Freunden und Gefährten, Wachsamkeit und Vorsicht gegenüber Fremden, Härte und Hass gegen Feinde." 282 In ihren programmatischen Schriften "Das Artbekenntnis" und "Das Sittengesetz unserer Art" formuliert die "Artgemeinschaft" zudem eine pervertierte Lebensphilosophie, in deren Zentrum nicht das Leben, sondern Kampf, Opfer und Tod stehen. Die Aktivitäten der "Artgemeinschaft" beschränkten sich in den vergangenen Jahren fast ausschließlich auf die Ausrichtung von bundesweiten und regionalen Festen wie Sommerund Wintersonnenwendfeiern ("Julfeiern"). Die Feste sollen Gemeinschaftserlebnisse sein und tragen meist den Charakter von Familienfeiern; sie haben selten größere Außenwirkung. Gefahr geht von Personenzusammenschlüssen wie der "Artgemeinschaft" dadurch aus, dass sie ihren meist aktionsorientierten Teil280 Vgl. u. a. Das Artbekenntnis Art. 7, In: "Nordische Zeitung", Heft 3/77 2009. 281 Vgl. u. a. Das Sittengesetz unserer Art. Art. 22, In: "Nordische Zeitung", Heft 3/77 2009, Rückseite. 282 Ebenda, Art. 21. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - RECHTSEXTREMISMUS 197 nehmern einen lebensweltlichen Gegenentwurf auf heidnischer und völkisch-rassistischer Grundlage bieten. Allerdings schränkt der antimoderne Habitus der "Artgemeinschaft" ihre Anziehungskraft insbesondere auf Jugendliche ein. In der "Artgemeinschaft" sind auch Berliner Rechtsextremisten vertreten. Öffentlichkeitswirksame Aktivitäten entfaltet der Personenzusammenschluss in Berlin jedoch nicht, da für Veranstaltungen ländliche Räume bevorzugt werden. Derzeit ist unklar, ob und wie sich die Artgemeinschaft nach dem Tod ihres langjährigen Vorsitzenden zu Veränderungen kommen wird. Das Vereinsleben wurde maßgeblich und nahezu ausschließlich von Rieger organisiert und koordiniert. 5.2.2 "Heimattreue Deutsche Jugend e. V." ÜBERSICHT Abkürzung HDJ Entstehung / Gründung 1990 Mitgliederzahl 283 Bund: Verbot am 31. März 2009 (2008: ca. 500 ) Berlin: Verbot am 31. März 2009 (2008: ca. 30) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Plön Veröffentlichungen "Funkenflug" (überregional, vierteljährlich) Die "Heimattreue Deutsche Jugend e. V." (HDJ) war ein neonazistischer Jugendverband mit Sitz in Plön. Am 31. März 2009 wurde sie durch den Bundesminister des Innern wegen Wesensverwandtschaft mit dem Nationalsozialismus verboten. Sie lehnte die bestehende freiheitliche demokratische Grundordnung ab. Offene Bekenntnisse zum Nationalsozialismus wurden in der HDJ zwar vermieden, in der Gesamtschau ließ sich jedoch deren rechtsextremistische Ausrichtung nachweisen, weil in der HDJ u.a. Führungspersonen des 3. Reichs glorifiziert wurden, NS283 In diesem Mitgliederpotenzial befinden sich zahlreiche Kinder, die nicht zum rechtsextremistischen Personenpotenzial gezählt werden. 198 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Literatur im Vereinsleben eine Rolle spielte, NS-Liedgut im offiziellen HDJ-Liederbuch abgedruckt war sowie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus propagiert wurden. 284 Es gab direkte Kampfansagen an das politische System. Die Verbotsverfügung zitierte einen HDJ-Funktionär mit den Worten: "Ich will keine bessere BRD, ich will ein neues Reich auf den Trümmern dieses verkommenen Systems errichten." 285 Die HDJ entstand im Jahr 1990 nach einer Abspaltung einer bündischen Jugendorganisation. Zunächst firmierte sie unter "Die Heimattreue Jugend - Bund für Umwelt, Mitwelt und Heimat e. V." (DHJ). Den neuen Namen gab sie sich im Jahr 2001. Die HDJ hat vierteljährlich die Zeitschrift "Funkenflug" herausgegeben. Die Bundesführung war weitgehend in Berlin und dem Berliner Umland ansässig und plante von dort aus die überregionalen Veranstaltungen der HDJ. Die HDJ hat sich selbst als "die aktive volksund heimattreue Jugendbewegung für alle deutschen Mädel und Jungen im Alter von 7 bis 25 Jahren" 286 beschrieben. Ihre rechtsextremistische, nationalistische Ideologie versuchte sie hinter einer Selbstcharakterisierung als traditionsbewusst und wertorientiert ("volksund heimattreu") zu verbergen. Die HDJ behauptete, einzutreten für "[...] eine Lebensführung, die sich ganzheitlich in einem gesunden Körper, Geist und Charakter wiederspiegelt. Für ein Leben mit Tradition und Werten wie Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit, Hilfsbereitschaft, Kameradschaft, Treue. Gegen die Abwertung des Lebens durch Oberflächlichkeit, Beliebigkeit, Kulturlosigkeit und Verrohung." 287 Ähnlich wie bei der seit 1994 verbotenen "Wiking Jugend" (WJ) zielte das Lebensbund-Konzept der HDJ darauf ab, ein rechtsextremistisches lebensweltliches Freizeitangebot für die ganze Familie zu bieten. Kinder und Jugendliche sollten bereits in jungen Jahren durch vorgeblich unpolitische Aktivitäten (z. B. Pfingst-, Sommerund Winterlager und ähnli284 HDJ-Verbotsverfügung des Bundesministeriums des Innern vom 9.3.2009. 285 Ebenda. 286 Internetauftritt der HDJ, Aufruf am 9.2.2009. 287 Internetauftritt der HDJ, Aufruf am 9.2.2009 (Fehler im Original). HINTERGRUNDINFORMATIONEN - RECHTSEXTREMISMUS 199 chen Aktivitäten, Pflege völkischen Brauchtums, Singen und körperliche Ertüchtigung) für die rechtsextremistische Szene gewonnen werden. 2008 rückte die HDJ stärker in den Blickpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit, da das Bundesministerium des Innern gegen die HDJ ein vereinsrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet hatte, in dessen Verlauf es im Oktober 2008 bundesweit zu Durchsuchungen und schließlich zum Verbot im März 2009 kam. Mehrere Einzelverfahren zumeist wegen Volksverhetzung sind gegen ehemalige Funktionäre der HDJ weiterhin anhängig. 5.2.3 Revisionismus Revisionismus ist eine Sammelbezeichnung für die "politisch motivierte Umdeutungen durch einseitige, leugnende, relativierende oder verharmlosende Darstellungen der Zeit des Dritten Reiches". 288 Revisionisten benutzen pseudowissenschaftliche Argumente, um ihre rechtsextremistischen Positionen zu rechtfertigen und moralisch zu entlasten. Typische Argumentationsmuster der Revisionisten sind: * die Leugnung der Kriegsschuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg, * die Umdeutung des Angriffskrieges Adolf Hitlers gegen die Sowjetunion als notwendigen Präventivkrieg gegen die "bolschewistische Expansion", * die Leugnung der Existenz oder des Umfangs des Holocaust, * das Aufrechnen der NS-Verbrechen mit den alliierten Bombenangriffen gegen deutsche Städte oder den Vertreibungen von "Volksdeutschen" nach Ende des Zweiten Weltkriegs, * die Betonung vermeintlich positiver Leistungen des NS-Regimes (Autobahn-Bau, Senkung der Arbeitslosigkeit) oder die Argumentation, der Nationalsozialismus sei eigentlich eine gute Idee gewesen, die nur schlecht ausgeführt worden sei. Die Veröffentlichung revisionistischer Literatur setzte in den 50er Jahren ein. Bekannt wurden Autoren wie Peter Kleist ("Auch Du warst dabei"), David Hoggan ("Der erzwungene Krieg. Die Ursachen und Urheber des Zweiten Weltkriegs") und Udo Walendy ("Wahrheit für Deutschland. Die Schuldfrage des zweiten Weltkriegs"). Der Revisionismus ist kein 288 Armin Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 2. Auflage München 2000, S. 47. 200 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Phänomen, das auf Deutschland beschränkt ist, sondern spielt vor allem in den USA aber auch im europäischen Ausland eine Rolle. Da die Leugnung des Holocaust in Deutschland strafbar ist (SS 130 Abs. 3 StGB), agieren die Propagandisten der "Auschwitz-Lüge" vor allem vom Ausland aus, so bis zu seinem Tod Thies Christophersen ("Die Auschwitz-Lüge") und bis zu seiner Auslieferung nach Deutschland Ernst Zündel. Von besonderer Bedeutung waren bzw. sind der "Leuchter-Report", der im Zusammenhang mit dem Prozess gegen den damals in Kanada lebenden Zündel verfasst wurde, und das "RudolfGutachten" des deutschen Rechtsextremisten Germar Rudolf. In beiden Studien wird mit pseudo-naturwissenschaftlichen Methoden versucht, die Massenermordung in Auschwitz als technisch unmöglich darzustellen. Die Holocaustleugner in Deutschland konzentrierten sich bis zu dessen Verbot im Mai 2008 um den "Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten", dessen Hauptagitator und -initiator lange Zeit Horst Mahler war, der neben der Rechtsanwältin Sylvia S. derzeit als letzter prominenter Holocaustleugner eine mehrjährige Haftstrafe absitzt. Ernst Zündel wurde am 1. März 2010 aus dem Strafvollzug entlassen. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - RECHTSEXTREMISMUS 201 6 LINKSEXTREMISMUS 6.1 Aktionsorientierter Linksextremismus 6.1.1 "Antifaschistische Linke Berlin" ÜBERSICHT Abkürzung ALB Entstehung / Gründung 2003 Mitgliederzahl Ca. 60 (2008: ca. 60) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter Die Vorgängerorganisation der "Antifaschistischen Linken Berlin" (ALB) wurde Mitte 1993 in Berlin von gewaltorientierten Autonomen aus Passau - zunächst unter der Bezeichnung "Antifa A+P" bzw. "Agitation und Praxis", danach "Antifaschistische Aktion Berlin" (AAB) - gegründet. Diese war eine der mitgliederstärksten und politisch aktivsten autonomen "Antifa"-Gruppen in Berlin. Nach eigener Darstellung hat sich die AAB am 13. Februar 2003 aufgelöst und in zwei etwa gleich starke Gruppen - die "Antifaschistische Linke Berlin" (ALB) und die heute nicht mehr existierende Gruppe "Kritik & Praxis Berlin" - gespalten. 289 Auf ihrer Internet-Homepage bietet die ALB grundlegende Ausführungen etwa zum praktizierten "Antifaschismus" sowie aktuelle Informationen zu Aktionsschwerpunkten, Kampagnen und regionalen wie überregionalen Aktivitäten. 289 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, S. 97 f. 202 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Die ALB verfolgt Ziele, die gegen den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet sind. Sie tritt für den Kommunismus als politische Ordnungsform ein: "Denn der Kapitalismus ist keine natürliche Gegebenheit, die unabänderlich festgeschrieben steht. [...] Der Kapitalismus verwehrt den Menschen, ihre Bedürfnisse zu befrieden, da sein einziges Ziel die Vermehrung des Kapitals ist. Daher ist der Kapitalismus in seiner ganzen Verfasstheit durch eine Revolution zu überwinden. [...] Luxemburg und Liebknecht mussten ihren Einsatz für die Revolution mit dem Leben bezahlen. Ihre Ideen sind aktueller denn je. [...] Die Revolution ist und bleibt auf der Tagesordnung aller linken Kräfte und der Kämpfe, die sie führen. Für den Kommunismus!" 290 In ihrem Aufruf zur revolutionären 1. Mai-Demonstration postuliert die ALB die Notwendigkeit einer Systemalternative: "[...] im Kapitalismus ist die Krise ein integraler Bestandteil des Systems. [...] Die Krise, von der überall gesprochen wird, ist eine Krise des Neoliberalismus als aktuellem Organisationsmodell des Kapitalismus. Krisen, Arbeitslosigkeit, Verarmung und die Vernichtung von Lebenschancen gehören untrennbar zum Kapitalismus. [...] Krise sagt uns: The only solution is revolution! Wir aber sagen: Es gibt keine Alternative innerhalb dieses Systems. Es ist notwendig, gemeinsam und solidarisch miteinander für eine andere, eine bessere Welt zu kämpfen!" 291 Die ALB fordert die Überwindung des politischen Systems auch aus einem revolutionären Antifaschismusverständnis heraus. Der demokratische Verfassungsstaat sei nicht reformierbar. In ihm sei ein Faschismus angelegt, der sich nicht von dem Rassismus etwa der rechtsextremen NPD unterscheide: "Die schlagkräftigste Antifa ist nichts wert, wenn sie nicht ihr politisches Profil schärft. Die autonome Antifa unterscheidet von den Akteuren der demokratischen Zivilgesellschaft die Analyse, dass Faschismus und faschistische Bewegungen nicht als Äußeres, der parlamentarischen Demokratie Wesensfremdes zu verstehen sind, sondern als daraus hervorgehend. Ein radikaler Antifaschismus macht nicht davor Halt, den gesellschaftlichen und institutio290 "Kein Friede mit dem Kapitalismus". Aufruf der ALB zur Liebknecht-LuxemburgDemonstration am 11.1.2009. 291 "Heraus zum revolutionären 1. Mai! Gegen Krise, Krieg und Kapitalismus!". Internetauftritt der ALB, Aufruf am 28.4.2009. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - LINKSEXTREMISMUS 203 nalisierten Rassismus - auch gegen politische Opportunitäten - anzugreifen. Liegt doch sowohl dem demokratisch legitimierten Rassismus als auch der rassistischen Hetze der NPD dieselbe Ideologie der Ungleichwertigkeit zu Grunde." 292 Die ALB befürwortet den Einsatz von Gewalt. Im Zusammenhang mit den gewalttätigen Protesten gegen den G 8-Gipfel am 2. Juni 2007 in Rostock verharmloste und befürwortete sie die Ausschreitungen und rechtfertigte diese mit der "strukturellen Gewalt", einer Gewalttätigkeit der bestehenden Verhältnisse: "Die militanten Angriffe auf die Polizei am vergangenen Samstag in Rostock waren zielgerichtete Aktionen. Diese fanden trotz oder gerade vor dem Hintergrund eines in den letzten 10 Jahren massiv hochgerüsteten Polizeiapparates, der Aushebelung elementarer Bürgerrechte und der zunehmenden Durchleuchtung der Bevölkerung statt. [...] Die Militanz der Gipfelgegner steht in keinem Verhältnis zur Gewalttätigkeit der bestehenden Verhältnisse. [...] Die symbolische Zerstörung von Schaufensterscheiben einer Bank ist eben eine Form der Artikulation von Opposition zum bestehenden System, die zudem weltweit verstanden wird. [...] In den kommenden Tagen werden rund um Heiligendamm Aktionen und Blockaden gegen den G 8-Gipfel stattfinden. Daran wird sich die gesamte Gegenbewegung zu G 8 beteiligen. Zu ihr gehören zu einem nicht unwesentlichen Teil Linksradikale und Autonome. Deren Aktionsformen sind legitim und gehören zur Vielfältigkeit einer Bewegung, die ohne die Ereignisse in Rostock kaum wahrgenommen worden wäre." 293 Die Ablehnung des Staates und der bestehenden Gesellschaftsordnung wird auch aus dem von der ALB mitunterzeichneten Aufruf zum "Tag X", dem Tag der Urteilsverkündung im Prozess gegen Mitglieder der "militanten gruppe" (mg) vor dem Kammergericht Berlin, deutlich: "Nicht nur dieser Prozess hat deutlich gemacht, dass Gerichte Institutionen des bürgerlichen Staates sind - ein Staat, den wir als radikale Linke grundsätzlich in Frage stellen, da er eine Gesellschaftsform absichert, die zu Armut, Hunger und Krieg führt. Deshalb ist es für uns auch in diesem Fall irrelevant, ob die drei schuldig sind oder nicht. Denn die bestehende Rechtsordnung ist nicht der Maßstab unseres politischen Handelns." 294 Allgemein waren "Umstrukturierung" und "Gentrifizierung" im Jahr 2009 sehr wichtige Themen für die linksextremistische Szene und haben 292 "... Angriff!" In: "Antifaschistisches Info-Blatt" Nr. 77 vom April 2007, S. 35 f. 293 "Linker Widerstand wird sich nicht in "Gut und "Böse" spalten lassen". Presseerklärung der ALB vom 5.6.2007. 294 "Aufruf zum Tag X: Feuer und Flamme der Repression". Internetseite des Bündnisses für die Einstellung des SS 129a-Verfahrens, Aufruf am 10.12.2009. 204 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 eine hohe Mobilisierungskraft entfaltet: Die Gewaltdelikte der "Politisch motivierten Kriminalität-links" im Themenfeld "Umstrukturierung" sind im Vergleich zu 2008 von 49 auf 81 Fälle angestiegen. Auch die ALB setzte sich mit dem Thema "Gentrifizierung" und in diesem Begründungszusammenhang begangenen Straftaten auseinander. Ein Sprecher der ALB befürwortete Brandstiftungen an Fahrzeugen und Sachbeschädigungen an hochwertigen Bauprojekten: "Ich behaupte, es funktioniert", so Tim Laumeyer, Sprecher der ALB. So hätten viele Investoren in Berlin-Kreuzberg mit Leerstand zu kämpfen. 295 "Leute mit viel Geld", freut sich Laumeyer, "überlegen es sich jetzt dreimal, wo sie es anlegen." 296 6.1.2 "Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin" ÜBERSICHT Abkürzung ARAB Entstehung / Gründung 2007 Mitgliederzahl Ca. 30 (2008: ca. 20) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Internet, Flugund Faltblätter Die ARAB gehört zu den aktivsten autonomen Gruppierungen Berlins. Sie ist innerhalb der linksextremistischen Szene gut vernetzt und verfolgt offensiv eine breite Bündnisstrategie. Die ARAB setzt sich für die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie ein und propagiert die "klassenlose Gesellschaft": "Wir kämpfen für die vollständige Überwindung kapitalistischer Verhältnisse. Unsere Kritik richtet sich gegen die kapitalistische Totalität als Ganzes und 295 "Das Verlangen nach Vergeltung". In: "die tageszeitung" (Onlineausgabe) vom 16.12.2009. 296 "Wenn in Berlin die Autos brennen". In: "Kölner Stadt-Anzeiger" (Onlineausgabe) vom 5.1.2010. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - LINKSEXTREMISMUS 205 nicht nur gegen die schlimmsten Ausprägungen des Systems. [...] Unser Ziel ist nicht die reine Lehre [...] zeigen wir unser Vertrauen in die Kreativität von revolutionären Bewegungen, die sich ihre notwendigen Strukturen und Theorien selbst erschaffen. Diesen Prozess wollen wir vorantreiben. [...] Nur weil etwas utopisch ist, heißt es nicht, dass es unrealistisch ist! [...] Unser Ziel ist es, wie Karl Marx so schön sagte: 'alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist' und endlich mit der 'ganzen ökonomischen Scheiße' aufzuräumen!" 297 Sie gehört zu den gewaltausübenden autonomen Gruppierungen, propagiert einen militanten Antifaschismus und verknüpft ihn mit dem Kampf gegen das "herrschende System": "Wir haben keine Lust, den Kapitalismus gesund oder gerecht zu reformieren, das ist verschwendete Zeit. Kapitalismus war als Kind schon scheiße, ist und wird immer scheiße sein! Kapitalismus basiert auf Ausbeutungsverhältnissen, bei denen wenige gewinnen und die Masse verliert. Diese Logik möchten wir überwinden. Wir möchten die ideelle Basis kapitalistischer Produktion sprengen, wir wollen ein Leben jenseits kapitalistischer Verwertungslogik [...] Wir überlassen den 1. Mai nicht den Nazis. Uns geht es um eine befreite Gesellschaft. Wir wollen ein Leben ohne Staat, Nation und Kapital. Wir wollen in Kaufhäusern Partys feiern, mit Bullenwannen ans Meer fahren, im Park grillen, am Alex Bier trinken, Wände anmalen, Zäune einreißen, zum Mond fahren... Unserer Vorstellungskraft sind keine Grenzen gesetzt. Die Freiheit nehmen wir uns [...] Wir fordern nichts aber wir wollen alles! Zusammen kämpfen! Gegen Staat, Nation und Kapital! Fight the system!" 298 Die ARAB engagiert sich darüber hinaus in unterschiedlichen Aktionsfeldern wie Antikapitalismus, Sozialabbau, Antiglobalisierung und Antimilitarismus. Die Räumung des besetzten Hauses in der Brunnenstraße 183 am 24. November 2009 und ihren "Hass auf das System" kommentiert sie auf ihrer Internetseite wie folgt: "Wer wind säht wird Sturm ernten! [...] Wir sind wütend und das hat sich gezeigt. Radikale Antworten auf diese Räumung gibt es in Berlin jede Nacht. [...] Dass damit der Verwertungsund Ausbeutungsterror der kapitalistischen Gesellschaft nicht aufgehört hat, sondern sich nur noch ein paar Orte zu297 "Let the revolution rock!", datiert Januar 2007, Internetauftritt der ARAB, Aufruf am 30.3.2010. 298 Internetauftritt der ARAB, Aufruf am 30.3.2010. 206 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 rückerobert hat, ist offensichtlich. Und genauso wächst auch unser Hass auf dieses System von Tag zu Tag. [...]" 299 Ein Mitglied der ARAB befürwortet in einem Interview Angriffe auf staatliche Einrichtungen und Konzerne: "Das Anzünden von Nobelwagen in Szenebezirken wie Friedrichshain oder Kreuzberg wird als Ausdruck gegen Gentrifizierung verstanden. Die Klassenzugehörigkeit anhand eines Autos einzuschätzen sehe ich aber eher kritisch. Anders ist es bei gezielten Angriffen auf Fahrzeuge der Bundeswehr, von DHL oder der Deutschen Bank. Auf diese Konzerne politischen Druck aufzubauen hat seine Legitimität. Nicht jede Protestbewegung muss sich auf die Mittel des Staates beschränken lassen." 300 Im Jahr 2009 war die ARAB an allen relevanten Ereignissen der linksextremistischen Szene Berlins - zum Teil federführend - beteiligt. 6.1.3 Autonome ÜBERSICHT Entstehung / Gründung Ab 1980 Mitgliederzahl Bund: ca. 6 100 (2008: ca. 5 800) Berlin: ca. 950 (2008: ca. 950) Organisationsstruktur Netzwerk Veröffentlichungen Mehrere Szenezeitschriften Berlin bildet einen regionalen Schwerpunkt des autonomen Spektrums: Mit 950 von bundesweit rund 6 100 Autonomen sind knapp 16 Prozent der Autonomen in Berlin. Die Anfänge des autonomen Spektrums liegen zu Beginn der 80er Jahre lagen. Linksextremisten, die weder organisationsgebunden noch im traditionellen Sinne ideologisch festgelegt waren, bezeichneten sich als "autonom" und veröffentlichten Diskussionspapiere. Sie sprachen von einer "neuen autonomen Protestbewegung", die den "Koloss Staat" mit dezentralen Aktionen, mit "Phantasie 299 Internetauftritt der ARAB, undatiert (Kommentar zur Räumung Brunnenstraße 183 am 24.11.2009). 300 Jonas Schiesser: Diese bürgerliche Gewaltdiskussion langweilt nur. In: "die tageszeitung" (Onlineausgabe) vom 21.4.2009. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - LINKSEXTREMISMUS 207 und Flexibilität", mit "vielfältigen Widerstandsformen auf allen Ebenen" angreifen müsse. Es gelte, "den bürgerlichen Staat zu zerschlagen". Innerhalb des aktionsorientierten Linksextremismus in Berlin spielt das autonome Spektrum eine herausgehobene Rolle. 2009 waren ihm ungefähr 950 Personen und damit nahezu die Hälfte des gesamten linksextremistischen Personenpotenzials zuzurechnen. Allerdings war die Anzahl der Autonomen in Berlin zuletzt leicht rückläufig. Dieser Trend reiht sich in eine bereits seit Ende der 80er Jahre stattfindende Entwicklung ein. Mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus begann eine Erosion des linksextremistischen autonomen Spektrums. Ideologische Konzeptionslosigkeit und Legitimationsdefizite haben für einen kontinuierlichen personellen Rückgang in ihren Reihen gesorgt. Das autonome Spektrum befindet sich in einer Phase der Selbstreflektion und der andauernden Orientierungslosigkeit. Im Laufe der Jahre hat sich unter dem Begriff "Autonome" ein vielgestaltiges Spektrum von Gruppierungen herausgebildet, die verschiedene Merkmale verbinden: Dies sind ihre Gewaltorientierung, ihre undogmatische ideologische Ausrichtung und ihre Distanz zu festgefügten Formen der Selbstorganisation. Nicht alle Autonomen üben selbst Gewalt aus. In der Regel befürworten sie aber den Einsatz von Gewalt als politischer Aktionsform. Sie sehen sie als legitimes Mittel, um der "strukturellen Gewalt" der Gesellschaft und des Staates 301 zu begegnen und lehnen das staatliche Gewaltmonopol ab. Autonome, die selbst Gewalt ausüben, bringen ihre Abneigung des politischen und gesellschaftlichen Systems durch so genannte "militante Aktionen" zum Ausdruck. Besonders weil bei Autonomen weder eine ausgeprägte theoretische Fundierung noch formal organisierte Strukturen vorhanden sind, kann Gewalt innerhalb des Spektrums als "Militanzklammer" 302 wirken und eine identitätsstiftende Funktion ausüben. Zudem ist Gewalt ein Rekrutierungsfaktor für anpolitisierte und erlebnisorientierte Personen: 301 Vgl. Fridolin: Wo ist Behle? In: "INTERIM", Sonderheft "Bewegung - Militanz - Kampagne" vom März 1998 (Es handelt sich um ein unter Pseudonym geschriebenes Papier, das sich mit strategischen Fragen, auch dem Einsatz von Gewalt, auseinandersetzt.). 302 "Anonyme Autonome Berlin": "Evergreens in den Organisierungsdebatten der autonomen Linken", Internetauftritt des "autonomen kongresses", Aufruf am 12.10.2009. 208 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 "Militanz und Randale waren schon immer die Gründe, warum sich Leute zu den Autonomen hingezogen gefühlt haben. Um als Autonome mehr und wahrnehmbarer zu werden, brauchen wir mehr militante Aktionen, mehr Randgelegenheiten - der Rest kommt dann schon von selber." 303 Es gibt aber auch differenzierte Diskussionen, in denen bestimmte Gewalttaten per se nicht abgelehnt, aber aus verschiedenen Gründen kritisiert werden. So die "Antifaschistische Revolutionäre Aktion Berlin" (ARAB), die sagte, Brandanschläge auf Kraftfahrzeuge könnten im Hinblick auf die "Klassenzugehörigkeit" der Betroffenen nicht zielgenau durchgeführt werden. 304 Die "militante gruppe" (mg) kritisierte Brandstiftungen an hochwertigen Fahrzeugen wegen ihrer "mangelnden Vermittelbarkeit" in anderen linksextremistischen Spektren und vor allem im demokratischen Spektrum: "Außerhalb jedes Vermittlungsverhältnisses steht dabei die narzisstische Brandsatzlegerei des 'Nobelkarossentodes'. [...] Die allabendliche alternative Freizeitbeschäftigung des automobilen Herumzündelns trägt nur noch zur Diskreditierung von militanten und klandestinen Aktionsformen bei." 305 Autonomen fehlt es an einem geschlossenen theoretischen Konstrukt. Sie sind undogmatisch ausgerichtet. Verbindendes ideologisches Element ist die Ablehnung der bestehenden staatlichen Ordnung und das Streben nach Zerschlagung des demokratischen Verfassungsstaates. In ihr Denken beziehen Autonome anarchistische, und/ oder kommunistische Ideologieelemente mit ein. Zuweilen variieren und instrumentalisieren Autonome ihren Grad der theoretischen Fundierung: Sie möchten ihr linksextremistisches Gedankengut öffentlichkeitswirksam vermitteln und versuchen daher, Protestbewegungen zu instrumentalisieren und neue Anhänger zu gewinnen. Geht es darum, Jugendliche und erlebnisorientierte Personen zur Umsetzung von "Aktionen" zu rekrutieren, verzichten Autonome häufig auf eine ideologische Form der Ansprache und Auseinandersetzung. Darum kommen als Ziel autonomer Werbungsversuche auch politisch nicht in303 Ebenda. 304 Vgl.: Konrad Litschko: "Diese bürgerliche Gewaltdiskussion nervt nur". Interview mit Jonas Schiesser, Sprecher der "Antifaschistischen Revolutionären Aktion Berlin" (ARAB). In: "die tageszeitung" vom 21.4.2009. 305 "militante gruppe": "schriftliches interview zu fragen der organisierung des revolutionären widerstandes mit der militanten gruppe". In: "radikal. publikation der revolutionären linken". Nr. 161, 2009, S. 34, Vgl. auch Kapitel "Kurz notiert", S.112. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - LINKSEXTREMISMUS 209 teressierte oder anpolitisierte Menschen in Frage. Wollen Autonome potenzielle Bündnispartner gewinnen, reicht ein aktionistisch orientiertes Handeln alleine zumeist nicht aus. Autonome bedienen sich verschiedener ideologischer Versatzstücke daher anlassund themenbezogen mit unterschiedlicher Frequenz und Intensität. Autonome sind in der Regel organisationskritisch und lehnen formelle Hierarchien und Strukturen ab. Seit Beginn der 90er Jahre verstärkte sich aber die Tendenz, Organisierungsmodelle zu erproben, um zu einer dauerhaften Umsetzung von Theorie in Praxis zu gelangen. Daher ist eine leicht zunehmende, aber fortwährende organisatorische Verdichtung des Spektrums zu verzeichnen. Diese Entwicklung hat mehrere Gründe: Zum Ersten sind Autonome zunehmend überregional und international vernetzt und benötigen dafür ein gewisses Maß an formalisierter Absprache. Zum Zweiten sehen einige Personenzusammenhänge in gruppeninternen Regelwerken und standardisierten Abläufen Sicherungsmaßnahmen, um weiterhin konspirativ arbeiten zu können und staatlicher "Repression" zu entgehen. Zum Dritten ist ein Mindestmaß an organisierter Verfasstheit Bedingung dafür, potenzielle Bündnispartner innerhalb oder außerhalb der linksextremistischen Szene für Kampagnen zu gewinnen. Autonomes Handeln erfolgt nur zum Teil innerhalb einer Vielzahl linksextremistischer Gruppierungen. Vor allem aber vollzieht es sich in Form gruppenübergreifender, themenbezogener Kampagnen. Es bezieht sich hauptsächlich auf die Themenfelder Antifaschismus, Antikapitalismus einschließlich des Kampfes gegen Umstrukturierung und für "Freiräume", Antimilitarismus und Antirepression. Das Ziel einer "unterdrückungsfreien Gesellschaftsordnung" versuchen autonome Gruppen durch Anschläge zumeist gegen Unternehmen oder staatliche Stellen, die in ihren Augen das System repräsentieren, der Öffentlichkeit zu vermitteln. Im Jahr 2009 bewegte sich das autonome Spektrum auf einem erhöhten Aktionsniveau und fiel durch eine im Vergleich zum Vorjahr gesteigerte Gewalttätigkeit auf. Dies wurde unter anderem an der Entwicklung der Fallzahlen der Brandanschläge auf Kraftfahrzeuge und an der allgemeinen Zunahme der politisch motivierten Kriminalität links deutlich: 2009 begingen Straftäter in Berlin 145 als politisch links motiviert eingestufte Brandstiftungen an Kraftfahrzeugen. 221 Fahrzeuge wurden dabei direkt angegriffen. Damit haben sich die Fallzahlen gegenüber dem Vorjahr beinahe verdoppelt: Im Rahmen von 73 politisch links mo- 210 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 tivierten Brandstiftungen wurden 2008 104 Fahrzeuge direkt angegriffen. 6.1.4 "militante gruppe" ÜBERSICHT Abkürzung mg Entstehung / Gründung Vor 2001 Die "militante gruppe" (mg) ist eine klandestine Gruppe, die - ähnlich den "Revolutionären Zellen" (RZ) in den 80er Jahren - in Berlin und Umgebung Anschläge verübt. Erstmals trat die mg im Sommer 2001 in Erscheinung, als sie Patronen an den damaligen Regierungsbeauftragten für die Entschädigung der Zwangsarbeiter Otto Graf Lambsdorff und an zwei Mitglieder der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft schickte. Ihre gewalttätigen Aktionen richteten sich gegen Kraftfahrzeuge und Gebäude staatlicher Einrichtungen, aber auch von Unternehmen und Privatpersonen sowie sonstige nichtstaatliche Stellen wie zum Beispiel gegen ein Forschungsinstitut. Die mg begründete ihre Anschläge vor allem mit den Themengebieten Zwangsarbeiterentschädigung, Sozialabbau, Antirassismus Antiimperialismus und Repression. Sie bezichtigte sich bis zum Mai 2007, insgesamt 25 Brandanschläge begangen zu haben. Am 31. Juli 2007 wurden nach einem versuchten Brandanschlag auf Fahrzeuge der Bundeswehr in Brandenburg drei mutmaßliche Mitglieder der mg festgenommen. Das Kammergericht Berlin verurteilte die drei Angeklagten am 16. Oktober wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung und versuchter Brandstiftung und versuchter Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel. Mit einer Verurteilung zu Haftstrafen von drei Jahren und sechs Monaten bzw. drei Jahren folgte das Gericht den Anträgen des Generalbundesanwalts. 306 Innerhalb der linksextremistischen Szene wurde unter dem Motto "Feuer und Flamme der Repression" bereits im Vorfeld zu Aktionen am Tag der Urteilsverkündung ("Tag X") aufgerufen. 306 Die Verurteilungen erfolgten gemäß SS 129 StGB, SSSS 306 Abs. 1 Nr. 4, 22 StGB sowie SSSS 305a Abs. 1 Nr. 2, 22 StGB. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - LINKSEXTREMISMUS 211 Nach dem Urteil wurden in zahlreichen Städten Demonstrationen und Solidaritätsbekundungen sowie Gewaltstraftaten durchgeführt. So kam es noch am Tag der Urteilsverkündigung zu Widerstandsdelikten im Rahmen eines Solidaritätsdemonstration am 16. Oktober. In der Nacht vom 16. zum 17. Oktober setzten Linksextremisten zwei Fahrzeuge einer im Anlagenbau tätigen Firma in Brand. In einem Selbstbezichtigungsschreiben bekannten sich "Autonome Gruppen" zur Tat und gaben an, ihre Straftat gegen den "Rüstungskonzern [...] anlässlich des Urteils im mg-Prozess" begangen zu haben. 307 Während des Prozesses meldete sich die mg in mittels zweier Texte in einer linksextremistischen Szenezeitschrift zu Wort. In einem Interview bezichtigte sie sich dreier weiterer Anschläge und gab gleichzeitig ihre Auflösung bekannt. Sie wolle "neu gesammelt und umgruppiert" in anderen Strukturen weiterarbeiten und "das eine oder andere Zeichen praktischer Art setzen, damit die staatskapitalistisch eingehegte Krise nicht eingedämmt, sondern verschärft wird." 308 Das Interview endet mit der Aussage: "Die proletarisch-revolutionäre Linke trug immer einen Klassenkampf aus, und das Endziel dieses Klassenkampfes, die Aufhebung der Klassenunterschiede insgesamt, war immer eindeutig als Ziel gesetzt. Und das ist auch unsere erklärte Zentralperspektive im Kontext des Kampfes für den Kommunismus!" 309 In einem weiteren Text führt die mg aus, mit den Festnahmen der drei Angeklagten sei die Gruppe "weder personell getroffen und schon gar nicht zerschlagen" worden: "Wir können (...) feststellen, dass wir weder durch die Festnahme von linken Aktivisten im Sommer 2007 in unserer personellen Gruppenstruktur tangiert worden wären, noch sonst in unserer Existenz gefährdet sind." 310 307 "Autonome Gruppen": Selbstbezichtigungsschreiben. In: "INTERIM" Nr. 699 vom 6.11.2009, S. 3. 308 "militante gruppe": "schriftliches interview zu fragen der organisierung des revolutionären widerstandes mit der militanten gruppe". In: "radikal. publikation der revolutionären linken." Nr. 161, 2009, S. 54. 309 Ebenda. 310 "militante gruppe": "'Militanz ohne Organisation ist wie Suppe ohne Salz' - Abschlussworte zur Militanzdebatte - von der Militanten Gruppe (mg)". In: "radikal. publikation der revolutionären linken." Nr. 161, 2009, S. 15. 212 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Obwohl sie sich im Interview ihre Auflösung bekannt gibt, benennt die mg in ihren Texten mögliche Anschlagsziele für die Zukunft. Sie möchte offensichtlich betonen, dass sie sich in einer Neuorientierungsphase befindet. Nach Veröffentlichung der Texte ist die mg nicht mehr in Erscheinung getreten. 6.1.5 "Rote Hilfe" ÜBERSICHT Abkürzung RH Entstehung / Gründung 1995 Mitgliederzahl Berlin ca. 540 (2008: ca. 410) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Dortmund (Rote Hilfe e.V.) Berlin (Ortsgruppe Berlin) Veröffentlichungen "Die Rote Hilfe. Zeitung der Roten Hilfe e.V." (vierteljährlich), Flugblätter, Broschüren und Internetveröffentlichungen Die "Rote Hilfe" (RH) wurde als bundesweite Organisation unter dem Namen "Rote Hilfe Deutschlands" (RHD) am 26. Januar 1975 neu gegründet. Historisch bezog sie sich auf eine gleichnamige Vorläuferorganisation, welche von 1924 bis 1936 bestand. 1986 beschloss der Bundesvorstand, die RHD in "Rote Hilfe e.V." umzubenennen. Am 7. April 1995 wurde die Ortsgruppe Berlin gegründet. Die RH versteht sich als "parteiunabhängige, strömungsübergreifende linke Schutzund Solidaritätsorganisation". Sie organisiert "die Solidarität für alle (...), die in der Bundesrepublik Deutschland aufgrund ihrer politischen Betätigung verfolgt werden." 311 Die Organisation bereitet Gerichtsverfahren vor und hilft Angeklagten bei der Suche nach Anwälten. Sie begleitet Prozesse durch Öffentlichkeitsarbeit und organisiert Solidaritätsveranstaltungen. Die RH leistet 311 SS 2 der Satzung der Roten Hilfe e.V. Politische Betätigung ist nach dem Verständnis der Roten Hilfe "z.B. das Eintreten für die Ziele der ArbeiterInnenbewegung, der antifaschistische, antisexistische, antirassistische, demokratische oder gewerkschaftliche Kampf und der Kampf gegen die Kriegsgefahr", ebenda. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - LINKSEXTREMISMUS 213 Angeklagten finanzielle Hilfestellungen, indem sie Spenden sammelt, anteilige Anwaltskosten übernimmt und Zuschüsse gewährt. Zudem hält sie persönlichen Kontakt zu so genannten "politischen Gefangenen". Sie analysiert "Repressionsmaßnahmen" und bietet als "bundesweit vernetzte Organisation" die Möglichkeit, "gemeinsam dagegen vorzugehen". 312 In seinen Publikationen beschreibt der Verein regelmäßig Fälle, in denen er Angeklagte unterstützt und nennt die Höhe der jeweiligen finanziellen Zuwendungen. 313 Die RH bezeichnet sich als Solidaritätsorganisation für die gesamte Linke und stellt an sich selbst den Anspruch, dabei keine Ausgrenzungen zum linkextremistischen Spektrum vorzunehmen. Sie lehnt nur Fälle ab, in denen Betroffene bei der Polizei ausgesagt haben, in denen die Antragsteller alkoholisiert waren und/ oder wenn ein Prozess durch die Angeklagten "absichtlich unpolitisch" geführt wird. Das sei "keine Prozessführung im Sinne der Roten Hilfe". 314 Stattdessen setze die RH auf Solidarität, welche sie der "politischen Verfolgung" entgegensetze, um "zum Weiterkämpfen" zu ermutigen. 315 Ausschlaggebend für eine Unterstützung durch die "Rote Hilfe" ist nicht der persönliche Hintergrund der Angeklagten oder der Beschuldigten, sondern allein die Motivation der Tat. Zentrale Organe der RH sind die Bundesdelegiertenversammlung und der Bundesvorstand. Die Bundesdelegiertenversammlung entscheidet über die Grundsätze und Schwerpunkte der Arbeit. Sie konstituiert sich aus Delegierten, die von den Mitgliedern gewählt werden. Der Bundesvorstand, dem auch Berliner Linksextremisten angehören, entscheidet über die Verwendung der Mitgliedsbeiträge, organisiert Kampagnen und Spendenaktionen und ist für die laufende Arbeit zuständig. Dezentrale Organe sind regelmäßig einmal im Monat stattfindende Ortsgruppenmitgliederversammlungen sowie in der Regel wöchentliche (Rechts-) Beratungstreffen. Da alle Mitglieder Beiträge bezahlen und zudem Spenden akquiriert werden, verfügt die "Rote Hilfe" über erhebliche finanzielle Mittel. 312 Rote Hilfe e.V.: "Rote Hilfe e.V." (Flyer, o.O., o.J.) 313 Vgl. z.B. "Die Rote Hilfe" Nr. 3, 2009, S. 4 ff. 314 Ebenda, S. 7 315 Internetauftritt der "Rote(n) Hilfe" Aufruf am 14.12.2009 214 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Mit 540 Mitgliedern ist die hiesige Ortsgruppe der "Roten Hilfe" die größte Organisation im aktionsorientierten Linksextremismus in Berlin. Dabei sind nicht alle Mitglieder Extremisten, diese sitzen jedoch an Schaltstellen und steuern die Berliner Ortsgruppe. Die Mitgliederzahlen steigen seit Jahren kontinuierlich. Dies liegt vermutlich daran, dass vor allem im vergangenen Jahren Solidaritätsund Unterstützungsaktionen für Inhaftierte großen Zulauf fanden. Die "Rote Hilfe" hat auf Grund ihrer langen Tradition und ihrer anerkannten Stellung in der linksextremistischen Szene eine themenfeldübergreifende Funktion und dient darüber hinaus als Vernetzungsplattform. Die RH möchte lokale Institutionen wie beispielsweise so genannte "Ermittlungsausschüsse" nach eigenem Anspruch nicht ersetzen, sondern die Akteurslandschaft im Bereich "Antirepression" ergänzen. 316Auf Grund ihrer internen Ausrichtung wirkt die Gruppierung strukturstabilisierend auch für gewaltbereite Teile der linksextremistischen Szene. 2009 war die "Rote Hilfe" an allen bedeutenden regionalen und überregionalen Veranstaltungen der linksextremistischen Szene Berlins beteiligt. 316 Ebenda. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - LINKSEXTREMISMUS 215 6.2 Parlamentsorientierter Linksextremismus 6.2.1 "Deutsche Kommunistische Partei"" ÜBERSICHT Abkürzung DKP Entstehung / Gründung 1968 Mitgliederzahl Bund: ca. 4 200 (2008: ca. 4 200) Berlin: ca. 130 (2008: ca. 130) Organisationsstruktur Partei Sitz Essen Veröffentlichungen "Unsere Zeit" (UZ) (überregional, wöchentlich) "Berliner Anstoß" (regional, monatlich) Die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) wurde am 25. September 1968 von früheren Funktionären der 1956 verbotenen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD) gegründet. Der Aufbau einer Parteiorganisation in Berlin begann 1990. 317 Sie ist mit bundesweit rund 4 200 Mitgliedern die größte kommunistische Partei. Trotz ihrer Mitgliedsstärke spielt die DKP innerhalb der bundesdeutschen Parteienlandschaft keine wichtige Rolle. Zu Wahlen war sie in den vergangen Jahren nicht mit der Aufstellung eigener Landeslisten angetreten. Stattdessen verfolgte sie eine Bündnisstrategie unter anderem mit nicht-extremistischen gesellschaftlichen Gruppen und stellte Kandidaten auf "offenen Listen" anderer Parteien auf: "In der vor uns liegenden Etappe kommt es darauf an, gesellschaftliche Kräfte weit über die Linke hinaus im Widerstand gegen die neoliberale Politik zu 317 Während der Teilung Deutschlands gab es aufgrund von Chruschtschows "DreiStaaten-Theorie" (Deutschland zerfalle in drei Staaten: BRD, DDR, Berlin) in Berlin keinen Landesverband der DKP. Statt dessen gründete sich die "Sozialistische Einheitspartei Westberlins" (SEW), die ebenso wie die DKP massiv durch die DDR unterstützt wurde. Die Nachfolge der SEW trat 1990 die "Sozialistische Initiative" (SI) an, welche sich schon 1991 wieder auflöste. Noch im gleichen Jahr gründeten SEWund SI-Mitglieder eine DKP-Gruppe Berlin. 216 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 bündeln. Allianzen verschiedener sozialer und gesellschaftlicher Kräfte, die sich an verschiedenen Fragen immer wieder neu bilden und in denen die Arbeiterklasse die entscheidende gesellschaftliche Kraft sein muss, sind die Voraussetzung, um die Rechtsentwicklung und den neoliberalen Umbau der Gesellschaft zu stoppen." 318 2009 trat die Partei erstmals seit 1983 wieder mit einer Landesliste zu Bundestagswahlen an. Dabei erzielte sie nur marginale Ergebnisse. Bei den Budestagswahlen erreichte die Partei in Berlin 0,1 Prozent der Zweitstimmen, was ihrem Ergebnis auf Bundesebene entsprach. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament erzielte die Partei 0,2 Prozent der Zweitstimmen in Berlin und 0,1 Prozent der Zweitstimmen auf Bundesebene. Die DKP rief 2009 zu Demonstrationen auf und positionierte sich zu lokalen Fragestellungen. In einer themenbezogenen Arbeitsgemeinschaft setzte sie sich gemeinsam mit nicht-extremistischen Akteuren gegen die Privatisierung der Berliner S-Bahn, für den Erhalt des Streckennetzes und für die Senkung von Fahrpreisen ein. Sie mobilisierte zu zahlreichen Kundgebungen und Demonstrationen unterschiedlicher Veranstalter vor allem gegen Arbeitsmarktund Sozialreformen. Die DKP beteiligt sich an der jährlichen Berliner Luxemburg-Liebknecht (LL)-Demonstration. Ein Sommerfest der DKP-Berlin fand im August mit rund 1 000 Teilnehmern statt. Während des 15. Parteitages im Juni 2000 stimmten die Delegierten einem Leitantrag unter dem Titel "DKP - Partei der Arbeiterklasse - Ihr politischer Platz heute" zu. 319 Dieser beinhaltete "Thesen zur programmatischen Erneuerung" und sollte der Partei als Arbeitsgrundlage dienen, um ihr Programm zu überarbeiten. Gemäß dem Beschluss strebt die DKP die revolutionäre Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung an und hält damit ideologisch am Marxismus-Leninismus fest: "Das Ziel der DKP ist der Sozialismus als erste Stufe auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft. Sie strebt den grundlegenden Bruch mit den kapitalistischen Eigentumsund Machtverhältnissen an, orientiert auf die Arbeiterklasse als entscheidende gesellschaftsverändernde Kraft. Grundlage ihres 318 Parteiprogramm der DKP. Internetauftritt der DKP, datiert 8.4.2006. Zur Bündnisstrategie vgl. auch Allianz ohne Alternative. Interview mit dem DKP-Vorsitzenden. In: "junge Welt" vom 11.1.2008, S. 10. 319 Vgl. Internetauftritt der DKP Bonn, Aufruf am 30.3.2010. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - LINKSEXTREMISMUS 217 Handelns ist die wissenschaftliche Theorie von Marx, Engels und Lenin, die sie entsprechend ihrer Möglichkeiten weiterentwickelt." 320 Dieses Ziel bestätigte die DKP in ihrem am 8. April 2006 verabschiedeten Parteiprogramm ("Duisburger Programm"): "Der Sozialismus kann nicht auf dem Weg von Reformen, sondern nur durch tief greifende Umgestaltungen und die revolutionäre Überwindung der kapitalistischen Eigentumsund Machtverhältnisse erreicht werden." 321 6.2.2 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" ÜBERSICHT Abkürzung MLPD Entstehung / Gründung 1982 Mitgliederzahl Bund: ca. 2 300 (2008: ca. 2 300) Berlin: ca. 100 (2008: ca. 100) Organisationsstruktur Partei Sitz Gelsenkirchen Veröffentlichungen "Rote Fahne" (überregional, wöchentlich) "Lernen und Kämpfen" (überregional, mehrmals jährlich) "REBELL" (überregional, monatlich) Die 1982 in Bochum gegründete "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) bekennt sich zur Theorie des MarxismusLeninismus in der Interpretation durch Stalin und Mao Zedong. Sie ist 320 "Die DKP. Partei der Arbeiterklasse. Ihr politischer Platz heute". In: "DKP-Informationen" Nr. 3/2000 vom 15.6.2000, S. 24. 321 Parteiprogramm der DKP. Internetauftritt der DKP, datiert 8.4.2006, Aufruf am 30.3.2010. 218 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 aus dem "Kommunistischen Arbeiterverbund Deutschlands" (KABD) 322 hervorgegangen. Die MLPD unterhält Nebenund Vorfeldorganisationen wie den Jugendverband "REBELL", die Kinderorganisation "Rotfüchse" oder das "Arbeiterbildungszentrum" (ABZ) mit einer Außenstelle in Berlin. Ihr Ziel ist "der revolutionäre Sturz der Diktatur des Monopolkapitals und die Errichtung der Diktatur des Proletariats für den Aufbau des Sozialismus als Übergangsstadium zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft." 323 Die Partei trat 2009 zur Bundestagswahl an und inszenierte sich im Wahlkampf als Systemalternative: "Die MLPD steht für eine Politik des aktiven Widerstandes gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die Massen und eine Offensive für den echten Sozialismus." 324 In Berlin erreichte die MLPD 0,1 Prozent der Zweitstimmen. Zur Wahl zum Europäischen Parlament war sie nicht angetreten. Angesichts ihrer schwachen Wahlergebnisse ist der politische Einfluss der MLPD gering. Anderen Parteien aus DDR und Bundesrepublik wirft sie vor, den Marxismus-Leninismus verraten zu haben: "Der Verrat an den kommunistischen Idealen, die Verbrechen entarteter Elemente an der Spitze der Partei-, Staatsund Wirtschaftsführung in der ehemaligen DDR, ihre Machtergreifung als neue Bourgeoisie und der moderne Revisionismus der Sozialistischen Einheitspartei (SED) haben den Begriff des 'Kommunismus' bei den Werktätigen in Misskredit gebracht. Die Hauptträger des modernen Revisionismus in Deutschland sind heute die Linkspartei ('Die Linke') und die Deutsche Kommunistische Partei (DKP). Um einen neuen Aufschwung im Kampf um den Sozialismus vorzubereiten, ist es notwendig, sich entscheiden von diesen revisionistischen und entarteten 'Kommunisten' abzugrenzen. " 325 Inhaltliche Schwerpunkte der MLPD sind die Themen Arbeit und Soziales. Am 24. Oktober rief die MLPD zur "6. bundesweiten Demonstration 322 Der Zusammenschluss besteht seit 1972 aus der "Kommunistischen Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten (Revolutionärer Weg)" und dem "Kommunistischen Arbeiterbund Deutschlands (Marxisten-Leninisten)". 323 Präambel zum Statut der MLPD. Internetauftritt der MLPD, Aufruf am 30.3.2010. 324 MLPD-Landesgeschäftsstelle Elbe-Saaale: "Berliner Regierung: Versagen auf der ganzen Linie" In: "Stimme von und für Elbe-Saale", 2009, S. 1. 325 Präambel zum Statut der MLPD. Internetauftritt der MLPD, Aufruf am 30.3.2010. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - LINKSEXTREMISMUS 219 gegen die Regierung" auf, die unter dem Motto "Weg mit Hartz IV - das Volk sind wir!" mit rund 3 000 Teilnehmern stattfand. 6.2.3 "marx21" ÜBERSICHT Entstehung / Gründung 1./2. September 2007 Mitgliederzahl Bund: ca. 400 (2008: ca. 400) Berlin: ca. 60 (2008: ca. 60) Organisationsstruktur Netzwerk Sitz Berlin "marx21" Veröffentlichungen (ab August 2007 überregional, fünfmal jährlich) Im September 2007 löste sich die Gruppe "Linksruck" als eigenständige Vereinigung zu Gunsten der Partei "Die Linke" auf. 326 Als Nachfolgeprojekt entstand unter der Bezeichnung "marx21" ein so genanntes "Netzwerk für internationalen Sozialismus". Das neugegründete Netzwerk beabsichtigt, seine trotzkistischen Positionen vor allem durch die Arbeit in dem innerparteilichen Zusammenschluss "Sozialistische Linke" in die Partei zu tragen. 327 Ehemalige Angehörige von "Linksruck" geben die Zeitschrift "marx21 - Magazin für internationalen Sozialismus" heraus. Im Gegensatz zu anderen trotzkistischen Gruppierungen wie der "Sozialistischen Alternative" (SAV) hatte "Linksruck" die Fusion der "Wahlalternative für Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" (WASG), in deren Bundesvorstand "Linksruck"-Aktivisten vertreten waren, und der "Linkspartei.PDS" befürwortet. 328 Allerdings haben sich durch den Eintritt in die Partei "Die Linke" die politisch-ideologischen Zielvorstellungen der e- hemaligen Mitglieder von "Linksruck" nicht verändert. Auf ihrer Homepage vertritt die Gruppe "marx21" inhaltliche Positionen, die über das 326 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2007. Berlin 2008, S. 211 f. 327 Vgl. "Netzwerk marx21 gegründet". Internetauftritt von "marx21", datiert 1./2.9.2007. 328 Die Auflösung von "Linksruck" und die Fusion von WASG und "Linke.PDS" fanden zeitgleich am 1./2. September 2007 statt. 220 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 offizielle Parteiprogramm hinausgehen. In den "Politischen Leitsätzen" fordert das Netzwerk die Abschaffung der demokratischen Ordnung durch die Überwindung des Kapitalismus: "Der Kapitalismus beruht auf der Ausbeutung der Arbeitskraft der Lohnabhängigen und der privaten Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums durch die Kapitalistenklasse. [...] Die kapitalistische Produktionsweise ist untrennbar verbunden mit wiederkehrenden Krisen, Massenarbeitslosigkeit, Armut, Umweltzerstörung, Unterdrückung. Die internationale wirtschaftliche Konkurrenz führt zu politischen und militärischen Rivalitäten zwischen Nationalstaaten bzw. Blöcken. Aufrüstung und Kriege sind die Konsequenz. Angesichts dieser verheerenden Auswirkungen des Kapitalismus ist eine auf die Regulierung des Kapitals beschränkte staatliche Intervention keine ausreichende Antwort. Deshalb vertrauen wir nicht auf die 'Zähmbarkeit des Kapitalismus', sondern wirken auf seine Überwindung hin." 329 Mittlerweile haben einzelne Aktivisten von "marx21" herausgehobene Funktionen in der Partei übernommen. Durch die gezielte Mitarbeit in und die offene Einflussnahme auf "Die Linke" soll die Systemüberwindung verwirklicht werden. Eine "Regierungsbeteiligung auf der Grundlage der heutigen Kräfteverhältnisse" 330 lehnt "marx21" ab. In der Partei sieht das Netzwerk einen "Motor außerparlamentarischer Bewegungen" 331 auf dem Weg zur Rätedemokratie: "Die Linke kann das Kapital schlagen, wenn Massenbewegungen bereit und in der Lage sind, die herrschende Klasse zu enteignen und den bestehenden, undemokratischen Staatsapparat durch Organe der direkten Demokratie zu ersetzen." 332 Das Netzwerk versucht, innerhalb des parlamentsorientierten Linksextremismus Themen zu setzen und neue Schwerpunkte anzuregen. Neben dem Veröffentlichen von Internetbeiträgen hat marx21 eigene Veranstaltungen durchgeführt oder sich an der Durchführung beteiligt. Vom 26. bis zum 29. November veranstaltete die zum Netzwerk gehörende Zeitschrift "marx21" einen Kongress in Berlin. Unter dem Titel "marx is' muss" beteiligten sich etwa 300 Personen, darunter auch Personen aus dem nicht-extremistischen Spektrum. Vier Tage lang diskutierten die Teilnehmer die Bedeutung von Themen wie Antifaschismus, Antimilita329 "Politische Leitsätze". Internetauftritt von "marx21", Aufruf am 30.3.2010. 330 Ebenda. 331 Ebenda. 332 Ebenda. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - LINKSEXTREMISMUS 221 rismus und Antikapitalismus für ihre politische Arbeit. Die Diskussionsergebnisse stießen auf keine nennenswerte Resonanz. 6.2.4 "Sozialistische Alternative e. V." ÜBERSICHT Abkürzung SAV Entstehung / Gründung 1994 Mitgliederzahl Bund: ca. 400 (2008: ca. 400) Berlin: ca. 50 (2008: ca. 50) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Berlin Veröffentlichungen "Solidarität - Sozialistische Zeitung" (überregional, monatlich) Die "Sozialistische Alternative e. V." (SAV) 333 bildet die deutsche Sektion des in London ansässigen trotzkistischen Dachverbands "Committee for a Workers International" (CWI). Die Bundesleitung der SAV hat ihren Sitz in Berlin. Die SAV finanziert sich über Mitgliedsbeiträge, Spenden und durch den Vertrieb ihres Organs "Solidarität - Sozialistische Zeitung". Ziel der SAV ist nach ihrem Grundsatzprogramm der Aufbau einer Arbeiterpartei als einer revolutionären, sozialistischen Massenpartei. Mit ihrer Hilfe soll der Kapitalismus abgeschafft und - verbunden mit der Auflösung des Mehrparteienstaates - durch ein sozialistisches System ersetzt werden: "Sozialismus bedeutet für sie [die SAV] im Sinne von Marx, Engels, Lenin, Luxemburg und Trotzki: weltweit Gemeineigentum an Produktionsmitteln, demokratische Planung und Kontrolle von Wirtschaft und Gesellschaft durch die arbeitende Bevölkerung. Das setzt eine sozialistische Revolution voraus. Die Aufgabe der sozialistischen Revolution ist es, die Produktionsmittel in 333 Das "V" in der Kurzbezeichnung steht für "Voran" und weist auf eine frühere Publikation der SAV hin. 222 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Gemeineigentum zu überführen und demokratische Verwaltungsorgane der Arbeiterklasse an Stelle des bürgerlichen Staatsapparats aufzubauen." 334 Mittel zum Zweck der Überwindung des demokratischen Verfassungsstaates ist ein taktisches Verhältnis der SAV zur repräsentativen Demokratie: "Darum ist für mich die Teilhabe am Parlamentarismus auch kein Ziel an sich, sondern nur Mittel zum Zweck. Als Bühne zur Popularisierung unserer Positionen: ja. Aber als Instrument zur grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse: nein." 335 Mit dieser Zielrichtung engagierten sich Aktivisten der SAV in der Partei "Wahlalternative für Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" (WASG). Bis zu ihrer Fusion mit der "Linkspartei.PDS" nahmen SAV-Mitglieder in der WASG Parteifunktionen auf Landesund Bezirksebene war. Ein Vorstandsmitglied der SAV trat als Spitzenkandidatin der WASG bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl 2006 an. Bei den Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) gelang SAV-Mitgliedern auf den Listen der WASG der Einzug in die Bezirksverordnetenversammlungen der Bezirke Mitte und Pankow. 336 Die SAV lehnte die Fusion der beiden Parteien im Jahr 2007 ausdrücklich ab und strebte - mit Blick auf die Abgeordnetenhauswahl 2011 - den Aufbau einer eigenständigen Berliner Regionalorganisation unter der Bezeichnung "Berliner Alternative für Solidarität und Gegenwehr e. V." (BASG) an. 337 Dieser Versuch ist offenbar gescheitert. In Folge eines Strategiewechsels schlossen sich ab September 2008 maßgebliche Berliner SAV-Funktionäre 338 der Partei "Die Linke" an. 339 Erklärtes Ziel 334 Grundsatzprogramm der SAV. Internetauftritt der SAV, Aufruf am 30.3.2010. 335 Lucy Redler zitiert nach Robert Allertz: Was will die rote Lucy? Gespräch mit der Rebellin Redler, Berlin 2007, S. 15. 336 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2006. Berlin 2007, S. 80 ff. 337 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Verfassungsschutzbericht 2007. Berlin 2008, S. 216. 338 Vgl. "Lucy Redler tritt in Die Linke ein". Pressemitteilung der SAV, datiert 11.9.2008. 339 Bis zu diesem Zeitpunkt war die SAV lediglich in den Landesverbänden in den alten Bundesländern vertreten, da sich die Partei "Die Linke" im Osten Deutschlands an Regierungen und kommunalen Bündnissen beteiligt habe. Vgl. "Für den Aufbau einer kämpferischen, sozialistischen LINKEN!" Internetauftritt der SAV, datiert 11.9.2008. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - LINKSEXTREMISMUS 223 ist die Fortsetzung der "Entrismus"-Strategie und der Versuch der politisch-ideologischen Einflussnahme: "Wir wollen als Marxisten mit anderen unseren Beitrag dazu leisten, einen starken sozialistischen Flügel in der Linken aufzubauen, der Regierungsbeteiligungen wie in Berlin ablehnt." 340 Der Strategiewechsel der SAV stieß in der Partei "Die Linke" auf deutlichen Widerstand. Die angerufene Landesschiedskommission lehnte im Januar 2009 den Mitgliedsantrag von zwei SAV-Funktionären ab. Diese legten im März Widerspruch gegen die Entscheidung der Landesschiedskommission ein. Diesen Widerspruch wies die Bundesschiedskommission am 8. Mai zurück. Sie stellte fest, dass die SAVFunktionäre die Voraussetzungen für einen Eintritt in die Partei nicht erfüllten. Die Bundesschiedskommission begründete ihren Beschluss damit, dass die SAV-Funktionäre aufgrund ihres Amtes in der Pflicht seien, den Antritt der SAV zu den Kommunalwahlen in Rostock am 7. Juni zu unterstützen. In Rostock waren Kandidaten der SAV auf einer eigenen Liste angetreten und stellten somit eine Konkurrenz zur Partei "Die Linke" dar. In einer Presseerklärung vom November 2009 erklärten fünf Mitglieder der Bundesleitung, in die Partei "Die Linke" eintreten zu wollen. Damit wiederholten sie ihre Absicht, die "Entrismus-Strategie" weiter fortzuführen, um Einfluss auf die Ausrichtung der Partei "Die Linke" nehmen zu können: "Wir wollen einen Beitrag dazu leisten DIE LINKE zu einer starken, kämpferischen und sozialistischen Interessenvertretung [...] zu machen." 341 340 "Wir wollen als Marxisten unseren Beitrag leisten". Gespräch mit Lucy Redler. In: "junge Welt" vom 12.9.2008. 341 Vgl. "Warum wir wieder in DIE LINKE eintreten." Presseerklärung vom 6.11.2009. Internetportal der SAV, Aufruf am 30.3.2010. 224 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 7 EXTREMISTISCHE UND SICHERHEITSGEFÄHRDENDE BESTREBUNGEN AUSLÄNDISCHER ORGANISATIONEN (OHNE ISLAMISMUS) 7.1 Kurdische Extremisten 7.1.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" ("Partiya Karkeren Kurdistan") ÜBERSICHT Abkürzung PKK Entstehung / Gründung 1978 Türkei Mitgliederzahl Bund: ca. 11 500 (2008: ca. 11 500) Berlin: ca. 1 000 (2008: ca. 1 050) Organisationsstruktur Türkei: Verbotene Organisation Deutschland: 1993 vereinsrechtliches Betätigungsverbot Veröffentlichungen "Serxwebun" ("Unabhängigkeit") (überregional, monatlich) "Sterka Ciwan" ("Stern der Jugend") (überregional, monatlich) Die "Arbeiterpartei Kurdistansjahrzehntelangen Konflikts der im Ländereck Türkei, Iran, Irak und Syrien lebenden 25 Millionen Kurden im Südosten der Türkei gegründet. Erklärtes Ziel der Organisation war die Anerkennung der Kurden als Nation und die Erlangung der politischen Autonomie für die kurdische Minderheit innerhalb des türkischen Staatsgebiets. Von 1984 bis 1999 führte die PKK in der südöstlichen Türkei einen Guerillakrieg für ein unabhängiges Kurdistan. 1992 und 1993 verübten Anhänger der PKK zahlreiche Brandanschläge auf türkische Einrichtungen in Deutschland; bei Demonstrationen kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen. Am 24. Juni 1993 besetzten 13 Kurden das türkische Generalkonsulat in München und nahmen 20 Geiseln. Die gewalttätigen Aktionen führten 1993 zum vereinsrechtlichen Betätigungsverbot in Deutschland, das sich auch auf die Nachfolgeorganisationen erstreckt. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - AUSLÄNDEREXTREMISMUS 225 Ab Mitte 1996 bis zur Festnahme des PKK-Führers Abdullah Öcalan im Jahre 1999 verliefen Demonstrationen und Kundgebungen der Anhänger der PKK in Deutschland in der Regel gewaltfrei. Die Festnahme und die Auslieferung Öcalans an die Türkei führte dagegen zu weltweiten militanten Protesten. In Berlin erstürmten am 17. Februar 1999 PKKAnhänger das israelische Generalkonsulat, wobei vier Kurden von israelischen Sicherheitskräften erschossen wurden. Seit 1999 verfolgte die Organisation einen strategischen Kurswechsel mit dem Ziel, sich durch die Ankündigung interner Reformen als politischer Gesprächspartner zu etablieren. Dies sollte nach außen sichtbar werden, indem die Organisation sich selbst wie auch ihre Teilund Nebenorganisationen mehrfach umbenannte. 342 Gesamtorganisation Frauorganisation JugendFrontorganisaorganisation tion in Europa "Arbeiterpartei Kurdistans" "Partei der Freien Frau" "Union der "Nationale Be(PKK) (PJA) Jugendlichen freiungsfront Kurdistans" Kurdistans" (YCK) (ERNK) "Freiheitsund Demokratie"Freiheitspartei der Frau"Bewegung "Demokratische kongress Kurdistans" (KAen Kurdistans" (PAJK) der freien JuUnion des kurDEK) gend Kurdisdischen Volkes" "Volkskongress Kurdistans" tans" (TE(YDK) (Kongra Gel) CAK) Heute: Dreiteilung unter Analog: Dreiteilung unter "Ge"Koordination dem Gesamtsystem der dem System der "Gemeinschaft der Demokrati"Gemeinschaft der Gesellmeinschaft der hohen der Kommuschen Gesellschaften Kurdistans" Frauen" (KJB): nen der demoschaft Kurdis(KCK) (zuvor: Gemein- * politischer Teil: kratischen tans (CDK) schaft der Kommunen Kur"Union der freien Jugend Kurdistans" (KKK)): Frauen" (YJA) distans" * politischer Teil: * ideologischer Teil: (Komalen Kongra Gel "Freiheitspartei der Ciwan) * ideologischer Teil: Frauen Kurdistans 343 "neue" PKK (PAJK) * militärischer Teil: * militärischer Teil: "Volksverteidigungs"Verband freier Fraukräfte" (HPG) 344 en Star" (YJA Star) 342 Folg. Tabelle: Aufstellung der Namen der wichtigsten Organisationsteile der PKK. 343 In einer Presseverlautbarung zum 10. (Sic!) Parteikongress der PKK im August 2008 wurde erklärt: "Zwar wurde in diesen zwei Jahren nicht mit dem Namen gearbeitet, aber in "der Praxis war es immer PKK." Die Vollendung des Neuaufbaus. In: "Kurdistan Report Nr. 140. Hamburg November/Dezember 2008, S. 20-29, hier: S. 24. 344 Früher "Volksbefreiungsarmee Kurdistans" (ARGK). 226 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 In Deutschland sind PKK-Anhänger meist in örtlichen, organisationsnahen Vereinen aktiv. Etwa 45 dieser Vereine sind unter dem Dach der "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e. V." (YEK-KOM) 345 zusammengefasst. 346 Die ursprünglichen Hierarchieund Befehlsstrukturen blieben allerdings stets erhalten. Im Gegensatz zu den als Reformprozess deklarierten Veränderungen steht zudem, dass die Guerillaeinheiten der PKK bereits zum 1. Juni 2004 den am 1. September 1998 von Öcalan erklärten "einseitigen Waffenstillstand" aufgekündigt hatten und seitdem - mit kurzen Unterbrechungen - erneut offensiv gekämpft wurde. Zusammen mit terroristischen Anschlägen der "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK), einer nach eigenen Angaben aus den HPG entstandenen Gruppe, führt der Guerillakrieg dazu, dass bislang keine Lösung des Konflikts abzusehen ist. 345 Sie ist auf europäischer Ebene Mitglied der "Konföderation der kurdischen Vereine in Europa" (KON-KURD). Berliner Mitgliedsverein ist der "Kurdische Verein für eine Demokratische Gesellschaft e. V." (Navenda Kurd). 346 Vgl.: Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2008. Berlin 2009, S. 274 f. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - AUSLÄNDEREXTREMISMUS 227 7.2 Türkische Extremisten 7.2.1 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" / "Volksbefreiungspartei-Front der Türkei - Revolutionäre Linke" ÜBERSICHT Abkürzung DHKP-C THKP-C Entstehung / Gründung 1994 Türkei Mitgliederzahl Bund: ca. 650 (2008: ca. 650) Berlin: ca. 65 (2008: ca. 65) Organisationsstruktur Türkei: Verbotene Organisation Deutschland: 1998 Vereinsverbot Veröffentlichungen Yürüyüs (Protestmarsch) (überregional, wöchentlich) "Devrimci Sol" ("Revolutionäre Linke") unregelmäßig Die miteinander rivalisierenden Organisationen "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) und "Volksbefreiungspartei-Front der Türkei - Revolutionäre Linke" (THKP-C / "Devrimci Sol") sind aus der 1978 in der Türkei gegründeten Organisation "Devrimci Sol" ("Revolutionäre Linke") hervorgegangen, die 1983 in Deutschland verboten wurde. Beide Organisationen sind in der Türkei terroristisch aktiv und streben die Beseitigung des türkischen Staatsgefüges und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft auf der Grundlage der marxistischleninistischen Ideologie an. Sie wurden am 13. August 1998 durch den Bundesminister des Innern verboten. Die DHKP-C ist auch unter den Namen "Revolutionäre Volksbefreiungspartei" (DHKP) bzw. "Revolutionäre Volksbefreiungsfront" (DHKC) aktiv. Meist wird die DHKC als "bewaffneter Arm" der Organisation bezeichnet. Laut Statut kämpft die DHKP-C für die "Befreiung der türkischen und kurdischen Nation und aller anderen Nationen". Die DHKP-C geht davon aus, dass es in einem "vom Imperialismus abhängigen, durch den 228 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Faschismus regierten Land unmöglich" sei, die Machtverhältnisse durch Wahlen zu verändern. Deshalb könne "die faschistische Macht, die unter der Kontrolle des Imperialismus und der Oligarchie [stehe], nur durch den bewaffneten Kampf des Volkes zerstört werden". Personen, deren Aktivitäten sich gegen die "Revolution" richten, droht die DHKP-C eine "gnadenlose Bestrafung" 347 an. Die terroristischen Aktivitäten der DHKP-C in der Türkei haben in letzter Zeit nachgelassen. In Deutschland engagieren sich DHKP-C-nahe Organisationen wie zum Beispiel das "Tayad-Komitee" ("Solidaritätsverein der Familien von Inhaftierten und Verurteilten" 348) oder die "Anatolische Föderation e. V." ("Anadolu Federasyonu") für die Positionen der DHKP-C. Von November 2000 bis zur Beendigung des so genannten Todesfastens im Januar 2007 wurden die von der DHKP-C initiierten Solidaritätskundgebungen in Deutschland für die Hungerstreikenden in den türkischen Gefängnissen 349 hauptsächlich durch das TAYADKomitee organisiert. Der Führer der Organisation, Dursun Karatas, ist am 11. August 2008 in Etten-Leur/NL gestorben. Es ist noch nicht absehbar, welche Auswirkungen dies auf die Strukturen und eventuell auf die Aktivitäten der DHKP-C haben wird. 347 Programm der DHKP. 348 Abgeleitet aus der türkischen Bezeichnung Tutuklu Hükümlü Aileleri Yardmlasma Dernegi (TAYAD). 349 Die DHKP-C war seit Mai 2002 die einzige türkische linksextremistische Organisation deren Mitglieder versuchten, ihre politischen Ziele durch Hungerstreikaktionen durchzusetzen. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - SCIENTOLOGY ORGANISATION 229 8 "SCIENTOLOGY ORGANISATION" ÜBERSICHT Abkürzung SO Entstehung / Gründung USA: 1954 Deutschland: 1971 Mitgliederzahl Bund: ca. 4 500 - 5 500 (2008: ca. 5 000 - 6 000) Berlin: ca. 150 (2008: ca. 200) Organisationsstruktur In Berlin eingetragener Verein Sitz Los Angeles (Church of Scientology International - CSI) Berlin: "Scientology Kirche Berlin e.V.", Charlottenburg Veröffentlichungen "Freiheit", "Impact", "Freewinds" "Source", "The Auditor" u.a. (Erscheinungsweise je ca. 2-4 Ausgaben pro Jahr, Auflagenhöhe unbekannt) Die "Scientology Organisation" (SO) wurde 1954 von dem amerikanischen Science-Fiction-Autor L. Ron Hubbard gegründet. Sie verbreitet ihre Lehre in diversen Publikationen, Kurssystemen und weltweiten Veranstaltungen mit dem Ziel, eine rein scientologische Gesellschaft zu etablieren, propagiert als "Expansion". Zur Erreichung dieses Zieles bemüht sie sich um Einflussnahme auf gesellschaftliche und politisch Willensund Entscheidungsträger sowie Rekrutierung und Schulung neuer Mitglieder. Durch die Anwendung scientologischer Ideologie und Techniken soll ein perfekt funktionierender Mensch, der sog. "Clear" bzw. der höher trainierte "operierende Thetan" erzeugt werden. Nur diesen Menschen sollen Bürgerrechte zugestanden werden, um mit ihnen eine scientologische Gesellschaftsordnung zu errichten. Personen, die außerhalb dieser Gesellschaft stehen oder der SO gegenüber kritisch eingestellt sind, wird jeglicher Wert abgesprochen. Zudem wird anhand einer imaginären scientologischen "Tonskala" zwischen höherund minderwertigen Menschen unterschieden. Nicht-Scientologen werden verunglimpft und sollen "beiseite geschafft und ausgesondert" werden; Gegner und Kritiker 230 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 sind "durch Zwang zu entfernen, möglichst zu ruinieren, ihres Eigentums zu berauben und müssten zerstört werden". 350 SO unterhält viele, international agierende Unterund Tarnorganisationen, die alle jeweils einem sogenannten "kirchlichen", wirtschaftlichen oder sozialen Bereich zuzuordnen sind 351. Die Gesamtstruktur und Logistik ähnelt der eines multinationalen Wirtschaftskonzerns, der aus der "Konzernzentrale", der "Church of Scientology International" (CSI) in Los Angeles und über "Kontinentale Verbindungsbüros" streng hierarchisch und straff geführt wird. Die Europäische Zentrale hat ihren Sitz in Kopenhagen. Unterhalb dieser Ebene befinden sich diverse Unterorganisationen (sog. "Orgs"), die als "Kirchen", "Missionen", "Celebrity Centers" 352 direkt der SO zuzuordnen sind. Das Innenverhältnis der Organisation ist durch ein rigides System von Belohnungen und Bestrafungen und eine eigene Justiz geprägt. Der Einstieg in die Organisation erfolgt in der Regel durch den noch kostenfreien Persönlichkeitstest, dessen Auswertung immer Defizite aufzeigt, die durch - dann kostenpflichtige - Seminare korrigiert werden können. Durch umfassende Fragetechnik bei "Auditing"-Sitzungen 353 mittels "E-Meter" 354 sollen die persönlichen Schwachpunkte aufgespürt und bearbeitet werden. Mit dieser Methode sichert die SO die ständige Kontrolle und Manipulation ihrer Anhänger, die durch immer weitere Kurse und eingeforderte "Spenden" nicht nur wirtschaftlichen Schaden nehmen können. Insbesondere Menschen in schwierigen Lebenssituationen laufen Gefahr, durch die als "individuelle Lebenshilfe" getarnten Angebote in eine psychisch schädliche Abhängigkeit zu geraten. 350 VG Köln Az 20 K 1882/03 vom 11.11.2004, bestätigt durch OVG Münster Az 5A 130/05 vom 12.2.2008. 351 Angaben zu Tarnvereinen von SO sind auf der Internetseite des Berliner Verfassungsschutzes unter www.verfassungsschutz-berlin.de eingestellt. 352 Organisationen zur Werbung und Betreuung von Personen des öffentlichen Lebens. 353 Durch einen "Auditor", d.h. einen speziell hierzu "ausgebildeten" Scientologen durchgeführte Befragungen. 354 Gerät zum Messen des Körperwiderstandes, ähnlich einem primitiven "Lügendetektor". Hintergrundinformationen - Ausländerextremismus 231 Verfassungsschutz Berlin 232 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 1 STRUKTUR Verfassungsschutzbehörde für das Land Berlin ist die Senatsverwaltung für Inneres und Sport. Die Aufgaben werden durch die Abteilung II wahrgenommen: Abteilung II - Verfassungsschutz - Abteilungsleiterin Referat II A Referat II B Referat II C Referat II D Grundsatz, Recht, Auswertung Auswertung AusBeschaffung Öffentlichkeitsarbeit, Rechtsextremismus, länderextremismus Verwaltung, InforLinksextremismus Geheimschutz mationstechnik Spionageabwehr Während das Grundsatzreferat II A Querschnittsaufgaben wie Verwaltung, Recht, Informationstechnik und Öffentlichkeitsarbeit abdeckt, sind die Auswertungsreferate II B und II C für die Analyse und Bewertung von Informationen zuständig. Das Referat II D beschafft Informationen mit nachrichtendienstlichen Mitteln. Für die Aufgaben des Verfassungsschutzes standen 2008 ebenso wie 2009 Haushaltsmittel in Höhe von 10,5 Mio. EUR und 188 Stellen zur Verfügung. VERFASSUNGSSCHUTZ BERLIN 233 2 GESETZLICHE GRUNDLAGEN 2.1 Aufgaben und Befugnisse Die Arbeit des Verfassungsschutzes ist hinsichtlich der Aufgabenstellungen, der Befugnisse und der Kontrollverfahren im Grundgesetz und in Einzelgesetzen festgeschrieben. 355 Von Bedeutung sind hier: * das Grundgesetz (GG), Artikel 73 und 87, * das Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin (VSG Bln), 356 * das Gesetz zur Beschränkung des Postund Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz) 357 sowie das Gesetz zur Ausführung des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz, 358 * das Bundesverfassungsschutzgesetz, 359 * das Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz (BSÜG). 360 2.2 Entwicklungen in der Rechtsprechung und Gesetzesnovellierungen Novellierung des G-10 Gesetzes Das Artikel 10-Gesetz (G 10) wurde zum 1. August 2009 novelliert. Der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung würde mit SS 3a G 10 sowie mit SS 3b G 10 der Schutz zeugnisverweigerungsberechtigter Personen aufgenommen. 355 Detaillierte Darstellungen sowie Gesetzestexte sind auf der Internetseite des Verfassungsschutzes unter www.verfassungsschutz-berlin.de/Grundlagen eingestellt. 356 GVBl. Nr. 28 vom 21.7.2001, S. 235, zuletzt geändert durch Gesetz vom 5.12.2003 (GVBl. S. 571). Der vollständige Gesetzestext ist im Anhang abgedruckt und kann auf der Internetseite des Berliner Verfassungsschutzes unterwww.verfassungsschutzberlin.de abgerufen werden. 357 BGBl. I S. 1254 ff. vom 26.6.2001, zuletzt geändert durch Gesetz vom 31.7.2009 (BGBl. I S. 2499). 358 Gesetz vom 25.6.2001 (GVBl. S. 251), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5.12.2003. 359 Gesetz vom 20.12.1990 (BGBl. I S. 2954) zuletzt geändert durch Art. 10, 2 und 1 des Gesetzes vom 5.1.2007 (BGBl. I S. 2). 360 Vgl. S. 130 ff. 234 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Entsprechend der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG regelt SS 3a G 10 den Schutz des Kernbereichs privater Lebensführung bei Beschränkungen nach SS 1 Abs. 1 Nr. 1 G 10. 361 Eine Beschränkungsmaßnahme (Telekommunikationsoder Postüberwachung) ist nach der Neufassung unzulässig, wenn die Annahme besteht, dass durch sie allein Erkenntnisse aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung erfasst werden. Bestehen insoweit Zweifel, darf nicht "life" mitgehört und nur eine automatische Aufzeichnung fortgesetzt werden. Diese Aufzeichnungen sind unverzüglich einem Mitglied der G 10-Kommission zur Entscheidung über die Verwertbarkeit oder Löschung der Daten vorzulegen. Weiterhin sieht SS 3 a G 10 ein Verwertungsverbot und Löschungsgebot vor. Ein solches Verwertungsverbot und Löschungsgebot regelt SS 3b G 10 für nach SS 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 oder 4 Strafprozessordnung (StPO) zeugnisverweigerungsberechtigte Personen (SS 53a StPO gilt entsprechend). Beschränkungen sind bei voraussichtlichen Erkenntnissen, die diesen Zeugnisverweigerungsrechten unterliegen, im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu prüfen und gegebenenfalls zu unterlassen oder einzuschränken. Keine Anwendung findet SS 3b G 10 auf Personen die selbst nach SS 3 Abs. 1 G 10 verdächtig sind. 361 Vgl. zur "akustischen Wohnraumüberwachung" BVerfG 2 BvR 543/06 vom 11.5.2007 und zur so genannten "Online-Durchsuchung" BVerfG 1 BvR 370/07 vom 27.2.2008. VERFASSUNGSSCHUTZ BERLIN 235 2.3 Kontrolle Die Verfassungsschutzbehörde unterliegt bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben einer Kontrolle auf mehreren Ebenen: Öffentliche KonRevision trolle Kontrollinstanz der durch Bürger und Leitung der SenatsMedien verwaltung für Inneres und Sport Datenschutz Allgemeine parlaBeauftragter für Damentarische Kontenschutz und Introlle durch das Abformationsfreiheit geordnetenhaus Debatten, Aktuelle Abteilung II Stunden, Kleine und - VerfassungsGroße Anfragen, Petischutz - tionen Gerichtliche Kontrolle Besondere parlamentarische Kondurch Verwaltungstrolle gerichte Ausschuss für Verfassungsschutz / ggf. Untersuchungsausschuss G10-Kommission Vertrauensperson Kontrolle von Eindes Ausschusses für griffen in das PostVerfassungsschutz und Fernmeldegeheimnis nach Art. 10 GG 236 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 3 ARBEITSWEISE Der Verfassungsschutz Berlin hat laut VSG Bln die Aufgabe, den Senat und das Abgeordnetenhaus, andere zuständige staatliche Stellen und die Öffentlichkeit über Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung zu unterrichten. 362 Die Behörde beschafft Informationen, analysiert sie und unterrichtet Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit über ihre Erkenntnisse. 3.1 Informationsbeschaffung Bei der Informationsbeschaffung ist zwischen offenen und verdeckt erhobenen Informationen zu unterscheiden. Der Verfassungsschutz erhält einen hohen Anteil seiner Informationen aus allgemein zugänglichen Veröffentlichungen und Veranstaltungen. Nachrichtendienstliche Mittel dürfen nach dem VSG Bln. eingesetzt werden, wenn verfassungsfeindliche Bestrebungen weitgehend konspirativ agieren und sich wegen der Abschottung auf andere Weise keine Informationen gewinnen lassen. Nach den Vorgaben des VSG Bln. darf der Einsatz dieser Mittel nur erfolgen, wenn sie im Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachverhalts stehen. Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel kommt deshalb erst dann in Betracht, wenn die anderen Mittel der Nachrichtenbeschaffung erschöpft sind, d. h. wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Zu den nachrichtendienstlichen Mitteln zählen der Einsatz von Vertrauenspersonen (so genannten V-Personen, die aus Beobachtungsobjekten berichten), 363 die Observation sowie die Überwachung des Postund 362 Vgl. SSSS 1, 5 und 6 VSG Bln. 363 Die Informationsbeschaffung durch V-Personen ist ein Kernbereich nachrichtendienstlicher Arbeit, der in einem außerordentlichen Spannungsfeld steht: Einerseits bedarf es des Schutzes unserer freiheitlichen Demokratie, andererseits der Beschaffung von Informationen durch Mitglieder extremistischer Organisationen. V-Personen sind Privatpersonen, die in der Regel der zu beobachtenden verfassungsfeindlichen Organisation angehören oder ihr nahe stehen. Sie berichten über deren Strukturen und Aktivitäten. Der Gesetzgeber hat dieses Mittel der Informationsbeschaffung den Verfassungsschutzbehörden ausdrücklich zugewiesen (SS 8 Abs. 2 Nr. 1 VSG Bln). Aufgrund der besonderen Sensibilität der Maßnahme sind dem Einsatz von V-Personen aber enge rechtsstaatliche Grenzen gesetzt. Voraussetzung beim Einsatz von V-Personen ist die Vertraulichkeit (so genannter Quellenschutz). Vgl. auch Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutz - nehmen Sie uns unter die Lupe. Berlin 2002. VERFASSUNGSSCHUTZ BERLIN 237 Fernmeldeverkehrs, deren besonders engen rechtlichen Voraussetzungen im Gesetz zu Artikel 10 GG 364 geregelt sind. Zur Bekämpfung gewalttätiger, insbesondere terroristischer Bestrebungen dürfen Anfragen an Luftverkehrsunternehmen, Telekommunikationsanbieter und Kreditinstitute gestellt werden. Gerade zur Aufklärung islamistischer terroristischer Netzwerke kann es erforderlich sein, Flüge festzustellen, Finanzierungsströme aufzuklären und Telefonverbindungsdaten zur Feststellung von Kontakten zu erlangen. Wegen der Eingriffstiefe dieser Befugnisse wurde die Umsetzung 2005 auf Bundesebene evaluiert. Danach wurden die Regelungen als erfolgreich und angemessen bewertet. Auf der Grundlage dieser Evaluation hat der Bundesgesetzgeber im so genannten Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz 365 diese Instrumente nicht nur für weitere fünf Jahre bestätigt, sondern auch Voraussetzungen für ihren Einsatz je nach Eingriffstiefe differenziert. Zudem wurde der Anwendungsbereich ausgeweitet. Die Anfragen können vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) nunmehr auch eingesetzt werden, wenn schwerwiegende Gefahren abzuwehren sind und es um extremistische Bestrebungen geht, die auf Gewalt gerichtet sind. 3.2 Informationsbearbeitung Die durch die Informationsbeschaffung gesammelten Rohdaten müssen gefiltert, systematisiert und analysiert werden. Dabei kommt der Informationstechnik für die Verarbeitung großer Datenmengen eine wichtige Rolle zu. Als bundesweite Hinweisdatei existiert für die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder das "Nachrichtendienstliche Informationssystem" (NADIS). Hierüber ist es möglich abzufragen, ob Daten zu einer Person bei einer Verfassungsschutzbehörde erfasst sind. 366 Für Berlin waren Ende 2009 25 002 Datensätze im NADIS gespeichert (2008: 20 725). Zugenommen haben weiterhin die Sicherheitsund Zuverlässigkeitsüberprüfungen, auf die rund 85 % der Datensätze entfallen. Die übrigen verteilen sich auf die Aufgabenbereiche Spionageabwehr, 364 BGBl. I 2001, S. 1254 ff.; BGBl. I 2002, S. 361 und 364. 365 BGBl. I 2007, S. 2. 366 Die Speicherungsgrundlagen sowie die Speicherungsdauer sind in den SSSS 11 - 17 VSG Bln geregelt. 238 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Ausländer-, Rechtsund Linksextremismus. Für die Auswertung der Daten spielt die präzise Definition von Analysebegriffen etwa zur Risikobewertung und die Entwicklung von Instrumenten wie die computergestützte geographische Analyse eine wichtige Rolle. Durch letztere können lokale Schwerpunkte herausgearbeitet werden (vgl. "Im Fokus"Studien "Rechte Gewalt in Berlin" und "Linke Gewalt in Berlin" sowie zahlreiche Lageanalysen). 367 3.3 Informationsweitergabe Die Informationsweitergabe an andere Behörden ermöglicht diesen, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr dieser Gefahren zu ergreifen. Die Zusammenarbeit mit anderen Behörden geschieht auf Grundlage der Regelungen des VSG Bln über die Informationsweitergabe. 368 Neben repressiven Maßnahmen dient auch die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Extremismus dem Schutz der Demokratie. Die Unterrichtung der Öffentlichkeit ist deshalb als Aufgabe im VSG Bln festgeschrieben. 369 3.3.1 Zusammenarbeit mit anderen Behörden Bei der Weitergabe von Erkenntnissen über Personen wird danach unterschieden, ob es sich um Sicherheitsbehörden, andere öffentliche Stellen oder ausländische Institutionen handelt. * Bei der Zusammenarbeit im Verfassungsschutzverbund besteht eine Informationspflicht für alle anfallenden Erkenntnisse, die für die Aufgabenerfüllung der anderen Behörden erforderlich sind (SS 19 VSG Bln). * Die Zusammenarbeit mit Polizei und Staatsanwaltschaft wird durch besondere Übermittlungsbefugnisse flankiert. Wenn es zur Verhinderung und Verfolgung von Straftaten im Zusammenhang mit extremistischen Bestrebungen erforderlich ist, dürfen Erkenntnisse weitergegeben werden (SS 21 VSG Bln). 367 Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Rechte Gewalt in Berlin. Berlin 2004; Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Rechte Gewalt in Berlin 2003 bis 2006. Berlin 2007; Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Linke Gewalt in Berlin. Berlin 2009. 368 Vgl. speziell SSSS 18 - 25 VSG Bln. 369 Vgl. SS 5 VSG Bln. VERFASSUNGSSCHUTZ BERLIN 239 * An andere öffentliche Stellen dürfen Erkenntnisse über Personen insbesondere übermittelt werden, wenn sie die Informationen zum Schutz vor verfassungsfeindlichen Bestrebungen benötigen oder wenn es zur Aufgabenerfüllung der Verfassungsschutzbehörde erforderlich ist (SS 22 VSG Bln). * Besondere Beschränkungen gelten für die Weitergabe personenbezogener Informationen an ausländische Stellen (SSSS 24 und 25 VSG Bln). Angesichts der anhaltenden Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus haben die Innenminister die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden in den letzten Jahren ausgebaut. 2004 hat das "Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum" (GTAZ) in Berlin-Treptow seine Arbeit aufgenommen. Neben Experten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Bundeskriminalamtes (BKA), des Bundesnachrichtendienstes (BND), des Generalbundesanwalts (GBA) sowie ausländischer Partnerdienste sind die Länder mit Verbindungsbeamten der Polizei und der Verfassungsschutzbehörden dort vertreten. Das GTAZ ermöglicht, Informationen zum islamistischen Terrorismus umgehend gemeinsam zu analysieren und die operativen Maßnahmen abzustimmen. Gerade bei der Bewältigung besonderer Gefährdungslagen wie anlässlich der Bundestagswahl 2009 hat sich die Institution bewährt. Ende 2006 trat das Gesetz zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizei und Nachrichtendiensten in Kraft. 370 Von besonderer Bedeutung ist die Anti-Terror-Datei (ATD). 371 Sie dient dem Erkenntnisaustausch zu Personen, die dem internationalen Terrorismus mit Bezug zur Bundesrepublik Deutschland zugerechnet werden. Das "Gemeinsame Internet-Zentrum" (GIZ) wurde im Januar 2007 eingerichtet. In ihm arbeiten Mitarbeiter von BfV, BKA, BND, MAD und GBA zusammen, um ihr Expertenwissen in der Beobachtung islamistischer Aktivitäten im Internet zu bündeln. Die stetig wachsende Zahl islamistischer Webseiten belegt die zunehmende Bedeutung des Internets 370 Gesetz zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder vom 22.12.2006 (BGBl I S. 3409). 371 Aus Art. 5 II des o.g. Gesetzes geht hervor, dass fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes (2011) das "Anti-Terror-Gesetz" unter Einbeziehung eines wissenschaftlichen Sachverständigen evaluiert wird. 240 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 für militante Islamisten, die dieses Medium vor allem als Propagandaund Rekrutierungsinstrument intensiv nutzen. Vor diesem Hintergrund gewinnt auch die Analyse und Bewertung entsprechender Webseiten an Bedeutung für die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus. 3.3.2 Öffentlichkeitsarbeit Die Öffentlichkeitsarbeit ist wesentliche Aufgabe des Verfassungsschutzes. Der Verfassungsschutz ist kein "Geheimdienst" sondern ein "Nachrichtendienst": Der Verfassungsschutz Berlin tritt transparent auf und sucht durch Pressearbeit, Vorträge, Publikationen und Beteiligung am Diskurs in Netzwerken und Arbeitsgruppen sowie einen Internetauftritt mit aktuellen Meldungen den Kontakt zur Öffentlichkeit. Er will Bürgerinnen und Bürgern helfen, sich selbst ein Urteil zu bilden über die Gefahren für unseren Rechtsstaat. Publikationen Der Berliner Verfassungsschutz hat mehrere Publikationsreihen entwickelt, um dem unterschiedlichen Informationsbedarf gerecht zu werden. Das Publikationsangebot des Berliner Verfassungsschutzes findet große Resonanz: 2009 wurden 45 000 Broschüren verteilt und angefordert. Darüber hinaus sind alle Publikationen im Internet abrufbar. * Verfassungsschutzberichte: Den umfassendsten Überblick über die einzelnen Beobachtungsfelder geben die jährlichen Verfassungsschutzberichte. Sie informieren über das aktuelle Geschehen im extremistischen Spektrum, über die ideologischen Grundlagen des Rechts-, Linksund Ausländerextremismus sowie über die wichtigsten in Berlin vertretenen extremistischen Gruppierungen. * Reihe Im Fokus: Die Reihe behandelt einzelne Themenkomplexe des Extremismus wie rechte oder linke Gewalttaten oder Phänomene des Islamismus. Stärker als im Verfassungsschutzbericht steht die Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Forschung im Vordergrund. 2009 legte der Berliner Verfassungsschutz eine "Im Fokus"-Broschüre zur "Linken Gewalt in Berlin" vor. Aufgrund der empirischen Ausrichtung kann die Studie als Grundlage für die seit dem vergangenen Jahr sehr aktuelle Diskussion um linke Gewalttaten dienen. Die seit Veröffentlichung rege Nachfrage zeigt, wie aktuell das Thema ist. VERFASSUNGSSCHUTZ BERLIN 241 * Lageund Wahlanalysen: Diese Reihe bietet kurze Analysen zu Detailthemen. 2009 wurde ein Beitrag über "Frauen im Rechtsextremismus" veröffentlicht. Neben einer statistischen Auswertung, die politisch motivierte Kriminalität, Wählerinnenanteile und den Frauenanteil in den unterschiedlichen Feldern des Rechtsextremismus untersucht, stellt der Beitrag rechtsextremistische Frauenorganisationen in Berlin vor und analysiert weibliche Rollenbilder im Rechtsextremismus. * Reihe Info: Die Info-Reihe bietet praxisnahe kompakte Informationen über Erscheinungsformen des Extremismus. Die Publikationen "Symbole und Kennzeichen des Rechtsextremismus", "Rechtsextremistische Musik" und "Islamismus" sind stark nachgefragt und werden regelmäßig aktualisiert. * Lupe: Die Broschüre Verfassungsschutz nehmen Sie uns unter die Lupe" gibt Basisinformationen über Aufgaben und Befugnisse, Arbeitsfelder und Vorgehensweisen des Verfassungsschutzes. Die Innenminister der Länder Berlin, Bremen, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein haben im Mai 2009 eine umfangreiche Zusammenstellung mit Zitaten, die der NPD zugerechnet werden können, veröffentlicht. 372 Veranstaltungsarbeit Der Verfassungsschutz Berlin war im vergangenen Jahr mit 36 Veranstaltungsbeiträgen präsent. Hauptadressat der Vorträge waren Vertreterinnen und Vertreter von Polizei und Behörden sowie der Parteien und schulische und außerschulische Bildungseinrichtungen. Thematisch standen der Rechtsextremismus und der Islamismus / transnationale Terrorismus im Vordergrund. Zu einer Fachtagung "Linke Gewalt in Berlin" lud der Verfassungsschutz Berlin am 11. November im Deutschen Historischen Museum ein. Vor 200 Teilnehmern stellte der Verfassungsschutz Berlin seine "Im Fokus"-Studie zum selben Thema vor. Anschließend diskutierten Experten und Publikum über Ursachen und Maßnahmen gegen linke und linksextremistische Gewalttaten. Eine Dokumentation der Tagung wurde im März 2010 veröffentlicht. Sie enthält Kurzzusammenfassungen der 372 Vgl. "Verfassungsfeind.NPD. Dokumente gegen die Demokratie", Berlin, 4.5.2009. Einstellung im Internet unter: www.mi.sachsen-anhalt.de 242 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Wortbeiträge zu Erscheinungsformen, Analysen und Gegenmaßnahmen sowie Veranstaltungs-Impressionen. Das aktuelle Thema "Islamismus / Salafismus" stellte am 16. Juli ein Islamwissenschaftler des Berliner Verfassungsschutzes der Berliner Landeskonferenz der Hochschulrektoren vor. Mit den Berliner Hochschulrektoren wurden islamistische Radikalisierungsfaktoren und Rekrutierungspotenziale erörtert. Die Kooperation geht zurück auf eine Vereinbarung zwischen der Innenund der Kultusministerkonferenz, sicherheitsrelevante Aspekte auch mit den Hochschulverwaltungen zu erörtern und damit die Institutionen im Hochschulbereich für gemeinsame Sicherheitsbelange zu sensibilisieren. Gremienarbeit Der Berliner Verfassungsschutz beteiligt sich in der Gremienarbeit am Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen. So nahm er weiter am Berliner Islamforum 373 teil. Zudem ist er im "Berliner Beratungsnetzwerk" gegen Rechtsextremismus vertreten und hat am Aufbau des ressortübergreifenden Berliner "Verbundes gegen Sekten" mitgewirkt, der von der Sektenleitstelle der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung koordiniert wird.. Internet Über den Internetauftritt können unter www.verfassungsschutz-berlin.de Aktuelle Meldungen, Informationen über die Grundlagen der Verfassungsschutzarbeit sowie die Veranstaltungen des Verfassungsschutzes Berlin und alle Publikationen abgerufen werden. Bürgerund Hinweistelefon Das Bürgertelefon als Teil der Öffentlichkeitsarbeit nimmt Ihre Hinweise oder Fragen gerne entgegen. Zu erreichen sind wir unter der Telefonnummer (030) 90 129-0 oder unter der E-Mail-Adresse info@verfassungsschutz-berlin.de. 373 Das Islamforum ist ein Kooperationsprojekt des Beauftragten des Berliner Senats für Integration und Migration und der 2003 gegründeten Muslimischen Akademie Deutschlands. VERFASSUNGSSCHUTZ BERLIN 243 Daneben haben wir ein vertrauliches Telefon für Hinweise, z. B. zur Aufklärung des islamistischen Terrorismus, an den Berliner Verfassungsschutz eingerichtet: - (030) 90 129-400 (in deutscher Sprache) - (030) 90 129-401 (in türkischer Sprache) - (030) 90 129-402 (in arabischer Sprache) Die Anschlüsse sind werktags von 9.00 bis 15.00 Uhr von sprachkundigen Mitarbeitern besetzt. Außerhalb der genannten Zeiten ist ein Anrufbeantworter geschaltet. Darüber hinaus können auch vertrauliche E- Mails an die Adressen info@verfassungsschutz-berlin.de oder aman@verfassungsschutz-berlin.de gesendet werden. Verfassungsschutz Berlin 245 Anhang 246 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 1 Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin Gesetz über den SS3 Verfassungsschutz in Berlin Dienstkräfte (1) Die Dienstkräfte der Verfassungsschutzab(Verfassungsschutzgesetz Berlin - VSG Bln) in der teilung haben neben den allgemeinen Pflichten die Fassung vom 25. Juni 2001, geändert durch Art. V sich aus dem Wesen des Verfassungsschutzes und des Gesetzes vom 30. Juli 2001 (GVBl. S. 305), ihrer dienstlichen Stellung ergebenden besonderen geändert durch Art. II des Gesetzes vom 5. DezemPflichten. Sie haben sich jederzeit für den Schutz ber 2003 (GVBl. 571), zuletzt geändert durch Art. I der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im des Gesetzes vom 6. Juli 2006 (GVBl. Nr. 26, Sinne des Grundgesetzes und der Verfassung von S. 712) Berlin einzusetzen. Die Funktion des Leiters der für den Verfassungsschutz zuständigen Abteilung soll ERSTER ABSCHNITT nur einer Person übertragen werden, die die BefähiAufgaben und Befugnisse der gung zum Richteramt besitzt. Verfassungsschutzbehörde (2) Der Senat von Berlin kann jährlich bestimmen, in welchem Umfang Dienstkräften der VerSS1 fassungsschutzabteilung freie, frei werdende und Zweck des Verfassungsschutzes neu geschaffene Stellen in der Hauptverwaltung für Zwecke der Personalentwicklung vorbehalten werDer Verfassungsschutz dient dem Schutz der freiden. heitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit der Bundesrepublik SS4 Deutschland und ihrer Länder. Zusammenarbeit SS2 (1) Die Verfassungsschutzbehörde ist verOrganisation pflichtet, mit Bund und Ländern in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes zusammenzu(1) Verfassungsschutzbehörde ist die Searbeiten. Die Zusammenarbeit besteht insbesondere natsverwaltung für Inneres. Die für den Verfasin gegenseitiger Unterstützung und Information sosungsschutz zuständige Abteilung nimmt ihre Aufwie in der Unterhaltung gemeinsamer Einrichtungaben gesondert von der für die Polizei zuständigen gen (wie z. B. das nachrichtendienstliche InformaAbteilung wahr. tionssystem des Bundes und der Länder [NADIS] (2) Die für den Verfassungsschutz zustänund die Schule für Verfassungsschutz). dige Abteilung ist datenverarbeitende Stelle im (2) Verfassungsschutzbehörden anderer Länder Sinne des SS 4 Abs. 3 Nr. 1 des Berliner Datendürfen im Geltungsbereich dieses Gesetzes nur im schutzgesetzes in der Fassung vom 17. Dezember Einvernehmen, das Bundesamt für Verfassungs1990 (GVBl. 1991 S. 16, 54), das zuletzt durch schutz nur im Benehmen mit der VerfassungsArt. IX des Gesetzes vom 30. November 2000 schutzbehörde tätig werden. (GVBl. S. 495) geändert worden ist. Die Übermittlung an andere Organisationseinheiten der SeSS5 natsverwaltung für Inneres ist ungeachtet der fachAufgaben der Verfassungsschutzbehörde und dienstaufsichtlichen Befugnisse zulässig, wenn dies für die Aufgabenerfüllung nach SS 5 Abs. 1 (1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die Auferforderlich ist. gabe, den Senat und das Abgeordnetenhaus von (3) Bei der Leitung der Senatsverwaltung Berlin, andere zuständige staatliche Stellen und die für Inneres wird eine Revision eingerichtet. Die ReÖffentlichkeit über Gefahren für die freiheitliche vision ist unbeschadet ihrer Verantwortung gegendemokratische Grundordnung, den Bestand und die über dem Senator im Übrigen in der Durchführung Sicherheit des Bundes und der Länder zu untervon Prüfungen und der Beurteilung von Prüfungsrichten. Dadurch soll es den staatlichen Stellen insvorgängen unabhängig. besondere ermöglicht werden, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr dieser Gefahren zu ergreifen. ANHANG 247 (2) Zur Erfüllung dieser Aufgaben sammelt und SS6 wertet die Verfassungsschutzbehörde InformatioBegriffsbestimmungen nen, insbesondere sachund personenbezogene Daten, Auskünfte, Nachrichten und Unterlagen aus (1) Bestrebungen im Sinne des SS 5 Abs. 2 Nr. 1 über und 3 sind politisch motivierte, zielund zweck1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche degerichtete Verhaltensweisen oder Betätigungen von mokratische Grundordnung, den Bestand oder die Organisationen, Personenzusammenschlüssen ohne Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet feste hierarchische Organisationsstrukturen (unorsind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der ganisierte Gruppen) oder Einzelpersonen gegen die Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes in SS 5 Abs. 2 bezeichneten Schutzgüter. Für eine oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele Organisation oder eine unorganisierte Gruppe hanhaben, delt, wer sie in ihren Bestrebungen nachdrücklich unterstützt. Verhaltensweisen von Einzelpersonen, 2. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche die nicht in einer oder für eine Organisation oder in Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes einer oder für eine unorganisierte Gruppe handeln, für eine fremde Macht, sind Bestrebungen im Sinne dieses Gesetzes, wenn 3. Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundsie auf Anwendung von Gewalt gerichtet sind oder gesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder aufgrund ihrer Wirkungsweise geeignet sind, ein darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärSchutzgut dieses Gesetzes erheblich zu betige Belange der Bundesrepublik Deutschland geschädigen. fährden oder gegen das friedliche Zusammenleben (2) Bestrebungen im Sinne dieses Gesetzes, die der Völker (Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes) gegegen die freiheitliche demokratische Grundrichtet sind. ordnung gerichtet sind, sind solche, die auf die Be(3) Die Verfassungsschutzbehörde wirkt auf Ersuseitigung oder Außerkraftsetzung wesentlicher Verchen der zuständigen öffentlichen Stellen mit fassungsgrundsätze abzielen. Hierzu gehören: 1. bei der Sicherheitsüberprüfung von Personen, 1. das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in denen im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbeWahlen und Abstimmungen und durch besondere dürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Geanvertraut werden, die Zugang dazu erhalten sollen walt und der Rechtsprechung auszuüben und die oder ihn sich verschaffen können, Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, frei2. bei der Sicherheitsüberprüfung von Personen, er, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, die an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebens2. die Bindung der Gesetzgebung an die veroder verteidigungswichtigen Einrichtungen befassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollschäftigt sind oder werden sollen, ziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Ge3. bei technischen Sicherheitsmaßnahmen zum setz und Recht, Schutz von im öffentlichen Interesse geheimhal3. das Recht auf Bildung und Ausübung einer tungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Erparlamentarischen Opposition, kenntnissen gegen die Kenntnisnahme durch Unbe4. die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verfugte, antwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, 4. bei aufenthaltsrechtlichen Verfahren, Einbür5. die Unabhängigkeit der Gerichte, gerungsverfahren, jagdund waffenrechtlichen Ver6. der Ausschluss jeder Gewaltund Willkürherrfahren sowie bei sonstigen gesetzlich vorgeschrieschaft und benen Überprüfungen; die Mitwirkung ist nur zu7. die im Grundgesetz konkretisierten Menschenlässig, wenn diese zum Schutz der freiheitlichen derechte. mokratischen Grundordnung oder für Zwecke der öffentlichen Sicherheit erforderlich ist; Näheres (3) Im Sinne dieses Gesetzes sind wird in einer Verwaltungsvorschrift des Senators 1. Bestrebungen gegen den Bestand des Bundes für Inneres im Benehmen mit dem Berliner Beoder eines Landes solche, die darauf gerichtet sind, auftragten für den Datenschutz und für das Recht die Freiheit des Bundes oder eines Landes von auf Akteneinsicht bestimmt. fremder Herrschaft aufzuheben, ihre staatliche Einheit zu beseitigen oder ein zu ihm gehörendes GeDie Befugnisse der Verfassungsschutzbehörde bei biet abzutrennen, der Mitwirkung nach Satz 1 Nr. 1 und 2 sind im Berliner Sicherheitsüberprüfungsgese vom 2. März 2. Bestrebungen gegen die Sicherheit des Bundes 1998 (GVBl. S. 26) geregelt. oder eines Landes solche, die darauf gerichtet sind, den Bund, die Länder oder deren Einrichtungen in 248 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 ihrer Funktionsfähigkeit erheblich zu beeinträchSS8 tigen. Befugnisse der Verfassungsschutzbehörde (4) Auswärtige Belange im Sinne des SS 5 Abs. (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf die zur 2 Nr. 3 werden nur gefährdet, wenn innerhalb des Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen InformatioGeltungsbereichs des Grundgesetzes Gewalt ausgenen einschließlich personenbezogener Daten verübt oder durch Handlungen vorbereitet wird und arbeiten und bei Behörden, sonstigen öffentlichen diese sich gegen die politische Ordnung oder EinStellen sowie nicht öffentlichen Stellen, insbesonrichtungen anderer Staaten richten. dere bei Privatpersonen, erheben, soweit die BeSS7 stimmungen dieses Gesetzes dies zulassen. Ein Voraussetzung und Rahmen für die Tätigkeit der Ersuchen der Verfassungsschutzbehörde um ÜberVerfassungsschutzbehörde mittlung personenbezogener Daten darf nur diejenigen personenbezogenen Daten enthalten, die für (1) Soweit dieses Gesetz nichts anderes bedie Erteilung der Auskunft unerlässlich sind. stimmt, darf die Verfassungsschutzbehörde bei der Schutzwürdige Interessen des Betroffenen dürfen Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach SS 5 Abs. 2 nur nur im unvermeidbaren Umfang beeinträchtigt wertätig werden, wenn im Einzelfall tatsächliche Anden. haltspunkte für den Verdacht der dort genannten (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur Bestrebungen oder Tätigkeiten vorliegen. heimlichen Informationsbeschaffung, insbesondere (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf für die zur Erhebung personenbezogener Daten, nur in Prüfung, ob die Voraussetzungen des Absatzes 1 begründeten Fällen folgende nachrichtendienstliche vorliegen, die dazu erforderlichen personenbezogeMittel anwenden: nen Daten aus allgemein zugänglichen Quellen 1. Einsatz von Vertrauensleuten, sonstigen geheierheben, speichern und nutzen. Eine Speicherung men Informanten, zum Zweck der Spionageabwehr dieser Daten im nachrichtendienstlichen Inforüberworbenen Agenten, Gewährspersonen und mationssystem (NADIS) oder in anderen Verbundverdeckten Ermittlern, dateien ist nicht zulässig. Eine Speicherung der 2. Observation, nach Satz 1 erhobenen personenbezogenen Daten in 3. Bildaufzeichnungen (Fotografieren, VideoAkten und Dateien über den Ablauf eines Jahres grafieren und Filmen), seit der Speicherung hinaus ist nur zulässig, wenn spätestens von diesem Zeitpunkt an die Voraus4. verdeckte Ermittlungen und Befragungen, setzungen des Absatzes 1 vorliegen. Dasselbe gilt 5. Mithören ohne Inanspruchnahme technischer für das Anlegen personenbezogener Akten. Mittel, (3) Zur Erfüllung ihrer Aufgaben darf die Ver6. Mithören und Aufzeichnen des nicht öffentlich fassungsschutzbehörde nur die dazu erforderlichen gesprochenen Wortes unter Einsatz technischer Maßnahmen ergreifen; dies gilt insbesondere für Mittel, die Erhebung und Verarbeitung personenbezogener 7. Beobachtungen des Funkverkehrs auf nicht für Informationen. Von mehreren möglichen und geden allgemeinen Empfang bestimmten Kanälen eigneten Maßnahmen hat sie diejenige auszusowie die Sichtbarmachung, Beobachtung, Aufwählen, die den einzelnen, insbesondere in seinen zeichnung und Entschlüsselung von Signalen in Grundrechten, und die Allgemeinheit vorausKommunikationssystemen, sichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Eine Maß8. Verwendung fingierter biografischer, berufnahme hat zu unterbleiben, wenn sie einen Nachteil licher oder gewerblicher Angaben (Legenden), herbeiführt, der erkennbar außer Verhältnis zu dem 9. Beschaffung, Erstellung und Verwendung von beabsichtigten Erfolg steht. Sie ist nur solange zuTarnpapieren und Tarnkennzeichen, lässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass er nicht erreicht werden kann. 10. Überwachung des Brief-, Post-, und Fernmel(4) Soweit in diesem Gesetz besondere Eindeverkehrs nach Maßgabe des Art. 10-Gesetzes, griffsbefugnisse das Vorliegen gewalttätiger Bestrevom 26. Juni 2001 (BGBl. I S. 1254, 2298), zuletzt bungen oder darauf gerichtete Vorbereitungshandgeändert durch Art. 5 Abs. 1 des Gesetzes vom lungen voraussetzen, ist Gewalt die Anwendung 22. August 2002 (BGBl. I S. 3390), körperlichen Zwanges gegen Personen oder eine 11. Einsatz von weiteren vergleichbaren Methonicht unerhebliche Einwirkung auf Sachen. den, Gegenständen und Instrumenten zur heimlichen Informationsbeschaffung, insbesondere das sonstige Eindringen in technische Kommunikationsbeziehungen durch Bild-, Ton-, und Datenaufzeichnungen; dem Einsatz derartiger Methoden, ANHANG 249 Gegenstände und Instrumente hat der Ausschuss für Daten, die für das Verständnis der zu speichernden Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses von Informationen nicht erforderlich sind, sind unBerlin vorab seine Zustimmung zu erteilen. verzüglich zu löschen. Die Löschung kann unterPersonen, die berechtigt sind, in Strafsachen aus bleiben, wenn die Informationen von anderen, die beruflichen Gründen das Zeugnis zu verweigern zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich sind, nicht (SSSS 53 und 53a der Strafprozessordnung), darf die oder nur mit unvertretbarem Aufwand getrennt Verfassungsschutzbehörde nicht von sich aus nach werden können; in diesem Fall dürfen die Daten Satz 1 Nr. 1 zur Beschaffung von Informationen in nicht verwertet werden. Anspruch nehmen, auf die sich ihr Zeugnisver(5) Die näheren Voraussetzungen für die Anweigerungsrecht bezieht. Die Behörden des Landes wendung der Mittel nach Absatz 2 sind in einer Berlin sind verpflichtet, der VerfassungsschutzVerwaltungsvorschrift des Senators für Inneres zu behörde technische Hilfe für Tarnungsmaßnahmen regeln, die auch die Zuständigkeit für die Anordzu geben. nung solcher Informationsbeschaffung regelt. Die (3) Die Verfassungsschutzbehörde darf InforVerwaltungsvorschrift ist dem Ausschuss für Vermationen einschließlich personenbezogener Daten fassungsschutz des Abgeordnetenhauses von Berlin mit den Mitteln gemäß Absatz 2 erheben, wenn vorab zur Kenntnis zu geben. 1. sich ihr Einsatz gegen Organisationen, unorga(6) Für die Speicherung und Löschung der nisierte Gruppen, in ihnen oder einzeln tätige Perdurch Maßnahmen nach Absatz 2 erlangten personen richtet, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte sonenbezogenen Daten gilt SS 4 Abs. 1 des für den Verdacht der Bestrebungen oder Tätigkeiten Art. 10-Gesetzes entsprechend. nach SS 5 Abs. 2 bestehen, (7) Polizeiliche Befugnisse stehen der Verfas2. auf diese Weise Erkenntnisse über gewalttätige sungsschutzbehörde nicht zu; sie darf die Polizei Bestrebungen oder geheimdienstliche Tätigkeiten auch nicht im Wege der Amtshilfe um Maßnahmen gewonnen werden können, ersuchen, zu denen sie selbst nicht befugt ist. (8) Die Verfassungsschutzbehörde ist an die 3. auf diese Weise die zur Erforschung von Beallgemeinen Rechtsvorschriften gebunden (Art. 20 strebungen oder Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 erfordes Grundgesetzes). derlichen Quellen erschlossen werden können oder 4. dies zum Schutz der Dienstkräfte, EinrichSS9 tungen, Gegenstände und Quellen der VerfassungsEinsatz technischer Mittel zur Überwachung von schutzbehörde gegen sicherheitsgefährdende oder Wohnungen geheimdienstliche Tätigkeiten erforderlich ist. (1) Das in einer Wohnung nicht öffentlich geDatenerhebungen nach Satz 1 Nr. 2 dürfen sich sprochene Wort darf mit technischen Mitteln ausgegen andere als die in SS 6 Abs. 1 Satz 2 und 3 geschließlich bei der Wahrnehmung der Aufgaben auf nannten Personen nur richten, soweit dies zur Gedem Gebiet der Spionageabwehr und des gewaltwinnung von Erkenntnissen unerlässlich ist. bereiten politischen Extremismus heimlich mit(4) Die Erhebung nach Absatz 2 ist unzulässig, gehört oder aufgezeichnet werden. Eine solche wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere, Maßnahme ist nur zulässig, wenn sie im Einzelfall die betroffene Person weniger beeinträchtigende zur Abwehr einer dringenden Gefahr für die öffentWeise möglich ist; eine geringere Beeinträchtigung liche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen Geist in der Regel anzunehmen, wenn die Informafahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, tionen aus allgemein zugänglichen Quellen oder unerlässlich ist, ein konkreter Verdacht in Bezug durch eine Auskunft nach SS 27 gewonnen werden auf eine Gefährdung der vorstehenden Rechtsgüter können. Die Anwendung eines Mittels gemäß Abbesteht und der Einsatz anderer Methoden und Mitsatz 2 soll erkennbar im Verhältnis zur Bedeutung tel zur heimlichen Informationsbeschaffung keine des aufzuklärenden Sachverhalts stehen. Der EinAussicht auf Erfolg bietet. Die Sätze 1 und 2 gelten satz nachrichtendienstlicher Mittel nach Abs. 2 Satz entsprechend für einen verdeckten Einsatz techni- 1 Nr. 6 und 7 ist grundsätzlich nur zur Inforscher Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen mationsbeschaffung über Bestrebungen gegen die und Bildaufzeichnungen in Wohnungen. Maßnahfreiheitliche demokratische Grundordnung zulässig, men nach den Sätzen 1 bis 3 dürfen nur aufgrund wenn diese Bestrebung die Anwendung von Gewalt richterlicher Anordnung getroffen werden. Bei Gebilligen oder sich in aktiv kämpferischer, aggresfahr im Verzuge kann die Maßnahme auch durch siver Weise betätigen. Die Maßnahme ist unverzügden Senator für Inneres, der im Verhinderungsfall lich zu beenden, wenn ihr Zweck erreicht ist oder durch den zuständigen Staatssekretär vertreten sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass er nicht wird, angeordnet werden; eine richterliche Entoder nicht auf diese Weise erreicht werden kann. scheidung ist unverzüglich nachzuholen. 250 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 (2) Die Anordnung ist auf höchstens drei Modas Abhören und Aufzeichnen des nicht öffentlich nate zu befristen. Verlängerungen um jeweils nicht gesprochenen Wortes mit dem verdeckten Einsatz mehr als drei weitere Monate sind auf Antrag zulästechnischer Mittel gehört, bedarf der Anordnung sig, soweit die Voraussetzungen der Anordnung durch den Senator für Inneres, der im Verhinfortbestehen. Liegen die Voraussetzungen der Anderungsfall durch den zuständigen Staatssekretär ordnung nicht mehr vor oder ist der verdeckte Einvertreten wird. satz technischer Mittel zur Informationsgewinnung (2) Die SSSS 2 und 3 des Gesetzes zur Ausnicht mehr erforderlich, ist die Maßnahme unverführung des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz gelten züglich zu beenden. Der Vollzug der Anordnung entsprechend. erfolgt unter Aufsicht eines Bediensteten der Ver(3) SS 9 Abs. 6 gilt entsprechend. fassungsschutzbehörde, der die Befähigung zum Richteramt hat. SS 10 (3) Sind technische Mittel ausschließlich zum Registereinsicht durch die VerfassungsschutzbeSchutze der bei einem Einsatz in Wohnungen tätihörde gen Personen vorgesehen, kann die Maßnahme (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur durch den Senator für Inneres, der im VerhinAufklärung derungsfall durch den zuständigen Staatssekretär - von sicherheitsgefährdenden oder geheimvertreten wird, angeordnet werden. Eine anderdienstlichen Tätigkeiten für eine fremde Macht oder weitige Verwertung der hierbei erlangten Erkennt- - von Bestrebungen, die durch Anwendung von nisse zum Zwecke der Gefahrenabwehr ist nur zuGewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlässig, wenn zuvor die Rechtmäßigkeit der Maßlungen gegen die freiheitliche demokratische Grunnahme richterlich festgestellt worden ist; bei Gefahr dordnung, den Bestand oder die Sicherheit des im Verzuge ist die richterliche Entscheidung unverBundes oder eines Landes gerichtet sind oder züglich nachzuholen. (4) Zuständig für richterliche Entscheidungen - von Bestrebungen, die durch Anwendung von nach den Absätzen 1 und 3 ist das Amtsgericht Gewalt oder darauf gerichtete VorbereitungshandTiergarten. Für das Verfahren gelten die Vorschriflungen auswärtige Belange der Bundesrepublik ten des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiDeutschland gefährden, willigen Gerichtsbarkeit entsprechend. von öffentlichen Stellen geführte Register, z. B. (5) Der Senat unterrichtet die Kommission Melderegister, Personalausweisregister, Passrenach SS 2 des Gesetzes zur Ausführung des Art. 10gister, Führerscheinkarteien, Waffenscheinkarteien, Gesetzes in der Fassung vom 25. Juni 2001 (GVBl. einsehen. S. 251), das zuletzt durch Art. 1 des Gesetzes vom (2) Eine solche Einsichtnahme ist nur zulässig, 5. Dezember 2003 (GVBl. S. 571) geändert worden wenn ist, unverzüglich, möglichst vorab, und umfassend 1. die Aufklärung auf andere Weise nicht mögüber den Einsatz technischer Mittel nach Absatz 1 lich erscheint, insbesondere durch eine Übermittund, soweit richterlich überprüfungsbedürftig, nach lung der Daten durch die registerführende Stelle der Absatz 3. SS 3 des Gesetzes zur Ausführung des Zweck der Maßnahme gefährdet würde, und Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz gilt entsprechend. 2. die betroffene Person durch eine anderweitige (6) Eine Maßnahme nach den Absätzen 1 und 3 Aufklärung unverhältnismäßig beeinträchtigt würist nach ihrer Beendigung der betroffenen Person de, und mitzuteilen, sobald eine Gefährdung des Zwecks 3. eine besondere gesetzliche Geheimhaltungsder Maßnahme mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht vorschrift oder ein Berufsgeheimnis der Einsichtmehr zu erwarten ist. Die durch Maßnahmen im nahme nicht entgegensteht. Sinne des Satzes 1 erhobenen Informationen dürfen (3) Die Anordnung für die Maßnahme nach nur nach Maßgabe des SS 4 Abs. 1 des Art. 10-GeAbsatz 1 trifft der Leiter der Verfassungsschutzabsetzes verwendet werden. teilung, im Falle der Verhinderung der Vertreter. SS 9a (4) Die auf diese Weise gewonnenen ErkenntEingriffe, die in ihrer Art und Schwere einer Benisse dürfen nur zu den in Absatz 1 genannten schränkung des Brief-, Postund FernmeldegeZwecken verwendet werden. Gespeicherte Informaheimnisses gleichkommen tionen sind zu löschen und Unterlagen zu vernichten, sobald sie für diese Zwecke nicht mehr (1) Ein Eingriff, der in seiner Art und Schwere benötigt werden. einer Beschränkung des Brief-, Postund Fern(5) Über die Einsichtnahme ist ein gesonderter meldegeheimnisses gleichkommt und nicht den Nachweis zu führen, aus dem ihr Zweck, die in Regelungen des SS 9 unterliegt, wozu insbesondere Anspruch genommene Stelle, die Namen der Be- ANHANG 251 troffenen, deren Daten für eine weitere VerwenSS 13 dung erforderlich sind, sowie der Zeitpunkt der EinSpeicherungsdauer sichtnahme hervorgehen. Diese Aufzeichnungen sind gesondert aufzubewahren, durch technische (1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die und organisatorische Maßnahmen zu sichern und, Speicherungsdauer auf das für ihre Aufgabensoweit sie für die Aufgabenerfüllung der Verfaserfüllung erforderliche Maß zu beschränken. Die in sungsschutzbehörde nach SS 5 Abs. 2 nicht mehr Dateien gespeicherten Informationen sind bei der benötigt werden, am Ende des Kalenderjahres, das Einzelfallbearbeitung, spätestens aber fünf Jahre dem Jahr der Erstellung folgt, zu vernichten. nach Speicherung der letzten Information, auf ihre Erforderlichkeit zu überprüfen. Sofern die Informationen Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 Nr. 1 oder ZWEITER ABSCHNITT 3 betreffen, sind sie spätestens zehn Jahre nach der Datenverarbeitung zuletzt gespeicherten relevanten Information zu löschen. SS 11 (2) Sind Informationen über Minderjährige in Speicherung, Veränderung und Nutzung personenDateien oder in Akten, die zu ihrer Person geführt bezogener Informationen werden, gespeichert, ist nach zwei Jahren die Erfor(1) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur derlichkeit der Speicherung zu überprüfen und späErfüllung ihrer Aufgaben rechtmäßig erhobene testens nach fünf Jahren die Löschung vorzupersonenbezogene Informationen speichern, vernehmen, es sei denn, dass nach Eintritt der Volländern und nutzen, wenn jährigkeit weitere Erkenntnisse nach SS 5 Abs. 2 1. tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen angefallen sind, die zur Erfüllung der Aufgaben im oder Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 vorliegen oder Sinne dieses Gesetzes eine Fortdauer der Speiche2. dies für die Erforschung oder Bewertung von rung rechtfertigen. gewalttätigen Bestrebungen oder geheimdienstSS 14 lichen Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 erforderlich ist Berichtigung, Löschung und Sperrung personenbeoder zogener Informationen in Dateien 3. dies zur Schaffung oder Erhaltung nachrichtendienstlicher Zugänge über Bestrebungen oder Tätig(1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in keiten nach SS 5 Abs. 2 erforderlich ist oder Dateien gespeicherten personenbezogenen Informationen zu berichtigen, wenn sie unrichtig sind; sie 4. dies zum Schutz der Dienstkräfte, Einrichtunsind zu ergänzen, wenn sie unvollständig sind und gen, Gegenstände und Quellen der Verfassungsdadurch schutzwürdige Interessen der betroffenen schutzbehörde gegen sicherheitsgefährdende oder Person beeinträchtigt sein können. geheimdienstliche Tätigkeiten erforderlich ist oder (2) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in 5. sie auf Ersuchen der zuständigen Stelle nach Dateien gespeicherten personenbezogenen InformaSS 5 Abs. 3 tätig wird. tionen zu löschen, wenn ihre Speicherung irrtümIn Akten dürfen über Satz 1 Nr. 2 hinaus personenlich erfolgt war, unzulässig war oder ihre Kenntnis bezogene Daten auch gespeichert, verändert und für die Aufgabenerfüllung nicht mehr erforderlich genutzt werden, wenn dies sonst zur Erforschung ist und schutzwürdige Interessen der betroffenen und Bewertung von Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 Person nicht beeinträchtigt werden. zwingend erforderlich ist. (3) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in (2) In Dateien gespeicherte Informationen müsDateien gespeicherten personenbezogenen Informasen durch Aktenrückhalt belegbar sein. tionen zu sperren, wenn die Löschung unterbleibt, (3) In Dateien ist die Speicherung von Informaweil Grund zu der Annahme besteht, dass durch die tionen aus der Intimsphäre der betroffenen Person Löschung schutzwürdige Interessen der betroffenen unzulässig. Person beeinträchtigt würden; gesperrte InformatioSS 12 nen sind entsprechend zu kennzeichnen und dürfen Speicherung, Veränderung und Nutzung personennur mit Einwilligung der betroffenen Person verbezogener Informationen von Minderjährigen wendet werden. (4) In Dateien gelöschte Informationen sind geDie Speicherung personenbezogener Informationen sperrt. Unterlagen sind zu vernichten, wenn sie zur über Minderjährige, die das 14. Lebensjahr nicht Erfüllung der Aufgaben nach SS 5 nicht oder nicht vollendet haben, ist unzulässig. mehr erforderlich sind, es sei denn, dass ihre Aufbewahrung zur Wahrung schutzwürdiger Interessen der betroffenen Person notwendig ist. Die Vernich- 252 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 tung unterbleibt, wenn die Unterlagen von anderen, (2) Die Verfassungsschutzbehörde hat in angedie zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich sind, messenen Abständen die Notwendigkeit der Weinicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand geterführung oder Änderung ihrer Dateien zu prüfen. trennt werden können. (5) Personenbezogene Informationen, die ausSS 17 schließlich zu Zwecken der Datenschutzkontrolle, Gemeinsame Dateien der Datensicherung oder zur Sicherstellung eines Bundesgesetzliche Vorschriften über die Datenverordnungsgemäßen Betriebes einer Datenverarbeiarbeitung in gemeinsamen Dateien der Verfastungsanlage gespeichert werden, dürfen nur für sungsschutzbehörden des Bundes und der Länder diese Zwecke und zur Verfolgung der in der jeweibleiben unberührt. ligen Fassung des Berliner Datenschutzgesetzes als Straftaten bezeichneten Handlungen verwendet DRITTER ABSCHNITT werden. Informationsübermittlung SS 15 Berichtigung und Sperrung personenbezogener SS 18 Informationen in Akten Grundsätze bei der Informationsübermittlung durch die Verfassungsschutzbehörde (1) Stellt die Verfassungsschutzbehörde fest, dass in Akten gespeicherte personenbezogene InforDie Übermittlung von personenbezogenen Informamationen unrichtig sind, oder wird ihre Richtigkeit tionen ist aktenkundig zu machen. In der entsprevon dem Betroffenen bestritten, so ist dies in der chenden Datei ist die Informationsübermittlung zu Akte zu vermerken oder auf sonstige Weise festzuvermerken. Vor der Informationsübermittlung ist halten. der Akteninhalt im Hinblick auf den Übermitt(2) Die Verfassungsschutzbehörde hat persolungszweck zu würdigen und der Informationsübernenbezogene Informationen in Akten zu sperren, mittlung zugrunde zu legen. Erkennbar unvollstänwenn sie im Einzelfall feststellt, dass ohne die Sperdige Informationen sind vor der Übermittlung im rung schutzwürdige Interessen von Betroffenen Rahmen der Verhältnismäßigkeit durch Einholung beeinträchtigt würden und die Daten für ihre Aufzusätzlicher Auskünfte zu vervollständigen. gabenerfüllung nicht mehr erforderlich sind. GeSS 19 sperrte Informationen sind mit einem entsprechenInformationsübermittlung zwischen den Verfasden Vermerk zu versehen; sie dürfen nicht mehr sungsschutzbehörden genutzt oder übermittelt werden. Eine Aufhebung der Sperrung ist möglich, wenn ihre VorausDie Verfassungsschutzbehörde unterrichtet das setzungen nachträglich entfallen. Bundesamt für Verfassungsschutz und die Verfassungsschutzbehörden der Länder über alle AngeleSS 16 genheiten, deren Kenntnis zur Erfüllung der AufDateianordnungen gaben der empfangenden Stellen erforderlich ist. (1) Für jede automatisierte Datei der VerSS 20 fassungsschutzbehörde sind in einer DateianordInformationsübermittlung an den Bundesnachrichnung im Benehmen mit dem Berliner Beauftragten tendienst und den Militärischen Abschirmdienst für den Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht festzulegen: Die Verfassungsschutzbehörde übermittelt dem 1. Bezeichnung der Datei, Bundesnachrichtendienst und dem Militärischen 2. Zweck der Datei, Abschirmdienst die ihr bekannt gewordenen Infor3. Inhalt, Umfang, Voraussetzungen der Speichemationen einschließlich personenbezogener Daten, rungen, Übermittlung und Nutzung (betroffener wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, Personenkreis, Arten der Daten), dass die Übermittlung für die Erfüllung der Auf4. Eingabeberechtigung, gaben der empfangenden Stellen erforderlich ist. Handelt die Verfassungsschutzbehörde auf Ersu5. Zugangsberechtigung, chen, so ist sie zur Übermittlung nur verpflichtet 6. Überprüfungsfristen, Speicherungsdauer, und berechtigt, wenn sich die Voraussetzungen aus 7. Protokollierung, den Angaben der ersuchenden Behörde ergeben. 8. Datenverarbeitungsgeräte und Betriebssystem, SS 21 9. Inhalt und Umfang von Textzusätzen, die der Informationsübermittlung an StrafverfolgungsbeErschließung von Akten dienen. ANHANG 253 hörden in Angelegenheiten des Staatsund Verfasdas dem Jahr seiner Erstellung folgt, zu vernichten. sungsschutzes Der Empfänger darf die übermittelten personenbezogenen Informationen nur für den Zweck verDie Verfassungsschutzbehörde übermittelt den wenden, zu dem sie ihm übermittelt wurden. Der Staatsanwaltschaften und, vorbehaltlich der staatsEmpfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung anwaltlichen Sachleitungsbefugnis, den Polizeibeund darauf hinzuwiesen, dass die Verfassungshörden des Landes die ihr bekannt gewordenen schutzbehörde sich vorbehält, um Auskunft über die Informationen einschließlich personenbezogener vorgenommene Verwendung der Informationen zu Daten, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bebitten. stehen, dass die Übermittlung zur Verhinderung oder Verfolgung von Straftaten, die im ZusamSS 24 menhang mit Bestrebungen oder Tätigkeiten nach Übermittlung von Informationen an die StationieSS 5 Abs. 2 stehen, erforderlich ist. rungsstreitkräfte SS 22 Die Verfassungsschutzbehörde darf personenbezoÜbermittlung von Informationen an den öffentligene Informationen an Dienststellen der Statiochen Bereich nierungsstreitkräfte übermitteln, soweit die Bundesrepublik Deutschland dazu im Rahmen von Art. 3 (1) Die im Rahmen der gesetzlichen Aufgabendes Zusatzabkommens zu dem Abkommen zwierfüllung gewonnenen, nicht personenbezogenen schen den Parteien des Nordatlantikpaktes über die Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörde können Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich der in der an andere Behörden und Stellen, insbesondere an Bundesrepublik Deutschland stationierten ausländie Polizei und die Staatsanwaltschaft, übermittelt dischen Streitkräfte vom 3. August 1959 (BGBl. werden, wenn sie für die Aufgabenerfüllung der 1961 II S. 1183) verpflichtet ist. Die Übermittlung empfangenden Stellen erforderlich sein können. ist aktenkundig zu machen. Der Empfänger ist dar(2) Die Verfassungsschutzbehörde darf persoauf hinzuweisen, dass die übermittelten Informationenbezogene Informationen an inländische Behörnen nur zu dem Zweck verwendet werden dürfen, den und juristische Personen des öffentlichen zu dem sie ihm übermittelt wurden. Rechts übermitteln, wenn dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich ist oder der Empfänger die SS 25 Informationen zum Schutz vor Bestrebungen oder Übermittlung von Informationen an öffentliche Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 oder zur StrafverfolStellen außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgung benötigt oder nach SS 5 Abs. 3 tätig wird. gesetzes (3) Die empfangende Stelle von Informationen nach Absatz 2 ist darauf hinzuweisen, dass sie die Die Verfassungsschutzbehörde darf personenbeübermittelten personenbezogenen Informationen zogene Informationen an ausländische öffentliche nur zu dem Zweck verwenden darf, zu dessen ErStellen sowie an überoder zwischenstaatliche Stelfüllung sie ihr übermittelt wurden. len übermitteln, wenn die Übermittlung zur Erfüllung ihrer Aufgaben oder zur Wahrung erheblicher SS 23 Sicherheitsinteressen des Empfängers erforderlich Übermittlung von Informationen an Personen und ist. Die Übermittlung unterbleibt, wenn auswärtige Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs Belange der Bundesrepublik Deutschland oder ü- berwiegende schutzwürdige Interessen der betrofPersonenbezogene Informationen dürfen an Persofenen Person entgegenstehen. Die Übermittlung ist nen oder Stellen außerhalb des öffentlichen Benur im Einvernehmen mit dem Bundesamt für Verreichs nicht übermittelt werden, es sei denn, dass fassungsschutz zulässig. Sie ist aktenkundig zu dies zum Schutz der freiheitlichen demokratischen machen. Der Empfänger ist darauf hinzuweisen, Grundordnung, des Bestandes oder der Sicherheit dass die übermittelten personenbezogenen Informades Bundes oder eines Landes erforderlich ist und tionen nur zu dem Zweck verwendet werden dürfen, der Senator für Inneres, der im Verhinderungsfall zu dem sie ihm übermittelt wurden, und die Verfasdurch den zuständigen Staatssekretär vertreten sungsschutzbehörde sich vorbehält, um Auskunft wird, im Einzelfall seine Zustimmung erteilt hat. über die vorgenommene Verwendung der InformaDie Verfassungsschutzbehörde führt über die Austionen zu bitten. kunft nach Satz 1 einen Nachweis, aus dem der Zweck der Übermittlung, die Aktenfundstelle und SS 26 der Empfänger hervorgehen; die Nachweise sind Unterrichtung der Öffentlichkeit gesondert aufzubewahren, gegen unberechtigten Zugriff zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, 254 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Die Verfassungsschutzbehörde unterrichtet die Öf(5) Vorschriften zur Informationsübermittlung fentlichkeit mindestens einmal jährlich über Bestrean die Verfassungsschutzbehörde nach anderen Gebungen und Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2. Dabei ist setzen bleiben unberührt. die Übermittlung von personenbezogenen Informa(6) Die Verfassungsschutzbehörde hat die ü- tionen nur zulässig, wenn die Bekanntgabe für das bermittelten Informationen nach ihrem Eingang Verständnis des Zusammenhanges oder der Darstelunverzüglich darauf zu überprüfen, ob sie zur Erlung von Organisationen oder unorganisierten füllung ihrer in SS 5 genannten Aufgaben erforderGruppierungen erforderlich ist und die Interessen lich sind. Ergibt die Prüfung, dass sie nicht erforder Allgemeinheit an sachgemäßen Informationen derlich sind, sind die Unterlagen unverzüglich zu das schutzwürdige Interesse des Betroffenen übervernichten. Die Vernichtung unterbleibt, wenn die wiegen. Trennung von anderen Informationen, die zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich sind, nicht oder SS 27 nur mit unvertretbarem Aufwand erfolgen kann; in Übermittlung von Informationen an die Verfasdiesem Fall sind die Informationen gesperrt und sungsschutzbehörde entsprechend zu kennzeichnen. (1) Die Behörden des Landes und die sonstigen (7) Soweit andere gesetzliche Vorschriften der Aufsicht des Landes unterstehenden juristischen nicht besondere Regelungen über die DokumenPersonen des öffentlichen Rechts übermitteln von tation treffen, haben die Verfassungsschutzbehörde sich aus der Verfassungsschutzbehörde die ihnen und die übermittelnde Stelle die Informationsüberbekannt gewordenen Informationen, insbesondere mittlung aktenkundig zu machen. personenbezogene Daten, über Bestrebungen nach SS 27a SS 5 Abs. 2, die durch Anwendung von Gewalt oder Übermittlung von Informationen durch nicht öffentdarauf gerichtete Vorbereitungshandlungen verfolgt liche Stellen an die Verfassungsschutzbehörde werden, und über geheimdienstliche Tätigkeiten. Die Staatsanwaltschaften und, vorbehaltlich der (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einstaatsanwaltlichen Sachleitungsbefugnis, die Polizei zelfall bei Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinübermitteln darüber hinaus auch andere im Rahmen stituten und Finanzunternehmen unentgeltlich Ausihrer Aufgabenerfüllung bekannt gewordene Inforkünfte zu Konten, Kontoinhabern und sonstigen mationen über Bestrebungen im Sinne des SS 5 Abs. Berechtigten sowie weiteren am Zahlungsverkehr 2. Beteiligten und zu Geldbewegungen und Geldanla(2) Die Verfassungsschutzbehörde kann von gen einholen, wenn dies zur Beobachtung gewaltjeder der in Absatz 1 genannten öffentlichen Stellen tätiger Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3 verlangen, dass sie ihr die zur Erfüllung ihrer Auferforderlich ist und tatsächliche Anhaltspunkte für gaben erforderlichen Informationen einschließlich Gefahren für Leib und Leben vorliegen. personenbezogener Daten übermittelt, wenn die (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf im EinInformationen nicht aus allgemein zugänglichen zelfall zur Beobachtung gewalttätiger Bestrebungen Quellen oder nur mit unverhältnismäßigem Aufnach SS 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3 und wenn tatsächliche wand oder nur durch eine den Betroffenen stärker Anhaltspunkte für Gefahren für Leib und Leben belastende Maßnahme erhoben werden können. Es vorliegen unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. 1 dürfen nur die Informationen übermittelt werden, des Art. 10-Gesetzes bei Personen und Unternehdie bei der ersuchten Behörde bereits bekannt sind. men, die geschäftsmäßig Postdienstleistungen er(3) Die Verfassungsschutzbehörde braucht Erbringen, sowie bei denjenigen, die an der Erbrinsuchen nicht zu begründen, soweit dies dem Schutz gung dieser Dienstleistungen mitwirken, unentder betroffenen Person dient oder eine Begründung geltlich Auskünfte zu Namen, Anschriften, Postden Zweck der Maßnahme gefährden würde. fächern und sonstigen Umständen des Postverkehrs (4) Die Übermittlung personenbezogener Ineinholen. formationen, die aufgrund einer Maßnahme nach (3) Die Verfassungsschutzbehörde darf im EinSS 100a der Strafprozessordnung bekannt geworden zelfall bei Luftfahrtunternehmen unentgeltlich Aussind, ist nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltskünfte zu Namen, Anschriften und zur Inanspruchpunkte dafür bestehen, dass jemand eine der in SS 3 nahme von Transportleistungen und sonstigen Umdes Art. 10-Gesetzes genannten Straftaten plant, ständen des Luftverkehrs einholen, wenn dies zur begeht oder begangen hat. Auf die der VerfassungsBeobachtung gewalttätiger Bestrebungen nach SS 5 schutzbehörde nach Satz 1 übermittelten InforAbs. 2 Nr. 2 und 3 erforderlich ist und tatsächliche mationen findet SS 4 Abs. 6, auf die dazugehörenden Anhaltspunkte für Gefahren für Leib und Leben Unterlagen findet SS 4 Abs. 1 Satz 2 des Art. 10vorliegen. Gesetzes entsprechende Anwendung. ANHANG 255 (4) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Eingeteilt werden. SS 12 Abs. 1 und 3 des Art. 10-Gezelfall zur Beobachtung gewalttätiger Bestrebungen setzes findet entsprechende Anwendung. nach SS 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3 und wenn tatsächliche (6) Die Senatsverwaltung für Inneres unterAnhaltspunkte für Gefahren für Leib und Leben richtet im Abstand von höchstens sechs Monaten vorliegen unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. 1 den Ausschuss für Verfassungsschutz des Abgeorddes Art. 10-Gesetzes bei denjenigen, die geschäftsnetenhauses über die Durchführung der Absätze 1 mäßig Telekommunikationsdienste und Teledienste bis 5; dabei ist insbesondere ein Überblick über erbringen oder daran mitwirken, unentgeltlich AusAnlass, Umfang, Dauer, Ergebnis und Kosten der künfte über Telekommunikationsverbindungsdaten im Berichtszeitraum durchgeführten Maßnahmen und Teledienstnutzungsdaten einholen. Die Ausnach den Absätzen 1 bis 4 zu geben. kunft kann auch in Bezug auf zukünftige Telekom(7) Die Senatsverwaltung für Inneres untermunikation und zukünftige Nutzung von Telerichtet das Parlamentarische Kontrollgremium des diensten verlangt werden. TelekommunikationsverBundes jährlich über die nach den Absätzen 1 bis 5 bindungsdaten und Teledienstnutzungsdaten sind: durchgeführten Maßnahmen; Abs. 6 gilt entspre1. Berechtigungskennungen, Kartennummern, chend. Standortkennung sowie Rufnummer oder Kennung (8) Das Grundrecht des Brief-, Postund Ferndes anrufenden und angerufenen Anschlusses oder meldegeheimnisses (Art. 10 des Grundgesetzes, der Endeinrichtung, Art. 16 der Verfassung von Berlin) wird nach Maß2. Beginn und Ende der Verbindung nach Datum gabe der Absätze 2, 4 und 5 eingeschränkt. und Uhrzeit, SS 28 3. Angaben über die Art der vom Kunden in AnÜbermittlungsverbote spruch genommenen Telekommunikationsund Teledienst-Dienstleistungen, Die Übermittlung von Informationen nach den Vor4. Endpunkte festgeschalteter Verbindungen, ihr schriften dieses Abschnitts unterbleibt, wenn Beginn und ihr Ende nach Datum und Uhrzeit. 1. eine Prüfung durch die übermittelnde Stelle er(5) Auskünfte nach den Abs. 1 bis 4 dürfen nur gibt, dass die Informationen zu löschen oder für die auf Antrag eingeholt werden. Der Antrag ist von empfangende Stelle nicht mehr bedeutsam sind, der Leitung der Verfassungsschutzabteilung, im 2. überwiegende Sicherheitsinteressen dies erforFalle ihrer Verhinderung von ihrem Vertreter dern, schriftlich zu stellen und zu begründen. Über den 3. für die übermittelnde Stelle erkennbar ist, dass Antrag entscheidet der Senator für Inneres, im Fall unter Berücksichtigung der Art der Informationen seiner Verhinderung der Staatssekretär. Die Senatsund ihrer Erhebung die schutzwürdigen Interessen verwaltung für Inneres unterrichtet die Kommission der betroffenen Personen das Allgemeininteresse an nach SS 2 des Gesetzes zur Ausführung des Art. 10der Übermittlung überwiegen oder Gesetzes über die beschiedenen Anträge vor deren 4. besondere gesetzliche ÜbermittlungsregelunVollzug. Bei Gefahr in Verzug kann der Senator für gen entgegenstehen; die Verpflichtung zur WahInneres, im Falle seiner Verhinderung der Staatsrung gesetzlicher Geheimhaltungspflichten oder sekretär den Vollzug der Entscheidung auch bereits von Berufsoder besonderen Amtsgeheimnissen, vor der Unterrichtung der Kommission anordnen. die nicht auf gesetzlichen Vorschriften beruhen, Die Kommission prüft von Amts wegen oder aufbleibt unberührt. grund von Beschwerden die Zulässigkeit und Notwendigkeit der Einholung von Auskünften. SS 15 SS 29 Abs. 5 des Art. 10-Gesetzes ist mit der Maßgabe Minderjährigenschutz entsprechend anzuwenden, dass die Kontrollbe(1) Informationen einschließlich personenbezofugnis der Kommission sich auf die gesamte Erhegener Daten über das Verhalten Minderjähriger dürbung, Verarbeitung und Nutzung der nach den Abs. fen nach den Vorschriften dieses Gesetzes über- 1 bis 4 erlangten personenbezogenen Daten ermittelt werden, solange die Voraussetzungen der streckt. Entscheidungen über Auskünfte, die die Speicherung nach SS 13 Abs. 2 erfüllt sind. Kommission für unzulässig oder nicht notwendig (2) Informationen einschließlich personenbezoerklärt, hat die Senatsverwaltung für Inneres ungener Daten über das Verhalten Minderjähriger vor verzüglich aufzuheben. Für die Verarbeitung der Vollendung des 16. Lebensjahres dürfen nach den nach den Abs. 1 bis 4 erhobenen Daten ist SS 4 des Vorschriften dieses Gesetzes nicht an ausländische Art. 10-Gesetzes entsprechend anzuwenden. Das oder überoder zwischenstaatliche Stellen überAuskunftsersuchen und die übermittelten Daten mittelt werden. dürfen dem Betroffenen oder Dritten nicht mit- 256 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 SS 30 (3) Die Ablehnung einer Auskunft ist zuNachberichtspflicht mindest insoweit zu begründen, dass eine verwaltungsgerichtliche Nachprüfung der VerweigerungsErweisen sich Informationen nach ihrer Übermitgründe gewährleistet wird, ohne dabei den Zweck tlung nach den Vorschriften dieses Gesetzes als der Auskunftsverweigerung zu gefährden. Die unvollständig oder unrichtig, so hat die übermitGründe der Ablehnung sind in jedem Fall aktentelnde Stelle ihre Informationen unverzüglich gekundig zu machen. genüber der empfangenden Stelle zu ergänzen oder (4) Wird die Auskunftserteilung ganz oder zu berichtigen, wenn dies zu einer anderen Beteilweise abgelehnt, ist die betroffene Person darauf wertung der Informationen führen könnte oder zur hinzuweisen, dass sie sich an den Berliner BeaufWahrung schutzwürdiger Interessen der betroffenen tragten für den Datenschutz und für das Recht auf Person erforderlich ist. Die Ergänzung oder BerichAkteneinsicht wenden kann. Dem Berliner Beauftigung ist aktenkundig zu machen und in den enttragten für den Datenschutz und für das Recht auf sprechenden Dateien zu vermerken. Akteneinsicht ist auf sein Verlangen Auskunft zu erteilen, soweit nicht der Senator für Inneres im VIERTER ABSCHNITT Einzelfall feststellt, dass dadurch die Sicherheit des Auskunftserteilung Bundes oder eines Landes gefährdet würde. Mitteilungen des Berliner Beauftragten für den DatenSS 31 schutz und für das Recht auf Akteneinsicht an den Auskunft an den Betroffenen Betroffenen dürfen keine Rückschlüsse auf den Erkenntnisstand der Verfassungsschutzbehörde zu(1) Die Verfassungsschutzbehörde erteilt einer lassen, soweit sie nicht einer weitergehenden Ausnatürlichen Person über die zu ihr gespeicherten kunft zustimmt. Der Kontrolle durch den Berliner Informationen auf Antrag unentgeltlich Auskunft. Beauftragten für den Datenschutz und für das Recht Die Auskunftsverpflichtung erstreckt sich nicht auf auf Akteneinsicht unterliegen nicht personenbeInformationen, die nicht der alleinigen Verfügungszogene Informationen, die der Kontrolle durch die berechtigung der Verfassungsschutzbehörde unterKommission nach SS 2 des Gesetzes zur Ausführung liegen, sowie auf die Herkunft der Informationen des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz unterliegen, es und die Empfänger von Übermittlungen. sei denn, die Kommission ersucht den Berliner Be(2) Die Verfassungsschutzbehörde darf den auftragten für den Datenschutz und für das Recht Antrag ablehnen, wenn das öffentliche Interesse an auf Akteneinsicht, die Einhaltung der Vorschriften der Geheimhaltung ihrer Tätigkeit oder ein überüber den Datenschutz bei bestimmten Vorgängen wiegendes Geheimhaltungsinteresse Dritter gegenoder in bestimmten Bereichen zu kontrollieren und über dem Interesse der antragstellenden Person an ausschließlich ihr darüber zu berichten. der Auskunftserteilung überwiegt. In einem solchen Fall hat die Verfassungsschutzbehörde zu prüfen, SS 32 ob und inwieweit eine Teilauskunft möglich ist. Ein Akteneinsicht Geheimhaltungsinteresse liegt vor, wenn 1. eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung durch (1) Sind personenbezogene Daten in Akten gedie Auskunftserteilung zu besorgen ist, speichert, so kann dem Betroffenen auf Antrag Ak2. durch die Auskunftserteilung Quellen gefährteneinsicht gewährt werden, soweit Geheimhaldet sein können oder die Ausforschung des Ertungsinteressen oder schutzwürdige Belange Dritter kenntnisstandes oder der Arbeitsweisen der Verfasnicht entgegenstehen. SS 31 gilt entsprechend. sungsschutzbehörde zu befürchten ist, (2) Die Einsichtnahme in Akten oder Aktenteile ist insbesondere dann zu versagen, wenn die 3. die Auskunft die öffentliche Sicherheit gefährDaten des Betroffenen mit Daten Dritter oder geden oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines heimhaltungsbedürftigen sonstigen Informationen Landes Nachteile bereiten würde oder derart verbunden sind, dass ihre Trennung auch 4. die Informationen oder die Tatsache der Speidurch Vervielfältigung und Unkenntlichmachung cherung nach einer Rechtsvorschrift oder ihrem nicht oder nur mit unverhältnismäßig großem AufWesen nach, insbesondere wegen der überwiewand möglich ist. In diesem Fall ist dem Betrofgenden berechtigten Interessen Dritter, geheimfenen zusammenfassende Auskunft über den Aktengehalten werden müssen. inhalt zu erteilen. Die Entscheidung nach den Sätzen 1 und 2 trifft der (3) Das Berliner Informationsfreiheitsgesetz Leiter der Verfassungsschutzabteilung oder ein von vom 15. Oktober 1999 (GVBl. S. 561) findet auf ihm besonders beauftragter Mitarbeiter. die von der Verfassungsschutzabteilung der Se- ANHANG 257 natsverwaltung für Inneres geführten Akten keine SS 35 Anwendung. Aufgaben und Befugnisse des Ausschusses (1) Der Senat hat den Ausschuss umfassend FÜNFTER ABSCHNITT über die allgemeine Tätigkeit der VerfassungsParlamentarische Kontrolle schutzbehörde und über Vorgänge von besonderer Bedeutung zu unterrichten; er berichtet auch über SS 33 den Erlass von Verwaltungsvorschriften. Der AusAusschuss für Verfassungsschutz schuss hat Anspruch auf Unterrichtung. (1) In Angelegenheiten des Verfassungs(2) Der Ausschuss hat auf Antrag mindestens schutzes unterliegt der Senat von Berlin der Koneines seiner Mitglieder das Recht auf Erteilung von trolle durch den Ausschuss für Verfassungsschutz Auskünften, Einsicht in Akten und andere Unterlades Abgeordnetenhauses von Berlin. Die Rechte gen, Zugang zu Einrichtungen der Verfassungsdes Abgeordnetenhauses und seiner anderen Ausschutzbehörde sowie auf Anhörung von deren schüsse bleiben unberührt. Dienstkräften. Die Befugnisse des Ausschusses (2) Der Ausschuss für Verfassungsschutz benach Satz 1 erstrecken sich nur auf Gegenstände, steht in der Regel aus höchstens zehn Mitgliedern. die der alleinigen Verfügungsberechtigung der VerDas Vorschlagsrecht der Fraktionen für die Wahl fassungsschutzbehörde unterliegen. der Mitglieder richtet sich nach der Stärke der Frak(3) Der Senat kann die Unterrichtung über eintionen, wobei jede Fraktion mindestens durch ein zelne Vorgänge verweigern und bestimmten KonMitglied vertreten sein muss. Eine Erhöhung der im trollbegehren widersprechen, wenn dies erforderlich Satz 1 bestimmten Mitgliederzahl ist nur zulässig, ist, um vom Bund oder einem deutschen Land soweit sie zur Beteiligung aller Fraktionen notwenNachteile abzuwenden; er hat dies vor dem Ausdig ist. Für jedes Mitglied wird ein stellvertretendes schuss zu begründen. Mitglied gewählt, das im Fall der Verhinderung des (4) Das Abgeordnetenhaus kann den Ausschuss Mitglieds dessen Rechte und Pflichten wahrnimmt. für einen bestimmten Untersuchungsgegenstand als (3) Scheidet ein Mitglied aus dem AbgeordneUntersuchungsausschuss (Art. 48 der Verfassung tenhaus oder seiner Fraktion aus, so verliert es die von Berlin) einsetzen. SS 3 des Gesetzes über die Mitgliedschaft im Ausschuss für VerfassungsUntersuchungsausschüsse des Abgeordnetenhauses schutz. Für dieses Mitglied ist unverzüglich ein von Berlin vom 22. Juni 1970 (GVBI. S. 925), zuneues Mitglied zu wählen; das gleiche gilt, wenn letzt geändert durch Gesetz vom 24. Juni 1991 ein Mitglied aus dem Ausschuss ausscheidet. Für (GVBI. S. 154), findet keine Anwendung. stellvertretende Mitglieder des Ausschusses gelten (5) Für den Ausschuss gelten im Übrigen die die Vorgaben der Sätze 1 und 2 entsprechend. Bestimmungen der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses von Berlin. SS 34 Geheimhaltung SS 36 Vertrauensperson des Ausschusses für Verfas(1) Die Öffentlichkeit wird durch einen Beschluss sungsschutz des Ausschusses ausgeschlossen, wenn das öffentliche Interesse oder berechtigte Interessen eines Der Ausschuss für Verfassungsschutz kann zur einzelnen dies gebieten. Sofern die Öffentlichkeit Wahrnehmung seiner Kontrollaufgaben im Einzelausgeschlossen ist, sind die Mitglieder des Ausfall nach Anhörung des Senats mit der Mehrheit schusses zur Verschwiegenheit über Angelegenseiner Mitglieder eine Vertrauensperson beauftraheiten verpflichtet, die ihnen dabei bekannt gegen, Untersuchungen durchzuführen und dem Ausworden sind. Das gleiche gilt auch für die Zeit nach schuss über das Ergebnis in nicht öffentlicher Sitdem Ausscheiden aus dem Ausschuss. Die Verzung zu berichten. Die Vertrauensperson soll die pflichtung zur Verschwiegenheit kann von dem Befähigung zum Richteramt besitzen und wird für Ausschuss aufgehoben werden, soweit nicht bedie Dauer der jeweils laufenden Wahlperiode vom rechtigte Interessen eines Einzelnen entgegenstehen Ausschuss für Verfassungsschutz mit der Mehrheit oder der Senat widerspricht; in diesem Fall legt der von zwei Dritteln seiner Mitglieder gewählt. Senat dem Ausschuss seine Gründe dar. (2) Die Vorschriften des Absatzes 1 gelten für stellvertretende Mitglieder des Ausschusses entsprechend. 258 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 SECHSTER ABSCHNITT SS 39 Schlussvorschriften Inkrafttreten, Außerkrafttreten SS 37 (1) Dieses Gesetz tritt am Tage nach der VerEinschränkung von Grundrechten kündung im Gesetzund Verordnungsblatt für Berlin in Kraft. Aufgrund dieses Gesetzes kann das Grundrecht auf SS 27a tritt außer Kraft, sobald das BundesverUnverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 des fassungsschutzgesetz vom 20. Dezember 1990 Grundgesetzes eingeschränkt werden. (BGBl. I S. 2954, 2970), zuletzt geändert durch Art. 9 des Gesetzes vom 16. August 2002 (BGBl. I SS 38 S. 3202), gemäß Art. 22 Abs. 2 des TerrorismusAnwendbarkeit des Berliner Datenschutzgesetzes bekämpfungsgesetzes vom 9. Januar 2002 (BGBl. I Bei der Erfüllung der Aufgaben nach SS 5 durch die S. 361, 3142) wieder in seiner am 31. Dezember Verfassungsschutzbehörde finden die SSSS 6a, 10 bis 2001 maßgeblichen Fassung gilt. Der Tag des Au17 und 19 Abs. 2 bis 4 des Berliner Datenschutzßerkrafttretens ist im Gesetzund Verordnungsblatt gesetzes in der Fassung vom 17. Dezember 1990 für Berlin bekannt zu machen. (GVBI. 1991 S. 16, 54), das zuletzt durch Art. I des Gesetzes vom 30. Juli 2001 (GVBI. S. 305) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung keine Anwendung. ANHANG 259 2 Personenund Sachregister 1 Antifaschistische Aktion Berlin 11. September 155, 170 Siehe AAB Antifaschistische Linke Berlin A Siehe ALB AAB 200 Antisemitismus 149 AAI 153, 154 Anti-Terror-Datei Siehe ATD AAS 153 Apfel, Holger 180 Adil Düzen 167, 168 AQM 157 Akif, Muhammad Mahdi 174 ARAB 203 AKP 169, 171 Artgemeinschaft 194, 195, 196 Aktionsfront Nationaler Sozialisten Artgemeinschaft - Germanische 184 Glaubens-Gemeinschaft Aktionsorientierter wesensgemäßer Rechtsextremismus 191 Lebensgestaltung e. V. Siehe Al-Ahd - Al-Intiqad 159 Artgemeinschaft al-Aqsa-TV 162 ATD 239 ALB 200, 201, 202, 203 Atomgesetz 138 al-Jama'a al-islamiya 155 Aufenthaltsgesetz 137 al-Jihad al-islami 155, 173 Autonome 77, 200, 205, 208 Allawi, Iyad 154 Autonome Szene 206 Al-Manar-TV 159 B Al-Qaida 154, 155 Al-Qaida im islamischen Maghreb B&H 184, 191, 193, 194 Siehe AQM BASO 187 al-Quds 156 Berliner Alternative Süd-Ost Siehe al-Zawahiri, Ayman 155 BASO AMGT 167, 170 Berliner Anarchisten 150 Sicherheitsüberprüfungsgesetz Ansar al-Islam Siehe AAI 129 Siehe BSÜG Ansar al-Sunna 153 Bewachungsverordung 139 Antifa 200 Bewegung des Islamischen Antifa A+P (Agitation und Praxis) Widerstands Siehe HAMAS 200 Bin Ladin, Usama 155 Antifa\-Gruppen 200 Blood & Honour Siehe B&H Antifaschismus 200 BND 239 BSÜG 129, 130, 133, 136, 233 Bundestagswahl 180 260 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 Bundesverfassungsgericht 144, 181 Faschismus 227 Bürgerund Hinweistelefon 242 FATAH 162 Fazilet Partisi 169 Siehe FP C FIOE 175 Christophersen, Thies 199 Föderation Islamischer Committee for a Workers Organisationen in Europa Siehe International 220 FIOE FP 169 D freiheitliche demokratische D.S.T. 191 Grundordnung 144, 236, 246, Deutsch, Stolz, Treue Siehe D.S.T. 247, 249, 250 Deutsche Kommunistische Partei Freiheitliche Deutsche Siehe DKP Arbeiterpartei 184 Siehe FAP Deutsche Reichspartei 178 Freiheitsfalken Kurdistans 225 Deutsche Stimme 178, 179, 180 Siehe TAK Deutsche Volksunion Siehe DVU Funkenflug 196, 197 DHKC 226 DHKP 226, 227 G DHKP-C 226, 227 Gebrüder Strasser 182 DKP 214, 215, 216 Geheimschutz 129, 131, 132, 133 Donaldson, Ian Stuart 191 Gemeinsame Drei-Säulen-Konzept 180, 181, 184 Terrorismusabwehrzentrum Siehe DRP 178 GTAZ DS 179 Gemeinsames Internet-Zentrum DVU 176, 181 Siehe GIZ Gerechtigkeitsund E Entwicklungspartei 169, 171 Einbürgerungsverfahren 136, 247 Gesetz über den Verfassungsschutz El-Zayat, Ibrahim 175 in Berlin 246 Siehe VSG Bln EMUG 167 Gesetz zur Beschränkung des PostErbakan, Mehmet Sabri 171 und Fernmeldegeheimnisses 233 Erbakan, Necmettin 167, 168, 169, GIZ 239 171, 172 GTAZ 239 Erdogan, Recep Tayyip 169, 171 Europäische Moscheebauund H Unterstützungsgemeinschaft e. V. HAMAS 161, 162, 163 167 Hammerskins 184, 193, 194 Extremismus 144, 241, 249 HDJ 196, 197, 198 Heimattreue Deutsche Jugend e. V. F Siehe HDJ FAP 184 ANHANG 261 Hilfsorganisation für nationale Kameradschaft Spreewacht 188 politische Gefangene und deren Siehe KSW Angehörige e. V. 189 Kameradschaft Tor Berlin 187 Hizb Allah 2, 159, 160, 161 Siehe KTB Hizb al-Tahrir al-islami Siehe Hut Kameradschaften 182 Hizb ut-Tahrir 163 Siehe HuT KDP 153 HNG 189, 190 Kommunismus 151, 217 HPG 225 Kommunistische Partei HS 193, 194 Deutschlands 214 Siehe KPD HuT 3, 163, 164 Kommunistischer Arbeiterverbund Deutschlands 217 Siehe KABD I Konzerte 191, 193 IGD 172, 175 KPD 152, 214 IGMG 167, 169, 171, 172 Kritik & Praxis 200 IJU 158 Kritik & Praxis Berlin 200 IKEZ 163, 175 KSW 188 INTERIM 206 KTB 187 Interkulturelle Zentrum für Dialog Kurdische Demokratische Partei und Bildung e. V. Siehe IZDB 153 Siehe KDP Islamische Gemeinschaft MillA(r) KUTAN, Recai 169 Görüs e. V. 167 Siehe IGMG Islamische Kulturund L Erziehungszentrum Berlin e. V. Landser 186, 191 163 Lernen und Kämpfen 216 Islamischer Staat Irak 157 Siehe Liedermacher 190 Islamisches Kulturund Linksruck 218 Erziehungszentrum Berlin e. V. Luftsicherheitsgesetz 138 Siehe IKEZ IZDB 175 M Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden 162 Mahler, Horst 199 Marx21 218 J Marxismus-Leninismus 150, 151, Jaish Ansar al-Sunna 153 216 Jihad 13, 154, 155, 156, 164, 174 Marxistisch-Leninistische Partei JN 178 Deutschlands 216 JT 165 MB 161, 172, 173, 174, 175 Junge Nationaldemokraten 178 mg 209 militante gruppe 209 K Militanz 206 KABD 217 MillA(r) Gazete 168, 170, 171 Milli Görüs 167, 168, 169, 170, 171 262 VERFASSUNGSSCHUTZBERI CHT BERLIN 2009 MLPD 216, 217 PKK 223, 225 Mujahidin 153, 154, 155, 156, 158, Proliferation 127, 128 159, 166 PUK 153 Musiknetzwerk 186, 188 Musikszene 191 Q Muslimbruderschaft 161, 172, 174 Quellenschutz 236 Siehe MB Qutb, Sayyid 173 N R Nachrichtenbeschaffung 236 Ramadan, Dr. Said 175 Nachrichtendienstliche Mittel 236 Rassismus 149 Nachrichtendienstliches REBELL 216 Informationssystem Siehe NADIS Rechtsextremismus 191, 198 NADIS 237, 246, 248 Rechtsextremistische Musik 190 Nasrallah, Hassan 160, 161 Revisionismus 152, 198, 217 Nationaldemokratische Partei Revisionisten 198 Deutschlands 178 Siehe NPD Revolutionäre Volksbefreiungsfront Siehe DRP 226 Siehe DHKC Nationale Alternative 184 Revolutionäre Volksbefreiungspartei Nationalsozialismus 149, 182 226 Nationalsozialistische Deutsche Revolutionäre Arbeiterpartei 182 Volksbefreiungspartei-Front Siehe National-Zeitung 176 DHKP-C Neonazi 182, 183, 186, 194 Revolutionären Zellen 209 Siehe Neonazismus 149 RZ Netzwerk Musik 186 Richter, Karl 181 Nordische Zeitung 194, 195 Rieger, Jürgen 194, 195 NPD 178, 179, 180, 181, 184, 195, Ring Nationaler Frauen 178 228 RNF 178 NSDAP 182 Röhm, Ernst 182 NZ 176 Rote Fahne 216 Rudolf, Germar 199 O RZ 209 Observation 236, 248 S Ö Saadet Partisi 169 Öcalan, Abdullah 224, 225 Sabotageschutz 136 Salafismus 154 P Salafisten 154 Patriotische Union Kurdistan 153 Sauerland-Gruppe 156 Siehe PUK SAV 220, 221 ANHANG 263 Scharia 164, 167, 174 Vandalen - Ariogermanische Sicherheitsüberprüfung 130, 133, Kampfgemeinschaft 186 Siehe 247 Vandalen Skinheads 183, 184, 186, 188, 190, Verein zur Rehabilitierung der 193, 194 wegen Bestreitens des Holocaust Solidarität - Sozialistische Zeitung Verfolgten 199 220 Vereinigung der Neuen Weltsicht in Sozialistische Alternative 220 Europa e. V. 167 Siehe AMGT Siehe SAV Voigt, Udo 180 SP 169, 170, 171, 172 Volksbefreiungsarmee 224 Spionageabwehr 128, 237, 248, 249 Volksbefreiungspartei-Front der Sprengstoffgesetz 139 Türkei - Revolutionäre Linke 226 Siehe THKP C / "Devrimci Sol" T Volksverhetzung 198 Tabligh-i Jama'at Siehe TJ V-Personen 181, 236 TAK 225 VRBHV 199 Takfir wa'l-Hijra 173 VSG Bln 246 Taliban 153, 155 Tayad-Komitee 227 W THKP-C / "Devrimci Sol" 226 Waffengesetz 139 TJ 165 Walendy, Udo 198 Tonträger 191 Wiking Jugend 197 Siehe WJ Tugendpartei 169 WJ 197 Ü X Überwachung des Postund X.x.X. 192, 193 Fernmeldeverkehrs 237 Z V Zündel, Ernst 199 Vandalen 185, 186 Zündstoff - Deutsche Stimme für Berlin und Brandenburg 178 Zuverlässigkeitsüberprüfungen 138 Publikationen des Verfassungsschutzes Berlin REIHE IM FOKUS Linke Gewalt in Berlin 1. Auflage Berlin 2009. 84 Seiten. Rechte Gewalt in Berlin 2003 bis 2006 1. Auflage Berlin 2007. 84 Seiten. Antisemitismus im extremistischen Spektrum Berlins 2. Auflage Berlin 2006. 56 Seiten. Islamismus. Diskussion eines vielschichtigen Phänomens 2. Auflage Berlin 2006. 116 Seiten. Rechtsextremistische Skinheads 1. Auflage Berlin 2003 (im Internet abrufbar). 86 Seiten. REIHE INFO Rechtsextremistische Musik 2. Auflage Berlin 2007. 36 Seiten. Symbole und Kennzeichen des Rechtsextremismus 6. Auflage Berlin 2007. 33 Seiten. Islamismus 3. Auflage Berlin 2006. 42 Seiten. Verfassungsschutz - Nehmen Sie uns unter die Lupe 1. Auflage Berlin 2002. 19 Seiten. Diese sowie weitere Publikationen des Berliner Verfassungsschutzes können Sie unter der rückseitig angegebenen Adresse sowie telefonisch unter (030) 90 129-440 bestellen oder aber im Internet unter www.verfassungsschutz-berlin.de abrufen. Der Verfassungsschutz Berlin bietet zudem Vorträge zu den einzelnen Extremismusfeldern und zum Thema Spionage an. Nähere Informationen erhalten Sie ebenfalls unter (030) 90 129-440. Senatsverwaltung für Inneres und Sport Abteilung Verfassungsschutz Postfach 62 05 60 10795 Berlin Tel.: (030) 90 129-0 Internet: http://www.verfassungsschutz-berlin.de E-Mail: info@verfassungsschutz-berlin.de