Senatsverwaltung für Inneres und Sport 1 Verfassungsschutzbericht Senatsverwaltung für Inneres und Sport 1 Abteilung Verfassungsschutz Verfassungsschutzbericht 2006 Erreichbarkeit des Berliner Verfassungsschutzes Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Abteilung Verfassungsschutz Adresse: Potsdamer Str. 186, 10783 Berlin Postanschrift: Postfach 62 05 60, 10795 Berlin Internet: www.verfassungsschutz-berlin.de E-Mail: info@verfassungsschutz-berlin.de Vermittlung: (030) 90 129-0 Fax: (030) 90 129-844 Öffentlichkeitsarbeit: (030) 90 129-874 (030) 90 129-516 Fax: (030) 90 129-876 Pressestelle: (030) 90 129-565 Fax: (030) 90 129-533 Vertrauliches Telefon: (030) 90 129-400 deutsch / englisch (030) 90 129-401 türkisch (030) 90 129-402 arabisch Informationsmaterial: (030) 90 129-853 Herausgeber: Senatsverwaltung für Inneres und Sport Abteilung Verfassungsschutz Redaktion: Arbeitsgruppe Öffentlichkeitsarbeit Druck: Mercedes-Druck GmbH, Berlin Redaktionsschluss: März 2007 Abdruck gegen Quellenangabe gestattet, Belegexemplar erbeten. Hinweis: Dieser Verfassungsschutzbericht erwähnt nicht alle Beobachtungsobjekte des Berliner Verfassungsschutzes. VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 III VORWORT Mit dem Berliner Verfassungsschutzbericht 2006 informieren wir über ein Jahr, das den Sicherheitsbehörden der Bundesrepublik Deutschland große Sorge bereitete. Die Fußballweltmeisterschaft mit Hunderttausend, ja Millionen Menschen auf den Straßen stellte uns vor besondere Herausforderungen. Es gab Befürchtungen, dass dieses Großereignis von islamistischen Terroristen für Anschläge gegen Deutschland genutzt werden würde. Die gute Nachricht ist: Die Fußballweltmeisterschaft ist von Anschlägen verschont geblieben. Es hat sich erwiesen, dass wir Gefahren mit Augenmaß begegnen müssen und nicht in falsche Aufregung verfallen dürfen. Wenig später sind wir in Deutschland nur mit Glück einem Anschlag entgangen. Zwei in Koffern versteckte Bomben sollten in Regionalzügen nach Dortmund und Koblenz explodieren. Schlagartig wurde uns vor Augen geführt, dass die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus in Deutschland real ist. Die mutmaßlichen Täter gaben in den Vernehmungen als Motiv die Veröffentlichungen der MohammedKarikaturen an. Die Fußballweltmeisterschaft hatte die Aufregung um den so genannten Karikaturenstreit weitgehend in den Hintergrund gedrängt. Noch Anfang des Jahres war es zu Massendemonstrationen gekommen, brannten dänische Flaggen und wurden Pressevertreter bedroht. Dass die Gefährdung trotz wichtiger Erfolge im internationalen AntiTerrorkampf heute anhält, zeigen auch die jüngsten Videobotschaften, in denen Deutschland ganz konkret bedroht wird. Unser Land gehört zum Zielspektrum islamistischer Terroristen. Deshalb müssen wir die uns zur Verfügung stehenden Mittel ausschöpfen, um das an Vorsorge zu treffen, was notwendig ist. Dazu gehören Maßnahmen wie die erst kürzlich eingeführte Antiterrordatei, das Terrorismusbekämpfungsgesetz und die Durchsetzung von ausländerrechtlichen Maßnahmen gegen überzeugte Islamisten. Entscheidend ist die möglichst frühzeitige Gewinnung von Informationen über potenzielle und das Ergreifen von Maßnahmen gegen tatsächliche Gefährder. Genauso wichtig ist es aber auch, Radikalisierungs- IV VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 tendenzen im islamistischen Bereich schon im Ansatz zu begegnen. Wirkliche Sicherheit werden wir ohne den Dialog mit allen, die guten Willens sind, nicht erreichen. Von besonderer Bedeutung ist deshalb der Dialog mit den Muslimen in unserer Stadt. Wir müssen miteinander statt übereinander reden. Der Berliner Verfassungsschutz nimmt regelmäßig am Berliner Islamforum teil, das vom Integrationsbeauftragten ins Leben gerufen wurde. Auf Bundesebene gibt es Gespräche der Sicherheitsbehörden mit muslimischen Verbänden. Schließlich geht auch die deutsche Islamkonferenz in diese Richtung. Dieser Dialog macht unsere Zukunft sicherer. Deshalb ist es richtig, dass auch auf Bundesebene diejenigen nicht ausgeschlossen werden, die mit ihrer Staatsvorstellung von unserer Idee des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats abweichen - wenn sie nicht gewaltbereit sind. Deshalb ist es richtig, dass es auch Gespräche mit Gruppierungen gibt, die etwa der "Muslimbruderschaft" und der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs nahe stehen. Es geht nicht darum, die Grenzen zu verwischen; die freiheitliche demokratische Grundordnung ist nicht verhandelbar. Über religiöse Freiräume muss man aber reden können. Im Rechtsextremismus sorgte vor allem die NPD für Schlagzeilen. Sie hat sich im vergangenen Jahr zum zentralen rechtsextremistischen Akteur in Berlin entwickelt. Die NPD stellte sich als Anmelderin zahlreicher Demonstrationen zu Themen des Kameradschaftsund des Musiknetzwerks zur Verfügung. Das spiegelte sich auch in den Wahlergebnissen zum Berliner Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen wider. Der zum ersten Mal in Berlin veranstaltete Bundesparteitag zeigte das gestiegene Selbstbewusstsein der NPD. Mit der Wahl des Tagungsortes dokumentierte sie ihre bundespolitischen Ambitionen, auch im Hinblick auf die nächste Bundestagswahl. Im Februar dieses Jahres fand außerdem der NPD-Landesparteitag statt, der im Ergebnis ohne praktische Bedeutung blieb. Die rechtsextremistischen Kameradschaften zeigten im vergangenen Jahr kaum noch öffentlichkeitswirksame Aktivitäten. Stattdessen entwickelten sich die autonomen Aktionsgemeinschaften weiter, deren Angehörige durch Auseinandersetzungen mit ihren politischen Gegnern in Erscheinung traten. Diese gipfelten häufig in gewaltsamen Streitigkeiten zwischen Rechtsund Linksextremisten. Die Aktionen von Linksextremisten in Berlin waren stark auf den G 8-Gipfel in Heiligendamm ausgerichtet. Das Gipfeltreffen im Juni VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 V 2007 ist Anlass für zahlreiche Proteste. Die überwiegende Mehrheit will friedlich demonstrieren und ihre Kritik an bestimmten Erscheinungsformen der globalisierten Wirtschaft zum Ausdruck bringen. Einige wenige Gruppierungen wollen diesen Protest zu gewalttätigen Aktionen nutzen. Die Militanz der linksextremistischen Gipfelgegner zeigte sich seit Sommer 2005 in einer Reihe von Brandanschlägen. Terroristische Gruppierungen wie die "militante gruppe" blieben aber selbst innerhalb des linksextremistischen Spektrums weitgehend isoliert. Die Gewinnung von Informationen über den islamistischen Terrorismus, über rechtsund linksextremistische Bestrebungen als Schwerpunkt der Verfassungsschutzarbeit wird auch in den kommenden Jahren von großer Bedeutung sein. Der Jahresbericht 2006 ist in diesem Sinne ein Beitrag zur Information und zur geistig politischen Auseinandersetzung mit dem Extremismus. Dr. Ehrhart Körting Senator für Inneres und Sport VI VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Inhaltsverzeichnis Vorwort I AKTUELLE ENTWICKLUNGEN IN DEN BEOBACHTUNGSFELDERN...................................................... 1 1 RECHTSEXTREMISMUS ...............................................................2 1.1 Überblick...............................................................................................2 1.2 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus ...................................11 1.2.1 Wahlen 2006 - "Deutschlandpakt" bringt unterschiedliche Erfolge ......................................................................11 1.2.1.1 Berliner Wahlen ................................................................................................... 11 1.2.1.2 Weitere Landtagswahlen...................................................................................... 15 1.2.2 NPD wird zentraler rechtsextremistischer Akteur ..............................17 1.2.3 Instrumentalisierung der Fußball-WM scheitert .................................31 1.3 Aktionsorientierter Rechtsextremismus .........................................34 1.3.1 Veränderte Strukturen im Kameradschaftsnetzwerk ..........................34 1.3.2 Musiknetzwerk weiterhin handlungsfähig ..........................................41 1.4 Diskursorientierter Rechtsextremismus .........................................47 1.4.1 Fortgesetzte Holocaustleugnung..........................................................47 1.4.1.1 "Feldzug gegen die Offenkundigkeit des Holocaust" .......................................... 47 1.4.1.2 Aufgreifen der Holocaustleugnung des iranischen Präsidenten Achmadinedschad............................................................................. 51 2 LINKSEXTREMISMUS ................................................................54 2.1 Überblick.............................................................................................54 2.2 Linksextremistische Protestaktionen gegen den G 8-Gipfel 2007 ................................................................57 2.2.1 Zielsetzungen .......................................................................................58 2.2.2 Bereitschaft zur Militanz .....................................................................61 2.2.3 Ausblick ...............................................................................................64 2.3 Militanzdebatte und Anschläge der "militanten gruppe" (mg)..................................................................66 2.3.1 Militanzdebatte am Ende .....................................................................66 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 VII 2.3.2 Steigende Zahl militanter Anschläge ..................................................69 2.4 Geringe Mobilisierungsfähigkeit der linksextremistischen Szene in Berlin....................................................................................71 2.4.1 Kampagnen zum 1. Mai.......................................................................72 2.4.2 Kampagne zur Fußball-Weltmeisterschaft..........................................75 2.4.3 "Antifaschistischer Kampf".................................................................76 2.4.4 Mögliche Ursachen der geringen Mobilisierungsfähigkeit.................78 2.5 Linksextremistische Unterwanderung der WASG ........................80 3 AUSLÄNDEREXTREMISMUS ...................................................... 83 3.1 Überblick.............................................................................................83 3.2 Transnationaler islamistischer Terrorismus ..................................92 3.2.1 Bedrohungslage ...................................................................................92 3.2.2 Ausdifferenzierung der Täterprofile....................................................95 3.2.3 Aktionsund Rekrutierungsbasis Irak.................................................96 3.2.4 Audiound Videobotschaften von "al-Qa'ida"...................................99 3.2.5 Medium Internet ................................................................................105 3.3 Prozesse und Exekutivmaßnahmen ...............................................107 3.3.1 "Ansar al-Islam"-Verfahren ..............................................................108 3.3.2 Prozess im Zusammenhang mit dem 11. September 2001 gegen Mounir El-Motassadeq............................................................110 3.3.3 Ermittlungsverfahren gegen Mamoun Darkazanli ............................111 3.4 Regional gewaltausübende islamistische Gruppen: Die Lage im Nahen Osten und ihre Auswirkungen .....................112 3.4.1 "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS) ....................112 3.4.2 "Hizb Allah" ("Partei Gottes") ..........................................................114 3.5 Türkische Islamisten .......................................................................117 3.5.1 Ideologische Neuausrichtung der "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e. V. nicht zu erkennen.........................117 3.6 Kurdische Extremisten....................................................................126 3.6.1 Gewalteskalation in der Türkei und ihre Auswirkungen auf Berlin...................................................................127 3.6.2 "Waffenstillstand" .............................................................................135 VIII VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 3.7 Linksextremisten aus der Türkei...................................................139 3.7.1 Ereignisse in der Türkei.....................................................................139 3.7.2 Ereignisse in Deutschland..................................................................142 3.8 Iranische Extremisten .....................................................................144 4 SPIONAGEABWEHR ................................................................. 147 5 GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ .......................................... 149 5.1 Personeller und materieller Geheimschutz im öffentlichen Bereich .........................................................................149 5.2 Geheimschutz in der Wirtschaft ....................................................152 5.3 Sabotageschutz .................................................................................155 5.4 Mitwirkung bei Einbürgerungsverfahren und sonstigen gesetzlich vorgeschriebenen Überprüfungen...............156 5.5 Mitwirkung bei den Sicherheitsmaßnahmen anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2006 ..............................159 II HINTERGRUNDINFORMATIONEN..................................... 161 1 IDEOLOGIEN ........................................................................... 162 1.1 Definition Extremismus...................................................................162 1.2 Ideologie des Rechtsextremismus...................................................163 1.3 Ideologie des Linksextremismus ....................................................164 1.4 Ausländerextremistische Ideologien ..............................................167 1.4.1 Linksextremistische Gruppierungen..................................................168 1.4.2 Nationalistische Gruppierungen ........................................................168 1.4.3 Islamistische Gruppierungen .............................................................168 2 RECHTSEXTREMISMUS ........................................................... 173 2.1 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus .................................173 2.1.1 "Deutsche Volksunion" .....................................................................173 2.1.2 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" .................................176 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 IX 2.2 Aktionsorientierter Rechtsextremismus .......................................180 2.2.1 "Anti-Antifa" .....................................................................................180 2.2.2 "Autonome Aktionsgemeinschaften"................................................180 2.2.3 "Blood & Honour".............................................................................181 2.2.4 "Hammerskins"..................................................................................183 2.2.5 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V." .............................................................184 2.2.6 Kameradschaften ...............................................................................185 2.2.7 "Kameradschaft Spreewacht"............................................................186 2.2.8 Neonazis.............................................................................................187 2.2.9 Rechtsextremistische Musik ..............................................................188 2.2.10 Skinheads ...........................................................................................190 2.2.11 "Vandalen - Ariogermanische Kampfgemeinschaft".......................192 2.3 Diskursorientierter Rechtsextremismus .......................................193 2.3.1 Die "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V." ..........................................193 2.3.2 "Heimattreue Deutsche Jugend e. V."...............................................195 2.3.3 "Kampfbund Deutscher Sozialisten".................................................197 2.3.4 "Nation & Europa - Deutsche Monatshefte"...................................199 2.3.5 Revisionismus ....................................................................................201 2.3.6 "Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten e. V."........................................................202 3 LINKSEXTREMISMUS...............................................................205 3.1 Aktionsorientierter Linksextremismus .........................................205 3.1.1 Autonome...........................................................................................205 3.1.2 "Antifaschistische Linke Berlin".......................................................210 3.1.3 "Kritik & Praxis B3rlin"....................................................................212 3.1.4 "militante gruppe"..............................................................................214 3.2 Parlamentsorientierter Linksextremismus ...................................215 3.2.1 "Deutsche Kommunistische Partei" ..................................................215 3.2.2 "Linksruck"........................................................................................216 3.2.3 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands"............................218 3.2.4 "Sozialistische Alternative Voran e. V."...........................................220 X VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 4 AUSLÄNDEREXTREMISMUS .................................................... 222 4.1 Gewaltorientierte Islamisten ..........................................................222 4.1.1 Transnationale Terrornetzwerke........................................................222 4.1.1.1 "Mujahidin-Netzwerke" / "al-Qa'ida" ............................................................... 222 4.1.1.2 "Ansar al-Islam" ("Anhänger des Islam" / "Ansar al-Sunna" ("Anhänger der Sunna")........................................................ 224 4.1.2 Regional gewaltausübende Gruppen .................................................226 4.1.2.1 "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS) ...................................... 226 4.1.2.2 "Hizb Allah" ("Partei Gottes")........................................................................... 228 4.1.3 Gewaltbefürwortende Gruppen .........................................................231 4.1.3.1 "Hizb al-Tahrir al-islami" ("Partei der islamischen Befreiung")....................... 231 4.1.3.2 "Kalifatsstaat" ("Hilafet Devleti") ..................................................................... 233 4.2 Sonstige Islamisten...........................................................................236 4.2.1 "Tabligh-i Jama'at" / "Jama'at-i Tabligh" ("Gemeinschaft der Verkündigung und Mission") ...........................236 4.3 Nicht-gewaltorientierte Islamisten.................................................237 4.3.1 Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V....................................237 4.3.2 "Muslimbruderschaft" / "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." .............................243 4.4 Linksextremisten..............................................................................246 4.4.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" / "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" / "Volkskongress Kurdistans" ....246 4.4.2 "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" ......................249 4.4.3 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" / "Volksbefreiungspartei-Front der Türkei - Revolutionäre Linke" 250 4.4.4 "Kommunistische Partei der Türkei / Marxisten-Leninisten" .......................................................................252 4.4.5 "Volksmojahedin Iran-Organisation" / "Nationaler Widerstandsrat Iran" ......................................................253 III VERFASSUNGSSCHUTZ BERLIN...........................................255 1 STRUKTUR .............................................................................. 256 2 GESETZLICHE GRUNDLAGEN ................................................. 257 2.1 Aufgaben und Befugnisse................................................................257 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 XI 2.2 Entwicklungen in der Rechtsprechung .........................................257 2.3 Kontrolle ...........................................................................................259 3 ARBEITSWEISE ........................................................................260 3.1 Informationsbeschaffung ................................................................260 3.2 Informationsbearbeitung ................................................................261 3.3 Informationsweitergabe ..................................................................262 3.3.1 Zusammenarbeit mit anderen Behörden ...........................................262 3.3.2 Öffentlichkeitsarbeit ..........................................................................264 IV ANHANG .................................................................................... 267 1 Gesetz über den Verfassungsschutz Berlin ..........................268 2 Personenund Sachregister ..................................................281 XII VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Aktuelle Entwicklungen in den Beobachtungsfeldern 2 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 1 RECHTSEXTREMISMUS 1.1 Überblick Personenpotenzial Weiterer Rückgang Das rechtsextremistische Personenpotenzial in Berlin ist 2006 auf ca. 2 190 Personen (2005: ca. 2 400 Personen) weiter zurückgegangen. Verringert hat sich vor allem die Zahl der Neonazis auf ca. 750 Personen (2005: ca. 950 Personen) - ein Trend, der seit 2004 zu verzeichnen ist - sowie der Mitglieder in rechtsextremistischen Parteien mit Ausnahme der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD). Die rechtsextremistischen Parteien in ihrer Gesamtheit sinken mit ca. 910 Mitgliedern (2005: ca. 1 020 Mitglieder) erstmals seit Jahren unter die Marke von 1 000. Die Anzahl der subkulturell geprägten und sonstigen gewaltbereiten Rechtsextremisten stagniert bei ca. 500 Personen (2005: ca. 500 Personen). Gesamtpotenzial rechtsextremistischer Personenzusammenschlüsse: ca. 2 190 Sonstige rechtsextremistische Organisationen 200 Subkulturell geprägte und sonstige 500 gewaltbereite Rechtsextremisten Neonazis 750 Rechtsextremistische Parteien 910 0 200 400 600 800 1000 Mitgliedergewinne Die NPD legt sowohl im Bundesgebiet als auch in Berlin der NPD abermals zu, während die übrigen Parteien wie die "Deutsche Volksunion" (DVU) aufgrund von Überalterung und mangelnder Dynamik Mitglieder verlieren und kaum neue hinzugewinnen. Die NPD profitiert dabei seit Ende 2004 von AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 3 einer erfolgreichen strategischen Bündnispolitik, die zu einigen Wahlerfolgen und damit zu einem Stimmungsaufschwung in weiten Teilen des rechtsextremistischen Spektrums geführt hat. Die Partei kann sich wie schon im Vorjahr als Gewinnerin der "Volksfront"-Strategie im Bundesgebiet und in Berlin sehen. Ihre Mitgliedergewinne in Berlin dürften zum größten Teil auf Verschiebungen innerhalb des rechtsextremistischen Spektrums zurückgehen. Die Bundespartei der NPD konnte ihre Mitgliedschaft im vergangenen Jahr ebenfalls deutlich von 6 000 auf 7 000 Personen erweitern. Damit gleichen sich die Mitgliedszahlen der großen rechtsextremistischen Parteien weiter an. Rechtsextremistisches Personenpotenzial* Berlin Bund 2005 2006 2005 2006 Gesamt 2 550 2 360 40 000 39 900 ./. Mehrfachmitgliedschaften 150 170 1 000 1 300 Tatsächliches 2 400 2 190 39 000 38 600 Personenpotenzial Personenpotenziale einzelner Personenzusammenschlüsse Berlin Bund 2005 2006 2005 2006 Subkulturell geprägte und sonstige gewaltbereite 500 500 10 400 10 400 Rechtsextremisten Neonazis 850 750 4 100 4 200 Rechtsextremistische Parteien, 1 020 910 21 500 davon "Deutsche Volksunion" 420 380 9 000 8 500 "Nationaldemokratische 190 210 6 000 7 000 Partei Deutschlands" Sonstige 410 310 6 500 6 000 Sonstige rechtsextremistische 180 200 4 000 3 800 Organisationen * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. 4 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Risikoanalyse Der Berliner Verfassungsschutz bewertet die rechtsextremistischen Beobachtungsobjekte und ihre Mitglieder anhand einer Risikoanalyse.1 Danach wird - zusätzlich zu der obigen, bundesweit einheitlichen Kategorisierung - nach aktionsorientiertem, parlamentsorientiertem und diskursorienBewertung nach tiertem Rechtsextremismus unterschieden.2 Innerhalb jedes Risikoanalyse Risikofeldes werden Rechtsextremisten nach dem von ihnen ausgehenden Risiko individuell bewertet. Im aktionsorientierten Rechtsextremismus erfolgt dies anhand der Variablen "ideologische Festigung" und "Gewaltbereitschaft". Im vergangenen Jahr ergab sich im aktionsorientierten Rechtsextremismus folgende Verteilung: Aktionsorientierte Gewaltbereit + Gewaltbereit - Rechtsextremisten* Ideologisch gefestigt + Kategorie 1 Kategorie 2 22 % 11 % Ideologisch gefestigt - Kategorie 3 Kategorie 4 32 % 32 % * Bei den restlichen 3 % liegen keine ausreichenden Erkenntnisse vor, die eine Aussage über die ideologische Festigung oder die Gewaltbereitschaft erlauben. Den "harten Kern" - die sowohl ideologisch gefestigten als auch gewaltbereiten Personen - machen 22 Prozent der bekannten aktionsorientierten Rechtsextremisten in Berlin aus; weitere 32 Prozent werden als gewaltbereit aber nicht 1 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2002. Berlin 2003, S. 3 f. 2 Die Risikoanalyse fragt zunächst nach der Art des Risikos. Der Rechtsextremismus ist kein einheitliches Phänomen, sondern umfasst unterschiedliche Erscheinungsformen: von aktionsorientierten Rechtsextremisten geht das Risiko der physischen Machtausübung im sichtbaren öffentlichen Raum (vor allem Straßenland) aus, im Gegensatz zum diskursiven öffentlichen Raum, auf den diskursorientierte Rechtsextremisten abzielen. Diese versuchen, rechtsextremistische Themen in den allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs einzuspeisen und salonfähig zu machen. Von parlamentsorientierten Rechtsextremisten geht das Risiko der Erlangung von Einfluss in Parlamenten bzw. auf den politischen Willensbildungsund Entscheidungsprozess aus. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 5 ideologisch gefestigt beurteilt. Somit sind derzeit gut die Hälfte der aktionsorientierten Rechtsextremisten als gewaltZunehmende bereit einzuschätzen, während dieser Anteil im Jahr 2005 Gewaltbereitschaft 39 Prozent betrug. Gewaltbereitschaft ist zunehmend zu einem Bestandteil des aktionsorientierten Rechtsextremismus geworden. Wie bei ähnlichen Untersuchungen zur Gewaltbereitschaft bzw. Gewaltanwendung im nicht-extremistischen Bereich, Frauen weniger zeigt sich ein deutlicher Unterschied in der Geschlechtergewaltbereit verteilung. Während in den gewaltbereiten Kategorien 1 und 3 lediglich 3 bzw. 7 Prozent der Rechtsextremisten weiblich sind (im Jahr 2005 1 bzw. 9 Prozent), erhöht sich dieser Anteil in den Kategorien 2 und 4 auf 15 bzw. 28 Prozent. Rechtsextremistische Frauen sind generell deutlich seltener zur Anwendung physischer Gewalt bereit als rechtsextremistische Männer. Geschlechteranteil nach Kategorien 100% Anteil (in %) weiblich 50% männlich 0% Kat 1 Kat 2 Kat 3 Kat 4 Kategorie Unterschiede zeigen sich auch in der Verteilung verschiedener Altersgruppen je Risikofeld. Während die jüngeren Unterschiedliche Altersgruppen, insbesondere von 21 bis 24 Jahre, vornehmVerteilung der Altersgruppen lich im aktionsorientierten Rechtsextremismus zu finden sind, wächst der Anteil parlamentsund diskursorientierter Rechtsextremisten mit zunehmendem Alter stetig. Ab der Altersgruppe der 46bis 60-Jährigen übersteigt deren Anzahl die der aktionsorientierten Rechtsextremisten. 6 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Altersverteilung nach Risikofeldern 20% Anzahl (in%) 15% PR 10% AR 5% DR 0% 15 bis 18 bis 21 bis 25 bis 30 bis 36 bis 46 bis über 60 17 J. 20 J. 24 J. 29 J. 35 J. 45 J. 60 J. J. Altersgruppen Analytisch können im Bereich des aktionsorientierten Rechtsextremismus zwei voneinander abgegrenzte "PersoNetzwerke im nennetzwerke" feststellen: das Kameradschaftsnetzwerk und aktionsorientierten das Musiknetzwerk. In beiden Netzwerken stehen jeweils Rechtsextremismus ca. 150 - 200 Rechtsextremisten untereinander sporadisch und anlassbezogen in Kontakt. Beide Netzwerke differieren weder in ihrer Ideologie noch in der Gewaltbereitschaft entscheidend. Während jedoch das Netzwerk Musik durch fest gefügte Cliquen geprägt ist, die sich kaum um neue Anhänger bemühen, besteht das Kameradschaftsnetzwerk3 aus autonomen Aktionsgemeinschaften () und Kameradschaften (), die eine offensive Rekrutierungstätigkeit entfalten. Unterschiede gibt es auch in der Altersstruktur: Das Durchschnittalter im Netzwerk Musik liegt bei Mitte 30, die Mitglieder des Netzwerks Kameradschaften sind dagegen im Durchschnitt Anfang 20 und weisen eine wesentlich kürzere Verweildauer im Netzwerk auf. Entwicklung NPD Der NPD gelang es 2006, sich zum zentralen rechtsextremistischen Akteur in Berlin und Ansprechpartner aller rechtsextremistischen Spektren zu etablieren. Zunächst baute die Partei ihre organisatorischen Strukturen durch die Grün- 3 An der in den vergangenen Jahren eingeführten Bezeichnung "Netzwerk Kameradschaften" wird trotz der zunehmenden Bedeutung autonomer Aktionsgemeinschaften festgehalten. Dies verdeutlicht, dass es sich weitgehend um denselben Personenkreis handelt. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 7 dung von drei neuen Kreisverbänden insbesondere im Westteil der Stadt aus. Die Anzahl der Kreisverbände erhöhte sich damit von fünf auf acht; sie decken das gesamte Stadtgebiet ab. Inhaltlich war ein Bemühen der NPD um regionalund kiezbezogene Themen festzustellen. Für die Berliner Abgeordnetenhauswahl am 17. September erstellte sie ein "Aktionsprogramm", in dem die zentralen Positionen und Forderungen zusammengefasst wurden. Bei der Wahl erreichte die NPD 2,6 Prozent der Zweitstimmen (2001: 0,9 Prozent).4 Die NPD lag damit deutlich vor der Partei "Die Republikaner" (REP). Diese erzielte lediglich 0,9 Prozent der Zweitstimmen (2001: 1,3 Prozent). Ein Vergleich der Ergebnisse von NPD (+ 1,7 Prozent) und der REP (- 0,4 Prozent) zeigt, dass die Zugewinne der NPD nicht allein auf Wählerwanderungen innerhalb dieses Spektrums zurückzuführen sind. Daneben arbeitete die Partei eng mit anderen rechtsextremistischen Akteuren Berlins zusammen. Sie stellte sich als Anmelderin zahlreicher Demonstrationen zu Themen des Kameradschaftsund des Musiknetzwerks zur Verfügung. Von dem damit verbundenen Ansehensgewinn profitierte die Partei insbesondere bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen. Sie konnte in dem personalund materialaufwendig geführten Wahlkampf auf die Unterstützung zahlreicher aktionsorientierter Rechtsextremisten zurückgreifen. Dies und die fehlende Konkurrenz durch andere rechtsextremistische Parteien führten dazu, dass die NPD bei den Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen in vier Bezirken die 3-Prozenthürde überspringen konnte und insgesamt elf Mandate errang. Im Kameradschaftsnetzwerk nahmen 2006 sowohl die öfKameradschaftsfentlichkeitswirksamen Aktivitäten als auch die namentlich netzwerk agierenden Personenzusammenschlüsse ab. Der "Märkische Heimatschutz - Sektion Berlin" (MHS) erklärte im November seine Auflösung und auch die übrigen konventionellen Kameradschaften zeigten keine öffentlichkeitswirksamen 4 Vgl. S. 11 ff. 8 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Aktivitäten. Dagegen setzte sich der 2005 begonnene Trend fort, weniger offen und stärker in anlassbezogenen, autonomen Kleingruppen aufzutreten. Diese suchten vornehmlich die Auseinandersetzung mit politischen Gegnern ("AntiAntifa") und es kam in der zweiten Jahreshälfte zu einer Reihe von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Rechtsund Linksextremisten. Als ein geographischer Schwerpunkt hat der Auseinander"Weitlingkiez" setzungen sich seit einigen Jahren der "Weitlingkiez" herausgebildet. Hierfür ist insbesondere die hohe Symbolkraft dieser Gegend entscheidend. Obwohl der Kiez derzeit offenbar von Linksextremisten aber auch von einigen Bürgern als rechtsextremistische Hochburg empfunden wird, handelt es sich prozentual zur Wohnbevölkerung gesehen nur um eine kleine Anzahl von Rechtsextremisten. Die Personenzusammenschlüsse des rechtsextremistischen Musiknetzwerk Musiknetzwerks setzten 2006 ihre Aktivitäten fort. Die Band "Legion of Thor" veröffentlichte einen neuen Tonträger, der jedoch eher gemäßigte, germanisch-mythologische Texte enthielt. Rechtsextremistische Konzerte fanden - wie bereits im Vorjahr - mit einer Ausnahme in Berlin nicht statt. Zwei Konzerte konnten von der Polizei verhindert werden. Die traditionelle Jahresfeier der "Vandalen" wurde offensichtlich aufgrund der polizeilichen Exekutivmaßnahmen in den vergangenen Jahren in ein abgelegenes Gebiet in Brandenburg verlegt. Öffentliche Aufmerksamkeit erfuhren die Prozesse wegen Prozesse gegen Volksverhetzung gegen die prominenten rechtsextremistiRevisionisten schen Revisionisten Ernst Zündel, Germar Rudolf und Siegfried Verbeke vor dem Mannheimer Landgericht. Berliner Anhänger des "Vereins zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten" (VRBHV) versuchten, den Prozess gegen Zündel sowie ein Verfahren gegen Revisionisten in Bernau (Brandenburg) zur Widerlegung der historischen Tatsache des Holocaust zu nutzen. Diese Taktik schlug jedoch ebenso fehl wie der Versuch der propagandistischen Instrumentalisierung der Gerichtsverfahren. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 9 Die große Bedeutung, die innerhalb des diskursorientierten Rechtsextremismus der Widerlegung des Holocaust beigeHolocaustleugnung messen wird, zeigte sich auch an den Reaktionen auf die israelfeindlichen und holocaustleugnenden Äußerungen des iranischen Präsidenten Mahmud Achmadinedschad und der von iranischen Stellen organisierten Konferenz "Review of the Holocaust: Global Vision" am 11. / 12. Dezember. Achmadinedschad wurde von zahlreichen rechtsextremistischen Personenzusammenschlüssen als Kronzeuge gegen die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft zum nationalsozialistischen Judenmord und dessen Gedenken in der Bundesrepublik herangezogen. Straftaten Die Statistik der "Politisch motivierten Kriminalität - rechts" verzeichnet 2006 wie schon 2005 einen klaren Anstieg von Straftaten gestiegen 1 602 auf 1 964 Delikte (23 Prozent). Auch die Zahl der darin enthaltenen politisch rechts motivierten Gewalttaten stieg 2006 auf 110 Gewalttaten (2005: 52 Gewalttaten) um Mehr Gewalttaten mehr als das Doppelte an. Der weitaus größte Teil der Gewalttaten entfiel auf Körperverletzungen. Der Anstieg der Gewalttaten verteilte sich gleichmäßig auf fremdenfeindliche Gewalt (2006: 49 Delikte; 2005: 18 Delikte) und auf den Bereich der Rechts-Links-Auseinandersetzungen (2006: 48 Delikte; 2005: 20 Delikte). Die Mehrzahl der polizeilich ermittelten Tatverdächtigen gehört keinem rechtsextremistischen Personenzusammenschluss an. 10 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Fallzahlen Politisch motivierte Kriminalität - rechts* 2005 2006 Gewaltdelikte 52 110 davon antisemitisch 2 5 fremdenfeindlich 18 49 gegen links 20 48 Propagandadelikte 1 053 1 345 davon antisemitisch 63 61 fremdenfeindlich 72 114 gegen links 27 38 sonstige Delikte 497 509 davon antisemitisch 261 208 fremdenfeindlich 99 167 gegen links 48 71 Gesamt 1 602 1 964 davon antisemitisch 326 274 fremdenfeindlich 189 330 gegen links 95 157 * Auszug aus dem Bericht "Lagedarstellung der Politisch motivierten Kriminalität in Berlin für das Jahr 2006" des Landeskriminalamtes Berlin (LKA). Der vollständige Bericht ist im Internet eingestellt unter www.berlin.de/sen/inneres/sicherheit/ statistiken/index.html. Mehr Auch bei den Propagandadelikten wie HakenkreuzschmierePropagandadelikte reien ist eine Zunahme um 28 Prozent auf 1 345 Delikte (2005: 1 018 Delikte) festzustellen. Nach Einschätzung des Landeskriminalamtes könnten hierfür neben einer verstärkten Sensibilität der Öffentlichkeit (erhöhtes Anzeigenverhalten) auch Reaktionen rechtsextremistischer Täter auf Kampagnen gegen ihre Aktivitäten ursächlich sein. Die "sonstigen Delikte" umfassen zum Beispiel Beleidigungen und Sachbeschädigungen. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 11 1.2 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus 1.2.1 Wahlen 2006 - "Deutschlandpakt" bringt unterschiedliche Erfolge Die rechtsextremistischen Parteien "Nationaldemokratische Partei Deutschlands ( NPD) und Deutsche Volksunion ( DVU) hielten an dem im Januar 2005 geschlossenen "Deutschlandpakt"5 zur Vermeidung konkurrierender WahlVermeidung antritte weiter fest - allerdings mit jeweils unterschiedlichem konkurrierender Wahlantritte Ertrag für die beiden Partner. Während die DVU lediglich zu der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt antrat und den Einzug in das Landesparlament verfehlte, verlief für die NPD die Wahl in Mecklenburg-Vorpommern mit dem Sprung in den Schweriner Landtag erfolgreich. Bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus scheiterte sie an der Fünf-Prozent-Hürde, konnte aber erstmals in vier Bezirksverordnetenversammlungen einziehen.6 Diese Ergebnisse überdeckten die zuvor wenig erfolgreich verlaufenen Wahlgänge in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. 1.2.1.1 Berliner Wahlen Wahl zum Abgeordnetenhaus Die NPD trat zur Wahl des 16. Abgeordnetenhauses von Berlin am 17. September mit einer 14 Plätze umfassenden Landesliste und in 10 der 78 Wahlkreise mit Direktkandidaten an. Gemäß den Absprachen im Rahmen des "Deutschlandpaktes" präsentierte sie sich den Wählern mit gemischGemischte ten Kandidatenlisten. Auf der von ihrem Bundesvorsitzenden Kandidatenlisten angeführten Landesliste befanden sich drei Mitglieder der DVU.7 Die NPD steigerte ihr Zweitstimmenergebnis im 5 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 59 ff. 6 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Wählerbewegungen im extremistischen Spektrum in Berlin. Berliner Wahlen 2006, www.verfassungsschutz-berlin.de. 7 Die DVU-Mitglieder belegten die Plätze 2, 6 und 10. 12 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Vergleich zur Abgeordnetenhauswahl 2001 (0,9 Prozent) und zur Bundestagswahl 2005 (1,6 Prozent) auf 2,6 Prozent.8 Damit verfehlte sie den Einzug in das Abgeordnetenhaus klar, hat jedoch Anspruch auf staatliche Wahlkampfkostenerstattung. Ost-West-Gefälle Das Ost-West-Gefälle im Wählerzuspruch vergrößerte sich weiter. Während die NPD in den östlichen Bezirken 4,0 Prozent erreichte, kam sie in den westlichen Bezirken lediglich auf 1,7 Prozent. In allen Bezirken in beiden Stadtteilen konnte sie zulegen, allerdings fiel der Stimmenzuwachs im Ostteil höher aus als im Westteil. Ihre stärksten Ergebnisse erzielte sie in den östlichen Bezirken MarzahnHellersdorf (5,4 Prozent), Lichtenberg (5,1 Prozent) und Treptow-Köpenick (4,6 Prozent). Bereits bei der Bundestagswahl 2005 schnitt die NPD in diesen Bezirken am besten ab. Das beste Ergebnis im Westteil der Stadt errang sie wie schon 2005 in Neukölln (3,1 Prozent). Wahlergebnisse AbgeordnetenBundestagsAbgeordnetenNPD hauswahl 2006 wahl 2005 hauswahl 2001 Zweitstimmen (in %) (absolut) (in %) (absolut) (in %) (absolut) Berlin - Gesamt 2,6 35 229 1,6 29 070 0,9 15 110 Berlin - West 1,7 13 921 1,1 11 664 0,5 4 958 Berlin - Ost 4,0 21 308 2,3 17 406 1,6 10 152 Neben den regionalen Besonderheiten zeigte sich auch eine Sozialstruktur der charakteristische Sozialstruktur der NPD-Wähler. Mit NPD-Wähler 5,1 Prozent war sie bei den Wählern im Alter von 18 bis 25 Jahren am erfolgreichsten. Die wenigsten Stimmen erhielt sie mit 1,3 Prozent von den Wählern im Alter von 45 bis 60 8 Die Wahlbeteiligung lag bei nur 58 Prozent. Bei der Abgeordnetenhauswahl 2001 hatte die Wahlbeteiligung 68,1 Prozent, bei der Bundestagswahl 2005 77,4 Prozent betragen. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 13 Jahren.9 Noch höhere Werte erzielte die Partei bei den männlichen Jungwählern mit 7,3 Prozent (weibliche Jungwählerinnen 2,9 Prozent) - und insbesondere bei den männlichen Jungwählern im Ostteil der Stadt mit 9,8 Prozent. Wahl zu den Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) Bei der Wahl zu den Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) trat die NPD lediglich in fünf der zwölf Berliner Bezirke an. Wiederum waren auch DVU-Mitglieder auf verschiedenen Bezirkslisten nominiert. Die NPD verbesserte ihr Ergebnis in allen fünf Bezirken und zog in vier Bezirken Einzug in vier BVV in die BVV ein. In Marzahn-Hellersdorf erreichte sie mit 6,4 Prozent drei Mandate (2001: 2,6 Prozent), in Lichtenberg mit 5,9 Prozent drei Mandate (2001: 2,3 Prozent), in Treptow-Köpenick mit 5,3 Prozent drei Mandate (2001: 2,3 Prozent) und in Neukölln mit 3,9 Prozent zwei Mandate.10 Auch auf Bezirksebene war der Zuspruch zur NPD in den östlichen Bezirken größer als in den westlichen Stadtbezirken. Mit Neukölln schaffte die NPD in einem Westbezirk den Sprung in die BVV. In Treptow-Köpenick zogen sowohl der Bundesvorsitzende als auch der Berliner Landesvorsitzende in die BVV ein. Drei der berlinweit 11 Mandate gingen an Mitglieder der DVU. Facettenreicher Wahlkampf Mitentscheidend für das Wahlergebnis war ein intensiver, straff organisierter Wahlkampf, der mit hohem materiellen und personellen Aufwand geführt wurde. Allerdings stand den vielfältigen, größtenteils professionell gestalteten Wahlkampfmitteln (Plakate, Flugblätter und ein "Aktionsprogramm", Wahlkampfveranstaltungen und Infostände, eine Musik-CD und ein Fernsehspot, ein Wahlportal im Internet 9 Allerdings haben ältere Menschen einen stärkeren Einfluss auf das Wahlergebnis als die Jüngeren. Nicht nur ihre Beteiligung an der Wahl ist höher, sondern auch ihr Anteil an den Wahlberechtigten. 10 Bei den BVV-Wahlen gilt im Gegensatz zur Abgeordnetenhauswahl eine Drei-Prozent-Hürde. 14 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 sowie Werbebriefe)11 ein geringes inhaltliches Angebot gegenüber. Im Wesentlichen warb die NPD mit den Themen "Sozialprotest", "Sozialprotest" und "Überfremdung" um Wählerstimmen. "Überfremdung" Fremdenfeindliche Ressentiments wurden zum Teil mit Berlin-spezifischen Themen verknüpft. So wandte sich die NPD gegen den geplanten Bau einer Moschee in BerlinPankow: "Muezzin in Pankow und schwarze Gebete in Marzahn [...] nun greift auch eine akustische Umweltverschmutzung um sich."12 Im Verlauf des Wahlkampfes kam es zu mehreren, zum Teil Gewalttätige gewalttätigen Auseinandersetzungen. Neben zwei GewaltAuseinandertaten gegen Wahlkampfhelfer der SPD und der "Linkssetzungen partei.PDS" waren zwei Übergriffe auf Wahlkampfstände sowie fünf Störungen von Veranstaltungen demokratischer Parteien zu verzeichnen. 13 Die NPD stilisierte die Einschüchterungsversuche auf Veranstaltungen zu "Wortergreifungen" und rechtfertigte sie damit, dass ihr öffentliche Räume versagt wurden: "Wenn man uns keine Plattform in den Medien stellt, wo wir unsere Ansichten kundtun dürfen, dann kommen wir eben auf ihre Plattformen! Angesichts der Aufkündigung von öffentlichen Räumlichkeiten, wird die NPD verstärkt die Veranstaltungen der 11 Die Gruppe der Erstund Jungwähler umwarb die NDP wie schon bei früheren Wahlen mit der kostenlosen Verteilung einer nicht strafrechtlich relevanten rechtsextremistischen Musik-CD. An die gleiche Wählergruppe versandte sie zudem gezielt Propagandamaterial. 12 Muezzin in Pankow und schwarze Gebete in Marzahn. Internetauftritt des Berliner NPD-Landesverbands, Aufruf am 18.8.2006. 13 Die Polizei verzeichnete bei den Berliner Wahlen einen deutlichen Anstieg der Straftaten (370 Straftaten) gegenüber der Bundestagswahl 2005 (171 Straftaten). Der weitaus größte Teil davon waren Sachbeschädigungen an Wahlkampfplakaten (253 Straftaten). Die Zahl der Gewalttaten ist im Berliner Wahlkampf im Vergleich zum Bundestagswahlkampf etwa gleich geblieben (2006: 8 Gewalttaten; 2005: 9 Gewalttaten). Die Polizei ordnete bei drei Gewalttaten die Täter der "rechten Szene" zu. Vgl. Der Polizeipräsident in Berlin: Vergleich der statistischen Werte zu den Bundestagswahlen 2005 und den Landtagswahlen 2006. Berlin 2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 15 Versagerparteien nutzen, um ihr politisches Wollen zu verbreiten."14 Stellung der NPD gestärkt Trotz des organisatorischen Ausbaus seit 2005 verfügt die NPD in Berlin bislang nur über schwache Strukturen.15 Außerhalb der Wahlkampfzeiten spielt sie vor Ort kaum eine Rolle. Im Wahlkampf erhielt das rechtsextremistische WahlWahlkampfbündnis aus NPD und DVU Unterstützung von aktionsorienunterstützung und strategische tierten Rechtsextremisten aus Berlin und Angehörigen der Absprache "Jungen Nationaldemokraten" (JN) aus anderen Bundesländern. Es ist von einer wahlstrategischen Absprache auszugehen, da die NPD und die Partei "Die Republikaner" (REP) in keinem Bezirk gegeneinander antraten. Die Aufteilung des Stadtgebiets entsprach weitgehend den Ergebnissen früherer Wahlen, bei denen die NPD in den östlichen und die REP in den westlichen Bezirken erfolgreicher waren. Die Stellung der Berliner NPD innerhalb des rechtsextremistischen Spektrums wurde durch die Wahlergebnisse weiter gestärkt. Sie etablierte sich als führende Kraft der "VolksFührung in der front".16 Ihre Ergebnisse verbuchte sie als Achtungserfolg, "Volksfront" als "Zeichen eines beginnenden Bewusstseinswandels"17 und kündigte den verstärkten Aufbau des Landesverbands - auch im Westteil der Stadt - an.18 Es bleibt abzuwarten, wie sich die bezirkspolitischen Aktivitäten entwickeln. 1.2.1.2 Weitere Landtagswahlen Neben dem Berliner Abgeordnetenhaus wurden die Landtage in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt (alle am 26. März) und Mecklenburg-Vorpommern (17. Sep14 Wortergreifungsstrategie. Internetauftritt des Berliner NPD-Landesverbandes, Aufruf am 10.9.2006. 15 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 62 - 65. 16 Vgl. S. 17 ff. 17 Stella Palau: Deutliche Stärkung der NPD-Positionen. Internetauftritt des Berliner NPD-Landesverband, datiert vom 19.9.2006. 18 Vgl. ebenda. 16 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 tember) neu gewählt. In Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz konnte die NPD ihre Ergebnisse verbessern, blieb beim Kampf um politische Mandate aber chancenlos. Bei geringer Wahlbeteiligung erreichte sie in Baden-Württemberg 0,7 Prozent der Zweitstimmen (2001: 0,2 Prozent) und in Rheinland-Pfalz 1,2 Prozent (2001: 0,5 Prozent). Damit erhielt sie in Rheinland-Pfalz staatliche Wahlkampfkostenerstattung. In Sachsen-Anhalt errang die DVU für sie enttäuschende 3 Prozent der Stimmen, nachdem sie bei den Landtagswahlen 1998 noch 12,9 Prozent der Stimmen erreicht hatte; bei den Landtagswahlen 2002 war sie nicht angetreten. Den größten Erfolg erzielte die NPD bei der gleichzeitig mit den Berliner Wahlen abgehaltenen Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern. Mit einem Ergebnis von 7,3 Prozent Einzug in zogen sechs NPD-Abgeordnete in den Schweriner Landtag Schweriner Landtag ein. Im Vergleich zu der Landtagswahl 2002 (0,8 Prozent) und der Bundestagswahl 2005 (3,5 Prozent) konnte sie ihr Ergebnis erheblich verbessern. Die Wahl in MecklenburgVorpommern war von der Bundespartei zur Schwerpunktwahl erklärt und der Landesverband mit zusätzlichen personellen und finanziellen Ressourcen ausgestattet worden. Die NPD wurde durch zahlreiche Vertreter der "Freien Kräfte" unterstützt. Mehr als die Hälfte der Listenkandidaten waren der Neonazi-Szene zuzurechnen. Der NPD-Bundesvorsitzende, Udo Voigt, nutzte den Wahlerfolg in Mecklenburg-Vorpommern zur propagandistischen Bestätigung der Wahlstrategie seiner Partei: "Das Konzept, sich erst regional zu etablieren, hat sich als richtig erwiesen. Nur so kann mittelfristig der gebündelte Angriff nationaler Kräfte auf die noch hart verteidigten etablierten Bonzen-Bastionen des Westens erfolgen."19 Der Vorsitzende der NPD-Landtagsfraktion in Sachsen gab als Ziel erneut den Einzug in den Deutschen Bundestag aus: "Wir werden in den kommenden Jahren Stück für Stück, Bundesland für Bundesland erobern. Gemeinsam mit der 19 Udo Voigt: NPD mit Deutschland-Pakt voran! Internetauftritt der NPD, Aufruf am 18.9.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 17 Achse Schwerin - Dresden wird es uns gelingen, die Republik aufzurollen. Auf daß es uns gelingen wird im Jahre 2009 auch den Reichstag in Berlin endlich für die volkstreue Opposition zu gewinnen."20 1.2.2 NPD wird zentraler rechtsextremistischer Akteur Der Berliner Landesverband der NPD setzte seinen bereits im Vorjahr begonnenen Aufschwung fort und entwickelte sich zum zentralen rechtsextremistischen Akteur in der Stadt. Dem Landesverband gelang es, sich als Ansprechpartner Ansprechpartner aller rechtsextremistischen Spektren von der deutschnatioaller Rechtsextremisten nalen DVU über das neonazistische Kameradschaftsnetzwerk bis zum Musiknetzwerk zu etablieren. Die NPD profitierte dabei von einer gesamtdeutschen Entwicklung, die auch zu Mitgliedergewinnen und einer Stärkung der Parteistrukturen führte. Daneben bemühte sich die Partei, mit kiezbezogen Aktivitäten Bürgernähe zu demonstrieren. Gründung neuer Kreisverbände Die im vergangenen Jahr zu beobachtende Stärkung der Parteistrukturen setzte sich mit der Gründung der Kreisverbände "Nord" und "Tempelhof-Schöneberg" im Februar 2006 fort.21 Gemeinsam mit dem erst im Oktober 2005 geschaffenen Kreisverband "Neukölln" erhöhte die Partei innerhalb von drei Monaten die Anzahl ihrer Untergliederungen von fünf auf acht. Diese decken das gesamte StadtAcht Kreisverbände gebiet ab. Alle drei neuen Unterorganisationen entstanden im Westteil Berlins, der zuvor nur von einem Kreisverband betreut worden war. Mit Blick auf die Abgeordnetenhauswahl wollte die Partei nicht auf das östliche Stadtgebiet konzentriert bleiben. Gleichzeitig wurde die Darstellung der Kreisverbände systematisiert, sie wurden durchnummeriert und einheitlich im Internet präsentiert. 20 Wahlabend: Redebeiträge von Udo Pastörs und Holger Apfel, hier: Holger Apfel. Internetauftritt des NPD-Landesverbands MecklenburgVorpommern, Aufruf am 19.9.2006. 21 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 62 - 65. 18 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Die Initiative zu den Neugründungen ging anscheinend auf den erst im November 2005 neu gewählten Landesvorsitzenden zurück. Die NPD begründete den Schritt damit, "durch mehr wohnortnahe Parteistrukturen die regionalpolitische Kompetenz der NPD in Berlin zu festigen und somit die Belange der Bürger vor Ort besser unterstützen zu können."22 Breiteres inhaltliches Angebot Die Partei bemühte sich stärker als in den vergangenen Jahren um Aktivitäten zu regionaloder kiezbezogenen Themen. Durch die breitere inhaltliche Positionierung versucht sie, ihre politische Arbeit zu professionalisieren. Die Berliner NPD adaptierte das vor allem in östlichen Bundesländern zum Teil erfolgreiche Konzept der "völkischen "GraswurzelGraswurzelrevolution", mit "moderatem Ton, zivilem Aufrevolution" treten und alltagsnahen Themen" zum "integralen Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens zu werden". 23 Die soziale Verwurzelung vor Ort hat die NPD in Berlin allerdings nicht erreicht. Angesichts von lediglich ca. 210 Mitgliedern besitzt sie außerhalb der Wahlkampfzeiten im öffentlichen Leben der Bezirke weiterhin kaum Einfluss. Zudem unterblieb zumeist eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen Themen zugunsten des Versuchs einer populistischen Skandalisierung. Auch das "zivile Auftreten" gelang NPD-Anhängern in der öffentlichen Wahrnehmung des Öfteren nicht. Nach einem in den Medien verbreiteten Fall von Kindesmisshandlung in Neukölln kündigte die Partei im Februar an, Kiezstreifen uniformierte NPD-Anhänger würden als "Kiezstreifen gegen Kinderschänder" durch das betroffene Viertel patrouillieren. Männer, die ein Kind begleiteten, sollten sich darauf gefasst machen, von der "Kiezstreife" angesprochen zu werden. 22 Jörg Hähnel: Kreisverband Nord gegründet. Internetauftritt des Berliner NPD-Landesverbands, datiert vom 6.2.2006. 23 Jürgen Gansel: Angst vor der völkischen "Graswurzelrevolution". In: "Deutsche Stimme" Nr. 7/2006 vom Juli 2006, S. 11. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 19 Zudem verlangte sie die "Todesstrafe für Kindermörder"24. Als Reaktion auf das Verbot dieses Ansinnens 25 veröffentlichte die NPD Ende Februar ein weiteres Flugblatt, in dem sie Innensenator Dr. Ehrhart Körting vorwarf, Kinderschänder zu schützen.26 Anlässlich einer weiteren Kindesmisshandlung in Neukölln, die durch einen Bürger mit Migrationshintergrund begangen wurde, forderte die NPD die Errichtung von Ausländerghettos in Neukölln: "Neukölln muß sozial umgebaut werden. Ausländer sind von Deutschen räumlich zu trennen und schrittweise in ihre Heimat zurückzuführen."27 Die NPD beteiligte sich an den bürgerlichen Protesten gegen einen "interkulturellen Garten" in Lichtenberg und gegen den geplanten Bau einer Moschee im Pankower Ortsteil Heinersdorf. Sie versuchte, an die bürgerlichen Proteste anzuknüpfen und diese mit fremdenfeindlichen Ressentiments Fremdenfeindliche zu unterfüttern. So wurde das Moschee-Bauvorhaben in der Ressentiments NPD-Propaganda mit gewalttätigen, terroristischen oder kriegerischen Akten in Verbindung gebracht, um Überfremdungsängsten Vorschub zu leisten und ein tolerantes, friedliches Zusammenleben zu beeinträchtigen. Die NPD bezeichnete die Moschee als "Vorposten des Islam", der ein "erster Bote der schleichenden Überfremdung" in Pankow sei.28 Dies führe langfristig zu gewalttätigen Anschlägen: 24 Kiez-Streife gegen Kinderschändung. Flugblatt des NPD-Kreisverbandes "Neukölln" und des JN-Stützpunktes Neukölln. 25 Mit Verfügung vom 3.2.2006 wurde das Vorhaben vom Polizeipräsident in Berlin untersagt, da die angekündigte "Kiezstreife" gegen das Uniformierungsverbot gemäß SS 3 Abs. 1 VersG verstößt und den Tatbestand der Amtsanmaßung gemäß SS 132 StGB erfüllt. 26 Vgl. Schützt Berliner Innensenator Kinderschänder? Flugblatt des Berliner NPD-Landesverbands. 27 Wieder und wieder und wieder Neukölln. Internetauftritt des Berliner NPD-Landesverbands, datiert vom 1.8.2006. 28 Schöne Aussicht in Pankow? Internetauftritt des Berliner NPD-Landesverbandes, datiert vom 6.3.2006. 20 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 "Angesichts jüngster Drohungen islamistischer Fanatiker 'Wenn die westlichen Hauptstädte nicht brennen wollen wie Paris [...]' ist abzusehen, was auch auf den Bezirk zukommt." 29 Ein Höhepunkt der rechtsextremistischen Kampagne war Demonstration eine von der NPD angemeldete Demonstration am 1. April gegen Moschee-Bau unter dem Motto "Nein zur Moschee in Pankow" mit ca. 200 Teilnehmern. Das Fronttransparent der Partei mit der Aufschrift "Denn heute gehört uns Kreuzberg und morgen die ganze Welt" beschlagnahmte die Polizei wegen des Verdachts der Volksverhetzung (SS 130 StGB). Nach Angaben der NPD zog der Vorsitzende des Kreisverbands "Pankow" in seiner Rede eine Linie von der militärischen Bedrohung Europas durch das Osmanische Reich im 17. Jahrhundert zu einer angeblichen Bedrohung durch türkische Migranten im Jahr 2006 in Berlin. Der Berliner Landesvorsitzende nannte den geplanten Moscheebau "im deutschen Pankow" eine "offene Kampfansage an die Deutschen" und forderte die Ausweisung aller Ausländer.30 In den vier Bezirksverordnetenversammlungen brachte sich Symbolische die NPD bislang mit einer Mischung aus symbolischen und BVV-Arbeit sachbezogenen Anträgen oder Anfragen ein. Im Bezirk Marzahn-Hellersdorf boykottierte sie eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nationalsozialismus und forderte eine gesonderte Feierstunde für die Opfer des Stalinismus. Landesparteitag Am 4. Februar 2007 fand der NPD-Landesparteitag in der Gaststätte einer Kleingartenkolonie in Treptow-Köpenick statt. Der Parteitag mit etwa 100 Delegierten verabschiedete ein "Aktionsprogramm", das sich inhaltlich mit dem Programm zur Abgeordnetenhauswahl 2006 deckt. Der Landesvorsitzende kündigte an, 2007 30 öffentliche Veranstaltungen durchführen zu wollen.31 29 Ebenda. 30 Eckhart Bräuniger zitiert nach: NPD als Vertreter der Pankower Bürgerinteressen. Internetauftritt des Berliner NPD-Landesverbandes, datiert vom 1.4.2006. 31 Vgl. NPD verbirgt sich vor ihren Gegnern. In: "Berliner Zeitung" vom 5.2.2007. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 21 "Volksfront" unter Führung der NPD In der Zusammenarbeit mit anderen rechtsextremistischen Personenzusammenschlüssen gelang es der NPD, sich als der zentrale rechtsextremistische Akteur in Berlin zu etablieren. Bereits im Januar kündigten NPD und DVU mit der propagandistischen Kampagne "Das RECHTS-Bündnis" eine "RECHTS-Bündnis" engere Zusammenarbeit an: "Mit einer offensiven Aufklärung über die bisherige und auch künftige gute Zusammenarbeit zwischen NPD und DVU werden beide Parteien in den kommenden Monaten mit eigens hierzu erstellten Flugblättern und Aufklebern die Berliner Bürger informieren. [...] In Berlin funktioniert das Bündnis einwandfrei und genau das möchten beide Landesvorsitzenden [...] mit dieser Kampagne aufzeigen."32 Höhepunkt dieser Zusammenarbeit unter der Führung der NPD war der gemeinsame Antritt zu den Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen (BVV)33. Die DVU verzichtete gemäß dem "Deutsch"Deutschland-Pakt" land-Pakt" auf eine Kandidatur und stellte im Gegenzug Kandidaten auf den NPD-Wahllisten. Für das Wahlkampfmaterial zeichneten NPD, DVU - und meist auch die "Freien Kräfte" - gemeinsam verantwortlich. Allerdings profitierte die NPD stärker von der Zusammenarbeit als die DVU. Neben dem einseitigen Imagegewinn innerhalb des rechtsextremistischen Spektrums spiegelt sich dies auch in Parteieintritten wider. So sollen mehrere DVU-Mitglieder zusätzlich in die NPD eingetreten sein, darunter zwei der drei BVV-Mitglieder der DVU.34 Die traditionell aktionsorientierte und neonazistische AusZusammenarbeit mit richtung der NPD in Berlin erleichterte auch die ZusammenKameradschaftsnetzwerk arbeit mit Angehörigen des Kameradschaftsnetzwerks.35 32 Stella Palau: NPD-Berlin startet Kampagne "Das RECHTS-Bündnis". Internetauftritt des Berliner NPD-Landesverbandes, datiert vom 19.1.2006. 33 Vgl. S. 11 ff. 34 Vgl. Schleichende Übernahme. In: "Der Tagesspiegel" vom 22.11.2006. 35 Vgl. S. 137. 22 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Zahlreiche "Freie Kräfte" unterstützten die Partei im Wahlkampf zum Beispiel durch das Kleben von Plakaten. Die NPD übernahm in mehreren Fällen an Stelle der Kameradschaften die Anmeldung und Durchführung von Demonstrationen. So demonstrierte sie anlässlich der Unruhen in französischen Vorstädten am 18. März in Charlottenburg mit ca. 90 Personen unter dem Motto "Keine Pariser Zustände in Berlin - Berlin ist eine deutsche Stadt" und gegen den SPDBundesparteitag am 25. März in Köpenick unter dem Motto "Rote Karte für Rot-Rot. Linken Etikettenschwindel aufdecken" mit ca. 160 Teilnehmern. Die NPD beteiligte sich mit Rednern an Demonstrationen der Freien Kräfte Berlin ( FKB). Auf der seit 2003 jährlich durchgeführten, bereits traditionellen Demonstration parteiungebundener Rechtsextremisten am 9. Dezember in Rudow unter dem Motto "Jugend braucht Perspektiven - Für ein nationales Jugendzentrum" sprachen vor ca. 210 Teilnehmern mit dem Bundes-, dem Landesund dem Neuköllner Kreisverbandsvorsitzenden ausschließlich Funktionsträger der NPD. Dabei spielten auch strategische Überlegungen mit Blick auf die Möglichkeiten der NPD in den BVV eine Rolle. Im Januar 2007 griff die NPD dieses regionalpolitische Thema erneut auf und brachte einen Antrag mit der Forderung nach einem "nationalen Jugendzentrum" in die BVV Lichtenberg ein. Verbundenheit mit Die Verbundenheit mit dem rechtsextremistischen MusikMusiknetzwerk netzwerk zeigte sich an der Organisation der Demonstration "Freiheit für Lunikoff" am 21. Oktober durch die NPD. "Lunikoff" ist der Spitzname für den Sänger der ehemaligen rechtsextremistischen Band "Landser", deren Mitglieder im Dezember 2003 vom Berliner Kammergericht wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung verurteilt wurden.36 Dieser war vor seiner Inhaftierung der führende Kopf des rechtsextremistischen Musiknetzwerks und Anführer der Vandalen Ariogermanische Kampfgemeinschaft ( Vandalen); er genießt weiterhin großes Ansehen im rechts36 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, S. 46 ff. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 23 extremistischen Spektrum. Der Berliner NPD-Landesvorsitzende war vor seiner Karriere in der NPD ebenfalls ein führender Aktivist im Netzwerk Musik.37 Er wurde in den vergangenen Jahren regelmäßig auf den Jahresfeiern der "Vandalen" und anderen szeneinternen Feiern polizeilich festgestellt. Neben dem Bundesund dem Landesvorsitzenden trat einer der bundesweit führenden aktionsorientierten Rechtsextremisten auf, der im September 2004 einer der Wegbereiter des "Volksfront"-Bündnisses war und 2004 in den NPD-Bundesvorstand gewählt wurde. Die Verbindung der Demonstration mit einer Musikdarbietung sorgte für einen Mobilisierungserfolg von ca. 750 Teilnehmern. Die Reaktionen von Teilnehmern im Internet zeigen, dass die Durchführung dieser Veranstaltung zu einem Imagegewinn der NPD unter den aktionsorientierten Rechtsextremisten aus dem Musiknetzwerk geführt hat. Daneben offenbarte die Demonstration das strategische Agieren der NPD zwischen gemäßigterem Auftreten und eindeutigem Gemäßigtes Bekenntnis zu neonazistischen Positionen. Während sich die Auftreten und neonazistischen Partei im Wahlkampf zur Abgeordnetenhauswahl mit Blick Positionen auf eine beabsichtigte breitere Wählbarkeit Zurückhaltung auferlegte hatte, führte sie nur knapp einen Monat später eine Solidaritätsdemonstration für einen verurteilten Straftäter und Autor menschenverachtender Texte durch. Der Einsatz der NPD für die Integrationsfigur des Musiknetzwerkes kann als Dank an die aktionsorientierten Rechtsextremisten für ihre Unterstützung im Wahlkampf und ihre Loyalität verstanden werden. Die NPD stellte den Inhaftierten verharmlosend als "politischen Gefangenen" dar: "Michael Regener, bekannt als Lunikoff, rebellierte auf künstleVerharmlosung rische Weise und transportierte die Sehnsucht einer ganzen jungen Generation nach Erneuerung und nach einem Land, das die Heimat der Deutschen sein soll. Das war den Zensoren und Meinungshütern ein Dorn im Auge." 38 37 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 34 f. 38 Freiheit für Michael "Lunikoff" Regener. Internetauftritt des Berliner NPD-Landesverbandes, datiert vom 10.10.2006. 24 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Angesichts der Texte von "Landser" ist eine solche Solidarisierung weder gemäßigteren Parteimitgliedern noch potenziellen Wählern aus dem bürgerlichen Spektrum vermittelbar. "Landser" textete: "Irgendwer wollte den Niggern erzählen, Sie hätten hier das freie Recht zu wählen, Das Recht zu wählen, Das haben sie auch, Strick um den Hals oder Kugel in den Bauch."39 Gestiegenes Selbstbewusstsein der Bundespartei: Parteitag in Berlin Die Entwicklung des Berliner Landesverbandes verlief gleichförmig mit der Entwicklung der Bundespartei. Das sichtbarste Zeichen des gestiegenen Selbstbewusstsein der NPD war die erstmalige Durchführung des Bundesparteitages am 11. und 12. November in Berlin. Auf dem Rechtsweg sicherte sich die NPD am Vorabend des Veranstaltungstages die Nutzung des Fontane-Hauses in Reinickendorf und führte dort ihren Parteitag unter Beteiligung von 550 Rechtsextremisten durch, darunter 232 Delegierte. Begleitet von ca. 400 Gegendemonstranten und einem starken Polizeiaufgebot verlief der Parteitag weitgehend störungsfrei. Mit der Wahl des Tagungsortes dokumentierte die NPD ihre Bundespolitische bundespolitischen Ambitionen, auch im Hinblick auf die Ambitionen nächste Bundestagswahl. Der NPD-Sprecher gab bekannt: "Wir wollen von [Berlin] aus ein Signal entsenden, dass wir 2009 in den Bundestag wollen."40 Stigmatisierung Das Parteitagsmotto "Aus der Mitte des Volkes" unterüberwinden streicht die Hoffnung, eine gesellschaftlich relevante Kraft zu werden und sich von der Stigmatisierung schrittweise zu lösen. Wegen der befürchteten Protestaktionen hatte die NPD in der jüngeren Vergangenheit ihre Bundesparteitage noch in kleineren Ortschaften durchgeführt. Als Beleg für den Aufschwung wird innerhalb der Partei das Ergebnis der 39 "Landser": Ran an den Feind. 2000. 40 Klaus Beier zitiert nach Jörg Schindler: Die NPD strebt in die "Reichshauptstadt". In: "Frankfurter Rundschau" vom 10.11.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 25 Bundestagswahl 2005 angesehen, bei der die NPD mit 1,6 Prozent der Zweitstimmen eine Steigerung gegenüber ihrem Ergebnis von 0,4 Prozent bei der Bundestagswahl 2002 erreichen konnte. Des Weiteren gab der später mit über 95 Prozent der Delegiertenstimmen wiedergewählte Parteivorsitzende Voigt die Steigerung der Mitgliedszahlen auf 7 000 an (2005: 6 000 Mitglieder). Die Vorstandswahlen auf dem Bundesparteitag führten zu einer Stärkung des aktionsorientierten Flügels. Deutlich wurde dies an der Wahl des früheren JN-Bundesvorsitzenden Sascha Roßmüller zum stellvertretenden Parteivorsitzenden sowie der Wahl Jürgen Riegers und Thomas Wulffs in den Vorstand. Wulff ist bundesweit einer der führenden aktionsStärkung des orientierten Rechtsextremisten und war im September 2004 aktionsorientierten Parteiflügels einer der Begründer der "Volksfront". Aus Rücksicht auf die gemäßigteren Parteimitglieder hatte er 2004 von der bereits angekündigten Kandidatur für die Wahl zum Parteivorstand Abstand genommen. Der Szene-Anwalt Rieger, der erst kurz zuvor in die Partei eingetreten war, ist Vorsitzender der "Artgemeinschaft - Germanische Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer Lebensführung ( Artgemeinschaft) und war in den letzten Jahren der Anmelder der Rudolf HessGedenkmärsche in Wunsiedel. 41 Die Wahl des vermögenden Rieger in den Parteivorstand Prekäre Finanzlage dürfte der prekären Finanzlage geschuldet sein. Aufgrund falscher Angaben in den Rechenschaftsberichten für die Jahre 1997 und 1998 ist zu erwarten, dass der Präsident des Deutschen Bundestages von der NPD rund 870 000 Euro aus der staatlichen Parteienfinanzierung zurück fordern wird.42 Der damalige Vorsitzende des NPD-Landesverbandes Thüringen hatte seit 1996 über mehrere Jahre und in großem Umfang falsche Spendenbescheinigungen ausgestellt, deren Beträge zum großen Teil in die NPD-Rechenschaftsberichte 41 Am 25. Februar 2007 wurde Rieger zusätzlich zum Landesvorsitzenden der NPD in Hamburg gewählt. 42 Vgl. NPD erhält Abschlag nur gegen Sicherheit. Pressemitteilung vom 10.11.2006. Internetauftritt des Deutschen Bundestages. 26 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 des jeweils folgenden Jahres verbucht wurden.43 Die Partei kündigte ihren Mitarbeitern in der Parteizentrale betriebsbedingt und bat ihre Mitglieder um eine Sonderzahlung von 100 Euro. Weitere Ursachen für die Verschuldung sind die hohen Wahlkampfausgaben und gestiegenen Personalkosten der NPD. Weiterentwicklung der bundesweiten Strukturen Das gestiegene Selbstbewusstsein zeigte sich auch in der Gründung des RNF Ausdifferenzierung der Bundespartei durch die Gründung des "Rings Nationaler Frauen" (RNF) am 16. September in Sotterhausen (Sachsen-Anhalt). Der RNF bezeichnet sich als "die Frauenorganisation innerhalb der NPD"44, steht jedoch auch parteilosen Frauen offen. Die NPD möchte damit ihre zentrale Rolle für alle Spektren des Rechtsextremismus ausbauen. So spricht der RNF davon, "Dachverband [zu sein], der gerne sämtliche nationale Frauen zusammenbringen möchte."45 Der Verband solle Sprungbrett für Frauen sein, die Verantwortung in Kommunen, auf Landesund Bundesebene übernehmen möchten.46 Eine Frauenquote lehnt der RNF jedoch ab.47 Völkisches Der Verband ist weitgehend geprägt von einem völkischen Frauenbild Frauenbild. In diesem obliegt der Frau die Organisation des häuslichen Bereichs, insbesondere die Kindererziehung. In der Erziehung liegt für den RNF der Schlüssel für das Wiedererstarken der Nation und des Nationalismus: 43 Vgl. Schöffengericht Erfurt, Az.: 304 Js 14356/00 421 Ls. 44 Wer wir sind. Internetauftritt des RNF, Aufruf am 17.11.2006. 45 Vgl. Ring Nationaler Frauen gegründet. Internetauftritt des RNF, Aufruf am 16.9.2006. 46 Vgl. Grundsatz 4. Internetauftritt des RNF, Aufruf am 17.11.2006. 47 Vgl. Ring Nationaler Frauen gegründet. Internetauftritt des RNF, Aufruf am 16.9.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 27 "Das deutsche Volk wird nur überleben, wenn es noch viele Frauen [...] gibt, die sich endlich lösen und klar bekennen zu einem neuen (alten) Frauenund Mutterbild."48 Am 28. Oktober folgte die Gründung einer Regionalgruppe des RNF in Berlin. Diese plane die Erstellung von Flugblättern und einer Werbe-CD für junge Frauen sowie das Schreiben eines Kinderbuches, "das Heimatliebe und Identität vermitteln und sich gegen den üblichen Multikulti-Wahnsinn in deutschen Schulund Kinderbüchern"49 richten soll. Bundesweite Bedeutung könnte wegen der staatlichen finanziellen Zuwendungen die Etablierung einer Parteistiftung der NPD-Stiftung NPD mit dem Namen "Bildungswerk für Heimat und nationale Identität e. V. (i. G.)" durch den Sächsischen NPDLandesverband gewinnen. Das Bildungswerk nahm am 6. Juli seine Tätigkeit auf.50 Wenig professionell agierte dagegen zuletzt die Sächsische Sächsische Landtagsfraktion der NPD, die in den vergangenen Jahren Landtagsfraktion dezimiert viel zum Imagegewinn der Partei innerhalb des rechtsextremistischen Spektrums beigetragen hatte. Nachdem bereits Ende Dezember 2005 drei Abgeordnete die zwölfköpfige Fraktion verlassen hatten, verlor sie 2006 abermals drei Mitglieder. Während der wohl populärste NPD-Abgeordnete am 30. August bei einem Verkehrsunfall starb, gab ein weiterer am 24. November sein Mandat auf. Es waren polizeiliche Ermittlungen wegen des Verdachts der Verbreitung, des Erwerbs und des Besitzes kinderpornografischer Schriften bekannt geworden51 Ein anderer Abgeordneter wurde aufgrund 48 Petra Müller: Das EVA-Prinzip. Internetauftritt des RNF, Aufruf am 7.12.2006. 49 Stella Palau: NPD-Frauen in Berlin. Internetauftritt des Berliner NPDLandesverbands, datiert vom 29.10.2006. 50 Vgl. Karl Richter: Bildungswerk für Heimat und nationale Identität nimmt Arbeit auf. Internetauftritt des Sächsischen NPD-Landesverbands, Aufruf am 12.7.2006. 51 Vgl. NPD-Landtagsabgeordneter legt Mandat nieder. In: "Der Tagesspiegel" vom 24.11.2006. 28 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 "unseriösen Finanzgebarens"52 im November aus Fraktion und Partei ausgeschlossen. Seine Bekenntnisse zu Adolf Hitler spielten in der offiziellen Begründung für sein Ausscheiden keine Rolle. Aufgrund der in der Vergangenheit meist unprofessionellen Landtagsarbeit rechtsextremistischer Parteien war es oberste Priorität für die NPD, eine Legislaturperiode in Sachsen unReputationsverlust beschadet zu absolvieren. Sollte die NPD-Fraktion allerdings weiter dezimiert werden, würde dies bundesweit einen kaum aufzuholenden Reputationsverlust für die Partei bedeuten. Grenzen des Aufschwungs Wenngleich anhand der verbesserten Parteistrukturen, der inhaltlichen Diversifizierung und der zahlreichen Aktivitäten ein deutlicher Aufschwung des Berliner NPD-Landesverbandes zu beobachten war, stellen verschiedene Faktoren Dünne seine Nachhaltigkeit in Frage. So ist die Personaldecke der Personaldecke Partei weiterhin dünn. Die gestiegene Zahl von Aktivitäten wird von nur wenigen Aktivisten getragen. Vor allem der Landesvorsitzende verfügt aufgrund seines politischen Vorlebens als rechtsextremistischer Aktivist über hohe Autorität in weiten Teilen des rechtsextremistischen Spektrums. Diese Stellung nutzte er zu zahlreichen Auftritten im Bundesgebiet und im Ausland. Daneben verfügt er über sehr gute Kontakte zum Bundesvorsitzenden und zu der Bundesparteizentrale in Köpenick, die dem Landesverband zugute kommen. Mit seiner Wahl im Oktober 2005 ging die Zentralisierung der Parteiarbeit sowie der Parteistrukturen einher. Die inhaltliche Arbeit wird überwiegend durch den Pankower Kreisverbandsvorsitzenden betrieben, der zugleich Mitglied des Bundesund des Landesvorstandes ist. Dieser ist durch sein vergleichsweise zurückhaltend wirkendes AuftreKaum politische ten eher geeignet, bürgerliche Wählerschichten anzuspreFührungserfahrung chen. Daneben verfügt allenfalls noch die Pressesprecherin des Landesverbandes über politische Führungserfahrung. Sie wurde 2006 in den Bundesvorstand und den Vorstand des 52 Für saubere Verhältnisse in den eigenen Reihen. Internetauftritt der NPD-Fraktion im sächsischen Landtag, datiert vom 14.11.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 29 RNF gewählt. Die übrigen Funktionäre, die Kreisvorsitzenden eingeschlossen, sind zumeist erst seit kurzem aktiv. Auf die Landeslisten für die Abgeordnetenhausund BVVWahlen gelangten zahlreiche neue Parteimitglieder. Allein zwei der drei Fraktionsvorsitzenden in den BVV traten zuvor noch nicht öffentlich in Erscheinung. Einen Ausfall eines der Führungsaktivisten könnte der Landesverband kaum kompensieren. Auch das Ausbleiben der angekündigten weiteren Kreisverbandsgründungen seit dem Februar 2006 zeigt die Grenzen Keine weiteren des Wachstums der Berliner NPD. Die Partei erklärte anKreisverbande lässlich der Gründung des Kreisverbands "Nord" im Februar, einer "rasanten Mitgliederentwicklung"53 der letzten Monate Rechnung zu tragen. Tatsächlich blieb der Mitgliederzuwachs mit einer Steigerung von ca. 190 auf ca. 210 Personen in Berlin überschaubar. Die Eigenangabe der NPD ("350 Mitglieder in Berlin"54) ist weit überhöht, das selbstgesetzte Ziel von 700 Mitgliedern im Jahr 200755 erscheint unrealistisch. Ebenso gelang es der NPD bislang nicht, ihren in Berlin fast vollständig inaktiven Jugendverband JN wiederzubeleben. Eine Revitalisierung der JN dürfte jedoch ein mittelfristiges Ziel der Parteiführung bleiben. Dennoch machte der Kreisvorsitzende des neu gegründeten "Tempelhof-Schöneberg" seinen Parteifreunden Mut: "Die Zeit ist vorbei, uns zu verstecken oder nur den NPD-Ausweis in der Tasche spazieren zu tragen. Zeigt den Menschen in unseren Bezirken, die NPD ist vor Ort präsent und für sie da."56 Schließlich bleibt die Zusammenarbeit der NPD mit der "Volksfront"DVU und den "Freien Kräften" unter dem Titel "Volksfront" Strategie fragil. Zu ungleich sind die Bündnisund Ansprechpartner. 53 Kreisverband Nord gegründet. Internetauftritt des Berliner NPD-Landesverbandes, datiert vom 6.2.2006. 54 NPD Berlin gewinnt in kurzer Zeit dutzende neuer Mitglieder. Internetauftritt des Berliner NPD-Landesverbandes, datiert vom 7.11.2006. 55 Vgl. ebenda. 56 Hans-Joachim Henry: Willkommen - Kreisverband 3 Berlin. Internetauftritt des Berliner NPD-Landesverbandes, datiert vom 5.11.2006. 30 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Dabei handelt es sich um Unterschiede sowohl auf der ideologischen und strategischen Ebene wie im Habitus. Während die einen eine nationalsozialistische Revolution fordern und teilweise zu Gewalttaten bereit sind, streben andere Ruhe und Ordnung als oberste Priorität an. Dritte wiederum interessieren sich ausschließlich für subkulturelle Gemeinschaftserlebnisse. Anzeichen für die unterschiedlichen Motivationslagen bei Unterschiedliche gemeinsamen Veranstaltungen zeigten sich anlässlich der Motivationslagen "Lunikoff"-Demonstration. Während sich Teilnehmer im Internet positiv über die Demonstration, vor allem die Musikdarbietung äußerten, zeigten sich die Berliner Kameradschaftsaktivisten enttäuscht über den ihrer Meinung nach mangelnden politischen Anspruch einiger Veranstaltungsteilnehmer. Zudem bemängelten die FKB, dass sich die Solidaritäts-Demonstration allein auf "Lunikoff" und nicht auch auf die übrigen inhaftierten Rechtsextremisten bezog. Die Berliner Kameradschaftsaktivisten verließen daher die Veranstaltung vorzeitig, noch während der Musikdarbietung. "Die Redebeiträge durch die Redner waren größtenteils direkt auf Michael Regener zugeschnitten was vielen von uns verärgerte. [...] Aufgrund dieser Tatsache, dass es den Teilnehmern aller Voraussicht nach nur um die Livemusik ging und die Redebeiträge inhaltlich monoton waren beschloss der separate Block [der parteifreien Kräfte Berlins] die Veranstaltung zu verlassen."57 Überdeckt werden die Differenzen bislang von der Dynamik der Entwicklung, dem Bemühen um Interessenausgleich durch die NPD und persönlichen Loyalitäten. Ein Abflauen der Dynamik oder Phasen der Erfolglosigkeit dürften zu einem Aufbrechen der Gegensätze führen. 57 Freiheit für Lunikoff. Internetauftritt der FKB, datiert vom 21.10.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 31 1.2.3 Instrumentalisierung der Fußball-WM scheitert Vom 9. Juni bis 9. Juli fand in Deutschland die FIFA-Fußballweltmeisterschaft statt. Die vielfältigen Überlegungen deutscher Rechtsextremisten, das sportliche Großereignis als Mediale Plattform mediale Plattform zu instrumentalisieren und mit gezielten Aktionen weltweite Aufmerksamkeit zu erlangen, scheiterten. Die ausgelassene Stimmung und das friedliche Miteinander der teilnehmenden Mannschaften und ihrer Fans boten keine Anknüpfungspunkte für die rechtsextremistische Propaganda. Rassistischer WM-Planer der NPD Die NPD wandte sich vor allem gegen die Zusammensetzung der deutschen Nationalmannschaft. Mit einem so genannten WM-Planer - einer Übersicht zu Spielorten und -zeiten - polemisierte sie gegen die Spieler nichtdeutscher HerGegen nichtdeutsche kunft. Eine erste Version, die in großer Nationalspieler Stückzahl verteilt werden sollte, stand unter dem rassistischen Motto "Weiß - Nicht nur eine Trikotfarbe. Für eine echte Nationalmannschaft". Auf dem Titelblatt war ein Trikot abgebildet, die darauf erkennbare Nummer war zum damaligen Zeitpunkt einem farbigen Nationalspieler zugeordnet. Nach einer Strafanzeige des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und des betroffenen Spielers wurden am 6. April ca. 30 000 Exemplare der Druckfassung in der Berliner Bundeszentrale der NPD wegen des Verdachts der Beleidigung und der VolksBeschlagnahmung verhetzung beschlagnahmt.58 Eine zweite Version der Spielübersicht war in ähnlicher Weise mit der Frage: "Nationalmannschaft 2010?" überschrieben. Bei einer abermaligen 58 Die Beschwerde der NPD gegen die Beschlagnahmung wies das Landgericht Berlin am 18.5.2006 zurück. Vgl. Landgericht Berlin, Az.: LG 27 O 372/06. 32 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Durchsuchung der NPD-Parteizentrale am 8. Juni wurden ca. 3 000 Exemplare dieses Planers beschlagnahmt. Keine weiteren Weitere Aktivitäten, die der Pressesprecher der NPD angeAktivitäten kündigt hatte,59 wie verschiedene Demonstrationen, die Verteilung einer "Stadion-CD" sowie nicht näher beschriebene "Überraschungseffekte" wurden gar nicht erst durchgeführt.60 Die NPD war bemüht, diese Misserfolge mit dem Hinweis zu überdecken, die ohnehin "angespannte Sicherheitslage in Deutschland durch zusätzliche Demonstrationen während der WM"61 nicht weiter belasten zu wollen. Antisemitische und nationalistische Propaganda Im Verlauf der Weltmeisterschaft unternahmen einige rechtsextremistische Organisationen den Versuch, antisemitische und nationalistische Kampagnen zu inszenieren. So Einladung an forderte der NPD-Bundesvorsitzende, Udo Voigt, den iraniiranischen schen Präsidenten, Mahmud Achmadinedschad, öffentlich Präsidenten zum Besuch der WM auf,62 nachdem dieser sich mehrfach antisemitisch geäußert, den Holocaust bezweifelt und das Existenzrecht Israels abgelehnt hatte.63 Der rechtsextremistische Kampfbund Deutscher Sozialisten ( KDS) befürwortete diese Aussagen und sprach sich gegen ein etwaiges Einreiseverbot für Achmadinedschad aus: "Die BRD-Politiker haben ihre helle Freude daran, sich täglich mit grinsenden Negern und anderen Fremdvölkern fotografieren zu lassen. [...] Natürlich sind nur die ausländischen Gäste willkommen, die in das verlogene Weltbild der demokratischen Gutmenschen passen. Staatsgäste, die eine andere Auffassung 59 Vgl. Sie nehmen Anstoß. In: "Der Tagesspiegel" vom 31.3.2006. 60 Es fand lediglich eine Demonstration ohne Bezug zur WM statt. Am 10. Juni versammelten sich ca. 200 Teilnehmer in Gelsenkirchen unter dem Motto "Arbeit für Millionen statt Profit für Millionäre". 61 WM 2006: Die NPD stoppt linke Gewalt. Internetauftritt der NPD, datiert vom 24.5.2006. 62 Vgl. Udo Voigt: Willkommen, Herr Präsident! Internetauftritt der NPD, Aufruf am 30.6.2006. 63 Vgl. S. 15 - 52. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 33 zu bestimmten politischen und geschichtlichen Themenfeldern haben, würde man am liebsten die Einreise verweigern."64 Allerdings blieb der iranische Präsidenten der WM fern. Eine unter Anspielung auf den offiziellen Slogan der Weltmeisterschaft für den 17. Juni in Frankfurt a. M. unter dem Motto "Präsident Achmadinedschad - Zu Gast bei Freunden" von NPD-Funktionären angemeldete Demonstration wurde von der örtlichen Versammlungsbehörde verboten.65 Verschiedene Rechtsextremisten bemühten sich, die deutschlandweite Begeisterung in eine nationalistische MentalitätsNationalistische wende umzudeuten. Die DVU behauptete mit einer charakteUmdeutung ristischen Verbindung aus Antisemitismus und Verschwörungstheorie, der Zentralrat der Juden befördere den angeblichen "Selbsthass" der Deutschen aus finanziellen Beweggründen: "Der Zentralrat der Juden wünscht sich hierzulande natürlich nur die erste Gruppe von Deutschen, 'die Devoten', welche Probleme mit sich und der eigenen Nation haben. Womit man auch wieder bei der Fußballweltmeisterschaft angelangt wäre. Sie macht dem Herren Kramer [der Generalsekretär des Zentralrats der Juden] und den Kreisen, die er vertritt, natürlich Angst und Bange. Zeigt die millionenfache Beflaggung mit deutschen Fahnen doch nicht mehr und nicht weniger an, als dass die Deutschen zu sich selbst und zu ihrer Nation stehen und sie den verordneten Schuldkult satt haben: 'Wir, die heute Lebenden, sind nicht schuldig!' Punkt. Aus. Schluss. Ende. Das aber kann und darf nicht sein. Um nicht vollends das Erpressungsmonopol aus der Hand zu geben und in die Vergangenheitsbewältigungs-Defensive zu geraten, will sich der Zentralrat der Juden nun noch mehr auf jene stürzen, die sich gegen verordnetes Denken nicht wehren können: die Kinder und die Jugendlichen in den Schulen."66 64 Alexander Kurth: Die Welt zu Gast bei Freunden? Internetauftritt des KDS, Aufruf am 6.12.2006. 65 An diesem Tag absolvierte die iranische Nationalmannschaft ein Vorrundenspiel in Frankfurt a. M. 66 Rita Hoffman: Nie wieder Selbsthass. Deutsche endlich stolz. In: "National-Zeitung" vom 7.6.2006. 34 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Da die Umdeutung nicht gelang, kritisierten sie, dass deutscher Patriotismus nur eine temporäre Erscheinung sei: "Überall leuchten uns die Nationalfarben entgegen: [...] Ein Volk will Weltmeister werden [...]. Andere Völker sind sich ihrer Identität und Interessenlage auch außerhalb der Sportarenen bewusst; deutscher Patriotismus ist eine Ausnahmeerscheinung für Turnierzeiten."67 Keine Einflussnahme auf Hooligans Im Vorfeld der WM waren erhebliche Störungen durch gewaltbereite Hooligans befürchtet worden, die jedoch überwiegend ausblieben. Verschärfend hätte sich eine ideologische Beeinflussung durch die Vermischung mit dem rechtsextremistischen Spektrum auswirken können. In Berlin war Geringe die Schnittmenge zwischen Rechtsextremisten und HooliSchnittmenge mit gans jedoch gering. Im Bereich der polizeilich erfassten Rechtsextremisten "Gewalttäter Sport" betrug sie ca. 5 Prozent. Sofern diese Personen organisiert waren, gehörten sie überwiegend Kameradschaften an. Der Anteil der parlamentsorientierten Rechtsextremisten, wie der NPD-Mitglieder, war dagegen klein. Viele rechtsextremistische Hooligans waren als unorganisierte, politisch motivierte Strafoder Gewalttäter aufgefallen. Eine gezielte Einflussnahme von organisierten Rechtsextremisten auf diesen Personenkreis konnte nicht festgestellt werden. 1.3 Aktionsorientierter Rechtsextremismus 1.3.1 Veränderte Strukturen im Kameradschaftsnetzwerk Das "Netzwerk Kameradschaften" besteht aus etwa 200 aktionsorientierten Rechtsextremisten, die sich sowohl in klassischen Kameradschaften als auch in strukturärmeren autonomen Aktionsgemeinschaften organisieren. 2006 setzte sich 67 Harald Neubauer: Fußball-Patrioten. In: "Nation & Europa" Nr. 6/2006 vom Juni 2006, S. 3. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 35 der Strategiewechsel des letzten Jahres fort,68 die regelStrategiewechsel mäßige öffentlichkeitswirksame Agitation im Namen einer Kameradschaft zugunsten anlassbezogener, eher konspirativer Aktivitäten im Rahmen von Aktionsgemeinschaften aufzugeben.69 Infolgedessen verringerte sich die Bedeutung der Berliner Kameradschaften weiter. Die Vermeidung identifizierbarer Strukturen zielt darauf ab, Vereinsverboten zu entgehen. Damit verbunden ist ein Nachlassen demonstrativer Aktivitäten sowie die Zunahme gewalttätiger Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner. Hinwendung zu autonomen Aktionsgemeinschaften Im Kameradschaftsnetzwerk haben sich drei autonome Aktionsgemeinschaften () gebildet, wobei die UmstrukUmstrukturierung turierung des Netzwerks noch nicht abgeschlossen scheint. nicht abgeschlossen Der bedeutendste Personenzusammenschluss sind die "Autonomen Nationalisten Berlin". Den ANB können ca. 80 ANB Rechtsextremisten zugerechnet werden, die 2006 vor allem in den östlichen Stadtbezirken, aber auch in Neukölln "AntiAntifa-Arbeit () betrieben. Sie setzten dabei auf das Ausspähen der politischen Gegner zum Beispiel durch das Fotografieren am Rande von Veranstaltungen und auf deren Einschüchterung durch das Verbreiten von aggressiven Parolen im öffentlichen Raum. So wurden u. a. in Neukölln die Schriftzüge "Wir kriegen euch alle", "linke Zentren muss man zerschlagen", "deutsche Jugend wehrt euch" und in Treptow-Köpenick "Israel Du Opfer!" festgestellt. Alle Schriftzüge waren mit dem Keltenkreuz versehen und mit "ANB" unterzeichnet.70 68 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 220 ff. 69 An der in den vergangenen Jahren eingeführten Bezeichnung "Netzwerk Kameradschaften" wird trotz der zunehmenden Bedeutung autonomer Aktionsgemeinschaften festgehalten. Dies verdeutlicht, dass es sich weitgehend um denselben Personenkreis handelt. 70 Das Keltenkreuz wird von Rechtsextremisten oft in Zusammenhang mit "Anti-Antifa"-Aktivitäten gebraucht. Es soll den Eindruck eines Fadenkreuzes hervorrufen. 36 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Als neue autonome Aktionsgemeinschaft bildete sich die AGR "Aktionsgruppe Rudow" (AGR) in Neukölln heraus. Diese war erstmals im Dezember 2005 als Unterstützer der jährlichen rechtsextremistischen Demonstration unter dem Motto "Jugend braucht Perspektiven - Für ein nationales Jugendzentrum" in Erscheinung getreten. Die Gruppe unterzeichnete mehrere Grafittis in Rudow mit "Nazi Homezone", "Heil" und mit "AGR". Ein weiterer Schriftzug lautete "AGR = Antifa zerschlagen". FKB Dagegen handelt es sich bei den "Freien Kräften Berlin" (FKB) vor allem um eine Organisationsbezeichnung, die für die Anmeldung von Demonstrationen, den Betrieb eines Internetauftritts und die Erstellung von Propagandamaterial verwendet wird. Als tatsächlicher Personenzusammenschluss waren die FKB nicht zu erkennen. 2006 wurden alle sechs Demonstrationen des aktionsorientierten Rechtsextremismus unter dieser Bezeichnung angemeldet. Dabei trat fast ausschließlich ein Einzelanmelder namentlich in Erscheinung.71 Die Internetseite der FKB dient als Kommunikationsund Vernetzungsplattform. Dort sind Demonstrationsberichte und Verweise auf rechtsextremistische Kampagnen und Internetseiten wie die "Rudolf Hess-Wochen 2006" oder die "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V. ( HNG) eingestellt. Die zahlreichen, vor allem in Lichtenberg aufgefundenen Klebezettel der FKB zeigen eine deutliche Militanz: "Kampf um Berlin - Die letzte Schlacht gewinnen wir" oder "Zerschlagt das System ... und werdet aktiv". Außer gegen den Staat richteten sich die Parolen in erster Linie gegen die linksextremistische "Antifa": "Organisiert die Anti-Antifa! Good Night Left Side". 71 So auch bei den Demonstrationen "Meinungsfreiheit für alle - Gesinnungsjustiz stoppen" am 19.8.2006 und "Jugend braucht Perspektiven - Für ein nationales Jugendzentrum" am 9.12.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 37 Mit der Hinwendung zu den autonomen AktionsgemeinBedeutungsverlust schaften traten die Kameradschaften () als politische der Kameradschaften Akteure zurück. Die "Sektion Berlin" der Brandenburger Kameradschaft "Märkischer Heimatschutz" (MHS) gab am 4. November ihre Auflösung bekannt. Der Vorsitzende des Auflösung des MHS MHS begründete diesen Schritt mit den "politischen Entwicklungen der letzten Zeit"72. Gemeint waren die zahlreichen Vereinsverbote von rechtsextremistischen Kameradschaften in Berlin und Brandenburg. Die Berliner Sektion war bereits seit dem Ausstieg ihres damaligen Anführers im Herbst 2005 weitgehend inaktiv. Die Auflösung des MHS bedeutet jedoch nicht die Einstellung der politischen Agitation. Der ehemalige Vorsitzende kündigte indirekt an, dass sich einige Brandenburger Mitglieder künftig in der NPD engagieren werden: "Wir beabsichtigen, jeder nach seinem Interesse, nun den parlamentarischen Weg zu gehen."73 Auch die Berliner Sektion erklärte am 13. November, unvermindert für "das Reich" kämpfen zu wollen: "Ein Entschluss, der [...] uns einen Weg weist, unseren Kampf ohne Kompromisse und ohne die abzusehenden Barrieren fortzusetzen. [...] Die Idee, das Ziel aber, werden wir auch weiterhin ungebrochen verfolgen. Das Reich zerbricht nicht, solange wir daran glauben und dafür kämpfen und arbeiten! Der Kampf geht weiter!"74 72 Gordon Reinholz: Der Märkische Heimatschutz (MHS) löst sich auf! Internetauftritt des Nationalen Widerstandes Berlin-Brandenburg, datiert vom 4.11.2006. 73 Ebenda. 74 Internetauftritt des MHS - Sektion Berlin, Aufruf am 13.11.2006. 38 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Verbliebene Die verbliebenen vier Kameradschaften wie die "KameradKameradschaften schaft Nord-Ost" (KNO) und die "Vereinten Nationalisten Nordost" (VNNO) kamen über das Kleben von Propagandamaterial, überwiegend in Lichtenberg und Pankow, nicht hinaus. Die "Nationalen Aktivisten Prenzlauer Berg" (NAPB) und die "Kameradschaft Phönix" scheinen nur noch aus Einzelaktivisten zu bestehen, die einen Fortbestand der Gruppe suggerieren wollen. Auch die NPD-Jugendorganisation, die JN, trat nach ihrer Neugründung durch Kameradschaftsaktivisten 200575 im vergangenen Jahr lediglich mit einigen Demonstrationstransparenten in Erscheinung. Rückgang demonstrativer Aktionen Mit der Umstrukturierung des Kameradschaftsnetzwerks ging ein Nachlassen demonstrativer Aktivitäten und eine Zunahme gewalttätiger Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner einher. Die Zahl der Demonstrationen sank deutlich; andere öffentlichkeitswirksame Aktionen wie Flugblattverteilungen oder Mahnwachen wurden 2006 überhaupt nicht durchgeführt. Die größte Berliner Demonstration, die 2006 von Aktivisten des Kameradschaftsnetzwerks organisiert wurde, verlief am 19. August unter dem Motto "Meinungsfreiheit für alle - Gesinnungsjustiz stoppen" vom Alexanderplatz durch den Prenzlauer Berg. Anlass war der alljährlich von Rechtsextremisten begangene Todestag von Rudolf Hess. Rund um diesen Tag wurden bundesweit zahlreiche Aufzüge durchgeführt. Mit ca. 230 Teilnehmern fand in Berlin die größte derartige Veranstaltung statt, dennoch wurde die Teilnehmerzahl des Vorjahres nicht erreicht (2005: ca. 550 Teilnehmer). Weitere Propagandaaktionen zu Ehren des von den Nationalsozialisten als Märtyrer verehrten SA-Mannes, wie die so genannten "Horst Wessel-Wochen", fielen weitgehend aus. Ein Grund hierfür könnte die Gesetzesverschärfung des 75 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 64. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 39 SS 130 StGB gewesen sein, der nun auch die öffentliche Verehrung von NS-Funktionären unter Strafe stellt. Im Gegensatz dazu zeigt die anlassbezogene MobilisierungsAnlassbezogene fähigkeit, dass das Personenpotenzial im KameradschaftsMobilisierungsfähigkeit netzwerk kaum zurückgegangen ist und die Kommunikationswege intakt geblieben sind. So stellten die Berliner Kameradschaftsaktivisten mit einem räumlich und optisch deutlich abgesetzten Block auf der NPD-Demonstration "Freiheit für Lunikoff und alle politischen Gefangenen der BRD" am 21. Oktober über 150 der ca. 750 Teilnehmer.76 Zunahme der Rechts-Links-Auseinandersetzungen Das bevorzugte Agitationsfeld der Aktivisten des Kameradschaftsnetzwerks - vor allem der autonomen Aktionsgemeinschaften - lag im Bereich der gezielten "Anti-Antifa"-Arbeit. Ihr zunehmend konfrontatives Auftreten führte zu einem starken Anstieg der polizeilich erfassten Gewalttaten. Es kam zu 48 Gewalttaten gegen politische Gegner gegenüber Mehr gewalttätige 20 im Vorjahr (PMK-rechts gegen links).77 Die AuseinanderAngriffe setzung mit der linksextremistischen "Antifa" konzentrierte sich auf einzelne Straßenzüge in den östlichen Stadtbezirken. Darüber hinaus wurden Polizeibeamte und dunkelhäutige Mitbürger gewalttätig angegriffen. Als ein Schwerpunkt der Auseinandersetzungen zwischen Schwerpunkt Rechtsund Linksextremisten hat sich der "Weitlingkiez" in "Weitlingkiez" Lichtenberg herausgebildet. Die besondere Symbolkraft der Weitlingstraße beruht auf früheren rechtsextremistischen Trefforten, die dort zu Beginn der 1990er Jahre entstanden waren. Rechtswie Linksextremisten reklamieren den Kiez als eigenes Territorium. Der jeweilige Anspruch manifestiert sich im Straßenbild in zahlreichen Grafittis und Aufklebern, die eine Drohbotschaft an den politischen Gegner darstellen. Von Juli bis September 2006 organisierten verschiedene Gruppierungen die Kampagne "Hol Dir den Kiez zurück. "Hol Dir den Kiez Lichtenberg gegen rechts". Während die Initiative zunächst zurück" 76 Vgl. S. 22 - 24. 77 Vgl. S. 9 - 10. 40 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 von einer linksextremistischen Gruppe ausging, unterstützten später überwiegend nicht-extremistische Gruppen diese Kiez-Kampagne. In ihrem Verlauf wurde auf rechtsextremistische Strukturen vor Ort aufmerksam gemacht. Am Rand der Abschlussveranstaltung wurde eine Gruppe von Rechtsextremisten polizeilich festgestellt, die T-Shirts mit der Aufschrift "Weitlingstrasse. No Go Area" trugen. "Silvio-Meier"Auch die jährliche "Silvio-Meier"-Gedenkdemonstration am Demonstration 25. November in Friedrichshain und Lichtenberg führte an Treffund Wohnorten von Rechtsextremisten vorbei.78 Im Vorfeld der Demonstration griff die Polizei zwei ANBAktivisten beim Anbringen von Aufklebern mit der provokanten Aufschrift "Kiez bleibt Kiez!! Geht nach Israel!!! Kameradschaft 'Silvio Meier'" auf. Unter dem Motto "Unser Kiez will keine Schläger!" führten die FKB eine Gegendemonstration mit ca. 70 Teilnehmern durch. Schwere Im Bereich der Weitlingstraße kam es zu überdurchschnittGewalttaten lich vielen, zum Teil schweren Gewalttaten.79 Am 19. Mai wurde ein Politiker der "Linkspartei.PDS" von Unbekannten am Nöldnerplatz niedergeschlagen und schwer verletzt. Am 26. November wurde ein 18-jähriger Mann am Bahnhof Lichtenberg von unbekannten Tätern mit einer Bierflasche gegen den Kopf geschlagen. Der Geschädigte war der Anmelder der Silvio-Meier-Demonstration des Vortages und ist Verordneter für die "Linkspartei.PDS" in der Bezirksverordnetenversammlung Lichtenberg. Darüber hinaus begingen Angehörige der autonomen Aktionsgemeinschaften auch in anderen Regionen zum Teil schwere Gewalttaten: Am 18. Juni wurde aus einer vierköpfigen Gruppe heraus ein fremdenfeindlicher Überfall auf eine sechsköpfige Personengruppe in Schönefeld (Brandenburg) verübt. Dabei wurden ausländerfeindliche Parolen skandiert und insgesamt vier Personen aus beiden Gruppen verletzt, 78 Vgl. S. 77. 79 Im "Weitlingkiez" wurden 2006 11 Gewalttaten PMK-rechts und 16 Gewalttaten PMK-links polizeilich bekannt. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 41 drei davon schwer. Ein 15-jähriger äthiopischer Staatsangehöriger erlitt erhebliche Kopfverletzungen. Gegen zwei Aktivisten wurde Haftbefehl erlassen. Am 25. Juni beschimpften zwei Aktivisten in der S-Bahn in Friedrichshain eine Person als "Affenmenschen" und prügelten auf ihn ein. Tatbegleitend riefen sie "Sieg Heil" und zeigten den Hitlergruß. Am 1. Januar 2007 wurde ein Aktivist von einem Polizeibeamten beobachtet, wie er mit einer Sprühdose ein Keltenund ein Hakenkreuz auf einem Verteilerkasten in Rudow anbrachte. Der Festnahme versuchte er sich mit Schlägen zu widersetzen und beleidigte den Beamten mit volksverhetzenden Parolen. 1.3.2 Musiknetzwerk weiterhin handlungsfähig Neben dem Kameradschaftsnetzwerk existiert im aktionsorientierten Rechtsextremismus ein weiteres Netzwerk aus mehreren Gruppierungen, Musikbands und Einzelpersonen. Es besteht im Kern aus den rechtsextremistischen Berliner Bands Deutsch, Stolz, Treue ( D.S.T., auch X.x.X.), "Spreegeschwader", "Legion of Thor" (LoT) und "Die Lunikoff-Verschwörung", den neonazistischen Personenzusammenschlüssen "Vandalen - Ariogermanische Kampfgemeinschaft ( Vandalen), Lichtenberg 35, Kameradschaft Spreewacht ( KSW) und Hammerskins ( HS). Ziel dieses Musiknetzwerks ist - neben der Verfolgung kommerzieller Interessen - der Ideologietransport über das MeIdeologietransport dium Musik. Dies geschieht durch die Organisation von durch Musik Veranstaltungen und Konzerten sowie die Veröffentlichung und den Vertrieb von Tonträgern. Insbesondere Konzerte sind als Gemeinschaftserlebnisse geeignet, Jugendliche an den Rechtsextremismus heranzuführen. Zuletzt war das Musiknetzwerk in Berlin zwar nur wenig aktiv, erwies sich aber dennoch als handlungsfähig.80 80 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 35 - 39. 42 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Geringe Aktivitäten Die einzige öffentlichkeitswirksame Aktivität unter Beteili"Lunikoff"gung des Musiknetzwerks war die Solidaritätsdemonstration Demonstration für den inhaftierten ehemaligen Sänger der Band "Landser" am 21. Oktober.81 Die Demonstration wurde nicht von den Angehörigen des Musiknetzwerks, sondern von der Berliner NPD organisiert. Somit konnte die NPD die größte rechtsextremistische Demonstration des Jahres in Berlin als eigenen Mobilisierungserfolg verbuchen.82 Die hohe Teilnehmerzahl von ca. 750 Personen zeigt die Wertschätzung, die der Inhaftierte unter den Rechtsextremisten weiterhin genießt. Ein NPD-Bundesvorstandsmitglied behauptete als Redner auf dieser Demonstration, der ehemalige Landser-Sänger "Lunikoff" habe "der deutschen Jugend, der Widerstandsbewegung, ihre Hymnen gegeben". Unzählige Jugendliche hätten über die Musik den Weg in die "nationale Bewegung" gefunden. Die Band "Landser" genoss unter jugendlichen Rechtsextremisten aufgrund ihrer brutalen Texte83 Kultstatus. "Vandalen"-Feier Am Abend des selben Tages wurde die Jahresfeier der "Vandalen" mit ca. 120 Teilnehmern durchgeführt. Organisation und Einladung erfolgten äußerst konspirativ. Die "Vandalen" wichen erstmals in das Umland aus, da ihre Feiern in Berlin in den letzten Jahren von der Polizei aufgelöst worden waren. 2005 war diese identitätsstiftende Veranstaltung - wie auch die Jahresfeier der "Hammerskins" - ganz ausgefallen. Weitere Tonträger-Veröffentlichungen Ungeachtet der wenigen öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten setzten die rechtsextremistischen Bands ihre ideolo81 Im Dezember 2003 wurden die Mitglieder der Band "Landser" vom Berliner Kammergericht wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung nach SS 129 StGB verurteilt. Der Anführer wurde zu drei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt. Seine Revision wurde im März 2005 durch den Bundesgerichtshof im Wesentlichen zurückgewiesen. 82 Vgl. S. 22 - 24. 83 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Antisemitismus im extremistischen Spektrum Berlins. Berlin 2006, S. 16. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 43 gische Agitation weiter fort und legten im vergangenen Jahr Ideologische drei Tonträger auf. Damit blieb die Anzahl der TonträgerAgitation Veröffentlichungen unter dem Mittel der Vorjahre.84 Die Berliner Band LoT publizierte eine neue CD mit dem Titel "Amen". Auf ihrer aktuellen CD bevorzugt die Band in Anlehnung an völkisch-germanische Ideologien mythologische Texte. Offen rechtsextremistische und nationalsozialistische Propaganda werden zurückgestellt. Bei den beiden weiteren Veröffentlichungen handelt es sich um die Wiederverwertung von altem Material. Die "Die Lunikoff-Verschwörung" brachte ihre CD "Niemals auf Knien" als Schallplatte heraus. Die Band "Schwarzer Orden", deren Name eine Anspielung auf die SS darstellt, fasste zwei alte CDs zu einer Doppel-CD zusammen ("Revolution" und "Mein Glaube heißt Treue"). In ihren Texten bezieht sich die Band positiv auf den Nationalsozialismus. Beispielsweise soll das Lied "Mein Glaube heißt Treue" Assoziationen zur SS-Losung "Meine Ehre heißt Treue" wecken. In ihren Texten vermeidet die Band strafrechtlich relevante Formulierungen. Stattdessen verwendet sie Anspielungen wie etwa "Erlöser", die in dem Kontext an Adolf Hitler denken lassen soll. Im Juli wurde erneut eine CD einer Berliner Band von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) indiziert.85 Es handelt sich um die im Dezember 2005 erschienene CD "Die Antwort aufs System" der Gruppe "X.x.X." (vormals "Deutsch, Stolz, Treue" / D.S.T.).86 In den Texten wird der Nationalsozialismus verherrlicht: 84 Vgl. S. 189. 85 Vgl. Banz. Nr. 140 vom 28.7.2006. 86 Im März 2007 veröffentlichte D.S.T. zusammen mit einer rechtsextremistischen Band aus Brandenburg eine weitere CD mit dem Titel "Gift für die Ohren". In einem Lied wird öffentlich zu Straftaten aufgerufen, weshalb gegen diese CD auf Antrag der Staatsanwaltschaft Berlin vom Amtsgericht ein Beschlagnahmebeschluss erlassen wurde. 44 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 "So aus Deutschem Geist, wuchs vom Führer geschweißt Die Partei, die Partei, die Partei!"87 Auch antisemitische Texte sind darauf enthalten: "Die Auserwählten Euer Ende naht Die Auserwählten Bald kommt der Jüngste Tag Die Auserwählten Goyim [Nicht-Juden] stehen bereit Die Auserwählten Wir beenden auf ewig eure Zeit" 88 Die Staatsanwaltschaft Berlin erwirkte einen allgemeinen BeschlagnahmeBeschlagnahmebeschluss wegen Volksverhetzung (SS 130 beschluss wegen Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 4 StGB).89 Die Polizei durchsuchte am Volksverhetzung 14. Februar 2007 in mehreren Bundesländern Wohnungen und Geschäftsräume von Bandmitgliedern und anderen an der Produktion beteiligten Personen. Es konnten etwa 1 100 CDs beschlagnahmt werden. In einem CD-Presswerk in Olpe (Nordrhein-Westfalen) wurden Unterlagen sichergestellt, die eine Auflagenhöhe von 5 000 Stück belegen. Bei einem CDHändler in Mecklenburg-Vorpommern wurde neben strafrechtlich relevanten T-Shirts mit SS-Totenkopf auch eine "scharfe" Pumpgun aufgefunden. Konzertauftritte zumeist außerhalb Berlins Die gleichbleibende Zahl der Tonträger-Veröffentlichungen und die Konzertauftritte der Berliner Bands belegen die Handlungsfähigkeit des Musiknetzwerks. Im Laufe der letzten Jahre hat sich der rechtsextremistische Konzertbetrieb aufgrund des Verfolgungsdrucks der Sicherheitsbehörden aus Berlin heraus verlagert. Die Berliner Bands traten vorrangig in anderen Bundesländern sowie im Ausland auf. Konspiratives Allerdings gelang den Gruppen LoT und D.S.T. (X.x.X.), Konzert in Berlin auch ein Auftritt in Berlin. Laut einem nachträglich veröffentlichten Beitrag in einem Internetforum traten diese Bands am 6. Mai auf einem konspirativ durchgeführten Konzert zusammen mit einer weiteren rechtsextremistischen Band im Ortsteil Wedding auf. Aufgrund ihrer gewalt87 X.x.X.: Die Antwort aufs System. 2005. 88 Ebenda. 89 Amtsgericht Tiergarten, Az.: AG 349 Gs 3807/06. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 45 verherrlichenden Texte gehörte D.S.T. (X.x.X.) bis zu ihrer zeitweiligen Inaktivität nach polizeilichen Exekutivmaßnahmen 200290 zu den populärsten rechtsextremistischen Musikgruppen. Besonders die Konzertauftritte fanden Anklang. Aktuelle Äußerungen von Konzertbesuchern lassen darauf schließen, dass die Band weiterhin großes Ansehen genießt: "Letzte Band und der eigentliche Höhepunkt des Abends ---> XXX Die Bude hat gerockt, gespielt wurden fast alle Lieder [...] von ihrer Debütscheibe [die aktuelle CD] "Antwort aufs System" und es war der Wahnsinn, noch nie solch geile Atmosphäre gehabt! [...] Fazit der Bühnenshow, ihre 12 Lieder vom Album wirken Live noch besser als auf der Scheibe!"91 Der ideologische Standort der Band wird nicht nur durch Ideologischer ihre Texte deutlich. D.S.T. vertreibt seit Anfang des Jahres Standort im Internet eine T-Shirt-Kollektion, die in Anlehnung an ein antisemitisches Lied ihres Tonträgers "Ave et victoria" ("Heil und Sieg") mit der Aufschrift "Deutsch - Stolz - Treue. Weiße Macht" sowie auf der Rückseite "Eure Galgen werden schon gezimmert..." bedruckt sind. Zwei weitere rechtsextremistische Konzerte waren in Berlin Konzerte verhindert geplant, wurden jedoch von der Polizei verhindert. Eine für den 4. März angesetzte Musikveranstaltung der Band "Spree90 2002 wurde der Tonträger "Ave et victoria" von der Polizei beschlagnahmt. Eine Anklage wegen Volksverhetzung ist 2007 erhoben worden. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2002. Berlin 2003, S. 22. 91 Beitrag in einem rechtsextremistischen Internetforum, Aufruf vom 19.5.2006. 46 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 geschwader" in einer als rechtsextremistischer Treffort bekannten Gaststätte wurde polizeilich verboten. Es bestand die dringende Gefahr, dass es zu Straftaten (vor allem zu Volksverhetzungen und Propagandadelikten) kommen würde. Ein weiteres, von der "Kameradschaft Spreewacht" gemeinsam mit LoT und "Spreegeschwader" organisiertes Konzert wurde von der Polizei am 8. April im Laufe der Veranstaltung aufgelöst.92 Anders als in Berlin gelang es rechtsextremistischen Bands bei Auftritten im Ausland, Maßnahmen von Sicherheitsbehörden zu umgehen oder erfolgreich dagegen Rechtsmittel einzulegen. Am 9. September untersagten Schweizer Behörden anlässlich eines rechtsextremistischen Konzerts die Einreise deutscher Musiker. Wie "Spreegeschwader" auf seiner Homepage mitteilt, gelang es jedoch Bandmitgliedern ebenso wie LoT, auf Umwegen zum Veranstaltungsort zu gelangen und aufzutreten. "Spreegeschwader" konnte am 9. DeAuftritte im zember in Ungarn an einem Konzert des in Deutschland Ausland verbotenen Skinhead-Vereins "Blood & Honour" (B & H) teilnehmen, nachdem das Verwaltungsgericht Berlin die Ausreisebeschränkung aufgehoben hatte. Dabei spielte das Motto dieser B & H-Veranstaltung, "White Christmas", weniger auf ein schneebedecktes Weihnachten als auf die rassistische Ideologie einer Vorherrschaft der "weißen Rasse" an. Besucherzahl Die durchschnittliche Besucherzahl bei rechtsextremistirückläufig schen Konzerten ist aufgrund des Repressionsdrucks der Polizei bundesweit seit Jahren tendenziell rückläufig und liegt derzeit bei ca. 135 Personen (2005: ca. 160 Personen). Konspirative Vorbereitung und Probleme bei der Anmietung geeigneter Räumlichkeiten erschweren Großveranstaltungen. 92 Im Mai wurde der geplante Auftritt einer finnischen NS-Black-MetalBand in einem Berliner Club vom Veranstalter im Vorfeld abgesagt, nachdem in den Medien berichtet worden war, dass die Texte der Gruppe eindeutig rechtsextremistisches Gedankengut beinhalten. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 47 1.4 Diskursorientierter Rechtsextremismus 1.4.1 Fortgesetzte Holocaustleugnung Ein wesentlicher Bestandteil der revisionistischen Agitation ist die Leugnung des Holocaust. In Folge dessen wurden 2006 mehrere Prozesse gegen führende Köpfe dieses rechtsextremistische Spektrums sowohl weitergeführt als auch neu begonnen. Die Berliner Rechtsextremisten verfolgten vor allem den Prozess gegen Ernst Zündel in Mannheim, während einige von ihnen in Berlin und Bernau selbst vor Gericht standen. Ihre Verfahren waren ebenso wie das ZündelVerfahren Teil einer von Horst Mahler und dem "Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten ( VRBHV) angestrengten Kampagne gegen Kampagne gegen die "Offenkundigkeit des Holocaust". Darüber hinaus griffen "Offenkundigkeit der Holocaust" diskursorientierte Rechtsextremisten die Holocaust-leugnenden Äußerungen des iranischen Präsidenten Mahmud Achmadinedschad auf. 1.4.1.1 "Feldzug gegen die Offenkundigkeit des Holocaust" Verfahren in Mannheim und Wien Das Mannheimer Landgericht verhandelte gegen die prominenten Revisionisten Ernst Zündel, Germar Rudolf, und Siegfried Verbeke wegen Volksverhetzung (SS 130 StGB), das Oberlandesgericht Wien gegen David Irving. Der Prozess gegen Ernst Zündel wurde am 19. Juni unter bundesweiter Beachtung eröffnet, nachdem dieser 2005 von Kanada nach Deutschland ausgeliefert worden war.93 Horst Mahler und sein VRBHV hatten beabsichtigt, das Gerichtsverfahren zum Höhepunkt des andauernden "Feldzugs" zu machen. Dies gelang jedoch aufgrund der öffentlichen Reaktionen sowie des eindeutigen Ergebnisses nicht. 93 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 66 - 68. 48 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Mahler bestreitet die historische Tatsache des Holocaust und Holocaust-Leugnung behauptet, der Holocaust sei von den Alliierten unter jüdischem Einfluss erfunden worden, um das deutsche Volk in Abhängigkeit zu halten: "Die Holocaustreligion ist Seelenmord am deutschen Volk. Wir nehmen dieses Verbrechen an uns, unseren Kindern und Kindeskindern nicht länger hin! [...] Das Deutsche Reich hatte zu keinem Zeitpunkt die Gelegenheit, sich gegen den ungeheuerlichen Vorwurf des industriellen Mordes an sechs Millionen Juden, für den es keine objektiven Beweise gibt, zu verteidigen." 94 Das politische System der Bundesrepublik könne nur gestürzt werden, wenn der Holocaust als dessen angebliches Fundament widerlegt wird und das deutsche Volk einen "Aufstand für die "Aufstand für die Wahrheit" probt.95 Nach Ansicht Horst Wahrheit" Mahlers und seiner Anhänger sei die Bundesrepublik illegitim errichtet worden, weshalb das Deutsche Reich weiter bestehe. Demnach zielte die Verteidigungsstrategie im Zündel-Prozess darauf ab, der bundesrepublikanischen Gerichtsbarkeit die Legitimität abzusprechen: "Ich stehe hier im Namen des Deutschen Reiches und Sie, [der Vorsitzender Richter], verkörpern hier die Fremdherrschaft. Sie treten in die Fußstapfen der Henkersknechte."96 Im Verlauf des Verfahrens kam es zu aufsehenerregenden Umstrittene Auseinandersetzungen um die Verteidigung. Horst Mahler "Verteidigungshatte die Prozess-Strategie entwickelt und wurde, da ihm strategie" selbst die Anwaltszulassung im Zuge seines Verfahrens wegen Holocaustleugnung aberkannt worden war, von der Pflichtverteidigerin als Assistent benannt. Der Vorsitzende Richter akzeptierte dies nicht und verbannte Mahler auf die Zuschauerränge. Wenig später kam es zu einem weiteren Eklat, der mit dem Ausschluss der inzwischen als Wahl94 Vgl. Horst Mahler: Aufstand für die Wahrheit. Internetauftritt des VRBHV, Aufruf am 22.8.2006. 95 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 67. 96 Sylvia Stolz zitiert nach Hans Holzhaider: Fräulein Stolz unterzeichnet mit "Heil Hitler". In: "Süddeutsche Zeitung" vom 25.10.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 49 verteidigerin fungierenden Anwältin und ihrer Entfernung aus dem Gerichtssaal endete. Für den Fall einer Verurteilung hatte sie den beiden Schöffen die Todesstrafe wegen "Volksverleumdung und Feindbegünstigung" angedroht und sich möglicherweise selbst der Volksverhetzung strafbar gemacht, weil auch sie den Holocaust in Zweifel gezogen hatte. Die weitere Verteidigung übernahmen u. a. zwei rechtsextremistische Szeneanwälte. Ernst Zündel wurde am 15. FeVerurteilung bruar 2007 zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verZündels urteilt.97 Gegen das Urteil legte er Revision ein. Die übrigen Verfahren, die nicht Teil des "Feldzugs" des VRBHV waren, verliefen vergleichsweise reibungslos. Germar Rudolf und Siegfried Verbeke wurden am 30. März wegen Volksverhetzung, Beleidigung und der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener angeklagt (SSSS 130, 185 und 189 StGB). Das Verfahren gegen Verbeke wurde zwiVerbeke, schenzeitlich abgetrennt. Er wurde gegen Kaution und AufRudolf, Irving lagen frei gelassen. Germar Rudolf wurde zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Der in Österreich wegen NS-Wiederbetätigung im November 2005 zu drei Jahren Haft verurteilte David Irving wurde im Berufungsverfahren vor dem Oberlandesgericht Wien am 20. Dezember nach 13 Monaten aus der Haft entlassen und die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt. David Irving hatte sich während des Prozesses in Österreich vorgeblich von seinen revisionistischen Thesen distanziert; seit seiner Haftentlassung hat er sich nicht mehr publizistisch betätigt. Verfahren in Bernau und Berlin Auch gegen Berliner Anhänger Horst Mahlers wurden 2006 Volksverhetzungsprozesse durchgeführt. Sie hatten versucht, im Rahmen des "Feldzugs" durch bewusstes und offenes Leugnen des Holocaust sowie durch Selbstanzeigen Volksverhetzungs-Prozesse zu provozieren, um im Zuge der Gerichtsverfahren - unter großem medialen Interesse - die historische Tatsache des Holocaust zu widerlegen. Zu diesem Zweck hatten die Angeklagten u. a. in Bernau am 10. Mai 97 Vgl. Landgericht Mannheim, Az.: LG 6 KLs 503 Js 4/96. 50 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 2004 vor einem Gymnasium holocaustleugnende Schriften verteilt. Allerdings scheiterte auch dieser Versuch der InInstrumentalisierung strumentalisierung der Prozesse vollständig. Die Verfahren scheitert fanden weder eine öffentliche noch eine szeneinterne Aufmerksamkeit und endeten mit Geldstrafen für die Angeklagten. Die Wirklichkeitsferne, mit der die Beschuldigten ihren "Feldzug" in einen historischen Gesamtzusammenhang stellten, zeigt sich an einer im Internet veröffentlichte Presseerklärung eines Angeklagten: "Mir war es leider nicht vergönnt, unter Adolf Hitler zu wirken. Mir ist es aber vergönnt, an dem von Horst Mahler initiierten Aufstand für die Wahrheit teilnehmen zu dürfen."98 Die selbst gewählte Bezeichnung als "Berliner" bzw. "Ber"Auschwitznauer Auschwitzprozesse" sollte suggerieren, dass diese prozesse" Verfahren die Bedeutung des so genannten ersten Frankfurter Auschwitzprozesses (1963 - 1965), der einen historischen Meilenstein in der (strafprozessualen) Aufarbeitung des nationalsozialistischen Völkermordes an den Juden darstellte, erhalten und diesen im Ergebnis revidieren würde. Es lasse sich nun nachweisen, dass der Holocaust nicht stattgefunden hätte. Statt dessen wurde angesichts der fehlgeschlagenen Gesamtstrategie, die lediglich persönliche Opfer in Form von Verurteilungen nach sich zog, Kritik an Horst Mahler aus der Berliner Revisionistenszene laut. "Herr Mahler, einmal abgesehen von Frau Stolz [die Verteidigerin von Ernst Zündel], so wie einigen ganz wenigen Hilfsschülern, mit denen Sie sich umgeben, habe ich keinen gefunden, der Ihre juristische Vorgehensweise in Mannheim heute noch teilt."99 Auseinanderbrechen Es kam zu persönlichen Zerwürfnissen, die im Auseinanderrevisionistischer brechen der Berliner Gruppen um Horst Mahler gipfelten. Gruppen Horst Mahler selbst trat am 15. November eine neunmonatige Haftstrafe an, zu der er wegen Volksverhetzung am 12. Januar 2005 vom Berliner Landgericht verurteilt worden 98 Internetauftritt eines Prozessbeobachters, Aufruf am 20.12.2006. 99 Internetauftritt eines Prozessbeobachters, Aufruf am 14.9.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 51 war.100 Die weitere Existenz seiner zerstrittenen Berliner Gruppierung erscheint fraglich. 1.4.1.2 Aufgreifen der Holocaustleugnung des iranischen Präsidenten Achmadinedschad Die Bedeutung der Bemühungen um die Widerlegung des Holocaust für den diskursorientierten Rechtsextremismus zeigte sich auch an den Reaktionen auf die israelfeindlichen und holocaustleugnenden Äußerungen des iranischen Präsidenten Mahmud Achmadinedschad. Der iranische Präsident hatte u. a. in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin " Der Spiegel" unterstellt, dass der nationalsozialistische Völkermord an den Juden nicht statt gefunden habe; des Weiteren stellte er das Existenzrecht Israels in Frage. 101 Zahlreiche Rechtsextremisten nahmen die Aussagen Achmadinedschads auf und kommentierten sie zustimmend.102 Die rechtsextremistische Monatszeitschrift "Nation & Europa () erhoffte sich von einer Widerlegung des Holocaust die Auslösung Deutschlands aus einer angeblichen "immerwährenden Schuldknechtschaft" und die Abkehr von einer "Schuldknechtangeblichen jüdisch dominierten Weltordnung: schaft" "Die von Washington und Tel Aviv mit Meinungsterror und militärischer Gewalt am Leben erhaltenen Welt-Unterordnung sieht sich mit einem Mal [durch die Äußerungen Achmadinedschads] in die Schranken gefordert. Die 'One-World' hat plötzlich wieder Konkurrenz bekommen: die Vision einer alternativen, gerechteren und vor allem ehrlicheren Weltordnung."103 100 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 67. 101 Vgl. Wir sind entschlossen. Spiegel-Gespräch mit Achmadinedschad. In: "Der Spiegel" Nr. 22/2006 vom 29.5.2006, S. 22 - 28. 102 Vgl. S. 32 - 34. 103 Anton Vergeiner: Danke, Herr Präsident! In: "Nation & Europa" Nr. 7 - 8/2006 vom Juli - August 2006, S. 10. 52 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Dabei wird unterstellt, dass der Holocaust nicht wissenschaftlich frei untersucht werden dürfe. Eine historische Aufarbeitung werde angeblich von "den Juden" verhindert und der Holocaust aus finanziellen Gründen instrumentalisiert. "Die 'Holocaust-Industrie', so die deutsche Übersetzung des US-Bestsellers von Norman Finkelstein, gilt weltweit als einträgliches Geschäft, dem allerdings eine Achillesferse zugeschrieben wird: Es steht und fällt mit seiner Eingangsthese. Wer sie - auch nur frageweise - in Zweifel zieht, legt auf sehr direkte Weise die Axt an eine üppig austreibende Wurzel."104 Der "Kampfbund Deutscher Sozialisten" (KDS) begrüßte die Aussagen Achmadinedschads unter der Überschrift "Iranermund tut Wahrheit kund."105 Der KDS bot über seine Homepage T-Shirts mit dem Abbild des iranischen Staatspräsidenten und dem Schriftzug: "Mein Freund ist Ausländer" an. Holocaust-Konferenz in Teheran Die Anfang des Jahres angekündigte und am 11. / 12. Dezember durchgeführte Holocaust-Konferenz des iranischen "Instituts für internationale und politische Studien" (IPIS) in Teheran mit dem Titel "Review of the Holocaust: Global Vision" fand im rechtsextremistischen Spektrum vergleichsweise geringen Widerhall. Da die wichtigsten Vertreter des Weitgehend ohne prominente Revisionismus zumeist in Haft oder gegen Auflagen auf Holocaustgegner freiem Fuß sind, waren dort nur wenige prominente Holocaustleugner zugegen. Anwesend waren einige Mitglieder des VRBHV sowie der verurteilte, jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht inhaftierte französische Holocaustleugner Robert Faurisson und der deutschstämmige Leiter des revisionistischen "Adelaide104 Ebenda, S. 6. 105 Alexander Kurth: Kindermund tut Wahrheit kund! Internetauftritt des KDS, Aufruf am 16.3.2007. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - R E C H T S E X T R E M IS M US 53 Institut" (Australien), Frederick Thoben. Ein Teilnehmer aus Berlin hielt nach eigenen Angaben einen Vortrag. "Dekretierte Wahrheiten und Heiligtümer [der Holocaust] fordern, weil sie mit Unterdrückungen verbunden sind, dazu heraus, hinterfragt und gestürzt zu werden. Jeder Unterdrückte sieht zu, wie er bei der ersten passenden Gelegenheit seinen Unterdrücker los wird. Dabei kommt es oft zu sehr unschönen Szenen, gar zu Kriegen."106 Aufgrund der mangelnden Seriosität der Beiträge und des antizionistischen wie antisemitischen Hintergrunds dieser Antisemitischer Konferenz brachen im Nachgang rund 40 ForschungsinHintergrund stitute in Europa und Nordamerika ihre Kontakte zum veranstaltenden IPIS ab. Trotz solcher punktueller Zusammenarbeit bleibt die Bildung einer "Querfront" von deutschen Rechtsextremisten und Antizionisten bzw. Antisemiten aus anderen Ländern weiterhin unwahrscheinlich. Zu unterschiedlich sind die jeweiligen Motive der Judenfeindschaft.107 106 Internetauftritt eines Rechtsextremisten, Aufruf am 22.12.2006. 107 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Antisemitismus im extremistischen Spektrum Berlins. Berlin 2006, S. 44 ff. 54 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 2 LINKSEXTREMISMUS 2.1 Überblick Personenpotenzial Das linksextremistische Personenpotenzial hat sich mit leicht verringert ca. 2 230 Personen gegenüber dem Vorjahr leicht verringert (2005: ca. 2 330 Personen). Dieser Rückgang war insbesondere bei den gewaltbereiten aktionsorientierten Linksextremisten auf ca. 1 170 Personen (2005: ca. 1 250 Personen) und bei den linksextremistischen Parteien auf ca. 350 Personen (2005: ca. 370 Personen) zu verzeichnen. Konstant blieb dagegen die Zahl der nicht-gewaltbereiten Linksextremisten mit ca. 710 Personen (2005: ca. 710 Personen). Gesamtpotenzial linksextremistischer Personenzusammenschlüsse: ca. 2 230 1170 710 350 Gewaltbereite aktionsorientierte Linksextremisten Nicht-gewaltbereite Linksextremisten Linksextremistische Parteien und innerparteiliche Zusammenschlüsse Linksextremistische Der Rückgang bei den gewaltbereiten Linksextremisten dürfGruppen zerstritten te durch die Zerstrittenheit linksextremistischer Gruppen bedingt sein. 2006 waren diese kaum in der Lage, gemeinsame Aktivitäten zu entwickeln und umzusetzen. Neben den ideologischen Streitigkeiten scheint sich zudem ein Generationswandel innerhalb der linksextremistischen Szene zu vollziehen. Dieser verläuft nicht völlig konfliktfrei, was die gemeinsame Mobilisierungsfähigkeit einschränkt. Die Mitgliedschaft linksextremistischer Parteien ist zunehmend überaltert, Mitgliederverluste können nicht durch Neu- AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - L IN K S E X T R E M IS M US 55 eintritte ausgeglichen werden. Die geringe politische Bedeutung spiegelt sich auch in der Erfolglosigkeit bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen wider. Linksextremistisches Personenpotenzial* Berlin Bund 2005 2006 2005 2006 Gesamt 2 330 2 230 30 900 31 000 ./. Mehrfachmitgliedschaften 300 300 Tatsächliches 2 330 2 230 30 600 30 700 Personenpotenzial * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. Personenpotenziale einzelner Personenzusammenschlüsse Berlin Bund 2005 2006 2005 2006 Gewaltbereite aktionsorientierte 1 250 1 170 5 500 6 000 Linksextremisten, davon Autonome 1 060 980 Anarchisten 120 110 Antiimperialisten 70 80 Nicht-gewaltbereite 710 710 25 400 25 000 Linksextremisten, davon "Linksruck" 110 100 "Sozialistische Alternative 40 50 Voran" "Rote Hilfe e. V." 320 320 Sonstige 240 240 Linksextremistische Parteien und innerparteiliche 370 350 s. o. s. o. Zusammenschlüsse Die Anzahl der Straftaten im Bereich der "Politisch motiStraftaten auf vierten Kriminalität - links" blieb nahezu gleich. Es wurden unverändertem Niveau 729 Straftaten verübt (2005: 726 Straftaten). Auch das Ver- 56 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 hältnis von Gewaltzu sonstigen Straftaten änderte sich nicht. Die Gewaltstraftaten blieben mit 157 Taten auf dem Vorjahresniveau (2005: 156 Gewaltstraftaten). Wie schon 2005 stellten die Straftaten gegen den politischen Gegner den Schwerpunkt dar. Hier war insbesondere ein Anstieg von Sachbeschädigungen zu verzeichnen (2006: 129 Fälle; 2005: 85 Fälle). Straftaten mit dem Hintergrund der Proteste gegen die Sozialpolitik sind dagegen mit dem Abebben der Proteste stark zurückgegangen. Fallzahlen Politisch motivierte Kriminalität - links* 2005 2006 Terrorismus 5 9 davon u. a. gegen rechts Sozialpolitik 3 2 Walpurgisnacht / 1. Mai 1 Gewaltdelikte 156 157 davon u. a. gegen rechts 59 57 Sozialpolitik 25 5 Walpurgisnacht / 1. Mai 33 57 Propagandadelikte 4 2 davon u. a. gegen rechts 4 Sozialpolitik Walpurgisnacht / 1. Mai sonstige Delikte 561 561 davon u. a. gegen rechts 270 269 Sozialpolitik 91 65 Walpurgisnacht / 1. Mai 50 68 Gesamt 726 729 davon u. a. gegen rechts 333 326 Sozialpolitik 119 72 Walpurgisnacht / 1. Mai 83 126 * Auszug aus dem Bericht "Lagedarstellung der Politisch motivierten Kriminalität in Berlin für das Jahr 2006" des Landeskriminalamtes Berlin (LKA). Der vollständige Bericht ist im Internet unter www.berlin.de/sen/inneres/sicherheit/statistiken/ index.html eingestellt. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - L IN K S E X T R E M IS M US 57 Den Schwerpunkt linksextremistischer Aktivitäten nahmen die Vorbereitungen der Proteste gegen den G 8-Gipfel 2007 Kampagne gegen in Heiligendamm ein. Zwar stellten Linksextremisten nur G 8-Gipfel eine Minderheit der Gipfel-Gegner dar, dennoch gelang es ihnen, sich an der Kampagne gegen den G 8-Gipfel wirksam zu beteiligen. Anders als globalisierungskritische Organisationen begreifen sie den Protest gegen den Gipfel als Teil ihres Kampfes für eine revolutionäre Überwindung unseres Gesellschaftssystems. Die Militanz linksextremistischer Gipfelgegner wird durch eine seit Sommer 2005 anhaltende militante Kampagne gegen den G 8-Gipfel deutlich sichtbar. Inhaltlich waren linksextremistische Gruppierungen weiterhin zu den Themen Sozialabbau, Antiglobalisierung und Antifaschismus aktiv, konnten aber bei Demonstrationen das linksextremistische Personenpotenzial in der Regel nicht koordiniert und umfassend mobilisieren. Zentrale, jährlich wiederkehrende Ereignisse verliefen ruhig oder fielen aus. Auch die seit 2001 anhaltende Militanzdebatte fand 2006 wenig Resonanz. 2.2 Linksextremistische Protestaktionen gegen den G 8-Gipfel 2007 Der G 8-Gipfel, der vom 6. bis 8. Juni 2007 in Heiligendamm stattfinden wird, ist das zentrale Großereignis im Zentrales Ereignis Linksextremismus.108 Bereits seit Anfang 2005 bereiten sich G 8-Gipfel verschiedene Gruppen bundesweit auf den Gipfel vor. Das Spektrum der linksextremistischen Gipfelgegner reicht von trotzkistischen Gruppierungen wie "Linksruck" über antiimperialistische Gruppen wie das "Gegeninformationsbüro" bis zur militanten autonomen Szene mit Gruppen wie die "Antifaschistische Linke Berlin" (ALB). 108 Auch frühere Gipfeltreffen von WTO, IWF, Weltbank oder den G7 / G 8-Staaten (z. B. Seattle 1999, Genua 2001, Göteborg 2002 oder Gleneagles 2005) waren Anlass für Protestaktionen linksextremistischer Gruppierungen. 58 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 2.2.1 Zielsetzungen Im Gegensatz zu demokratischen globalisierungskritischen Organisationen, kirchlichen Gruppen oder Gewerkschaften geht es linksextremistischen Gruppen nicht um die ArtikuGipfel stören lierung von Kritik. Ihr Ziel ist es, den Gipfel zu delegitimieren und wirksam zu stören. Sie begreifen den Protest gegen den Gipfel als Teil ihres Kampfes für eine revolutionäre Überwindung unseres Gesellschaftssystems. So erklären linksextremistische Gruppen109 aus dem "Linksradikalen & Autonomen Bündnis Berlin" (LAB) zu ihrer Zielsetzung bezüglich der Gipfelproteste: "Unser Kampf richtet sich gegen die G 8 und das kapitalistische und imperialistische Weltsystem, für das sie stehen, und gegen das wir täglich und kontinuierlich vor Ort kämpfen müssen! Wir wollen keine andere, reformierte G 8, sondern treten für das Motto 'G 8 stoppen! Gipfel blockieren!' an. Unser Kampf ist aber auch eine Unterstützung der nationalen Befreiungsbewegungen, etwa in Kolumbien und Venezuela, in Nepal, in Palästina, Kurdistan und im Baskenland. Sicher wollen wir alle eine staatenlose Gesellschaft [...]" 110 Proteste Auch die bundesweit organisierte "Interventionistische Linradikalisieren ke" (IL), der neben einigen nichtextremistischen Gruppen und Einzelpersonen eine Vielzahl linksextremistischer Gruppen wie die ALB und "Für eine linke Strömung" (F.e.l.S.) angehören, hat das Ziel, die Proteste anlässlich des G 8-Gipfels zu radikalisieren. Dies sei ein notwendiger Schritt zur Überwindung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. In ihrer Gipfelzeitung heißt es unter dem Motto "Mit der G 8 kann es keinen Dialog geben": "In der Radikalisierung und Ausweitung all dieser Initiativen wird sich letztendlich auch die Frage nach einem Bruch mit dem 109 Es handelt sich um die Gruppen "Autonome Kommunisten" (AK), "Gruppe Arbeitermacht" (GAM), "Revolution", "Rote Aktion Berlin" (RAB) und "Stadtteilinitiative Neukölln-Nord" (SINN). 110 Erklärung "Imperialismus pur" vom 5.11.2005. Internetauftritt des "Anti-G 8-Bündnisses für eine revolutionäre Perspektive", Aufruf am 17.1.2007. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - L IN K S E X T R E M IS M US 59 klassenherrschaftlichen, patriarchalen, rassistischen und imperial(istisch)en System und die Eigentumsfrage neu stellen."111 "Für eine Linke, die in den offenen wie untergründigen sozialen Konflikten und in all ihren widersprüchlichen Verlaufsformen den Ansatzpunkt wie das Potenzial für jede Form revolutionärer Gesellschaftsveränderung sieht, wird es jedoch darauf ankommen, diesen Konflikten in und um Heiligendamm zum Ausdruck zu verhelfen. [...] Ob und inwieweit der G 8-Gipfel zum Bezugsoder gar zum Kristallisationspunkt der Klassenauseinandersetzungen hier zu Lande gemacht werden kann, ist auch ein Maßstab für die momentane tatsächliche sozialrevolutionäre Bedeutung der radikalen Linken."112 Ein weiteres Ziel, welches Linksextremisten mit den Gipfelprotesten verbinden, ist die Suche nach Bündnispartnern. Für Isolation sie stellt die Organisation der Proteste einen Ansatzpunkt überwinden dar, langfristig die Isolation innerhalb der Gesellschaft zu überwinden. Die Gipfelproteste sollen dazu dienen, neue Strukturen aufzubauen und neue Personen zu gewinnen. Mittlerweile haben sich drei bundesweite Bündnisse gebildet: "Dissent!", die "Interventionistische Linke" (IL) und das "Revolutionäre G 8-Bündnis", das inzwischen in "Anti-G 8- Bündnis für eine revolutionäre Perspektive" umbenannt worden ist. Zur Zielsetzung heißt es in einem Papier aus dem Berliner "Dissent!"-Spektrum: "Die Hoffnung ist, dass die Kampagne Effekte für eine aktionsfähige Linke in Deutschland zeigt, die also nicht nur auf den Sommer 2007 beschränkt sind, sondern darüber hinaus wirksam bleiben."113 Eine weitere Berliner Gruppe aus dem "Dissent!"-Spektrum erklärt, dass die überregionale Mobilisierung die Chance bergen könnte, 111 Herrschaft keine Ruhe gönnen. In: "G8-XTRA - Zeitung für eine 'Interventionistische Linke'" Nr. 3/2007, S. 1. 112 Ebenda, S. 2. 113 G 8-KO zu G 8 2005, 2006 und 2007. In: Dissent! (Hg.): Einblicke in das Innenleben einer Mobilisierung - Reflexionen und Diskussionen aus dem DISSENT!-Spektrum. Berlin Juli 2006, S. 7. 60 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 "dass ein Grossteil der überregionalen radikalen Linken zuNeue überregionale sammenkommt und auch über den Gipfel hinaus ZusammenStrukturen bilden arbeit, bzw. eine darüber hinausreichende Struktur schafft."114 Am deutlichsten äußert sich diesbezüglich das "Anti-G 8- Bündnis für eine revolutionäre Perspektive": Revolutionäre "Wir wollen die Mobilisierung gegen die G 8 in der Situation Bewegung stärken einer aktuellen Zuspitzung der Widersprüche nutzen, um den Abwehrkampf gegen den laufenden Angriff im Inneren wie auf globaler Ebene mit dem Kampf für eine befreite Gesellschaftsordnung zu verbinden. [...] Wir gehen davon aus, dass der G 8-Gipfel gerade in der aktuellen Situation eine wichtige Gelegenheit für die revolutionäre, klassenkämpferische und internationalistische Linke bietet. Eine erfolgreiche Mobilisierung könnte der Startpunkt für eine wieder stärker werdende Revolutionäre Bewegung und Organisierung in der BRD sein."115 Die Bündnisse "Dissent!" und IL haben die Aktivitäten maßgeblich bestimmt. An beiden Bündnissen sind federführend linksextremistische autonome Gruppen aus Berlin beteiligt. Unterschiedliche Inhaltlich unterscheiden sie sich in der Frage, wie der Protest Protestansätze organisiert werden soll. So ist die IL bestrebt, ein möglichst breites Bündnis zu organisieren, um ein großes Protestpotenzial mobilisieren zu können. Neben linksextremistischen Gruppen wie "Linksruck", ALB und F.e.l.S. sind in der IL auch zahlreiche nichtextremistische Organisationen aktiv. "Dissent!" hingegen setzt sich fast ausschließlich aus linksextremistischen Gruppierungen zusammen und erklärt zur politischen Ausrichtung: "Dissent! ist offen für alle, die auf der Grundlage der PGAHallmarks, der Grundsätze von People Global Action aktiv werden wollen. Diese sind: 114 Ebenda, S. 8. 115 Anti-G 8-Bündnis für eine revolutionäre Perspektive: Stop G 8. Kapitalismus. Imperialismus. Krieg. Internetauftritt des "Gegeninformationsbüros", Aufruf am 19.12.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - L IN K S E X T R E M IS M US 61 1. Eine klare Ablehnung von Kapitalismus, Imperialismus und Feudalismus; und aller Handelsabkommen, Institutionen und Regierungen, die die zerstörerische Globalisierung vorantreiben. 2. Wir lehnen alle Formen und Systeme von Herrschaft und Diskriminierung ab [...]." 116 Die in "Dissent!" organisierten Gruppen halten den Ansatz der IL eher für schädlich. Systemüberwindende Positionen könnten bei einem breiten Protestansatz nicht mehr richtig vermittelt werden. Einige linksextremistische Gruppen sind aber in beiden Bündnissen vertreten. Das kleinere und ausschließlich aus antiimperialistischen Gruppen bestehende "Anti-G 8-Bündnis für eine revolutionäre Perspektive" formuliert das Ziel der Gesellschaftsüberwindung am deutlichsten. In ihm sind u. a. die Berliner Gruppen "Autonome Kommunisten", "Gegeninformationsbüro" und "Rote Aktion Berlin" aktiv. 2.2.2 Bereitschaft zur Militanz Militanz als legitime Protestform Trotz dieser unterschiedlichen Ausrichtungen ist es Ziel aller drei Bündnisse, den Gipfel maßgeblich zu stören. So heißt es in der von der IL herausgegeben Gipfel-Zeitung "G8Xtra": "Und zweitens dürfen die Blockaden selbst gerade nicht symNicht nur bolisch sein, sondern müssen den ernsthaften und entsymbolische schlossenen Versuch darstellen, den G 8-Gipfel von seiner Aktionsformen Infrastruktur abzuschneiden."117 In einem von "Dissent!" herausgegebenen Reader erklärt die Berliner autonome Gruppe "Autopool": "Auch wenn uns das Ziel 'Gipfel verhindern' bei gegenwärtigen Kräfteverhältnissen eine etwas zu markige Pose zu sein scheint, halten wir Begrifflichkeiten wie 'stören', 'blockieren', 'aufmischen' und 'präsent bzw. unberechenbar sein' für schon 116 Was ist eigentlich dissent! Internetauftritt von "Dissent!", Aufruf am 6.9.2006. 117 Mobilisierung des Gemeinsamen. In: "G8Xtra - Zeitung für eine 'Interventionistische Linke'" Nr. 2/2007, S. 1. 62 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 passender. Um politisch deutlich zu machen, dass wir den Kapitalismus mit all seinen Institutionen für nicht reformierbar halten, halten wir auch den Ausdruck 'Gipfel angreifen' durchaus für brauchbar."118 Auch an den sonstigen Parolen der linksextremistischen G 8- Mobilisierung wird die Bereitschaft zur Militanz deutlich. So heißt es von der Gruppe "Libertad!": "G 8 - rammen und versenken".119 Weiter fordert "Libertad!" ein produktives Chaos und einen Widerstand, der auf Befreiung zielt. Vor dem Hintergrund der umfassenden Sicherheitsmaßnahmen in Heiligendamm riefen Linksextremisten bereits 2006 dazu auf, Aktivitäten an anderen Orten zu entfalten. Zu Aktionsziele einer zum Gipfel herausgegebenen "Aktionskarte" - die auch in Berlin zahlreiche Aktionsziele auch in Berlin auflistet - heißt es: "Die G 8-Aktionskarte ist eine Idee der Aktionen-AG in der G 8- Mobilisierung. Damit verbunden war und ist die Hoffnung, dass es zu mehr kommt als zu den klassischen Formen des politischen Protestes in Deutschland, den großen und einheitsorientierten Demos, Gegenkonferenzen und Massenblockaden."120 In den Äußerungen wird klar, dass die Autoren mehr wollen Unfriedliche als normale Demonstrationen und Blockaden. Die Gruppe Aktionen "PAULA" spricht davon, dass man den Herrschenden etwas entgegen schleudern wolle. Durch die Ablehnung der Legalität wird deutlich, dass es sich hierbei nicht um friedliche Aktionsformen handeln kann: "Wir lassen uns in unseren Aktionen nicht auf Formen festlegen, die ein Bekenntnis zur Legalität einfordern - was nichts anderes heißt, als dass wir dazu genötigt werden sollen die herrschende Ordnung anzuerkennen. Wir wollen nicht, dass unsere Aktionen die Unterwerfung unter eine Ordnung symbolisieren, die täglich tausende Menschen um die Ecke bringt. Vielmehr werden wir all denen, die für dieses organisierte 118 Ebenda, S. 12. 119 Libertad!: Folterwelten. Militarisierung - Repression - Weltwirtschaft: Kampagnenvorschlag G 8 / 2007. In: ebenda, S. 58 - 64. 120 Aktionen-AG der G 8-Mobilisierung: Aktionskarte. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - L IN K S E X T R E M IS M US 63 Verbrechen verantwortlich sind ein entschiedenes NEIN und so manches andere mehr entgegen schleudern."121 Ein weiterer Beleg dafür befindet sich im "Dissent!"-Reader für den G 8-Gipfel. Dort sind Nachbetrachtungen zu Protesten anlässlich früherer Gipfel-Treffen als Diskussionsgrundlage abgedruckt. Es heißt dort u. a.: "Zu unseren Aktionsformen gehört auch die Anwendung politischer Gewalt. Sie ist für uns ein notwendiges, aber nicht hinreichendes Mittel im politischen Kampf. Solange die revolutionären Kräfte schwach sind, ist politische Gewalt ein symbolisches Mittel der Propaganda und kann keine Machtfrage stellen. Sie ist kein Selbstzweck, sondern taktisches Mittel. [...] Die Anwendung politischer Gewalt bedeutet daher die ÜberAnwendung nahme einer hohen Verantwortung für sich selbst wie für andevon Gewalt re. Sie darf nie terroristisch, d. h. gegen Unbeteiligte gerichtet sein. Unbeteiligte sind für uns aber nicht diejenigen, die das Herrschaftssystem gewaltsam verteidigen, als Polizisten, Politiker oder Militärangehörige; ebensowenig diejenigen, die die Herrschaftsstrukturen noch verschärfen wollen, als Faschisten, Rassisten, Sexisten; und letztlich auch nicht die 'oberen Zehntausend', die Menschheit und Natur in ihrem Privatbesitz wähnen."122 Militante Kampagne Deutlich sichtbar wird bereits jetzt die Militanz linksextremistischer Gipfelgegner durch eine seit Sommer 2005 anhaltende militante Kampagne gegen den G 8-Gipfel. Ausgangspunkt der Kampagne war ein Brandanschlag auf den Privat-PKW des Vorstandsvorsitzenden der Norddeutschen Affinerie AG in Hollenstedt (Niedersachsen) Ende Juli 2005. In der zur Tat veröffentlichten Selbstbezichtigung schlugen die Täter, "eine breite, auch militante Kampagne zum G 8- Gipfel 2007 in Heiligendamm" vor.123 Man wolle die Zeit bis zum Gipfel nutzen, zu diskutieren, "wo und wie wir Struk121 PAULA: Aufruf zu dezentralen Blockaden. Internetauftritt von "Dissent!", Aufruf am 22.1.2007. 122 G 8-KO zu G 8 2005, 2006 und 2007. In: Dissent! (Hg.): Einblicke in das Innenleben einer Mobilisierung - Reflexionen und Diskussionen aus dem DISSENT!-Spektrum. Berlin Juli 2006, S. 7. 123 Selbstbezichtigungsschreiben. In: "INTERIM" Nr. 622 vom 15.9.2005, S. 15 - 20. 64 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 turen kapitalistischer Ausbeutung und imperialistischer Unterdrückung angreifen können und müssen."124 Zahlreiche Bis Ende 2006 wurden bundesweit vierzehn Brandanschläge Brandanschläge mit dem Begründungszusammenhang des G 8-Gipfels begangen. Vier dieser Brandanschläge wurden in Berlin und im unmittelbaren Umland durchgeführt, die restlichen im norddeutschen Raum. Bis Ende 2006 waren darüber hinaus bundesweit über 20 Sachbeschädigungen mit G 8-Hintergrund zu verzeichnen. In Berlin wurde u. a. das Gebäude des Landesverbands der "Arbeiterwohlfahrt" (AWO) mit Farbflaschen beworfen; begründet wurde der Anschlag in der Selbstbezichtigung mit einer "rassistischen Flüchtlingspolitik" des Verbandes. Die Flüchtlingspolitik solle in den Fokus der Proteste gegen den G 8-Gipfel genommen werden. Auch 2007 hat es schon Brandanschläge und Sachbeschädigungen gegeben.125 2.2.3 Ausblick Für den Zeitraum um den G 8-Gipfel sind - von nichtextremistischen und linksextremistischen Organisationen - in Mecklenburg-Vorpommern bisher Großdemonstrationen, "Aktionen des zivilen Ungehorsams" und ein "Gegengipfel" geplant. Als ein besonderer Aktionsort wird insbesondere von Berliner Linksextremisten der Gruppe "Autopool" der Beeinträchtigung von Gipfeldelegationen genutzte Flughafen Rostock-Laage des Gipfels gesehen. Mit Blockaden soll der Gipfel beeinträchtigt werden. 124 Ebenda. 125 In der Nacht zum 15.1.2007 verübten unbekannte Täter einen Brandanschlag auf zwei Dienstkraftfahrzeuge der Bundespolizei am Bahnhof Oranienburg (Brandenburg). Zu der Tat ging am 17.1.2007 ein Selbstbezichtigungsschreiben der "militanten gruppe" (mg) ein, indem die mg sich erstmals auf den G 8-Gipfel bezog. Zu einer Sachbeschädigung kam es am 3.1.2007 bei einem Adidas-Geschäft. In dem in einem linken Internetportal veröffentlichten Selbstbezichtigungsschreiben warfen die unbekannten Täter der Firma die Ausbeutung von Arbeitskräften der Zulieferfirmen vor. Sie forderten, "die kapitalistische Verwertungslogik [zu bekämpfen], die u. a. durch den G 8-Gipfel repräsentiert wird". AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - L IN K S E X T R E M IS M US 65 Aktionen gegen den Gipfel sind gleichzeitig - insbesondere vor dem Hintergrund der umfassenden Sicherheitsmaßnahmen in Heiligendamm - auch in anderen Teilen Deutschlands zu erwarten. Einen Hinweis dafür bietet der Aufruf "Deutschland blockieren" einer Gruppe "11. November Bewegung". Sie schlägt vor, "10 Tage vor Beginn des Gipfels in dem vorgeschlagenen Camp massenhaft zusammenzukommen, um uns in Ruhe zu treffen und zu planen, dann aber der Eröffnung des G 8 mit einem massiven Exodus zuvorzukommen, weg von Rostock, wo es nichts zu blockieren gibt, weg vom Hochsicherheitshotel, wo die G 8-Leader bereits blockiert sind, hin zu einem oder mehreren Zentren von Kapital und Staatsgewalt (z. B. Hamburg, Berlin, Frankfurt ...)." 126 In einer Anfang 2007 von den "Autonomen Gruppen Berlin" herausgegebenen Broschüre wird zu einem so genannten "Volxsportwettbewerb" zwischen Städten in der Zeit vom "Volxsport10. Mai bis 10. Juni aufgerufen. Es sollen wettkampfartig wettbewerb" Straftaten begangen werden, die jeweils nach einem Punktesystem bewertet werden. Als "Preis" wird die Ausrichtung der "Chaostage 2008" ausgelobt. Ferner beinhaltet die Broschüre Presseartikel zu früheren Straftaten, die unter dem Motto "Jetzt das Image Eurer Stadt beschädigen - Randalieren gegen G 8!!!" motivierend und mobilisierend wirken sollen. Die Initiatoren erklären zu den Zielen dieser Aktion: "Als Teil dieser Widerstandskultur wollen wir den G 8-Gipfel in Heiligendamm ins Chaos stürzen, nicht mit Latschdemos sondern mit Gewalt!"127 Vor dem Hintergrund der bisherigen Vorbereitungen ist jedoch davon auszugehen, dass das linksextremistische Protestpotenzial hinter den Erwartungen der Aktivisten zurückbleibt. 126 11. November Bewegung: Deutschland blockieren. Internetauftritt "indymedia", Aufruf am 18.1.2007. 127 Autonome Gruppe Berlin: Volxsportwettbewerb. 2007, S. 28. 66 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 2.3 Militanzdebatte und Anschläge der "militanten gruppe" (mg) Militanzdebatte Bei der seit 2001 anhaltenden Militanzdebatte waren 2006 verflacht wenige Beiträge feststellbar. Diese stellten inhaltlich keine Neuerungen dar, sondern beschränkten sich vornehmlich auf gegenseitige Anwürfe.128 Bereits 2005 hatte sich abgezeichnet, dass die Debatte zunehmend verflachte. Die "militante gruppe" (mg) als der Motor der Debatte stellte damals schon fest, dass es Zeit sei, Bilanz zu ziehen. Die Zahl der Anschläge der mg hingegen nahm 2006 deutlich zu. Auffallend ist, dass sich die mg in den Selbstbezichtigungsschreiben 2006 nicht auf den G 8-Gipfel bezog.129 2.3.1 Militanzdebatte am Ende Die mg verfolgte mit der Militanzdebatte das Ziel, über den gedanklichen Austausch linksextremistischer Gruppen hin zu einer organisatorischen Vernetzung zu gelangen. Diese als Vernetzung "militante Plattform" bezeichnete Vernetzung sollte ein kofehlgeschlagen ordiniertes Vorgehen der Gruppen ermöglichen. Schon früh zeichneten sich erhebliche Differenzen über den Militanzbegriff und die ideologischen Grundlagen ab. Während es in der Anfangsphase der Debatte noch gelang, sich über Inhalte und Zweck der angestrebten Vernetzung auszutauschen, nahmen spätestens seit 2005 persönliche Animositäten breiteren Raum ein. 2006 äußerten sich außer der mg lediglich die Gruppen "Clandestino" und "Einige Linke mit Geschichte - (elmg)". "Clandestino" hatte bereits zu Beginn der Debatte Position bezogen und erklärte nun, die Kritik konkretisieren zu wollen: 128 An der Debatte beteiligten sich bundesweit mehrere Gruppen. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 95 - 101. 129 Am 15.1.2007 verübte die "militante gruppe" (mg) einen Brandanschlag auf zwei Fahrzeuge der Bundespolizei am Bahnhof Oranienburg. Die Tat stellte sie erstmals in einen Begründungszusammenhang mit der militanten Kampagne gegen den G 8-Gipfel. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - L IN K S E X T R E M IS M US 67 "als grundlegenden fehler der mg erkennen wir einen theoriefetischismus, der sich vor allem aus orthodoxen kommunistischen ansätzen speist und mit versatzstücken sozialrevolutionärer konzepte garniert ist."130 Der mg wird vorgeworfen, ein marxistisch-leninistisches Inhaltliche und Politikkonzept zu vertreten, welches mit den Positionen der persönliche Auseinandersetzungen Autonomen nicht vereinbar sei. Insbesondere das von der mg vertretene Ziel, eine revolutionäre Partei zu schaffen, lehnt "Clandestino" ab: "hier prallen völlig unterschiedliche verständnisse von revolutionärer und emanzipatorischer politik aufeinander. der autonome, nicht parteilich strukturierte Widerstand ist eben das aus vielen erfahrungen abgeleitete organisationsmodell als alternative zur notwendigerweise immer hierarchischen parteiform. hier erkennen wir einen unüberbrückbaren bruch zwischen den verschiedenen politischen konzepten. der mg ist hier allerdings der vorwurf der geschichtsblindheit zu machen, während autonome militante politik sich bisher zwar nicht ausreichend entwickelt darstellt, aber zumindest keine neuen kommunistischen herrschaftsstrukturen auf gesellschaftlicher ebene hervorgebracht hat."131 Die mg antwortete darauf mit einem umfangreichen Elaborat. Sie sezierte wie schon in der Vergangenheit den Text ihrer Kritiker und warf "Clandestino" eine "Ignoranz gegenüber der Militanzdebatte"132 vor. Das Wahrnehmungsvermögen von "Clandestino" sei nach einem Zehntel der Debatte auf der Strecke geblieben. In einem verhöhnenden Ton forderte sie: "Schreibt Euch diese Aphorismen bitte ab und pinnt sie Euch übers Bett, damit nicht wieder klar ausgedrückte Positionen unsererseits in Euren Diskussionen wegzurutschen drohen."133 130 "Clandestino": clandestino zu mg. In: "INTERIM" Nr. 635 vom 20.4.2006, S. 21 - 23. 131 Ebenda. 132 "militante gruppe" (mg): clandestino - was wollt Ihr eigentlich? In: "INTERIM" Nr. 636 vom 18.5.2006, S. 6 - 12. 133 Ebenda. 68 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Die Diktion der mg veranlasste die Gruppe "elmg" in der Kritik an linksextremistischen Szenezeitschrift "INTERIM" die Art Debattenführung und Weise der Diskussion zu kritisieren: "Die mg doziert in einem Stil, der arrogant ist und herablassend. Da wird niedergebügelt, beleidigt und belehrt und das Wort von der (kritischen) Solidarität verkommt zu einem Feigenblatt." 134 Letztlich wirft sie der mg einen Alleinvertretungsanspruch vor; gerade die Sprache der mg und ihre Unbelehrbarkeit hätten dazu beigetragen, dass sich viele Gruppen aus der Debatte zurückzogen. Auch "Clandestino" zeigte sich von Ausmaß und Art der Kritik der mg überrascht.135 Es gehöre zwar zum Einmaleins Alleinvertretungslinksradikaler autonomer Politik, Spekulationen über andere anspruch der mg klandestine Gruppen zu unterlassen. Trotzdem stelle sich die Frage, ob die mg überhaupt in der linksradikalen Szene zu verorten sei oder es sich um "Spitzel" der Sicherheitsbehörden handele, deren Ziel es sei, die Szene zu zerschlagen. Die Redaktion der "INTERIM" erklärte daraufhin, ziemlich "geschockt" zu sein, und sprach von einer "der abstrusesten Theorien", die sie seit langem gelesen hätten.136 Die Militanzdebatte hatte einen Tiefpunkt erreicht. Ihren vorläufigen Abschluss fand sie in einem Beitrag, der mit "Einige KommunistInnen" unterzeichnet ist. Sprache und Inhalt des Beitrags legen nahe, dass die mg selbst oder ihr nahe stehende Personen diesen verfasst haben. Die Autoren ziehen den Schluss, "dass sich ein Diskussionsprozess 'totgelaufen' hat und nur noch vor sich hin dümpelt".137 Die Äußerungen der "elmg" und "Clandistino" seien inhaltslose Ausflüsse. Als Resumee der Debatte wird festgehalten, dass die Positionspapiere einen Wert an sich darstellten. Bezüglich des Ziels, 134 "Einige Linke mit Geschichte - (elmg)": This is not a Militanzdebattenbeitrag! In: "INTERIM" Nr. 639 vom 20.7.2006, S. 26 - 27. 135 "Clandestino": clandestino zu mg 2. In "INTERIM" Nr. 644 vom 9.11.2006, S. 19 - 20. 136 Vorwort. In: ebenda, S. 3. 137 "Einige KommunistInnen": Ist die Militanzdebatte noch zu retten - sind einige militante AktivistInnen noch zu retten - und von wo kann "Rettung" nahen...?? In: "INTERIM" Nr. 646 vom 7.12.2006, S. 4 - 9. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - L IN K S E X T R E M IS M US 69 zu einer organisatorischen Vernetzung der militanten Gruppen zu gelangen, äußern sich die Verfasser skeptisch: "Dass ein Organisierungsprozess unter Militanten geboten ist, wird, soweit wir einen Rundblick wagen können, nicht bestritten - allein es mangelt an der Umsetzungsfähigkeit."138 Auch die militante Kampagne gegen den G 8-Gipfel in Heiligendamm139, die die Möglichkeit geboten hätte, zu einer organisatorischen Vernetzung zu gelangen, läuft nach Ansicht von "Einige KommunistInnen" in Leere: "So wie es jetzt aussieht, verkommt die 'militante Kampagne zu G 8' zu einer üblichen kampagneartigen Sprechübung, die nach dem Großereignis ihre Schuldigkeit getan hat." 140 Das Ziel einer organisatorischen Vernetzung der Gruppen, um Anschläge koordiniert zu begehen und die Sicherheitslage zu verschärfen, wurde mit dieser Debatte nicht erreicht. Es wurde deutlich, wie zerstritten die Szene in großen Teilen ist. 2.3.2 Steigende Zahl militanter Anschläge Unabhängig vom Verlauf der Militanzdebatte haben AnZunahme der schläge militant agierender linksextremistischer Gruppen Brandanschläge zugenommen. Die mg verübte 2006 acht Brandanschläge. Angriffsziele waren ein Autohaus, das Sozialgericht und wiederholt Ordnungsämter und die Polizei. So verübte die mg am 20. März einen Brandanschlag auf vier Kraftfahrzeuge des Ordnungsamts Treptow-Köpenick und am 11. September einen Brandanschlag auf zwei Fahrzeuge des Ordnungsamts Reinickendorf. Dabei entstand erheblicher Sachschaden. Die Ordnungsämter sind für die mg "ein weiterer Teil staatlicher Überwachung und Repression sowie der Militarisierung des Innern der Gesellschaft. Sie sind 138 Ebenda. 139 Vgl. S. 63 - 64. 140 "Einige KommunistInnen": Ist die Militanzdebatte noch zu retten - sind einige militante AktivistInnen noch zu retten - und von wo kann "Rettung" nahen...?? In: "INTERIM" Nr. 646 vom 7.12.2006, S. 4 - 9. 70 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 ein Kettenglied des staatlichen Gewaltmonopols sowie ein fester Bestandteil der Festlegung der kapitalistischen Eigentumsund Gesellschafts(un-)ordnung und somit eine Facette des Klassenangriffs von oben".141 Mit wiederholten Angriffen auf ein Ziel will die mg die Kontinuität ihres Handelns betonen. Auch die anderen Brandanschläge, insbesondere die drei auf Fahrzeuge und Gebäude der Polizei, deklariert die mg als Menschen"Angriffe auf den Repressionsapparat". Obwohl die mg verachtender bisher gezielte Angriffe auf Personen unterließ, zeigen die Charakter Selbstbezichtigungsschreiben ihren menschenverachtenden Charakter. So erklärte sie zum Brandanschlag auf das Präsidium des Polizeipräsidenten am 9. April: "Statt für einen ins Jenseits beförderten Zivil-Bullen in den Chor des Wehklagens einzustimmen, nutzen wir das Forum dieser Trauerzeremonie, um den FreundInnen und GenossInnen zu gedenken, die im Kampf für eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung von den Ausführenden des staatlichen Gewaltmonopols in den vergangenen Jahrzehnten ermordet wurden. [...] Für wie dumm will man uns halten, daß wir nicht in der Lage wären zu erkennen, daß es sich bei dieser bewaffneten Konfrontation zwischen Mehmet E. und Uwe L. um eine Situation handelte, in der im wörtlichen Sinne Waffengleichheit bestand. Zumal es Mehmet E. offenbar mit einem 'langjährigen und erfahrenen Zivilbeamten' zu tun hatte. Was soll das Geblöke von 'hinterhältig', 'ohne Vorwarnung' und so? Die 'Hinterhältigkeit' in persona verkörpern einzig und allein Bullen in Zivil, die als 'Wolf im Schafspelz' daherkommen. Mehmet E. hat situationsgerecht reagiert, um sich einer drohenden Festnahme zu entziehen. Punktum! [...] Nein, nicht die Umstände des ZuTode-Kommens von Uwe L. sind das Problem, das ist völlig irrelevant."142 Abstruse Logik Die abstruse Logik der mg wird in einer Erklärung vom 13. Oktober deutlich.143 Mit dieser reagierte sie auf eine Presseveröffentlichung, in der ihr die Verantwortung für Brandanschläge auf sieben Autos in der Nacht des 141 "militante gruppe" (mg): Anschlagserklärung vom 20.3.2006. 142 "militante gruppe" (mg): Anschlagserklärung vom 10.4.2006. Am 17.3.2006 wurde ein Berliner Polizeibeamter bei der Verfolgung einer des schweren Raubes verdächtigen Person von dieser erschossen. 143 "militante gruppe" (mg): Dementi & ein bisschen Mehr. Erklärung vom 13.10.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - L IN K S E X T R E M IS M US 71 3. Oktober zugeschrieben wurde. Sie dementierte die Verantwortung und kritisierte die Anschläge, weil diesen die notwendige Zielgenauigkeit fehle. Bei Anschlägen auf "Nobelkarossen" sei darauf zu achten, dass keine unbeteiligten Kleinwagen in Mitleidenschaft gezogen werden könnten. Ansonsten habe eine solche Aktion zu unterbleiben. Auch der Brandanschlag auf einen FIAT-Vertragshändler am 20. Juli wird abgelehnt: "Bei dem Autohaus handelt es sich unseres Wissens nach lediglich (wenn überhaupt) um einen FIAT-Vertragshändler, der den entstandenen Schaden aus eigener Tasche zu zahlen hat. Im Gegensatz dazu, wenn man eine direkt dem Konzern unterstellte Niederlassung aufgesucht hätte. Eine materielle Schädigung des italienischen Konzerns tritt hier nicht ein, stattdessen ist eine ziemlich heruntergekommene deutsche Auto-Klitsche Ziel eines Brandanschlages geworden."144 Aufgrund ihrer inhaltlichen Argumentation und der Behandlung ihrer Kritiker scheint die mg ziemlich isoliert zu sein. Mit weiteren Anschlägen der mg ist dennoch zu rechnen. 2.4 Geringe Mobilisierungsfähigkeit der linksextremistischen Szene in Berlin Nachdem sich die linksextremistische Szene 2005 bereits deutlich geschwächt gezeigt hatte, setzte sich diese EntwickSchwäche lung 2006 fort. Sie war zwar weiterhin in den Themenfeldern setzt sich fort Sozialabbau, Antiglobalisierung und Antifaschismus aktiv, konnte sich aber bei Demonstrationen zu zentralen Themen nicht koordinieren und das linksextremistische Personenpotenzial in der Regel nicht umfassend mobilisieren. Zentrale jährlich wiederkehrende Ereignisse verliefen ruhig oder fielen aus. Am 1. Mai zeitigte das "neue" Konzept einer "Mayday"-Parade keinen Erfolg. Auch eine Kampagne bei der Fußball-WM blieb ohne Resonanz. Die Schwäche der Organisationen wurde auch strukturell deutlich, da sich die Gruppe "Kritik & Praxis B3rlin" (KP) im Oktober auflöste. Fluktuation ist zwar kennzeichnend für 144 Ebenda. 72 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 das linksextremistische autonome Spektrum und nur wenige Gruppen bestehen langfristig; es fiel aber auf, dass die Auflösungserklärung einer Gruppe, die bestimmenden Einfluss auf Teile der linksextremistischen Szene ausüben wollte, reaktionslos zur Kenntnis genommen wurde.145 2.4.1 Kampagnen zum 1. Mai Geringe Im Gegensatz zu den Vorjahren fiel die Mobilisierung zum Mobilisierung 1. Mai im linksextremistischen - insbesondere im autonomen - Spektrum deutlich geringer aus. Während man 2004 und 2005 mit den "Mai-Steinen" eine umfangreiche Kampagne organisiert hatte, war eine gemeinsame Aktion 2006 nicht zu verzeichnen. Die ALB, die in der Vergangenheit wesentlich zur Vorbereitung und Durchführung der "Revolutionären 1. Mai-Demonstrationen" beigetragen hatte, zog sich 2006 in Berlin zurück. Stattdessen mobilisierte sie zu Protesten gegen eine Demonstration der NPD in Rostock. Weiterhin aktiv war die Gruppe "Für eine linke Strömung" (F.e.l.S.), die gemeinsam mit den "Internationalen Kommunisten" aber auch mit nichtextremistischen Gruppierungen eine Demonstration zum Thema "Mayday" vorbereitete. Aktionsform Bei der "Mayday-Parade" handelt es "Mayday-Parade" sich um eine aus Italien stammende Aktionsform, die sich im Sinne eines Notrufs (Mayday! Mayday!) vorwiegegen die soziale Verschärfung der Lebensund Arbeitsverhältnisse ("Prekarisierung") in Europa richtet. Bereits am 1. Mai 2005 hatte eine solche "Mayday-Parade" in Hamburg stattgefunden. Ziel der Demonstration sollte sein, den 1. Mai wieder attraktiver zu machen und alte 145 Die Auflösung kleinerer Gruppen erfolgt meist ohne öffentliche Thematisierung. Löst sich jedoch eine bedeutsame Gruppe auf, geschieht dies oft mit einer Auflösungserklärung und einer öffentlichen Diskussion über die Hintergründe. Als sich die "Antifaschistische Aktion Berlin" (AAB) 2003 spaltete, gab es von den Nachfolgegruppen Erklärungen und eine Diskussion in linksextremistischen Medien. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, S. 97 f. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - L IN K S E X T R E M IS M US 73 Rituale zu durchbrechen, ohne sich jedoch von der Gewalt in der Vergangenheit zu distanzieren. So heißt es in der Einladung von F.e.l.S. zur "Mayday"-Vorbereitung: "In Berlin hat der 1. Mai eine andere Geschichte. Schon seit Jahren gibt es an diesem Tag hier große linke Demonstrationen und am Abend dann die Randale - das linksradikale Weihnachten. [...] Und alle, die sich Jahr für Jahr bei den Krawallen engagiert haben, sorgten dafür, dass der radikalen Linken an diesem Tag die Aufmerksamkeit sicher war und Senat und Polizei immer wieder vor unkontrollierbaren Situationen standen. [...] Keine Distanzierung von der Randale in Kreuzberg. Keine Distanzierung Eine Spaltung in gute und schlechte Widerstandsformen mavon Gewalt chen wir nicht mit! Wir wählen am 1. Mai das Mittel der Parade. Doch wir werden uns nicht gegen diejenigen ausspielen lassen, die ihrer Wut mit anderen Mitteln Ausdruck verleihen."146 Wie sich bereits in den Vorbereitungen abzeichnete, verlief der 1. Mai unspektakulär. Insgesamt wurden von der linksDemonstrationen extremistischen Szene drei Demonstrationen veranstaltet. An überwiegend friedlich der erstmals ausgerichteten "Mayday"-Parade nahmen ca. 3 000 Personen aus dem linksextremistischen und bürgerlichen Spektrum teil; sie blieb ohne besondere Vorkommnisse. Des Weiteren führte das antiimperialistische Spektrum gemeinsam mit türkischen linksextremistischen Gruppen traditionell um 13.00 Uhr am Oranienplatz eine Kundgebung mit nachfolgender Demonstration durch. An der Versammlung, die friedlich verlief, beteiligten sich bis zu 1 200 Personen. Bei einer Spontan-Demonstration, die sich auf dem vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg ausgerichteten Angriffe auf MyFest MyFest bildete, kam es zu vereinzelten Steinund Flaschenwürfen auf Polizeibeamte. Ziel war offenbar, das MyFest zu sprengen: Es wurde ein Fronttransparent mit der Aufschrift "MY-Fest ist Scheiße - Für einen revolutionären 1. Mai" mitgeführt sowie Parolen wie "USA - Internationale Völkermordzentrale" gerufen. Die Aktionen fanden aber wenig Resonanz. 146 FelS-Einladung zu EuroMayDay-Vorbereitung. Internetauftritt "Nadir", Aufruf am 7.11.2005. 74 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Von der linksextremistischen Szene wird der 1. Mai verhalRadikalisierung der ten als Erfolg angesehen. So erklärte F.e.l.S., dass die "Mayday-Parade" Öffentlichkeitswirkung der "Mayday-Parade", insbesondere die Medienberichterstattung als Erfolg zu werten sei.147 Allerdings sieht F.e.l.S. die Notwendigkeit zu weiteren inhaltlichen Auseinandersetzungen, um zu einer stärkeren Politisierung der "Mayday"-Parade zu kommen: "Diese Politisierung und auch Radikalisierung ist aus unserer Sicht unbedingt notwendig, wenn der Mayday nicht innerhalb kürzester Zeit in den Kanon der bekannten Veranstaltungen eingereiht und stillgelegt werden soll, ist es doch das Ziel, in diesem Rahmen gemeinsam weitere Praxisformen zu entwickeln."148 Erfolgreiche Zur Spontandemonstration wird auf der Internetplattform Polizeistrategie "Indymedia" erklärt, dass das zweimalige Durchführen einer Spontandemonstration allein als Erfolg zu werten sei. Das weitgehende Ausbleiben von Krawallen wird einer erfolgreichen Polizeistrategie zugeschrieben.149 Die Ereignisse des 1. Mai machen deutlich, dass linksextremistische Gruppen nicht in der Lage waren, gemeinsam größere Aktionen durchzuführen. Es gelang weder, eine gemeinsame Demonstration zu koordinieren, noch ein größeres Protestpotenzial zu mobilisieren. Die Resonanz der Spontandemonstration bei der Bevölkerung war gering. 147 F.e.l.S. AG Soziale Kämpfe: Öfter mal Alarm schlagen - Warum der Mayday allein noch kein schönes Leben macht. In: "Arranca" Nr. 35/2006, S. 24 - 26. 148 Ebenda, S. 26. 149 1. Mai-Fotos: Randale - Bambule - Rütlischule! Internetauftritt "indymedia", Aufruf am 16.2.2007. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - L IN K S E X T R E M IS M US 75 2.4.2 Kampagne zur FußballWeltmeisterschaft Linksextremistische autonome Gruppen wie die ALB und die "Antikapitalistische Aktion Berlin" (AKAB) erhofften, Aufmerksamkeit für durch kreative Aktionen bei der weltweiten Berichterstattung politische Anliegen zur Fußball-Weltmeisterschaft Aufmerksamkeit für ihre politischen Anliegen zu erzielen. Gemeinsam mit nichtextremistischen Gruppen planten sie eine Kampagne zu den weitreichenden Sicherheitsmaßnahmen, die als unbegründete Beschränkung der persönlichen Freiheit und als Schritt in einen willkürlich agierenden "Polizeistaat" abgelehnt wurden. Jegliche latente Gefährdung wurde bei dieser Argumentation vollständig verneint. Ferner wurden mit dem Ereignis auch Themen wie Globalisierungskritik und Sozialabbau verbunden, die an mehreren Hauptsponsoren der WM festgemacht wurden. Letztlich wurde auch eine "Welle von Nationalismus" behauptet, die von den (deutschen) Fußballanhängern ausgehe. Mögliche Aktionen wurden ab Februar erörtert, wobei wesentliche Impulse von autonomen Linksextremisten gesetzt wurden, die auch militante Aktionsformen nicht ausschlossen: "Wir werden die WM 2006 mit einem Rahmenprogramm der anderen Art begleiten und ihren Begleiterscheinungen unseren Widerstand entgegensetzen. [...] Wir wollen den autoritären Staat und all seine nationalistischen, rassistischen und sexistischen Erscheinungen ins Abseits kicken".150 Realisiert wurde schließlich eine Demonstration unter dem Motto "Kick it!-Tour" ("Aufgepasst und mitgemacht! Es "Kick it!-Tour" gibt viel zu entdecken und zu erleben!") am 2. Juni. An ihr beteiligten sich bis zu 200 Personen. Sie verlief ohne Störungen. 150 "INTERIM" Nr. 636 vom 18.5.2006. 76 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 2.4.3 "Antifaschistischer Kampf" Antifaschistische Das einzige Themenfeld, zu dem in der Vergangenheit grupKampagne penübergreifend Mobilisierungen möglich waren, war der "Antifaschismus". 2005 war es das Kernthema des linksextremistischen Spektrums gewesen. Vor dem Hintergrund einer erstarkenden NPD war zu erwarten, dass der "antifaschistische Kampf" weiter intensiviert würde. Dies blieb jedoch aus. Organisiert wurde lediglich eine größere Kampagne mit mehreren Demonstrationen und Veranstaltungen unter dem Motto "Hol Dir den Kiez zurück". Aktivitäten zur Verhinderung rechtsextremistischer Veranstaltungen gab es 2006 kaum. Zwar wurde anlässlich der Solidaritätsdemonstration der NPD für den inhaftierten Sänger der rechtsextremistischen Musikband "Landser" am 21. Oktober sowie zum NPD-Bundesparteitag am 11. / 12. November in Berlin zu "direktem Widerstand" und Störaktionen aufgerufen. Die Gegendemonstration zur "Landser"-Solidaritätsbekundung verlief mit 450 Teilnehmern dennoch friedlich; es kam zu keiner Behinderung der rechtsextremistischen Demonstration. An der Kundgebung gegen den NPD-Bundesparteitag beteiligten sich ca. 300 mehrheitlich dem bürgerlichen Spektrum angehörige Personen. Aktivitäten der autonomen Gruppen blieben aus. Gewalttaten gegen Dagegen erreichten die Gewalttaten von Linksextremisten politische Gegner gegen politische Gegner das hohe Niveau des Vorjahres. Hier waren insbesondere Körperverletzungsdelikte, Brand- AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - L IN K S E X T R E M IS M US 77 stiftungen und laut Staatsanwaltschaft erstmals auch ein versuchter Totschlag zu verzeichnen. Am 16. März warfen unbekannte Täter mit dem Rufen "Antifa" einen brennenden Gegenstand in eine als Treffpunkt von Rechtsextremisten geltende Gaststätte. Personen wurden dabei nicht verletzt. Am 1. September griffen militante Linksextremisten einen Wahlkampfstand und Parteivertreter der Republikaner in Friedrichshain-Kreuzberg an. Der Stand wurde umgeworfen und die Mitglieder der Republikaner geschlagen. Ein 28-jähriger Linksextremist griff eine über 70-jährige Wahlkämpferin von hinten an, würgte sie und warf sie zu Boden. In den Morgenstunden des 25. Oktober zerstörten unbekannte Täter den PKW des stellvertretenden Landesvorsitzenden der DVU. Sie zerstachen die Reifen, schlugen alle Scheiben ein und schütteten Buttersäure in das Wageninnere. Im Vorfeld der "Silvio-Meier"-Demonstration setzten unbeGewalttätige kannte Täter am 16. November den Kleintransporter eines Auseinandersetzung um "Silvio-Meier"NPD-Mitglieds in Brand. Der Tat bezichtigte sich eine "AnDemonstration tifa-Gruppe Silvio Meier". Am 29. November griffen mehrere vermummte Linksextremisten zwei bekannte Rechtsextremisten in Lichtenberg mit Schlagwerkzeugen an und drohten "Wir schlagen Dich tot!". Dem voran gegangen war einige Tage zuvor ein Angriff von Rechtsextremisten auf den Anmelder der "Silvio-Meier"-Demonstration. Zeitweise saß ein Tatverdächtiger, der von den Überfallenen identifiziert wurde, in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft ermittelte zunächst wegen versuchten Totschlags. Der Tatvorwurf wurde zwischenzeitlich auf gefährliche Körperverletzung geändert. Linksextremisten sehen diese Angriffe als "legitimen WiderKein Unrechtsstand" an. Die strafrechtliche Verfolgung einer schweren bewusstsein Straftat wird als Versuch gesehen, "antifaschistische Arbeit 78 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 zu delegitimieren und zu kriminalisieren".151 Ein Unrechtsbewusstsein ist nicht vorhanden: "Mit diesem Tatvorwurf soll nicht nur jede Form von Solidarisierung erschwert werden, sondern auch der moralische Vorschuss, den die antifaschistische Bewegung aufgrund der Legitimität ihres Anliegens genießt, zerstört werden."152 "Der Staatsschutz geht mit drastischen Mitteln gegen AntifaschistInnen vor und wirft ihnen herbeihalluzinierte Taten und Anschuldigungen vor, um sie einzuschüchtern und Antifaschismus zu kriminalisieren. [...] So ist auch die Situation für M. deprimierend, der in Haft sitzt, weil der Staatsschutz ein Exempel für die gesamte Antifa statuiert. [...] Wir dürfen nicht diejenigen vergessen, die wegen ihrer politischen Überzeugungen im Knast sitzen, sich Faschisten in den Weg stellen, oder die aus finanzieller Not heraus versuch(t)en, sich anzueignen was sie zum Leben brauchen. Freiheit für M.! Freiheit für Alle! Für eine Gesellschaft ohne Knäste!"153 2.4.4 Mögliche Ursachen der geringen Mobilisierungsfähigkeit Die linksextremistische Gruppen waren in Berlin 2006 zu keinem Thema in der Lage, ein größeres Personenpotenzial zu mobilisieren und entsprechende Aktivitäten zu entfalten. Gründe für die beschriebene Entwicklung sind hypothetisch, werden aber auch in einschlägigen Medien diskutiert: Ideologische Ein Grund könnte in unüberbrückbaren ideologischen Differenzen Differenzen zwischen den Gruppen liegen ("Antideutsche" versus "Antiimperialisten"). Auch wenn es in diesem Bereich nicht mehr zu körperlichen Auseinandersetzungen kam, liegen die Gräben offen. GenerationenEine weitere These ist, dass die Schwäche durch den anwechsel stehenden Generationswechsel bedingt ist. Jüngere, über den "Antifaschismus" politisierte und eher aktionsorien151 Internetauftritt der ALB, Aufruf am 19.12.2006. 152 Internetauftritt von "Anarchist Black Cross Berlin", Aufruf am 16.2.2007. 153 Internetauftritt der "Freien Arbeiterinnen und Arbeiter Union", Aufruf am 16.2.2007. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - L IN K S E X T R E M IS M US 79 tierte Angehörige der Szene können mit den Themen und ideologischen Konflikten der "Altvorderen" nur noch wenig anfangen. Sie besitzen ein anderes Lebensgefühl und nutzen andere subkulturelle Codes: "Der Niedergang ist eng an das Problem der sogenannten 'politischen Generationen' gekoppelt. Wenn individuelle Lebenszyklen enden - und das ist bei Bewegungen ein Zeitpunkt, der eine große Zahl von Aktiven betrifft - verändern sich Bewegungen und ihr Abstieg beginnt. Meist ist dieser Prozess von Spaltungen und Konflikten begleitet, die eine Weiterführung der politischen Arbeit verhindern. [...] Jetzt ist eine Generation an ihrem Endpunkt angelangt - und eine neue mit eigenen Codes und neuem Schwung ist nicht in Sicht."154 Viele dieser "Jüngeren" waren am 1. Mai 1987 (erstmalige Ausschreitungen in Kreuzberg) noch nicht geboren und haben keine persönliche Beziehung zu diesem "Event". Ein Faktor wird auch die verbesserte Einsatztaktik der Verbesserte Sicherheitsbehörden sein, die es Linksextremisten kaum Polizeitaktik mehr ermöglicht, anlässlich von Demonstrationen Straftaten zu begehen: "Kommen wir zum ersten Problem. Dem sichtbaren. Den Neonazis auf der Straße. Meist zeigen sie sich erst offen wenn sie in einem Mob auf Demonstrationszügen marschieren. Sie dort zu bekämpfen und anzugreifen ist schwieriger denn je, da auch die Polizei ihre Taktiken in den letzten Jahren verbesserte."155 Ein weiterer Grund kann sein, dass traditionelle Themen G 8-Proteste und Ereignisse in den Hintergrund gerückt sind, da Aktionen gegen den G 8-Gipfel in Heiligendamm Kräfte binden. Ob es sich bei der 2006 gezeigten Mobilisierungsschwäche um eine kurzfristige Entwicklung oder einen langfristigen Trend handelt, wird sich erst im Laufe der nächsten Jahre 154 Perspektive Antifa: Zwischen Rezession und Neuanfang. Interview der F.e.l.S-Antifa AG mit einem Aktivisten. In: "Arranca" Nr. 35/2006, S. 15. 155 Antifa - da geht noch was?! Internetblog, Aufruf am 27.11.2006. 80 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 zeigen. Ein Indikator für die weitere Entwicklung werden die Proteste gegen den G 8-Gipfel 2007 sein.156 2.5 Linksextremistische Unterwanderung der WASG Linksextremistische Linksextremistische Parteien sind auch 2006 bedeutungslos Parteien geblieben. An den Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu bedeutungslos den Bezirksverordnetenversammlungen im September beteiligte sich nur die trotzkistische "Partei für Soziale Gleichheit" (PSG), die mit einem Ergebnis von 0,0 Prozent eine marginale Rolle spielte. Andere linksextremistische Parteien und Organisationen unterstützten die Kandidatur der "Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit" (WASG). Insbesondere die trotzkistischen Organisationen versuchten, weiterhin verstärkt die WASG zu unterwandern.157 Intentionen der trotzkistischen Organisationen SAV und Linksruck Der Berliner WASG-Landesverband stand seit seiner Gründung unter dem Einfluss der trotzkistischen Organisationen "Sozialistische Alternative Voran (SAV)" und "Linksruck". Diese sehen in der WASG eine mögliche Keimzelle der von ihnen angestrebten "revolutionären Arbeiterpartei": "Die SAV unterstützt jeden Ansatz zum Aufbau einer breiteren Arbeiterpartei, ohne dass sie ein sozialistisches Programm zur Bedingung macht. Ohne eine Partei mit einem klaren revolutionär-sozialistischen Programm wird es jedoch nicht gelingen, das kapitalistische System zu überwinden. Die SAV hat sich zum Ziel gesetzt, eine revolutionäre Partei aufzubauen."158 "Wir sehen in der gegenwärtigen Situation eine wichtige Aufgabe für MarxistInnen darin, den Aufbau der WASG voran zu treiben und gleichzeitig innerhalb der WASG die Debatte über 156 Vgl. S. 57 ff. 157 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 101 ff. 158 Das Verhältnis der SAV zu anderen Parteien, Grundsatzprogramm von 1999. Internetauftritt der SAV, Aufruf am 31.1.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - L IN K S E X T R E M IS M US 81 demokratische Strukturen, eine kämpferische Praxis und eine antikapitalistische und sozialistische Ausrichtung zu führen".159 Mitglieder beider Organisationen traten - veranlasst durch Übernahme von ihre jeweiligen Vorstände - der WASG Berlin bei und überParteifunktionen nahmen Parteifunktionen auf Landesund Bezirksebene bis hin zur Spitzenkandidatur von Lucy Redler, die gleichzeitig Vorstandsmitglied der SAV und der WASG Berlin ist. Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen ermöglichten die offenen WahlOffene Wahllisten listen der WASG, dass auch Extremisten für diese kandidieren konnten. Vertreten waren in der Folge neben Aktivisten der SAV auch Mitglieder der linksextremistischen "Gruppe Arbeitermacht" (GAM), der "Deutschen Kommunistischen Partei" (DKP) - u. a. deren Landesvorsitzender - sowie Mitglieder des militanten autonomen Spektrums. Dementsprechend fand die Berliner WASG Unterstützung durch linksextremistische Organisationen. So erklärte die GAM: "Die Gruppe Arbeitermacht unterstützt nicht nur die Kandidatur Unterstützung des der WASG. Es gibt auch drei KandidatInnen der Berliner Wahlantritts WASG, die für eine revolutionäre Ausrichtung eintreten und das Programm von Arbeitermacht unterstützen." 160 Auch die DKP unterstützte den Wahlantritt: "Die DKP wird aber in vielen Kämpfen an der Seite der neuen Linkspartei stehen und ein verlässlicher Bündnispartner sein. [...] Das Abgeordnetenhaus von Berlin braucht eine linke Opposition. Der Vorstand der DKP Berlin ruft daher dazu auf, die Kandidatur der WASG zu unterstützen.161 Innerhalb des autonomen Spektrums blieb die Kandidatur für Bei Autonomen die WASG Berlin umstritten, auch wenn sich einzelne umstritten Autonome auf den Kandidatenlisten der WASG fanden. So 159 Ebenda. 160 Wahlen in Berlin: WASG wählen, Widerstand formieren. Internetauftritt der GAM, Aufruf am 19.10.2006. 161 Das Abgeordnetenhaus braucht eine linke Opposition. Internetauftritt des Berliner DKP-Landesverbands, Aufruf am 5.5.2006. 82 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 erklärte die "Antifaschistische Initiative weinrotes Prenzlauer Berg" (AIWP): "Selbst innerhalb der Linken wird die Illusion in die parlamentarische Demokratie geschürt. Man solle wählen gehen, um den Einzug der NPD zu verhindern. Faschismus ist jedoch teil des kapitalistischen Systems. Wahlen werden faschistoide Tendenzen niemals aufhalten. Es ist umgekehrt ein Fehler, Hoffnungen ins bürgerliche Parlament zu tragen. Denn politische Macht beruht in erster Linie auf ökonomischer Macht und das Kapital entscheidet, was zu tun ist. Im besten Fall ist die parlamentarische Demokratie eine 'Demokratie' von oben nach unten, im schlimmsten, eine Diktatur des Kapitals." 162 Die Mehrheit der Mitglieder der WASG sahen diese Entwicklungen zunehmend als bedenklich an. So erklärte nach einem Bericht der "Tageszeitung" ein Vertreter des Gewerkschaftsflügels der WASG, dass die vom Landesvorstand in einem Aufruf vertretenen Positionen "sektiererisch" seien. Er kritisierte, dass der Vorstand immer stärker und offener trotzkistische Positionen der SAV "zu WASG-Positionen umetikettiert"163 habe. Schon jetzt ist absehbar, dass die Extremisten innerhalb der Mögliche Berliner WASG bei einer Vereinigung der beiden BundesVereinigung parteien WASG und "Linkspartei.PDS" deutlich an Einfluss verlieren werden. Der Landesverband der WASG lehnte Anfang 2007 eine Vereinigung beider Parteien ab. Ob die Linksextremisten bei Zustandekommen einer Vereinigung die neue Partei verlassen oder ein eigenes Projekt ins Leben rufen, bleibt abzuwarten. 162 AIWP: Wahlen, Wahlen, Nazis, Wahlen. In: "INTERIM" Nr. 642, S. 4 - 6. 163 Die Spalter spalten sich weiter. In: "tageszeitung" vom 31.8.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 83 3 AUSLÄNDEREXTREMISMUS 3.1 Überblick Linksextremistische, extrem nationalistische und islamistische Ausländerorganisationen weisen weder eine einheitliUnterschiedliche che Ideologie noch eine vergleichbare organisatorische Ideologien und Strukturen Struktur auf. Erhebliche Unterschiede zwischen den Organisationen bestehen vor allem in der Frage des Einsatzes von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele; hier reicht das Spektrum von der Ablehnung jeglicher Gewaltanwendung bis zur pseudoreligiösen Legitimation von Terrorismus. Personenpotenzial Unverändert werden extremistische Gruppierungen in Berlin nur von einer kleinen Minderheit der hier lebenden Ausländer unterstützt. Im Jahr 2006 ließen sich ca. 5 050 Personen extremistischen Ausländerorganisationen zurechnen (2005: ca. 5 060 Personen); dies entspricht ca. 1 Prozent der ausländischen Bevölkerung Berlins (30. Juni 2006: 463 723 Personen). Die Verteilung auf die einzelnen Extremismusfelder ist weitVerteilung nach gehend konstant geblieben: Unter den ausländerextremistiExtremismusfeldern schen Organisationen in Berlin bilden die Anhänger islamistischer Gruppierungen mit ca. 3 450 Personen die Mehrheit; dies entspricht einem Anteil von etwa zwei Dritteln. Linksextremistische Organisationen stellen mit ca. 1 300 Personen etwa ein Viertel. Ca. 300 Personen sind extrem nationalistischen Organisationen zuzurechnen. 84 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Gesamtpotenzial extremistischer Ausländerorganisationen: ca. 5 050 3450 1300 300 Islamisten Linksextremisten Extreme Nationalisten Personenpotenzial Ausländerextremisten* Berlin Bund 2005 2006 2005 2006 Gesamt 5 060 5 050 57 420 57 420 Islamisten, 3 410 3 450 32 100 32 050 davon arabische 450 450 3 350 3 350 türkische 2 900 2 900 27 250 27 250 iranische 30 30 150 150 sonstige 30 70 1 350 1 300 Linksextremisten, 1 350 1 300 16 890 16 870 davon arabische 30 30 150 150 türkische 225 225 3 150 3 150 iranische 45 45 1 150 1 150 kurdische 1 050 1 000 11 500 11 500 sonstige 940 920 Extreme Nationalisten 300 300 7 500 7 500 (türkisch) Sonstige 1 870 1 800 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 85 Innerhalb der islamistischen Gruppierungen in Berlin Islamisten: ethnische (ca. 3 450 Personen) stellen die türkischen Islamisten, die Zugehörigkeit überwiegend in der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) organisiert sind, mit ca. 2 900 Personen die Mehrheit (deutlich mehr als drei Viertel). Die arabischen Islamisten - Anhänger der "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS), der "Hizb Allah" oder der in diversen Moscheevereinen organisierten "Muslimbruderschaft" (MB) - haben innerhalb der islamistischen Gruppierungen dagegen mit ca. 450 Personen nur einen geringen Anteil (ca. 13 Prozent). Islamisten sonstiger Nationalitäten machen lediglich ca. 70 Personen, iranische Islamisten ca. 30 Personen aus. Potenzial islamistischer Ausländerorganisationen: ca. 3 450 2900 30 450 Türkische Islamisten 70 Arabische Islamisten Iranische Islamisten Sonstige Islamisten Innerhalb des Spektrums der linksextremistischen Ausländerorganisationen (ca. 1 300 Personen) nehmen die kurdischen Linksextremisten unverändert mit ca. 1 000 Personen Linksextremisten: den weitaus größten Anteil ein (mehr als drei Viertel), ethnische Zugehörigkeit während die Anhänger türkischer Organisationen ca. 225 Personen ausmachen (ca. 20 Prozent). Anhänger arabischer und iranischer Gruppierungen stellen unter den ausländischen Linksextremisten mit ca. 30 Personen bzw. ca. 45 Personen nur kleine Minderheiten. 86 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Potenzial linksextremistischer Ausländerorganisationen: ca. 1 300 1000 225 Kurden 30 45 Türken Iraner Araber Von den ca. 5 050 extremistischen Ausländerorganisationen Gewaltorientierte zugerechneten Personen gelten ca. 1 530 Personen als AnExtremisten hänger von gewaltorientierten extremistischen Ausländerorganisationen. Dies entspricht knapp einem Drittel des Gesamtpersonenpotenzials. Diese Personen werden extremistischen Ausländerorganisationen zugerechnet, die im Ausland - regional unterschiedlich - entweder terroristisch aktiv sind oder ausdrücklich Gewalt befürworten, z. B. zur Beseitigung der Herrschaftsstrukturen im jeweiligen Heimatland. In Berlin verhalten sich Angehörige dieser Gruppierungen zurückhaltend und größtenteils gewaltfrei. Die ca. 1 530 gewaltorientierten extremistischen Ausländerorganisationen zuzurechnenden Personen verteilen sich auf ca. 1 240 Anhänger linksextremistischer Organisationen und ca. 290 Anhänger islamistischer Organisationen. Dies entspricht einem Verhältnis von ca. 81 Prozent gewaltorientierter Linksextremisten ca. 19 Prozent gewaltorientierter Islamisten. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 87 Gesamtpotenzial gewaltorientierter extremistischer Ausländerorganisationen:* ca. 1 530 1240 290 Linksextremisten Islamisten * Es handelt sich dabei um Organisationen, die regional im Ausland (z. B. im jeweiligen Heimatland) mit Gewalttaten in Erscheinung treten. In Deutschland verhalten sich die Anhänger dieser Organisationen weitgehend gewaltfrei. Die ca. 290 Islamisten, die gewaltorientierten arabischen islamistischen Organisationen zugerechnet werden, sind Angehörige der "Hizb Allah" (ca. 160 Personen), der "Hizb alIslamisten: Tahrir al-islami ( HuT / ca. 60 Personen), der HAMAS gewaltorientiert (ca. 50 Personen) und der Tschetschenischen Separatistenbewegung (CRI/TSB / ca. 20 Personen). Bei öffentlichen Aktionen treten die Angehörigen dieser Gruppierungen in Berlin in der Regel friedlich auf. Es liegen keine belastbaren Zahlenangaben über in Berlin möglicherweise aufhältliche Angehörige islamistisch-terroristischer Gruppierungen bzw. Netzwerke vor. Innerhalb der ca. 3 100 Angehörigen nicht gewaltorientierter islamistischer Gruppierungen in Berlin stellen die türkischen Islamisten, die überwiegend in der IGMG organisiert sind, Islamisten: nicht mit (ca. 2 900 Personen) die große Mehrheit. Bei den aragewaltorientiert bischen nicht-gewaltorientierten islamistischen Organisationen bilden die Anhänger der MB mit ca. 100 Personen die stärkste Gruppe. Im Vergleich zu den türkischen Islamisten beträgt der Anteil nur ca. 3 Prozent am Gesamtpersonenpotenzial nicht gewaltorientierter extremistischer Ausländerorganisationen. Iranische (ca. 30 Personen) und sonstige 88 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Islamisten (ca. 70 Personen) spielen in diesem Bereich nur eine untergeordnete Rolle. Linksextremisten: Von den ca. 1 300 Personen linksextremistischer Ausländergewaltorientiert organisationen in Berlin gehören ca. 1 240 Personen gewaltorientierten Ausländerorganisationen an. Die kurdischen Linksextremisten - Anhänger der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) und ihrer Nachfolgeorganisationen - stellen darunter die weitaus größte Gruppe mit ca. 1 000 Personen. Die Angehörigen dieser gewaltorientierten linksextremistischen Ausländerorganisationen treten in Berlin ebenfalls überwiegend gewaltfrei in Erscheinung, auch wenn speziell in diesem Bereich die Zahl der Gewalttaten 2006 zugenommen hat. Straftaten Nach der Statistik der "Politisch motivierten Kriminalität - Anstieg der Ausländer" war eine deutliche Zunahme der Straftaten von Gewaltdelikte 80 auf 189 Straftaten festzustellen. Dabei stiegen die politisch motivierten Gewaltdelikte im Vergleich zum Vorjahr von 9 auf 28. Dies geht vor allem auf einen Fallzahlenanstieg bei den Deliktsbereichen Brandstiftung und Körperverletzung im Themenfeld "PKK / Kurdenproblematik" zurück. Mehr Straftaten Bei den anderen Straftaten dieses Phänomenbereichs, zu denen vor allem Sachbeschädigungen, Verstöße gegen das Vereinsund Versammlungsgesetz, Propagandadelikte oder Volksverhetzung zählen, kam es zu einem starken Anstieg von 67 Straftaten 2005 auf 161 im Jahr 2006. Diese Zunahme ist u. a. auf das gestiegene Fallaufkommen im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt und im Themenbereich Islamismus / Fundamentalismus zurückzuführen (Auseinandersetzungen um den so genannten Karikaturenstreit und die Aufführung der Oper Idomeneo). AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 89 Fallzahlen Politisch motivierte Kriminalität - Ausländer* 2005 2006 Terrorismus 4 davon u. a. PKK / Kurdenproblematik Islamismus / Fundamentalismus 1 Gewaltdelikte 9 28 davon u. a. PKK / Kurdenproblematik 4 13 Islamismus / Fundamentalismus 1 Propagandadelikte 5 6 davon u. a. PKK / Kurdenproblematik 1 Islamismus/Fundamentalismus 1 sonstige Delikte 62 155 davon u. a. PKK / Kurdenproblematik 14 36 Islamismus / Fundamentalismus 15 41 Gesamt 80 189 davon u. a. PKK / Kurdenproblematik 18 50 Islamismus / Fundamentalismus 16 43 * Auszug aus dem Bericht "Lagedarstellung der Politisch motivierten Kriminalität in Berlin für das Jahr 2006" des Landeskriminalamtes Berlin (LKA). Der vollständige Bericht ist im Internet unter www.berlin.de/sen/inneres/sicherheit/statistiken/ index.html eingestellt. Entwicklung Bei den ausländerextremistischen Organisationen zeichnete sich hinsichtlich der Ideologie und der politischen Handlungsformen auch 2006 ein vielschichtiges Bild ab. Deutschland wurde Ziel zweier islamistisch motivierter Anschlagsversuche. Die gescheiterten Anschläge auf Gefährdungslage Regionalzüge zeigen zusammen mit den Anschlägen von Madrid (2004) und London (2005) sowie den vereitelten Anschlagsplänen auf Passagierflugzeuge in Großbritannien (2006), dass die Bedrohung durch den transnationalen islamistischen Terrorismus auch in Europa Realität ist. Nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden belegt dies zum einen die Funktionsfähigkeit grenzüberschreitender Strukturen des Terrornetzwerks "al-Qa'ida". Zum anderen zeigt sich, dass sowohl von "al-Qa'ida" ge- 90 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 steuerte, regionale Zellen als auch von "al-Qa'ida" ideologisch "inspirierte", strukturell ungebundene Attentäter zu koordinierten und verheerenden simultanen Anschlägen in der Lage sind. Neu sind Einzeltäter, die aus aktuellen Anlässen terroristisch aktiv werden. Maßgeblichen Anteil an der Rekrutierung potenzieller Attentäter haben die Audiound Videobotschaften sowie Internetplattformen aus dem Umfeld von "al-Qa'ida". Für Deutschland besteht weiter eine nicht nur abstrakte Gefährdung sowie eine unverändert hohe besondere Gefährdung der hier ansässigen US-amerikanischen, britischen, israelischen und jüdischen Einrichtungen. Im Mittelpunkt der Prozesse und Exekutivmaßnahmen zum islamistischen Terrorismus stand die Organisation Prozesse und "Ansar al-Islam". Im Strafverfahren wegen des geplanten Exekutivmaßnahmen Anschlags auf den damaligen irakischen Ministerpräsidenten im Jahr 2004 wurde vor dem Oberlandesgericht Stuttgart die Hauptverhandlung eröffnet, während in einem anderen Verfahren gegen ein Mitglied dieser Gruppierung in München eine Verurteilung erfolgte. Mounir El-Motassadeq wurde im Prozess um die Anschläge vom 11. September 2001 durch das Hanseatische Oberlandesgericht zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt, gegen die die Verteidigung Revision eingelegt hat. Anhänger der beiden regional terroristischen islamistiHAMAS, schen Gruppen HAMAS und "Hizb Allah" reagierten in "Hizb Allah" Deutschland verhalten auf die von massiver Gewalt gekennzeichnete Lage in Nahost. Wie in den Jahren zuvor agierten die HAMAS-Anhänger in Berlin nicht öffentlich. Entsprechend gab es keine öffentlichen Reaktionen auf den Wahlsieg der HAMAS bei den palästinensischen Parlamentswahlen am 25. Januar. Dagegen hatte der durch die Entführung von zwei israelischen Soldaten am 12. Juli ausgelöste Libanon-Krieg in Berlin zahlreiche friedliche Demonstrationen zur Folge, an denen sich libanesische und palästinensische Organisationen beteiligten. Da auf den Demonstrationen in Berlin Symbole AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 91 der "Hizb Allah" gezeigt wurden, ist von einer Beteiligung von "Hizb Allah"-Anhängern auszugehen. Darüber hinaus trat die "Hizb Allah" in Berlin nicht öffentlich in Erscheinung. In der türkisch islamistischen Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) ist keine ideologische NeuIGMG ausrichtung erkennbar. Es gab weder öffentliche Diskussionen zwischen Reformern und Traditionalisten noch wurden konkrete Reform-Projekte angestoßen. Die Reformer können sich offenbar nicht gegen die Traditionalisten in der Organisation durchsetzen. Fortbestehende enge Verbindungen zu Necmettin Erbakan, zu seiner Partei, der "Saadet Partisi" (SP), sowie deren Sprachrohr "Milli Gazete" ("Nationale Zeitung") belegen, dass die IGMG nach wie vor Teil der Milli Görüs-Bewegung ist, die weiter islamistische Positionen propagiert. Handlungsschwerpunkte der IGMG waren die Rekrutierung neuer Mitglieder und die Intensivierung der Kontakte zu Politik und Gesellschaft. Die Folgeorganisation der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der "Volkskongress Kurdistans" (KONGRAKurden: PKK GEL), war 2005 zusammen mit der "neuen" PKK und zahlreichen weiteren Neugründungen von Teilorganisationen in das System der "Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans" (KKK) eingegliedert worden. Damit endete vorläufig die Strategie, durch die Bekanntgabe scheinbarer struktureller Reformen den Eindruck einer Abkehr von der "alten" terroristischen PKK zu erwecken. Das Jahr 2006 war im Gegensatz dazu geprägt von einer Eskalation der Kämpfe der Guerillatruppen von PKK / KONGRA-GEL und durch zahlreiche Anschläge der Guerilla und der aus dieser hervorgegangenen "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK) in der Türkei. In der Folge kam es auch in Deutschland zu Ausschreitungen sowie in Berlin zu Anschlägen mutmaßlicher Anhänger der Jugendorganisation "KOMALEN CIWAN". Erst im Oktober beruhigte sich die Lage, nachdem Abdullah 92 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Öcalan zu einem einseitigen "Waffenstillstand" aufgerufen hatte. Türkische linksextremistische Gruppen verhielten sich in Deutschland den taktischen Vorgaben entsprechend weitLinksextremistische gehend friedlich. Die öffentlichen Aktionen bezogen sich Türken auf die Situation der in der Türkei inhaftierten Genossen und den Exekutivmaßnahmen in Deutschland. Ferner wurden politische Themen wie Hartz IV und das Ausländerrecht aufgegriffen. Das Fehlen herausragender politischer Aktivitäten der Organisationen in Deutschland führt zu Mitgliederschwund und Profilverlust. An der Ideologie und den terroristischen Aktivitäten im Heimatland hat sich jedoch nichts geändert. In der Türkei wurden weiterhin zahlreiche Anschläge verübt, die als Reaktionen der jeweiligen Organisation auf die Vorgehensweise der türkischen Sicherheitskräfte dargestellt wurden. Iraner: NWRI Die durch den Nationalen Widerstandsrat Iran (NWRI) vertretene "Volksmojahedin Iran-Organisation" (MEK) widmete sich intensiv der politischen Agitation, in der die Forderung nach Streichung der Organisation von den Terrorlisten einen besonderen Stellenwert einnahm. Durch professionelle Propaganda gegen die iranische Führung und für die eigenen Ziele wurde in parlamentarischen Kreisen für die politische Unterstützung der Organisation geworben. Zur Finanzierung ihrer Aktivitäten wurden - unter Anprangerung der Menschenrechtslage im Iran - massive Spendensammlungen auf der Straße durchgeführt. 3.2 Transnationaler islamistischer Terrorismus 3.2.1 Bedrohungslage Anhaltende Die Gefährdung durch den transnationalen islamistischen Gefährdung Terrorismus hält trotz wichtiger Erfolge im internationalen Anti-Terrorkampf - wie zahlreiche Festnahmen führender "al-Qa'ida"-Mitglieder und die Enttarnung internationa- AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 93 ler Zellen - weiter an. Die im März 2004 in Madrid und im Juli 2005 in London164 verübten Anschläge sowie die im August 2006 in Großbritannien vereitelten Anschlagspläne auf mehrere Passagierflugzeuge zeigen, dass Europa konkret bedroht ist. Auch Deutschland war 2006 Ziel zweier islamistisch motivierter Anschlagsversuche. Anschlagsversuche in Deutschland Ende Juli wurden zwei Sprengsätze in Regionalzügen nach Dortmund und Koblenz deponiert. Die Bomben waren in Sprengsätze in Koffern versteckt und explodierten nur aufgrund eines Regionalzügen Konstruktionsfehlers nicht. Wären sie zur Explosion gelangt, hätte dies verheerende Folgen gehabt. Die Wahl der Anschlagsorte und -zeitpunkte sowie des Sprengstoffes zeigen, dass es die Attentäter auf eine möglichst hohe Opferzahl abgesehen hatten. Aufgrund der Auswertung von Videobildern gelang eine schnelle Identifikation von zwei tatverdächtigen Libanesen ("Trolley-Bomber"), die sich "Trolley-Bomber" zum Studium in Deutschland aufhielten. Sie wurden noch im August in Deutschland und dem Libanon festgenommen. Gegen die Beschuldigten wird wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, des versuchten Mordes in einer Vielzahl von Fällen sowie des versuchten Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion ermittelt. Bisher gelten die Attentäter als nicht in den einschlägigen Terrorcamps ausgebildet oder von "al-Qa'ida" gezielt gesteuert. Den Ermittlungen zufolge sind sie Einzeltäter, die weder organisatoriEinzeltäter sche Verbindungen zu Terrorgruppen aufweisen noch als 164 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 116 - 117. 94 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 von der "al-Qa'ida"-Ideologie im Sinne eines Kampfes für den Irak "inspiriert" gelten. Da sie sich erst relativ kurz in Deutschland aufhielten, sind sie auch nicht dem "homegrown-terrorism" zuzuordnen. Offenbar hatten sie sich trotz einer möglicherweise bereits im Heimatland erfolgten Radikalisierung erst aufgrund aktueller Anlässe zu den Terroranschlägen entschlossen. Als Begründung führten sie die von ihnen als Angriff des Westens auf den Islam gewerteten Muhammad-Karikaturen an. Die Anschläge scheiterten an ihrem technischen Unvermögen; sie waren jedoch lange vorbereitet und bereits für die Zeit der Fußballweltmeisterschaft geplant gewesen. Hierzu hatten sich die Attentäter im Internet Anleitungen zum Bombenbau und Fahrpläne sowie ein Tötungen legitimierendes "Fatwa" ("Rechtsgutachten") des geistlichen Führers von Abu Mus'ab al-Zarqawi beschafft. Gefahr weiterer Anschläge Vor diesem Hintergrund muss von weiteren, bislang noch Deutschland als nicht enttarnten oder potenziellen Attentätern in Deutschland Anschlagsziel ausgegangen werden. Diese betrachten die Bundesrepublik nicht mehr allein als einen Rückzugsund Ruheraum, sondern mittlerweile als Vorbereitungsraum und mögliches Ziel von Anschlägen. Im Fokus ist Deutschland vor allem aufgrund seiner Beteiligung am weltweiten Kampf gegen den islamistischen Terrorismus im Rahmen militärischer Einsätze der Bundeswehr und zur Durchsetzung von UN-Resolutionen - etwa in Afghanistan, am Afrikanischen Horn und vor der libanesischen Küste - sowie aufgrund der Ausbildung irakischer Polizeibeamter und Offiziere im Rahmen der NATO. Angesichts wiederholter Drohungen von "al-Qa'ida" besteht Anschläge möglich für Deutschland weiter eine nicht nur abstrakte Gefährdung. Sie ist gegenüber der Gefährdung von Staaten wie den USA, Großbritannien oder Israel zwar als nachrangig, aber gleichwohl als relevant zu bezeichnen. Diese Gefährdung kann sich - in Deutschland oder gegen deutschen Interessen im Ausland gerichtet - jederzeit in Anschlägen manifestieren. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 95 3.2.2 Ausdifferenzierung der Täterprofile Die anhaltenden Terroranschläge belegen die Funktionsfähigkeit der grenzüberschreitenden Strukturen des "alQa'ida"-Terrornetzwerks. Es lässt sich eine Ausdifferenzierung der Täterprofile beobachten. Terroristische Anschläge drohen nicht mehr nur durch "al-Qa'ida" gesteuerte regionale Mujahidin-Zellen, sondern auch durch so genannte "home-grown"home-grown-networks" sowie von "al-Qa'ida" ideologisch networks", ideologisch "inspirierte", strukturell ungebundene Tätergruppen. Des inspirierte Gruppen Weiteren entschließen sich neuerdings Einzeltäter aus aktuellen Anlässen zu terroristischen Aktionen. Neben der "alQa'ida"-Ideologie und den internationalen politischen Entwicklungen können hierbei die persönliche Lebenssituation der Attentäter und ihr subjektives Lebensgefühl in der europäischen Gesellschaft eine Rolle spielen. Trotz unterschiedlicher Radikalisierungsprozesse sind alle Tätergruppen zu verheerenden Anschlägen in der Lage. "Home-grown-networks" Der Begriff "home-grown-terrorism" bezeichnet die Gefahr, die von in Europa radikalisierten Personengruppen ausgeht. "Home-grown-networks" werden von Muslimen der ersten oder zweiten Einwanderergeneration in Europa gebildet, die nur scheinbar integriert sind. Sie durchlaufen Radikalisierungsprozesse und richten ihre terroristischen Aktivitäten gegen ihre Aufnahmeländer. Als Beispiele für den "homegrown-terrorism" gelten die Anschläge von Madrid (2004) und London (2005), das Attentat auf den niederländischen Filmemacher van Gogh (2004) sowie - mit Einschränkungen - die 2006 in Großbritannien vereitelten Anschlagspläne auf mehrere Passagierflugzeuge. Ideologisch "inspirierte" Gruppen Die Anschläge in London 2005 hatten die Attentäter mit dem Irak-Krieg gerechtfertigt. Nach der "al-Qa'ida"-Ideologie ist dieser gegen die Gesamtheit der Muslime gerichtet. Der Begründungszusammenhang zeigt, wie stark ihr Handeln von Bin Ladin, Zawahiri und Zarqawi "inspiriert" war. Dass die Propaganda "al-Qa'ida"s die Attentäter motivierte, in 96 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Europa Anschläge zu planen, zu organisieren und durchzuführen, zeigt die Gefahr, die von der jihadistischen Ideologie ausgeht. Die Aktivitäten dieser Attentäter bedürfen nicht zwingend einer operativen Steuerung oder zentralen Vorbereitung. Radikalisierte Einzelpersonen Schwer fassbar sind Fälle von islamistisch radikalisierten Einzelpersonen. Die Ursachen, die eine Radikalisierung fördern und terroristische Aktionen auslösen, können vielfältig sein. Hierzu zählen zum einen das verstärkte außenpolitische Engagement Deutschlands wie die friedenssichernde Präsenz der deutschen Marine vor der libanesischen Küste. Zum anderen lassen sich Reaktionen auf aktuelle Anlässe wie die Veröffentlichung von Muhammad-Karikaturen165 beobachten. Diese waren etwa das Motiv für die "Trolley-Bomber" und den versuchten Anschlag auf den Chefredakteur der Zeitung "Die Welt". 3.2.3 Aktionsund Rekrutierungsbasis Irak Der Irak hat sich zu einer zentralen Aktionsund RekruZunahme tierungsbasis für den islamistischen Terrorismus entwickelt. terroristischer Angesichts der massiven Zunahme terroristischer Gewalt Gewalt droht das Land zu einem "gescheiterten Staat" zu werden. Nach UN-Angaben sind bislang ca. 34 500 Zivilisten getötet und weitere ca. 36 500 verletzt worden. 165 Die dänische Zeitung "Jyllands-Posten" veröffentlichte 2005 Karikaturen über den Propheten Muhammad, die auch von Zeitungen in anderen Ländern - darunter Deutschland - unter Hinweis auf die Pressefreiheit veröffentlicht wurden. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 97 Das fortdauernd chaotische Umfeld sichert die Existenz der terroristischen Gruppen im Land und bildet die Ausgangsbasis für den Export des Jihad in die umliegenden arabischen Staaten (Syrien, Jordanien, Saudi-Arabien und Kuwait) sowie die Rückkehr kampferprobter Jihadisten nach Europa. Entstehung terroristischer Netzwerke Begünstigt durch die instabilen Verhältnisse, insbesondere Instabile durch das Fehlen einer effektiven Zentralgewalt, haben sich Verhältnisse im Irak terroristische Netzwerke herausgebildet. Dabei handelt es sich sowohl um irakische Nationalisten, deren Agenda weitgehend auf den Irak begrenzt ist, als auch um jihadistisch orientierte Gruppen, deren Ziele über den Irak hinausgehen.166 Zentrum der jihadistischen "AufstandsbeweNeue terroristische gungen" ist nach wie vor das Netzwerk von Abu Mus'ab alNetzwerke Zarqawi. Seit Januar 2006 operiert das Zarqawi-Netzwerk unter der Bezeichnung "Beratungsgremium der Mujahidin" ("Majlis shura al-mujahidin" / MSC), einem Zusammenschluss aus mehreren militanten Gruppen, der von der Zarqawi-Gruppe dominiert wird.167 166 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 120 - 125. 167 Das Zarqawi-Netzwerk hat in den vergangenen Jahren mehrfach seinen Namen gewechselt. Bis Ende 2004 firmierte es unter der Bezeichnung "Gruppe für das Einheitsbekenntnis und den Jihad" ("Jama'at al-tauhid wa'l-jihad"), bevor es in "Basis des Jihad im Zweistromland" ("Qa'idat al-jihad fi bilad al-rafidain") umbenannt wurde und Zarqawi seine Zugehörigkeit zu "al-Qa'ida" erklärte. 98 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Abu Mus'ab al-Zarqawi wurde am 7. Juni bei einem LuftZarqawi getötet angriff nahe Ba'quba nördlich von Bagdad im Rahmen einer gemeinsamen Operation amerikanischer und irakischer Streitkräfte gezielt getötet. Allerdings scheint sein Tod das Netzwerk kaum geschwächt zu haben.168 Die Anhänger eint das Ziel, die alliierten Besatzungstruppen und den neuen Staat zu bekämpfen sowie auf irakischem Boden ein islamistisches Staatswesen zu errichten. Am 15. Oktober proklamierte das MSC einen "Islamischen Staat Irak" bestehend aus sechs Provinzen des Zentral-Irak. Gleichzeitig wurden die irakischen Sunniten aufgefordert, Shaikh Abu Umar alBaghdadi als neuem "Emir der Gläubigen" zu huldigen. Bürgerkriegsstrategie des Zarqawi-Netzwerks Die Terroranschläge des Zarqawi-Netzwerks richten sich gegen die alliierten Truppen, die führenden Repräsentanten der neugeschaffenen irakischen Institutionen, die neuformierten Sicherheitskräfte sowie Zivilisten. Ziel ist die fortdauernde Destabilisierung des Landes sowie die UnterbinUnterbindung der dung des Demokratisierungsprozesses. Durch die Anschläge Demokratisierung auf militärische und zivile Objekte sollen die Alliierten zum Abzug aus dem Irak gezwungen werden.169 Auch der neuen Regierung unter dem schiitischen Ministerpräsidenten al168 Galt die Zarqawi-Gruppe vor 2002 als vorwiegend jordanisch-palästinensischer Zusammenschluss mit begrenztem terroristischen Potenzial, hat sie sich seit Sommer 2003 zu einem multinationalen Netzwerk entwickelt, dem inzwischen Syrer, Saudis, Kuwaitis sowie eine große Zahl einheimischer Iraker angehören. 169 Der Truppenabzug einiger Staaten sowie die Rückbeorderung von Mitarbeitern internationaler Hilfsorganisationen und der UNO machen deutlich, dass die Entführungen und Tötungen von Geiseln sowie die Behinderung jeglicher Maßnahmen zur Wiederherstellung von Sicherheit und Infrastruktur im Lande ihre Wirkung nicht verfehlen. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 99 Maliki gelang es bislang nicht, die Sicherheitslage in den Griff zu bekommen. In einer Mischung aus fanatisch-religiösen, politischen und kriminellen Motiven richtet das Zarqawi-Netzwerk seine Angriffe auch gegen die christliche Minderheit, gegen jene sunnitischen Bevölkerungsteile, die mit den Alliierten oder der neuen Regierung kooperieren sowie gegen die von ihm als religiös Abtrünnige diffamierte schiitische BevölkerungsAnschläge mehrheit. Mit beispiellosen Anschlagsserien auf Moscheen auf Schiiten und religiöse Zeremonien der Schiiten verfolgt es seit 2004 eine anti-schiitische Bürgerkriegsstrategie, die die Zerstörung des labilen Gleichgewichts zwischen den irakischen Volksgruppen und Religionsgemeinschaften zum Ziel hat. Höhepunkt der Angriffe war am 22. Februar der mindestens 130 Tote fordernde Anschlag auf eines der wichtigsten schiitischen Heiligtümer im Irak, die Grabmoschee der Imame Ali al-Hadi al-Naqi und al-Hasan al-Askari in Samarra. In der Folge gab es zahlreiche Gegenangriffe von Schiiten auf Gegenangriffe sunnitische Moscheen. Diese - von Zarqawi bereits 2005 als auf Sunniten "totaler Krieg" gegenüber den Schiiten angekündigten - terroristischen Angriffe machen deutlich, dass im Irak ein Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten entfesselt und schiitische Gegenschläge provoziert werden sollen. 3.2.4 Audiound Videobotschaften von "al-Qa'ida" Seit einigen Jahren führen "al-Qa'ida" und ideologisch mit ihr verwandte Gruppen eine professionelle MedienoffenProfessionelle sive.170 Über kommerzielle pan-arabische Fernsehsender und Medienoffensive das Internet werden vor allem Audiound Videobotschaften der maßgeblichen Köpfe des transnationalen islamistischen 170 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 125 - 131. 100 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Terrorismus - Usama Bin Ladin, Aiman al-Zawahiri, Abu Mus'ab al-Zarqawi - sowie weiterer Gruppen verbreitet. Die Propagandaoffensive zielt auf die Steigerung der medialen Wirkung von Terroranschlägen sowie die Mobilisierung von Anhängern und die Rekrutierung neuer Attentäter. Die transportierten Inhalte unterschieden sich 2006 im Wesentlichen nicht von der Propaganda des Vorjahres.171 Hauptinhalte der Audiound Videobotschaften Durchgängiges Element der Audiound Videobotschaften aus dem Umfeld von "alGezielte Qa'ida" waren gezielte, wenn Anschlagsdrohungen auch wenig konkretisierbare Anschlagsdrohungen, die eine internationale und eine regionale Dimension aufwiesen. Die Anschlagsdrohungen richteten sich vor allem gegen die USA, gegen Israel sowie gegen jene Staaten, die im Irak oder in Afghanistan Truppen unterhalten oder die dortigen neuen Regierungen durch anderweitige Hilfsmaßnahmen unterstützen. Mit dem Tode bedroht wurden ferner Mitarbeiter der UNO sowie Regierungsvertreter im Irak. Darüber hinaus wurden erneut fast sämtliche politische Führer in den muslimischen Ländern (in den arabischen Staaten, in Pakistan und in Afghanistan) für exkommuniziert erklärt und "die Muslime" zum Sturz ihrer Regierungen aufgerufen. Ferner wurde an "alle Muslime" appelliert, im Namen des Jihad einen weltweiten Kampf gegen so genannte "Kreuzritter", d. h. westliche Ziele, zu führen. Militante Organisationen sowie terroristische Kleingruppen wurden für ihre Anschläge gelobt. 171 Vgl. zur ausführlichen Analyse der Botschaften: Senatsverwaltung für Inneres: Audiound Videobotschaften von al-Qa'ida 2006. Lageanalyse. Berlin 2007, www.verfassungsschutz-berlin.de. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 101 Audiobotschaften von Usama Bin Ladin Nachdem es von Usama Bin Ladin im Vorjahr keinerlei Verlautbarungen gegeben hatte, meldete er sich am 19. Januar erstmals wieder zu Wort. Er drohte den USA mit Anschlägen Anschlagsdrohungen in ihrem Lande und bot ihnen zugleich einen Waffenstillstand an, falls sie ihre Truppen aus Afghanistan und dem Irak zurückzögen.172 Die Botschaft hatte - sowohl gegenüber der westlichen Staatengemeinschaft als auch den Anhängern und Sympathisanten von "al-Qa'ida" - die Funktion eines Lebenszeichens. Es sollte der Eindruck vermittelt werden, dass Bin Ladin weiter in operative Planungen des Terrornetzwerks eingebunden sei und diese steuere. Darüber hinaus versuchte Bin Ladin, sich als antiimperialistischer Kämpfer und als Selbststilisierung als politisch-religiöse politisch-religiöse FührungsFührungsfigur figur der gesamten muslimischen Welt zu präsentieren. Dieses Ziel verfolgte er auch in seinen folgenden vier Audiobotschaften.173 Er warf den westlichen Staaten vor, einen "Kreuzzugs-Krieg gegen den Islam" zu führen, und drohte den Bevölkerungen Europas mit Rache. Er brandmarkte den amerikanischen Präsidenten Bush als "Pharao" und benutzte damit einen bei gewaltorientierten Islamisten häufigen Begriff, mit dem Muslime zur Tötung von als "ungerechte Herrscher" betrachteten Staatsoberhäuptern aufgefordert werden.174 Ferner bezog sich Bin Ladin auf die Affäre um die umstrittenen Muhammad-Karikaturen und forderte die Überstellung oder Tötung all jener, die den Propheten Muhammad beleidigt hätten.175 172 Vgl. Audiobotschaft Bin Ladin vom 19.1.2006. 173 Vgl. Audiobotschaften Bin Ladin vom 23.4.2006; 24.5.2006; 1.7.2006. 174 Ein Beispiel für die Diffamierung als "Pharao" und anschließende Tötung mittels Jihad ist die Ermordung des ägyptischen Staatspräsidenten Anwar al-Sadat durch die ägyptische Terrorgruppe "al-Jihad alIslami" ("Der islamische Kampf") am 6.10.1981. 175 Vgl. Audiobotschaft Bin Ladin vom 23.4.2006. 102 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Videobotschaften von Aiman al-Zawahiri Im Rahmen der Medienoffensive "al-Qa'idas" nehmen die Videobotschaften von Aiman al-Zawahiri, des Stellvertreters von Usama Bin Ladin, eine zentrale Stellung ein. Im Mittelpunkt der professionell aufgemachten und häufig mit englischen Untertiteln versehenen Botschaften standen Prophezeiungen des militärischen Scheiterns in Afghanistan und Irak,176 Anschlagsdrohungen gegen westliche Staaten Anschlagsdrohungen (die insbesondere Frankreich betrafen) 177 sowie Aufrufe zum und Aufrufe zum Sturz der Regierungen der nahund mittelöstlichen Staaten, Herrschersturz insbesondere im Irak.178 Diese Botschaften wurden gezielt zu Anlässen wie dem vierten Jahrestag der "Schlacht von Tora Bora"179 oder dem fünften Jahrestag der Anschläge des 11. September180 verbreitet. Ein Schwerpunkt waren auch die AusWarnung vor sagen Zawahiris zu Israel und zur HAMAS (). So warnte Anerkennung er die islamistische HAMAS mehrfach davor, ihre GewaltIsraels orientierung aufzugeben und sich von "islamfeindlichen" und "konfessionslosen" Kräften wie der palästinensischen Autonomiebehörde in das politische System integrieren zu lassen.181 Er behauptete, dass ein Friedensabkommen mit Israel gegen die Scharia sowie gegen das Prinzip des Tauhid182 verstieße. Eine Anerkennung Israels durch die HAMAS, wie sie die UNO, EU, USA und Russland fordern, käme der "Preisgabe des Islam"183 gleich. Zawahiri nannte 176 Vgl. Videobotschaften al-Zawahiri vom 6.1.2006; 29.4.2006; 11.9.2006. 177 Vgl. Videobotschaften al-Zawahiri vom 11.9.2006; 29.9.2006. 178 Vgl. Videobotschaft al-Zawahiri vom 29.4.2006. 179 Videobotschaft al-Zawahiri vom 12.4.2006. 180 Vgl. Videobotschaft al-Zawahiri vom 11.9.2006. 181 Videobotschaft al-Zawahiri vom 6.1.2006. 182 Der Begriff "Tauhid", der eigentlich nur den Monotheismus bezeichnet, steht bei Islamisten für das geforderte einheitliche islamistische Weltbild. Ihre Anhänger werden als "Muwahhidin" (auf Deutsch etwa "Tauhidisten") bezeichnet. 183 Videobotschaft al-Zawahiri vom 4.3.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 103 die Bekämpfung Israels eines der wichtigsten strategischen Ziele von "al-Qa'ida". Den Krieg zwischen Israel und der libanesischen Hizb Allah () beBefürwortung des zeichnete er als einen "kreuzzügle"Hizb Allah"Krieges risch-zionistischen Krieg". Auffällig war, dass Zawahiri sich trotz massiver ideologischer Differenzen zwischen der sunnitischen "al-Qa'ida" und der schiitischen "Hizb Allah" indirekt auf die "Hizb Allah" bezog und mit seinem Appell an die "Entrechteten und Unterdrückten auf Erden"184 Begriffe verwandte, die bisher nur schiitische Organisationen benutzten. Zawahiri verkündete den Anschluss der algerischen "Groupe Anschluss der GSPC Salafite pour la predication et le combat" ("Salafistische Gruppe für die Predigt und den Kampf" / GSPC) an "alQa'ida".185 Die GSPC bestätigte den Zusammenschluss am 14. September. Seit Januar 2007 operiert sie unter der Bezeichnung "al-Qa'ida im islamischen Maghreb". Der Zusammenschluss zielt auf die propagandistische Aufwertung sowohl von "al-Qa'ida" als auch der - bis dahin eher regional operierenden - GSPC, was durchaus die Mobilisierung und Rekrutierung neuer Attentätergruppen zur Folge haben kann. Auch aktuelle Ereignisse wie etwa die Veröffentlichung der Muhammad-Karikaturen oder die Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI. wurden von "al-Qa'ida" propagandistisch genutzt. So stellte Zawahiri die Karikaturen in einen Zusammenhang mit einem den westlichen Staaten unterstellten Kreuzzug gegen den Islam186 und rief zum Boykott Boykottaufruf jener Staaten auf, die die Karikaturen nachdruckten. Diesgegen Deutschland bezüglich nannte er namentlich auch Deutschland.187 Da184 Videobotschaft al-Zawahiri vom 27.7.2006. 185 Videobotschaft al-Zawahiri vom 11.9.2006. 186 Vgl. Videobotschaft al-Zawahiri vom 22.6.2006. 187 Vgl. Videobotschaft al-Zawahiri vom 6.3.2006. 104 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 rüber hinaus diffamierte er den Papst als ein "teuflisches Wesen"188 ("Dajjal"). Audiound Videobotschaften von Abu Mus'ab al-Zarqawi Am 25. April präsentierte sich Abu Mus'ab al-Zarqawi erstmals auf einem Videoband, das sämtliche Spekulationen über mögliche Verletzungen oder seinen Tod beendete. Er betonte mehrfach den bewaffneten Jihad im Irak und warnFortführung des te die irakische Polizei und Armee vor weiteren AnschläJihad im Irak gen.189 Mit Blick auf die Außenwirkung schien das Video darauf abzuzielen, nach der heftigen Kritik, die das exzessive Töten des Zarqawi-Netzwerks auch innerhalb von "alQa'ida" hervorgerufen hatte, die Einheit mit der "al-Qa'ida"Zentralorganisation zu demonstrieren. Hierfür spricht die Verwendung des Ehrentitels "Emir" für Bin Ladin. Darüber hinaus präsentierte sich Zarqawi als militärischer Führer der "bewaffneten irakischen Widerstandsgruppen". Zugleich versuchte er, die - allerdings eher formelle - Unterordnung seines Netzwerks unter das im Januar neugegründete "Beratungsgremium der Mujahidin" (MSC) im Irak nachzuweisen.190 Auf die gezielte Tötung Zarqawis am 7. Juni folgten von "al-Qa'ida" die Bestätigung seines Todes, Nachrufe sowie seine Verherrlichung als Märtyrer. Ferner bestätigte Bin Ladin die am 12. Juni erfolgte Ernennung Nachfolger Zarqawis des Ägypters Abu Hamza al-Muhajir (alias Abu Ayyub alMasri) zum Nachfolger von Zarqawi.191 Dieser meldete sich 188 Videobotschaft al-Zawahiri vom 29.9.2006. 189 Vgl. Videobotschaft Zarqawi vom 25.4.2006. 190 Vgl. Audiobotschaft Zarqawi vom 17.2.2006. 191 Vgl. Audiobotschaft Bin Ladin vom 1.7.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 105 inzwischen ebenfalls mit Audiobotschaften zu Wort. AlMuhajir warnte die Sunniten im Irak vor einer Zusammenarbeit mit der schiitisch dominierten Regierung, drohte den Streitkräften der Alliierten mit einer Intensivierung der Anschläge192 und rief die Mujahidin zum Einsatz chemischer und biologischer Waffen auf.193 3.2.5 Medium Internet Neben den pan-arabischen Fernsehsendern bildet das Internet das zentrale Instrument für die propagandistische Vorbereitung und nachträgliche Legitimation des Terrorismus. Legitimation Wie die immens gestiegene Zahl islamistischer Internetseiten des Terrorismus zeigt, wird das World Wide Web von "al-Qa'ida" und Sympathisanten mit zunehmender Intensität genutzt. Ziel der über zahllose offene islamistische Internetseiten und schwer zugängliche Chatrooms verbreiteten Propaganda ist vor allem die Rekrutierung potenzieller Attentäter, ihre ideologische Schulung sowie die Verbreitung konkreter Handlungsanleitungen für Anschläge. Da die mehr als 5 000 offen zuVirtuelle gänglichen islamistischen Websites wie auch das abgeschotGemeinschaft von Jihadisten tete "Schatten-Web" ("dark web") und "verborgene Web" ("hidden web") kaum kontrollierbar sind, droht sich über das Internet eine virtuelle Gemeinschaft potenzieller Jihadisten herauszubilden. Die frei von geografischen Grenzen kommunizierbare Jihad-Ideologie kann auch auf organisatorisch nicht an "al-Qa'ida" gebundene Personen stimulierend wirken. Zentrales Publikationsforum des Netzwerks "al-Qa'ida" und seiner Sympathisanten ist seit 2004 das "Islamic Media CenZentrales tre" (IMC). In diesem Forum, das umfangreiche PropaganForum: IMC dasammlungen verschiedenster islamistischer Gruppen anbietet, finden sich neben gewaltverherrlichender Jihad-Propaganda detaillierte Anleitungen zum Bombenbau, Giftund Waffenbücher sowie als vermeintliche "Rechtsgutachten" 192 Vgl. Audiobotschaft al-Muhajir vom 7.9.2006. 193 Vgl. Audiobotschaft al-Muhajir vom 28.9.2006. 106 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 ("Fatwas") deklarierte Gewaltpamphlete selbsternannter Muftis. Eine bedeutende Rolle für die Internet-Propaganda spielt ferner die "Global Islamic Media Front" (GIMF), die sich vor allem der Aufbereitung und Weiterverbreitung von jihaVerbreitung distischer Propaganda im Internet widmet. Mit der Selbstbejihadistischer zeichnung "Globale Islamische Medienfront" präsentierte Propaganda: GIMF sich die GIMF erstmals auch in deutscher Sprache. Mittels Selbstbezichtigungsschreiben und Terrorvideos, die etwa vom irakischen "Beratungsgremium der Mujahidin" stammen, wird insbesondere unter Jugendlichen um Sympathisanten geworben. Möglichen Interessenten werden Jobs in der Aufbereitung einschlägiger Artikel und Erklärungen sowie Videos angeboten. In deutscher Sprache erschien erstmals auch "Saut alKhilafa" ("Stimme des Kalifats"), eine der GIMF zuzurechnende Plattform, die jihadistische Propaganda im Stil einer Nachrichtensendung verbreitet. Aktuelle politische Ereignisse werden aus Sicht der Jihadisten dargestellt, Gewalttaten pseudoreligiös legitimiert und neue Attentäter angeworben. In diesem Jahr betraf dies die Ausrufung eines islamischen Staates Irak durch das MSC sowie Anschlagsvideos, die für den Irak die "vollständige Niederlage des Unglaubens" und den "Zusammenbruch des kreuzzüglerischen Projekts" prophezeien. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 107 Wie sehr islamistische Internetmedien Bezug auf aktuelle Ereignisse nehmen, zeigt auch ein von der GIMF unter dem Titel "Moujahidins World Cup" veröffentlichter Propagandafilm, der die FußballPropagandafilm zur Fußball-WM weltmeisterschaft in Deutschland zum Anlass für Jihad-Werbung nahm. Hierin wurden Anschläge zahlreicher jihadistischer Gruppen im Irak im Stil einer Fußballberichterstattung bejubelt, die Anschläge des 11. September 2001 propagandistisch nachbereitet sowie potenzielle Attentäter zur Nachahmung entsprechender Anschläge animiert. 3.3 Prozesse und Exekutivmaßnahmen Ende 2006 wurde in 221 Verfahren mit islamistisch-terrorisIslamistischer tischem Hintergrund ermittelt, davon führten 106 Verfahren Terrorismus: 221 Verfahren das Bundeskriminalamt und 115 die Länder. Nach den Anschlagsversuchen auf Regionalzüge konnten die beiden Täter schnell identifiziert und in Deutschland und dem Libanon festgenommen werden. Gegen Jihad H. und Youssef el H. sowie vier weitere Personen wurde am 11. Januar 2007 in Beirut Anklage erhoben.194 Die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft gegen Jihad H. und Youssef el H. und den syrischen Staatsangehörigen Fadi A. S. sowie weitere unbekannte Personen dauern an. Es besteht der Verdacht der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, des versuchten Mordes in einer Vielzahl von Fällen und des versuchten Herbeiführens von Sprengstoffexplosionen. Mehrere Verfahren waren im Zusammenhang mit der Organisation "Ansar al-Islam" anhängig. Die Ermittlungen zu dem vereitelten Anschlag auf den damaligen irakischen Ministerpräsidenten Dr. Iyad Allawi während seines Staatsbesuchs am 2. / 3. Dezember 2004 in Berlin belegen, dass in 194 Vgl. S. 93 - 94. 108 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Deutschland terroristisch aktive Strukturen der "Ansar alIslam" existieren. Dies bestätigt auch das Verfahren gegen Lokman M., der vom Oberlandesgericht München u. a. wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung rechtskräftig verurteilt wurde. Der Prozess im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September 2001 gegen Mounir El-Motassadeq wurde fortgeführt. Nachdem der Bundesgerichtshof (BGH) den Schuldspruch verschärfte, hat das Oberlandesgericht Hamburg das Strafmaß auf 15 Jahre festgelegt. Das Urteil gegen drei Mitglieder einer deutschen Al TawhidZelle, die vom Oberlandesgericht Düsseldorf im Oktober 2005 wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu Freiheitsstrafen zwischen sechs und acht Jahren verurteilt worden waren,195 wurde im Januar 2007 rechtskräftig. Der BGH hat die Revision der Angeklagten verworfen.196 Im Ermittlungsverfahren gegen Mamoun Darkazanli entschied der Generalbundesanwalt, das Verfahren einzustellen. 3.3.1 "Ansar al-Islam"-Verfahren Am 20. Juni begann vor dem Oberlandesgericht Stuttgart der Prozess gegen die drei irakischen Staatsangehörigen Ata A. R. aus Stuttgart, Mazen A. H. aus Augsburg und Rafik Y. aus Berlin.197 Ihnen wird vorgeworfen,198 als Mitglieder - der Angeklagte Ata A. R. als Rädelsführer - von Deutschland Finanzierung und aus für die ausländische terroristische Vereinigung "Ansar Rekrutierung al-Islam"199 vornehmlich in den Bereichen Finanzierung und 195 Vgl. Oberlandesgericht Düsseldorf, Az.: OLG III-VI 13/03. 196 Vgl. Bundesgerichtshof, Az.: BGH 3 StR 251/06. 197 Vgl. Oberlandesgericht Stuttgart, Az.: OLG 5-2 StE 2/05; Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 134. 198 SSSS 129a und 129b StGB. 199 Die im September 2001 im Nordirak gegründete Organisation "Ansar al-Islam", die seit 2004 als "Ansar al-Sunna" agiert, besteht überwiegend aus islamistischen Kurden, die auch mit Waffengewalt die Errichtung eines islamistischen Staatswesens im Irak nach dem Vorbild des früheren Taliban-Regimes in Afghanistan anstreben. Zu ihrer logisti- AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 109 Rekrutierung tätig gewesen zu sein. Ata A. R. und Mazen A. H. wird zugleich der Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz zur Last gelegt.200 Zudem werden alle Angeklagten der Übereinkunft zur Tötung des ehemaligen irakischen Ministerpräsidenten Dr. Iyad Hashim Allawi beschuldigt.201 Die drei irakischen Staatsangehörigen waren am 3. Dezember 2004 vorläufig festgenommen worden und befinden sich seitdem in Untersuchungshaft. Die Hinweise auf Anschlagspläne hatten sich aus einer Vielzahl verschlüsselt geführter Telefonate ergeben. Sie zeigen, dass der Angeklagte Rafik Y. aus Berlin konkrete Überlegungen zur Umsetzung eines Anschlags auf den Staatsgast anstellte und am 2. Dezember Anschlag auf 2004 zur Vorbereitung der Tat eine Ausspähungsfahrt in irakischen Ministerpräsidenten Berlin unternahm, nachdem die weiteren Angeklagten ihm die Erlaubnis zur Ausführung des Vorhabens erteilt hatten.202 In einem weiteren Verfahren wurde Lokman M. im Januar 2006 wegen Mitgliedschaft in der Organisation "Ansar alUnterstützung und Islam", bandenmäßiger Einschleusung von Ausländern und Mitgliedschaft in terroristischer Betruges rechtskräftig verurteilt.203 Der 6. Strafsenat des Vereinigung Münchener Oberlandesgerichts verhängte eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren. Damit erfolgte in der Bundesrepublik erstmals eine Verurteilung wegen Unterstützung, Werbung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland nach dem durch das Terrorismusbekämpfungsgesetz geschaffenen und am 30. August 2002 in Kraft getretenen SS 129b StGB. Lokman M. hatte den Hauptvorwurf, Mitglied in der Organisation "Ansar al-Islam" zu sein, schen und finanziellen Unterstützung unterhält die Organisation auch in Westeuropa ein Netzwerk. 200 SS 34 Abs. 4 AWG. 201 SS 30 Abs. 2 StGB. 202 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 132 f; dies: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 135. 203 SS 34 Abs. 4 AWG. 110 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 bestritten, aber eingeräumt, bei der Schleusung von Landsleuten geholfen zu haben.204 Vor dem Oberlandesgericht München wird seit Juni 2006 gegen zwei irakische Staatsbürger wegen Unterstützung der "Ansar al-Islam" verhandelt.205 Dieman A. I. aus Nürnberg und Ferhad Kanabi A. aus München sind u. a. angeklagt, Spendengelder vom Bundesgebiet aus für die "Ansar alIslam" gesammelt oder Hilfstätigkeiten wie etwa Kurierund Fahrdienste für die Vereinigung ausgeführt zu haben. 3.3.2 Prozess im Zusammenhang mit dem 11. September 2001 gegen Mounir El-Motassadeq Der 7. Strafsenat des Hanseatischen Oberlandesgerichts hat Mounir El-Motassadeq am 8. Januar 2007 zu 15 Jahren FreiSchuldspruch heitsentzug verurteilt. Der Schuldspruch ist rechtskräftig, die rechtskräftig Verteidigung hat jedoch Revision gegen das Strafmaß eingelegt. Grundlage war die Entscheidung des BGHs vom 16. November, dass El-Motassadeq nicht nur der Mitgliedschaft in einer Beihilfe zum Mord terroristischen Vereinigung, sondern auch der Beihilfe zum Mord in 246 Fällen schuldig sei. Er habe gewusst, dass mehrere zu Piloten ausgebildete Attentäter in den USA Flugzeuge zum Absturz bringen wollten. Damit leistete ElMotassadeq nach der Entscheidung des BGH vorsätzliche Hilfe zur Ermordung der Flugzeuginsassen. Zur Festsetzung des neuen Strafmaßes hatte der BGH den Fall an das Hanseatische Oberlandesgericht zurückverwiesen.206 Dem Schuldspruch des BGH war aufgrund der schwierigen Beweislage ein langjähriges Verfahren vorausgegangen. 207 204 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 136. 205 Oberlandesgericht München, Az.: OLG 6 St 007/05, 6 St 001/06. 206 Vgl. Presseerklärung des Bundesgerichtshofes Nr. 163/2006; Bundesgerichtshof, Az.: BGH 3 StR 139/06. 207 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2002. Berlin 2003, S. 67 f; dies.: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 111 Nachdem das Bundesverfassungsgericht noch im Februar entschieden hatte, dass der Haftbefehl gegen ihn außer Kraft zu setzen sei, kam El-Motassadeq am 17. November vor dem Hintergrund einer veränderten Sachlage auf Beschlusses des BGH wieder in Haft.208 3.3.3 Ermittlungsverfahren gegen Mamoun Darkazanli Am 14. Juli stellte der Generalbundesanwalt (GBA) das Verfahren Ermittlungsverfahren gegen den syrisch-deutschen Staatsaneingestellt gehörigen Mamoun Darkazanli ein, da für eine Anklage kein hinreichender Tatverdacht gegen ihn vorliegt. Darkazanli diente nach Überzeugung des GBA zwar zwischen 1993 und 1998 als Ansprechpartner mehrerer "al-Qa'ida"-Verantwortlicher und war in das internationale Firmengeflecht von "alQa'ida" eingebunden. Diese Aktivitäten erfüllen jedoch nicht die Voraussetzung für die Strafbarkeit nach SS129a StGB (Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung). Zudem liegen keine Verdachtsmomente vor, dass Darkazanli an der Vorbereitung oder Ausführung von Terroranschlägen - insbesondere den Anschlägen vom 11. September 2001 - beteiligt war, obwohl er einzelne Mitglieder der "Hamburger Gruppe" um Mohammed Atta kannte.209 Im Oktober 2004 war Darkazanli aufgrund eines spanischen Auslieferungsersuchens in Haft genommen worden. Die spanischen Behörden warfen ihm vor, seit 1997 in Spanien, Deutschland und Großbritannien als eine der Schlüsselfiguren von "al-Qa'ida" im Bereich der logistischen und finanziellen Unterstützung dieser Organisation aktiv zu sein. Dem Auslieferungsersuchen wurde nicht stattgegeben.210 S. 115 f; dies.: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 130 f; dies.: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 139. 208 Vgl. Presseerklärung des Bundesgerichtshofes Nr. 165/2006 vom 17.11.2006. 209 Vgl. Presseerklärung des GBA Nr. 27/2006 vom 14.7.2006. 210 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 131 f. 112 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 3.4 Regional gewaltausübende islamistische Gruppen: Die Lage im Nahen Osten und ihre Auswirkungen Entführung Die Entführung israelischer Soldaten durch die palästinenisraelischer Soldaten sische Bewegung des Islamischen Widerstands ( HAMAS) und die libanesische Partei Gottes ( Hizb Allah") hatte weiträumige Militäroperationen Israels im Gaza-Streifen und im Libanon zur Folge. HAMAS und "Hizb Allah" agieren in Deutschland weder als Organisationen noch offen unter ihren Namen. Ihr Tätigkeitsschwerpunkt liegt vor allem in der Betreuung von Landsleuten und der Unterstützung der Mutterorganisationen Auswirkungen im Nahen Osten. Nichtsdestotrotz beeinflussen die in Nahost der Gewalt von Machtpolitik, sozialem Engagement und Terroismus auf Deutschland gekennzeichneten Aktivitäten von HAMAS und "Hizb Allah" die Anhänger beider Organisationen in Deutschland. Diese beschränkten ihre öffentlichen Aktionen weitgehend auf friedlich verlaufene Demonstrationen. 3.4.1 "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS) Sieg bei den palästinensischen Parlamentswahlen Absolute Mehrheit Bei der Wahl zum palästinensischen Parlament am 25. Januar errang die HAMAS auf Anhieb die absolute Mehrheit.211 Damit verfügt eine zum Gewaltverzicht nicht bereite islamistische Organisation erstmals über eine regierungsfähige Mehrheit im Parlament. Forderungen des Vom Nahost-Quartett - UNO, EU, USA und Russland - Nahost-Quartetts wurde die HAMAS aufgefordert, das Existenzrecht Israels anzuerkennen, auf Gewalt zu verzichten, anti-israelische und antisemitische Rhetorik zu unterlassen sowie die bisher zwischen der Autonomiebehörde und Israel geschlossenen 211 Am 15. Januar 2007 legte der bis dahin amtierende HAMAS-Ministerpräsident Ismail Hanija sein Amt nieder, um den Weg für eine "Regierung der nationalen Einheit" aus HAMAS und Fatah frei zu machen. Dem gingen gewaltsame innerpalästinensische Auseinandersetzungen voraus. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 113 Verträge und Abkommen anzuerkennen. Diesen Forderungen ist die Organisation 2006 nicht nachgekommen. Eskalation der Gewalt im Gaza-Streifen Ungeachtet ihrer Regierungsverantwortung verfolgt die Strategie der Gewalt HAMAS weiterhin eine Strategie der Gewalt. So betont der Führer der Auslandssektion Khalid Mash'al kurz nach der Wahl, dass die Gewaltausübung weiter eine "strategische Option" sei, die neben der "Option Demokratie" fortbestehe.212 Als sich am 17. April ein 21-jähriger palästinensischer Selbstmord-Attentäter vor einem Lokal in Tel Aviv in die Luft sprengte und neun weitere Menschen mit in den Tod riss, rechtfertigte der damalige HAMAS-Sprecher Sami Abu Suhri derartige Anschläge als vermeintlich legitimen Widerstand gegen die israelische Besatzung. Am 25. Juni überfielen Mitglieder dreier palästinensischer Organisationen, darunter die HAMAS, eine israelische Militärbasis, töteten zwei Soldaten und entführten einen weiteren. Die israelische Regierung antwortete mit einer Militäroffensive im Gaza-Streifen gegen die militärischen Organisationen der HAMAS und deren Basen. Das Schicksal des entführten Soldaten ist weiterhin ungewiss. Reaktionen in Berlin Die in Berlin lebenden HAMAS-Anhänger diskutierten das erfolgreiche Abschneiden bei den Parlamentswahlen und die Eskalation der Gewalt im Gaza-Streifen verhalten. Nach dem Wahlsieg wurde vereinzelt die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass nach einer Regierungsbildung durch die HAMAS im Gazastreifen die HAMAS-Einrichtungen in Berlin starken Zulauf aus der islamischen und islamistischen Szene erhalten würden. Auch wurde behauptet, dass der Erfolg der HAMAS das Ansehen des Islam in der ganzen Welt erhöht habe. Dennoch übten die in Berlin lebenden Araber, insbesondere die HAMAS-Anhänger, weiterhin Zu212 Vgl. "al-Hayat" vom 9.2.2006. 114 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Verhaltene rückhaltung und thematisierten die Ereignisse nicht öffentReaktionen lich. Auch anlässlich der in Berlin durchgeführten Protestdemonstrationen gegen die israelischen Militäraktionen im Gaza-Streifen und im Libanon traten die Anhänger der HAMAS nicht offen in Erscheinung. 3.4.2 "Hizb Allah" ("Partei Gottes") Kriegerische Auseinandersetzung im Libanon Am 12. Juli entführte die "Hizb Allah" im israelisch-libanesischen Grenzgebiet zwei israelische Soldaten. Zuvor hatte die "Hizb Allah" verkündet, dass sie Entführungen von Israelis als probates Mittel betrachte, um Gefangene freizupressen.213 Der Generalsekretär der "Hizb Allah", Hassan Nasrallah, Solidarität mit bezeichnete die Entführung als solidarischen Akt mit den Palästinensern Palästinensern214 und verkündete, dass die beiden Soldaten - ebenso wie der am 25. Juni von palästinensischen Gruppen entführte Soldat - nur im Austausch gegen in Israel inhaftierte Libanesen und Palästinenser freigelassen würden.215 Die israelische Regierung machte die libanesische Regierung, an der die "Hizb Allah" mit zwei Ministern beteiligt war, für die Entführung verantwortlich und bezeichnete sie als kriegerischen Akt. In der Folge bombardierte Israel Einrichtungen der "Hizb Allah" sowie die zivile Infrastruktur des Landes und drang mit Bodentruppen in den Libanon ein. Im Gegenzug beschoss die "Hizb Allah" Nordisrael mit Raketen. Auf beiden Seiten forderte die kriegerische Auseinandersetzung Hunderte von Todesopfern und Verletzten, führte zur Binnenvertreibung von Hunderttausenden von Menschen und richtete umfangreiche Schäden an der zivilen Infrastruktur an. 213 2004 tauschten die "Hizb Allah" und Israel nach jahrelanger deutscher Vermittlung Gefangene aus. 214 Vgl. Serene Assir: Enter Hizbullah. In: "Al-Ahram Weekly" vom 13.7.2006. 215 Vgl. Laila Hatoum: Nasrallah: Only exchange will win back troops. In: "The Daily Star" vom 13.7.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 115 Äußerungen hochrangiger Funktionäre während der Kampfhandlungen belegen, dass die Organisation an ihrem elimiEliminatorischer natorischen Antizionismus216 festhält. Der Repräsentant der Antizionismus libanesischen "Hizb Allah" im Iran wurde mit der Aussage zitiert: "Dieser Krieg wird als Anfang vom Ende Israels in Erinnerung bleiben." 217 In einer vom "Hizb Allah"-eigenen Fernsehsender "Al Manar" ("Der Leuchtturm") ausgestrahlten Ansprache äußerte Hassan Nasrallah: "Den Völkern der arabischen und islamischen Welt bietet sich die historische Chance, den zionistischen Feind zu besiegen [...] wir zeigen, wie es geht. [...] Die 'Hizb Allah' führt den Kampf nicht nur für die 'Hizb Allah' oder gar für den Libanon, sondern für die islamische Nation." 218 Damit unterstrich er den panislamischen Anspruch der schiitischen Organisation und warb um Unterstützung in der (mehrheitlich sunnitischen) arabischen Welt. Am 14. August trat ein durch die UNO vermittelter WaffenWaffenstillstand stillstand in Kraft. Als Folge der UN-Resolution 1701 rückte die libanesische Armee erstmals nach dem libanesischen Bürgerkrieg auch in den Südlibanon ein, in dem bis dahin die "Hizb Allah" quasistaatliche Strukturen aufgebaut hatte.219 An der Überwachung des Waffenstillstands beteiligt sich die deutsche Marine im Seeraum vor der libanesischen Küste. Im November organisierte die "Hizb Allah" Massenproteste und zog ihre Minister aus der libanesischen Regierung zurück, um die Regierung von Ministerpräsident Siniora zu 216 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres und Sport: Antisemitismus im extremistischen Spektrum Berlins. Berlin 2006, S. 21 f. 217 Hizbullah Envoy in Iran Vows Group Will Leave 'No Place' Safe for Israelis. In: "Naharnet" vom 24.7.2006. 218 Leader: Hezbollah Has 'Complete Strength'. In: "The New York Times" vom 16.7.2006. 219 Die "Hizb Allah" übernimmt im Südlibanon die Aufgaben der staatlichen Grundversorgung und betreibt karitative Einrichtungen, Schulen und Krankenhäuser. Daneben hat sie dort ihre eigenen militärischen Strukturen errichtet. 116 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 stürzen. Innenpolitisch geht es ihr darum, ihre Sonderstellung im politischen System des Libanons zu behaupten.220 Zu diesem Zweck erhält die "Hizb Allah" von Iran und Syrien massive militärische und finanzielle Unterstützung. Diese ermöglicht es der Organisation, im Libanon als ein bedeutender Faktor innerhalb des Machtkampfs der Region zu agieren. Reaktionen in Berlin Friedliche In Berlin reagierten libanesische und palästinensische Demonstrationen Organisationen auf die militärische Auseinandersetzung im Nahen Osten mit ca. 40 Demonstrationen und Kundgebungen mit bis zu 4 000 Teilnehmern. An den Aufzügen beteiligten sich Teile des deutschen linksextremistischen Spektrums. Zu Beginn wurden Fahnen der "Hizb Allah" und Bilder ihres Generalsekretärs gezeigt. Obwohl die "Hizb Allah" in Berlin nicht offen agiert, zeigt dies, dass ihre Anhänger an den Demonstrationen teilgenommen haben. Die Versammlungsbehörde verfügte ein Verbot von Emblemen der "Hizb Allah" und Bildern von Hassan Nasrallah.221 Die Kundgebungen verliefen trotz einer hochgradigen Emotionalisierung der Teilnehmer friedlich. Anschläge außerhalb des Nahen Ostens 1994 waren bei einem Anschlag auf das jüdische AMIAGemeindezentrum in Buenos Aires 85 Menschen ums Leben gekommen. 2005 teilte die argentinische Staatsanwaltschaft mit, dass als Selbstmordattentäter ein "Hizb Allah"-Anhänger identifiziert wurde. Im Oktober 2006 erhob sie Anklage gegen hochrangige ehemalige iranische Regierungsmitglieder und Diplomaten. Diese sollen der "Hizb Allah" die Ausführung des Anschlags befohlen haben. 220 Die "Hizb Allah" ist die einzige bewaffnete Miliz im Libanon. Der international geforderten Entwaffnung widersetzt sich die "Hizb Allah". 221 Mittlerweile hat das Berliner Verwaltungsgericht entschieden, dass auf Kundgebungen zum Nahost-Konflikt das Bild Nasrallahs gezeigt werden darf. Vgl. Verwaltungsgericht Berlin, Az.: VG 1 A 212.06. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 117 Die enge Verbindung zwischen der "Hizb Allah" und dem Enge Verbindung Iran wurde nicht nur bei diesem Anschlag deutlich, sondern mit Iran auch beim Mykonos-Attentat 1992 in Berlin. Das Berliner Kammergericht befand mehrere Mitglieder der "Hizb Allah" für schuldig, im Auftrag der iranischen Regierung 1992 an der Ermordung iranischer Oppositioneller mitgewirkt zu haben.222 Dies zeigt, dass die "Hizb Allah" auch außerhalb des Nahen Osten in der Lage ist, schwere Anschläge zu verüben. 3.5 Türkische Islamisten 3.5.1 Ideologische Neuausrichtung der "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e. V. nicht zu erkennen In der türkisch islamistischen "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) sind hinsichtlich der Diskussion zwischen Reformern und Traditionalisten über die zukünftige Ausrichtung der Organisation im Jahr 2006 hinaus keine konkreten Reformprojekte bekannt geworden. Während die Keine reformorientierten Mitglieder eine Distanzierung von NecReformprojekte mettin Erbakan sowie eine Neuausrichtung auf die veränderten Bedürfnisse der Anhänger der zweiten und dritten Generation in Europa fordern, sind die Traditionalisten weiter dem Gründer der Milli Görüs-Bewegung verbunden. Offenbar können sich die Reformer nicht gegen die Traditionalisten in der Organisation durchsetzen. Die enge Enge Bindung Bindung der IGMG an die türkische Milli Görüs-Bewean Milli GörüsBewegung gung und ihre Vertreter besteht jedenfalls fort. Handlungsschwerpunkte der IGMG waren die Rekrutierung neuer Mitglieder und die Intensivierung der Kontakte zu Politik und Gesellschaft. 222 Vgl. Kammergericht Berlin, Az.: (1) 2 StE 2/93 (1993). 118 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Erster Handlungsschwerpunkt: Rekrutierung neuer Mitglieder Die Organisation hat ihre Aktivitäten im sozialen, kulturellen sowie religiösen Bereich ausgebaut, um die eigene Anhängerschaft zu vergrößern. Dies sichert der IGMG nicht nur weitere finanzielle Ressourcen, sondern erschließt ihr auch größere Kreise für eine Beeinflussung. "Hausgespräche" Als ein Mittel der Werbung neuer Anhänger nutzt die IGMG in jüngster Zeit so genannte Hausgespräche. Unter dem Titel "Gesprächskreise 2000" startete der IGMG-Jugendverband im Dezember eine neue Initiative. Insgesamt sollen 2 000 Gesprächskreise in Privatwohnungen stattfinden.223 Ein weiteres Mittel sind öffentliche Großveranstaltungen. Koranrezitation Zielgruppen des umfangreichen Programms sind insbesondere Jugendliche, Frauen und Studenten. Seit 2005 werden Koranwettbewerbe auch speziell für Frauen ausgerichtet. Der diesjährige IGMG-Frauen-Koranrezitationswettbewerb am 28. Oktober in Leverkusen fand mit 3 000 Teilnehmerinnen große Beachtung bei der Anhängerschaft.224 Podiumsdiskussion Die IGMG-Studentenorganisation in Berlin veranstaltete am 5. März eine Podiumsdiskussion mit dem Titel "Islam in Europa - Kampf der Kulturen oder Treffpunkt der Kulturen".225 Neben dem Vorsitzenden der IGMG-Studentenorganisation sowie dem IGMG-Generalsekretär hielten verschiedene Wissenschaftler Vorträge. Mit dieser Art von Veranstaltung dürfte die IGMG das Interesse verfolgen, die Organisation auch für ein junges und wissenschaftlich gebildetes Publikum interessant zu machen. Die Wichtigkeit junger Anhänger wird auch von der "Milli Görüs-Bewegung in der Türkei betont. Necmettin Erbakan selbst hat in einer Rede zur Feier des 5-jährigen Bestehens der "Saadet Partisi" ("Glückseligkeitspartei" / SP) in Istan223 Vgl. Internetauftritt der IGMG, Aufruf am 1.12.2006; "Milli Gazete" vom 28.12.2006. 224 Den dritten Preis des Koranwettbewerbs gewann eine Berlinerin. Vgl. "Milli Gazete" vom 3.11.2006. 225 Vgl. "Milli Gazete" vom 7.3.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 119 bul die besondere Bedeutung der Kinder für die "Milli Görüs-Bewegung hervorgehoben: "Die stärkste Kraft eines Staates sind nicht seine Panzer und auch nicht seine Finanzkraft. Was denn dann? Es sind seine gläubigen Kinder. Der Beweis dafür: die gesamte Geschichte unserer Nation. Die stärkste Kraft sind gläubige Kinder. [...] Daher müssen wir der spirituellen Erziehung einen wichtigen Wert beimessen, um unsere Kinder als gläubige Menschen aufzuziehen." 226 Auch in Berlin bildet die Jugendarbeit einen besonderen Schwerpunkt der IGMG: Die IGMG-Jugendorganisation Schwerpunkt präsentierte sich - unter Beteiligung der Verbandsleitung - Jugendarbeit im April mit einer Koranrezitation im Berliner Tempodrom und im Juni mit einem Jugendfest in der Urania in der Öffentlichkeit.227 Auf dem Jugendfest warb der Berliner IGMG-Jugendvorsitzende für die islamistische "Milli Görüs-Ideologie als Lösung für die Abschaffung von sozialen Missständen. Hier wird der Islam nicht ausschließlich als Religion, sondern als Gesellschaftsordnung gesehen: "Alle drei Sekunden stirbt auf dieser Welt ein Mensch an Hunger. Angesichts all dieser Geschehnisse, bleibt uns nur, uns für unsere Werte einzusetzen. Es ist offensichtlich, dass die Lösung im Islam, in der Milli Görüs liegt. 228 Hinweise auf die Absicht, Veranstaltungen im Sinne der Organisation zu nutzen, ergeben sich auch aus folgenden Beispielen: Die Bildungsabteilung des IGMG-Hauptverbandes veröffentlichte in der "Milli Gazete" eine Anzeige für einen Geschichtenwettbewerb für Kinder,229 in der an erster 226 Vgl. "Milli Gazete" vom 10.8.2006. 227 An der Tempodrom-Veranstaltung nahmen laut "Milli Gazete" 4 000 Personen teil. Neben dem Berliner IGMG-Jugendvorsitzenden hielten dort auch der Vorsitzende der IGMG Berlin und der Vorsitzende des IGMG-Hauptverbandes eine Rede (Vgl. "Milli Gazete" vom 19.4.2006). Bei dem Jugendfest im Juni trat der IGMG-Generalsekretär als Gastredner auf. 228 "Milli Gazete" vom 12.6.2006. 229 Vgl. "Milli Gazete" vom 28.11.2006. 120 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Stelle die Milli Görüs und der IGMG-Kinderclub als Thema vorgeschlagen wurden. Bei einem Bildungswettbewerb für Jugendliche in Kerpen nannte ein Funktionär des IGMG-Jugendverbandes als wesentliche Bildungsinhalte, "die Bedeutung unserer Organisation [zu] vermitteln" sowie "nationale, geistige und kulturelle Werte [zu] lehren".230 Das zweite Lernziel weist darauf hin, dass die Milli GörüsIdeologie eine Kombination aus nationalistischem und islamistischem Gedankengut ist: "Türkisch sein" und "Muslim sein" werden überhöht. Zweiter Handlungsschwerpunkt: Lobbyarbeit Die IGMG bemüht sich verstärkt darum, ihre Kontakte zu Politik und Gesellschaft zu intensivieren und als offizieller Ansprechpartner für muslimische Belange allgemein und speziell für den Dialog deutscher Behörden mit den Muslimen anerkannt zu werden. Dabei präsentiert sich die Organisation als vermeintlich verfassungskonforme islamische Religionsgemeinschaft, die nach eigener Behauptung die Integration türkischer Muslime fördert und den Dialog Werben für mit der deutschen Gesellschaft pflegt.231 Der Vorstand wirbt Anerkennung als um die Anerkennung als islamische Religionsgemeinschaft Religionsgemeinschaft und versucht die Bewertung der IGMG als islamistische Organisation zu entkräften. Zur Etablierung dieser politischen Rolle tritt die Organisation in letzter Zeit häufiger mit anderen islamischen, aber Demonstrative auch islamistischen Organisationen in der Öffentlichkeit auf, Einheit der Muslime um Einheit und Solidarität unter Muslimen zu demonstrieren. Es gab gemeinsame Pressemitteilungen232 oder gemein230 "IGMG-Perspektive" Nr. 139 - 140 vom Juli - August 2006. 231 So behauptet der IGMG-Generalsekretär in einem Kommentar über "Milli Görüs und Integration", die IGMG habe sich auf der Basis des Leitgedankens "Ja zur Integration, Nein zur Assimilation" seit ihrer Gründung für die Integration der in Deutschland lebenden Muslime eingesetzt. Vgl. Internetauftritt der IGMG, Aufruf am 8.10.2006. 232 Zum Beispiel die gemeinsame Presseerklärung zum fünften Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001, an der sich neben der IGMG, AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 121 same Besuche von Veranstaltungen wie dem 28. Jahrestreffen der arabisch-islamistischen "Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD).233 Allerdings wurden bei weitergehenden Projekten bislang keine Fortschritte erzielt. Die unter Beteiligung von der IGMG, des "Verbands der islamischen Kulturzentren e. V." (VIKZ) sowie des "Zentralrats der Muslime in Deutschland e. V." (ZMD) im Jahr 2005 getroffenen Vorbereitungen zur Gründung eines neuen islamischen Dachverbands234 stagnierten 2006. Das Bestreben der IGMG, sich als Religionsgemeinschaft und Dialogpartner zu präsentieren, geht mit der Behauptung einher, sie würde keine islamistischen Positionen mehr vertreten.235 Verflechtung zwischen IGMG, SP und Necmettin Erbakan Die IGMG ist nach wie vor Teil der islamistischen "Milli Teil der "Milli Görüs-Bewegung. Diese enge Verbindung wird durch AufGörüs-Bewegung tritte Necmettin Erbakans als Führer der Milli Görüs-Bewegung sowie hoher Parteifunktionäre der SP und Vordenker der Milli Görüs-Ideologie auf IGMG-Veranstaltungen demonstriert. Ebenso nehmen Vertreter der IGMG an Veranstaltungen der Milli Görüs-Bewegung in der Türkei teil. So traten auf der europaweiten Großveranstaltung der IGMG am 4. Juni im belgischen Hasselt neben dem IGMG-VorGroßveranstaltung sitzenden und dem IGMG-Generalsekretär sowohl der SPin Belgien Vorsitzende Recai Kutan als auch sein Stellvertreter, Numan Kurtulmus, auf. Auch von Necmettin Erbakan wurde eine Ansprache live übertragen, in der er davor warnte, sich als der "Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e. V." (DITIB) sowie dem "Verband der islamischen Kulturzentren e. V." (VIKZ) noch andere Organisationen beteiligten. Vgl. Internetauftritt der IGMG, Aufruf am 11.9.2006. 233 Vgl. S. 244. 234 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 142 f. 235 "Die muslimischen Verbände in Deutschland über Islamismus, Verfassungsschutz und Integration - Die Politik hat leider noch kein vernünftiges Verhältnis zu den Muslimen". In: "Frankfurter Allgemeine" vom 15.7.2005. 122 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Muslim von seinem Glauben und seiner Kultur zu trennen.236 An diesem "Tag für Brüderlichkeit und Solidarität" - einer Mischung aus IGMG-Jahreshauptversammlung und Kulturfestival - nahmen 30 000 Personen237 teil. Damit ist die Zahl der Teilnehmenden trotz Verlagerung der Veranstaltung nach Belgien weiter gestiegen. Dies zeigt, dass das neue Konzept für die "IGMG-Jahrestreffen" große Resonanz bei den Anhängern findet. Auf der anderen Seite unterstützte die IGMG als Teil der WahlkampfMilli Görüs-Bewegung den beginnenden Wahlkampf der unterstützung islamistischen Partei SP sowohl in Deutschland als auch in der SP der Türkei. Dort finden voraussichtlich im Juli 2007 Parlamentswahlen statt. Hasan Damar - in Deutschland als Berater des IGMG-Vorsitzenden tätig - trat am 27. Mai bei einer so genannten Eroberungsfeier238 in Istanbul auf. Zu der Feier, die der Jugendverein239 der SP veranstaltete, war Necmettin Erbakan als Ehrengast geladen. Damar bekannte sich zu den Zielen der Milli Görüs sowie zur Führerschaft Erbakans und forderte dazu auf, alle Kräfte der Milli Görüs-Bewegung zu bündeln, damit die SP bei den Wahlen gewinnt: Um die Milli Görüs-Macht wieder an die Spitze zu bringen, müssen wir von Europa und ihr von der Türkei aus mit Leib und Seele arbeiten. Denn die Rettung der islamischen Welt, die heute vielleicht die dunkelsten Tage ihrer Geschichte erlebt, kann nur mit der Türkei gelingen. Wir als in Europa befindliche Auswanderer unterstehen den Befehlen unseres Hocas Erbakan. Wir haben zu keiner Zeit unser Hemd ausgezogen und werden es auch niemals tun." 240 Damar meint damit, dass man sich niemals von der "Milli Görüs-Ideologie distanzieren werde. 236 "IGMG-Perspektive" Nr. 139 - 140 vom Juli - August 2006. 237 Vgl. "Milli Gazete" vom 6.6.2006. 238 Gemeint ist die Feier zur Eroberung Istanbuls durch die Türken am 29.5.1453. 239 "Anadolu Genclik Dernegi" ("Anatolischer Jugendverein" / AGD). 240 "Milli Gazete" vom 29.5.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 123 Verbindungen zwischen der IGMG und den Medien der Milli Görüs-Bewegung: Milli Gazete und TV 5 Die Tageszeitung "Milli Gazete" - Sprachrohr der SP - ist "Milli Gazete" für den Zusammenhalt der Milli Görüs-Bewegung von als Forum zentraler Bedeutung. Die ideologischen Positionen von Milli Görüs (Nationale Sicht) und Adil Düzen ("Gerechte Ordnung") sowie die Bewertung tagespolitischer Ereignisse aus Milli Görüs-Sicht werden in der IGMGAnhängerschaft durch die europäische Ausgabe der türkischen Tageszeitung in Deutschland verbreitet. Zahlreiche Beispiele dokumentieren, dass die IGMG die "Milli Gazete" als Forum für die Kommunikation mit ihren Mitgliedern nutzt: So wurde in der Milli Gazete in zahlreichen ganzseitigen Anzeigen für die IGMG-Großveranstaltung "Tag für Brüderlichkeit und Solidarität" im belgischen Hasselt geworben und anschließend ausführlich über sie berichtet.241 Noch deutlicher wird die Verbindung zwischen IGMG und "Milli Gazete" angesichts eines Artikels über eine "Herzensgespräche" genannte IGMG-Veranstaltung für Jugendliche in Offenbach. Der Jugendvorsitzende der IGMG-Region Hessen hatte sich ausdrücklich bei der "Milli Gazete, die immer an unserer Seite ist",242 bedankt. Die Verbindung zwischen der IGMG und den Milli GörüsMedien "Milli Gazete" und "TV 5" wurde ebenfalls im Zusammenhang mit dem Wahlkampf der SP deutlich. Die SP intensivierte ihre Werbung für ihre Medien nicht nur in der Türkei, sondern auch innerhalb der IGMG in Deutschland. 241 Vgl. "Milli Gazete" vom 6.6.2006; Veröffentlichung der live übertragenen Rede von Necmettin Erbakan in Hasselt. In: "Milli Gazete" vom 9.6.2006; Anzeige für Interessenten, die Verkaufsstände in Hasselt mieten wollen mit Adresse der IGMG Kerpen. In: "Milli Gazete" vom 6.6.2006. 242 "Milli Gazete" vom 3.11.2006. 124 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Beispielsweise organisierte die IGMG Hessen im Juni gleich Veranstaltungen zwei Veranstaltungen mit dem SP-Chefideologen Arif mit SP-Ideologen Ersoy. Beim ersten Termin handelte es sich um einen Besuch Ersoys mit dem IGMG-Gebietsleiter Hessen bei der "Milli Gazete". Ersoy nutzte die Veranstaltung, um die Politik der AKP-Regierung zu kritisieren.243 Im zweiten Fall sprach Ersoy auf einem von der IGMG Hessen organisierten Seminar, auf dem er über die Prinzipien der Milli Görüs sprach. Gleichzeitig war der Vorsitzende von "TV 5" anwesend, der für den Fernsehsender warb.244 Antisemitische Propaganda Einem Medienbericht zufolge wurde die antisemitische "Zehras blaue VCD-Produktion "Zehras blaue Augen"245 am "Tag der Augen" Brüderlichkeit und Solidarität" in Hasselt auf dem Tisch des IGMG-Bücherclubs zum Verkauf angeboten.246 Es handelt sich um eine ursprünglich mehrteilige Filmproduktion des staatlichen iranischen TV-Kanals "Sahar-1", in der einem palästinensischen Mädchen die Augen herausoperiert werden, um sie auf Wunsch eines israelischen Generals dessen sehbehindertem Sohn einzusetzen. Der Film endet damit, dass Zehras Bruder aus Rache einen sprengstoffbeladenen Wagen in das Haus des Generals lenkt, in dem dieser gerade eine Feier mit israelischen Honoratioren abhält. Die Filmproduktion wurde als Serie im Sommer 2005 und Frühjahr 2006 von dem der Milli Görüs-Bewegung nahe stehenden Satellitensender "TV 5" in Deutschland ausgestrahlt. In Berlin wurde die VCD-Produktion von "Zehras Buchmesse in Berlin blaue Augen" auf einer Buchmesse im Hof des der IGMG zuzurechnenden "Mevlana Moschee e. V." verkauft. Der Dachverband "Islamische Föderation in Berlin e. V." (IFB) und sein Mitgliedsverein "Mevlana Moschee e. V." wiesen 243 Vgl. "Milli Gazete" vom 19.6.2006. 244 Vgl. "Milli Gazete" vom 21.6.2006. 245 Türkisch: "Filistinli Zehra'nin Gözleri" (wörtlich übersetzt: "Die Augen der Palästinenserin Zehra"). 246 Vgl. ZDF-Magazin "Frontal 21" vom 6.6.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 125 die Verantwortung für die Buchmesse zurück.247 Die Moschee habe den Hof lediglich an einen Veranstalter, eine türkische Vertriebsfirma, vermietet. Antisemitische Haltungen wurden von der IGMG lange Zeit offen vertreten. Ende der 90er Jahre setzte eine Strategieänderung ein, in deren Folge sich die IGMG davon distanzierte. In öffentlichen Stellungnahmen betonen Vorstandsmitglieder des IGMG-Hauptverbandes, dass die IGMG nicht antisemitisch sei und keine antisemitischen PubliAntisemitische kationen mehr verbreite.248 Tauchen antisemitische PublikaPublikationen tionen im IGMG-Umfeld auf,249 argumentiert der IGMGHauptverband, er könne untergeordnete Vereine oder Funktionäre lediglich dazu anhalten, keine antisemitischen Medien zu verkaufen; kontrollieren könne er sie nicht. Auch in der "Milli Gazete" werden immer wieder Artikel mit antisemitischem Inhalt veröffentlicht: "Und die große Lüge. Diese Lüge ist die Legende, dass 6 Millionen Juden ermordet worden seien. Diese Legende, die zu einem Dogma und (wie es das Wort Holocaust auch als Bedeutung beinhaltet) in eine heilige Legende verwandelt wurde, wird dafür missbraucht, um das Unrecht von Israel in Palästina, im ganzen Mittleren Osten, in den USA und mit Hilfe der USA in der gesamten Weltpolitik [...] zu rechtfertigen. [...] Die Legende des Genozids an den Juden passte den Interessen von allen, denn von ihm als dem größten Genozid der Geschichte zu reden, bedeutete für die westlichen Kolonialisten, ihre eigenen Verbrechen in Vergessenheit geraten zu 247 Vgl. Presseerklärung des IFB und des "Mevlana Moschee e. V. vom 24.4.2006. 248 Vgl. Der IGMG-Generalsekretär in dem ZDF-Magazin "Frontal 21" vom 6.6.2006. 249 Bei der Durchsuchung einer Münchner IGMG-Moschee im September 2004 wurde das antisemitische Buch "Der internationale Jude" von Henry Ford aufgefunden. In der der IGMG zuzurechnenden Hamburger Centrum-Moschee wurde bis mindestens Februar 2006 die antijüdische Zeichentrickserie "Die Kinder der Al-Aksa-Moschee" zum Kauf angeboten. 126 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 lassen, für Stalin dagegen bedeutete das, seine grausamen Ungerechtigkeiten unter den Teppich zu kehren."250 Angesichts der intensiven Nutzung der "Milli Gazete" durch die IGMG muss davon ausgegangen werden, dass solche Artikel bei der IGMG-Anhängerschaft antisemitische Einstellungen fördern. Gewaltlegitimierender Prediger aus Berlin verlässt Deutschland Der Rechtsstreit eines früheren Berliner IGMG-Funktionärs gegen seine Ausweisung endete am 8. November mit seiner freiwilligen Ausreise in die Türkei. Am 16. Dezember 2004 hatte die Berliner Ausländerbehörde neben der Ausweisung des Predigers auch deren sofortige Vollziehung angeordnet. Nachdem seine Klage gegen die Ausweisung sowie sein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vom Verwaltungsgericht und vom Oberverwaltungsgericht abgelehnt wurden, wandte sich der Imam am 3. Juni 2005 an das Bundesverfassungsgericht. Dort wurde der Beschwerde des Predigers stattgegeben, der Fall wurde an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen. Am 7. September zog der Prediger seine Klage zurück und reiste am 8. November in die Türkei aus. 3.6 Kurdische Extremisten Nach den umfangreichen Neuorganisationen im Jahr 2005 kehrte in diesem Jahr innerhalb der "Arbeiterpartei KurdisAuf Gewalteskalation tans" ("Partiya Karkeren Kurdistan" / PKK) beziehungsfolgt "Waffenweise der Folgeorganisation "Volkskongress Kurdistans" stillstand" ("Kongra Gele Kurdistan" / KONGRA-GEL) 251 Ruhe ein und die Aktivitäten traten in den Vordergrund. Die Entwicklung lässt sich in zwei Phasen einteilen: Während bis September ein fortwährender Anstieg der Gewalthandlungen 250 Mustafa Yahya Coskun: Hat Hitler die Juden verbrannt? Bemühungen zur Legitimierung der Tyrannei. In: "Milli Gazete", Onlineausgabe vom 22.8.2006. 251 KONGRA-GEL ist die Folgeorganisation des "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" ("Kongreya Azadi u Demokrasiya Kurdistan" / KADEK), der wiederum die Folgeorganisation der PKK war. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 127 in der Türkei festzustellen war, hat sich mit dem zum 1. Oktober ausgerufenen einseitigen "Waffenstillstand" die Lage deutlich entspannt. Diese Situation hält momentan an, auch wenn angesichts der weiterhin kampfbereiten Guerillaeinheiten eine dauerhaft optimistische Perspektive verfrüht scheint. Analog zur Lage in der überwiegend von Kurden bewohnten Region im Südosten der Türkei und im Nordirak entwickelte Vergleichbare sich auch die Situation in Berlin. Nach Ausschreitungen und Entwicklung in Berlin mehreren Anschlägen kurdischer Jugendlicher in den ersten neun Monaten entspannte sich die Lage im Oktober deutlich. Dies zeigt nicht nur, dass die Entwicklung in Berlin im Kontext der Situation im "Kurdengebiet" zu sehen ist, sondern auch, dass der KONGRA-GEL in Deutschland weiterhin über Organisationsstrukturen verfügt, die in der Lage sind, Richtungswechsel der Führung in der Türkei umzusetzen. 3.6.1 Gewalteskalation in der Türkei und ihre Auswirkungen auf Berlin Zu Beginn des Jahres zeichnete sich eine Fortsetzung der bisherigen Entwicklung ab. Seit der Wiederaufnahme der Kämpfe durch die "Volksverteidigungskräfte" ("Hezen Parastina Gel" / HPG)252 im Juni 2004 war ein kontinuierlicher Anstieg der Gewalthandlungen in der Türkei zu erkennen. Es gab zum einen eine hohe Frequenz von Anschlägen und zum anderen eine Eskalation bei der Wahl der Angriffsziele. Dabei fiel eine Art "Arbeitsteilung" auf: Die HPG Gefechte der HPG lieferten sich im Südosten im Südosten der Türkei der Türkei Gefechte mit dem türkischen Militär und begingen Sabotageakte vorzugsweise auf Industrieeinrichtungen wie Öl-Pipelines und Güterzüge: 252 Die HPG bilden die Guerillaeinheiten von PKK / KONGRA-GEL. 128 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Am 8. März führte die HPG einen Anschlag auf eine ÖlPipeline bei Midyat durch. Es entstand ein hoher Sachschaden.253 In der Provinz Elazg explodierte Anfang April ein Militärfahrzeug, dabei kamen zwei Insassen ums Leben und zwei weitere wurden verletzt. Die Aktion der HPG sei zum Gedenken an gefallene Guerillakämpfer und an die "Märtyrer" von Diyarbakir erfolgt. 254 Bei einem Anschlag auf eine Gendarmeriewache in Tunceli am 26. April kamen drei Soldaten zu Tode. Die HPG haben den Anschlag aus Vergeltung für gefallene Guerillakämpfer und dafür, dass das wöchentliche Treffen Öcalans mit seinen Anwälten verhindert worden sei, verübt.255 Ein Angriff auf einen zwischen Mus und Elazg verkehrenden Güterzug am 17. Juni war ebenfalls ein Sabotageakt der HPG.256 Seit Jahren ist PKK / KONGRA-GEL bemüht, das Image als Terrororganisation abzulegen und als Gesprächspartner auf politischer Ebene akzeptiert zu werden. So wurden die HPG ausschließlich gegen militärische Ziele beziehungsweise die Infrastruktur und im "Kurdengebiet" eingesetzt. Die Häufigkeit vor allem der Überfälle auf die türkischen Streitkräfte nahm jedoch zu.257 Währendessen verübten die kurz nach dem erneuten Beginn der Kampfhandlungen im Juni 2004 neu aufgetretenen und nach eigenen Angaben aus den HPG hervorgegangenen 253 Vgl. "Yeni Özgür Politika" vom 18.3.2006, S. 3. Die Zeitung ist die Nachfolgerin der "Özgür Politika", welche - nach einem später aufgehobenen Verbot - im September 2005 eingestellt worden war. 254 Vgl. "Yeni Özgür Politika" vom 10.4.2006, S. 4. 255 Vgl. "Yeni Özgür Politika" vom 28.4.2006, S. 1. 256 Vgl. "Yeni Özgür Politika" vom 20.6.2006, S. 3. 257 Am 2.1.2007 veröffentlichte die HPG die "Jahresstatistik" für das vergangene Jahr. Danach seien 853 türkische Soldaten getötet worden, während 131 Angehörige der Guerilla "zu Märtyrern geworden" seien. Vgl. Internetauftritt der HPG, Aufruf am 2.1.2007. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 129 "Freiheitsfalken Kurdistans" ("Teyrebazen Azadiya Kurdistan" / TAK) weiterhin Anschläge in den türkischen MetropoAnschläge der TAK len, vor allem in Urlaubsregionen. Dabei wurden zahlreiche - auch ausländische - Opfer nicht nur in Kauf genommen; in Anbetracht der gewählten Anschlagsziele muss davon ausgegangen werden, dass die Gewalt gegen Menschen beabsichtigt war.258 Internet-Veröffentlichungen machen deutlich, dass die Türkei über die Einnahmequelle Tourismus empfindlich getroffen werden sollte. So warnten die TAK vor Reisen in die Türkei, indem sie auf Deutsch verfasste E-Mails an diverse Reiseveranstalter mit Schwerpunkt Türkeireisen schickten sowie im Internet entsprechende Anschläge ankündigten. Insgesamt starben 2006 bei Anschlägen der TAK mehr als zehn Menschen, über 200 wurden teilweise schwer verletzt. Somit hat auch die Heftigkeit der Anschläge stetig zugenommen. Am 9. Februar wurde bei einem Bombenanschlag der TAK auf ein Internetcafe in Istanbul eine Person getötet und sechzehn weitere verletzt, darunter sieben Polizisten. Am 24. Mai brach im Frachtbereich des Atatürk-Flughafens in Istanbul ein Großbrand aus. Die meisten der über 200 dort arbeitenden Personen konnten sich in Sicherheit bringen, es gab drei Verletzte. Noch am gleichen Tag bezichtigten sich die TAK im Internet, den Brand gelegt zu haben. 258 Offiziell distanzierte sich der KONGRA-GEL von den Anschlägen der TAK und stritt jegliche Verbindung zu ihnen ab. Das Vorgehen der TAK, das sich an der jeweils aktuellen PKK-Politik orientiert, sowie Internetveröffentlichungen mit dem Slogan: "Es lebe der Führer Apo! [Abdullah Öcalan]" sprechen jedoch eine andere Sprache. 130 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Am 25. Juni wurden durch eine Explosion in einem Lokal in der Nähe des Wasserfalls von Manavgat259 drei Touristen und ein Einheimischer getötet und 26 Personen zum Teil schwer verletzt. Die TAK übernahmen die Verantwortung und warnten zum wiederholten Male vor Türkeibesuchen, da man die Anschläge - an denen der türkische Staat schuld sei - fortsetzen werde. Neben den Anschlägen waren es vor allem zwei Ereignisse, die in der Türkei für große Aufregung sorgten und in der Folge auch in Deutschland und gerade in Berlin Spuren hinterließen. Der erste Auslöser für Übergriffe der emotionalisierten - vor allem jugendlichen - PKK / KONGRAGEL-Anhänger ergab sich nach den "Newroz"-Feierlichkeiten im März. Im Rahmen der Frühjahrsoffensive der türkischen Streitkräfte waren bei einem Gefecht am 24. / 25. März 14 Mitglieder der Guerilla in der türkischen Provinz Mus getötet worden. In PKK-Kreisen wurde durch die Behauptung, dabei seien chemische Waffen eingesetzt worden,260 die Stimmung angeheizt. Am 28. März kam es in der Stadt Diyarbakr im Südosten der Türkei nach einer Beerdigung kurdischer Kämpfer zu mehrtägigen schweren Ausschreitungen,261 die von türkischen Behörden als schwerste Auseinandersetzungen Auseinandersetzungen seit Jahren bezeichnet wurden. Zuin Diyarbakr sätzlich trug die Planung und Verabschiedung eines neuen Anti-Terror-Gesetzes in der Türkei zur Emotionalisierung der Organisationsanhänger bei.262 259 Der Wasserfall ist eine der touristischen Hauptattraktionen der südtürkischen Urlaubsregion Antalya. 260 Türkische offizielle Stellen dementierten diese Behauptung umgehend. 261 Medienberichten zufolge sollen dabei PKK-Anhänger gegen Kurden vorgegangen sein, die sich weigerten, einem Aufruf der PKK nachzukommen, ihre Geschäfte aus Protest zu schließen. Die randalierende Menge habe Polizeifahrzeuge in Brand gesetzt und die Fenster einer Polizeiwache, mehrerer Banken und einer Klinik eingeworfen. Zwei Polizisten seien niedergestochen und 130 Angehörige der Sicherheitskräfte verletzt worden. Die Verluste auf Seiten der Kurden seien ähnlich hoch gewesen. 262 Die Novellierung beinhaltet u. a. die Androhung von Freiheitsstrafen für Geldbeschaffung zugunsten terroristischer Organisationen und stuft AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 131 In Berlin waren die Auswirkungen dieser Ereignisse direkt Ausschreitungen in zu verfolgen. In den folgenden drei Wochen kam es zu AusBerlin schreitungen und Anschlägen kurdischer Jugendlicher,263 die mutmaßlich dem Bereich PKK / KONGRA-GEL-Jugendorganisation "Gemeinschaft der Kommunen der demokratischen Jugend Kurdistans" ("Koma Komalen Ciwanen Demokratik a Kurdistan" / KOMALEN CIWAN)264 zuzurechnen sind: Am 1. April beschädigte eine etwa 20-köpfige Personengruppe in Kreuzberg mehrere Fahrzeuge und blockierte Straßen durch brennende Autoreifen und Baustellenabsperrungen. Im weiteren Verlauf wurden die Scheiben eines türkischen Restaurants eingeworfen und ein Molotow-Cocktail entzündet. Die maskierten Täter skandierten "Apo, Apo" und zeigten PKK-Fahnen. Am 2. April warfen drei Täter die Fensterscheiben eines türkischen Vereins im Wedding ein, zündeten einen Brandsatz und beschädigten einen PKW. Am 15. April kam es in einem türkischen Kulturverein in Kreuzberg zu einer Schlägerei zwischen Gästen des Vereins und 15 bis 20 unbekannten Personen, nachdem diesen zuvor der Verkauf von Zeitschriften mit PKK / KONGRA-GEL-Bezug untersagt worden war. das Zeigen entsprechender Symbole bei Demonstrationen als Unterstützungshandlung ein. 263 Weitere Vorfälle wurden aus Dortmund (30. März) und Köln (6. April) gemeldet. Außerdem fanden im gesamten Bundesgebiet - auch in Berlin - zahlreiche Demonstrationen statt. In Frankreich wurde am 5. April ein Brandanschlag auf das türkische Konsulat in Paris verübt. 264 Die KOMALEN CIWAN ist die Nachfolgeorganisation der "Bewegung der freien Jugend Kurdistans" ("Tevgera Ciwanen Azad a Kurdistane" / TECAK). 132 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Nahezu ohne Reaktion blieb im Gegensatz dazu die Festnahme eines Festnahme eines früheren PKK-Kaders in Berlin im April. Kaders in Berlin Die in den Jahren 1995 und 1996 unter dem Decknamen "Beritan" für das Gebiet Westfalen verantwortliche und mit Haftbefehl vom 31. März 1999 gesuchte Frau wurde am 27. Oktober vom Oberlandesgericht Düsseldorf wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung verurteilt.265 Während die Lage in Berlin sich nach den Ereignissen im April wieder beruhigte, blieb die Situation in der Anschläge in der Türkei weiter angespannt. Im August Türkei wurde über Abdullah Öcalan eine Disziplinarstrafe von 20 Tagen verschärfter Isolationshaft verhängt. Zeitgleich wurde der für seine unnachgiebige Haltung gegenüber der PKK bekannte Yasar Büyükant zum neuen Generalstabsvorsitzenden der Türkei ernannt. Die Situation eskalierte erneut und führte zu einem vorläufigen Höhepunkt der Gewalttaten in der Türkei.266 Am 27. August wurden bei einem Anschlag in Istanbul sechs Personen verletzt. Kurz darauf explodierte eine Bombe in einem Kleinbus in der südtürkischen Stadt Marmaris und verletzte 21 Personen, darunter zehn britische Urlauber. Am 28. August kamen bei einer Explosion im Touristenort Antalya vier Menschen ums Leben und rund 70 Personen wurden verletzt, darunter drei Deutsche und vier Israelis. 265 Sie hatte sich ursprünglich ins Ausland abgesetzt und war nach ihrer Wiedereinreise in die Bundesrepublik aufgefallen, als sie versuchte, mit falschen Personalien einen Asylantrag zu stellen. 266 Offiziell gaben die TAK lediglich die Inhaftierung Öcalans als Grund für ihre Aktionen an. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 133 Zu den Anschlägen liegen Selbstbezichtigungsschreiben der TAK vor. Darin warnen diese ausländische Touristen erneut, die Türkei sei kein sicheres Land, solange der PKK-Führer Öcalan in Haft sei: "In der Türkei wird nichts mehr wie zuvor sein. [ ] Unser Zorn kennt keine Grenze, deshalb gibt es auch keine Grenzen der Gewalt, die wir bei unseren Aktionen anwenden und anwenden werden. Wir werden unsere Aktionen fortsetzen, bis wir die Republik Türkei dem Erdboden gleichgemacht haben."267 Diese Anschlagserie war der Auslöser für eine Reaktion extremistischer türkischer Kreise. Am 12. September wurde Vergeltungsaktion die wichtigste von Kurden bewohnte Stadt Diyarbakr durch nationalistischer Türken eine Explosion erschüttert. Mindestens 15 Personen wurden verletzt und zehn Personen - darunter sieben Kinder - getötet. Verantwortlich sei die bislang wenig bekannte nationalistische Gruppe "Türkische Rachebrigaden" (TIT), die mit weiteren Vergeltungsanschlägen drohte.268 In Berlin herrschte unter PKK / KONGRA-GEL-Anhängern weniger Trauer als vielmehr Wut über den Anschlag vor. Dies führte dazu, dass am 25. September mehrere vermummAnschlag in Berlin te Anhänger Öcalans Molotow-Cocktails in ein türkisches Lokal im Stadtteil Kreuzberg warfen. Vor dem Lokal hatten die Täter eine Fahne mit der Aufschrift "Rache für Diyarbakr, Anhänger von Apo hinterlassen. Obwohl eine mögliche Verletzung von Restaurantgästen bewusst in Kauf genommen wurde, gab es nur einen Verletzten. Die schwere Brandstiftung stellt auch für Berlin einen Höhepunkt der gewalttätigen Aktionen extremistischer Kurden im Jahr 2006 dar. Nicht nur die Lage in der Türkei hinterließ ihre Spuren in Berlin. Auch Polizeimaßnahmen im europäischen Ausland 267 Erklärung vom 28.8.2006. Internetauftritt der TAK, Aufruf am 30.8.2006. 268 Sie erklärte am 15.9.2006: "Der beste Kurde ist ein toter Kurde." (Internetauftritt der TIT, Aufruf am 19.9.2006) und drohte, für jeden im Westen der Türkei getöteten Türken zehn Kurden in Diyarbakr umzubringen. In PKK-Kreisen wird unterstellt, dass die TIT eine paramilitärische Einheit des Nachrichtendienstes der Gendarmerie (JÄdegTEM) sei. 134 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 oder anderen Bundesländern hatten Auswirkungen. PKK / KONGRA-GEL-Anhänger sahen sich stärkerem Verfolgungsdruck ausgesetzt, da in diesem Jahr zahlreiche mutVerhaftungen in maßliche hochrangige Kader verhaftet wurden. Die deutEuropa lichsten Auswirkungen hatten dabei eine Reihe von Zugriffen im August: In den Niederlanden wurde am 1. August ein Funktionär der "Koordination der Demokratischen Gesellschaft Kurdistans" ("Koordinasyona Civaka Demokratik a Kurdistan" / CDK)269 verhaftet.270 Am 8. August wurde in Mannheim ein mutmaßlicher hochrangiger Kader verhaftet, gegen den ein Haftbefehl wegen des Verdachts der Rädelsführerschaft in einer kriminellen Vereinigung (SS 129 Abs. 1 und 4 StGB) vorlag. Ebenfalls aufgrund eines Haftbefehls basierend auf SS 129 Abs. 1 und 4 StGB wurde am 9. August in Duisburg ein weiterer mutmaßlicher hochrangiger Kader verhaftet. Es ist davon auszugehen, dass durch die Verhaftungen kurzzeitig ganze Bereiche der Organisation in Deutschland in ihrer Handlungsfähigkeit deutlich eingeschränkt wurden. Die Basis reagierte darauf deutschlandweit mit Demonstrationen und öffentlichen Hungerstreikaktionen. Am 21. August schlossen - einem Aufruf des Vorstands der "Föderation kurdischer Vereine in Deutschland" ("Yekitiya Komelen 269 CDK ist die europäische Frontorganisation von PKK / KONGRA-GEL. Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 249. 270 Der Funktionär wurde seitdem in Belgien und Frankreich insgesamt dreimal verhaftet und jeweils nach kurzer Zeit wieder auf freien Fuß gesetzt. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 135 Kurd li Elmanya" / YEK-KOM)271 folgend - alle 65 Mitgliedsvereine bis auf weiteres ihre Räume. Man protestiere damit gegen die "willkürliche Unterdrückung"272 durch den deutschen Staat. Auch in Berlin schloss der örtliche YEK-KOM-MitgliedsProteste auch in verein "Kurdischer Verein für eine Demokratische GesellBerlin schaft" ("Navenda Civaka Demokratika Kurd" / NAVENDA KURD) seine Türen. Zudem führten die Mitglieder vom 21. bis 25. August vor dem Brandenburger Tor einen Hungerstreik durch. Beim abschließenden Protestmarsch wurden mehrere Personen festgenommen.273 Parallel dazu wurden Internetseiten, deren Domainname auf ".de" endete, durch kurdische Hacker angegriffen, um so Angriffe kurdischer "Deutschland" dafür zu strafen, dass es nach Lesart von Hacker PKK / KONGRA-GEL als "Handlanger der türkischen Behörden" diese Festnahmen durchgeführt habe. Auf den gehackten Seiten wurde die deutsche Regierung aufgefordert, nicht mit der Türkei zusammen zu arbeiten.274 3.6.2 "Waffenstillstand" In deutlichem Kontrast zu diesen Ereignissen steht die Verkündung eines Entwicklung seit Oktober. Nachdem Abdullah Öcalan be"Waffenstillstands" reits Mitte August erklärt hatte, er könne zu einem "Waffenstillstand" aufrufen, es dann jedoch nicht getan hatte, forderten im Lauf des Septembers sowohl die kurdischen Führer im Irak, Dschalal Talabani und Massud Barzani, als auch die vor allem von Kurden unterstützte "Partei für eine 271 Die YEK-KOM ist eine Dachorganisation, in der viele der örtlichen Vereine, die den PKK / KONGRA-GEL-Anhängern als Treffort dienen, zusammengefasst sind. Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 249. 272 "Yeni Özgür Politika" vom 22.8.2006, S. 5. 273 Über den notwendig gewordenen Polizeieinsatz wurde als "Angriff der Polizei" berichtet. Vgl. "Yeni Özgür Politika" vom 28.8.2006, S. 5. 274 Vgl. "Yeni Özgür Politika" vom 29.8.2006, S. 5. Die behauptete Zahl von über 500 betroffenen Internetseiten konnte nicht bestätigt werden. 136 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 demokratische Gesellschaft" ("Demokratik Toplum 275 Partisi" / DTP) die PKK auf, die Kämpfe zu beenden. Am 28. September schließlich rief Öcalan seine Organisation zum "einseitigen Waffenstillstand" auf. Es sei die letzte Chance für den Frieden, verkündete Öcalan, und drohte gleichzeitig, dass er künftig keine solchen Aufrufe mehr machen könne und die PKK auch nicht mehr auf ihn hören würde, wenn dieser Zeitraum nicht genützt werde. Was letztlich die Entscheidung zum "Waffenstillstand" ausGründe für den gelöst hat, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Klar ist "Waffenstillstand" jedoch, dass der Druck auf PKK / KONGRA-GEL im Lauf des Jahres deutlich zugenommen hatte: Durch die Anschläge der TAK gewannen konservative Kräfte in der Türkei vermehrt an Einfluss, so dass die Militäroperationen gegen die PKK zunahmen. Gleichzeitig hatten türkische Nationalisten Gegenanschläge verübt. In der EU wurden Stimmen lauter, die angesichts der Anschläge von der PKK ein Ende der Eskalation forderten. Zusätzlich ging die Türkei gegen die Rückzugsgebiete der PKK im Nordirak vor,276 nachdem die USA durch die Unterzeichnung einer "gemeinsamen strategischen Vision"277 ihre Solidarität gezeigt hatten. Der Irak kündigte eine Schließung der PKK-Lager an, der Iran griff entsprechende Lager an und zu alledem stand der Winter vor der Tür, der Guerillaaktionen erschwert und daher schon häufiger für eine taktische Feuerpause genutzt wurde. Deutliche Was auch immer letztendlich den Ausschlag gegeben hat, Entspannung der seit dem 1. Oktober gilt der "Waffenstillstand" und hat bisSituation lang zwar nicht zu einem vollständigen Ende der Kämpfe geführt, jedoch die Anzahl der Zusammenstöße erheblich 275 Die Partei versucht, als politische Vertretung der Kurden akzeptiert zu werden, wird jedoch von türkischer Seite skeptisch betrachtet, da sie es bislang ablehnt, sich von der PKK zu distanzieren. 276 Zuvor hatte die Türkei erklärt, im Kampf gegen den Terror ein Recht auf grenzüberschreitende Operationen zu haben, und dabei einen Vergleich zur Lage Israels gezogen. 277 In dem Papier wird die Beendigung des PKK-Terrors als gemeinsames Ziel genannt, so dass die PKK auch eine Unterstützung der Türkei durch die USA befürchten musste. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 137 reduziert und vor allem den Anschlägen der TAK ein Ende gesetzt.278 Die ruhigere Lage in der Türkei hatte ebenso wie die Ausschreitungen zuvor Auswirkungen auf die Situation in Berlin: Im Berichtsjahr waren ab Oktober keine entsprechenden strafbaren Handlungen mit PKK / KONGRA-GELBezug zu verzeichnen. Allerdings wird der Ton von Seiten der PKK in der Türkei Weiterhin keine bereits wieder schärfer. Im November erklärte der VorAbkehr von Gewalt sitzende des Exekutivrates der "Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans" ("Koma Komalen Kurdistan" / KKK)279, Murat Karaylan: "Wenn es nötig ist, sind wir stark genug, um einen noch viel intensiveren Krieg zu führen und allen zu zeigen, wie gekämpft wird. [ ] die Tendenzen zur Loslösung von der Türkei werden immer stärker werden."280 Tatsächlich brachen Guerillakämpfer der HPG am 5. Dezember den "Waffenstillstand" und führten einen "Vergeltungsschlag" auf einen Militärkonvoi durch. Nach Angaben der HPG wurden dabei elf türkische Soldaten getötet und sieben Soldaten verletzt.281 Kurz darauf gab auch Cemil Bayk, Mitglied des Exekutivrates der KKK, bekannt, dass man den Beschluss zur Waffenruhe erneut prüfen werde.282 Und auch die TAK drohten in einer E-Mail mit neuen Anschlägen: 278 Dass auch die TAK seit Verkündung des Waffenstillstands keine Anschläge verübt haben, ist ein Anzeichen dafür, dass ihre Befehlsstrukturen nicht so unabhängig von denen der PKK sind, wie sie immer behaupten. 279 Die KKK wurde im März 2005 von Öcalan ausgerufen und im Mai gegründet. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 161. 280 "Yeni Özgür Politika" vom 25.11.2006, S. 2. 281 Vgl. Erklärung vom 6.12.2006. Internetauftritt der HPG, Aufruf vom 13.12.2006. 282 Vgl. "Yeni Özgür Politika" vom 11.12.2006, S. 1 ff. 138 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 "Wenn wir zum Angriff übergehen, werden wir keine Entwicklungen und Aufrufe mehr beachten. [ ] Und dann werden die Plätze der Republik Türkei zu Orten werden, an denen es um Leben und Tod geht, die Türkei wird zu einem zweiten Irak werden, in dem Furcht und Chaos herrschen."283 Da es jedoch bei Einzelfällen blieb und trotz der Drohungen bislang nicht zu einer Wiederaufnahme der Kämpfe kam, ist zu hoffen, dass die Phase des "Waffenstillstands" anhält. Allerdings dämpft die Tatsache, dass die Guerilla der PKK keinesfalls ihre Waffen abgeben will und weiter kampfbereit ist, eine allzu optimistische Perspektive. Und wenn man bedenkt, dass die HPG sich ausdrücklich das "Recht zur Selbstverteidigung" vorbehalten hat,284 dann wird klar, warum die türkische Regierung den "Waffenstillstand" etwas skeptischer sieht, als dies in Europa der Fall ist. Trotz des offensichtlichen Gegensatzes der Entwicklung bis Oktober und der Zeit danach machen gerade die unterschiedlichen Ereignisse eine wichtige Übereinstimmung deutlich: Berliner Lage von Die Entwicklung im Mutterland Türkei hat genauso wie Entwicklungen in Exekutivmaßnahmen in Europa und anderen Bundesländern Türkei abhängig direkte und unmittelbare Folgen auf die Sicherheitslage in Berlin. Dies verdeutlicht, weshalb ausländische extremistische Organisationen auch dann eine potenzielle Gefahr darstellen, wenn in Deutschland auf Beschluss der Heimatorganisation keine Aktionen durchgeführt werden: Gerade der Gehorsam gegenüber solchen Beschlüssen zeigt, dass Strukturen vorhanden sind, die einen gegenteiligen Beschluss ebenso unmittelbar umsetzen können. Die offizielle Politik von PKK / KONGRA-GEL ist derzeit nicht auf gewalttätige oder gar terroristische Aktionen in 283 Internetauftritt der Nachrichtenagentur ANF, Aufruf vom 8.12.2006. 284 Darunter verstehen sie durchaus auch, dass türkische Truppen, die sich auf von der Guerilla beanspruchtem Gelände befinden, angegriffen werden dürfen. Bereits bei Wiederaufnahme der Kämpfe im Jahr 2004 waren die Gebiete um den Fluss Botan (Ulucay), Diyarbakr und Tunceli zur Hauptbasis der Guerilla erklärt worden, in denen gegen jedes "Eindringen" des türkischen Militärs vorgegangen werde. Vgl. Erklärung der HPG vom 28.5.2004. In: "ATILIM", Onlineausgabe vom 29.5.2004, Aufruf am 1.6.2004. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 139 Europa ausgerichtet. Dennoch werden einzelne Gruppen vor allem der Jugendlichen von KOMALEN CIWAN weiterhin auf "Provokationen" im Alltag - dazu zählen Festnahmen - wie auf aktuelle Ereignisse in der Türkei mit Straftaten bis hin zu Anschlägen reagieren. Die Verantwortlichen von PKK / KONGRA-GEL verurteilen dies offiziell. Während jedoch die Verhaftung von Funktionären zu einem öffentlichen Aufschrei quer durch alle Organisationsstrukturen führt, wartet man bei Ausschreitungen aus diesen Kreisen vergeblich auf eine entsprechende Reaktion. 3.7 Linksextremisten aus der Türkei Die linksextremistischen Organisationen aus der Türkei machten wie in den vergangenen Jahren in der Heimat mit zumeist terroristischen Aktionen auf sich aufmerksam. Es wurden zahlreiche Anschläge verübt, die als Reaktion der jeweiligen Organisation auf die Vorgehensweise der türkischen Sicherheitskräfte dargestellt wurden. Eine qualitative Veränderung hinsichtlich der terroristischen Aktionen ist nicht zu verzeichnen. In Deutschland gestalteten sich die Aktivitäten den taktischen Vorgaben entsprechend friedlich. Die öffentlichen Aktionen befassten sich mit der Situation der in der Türkei inhaftierten Genossen. Außerdem waren die Verfolgung durch staatliche Stellen und die innerdeutsche Politik Themen, bei denen es auch zu punktueller Kooperation untereinander sowie mit deutschen linksextremistischen Gruppen kam. 3.7.1 Ereignisse in der Türkei Linksextremistische Organisationen in der Türkei sind nach wie vor terroristisch aktiv. Um Akzeptanz zu gewinnen und Weiterhin Anschläge die Behauptung glaubhaft zu machen, dass es um die Befreiin der Türkei ung des Volkes gehe, richten sie die Anschläge zumeist gegen Sachen. Wenn es Anschläge auf Personen gibt, werden diese als zielgerichtete Strafaktionen deklariert.285 So über285 Im Vergleich zu den Vorjahren gab es nur wenige Selbstbezichtigungen zu erfolgten Anschlägen, was allerdings eher auf das Fehlen der ein- 140 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 nahm die "Revolutionäre Volksbefreiungsfront" (DHKC)286 die Verantwortung für "Bestrafungsaktionen" gegen Polizisten und Mitarbeiter anderer türkischer Sicherheitsbehörden sowie "Denunzianten", vor allem in Istanbul.287 Die DHKC erklärte zu den Aktionen: "Kein einziger Volksfeind, kein einziger Kontraguerillero kann sich der Volksgerechtigkeit entziehen."288 Die "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" (MLKP) bezichtigte sich auch 2006 zahlreicher Anschläge in der Türkei. Exekutivmaßnahmen der türkischen Sicherheitskräfte waren dabei oft Anlass für weitere Gewalttaten seitens der MLKP. Zu den Anschlagszielen zählten nach eigenem Bekunden: Parteibüros der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) in Istanbul, ein Wahl-Bus der Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP) im zentralanatolischen Malatya, Objekte des Militärs in Istanbul und Izmir, das Fahrzeug eines Armeeangehörigen im südostanatolischen Gaziantep sowie Bankfilialen und Polizeidirektionen. Außerdem wurden immer wieder Bombenattrappen eingesetzt, um ein Gefühl der Unsicherheit zu erzeugen.289. schlägigen Medien zurückzuführen sein dürfte: Zahlreiche Internetseiten sind zwischenzeitlich aufgrund von Manipulationen politischer Gegner oder möglicherweise auch staatlicher Institutionen nicht mehr abrufbar. 286 Die DHKC ist der bewaffnete Arm der "Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C). 287 Die DHKC bezichtigte sich u. a. der Tötung eines Mitarbeiters türkischer Sicherheitsbehörden am 2. Februar 2006 (vgl. Erklärung der DHKC vom 6.2.2006), der Tötung eines "Denunzianten" am 14. Februar 2006, des Angriffs auf einen Polizisten am 13. Februar 2006 (vgl. Erklärung der DHKC vom 19.2.2006), des bewaffneten Überfalls auf ein Polizeifahrzeug am 18. August 2006 (vgl. "ATILIM", Onlineausgabe vom 4.9.2006. "ATILIM" ist die Zeitschrift der MLKP.). 288 Erklärung der DHKC vom 6.2.2006. 289 Vgl. "ATILIM", Onlineausgabe vom 13.7.2006. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 141 Die Organisation rühmte sich auch, mit der "Kommunistischen Partei der Türkei / Marxisten-Leninisten" (TKP / ML) und der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) gemeinschaftlich Zusammenarbeit Straßenbarrikaden errichtet und den "Angriffen" der Polizei linksextremistischer Organisationen mit Inbrandsetzen der Barrikaden sowie mit Molotowcocktails und Steinwürfen geantwortet zu haben. Zudem erklärte die MLKP: "Mit ihren Bombenanschlägen hat die MLKP alle gewarnt, die sich von dem schmutzigen Krieg etwas erhoffen."290 Insbesondere die Eskalation im Nahen Osten führte in der Konflikt im Nahen Türkei zur Bildung einer geschlossenen Front der LinksOsten extremisten gegen den vermeintlichen US-amerikanischen Imperialismus und dessen Unterstützer in der Gestalt des Staates Israel. Der Konflikt wurde jeweils für die eigene Propaganda instrumentalisiert. So erklärte die der DHKP-C nahe stehende "Front für Rechte und Freiheiten" (HÖC) im Internet: "Unser Volk! Der beste und stärkste Weg, mit dem Volk Palästinas und Libanons solidarisch zu sein, ist, den Kampf gegen die kollaborierende Regierung unseres Landes, die den amerikanischen Imperialismus und den Zionismus unterstützt [ ], zu verstärken. [ ] Israel ist ein zionistischer Staat. Ein Massenmörder. Ein Besetzer. Ein Terrorist." 291 Unter der Überschrift "Nieder mit der zionistischen Aggression und Barbarei!" bezeichnete das internationale Büro der MLKP die Angriffe auf Palästina und den Libanon als die Verwirklichung eines imperialistisch-zionistischen Planes. Die Organisation richtete an die Leser die Botschaft: "Es ist unrealistisch, dass die Zionisten ohne Wissen und Einverständnis der USA an mehreren Fronten Angriffe durchführen. [ ] Um den US-Imperialismus aus dem Mittleren Osten und Israel aus Palästina zu vertreiben, müssen wir unsere militanten Solidaritätsaktionen mit dem 290 Vgl. ebenda. 291 Erklärung Nr. 82 der HÖC vom 20.7.2006. 142 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Widerstand im Libanon und dem Irak verstärkt durchführen."292 Polizeiliche Nach zweijähriger Vorbereitung führte die türkische Polizei Maßnahmen gegen am 8. September in acht Provinzen eine breitangelegte die MLKP Operation gegen die MLKP durch. Es wurden 23 Personen, darunter führende Funktionäre der Organisation festgenommen.293 Ihnen wurde vorgeworfen, zum 10. September, dem Gründungstag der MLKP, zahlreiche Anschläge geplant zu haben. 15 Generäle sollen im Visier der Organisation gewesen sein. Erste Medienberichte, nach denen die MLKP nunmehr als zerschlagen anzusehen sei, haben sich bislang nicht bestätigt. 3.7.2 Ereignisse in Deutschland Vorherrschendes Thema bei den Anhängern der DHKP-C in Deutschland waren weiterhin die Haftbedingungen der in der Türkei inhaftierten Gesinnungsgenossen. Die DHKP-C-nahe Organisation TAYAD-Komitee ("Solidaritätsverein der Familien von Inhaftierten und Verurteilten") begann am 10. Juni eine europaweite "Solidaritätskampagne mit den Todesfastenden in der Türkei". Im westlichen Ausland sowie in mehreren deutschen Städten wurden durch die örtlichen TAYAD-Komitees Aktionen durchgeführt. Auch in Berlin traten mehrere Aktivisten einen "Solidaritätshungerstreik" an, der jedoch ohne nennenswerte Resonanz blieb. Bezüge zu Außerdem wurden - analog zum letzten Jahr - vorherrinnerdeutschen schende Themen wie Hartz IV oder die Veröffentlichung der Themen "Mohammed-Karikaturen" aufgegriffen, um einen weiteren Kreis von Personen anzusprechen. Die der DHKP-C nahe stehende "Anatolische Föderation e. V." forderte beispielsweise aus Anlass des 1. Mai: 292 Erklärung der MLKP vom 17.7.2006. 293 Nach Angaben des Polizeipräsidenten sowie des Gouverneurs in Istanbul soll in konspirativen Wohnungen für Anschläge geeignete Waffen (automatische Gewehre, Handgranaten und etwa 250 kg Sprengstoff) sowie Schriftenmaterial zu den geplanten Anschlägen gefunden worden sein. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 143 "Nein zum Gewissenstest! Nein zu Ausweisungen! Nein zu Anti-Terror-Gesetzen! Nein zu Hartz IV und zu jeder Art von rechtlichen Beschneidungen! Nein zu US-amerikanischen Basen und zu US-amerikanischem Marionettentum!"294 Die Gesetzgebung in der EU wird als rassistisch und faschistisch bezeichnet und in Verbindung mit dem Karikaturenstreit gebracht. So schreibt die DHKP-C: "Vor allem nach dem 11. September war man den Völkern auf dieser Erde feindlich gesinnt. Die von der USA begonnene Welle der Feindschaft wurde von der EU mit derselben Leidenschaft übernommen. [ ] Vor allem die gegen die muslimische Bevölkerung herausgebrachten faschistischen und rassistischen Gesetze, das neue Ausländerrecht [ ], sind nun offizielle Politik der EU-Länder. [ ] Die Karikaturen sind nur die Spitze des Eisberges. [ ] Im Kern waren sie nichts anderes als eine Karikatur der offiziellen Politik, die ethischen Werte der Völker zu unterwerfen."295 Linksextremisten aus der Türkei beschäftigten auch im Jahr Exekutivmaßnahmen 2006 deutsche Strafverfolgungsbehörden. Im Brennpunkt stand die DHKP-C, die trotz Verbots weiterhin aktiv ist. Am 5. September ließ der 5. Strafsenat (Staatsschutzsenat) des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main die Anklage des Generalbundesanwalts wegen Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung gemäß SS 129a StGB gegen einen ehemaligen Führungskader der DHKP-C zu und eröffnete das Hauptverfahren.296 Am 28. November ließ die Bundesanwaltschaft in Heidelberg und Berlin zwei türkische Staatsangehörige festnehmen sowie Wohnungen in Berlin, Köln und Heidel294 Erklärung der "Anadolu Federasyonu" (in türkischer Sprache) vom 24.4.2006. 295 Erklärung der DHKC (in deutscher Sprache) vom 7.2.2006. 296 Der Angeklagte soll in den Jahren 1998 und 1999 die Leitung des Gebiets Frankfurt am Main, Darmstadt und Aschaffenburg inne gehabt haben. Dabei soll er mehrfach an Treffen hochrangiger Funktionäre teilgenommen haben, bei denen Brandstiftungsund Tötungsdelikte sowie militante Aktionen geplant und vorbereitet worden seien. 144 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 berg durchsuchen.297 Der in Berlin festgenommene Beschuldigte sei über das Sammeln von Spendengeldern und die Schulung von Parteikadern hinaus mit der Organisation von Demonstrationen und Diskussionsabenden befasst gewesen. Darüber hinaus habe er mit einem weiteren Beschuldigten zusammen an der Vorbereitung eines illegalen Waffentransports in die Türkei mitgewirkt, der von den türkischen Behörden verhindert werden konnte. Die Linksextremisten aus der Türkei entwickeln wie bereits Kaum politische in den vergangenen Jahren aus taktischen Gründen in Aktivitäten Deutschland keine herausragenden politischen Aktivitäten. Dies hat zur Folge, dass die Organisationen Probleme haben, neue Mitglieder zu gewinnen und sich zu profilieren. An der Ideologie und den terroristischen Aktivitäten im Heimatland hat sich jedoch nichts geändert. 3.8 Iranische Extremisten Die Anhänger der durch den "Nationalen Widerstandsrat Iran" (NWRI) vertretenen "Volksmojahedin Iran-Oranisation" (MEK) setzten ihre Bemühungen fort, die Öffentlichkeit mit vielfältigen Aktionen auf ihre Anliegen aufmerkVerstärkte sam zu machen. In Berlin fielen sie in erster Linie durch Spendenmassiv verstärkte Spendensammlungen auf, die im gesamten sammlungen Stadtgebiet zur Finanzierung ihrer teils kostenintensiven Aktivitäten im Namen des Vereins "Menschenrechtszentrum für ExiliranerInnen e. V." (MEI) durchgeführt wurden.298 Die zahlreichen Kundgebungen dagegen erreichten nur geringe Teilnehmerzahlen und blieben ohne nennenswerte öffentliche Wirkung. 297 Die Beschuldigten sollen seit dem Jahr 2002 Mitglieder einer terroristischen Vereinigung in der Türkei sein und tateinheitlich hierzu gegen das Außenwirtschaftsgesetz verstoßen haben (SSSS 129a und 129b StGB, SS 34 AWG, SS 52 StGB). Nach bisherigem Stand der Ermittlungen waren sie bis zu ihrer Festnahme in Hessen, Berlin und BadenWürttemberg als Funktionäre und Gebietsverantwortliche für den terroristischen Flügel der DHKP-C tätig. 298 Die Straßensammlungen gab es bundesweit; die Schwerpunkte lagen in Berlin, Hamburg und Nordrhein-Westfalen. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - A U S LÄ N D E R E X TR E M I S M U S 145 Primäres Ziel der Organisation ist die politische SelbstdarSelbstdarstellung als stellung (insbesondere in parlamentarischen Kreisen) als demokratische Bewegung freiheitsliebende und demokratische Exilbewegung, um die angestrebte Streichung von MEK und NLA299 von internationalen Listen terroristischer Organisationen zu erreichen. In der Vergangenheit führte die MEK zahlreiche Terroraktionen durch.300 Diese richteten sich zunächst gegen das SchahRegime und danach gegen die konservativen Kleriker um Khomeini. 1981 wurde die Organisation im Iran verboten. 1997 wurde die MEK in die Liste terroristischer Organisationen der USA sowie 2001 in eine entsprechende Liste Großbritanniens aufgenommen, seit Mai 2002 wird sie auch in der EU-Liste der terroristischen Organisationen geführt. Die seit dem Amtsantritt des iranischen Präsidenten Mah"Dritter mud Achmadinedschad veränderte politische Lage im Iran Lösungsweg" wird als willkommene Chance begriffen, sich der westlichen Welt als verbündete Kraft zu präsentieren. Mit der iranischen Regierung bietet sich ein klares Feindbild für die MEK, zugleich steht der Iran wegen der von Achmadinedschad geforderten Vernichtung des Staates Israel und der Fortführung seines Atomprogramms auch im Zentrum der Kritik der westlichen Welt. Maryam Rajavi301 erhielt im April in der parlamentarischen Versammlung im Europarat Gelegenheit, - unter Hinweis auf die vom derzeitigen iranischen Regime ausgehenden Gefahren - die von ihr propagierte Strategie des so genannten Dritten Weges302 vorzutragen. Neben der Unterstützung 299 Die "Nationale Befreiungsarmee" (NLA) ist der im iranisch-irakischen Grenzgebiet stationierte ehemals bewaffnete Arm, über den die MEK bis zum Sturz Saddam Hussains terroristische Anschläge im Iran verübte. Nach dem im Mai 2003 zwischen den Alliierten und der MEK geschlossenen Waffenstillstand wurde die NLA entwaffnet. 300 Vgl. S. 252 f. 301 Maryam Rajavi, Ehefrau des MEK-Führers Massoud Rajavi, wurde 1993 durch den NWRI zur "künftigen Präsidentin eines neuen Iran" gewählt. 302 Der so genannte Dritte Lösungsweg Rajavis sieht vor, den Iran weder durch die bisher von europäischer Seite betriebene Appeasement-Politik noch durch militärische Intervention von außen zu demokratisieren, 146 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 durch das iranische Volk und den NWRI als politische Alternative verwies sie in diesem Zusammenhang auch auf das Potenzial der in Ashraf City befindlichen NLA, was auf eine aus Sicht der Organisation fortdauernde Existenzberechtigung des ehemals bewaffneten Arms schließen lässt, zumal es an einer expliziten Gewaltabkehr der MEK / des NRWI für einen Umsturz im Iran fehlt. Auf die Klage der MEK gegen den Rat der Europäischen Union hat das Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften am 12. Dezember entschieden, den Beschluss, Einfrieren von mit dem das Einfrieren von Geldern der Organisation im Geldern Rahmen der Bekämpfung des Terrorismus angeordnet wird, für nichtig zu erklären.303 Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass der Ratsbeschluss die Rechte der Klägerin auf umfassenden Rechtsschutz sowie die Begründungspflicht verletzt. Zu der Frage, ob die MEK eine terroristische Organisation ist, äußerte sich das Gericht nicht. Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig. Bei der Fußballweltmeisterschaft blieben organisierte Proteste sowohl innerhalb als auch außerhalb der Stadien aus. Im Vorfeld publizierte Hinweise, Mitglieder der MEK / des NWRI könnten insbesondere die Spiele der iranischen Nationalmannschaft als Plattform für Störaktionen bis hin zu Selbstverbrennungen missbrauchen, bestätigten sich nicht. sondern das klerikale Regime durch das iranische Volk selbst mit Unterstützung des NWRI abzulösen. 303 Vgl. Rechtssache T-228/02. Der Wortlaut des Urteils kann auf der Internetseite des Gerichtshofes unter www.curia.europa.eu nachgelesen werden. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - S P IO N A G E AB W E H R 147 4 SPIONAGEABWEHR Auch im Jahr 2006 haben sich die Aufklärungsaktivitäten der Nachrichtendienste fremder Staaten in der Bundesrepublik Deutschland in unvermindertem Umfang fortgesetzt. Eine Vielzahl von Staaten versucht, sich mit Hilfe ihrer Nachrichtendienste Interessenvorteile im politischen, militäUnveränderte rischen und vermehrt auch wirtschaftlichen Bereich zu Aktivitäten fremder Dienste verschaffen. Darüber hinaus hat für insbesondere Nachrichtendienste totalitärer Staaten die Ausforschung von in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Oppositionellen und Dissidenten ihrer Heimatländer Priorität. In Berlin als bundespolitischem Entscheidungszentrum mit vielen politikberatenden Einrichtungen, Interessenverbänden und entsprechenden Veranstaltungen ist die Präsenz fremder Nachrichtendienste besonders hoch. In diesem ZusammenBerlin als hang spielt auch die große Zahl der in Berlin angesiedelten Entscheidungszentrum Legalresidenturen304 eine Rolle. Unverändert zählt das Agieren hauptamtlicher Mitarbeiter fremder Nachrichtendienste unter Abdeckung durch den vor Strafverfolgung schützenden Diplomatenstatus zu den typischen Tarnmethoden. Die in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Unternehmen und Forschungseinrichtungen sind bevorzugte Zielobjekte von Ländern, die Wirtschaftsspionage305 und Proliferation306 betreiben. Für die deutsche Wirtschaft stellen WirtWirtschaftsspionage schaftsspionage und Konkurrenzausspähung einen Deliktbereich mit hohem Gefährdungspotenzial dar. Der durch 304 Unter einer Legalresidentur versteht man den Stützpunkt eines fremden Nachrichtendienstes, abgetarnt in einer amtlichen (z. B. Botschaft) oder halbamtlichen (z. B. Presseagentur) Vertretung seines Landes im Gastland. 305 Wirtschaftsspionage ist die staatlich gelenkte oder unterstützte, von fremden Nachrichtendiensten ausgehende Ausforschung von Wirtschaftsunternehmen. Sie ist abzugrenzen vom Begriff der Konkurrenzausspähung / Industriespionage, die ein konkurrierendes Unternehmen gegen ein anderes betreibt. 306 Unter Proliferation wird die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte einschließlich des dafür erforderlichen Wissens sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen verstanden. 148 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 ungewollten Informationsfluss eintretende Schaden dürfte in Deutschland pro Jahr in Milliardenhöhe liegen.307 Proliferation Im Phänomenenbereich Proliferation bemühen sich insbesondere Krisenländer308, in den Besitz von atomaren, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen oder der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte und Vorprodukte bzw. des für die Herstellung erforderlichen Wissens zu gelangen. Besonders problematisch ist dabei, dass die Wissenschaft und die gewerbliche Wirtschaft die wahren Absichten ihrer "Partner" aus proliferationsrelevanten Ländern häufig nicht erkennen können. Die Spionageabwehr ist bei ihrer Arbeit auch auf Hinweise Kontakt zum aus der Öffentlichkeit angewiesen. Diesen Hinweisen geht Verfassungsschutz sie vertraulich und diskret nach. Im Falle einer bereits vorhandenen nachrichtendienstlichen Verstrickung kann die Spionageabwehr Hilfe anbieten, sich aus ihr zu lösen. Für weitere Informationen und die Sensibilisierung für Fragen der Wirtschaftsspionage und Proliferation steht die Spionageabwehr ebenfalls jederzeit zur Verfügung. Kontaktadressen und Telefonnummern des Berliner Verfassungsschutzes, darunter auch ein "Vertrauliches Telefon", finden Sie im Impressum dieses Verfassungsschutzberichts. 307 Vgl. u. a. Universität Lüneburg : Fallund Schadensanalyse bezüglich Know-how- / Informationsverlusten in Baden-Württemberg ab 1995. Studie im Auftrag des Sicherheitsforums Baden-Württemberg, www.sicherheitsforum-bw.de. 308 Krisenländer sind Länder, von denen zu befürchten ist, dass von dort aus ABC-Waffen eingesetzt werden oder ihr Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele angedroht wird. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - G E H E IM - UN D S AB O T AG E S C H U T Z 149 5 GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ Der Schutz von Informationen, deren Kenntnisnahme durch Unbefugte den Bestand oder lebenswichtige Interessen, die Sicherheit und die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden kann, ist unverzichtGeheimschutz bar. Die Verfassungsschutzbehörde wirkt auf Antrag der zuunverzichtbar ständigen öffentlichen Stelle daran mit, durch personelle, technische und organisatorische Vorkehrungen Ausforschungen durch Unbefugte in sicherheitsempfindlichen Bereichen zu verhindern.309 Ferner sind sicherheitsempfindliche Stellen bei lebensund verteidigungswichtigen öffentlichen Einrichtungen zu schützen, deren Ausfall oder Zerstörung eine erhebliche Bedrohung für die Gesundheit und das Leben zahlreicher Menschen verursachen könnte oder die für das Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbar sind. Welche Einrichtungen dazu zählen, wird durch eine Rechtsverordnung der Senatsverwaltung für Inneres und Sport festgelegt.310 Die Verfassungsschutzbehörde überprüft bei öffentlichen Stellen und Wirtschaftsunternehmen Mitarbeiter (SicherSicherheitsheitsüberprüfungen) und trifft selbst oder veranlasst Maßüberprüfungen nahmen zum materiellen Geheimschutz. Zum Zweck des personellen Sabotageschutzes sind Sicherheitsüberprüfungen gesetzlich vorgesehen. 5.1 Personeller und materieller Geheimschutz im öffentlichen Bereich Der personelle Geheimschutz soll den Schutz von im öffentPersoneller lichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, GeGeheimschutz genständen oder Erkenntnissen - so genannten Verschlusssachen (VS) - gewährleisten. Verschlusssachen sind je nach 309 Vgl. SS 5 Abs. 3 Nr. 1 und Nr. 3 VSG Bln; Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz (BSÜG) vom 2.3.1998 (GVBl. S. 26) in der Fassung vom 25.6.2001 (GVBl. S. 243), zuletzt geändert durch Art. XV des Gesetzes vom 17.12.2003 (GVBl. S. 617). 310 Vgl. Verordnung zur Festlegung der Arten lebenswichtiger Einrichtungen im Land Berlin vom 2.9.2003 (GVBl. S. 316). 150 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 dem Schutz, dessen sie bedürfen, nach SS 6 des Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetzes (BSÜG) in folgende Geheimhaltungsgrade einzustufen: Verschlusssachen 1. Streng Geheim 2. Geheim 3. VS-Vertraulich 4. VS-Nur für den Dienstgebrauch Um Sicherheitsrisiken auszuschließen, werden Personen, denen Verschlusssachen mit dem Geheimhaltungsgrad VSVertraulich und höher anvertraut werden sollen, vorher einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen. Alle Details zur Definition eines Sicherheitsrisikos, zum Verfahren und zu den Folgen für den Betroffenen sind im SicherheitsBSÜG geregelt. Dabei berücksichtigt das BSÜG die Minüberprüfungsgesetz destanforderungen an Sicherheitsüberprüfungen, zu denen sich die Bundesrepublik Deutschland gegenüber ausländischen Staaten und als Mitglied zwischenstaatlicher Einrichtungen (z. B. NATO, WEU, EU) vertraglich verpflichtet hat, damit die Sicherheitsmaßnahmen einen möglichst einheitlichen Standard haben. Um die Grundrechte der Betroffenen zu gewährleisten, wird im BSÜG kein Zwang zur Sicherheitsüberprüfung festgelegt. Überprüfung Dieser Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsfreiwillig recht311 wird nur mit Zustimmung der Betroffenen durchgeführt. Auch beim Ehegatten oder Lebenspartner, der bei bestimmten Überprüfungsarten in die Sicherheitsüberprüfung einbezogen wird, ist die Zustimmung Voraussetzung. Der Umfang der Sicherheitsüberprüfung richtet sich nach der Höhe des Geheimhaltungsgrades, zu dem der Betroffene Sicherheitsrisiko Zugang erhalten soll oder sich verschaffen kann. Ein Sicherheitsrisiko ist nach SS 7 Abs. 2 BSÜG dann als gegeben anzusehen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die Zweifel am Bekenntnis des Betroffenen zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder an seiner Zuverlässigkeit 311 Vgl. BVerfGE 65, 1. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - G E H E IM - UN D S AB O T AG E S C H U T Z 151 begründen. Ein weiterer Aspekt ist die Besorgnis der Erpressbarkeit und damit die Anwerbungsmöglichkeit für eine gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete nachrichtendienstliche Tätigkeit. Die Verfassungsschutzbehörde wird nicht von sich aus tätig, sondern nur auf Antrag des Geheimschutzbeauftragten der Behörde, bei der die zu überprüfende Person beschäftigt ist (zuständige Stelle). Im Jahr 2006 führte der Berliner Verfassungsschutz 317 Überprüfungen durch (2005: 336 Überprüfungen). Der personelle Geheimschutz wird durch den materiellen Materieller Geheimschutz ergänzt, der technische und organisatorische Geheimschutz Maßnahmen gegen die unbefugte Kenntnisnahme von Verschlusssachen umfasst. Der Verfassungsschutz berät die öffentlichen Stellen des Landes Berlin: Er informiert über Verschlusssysteme wie den Einbau von Sicherheitstüren und die Installierung von Alarmsystemen, er berät über die Datensicherheit bei der Bearbeitung von Verschlusssachen in Datenverarbeitungssystemen und begleitet die Planung und Durchführung der Maßnahmen. Zum materiellen Geheimschutz gehört auch die Information über die Vorgaben der Verschlusssachenanweisung für das Land Berlin vom 1. Dezember 1992, welche die Bearbeitung, Verwahrung und Verwaltung von Verschlusssachen regelt, und die Kontrolle der Einhaltung dieser Anweisung. Diese Aufgabe obliegt den Geheimschutzbeauftragten, die in jeder Behörde, die Verschlusssachen bearbeitet und verwaltet, eingesetzt sind. Der wichtigste Grundsatz der Verschlusssachenanweisung lautet: "Kenntnis nur, wenn nötig!" Nur die Personen, die "Kenntnis nur, mit einer bestimmten Verschlusssache befasst sind, sollen wenn nötig!" Kenntnis erlangen. Deshalb ist es Mitarbeitern, die Verschlusssachen bearbeiten oder sich Zugang verschaffen können, nicht erlaubt, mit Kollegen oder mit Familienangehörigen über die zu erledigenden Aufgaben zu sprechen. Jede technische Sicherheitsmaßnahme ist sinnlos, wenn die Verschwiegenheit der Mitarbeiter nicht gegeben ist. 152 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 5.2 Geheimschutz in der Wirtschaft Wirtschaftsunternehmen, die geheimschutzbedürftige Aufträge von Bundesund Landesbehörden ausführen, müssen vor Ausspähung fremder Nachrichtendienste geschützt und deshalb in das Geheimschutzverfahren von Bund und LänSicherheitsdern aufgenommen werden. Es sollen Sicherheitsstandards standards geschaffen und eingehalten werden, um zu verhindern, dass schaffen Unbefugte Kenntnis von den im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen (Verschlusssachen) erhalten. GeheimschutzEin Unternehmen kann die Aufnahme in die Geheimschutzbetreuung betreuung grundsätzlich nicht für sich selbst beantragen. Lediglich Firmen, die sich an NATO-Infrastruktur-Ausschreibungen beteiligen wollen, sind zur Antragstellung in eigener Sache befugt.312 Voraussetzung für die Aufnahme eines Unternehmens in das Geheimschutzverfahren des Bundes ist die öffentliche Ausschreibung eines Auftrags mit Verschlusssachen im Bundesausschreibungsblatt. Öffentliche Auftraggeber können z. B. der Bundesminister für Verteidigung oder das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung sein. Bei derartigen Verschlusssachen-Aufträgen beantragt der Auftraggeber die Aufnahme des Unternehmens in das amtliche Geheimschutzverfahren beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie. Die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen führt die Geheimschutzverfahren für die Berliner Firmen durch, wenn diese einen Verschlusssachen-Auftrag von einer Landesbehörde erhalten haben. Ausschreibung Berliner Behörden schreiben geheimschutzbedürftige Aufim Amtsblatt träge im Amtsblatt für Berlin aus. Wesentlich für die Ausschreibung bei vertraulichen Staatsaufträgen ist die Formulierung: "Es können sich geeignete Firmen bewerben, die bereits dem Geheimschutz in der Wirtschaft unterliegen, bzw. die sich dem Geheimschutzverfahren in der Wirtschaft unterziehen wollen." 312 Zuständig hierfür ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle mit Sitz in Eschborn. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - G E H E IM - UN D S AB O T AG E S C H U T Z 153 Vor Auftragserteilung sind mindestens ein gesetzlicher Vertreter des Unternehmens, ein Sicherheitsbevollmächtigter und auch die Firmenmitarbeiter, die von staatlicher Seite aus mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betraut werden sollen, einer freiwilligen Sicherheitsüberprüfung nach den Bestimmungen des BSÜG zu unterziehen. Mitwirkende Behörde bei der Sicherheitsüberprüfung ist nach SS 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 des Gesetzes über den Verfassungsschutz in Berlin (VSG Bln) die Verfassungsschutzbehörde. Im Jahr 2006 wurden 133 Sicherheitsüberprüfungen für Angehörige Berliner Unternehmen durchgeführt (2005: 44 Sicherheitsüberprüfungen). Eine weitere grundlegende Voraussetzung für die Aufnahme in den amtlichen Geheimschutz bei Landesaufträgen ist der Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrags zwischen der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen und der Unternehmensleitung. Dies bedeutet die rechtsverbindliche Anerkennung der Bestimmungen der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie herausgegebenen Sicherheitsanleitung "Handbuch für den Geheimschutz in der Wirtschaft" (GHB). Der Sicherheitsbevollmächtigte des Unternehmens ist in Angelegenheiten des Geheimschutzes für die ordnungsgemäße Durchführung der Sicherheitsüberprüfungen verantwortlich. Nach SS 28 Abs. 4 BSÜG wird der SicherheitsbeAufgaben des vollmächtigte für den personellen Geheimschutz von der Sicherheitsbevollmächtigten Verfassungsschutzbehörde in seine Aufgaben eingeführt. Nach Überprüfung der erforderlichen Geheimschutzmaßnahmen erteilt die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Technologie und Frauen dem staatlichen Auftraggeber und dem Unternehmen einen Sicherheitsbescheid. Die Firma kann nunmehr an geheimhaltungsbedürftigen Auftragsverhandlungen beteiligt werden. Fast alle Berliner Firmen, die von staatlichen Auftraggebern einen Verschlusssachen-Auftrag erhalten haben, bearbeiten keine Verschlusssachen. Sie sind vielmehr mit Lieferungen und Leistungen beauftragt worden, bei denen sie Zugang zu Verschlusssachen haben bzw. sich verschaffen können, die 154 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 VS-Vertraulich und höher eingestuft sind. Dazu zählen Montageund Wartungsarbeiten sowie Instandsetzungen in sicherheitsempfindlichen Bereichen. Seit Inkrafttreten des Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetzes 1998 und der damit verbundenen Regelung des Geheimschutzverfahrens fanden mit den SicherheitsbevollAufklärungsund mächtigten und Vertretern von Unternehmen 330 AufSensibilisierungsklärungsund Sensibilisierungsgespräche statt, davon 6 im gespräche Jahr 2006. Um die vertrauensvolle Kooperation der betroffenen Unternehmen mit den Sicherheitsbehörden zu vertiefen, unterstützt der Berliner Verfassungsschutz den "BerliSIBE und AKUS ner Arbeitskreis für Sicherheitsbevollmächtigte" (SIBEArbeitskreis) und den "Arbeitskreis für Unternehmenssicherheit Berlin-Brandenburg" (AKUS) durch fachkundige Referenten und die Bereitstellung von Informationsmaterialien bei Seminaren und Tagungen. Beide Arbeitskreise sollen den in sicherheitsempfindlichen Bereichen tätigen Berliner Unternehmen ein Austauschforum bieten. Bei der dritten Tagung vom SIBE-Arbeitskreis am 5. April beteiligte sich die Berliner Verfassungsschutzbehörde mit dem Beitrag "Fußball WM - Eine bedeutende Großveranstaltung - Maßnahmen der Gefahrenabwehr". Der AKUS und die Senatsverwaltung für Inneres vereinbarten am 29. September eine engere Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität und in anderen Bereichen der inneren Sicherheit. Die Zusammenarbeit erfolgt auf der Grundlage und nach Maßgabe des geltenden Rechts. Sie hat keinerlei Auswirkungen auf die gesetzlichen Befugnisse, Rechte und Pflichten der Sicherheitspartner und lässt das staatliche Gewaltmonopol unberührt. Wesentlicher Inhalt der Sicherheitspartnerschaft ist der verstärkte Austausch von Informationen zwischen der Wirtschaft und den Sicherheitsbehörden. So sollen Unternehmen Informationen über Fälle von Wirtschaftskriminalität oder zur Ergänzung von polizeilichen Lagebildern weiterleiten. Die Sicherheitsbehörden informieren über IT-Sicherheit, den Schutz vor Wirtschaftsspionage, Markenund Produktpiraterie oder politischen Extremismus. Außerdem können sie der Wirtschaft bei Bedarf allgemeine Lagebilder, Gefährdungsana- AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - G E H E IM - UN D S AB O T AG E S C H U T Z 155 lysen und zielgruppenorientierte Warnmeldungen zur Verfügung stellen. Weitere Felder der Zusammenarbeit sollen gegenseitige Unterstützung bei Ausund Fortbildungsveranstaltungen, die gemeinsame Erstellung von Informationsmaterial und regelmäßige oder anlassbezogene Informationsgespräche sein. Durch die Partnerschaft von Wirtschaft und SicherheitsbeBeratungsangebote hörden trägt der Verfassungsschutz zu einem effektiven Wirtschaftsund Informationsschutz bei, um Wirtschaftsspionage zu verhindern. Die Verfassungsschutzbehörde Berlin steht nicht nur geheimschutzbetreuten Unternehmen beratend zur Verfügung. Auch Unternehmen, die nicht mit geheimschutzbedürftigen Aufträgen befasst sind, können sich an den Verfassungsschutz wenden. 5.3 Sabotageschutz Ziel des Sabotageschutzes ist es, die Beschäftigung von Personen, bei denen Sicherheitsrisiken vorliegen, an sicherheitsSicherheitsrisiken empfindlichen Stellen von lebenswichtigen öffentlichen Einrichtungen zu verhindern. Auch zu diesem Zweck ist die Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen gesetzlich vorgesehen (SSSS 1 Nr. 2 und 2 Nr. 4 BSÜG). Regelungen zum Sabotageschutz sind erforderlich, weil Sabotageakte gegen lebenswichtige Einrichtungen erhebliche Risiken für die Gesundheit oder das Leben zahlreicher Menschen zur Folge haben oder das Funktionieren des Gemeinwesens gefährden können. In der Verordnung vom 2. September 2003 wurden die Arten der lebenswichtigen Einrichtungen für das Land Berlin festgelegt.313 313 Verordnung zur Festlegung der Arten lebenswichtiger Einrichtungen im Land Berlin vom 2.9.2003 (GVBl. S. 316). 156 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 5.4 Mitwirkung bei Einbürgerungsverfahren und sonstigen gesetzlich vorgeschriebenen Überprüfungen Der Verfassungsschutz wirkt nach SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG Bln mit bei Überprüfungen in Einbürgerungsverfahren. Auf Antrag der Einbürgerungsbehörde wird geprüft, ob über Personen, die einen Antrag auf Einbürgerung gestellt haben, Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörden der Länder oder des Bundes vorliegen. Seit dem 1. Januar 2000 ist eine Einbürgerung für Personen zwingend ausgeschlossen,314 welche Ausschließungsdie freiheitliche demokratische Grundordnung oder die gründe bei Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden, Einbürgerungen sich bei der Verfolgung politischer Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligen, öffentlich zur Gewaltanwendung aufrufen, mit Gewaltanwendung drohen. Eine Einbürgerung kann versagt werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass der Einbürgerungsbewerber verfassungsfeindliche Bestrebungen unterstützt oder verfolgt.315 Im Januar 2001 legte die Senatsverwaltung für Inneres fest, dass bei Einbürgerungsbewerbern aus bestimmten Herkunftsländern stets eine Anfrage beim Verfassungsschutz zu erfolgen hat. Unabhängig von der Herkunft ist eine Anfrage auch immer dann zu stellen, wenn Anhaltspunkte für eine extremistische Haltung oder sicherheitsgefährdende Tätigkeiten vorliegen. 2006 wurden 9 519 Anfragen bearbeitet (2005: 8 051 Anfragen). Vergleichbare Sicherheitsanforderungen gelten auch für das Aufenthaltsrecht von Ausländern. Das 2005 neu gefasste 314 Vgl. Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG) vom 22.7.1913 (RGBl. S. 583), zuletzt geändert durch Art. 6 Nr. 9 des Gesetz vom 14.3.2005 (BGBl. I S. 721). 315 Vgl. SS 11 Nr. 2 StAG. AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - G E H E IM - UN D S AB O T AG E S C H U T Z 157 Aufenthaltsgesetz (AufenthaltG)316 sieht vor, dass Personen, die gewaltbereit sind, terroristische Aktivitäten begehen oder unterstützen, keine Visa oder Aufenthaltsgenehmigungen erhalten oder einem Einreiseund Aufenthaltsverbot in Einreiseund Deutschland unterliegen. Zur Versagung der Einreise muss Aufenthaltsverbote festgestellt werden, dass eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland besteht.317 Aus rechtsstaatlichen Gründen reichen Vermutungen nicht aus. Um terroristischen oder gewaltbereiten Ausländern keinen Ruheraum in Deutschland zu gewähren, wurden ferner die Regelausweisungstatbestände erweitert. Im Regelfall wird Ausweisungen ausgewiesen, wer nach dem neuen Versagungsgrund nicht hätte einreisen dürfen.318 Zur Feststellung von Versagungsgründen können die Ausländerbehörden den Verfassungsschutzbehörden der Länder und weiteren Sicherheitsbehörden die von ihnen erhobenen Personalien übermitteln. Die angefragten Behörden teilen der Ausländerbehörde unverzüglich mit, ob Versagungsgründe vorliegen.319 2006 gingen 7 526 Anfragen bei der Verfassungsschutzbehörde ein (2005: 6 750 Anfragen). Der Verfassungsschutz wirkt nach SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG Bln auch bei Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach SS 7 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG)320 mit. Die gemeinsame LuftfahrtbeLuftsicherheitsgesetz hörde der Länder Berlin und Brandenburg und zugleich gemeinsame Luftsicherheitsbehörde führt danach auch die Zuverlässigkeitsüberprüfungen von Personen durch, die Zutritt zu den nicht allgemein zugänglichen Bereichen der Berliner Flughäfen Tegel und Tempelhof haben sollen. Hierfür bewertet die Luftsicherheitsbehörde die von der Polizei, aus dem Bundeszentralregister und vom Verfassungsschutz 316 Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (BGBl. I S. 1950). 317 Vgl. SS 5 Abs. 4 AufenthaltsG. 318 Vgl. SS 55 Abs. 2 AufenthaltsG. 319 Vgl. SS 73 Abs. 2 und 3 AufenthaltsG. 320 BGBl. I S. 78 vom 11.1.2005. 158 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 übermittelten Informationen. Über die Verwendung im Bereich der Flughäfen entscheidet die Behörde selbst. 2006 wurden 9 961 Personen gemäß SS 7 LuftSiG durch den Verfassungsschutz überprüft (2005: 10 699 Personen). Atomgesetz Auch das Atomgesetz (AtomG)321 sieht Zuverlässigkeitsüberprüfungen vor, an denen der Verfassungsschutz gemäß SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG Bln mitwirkt. Da kerntechnische Anlagen im Hinblick auf mögliche unbefugte Handlungen besonders zu schützende Objekte darstellen, sind Sicherungsmaßnahmen auch in Form der Überprüfung von Personen erforderlich, die Zutritt zu den kerntechnischen Anlagen erhalten sollen. In Berlin werden die Personen überprüft, denen der Zutritt zum Forschungsreaktor des HahnMeitner-Instituts gewährt werden soll. Weitere kerntechnische Anlagen sind nicht vorhanden. Die Überprüfung gemäß SS 12b AtomG wird von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung als zuständige atomrechtliche Behörde durchgeführt. Für die Prüfung der Zuverlässigkeit werden auch hier Auskünfte von der Polizei, der Verfassungsschutzbehörde und aus dem Bundeszentralregister eingeholt. Die Bewertung der übermittelten Erkenntnisse obliegt der atomrechtlichen Behörde. 2006 wurden durch den Verfassungsschutz 239 Personen überprüft (2005: 208 Personen). Seit 2005 gibt es gesetzliche Regelungen über die Beteiligung der Verfassungsschutzbehörden bei ZuverlässigkeitsWaffenund überprüfungen nach dem Waffengesetz, dem SprengstoffSprengstoffgesetz gesetz und der Bewachungsverordnung. Seit 1. September 2005 sind die Verfassungsschutzbehörden der Länder an der Überprüfung von Personen beteiligt, die gewerbsmäßig mit explosionsgefährlichen Stoffen umgehen oder den Verkehr mit solchen Stoffen betreiben wollen.322 Zuständige Behörde 321 BGBl. I S. 1565, mit letzten Änderungen vom 27.7.2001 (BGBl. I S. 1950). 322 Vgl. SSSS 7 und 8a Abs. 5 Nr. 4 Sprengstoffgesetz (SprengG), in der Fassung der Bekanntmachung vom 10.9.2002 (BGBl. I S. 3518), zuletzt geändert durch Art. 150 der Verordnung vom 31.10.2006 (BGBl. I S. 2407). AK T UE L LE E N TW IC K L UN G E N - G E H E IM - UN D S AB O T AG E S C H U T Z 159 für die Durchführung der Zuverlässigkeitsüberprüfung in Berlin ist das Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheit und technische Sicherheit. 2006 erfolgten keine Anfragen (2005: 29 Anfragen). Wer gewerbsmäßig Leben und Eigentum fremder Personen bewachen will, bedarf einer Erlaubnis auf der Grundlage der Bewachungsverordnung durch die Gewerbeämter der Berliner Bezirke. In begründeten Einzelfällen können diese gemäß SS 9 Abs. 2 Nr. 2 der Bewachungsverordnung323 bei der Bewachungsörtlich zuständigen Verfassungsschutzbehörde anfragen, ob verordnung Erkenntnisse vorliegen, die für die Beurteilung der persönlichen Zuverlässigkeit der Antragsteller von Bedeutung sind. 2006 erfolgten keine Anfragen (2005: 3 Anfragen). 5.5 Mitwirkung bei den Sicherheitsmaßnahmen anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2006 Um die Sicherheit und einen störungsfreien Verlauf der Fußball-WM 2006 zu gewährleisten, beschloss die Innenministerkonferenz am 14. März 2005, AkkreditierungsbeAkkreditierungen werber einer Zuverlässigkeitsüberprüfung zu unterziehen. Zuständig für die Durchführung dieser Überprüfungen waren die Polizeibehörden, die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder und der Bundesnachrichtendienst (BND).324 Das Organisationskomitee FIFA WM 2006 hat 148 351 Datensätze an das Bundeskriminalamt (BKA) als Zentralstelle zur Weiterleitung an die Verfassungsschutzund Polizeibehörden übermittelt. Insgesamt wurden 144 926 zustimmende und 2 055 ablehnende Voten ausgesprochen. Die restAblehnende Voten lichen Anträge konnten wegen falscher oder unvollständiger Angaben nicht bearbeitet werden. Von den Verfassungsschutzbehörden wurden 139 ablehnende Voten ausgespro323 Vgl. Verordnung über das Bewachungsgewerbe vom 20.7.2003 (Bewachungsverordnung) (BGBl. I S. 1378). 324 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2005. Berlin 2006, S. 190 f. 160 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 chen, von der Berliner Verfassungsschutzbehörde zwei. Bei der WM 2006 kam es - mit Ausnahme einiger regional beschränkter Gefahrenlagen - zu keinen wesentlichen Störungen. Hintergrundinformationen 162 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 1 IDEOLOGIEN 1.1 Definition Extremismus Der Begriff Extremismus bezeichnet kein einheitliches Phänomen, sondern ist eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Bestrebungen, "die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen"325. Die verfassungsmäßige Grenze des politischen Handelns ist in der Bundesrepublik Deutschland eindeutig festgelegt. Anlässlich des Verbots der "Sozialistischen Reichspartei" (SRP) bestimmte das Bundesverfassungsgericht 1952 den Kern des demokratischen Verfassungsstaates, die freiheitliche demokratische Grundordnung. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind zu rechnen: die Achtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, vor allem des Rechtes der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip, die Chancengleichheit aller politischen Parteien, das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.326 Die Verfassungsschutzbehörden verwenden den Extremismusbegriff seit Anfang der 70er Jahre in Abgrenzung zu dem Begriff des Radikalismus. Während extremistische Positionen die Grenze der verfassungsmäßigen Ordnung überschreiten, bezeichnet der Radikalismus Auffassungen, die 325 Uwe Backes / Eckhard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 4. Aufl. Bonn 1996, S. 45. 326 Vgl. BVerfGE 2, 1 ff; BVerfGE 5, 85 ff.; SS 6 VSG Bln. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - ID E O LO G IE N 163 zwar grundlegende systemoppositionelle Positionen vertreten, die sich aber mit ihrer fundamentalen Kritik innerhalb der Grenzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewegen. 1.2 Ideologie des Rechtsextremismus Mit der Sammelbezeichnung Rechtsextremismus verbindet sich keine geschlossene politische Ideologie. Der Begriff umschreibt eine vielschichtige politische und soziale Gedankenwelt und ein Handlungssystem, das in der Gesamtheit seiner Einstellungen und Verhaltensweisen auf die Beseitigung oder nachhaltige Beeinträchtigung demokratischer Rechte, Strukturen und Prozesse gerichtet ist. Rechtsextremistischen Strömungen sind in jeweils unterschiedlichen Gewichtungen und Ausprägungen folgende Inhalte gemeinsam:327 Ablehnung des Gleichheitsprinzips: Die Ideologie der Ungleichheit äußert sich in der gesellschaftlichen Diskriminierung bestimmter Menschen und Gruppen aufgrund ethnischer, körperlicher und geistiger Unterschiede. Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit: Die eigene Nation oder "Rasse" wird zum obersten Kriterium der Identität erhoben. Ihr wird ein höherwertiger Status zugeschrieben, was die Abwertung und Geringschätzung von nicht zur eigenen "Nation" oder "Rasse" gehörenden Menschen und Gruppen zur Folge hat. Antipluralismus: Der pluralistische Interessenund Meinungsstreit wird als die Homogenität der Gemeinschaft zersetzend angesehen. Rechtsextremisten streben eine geschlossene Gesellschaft an, in der Volk und Führung eine Einheit bilden. Autoritarismus: In demokratischen Ordnungssystemen ist der Staat ein Instrument der Selbstorganisation der Gesellschaft, das Wechselbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft vorsieht. Im autoritären Staatsverständnis steht der Staat in einem einseitig dominierenden Verhältnis über der Gesellschaft. Im Phänomenbereich des Rechtsextremismus treten zahlreiche ideologische Überschneidungen und Mischformen auf. Die Überbewertung der eigenen Nation im Vergleich zu anderen Nationen wird als Nationalis327 Vgl. Armin Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 2. Aufl. München 2000, S. 11 - 16. 164 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 mus bezeichnet. Der Rassismus behauptet die Ungleichwertigkeit von "Menschenrassen" aufgrund ihrer unveränderlichen biologischen und sozialen Anlagen. Rassistische Ideologien leiten daraus ein "naturgegebenes" Recht zur Ausgrenzung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen ab. Eine besondere Form des Rassismus ist der Antisemitismus. Darunter versteht man die Feindschaft gegenüber den Juden als Gesamtheit aufgrund stereotypischer rassistischer, sozialer, politischer und / oder religiöser Vorurteile. Ein weiteres Element des Rechtsextremismus ist der Neonazismus, der durch seinen Bezug zum historischen Phänomen des Nationalsozialismus gekennzeichnet ist. Eine rechtsextreme Ideologie wird als neonazistisch bezeichnet, wenn sie an den historischen Nationalsozialismus anknüpft. 1.3 Ideologie des Linksextremismus Die Utopie linksextremistischer Ideologien ist auf ein herrschaftsfreies, mit politischer, sozialer und ökonomischer Freiheit (Befreiung von unterdrückerischen Machtstrukturen) ausgestattetes Gemeinwesen gleicher Menschen ausgerichtet: die so genannte herrschaftsfreie Ordnung.328 Sie reicht weit über das in demokratischen Verfassungsstaaten akzeptierte Prinzip der menschlichen Fundamentalgleichheit hinaus und kann direkt oder über Zwischenstufen wie etwa im Marxismus-Leninismus (Diktatur des Proletariats / Sozialismus) erreicht werden. Ziel ist, die herrschende, als imperialistisch oder kapitalistisch diffamierte Staatsordnung durch einen revolutionären Akt zu überwinden, 329 da ihr unterstellt wird, sie diene ausschließlich der Unterdrückung der Massen bei gleichzeitiger Maskierung der Herrschaftssicherung der gesellschaftlichen Elite.330 328 Vgl. u. a. Uwe Backes / Eckard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1996, S. 60. 329 Vgl. Ernesto Che Guevara: Guerilla - Theorie und Methode. Berlin 1968, S. 7: "Wir diskutieren das Problem des friedlichen Übergangs zum Sozialismus nicht als ein theoretisches Problem [ ] Darum sagen wir [...], daß der Weg zur Befreiung der Völker, der nur der Weg des Sozialismus sein kann, in fast allen Ländern durch die Kugel erkämpft werden wird." 330 Der Linksextremismus bildet aktuell vor allem die Gegensatzpaare Neoliberalismus versus Antikapitalismus, Faschismus versus Sozialismus, Herrschaft versus Anarchismus aus und diskreditiert die freiheitliche demokratische Grundordnung. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - ID E O LO G IE N 165 Trotz der Gemeinsamkeiten in der Umschreibung eines letzten utopischen Ziels unterscheiden sich die Ansätze bezüglich dessen Umsetzung stark voneinander. Anarchisten Anarchisten etwa erwarten eine spontane Bewusstseinsänderung, die - gegebenenfalls auch unter Anwendung von Gewalt - zur Auflösung sämtlicher staatlicher Institutionen führen werde. Diese seien durch dezentrale Selbstverwaltungseinheiten zu ersetzen: "Es kann auf keinen Fall der Zweck der anarchischen Aktion sein, auf die Eroberung der Macht oder die Verwaltung des Bestehenden auszugehen. [...] Die Arbeiter brauchen keine Vermittler, um an ihrer Stelle ihre Forderungen auszudrücken oder einen Kampf zu führen, sondern sie können und müssen es direkt selbst machen. Die Libertären [Anarchisten] denken, daß die Praxis der direkten Aktion, und des Streiks im besonderen, auch das bestmögliche und wirksamste Kampfmittel in den Händen der Arbeiter ist [...] Die Libertären haben sich immer jedem Versuch der Unterwerfung der revolutionären Bewegung oder der Arbeiterbewegung entgegengesetzt, und sie befürworten die Selbstorganisation, die kollektive und autonome Aktion der Arbeiter."331 Autonome Ebenso wie Anarchisten haben auch Autonome kein zentrales Theoriegebäude ausgebildet. Sie wenden sich vor allem aktionsorientiert gegen einen staatlichen "Repressionsapparat", sind ideologisch stark zerstritten, richten sich jedoch diskontinuierlich an polarisierenden Themen aus. Thematischer Minimalkonsens der autonomen Szene sind neben der Akzeptanz von Gewalt gegen Menschen und Sachen die Schlüsselbegriffe Faschismus, Kapitalismus, Imperialismus, Militarismus, Rassismus und Sexismus, die als wesentliche Bestandteile des herrschenden politischen Systems angesehen und jeweils als "Anti"Faschismus, -Kapitalismus etc. die linksextremistischen Aktionsschwerpunkte bestimmen. "Zuerst möchte ich sagen, daß ich grundsätzlich gegen Gewalt bin. Aber in manchen Situationen glaube ich nicht, daß ich etwas ohne Gewalt ändern kann. Und dieses System baut ja selbst seit jeher auf Gewalt auf." 332 331 I-AFD [Initiative für eine anarchistische Föderation in Deutschland] - IFA [Internationale der anarchistischen Föderation]: Was ist Anarchismus. Krefeld 1993, S. 4 f. 332 "Antifaschistische Aktion Berlin". In: "Bravo Antifa" Nr. 1 vom Dezember 1996, S. 8. 166 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Versierter umschreibt die Gewaltoption ein Vordenker der autonomen Szene: "[...] wo Menschen anfangen die politischen, moralischen, technischen Herrschaftsstrukturen zu sabotieren, zu verändern, ist es ein Schritt zum selbstbestimmten Leben."333 Kommunisten Orthodoxer in der Lehre, strategischer bei der Wahl der thematisierten Politikfelder und organisierter in der Betreuung seiner Anhänger ist der Kommunismus. In unterschiedlichen Ausprägungen strebt er eine klassenlose Gesellschaft an. Dabei fordert er zunächst eine völlige Unterordnung des Individuums unter die revolutionären Ziele und die diese anstrebenden Organisationen. Über Revolutionen, in deren Verlauf das Proletariat die herrschende Elite stürzen solle, und interrevolutionäre Zwischenstufen sei die klassenlose Gesellschaft erreichbar: "1. Der Faschismus ist [...] notwendige Tendenz der kapitalistischen Gesellschaft. 2. Daher gibt es keinen Kampf gegen den Faschismus, es sei denn den Kampf für die Vernichtung des Kapitalismus durch die proletarische Revolution und Diktatur. 3. Denn jeder Aufruf, die Demokratie zu verteidigen, jeder Versuch den Faschismus aufgrund der Demokratie zu bekämpfen, jedes Bündnis mit 'demokratischen' Parteien und Klassen führt zur Zerstörung der proletarischen Bewegung und bahnt dem Faschismus den Weg."334 Von der Ideologie des Kommunismus als klassenloser Gesellschaft ist der real existierende Sozialismus als Übergangsphase vom Kapitalismus zum klassenlosen Gemeinwesen (Kommunismus) zu unterscheiden. Der Begriff des real existierenden Sozialismus stellt keine eigenständige ideologische Variante dar, er beschreibt vielmehr die gesellschaftlichen Gegebenheiten sozialistischer Staaten. Protagonisten derartiger Regime finden sich vor allem in der ehemaligen politischen Elite der DDR, die sich selbst ebenfalls dem Kommunismus zurechnet: 333 Zitiert nach "Geronimo": Feuer und Flamme. Edition ID-Archiv. Berlin 1990, S. 132 f. 334 "Internationale Revolution" Nr. 3/1969 vom Dezember 1969, S. 1, zitiert nach: Internetauftritt "sinistra", Aufruf am 30.3.2007. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - ID E O LO G IE N 167 "Kommunist zu sein heißt, [...] für die Einheit und Reinheit des MarxismusLeninismus zu kämpfen und gemäß der Lehren von Marx, Engels, Lenin und Stalin gegen alle Angriffe der bürgerlichen Ideologie und des Revisionismus und Reformismus innerhalb der Arbeiterklasse mit allen Mitteln zu verteidigen und zu vertreten, sich zur proletarischen Revolution, zur Diktatur des Proletariats und zum proletarischen Internationalismus zu bekennen."335 Gemeinsam ist den unterschiedlichen linksextremistischen Bestrebungen, dass sie eine andere gesellschaftliche Ordnung zu errichten trachten. Ferner stimmen sie trotz aller Differenzen in den Zielrichtungen bei der Wahl ihrer Mittel überein: Sie sehen Militanz gegen den Staat und seine gesellschaftliche Ordnung als probates Mittel der politischen Auseinandersetzung an: "Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, daß ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!"336 1.4 Ausländerextremistische Ideologien Ausländische Organisationen werden als extremistisch bewertet, wenn sie sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten und die Durchsetzung ihrer Weltanschauung in Deutschland anstreben. Als extremistisch werden aber auch ausländische Organisationen eingestuft, die eine gewaltsame Veränderung der politischen Verhältnisse in den Heimatländern anstreben. Sie gefährden durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland. Ausländische Organisationen werden schließlich als extremistisch bewertet, wenn ihre Tätigkeit gegen das friedliche Zusammenleben der Völker (Art. 21 Abs. 1 GG) gerichtet ist. Organisationen, die sich gegen das friedliche Zusammenleben der Völker richten, bedeuten eine erhebliche Gefahr für die innere Sicherheit. Sie bilden den Nährboden für die Entstehung extremistischer Auffassungen und schüren Hass, der auch vor Anwendung terroristischer Gewaltanwendung nicht zurück 335 Internetauftritt der KPD, Aufruf am 10.9.2002. 336 Parteiprogramm vom 7.10.1999. Internetauftritt der KPD, Aufruf am 17.12.2002. 168 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 schreckt. In den meisten Fällen werden die Aktivitäten ausländerextremistischer Organisationen von den politischen Verhältnissen in ihren Herkunftsländern bestimmt. Einige der in Deutschland ansässigen Organisationen lassen inzwischen jedoch Tendenzen zu eigenständigem Handeln erkennen. 1.4.1 Linksextremistische Gruppierungen Bei ausländerextremistischen Organisationen lassen sich linksextremistische, nationalistisch orientierte und islamistische Gruppierungen unterscheiden. Linksextremistische Organisationen folgen weitgehend der Ideologie des Marxismus-Leninismus und streben meist mit Gewalt die Etablierung eines sozialistischen bzw. kommunistischen Systems in ihren Heimatländern an. 1.4.2 Nationalistische Gruppierungen Nationalistische Ausländerorganisationen kennzeichnet ein auf ethnische, kulturelle und politisch-territoriale Unterschiede gegründeter Überlegenheitsanspruch der eigenen Nation sowie die Negierung der Rechte anderer Ethnien. 1.4.3 Islamistische Gruppierungen Die größte Gruppe innerhalb der extremistischen Ausländerorganisationen bilden die islamistischen Gruppierungen. Der Islamismus ist nicht gleichbedeutend mit der islamischen Religion. Vielmehr stellt der Islamismus eine politische Ideologie der Gegenwart dar, die sich primär gegen die Herrschaftsverhältnisse in den Heimatländern wendet und den Islam weltweit als ein alternatives Gesellschaftssystem propagiert. Der gesetzliche Beobachtungsauftrag des Verfassungsschutzes richtet sich weder auf die islamische Religion als solche noch auf die hier lebenden Muslime, von denen die Mehrheit unsere Rechtsordnung achtet. Dem Verfassungsschutz geht es um Bestrebungen, die auf die Durchsetzung der islamistischen Weltanschauung in Deutschland oder die gewaltsame Veränderung der politischen Verhältnisse in den Heimatländern abzielen. Was charakterisiert die Ideologie des Islamismus und wie ist das Phänomen eines transnationalen islamistischen Terrorismus einzuordnen? H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - ID E O LO G IE N 169 Herausbildung islamistischer Bewegungen Islamismus bezeichnet den Versuch einzelner Gruppen, den Islam zu ideologisieren und ein als islamisch deklariertes Herrschaftssystem zu errichten. Islamisten verkörpern weder per se eine anti-modernistische, rückwärtsgewandte Bewegung, noch rekrutieren sie sich mehrheitlich aus Modernisierungsverlierern. Vielmehr bilden sie eine breite, bis in die Mitte der Gesellschaft reichende Strömung. Ihnen geht es darum, den Islam zur Grundlage und Richtschnur allen Denkens und Handelns zu machen und Politik und Gesellschaft auf den Islam - so wie sie ihn verstehen - zu gründen. Der Islamismus stellt kein einheitliches Konzept dar, sondern umfasst höchst unterschiedliche Vorstellungen, die wiederum von den divergierenden historischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Herkunftsländer bestimmt sind. Insofern gibt es weder einen "Einheits-Islamismus" noch eine "islamistische Internationale". Richtiger ist es, von islamistischen Bewegungen und Grundzügen islamistischer Ideologie zu sprechen. Historisch geht islamistisches Denken auf die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurück. Angesichts des Bedeutungsverlusts, den die islamische Religion in der muslimischen Welt infolge der Kolonisierung erlitten hatte, hatten sich religiöse Reformer für die Erneuerung von Religion und Gesellschaft durch die "Rückkehr zu den reinen Ursprüngen des Islam" ausgesprochen. Reform und Erneuerung des Islam sowie anti-koloniale - und damit auch anti-westliche - Motive bestimmten in der Folge das Entstehen islamistischer Bewegungen - so etwa der 1928 in Ägypten gegründeten Muslimbruderschaft (). Große Anziehungskraft entfaltete islamistisches Denken nach dem Zweiten Weltkrieg, als in den dann unabhängigen arabischen Nationalstaaten nacheinander die Konzepte des Nationalismus, des Pan-Arabismus und des Sozialismus scheiterten. Ab den späten 70er Jahren gelang es Islamisten, dieses entstandene ideologische Vakuum zu füllen und den "Islam" als ein alternatives politisches und gesellschaftliches Modell zu präsentieren. Gefördert wurde das Erstarken islamistischer Bewegungen durch die iranische Revolution 1979. In der Folge etablierte sich der Iran als ein staatlicher Träger islamistischer Ideologie und suchte diese neue Weltanschauung durch den Export seiner Revolution zu verbreiten. Seit Ende der siebziger Jahre wurden islamistische Bewegungen auch von Saudi-Arabien unterstützt, das finanziell und ideologisch die Ausbreitung einer nicht minder fundamentalistischen islamischen Strömung, des Wahhabismus, über seine Landesgrenzen hinaus verfolgte. Eine entscheidende Rolle - 170 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 insbesondere für die Herausbildung des Phänomens des islamistischen Terrorismus - spielte auch die Tatsache, dass ab 1979 "Kämpfer" ("Mujahidin") in Afghanistan Krieg gegen die sowjetische Besatzung führten, der zehn Jahre später mit dem Rückzug der sowjetischen Truppen endete. Diese regionalpolitischen Entwicklungen erleichterten es Islamisten in den 80er Jahren, die scheinbare Überlegenheit eines "islamischen" Gesellschaftssystems gegenüber dem kapitalistischen und sozialistischen Gesellschaftssystem zu propagieren. Hierzu prägten sie vor allem das Schlagwort "Der Islam ist die Lösung". Ideologische Grundzüge des Islamismus Wichtigstes gemeinsames Kennzeichen islamistischer Ideologie ist der Anspruch, dass der Islam stets zugleich "Religion" und "Politik" verkörpert habe - ein Anspruch, den die Islamisten als eine für die islamische Geschichte geltende historische Tatsache darstellen. Die Behauptung, dass es sich beim Islam um eine unteilbare Einheit von Religion und Politik handele, ist allerdings ein nicht mehr als 100 Jahre altes Ideologem. Islamisten verstehen Religion nicht als Glaube und Ethik, sondern als vollkommene Lebensform und Weltanschauung. So propagierte etwa der Chefideologe der pakistanischen "Jamaat-i Islami"Partei, Abul Ala Al-Maududi (1903 - 1979), eine "Ordnung des Islam" ("nizam al-islam"), die alle Lebensbereiche zu regeln imstande sei und die es anzuwenden gelte. Methodisch orientieren sich Islamisten bevorzugt am Wortlaut des Koran, den sie als ein "für alle Orte und Zeiten gültiges Gesetz" betrachten, und an der Sunna, den in "Berichten" ("Hadithen") schriftlich festgehaltenen Worten und Taten des Propheten Muhammad. Beide, Koran und Sunna, haben nach islamistischer Auffassung eine Vorbildfunktion für politisches Handeln in einem künftigen "islamischen Staat". Islamisten idealisieren das erste muslimische Staatswesen, die vor 1 400 Jahren gegründete "Gemeinde von Medina" sowie die Periode der "Vier Rechtgeleiteten Kalifen", die als direkte "Nachfolger" ("Kalifen") des Propheten Muhammad eine "gerechte Kalifatsherrschaft" ausgeübt haben. Ein Idealbild haben Islamisten auch von der Scharia, die sie nicht allein als ein Recht betrachten, sondern als ein politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip. Mit dem Schlagwort der "Anwendung der Scharia" ("tatbiq ash-sharia") plädieren sie für eine vollständige Umsetzung der Bestimmungen des islamischen Rechts. Islamisten sind davon überzeugt, dass das islamische Recht lediglich angewandt werden H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - ID E O LO G IE N 171 müsse, um sämtliche politischen und sozialen Probleme zu bewältigen. Konkret betrachtet beinhaltet ihre Forderung nach "Anwendung der Scharia" allerdings nur die Anwendung islamischer Strafrechtsbestimmungen und Elemente einer "islamischen Wirtschaftsordnung". Auffällig ist der Versuch von Islamisten, politische Herrschaft mit vermeintlich religiösen Grundlagen zu legitimieren. So ist bei ihnen häufig von der "Gottesherrschaft" ("hakimiyat Allah") die Rede, die impliziert, dass politische Herrschaft nicht den Menschen zustehe. Diese Formel steht für das Ziel der Gründung eines religiösen "islamischen Staates", wobei unklar bleibt, wer darin zur politischen Führung befugt und wie dieser Staat zu organisieren sei. Das Konzept der "Gottesherrschaft" geht zurück auf Abul Ala Al-Maududi und Sayyid Qutb (1906 - 1966), den 1966 hingerichteten Chefideologen der ägyptischen Muslimbruderschaft. Beide definierten die gesamte Welt, einschließlich des Westens und der islamischen Hemissphäre, als in einem Zustand der "heidnischen Unwissenheit" befindlich und forderten die Bekämpfung nicht-glaubenskonformer Muslime und so genannter "Ungläubiger" mit Hilfe des "Jihad" ("Kampf"). Den "Jihad um Gottes Willen" verstehen Islamisten nicht - wie in der klassischen islamischen Rechtstheorie definiert - als eine ausschließlich zum Zwecke der Verteidigung des Islam zulässige Methode. Der Jihad ist für sie vielmehr eine offensive und militante Aktionsform, die sie zudem zur individuellen Pflicht eines jeden Muslims erheben. Wie weit ein derartiges Verständnis des Jihad gehen kann, zeigte der von Usama Bin Ladin im Februar 1998 verfasste Aufruf der "Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler". Hierin hatte er u. a. die Tötung von Amerikanern zur individuellen Pflicht eines jeden Muslims erklärt und zugleich behauptet, sich in einem gerechten Verteidigungskampf gegen einen überlegenen Gegner zu befinden. Gemeinsam ist den islamistischen Bewegungen, dass sie die politischen Verhältnisse ihrer Heimatländer radikal in Frage stellen. Dies betrifft vor allem die Regierungen in Ägypten, Syrien, Jordanien, Algerien, Tunesien, Marokko, im Irak, sowie die Palästinensische Autonomiebehörde. Ziel der islamistischen Bewegungen ist es bis heute, die autokratischen Herrschaftssysteme in den muslimischen Ländern zu beseitigen, der islamischen Religion größeren Einfluss zu verschaffen und dort möglichst einen - wie auch immer gearteten - "islamischen Staat" zu errichten. Die Tatsache, dass die islamistischen Bewegungen eine gegen Monarchien, Militärdiktaturen und Einparteienherrschaften gerichtete 172 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Opposition darstellen, hat zur Konsequenz, dass die Regierungen dieser Staaten sie seit Jahrzehnten massiv bekämpfen; hierzu gehören auch langjährige Haftstrafen, die Anwendung von Folter und die Verhängung der Todesstrafe. Zusammen mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit finden sich bei Islamisten ferner heftige Polemiken gegen das Prinzip des Säkularismus, der Trennung von Religion und Politik. Die Polemiken sind vor allem gegen die herrschenden politischen Systeme der Herkunftsländer gerichtet, zielen aber auch gegen westliche Demokratiemodelle, die als vermeintlich "un-islamisch" abgelehnt werden. In dieser Hinsicht haben sich einige der islamistischen Gruppen nicht allein zu einer Bedrohung für die muslimischen Heimatländer, sondern auch für die internationale Staatengemeinschaft entwickelt. Dies gilt seit den Anschlägen vom 11. September 2001 im besonderen für den islamistischen Terrorismus, der sich einer ähnlichen Argumentation bedient. Den Boden für die zunehmende Militanz bereiten vor allem verbale Angriffe, die in der Mehrzahl gegen Israel und die USA gerichtet sind. Da hierbei selten zwischen staatlicher Politik und den Bewohnern eines Landes differenziert wird, entwerfen einige islamistische Gruppierungen drastische Feindbilder von "Juden" und "Christen". Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Großteil des ideologischen Gemeinguts islamistischer Gruppierungen unvereinbar mit den im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerten Prinzipien der Demokratie, des Rechtsstaats und der Menschenwürde ist. Die Unvereinbarkeit mit der Verfassung betrifft zum einen das Politikverständnis, das in der Forderung nach Schaffung einer "islamischen Ordnung" zum Ausdruck kommt und das die Errichtung eines religiösen Staates, die Anwendung des islamischen Rechts sowie den Anspruch auf Besitz einer absoluten Wahrheit umfasst. Dies gilt zum anderen für die gesellschaftspolitischen Vorstellungen - etwa in der Frage der Gleichberechtigung der Frau -, welche gleichfalls nicht mit unserem pluralistischen System vereinbar sind. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - R E C H T S E X TR E M I S M U S 173 2 RECHTSEXTREMISMUS 2.1 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus 2.1.1 "Deutsche Volksunion" ÜBERSICHT Abkürzung DVU Entstehung / Gründung Bund: 1987 Landesverband Berlin: 1988 Mitgliederzahl Bund: ca. 8 500 (2005: ca. 9 000) Berlin: ca. 380 (2005: ca. 420) Organisationsstruktur Partei Sitz München Veröffentlichungen "National-Zeitung / Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ) (überregional, wöchentlich, Auflage deutlich unter 40 000) Die "Deutsche Volksunion" (DVU) wurde 1987 auf Initiative des Münchner Geschäftsmanns und Verlegers Dr. Gerhard Frey mit Unterstützung der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands ( NPD) als "Deutsche Volksunion - Liste D" gegründet. 1991 vollzog Frey mit der Streichung des Namensbestandteils "Liste D" die Trennung von der NPD. Das Organisationsgeflecht rund um die DVU umfasst den 1971 gegründeten Verein DVU e. V. sowie die drei so genannten Aktionsgemeinschaften "Initiative für Ausländerbegrenzung" (I.f.A.), "Ehrenbund Rudel" und "Aktion Oder-Neiße" (AKON). Darüber hinaus betreibt Frey den "DSZ Druckschriftenund Zeitungs-Verlag GmbH" (DSZ-Verlag) mit der "National-Zeitung / Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ) und den "FZ Freiheitlicher Buchund Zeitschriften-Verlag GmbH" (FZ-Verlag) als Buchund Devotionalienversand. Die DVU ist mit 16 Landesverbänden im gesamten Bundesgebiet vertreten, sie ist die mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei. In ihrem Parteiprogramm bekennt sich die DVU formal zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. In der praktischen Arbeit der Partei spielt die Programmatik allerdings kaum eine Rolle. Ihr politisch- 174 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 ideologischer Standpunkt spiegelt sich vielmehr in der Agitation der NZ wider. Die NZ ist die auflagenstärkste rechtsextremistische Wochenzeitung in Deutschland. Aufgrund der Rolle Freys als Herausgeber der NZ und Bundesvorsitzender der DVU kann die Zeitung als Presseorgan der Partei bezeichnet werden. In ihren Artikeln wird die angeblich einseitige Vergangenheitsbewältigung kritisiert. Die Verbrechen der Nationalsozialisten und insbesondere die Ermordung der Juden werden zwar als historische Tatsachen nicht geleugnet, jedoch wird der Holocaust relativiert und die deutsche Kriegsschuld bestritten. So fragte die NZ in einem Interview den Herausgeber eines revisionistischen Buches und Vorsitzenden der rechtsextremistischen "Gesellschaft für freie Publizistik" (GfP): "Wie ist es zu begreifen, dass alle anderen Völker jedwede Kollektivverantwortung ablehnen und unter keinen Umständen geneigt sind, eine solche Belastung anzunehmen? Beispielsweise kommt kaum jemand auf die Idee, die Ausrottung von Dutzenden Millionen Angehörigen der Indianervölker auch nur öffentlich zu verurteilen, geschweige denn zu sühnen, geschweige denn damit kommende Generationen zu belasten." 337 Fremdenfeindliche Attacken sind regelmäßiger Bestandteil der politischideologischen Agitation der NZ. So wurde über Migration unter den Schlagzeilen "Kommen Millionen Afrikaner? Die neue Masseneinwanderung"338, "Invasion aus Afrika. Doch Bundeswehr muss Israel schützen"339 und "Halb Afrika auf dem Sprung. Die neue Völkerwanderung"340 berichtet. In einem der Artikel heißt es: "Es wird immer dramatischer: Der Ansturm schwarzafrikanischer Armutsflüchtlinge nach EU-Europa reißt nicht ab. Es ist verheerend, was sich derzeit vor allem auf den Kanarischen Inseln abspielt. Dortige Behörden schlagen Alarm. Der Zustrom schwillt mehr und mehr an."341 337 Das System der antideutschen Fälschungen. In: "National-Zeitung" Nr. 45/2006 vom 3.11.2006, S. 2. 338 Kommen Millionen Afrikaner? Die neue Masseneinwanderung. In: "NationalZeitung" vom 13.10.2006, S. 1 f. 339 Invasion aus Afrika. Doch Bundeswehr muss Israel schützen. In: "National-Zeitung" vom 22.9.2006, S. 1 f. 340 Halb Afrika auf dem Sprung. Die neue Völkerwanderung. In: "National-Zeitung" vom 1.9.2006, S. 1 f. 341 Invasion aus Afrika. Doch Bundeswehr muss Israel schützen. In: "National-Zeitung" vom 22.9.2006, S. 1. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - R E C H T S E X TR E M I S M U S 175 Insbesondere gerät der Prozess der Erweiterung der "Europäischen Union" (EU) ins Visier, wobei die Türkei oder Israel als so genannte "raumfremde Staatswesen" eingestuft werden. Über einen mögliche EUBeitritt der Türkei schreibt die NZ: "Viele Zeitgenossen haben die Tragweite eines türkischen EU-Betritts noch nicht erkannt: Milliardenkosten durch Subvention der türkischen Wirtschaft, zusätzliche Masseneinwanderung von Türken, weitere Islamisierung".342 Des Weiteren versuchen die Autoren durch Angriffe auf das Demokratieprinzip und die Repräsentanten des demokratischen Verfassungsstaats, das politische System Deutschlands zu delegitimieren. Die DVU tritt bei Wahlen überwiegend auf Landesebene in loser Folge mit zumeist geringem Erfolg in den nordund ostdeutschen Bundesländern an. An der Bundestagswahl im September 2005 nahm die Partei nicht teil. Derzeit ist sie in der Bremischen Bürgerschaft sowie nach einer Wahlabsprache mit der NPD anlässlich der Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen im September 2004 erneut im Brandenburger Landtag vertreten. Ihr bestes Wahlergebnis erzielte die DVU 1998 mit 12,8 Prozent bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Bei den Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen in Berlin am 17. September errangen auf den Listen der NPD drei DVU-Anhänger Mandate.343 In den letzten Jahren verzichtete die DVU auf ihre traditionelle "Großkundgebung der National-Freiheitlichen" in der Passauer Nibelungenhalle. Dies ist ein deutliches Zeichen für die schon seit längerem anhaltende Stagnation in der Entwicklung der Partei. Die Mitgliederzahlen gehen zurück und die DVU überaltert zunehmend. Ein Parteileben findet nur in geringem Umfang statt. Die Mitglieder beschränken sich im Wesentlichen auf das Lesen der NZ. Der Grund für die mangelnde inhaltliche und strukturelle Dynamik der DVU liegt in ihrer besonderen Führungsstruktur. Die Partei wird von ihrem Gründer und Vorsitzenden autokratisch geleitet. Sie ist finanziell von dem privat vermögenden Frey abhängig. Die Kontrolle über die Parteifinanzen ermöglicht ihm die weitgehende Steuerung der gesamten Parteiarbeit. Auf dem Bundesparteitag im Januar 2007 wurde Gerhard Frey ohne Gegenkandidaten in seinem Amt bestätigt. 342 Werbeanzeige für das Buch: Dr. Gerhard Frey: Halbmond über Deutschland. In: "National-Zeitung" vom 8.12.2006, S. 1. 343 Vgl. S. 11 ff. 176 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Auch der Berliner Landesverband ist seit Jahren durch die Passivität seiner Mitglieder geprägt. Er verfügt über kein eigenständiges politisches Profil und agiert lediglich in enger Anlehnung an die Bundeszentrale der DVU. Anlässlich der Abgeordnetenhauswahl engagierten sich einige DVU-Mitglieder im Wahlkampf stark für die NPD. 2.1.2 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" ÜBERSICHT Abkürzung NPD Entstehung / Gründung Bund: 1964 Landesverband Berlin: 1966 Mitgliederzahl Bund: ca. 7 000 (2005: ca. 6 000) Berlin: ca. 210 (2005: ca. 175) Organisationsstruktur Partei Sitz Berlin Veröffentlichungen "Deutsche Stimme" (überregional, monatlich, Auflage ca. 21 000) "Zündstoff - Deutsche Stimme für Berlin und Brandenburg" (regional, vierteljährlich) Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) ging 1964 aus der rechtsextremistischen "Deutschen Reichspartei" (DRP) hervor. Der Vorsitzende der DRP, Adolf von Thadden, war Initiator der NPDGründung und von 1967 bis 1971 deren Vorsitzender. Die NPD verfügt mit den "Jungen Nationaldemokraten" (JN) über eine Jugendorganisation. Im September 2006 wurde der "Ring Nationaler Frauen" (RNF) als "bundesweite Frauen-Organisation der NPD" gegründet. Darüber hinaus existiert der "Nationaldemokratische Hochschulbund e. V." (NHB) als Studentenvereinigung. Als Parteizeitung vertreibt die NPD die Monatsschrift "Deutsche Stimme" (DS). Die Partei, deren Bundesgeschäftsstelle sich seit 2000 in Berlin befindet, verfügt über 16 Landesverbände. Im April 2003 kam es zur Trennung des gemeinsamen Landesverbands Berlin-Brandenburg. Der gemeinsame Landesverband der Jugendorganisation blieb davon unberührt. Zum H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - R E C H T S E X TR E M I S M U S 177 Jahresende 2003 löste sich der JN-Landesverband Berlin-Brandenburg nahezu selbst auf. Versuche einer Wiederbelebung der JN in Berlin blieben seither ohne dauerhaften Erfolg.344 Die NPD vertritt fremdenfeindliche, rassistische und antisemitische Positionen und versteht sich als Fundamentalopposition zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Als "sozialrevolutionäre Erneuerungsbewegung" strebt sie in aggressiver Weise die grundsätzliche Neuordnung des Staatsaufbaus an. Ziel ist die Beseitigung des derzeitigen politischen Systems: "Nationalismus heißt Revolution. Und unsere Revolution findet im 21. Jahrhundert statt. Unsere Revolution ist keine kleine Veränderung, sondern wir müssen uns ein komplett anderes politisches System erkämpfen!"345 Grund dafür sei die Zerstörung der nationalen Identität durch die "herrschenden Parteien": "Jegliche Form der Gemeinschaft wird zerstört. [...] Die Ursachen dieser Zerstörung sind in der liberalistischen Ideologie der herrschenden Parteien zu suchen. [...] Um diese Entwicklung unumkehrbar zu machen, werden immer mehr Ausländer nach Deutschland geholt, sei es als Asylbewerber, sei es im Rahmen der EU oder auf der Grundlage der sogenannten Greencards. Wenn die Politik der Kartellparteien ihr Ziel erreicht hat und die Bevölkerung der BRD ein zusammengestückeltes, wirres Sammelsurium von egoistischen Individuen ist, [...] die kein gemeinsames Aussehen, keine gemeinsame Kultur, keine gemeinsame Abstammung [...] und keine gemeinsame Sprache mehr haben, [...] ist das Endstadium der Gemeinschaftszerstörung und der Entkulturalisierung erreicht. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Bürgerkrieg [...]."346 Zu diesem Zweck agitiert sie gegen die "Systemparteien" als Träger der rechtsstaatlichen Ordnung und gegen demokratische Prinzipien wie den Pluralismus. Ideologische Grundlage ist ein anti-individualistisches Menschenbild und der völkische Kollektivismus. Das Ziel der NPD ist die Schaffung einer "ethnisch homogenen Volksgemeinschaft"347. So forderte die Berliner NPD in ihrem Aktionsprogramm zur Abgeord344 Vgl. S. 29. 345 Alexander Neidlein: Grußwort zum Landeskongress der JN Baden-Württemberg am 4.11.2006. Internetauftritt der JN, Aufruf am 20.11.2006. 346 Bundeswahlprogramm der NPD 2005, S. 11. 347 Holger Apfel: Weder Recht noch Menschlichkeit. In: "Deutsche Stimme" Nr. 9/2003 vom September 2003. 178 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 netenhauswahl: "Heimat Berlin [...] Gleichartige Kultur, Menschen und der gemeinsam erlebte und gestaltete Lebensraum vereinen sich in diesem Wort."348 Eine Wesensverwandtschaft ihrer Positionen mit der nationalsozialistischen Ideologie und eine Verharmlosung ihrer menschenverachtenden Folgen wird durch die Wahl der Begriffe in ihrer Agitation deutlich: "[...] Antisemitismus meint wohl die Kritik an Juden? Selbstverständlich darf man auch Juden kritisieren. Der von jüdischer Seite seit 60 Jahren betriebene Schuldkult und die ewige jüdische Opfertümelei muß sich kein Deutscher gefallen lassen. Es muß endlich Schluß sein mit der psychologischen Kriegsführung jüdischer Machtgruppen gegen unser Volk. Schließlich ist klar, daß die Holocaust-Industrie mit moralischen Vorwänden die Deutschen immer nur wieder finanziell auspressen will." 349 Hinzu kommt die Heroisierung führender Repräsentanten und Institutionen des NS-Regimes. Die NPD tritt regelmäßig mit ihrer aggressiven Propaganda öffentlich in Erscheinung. Wenige Jahre nach ihrer Gründung verzeichnete sie mit dem Einzug in mehrere Landesparlamente ihre ersten Erfolge. Ihren Höhepunkt erlebte die NPD im Jahr 1969, als sie bei der Bundestagswahl mit 4,3 Prozent der Stimmen nur knapp den Einzug in den Deutschen Bundestag verfehlte. Danach kam es aufgrund innerparteilicher Querelen zu einem Bedeutungsverlust der Partei. Der seit 1996 amtierende Parteivorsitzende Udo Voigt versucht mit einem "Drei-Säulen-Konzept" eine strategische Neuausrichtung und Wiederbelebung zu erreichen.350 Demnach konzentriert sich die Arbeit auf drei strategische Ebenen: den "Kampf um die Straße", den "Kampf um die Köpfe" und den "Kampf um die Parlamente". Das Konzept formuliert das Ziel, die NPD nicht nur als Wahlpartei zu etablieren ("Kampf um die Parlamente"), sondern auch Einfluss auf intellektuelle Diskurse zu nehmen ("Kampf um die Köpfe") und durch provokante Aktionen und Demonstrationen die Basis ihrer Anhängerschaft zu verbreitern ("Kampf um die Straße"). 348 Aktionsprogramm zur Abgeordnetenhauswahl 2006. Internetauftritt des Berliner NPDLandesverbands, Aufruf am 20.11.2006. 349 Ist die NPD eine antisemitische Partei? Argumentationshilfe für Kandidaten und Funktionsträger des NPD-Parteivorstands, Juni 2006. 350 Vgl. Holger Apfel: 35 Jahre NPD - Alles Große steht im Sturm. Tradition und Zukunft einer großen Partei. Stuttgart 1999. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - R E C H T S E X TR E M I S M U S 179 Mit dem "Drei-Säulen-Konzept" und der Öffnung der Partei konnte die NPD insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern neue, überwiegend jüngere Mitglieder gewinnen. Mit der konzeptionellen Neuausrichtung war auch eine Radikalisierung der Partei verbunden, die im Jahr 2000 Anlass für die Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht war.351 Das Verfahren zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der NPD und Auflösung ihrer Parteiorganisation wurde mit Entscheidung des Zweiten Senats vom 18. März 2003 eingestellt.352 Nach Abschluss des Verbotsverfahrens bemühte sich die NPD erfolgreich um die Überwindung der Isolation im rechtsextremistischen Lager. Bei der Landtagswahl in Sachsen im September 2004 konnte die Partei u. a. aufgrund einer Wahlabsprache mit der rechtsextremistischen "Deutschen Volksunion ( DVU) mit 9,2 Prozent der Stimmen in den Landtag einziehen. Im Anschluss daran rief sie zur Bildung einer "Volksfront" auf.353 Seit 2004 profitiert sie von diesem Bündnis mit der DVU und den parteifreien Rechtsextremisten sowohl im Bundesgebiet als auch in Berlin. Sie entwickelte sich im Jahr 2006 zum zentralen rechtsextremistischen Akteur.354 351 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Az.: BVerfG 2 BvB 1/01; Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2001. Berlin 2002, S. 32 - 36; dies.: Verfassungsschutzbericht 2002. Berlin 2003, S. 17 - 20; dies.: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, S. 53 - 56. 352 Im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts fand sich nicht die nach SS 15 Abs. 4 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) für eine Fortsetzung notwendige ZweiDrittel-Mehrheit. Eine Minderheit der Richter vertrat die Auffassung, dass die Beobachtung der NPD durch V-Personen, die unmittelbar vor und während des Verbotsverfahrens als Mitglieder des Bundesvorstands oder eines Landesvorstands fungieren, in der Regel unvereinbar mit den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren sei. Die Mehrheit hielt eine Fortsetzung des Verbotsverfahrens für geboten. Sie sah in dem Vorgehen der Verfassungsschutzbehörden keinen schwerwiegenden Mangel, der eine Verfahrenseinstellung rechtfertigen könnte. 353 Vgl. Senatsverwaltung für Innere: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 49 ff. 354 Vgl. S. 17 ff. 180 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 2.2 Aktionsorientierter Rechtsextremismus 2.2.1 "Anti-Antifa" Als Reaktion auf die linksextremistische "Antifa" entwickelten gewaltbereite und ideologisch gefestigte aktionsorientierte Rechtsextremisten die Strategie der "Anti-Antifa". "Anti-Antifa"-Aktivisten sammeln Informationen und persönliche Daten über (vermeintliche) politische Gegner und veröffentlichen diese teilweise im Internet oder in Szenepublikationen. Zu diesem Personenkreis zählen sie Repräsentanten des Staates oder jüdischer Organisationen sowie Personen, die sie als "Linke" einstufen. Durch die Veröffentlichungen soll eine Drohkulisse aufgebaut und der politische Gegner verunsichert werden. Um die Gewalt gegen staatliche Organe oder deren Repräsentanten zu rechtfertigen, wird die Bundesrepublik Deutschland als Diktatur und "Unrechtsregime" verunglimpft, da nationalsozialistische Meinungen und politische Betätigungen "unterdrückt" würden. Die "Anti-Antifa"-Aktivitäten ist weiterhin der Aktions-Schwerpunkt im Netzwerk Kameradschaften. Ort der Auseinandersetzungen ist insbesondere der so genannte "Weitlingkiez", der sowohl von Rechtswie auch von Linksextremisten zum eigenen "Revier" erklärt wurde. 355 Als Personenzusammenschlüsse sind in diesem Bereich vor allem die "Autonomen Nationalisten Berlin" (ANB), die "Aktionsgruppe Rudow" (AGR) sowie die "Freien Kräfte Berlin" (FKB) aktiv. Diese sind dem Netzwerk Kameradschaften () und hier speziell den Autonomen Aktionsgemeinschaften () zuzurechnen. 2.2.2 "Autonome Aktionsgemeinschaften" Seit 2002 gibt es innerhalb des Kameradschaftsnetzwerks die Tendenz, sich hinsichtlich Habitus, Kleidung und Aktionen dem Stil autonomer Linksextremisten anzunähern. Diese "autonomen Rechtsextremisten" sind für Außenstehende aber auch teilweise für die jeweiligen Szeneangehörigen, nicht mehr ohne Weiteres von Linksautonomen zu unterscheiden. Zu den identitätsstiftenden Merkmalen zählen ein eigener Slang, bestimmte Musik und eigene Codes. Gleichzeitig ist eine zunehmende Gewaltbereitschaft festzustellen. 355 Vgl. S. 39 - 40. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - R E C H T S E X TR E M I S M U S 181 Im Gegensatz zu den konventionellen Kameradschaften sind autonome Aktionsgemeinschaften Gruppen ohne feste Bindung (formale Mitgliedschaft, Kassenund Buchführung) und regelmäßige Basisarbeit (Kameradschaftsabende, politische Schulungen). Bei den autonomen Aktionsgemeinschaften gilt das Prinzip "Mitgliedschaft durch Mitmachen". Es werden anlassbezogene erlebnisorientierte politische Aktionen durchgeführt, zu denen oft spontan über SMS-Ketten mobilisiert wird. Zentrale Aktionsfelder sind Anti-Antifa-Aktivitäten () das Ausspähen und Sammeln von Daten sowie die Auseinandersetzung mit politischen Gegnern. Zum Aktionsrepertoire gehört die öffentliche Darstellung durch das Anbringen von Aufklebern ("Spuckis"), Farbschmierereien sowie die Bildung "schwarzer Blöcke" bei rechtsextremistischen Demonstrationen. In Berlin existieren die neonazistischen autonomen Aktionsgemeinschaften "Autonome Nationalisten Berlin" (ANB), "Aktionsgruppe Rudow" (AGR) und "Freie Kräfte Berlin" (FKB). Während die erstmals 2002 in Erscheinung getretenen ANB und die 2005 entstandene AGR um Konspiration bemüht sind, tritt die 2005 nach den Kameradschaftsverboten gebildete FKB auch öffentlich mittels einer Homepage und als Veranstalter von rechtsextremistischen Demonstrationen auf. Den autonomen Aktionsgemeinschaften sind in Berlin etwa 100 Personen zuzurechnen, die fast ausschließlich in den östlichen Bezirken agieren. Lokale Schwerpunkte sind Lichtenberg, Treptow-Köpenick und Neukölln. 2.2.3 "Blood & Honour" ÜBERSICHT Abkürzung B&H Entstehung / Gründung 1986 Großbritannien 1994 Deutschland Organisationsstruktur 2000 Vereinsverbot Der in Deutschland verbotene neonazistische Skinhead-Zusammenschluss Blood & Honour (B & H) ist neben den Hammerskins ( HS) eines der beiden international agierenden rechtsextremistischen Skinhead-Netzwerke ( Skinheads). Gegründet wurde B & H 1986 von 182 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Ian Stuart Donaldson in Großbritannien und etablierte sich im Laufe der 90er Jahre in vielen europäischen Ländern und den USA. Dem B & H- Netzwerk gehörten bundesweit rund 200 Personen an, die sich in 15 Sektionen organisierten. Die Sektion Berlin bestand aus ca. 30 fest eingebundenen Mitgliedern, das Aktivierungspotenzial der Organisation lag jedoch deutlich höher. B & H wird in Szenekreisen mit dem Zahlencode "28" abgekürzt (nach dem zweiten und achten Buchstaben des Alphabets). B & H versteht sich ausdrücklich als neonazistischer Personenzusammenschluss und ist eine wesentliche Kommunikationsplattform ideologisch gefestigter rechtsextremistischer Skinheads. Ziel der Organisation ist die Verbreitung der rechtsextremistischen Ideologie über das Medium Musik ( Rechtsextremistische Musik). Im Gegensatz zu den Parteien wurde B & H von den rechtsextremistischen Skinheads als authentisch akzeptiert und gewann vor allem durch die Veranstaltung von Konzerten und die Produktion rechtsextremistischer Musik an Bedeutung. Da sich die Vereinigung gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung richtet, verbot der Bundesminister des Innern den Personenzusammenschluss im September 2000. In den meisten Ländern ist B & H nicht verboten. So z. B. in Belgien und Italien; dort finden weiterhin von B & H organisierte Konzerte und Treffen statt. Ein Großteil der ehemaligen Berliner Aktivisten ist weiterhin im rechtsextremistischen Musiknetzwerk aktiv. In Berlin gelang es den ehemaligen B & H-Aktivisten nach dem Verbot nicht, den organisatorischen Zusammenhalt aufrecht zu erhalten und Konzerte zu veranstalten.356 356 In mehreren anderen Bundesländern sind Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Fortführung der verbotenen Vereinigung B & H anhängig. Der Schwerpunkt der Ermittlungen liegt in Bayern und Baden-Württemberg. Am 7. März 2006 wurden in diesem Zusammenhang von der Polizei bundesweit über 120 Objekte durchsucht. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - R E C H T S E X TR E M I S M U S 183 2.2.4 "Hammerskins" ÜBERSICHT Abkürzung HS Entstehung / Gründung Mitte der 80er Jahre USA 1994 Deutschland Mitgliederzahl Bund: ca. 100 (2004: ca. 100) Berlin: unter 20 (2004: unter 20) Organisationsstruktur Internationale Vereinigung Regional untergliedert in Chapter und Sektionen Die Hammerskins (HS) sind neben Blood & Honour ( B & H) die zweite international tätige rechtsextremistische Skinhead-Organisation ( Skinheads). Die HS wurden Mitte der 80er Jahre als neonazistische "Elite"-Organisation in den USA gegründet. Die Bemühungen um eine länderübergreifende Zusammenarbeit leiten sich aus einem rassistischen Weltbild ab. Ziel der HS ist die Vereinigung aller "weißen" Skinheads über Ländergrenzen hinweg in einer "Hammerskin-Nation". Das Symbol der HS sind zwei gekreuzte Zimmermannshämmer, die auf die Wurzeln der Skinhead-Subkultur im Arbeitermilieu hinweisen und dessen Kraft symbolisieren sollen. In Deutschland bildeten sich ab etwa Mitte der 90er Jahre regionale Zusammenschlüsse ("Sektionen"). Aufgrund mangelnder Organisationsstrukturen und einer fehlenden Führungspersönlichkeit in ihren Reihen konnten die HS aber weder in Konkurrenz zu B & H treten, noch ihr Selbstbild als Elite der rechtsextremistischen Skinheads durchsetzen. Angesichts des postulierten Ziels einer "Hammerskin Nation" fällt die Konzeptionslosigkeit der HS auf. Eine Strategie zur Umsetzung ihres Ziels ist nicht erkennbar. Überregionale Koordinierungstreffen finden zwar regelmäßig statt, Impulse gehen von diesen Treffen bislang jedoch nicht aus. Die Berliner Sektion gründete sich 1994. Sie umfasste bei geringer Fluktuation nie mehr als 30 Mitglieder. Gemessen an dem von den "Hammerskins" formulierten Anspruch, geht von der Berliner Sektion keine Außenwirkung aus. 184 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 2.2.5 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V." ÜBERSICHT Abkürzung HNG Entstehung / Gründung 1979 Mitgliederzahl Bund: ca. 600 (2004: ca. 600) Berlin: ca. 40 (2004: ca. 50) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Frankfurt am Main Veröffentlichungen "Nachrichten der HNG" (überregional, monatlich, Auflage ca. 600) Die "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V." (HNG) ist mit bundesweit ca. 600 Personen nach den größeren rechtsextremistischen Parteien der mitgliederstärkste Zusammenschluss im Rechtsextremismus. In Berlin verfügt die HNG über ein Mitgliederpotenzial von rund 40 Personen. Die HNG bezeichnet sich als "Sammelbecken und Solidargemeinschaft" für Neonazis aller politischen Gruppierungen. Laut ihrer Satzung verfolgt sie "ausschließlich karitative Zwecke, indem sie nationale und politische Gefangene und deren Angehörige im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden Mittel unterstützt"357. Tatsächlich ist es ihr Ziel, die Einbindung der Straftäter in die rechtsextremistische Szene während der Haftzeit zu gewährleisten und sie nach der Haftentlassung nahtlos wieder zu integrieren. Zu diesem Zweck nutzt die HNG ihre Publikation "Nachrichten der HNG". Darin sind "Gefangenenlisten" abgedruckt sowie eine Liste inhaftierter Rechtsextremisten, die Briefkontakt wünschen. Auch in Berliner Gefängnissen werden Rechtsextremisten von der HNG betreut. Die Betreuung geht kaum über die Zustellung der "Nachrichten der HNG" hinaus, die allerdings von vielen Justizvollzugsanstalten unterbunden wird. Der Häftling wird in die dort publizierte "Gefange357 SS 2 Satzung der HNG vom 13.3.1999. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - R E C H T S E X TR E M I S M U S 185 nenliste" aufgenommen, manche erhalten Briefe der Vorsitzenden der HNG. Antworten auf diese Briefe werden teilweise in den "Nachrichten der HNG" veröffentlicht. In Einzelfällen erhalten Häftlinge geringe Geldspenden. Die HNG versucht, den Eindruck zu erwecken, alle von ihr betreuten Straftäter seien "politische Gefangene". Dabei nimmt sie keinen Anstoß daran, dass einige der Häftlinge für Kapitalverbrechen wie Mord oder Totschlag verurteilt worden sind. Aufgrund des eng umrissenen Vereinszwecks spielen ideologische oder strategische Meinungsverschiedenheiten der HNG-Mitglieder keine große Rolle. Die HNG ist bemüht, sich aus politischen Auseinandersetzungen innerhalb des Rechtsextremismus herauszuhalten, einen "neutralen" Status zu wahren und die Vernetzung innerhalb des Rechtsextremismus zu fördern. 2.2.6 Kameradschaften Kameradschaften sind Personenzusammenschlüsse, die einen abgegrenzten Aktivistenstamm mit beabsichtigter geringer Fluktuation haben, eine lediglich lokale oder maximal regionale Ausdehnung, eine mindestens rudimentäre Struktur und die Bereitschaft zu gemeinsamer politischer Arbeit auf der Basis einer rechtsextremistischen, insbesondere neonazistischen Grundorientierung. Kameradschaften sind in der Regel hierarchisch gegliedert und bestehen aus einem autoritär agierenden Kameradschaftsführer, einem Stellvertreter und meist jugendlichen Kameradschaftsmitgliedern, die sich regelmäßig zu Kameradschaftsabenden treffen. Die für die Einordnung als Kameradschaft maßgebliche gemeinsame politische Arbeit geschieht z. B. durch geschlossene Teilnahme an Demonstrationen, Erstellung und Verbreitung von Flugblättern, Internetauftritte oder politische Schulungen. Kameradschaften entstanden als Reaktion auf die zahlreichen Organisationsverbote in den 90er Jahren. An die Stelle der zerschlagenen überregionalen Strukturen sollten kleinere, unabhängige Einheiten treten, die aufgrund ihres informellen Charakters weniger Angriffspunkte für staatliches Vorgehen bieten sollten. Nach den Verboten der "Kameradschaft Tor Berlin" (KTB) und "Berliner Alternative Süd-Ost" (BASO) 2005 ist auch diese Organisationsform unattraktiv geworden. 186 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 2006 traten Kameradschaften in Berlin kaum öffentlich in Erscheinung.358 Neonazi-Cliquen, die sich mitunter selbst als Kameradschaft bezeichnen, bei denen aber der politisch-ideologischen Arbeit nur sekundäre Bedeutung zukommt, werden vom Verfassungsschutz nicht als Kameradschaften definiert. Bei diesen Gruppen stehen konspirative Aktivitäten, gemeinschaftliches Auftreten und gemeinsame Freizeitaktivitäten auf Basis einer neonazistischen Grundorientierung im Vordergrund. Dies gilt z. B. für den rechtsextremistischen Personenzusammenschluss Kameradschaft Spreewacht (). 2.2.7 "Kameradschaft Spreewacht" ÜBERSICHT Abkürzung KSW Entstehung / Gründung Ende der 90er Jahre Mitgliederzahl Unter 20 (2005: unter 20) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Die Mitglieder der "Kameradschaft Spreewacht" (KSW) sind der Subkultur der rechtsextremistischen Skinheads zuzurechnen. Die lebensälteren Rechtsextremisten propagieren neonazistisches Gedankengut und transportieren das subkulturelle Lebensgefühl der Mitglieder in Abgrenzung zur bürgerlichen Gesellschaft. Auf ihrer Homepage finden sich rechtsextremistische Symbole und Codes, so beispielsweise "88" für "Heil Hitler".359 Nach eigener Aussage gründete sich die Gruppe Ende der 90er Jahre und schottete sich ab, um sich der Beobachtung durch die Sicherheitsbehörden zu entziehen: "Wir die Kameradschaft Spreewacht ein feierfreudiges Völkchen haben uns Ende der 90er Jahre zusammen gerauft. Da gerade in Berlin die sogenannte 358 Vgl. S. 34 ff. 359 Vgl. Internetauftritt der KSW, Aufruf am 1.2.2007. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - R E C H T S E X TR E M I S M U S 187 Staatsmacht [...] alles daran setzte um geistig gefestigte Menschen zu kriminalisieren, und zu unterwandern, haben wir uns abgeschottet [...]." 360 Auf der Homepage sind zahlreiche Schlagoder Schusswaffen abgebildet. Ihre Aggressivität gegenüber dem politischen Gegner zeigte eine Grafik, auf der ein Neonazi einer am Boden liegenden Person vor den Kopf tritt. Umrandet ist diese Szenerie mit dem Schriftzug: "Good night, left side."361 Die KSW gehört zum rechtsextremistischen Musiknetzwerk in Berlin und betreibt ein Clubhaus in Berlin-Lichtenberg. Auch 2006 trat sie als Veranstalter rechtsextremistischer Konzerte in Erscheinung ( Rechtsextremistische Musik). 2.2.8 Neonazis Neonationalsozialisten (Neonazis) orientieren sich am historischen Nationalsozialismus, wie er von der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP) zwischen 1920 und 1945 vertreten wurde. Wie in der NSDAP sind auch im Neonazi-Spektrum unterschiedliche ideologische Strömungen festzustellen. So gibt es Bezüge zum sozialrevolutionären Flügel innerhalb des Nationalsozialismus und dem damit verbundenen Antikapitalismus Ernst Röhms und der Gebrüder Strasser. Allen Versionen des Neonationalsozialismus gemeinsam ist die Glorifizierung der Führungspersonen des NS-Regimes und die Verharmlosung der NS-Verbrechen. Ein Teil der Neonazi-Szene ist in festen Strukturen wie den so genannten Kameradschaften () organisiert. Andere Neonazis nehmen lediglich unregelmäßig an politischen Aktionen wie Demonstrationen teil oder betätigen sich in dem losen Verbund einer autonomen Aktionsgemeinschaft ( Autonome Aktionsgemeinschaften). 80 Prozent der ideologisch gefestigten Berliner Neonazis wohnen in den östlichen Bezirken, bei den ideologisch gefestigten und gewaltbereiten Neonazis ergibt sich sogar ein Anteil von 85 Prozent. Geographische Schwerpunkte sind die Bezirke Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf, Pankow und Treptow-Köpenick. Allein in diesen vier Bezirken leben 75 Prozent der ideologisch gefestigten Neonazis und befinden sich 360 Ebenda. 361 Ebenda. 188 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 80 Prozent der von den Neonazis genutzten Trefforte. Besonders betroffen ist der Bezirk Lichtenberg, insbesondere die Gegend um den Bahnhof Lichtenberg. In den unmittelbar an dem Bahnhof gelegenen südöstlichen und nordwestlichen Wohngebieten lebt jeder sechste ideologisch gefestigte Berliner Neonazi. 2.2.9 Rechtsextremistische Musik Unter rechtsextremistischer Musik versteht man die Kombination rechtsextremistischer Texte mit verschiedenen Musikstilen (u. a. Rock / Hardrock, Liedermacher, Gothic, Dark Wave, Schlager, Rockabilly, Volkslieder).362 Die Musik-Szene ist seit Mitte der 90er Jahre einer der dynamischeren Bereiche des Rechtsextremismus. Im strukturarmen aktionsorientierten Rechtsextremismus stellt sie - besonders durch die Konzerte - eine wichtige Kommunikationsplattform dar. Die Mitgliedschaft in einer Band bietet die Möglichkeit, sich innerhalb der Szene zu profilieren - je menschenverachtender die Texte einer Band sind, desto größer das Ansehen unter den Szene-Angehörigen. Eng mit dem Bedeutungszuwachs der Musikszene war der Aufstieg der Blood & Honour-Organisation ( B & H) verbunden. Strategisch denkende Köpfe wie der B & H-Gründer Ian Stuart Donaldson versuchten, die Musik als Mittel der ideologischen Beeinflussung und Rekrutierung einzusetzen. Diese Strategie war nur begrenzt erfolgreich, da eine Rekrutierung für die Szene selten über das alleinige Hören rechtsextremistischer Musik erfolgt. Für die Gewinnung Außenstehender ist der persönliche Kontakt, der auch auf Konzerten zustande kommt, wichtiger. Daneben erlangte der Musikbereich auch finanzielle Bedeutung für den aktionsorientierten Rechtsextremismus. Seit Mitte der 90er Jahre etablierten sich professionelle Händler, welche die Szene mit Tonträgern und sonstigem Szenebedarf (vor allem Kleidung) versorgen. Die Aktivitäten der rechtsextremistischen Musikszene in Berlin erreichten Mitte der 90er Jahre ihren Höhepunkt, bevor sie gegen Ende der 90er Jahre unter erheblichen Druck durch das Vorgehen der Sicherheitsbehörden gerieten: Rechtsextremistische Veranstaltungen wurden aufgelöst, Tonträger indiziert und Hausdurchsuchungen durchgeführt. 362 Oft verwendete Schlagwörter wie "Rechtsrock" oder "Skinhead-Musik" sind unpräzise, da sie entweder nur einen kleinen Teil rechtsextremistischer Musik bezeichnen (Rechtsrock) oder aber mit ihr nicht deckungsgleich sind. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Rechtsextremistische Skinheads. Berlin 2003, S. 56 ff. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - R E C H T S E X TR E M I S M U S 189 Mit der Verurteilung der Mitglieder der Band "Landser" im Dezember 2003 wurde erstmals eine Band als kriminelle Vereinigung eingestuft.363 Gegen die Bandmitglieder von "Deutsch, Stolz, Treue" (D.S.T.) hat die Berliner Staatsanwaltschaft wegen der CD "Ave et Victoria", deren Texte Straftatbestände nach SSSS 86a (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) und 130 StGB (Volksverhetzung) verwirklichen, und wegen der CD "Die Antwort auf's System" wegen des Verstoßes gegen SS 130 StGB Ermittlungsverfahren eingeleitet. Der rechtsextremistische Konzertbetrieb im Land Berlin ist aufgrund des konsequenten Vorgehens der Sicherheitsbehörden in den vergangenen Jahren weitgehend zum Erliegen gekommen. Das hat dazu geführt, dass die Berliner Bands ihre Auftritte ins Bundesgebiet und ins Ausland verlegen mussten. 2006 konnten Rechtsextremisten lediglich ein Konzert in Berlin durchführen.364 Die Tonträgerproduktion der rechtsextremistischen Berliner Bands ging auf drei Veröffentlichungen zurück und lag damit unter dem langjährigen Durchschnitt. Tonträger-Veröffentlichungen Berliner Bands 12 10 10 8 7 7 6 6 5 5 5 5 4 3 3 2 2 2 2 1 1 1 0 0 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 Die Berliner Bands sind im Vergleich zu früheren Jahren bemüht, in ihren Veröffentlichungen jugendgefährdende oder strafrechtlich relevante 363 Vgl. Kammergericht Berlin, Az.: (2) 3 StE 2/02-5(1) (2/02), im Wesentlichen bestätigt durch den Bundesgerichtshof, Az.: BGH 3 StR 233/04; Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, S. 46 - 48. 364 Vgl. S. 44 - 46. 190 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Aussagen weitgehend zu vermeiden. Die Texte enthalten aber weiterhin fremdenfeindliche und antisemitische Aussagen - wenn auch zum Teil verschlüsselt -, beschreiben den fortwährenden "Kampf gegen das System" und machen deutlich, dass die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie zugunsten einer autoritären Staatsform angestrebt wird. Mit der Herausgabe von CDs, der Beteiligung an Samplern und Konzerten haben die rechtsextremistischen Berliner Bands auch überregionale Bedeutung. Sie sind vor allem im so genannten "Hardcore"-Bereich angesiedelt: Zu den derzeit in Berlin aktiven Bands gehören "Spreegeschwade, "Deutsch, Stolz, Treue" (D.S.T.), "Legion of Thor" (LoT), "Macht & Ehre" und "Schwarzer Orden" (Projekt von "Macht & Ehre"). Bis zur Verurteilung ihrer Mitglieder spielte die Band "Landser" eine dominante Rolle im rechtsextremistischen Musiknetzwerk. Der ehemalige Sänger dieser Band hat 2004 eine neue Band unter dem Namen "Die Lunikoff-Verschwörung" ins Leben gerufen, die zwischenzeitlich ebenso wie "Landser" verehrt wird. Seit seiner Inhaftierung ruhen die musikalischen Aktivitäten der Band. 2.2.10 Skinheads Die Subkultur der Skinheads365 wird oft mit jugendlichem Rechtsextremismus gleichgesetzt. Dies ist eine unzutreffende Verkürzung, da die Skinheads zunächst eine jugendliche Subkultur wie die der Punks, Hippies oder Raver darstellen. Die Skinhead-Subkultur entstand in den 60er Jahren in Großbritannien und orientierte sich hinsichtlich ihrer Werte und ihres "Outfits" an der Arbeiterklasse. In Deutschland gibt es Skinheads seit Anfang der 80er Jahre, die größten Szenen entwickelten sich in Hamburg und Berlin. Erst im Laufe der Zeit driftete ein Teil der Skinhead-Szene in den Rechtsextremismus ab. Zum einen bestanden Abgrenzungsbestrebungen gegenüber den "linken" Punks, zum anderen bekam die Szene Zulauf aus dem neonazistischen Lager, nachdem die Skinheads aufgrund der Provokation mit rechtsextremistischen Zeichen in der Öffentlichkeit zum Symbol des Rechtsextremismus schlechthin wurden. Das Thema Rechtsextremismus spaltet die Skinhead-Szene. Viele Skinheads - wie zum Beispiel die sich selbst als unpolitisch bezeichnenden "Oi!-Skins" oder politisch links orientierte Skinheads ("Redskins") - wehren sich gegen 365 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Rechtsextremistische Skinheads. Berlin 2003. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - R E C H T S E X TR E M I S M U S 191 ihre Vereinnahmung. Obwohl es auch überzeugte, ideologisch gefestigte rechtsextremistische Skinheads gibt (so genannte Nazi-Skins), hat ein großer Teil nur ein diffuses rechtsextremistisches Weltbild. Rechtsextremistische Skinheads sind dem aktionsorientierten Rechtsextremismus zuzuordnen. Das von ihnen ausgehende Risiko besteht vor allem in ihrer Gewaltbereitschaft. Rechtsextremistische Gewalt kann allerdings nicht auf die Gewalt der Skinheads reduziert werden. Umgekehrt haben zahlreiche Gewalttaten von Skinheads keinen politischen Hintergrund.366 Rechtsextremistische Skinheads sind zum großen Teil organisationsfeindlich eingestellt und lehnen eine Einbindung in feste (Partei)-Strukturen ab. Versuche rechtsextremistischer Parteien, das Skinhead-Potenzial dauerhaft an sich zu binden (z. B. durch die "Aktionsfront Nationaler Sozialisten" Anfang der 80er Jahre, die "Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei" Mitte der 80er Jahre oder die "Nationale Alternative" Anfang der 90er Jahre), scheiterten. Den jüngsten Versuch machte die NPD mit ihrem Drei-Säulen-Konzept ( NPD). Im Gegensatz zu den Parteien, die von den rechtsextremistischen Skinheads überwiegend als szenefremd wahrgenommen werden, konnten sich in Deutschland seit Anfang der 90er Jahre zwei rechtsextremistische Skinhead-Zusammenschlüsse etablieren: Blood & Honour () und die Hammerskins (). 366 Vgl. ebenda, S. 37 - 42. 192 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 2.2.11 "Vandalen - Ariogermanische Kampfgemeinschaft" ÜBERSICHT Abkürzung Vandalen Entstehung / Gründung 1982 Mitgliederzahl 10 (2005: 10) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Die "Vandalen - Ariogermanische Kampfgemeinschaft" (Vandalen) sind eine Gruppe ideologisch gefestigter Neonazis (). Die Gruppe wurde 1982 in Ost-Berlin gegründet. Ihre Mitglieder sind inzwischen alle älter als 35 Jahre. Sie machen sich entweder subkulturelle Codes der Rocker oder der Skinheads () zu eigen. Durch das uniforme Tragen einer "Kutte" verdeutlichen sie ihren Gruppenzusammenhalt. Im Zentrum ihrer Ideologie steht ein neonazistisches Weltbild in Verbindung mit einem völkischen Germanenkult. Der Anführer der "Vandalen" war Initiator und Sänger der rechtsextremistischen Band Landser ( Rechtsextremistische Musik). Die teilweise vorbestraften Bandmitglieder wurden im Dezember 2003 vom Kammergericht wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung verurteilt. Im März 2005 bestätigte der BGH nach einer vom Initiator der Band eingelegten Revision das Urteil im Wesentlichen, seither ist er inhaftiert. Die Monate vor der Inhaftierung nutze er mit seiner neuen Band "Die Lunikoff-Verschwörung" zur fortlaufenden Produktion rechtsextremistischer Musik und trat bundesweit auf Konzerten auf, wobei er sich um legales Auftreten bemühte. Die "Vandalen" verfügen über persönliche Kontakte zu beinahe allen Personenzusammenschlüssen im rechtsextremistischen "Netzwerk Musik" in Berlin. Ihr Anführer wird als ehemaliger Texter und Sänger von "Landser" von vielen Rechtsextremisten idolisiert und inszeniert sich seit seiner Verurteilung als "Märtyrer". Die "Vandalen" haben daher eine dominante Stellung im rechtsextremistischen Berliner Musiknetzwerk. Das Clubhaus der "Vandalen" in Berlin-Hohenschönhausen ist ein H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - R E C H T S E X TR E M I S M U S 193 Treffort des Netzwerks. Der Ausfall ihres Anführers hat die Aktivitäten der "Vandalen" geschwächt. Nachdem ihre überregional bedeutende "Jahresfeier" 2005 erstmals ausgefallen war, fand 2006 aber wieder ein Jahrestreffen mit etwa 120 Teilnehmern statt.367 2.3 Diskursorientierter Rechtsextremismus 2.3.1 Die "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V." ÜBERSICHT Entstehung / Gründung 1951 Mitgliederzahl Bund: ca. 150 (2004: ca. 150) Berlin: ca. 20 (2004: ca. 20) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Berlin Veröffentlichungen "Nordische Zeitung" (überregional, vierteljährlich, Auflage ca. 300) Die "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V." (Artgemeinschaft) ist eine heidnischgermanische Weltanschauungsgemeinschaft. Vorsitzender ist seit 1988 der Neonazi Jürgen Rieger (Hamburg). Der rechtsextremistische MultiFunktionär war auch Funktionär der inzwischen verbotenen "WikingJugend e. V." Er wurde im November 2006 auf dem Bundesparteitag der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands" (NPD) in den Bundesvorstand der Partei gewählt. Mitteilungsorgan der "Artgemeinschaft" ist die "Nordische Zeitung", deren Schriftleiter ebenfalls Rieger ist. Daneben publiziert die "Artgemeinschaft" zwei Schriftenreihen, eine Buchreihe sowie Einzelschriften in geringerer Auflage. 367 Vgl. S. 42. 194 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Die "Artgemeinschaft" versteht sich als religiöse Gemeinschaft, die sich "zum germanischen Kulturerbe und dessen Weiterentwicklung"368 bekennt. Dahinter verbirgt sich eine völkisch-rassistische Weltanschauung, die auf der biologistisch-rassistischen Annahme von verschiedenen "Menschenarten" mit unterschiedlichen Wertigkeiten basiert. Die Bewahrung und Förderung der eigenen Art ist für die "Artgemeinschaft" das höchste Ziel. Erreicht werden soll dieses Ziel durch "gleichgeartete Gattenwahl, die Gewähr für gleichgeartete Kinder"369. Die "Artgemeinschaft" nimmt eine klare Unterscheidung in "Eigene" und "Fremde" - "Freunde" und "Feinde" vor: "Das Sittengesetz in uns gebietet Treue und Vertrauen, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Freimut, Rücksichtnahme, Zuneigung und Liebe gegenüber Verwandten, Freunden und Gefährten, Wachsamkeit und Vorsicht gegenüber Fremden, Härte und Hass gegen Feinde."370 In ihren programmatischen Schriften "Das Artbekenntnis" und "Das Sittengesetz unserer Art" formuliert die "Artgemeinschaft" zudem eine pervertierte Lebensphilosophie, in deren Zentrum nicht das Leben, sondern Kampf, Opfer und Tod stehen. Die Aktivitäten der "Artgemeinschaft" beschränkten sich in den vergangenen Jahren fast ausschließlich auf die Ausrichtung von bundesweiten und regionalen Festen wie Sommerund Wintersonnenwendfeiern ("Julfeiern"). Die Feste sollen Gemeinschaftserlebnisse sein und tragen meist den Charakter von Familienfeiern; sie haben selten größere Außenwirkung. Gefahr geht von Personenzusammenschlüssen wie der "Artgemeinschaft" dadurch aus, dass sie ihren meist aktionsorientierten Teilnehmern einen lebensweltlichen Gegenentwurf auf heidnischer und völkisch-rassistischer Grundlage bieten. Allerdings schränkt der antimoderne Habitus der "Artgemeinschaft" ihre Anziehungskraft ein. 2006 wurde der Vorsitzende der "Artgemeinschaft", Jürgen Rieger, mit möglichen Immobilienkäufen im gesamten Bundesgebiet in Verbindung gebracht, bei denen jeweils die Errichtung eines rechtsextremistischen "Schulungszentrums" befürchtet wurde. Bereits im Frühjahr 2004 hatte 368 Das Artbekenntnis. Internetauftritt der "Artgemeinschaft", Aufruf am 30.3.2007. 369 Das Sittengesetz unserer Art. Internetauftritt der "Artgemeinschaft", Aufruf am 30.3.2007. 370 Ebenda. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - R E C H T S E X TR E M I S M U S 195 Rieger im Namen einer "Wilhelm-Tietjen-Stiftung für Fertilisationsforschung" ein "Heisenhof" genanntes Gut in Niedersachsen erworben. In der "Artgemeinschaft" sind auch Berliner Rechtsextremisten vertreten. Öffentlichkeitswirksame Aktivitäten entfaltet der Personenzusammenschluss in Berlin jedoch nicht, da für Veranstaltungen ländliche Räume bevorzugt werden. 2.3.2 "Heimattreue Deutsche Jugend e. V." ÜBERSICHT Abkürzung HDJ Entstehung / Gründung 1990 Mitgliederzahl Bund: 100 (2005: ca. 100) Berlin: 20 (2005: unter 20) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Berlin Veröffentlichungen "Funkenflug" (überregional, vierteljährlich) Die "Heimattreue Deutsche Jugend e. V." (HDJ) ist ein neonazistischer Jugendverband mit Sitz in Berlin. Sie entstand im Jahr 1990 nach einem Richtungsstreit als Abspaltung des rechtsextremistischen "Bundes Heimattreuer Jugend". Zunächst firmierte sie unter "Die Heimattreue Jugend - Bund für Umwelt, Mitwelt und Heimat e. V." (DHJ). Den heutigen Namen gab sie sich im Jahr 2001. Die HDJ gibt vierteljährlich die Zeitschrift "Funkenflug" heraus. Die HDJ beschreibt sich selbst als "die aktive volksund heimattreue Jugendbewegung für alle deutschen Mädel und Jungen im Alter von 7 bis 25 Jahren"371. Ihre rechtsextremistische, nationalistische Ideologie versucht sie hinter einer Selbstcharakterisierung als traditionsbewusst und wertorientiert ("volksund heimattreu") zu verbergen. Die HDJ behauptet, einzutreten für 371 Internetauftritt der HDJ, Aufruf am 20.12.2006. 196 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 "[...] eine Lebensführung, die sich ganzheitlich in einem gesunden Körper, Geist und Charakter wiederspiegelt. Für ein Leben mit Tradition und Werten wie Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit, Hilfsbereitschaft, Kameradschaft, Treue. Gegen die Abwertung des Lebens durch Oberflächlichkeit, Beliebigkeit, Kulturlosigkeit und Verrohung."372 Die HDJ hat ein stark revisionistisches Geschichtsbild, folglich residiert sie in der "Reichshauptstadt Berlin"373. Gemäß ihrem damit verbundenen gebietsrevisionistischen Verständnis über die Grenzen Deutschlands werden nicht nur die ehemaligen Ostgebiete als zu Deutschland zugehörig reklamiert: "Der 30. Januar 1933 wird Ausgangspunkt einer der größten Wendungen, die die Geschichte des deutschen Volkes kennt. Nach Zurückgewinnung des Saarlandes, Österreichs, Sudetendeutschlands und der Inschutzstellung Böhmen und Mährens repräsentieren über 630 000 Quadratkilometer Fläche 374 und 85,7 Millionen Einwohner das neu entstandene Großdeutschland." Entsprechend wird im Falle der neuen Bundesländer von Mitteldeutschland gesprochen.375 Im Zusammenhang mit der Fußball-Weltmeisterschaft im Juni 2006 beklagte die HDJ mit Blick auf die deutschen Nationalspieler mit Migrationshintergrund die "bunte" Zusammensetzung der deutschen Mannschaft.376 Ferner monierte sie, dass auch "im eigenen Lager vom trotzigen schwarz-weiß-rot auf die BRD-Fahnen umgeschaltet wurde"377. Die HDJ bleibe weiterhin bei den schwarzweiß-roten Farben des Deutschen Reichs, schließlich sei "doch die Fahne mehr als der Tod!"378 Ähnlich wie bei der seit 1994 verbotenen "Wiking Jugend" (WJ) zielt das Lebensbund-Konzept der HDJ darauf ab, ein rechtsextremistisches lebensweltliches Freizeitangebot für die ganze Familie zu bieten. Kinder und Jugendliche sollen bereits in jungen Jahren durch vorgeblich unpolitische Aktivitäten (z. B. Zeltlager, Pflege völkischen Brauchtums, 372 Ebenda. 373 Ebenda. 374 Wo stehen wir? Ein Blick auf Historische Landkarten. In: "Funkenflug" Nr. 2/2005, S. 14. 375 Vgl. u. a. Die Hölle liegt an der Saale. In: "Funkenflug" Nr. 3/2004, S. 4. 376 Vgl. ebenda. 377 Ebenda, S. 5. 378 Ebenda. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - R E C H T S E X TR E M I S M U S 197 Singen und körperliche Ertüchtigung) für die rechtsextremistische Szene gewonnen werden. Neben den Pfingst-, Sommerund Winterlager und ähnlichen Aktivitäten führte die HDJ gemeinsam mit anderen Rechtsextremisten am 4. November in Blankenfelde (BB) abermals den überregional ausgerichteten "Märkischen Kulturtag" durch. Bei diesen Aktivitäten wird systematisch ein rechtsextremistisches, am Ideal der "Volksgemeinschaft" orientiertes Weltbild vermittelt. Das Lebensbundkonzept soll darüber hinaus verhindern, dass ältere Mitglieder nach Familiengründung aus dem rechtsextremistischen Spektrum ausscheiden. 2.3.3 "Kampfbund Deutscher Sozialisten" ÜBERSICHT Abkürzung KDS Entstehung / Gründung 1999 Mitgliederzahl Bund: ca. 30 (2005: ca. 30) Berlin: ca. 20 (2005: ca. 20) Organisationsstruktur Vereinigung, regionale Stützpunkte, koordiniert durch Bundesleitung Sitz Berlin Veröffentlichungen "Der Gegenangriff" (überregional, unregelmäßig) "Wetterleuchten" (überregional, meist jährlich) Der "Kampfbund Deutscher Sozialisten" (KDS) ist einer der heterogensten Personenzusammenschlüsse des deutschen Rechtsextremismus. Eine hierarchische Struktur hat die am 1. Mai 1999 gegründete Vereinigung nur in Ansätzen. Sie gliederte sich ursprünglich in eine Vielzahl von Gauen, Sektionen und Bezirken, über denen formal eine vierköpfige Führungsgruppe stand. Im Jahr 2005 hat der KDS diesen organisatorischen Ansatz aufgegeben: "Wir möchten keine starre Organisationsform mehr sein, sondern ein Forum, welches allen gutwilligen 198 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Aktivisten offen steht."379 Das offizielle Organ des KDS ist "Der Gegenangriff". Als "Theorieorgan" fungiert die Zeitschrift "Wetterleuchten". Beide werden vor allem im Internet verbreitet. Daneben existiert eine Anzahl kleinerer Publikationen. Als "parteiund organisationsunabhängiger Zusammenschluss auf der Basis des Bekenntnisses zu Volk und Heimat" tritt er für eine "Annäherung 'rechter' und 'linker' Sozialisten" ein.380 Allerdings erzielt er mit der unorthodoxen Mischung von linksund rechtsextremistischen Ideologieelementen nur geringe Resonanz. Als ideologische Grundlage diente zunächst das Gründungsmanifest, die "Langener Erklärung"381. Seit Januar 2005 soll das "Revolutionäre Manifest"382 die unveränderten ideologischen Grundpositionen des KDS abbilden. Beide Schriften enthalten keine ausgearbeitete Programmatik. Sein Anliegen fasst der KDS zusammen etwa in dem Aufruf: "Gegen 'One-World-Gesellschaft' und gegen die Diktatur des Kapitals! Für das Selbstbestimmungsrecht der Völker!"383 Die Berliner Organisationseinheit nimmt mit ihrer nationalrevolutionär, in Teilen nationalbolschewistisch geprägten Grundausrichtung innerhalb des KDS eine gewisse Sonderrolle ein.384 Ihre antikapitalistische Orientierung wird u. a. in der von ihr herausgegebenen Publikation "Wetterleuchten" deutlich. In sieben Ausgaben werden dort die "Grundsätze eines Sozialistischen Nationalismus" abgehandelt. Einen ausformulierten Gegenentwurf einer Gesellschaftsordnung legte der KDS unter dem Titel "Die 'Sozialistische Nation' ist die nachkapitalistische AlternativOrdnung der Zukunft" mit dem 6. Grundsatz vor. Darin wird nicht nur der Kapitalismus als Wirtschaftsordnung abgelehnt, sondern auch die sich daraus ergebende pluralistische Gesellschaftsund demokratische 379 Revolutionäres Manifest. Faltblatt, datiert vom 30.1.2005. 380 Vgl. Langener Erklärung. Internetauftritt des KDS, Aufruf am 30.4.2007. 381 Ebenda. 382 Revolutionäres Manifest. Internetauftritt des KDS, Aufruf am, 16.12.2006. 383 INFOBRIEF für Mitglieder und Interessenten des Kampfbundes Deutscher Sozialisten, 2005. Die Informationsschrift wurde als Erläuterung des "Revolutionären Manifests" verschickt. 384 Während vor allem in westdeutschen Organisationseinheiten des KDS in Anlehnung an die ehemalige "Aktionsfront Nationaler Sozialisten / Nationale Aktivisten" (ANS / NA) des Michael Kühnen die NS-Verherrlichung dominiert, vertritt der Berliner KDS mit der Verehrung ehemaliger SED-Größen eine "linke" Position im KDS. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - R E C H T S E X TR E M I S M U S 199 Staatsform.385 So forderte der Berliner Vorsitzende unter der Überschrift "Der gewöhnliche Kapitalismus" die revolutionäre Abschaffung des bundesrepublikanischen Gesellschaftssystems und drohte implizit mit Gewaltanwendung: "Die Überwindung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse wird von uns natürlich auf friedlichem Wege angestrebt, wobei dazu immer zwei Seiten gehören und der Grad der Friedfertigkeit einer Revolution immer auch vom Verhalten der Gegenseite abhängt. [...] Wir differenzieren durchaus, daß es im Lager des Großkapitals vereinzelt Konzerne gibt, die das Gesamtvolkswohl sehen [...] Mit diesen Vertretern ihrer Klasse wird natürlich anders umgegangen werden als mit kapitalistischen Landesverrätern."386 Der Berliner KDS beschränkt sich beinahe ausschließlich auf interne Schulungsveranstaltungen und vereinsähnliche Treffen. Er fällt in der Öffentlichkeit meist nur durch symbolische Aktionen auf. Anlässlich der Hinrichtung Saddam Hussains am 30. Dezember demonstrierten Rechtsextremisten vor dem Auswärtigen Amt in Berlin. 2.3.4 "Nation & Europa - Deutsche Monatshefte" ÜBERSICHT Abkürzung N&E Entstehung / Gründung 1951 Herausgeber Peter Dehoust / Nation Europa Verlag Organisationsstruktur GmbH Sitz Coburg Veröffentlichungen Überregional, monatlich, deutlich unter 20 000 Die Zeitschrift "Nation & Europa - Deutsche Monatshefte" (N & E) wurde 1951 von dem ehemaligen SS-Sturmbannführer Arthur Erhardt 385 Vgl. Die "Sozialistische Nation" ist die nachkapitalistische Alternativ-Ordnung der Zukunft. In: "Wetterleuchten" Nr. 7/2003. 386 Michael Koth: Der gewöhnliche Kapitalismus. In: "Der rot-braune Kanal" Nr. 7/2006. Internetauftritt des KDS, Aufruf am 28.6.2006. 200 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 gegründet. Sie erschien unter wechselnden Titeln, zuletzt bis 1990 als "Nation Europa - Deutsche Rundschau". Herausgegeben wird die Zeitschrift monatlich (gelegentlich zweimonatlich) von Peter Dehoust und Harald Neubauer. Dehoust war Funktionär der NPD, der "Gesellschaft für freie Publizistik" (GfP) und der "Deutschen Liga für Volk und Heimat" (DLVH). Neubauer trat ebenso als Funktionär der NPD, als Redakteur im DSZ-Verlag Gerhard Freys ( DVU) und als Funktionär der DLVH in Erscheinung. Zeitweilig trat auch Adolf von Thadden (Vorsitzender der NPD von 1967 - 1971) als Mitherausgeber auf. Zur Redaktionsgemeinschaft gehört außerdem Karl Richter. Er ist ebenfalls Vorstandsmitglied der GfP und Mitarbeiter im rechtsextremistischen Grabert-Verlag. Der zugehörigen "Nation Europa Verlags GmbH" ist ein Versandbuchhandel mit einem umfangreichen Angebot rechtsextremistischer Literatur angegliedert. "Nation & Europa" versteht sich als überparteiliches Theorieund Strategieorgan. Die Zeitschrift ergreift Partei für "ein einiges Deutschland in einem Europa freier Völker und für den Nationalstaat als bewährtes Ordnungsprinzip"387. Sie agitiert gegen einen "EU-Vielvölkerstaat", den "Ausverkauf nationaler Lebensinteressen" und die "multikulturelle Zerstörung der Volksidentität durch Masseneinwanderung und Asylmissbrauch".388 Sie besetzt damit traditionelle rechtsextremistische Themenfelder und verbreitet Überfremdungsängste im Zusammenhang mit der europäischen Einigung und der Globalisierung. Inhaltliche Schwerpunkte der Berichterstattung bildeten die "verfehlte" Wirtschaftspolitik der EU, die Ablehnung der Globalisierung sowie Beiträge zur Politik Israels und Artikel über die angebliche politische Verfolgung rechtsextremistischen Revisionisten. Die Zeitschrift bemüht sich um eine intellektuelle Vernetzung europäischer Rechtsextremisten. Die organisationsübergreifende Bedeutung und die weitreichenden Verbindungen der Zeitschrift werden an den Gastbeiträgen inund ausländischer Autoren deutlich. 387 Internetauftritt von N & E, Aufruf am 20.12.2006. 388 Ebenda. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - R E C H T S E X TR E M I S M U S 201 2.3.5 Revisionismus Revisionismus ist eine Sammelbezeichnung für die "politisch motivierte Umdeutungen durch einseitige, leugnende, relativierende oder verharmlosende Darstellungen der Zeit des Dritten Reiches" 389. Revisionisten benutzen pseudowissenschaftliche Argumente, um ihre rechtsextremistischen Positionen zu rechtfertigen und moralisch zu entlasten. Typische Argumentationsmuster der Revisionisten sind: die Leugnung der Kriegsschuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg, die Umdeutung des Angriffskrieges Adolf Hitlers gegen die Sowjetunion als notwendigen Präventivkrieg gegen die "bolschewistische Expansion", die Leugnung der Existenz oder des Umfangs des Holocaust, das Aufrechnen der NS-Verbrechen mit den alliierten Bombenangriffen gegen deutsche Städte oder den Vertreibungen von "Volksdeutschen" nach Ende des Zweiten Weltkriegs, die Betonung vermeintlich positiver Leistungen des NS-Regimes (Autobahn-Bau, Senkung der Arbeitslosigkeit) oder die Argumentation, der Nationalsozialismus sei eigentlich eine gute Idee gewesen, die nur schlecht ausgeführt worden sei. Die Veröffentlichung revisionistischer Literatur setzte in den 50er Jahren ein. Bekannt wurden Autoren wie Peter Kleist ("Auch Du warst dabei"), David Hoggan ("Der erzwungene Krieg. Die Ursachen und Urheber des Zweiten Weltkriegs") und Udo Walendy ("Wahrheit für Deutschland. Die Schuldfrage des zweiten Weltkriegs"). Der Revisionismus ist kein Phänomen, das auf Deutschland beschränkt ist, sondern spielt vor allem in den USA aber auch im europäischen Ausland eine Rolle. Da die Leugnung des Holocaust in Deutschland strafbar ist (SS 130 Abs. 3 StGB), agieren die Propagandisten der "Auschwitz-Lüge" vor allem vom Ausland aus, so bis zu seinem Tod Thies Christophersen ("Die Auschwitz-Lüge") und bis zu seiner Auslieferung nach Deutschland Ernst Zündel. Von besonderer Bedeutung sind der "Leuchter-Report", der im Zusammenhang mit dem Prozess gegen den damals in Kanada lebenden Zündel verfasst wurde, und das "Rudolf-Gutachten" des deut389 Armin Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 2. Aufl. München 2000, S. 47. 202 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 schen Rechtsextremisten Germar Rudolf. In beiden Studien wird mit pseudo-naturwissenschaftlichen Methoden versucht, die Massenermordung in Auschwitz als technisch unmöglich darzustellen. Die Holocaustleugner in Deutschland konzentrieren sich um den "Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten ( VRBHV), dessen Hauptagitator bis zu seinem Haftantritt Horst Mahler war. Durch die Inhaftierung der führenden international kooperierenden Holocaust-Leugner Germar Rudolf, Siegfried Verbeke, Erich Zündel und Horst Mahler im Jahr 2006 in der Bundesrepublik Deutschland sowie David Irving in Österreich wurde die Revisionisten-Szene erheblich geschwächt.390 2.3.6 "Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten e. V." ÜBERSICHT Abkürzung VRBHV Entstehung / Gründung 2003 Mitgliederzahl Bund: ca. 120 (2005: ca. 120) Berlin: unter 20 (2005: unter 20) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Berlin Sporadische Veröffentlichung einzelner Texte im Internet Veröffentlichungen Der "Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten" (VRBHV) wurde am 9. November 2003 in Vlotho (Nordrhein-Westfalen) gegründet. Der Verein hat seinen Sitz in Berlin. Führender Kopf, Vorsitzender und Initiator des Vereins war bis zu seiner Inhaftierung im Dezember 2006 Horst Mahler.391 Das Konzept trägt Mahlers Handschrift. Er verfasste nahezu alle Texte des VRBHV. Der 390 Vgl. S. 47 - 49. 391 Vgl. S. 51 - 52. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - R E C H T S E X TR E M I S M U S 203 Zweck des VRBHV ist in der Gründungserklärung niedergelegt. Darin heißt es: "Der von den Unterzeichnern hiermit gegründete "Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocausts Verfolgten" soll durch organisierte Anstrengungen die bisher vorherrschende Vereinzelung der Verfolgten aufheben, ihrem Kampf um Gerechtigkeit die notwendige Wahrnehmung in der Öffentlichkeit gewährleisten und die finanziellen Mittel für einen erfolgreichen Rechtskampf bereitstellen."392 Weiterhin beschließen die Unterzeichner, "die Wiederaufnahme aller Strafverfahren zu fordern, die zur Verurteilung wegen Verstoßes gegen SS 130 StGB mit der Begründung geführt haben, daß der Holocaust in dem beschriebenen Sinne eine 'offenkundige Tatsache' sei, die keines weiteren Beweises mehr bedürfe."393 Allerdings zielte der VRBHV vielmehr darauf ab, die historische Tatsache des Holocaust zu widerlegen. Mittel zu diesem Zweck sollte ein neuer "Auschwitzprozess" werden, der als Revision des Frankfurter Auschwitzprozesses (1963 - 1965) konzipiert werden soll. Laut Mahler stehe die internationale Gemeinde der revisionistischen "Wissenschaftler" bereit, sich in einem solchen Prozess zu engagieren.394 Das "Dogma" des Holocaust sei das ideelle Fundament der Bundesrepublik Deutschland, die von den Siegermächten nach dem Zweiten Weltkrieg völkerrechtswidrig als "Organisationsform einer Modalität der Fremdherrschaft" (OMF) installiert worden sei. Als tatsächlicher Zweck des VRBHV wird daher in der Gründungserklärung angegeben: "Reichsbürger treten dem VRBHV bei, um endlich den Allgemeinen Volksaufstand zur Wiedererlangung der Handlungsfähigkeit des deutschen Reiches durch einen organisierten und geordneten Angriff auf die Auschwitzlüge als dem Fundament der Fremdherrschaft über das Deutsche Reich zu beginnen."395 392 Gründungserklärung. Internetauftritt des VRBHV, Aufruf am 19.3.2007. 393 Ebenda. 394 Vgl. Horst Mahler: Offener Brief an den Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten, datiert vom 16.3.2004. 395 Gründungserklärung. Internetauftritt des VRBHV, Aufruf am 19.3.2007. 204 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Die Agitation des VRBHV gegen die Holocaust-Geschichtsschreibung führte in der Zwischenzeit zu mehreren Gerichtsverfahren wegen Verstoßes gegen SS 130 StGB (Volksverhetzung).396 Einige Mitglieder des VRBHV reisten im Dezember 2006 nach Teheran, um an der dortigen Konferenz "Review of the Holocaust: Global Vision" des "Instituts für internationale und politische Studien" (IPIS) teilzunehmen. Ziel der Veranstaltung war die revisionistische Auseinandersetzung mit dem von den Nationalsozialisten an den Juden verübten Völkermord.397 396 Vgl. S. 49 - 51. 397 Vgl. S. 52 - 53. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - LIN K S E X T R E M IS M US 205 3 LINKSEXTREMISMUS 3.1 Aktionsorientierter Linksextremismus 3.1.1 Autonome ÜBERSICHT Entstehung / Gründung Ab 1980 Mitgliederzahl Bund: ca. 5 500 (2005: ca. 5 000) Berlin: ca. 980 (2005: ca. 1 060) Organisationsstruktur Netzwerk Veröffentlichungen Mehrere Szenezeitschriften Berlin bildet einen regionalen Schwerpunkt der autonomen Szene, deren Anfänge zu Beginn der 80er Jahre lagen. Aus Kreisen weder organisationsgebundener noch im traditionellen Sinne ideologisch festgelegter, so genannter undogmatischer Linksextremisten erschienen damals Diskussionspapiere, deren Verfasser sich als "autonom" bezeichneten. Sie sprachen von einer "neuen autonomen Protestbewegung", die den "Koloss Staat" mit dezentralen Aktionen, mit "Phantasie und Flexibilität", mit "vielfältigen Widerstandsformen auf allen Ebenen" angreifen müsse. Es gelte, "den bürgerlichen Staat zu zerschlagen". Der Einsatz von "befreiender Gewalt" - sowohl gegen Menschen als auch gegen Sachen - als politisches Mittel gegen die "strukturelle Gewalt" der Gesellschaft und des Staates,398 stellt für die autonome Szene ein unverzichtbares Element ihrer "revolutionären Politik" dar.399 398 Vgl. Fridolin: Wo ist Behle? In: "INTERIM", Sonderheft "Bewegung - Militanz - Kampagne" vom März 1998 (Es handelt sich um ein unter Pseudonym geschriebenes Papier, das sich mit strategischen Fragen, auch dem Einsatz von Gewalt, auseinandersetzt.). 399 Die Bandbreite an Aktionsformen reicht von Demonstrationen, Informationsbzw. Diskussionsveranstaltungen, Vorträgen, Ausstellungen, der Herausgabe von Steckbriefen über politische Gegner, Flugblättern und Broschüren über Störaktionen, Blockaden, Brandanschläge und andere Sachbeschädigungen bis hin zu Überfällen auf tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten, wobei im Extremfall der Tod des Opfers billigend in Kauf genommen wird. 206 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Während sie ihren Hass auf das politische und gesellschaftliche System durch gezielte militante, bisweilen terroristische Aktionen zum Ausdruck bringt, lehnt sie zugleich das staatliche Gewaltmonopol kategorisch ab: "Manche werfen ihren ersten Stein als offensiven Akt der Befreiung, andere aus Notwehr gegen die Bullen. Aber allen ist gemeinsam, dass die Militanz zum identitätsstiftenden, prägenden Bestandteil der Bewegungserfahrung wird."400 Ihre Aktionsfelder beziehen sich auf Themen, die in hohem Maße polarisieren: Faschismus, Imperialismus, Kapitalismus, Militarismus, Rassismus, Sexismus werden als wesentliche Bestandteile des herrschenden politischen Systems betrachtet, das es abzuschaffen gilt.401 Die Autonomen diffamieren den Verfassungsstaat, lehnen das parlamentarische System ab und vertreten Versatzstücke kommunistischen und anarchistischen Gedankenguts. Das Ziel einer "unterdrückungsfreien Gesellschaftsordnung" versuchen autonome Gruppen mittels Anschlägen zumeist gegen Firmen oder staatliche Stellen, die in ihren Augen das System repräsentieren, der Öffentlichkeit zu vermitteln.402 Die Auseinandersetzung mit den Themen Antifaschismus, Antimilitarismus, Antiimperialismus, Antisexismus, Antikapitalismus und Antirassismus verläuft dabei nicht in geraden Linien: Zum einen ist eine geschlossene theoretische Fundierung vielen Anhängern verdächtig, da sie ihrem Anspruch, autonom zu leben, widerspricht. Zum anderen versuchen sie, Protestbewegungen zu instrumentalisieren, um über sie ihre Ideologie zu vermitteln. Das Verhältnis zur Theorie ist bei den einzelnen Gruppierungen der Autonomen unterschiedlich. Zu nennen sind zum einen die so genannten Altautonomen, die sich der autonomen Szene seit deren Entstehung403 bis Mitte der 80er Jahre anschlossen. Sie suchten die Vernetzung mit 400 Mehr als nur eine kämpferische Haltung: Autonome Militanz. In: Autorenkollektiv AG Grauwacke: Autonome in Bewegung. Berlin 2003, S. 141 - 160, hier S. 142. 401 Vgl. S. 71 ff. 402 Vgl. S. 69 ff. 403 Die öffentliche Rekrutenvereidigung in Bremen am 6.5.1980, die zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten führte, gilt als die Geburtsstunde der autonomen Szene in Deutschland. Die Gewaltwelle der Jahre 1980 / 81 blieb bisher der quantitative Höhepunkt dieser Szene. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 1995. Berlin 1996, S. 14 ff. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - LIN K S E X T R E M IS M US 207 Hausbesetzern und bürgerlichen Protestbewegungen wie AKW-Kritikern, Startbahn-West-Gegnern und der Friedensbewegung. 404 In ihrer Selbstsicht verstehen sie sich als gesellschaftliche Avantgarde: "Unser Problem besteht vielmehr darin, es mit einer Bevölkerung zu tun zu haben, die zum überwiegend großen Teil mit den hier herrschenden Verhältnissen identifiziert ist, und zwar unabhängig davon, inwieweit diese ihr zum Vorteil gereichen oder nicht."405 Die Altautonomen gehören einem zahlenmäßig kleinen, ideologisch gefestigten und theoretisch fundierten Kreis mit engen persönlichen Verbindungen an, der über szeneinterne Autorität verfügt und vorwiegend klandestin, abseits vom Tagesgeschehen operiert. Von diesen Autonomen der ersten Generation sind jene zu unterscheiden, die ebenfalls stark motiviert sind, allerdings erst ab den späten 80er Jahren zur Szene stießen. Sie bilden gegenwärtig den harten Kern und sind federführend bei der Organisation von Veranstaltungen, Protestaktionen und Anschlägen. Ideologisch gefestigt verfügen sie jedoch nur selten über ein ähnlich theoretisch fundiertes Wissen wie die Altautonomen.406 Aufgrund ihrer aktionistisch ausgerichteten Vorgehensweise binden und rekrutieren sie Autonome der jungen Generation. Deren Angehörige fluktuieren stark, sind zumeist im Ausbildungsalter und haben oft lediglich vage linksextremistische Vorstellungen, verbunden mit einem hohen Aggressionspotenzial, das sich ein Ventil im Hass auf das politische und gesellschaftliche System sucht.407 404 Bürgerinitiativen, die sich in den benannten Bereichen engagiert haben, sind nicht Gegenstand der Beobachtung des Verfassungsschutzes. Jedoch haben Vertreter des autonomen Spektrums häufig versucht, Protestbewegungen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Dies gelang in unterschiedlicher Intensität und mit wechselnder Nachhaltigkeit. 405 Fridolin: Wo ist Behle? In: "INTERIM", Sonderheft "Bewegung - Militanz - Kampagne" vom März 1998, S. 24. 406 Vgl. Die Ästhetik des Widerstands und andere Fragen. In: "INTERIM" Nr. 474 vom 22.4.1999, S. 26 ff. Die Ästhetik des Widerstands: "Soziale Bewegungen und als ein Teil davon die Autonomen waren ein ernstzunehmender Faktor der Gesellschaft. Dies hat sich seit Ende der 80er Jahre geändert. Wenn man nur noch eine x-beliebige Subkultur in einer beliebigen Gesellschaft ist, hat das keine Sprengkraft mehr." 407 Vgl. Matthias Mletzko: Merkmale politisch motivierter Gewalttaten bei militanten autonomen Gruppen. In: Uwe Backes / Eckhard Jesse (Hg.): Jahrbuch Extremismus & Demokratie Nr. 11/1999, S. 180 - 199. 208 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Verbindendes Element zwischen den Generationen der Autonomen ist die hasserfüllte Ablehnung der bestehenden staatlichen Ordnung. Im Unterschied zu den Altautonomen und denen der zweiten Generation verfügen die Jugendlichen jedoch zumeist nicht über konkrete politische Vorstellungen, wie eine Gesellschaftsordnung nach der beabsichtigten Zerschlagung des demokratischen Verfassungsstaates aussehen soll. Dieses jugendliche Mobilisierungspotenzial instrumentalisieren die in ihrer Weltanschauung gefestigten Autonomen zur Umsetzung ihrer Aktionen. Mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus Ende der 80er Jahre begann auch eine Erosion der linksextremistischen autonomen Szene. Ideologische Konzeptionslosigkeit und Legitimationsdefizite sorgten für einen kontinuierlichen personellen Rückgang bei den Autonomen. Seit Beginn der 90er Jahre verstärkte sich aufgrund einer wachsenden Kritik an der Unverbindlichkeit autonomer Strukturen die Tendenz, auch innerhalb des autonomen Lagers Organisierungsmodelle zu erproben, um zu einer dauerhaften Umsetzung von Theorie in Praxis zu gelangen. Insbesondere im Bereich des Antifaschismus wurden Vorstöße unternommen (z. B. "Antifaschistische Aktion Berlin" / AAB408), die allerdings nur einen Teil der Szene erfassten und sich als nicht beständig erwiesen. Die Autonomen sind zunehmend zerstritten und damit in ihrer Handlungsfähigkeit beeinträchtigt. Die früher feststellbare "Kiezbezogenheit" sowie die hohe Mobilisierungskraft der 80er Jahre gingen weitgehend verloren.409 Wenn auch das empirische Wissen zur autonomen Szene gering ist, lassen sich doch einige Feststellungen treffen: Die Angehörigen der autonomen Szene, deren Alter in der Regel zwischen dem 16. und 28. Lebensjahr liegt, wobei ein Anstieg des Eintrittsalters feststellbar ist, sind zumeist deutsche Staatsbürger - in Teilen aus bürgerlichen Eltern408 Die AAB löste sich im Jahr 2003 auf. Aus der AAB entstanden die "Antifaschistische Linke Berlin ( ALB) sowie Kritik & Praxis ( KP). 2006 löste sich KP ebenfalls wieder auf. 409 Vgl. Die Ästhetik des Widerstands und andere Fragen. In: "INTERIM" Nr. 474 vom 22.4.1999, S. 26 ff. Die Ästhetik des Widerstands: "[...] daß die bisherigen politischen Konzepte der Autonomen in dieser veränderten Welt seit Jahren nicht mehr greifen, streitet doch heute kaum noch jemand ab." H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - LIN K S E X T R E M IS M US 209 häusern.410 Zu einem hohen Prozentsatz befinden sie sich in Ausbildung oder Studium, teils sind sie ohne festes Einkommen. Der überwiegende Teil der autonomen Szene ist organisatorisch nicht gebunden. Dies drückt sich einerseits in der hohen Fluktuation der Gruppen, andererseits in deren zumeist geringer "Lebensdauer" aus. Gleichwohl existieren Netzwerke, die sich in der Regel mit Einzelthemen aktionistisch auseinandersetzen. Bundesweit organisierte und kontinuierliche Zusammenarbeit gibt es seit dem Auseinanderbrechen der AA / BO jedoch nicht mehr. Als Gründe für die hohe Fluktuation innerhalb der autonomen Szene werden von ehemaligen Angehörigen angegeben: Die selbstgewählte gesellschaftliche Isolation, die Auseinandersetzungen mit Altautonomen oder zwischen Frauen und Männern sowie ständige ergebnislose Diskussionen.411 410 Helmut Willems betont die heterogene sozio-demografische Struktur militant Autonomer. Vgl. ders.: Jugendunruhen und Protestbewegungen. Opladen 1997, S. 455 - 459. 411 Vgl. Hugo Häberle: Sechs Anmerkungen zum Autonomie-Kongreß. In: "INTERIM" Nr. 329 vom 27.4.1995, S. 3. "Fertig macht mich, wenn alle paar Jahre das Rad neu erfunden werden muss [wegen Brüchen in der Diskussionskontinuität durch hohe Fluktuation]. Da wird über die Fragen von Internationalismus und nationale Befreiungsbewegungen geredet [...], da wird über die Widersprüche zwischen Mann und Frau diskutiert, als wäre es die neuste Erkenntnis. Wieso sind wir nicht in der Lage, unsere Erfahrungen und erarbeiteten Positionen so weiterzugeben, daß sie eine Grundlage bilden, auf der weiterdiskutiert wird?" 210 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 3.1.2 "Antifaschistische Linke Berlin" ÜBERSICHT Abkürzung ALB Entstehung / Gründung 2003 Mitgliederzahl Ca. 60 (2005: ca. 60) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Flugund Faltblätter Die Vorgängerorganisation der "Antifaschistischen Linken Berlin" (ALB) wurde Mitte 1993 in Berlin von militanten Autonomen aus Passau - zunächst unter der Bezeichnung "Antifa A+P" bzw. "Agitation und Praxis", danach "Antifaschistische Aktion Berlin" (AAB) - gegründet. Diese war eine der mitgliederstärksten und politisch aktivsten autonomen "Antifa"-Gruppen in Berlin. Nach eigener Darstellung hat sich die AAB am 13. Februar 2003 "aufgelöst" und in zwei etwa gleich starke Gruppen - die "Antifaschistische Linke Berlin" (ALB) und die Gruppe Kritik & Praxis B3rlin ( KP) gespalten.412 Auf ihrer Internet-Homepage bietet die ALB neben grundlegenden Ausführungen - etwa zum praktizierten Antifaschismus - Diskussionsforen und aktuelle Informationen zu Aktionsschwerpunkten, Kampagnen sowie überregionalen Aktivitäten an. Die ALB propagiert einen militanten Antifaschismus, der sich gegen tatsächliche und vermeintliche "Nazis" richtet. Veröffentlichungen und Positionserklärungen der ALB sowie personelle Kontinuitäten machen deutlich, dass sie die Nachfolgeorganisation der AAB ist. Das maßgebliche Personenpotenzial der ehemaligen AAB führt politische Absichten und praktische Aktionsformen als ALB fort. Die ALB verfolgt Ziele, die gegen den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet sind. Das kommt z. B. in dem Aufruf der ALB zu Protesten gegen den Irak-Krieg zum Ausdruck: "NO 412 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, S. 97 f. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - LIN K S E X T R E M IS M US 211 NATION - NO WAR - NO CAPITALISM! - WE WILL STOP YOU!" und in Slogans wie "SMASH CAPITALISM!" Noch deutlicher wird die Organisation in ihrem Aufruf zur Liebknecht-Luxemburg-Demonstration 2005: "Der Kapitalismus ist nicht das Ende vom Lied. Die Revolution war, ist und bleibt großartig. Freiheit ist auch die Freiheit, den Staat zu zerstören und im Übrigen sind wir der Meinung, dass alles andere Quark mit Soße ist!"413 An anderer Stelle heißt es: "Die radikale Abschaffung der bestehenden Herrschaftsund Ausbeutungsverhältnisse in Form einer Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise kann die einzig sinnige Forderung sein. [...] Der Staat ist keine neutrale Instanz, die nur anders geführt oder besetzt werden muss, sondern Garant für den möglichst reibungslosen Ablauf der kapitalistischen Verwertung. [...] Eine Linke, die es mit der Abschaffung der Ausbeutung ernst meint, sollte sich aber stets bewusst sein, dass dies nicht ein Kampf um den Staat, sondern nur gegen den Staat sein kann."414 Die ALB ist als gewaltbefürwortende Organisation einzustufen. Zu einer Demonstration am 3. Juni 2006 erklärte sie: "Besonders gefreut hat uns, wie energisch Angriffe der Polizei auf den Block abgewehrt wurden, und daß die Bullen so manches Farbei abbekommen haben."415 413 Internetauftritt der ALB, Aufruf am 19.1.2005. 414 ALB: ALLES LÜGE - FASCHISTEN MACHEN AUF SOZIAL. Berlin 2005, S. 9 f. 415 Internetauftritt der ALB, Aufruf am 16.2.2007. 212 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 3.1.3 "Kritik & Praxis B3rlin" ÜBERSICHT Abkürzung KP Entstehung / Gründung 2003 / Auflösung 2006 Mitgliederzahl Ca. 30 (2005: ca. 30) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Flugund Faltblätter "Kritik & Praxis B3rlin" (KP) verstand sich als Flügel der ehemaligen "Antifaschistischen Aktion Berlin" (AAB), der durch Theoriearbeit eine Langzeitperspektive für die Systemüberwindung entwickeln und weniger aktionsbezogen agieren wollte. Dem entsprechend sollte der Antifaschismus nicht mehr ausschließlicher Drehund Angelpunkt der Argumentation der KP sein, sondern die Gruppe orientierte sich - in Ablösung von der dominierenden antifaschistischen Ausrichtung der AAB - stärker auf das Themenfeld 'Antikapitalismus'. In einer Selbstdarstellung bezeichnete sich KP als "ein antikapitalistisches Projekt [...], das versucht theoretisch fundierte Positionen zu erarbeiten und mit praktisch eingreifender Politik zu verbinden".416 Als Ziel verfolgte KP hierbei den Kommunismus als "ein Projekt der Negation des Kapitalismus": "Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. [...] Die Bewegung aber ist nicht abstrakt, sondern erscheint in verschiedenen politischen Bewegungen. Es gilt zu sichten, welche Theorie sich selbst als "eingreifende" zur Aufhebung des Bestehenden, sich selbst als Teil der Praxis der Subversion versteht und welche Argumente sie anführt, zentrale Bestimmungen des herrschenden Kapitalismus zu treffen." 417 416 Veröffentlichung zum internationalen Kongress "Indeterminate Kommunismus" vom 7. - 9.11.2003 in Frankfurt. Internetauftritt von KP. 417 Ebenda. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - LIN K S E X T R E M IS M US 213 "Uns geht es nicht um Arbeitsplätze zu den Bedingungen des Kapitals, sondern um eine andere Gesellschaft jenseits von Lohnarbeit und Kapitalismus! [...] Für den Kommunismus!"418 "In diesem Sinne demonstrieren wir am 8. Mai gegen die Politik der Regierung, die ihre neue Machtpolitik mit der Erinnerung an den Faschismus legitimiert, gegen den Kapitalismus, der die Wurzeln des Faschismus bildet und gegen die Nazis, die erneut mit Antisemitismus, Schuldabwehr und Antikommunismus mobilisieren. Für den Kommunismus!"419 Die parlamentarische Demokratie stellt nach Ansicht der KP die "politische Herrschaft der formalen Freiheit und Gleichheit aller Staatsbürger unter den unfreien Bedingungen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse im Allgemeinen"420 dar: "Solange Existenzangst als Grundlage des Lebens der eigentumslosen Lohnarbeiter akzeptiert wird und Demokratie in der Wirtschaft tabuisiert ist, ist die kapitalistische Demokratie keine Demokratie."421 2006 trat die KP nur noch bei Demonstrationen in Erscheinung. Am 22. Oktober erklärte sie auf ihrer Homepage ihre Auflösung: "In den Auseinandersetzungen über Demo / Konzert zum 8. Mai 2005 einerseits und den Kongress Kapitalismus reloaded andererseits wurde deutlich, dass unterschiedliche Positionen bestehen. [...] Die unterschiedlichen Positionen verdichteten sich zunehmend in den beiden AGs. Das Projekt Kritik und Praxis Berlin ist hiermit beendet." 422 418 Aufruf zur Demonstration "Agenturschluss" am 3.1.2005. Internetauftritt von KP, Aufruf am 3.1.2006. 419 Aufruf zur Demonstration am 8.5.2005. Internetauftritt von KP, Aufruf am 3.1.2006. 420 KP: Islamismuskritik - Jenseits von Rassismus und Antisemitismus? In: "Phase 2" Nr. 15 vom März 2005, S. 33. 421 KP: Kommunismus und politische Praxis. In: Demopunk / Kritik & Praxis (Hg.): "Indeterminate! Kommunismus". Münster 2005, S. 313 - 322, hier S. 318. 422 Internetauftritt von "Kritik und Praxis", Aufruf am 27.10.2006. 214 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 3.1.4 "militante gruppe" ÜBERSICHT Abkürzung mg Entstehung / Gründung Vor 2001 Die "militante gruppe" (mg) ist eine klandestine Gruppe, die - ähnlich den "Revolutionären Zellen" (RZ) in den 80er Jahren - in Berlin und Umgebung Anschläge verübt. Erstmals trat die mg im Sommer 2001 in Erscheinung, als sie Patronen an den damaligen Regierungsbeauftragten für die Entschädigung der Zwangsarbeiter Otto Graf Lambsdorff und an zwei Mitglieder der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft schickte. Ihre militanten Aktionen richteten sich seitdem im Wesentlichen gegen Autos und Gebäude von Behörden. Begründet hat die mg ihre Anschläge bisher vor allem mit den Themengebieten Zwangsarbeiterentschädigung, Sozialabbau und Antiimperialismus. Bis zum Jahresende 2006 bezichtigte sie sich, 22 Brandanschläge begangen zu haben.423 Die Generalbundesanwältin ermittelt gegen die Gruppierung wegen des Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung. Im Zusammenhang mit den Brandanschlägen versucht die mg, mit anderen militanten Gruppierungen eine Diskussion über die Zukunft der Anschlagsaktivitäten zu führen. Ziel dieser so genannten "Militanzdebatte", die über das autonome Szeneblatt "INTERIM" geführt wird, ist die Vernetzung der verschiedenen Gruppierungen. 424 423 Vgl. S. 69 ff. 424 Vgl. S. 66 ff. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - LIN K S E X T R E M IS M US 215 3.2 Parlamentsorientierter Linksextremismus 3.2.1 "Deutsche Kommunistische Partei" ÜBERSICHT Abkürzung DKP Entstehung / Gründung 1968 Mitgliederzahl Bund: ca. 4 200 (2005: deutlich unter 4 500) Berlin: ca. 100 (2005: ca. 110) Organisationsstruktur Partei Sitz Essen Veröffentlichungen "Unsere Zeit" (UZ) (überregional, wöchentlich) Die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) wurde am 25. September 1968 von früheren Funktionären der 1956 verbotenen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD) gegründet. Der Aufbau einer Parteiorganisation in Berlin begann 1990.425 In einem Leitantrag vom 15. Parteitag (Juni 2000) hält die Partei am Marxismus-Leninismus fest und bekennt sich zur revolutionären Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung in Deutschland: "Das Ziel der DKP ist der Sozialismus als erste Stufe auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft. Sie strebt den grundlegenden Bruch mit den kapitalistischen Eigentumsund Machtverhältnissen an, orientiert auf die Arbeiterklasse als entscheidende gesellschaftsverändernde Kraft. Grundlage 425 Während der Teilung Deutschlands gab es aufgrund von Chruschtschows "DreiStaaten-Theorie" (Deutschland zerfalle in drei Staaten: BRD, DDR, Berlin) in Berlin keinen Landesverband der DKP. Statt dessen gründete sich die "Sozialistische Einheitspartei Westberlins" (SEW), die ebenso wie die DKP massiv durch die DDR unterstützt wurde. Nachfolgerin der SEW wurde 1990 die "Sozialistische Initiative" (SI), welche sich 1991 schon wieder auflöste. Sie propagierte einen Erneuerungsprozess hin zu einem "zutiefst demokratischen Sozialismus" (Leitgedanken für Grundsätze und Ziele der SI. In: Landesamt für Verfassungsschutz Berlin: Verfassungsschutzbericht 1990. Berlin 1991, S. 64). Noch im gleichen Jahr haben "SEWund SIMitglieder, die in der Wandlung der SEW zur SI eine Abkehr von der Klassenpartei sahen, eine DKP-Gruppe Berlin gegründet" (Ebenda, S. 66). 216 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 ihres Handelns ist die wissenschaftliche Theorie von Marx, Engels und Lenin, die sie entsprechend ihrer Möglichkeiten weiterentwickelt."426 Die DKP ist als Partei sowohl bundesweit wie auch in Berlin bedeutungslos und erreicht nur geringe Wahlergebnisse. Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen im September 2006 trat die DKP nicht selbst an, sondern rief zur Unterstützung der "Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (WASG) auf.427 Einzelne DKP-Mitglieder kandidierten auf deren offenen Listen. Stark engagiert ist die Partei bei der Mobilisierung zu Protesten unterschiedlicher Veranstalter gegen Arbeitsmarktund Sozialreformen. Sie beteiligt sich in Berlin regelmäßig an der jährlichen Luxemburg-Liebknecht (LL)-Demonstration im Januar. 3.2.2 "Linksruck" ÜBERSICHT Entstehung / Gründung 1993 / 1994 Mitgliederzahl Bund: ca. 400 (2005: ca. 450) Berlin: ca. 100 (2005: ca. 110) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen "Linksruck" (überregional, zweiwöchentlich) "Linksruck" ist 1993 aus der "Sozialistischen Arbeitergruppe" (SAG) hervorgegangen und bildet die deutsche Sektion des internationalen trotzkistischen Dachverbands "International Socialists Tendency" (IST) mit Sitz in London, der einen wesentlichen Einfluss auf die ihm angeschlossenen Gruppierungen ausübt. "Linksruck" versteht sich selbst als "Strömung der revolutionären Sozialisten" mit den Zielen der internationalen Abschaffung des Kapitalismus und Einführung einer Planwirtschaft und Rätedemokratie unter Führung der Arbeiterklasse: 426 Die DKP - Partei der Arbeiterklasse - Ihr politischer Platz heute. In: "DKP-Informationen" Nr. 3/2000 vom 15.6.2000, S. 24. 427 Vgl. S. 80 ff. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - LIN K S E X T R E M IS M US 217 "Wir denken, dass wirkliche Veränderung nur von unten kommen kann. Veränderung kommt nicht durch das Parlament - die wirkliche Macht liegt bei ungewählten Managern, Bankern und Richtern, nicht bei Politikern. Wir denken, dass der Kapitalismus nicht reformiert werden kann, sondern gestürzt werden muß." 428 Die seit 2001 in Berlin ansässige Bundesleitung setzt die von London vorgegebenen ideologischen Grundlinien um und gibt die Zeitschrift "Linksruck" heraus. In Berlin hat "Linksruck" ca. 100 Mitglieder; in der Gruppe ist eine hohe Fluktuation festzustellen, der Kern der Funktionäre bleibt jedoch konstant. Die Gruppe bemüht sich intensiv darum, Schüler und Studenten für eine aktive Mitarbeit zu gewinnen. "Linksruck" finanziert sich über Mitgliedsbeiträge, Spenden sowie durch den Zeitschriftenund Publikationsverkauf. Aktionsschwerpunkt ist die Teilnahme an Kampagnen und Protesten, seit 2004 insbesondere gegen die Arbeitsmarktund Sozialreformen der Bundesregierung. Durch bereitwillige Vergabe von Transparenten und Plakaten auch an organisationsfremde Teilnehmer versucht "Linksruck" bei derartigen Anlässen, optisch eine größere Präsenz zu suggerieren als tatsächlich gegeben ist. Dabei werden bewusst tagespolitische Forderungen statt der eigentlichen revolutionären und systemüberwindenden Ziele in den Vordergrund gestellt. Durch diese Vorgehensweise ist "Linksruck" eine der aktivsten und optisch auffälligsten trotzkistischen Gruppierungen. "Linksruck"-Aktivisten engagieren sich mit einer ähnlichen Taktik in der im Jahr 2004 gegründeten "Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" (WASG), in der sie auch im Bundesvorstand vertreten sind.429 Parlamentsarbeit wird dabei als ein nützliches Mittel betrachtet: "Sozialismus ist erst möglich, wenn die kapitalistische Ordnung als Ganzes beseitigt ist. Das kann parlamentarische Arbeit nicht leisten. Sie kann aber nützlich sein, um die Notwendigkeit einer Revolution öffentlich zu erklären."430 Das auch bei anderen trotzkistischen Gruppen wie der "Sozialistischen Alternative Voran ( SAV) festzustellende Engagement in anderen 428 Internetauftritt von "Linksruck", Aufruf am 19.2.2007. 429 Vgl. S. 80 ff. 430 Revolution! Beitrag in der Marx-Kolumne "Das Gesicht der Zukunft". In: "Linksruck" Nr. 208 vom 28.9.2005. 218 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Personenzusammenschlüssen ist Teil der von Trotzkisten angewendeten "Entrismus"-Strategie mit dem Ziel, größere (nicht-extremistische) Organisationen zu unterwandern, dort Einfluss zu erlangen und sie für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. 3.2.3 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" ÜBERSICHT Abkürzung MLPD Entstehung / Gründung 1982 Mitgliederzahl Bund: ca. 2 300 (2005: ca. 2 300) Berlin: ca. 100 (2005: ca. 100) Organisationsstruktur Partei Sitz Gelsenkirchen Veröffentlichungen "Rote Fahne" (überregional, wöchentlich) "Lernen und Kämpfen" (überregional, mehrmals jährlich) "REBELL" (überregional, monatlich) Die 1982 in Bochum gegründete "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) bekennt sich zur Theorie des Marxismus-Leninismus in der Interpretation durch Stalin und Mao Zedong. Sie ist aus dem "Kommunistischen Arbeiterverbund Deutschlands" (KABD)431 hervorgegangen. In Abgrenzung zu anderen kommunistischen Parteien - insbesondere des ehemaligen Warschauer Pakts - versteht sie sich als "Partei neuen Typs". Die MLPD wirft anderen kommunistischen Parteien vor, den Marxismus-Leninismus verraten zu haben: 431 Der Zusammenschluss besteht seit 1972 aus der "Kommunistischen Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten (Revolutionärer Weg)" und dem "Kommunistischen Arbeiterbund Deutschlands (Marxisten-Leninisten)". H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - LIN K S E X T R E M IS M US 219 "Der Verrat an den kommunistischen Idealen, die Verbrechen entarteter Elemente an der Spitze der Partei-, Staatsund Wirtschaftsführung in der ehemaligen DDR, ihre Machtergreifung als neue Bourgeoisie und der moderne Revisionismus haben den Begriff des 'Kommunismus' bei den Werktätigen in Misskredit gebracht." 432 Die MLPD versteht sich dabei als Vorhut der Arbeiterklasse. Die Ziele der Partei implizieren die Aufhebung wesentlicher Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung: "Ihr grundlegendes Ziel ist der revolutionäre Sturz der Diktatur des Monopolkapitals und die Errichtung der Diktatur des Proletariats für den Aufbau des Sozialismus als Übergangsstadium zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft."433 Der politische Einfluss der Partei ist gering. Zu den Europawahlen 2004 trat sie nicht an, jedoch beteiligte sie sich mit Landeslisten in allen Bundesländern an der Bundestagswahl 2005. Ihr Interesse, sich am Wahlbündnis von der "Linkspartei.PDS" und der "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (WASG) zu beteiligen, war auf keine Resonanz gestoßen. In Berlin erreichte die MLPD bei der Bundestagswahl 0,1 Prozent der Zweitstimmen (1 290 Stimmen), was auch ihrem bundesweiten Ergebnis entsprach. Im Berliner Wahlkreis 83 (Neukölln) trat die MLPD mit einem Direktkandidaten an, der 0,2 Prozent der Erststimmen erhielt. An den Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen im September 2006 beteiligte sie sich nicht. Schwerpunktthemen der Partei sind Arbeit und Soziales. Das von der MLPD ins Leben gerufene und dominierte "Berliner Bündnis Montagsdemo" organisiert regelmäßige Montags-Protestzüge gegen Arbeitsmarktund Sozialreformen und mobilisierte bundesweit zu einem Sternmarsch "gegen die neue Regierung" im November 2005, an dem sich - im Gegensatz zu den von der MLPD zunächst genannten 25 000 Teilnehmern - etwa 4 000 Personen beteiligten. 432 Präambel zum Statut der MLPD. Internetauftritt der MLPD, Aufruf am 19.2.2007. 433 Ebenda. 220 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 3.2.4 "Sozialistische Alternative Voran e. V." ÜBERSICHT Abkürzung SAV Entstehung / Gründung 1994 Mitgliederzahl Bund: ca. 400 (2005: ca. 400) Berlin: ca. 50 (2005: ca. 40) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Berlin Veröffentlichungen "Solidarität - Sozialistische Zeitung" (überregional, monatlich) Die "Sozialistische Alternative Voran e. V." (SAV) ist die deutsche Sektion des in London ansässigen trotzkistischen Dachverbands "Committee for a Workers International" (CWI). Die in Berlin ansässige Bundesleitung steuert die Arbeit der verschiedenen Ortsgruppen in anderen Städten. Perspektivisches Ziel der SAV ist laut Grundsatzprogramm der Aufbau einer Arbeiterpartei als einer revolutionären, sozialistischen Massenpartei. Damit soll der Kapitalismus abgeschafft und durch ein sozialistisches System verbunden mit der Aufhebung des Mehrparteienstaates ersetzt werden: "Sozialismus bedeutet für sie [die SAV] im Sinne von Marx, Engels, Lenin, Luxemburg und Trotzki: weltweit Gemeineigentum an Produktionsmitteln, demokratische Planung und Kontrolle von Wirtschaft und Gesellschaft durch die arbeitende Bevölkerung. Das setzt eine sozialistische Revolution voraus. Die Aufgabe der sozialistischen Revolution ist es, die Produktionsmittel in Gemeineigentum zu überführen und demokratische Verwaltungsorgane der Arbeiterklasse an Stelle des bürgerlichen Staatsapparats aufzubauen."434 Die SAV finanziert sich über Mitgliedsbeiträge, Spenden und durch den Vertrieb ihres Organs "Solidarität - Sozialistische Zeitung". 434 Grundsatzprogramm der SAV. Internetauftritt der SAV, Aufruf am 19.2.2007. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - LIN K S E X T R E M IS M US 221 Wie bei der trotzkistischen Gruppe Linksruck () war die Beteiligung an Protesten gegen Arbeitsmarktund Sozialreformen der Bundesregierung435 der Aktionsschwerpunkt der SAV, durch den auch die Themenauswahl in der Zeitung "Solidarität" und auf der Homepage der SAV bestimmt war. SAV-Aktivisten engagieren sich im Sinne der "Entrismus"-Strategie in der Partei "Wahlalternative für Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" (WASG) und riefen für die Bundestagswahl 2005 zu einer Unterstützung des Wahlbündnisses mit der "Linkspartei.PDS" auf. Ihre systemüberwindenden Absichten werden aus taktischen Erwägungen jedoch nicht in den Vordergrund gestellt. 436 Zwar strebt die SAV langfristig eine Abschaffung von repräsentativen parlamentarischen Strukturen an, möchte diese aber zunächst noch nutzen um "[...] mit einer Bundestagsfraktion eine starke Stimme zu gewinnen für die Masse der Bevölkerung, die von keiner der etablierten Parteien nennenswert vertreten wurde. Es ging darum, mit einer Bundestagsfraktion den Widerstand in Betrieben, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu stärken".437 In Berlin nehmen SAV-Mitglieder in der WASG Vorstandsfunktionen wahr. Ein Vorstandsmitglied der SAV war Spitzenkandidatin der WASG bei den Abgeordnetenhauswahlen im September 2006. Bei den Wahlen zu den Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) gelang drei SAV-Mitgliedern auf den Listen der WASG der Einzug in eine BVV. 435 Vgl. S. 80 ff. 436 Vgl. S. 80 ff. 437 Bundestagswahl: Rückenwind für die Linke. Internetauftritt der SAV, Aufruf am 13.12.2005. 222 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 4 AUSLÄNDEREXTREMISMUS 4.1 Gewaltorientierte Islamisten 4.1.1 Transnationale Terrornetzwerke 4.1.1.1 "Mujahidin-Netzwerke" / "al-Qa'ida" ÜBERSICHT Entstehung / Gründung Anfang 80er Jahre Afghanistan / Pakistan Organisationsstruktur Transnationale Netzwerke Veröffentlichungen Audiound Video-Botschaften Der Begriff "Mujahidin" bezeichnet pan-islamistisch orientierte Kämpfer unterschiedlicher ethnischer Herkunft, die an Kampfeinsätzen etwa in Afghanistan, Bosnien, Tschetschenien oder im Kaschmir teilgenommen haben. Das Entstehen der - häufig als Jihadisten bezeichneten - "Mujahidin" geht auf den Afghanistan-Krieg zurück, als sich 1979 freiwillige "Kämpfer" ("Mujahidin") dem - unter dem Motto des Jihad geführten - Krieg gegen die sowjetische Besatzung anschlossen und dafür vor allem in afghanischen und pakistanischen Militärlagern ausgebildet wurden. Die Lage im von Krieg und Bürgerkrieg gezeichneten Afghanistan bot ideale Bedingungen für die ideologische Schulung und terroristische Ausbildung der "Mujahidin". Hierzu gehörten ein weitgehend rechtsfreier Raum, Kampfgebiete sowie die Tatsache, dass sich im Bürgerkrieg 1996 die islamistischen "Taliban-Kämpfer" durchsetzten. Die terroristischen Aktivitäten der "Mujahidin" richteten sich ab 1992 vor allem gegen Ägypten und Algerien, nachdem sich einzelne kampferprobte "Mujahidin" des Afghanistan-Kriegs den dortigen militanten islamistischen Gruppierungen angeschlossen hatten. Im Zentrum der "Mujahidin" steht die von Usama Bin Ladin Ende der 80er Jahre gegründete Organisation "al-Qa'ida" ("Die Basis"), die sich vermutlich Mitte der 90er Jahre mit Teilen der militanten ägyptischen Gruppen "al-Jihad al-islami" ("Der islamische Kampf") und "al-Jama'a H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - A US L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 223 al-islamiya"438 ("Die islamische Gemeinschaft") zu einem transnationalen Netzwerk zusammenschloss. Als zweiter Mann hinter BinLadin gilt der Führer der ägyptischen Gruppe "al-Jihad al-islami", Aiman alZawahiri. Programmatische Grundlage der internationalen Anschläge von "alQa'ida" war der von Usama Bin Ladin 1998 mitunterzeichnete439 Aufruf der "Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler"440, den die Verfasser als ein religiöses "Rechtsgutachten" ("fatwa")441 deklarierten. Darin waren die Tötung von Amerikanern zur vermeintlichen individuellen Pflicht eines jeden Muslims erhoben, die Stationierung von US-Truppen in Saudi-Arabien für unzulässig erklärt und als Ziel die Verdrängung der USA von der Arabischen Halbinsel genannt worden. Hierzu sollten die USA als Schutzmacht SaudiArabiens angegriffen und - wie bereits die Anschläge auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania im August 1998 und auf das Marineschiff USS Cole im Oktober 2000 zeigten - möglichst viele Menschen, vor allem US-Bürger, getötet werden. 438 Hierbei handelt es sich um die hocharabische Schreibweise. Im ägyptischen Dialekt werden die Gruppierungen phonetisch als "al-Gihad al-islami" und "al-Gama'a alislamiya" wiedergegeben. 439 Zu den fünf Unterzeichnern gehörten Usama Bin Ladin ("al-Qa'ida"), Aiman alZawahiri ("al-Jihad al-islami"), Abu Yasir Rifa'i Ahmad Taha ("al-Jama'a alislamiya"), Mir Hamza (Generalsekretär der "Jam'iyat-ul-Ulama Pakistan") und Fazlur Rahman (Chef der "Jihad"-Gruppe, Bangladesch). 440 In der Verlautbarung hieß es: "Das Urteil, die Amerikaner und ihre Alliierten, Zivilisten und Militärs gleichermaßen zu töten, wo immer ihm dies möglich ist, ist eine individuelle Pflicht für jeden Muslim, der hierzu in der Lage ist, bis die Aqsa-Moschee [in Jerusalem] und die Heilige Moschee [in Mekka] von ihnen befreit sind und bis ihre Armeen das gesamte Territorium des Islam verlassen haben, geschlagen und unfähig, irgend einen Muslim noch zu bedrohen. Vgl. Nass Bayan al-Jabha al-islamiya alalamiya li-Jihad al-Jahud wa'l-Salibiyin. In: "al-Quds al-arabi" vom 23.2.1998. Eine englische Übersetzung findet sich im Internet unter www.fas.org/irp/world/para/docs/ 980223-fatwa.htm. 441 Diese Fatwa ist aus Sicht der islamischen Theologie nicht gültig, da Usama Bin Ladin als Laie weder die theologische Qualifikation noch die religiöse Autorität zur Erstellung von Rechtsgutachten, geschweige denn zur Ausrufung des Jihad im Namen der Muslime besitze. Entsprechend wurden die Anschläge vom 11. September von einem Großteil der islamischen Religionsgelehrten als nicht mit dem Islam vereinbar zurückgewiesen, da die islamische Religion sowohl den Mord an unschuldigen Zivilisten als auch den Selbstmord verbiete. Vgl. Hanspeter Mattes: Ein Jahr danach. Der islamistische Terrorismus und seine Bekämpfung. In: "Herder Korrespondenz 56" Nr. 9/2002, S. 444 - 448. 224 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Statt Anschlägen der Basis-Organisation "al-Qa'ida" standen seit 2004 die Aktivitäten der so genannten "non-aligned Mujahidin" im Vordergrund. Das Terrornetzwerk "al-Qa'ida" scheint mit seinen zahlreichen - auch auf die Binnenkommunikation innerhalb und im Umfeld der Netzwerke zielenden - Audiound Videobotschaften eher die ideologische Begründung für die Anschläge zu liefern, als diese zentral zu planen und selbst durchzuführen. Dies mag durch den erhöhten Verfolgungsdruck bedingt sein, dem sich Usama Bin Ladin und Aiman alZawahiri durch die USA und die alliierten Truppen ausgesetzt sehen. Die "non-aligned Mujahidin" stehen für Kleingruppen oder einzelne Personen, die keiner bestimmten Organisation zuzurechnen sind. Sie finanzieren sich selbst - in der Regel durch Allgemein-Kriminalität, wie zum Beispiel durch den Handel mit Betäubungsmitteln, Kreditkartenbetrug oder Raubüberfälle. 4.1.1.2 "Ansar al-Islam" ("Anhänger des Islam" / "Ansar al-Sunna" ("Anhänger der Sunna") ÜBERSICHT Abkürzung AAI AAS Entstehung / Gründung 2001 Irak (als Nachfolgeorganisation des "Jund al-Islam" /"Heer des Islam") Organisationsstruktur Transnationales Netzwerk Die 2001 im Nordirak aus verschiedenen Splittergruppen entstandene Organisation "Ansar al-Islam" (AAI) besteht hauptsächlich aus islamistischen Kurden, die die Errichtung eines islamistischen kurdischen Staatswesens im Nordirak nach dem Vorbild des früheren TalibanRegimes in Afghanistan anstreben. Hierzu bekämpft sie mit Waffengewalt die laizistischen kurdischen Gruppen "Patriotische Union Kurdistan" (PUK) und die "Kurdische Demokratische Partei" (KDP). Ihre terroristischen Aktionen richtet sie seit 2003 auch gegen die alliierten Streitkräfte im Irak sowie gegen dort tätige humanitäre Hilfsorganisationen. Seit 2004 agiert die "Ansar al-Islam" unter dem Namen "Jaish Ansar alSunna" ("Armee der Anhänger der Sunna"; kurz: "Ansar al-Sunna"; H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - A US L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 225 AAS). Im Irak, wo sie in den letzten Jahren erheblich an Zulauf gewann, fungiert die AAI bzw. AAS als Dachorganisation und als Sammelbecken für nicht-kurdischstämmige ausländische "Mujahidin". Ideologisch ist die AAI bzw. AAS den salafistischen Jihadisten zuzuordnen, die sich an der Jihad-Konzeption von Sayyid Qutb (1906 - 1966), des Chefideologen des militanten Islamismus, orientieren. So propagiert die AAI bzw. AAS die Bekämpfung von Juden und Christen und befürwortet die strikte Umsetzung islamischer Glaubensvorschriften sowie eine weitgehend an den Bestimmungen des Korans orientierte ursprüngliche Lebensweise. Die Organisation, die bis 2004 von dem im norwegischen Exil lebenden Mullah Krekar angeführt wurde, unterhält zur logistischen und finanziellen Unterstützung auch in Westeuropa ein Netzwerk. In Deutschland fielen ihre Anhänger nicht allein durch werbende und unterstützende Tätigkeiten auf, sondern auch durch die Vorbereitung terroristischer Aktivitäten. Mehrere Personen sollen die AAI bzw. AAS durch Logistik, Geldbeschaffung, die Einschleusung irakischer Staatsbürger sowie durch die Rekrutierung von "Jihad-Kämpfern" für den Irak-Krieg unterstützt haben. Sie wurden wegen der Unterstützung bzw. der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt; eine Person wurde nach SS 129b StGB, der die Mitgliedschaft in kriminellen und terroristischen Vereinigungen im Ausland sowie Werbung und Unterstützung für diese unter Strafe stellt, verurteilt. Ein weiteres Verfahren gegen drei irakische Staatsbürger begann 2006.442 442 Vgl. S. 108 ff. 226 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 4.1.2 Regional gewaltausübende Gruppen 4.1.2.1 "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS) ÜBERSICHT Abkürzung HAMAS Entstehung / Gründung 1987 Gaza Mitgliederzahl Bund: ca. 300 (2005: ca. 300) Berlin: ca. 50 (2005: ca. 50) Die mit dem Kurzwort HAMAS443 bezeichnete "Bewegung des Islamischen Widerstands" wurde 1987 im Gaza-Streifen von Ahmad Yassin in der Nachfolge eines Zweigs der Muslimbruderschaft ( MB) gegründet. In ihrer Charta von 1988 verneint die HAMAS das Existenzrecht Israels und strebt die "Befreiung ganz Palästinas" durch bewaffneten Kampf sowie die Errichtung eines islamistischen Staatswesens an. Den 1993 begonnenen Oslo-Friedensprozess lehnt die HAMAS als "Ausverkauf palästinensischer Interessen" ab und konkurriert gleichzeitig mit der von der laizistischen Fatah dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde um die Führung der Palästinenser. Durch ihre Kritik an den Friedensverhandlungen der Autonomiebehörde mit Israel sowie durch den kontinuierlichen Ausbau ihrer Basis im sozialen Bereich entwickelte sie sich im innerpalästinensischen Machtgefüge zu einem bedeutenden politischen Faktor. In der Folge verzeichnete die HAMAS bei den Kommunalwahlen 2004 und 2005 deutliche Erfolge und siegte überraschend auch bei den Parlamentswahlen am 25. Januar 2006.444 Im neugewählten Palästinensischen Legislativrat stellt sie 76 der 132 Abgeordneten und verfügt gegenüber der bisher dominierenden Fatah (43 Sitze) und den sonstigen Gruppen (13 Sitze) über die absolute Mehrheit. 443 Arabisch: "Harakat al-Muqawama al-islamiya". Der Begriff "Hamas" stellt zugleich ein - bereits im Koran enthaltenes - arabisches Wort dar, das "Begeisterung", "Eifer" und "Leidenschaft" bedeutet. Islamisten interpretieren den Begriff als "Tapferkeit". 444 Vgl. S. 112 - 114. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - A US L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 227 Die von der HAMAS verfolgte Gewaltstrategie schloss seit 1994 vor allem Selbstmordanschläge ein. Mit dem Ausbruch der "al-Aqsa-Intifada" im September 2000 und der Verschärfung des israelisch-palästinensischen Konflikts hatten die Selbstmordanschläge ihres militärischen Flügels, der "Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden", gegen israelische Ziele erheblich zugenommen. Die "Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden" wurden im Juni 2002 in die EU-Liste terroristischer Organisationen aufgenommen; seit September 2003 wird auch die Gesamtorganisation der HAMAS als terroristisch eingestuft. Die als "Märtyrer-Operationen" bezeichneten Anschläge begrenzte die HAMAS dabei nicht auf die palästinensischen Gebiete des Westjordanlands und Gaza-Streifens, sondern führte sie vor allem im israelischen Kernland aus. Die Anschläge zielten zudem nicht allein auf Militärpersonal, sondern auch auf die israelische Zivilbevölkerung. Dieses seit Errichten des Grenzzauns erschwerte und von Waffenstillstandsabkommen zeitweise unterbrochene terroristische Vorgehen begründet die HAMAS nach wie vor mit einem "Recht auf Selbstverteidigung". In Deutschland tritt die HAMAS nicht offen in Erscheinung. Vielmehr treffen sich Anhänger der HAMAS in Moscheen, Moscheevereinen und Islamischen Zentren. Als Berliner Treffpunkt von HAMAS-Anhängern gilt das "Islamische Kulturund Erziehungszentrum Berlin e. V.". Der als Spendensammelverein der HAMAS geltende "Al-Aqsa e. V." in Aachen wurde im Juli 2002 verboten und aufgelöst. Das Bundesministerium des Innern hatte festgestellt, dass die Tätigkeit des Vereins Gewaltanwendung zur Durchsetzung politischer, religiöser und sonstiger Belange unterstütze, befürworte und hervorrufe. Die Tätigkeit richte sich außerdem gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Verbot am 3. Dezember 2004 bestätigt.445 445 Vgl. Bundesverwaltungsgericht, Az.: BVerwG 6 A 10.2.2004. 228 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 4.1.2.2 "Hizb Allah" ("Partei Gottes") ÜBERSICHT Entstehung / Gründung 1982 Beirut Mitgliederzahl Bund: ca. 900 (2005: ca. 900) Berlin: ca. 160 (2005: ca. 160) Veröffentlichungen "Al-Ahd - Al-Intiqad" ("Die Verpflichtung - Die Kritik") (überregional, wöchentlich) "Al-Manar-TV" ("Der Leuchtturm") Die schiitisch-islamistische "Hizb Allah" ("Partei Gottes") wurde im Sommer 1982 nach dem Einmarsch israelischer Truppen in den Libanon gegründet und agierte im 15-jährigen libanesischen Bürgerkrieg zusammen mit der AMAL446 als eine der beiden schiitischen Milizen. Aus ideologischen, regionalpolitischen und konfessionellen Motiven wird die hierarchisch strukturierte Bewegung vom Iran und von Syrien finanziell und militärisch unterstützt. Unter ihrem Generalsekretär Hassan Nasrallah negiert die "Hizb Allah" weiter das Existenzrecht Israels und propagiert den bewaffneten Kampf gegen Israel, den sie als "legitimen Widerstand" bezeichnet. Dieser Kampf wird von ihrem bewaffneten Arm, der Miliz des "Islamischen Widerstands" ("al-Muqawama al-islamiya"), getragen. Innenpolitisch hat sich die "Hizb Allah" dagegen als parteiähnliche politische Bewegung konstituiert, die wegen ihrer sozialen Aktivitäten vor allem unter der schiitischen Bevölkerung des Libanon über breiten gesellschaftlichen Rückhalt verfügt. Seit 1992 ist die "Hizb Allah" im libanesischen Parlament vertreten, bis November 2006 beteiligte sie sich mit zwei Ministern an der Regierung. Die "Hizb Allah" verfügt im Libanon über eine Sonderstellung. Diese ergibt sich aus dem innerlibanesischen Bürgerkrieg (1976 - 1989), dem Kampf gegen die 22-jährige israelische Besatzung sowie der Politik Syriens und des Iran, die die "Hizb Allah" als militärisches Drohpoten446 AMAL ist die Organisationsbezeichnung laizistisch orientierter Schiiten des Libanon. Der Begriff steht für "Afwaj al-Muqawama al-lubnaniyah", "Batallione des libanesischen Widerstands". Amal heißt zugleich "Hoffnung". H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - A US L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 229 zial benutzen. Als einzige der ehemaligen Milizen des Bürgerkriegs unterhält die "Hizb Allah" weiter eine bewaffnete Miliz mit parallel zur libanesischen Armee existierenden militärischen Verbänden. Diese Sonderstellung versucht die "Hizb Allah" bis heute aufrechtzuerhalten und widersetzt sich dazu auch dem UN-Sicherheitsrat.447 Seit 2000 instrumentalisiert sie den ausbleibenden Rückzug Israels aus dem Gebiet der "Shebaa-Farmen"448 als einen Vorwand, um in diesem Gebiet militärisch und terroristisch gegen Israel vorzugehen. Einen weiteren Vorwand für die Aufrechterhaltung der militärischen Option bezog die "Hizb Allah" aus der 2000 ausgebrochenen "Al-AqsaIntifada", die sie seitdem ideologisch, militärisch, finanziell und propagandistisch unterstützt. Die Entführung israelischer Soldaten im Grenzgebiet löste im Juli 2006 die kriegerischen Auseinandersetzungen im Libanon aus.449 Zu einem Streitfall auf internationaler Ebene ist der parteieigene TVSender "Al-Manar" ("Der Leuchtturm") geworden, durch den die "Hizb Allah" ihre "Widerstandsideologie" propagiert. Fester Bestandteil im Programm des über Satellit auch in Deutschland zu empfangenden TVSenders sind die Propagierung des bewaffneten Kampfes und von als "Märtyrer-Operationen" bezeichneten Selbstmordanschlägen im Rahmen der "Al-Aqsa-Intifada". In einschlägigen Filmen und Videoclips werden Attentäter der militärischen Flügel der HAMAS und des "Palästinensichen Islamischen Jihad" (PIJ), der "Izz ad-Din al-QassamBrigaden" und der "Jerusalem-Kompanien" ("Saraya al-Quds") glorifiziert. Die seit 2002 betriebene anti-israelische Hetze und Propaganda des Senders zeigt etwa den Generalsekretär Nasrallah, der seinen Anhängern versichert, dass "Israel in seiner Existenz vergehen wird". Die Propagandafilme beinhalten auch Bilder israelischer Attentatsopfer - unterlegt mit dem Text "Gewiss wird Israel verschwinden". Mit der Begründung, dass "Al-Manar" zu Hass und Gewalt gegen Israel aufrufe 447 Im Jahre 2004 forderte der UN-Sicherheitsrat mit Resolution 1559 die Entwaffnungen der "Hizb Allah"; auch die Resolution 1701, die am 14. August 2006 den Waffenstillstand im Libanon einleitete, hält die Forderung nach einer Entwaffnung aufrecht. 448 Israel hatte 2000 seinen Nichtrückzug von den im Grenzdreieck zwischen Libanon, Syrien und Israel gelegenen "Shebaa-Farmen" damit begründet, dass es syrisches Territorium sei. Der Libanon dagegen betrachtet die "Shebaa-Farmen" als sein - von Israel zu Unrecht besetztes - Staatsgebiet. 449 Vgl. S. 112 ff. 230 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 und Sendungen mit eindeutig antisemitischem Charakter ausstrahle,450 entzogen Frankreich und die USA dem Sender 2004 die Sendelizenz. Die "Hizb Allah" wird von den USA auf ihrer Liste der "Foreign Terrorist Organizations" aufgrund zahlreicher von ihr in den 1980er und 90er Jahren verübten Anschläge aufgeführt. Die Europäische Union hat nicht die Gesamtorganisation der "Hizb Allah" in die Liste der als terroristisch eingestuften Organisationen aufgenommen, wohl aber den Auslandssicherheitsdienst "External Security Apparatus" (ESA), der als integraler Bestandteil der "Hizb Allah" gilt. Der iranische "Revolutionsführer" Ayatollah Khomeini hatte 1979 den "Al-Quds"-Tag initiiert, um das Ziel der "Befreiung" der auch für Muslime heiligen Stadt Al-Quds (Arabisch für Jerusalem) zu propagieren. In Berlin wird der Quds-Tag von den Anhängern Khomeinis, insbesondere regimetreuen Iranern und Anhängern der "Hizb Allah", mit einer Demonstration begangen. Die Demonstration am 21. Oktober verlief mit 400 Teilnehmern - wie schon in der Vergangenheit - ohne besondere Vorkommnisse. 450 Hierzu zählt vor allem die während des Ramadan 2003 ausgestrahlte Sendereihe "alShatat" ("Diaspora"), in der die Existenz einer seit Jahrhunderten bestehenden geheimen jüdischen Weltregierung unterstellt wird, die für zahlreiche politische Komplotte und Großereignisse wie den Ausbruch des Ersten und Zweiten Weltkriegs verantwortlich zeichnen soll. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - A US L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 231 4.1.3 Gewaltbefürwortende Gruppen 4.1.3.1 "Hizb al-Tahrir al-islami" ("Partei der islamischen Befreiung") ÜBERSICHT Abkürzung HuT Entstehung / Gründung 1953 Jordanien 1987 Landesverband Berlin Mitgliederzahl Bund: ca. 300 (2005: ca. 300) Berlin: ca. 60 (2005: ca. 60) Organisationsstruktur 2003 vereinsrechtliches Betätigungsverbot Veröffentlichungen "Explizit" (überregional, bis Januar 2003) "Al-Wa'i" ("Bewusstsein") (überregional, monatlich) "Khalifa" / "Hilafet" ("Kalifat") (überregional, monatlich) Die 1953 in Jordanien von Taqi ad-Din an-Nabhani (1909 - 1977) gegründete "Hizb al-Tahrir al-islami" (HuT) ist eine pan-islamistische parteiähnliche Bewegung, die sich die weltweite Missionierung von Muslimen im Sinne ihrer Ideologie zum Ziel gesetzt hat. Ideologisch verfolgt die HuT eine universelle Staatsund Gesellschaftsdoktrin, die sie auf vermeintlich authentisch islamische Herrschaftskonzepte zurückführt. Im Zentrum stehen die Betonung des pan-islamischen Gedankens (in der Behauptung der Existenz einer weltumfassenden islamischen Gemeinde, der "Umma") sowie die Forderung nach Errichtung einer weltweiten Kalifatsherrschaft. Erklärte Ziele sind auch die Überwindung nationalstaatlicher Strukturen, die Vernichtung des Staates Israel, die Befreiung der muslimischen Welt von westlichen Einflüssen sowie die Einführung der Scharia als politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip. Die Ideologie kennzeichnet ferner eine ausgeprägte Judenfeindschaft sowie die Rechtfertigung von Gewaltanwendung durch vermeintlich religiöse Bezüge: So werden Koranverse aus ihrem historischen Kontext 232 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 herausgelöst und Begriffe wie "Jihad" ("Bemühen", "Kampf") fast durchgängig militant interpretiert. In den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wurde die HuT aufgrund ihrer radikalen Ausrichtung, insbesondere wegen ihrer Aufrufe zum gewaltsamen Umsturz der Regierungen, unmittelbar nach ihrer Gründung verboten. Seitdem operiert sie weitgehend im Geheimen; ihre Anhänger sind strikter Verfolgung ausgesetzt. Begründet werden die Maßnahmen mit der Beteiligung der HuT an Staatstreichen - etwa in Jordanien (1968), Irak (1969), Ägypten (1974) sowie Syrien (1976). Nach Darstellung der Organisation ist sie in diesen Ländern wie auch in Kuwait weiter aktiv; darüber hinaus agiert sie im zentralasiatischen Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan. Aufgrund der Verfolgung ist die HuT in keinem Land Teil des Parteiensystems. Derzeitiger Vorsitzender ist der 1943 im Libanon geborene Jordanier Ata Abu alRashta, dessen Aufenthaltsort im Libanon vermutet wird. In Deutschland trat die HuT vorwiegend in Universitätsstädten durch die Verbreitung von Flugblättern und Zeitschriften in Erscheinung. Diese enthielten regelmäßig antiisraelische und antiwestliche Positionen. In Berlin fand am 27. Oktober 2002 in der "Alten TU-Mensa" eine Veranstaltung mit dem Herausgeber der der HuT zuzurechnenden Zeitschrift "Explizit", Shaker Assem, statt. Für ein breites Medieninteresse sorgte seinerzeit die Anwesenheit des NPD-Vorsitzenden Udo Voigt und des prominenten NPD-Mitglieds Horst Mahler. Am 10. Januar 2003 erließ der Bundesminister des Innern ein Betätigungsverbot gegen die HuT. Die HuT legte dagegen Klage beim Bundesverwaltungsgericht ein. Der Sechste Senat hatte die Entscheidung des Ministeriums bereits im August 2005 per Gerichtsbescheid für rechtmäßig erklärt. Die Organisation akzeptierte dies jedoch nicht und bestand auf einer mündlichen Verhandlung, woraufhin das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig das vom BMI erlassene Verbot am 25. Januar 2006 bestätigte.451 Das Urteil wurde damit begründet, dass die HuT mehrmals "zur gewaltsamen Beseitigung des Staates Israel und zur Tötung von Menschen aufgefordert" und auf diese Weise "der friedlichen Lösung der israelisch-palästinensischen Interessensgegensätze entgegengewirkt" habe. In seiner Begründung verwies der Senat auch auf Art. 9 Abs. 2 GG, 451 Vgl. Bundesverwaltungsgericht, Az.: BVerwG 6A 6.05. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - A US L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 233 wonach Organisationen verboten werden, die sich gegen die Verfassung oder den Gedanken der Völkerverständigung richten. 4.1.3.2 "Kalifatsstaat" ("Hilafet Devleti") ÜBERSICHT Entstehung / Gründung 1984 Köln Mitgliederzahl Bund: ca. 750 (2005: ca. 750) Berlin: Einzelmitglieder (2005: Einzelmitglieder) Organisationsstruktur 2001 Vereinsverbot Sitz Köln Veröffentlichungen "Barika-i Hakikat" ("Das Aufleuchten der Wahrheit") (überregional, letztmalig erschienen Oktober 2004) Der islamistische "Kalifatsstaat" spaltete sich 1984 von der "Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e. V. (AMGT) ( IGMG) ab. Er stand unter der Leitung von Cemaleddin Kaplan und bezeichnete sich anfangs als "Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e. V. Köln" (ICCB). Sowohl der damalige ICCB als auch die AMGT strebten für die Türkei eine an der Scharia ausgerichtete islamistische Staatsordnung an. Anlass für die Abspaltung der so genannten Kaplanclar (Kaplan-Anhänger) war die unterschiedliche Vorstellung, auf welchem Weg die Gründung eines als "islamisch" deklarierten islamistischen Staatswesens zu realisieren sei. Während sich die AMGT für den gewaltfreien parlamentarischen Weg entschied, sprach sich Kaplan ausdrücklich für eine Revolution nach dem Vorbild des Iran aus. Im Zuge dieser Revolution sollte das 1924 in der neu gegründeten türkischen Republik abgeschaffte Kalifat - das Amt des weltlichen Oberhaupts der Muslime - wieder eingeführt werden. Den legalen Weg zur Macht über demokratische Wahlen lehnte Kaplan entschieden ab, da westliche Demokratiemodelle nicht mit der Scharia vereinbar seien. Seinen Vorstellungen zufolge sollte sich das zu gründende islamistische Staatswesen zunächst auf das Gebiet der heutigen Türkei beschränken, später aber alle muslimischen Länder unter der Herrschaft eines Kalifen vereinen. 234 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 1994 ließ sich Cemaleddin Kaplan von seinen Anhängern zum Kalifen ausrufen, woraufhin die Organisation in "Hilafet Devleti" ("Kalifatsstaat") umbenannt wurde. Nach dem Tod Cemaleddin Kaplans im Jahr 1995 übernahm sein Sohn Metin den Titel. Die Rechtmäßigkeit des neuen "Kalifen" war umstritten und spaltete 1996 die Organisation. Der frühere Vertraute von Cemaleddin Kaplan, Dr. Halil Ibrahim Sofu, wurde zum "Gegenkalifen" ausgerufen. Sofu wurde im Mai 1997 in seiner Berliner Wohnung von Unbekannten erschossen. Metin Kaplan wurde daraufhin am 15. November 2000 vom Oberlandesgericht Düsseldorf wegen zweifacher öffentlicher Aufforderung zur Ermordung Sofus zu vier Jahren Haft verurteilt. Als er im Mai 2003 aus dem Gefängnis entlassen wurde, lag gegen ihn ein Auslieferungsantrag der Türkei wegen Hochverrats vor, dem am 12. Oktober 2004 stattgegeben wurde.452 Ein Istanbuler Schwurgericht verurteilte das Oberhaupt des "Kalifatsstaats" wegen Attentatsplanung gegen die türkische Staatsspitze am 20. Juni 2005 zu lebenslanger Haft. Wegen Verfahrensfehlern hob die 9. Strafkammer des Kassationshofs in Ankara am 30. November 2005 diese Verurteilung auf und das Verfahren wurde 2006 vor der 14. Kammer des Istanbuler Landgerichts fortgesetzt. In Deutschland übernahm Harun Aydin am 25. März 1999 die Leitung des Verbandes, wobei das ideologische Konzept Cemaleddin Kaplans beibehalten und die aggressive, demokratiefeindliche und antisemitische Agitation fortgeführt wurden. Am 12. Dezember 2001 verbot der Bundesminister des Innern den "Kalifatsstaat". Das nach den Entscheidungen des Bundesverwaltungsund des Bundesverfassungsgerichts453 rechtskräftige Verbot wurde durch die Streichung des Religionsprivilegs im Vereinsgesetz möglich.454 Begründet wurde es damit, dass sich der "Kalifatsstaat" offen gegen die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland sowie den Gedanken der Völkerverständigung richtet und die innere Sicherheit sowie außenpolitische Belange der Bundesrepublik Deutschland gefähr452 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 138 ff. 453 Vgl. Bundesverwaltungsgericht, Az.: BVerwG 6 A 4.02; Bundesverfassungsgericht, Az.: BVerfG 1 BvR 536/03. 454 Vgl. Erstes Gesetz zur Änderung des Vereinsgesetzes (BGBl. I S. 3319). H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - A US L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 235 det.455 Das Verbot betraf den Gesamtverband und bundesweit 19 Teilorganisationen sowie die zum Verband gehörende, in den Niederlanden registrierte Stiftung "Diener des Islam". In Berlin war u. a. die Muhacirin-Moschee in Friedrichshain-Kreuzberg von den Maßnahmen betroffen. Da es weitere Veröffentlichungen der Zeitung "Ümmet-i Muhammed" ("Die Gemeinde Muhammads") und Sendungen des Fernsehkanals HAKK-TV nach dem Verbot gab,456 leitete der Generalbundesanwalt im April 2002 ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannte Angehörige des "Kalifatsstaats" ein. Am 19. September 2002 wurden 16 weitere Teilorganisationen dieser Gruppierung in Baden-Württemberg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen verboten. Auch 2005 erfolgten weitere Exekutivmaßnahmen gegen mutmaßliche Mitglieder des "Kalifatsstaats". Die Verbreitung der dritten vom "Kalifatsstaat" herausgegebenen Zeitung "Barika-i Hakikat" ("Das Aufleuchten der Wahrheit") ab März 2004 wurde noch im selben Jahr wieder eingestellt. Statt dessen stellte die Organisation über einen niederländischen Server neue Seiten in das Internet.457 Das Vereinsverbot, zahlreiche Exekutivmaßnahmen sowie die Abschiebung Metin Kaplans in die Türkei führten zwar zu einer deutlichen Schwächung des "Kalifatsstaats", trotzdem lassen sich Bestrebungen beobachten, verbliebene Strukturen zu reorganisieren. 455 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2001. Berlin 2002, S. 79 ff. 456 In beiden Fällen handelt es sich um die vormaligen Verlautbarungsorgane des "Kalifatsstaats". 457 Nach dem Verbot des "Kalifatsstaats" wurden dessen Internetseiten gesperrt. 236 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 4.2 Sonstige Islamisten 4.2.1 "Tabligh-i Jama'at" / "Jama'at-i Tabligh" ("Gemeinschaft der Verkündigung und Mission") ÜBERSICHT Abkürzung TJ JT Entstehung / Gründung 1927 Indien Mitgliederzahl Bund: ca. 500 Berlin: ca. 50 Organisationsstruktur Organisation Die 1927 in Indien von Muhammad Ilyas (1885 - 1944) gegründete "Tabligh-i Jama'at" (TJ) ist eine pan-islamische Missionierungsbewegung, die hierarchisch organisiert ist und weltweit mehrere Millionen Anhänger umfasst. Ihr organisatorisches und geistiges Zentrum hat die TJ in Indien, Pakistan und Bangladesh, von wo aus die weltweiten Aktivitäten der TJ gesteuert werden. In diesen Zentren werden TJ-Mitglieder aus der ganzen Welt geschult. Die europäische Zentrale der TJ befindet sich in Großbritannien. In Deutschland sind mehrere TJ-Gruppen aktiv, darunter auch in Berlin. Zu den Aktivitäten der TJ gehören Missionsreisen, auf denen Muslime von der Ideologie der TJ überzeugt und als TJ-Mitglieder rekrutiert werden sollen. Die einzelnen TJ-Gruppen werden von der TJ-Führung in Asien hinsichtlich ihrer Missionierungstätigkeiten kontrolliert. Die TJ beschreibt sich selbst als apolitisch und nicht gewaltorientiert. Sie orientiert sich an frühislamischen Vorschriften und Lebensgewohnheiten wie sie im siebten Jahrhundert in Mekka und Medina vorherrschten. Ihr Bemühen, eine am Frühislam orientierte muslimische Idealgesellschaft zu schaffen, schließt ein weitgehend wörtliches Verständnis des Korans und der Sunna ein. Dies hat zur Konsequenz, dass ihre gegenwärtige Vorstellungswelt von der Befürwortung der rechtlichen Benachteiligung der Frau und der Abgrenzung gegenüber Nicht-Muslimen geprägt ist. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - A US L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 237 Erfolgreich Missionierten werden häufig mehrmonatige Schulungsveranstaltungen in pakistanischen Koranschulen vermittelt. Solche intensiven Schulungen sind geeignet, die Teilnehmer zu indoktrinieren und für islamistisches Gedankengut empfänglich zu machen. In Einzelfällen haben Schulungsteilnehmer anschließend den Weg in Mujahidin-Ausbildungslager in Afghanistan gefunden. Auch wenn die Bewegung nach eigenem Bekunden Gewalt ablehnt und sich als unpolitisch darstellt, ist die Gefahr gegeben, dass sie aufgrund ihres strengen Islamsverständnisses und der weltweiten Missionierungstätigkeit islamistische Radikalisierungsprozesse fördert und als Keimzelle zukünftiger Jihadisten bzw. islamistischer Terroristen dient. Vom 5. - 7. Mai 2006 fand in Berlin ein "Deutschlandtreffen" der TJ statt, an dem sich etwa 700 Personen beteiligten. Bei dem Großteil der Teilnehmer handelte es sich um TJ-Mitglieder aus Deutschland. Hinzu kamen TJ-Mitglieder aus dem europäischen Ausland sowie Führungspersonen aus Pakistan und Indien. 4.3 Nicht-gewaltorientierte Islamisten 4.3.1 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. ÜBERSICHT Abkürzung IGMG Entstehung / Gründung 1985 Köln (als Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e. V.) Mitgliederzahl Bund: ca. 26 500 (2005: ca. 26 500) Berlin: ca. 2 900 (2005: ca. 2 900) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Bonn Veröffentlichungen "IGMG Perspektive" (überregional, monatlich) Der Vorläufer dieser islamistischen Organisation wurde 1985 unter der Bezeichnung "Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e. V." (Avrupa Milli Görüs Teskilatlar / AMGT) in Köln gegründet. 1995 238 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 gingen daraus die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) und die "Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft e. V." (EMUG) hervor. Die EMUG ist für die Verwaltung des Immobilienbesitzes der Vereinigung verantwortlich. Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. vertritt eine islamistische Ideologie, die auf das politische Konzept von Necmettin Erbakan zurückgeht, das dieser 1973 in dem gleichnamigen Buch Milli Görüs ("Nationale Sicht") veröffentlichte. Erbakans Ziel ist es, die türkischen Bürger unter dem Dach von Nationalismus und Islamismus zu einen und in der Türkei ein islamistisches Staatswesen zu errichten. Als politisches und gesellschaftliches Ordnungsmodell propagiert er eine "gerechte Ordnung" ("Adil Düzen"), in welcher die Scharia gilt und politisches Handeln sich an den Prinzipien von Koran und Sunna orientiert. Erbakan lehnt wesentliche rechtsstaatliche Prinzipien wie Volkssouveränität oder Parteienpluralismus als unvereinbar mit der "gerechten Ordnung" ab. Im Juli 2002 war im Internet ein Videomitschnitt von Erbakan zu sehen, in dem er einen Systemwechsel nicht allein für die Türkei, sondern auch für die Bundesrepublik Deutschland forderte: "Du willst dich von diesen Sorgen befreien? Um dich von diesen Sorgen befreien zu können, muss aus der Staatsordnung in Deutschland eine 'gerechte Ordnung' werden. Bevor hier keine 'gerechte Ordnung' herrscht, wirst du nicht zu deinem Recht kommen. Alles hängt letztlich davon ab, ob aus der hiesigen Staatsordnung eine gerechte Ordnung wird."458 Eine Äußerung Erbakans anlässlich eines im Oktober 2005 in Istanbul veranstalteten Iftar-Essens zeigt, dass er den Islam als Gesellschaftsmodell betrachtet, das sämtlichen westlichen Gesellschaftssystemen überlegen sein soll: "Wo immer die Imperialisten hinkommen, verbreiten sie Tod und Verderben. Die islamische Zivilisation wird den Menschen Frieden und Gerechtigkeit bringen."459 Auszüge aus einer Rede Erbakans, anlässlich einer Konferenz von ESAM460 am 29. und 30. Mai 2006 in Istanbul, belegen, dass er bis heute an der Milli Görüs-Ideologie festhält: 458 Rede von Necmettin Erbakan: "Adil Düzen" ("Gerechte Ordnung"), 1990. 459 "Milli Gazete" vom 20.10.2005. 460 Ekonomik ve Sosyal Arastrmalar Merkezi (Zentrum für Wirtschaftsund Sozialforschung"). Vorsitzender des ESAM ist der SP-Vorsitzende Recai Kutan. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - A US L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 239 "Die G-7 haben nichts, was sie der Menschheit bieten [...]. Die Basis des Islam ist auf dem Geist begründet, der Menschheit 'eine gerechte Lebensform zu bieten'. Der Gründungszweck der D-8 besteht darin, dass man sich verpflichtet sieht, die Wohltaten und Schönheiten der Welt auf gerechte Weise unter der Menschheit zu verteilen. [...] Milli Görüs ist das Gehirn. Die gerechte Ordnung (Adil Düzen) ist das Herz."461 In seiner Analyse des am 28. und 29. Oktober in Istanbul veranstalteten Internationalen Milli Görüs-Symposiums hebt der Milli GazeteKolumnist Abdullah Özkan hervor, dass die Milli Görüs-Bewegung das "bestehende System" ablehnt. Ein gerechtes politisches System könne nur auf Basis der Milli Görüs-Ideologie entstehen: Die Ideologie der Milli Görüs hat nicht den Willen, sich mit dem bestehenden System in der Welt zu einigen oder zu kooperieren, und möchte kein Zahn im paradoxen Rad der Ausbeutung sein. Die Milli Görüs hält es nicht für möglich, das bestehende System zu reformieren. Denn die Milli Görüs sagt, dass das System falsch errichtet worden sei und dass es unmöglich sei, auf einem morschen Fundament ein stabiles Gebäude zu bauen. Die Gesinnung der Milli Görüs beabsichtigt die Rettung und die Glückseligkeit (saadet) der gesamten Menschheit [...]."462 1970 hatte Necmettin Erbakan auf der Grundlage der Milli GörüsIdeologie - seine erste islamistische Partei in der Türkei gegründet. Im Gegensatz zu Parteiführern des linken und rechten Spektrums konnte er trotz mehrmaliger Parteiverbote und anschließender Neugründungen eine Spaltung seiner Anhängerschaft bis 2001 verhindern. Interne Flügelkämpfe zwischen den so genannten Traditionalisten und den Erneuerern in der "Fazilet Partisi" (FP / "Tugendpartei") führten nach ihrem Verbot im Juni 2001 jedoch zur Gründung von zwei Nachfolgeparteien. Hierzu gehört die im Juli 2001 vom ehemaligen Vorsitzenden der "Tugendpartei", Recai Kutan, gegründete "Saadet Partisi" (SP / "Partei der Glückseligkeit"), in der sich die "Traditionalisten" wiederfinden, die sich zur Milli Görüs-Ideologie und deren Begründer Erbakan bekennen. Die zweite Nachfolgepartei stellt die - im August 2001 vom ehemaligen Istanbuler Oberbürgermeister und früheren Anhänger der FP, Recep Tayyip Erdogan gegründete Adalet ve Kalknma Partisi" (AKP / "Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei") dar, die als politisches Lager der "Erneuerer" gilt. 461 "Milli Gazete" vom 7.6.2006. 462 "Milli Gazete" vom 31.10.2006. 240 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Zwischen IGMG, Necmettin Erbakan und der SP bestehen, wie bei den anderen früher von Erbakan geführten Parteien, enge inhaltliche und personelle Verbindungen. Necmettin Erbakan sowie SP-Parteifunktionäre nehmen häufig an Veranstaltungen der IGMG teil.463 Darüber hinaus sind Funktionäre der IGMG in Ämter der islamistischen Parteien Erbakans in Ankara gewählt worden. 1995 wurden drei ehemalige AMGTMitglieder als Abgeordnete der "Wohlfahrtspartei" in das türkische Parlament gewählt, unter ihnen Osman Yumakogullari, der bis 1995 Vorsitzender der Milli Görüs in Deutschland und Verantwortlicher der Deutschlandausgabe der "Milli Gazete" gewesen war. Seit April 2003 leitet Yumakogullari den Istanbuler SP-Landesverband. Die IGMG präsentiert sich insbesondere seit den Terroranschlägen in den USA vom 11. September 2001 in ihren offiziellen Verlautbarungen als eine auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehende Organisation, die sich für den Dialog zwischen türkischen Muslimen und der deutschen Gesellschaft einsetzt. Von der islamistischen Milli Görüs-Ideologie Erbakans hat sie sich bislang genausowenig distanziert, wie von der "Milli Gazete" - dem Publikationsorgan der SP. In der türkischen Tageszeitung finden sich immer wieder Artikel, in denen offen gegen Juden und Christen polemisiert wird: "Du wirst naturgemäß feststellen, dass die bedeutendsten Feinde der Gläubigen die Juden und Götzendiener sind. Du wirst feststellen, dass die Christen behaupten, dass sie den Gläubigen am nächsten nahe stehen, weil sie Pfarrer und Mönche haben. [...] Jedoch in der Sure Fatima wird uns gelehrt, dass das Wichtigste, was wir von Gott verlangen können, die Wahrheit ist. Diese Wahrheit ist dieselbe Wahrheit, die Gott seine Propheten gelehrt hat und uns wird auch gelehrt zu beten, dass wir nicht den Weg der perversen Christen, die glauben, sie wären auf dem wahren Weg, und der von Gott verfluchten Juden gehen dürfen."464 Die IGMG ist die größte islamistische Organisation in Deutschland. Durch Mitgliedsbeiträge und Spenden verfügt sie über erhebliche finanzielle Mittel. Dies ermöglicht es ihr, eine Vielzahl von Aktivitäten anzubieten. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in der Erziehungsund Bildungsarbeit für Kinder und Jugendliche. Sefer Ahmetoglu, ein für die IGMG-Zentrale tätiger Imam, führte hierzu in der "Milli Gazete" aus: 463 Vgl. S. 121 - 122. 464 "Milli Gazete", Onlineausgabe vom 14.7.2004. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - A US L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 241 "Einige unserer Brüder erwerben Häuser und Wohnungen, die weit von den Moscheen entfernt sind. Auf diese Weise vernachlässigen sie den Besuch der Gemeinde. [...] Sie selbst verlieren langsam das Interesse an der Gemeinde. Weil sie in weiter Entfernung zu den Moscheen wohnen, müssen ihre Töchter und Söhne muslimische Freunde und das muslimische Umfeld entbehren. [...] Sie sind gezwungen, Freundschaften mit Personen einzugehen, die nicht zu ihrem Glauben und zu ihrer Mentalität passen. Deswegen mache ich eindringlich darauf aufmerksam, dass Muslime unbedingt in der Nähe von Moscheen wohnen sollten. Sie sollten sich in einem islamischen Umfeld aufhalten und sich nicht von den Moscheen und Gemeinden entfernen. Wir haben damit viel Erfahrung. Wenn wir dieser Situation keine besondere Aufmerksamkeit schenken, stehen wir der großen Gefahr gegenüber, unsere [junge] Generation und unseren Glauben zu verlieren. [...]"465 Die zahlreichen Angebote sowie die Mitarbeit in islamischen Dachverbänden nutzt die IGMG auch für ihr Bestreben, hinsichtlich der Interessenvertretung der in Deutschland lebenden türkischen Muslime eine Vorrangstellung einzunehmen. Im Oktober 2002 trat der Vorsitzende des IGMG-Hauptverbandes, Mehmet Sabri Erbakan, von seinem Amt zurück. Dieser Schritt, die deutliche Niederlage der SP von Necmettin Erbakan bei den türkischen Parlamentswahlen vom 3. November 2002 sowie der Wahlsieg der "Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei" (AKP) von Recep Tayyip Erdogan466 lösten in der IGMG in Deutschland eine Krise aus und führten zu internen Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten und Reformern über die zukünftige Ausrichtung der Organisation. Die Traditionalisten in der IGMG erwarten, dass die Organisation ihre Arbeit weiter auf die Verwirklichung politischer Ziele in der Türkei orientiert und Necmettin Erbakans Forderungen nachkommt. Die Reformer hingegen fordern eine Neuausrichtung auf die veränderten Bedürfnisse vor allem der Anhänger der zweiten und dritten Generation in Europa. Diese wünschen den Ausbau des religiösen und sozialen Angebots. Sie fordern eine Emanzipation von Erbakan sowie der SP und wollen mehr Mitbestimmung in der IGMG durchsetzen. Die IGMG-Führung versuchte in der darauffolgenden Zeit, beiden Positionen gerecht zu werden, um eine Spaltung des Verbandes zu vermeiden. Dabei wurden Positionen vertreten, die nicht miteinander ver465 "Milli Gazete" vom 27.12.2002. 466 Von ehemals 15,4 Prozent vor der Spaltung der islamistischen Partei sank das Ergebnis der SP auf 2,5 Prozent. Die AKP erhielt dagegen 34,2 Prozent der Wählerstimmen. 242 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 einbar sind. So bekannte sich der IGMG-Generalsekretär Oguz Ücüncü in zwei Zeitungsinterviews467 zu Menschenrechten, Gleichberechtigung und Pluralismus, erklärte aber gleichzeitig, dass er bei der Parlamentswahl 2002 Necmettin Erbakans SP gewählt habe und dass Erbakan für die IGMG eine Integrationsfigur sei. Angesichts der Programmatik der SP, die den demokratischen Rechtsstaat zugunsten einer islamistischen Staatsordnung abschaffen will, ist Ücüncüs Bekenntnis zur Demokratie widersprüchlich und damit fragwürdig. Die ambivalenten Äußerungen des Generalsekretärs Ücüncü zeigen, dass die IGMG eine Distanzierung von Necmettin Erbakan und seiner islamistischen Milli Görüs-Ideologie vermeidet. Mit dieser Strategie ist es der IGMG-Führung bislang gelungen, eine Spaltung zu verhindern; die Glaubwürdigkeit des Verbandes in der deutschen Öffentlichkeit fördert dies nicht. Eine programmatische Neuausrichtung und Reformierung des Verbandes ist nicht zu erwarten. 467 Vgl. "Welt" vom 11.8.2004; "tageszeitung" vom 7.5.2004. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - A US L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 243 4.3.2 "Muslimbruderschaft" / "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." ÜBERSICHT Abkürzung MB IGD Entstehung / Gründung 1928 Ägypten (MB) 1960 Deutschland (IGD) Mitgliederzahl Bund: ca. 1 300 (2005: ca. 1 300) Berlin: ca. 100 (2005: ca. 100) Organisationsstruktur Eingetragener Verein (IGD) Die 1928 in Ägypten gegründete "Muslimbruderschaft" (MB) ist die älteste und zugleich bedeutendste arabische islamistische Gruppierung. Die pan-islamistische Organisation ist heute, teils u. a. Namen, in fast allen Ländern des Vorderen Orients vertreten und unterhält auch Zweige in westeuropäischen Ländern. In den meisten nahöstlichen Staaten bildet die MB eine halbbis illegale Opposition zur Regierung, wobei ihre Aktivitäten von den jeweiligen politischen Verhältnissen abhängen: Während in Syrien der Aufstand gegen die Staatsmacht 1982 gewaltsam beendet wurde, nahm die Bereitschaft der MB zur Anpassung dort zu, wo eine Einbindung in den parlamentarischen Prozess gelang. Dies war in Ägypten bereits in den 80er Jahren der Fall; auch in Jordanien ist die MB im Parlament vertreten. Die ägyptische MB, größte der MB-Organisationen, durchlief verschiedene historische Phasen: In ihrer Frühphase in den 20er und 30er Jahren hatte für sie die Lehre und Erziehung der Gläubigen Vorrang. In den 40er, 50er und 60er Jahren agierte sie militant und verübte zahlreiche politische Attentate auf Repräsentanten des ägyptischen Staates. Höhepunkt der drei Jahrzehnte andauernden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen MB und dem Staat war die Hinrichtung ihres Chefideologen Sayyid Qutb 1966. Als nicht mehr gewaltorientiert gilt die ägyptische MB erst nach Abspaltung ihrer militanten Flügel in den späten 70er Jahren (mit dem Entstehen der terroristischen Gruppen 244 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 "Takfir wa'l-Hijra"468 und "al-Jihad al-Islami"). Darauf folgte eine Phase der Integrationsbereitschaft in das politische System. Der Entschluss der MB, sich im politischen System Ägyptens auch an Wahlen zu beteiligen und im Parlament mitzuarbeiten, wird teilweise als ein "Marsch durch die Institutionen" gewertet. Ideologisch verkörpert die MB ein breites Spektrum, das bis zur Schaffung einer so genannten "islamischen Demokratie" reicht. Aus den 30er Jahren stammt der Anspruch der MB, dass es eine "Ordnung des Islams" gebe. Dieser relativ unkonkrete Anspruch definiert die islamische Religion als ein "System", das "zu jeder Zeit und an jedem Ort" anwendbar sein soll und das den Koran und die Sunna zur Richtschnur politischen Handelns erhebt. Zeitgenössische Vorstellungen zu Staat und Gesellschaft vertritt die MB mit der Forderung nach "Anwendung der Scharia", des islamischen Rechts und der Schaffung eines islamistischen Staatswesens. Da in diesem islamistischen Staatswesen Religion und Staat nicht getrennt sein sollen, wäre das von der MB angestrebte Staatswesen zwangsläufig ein Staat, der westlichen Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zuwiderläuft. Ambivalenz kennzeichnet nach wie vor die Haltung der MB in der Gewaltfrage. Zwar lehnt sie seit den 70er Jahren Gewaltanwendung zur Durchsetzung ihrer politischen Agenda ab. Andererseits befürwort die MB Gewalt in spezifischen Konflikten - etwa im israelisch-palästinensischen Konflikt. Hier rechtfertigt die MB den militanten Jihad mit einer Verteidigungssituation und erklärt ihn für vermeintlich legitim. In einschlägigen Äußerungen führender MB-Vertreter, die bis zur expliziten Verneinung des Existenzrechts Israels reichen, werden Jihad und Selbstmordanschläge mit der militärischen Unterlegenheit der Palästinenser gegenüber Israel sowie mit dem vermeintlich militärischen Charakter der israelischen Gesellschaft zu begründen versucht. So äußerte der seit 2004 amtierende "Oberste Führer" der ägyptischen MB, Mohammad Mahdi Akif, dass es "für Israels Existenz in der Region keinen Grund gibt". Ferner prophezeite er, dass die MB bei einer Macht468 Wörtlich übersetzt: "Exkommunizierung [des bestehenden Gesellschaftssystems] und [innere] Emigration". Das Wort "Hijra" (wörtlich "Auswanderung") bezieht sich zugleich auf die 622 a. D. erfolgte "Auswanderung" des Propheten Muhammad von Mekka nach Medina, wo er die Grundlagen des ersten islamischen Gemeinwesens schuf. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - A US L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 245 übernahme in Ägypten das zwischen Ägypten und Israel 1979 unterzeichnete Friedensabkommen annullieren werde.469 In Deutschland werden die Interessen der MB von der 1960 gegründeten "Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) vertreten, die unter dem Einfluss der ägyptischen MB steht. Der IGD gehören mehrere Islamische Zentren in Deutschland an. Ihre Hauptaktivitäten sind gegenwärtig auf die Organisierung und die Ausrichtung der in Deutschland lebenden Muslime im Sinne der Ideologie der MB gerichtet. Als Berliner Treffpunkt für Anhänger der MB gilt das "Islamische Kulturund Erziehungszentrum Berlin e. V." Am 25. November 2006 hielt die IGD im ICC Hamburg ihre 28. Jahreskonferenz ab. Die Veranstaltung stand unter dem Motto "Der Prophet Muhammad - Barmherzigkeit für die Menschheit". 469 Vgl. "al-Hayat" vom 6.10.2006. 246 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 4.4 Linksextremisten470 4.4.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" / "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" / "Volkskongress Kurdistans" ÜBERSICHT Abkürzung PKK KADEK KONGRA-GEL Entstehung / Gründung 1978 Türkei Mitgliederzahl Bund: ca. 11 500 (2005: ca. 11 500) Berlin: ca. 1 000 (2005: ca. 1 050) Organisationsstruktur Türkei: Verbotene Organisation Deutschland: 1993 vereinsrechtliches Betätigungsverbot (gilt in der Nachfolge auch für KADEK und KONGRA-GEL) Veröffentlichungen "Serxwebun" ("Unabhängigkeit") (überregional, monatlich) Die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK)471 wurde 1978 vor dem Hintergrund des jahrzehntelangen Konflikts der im Ländereck Türkei, Iran, Irak und Syrien lebenden 25 Millionen Kurden im Südosten der Türkei gegründet. Erklärtes Ziel der Organisation war die Anerkennung der Kurden als Nation und die Erlangung der politischen Autonomie für die kurdische Minderheit innerhalb des türkischen Staatsgebiets. Von 1984 bis 1999 führte die PKK in der südöstlichen Türkei einen Guerillakrieg für ein unabhängiges Kurdistan. 1992 und 1993 verübten Anhänger der PKK zahlreiche Brandanschläge auf türkische Einrichtungen in Deutschland; bei Demonstrationen kam es wiederholt zu Auseinandersetzungen. Am 24. Juni 1993 besetzten 13 Kurden das türkische Generalkonsulat in München und nahmen 20 Gei470 Es handelt sich um Organisationen, die regional im Ausland (z. B. im jeweiligen Heimatland) mit Gewalttaten in Erscheinung treten. In Deutschland verhalten sich die Anhänger dieser Organisationen weitgehend gewaltfrei. 471 Kurdisch: "Partiya Karkeren Kurdistan". H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - A US L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 247 seln. Die gewalttätigen Aktionen führten 1993 zum vereinsrechtlichen Betätigungsverbot in Deutschland. Ab Mitte 1996 bis zur Festnahme des PKK-Führers Abdullah Öcalan im Jahre 1999 verliefen Demonstrationen und Kundgebungen der Anhänger der PKK in Deutschland in der Regel gewaltfrei. Die Festnahme und die Auslieferung Öcalans an die Türkei führte dagegen zu weltweiten militanten Protesten. In Berlin erstürmten am 17. Februar 1999 PKK-Anhänger das israelische Generalkonsulat, wobei vier Kurden von israelischen Sicherheitskräften erschossen wurden. Seit 1999 verfolgte die Organisation einen strategischen Kurswechsel mit dem Ziel, sich durch die Ankündigung von internen Reformen als politischer Gesprächpartner zu etablieren. Dieser Reformprozess wurde nach außen sichtbar gemacht, indem die Organisation sich selbst wie auch ihre Teilund Nebenorganisationen mehrfach umbenannte. Allerdings blieben die bisherigen Hierarchieund Befehlsstrukturen erhalten. Nachdem 2002 die Einstellung aller Tätigkeiten unter dem Namen PKK beschlossen worden war, wurde der "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK)472 gegründet. Der KADEK beschloss bereits im Jahr 2003 seine Auflösung. Kurz darauf gab der "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA-GEL)473 seine Gründung bekannt. 2005 wurden - in Umsetzung der Programmatik des von Abdullah Öcalan geprägten "demokratischen Konföderalismus" - eine "neue" PKK sowie die "Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans" (KKK)474 gegründet, in die auch der KONGRA-GEL eingebunden ist. Parallel dazu wurde aus der ursprünglichen Jugendorganisation der PKK, der "Union der Jugendlichen Kurdistans" (YCK)475, 2003 die "Bewegung der freien Jugend Kurdistans" (TECAK)476 und 2005 die "Koma Komalen Ciwanen Demokratik a Kurdistan" (KOMALEN CIWAN)477. 472 Kurdisch: "Kongreya Azadi u Demokrasiya Kurdistan". 473 Kurdisch: "Kongra Gele Kurdistan". 474 Kurdisch: "Koma Komalen Kurdistan". 475 Kurdisch: "Yekitiya Ciwanen Kurdistan". 476 Kurdisch: "Tevgera Ciwanen Azad a Kurdistane". 477 Übersetzt etwa: "Gemeinschaft der Kommunen der demokratischen Jugend Kurdistans". 248 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Im Jahr 2004 wechselte die bisherige Frauenorganisation "Partei der Freien Frau" (PJA)478 ihren Namen in "Freiheitspartei der Frauen Kurdistans" (PAJK)479. Seit 2005 ist diese ideologische Organisation - neben der Frauen-Guerilla und einer politisch-sozialen Frauenbewegung - Teil der "Union der stolzen Frauen" (KJB)480. Außerdem reorganisierte sich im Jahr 2004 die "Demokratische Union des kurdischen Volkes" (YDK)481 unter der Bezeichnung "Koordination der Demokratischen Gesellschaft Kurdistans" (CDK)482. Die YDK war Anfang Mai 2000 als Ersatzorganisation für die im Januar 2000 aufgelöste und 1993 durch den Bundesminister des Innern verbotene "Nationale Befreiungsfront Kurdistans" (ERNK)483 gegründet worden, die auf internationaler Ebene für die politische Arbeit der PKK zuständig gewesen war. Im Gegensatz zu diesen als Reformprozess deklarierten Veränderungen steht die Tatsache, dass die Guerillaeinheiten der PKK, die "Volksverteidigungskräfte" (HPG)484, bereits zum 1. Juni 2004 den am 1. September 1998 von Öcalan erklärten "einseitigen Waffenstillstand" aufgekündigt hatten und seitdem - mit kurzen Unterbrechungen - erneut offensiv gekämpft wurde. Dies führte, zusammen mit terroristischen Anschlägen der "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK)485, einer nach eigenen Angaben aus den HPG entstandenen Gruppe, in diesem Jahr zu einer Eskalation der Situation. Auf Druck von verschiedenen Seiten rief daraufhin Öcalan zu einem erneuten "einseitigen Waffenstillstand" auf, der seit dem 1. Oktober in Kraft ist. 478 Kurdisch: "Partiya Jina Azad". 479 Kurdisch: "Partiya Azadiya Jin a Kurdistan". 480 Kurdisch: "Koma Jinen Bilind". 481 Kurdisch: "Yekitiya Demokratika Gele Kurd". 482 Kurdisch: "Koordinasyona Civaka Demokratik a Kurdistan". 483 Kurdisch: "Eniya Rizgariya Netewa Kurdistan". 484 Kurdisch: "Hezen Parastina Gel", früher "Volksbefreiungsarmee Kurdistans" (ARGK, von kurdisch: Artesa Rizgariya Gele Kurdistan). 485 Kurdisch: "Teyrebazen Azadiya Kurdistan". H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - A US L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 249 4.4.2 "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" ÜBERSICHT Abkürzung MLKP Entstehung / Gründung 1994 Türkei Mitgliederzahl Bund: ca. 600 (2005: ca. 600) Berlin: ca. 25 (2005: ca. 25) Organisationsstruktur Türkei: Verbotene Organisation Deutschland: Vereine, MLKP-Verbindungen verschleiert Veröffentlichungen Atlm (Vorstoß) (überregional, täglich) "Partinin Sesi" ("Stimme der Partei") (überregional, täglich) Ziel der "Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei" (MLKP) ist die Errichtung eines kommunistischen Gesellschaftssystems in der Türkei auf der Basis der Ideologie des Marxismus-Leninismus. Hierbei versteht sich die Organisation als die authentische Stimme des Proletariats einer gemeinsamen türkisch-kurdischen Nation sowie als Vertreterin nationaler Minderheiten. In der Türkei versucht die MLKP, ihre politischen Ziele auch mit terroristischen Mitteln durchzusetzen. Hierzu bedient sie sich ihres militärischen Arms, der so genannten "Bewaffneten Streitkräfte der Armen und Unterdrückten" (FESK). Bereits seit mehreren Jahren sind die MLKP und ihr zugehörige Organisationen für über drei Viertel der Anschläge linksextremistischer Gruppierungen in der Türkei verantwortlich. In Deutschland agiert die MLKP vor allem auf öffentlichen Veranstaltungen, die sich hauptsächlich auf aktuelle Ereignisse in der Türkei beziehen. Auf Spruchbändern und Flugblättern wird anstelle der Bezeichnung MLKP meist der Begriff "Föderation der Arbeitsimmigranten aus der Türkei in Deutschland e. V. (AGIF) verwendet. Bei der AGÄdegF handelt es sich um einen Dachverband MLKP-orientierter Vereine 250 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 in Deutschland, dessen Programmatik sich gegen "Imperialismus" und "Globalisierung" richtet. 4.4.3 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" / "Volksbefreiungspartei-Front der Türkei - Revolutionäre Linke" ÜBERSICHT Abkürzung DHKP-C THKP-C Entstehung / Gründung 1994 Türkei Mitgliederzahl Bund: ca. 650 (2005: ca. 650) Berlin: ca. 65 (2005: ca. 65) Organisationsstruktur Türkei: Verbotene Organisation Deutschland: 1998 Vereinsverbot Veröffentlichungen Yürüyüs (Protestmarsch) (überregional, wöchentlich) "Devrimci Sol" ("Revolutionäre Linke") Die miteinander rivalisierenden Organisationen "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) und "Volksbefreiungspartei-Front der Türkei - Revolutionäre Linke" (THKP-C / "Devrimci Sol") sind aus der 1978 in der Türkei gegründeten Organisation "Devrimci Sol" ("Revolutionäre Linke") hervorgegangen, die 1983 in Deutschland verboten wurde. Beide Organisationen sind in der Türkei terroristisch aktiv und streben die Beseitigung des türkischen Staatsgefüges und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Ideologie an. Sie wurden am 13. August 1998 durch den Bundesminister des Innern verboten. Die DHKP-C ist auch unter den Namen "Revolutionäre Volksbefreiungspartei" (DHKP) bzw. "Revolutionäre Volksbefreiungsfront" (DHKC) aktiv. Meist wird die DHKC als "bewaffneter Arm" der Organisation bezeichnet. Laut Statut kämpft die DHKP-C für die "Befreiung der türkischen und kurdischen Nation und aller anderen Nationen". Die DHKP-C geht davon aus, dass es in einem "vom Imperialismus abhängigen, durch den H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - A US L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 251 Faschismus regierten Land unmöglich" sei, die Machtverhältnisse durch Wahlen zu verändern. Deshalb könne "die faschistische Macht, die unter der Kontrolle des Imperialismus und der Oligarchie [stehe], nur durch den bewaffneten Kampf des Volkes zerstört werden". Personen, deren Aktivitäten sich gegen die "Revolution" richten, droht die DHKP-C eine "gnadenlose Bestrafung"486 an. Nach einer zeitlichen Unterbrechung ist die DHKC seit 2003 in der Türkei terroristisch aktiv. Selbstbezichtigungen der Organisation erscheinen jeweils zeitnah im Internet und sind sogar in deutscher Übersetzung verfügbar. In Deutschland engagieren sich DHKP-C-nahe Organisationen wie zum Beispiel das "Tayad-Komitee" ("Solidaritätsverein der Familien von Inhaftierten und Verurteilten"487) seit November 2000 in Form von Solidaritätskundgebungen für die Hungerstreikenden in den türkischen Gefängnissen488 und führten auch in diesem Jahr Protestkundgebungen in Berlin durch. 486 Programm der DHKP. 487 Abgeleitet aus der türkischen Bezeichnung Tutuklu Hükümlü Aileleri Yardmlasma Dernegi (TAYAD). 488 Die DHKP-C ist die einzige türkische linksextremistische Organisation, deren Mitglieder weiterhin versuchen, ihre politischen Ziele durch Hungerstreikaktionen durchzusetzen. 252 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 4.4.4 "Kommunistische Partei der Türkei / Marxisten-Leninisten" MKP Partisan ÜBERSICHT Abkürzung TKP / ML (heute: TKP / ML-Partizan bzw. MKP) 1972 Türkei Entstehung / Gründung Mitgliederzahl Bund: ca. 1 300 (2005: ca. 1 300) Berlin: ca. 95 (2005: ca. 95) Organisationsstruktur Türkei: Verbotene Organisation Deutschland: Vereine, TKP / ML-Partizanbzw. MKPVerbindung verschleiert Veröffentlichungen TKP / ML: Özgür Gelecek Yolunda Isci Köylü (Arbeiter und Bauern auf dem Weg zur freien Zukunft") (überregional, zweiwöchentlich) MKP: "Halk icin Devrimci Demokrasi" ("Revolutionäre Demokratie für das Volk") (zweiwöchentlich) MKP: Halk Savas (Volkskrieg) (monatlich) Flugblätter Die "Kommunistische Partei der Türkei / Marxisten-Leninisten" (TKP / ML) ist seit 1994 in zwei Flügel gespalten. Der "Partizan-Flügel" verfügt über bewaffnete Einheiten, die die Bezeichnung "Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee der Türkei (TIKKO) tragen. Der zweite Flügel - bis Dezember 2002 unter dem Namen "Ostanatolisches Gebietskomitee" (DABK) aktiv - ist die "Maoistische Kommunistische Partei" (MKP), deren bewaffnete Einheiten heute als "Volksbefreiungsarmee" (HKO) agieren. Beide Flügel sind marxistisch-leninistisch und sozialrevolutionär beziehungsweise maoistisch orientiert und streben die gewaltsame Beseitigung der staatlichen Ordnung in der Türkei an, um dort ein kommunistisches Gesellschaftssystem zu errichten. Beide Organisationen verüben unabhängig voneinander Anschläge gegen den türkischen Staat und führen einen Guerillakampf gegen die als "faschistisch" bezeichneten Streitkräfte der Türkei. H IN TE R G R UN D IN F O R M A TIO N E N - A US L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 253 Zum Umfeld der TKP / ML gehören in Deutschland und in anderen europäischen Ländern verschiedene Dachorganisationen. Dem "Partizan-Flügel" nahe stehen die Organisationen "Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e. V. (ATIF) und die Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK). Bezüge zur MKP weisen die Dachorganisationen "Föderation für demokratische Rechte in Deutschland e. V." (ADHF) und "Konföderation für demokratische Rechte in Europa" (ADHK) auf. 4.4.5 "Volksmojahedin Iran-Organisation" / "Nationaler Widerstandsrat Iran" ÜBERSICHT Abkürzung MEK NWRI Entstehung / Gründung 1965 Iran 1981 Paris / in Deutschland vertreten seit 1994 (NWRI) Mitgliederzahl Bund: ca. 900 (2005: ca. 900) Berlin: ca. 45 (2005: ca. 35) Organisationsstruktur Verein (NWRI) Sitz Bei Paris (MEK) Berlin (NWRI) Veröffentlichungen "Mojahed" (überregional, wöchentlich) Flugblätter Die "Volksmojahedin Iran-Organisation" (MEK) ist die bedeutendste und war in der Vergangenheit auch die militanteste iranische Oppositionsgruppe. Ihr Hauptziel ist die Beseitigung des politischen Systems der Islamischen Republik Iran. Zu diesem Zweck verübte sie über ihren ehemals bewaffneten Arm, die "Nationale Befreiungsarmee" (NLA), bis zum Sturz Saddam Husseins terroristische Anschläge im Iran. Durch die Entwicklungen im Irak - dessen militärische und politische Unterstützung die MEK vorher hatte - ist die Organisation nachhaltig getroffen: Nach der Zerschlagung der NLA, der Auflösung ihrer Lager 254 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 im Irak und der Internierung der im Hauptstützpunkt "Camp Ashraf" bei Bagdad verbliebenen MEK-Angehörigen, denen der Status von "geschützten Personen" nach den Bestimmungen der Vierten Genfer Konvention zuerkannt wurde, befindet sich die MEK in einem Zustand der Umorientierung. Die Organisation beschränkt ihre Aktivitäten auf politische Agitation, ohne dass sie ausdrücklich auf Gewaltanwendung als Handlungsoption verzichtet hätte. Auch die Einstufung der MEK als terroristische Vereinigung in den Listen terroristischer Organisationen der EU und der USA hat dazu beigetragen. Besondere Bedeutung kommt dem "Nationalen Widerstandsrat Iran" (NWRI) als dem international agierenden politischen Arm der MEK zu: Dessen Aktivitäten konzentrieren sich darauf, sich als friedliche und demokratische Exil-Oppositionsbewegung darzustellen, um so internationale politische Unterstützung zu gewinnen und die angestrebte Streichung von den Listen terroristischer Organisationen der EU und der USA zu erreichen.489 Dafür bedient sich die Organisation einer geschickten Lobbyarbeit unter Einbindung von gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsträgern, insbesondere Parlamentariern und Menschenrechtsorganisationen. Zudem werden im Rahmen von Kundgebungen, Unterschriftenaktionen und Informationsständen vor allem Menschenrechtsverletzungen durch die Islamische Republik Iran angeprangert. Zur Finanzierung der Aktivitäten werden Spendengeldsammlungen unter Vortäuschung humanitärer Ziele durchgeführt. In Berlin tritt in diesem Zusammenhang vor allem der dem NWRI nahe stehende, in Düsseldorf eingetragene Verein "Menschenrechtszentrum für ExiliranerInnen e. V." (MEI) auf.490 489 Vgl. S. 146. 490 Vgl. S. 144. Hintergrundinformationen - Ausländerextremismus 255 Verfassungsschutz Berlin 256 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 1 STRUKTUR Verfassungsschutzbehörde für das Land Berlin ist die Senatsverwaltung für Inneres und Sport. Die Aufgaben werden durch die Abteilung II wahrgenommen: Abteilung II - Verfassungsschutz - Abteilungsleiterin Referat II A Referat II B Referat II C Referat II D Grundsatz, Recht, Auswertung Auswertung AusBeschaffung Öffentlichkeitsarbeit, Rechtsextremismus, länderextremismus Verwaltung, InforLinksextremismus Geheimschutz mationstechnik Spionageabwehr Während das Grundsatzreferat II A Querschnittsaufgaben wie Verwaltung, Recht, Informationstechnik und Öffentlichkeitsarbeit abdeckt, sind die Auswertungsreferate II B und II C für die Analyse und Bewertung von Informationen zuständig. Das Referat II D beschafft Informationen mit nachrichtendienstlichen Mitteln. Für die Aufgaben des Verfassungsschutzes standen im Jahr 2006 Haushaltsmittel in Höhe von 9,06 Mio. EUR zur Verfügung (2005: 8,4 Mio. EUR). Der Abteilung waren 186 Stellen zugewiesen (2005: 192). VE R F A S S UN G S S C H U T Z B E R L IN 257 2 GESETZLICHE GRUNDLAGEN 2.1 Aufgaben und Befugnisse Die Arbeit des Verfassungsschutzes ist hinsichtlich der Aufgabenstellungen, der Befugnisse und der Kontrollverfahren im Grundgesetz und in Einzelgesetzen festgeschrieben.491 Von Bedeutung sind hier: das Grundgesetz (GG), Artikel 73 und 87, das Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin (VSG Bln),492 das Gesetz zur Beschränkung des Postund Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz)493 sowie das Gesetz zur Ausführung des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz,494 das Bundesverfassungsschutzgesetz,495 das Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz.496 2.2 Entwicklungen in der Rechtsprechung Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg (OVG) hat am 6. April über die Berufung des Landes Berlin gegen ein Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin entschieden.497 In der ersten Instanz war das Land Berlin 1998 verurteilt worden, die weitere nachrichtendienstliche Beobachtung der Partei "Die Republikaner" (REP) zu unterlassen. Des Weiteren war festgestellt worden, dass die Aufnahme der Klägerin in den Verfassungsschutzbericht 1997 rechtswidrig war. Gegen diese Entscheidung hatte das Land Berlin Berufung eingelegt. 491 Detaillierte Darstellungen sowie Gesetzestexte sind auf der Internetseite des Verfassungsschutzes unter www.verfassungsschutz-berlin.de/Grundlagen eingestellt. 492 GVBl. Nr. 28 vom 21.7.2001, S. 235, zuletzt geändert durch Gesetz vom 5.12.2003 (GVBl. S. 571). Der vollständige Gesetzestext ist im Anhang abgedruckt und kann u. a. auf der Internetseite des Berliner Verfassungsschutzes unter www.verfassungsschutz-berlin.de abgerufen werden. 493 BGBl. I S. 1254 ff. vom 26.6.2001, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.8.2002 (BGBl. I S. 3390 f). 494 Gesetz vom 25.6.2001 (GVBl. S. 251), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5.12.2003. 495 Gesetz vom 20.12.1990 (BGBl. I S. 2954) zuletzt geändert durch Art. 10, 2 und 1 des Gesetzes vom 5.1.2007 (BGBl. I S. 2). 496 GVBl. Nr. 28 vom 21.7.2001, S. 243. 497 Vgl. Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Az.: OVG 3 B 3.99. 258 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Das OVG Berlin-Brandenburg bestätigte nun die Entscheidung des Verwaltungsgerichts hinsichtlich der Aufnahme in den Verfassungsschutzbericht 1997. Das Gericht legt dabei den SS 26 Satz 1 VSG Bln (Unterrichtung der Öffentlichkeit) eng aus. Danach hat der Verfassungsschutz die Öffentlichkeit über verfassungsfeindliche Bestrebungen zu unterrichten.498 Nach Auffassung des Gerichts reicht es für die Aufnahme in den Verfassungsschutzbericht nicht aus, dass bei Organisationen tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen vorliegen; vielmehr müssen diese tatsächlich verfassungsfeindlich sein. Die Darstellung von Verdachtsfällen im Verfassungsschutzbericht wird vom OVG Berlin-Brandenburg für unzulässig gehalten.499 Es legt somit für Veröffentlichungen im Verfassungsschutzbericht strengere Maßstäbe an als für die Beobachtung einer Gruppierung, da hierfür tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht der in SS 5 Abs. 2 VSG Bln genannten Bestrebungen ausreichen. Zur Frage der Beobachtung mit nachrichtendienstlichen Mitteln wurde der Rechtsstreit von den Beteiligten für erledigt erklärt. 498 Vgl. SS 5 Abs. 2 LfVG / VSG Bln. 499 Das OVG Berlin-Brandenburg urteilte hier anders als das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE, 1BvR 1072/01), das allerdings über eine andere gesetzliche Grundlage zu entscheiden hatte (Verfassungsschutzgesetz NRW SS 15 Abs. 2). VE R F A S S UN G S S C H U T Z B E R L IN 259 2.3 Kontrolle Die Verfassungsschutzbehörde unterliegt bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben einer weitgehenden Kontrolle auf mehreren Ebenen: Öffentliche Revision Kontrolle Kontrollinstanz der durch Bürger und Leitung der Medien Senatsverwaltung für Inneres und Sport Datenschutz Allgemeine Beauftragter für parlamentarische Datenschutz und Kontrolle durch das Informationsfreiheit Abgeordnetenhaus Debatten, Aktuelle Abteilung II Stunden, Kleine und - VerfassungsGroße Anfragen, schutz - Petitionen Gerichtliche Kontrolle Besondere parlamentarische durch VerwaltungsKontrolle gerichte Ausschuss für Verfassungsschutz / ggf. Untersuchungsausschuss G10-Kommission Vertrauensperson Kontrolle von des Ausschusses für Eingriffen in das Verfassungsschutz Postund Fernmeldegeheimnis nach Art. 10 GG 260 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 3 ARBEITSWEISE Der Verfassungsschutz Berlin hat laut VSG Bln die Aufgabe, den Senat und das Abgeordnetenhaus, andere zuständige staatliche Stellen und die Öffentlichkeit über Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung zu unterrichten.500 Die Behörde beschafft Informationen, analysiert sie und unterrichtet Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit über ihre Erkenntnisse. 3.1 Informationsbeschaffung Bei der Informationsbeschaffung ist zwischen offenen und verdeckt erhobenen Informationen zu unterscheiden. Der Verfassungsschutz erhält einen hohen Anteil seiner Informationen aus allgemein zugänglichen Veröffentlichungen und Veranstaltungen. Nachrichtendienstliche Mittel dürfen nach dem VSG Bln eingesetzt werden, wenn verfassungsfeindliche Bestrebungen weitgehend konspirativ agieren und sich wegen der Abschottung auf andere Weise keine Informationen gewinnen lassen. Nach den Vorgaben des VSG Bln darf der Einsatz dieser Mittel nur erfolgen, wenn sie im Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachverhalts stehen. Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel kommt deshalb erst dann in Betracht, wenn die anderen Mittel der Nachrichtenbeschaffung erschöpft sind, d. h. wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Zu den nachrichtendienstlichen Mitteln zählen der Einsatz von Vertrauenspersonen (so genannten V-Personen, die aus Beobachtungsobjekten berichten),501 die Observation sowie die Überwachung des Postund 500 Vgl. SSSS 1, 5 und 6 VSG Bln. 501 Die Informationsbeschaffung durch V-Personen ist ein Kernbereich nachrichtendienstlicher Arbeit, der in einem außerordentlichen Spannungsfeld steht: Einerseits bedarf es des Schutzes unserer freiheitlichen Demokratie, andererseits der Beschaffung von Informationen durch Mitglieder extremistischer Organisationen. V-Personen sind Privatpersonen, die in der Regel der zu beobachtenden verfassungsfeindlichen Organisation angehören oder ihr nahe stehen. Sie berichten über deren Strukturen und Aktivitäten. Der Gesetzgeber hat dieses Mittel der Informationsbeschaffung den Verfassungsschutzbehörden ausdrücklich zugewiesen (SS 8 Abs. 2 Nr. 1 VSG Bln). Aufgrund der besonderen Sensibilität der Maßnahme sind dem Einsatz von V-Personen aber enge rechtsstaatliche Grenzen gesetzt. Voraussetzung beim Einsatz von V-Personen ist die Vertraulichkeit (so genannter Quellenschutz). Vgl. auch Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutz - nehmen Sie uns unter die Lupe. Berlin 2002. VE R F A S S UN G S S C H U T Z B E R L IN 261 Fernmeldeverkehrs, deren besonders engen rechtlichen Voraussetzungen im Gesetz zu Artikel 10 GG502 geregelt sind. Zur Bekämpfung gewalttätiger, insbesondere terroristischer Bestrebungen dürfen Anfragen an Luftverkehrsunternehmen, Telekommunikationsanbieter und Kreditinstitute gestellt werden. Gerade zur Aufklärung islamistischer terroristischer Netzwerke kann es erforderlich sein, Flüge festzustellen, Finanzierungsströme aufzuklären und Telefonverbindungsdaten zur Feststellung von Kontakten zu erlangen. Wegen der Eingriffstiefe dieser Befugnisse wurde die Umsetzung 2005 auf Bundesebene evaluiert. Danach wurden die Regelungen als erfolgreich und angemessen bewertet. Auf der Grundlage dieser Evaluation hat der Bundesgesetzgeber im so genannten Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz503 diese Instrumente nicht nur für weitere fünf Jahre bestätigt, sondern auch Voraussetzungen für ihren Einsatz je nach Eingriffstiefe differenziert. Zudem wurde der Anwendungsbereich ausgeweitet. Die Anfragen können vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) nunmehr auch eingesetzt werden, wenn schwerwiegende Gefahren abzuwehren sind und es um extremistische Bestrebungen geht, die auf Gewalt gerichtet sind. 3.2 Informationsbearbeitung Die durch die Informationsbeschaffung gesammelten Rohdaten müssen gefiltert, systematisiert und analysiert werden. Dabei kommt der Informationstechnik für die Verarbeitung großer Datenmengen eine wichtige Rolle zu. Als bundesweite Hinweisdatei existiert für die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder das "Nachrichtendienstliche Informationssystem" (NADIS). Hierüber ist es möglich abzufragen, ob Daten zu einer Person bei einer Verfassungsschutzbehörde erfasst sind.504 Für Berlin waren Ende 2006 14 571 Datensätze im NADIS gespeichert (2005: 15 312). Rund zwei Drittel entfallen auf Sicherheitsüberprüfungen, die übrigen verteilen sich auf die Aufgabenbereiche Spionageabwehr, Ausländer-, Rechtsund Linksextremismus. Die Zahl der ge502 BGBl. I, 2001, S. 1254 ff.; BGBl. I, 2002, S. 361 und 364. 503 BGBl. I, 2007, S. 2. 504 Die Speicherungsgrundlagen sowie die Speicherungsdauer sind in den SSSS 11 - 17 VSG Bln geregelt. 262 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 speicherten Datensätze ist seit dem Jahr 2000 kontinuierlich zurückgegangen. Für die Auswertung der Daten spielt die präzise Definition von Analysebegriffen etwa zur Risikobewertung und die Entwicklung von Instrumenten wie die computergestützte geographische Analyse eine wichtige Rolle. Durch letztere können lokale Schwerpunkte herausgearbeitet werden (vgl. "Im Fokus"-Studie "Rechte Gewalt in Berlin"). 3.3 Informationsweitergabe Der Verfassungsschutz Berlin ist eine politikberatende Institution. Sein Ziel ist es, politische Entscheidungsträger, andere Behörden und die Öffentlichkeit umfassend und zeitnah über Entwicklungen im Bereich des Extremismus und der Spionage zu informieren und zu beraten.505 3.3.1 Zusammenarbeit mit anderen Behörden Die Zusammenarbeit mit anderen Behörden geschieht auf Grundlage der Regelungen des VSG Bln über die Informationsweitergabe. 506 Bei der Weitergabe von Erkenntnissen über Personen wird danach unterschieden, ob es sich um Sicherheitsbehörden, andere öffentliche Stellen oder ausländische Institutionen handelt. Bei der Zusammenarbeit im Verfassungsschutzverbund besteht eine Informationspflicht für alle anfallenden Erkenntnisse, die für die Aufgabenerfüllung der anderen Behörden erforderlich sind (SS 19 VSG Bln). Die Zusammenarbeit mit Polizei und Staatsanwaltschaft wird durch besondere Übermittlungsbefugnisse flankiert. Wenn es zur Verhinderung und Verfolgung von Straftaten im Zusammenhang mit extremistischen Bestrebungen erforderlich ist, dürfen Erkenntnisse weitergegeben werden (SS 21 VSG Bln). 505 Das VSG Bln umschreibt in SS 5 Abs. 1 die Aufgabe des Verfassungsschutzes Berlin: "Die Verfassungsschutzbehörde hat die Aufgabe, den Senat und das Abgeordnetenhaus von Berlin, andere zuständige staatliche Stellen und die Öffentlichkeit über Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder zu unterrichten. Dadurch soll es den staatlichen Stellen insbesondere ermöglicht werden, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr dieser Gefahren zu ergreifen." 506 Vgl. speziell SSSS 18 - 25 VSG Bln. VE R F A S S UN G S S C H U T Z B E R L IN 263 An andere öffentliche Stellen dürfen Erkenntnisse über Personen insbesondere übermittelt werden, wenn sie die Informationen zum Schutz vor verfassungsfeindlichen Bestrebungen benötigen oder wenn es zur Aufgabenerfüllung der Verfassungsschutzbehörde erforderlich ist (SS 22 VSG Bln). Besondere Beschränkungen gelten für die Weitergabe personenbezogener Informationen an ausländische Stellen (SSSS 24 und 25 VSG Bln). Angesichts der anhaltenden Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus haben die Innenminister die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden weiter ausgebaut. Die Funktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz als Zentralstelle für Informationsauswertung und -steuerung wurde 2004 auf Initiative Berlins durch eine Änderung der Koordinierungsrichtlinie gestärkt. Seitdem ist ausdrücklich geregelt, dass die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder sich unter Federführung des Bundesamtes für Verfassungsschutz kontinuierlich über die Beobachtung des islamistischen Terrorismus abstimmen und die erforderlichen Maßnahmen vereinbaren. Das Bundesamt für Verfassungsschutz wertet alle Erkenntnisse aus und unterrichtet die Landesbehörden für Verfassungsschutz unverzüglich über alle relevanten Erkenntnisse.507 Zur weiteren Verbesserung des Informationsaustauschs zwischen Polizei und Nachrichtendiensten trat Ende 2006 das Gesetz zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizei und Nachrichtendiensten in Kraft.508 Bestandteil dieses Regelwerkes ist auch die Einführung der so genannten Anti-Terror-Datei (ATD). Dabei handelt es sich um eine ab dem 30. März 2007 freigeschaltete gemeinsame Datei der Polizeibehörden in Staatsschutzsachen und den Nachrichtendiensten (Verfassungsschutz, Militärischer Abschirmdienst und Bundesnachrichtendienst). Mit Hilfe dieser Datei tauschen die beteiligten Behörden Hinweise auf Erkenntnisse zu Personen aus, die dem internationalen Terrorismus mit Bezug zur Bundesrepublik Deutschland zugerechnet werden. 507 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005. S. 275 f. 508 Gesetz zur Errichtung gemeinsamer Dateien von Polizeibehörden und Nachrichtendiensten des Bundes und der Länder vom 22.12.2006 (BGBl I S. 3409). 264 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Im Jahr 2004 hat das "Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum" (GTAZ) in Berlin-Treptow seine Arbeit aufgenommen. Neben Experten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Bundeskriminalamtes (BKA), des Bundesnachrichtendienstes (BND), des Generalbundesanwalts (GBA) sowie ausländischer Partnerdienste sind die Länder mit Verbindungsbeamten der Polizei und der Verfassungsschutzbehörden dort vertreten. Das GTAZ ermöglicht, die den islamistischen Terrorismus betreffendenden Informationen umgehend gemeinsam zu analysieren, zu bewerten und die erforderlichen operativen Maßnahmen abzustimmen. Gerade bei der Bewältigung besonderer Lagen wie den versuchten Anschlägen der "Trolley-Bomber"509 hat sich die Institution bewährt. 3.3.2 Öffentlichkeitsarbeit Die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Extremismus dient ebenso dem Schutz der Demokratie wie repressive Maßnahmen. Die Unterrichtung der Öffentlichkeit ist deshalb als Aufgabe im VSG Bln festgeschrieben.510 Publikationen Der große Informationsbedarf spiegelt sich in der steigenden Nachfrage zu den Publikationen wieder: 2006 sind über 26 000 Broschüren durch den Verfassungsschutz verteilt worden. Um den unterschiedlichen Erwartungen gerecht zu werden, wurden mehrere Publikationsreihen entwickelt. Verfassungsschutzberichte: Den umfassendsten Überblick über die einzelnen Beobachtungsfelder geben die jährlichen Verfassungsschutzberichte. Sie informieren über das aktuelle Geschehen im extremistischen Spektrum, über die ideologischen Grundlagen des Rechts-, Linksund Ausländerextremismus sowie über die wichtigsten in Berlin vertretenen extremistischen Gruppierungen. Reihe Im Fokus: Die Im Fokus-Reihe behandelt einzelne Themenkomplexe des Extremismus. Stärker als im Verfassungsschutzbericht steht die Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Forschung im Vordergrund. Die Studienreihe ist 2006 mit den über509 Vgl. S. 93 - 94. 510 Vgl. SS 5 VSG Bln. VE R F A S S UN G S S C H U T Z B E R L IN 265 arbeiteten Neuauflagen der Publikationen "Rechte Gewalt in Berlin" und "Antisemitismus im extremistischen Spektrum Berlins" fortgesetzt worden. Die Studie zur rechten Gewalt basiert auf einer empirischen Analyse von Ermittlungsakten zu den Tatverdächtigen von 365 rechten Gewalttaten. Aufgrund des Ansatzes der Geographisierung rechter Gewalttaten in Berlin dient sie vor allem der Beratung von Akteuren "vor Ort". Die Studie zum Antisemitismus beleuchtet die Bedeutung des Antisemitismus im Rechts-, Linksund Ausländerextremismus und untersucht die unterschiedlichen Funktionen des Antisemitismus in den Extremismusbereichen. Lageund Wahlanalysen: Diese Publikationsreihe bietet kurze Analysen zu aktuellen Detailthemen. Sie wurde mit einem Beitrag zu den Wahlergebnissen extremistischer Parteien bei den Berliner Wahlen (Abgeordnetenhauswahl und Wahl zu den Bezirksverordnetenversammlungen), einem Lagebild zu linksextremistischen Vorbereitungen gegen den G 8-Gipfel sowie einer Analyse der Audiound Videobotschaften von "al-Qa'ida" fortgeführt. Reihe Info: Die Info-Reihe bietet praxisnahe kompakte Informationen über Erscheinungsformen des Extremismus. Von der weiterhin stark nachgefragten Publikation "Symbole und Kennzeichen des Rechtsextremismus" wurde 2006 eine überarbeitete Neuauflage erstmals gemeinsam mit dem Brandenburger Verfassungsschutz herausgegeben. Neu erschien die "Info"-Publikation "Islamismus". Lupe: Die Broschüre Verfassungsschutz nehmen Sie uns unter die Lupe" gibt Basisinformationen über Aufgaben und Befugnisse, Arbeitsfelder und Vorgehensweisen des Verfassungsschutzes. Veranstaltungsund Gremienarbeit Der Verfassungsschutz Berlin war im vergangenen Jahr mit 27 Veranstaltungsbeiträgen präsent. Hauptadressat der Vorträge waren schulische und außerschulische Bildungseinrichtungen, Vertreterinnen und Vertreter der Polizei, der Ordnungs-, Justizund anderer Verwaltungsbehörden des Landes, der Medien oder der Parteien. Thematisch standen der Islamismus / transnationale Terrorismus und der Rechtsextremismus im Vordergrund. Der Verfassungsschutz sucht in der Gremienarbeit auch den Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen, um die Zusammenarbeit auszubauen und Vertrauen zu schaffen. So beteiligte er sich weiter am Berliner Islam- 266 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 forum, das sich am 16. November 2005 konstituiert hatte,511 und auf Bundesebene am "Dialog zwischen muslimischen Organisationen und Sicherheitsbehörden", aus dem das Konzept "Vertrauensbildende Maßnahmen" hervorging. Internet Über den Internetauftritt können unter www.verfassungsschutz-berlin.de Aktuelle Meldungen, Informationen über die Grundlagen der Verfassungsschutzarbeit sowie die Veranstaltungen des Verfassungsschutzes Berlin und alle Publikationen abgerufen werden. Bürgerund Hinweistelefon Das Bürgertelefon als Teil der Öffentlichkeitsarbeit nimmt Ihre Hinweise oder Fragen gerne entgegen. Zu erreichen sind wir unter der Telefonnummer (030) 90 129-0 oder unter der E-Mail-Adresse info@verfassungsschutz-berlin.de. Daneben haben wir ein vertrauliches Telefon für Hinweise, z. B. zur Aufklärung des islamistischen Terrorismus, an den Berliner Verfassungsschutz eingerichtet: - (030) 90 129-400 (in deutscher und englischer Sprache) - (030) 90 129-401 (in türkischer Sprache) - (030) 90 129-402 (in arabischer Sprache) Die Anschlüsse sind werktags von 9.00 bis 15.00 Uhr von sprachkundigen Mitarbeitern besetzt. Außerhalb der genannten Zeiten ist ein Anrufbeantworter geschaltet. Darüber hinaus können auch vertrauliche E-Mails an die Adressen info@verfassungsschutz-berlin.de oder aman@verfassungsschutz-berlin.de gesendet werden. 511 Das Islamforum ist ein Kooperationsprojekt zwischen dem Beauftragten des Berliner Senats für Integration und Migration und der 2003 gegründeten Muslimischen Akademie Deutschlands. Verfassungsschutz Berlin 267 Anhang 268 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 1 Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin Gesetz über den SS3 Dienstkräfte Verfassungsschutz in Berlin (1) Die Dienstkräfte der Verfassungsschutzab(Verfassungsschutzgesetz Berlin - VSG Bln) in der teilung haben neben den allgemeinen Pflichten die Fassung vom 25. Juni 2001, geändert durch Art. V sich aus dem Wesen des Verfassungsschutzes und des Gesetzes vom 30. Juli 2001 (GVBl. S. 305), ihrer dienstlichen Stellung ergebenden besonderen geändert durch Art. II des Gesetzes vom 5. DezemPflichten. Sie haben sich jederzeit für den Schutz ber 2003 (GVBl. 571), zuletzt geändert durch Art. I der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im des Gesetzes vom 6. Juli 2006 (GVBl. Nr. 26, Sinne des Grundgesetzes und der Verfassung von S. 712) Berlin einzusetzen. Die Funktion des Leiters der für den Verfassungsschutz zuständigen Abteilung soll ERSTER ABSCHNITT nur einer Person übertragen werden, die die Aufgaben und Befugnisse der Befähigung zum Richteramt besitzt. Verfassungsschutzbehörde (2) Der Senat von Berlin kann jährlich bestimmen, in welchem Umfang Dienstkräften der VerSS1 fassungsschutzabteilung freie, frei werdende und Zweck des Verfassungsschutzes neu geschaffene Stellen in der Hauptverwaltung für Zwecke der Personalentwicklung vorbehalten Der Verfassungsschutz dient dem Schutz der freiwerden. heitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit der Bundesrepublik SS4 Deutschland und ihrer Länder. Zusammenarbeit SS2 (1) Die Verfassungsschutzbehörde ist verOrganisation pflichtet, mit Bund und Ländern in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes zusammenzu(1) Verfassungsschutzbehörde ist die Searbeiten. Die Zusammenarbeit besteht insbesondere natsverwaltung für Inneres. Die für den Verfasin gegenseitiger Unterstützung und Information sosungsschutz zuständige Abteilung nimmt ihre wie in der Unterhaltung gemeinsamer EinrichtunAufgaben gesondert von der für die Polizei zustängen (wie z. B. das nachrichtendienstliche Informadigen Abteilung wahr. tionssystem des Bundes und der Länder [NADIS] (2) Die für den Verfassungsschutz zustänund die Schule für Verfassungsschutz). dige Abteilung ist datenverarbeitende Stelle im (2) Verfassungsschutzbehörden anderer Länder Sinne des SS 4 Abs. 3 Nr. 1 des Berliner Datendürfen im Geltungsbereich dieses Gesetzes nur im schutzgesetzes in der Fassung vom 17. Dezember Einvernehmen, das Bundesamt für Verfassungs1990 (GVBl. 1991 S. 16, 54), das zuletzt durch schutz nur im Benehmen mit der VerfassungsArt. IX des Gesetzes vom 30. November 2000 schutzbehörde tätig werden. (GVBl. S. 495) geändert worden ist. Die Übermittlung an andere Organisationseinheiten der SS5 Senatsverwaltung für Inneres ist ungeachtet der Aufgaben der Verfassungsschutzbehörde fachund dienstaufsichtlichen Befugnisse zulässig, wenn dies für die Aufgabenerfüllung nach SS 5 Abs. (1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die Auf- 1 erforderlich ist. gabe, den Senat und das Abgeordnetenhaus von (3) Bei der Leitung der Senatsverwaltung Berlin, andere zuständige staatliche Stellen und die für Inneres wird eine Revision eingerichtet. Die ReÖffentlichkeit über Gefahren für die freiheitliche vision ist unbeschadet ihrer Verantwortung gegendemokratische Grundordnung, den Bestand und die über dem Senator im Übrigen in der Durchführung Sicherheit des Bundes und der Länder zu untervon Prüfungen und der Beurteilung von Prüfungsrichten. Dadurch soll es den staatlichen Stellen insvorgängen unabhängig. besondere ermöglicht werden, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr dieser Gefahren zu ergreifen. AN H AN G 269 (2) Zur Erfüllung dieser Aufgaben sammelt und SS6 wertet die Verfassungsschutzbehörde InformatioBegriffsbestimmungen nen, insbesondere sachund personenbezogene Daten, Auskünfte, Nachrichten und Unterlagen aus (1) Bestrebungen im Sinne des SS 5 Abs. 2 Nr. 1 über und 3 sind politisch motivierte, zielund zweck1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche degerichtete Verhaltensweisen oder Betätigungen von mokratische Grundordnung, den Bestand oder die Organisationen, Personenzusammenschlüssen ohne Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet feste hierarchische Organisationsstrukturen (unorsind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der ganisierte Gruppen) oder Einzelpersonen gegen die Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes in SS 5 Abs. 2 bezeichneten Schutzgüter. Für eine oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele Organisation oder eine unorganisierte Gruppe hanhaben, delt, wer sie in ihren Bestrebungen nachdrücklich unterstützt. Verhaltensweisen von Einzelpersonen, 2. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche die nicht in einer oder für eine Organisation oder in Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes einer oder für eine unorganisierte Gruppe handeln, für eine fremde Macht, sind Bestrebungen im Sinne dieses Gesetzes, wenn 3. Bestrebungen im Geltungsbereich des Grundsie auf Anwendung von Gewalt gerichtet sind oder gesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder aufgrund ihrer Wirkungsweise geeignet sind, ein darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärSchutzgut dieses Gesetzes erheblich zu betige Belange der Bundesrepublik Deutschland geschädigen. fährden oder gegen das friedliche Zusammenleben (2) Bestrebungen im Sinne dieses Gesetzes, die der Völker (Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes) gegen die freiheitliche demokratische Grundgerichtet sind. ordnung gerichtet sind, sind solche, die auf die (3) Die Verfassungsschutzbehörde wirkt auf ErsuBeseitigung oder Außerkraftsetzung wesentlicher chen der zuständigen öffentlichen Stellen mit Verfassungsgrundsätze abzielen. Hierzu gehören: 1. bei der Sicherheitsüberprüfung von Personen, 1. das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in denen im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbeWahlen und Abstimmungen und durch besondere dürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Geanvertraut werden, die Zugang dazu erhalten sollen walt und der Rechtsprechung auszuüben und die oder ihn sich verschaffen können, Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, 2. bei der Sicherheitsüberprüfung von Personen, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, die an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebens2. die Bindung der Gesetzgebung an die veroder verteidigungswichtigen Einrichtungen fassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollbeschäftigt sind oder werden sollen, ziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an 3. bei technischen Sicherheitsmaßnahmen zum Gesetz und Recht, Schutz von im öffentlichen Interesse geheimhal3. das Recht auf Bildung und Ausübung einer tungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Erparlamentarischen Opposition, kenntnissen gegen die Kenntnisnahme durch Unbe4. die Ablösbarkeit der Regierung und ihre fugte, Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, 4. bei aufenthaltsrechtlichen Verfahren, Einbür5. die Unabhängigkeit der Gerichte, gerungsverfahren, jagdund waffenrechtlichen Ver6. der Ausschluss jeder Gewaltund Willkürherrfahren sowie bei sonstigen gesetzlich vorgeschrieschaft und benen Überprüfungen; die Mitwirkung ist nur 7. die im Grundgesetz konkretisierten Menschenzulässig, wenn diese zum Schutz der freiheitlichen rechte. demokratischen Grundordnung oder für Zwecke der öffentlichen Sicherheit erforderlich ist; Näheres (3) Im Sinne dieses Gesetzes sind wird in einer Verwaltungsvorschrift des Senators 1. Bestrebungen gegen den Bestand des Bundes für Inneres im Benehmen mit dem Berliner Beoder eines Landes solche, die darauf gerichtet sind, auftragten für den Datenschutz und für das Recht die Freiheit des Bundes oder eines Landes von auf Akteneinsicht bestimmt. fremder Herrschaft aufzuheben, ihre staatliche Einheit zu beseitigen oder ein zu ihm gehörendes Die Befugnisse der Verfassungsschutzbehörde bei Gebiet abzutrennen, der Mitwirkung nach Satz 1 Nr. 1 und 2 sind im Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz vom 2. Bestrebungen gegen die Sicherheit des Bundes 2. März 1998 (GVBl. S. 26) geregelt. oder eines Landes solche, die darauf gerichtet sind, den Bund, die Länder oder deren Einrichtungen in 270 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 ihrer Funktionsfähigkeit erheblich zu beeinträchSS8 tigen. Befugnisse der Verfassungsschutzbehörde (4) Auswärtige Belange im Sinne des SS 5 Abs. (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf die zur 2 Nr. 3 werden nur gefährdet, wenn innerhalb des Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen InformatioGeltungsbereichs des Grundgesetzes Gewalt ausgenen einschließlich personenbezogener Daten verübt oder durch Handlungen vorbereitet wird und arbeiten und bei Behörden, sonstigen öffentlichen diese sich gegen die politische Ordnung oder EinStellen sowie nicht öffentlichen Stellen, insbesonrichtungen anderer Staaten richten. dere bei Privatpersonen, erheben, soweit die SS7 Bestimmungen dieses Gesetzes dies zulassen. Ein Voraussetzung und Rahmen für die Tätigkeit der Ersuchen der Verfassungsschutzbehörde um ÜberVerfassungsschutzbehörde mittlung personenbezogener Daten darf nur diejenigen personenbezogenen Daten enthalten, die für (1) Soweit dieses Gesetz nichts anderes bedie Erteilung der Auskunft unerlässlich sind. stimmt, darf die Verfassungsschutzbehörde bei der Schutzwürdige Interessen des Betroffenen dürfen Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach SS 5 Abs. 2 nur nur im unvermeidbaren Umfang beeinträchtigt tätig werden, wenn im Einzelfall tatsächliche Anwerden. haltspunkte für den Verdacht der dort genannten (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur Bestrebungen oder Tätigkeiten vorliegen. heimlichen Informationsbeschaffung, insbesondere (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf für die zur Erhebung personenbezogener Daten, nur in Prüfung, ob die Voraussetzungen des Absatzes 1 begründeten Fällen folgende nachrichtendienstliche vorliegen, die dazu erforderlichen personenbezogeMittel anwenden: nen Daten aus allgemein zugänglichen Quellen 1. Einsatz von Vertrauensleuten, sonstigen geheierheben, speichern und nutzen. Eine Speicherung men Informanten, zum Zweck der Spionageabwehr dieser Daten im nachrichtendienstlichen Inforüberworbenen Agenten, Gewährspersonen und mationssystem (NADIS) oder in anderen Verbundverdeckten Ermittlern, dateien ist nicht zulässig. Eine Speicherung der 2. Observation, nach Satz 1 erhobenen personenbezogenen Daten in 3. Bildaufzeichnungen (Fotografieren, VideoAkten und Dateien über den Ablauf eines Jahres grafieren und Filmen), seit der Speicherung hinaus ist nur zulässig, wenn spätestens von diesem Zeitpunkt an die Voraus4. verdeckte Ermittlungen und Befragungen, setzungen des Absatzes 1 vorliegen. Dasselbe gilt 5. Mithören ohne Inanspruchnahme technischer für das Anlegen personenbezogener Akten. Mittel, (3) Zur Erfüllung ihrer Aufgaben darf die 6. Mithören und Aufzeichnen des nicht öffentlich Verfassungsschutzbehörde nur die dazu erforgesprochenen Wortes unter Einsatz technischer derlichen Maßnahmen ergreifen; dies gilt insbesonMittel, dere für die Erhebung und Verarbeitung personen7. Beobachtungen des Funkverkehrs auf nicht für bezogener Informationen. Von mehreren möglichen den allgemeinen Empfang bestimmten Kanälen und geeigneten Maßnahmen hat sie diejenige sowie die Sichtbarmachung, Beobachtung, Aufauszuwählen, die den einzelnen, insbesondere in zeichnung und Entschlüsselung von Signalen in seinen Grundrechten, und die Allgemeinheit vorKommunikationssystemen, aussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Eine 8. Verwendung fingierter biografischer, berufMaßnahme hat zu unterbleiben, wenn sie einen licher oder gewerblicher Angaben (Legenden), Nachteil herbeiführt, der erkennbar außer Ver9. Beschaffung, Erstellung und Verwendung von hältnis zu dem beabsichtigten Erfolg steht. Sie ist Tarnpapieren und Tarnkennzeichen, nur solange zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass er nicht erreicht werden kann. 10. Überwachung des Brief-, Post-, und Fernmel(4) Soweit in diesem Gesetz besondere Eindeverkehrs nach Maßgabe des Art. 10-Gesetzes, griffsbefugnisse das Vorliegen gewalttätiger Bestrevom 26. Juni 2001 (BGBl. I S. 1254, 2298), zuletzt bungen oder darauf gerichtete Vorbereitungshandgeändert durch Art. 5 Abs. 1 des Gesetzes vom lungen voraussetzen, ist Gewalt die Anwendung 22. August 2002 (BGBl. I S. 3390), körperlichen Zwanges gegen Personen oder eine 11. Einsatz von weiteren vergleichbaren Methonicht unerhebliche Einwirkung auf Sachen. den, Gegenständen und Instrumenten zur heimlichen Informationsbeschaffung, insbesondere das sonstige Eindringen in technische Kommunikationsbeziehungen durch Bild-, Ton-, und Datenaufzeichnungen; dem Einsatz derartiger Methoden, AN H AN G 271 Gegenstände und Instrumente hat der Ausschuss für oder nicht auf diese Weise erreicht werden kann. Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses von Daten, die für das Verständnis der zu speichernden Berlin vorab seine Zustimmung zu erteilen. Informationen nicht erforderlich sind, sind unPersonen, die berechtigt sind, in Strafsachen aus verzüglich zu löschen. Die Löschung kann unterberuflichen Gründen das Zeugnis zu verweigern bleiben, wenn die Informationen von anderen, die (SSSS 53 und 53a der Strafprozessordnung), darf die zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich sind, nicht Verfassungsschutzbehörde nicht von sich aus nach oder nur mit unvertretbarem Aufwand getrennt Satz 1 Nr. 1 zur Beschaffung von Informationen in werden können; in diesem Fall dürfen die Daten Anspruch nehmen, auf die sich ihr Zeugnisvernicht verwertet werden. weigerungsrecht bezieht. Die Behörden des Landes (5) Die näheren Voraussetzungen für die Berlin sind verpflichtet, der VerfassungsschutzAnwendung der Mittel nach Absatz 2 sind in einer behörde technische Hilfe für Tarnungsmaßnahmen Verwaltungsvorschrift des Senators für Inneres zu zu geben. regeln, die auch die Zuständigkeit für die Anord(3) Die Verfassungsschutzbehörde darf Infornung solcher Informationsbeschaffung regelt. Die mationen einschließlich personenbezogener Daten Verwaltungsvorschrift ist dem Ausschuss für Vermit den Mitteln gemäß Absatz 2 erheben, wenn fassungsschutz des Abgeordnetenhauses von Berlin 1. sich ihr Einsatz gegen Organisationen, unorgavorab zur Kenntnis zu geben. nisierte Gruppen, in ihnen oder einzeln tätige Per(6) Für die Speicherung und Löschung der sonen richtet, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte durch Maßnahmen nach Absatz 2 erlangten per für den Verdacht der Bestrebungen oder Tätigkeiten sonenbezogenen Daten gilt SS 4 Abs. 1 des nach SS 5 Abs. 2 bestehen, Art. 10-Gesetzes entsprechend. 2. auf diese Weise Erkenntnisse über gewalttätige (7) Polizeiliche Befugnisse stehen der VerfasBestrebungen oder geheimdienstliche Tätigkeiten sungsschutzbehörde nicht zu; sie darf die Polizei gewonnen werden können, auch nicht im Wege der Amtshilfe um Maßnahmen ersuchen, zu denen sie selbst nicht befugt ist. 3. auf diese Weise die zur Erforschung von (8) Die Verfassungsschutzbehörde ist an die Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 allgemeinen Rechtsvorschriften gebunden (Art. 20 erforderlichen Quellen erschlossen werden können des Grundgesetzes). oder 4. dies zum Schutz der Dienstkräfte, EinrichSS9 tungen, Gegenstände und Quellen der VerfassungsEinsatz technischer Mittel zur Überwachung von schutzbehörde gegen sicherheitsgefährdende oder Wohnungen geheimdienstliche Tätigkeiten erforderlich ist. (1) Das in einer Wohnung nicht öffentlich geDatenerhebungen nach Satz 1 Nr. 2 dürfen sich sprochene Wort darf mit technischen Mitteln ausgegen andere als die in SS 6 Abs. 1 Satz 2 und 3 schließlich bei der Wahrnehmung der Aufgaben auf genannten Personen nur richten, soweit dies zur dem Gebiet der Spionageabwehr und des gewaltGewinnung von Erkenntnissen unerlässlich ist. bereiten politischen Extremismus heimlich mit(4) Die Erhebung nach Absatz 2 ist unzulässig, gehört oder aufgezeichnet werden. Eine solche wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere, Maßnahme ist nur zulässig, wenn sie im Einzelfall die betroffene Person weniger beeinträchtigende zur Abwehr einer dringenden Gefahr für die Weise möglich ist; eine geringere Beeinträchtigung öffentliche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen ist in der Regel anzunehmen, wenn die InformaGefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Pertionen aus allgemein zugänglichen Quellen oder sonen, unerlässlich ist, ein konkreter Verdacht in durch eine Auskunft nach SS 27 gewonnen werden Bezug auf eine Gefährdung der vorstehenden können. Die Anwendung eines Mittels gemäß Rechtsgüter besteht und der Einsatz anderer MethoAbsatz 2 soll erkennbar im Verhältnis zur Bedeuden und Mittel zur heimlichen Informationsbetung des aufzuklärenden Sachverhalts stehen. Der schaffung keine Aussicht auf Erfolg bietet. Die Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel nach Abs. 2 Sätze 1 und 2 gelten entsprechend für einen verSatz 1 Nr. 6 und 7 ist grundsätzlich nur zur Infordeckten Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung mationsbeschaffung über Bestrebungen gegen die von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen in freiheitliche demokratische Grundordnung zulässig, Wohnungen. Maßnahmen nach den Sätzen 1 bis 3 wenn diese Bestrebung die Anwendung von Gewalt dürfen nur aufgrund richterlicher Anordnung billigen oder sich in aktiv kämpferischer, aggresgetroffen werden. Bei Gefahr im Verzuge kann die siver Weise betätigen. Die Maßnahme ist unverzügMaßnahme auch durch den Senator für Inneres, der lich zu beenden, wenn ihr Zweck erreicht ist oder im Verhinderungsfall durch den zuständigen Staatssich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass er nicht sekretär vertreten wird, angeordnet werden; eine 272 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 richterliche Entscheidung ist unverzüglich nachzumeldegeheimnisses gleichkommt und nicht den holen. Regelungen des SS 9 unterliegt, wozu insbesondere (2) Die Anordnung ist auf höchstens drei das Abhören und Aufzeichnen des nicht öffentlich Monate zu befristen. Verlängerungen um jeweils gesprochenen Wortes mit dem verdeckten Einsatz nicht mehr als drei weitere Monate sind auf Antrag technischer Mittel gehört, bedarf der Anordnung zulässig, soweit die Voraussetzungen der Anorddurch den Senator für Inneres, der im Verhinnung fortbestehen. Liegen die Voraussetzungen der derungsfall durch den zuständigen Staatssekretär Anordnung nicht mehr vor oder ist der verdeckte vertreten wird. Einsatz technischer Mittel zur Informationsgewin(2) Die SSSS 2 und 3 des Gesetzes zur Ausnung nicht mehr erforderlich, ist die Maßnahme führung des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz gelten unverzüglich zu beenden. Der Vollzug der Anordentsprechend. nung erfolgt unter Aufsicht eines Bediensteten der (3) SS 9 Abs. 6 gilt entsprechend. Verfassungsschutzbehörde, der die Befähigung zum Richteramt hat. SS 10 (3) Sind technische Mittel ausschließlich zum Registereinsicht durch die Schutze der bei einem Einsatz in Wohnungen Verfassungsschutzbehörde tätigen Personen vorgesehen, kann die Maßnahme (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur durch den Senator für Inneres, der im VerhinAufklärung derungsfall durch den zuständigen Staatssekretär - von sicherheitsgefährdenden oder geheimvertreten wird, angeordnet werden. Eine anderdienstlichen Tätigkeiten für eine fremde Macht oder weitige Verwertung der hierbei erlangten Erkennt- - von Bestrebungen, die durch Anwendung von nisse zum Zwecke der Gefahrenabwehr ist nur zuGewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlässig, wenn zuvor die Rechtmäßigkeit der Maßlungen gegen die freiheitliche demokratische nahme richterlich festgestellt worden ist; bei Gefahr Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des im Verzuge ist die richterliche Entscheidung unverBundes oder eines Landes gerichtet sind oder züglich nachzuholen. (4) Zuständig für richterliche Entscheidungen - von Bestrebungen, die durch Anwendung von nach den Absätzen 1 und 3 ist das Amtsgericht Gewalt oder darauf gerichtete VorbereitungshandTiergarten. Für das Verfahren gelten die Vorschriflungen auswärtige Belange der Bundesrepublik ten des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiDeutschland gefährden, willigen Gerichtsbarkeit entsprechend. von öffentlichen Stellen geführte Register, z. B. (5) Der Senat unterrichtet die Kommission Melderegister, Personalausweisregister, Passrenach SS 2 des Gesetzes zur Ausführung des Art. 10gister, Führerscheinkarteien, Waffenscheinkarteien, Gesetzes in der Fassung vom 25. Juni 2001 (GVBl. einsehen. S. 251), das zuletzt durch Art. 1 des Gesetzes vom (2) Eine solche Einsichtnahme ist nur zulässig, 5. Dezember 2003 (GVBl. S. 571) geändert worden wenn ist, unverzüglich, möglichst vorab, und umfassend 1. die Aufklärung auf andere Weise nicht mögüber den Einsatz technischer Mittel nach Absatz 1 lich erscheint, insbesondere durch eine Übermittund, soweit richterlich überprüfungsbedürftig, nach lung der Daten durch die registerführende Stelle der Absatz 3. SS 3 des Gesetzes zur Ausführung des Zweck der Maßnahme gefährdet würde, und Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz gilt entsprechend. 2. die betroffene Person durch eine anderweitige (6) Eine Maßnahme nach den Absätzen 1 und 3 Aufklärung unverhältnismäßig beeinträchtigt würist nach ihrer Beendigung der betroffenen Person de, und mitzuteilen, sobald eine Gefährdung des Zwecks 3. eine besondere gesetzliche Geheimhaltungsder Maßnahme mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht vorschrift oder ein Berufsgeheimnis der Einsichtmehr zu erwarten ist. Die durch Maßnahmen im nahme nicht entgegensteht. Sinne des Satzes 1 erhobenen Informationen dürfen (3) Die Anordnung für die Maßnahme nach nur nach Maßgabe des SS 4 Abs. 1 des Art. 10-GeAbsatz 1 trifft der Leiter der Verfassungsschutzabsetzes verwendet werden. teilung, im Falle der Verhinderung der Vertreter. SS 9a (4) Die auf diese Weise gewonnenen ErkenntEingriffe, die in ihrer Art und Schwere einer nisse dürfen nur zu den in Absatz 1 genannten Beschränkung des Brief-, Postund Zwecken verwendet werden. Gespeicherte InformaFernmeldegeheimnisses gleichkommen tionen sind zu löschen und Unterlagen zu vernichten, sobald sie für diese Zwecke nicht mehr (1) Ein Eingriff, der in seiner Art und Schwere benötigt werden. einer Beschränkung des Brief-, Postund Fern- AN H AN G 273 (5) Über die Einsichtnahme ist ein gesonderter Die Speicherung personenbezogener Informationen Nachweis zu führen, aus dem ihr Zweck, die in über Minderjährige, die das 14. Lebensjahr nicht Anspruch genommene Stelle, die Namen der vollendet haben, ist unzulässig. Betroffenen, deren Daten für eine weitere Verwendung erforderlich sind, sowie der Zeitpunkt der EinSS 13 sichtnahme hervorgehen. Diese Aufzeichnungen Speicherungsdauer sind gesondert aufzubewahren, durch technische (1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die und organisatorische Maßnahmen zu sichern und, Speicherungsdauer auf das für ihre Aufgabensoweit sie für die Aufgabenerfüllung der Verfaserfüllung erforderliche Maß zu beschränken. Die in sungsschutzbehörde nach SS 5 Abs. 2 nicht mehr Dateien gespeicherten Informationen sind bei der benötigt werden, am Ende des Kalenderjahres, das Einzelfallbearbeitung, spätestens aber fünf Jahre dem Jahr der Erstellung folgt, zu vernichten. nach Speicherung der letzten Information, auf ihre Erforderlichkeit zu überprüfen. Sofern die InforZWEITER ABSCHNITT mationen Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 Nr. 1 oder Datenverarbeitung 3 betreffen, sind sie spätestens zehn Jahre nach der zuletzt gespeicherten relevanten Information zu SS 11 löschen. Speicherung, Veränderung und Nutzung (2) Sind Informationen über Minderjährige in personenbezogener Informationen Dateien oder in Akten, die zu ihrer Person geführt werden, gespeichert, ist nach zwei Jahren die Erfor(1) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur derlichkeit der Speicherung zu überprüfen und Erfüllung ihrer Aufgaben rechtmäßig erhobene spätestens nach fünf Jahren die Löschung vorzupersonenbezogene Informationen speichern, vernehmen, es sei denn, dass nach Eintritt der Volländern und nutzen, wenn jährigkeit weitere Erkenntnisse nach SS 5 Abs. 2 1. tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen angefallen sind, die zur Erfüllung der Aufgaben im oder Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 vorliegen oder Sinne dieses Gesetzes eine Fortdauer der Speiche2. dies für die Erforschung oder Bewertung von rung rechtfertigen. gewalttätigen Bestrebungen oder geheimdienstlichen Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 erforderlich ist SS 14 oder Berichtigung, Löschung und Sperrung 3. dies zur Schaffung oder Erhaltung nachrichtenpersonenbezogener Informationen in Dateien dienstlicher Zugänge über Bestrebungen oder Tätig(1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in keiten nach SS 5 Abs. 2 erforderlich ist oder Dateien gespeicherten personenbezogenen Informa4. dies zum Schutz der Dienstkräfte, Einrichtuntionen zu berichtigen, wenn sie unrichtig sind; sie gen, Gegenstände und Quellen der Verfassungssind zu ergänzen, wenn sie unvollständig sind und schutzbehörde gegen sicherheitsgefährdende oder dadurch schutzwürdige Interessen der betroffenen geheimdienstliche Tätigkeiten erforderlich ist oder Person beeinträchtigt sein können. 5. sie auf Ersuchen der zuständigen Stelle nach (2) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in SS 5 Abs. 3 tätig wird. Dateien gespeicherten personenbezogenen InformaIn Akten dürfen über Satz 1 Nr. 2 hinaus personentionen zu löschen, wenn ihre Speicherung irrtümbezogene Daten auch gespeichert, verändert und lich erfolgt war, unzulässig war oder ihre Kenntnis genutzt werden, wenn dies sonst zur Erforschung für die Aufgabenerfüllung nicht mehr erforderlich und Bewertung von Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 ist und schutzwürdige Interessen der betroffenen zwingend erforderlich ist. Person nicht beeinträchtigt werden. (2) In Dateien gespeicherte Informationen müs(3) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in sen durch Aktenrückhalt belegbar sein. Dateien gespeicherten personenbezogenen Informa(3) In Dateien ist die Speicherung von Informationen zu sperren, wenn die Löschung unterbleibt, tionen aus der Intimsphäre der betroffenen Person weil Grund zu der Annahme besteht, dass durch die unzulässig. Löschung schutzwürdige Interessen der betroffenen Person beeinträchtigt würden; gesperrte InformatioSS 12 nen sind entsprechend zu kennzeichnen und dürfen Speicherung, Veränderung und Nutzung nur mit Einwilligung der betroffenen Person verpersonenbezogener Informationen von wendet werden. Minderjährigen (4) In Dateien gelöschte Informationen sind gesperrt. Unterlagen sind zu vernichten, wenn sie zur 274 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 Erfüllung der Aufgaben nach SS 5 nicht oder nicht 7. Protokollierung, mehr erforderlich sind, es sei denn, dass ihre 8. Datenverarbeitungsgeräte und Betriebssystem, Aufbewahrung zur Wahrung schutzwürdiger Inte9. Inhalt und Umfang von Textzusätzen, die der ressen der betroffenen Person notwendig ist. Die Erschließung von Akten dienen. Vernichtung unterbleibt, wenn die Unterlagen von (2) Die Verfassungsschutzbehörde hat in angeanderen, die zur Erfüllung der Aufgaben erfordermessenen Abständen die Notwendigkeit der Weilich sind, nicht oder nur mit unvertretbarem Aufterführung oder Änderung ihrer Dateien zu prüfen. wand getrennt werden können. (5) Personenbezogene Informationen, die ausSS 17 schließlich zu Zwecken der Datenschutzkontrolle, Gemeinsame Dateien der Datensicherung oder zur Sicherstellung eines ordnungsgemäßen Betriebes einer DatenverarbeiBundesgesetzliche Vorschriften über die Datenvertungsanlage gespeichert werden, dürfen nur für arbeitung in gemeinsamen Dateien der Verfasdiese Zwecke und zur Verfolgung der in der jeweisungsschutzbehörden des Bundes und der Länder ligen Fassung des Berliner Datenschutzgesetzes als bleiben unberührt. Straftaten bezeichneten Handlungen verwendet werden. DRITTER ABSCHNITT SS 15 Informationsübermittlung Berichtigung und Sperrung personenbezogener SS 18 Informationen in Akten Grundsätze bei der Informationsübermittlung durch (1) Stellt die Verfassungsschutzbehörde fest, die Verfassungsschutzbehörde dass in Akten gespeicherte personenbezogene InforDie Übermittlung von personenbezogenen Informamationen unrichtig sind, oder wird ihre Richtigkeit tionen ist aktenkundig zu machen. In der entsprevon dem Betroffenen bestritten, so ist dies in der chenden Datei ist die Informationsübermittlung zu Akte zu vermerken oder auf sonstige Weise vermerken. Vor der Informationsübermittlung ist festzuhalten. der Akteninhalt im Hinblick auf den Übermitt(2) Die Verfassungsschutzbehörde hat persolungszweck zu würdigen und der Informationsübernenbezogene Informationen in Akten zu sperren, mittlung zugrunde zu legen. Erkennbar unvollstänwenn sie im Einzelfall feststellt, dass ohne die dige Informationen sind vor der Übermittlung im Sperrung schutzwürdige Interessen von Betroffenen Rahmen der Verhältnismäßigkeit durch Einholung beeinträchtigt würden und die Daten für ihre Aufzusätzlicher Auskünfte zu vervollständigen. gabenerfüllung nicht mehr erforderlich sind. Gesperrte Informationen sind mit einem entsprechenSS 19 den Vermerk zu versehen; sie dürfen nicht mehr Informationsübermittlung zwischen den genutzt oder übermittelt werden. Eine Aufhebung Verfassungsschutzbehörden der Sperrung ist möglich, wenn ihre Voraussetzungen nachträglich entfallen. Die Verfassungsschutzbehörde unterrichtet das Bundesamt für Verfassungsschutz und die VerfasSS 16 sungsschutzbehörden der Länder über alle AngeleDateianordnungen genheiten, deren Kenntnis zur Erfüllung der Aufgaben der empfangenden Stellen erforderlich ist. (1) Für jede automatisierte Datei der Verfassungsschutzbehörde sind in einer DateianordSS 20 nung im Benehmen mit dem Berliner Beauftragten Informationsübermittlung an den für den Datenschutz und für das Recht auf Bundesnachrichtendienst und den Militärischen Akteneinsicht festzulegen: Abschirmdienst 1. Bezeichnung der Datei, Die Verfassungsschutzbehörde übermittelt dem 2. Zweck der Datei, Bundesnachrichtendienst und dem Militärischen 3. Inhalt, Umfang, Voraussetzungen der SpeicheAbschirmdienst die ihr bekannt gewordenen Inforrungen, Übermittlung und Nutzung (betroffener mationen einschließlich personenbezogener Daten, Personenkreis, Arten der Daten), wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, 4. Eingabeberechtigung, dass die Übermittlung für die Erfüllung der Auf5. Zugangsberechtigung, gaben der empfangenden Stellen erforderlich ist. 6. Überprüfungsfristen, Speicherungsdauer, Handelt die Verfassungsschutzbehörde auf Ersuchen, so ist sie zur Übermittlung nur verpflichtet AN H AN G 275 und berechtigt, wenn sich die Voraussetzungen aus kunft nach Satz 1 einen Nachweis, aus dem der den Angaben der ersuchenden Behörde ergeben. Zweck der Übermittlung, die Aktenfundstelle und der Empfänger hervorgehen; die Nachweise sind SS 21 gesondert aufzubewahren, gegen unberechtigten Informationsübermittlung an Zugriff zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, Strafverfolgungsbehörden in Angelegenheiten des das dem Jahr seiner Erstellung folgt, zu vernichten. Staatsund Verfassungsschutzes Der Empfänger darf die übermittelten personenDie Verfassungsschutzbehörde übermittelt den bezogenen Informationen nur für den Zweck Staatsanwaltschaften und, vorbehaltlich der staatsverwenden, zu dem sie ihm übermittelt wurden. Der anwaltlichen Sachleitungsbefugnis, den PolizeibeEmpfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung hörden des Landes die ihr bekannt gewordenen und darauf hinzuwiesen, dass die VerfassungsInformationen einschließlich personenbezogener schutzbehörde sich vorbehält, um Auskunft über die Daten, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorgenommene Verwendung der Informationen zu bestehen, dass die Übermittlung zur Verhinderung bitten. oder Verfolgung von Straftaten, die im ZusamSS 24 menhang mit Bestrebungen oder Tätigkeiten nach Übermittlung von Informationen an die SS 5 Abs. 2 stehen, erforderlich ist. Stationierungsstreitkräfte SS 22 Die Verfassungsschutzbehörde darf personenbezoÜbermittlung von Informationen an den gene Informationen an Dienststellen der Statioöffentlichen Bereich nierungsstreitkräfte übermitteln, soweit die Bundes(1) Die im Rahmen der gesetzlichen Aufgabenrepublik Deutschland dazu im Rahmen von Art. 3 erfüllung gewonnenen, nicht personenbezogenen des Zusatzabkommens zu dem Abkommen zwiErkenntnisse der Verfassungsschutzbehörde können schen den Parteien des Nordatlantikpaktes über die an andere Behörden und Stellen, insbesondere an Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich der in der die Polizei und die Staatsanwaltschaft, übermittelt Bundesrepublik Deutschland stationierten auslänwerden, wenn sie für die Aufgabenerfüllung der dischen Streitkräfte vom 3. August 1959 (BGBl. empfangenden Stellen erforderlich sein können. 1961 II S. 1183) verpflichtet ist. Die Übermittlung (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf persoist aktenkundig zu machen. Der Empfänger ist nenbezogene Informationen an inländische Behördarauf hinzuweisen, dass die übermittelten Informaden und juristische Personen des öffentlichen tionen nur zu dem Zweck verwendet werden dürfen, Rechts übermitteln, wenn dies zur Erfüllung ihrer zu dem sie ihm übermittelt wurden. Aufgaben erforderlich ist oder der Empfänger die SS 25 Informationen zum Schutz vor Bestrebungen oder Übermittlung von Informationen an öffentliche Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 oder zur StrafverfolStellen außerhalb des Geltungsbereichs des gung benötigt oder nach SS 5 Abs. 3 tätig wird. Grundgesetzes (3) Die empfangende Stelle von Informationen nach Absatz 2 ist darauf hinzuweisen, dass sie die Die Verfassungsschutzbehörde darf personenbeübermittelten personenbezogenen Informationen zogene Informationen an ausländische öffentliche nur zu dem Zweck verwenden darf, zu dessen ErStellen sowie an überoder zwischenstaatliche Stelfüllung sie ihr übermittelt wurden. len übermitteln, wenn die Übermittlung zur Erfüllung ihrer Aufgaben oder zur Wahrung erheblicher SS 23 Sicherheitsinteressen des Empfängers erforderlich Übermittlung von Informationen an Personen und ist. Die Übermittlung unterbleibt, wenn auswärtige Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs Belange der Bundesrepublik Deutschland oder Personenbezogene Informationen dürfen an Persoüberwiegende schutzwürdige Interessen der betrofnen oder Stellen außerhalb des öffentlichen Befenen Person entgegenstehen. Die Übermittlung ist reichs nicht übermittelt werden, es sei denn, dass nur im Einvernehmen mit dem Bundesamt für dies zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Verfassungsschutz zulässig. Sie ist aktenkundig zu Grundordnung, des Bestandes oder der Sicherheit machen. Der Empfänger ist darauf hinzuweisen, des Bundes oder eines Landes erforderlich ist und dass die übermittelten personenbezogenen Informader Senator für Inneres, der im Verhinderungsfall tionen nur zu dem Zweck verwendet werden dürfen, durch den zuständigen Staatssekretär vertreten zu dem sie ihm übermittelt wurden, und die Verfaswird, im Einzelfall seine Zustimmung erteilt hat. sungsschutzbehörde sich vorbehält, um Auskunft Die Verfassungsschutzbehörde führt über die Aus- 276 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 über die vorgenommene Verwendung der Informades Art. 10-Gesetzes genannten Straftaten plant, tionen zu bitten. begeht oder begangen hat. Auf die der Verfassungsschutzbehörde nach Satz 1 übermittelten InforSS 26 mationen findet SS 4 Abs. 6, auf die dazugehörenden Unterrichtung der Öffentlichkeit Unterlagen findet SS 4 Abs. 1 Satz 2 des Art. 10Die Verfassungsschutzbehörde unterrichtet die Gesetzes entsprechende Anwendung. Öffentlichkeit mindestens einmal jährlich über (5) Vorschriften zur Informationsübermittlung Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2. Daan die Verfassungsschutzbehörde nach anderen Gebei ist die Übermittlung von personenbezogenen setzen bleiben unberührt. Informationen nur zulässig, wenn die Bekanntgabe (6) Die Verfassungsschutzbehörde hat die für das Verständnis des Zusammenhanges oder der übermittelten Informationen nach ihrem Eingang Darstellung von Organisationen oder unorganisierunverzüglich darauf zu überprüfen, ob sie zur Erten Gruppierungen erforderlich ist und die Interfüllung ihrer in SS 5 genannten Aufgaben erforderessen der Allgemeinheit an sachgemäßen Inforlich sind. Ergibt die Prüfung, dass sie nicht erformationen das schutzwürdige Interesse des Betrofderlich sind, sind die Unterlagen unverzüglich zu fenen überwiegen. vernichten. Die Vernichtung unterbleibt, wenn die Trennung von anderen Informationen, die zur ErSS 27 füllung der Aufgaben erforderlich sind, nicht oder Übermittlung von Informationen an die nur mit unvertretbarem Aufwand erfolgen kann; in Verfassungsschutzbehörde diesem Fall sind die Informationen gesperrt und entsprechend zu kennzeichnen. (1) Die Behörden des Landes und die sonstigen (7) Soweit andere gesetzliche Vorschriften der Aufsicht des Landes unterstehenden juristischen nicht besondere Regelungen über die DokumenPersonen des öffentlichen Rechts übermitteln von tation treffen, haben die Verfassungsschutzbehörde sich aus der Verfassungsschutzbehörde die ihnen und die übermittelnde Stelle die Informationsüberbekannt gewordenen Informationen, insbesondere mittlung aktenkundig zu machen. personenbezogene Daten, über Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2, die durch Anwendung von Gewalt oder SS 27a darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen verfolgt Übermittlung von Informationen durch nicht werden, und über geheimdienstliche Tätigkeiten. öffentliche Stellen an die Die Staatsanwaltschaften und, vorbehaltlich der Verfassungsschutzbehörde staatsanwaltlichen Sachleitungsbefugnis, die Polizei übermitteln darüber hinaus auch andere im Rahmen (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einihrer Aufgabenerfüllung bekannt gewordene Inforzelfall bei Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinmationen über Bestrebungen im Sinne des SS 5 Abs. stituten und Finanzunternehmen unentgeltlich Aus2. künfte zu Konten, Kontoinhabern und sonstigen (2) Die Verfassungsschutzbehörde kann von Berechtigten sowie weiteren am Zahlungsverkehr jeder der in Absatz 1 genannten öffentlichen Stellen Beteiligten und zu Geldbewegungen und Geldanlaverlangen, dass sie ihr die zur Erfüllung ihrer gen einholen, wenn dies zur Beobachtung gewaltAufgaben erforderlichen Informationen einschließtätiger Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3 lich personenbezogener Daten übermittelt, wenn die erforderlich ist und tatsächliche Anhaltspunkte für Informationen nicht aus allgemein zugänglichen Gefahren für Leib und Leben vorliegen. Quellen oder nur mit unverhältnismäßigem Auf(2) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einwand oder nur durch eine den Betroffenen stärker zelfall zur Beobachtung gewalttätiger Bestrebungen belastende Maßnahme erhoben werden können. Es nach SS 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3 und wenn tatsächliche dürfen nur die Informationen übermittelt werden, Anhaltspunkte für Gefahren für Leib und Leben die bei der ersuchten Behörde bereits bekannt sind. vorliegen unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. 1 (3) Die Verfassungsschutzbehörde braucht Erdes Art. 10-Gesetzes bei Personen und Unternehsuchen nicht zu begründen, soweit dies dem Schutz men, die geschäftsmäßig Postdienstleistungen erder betroffenen Person dient oder eine Begründung bringen, sowie bei denjenigen, die an der Erbrinden Zweck der Maßnahme gefährden würde. gung dieser Dienstleistungen mitwirken, unent(4) Die Übermittlung personenbezogener Ingeltlich Auskünfte zu Namen, Anschriften, Postformationen, die aufgrund einer Maßnahme nach fächern und sonstigen Umständen des Postverkehrs SS 100a der Strafprozessordnung bekannt geworden einholen. sind, ist nur zulässig, wenn tatsächliche Anhalts(3) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einpunkte dafür bestehen, dass jemand eine der in SS 3 zelfall bei Luftfahrtunternehmen unentgeltlich Auskünfte zu Namen, Anschriften und zur Inanspruch- AN H AN G 277 nahme von Transportleistungen und sonstigen Umerklärt, hat die Senatsverwaltung für Inneres unständen des Luftverkehrs einholen, wenn dies zur verzüglich aufzuheben. Für die Verarbeitung der Beobachtung gewalttätiger Bestrebungen nach SS 5 nach den Abs. 1 bis 4 erhobenen Daten ist SS 4 des Abs. 2 Nr. 2 und 3 erforderlich ist und tatsächliche Art. 10-Gesetzes entsprechend anzuwenden. Das Anhaltspunkte für Gefahren für Leib und Leben Auskunftsersuchen und die übermittelten Daten vorliegen. dürfen dem Betroffenen oder Dritten nicht mit(4) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Eingeteilt werden. SS 12 Abs. 1 und 3 des Art. 10-Gezelfall zur Beobachtung gewalttätiger Bestrebungen setzes findet entsprechende Anwendung. nach SS 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3 und wenn tatsächliche (6) Die Senatsverwaltung für Inneres unterAnhaltspunkte für Gefahren für Leib und Leben richtet im Abstand von höchstens sechs Monaten vorliegen unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. 1 den Ausschuss für Verfassungsschutz des Abgeorddes Art. 10-Gesetzes bei denjenigen, die geschäftsnetenhauses über die Durchführung der Absätze 1 mäßig Telekommunikationsdienste und Teledienste bis 5; dabei ist insbesondere ein Überblick über erbringen oder daran mitwirken, unentgeltlich AusAnlass, Umfang, Dauer, Ergebnis und Kosten der künfte über Telekommunikationsverbindungsdaten im Berichtszeitraum durchgeführten Maßnahmen und Teledienstnutzungsdaten einholen. Die Ausnach den Absätzen 1 bis 4 zu geben. kunft kann auch in Bezug auf zukünftige Telekom(7) Die Senatsverwaltung für Inneres untermunikation und zukünftige Nutzung von Telerichtet das Parlamentarische Kontrollgremium des diensten verlangt werden. TelekommunikationsverBundes jährlich über die nach den Absätzen 1 bis 5 bindungsdaten und Teledienstnutzungsdaten sind: durchgeführten Maßnahmen; Abs. 6 gilt entspre1. Berechtigungskennungen, Kartennummern, chend. Standortkennung sowie Rufnummer oder Kennung (8) Das Grundrecht des Brief-, Postund Ferndes anrufenden und angerufenen Anschlusses oder meldegeheimnisses (Art. 10 des Grundgesetzes, der Endeinrichtung, Art. 16 der Verfassung von Berlin) wird nach Maß2. Beginn und Ende der Verbindung nach Datum gabe der Absätze 2, 4 und 5 eingeschränkt. und Uhrzeit, SS 28 3. Angaben über die Art der vom Kunden in Übermittlungsverbote Anspruch genommenen Telekommunikationsund Teledienst-Dienstleistungen, Die Übermittlung von Informationen nach den Vor4. Endpunkte festgeschalteter Verbindungen, ihr schriften dieses Abschnitts unterbleibt, wenn Beginn und ihr Ende nach Datum und Uhrzeit. 1. eine Prüfung durch die übermittelnde Stelle er(5) Auskünfte nach den Abs. 1 bis 4 dürfen nur gibt, dass die Informationen zu löschen oder für die auf Antrag eingeholt werden. Der Antrag ist von empfangende Stelle nicht mehr bedeutsam sind, der Leitung der Verfassungsschutzabteilung, im 2. überwiegende Sicherheitsinteressen dies erforFalle ihrer Verhinderung von ihrem Vertreter dern, schriftlich zu stellen und zu begründen. Über den 3. für die übermittelnde Stelle erkennbar ist, dass Antrag entscheidet der Senator für Inneres, im Fall unter Berücksichtigung der Art der Informationen seiner Verhinderung der Staatssekretär. Die Senatsund ihrer Erhebung die schutzwürdigen Interessen verwaltung für Inneres unterrichtet die Kommission der betroffenen Personen das Allgemeininteresse an nach SS 2 des Gesetzes zur Ausführung des Art. 10der Übermittlung überwiegen oder Gesetzes über die beschiedenen Anträge vor deren 4. besondere gesetzliche ÜbermittlungsregelunVollzug. Bei Gefahr in Verzug kann der Senator für gen entgegenstehen; die Verpflichtung zur WahInneres, im Falle seiner Verhinderung der Staatsrung gesetzlicher Geheimhaltungspflichten oder sekretär den Vollzug der Entscheidung auch bereits von Berufsoder besonderen Amtsgeheimnissen, vor der Unterrichtung der Kommission anordnen. die nicht auf gesetzlichen Vorschriften beruhen, Die Kommission prüft von Amts wegen oder bleibt unberührt. aufgrund von Beschwerden die Zulässigkeit und Notwendigkeit der Einholung von Auskünften. SS 15 SS 29 Abs. 5 des Art. 10-Gesetzes ist mit der Maßgabe Minderjährigenschutz entsprechend anzuwenden, dass die Kontrollbe(1) Informationen einschließlich personenbezofugnis der Kommission sich auf die gesamte gener Daten über das Verhalten Minderjähriger dürErhebung, Verarbeitung und Nutzung der nach den fen nach den Vorschriften dieses Gesetzes überAbs. 1 bis 4 erlangten personenbezogenen Daten mittelt werden, solange die Voraussetzungen der erstreckt. Entscheidungen über Auskünfte, die die Speicherung nach SS 13 Abs. 2 erfüllt sind. Kommission für unzulässig oder nicht notwendig 278 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 (2) Informationen einschließlich personenbezoWesen nach, insbesondere wegen der überwiegener Daten über das Verhalten Minderjähriger vor genden berechtigten Interessen Dritter, geheimVollendung des 16. Lebensjahres dürfen nach den gehalten werden müssen. Vorschriften dieses Gesetzes nicht an ausländische Die Entscheidung nach den Sätzen 1 und 2 trifft der oder überoder zwischenstaatliche Stellen überLeiter der Verfassungsschutzabteilung oder ein von mittelt werden. ihm besonders beauftragter Mitarbeiter. (3) Die Ablehnung einer Auskunft ist zuSS 30 mindest insoweit zu begründen, dass eine verwalNachberichtspflicht tungsgerichtliche Nachprüfung der VerweigerungsErweisen sich Informationen nach ihrer Übermitgründe gewährleistet wird, ohne dabei den Zweck tlung nach den Vorschriften dieses Gesetzes als der Auskunftsverweigerung zu gefährden. Die unvollständig oder unrichtig, so hat die übermitGründe der Ablehnung sind in jedem Fall aktentelnde Stelle ihre Informationen unverzüglich gekundig zu machen. genüber der empfangenden Stelle zu ergänzen oder (4) Wird die Auskunftserteilung ganz oder zu berichtigen, wenn dies zu einer anderen Beteilweise abgelehnt, ist die betroffene Person darauf wertung der Informationen führen könnte oder zur hinzuweisen, dass sie sich an den Berliner Wahrung schutzwürdiger Interessen der betroffenen Beauftragten für den Datenschutz und für das Recht Person erforderlich ist. Die Ergänzung oder Berichauf Akteneinsicht wenden kann. Dem Berliner tigung ist aktenkundig zu machen und in den Beauftragten für den Datenschutz und für das Recht entsprechenden Dateien zu vermerken. auf Akteneinsicht ist auf sein Verlangen Auskunft zu erteilen, soweit nicht der Senator für Inneres im VIERTER ABSCHNITT Einzelfall feststellt, dass dadurch die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gefährdet würde. MitAuskunftserteilung teilungen des Berliner Beauftragten für den DatenSS 31 schutz und für das Recht auf Akteneinsicht an den Auskunft an den Betroffenen Betroffenen dürfen keine Rückschlüsse auf den Erkenntnisstand der Verfassungsschutzbehörde zu(1) Die Verfassungsschutzbehörde erteilt einer lassen, soweit sie nicht einer weitergehenden Ausnatürlichen Person über die zu ihr gespeicherten kunft zustimmt. Der Kontrolle durch den Berliner Informationen auf Antrag unentgeltlich Auskunft. Beauftragten für den Datenschutz und für das Recht Die Auskunftsverpflichtung erstreckt sich nicht auf auf Akteneinsicht unterliegen nicht personenbeInformationen, die nicht der alleinigen Verfügungszogene Informationen, die der Kontrolle durch die berechtigung der Verfassungsschutzbehörde unterKommission nach SS 2 des Gesetzes zur Ausführung liegen, sowie auf die Herkunft der Informationen des Gesetzes zu Art. 10 Grundgesetz unterliegen, es und die Empfänger von Übermittlungen. sei denn, die Kommission ersucht den Berliner (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf den Beauftragten für den Datenschutz und für das Recht Antrag ablehnen, wenn das öffentliche Interesse an auf Akteneinsicht, die Einhaltung der Vorschriften der Geheimhaltung ihrer Tätigkeit oder ein überüber den Datenschutz bei bestimmten Vorgängen wiegendes Geheimhaltungsinteresse Dritter gegenoder in bestimmten Bereichen zu kontrollieren und über dem Interesse der antragstellenden Person an ausschließlich ihr darüber zu berichten. der Auskunftserteilung überwiegt. In einem solchen Fall hat die Verfassungsschutzbehörde zu prüfen, SS 32 ob und inwieweit eine Teilauskunft möglich ist. Ein Akteneinsicht Geheimhaltungsinteresse liegt vor, wenn (1) Sind personenbezogene Daten in Akten ge1. eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung durch speichert, so kann dem Betroffenen auf Antrag die Auskunftserteilung zu besorgen ist, Akteneinsicht gewährt werden, soweit Geheimhal2. durch die Auskunftserteilung Quellen gefährtungsinteressen oder schutzwürdige Belange Dritter det sein können oder die Ausforschung des Ernicht entgegenstehen. SS 31 gilt entsprechend. kenntnisstandes oder der Arbeitsweisen der Verfas(2) Die Einsichtnahme in Akten oder Aktensungsschutzbehörde zu befürchten ist, teile ist insbesondere dann zu versagen, wenn die 3. die Auskunft die öffentliche Sicherheit gefährDaten des Betroffenen mit Daten Dritter oder geden oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines heimhaltungsbedürftigen sonstigen Informationen Landes Nachteile bereiten würde oder derart verbunden sind, dass ihre Trennung auch 4. die Informationen oder die Tatsache der Speidurch Vervielfältigung und Unkenntlichmachung cherung nach einer Rechtsvorschrift oder ihrem nicht oder nur mit unverhältnismäßig großem Auf- AN H AN G 279 wand möglich ist. In diesem Fall ist dem Betrofoder der Senat widerspricht; in diesem Fall legt der fenen zusammenfassende Auskunft über den Senat dem Ausschuss seine Gründe dar. Akteninhalt zu erteilen. (2) Die Vorschriften des Absatzes 1 gelten für (3) Das Berliner Informationsfreiheitsgesetz stellvertretende Mitglieder des Ausschusses entvom 15. Oktober 1999 (GVBl. S. 561) findet auf sprechend. die von der Verfassungsschutzabteilung der Senatsverwaltung für Inneres geführten Akten keine SS 35 Anwendung. Aufgaben und Befugnisse des Ausschusses (1) Der Senat hat den Ausschuss umfassend FÜNFTER ABSCHNITT über die allgemeine Tätigkeit der VerfassungsParlamentarische Kontrolle schutzbehörde und über Vorgänge von besonderer Bedeutung zu unterrichten; er berichtet auch über SS 33 den Erlass von Verwaltungsvorschriften. Der AusAusschuss für Verfassungsschutz schuss hat Anspruch auf Unterrichtung. (2) Der Ausschuss hat auf Antrag mindestens (1) In Angelegenheiten des Verfassungseines seiner Mitglieder das Recht auf Erteilung von schutzes unterliegt der Senat von Berlin der Auskünften, Einsicht in Akten und andere UnterlaKontrolle durch den Ausschuss für Verfassungsgen, Zugang zu Einrichtungen der Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses von Berlin. Die schutzbehörde sowie auf Anhörung von deren Rechte des Abgeordnetenhauses und seiner anderen Dienstkräften. Die Befugnisse des Ausschusses Ausschüsse bleiben unberührt. nach Satz 1 erstrecken sich nur auf Gegenstände, (2) Der Ausschuss für Verfassungsschutz bedie der alleinigen Verfügungsberechtigung der Versteht in der Regel aus höchstens zehn Mitgliedern. fassungsschutzbehörde unterliegen. Das Vorschlagsrecht der Fraktionen für die Wahl (3) Der Senat kann die Unterrichtung über einder Mitglieder richtet sich nach der Stärke der Frakzelne Vorgänge verweigern und bestimmten Kontionen, wobei jede Fraktion mindestens durch ein trollbegehren widersprechen, wenn dies erforderlich Mitglied vertreten sein muss. Eine Erhöhung der im ist, um vom Bund oder einem deutschen Land Satz 1 bestimmten Mitgliederzahl ist nur zulässig, Nachteile abzuwenden; er hat dies vor dem Aussoweit sie zur Beteiligung aller Fraktionen notwenschuss zu begründen. dig ist. Für jedes Mitglied wird ein stellvertretendes (4) Das Abgeordnetenhaus kann den Ausschuss Mitglied gewählt, das im Fall der Verhinderung des für einen bestimmten Untersuchungsgegenstand als Mitglieds dessen Rechte und Pflichten wahrnimmt. Untersuchungsausschuss (Art. 48 der Verfassung (3) Scheidet ein Mitglied aus dem Abgeordnevon Berlin) einsetzen. SS 3 des Gesetzes über die tenhaus oder seiner Fraktion aus, so verliert es die Untersuchungsausschüsse des Abgeordnetenhauses Mitgliedschaft im Ausschuss für Verfassungsvon Berlin vom 22. Juni 1970 (GVBI. S. 925), schutz. Für dieses Mitglied ist unverzüglich ein zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. Juni 1991 neues Mitglied zu wählen; das gleiche gilt, wenn (GVBI. S. 154), findet keine Anwendung. ein Mitglied aus dem Ausschuss ausscheidet. Für (5) Für den Ausschuss gelten im Übrigen die stellvertretende Mitglieder des Ausschusses gelten Bestimmungen der Geschäftsordnung des Abgedie Vorgaben der Sätze 1 und 2 entsprechend. ordnetenhauses von Berlin. SS 34 SS 36 Geheimhaltung Vertrauensperson des Ausschusses für (1) Die Öffentlichkeit wird durch einen Beschluss Verfassungsschutz des Ausschusses ausgeschlossen, wenn das öffentDer Ausschuss für Verfassungsschutz kann zur liche Interesse oder berechtigte Interessen eines Wahrnehmung seiner Kontrollaufgaben im Einzeleinzelnen dies gebieten. Sofern die Öffentlichkeit fall nach Anhörung des Senats mit der Mehrheit ausgeschlossen ist, sind die Mitglieder des Ausseiner Mitglieder eine Vertrauensperson beauftraschusses zur Verschwiegenheit über Angelegengen, Untersuchungen durchzuführen und dem Ausheiten verpflichtet, die ihnen dabei bekannt geschuss über das Ergebnis in nicht öffentlicher worden sind. Das gleiche gilt auch für die Zeit nach Sitzung zu berichten. Die Vertrauensperson soll die dem Ausscheiden aus dem Ausschuss. Die VerBefähigung zum Richteramt besitzen und wird für pflichtung zur Verschwiegenheit kann von dem die Dauer der jeweils laufenden Wahlperiode vom Ausschuss aufgehoben werden, soweit nicht beAusschuss für Verfassungsschutz mit der Mehrheit rechtigte Interessen eines Einzelnen entgegenstehen von zwei Dritteln seiner Mitglieder gewählt. 280 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 6 SECHSTER ABSCHNITT SS 39 Schlussvorschriften Inkrafttreten, Außerkrafttreten SS 37 (1) Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Einschränkung von Grundrechten Verkündung im Gesetzund Verordnungsblatt für Berlin in Kraft. Aufgrund dieses Gesetzes kann das Grundrecht auf SS 27a tritt außer Kraft, sobald das BundesverUnverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 des fassungsschutzgesetz vom 20. Dezember 1990 Grundgesetzes eingeschränkt werden. (BGBl. I S. 2954, 2970), zuletzt geändert durch Art. 9 des Gesetzes vom 16. August 2002 (BGBl. I SS 38 S. 3202), gemäß Art. 22 Abs. 2 des TerrorismusAnwendbarkeit des Berliner Datenschutzgesetzes bekämpfungsgesetzes vom 9. Januar 2002 (BGBl. I Bei der Erfüllung der Aufgaben nach SS 5 durch die S. 361, 3142) wieder in seiner am 31. Dezember Verfassungsschutzbehörde finden die SSSS 6a, 10 bis 2001 maßgeblichen Fassung gilt. Der Tag des 17 und 19 Abs. 2 bis 4 des Berliner DatenschutzAußerkrafttretens ist im Gesetzund Verordgesetzes in der Fassung vom 17. Dezember 1990 nungsblatt für Berlin bekannt zu machen. (GVBI. 1991 S. 16, 54), das zuletzt durch Art. I des Gesetzes vom 30. Juli 2001 (GVBI. S. 305) geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fassung keine Anwendung. AN H AN G 281 2 Personenund Sachregister 1. Mai 71 ff, 79, 130, 197 Antifa A+P (Agitation und Praxis) 210 11. September 69, 90, 102, 107 f, 110 f, 120, Antifa-Gruppen 210 143, 172, 223, 240, Antifaschismus 206, 208, 210 8. Mai 213 Antifaschistische Aktion Berlin Siehe AAB Antifaschistische Initiative weinrotes Prenz- A lauer Berg Siehe AIWP Antifaschistische Linke Berlin Siehe ALB AAB 72, 165, 208, 210, 212 Antifaschistischer Kampf 76 AAI 90, 107 ff, 224 f Anti-G 8-Bündnis für eine revolutionäre AAS 108, 224 f Perspektive 60 Achmadinedschad, Mahmud 9, 32 f, 47, 51, Antikapitalistische Aktion Berlin Siehe 145 AKAB ADHF 253 Antipluralismus 163 ADHK 253 Antirassismus 206 Adil Düzen 238 Antisemitismus 164, 213 Agenturschluss 213 Anti-Terror-Datei Siehe ATD AGÄdegF 249 Apfel, Holger 17, 177 f AGR 36, 180 f Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee der AIWP 82 Türkei Siehe TIKKO AKAB 75 Arbeiterpartei Kurdistans Siehe PKK Akif, Mohammad Mahdi 244 Arbeitskreis für Unternehmenssicherheit AKON 173 Berlin-Brandenburg 154 AKP 124, 140, 239, 241 Artgemeinschaft - Germanische GlaubensAktion Oder-Neiße Siehe AKON Gemeinschaft wesensgemäßer Aktionsfront Nationaler Sozialisten / Lebensgestaltung e. V. 193 ff Nationale Aktivisten 191, 198 ATD 263 Aktionsgruppe Rudow Siehe AGR ATÄdegF 253 al Manar 115, 228 ATÄdegK 253 al-Ahd - Al-Intiqad 228 Atomgesetz 158 al-Aqsa e. V. 227 Aufenthaltsgesetz 157 ALB 57 f, 60, 72, 75, 78, 208, 210 f Ausschreibung 152 al-Baghdadi, Shaikh Abu Umar 98 Autonome 55, 58, 61, 81, 165 f, 187, 205 ff al-Jama'a al-islamiya 223 Autonome Szene 165, 180, 205 ff al-Jihad al-islami 222 Autonome Aktionsgemeinschaften 180 f, 187 al-Maududi, Abul Ala 170, 171 Autonome Nationalisten Berlin Siehe ANB al-Qa'ida 89, 92, 94 f, 97, 99 ff, 103 ff, 111, Autoritarismus 163 222 ff, 265 Aydin, Harun 234 al-Zarqawi, Abu Mus'ab 94 f, 97 ff, 100, 104 al-Zawahiri, Aiman 95, 100, 102 ff, 223 f AMGT 233, 237, 240 B Anarchisten 165 B & H 46, 181 ff, 188, 191 ANB 35, 40, 180 f Barika-i Hakikat 233, 235 ANS / NA 198 BASO 185 Ansar al-Islam Siehe AAI Beratungsgremium der Mujahidin Siehe Ansar al-Sunna Siehe AAS MSC Anti-Antifa 8, 35 f, 39, 180 f Berliner Alternative Süd-Ost Siehe BASO Antifa 165, 180, 210 282 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 5 Berliner Arbeitskreis für Donaldson, Ian Stuart 182, 188 Sicherheitsbevollmächtigte 154 Drei-Säulen-Konzept 178 f, 191 Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz Siehe DRP 176 BSÜG DS 176 Bewachungsverordnung 158 DTP 136 Bewaffnete Streitkräfte der Armen und DVU 2 f, 11, 13, 15 ff, 21, 29, 33, 77, 173, Unterdrückten Siehe FESK 175 f, 179, 200 Bewegung der freien Jugend Kurdistans Siehe TECAK E Bewegung des Islamischen Widerstands Ehrenbund Rudel 173 Siehe HAMAS Einbürgerungsverfahren 156, 269 Bin Ladin, Usama 95, 100 ff, 104, 171, Einige Linke mit Geschichte - (elmg) 66, 68 222 ff El-Motassadeq, Mounir 90, 108, 110 f Blood & Honour Siehe B & H EMUG 238 BND 264 Erbakan, Mehmet Sabri 241 BSÜG 149 f, 153 ff, 257, 269 Erbakan, Necmettin 91, 118, 121 ff, 238 ff Bundestagswahl 12, 14, 16, 24 f, 175, 178, Erdogan, Recep Tayyip 239, 241 219, 221 Ersoy, Arif 124 Bundesverfassungsgericht 162, 179, 234 Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft e. V. Siehe C EMUG CDK 134, 248 Christophersen, Thies 201 F Clandestino 66, 67, 68 F.e.l.S. 58, 60, 72 ff Committee for a Workers International 220 Faschismus 164 ff, 206, 251 Faurisson, Robert 52 D Fazilet Partisi Siehe FP D.S.T. 41 ff, 189 f FESK 249 DABK 252 FKB 22, 29 f, 36, 40, 180 f Darkazanli, Mamoun 108, 111 Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Dehoust, Peter 200 Deutschland e. V. Siehe ATIF Demokratische Union des kurdischen Volkes Föderation der ArbeitsimmigrantInnen aus Siehe YDK der Türkei in Deutschland Siehe AGIF Der Gegenangriff 198 Föderation für demokratische Rechte in Deutsch, Stolz, Treue Siehe D.S.T. Deutschland e. V. Siehe ADHF Deutsche Kommunistische Partei Siehe DKP Föderation kurdischer Vereine in Deutschland Deutsche Stimme Siehe DS Siehe YEK-KOM Deutsche Volksunion Siehe DVU FP 239 Deutsche Liga für Volk und Heimat Siehe Freie Kräfte Berlin Siehe FKB DLVH Freiheitliche demokratische Grundordnung Deutsche Reichspartei Siehe DRP 162, 167, 260, 268 f, 271 f DHJ 195 Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei 191 DHKC 140, 143, 250 f Freiheitsund Demokratiekongress DHKP 140 ff, 250 f Kurdistans Siehe KADEK DHKP-C 140 ff, 250 f Freiheitsfalken Kurdistans Siehe TAK Die Heimattreue Jugend - Bund für Umwelt, Freiheitspartei der Frauen Kurdistans Siehe Mitwelt und Heimat e. V. Siehe DHJ PAJK Die Lunikoff-Verschwörung 41, 43, 190, 192 Frey, Dr. Gerhard 173 ff, 200 DKP 81, 215 f Front für Rechte und Freiheiten Siehe HÖC DLVH 200 Funkenflug 195 f AN H AN G 283 Für eine linke Strömung Siehe F.e.l.S. HPG 127 f, 137 f, 248 FZ Freiheitlicher Buchund ZeitschriftenHS 41 f, 181, 183, 191 Verlag GmbH 173 HuT 87, 231 f G I G 8-Gipfel 57, 59 ff, 63 f, 66, 69, 79 f, 265 I.f.A. 173 GAM 58, 81 ICCB 233 Gebrüder Strasser 187 IFB 124 Geheimschutz 149, 151 ff IGD 121, 243, 245 Geheimschutzbeauftragter 151 IGMG 87, 91, 118 ff, 237 f, 240 ff Geheimschutzverfahren 152 IL 58 ff Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum IMC 105 Siehe GTAZ Indymedia 74 Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans Initiative für Ausländerbegrenzung Siehe Siehe KKK I.f.A. Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei Institut für internationale und politische Siehe AKP Studien Siehe IPIS Gesellschaft für freie Publizistik Siehe GfP INTERIM 63, 67 ff, 75, 82, 205, 207 ff, 214 Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin International Socialists Tendency 216 Siehe VSG Bln Interventionistische Linke Siehe IL Gesetz zur Beschränkung des Postund IPIS 52 f, 204 Fernmeldegeheimnisses 257 Irak-Krieg 210 GfP 174, 200 Irving, David 47, 49, 202 GIMF 106 f Islamic Media Centre Siehe IMC Global Islamic Media Front Siehe GIMF Islamische Föderation in Berlin e. V. Siehe Globalisierung 250 IFB Grabert-Verlag 200 Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. Grundgesetz 162, 167, 172, 257, 268 ff, 275, Siehe IGD 277 f, 280 Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. Gruppe Arbeitermacht Siehe GAM Siehe IGMG GTAZ 264 Islamischer Widerstand 228 Islamisches Kulturund Erziehungszentrum H Berlin e. V. 227, 245 IST 216 HAKK-TV 235 Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden 227, 229 HAMAS 85, 87, 90, 102, 112 f, 226 f, 229 Hammerskins Siehe HS HDJ 195 f J Heimattreue Deutsche Jugend e. V. Siehe Jaish Ansar al-Sunna 224 HDJ Jama'at-i Tabligh Siehe JT Hilfsorganisation für nationale politische Jihad 97, 100 f, 104 f, 107, 171, 222 f, 225, Gefangene und deren Angehörige e. V. 232, 244 Siehe HNG JN 15, 19, 25, 29, 38, 176 f Hizb Allah 87, 90, 103, 112 ff, 228 ff JT 236 Hizb al-Tahrir al-islami Siehe HuT Junge Nationaldemokraten Siehe JN HKO 252 HNG 36, 184 f K HÖC 141 f KABD 218 Hoggan, David 201 KADEK 132, 246 f Holocaust 8 f, 32, 47 ff, 125, 174, 178, 201 ff Kalifatsstaat 233 ff home-grown-terrorism 94 f Kameradschaft Nord-Ost Siehe KNO 284 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 5 Kameradschaft Spreewacht Siehe KSW Libertad! 62 Kameradschaft Tor Berlin Siehe KTB Lichtenberg 35 41 Kameradschaften 180 f, 185 ff Linksradikalen & Autonomen Bündnis Berlin Kampfbund Deutscher Sozialisten Siehe Siehe LAB KDS Linksruck 55, 57, 60, 80, 216 f, 220 Kaplan, Cemaleddin 233 f LoT 8, 41 ff, 46, 190 Kaplan, Metin 233 f Luftsicherheitsgesetz 157 KDP 224 KDS 32 f, 52, 197 ff M KJB 248 Macht & Ehre 190 KKK 91, 137, 247 Mahler, Horst 47 ff, 202 f, 232 Kleist, Peter 201 Maoistische Kommunistische Partei Siehe KNO 38 MKP Koma Komalen Ciwanen Demokratik a Märkischer Heimatschutz - Sektion Berlin Kurdistan Siehe KOMALEN CIWAN Siehe MHS KOMALEN CIWAN 91, 131, 139, 247 Märkischer Kulturtag 197 Kommunismus 166, 212 f, 219 Marxismus-Leninismus 164, 167 f, 215, 218, Kommunistische Partei der 249 Türkei / Marxisten-Leninisten Siehe Marxistisch-Leninistische Kommunistische TKP/ML Partei Siehe MLKP Kommunistische Partei Deutschlands Siehe Marxistisch-Leninistische Partei KPD Deutschlands Siehe MLPD Kommunistischer Arbeiterverbund Mayday 71 ff Deutschlands Siehe KABD MB 87, 169, 171, 226, 243 ff Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in MEI 144, 254 Europa Siehe ATIK Meier, Silvio 40, 77 Konföderation für demokratische Rechte in MEK 92, 144 ff, 253 f Europa Siehe ADHK Menschenrechtszentrum für KONGRA-GEL 91, 126 ff, 133 ff, 246 f ExiliranerInnen e. V. Siehe MEI Kontrollverfahren 257 Mevlana Moschee e. V. 124 Konzerte 182, 188, 190, 192 mg 66 f, 70, 214 Koordination der Demokratischen MHP 140 Gesellschaft Kurdistans Siehe CDK MHS 7, 37 KP 71, 208, 210, 212 f militante gruppe Siehe mg KPD 167, 215, 218 militante Plattform 66 Kritik & Praxis B3rlin Siehe KP Militanz 167, 172, 205 ff KSW 41, 46, 186 f Militanzdebatte 57, 66 ff, 214 KTB 185 Milli Gazete 91, 118 f, 122 ff, 238 ff Kühnen, Michael 198 MKP 252 f Kurdische Demokratische Partei Siehe KDP MLKP 140 ff, 249 Kurdischer Verein für eine Demokratische MLPD 218 f Gesellschaft Siehe NAVENDA KURD MSC 97 f, 104, 106 Kutan, Recai 239 Muhacirin-Moschee 235 Mujahidin 170, 222, 225 L Muslimbruderschaft Siehe MB LAB 58 Landser 22, 24, 42, 76, 189 f, 192 N Landtagswahlen 175 N & E 199, 200 Langener Erklärung 198 Nachrichtendienstliches Informationssystem Legalresidenturen 147 Siehe NADIS Legion of Thor Siehe LoT AN H AN G 285 Nachrichtendienstliche Mittel 260 PKK 88 f, 91, 126 ff, 141, 246 ff NADIS 261, 268, 270 Proliferation 147 f NAPB 38 PUK 224 Nasrallah, Hassan 114 ff, 228 f Nation & Europa - Deutsche Monatshefte Q Siehe N & E Quellenschutz 260 Nationaldemokratische Partei Deutschlands Qutb, Sayyid 171, 225, 243 Siehe NPD Nationaldemokratischer Hochschulbund e. V. R Siehe NHB Nationale Alternative 191 Rassismus 164 f, 206 Nationale Befreiungsarmee Siehe NLA REBELL 218 Nationale Aktivisten Prenzlauer Berg Siehe Rechtsextremistische Musik 182, 187 f NAPB Regelausweisungstatbestände 157 Nationaler Widerstandsrat Iran Siehe NWRI Revisionismus 167, 201, 219 Nationalsozialismus 164, 187, 201 Revolutionäre Volksbefreiungsfront Siehe Nationalsozialistische Deutsche DHKC Arbeiterpartei Siehe NSDAP Revolutionäre Volksbefreiungspartei Siehe National-Zeitung / Deutsche Wochen-Zeitung DHKP Siehe NZ Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front NAVENDA KURD 135 Siehe DHKP-C Neonazi 187 f, 191 f Revolutionäre Zellen Siehe RZ Neonazismus 164 Richter, Karl 179, 200 Neubauer, Harald 200 Rieger, Jürgen 193, 195 NHB 176 Ring Nationaler Frauen Siehe RNF NLA 145 f, 253 RNF 26 f, 29, 176 Nordische Zeitung 193 Röhm, Ernst 187 NPD 2, 6 f, 11 ff, 37 ff, 42, 72, 76 f, 82, 173, Roßmüller, Sascha 25 176 ff, 191, 193, 200, 232 Rote Aktion Berlin 58, 61 NSDAP 187 Rote Fahne 218 NWRI 92, 144 ff, 253 f Rudolf, Germar 8, 47, 49, 201 f NZ 173 ff RZ 214 O S Observation 260, 270 Saadet Partisi Siehe SP Ostanatolisches Gebietskomitee Siehe DABK Sabotageschutz 149, 155 SAG 216 P SAV 80 ff, 217, 220 f Scharia 170, 233, 238 PAJK 248 Schwarzer Orden 43, 190 Partei der Freien Frau Siehe PJA Sicherheitsüberprüfung 149 ff, 153, 155, 261, Partei der Nationalistischen Bewegung Siehe 269 MHP Skinheads 181 ff, 186, 188, 190 ff Partei für eine demokratische Gesellschaft Sofu, Dr. Halil Ädegbrahim 234 Siehe DTP Solidarität - Sozialistische Zeitung 220 Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung Sozialistische Alternative Voran Siehe SAV Siehe AKP Sozialistischen Arbeitergruppe Siehe SAG Partei für Soziale Gleichheit 80 SP 91, 118, 121 ff, 238 ff Partizan-Flügel 252 f Spionageabwehr 147 f, 261, 270 f Patriotische Union Kurdistan Siehe PUK Spreegeschwader 41, 46, 190 PJA 248 Sprengstoffgesetz 158 286 VE R F ASSU N GSSC HUT Z B E R IC HT B E RL IN 2 0 0 5 T Volksbefreiungsarmee Siehe HKO Volksfront 179 Tabligh-i Jama'at Siehe TJ Volkskongress Kurdistans Siehe KONGRATAK 91, 129 f, 132 f, 136 f, 248 GEL Taliban 222, 224 Volksmojahedin Iran-Organisation Siehe Tayad-Komitee 142, 251 MEK TECAK 131, 247 Volksverhetzung 8, 20, 31, 44 f, 47, 49 f, 88, Terrorismus 168, 170, 172, 223 189, 204 TÄdegKKO 252 Volksverhetzung 46 TIT 133 Volksverteidigungskräfte Siehe HPG TJ 236 f von Thadden, Adolf 176, 200 TKP / ML 141, 252 f V-Personen 179, 260 Trolley-Bomber 93, 96 VRBHV 8, 47 ff, 52, 202 ff Tugendpartei 239 VSG Bln 149, 153, 156, 162, 257 f, 260 f, Türkische Rachebrigaden Siehe TIT 262, 264, 268 Ü W Überwachung des Postund FernmeldeWaffengesetz 158 verkehrs 261 Wahlalternative Arbeit und Soziale Ücüncü, Oguz 242 Gerechtigkeit Siehe WASG Ümmet-i Muhammed 235 Walendy, Udo 201 WASG 80 ff, 216 f, 219, 221 U Wetterleuchten 197 f Union der stolzen Frauen Siehe KJB Wiking-Jugend e. V. Siehe WJ Wilhelm-Tietjen-Stiftung für V Fertilisationsforschung 195 WJ 193, 196 Vandalen 8, 22, 41 f, 192 f Vandalen - Ariogermanische Kampfgemein- X schaft Siehe Vandalen Verband der islamischen Vereine und X.x.X 41, 43 f Gemeinden e. V. Köln Siehe ICCB Verbeke, Siegfried 8, 47, 49, 202 Y Verein zur Rehabilitierung der wegen Yassin, Ahmad 226 Bestreitens des Holocaust Verfolgten Siehe YDK 248 VRBHV YEK-KOM 135 Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e. V. Siehe AMGT Z Vereinsgesetzes 234 Vereinte Nationalisten Nordost Siehe VNNO Zündel, Ernst 8, 47, 49 f, 201 f Verschlusssachen 149 ff Zündstoff - Deutsche Stimme für Berlin und Verschlusssachenanweisung 151 Brandenburg 176 VNNO 38 Zuverlässigkeitsüberprüfungen 157 f Voigt, Udo 16, 25, 32, 178, 232 Publikationen des Verfassungsschutzes Berlin REIHE IM FOKUS Rechtsextremistische Skinheads 1. Auflage Berlin 2003 (im Internet abrufbar). 86 Seiten. Islamismus. Diskussion eines vielschichtigen Phänomens 1. Auflage Berlin 2005. 116 Seiten. Rechte Gewalt in Berlin 2. Auflage Berlin 2006. 64 Seiten. Antisemitismus im extremistischen Spektrum Berlins 2. Auflage Berlin 2006. 55 Seiten. REIHE INFO Symbole und Kennzeichen des Rechtsextremismus 4. überarbeitete Auflage Berlin 2006. 32 Seiten. Islamismus 1. Auflage Berlin 2006. 39 Seiten. Diese sowie weitere Publikationen des Berliner Verfassungsschutzes können Sie unter der rückseitig angegebenen Adresse sowie telefonisch unter (030) 90 129-853 bestellen oder aber im Internet abrufen unter www.verfassungsschutz-berlin.de. Der Berliner Verfassungsschutz bietet zudem Vorträge zu den einzelnen Extremismusbereichen und zur Spionage an. Nähere Informationen erhalten Sie unter (030) 90 129-874. Senatsverwaltung für Inneres und Sport Abteilung Verfassungsschutz Postfach 620560 10795Berlin Tel.: (030) 90129-0 Internet: http:/ / www.verfassungsschutz-berlin.de E-Mail: info@verfassungsschutz-berlin.de