Senatsverwaltung für Inneres 1 Verfassungsschutzbericht Senatsverwaltung für Inneres Abteilung Verfassungsschutz Verfassungsschutzbericht 2005 Erreichbarkeit des Berliner Verfassungsschutzes Senatsverwaltung für Inneres, Abteilung Verfassungsschutz Adresse: Potsdamer Str. 186, 10783 Berlin Postanschrift: Postfach 62 05 60, 10795 Berlin Internet: www.verfassungsschutz-berlin.de E-Mail: info@verfassungsschutz-berlin.de Vermittlung: (030) 90 129-0 Fax: (030) 90 129-844 Öffentlichkeitsarbeit: (030) 90 129-874 (030) 90 129-516 Fax: (030) 90 129-876 Pressestelle: (030) 90 129-565 Fax: (030) 90 129-533 Vertrauliches Telefon: (030) 90 129-400 Informationsmaterial: (030) 90 129-853 Herausgeber: Senatsverwaltung für Inneres Abteilung Verfassungsschutz Redaktion: Arbeitsgruppe Öffentlichkeitsarbeit Druck: KOMAG mbH Redaktionsschluss: März 2006 Abdruck gegen Quellenangabe gestattet, Belegexemplar erbeten. Hinweis: Dieser Verfassungsschutzbericht erwähnt nicht alle Beobachtungsobjekte des Berliner Verfassungsschutzes. V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 3 VORWORT Das Bild des zerfetzten Busses in London hat sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Er steht zusammen mit den Bombenanschlägen auf drei U-Bahnen für 52 Tote und über 700 Verletzte. Erstmalig wurden damit auch in Europa Selbstmordanschläge verübt. Als 2004 in Madrid vier Pendlerzüge explodierten, 191 Menschen ums Leben kamen und mehr als 1500 verletzt wurden, hatten alle befürchtet, dass noch etwas Ähnliches geschehen könnte, verhindert wurde es nicht. Die spezielle Gefahr plötzlich aktiv werdender Zellen besteht darin, dass sie isoliert handeln, nicht zwingend auf eine Steuerung durch "al-Qa alQa'ida" angewiesen sind, sondern sich lediglich von dieser Ideologie inspirieren lassen. Damit ist ihnen im Vorfeld kaum auf die Schliche zu kommen. Bisher ist Deutschland von Anschlägen verschont geblieben, doch eine Gefährdung besteht weiterhin. Dass die Bundesrepublik von islamistisch motiviertem Terrorismus betroffen sein kann und hier Anschläge geplant und vorbereitet werden, belegen nicht zuletzt die in Deutschland geführten Prozesse und Verurteilungen von Terroristen. Die Prozesse und das verhinderte Attentat auf den ehemaligen irakischen Ministerpräsidenten Allawi bei dessen Staatsbesuch in Berlin im Dezember 2004 zeigen aber auch, dass die sicherheitspolitischen Maßnahmen greifen und der Schutz durch die Wachsamkeit unserer Sicherheitsbehörden bisher gewährleistet werden konnte. Aber ich warne davor, Muslime unter Generalverdacht zu stellen. Nur eine verschwindende Minderheit der in Berlin lebenden Menschen islamischen Glaubens hängt extremistischen Bestrebungen an. Ich verstehe es als meine Pflicht, einen ständigen Dialog mit den Muslimen zu führen. Nur wer miteinander spricht, kann sich auch gegenseitig verstehen. Das Ende der Toleranz ist aber dann erreicht, wenn die Religion nur als Deckmäntelchen für politische Ambitionen genutzt wird, um Wertvorstellungen, auf denen das Grundgesetz basiert, zu verdrängen. Das bedeutet, dass uns die Integration muslimischer Jungen und Mädchen in unsere Werteordnung ein besonderes Anliegen sein muss, damit sie nicht 4 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 von extremistischen Gruppierungen beeinflusst werden, die systematisch über ihre "Jugendarbeit" Nachwuchs zu rekrutieren versuchen. Auch der Rechtsextremismus versucht, insbesondere Jugendliche für sich zu gewinnen. Diese besonders dumpfe Form von Extremismus dürfen wir bei aller Sorge vor eventuellen Terroranschlägen nicht vergessen. Durch die Verbote der Kameradschaften "Tor" und "Berliner Alternative Südost" hat die Szene einen Dämpfer erlitten. Bei zwei Landtagswahlen und der Bundestagswahl zeigten sich die rechtsextremen Parteien chancenlos. Allerdings gelang es der NPD in Berlin, Mitglieder zu gewinnen und ihre Jugendorganisation, die JN, zu beleben. Gleichzeitig gewinnt die so genannte autonome rechtsextremistische Szene an Zulauf, die sich spiegelbildlich ihrem linksextremen Widerpart durch einen geringst möglichen Organisationsgrad der behördlichen Verfolgung zu entziehen versucht. Insgesamt zählen wir in Berlin etwas weniger Rechtsextremisten als im Vorjahr, doch deren Umtriebe in unserer Stadt erfordern weiterhin unsere hohe Aufmerksamkeit. Der Linksextremismus zeigt sich auch in diesem Berichtsjahr zerstritten. Der Versuch, sich über Bündnisse zu stabilisieren, scheiterte. Die Parteien blieben bei den Wahlen erfolglos und verlieren weiter an Mitgliedern. Der Linksextremismus in Berlin hat sich im vergangenen Jahr deutlich geschwächt gezeigt. Die Intensivierung bei einem Teil der "Antifa"Aktivitäten aber belegt, dass die Szene nicht abzuschreiben ist. Dabei zeichneten sich eine zunehmende Radikalisierung und Gewaltbereitschaft ab. Das trifft übrigens mit umgekehrtem Vorzeichen auch auf die rechtsextremen "Anti-Antifa-Aktivitäten" zu. Der "Antifaschistische Kampf" dient einem Teil der linksextremistischen Szene vor allem als Mittel zum Zweck. Aussagen gegen Rechtsextremisten verbinden Linksextremisten im allgemeinen mit der Abschaffung des Kapitalismus, womit sie letztlich die freiheitliche demokratische Grundordnung meinen. Zum Verständnis der verschiedenen Extremismusformen ist es sehr wichtig, nicht nur darauf zu hören, wogegen sich die jeweilige Ideologie ausspricht, sondern danach zu fragen, was sie denn wirklich will. Die Propaganda verbrämt die wahren Absichten gerne hinter vermeintlich populären Aussagen, um ihre freiheitsfeindlichen Ziele zu kaschieren. Schule, Gesellschaft und natürlich die Politik sind aufgerufen, Jugend- V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 5 lichen bei ihrer Selbstsuche zu helfen, ihnen Orientierung zu geben und sie nicht extremistischen Rattenfängern zu überlassen, denn nur so können wir auf Dauer unsere Verfassung und damit unsere freiheitliche Art zu leben, schützen. Der Verfassungsschutzbericht soll dabei helfen, über Ideologen aufzuklären, die meinen, die Wahrheit gepachtet zu haben. Denn im Extremismus steckt immer Menschenverachtung, egal wie er auftritt. Dr. Ehrhart Körting Senator für Inneres 6 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Inhaltsverzeichnis Vorwort.................................................................................................... 3 AKTUELLE ENTWICKLUNGEN IN DEN BEOBACHTUNGSFELDERN .................................................................13 1 RECHTSEXTREMISMUS 14 1.1 Überblick............................................................................................14 1.2 Aktionsorientierter Rechtsextremismus .........................................20 1.2.1 Restrukturierung im Netzwerk Kameradschaften...............................20 1.2.2 Ideologie und Strategie: Neonazismus und "Autonomismus"............25 1.2.3 Zunehmende Gewaltbereitschaft und strategischer Einsatz von Gewalt..............................................................................30 1.2.4 Netzwerk Rechtsextremistische Musik unter hohem Verfolgungsdruck nur wenig aktiv......................................................35 1.3 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus ...................................44 1.3.1 Rechtsextremistische Parteien bei Wahlen chancenlos ......................44 1.3.2 "Volksfront" hat weiter Bestand .........................................................50 1.3.3 Berliner NPD-Landesverband im Aufschwung ..................................62 1.4 Diskursorientierter Rechtsextremismus .........................................66 1.4.1 Revisionistenszene durch Inhaftierungen geschwächt........................66 2 LINKSEXTREMISMUS 70 2.1 Überblick............................................................................................70 2.2 Linksextremistische Szene deutlich geschwächt ............................74 2.3 "Antifaschistischer Kampf" intensiviert.........................................83 2.4 Die Militanzdebatte geht weiter .......................................................95 2.5 Bedeutungslosigkeit linksextremistischer Parteien......................101 3 AUSLÄNDEREXTREMISMUS 108 3.1 Überblick..........................................................................................108 3.2 Transnationaler islamistischer Terrorismus ................................116 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 7 3.2.1 Erste Selbstmordanschläge in Europa...............................................116 3.2.2 Bedrohungslage für Deutschland ......................................................117 3.2.3 Strategie der internationalen Anschläge............................................119 3.2.4 Aktionsund Rekrutierungsbasis Irak...............................................120 3.2.5 Audiound Videobotschaften von "al-Qa'ida" ................................125 3.2.6 Internet...............................................................................................131 3.3 Prozesse und Exekutivmaßnahmen...............................................133 3.3.1 "Ansar al-Islam"................................................................................134 3.3.2 Prozess wegen Verdachts der Gründung einer terroristischen Vereinigung in Berlin........................................................................137 3.3.3 Urteilsverkündung im "Al-Tawhid"-Verfahren................................138 3.3.4 Prozesse im Zusammenhang mit dem 11. September 2001 .............139 3.3.5 Bundesweite Durchsuchungsaktion gegen islamistisches Netzwerk ....................................................................140 3.4 Türkische Islamisten .......................................................................141 3.5 Türkische Linksextremisten...........................................................149 3.5.1 Entwicklung in der Türkei.................................................................149 3.5.2 Entwicklung in Deutschland .............................................................153 3.6 Extremistische Kurden ...................................................................158 3.6.1 Gründung einer "neuen" PKK...........................................................159 3.6.2 "Demokratischer Konföderalismus" auch in weiteren Neugründungen ..................................................................160 3.6.3 Verstärkte Gefechte zwischen "Volksverteidigungskräften" und türkischem Militär .............................................................................162 3.6.4 Verbot der "Özgür Politika"..............................................................165 3.6.5 Entscheidung des EGMR zum Prozess gegen Öcalan......................166 3.6.6 Reaktionen auf Geschehnisse in Syrien ............................................168 3.7 Extremistische Iraner .....................................................................169 4 SPIONAGEABWEHR 171 4.1 Überblick..........................................................................................171 4.2 Wirtschaftsspionage ........................................................................173 4.3 Proliferation .....................................................................................175 8 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 5 GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ 180 5.1 Personeller und materieller Geheimschutz im öffentlichen Bereich ...................................................................180 5.2 Geheimschutz in der Wirtschaft ....................................................183 5.3 Sabotageschutz.................................................................................185 5.4 Mitwirkung bei Einbürgerungsverfahren und sonstigen gesetzlich vorgeschriebenen Überprüfungen...............186 5.5 Mitwirkung bei den Sicherheitsmaßnahmen anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2006.......................................................190 HINTERGRUNDINFORMATIONEN .................................................193 1 IDEOLOGIEN 194 1.1 Definition Extremismus ..................................................................194 1.2 Ideologie des Rechtsextremismus ..................................................195 1.3 Ideologie des Linksextremismus ....................................................196 1.4 Ausländerextremistische Ideologien..............................................199 2 RECHTSEXTREMISMUS 205 2.1 Aktionsorientierter Rechtsextremismus .......................................205 2.1.1 "Anti-Antifa.......................................................................................205 2.1.2 "Autonome Aktionsgemeinschaften"................................................206 2.1.3 "Blood & Honour " ...........................................................................207 2.1.4 "Hammerskins" .................................................................................208 2.1.5 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige" .....................................................................209 2.1.6 Kameradschaften ...............................................................................210 2.1.7 "Kameradschaft Nordland" ...............................................................211 2.1.8 "Kameradschaft Spreewacht" ...........................................................212 2.1.9 Neonazis ............................................................................................213 2.1.10 Rechtsextremistische Musik..............................................................214 2.1.11 Skinheads...........................................................................................217 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 9 2.1.12 "Vandalen - Ariogermanische Kampfgemeinschaft".......................218 2.2 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus .................................220 2.2.1 "Deutsche Volksunion".....................................................................220 2.2.2 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" .................................223 2.3 Diskursorientierter Rechtsextremismus .......................................226 2.3.1 "Die Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung"...................................................226 2.3.2 "Deutsches Kolleg" ...........................................................................228 2.3.3 "Heimattreue Deutsche Jugend e. V."...............................................232 2.3.4 "Kampfbund Deutscher Sozialisten" ................................................234 2.3.5 "Nation & Europa - Deutsche Monatshefte"...................................237 2.3.6 Revisionismus ...................................................................................239 2.3.7 "Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten" ................................................................240 3 LINKSEXTREMISMUS 243 3.1 Aktionsorientierter Linksextremismus .........................................243 3.1.1 Autonome ..........................................................................................243 3.1.2 "Autonome Antifa Nordost" .............................................................248 3.1.3 "Antifaschistische Linke Berlin" ......................................................250 3.1.4 "Kritik & Praxis B3rlin" ...................................................................251 3.1.5 "militante gruppe" .............................................................................253 3.2 Parlamentsorientierter Linksextremismus...................................254 3.2.1 "Deutsche Kommunistische Partei"..................................................254 3.2.2 "Linksruck" .......................................................................................255 3.2.3 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands".............................257 3.2.4 "Sozialistische Alternative Voran" ...................................................259 4 AUSLÄNDEREXTREMISMUS 261 4.1 Gewaltorientierte Islamisten ..........................................................261 4.1.1 Transnationale Terrornetzwerke .......................................................261 4.1.1.1 "Mujahidin-Netzwerke / "al-Qa'ida"...............................................261 4.1.1.2 "Ansar al-Islam" ("Anhänger des Islam") / "Ansar al-Sunna" ("Anhänger der Sunna") ......................................263 10 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 4.1.2 Regional gewaltausübende Gruppen.................................................264 4.1.2.1 "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS) ....................265 4.1.2.2 "Hizb Allah" ("Partei Gottes")..........................................................269 4.1.3 Gewaltbefürwortende Gruppen .........................................................273 4.1.3.1 "Hizb al-Tahrir al-islami" ("Partei der islamischen Befreiung").....273 4.1.3.2 "Kalifatsstaat" ("Hilafet Devleti") ...................................................275 4.2 Islamisten mit unklarer Gewaltorientierung................................279 4.2.1 "Tabligh-i Jama'at" bzw. "Jama'at-i Tabligh" ("Gemeinschaft für islamische Verkündigung" oder "Predigergemeinschaft") .........279 4.3 Nicht-gewaltorientierte Islamisten.................................................280 4.3.1 Islamische Gemeinschaft Milli Görüs ...........................................280 4.3.2 "Muslimbruderschaft" / "Islamische Gemeinschaft in Deutschland" .................................................................................285 4.4 Linksextremisten .............................................................................289 4.4.1 "Arbeiterkommunistische Partei Irans" ............................................289 4.4.2 "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" ......................291 4.4.3 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei -Front" / "Türkische Volksbefreiungspartei /-Front - Revolutionäre Linke" ....................292 4.4.4 "Türkische Kommunistische Partei / Marxisten-Leninisten" ..........294 4.4.5 "Volkskongress Kurdistans" / "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" / "Arbeiterpartei Kurdistans".....296 4.4.6 "Volksmojahedin Iran-Organisation" / "Nationaler Widerstandsrat Iran"......................................................299 VERFASSUNGSSCHUTZ BERLIN..............................................303 1 STRUKTUR 304 2 GESETZLICHE GRUNDLAGEN 305 2.1 Aufgaben und Befugnisse ...............................................................305 2.1.1 Grundgesetz.......................................................................................305 2.1.2 Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin...................................305 2.1.3 Gesetz zur Beschränkung des Postund Fernmeldegeheimnisses....306 2.1.4 Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz............................................308 2.1.5 Entwicklungen in der Rechtsprechung..............................................309 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 11 2.2 Kontrolle...........................................................................................312 2.2.1 Kontrollinstanzen ..............................................................................312 2.2.2 "In camera"-Verfahren......................................................................313 3 ARBEITSWEISE 314 3.1 Informationsbeschaffung................................................................314 3.1.1 Offenes Informationsmaterial ...........................................................314 3.1.2 Datenzugänge ....................................................................................314 3.1.3 Nachrichtendienstliche Quellen ........................................................315 3.2 Informationsbearbeitung................................................................316 3.3 Informationsweitergabe..................................................................318 3.3.1 Zusammenarbeit mit anderen Behörden ...........................................318 3.3.2 Öffentlichkeitsarbeit..........................................................................321 ANHANG ....................................................................................... 325 1 Entwicklung Politisch motivierter Kriminalität in Berlin 2005..................................................... 326 2 Gesetzestexte ............................................................................ 356 2.1 Gesetz über den Verfassungsschutz Berlin...................................362 2.2 Gesetz über die Voraussetzungen und das Verfahren von Sicherheitsüberprüfungen im Land Berlin ...........................378 3 Personenund Sachregister .................................................... 381 12 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Aktuelle Entwicklungen in den Beobachtungsfeldern 14 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 1 RECHTSEXTREMISMUS 1.1 Überblick Das rechtsextremistische Personenpotenzial in Berlin ist im Personenpotenzial Vergleich zum Jahr 2004 von 2 435 auf 2 400 Personen leicht gesunken leicht gesunken.1 Allerdings zeigen sich innerhalb des Personenpotenzials Verschiebungen: Während die Zahl der Neonazis in den Vorjahren stetig zugenommen hatte, war im vergangenen Jahr ein Rückgang zu verzeichnen. Zurückgegangen ist auch die Zahl der subkulturell geprägten und sonstigen gewaltbereiten Rechtsextremisten. Die rechtsextremistischen Parteien dagegen konnten nach langjährigen Mitgliederverlusten wieder leicht zulegen und stellen weiterhin den größten Anteil des Personenpotenzials. Gesamtpotential rechtsextremistischer Personenzusammenschlüsse: ca. 2400 Sonstige rechtsextremistische Organisationen 180 Subkulturell geprägte und sonstige 500 gewaltbereite Rechtsextremisten Neonazis 850 Rechtsextremistische Parteien 1020 0 200 400 600 800 1000 1200 Diese Zunahme geht allein auf den Mitgliederanstieg bei der NPD: MitgliederNationaldemokratischen Partei Deutschlands ( NPD) anstieg zurück, während die Mitgliederzahlen anderer extremistischer Parteien stagnierten. Der NPD gelang es in Berlin trotz zum Teil enttäuschender Wahlergebnisse, die seit Ende 2004 festzustellende Aufbruchstimmung zu erhalten und in Mitgliedergewinne umzusetzen. Dies gilt auch für die Bundes- 1 Diese Angaben sowie alle folgenden Angaben zu Personenpotenzialen sind geschätzt. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 15 partei der NPD, deren Mitgliederzahl in 2005 von 5 300 auf 6 000 anstieg. Die NPD kann sich daher im Gegensatz zur DVU sowohl in Berlin als auch im gesamten Bundesgebiet als Gewinnerin der "Volksfront"-Strategie sehen. Rechtsextremistisches Personenpotenzial* Berlin Bund 2004 2005 2004 2005 Gesamt 2 645 2 550 41 900 40 000 ./. Mehrfachmitgliedschaften 210 150 1 200 1 000 Tatsächliches 2 435 2 400 40 700 39 000 Personenpotenzial Personenpotenziale einzelner Personenzusammenschlüsse Berlin Bund 2004 2005 2004 2005 Subkulturell geprägte und sonstige gewaltbereite 550 500 10 000 10 400 Rechtsextremisten Neonazis 950 850 3 800 4 100 Rechtsextremistische Parteien, 1 005 1 020 23 800 21 500 davon "Deutsche Volksunion" 450 420 11 000 9 000 "Nationaldemokratische 150 190 5 300 6 000 Partei Deutschlands" Sonstige 405 410 7 500 6 500 Sonstige rechtsextremistische 140 180 4 300 4 000 Organisationen * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. Der Verfassungsschutz Berlin bewertet die rechtsextremistischen Beobachtungsobjekte und ihre Mitglieder seit einigen Jahren anhand einer Risikoanalyse.2 Danach wird - zusätzlich zu der obigen, bundesweit einheitlichen Kategorisierung - nach aktionsorientiertem, parlamentsorientiertem und diskursorientiertem Rechtsextremismus unterschieden. In- 2 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2002. Berlin 2003, S. 3 f. 16 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Bewertung nach nerhalb jedes Risikofeldes werden Rechtsextremisten durch Risikoanalyse den Verfassungsschutz nach dem von ihnen ausgehenden Risiko unterschiedlich bewertet. Im aktionsorientierten Rechtsextremismus erfolgt dies anhand der Variablen "ideologische Festigung" und "Gewaltbereitschaft". Im vergangenen Jahr ergab sich im aktionsorientierten Rechtsextremismus folgende Verteilung: Aktionsorientierte Gewaltbereit + Gewaltbereit - Rechtsextremisten* Ideologisch gefestigt + Kategorie 1 Kategorie 2 13 % 10 % Ideologisch gefestigt - Kategorie 3 Kategorie 4 18 % 42 % * Bei den restlichen 17 % liegen keine ausreichenden Erkenntnisse vor, die eine Aussage über die ideologische Festigung oder die Gewaltbereitschaft erlauben. Aus dieser Darstellung ist ersichtlich, dass der "harte Kern" - die sowohl ideologisch gefestigten als auch gewaltbereiten - 13 Prozent der bekannten aktionsorientierten Rechtsextremisten ausmacht. Weitere 18 Prozent werden als gewaltbereit aber nicht als ideologisch gefestigt beurteilt. Auch wenn im vergangenen Jahr in einem Teil des aktionsorientierten Risikofeldes ein Anstieg der gewalttätigen Aggressivität zu verzeichnen war, kann weiterhin bei einer Mehrheit der aktionsorientierten Rechtsextremisten (69 Prozent) keine generelle Gewaltbereitschaft unterstellt werden. Ein deutlicher Unterschied besteht bei den Kategorien in der Geschlechterverteilung. Während in den gewaltbereiten Kategorien 1 und 3 lediglich 1 Prozent bzw. 9 Prozent weiblich sind, erhöht sich dieser Anteil in den Kategorien 2 und 4 auf 17 Prozent bzw. 21 Prozent. Mehr Straftaten Die Statistik der "Politisch motivierten Kriminalität - Rechts" verzeichnet im Jahr 2005 einen deutlichen Anstieg von 976 auf 1 551 Delikte (59 %). Wie bereits im Vorjahr sank jedoch die Zahl der darin enthaltenen politisch rechts Weniger motivierten Gewalttaten (2005: 52 gegenüber 2004: 60 GeGewalttaten walttaten). Tötungsdelikte wurden 2005 im Gegensatz zum A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 17 Vorjahr nicht verübt. Allein 20 Gewalttaten entfielen auf den Bereich der Rechts-Links-Auseinandersetzungen, der damit im Vergleich zum Vorjahr einen starken Zuwachs zu verzeichnen hatte. Fallzahlen Politisch motivierte Kriminalität - Rechts* 2004 2005 Gesamt 976 1 551 Gewaltdelikte, 60 52 davon Tötungsdelikte SSSS 211 - 221 StGB 1 0 Körperverletzung SSSS 223 - 231 StGB 51 44 Brandstiftung SSSS 306 - 306 f StGB 0 0 Sprengstoffexplosion SS 308 StGB 0 0 Landfriedensbruch SSSS 125, 125 a StGB 4 3 Widerstandsdelikte SS 113 StGB 3 1 Raub SSSS 249 - 255 StGB 0 4 Andere Straftaten, 916 1 449 davon Propagandadelikte SSSS 86, 86 a StGB 655 1 018 Volksverhetzung SS 130 StGB 154 163 Nötigung/Bedrohung SSSS 240, 241 StGB 11 6 Beleidigung / üble Nachrede / SSSS 185 - 189 StGB 35 39 Verleumdung Sachbeschädigung SSSS 303 - 305 a StGB 20 201 Sonstiges 41 22 * Einschließlich antisemitischer und fremdenfeindlicher Straftaten. Vollständige Angaben im Auszug aus dem Bericht "Kriminalität in Berlin 2005" im Anhang. Der Anstieg der Straftaten ist zu einem großen Teil auf eine Mehr Zunahme der Propagandadelikte zurückzuführen (2005: Propagandadelikte 1 018 gegenüber 2004: 655). Nach Einschätzung des Landeskriminalamtes ist hierfür das Anlegen eines strengeren Maßstabes bei der Bewertung von Delikten ursächlich. Darüber hinaus begann im Oktober 2005 eine Serie von antisemitischen Schmierereien, die Anfang Dezember abrupt endete. Die bislang unbekannten Täter brachten im gesamten Stadtgebiet Davidsterne in diffamierender Weise an. Diese wurden als politisch rechts motiviert bewertet und führten zu 18 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 einem Anstieg der Teilmenge der antisemitischen Straftaten von 146 im Jahr 2004 auf 272 Straftaten im Jahr 2005. Eine Analyse der rechtsextremistischen Strukturen in Berlin ergab, dass innerhalb des aktionsorientierten Rechtsextremismus zwei weitgehend unabhängig voneinander agierende Netzwerke rechtsextremistischer Personenzusammenschlüsse unterschieden werden können: ein "Netzwerk Musik" und ein "Netzwerk Kameradschaften".3 Netzwerk Im Netzwerk Kameradschaften () war die Entwicklung Kameradschaften: geprägt von den Verboten der beiden Kameradschaften Ausdifferenzierung "Berliner Alternative Süd-Ost" (BASO) und "Kameradschaft Tor" (KTB) durch die Senatsverwaltung für Inneres am 7. März. Diese Maßnahme führte zu einer weiteren Ausdifferenzierung des Netzwerks. Konventionell strukturierte Kameradschaften verloren an Bedeutung. Während 2004 noch zahlreiche Kameradschaften gegründet wurden, traten 2005 nur noch drei öffentlich in Erscheinung. Einige Aktivisten des aktionsorientierten Kameradschaftsnetzwerks belebten in Zusammenarbeit mit der NPD deren Jugendorganisation, die "Jungen Nationaldemokraten" (JN), neu. Regen Zulauf fanden vor allem die bereits 2004 entstanZulauf Anti-Antifa denen autonomen Aktionsgemeinschaften (). Autonome Rechtsextremisten verfolgten 2005 rege "Anti-Antifa"-Aktivitäten, die sich neben der Ausforschung politischer Gegner auch in zahlreichen, zum Teil strafrechtlich relevanten Schmierereien und in gewaltsamen Auseinandersetzungen mit (vermeintlichen) politischen Gegnern niederschlugen. Zudem nahmen autonome Rechtsextremisten regelmäßig an rechtsextremistischen Demonstrationen teil und legten dabei ein zunehmend aggressives Verhalten gegenüber Polizeibeamten und Gegendemonstranten an den Tag. Verbindendes Element für Vertreter aller drei Organisationsformen ist eine gemeinsame nationalrevolutionäre Ideologie, die allerdings von den "autonomen Aktionsgemeinschaften" in 3 An der Bezeichnung "Netzwerk Kameradschaften" wird trotz des herrschenden Trends weg von der Organisationsform "Kameradschaft" hin zu so genannten "autonomen Aktionsgemeinschaften" festgehalten. Dies verdeutlicht, dass es sich weitgehend um denselben Personenkreis handelt. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 19 "klassisch" linksextremistischem Vokabular mit antikapitalistischen und antiimperialistischen Forderungen pointierter vorgebracht wird. Im rechtsextremistischen "Netzwerk Musik" entfalteten in Berlin nach den repressiven staatlichen Maßnahmen der vergangenen Jahre nur noch wenige PersonenzusammenNetzwerk Musik: Konzerte und CDs schlüsse größere Aktivitäten. Die Jahresfeiern der "Vandalen () und der Hammerskins (), die bisher über Berlin hinaus eine überregionale Vernetzung sicherstellten, fanden 2005 nicht statt. Dagegen traten die rechtsextremistischen Berliner Bands mit zahlreichen Konzerten außerhalb Berlins sowie acht CD-Veröffentlichungen in Erscheinung. Auch die Anzahl rechtsextremistischer Szeneläden stieg leicht an. Die Entwicklung im parlamentsorientierten Bereich war bundesweit von der vorgezogenen Bundestagswahl und den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen geprägt. Trotz der im Jahr 2004 gebildeten "Volksfront Wahlen: Parteien von rechts" durch NPD, DVU und "Freie Kräfte" blieben chancenlos rechtsextremistische Parteien bei allen drei Wahlen chancenlos. Obwohl beide Parteien ihre Zusammenarbeit vertieften und die DVU absprachegemäß bei allen Wahlen zugunsten der NPD auf eine Kandidatur verzichtete, verfehlte die NPD den Einzug in die Parlamente jeweils deutlich. Allerdings konnte sich die NPD 2005 anders als in den Vorjahren als stärkste rechtsextremistische Wahlpartei etablieren. Insbesondere die NPD sieht daher den Landtagswahlen 2006 - unter anderem in Berlin - optimistisch entgegen. Auch auf Landesebene setzte die NPD das Konzept der "Volksfront""Volksfront von rechts" um und profitierte von der ZuKonzept sammenarbeit mit DVU und "Freien Kräften". Diese basiert jedoch noch weitgehend auf persönlichen Kontakten. Es war eine Stärkung des Landesverbands der NPD zu beobachten. Nach einer Restrukturierung des Landesverbands und der Neugründung eines Kreisverbands verfügt die NPD nun über sechs Kreisverbände, die formal das gesamte Stadtgebiet abdecken. Zudem wurde im November ein neuer Landesvorsitzender gewählt, der über intensive Verbindungen zum 20 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 aktionsorientierten Rechtsextremismus verfügt. Mit dem neuen Vorsitzenden verstärkt sich die bereits zuvor bestehende neonazistische Ausrichtung des Berliner Landesverbands. Der diskursorientierte Rechtsextremismus wurde durch die Festnahmen von Festnahme zahlreicher und der Verurteilung eines ProtaRevisionisten gonisten der international agierenden Revisionistenszene bestimmt. Dies führte zu einer deutlichen Schwächung dieses zahlenmäßig kleinen, von aktiven Einzelpersonen dominierten Bereichs des Rechtsextremismus. Die Inhaftierungen der meist seit langer Zeit im Ausland lebenden Revisionisten riefen innerhalb der rechtsextremistischen Szene bislang nur wenig Resonanz hervor. 1.2 Aktionsorientierter Rechtsextremismus 1.2.1 Restrukturierung im Netzwerk Kameradschaften 2005 sorgten die Verbote der Kameradschaften "Kameradschaft Tor Berlin" (KTB), der in die KTB integrierten Strukturwandel nach "Mädelgruppe" sowie der "Berliner Alternative Süd-Ost" Verboten (BASO) durch die Senatsverwaltung für Inneres für Verunsicherung und einen Strukturwandel im Kameradschaftsnetzwerk ( Kameradschaften).4 Die Verbote vom 7. März stützten sich auf SS 3 des Vereinsgesetzes, da die Gruppen in aggressiv-kämpferischer Weise gegen die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland agierten. Bei Hausdurchsuchungen wurden zahlreiche Propagandamaterialien wie Klebezettel mit dem Bildnis Horst Wessels und rechtsextremistische Musik-CDs gefunden. Beide Kameradschaften legten Rechtsmittel ein, so dass die Verbote noch nicht rechtskräftig sind. 4 Zum Verbot der Kameradschaften "Tor Berlin" und "BASO" vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 18 ff. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 21 Am 11. Januar 2006 führte das Landeskriminalamt Berlin Durchsuchungen bei 14 ehemaligen Mitgliedern der KTB durch, denen die Fortführung der verbotenen Kameradschaft vorgeworfen wird. Bei den Durchsuchungen von 20 Objekten in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern beschlagnahmten die Ermittler umfangreiches Propagandamaterial, kleinere Mengen Munition sowie Datenträger. Die Auswirkungen der Verbote auf das Kameradschaftsnetzwerk waren unterschiedlich. Konventionelle KameradschafVerstärkt ten befinden sich in einer Krise: Die Mitgliederzahlen "Autonome Aktionsgemeinschaften" stagnieren und die Außenwirkung ist gering. Neuen Zulauf hingegen gewannen die "autonomen Aktionsgemeinschaften (), die wegen des Repressionsdrucks formalisierte Organisationsstrukturen vermeiden. Ein dritter Bereich des Kameradschaftsnetzwerks schloss sich den "Jungen Nationaldemokraten" (JN) an, um durch die Parteianbindung der JN an die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" ( NPD) möglichen Verbotsverfahren zu entgehen. Trotz dieser Differenzierung in konventionelle Kameradschaften, autonome Aktionsgemeinschaften und Eintritte in die JN kann weiterhin von einem Netzwerk gesprochen werden, da die persönlichen Kontakte und die Bereitschaft zum gemeinsamen Agieren weiterhin vorhanden sind. Krise konventioneller Kameradschaften Die Krise der in Berlin ansässigen konventionellen KameMitgliederrückgang radschaften äußerte sich in einem Rückgang der Mitglieder auf ca. 40 Personen, einer hohen Diskontinuität der Personenzusammenschlüsse im Vergleich zum Vorjahr sowie in einer weitgehenden Inaktivität der Kameradschaften. Die im Vorjahr noch bestehende Kameradschaft "Berliner Weniger Nationale Jugend" (BNJ) löste sich nach den Verboten der Kameradschaften KTB und der BASO auf. Auch die "Nationalen Aktivisten Prenzlauer Berg" (NAPB) existieren als Personenzusammenhang nicht mehr. Obwohl es weiterhin eine Web-Seite der Gruppe mit Demonstrationsaufrufen gibt und bei einzelnen Kundgebungen ein Transparent der NAPB mitgeführt wurde, 22 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 scheinen hinter der NAPB nur noch Einzelaktivisten zu stehen, die einen Fortbestand der Gruppe suggerieren wollen. Ende 2005 existierten nur noch drei konventionelle Kameradschaften, die zudem vergleichsweise inaktiv waren: Die Berliner Sektion des "Märkischen Heimatschutzes" (MHS), die "Vereinten Nationalisten Nord-Ost" (VNNO) sowie die Anfang des Jahres neu gegründete "Kameradschaft NordOst" (KNO).5 Die meisten Aktionen gingen vom 2004 gegründeten MHS aus. Die vorwiegend in den Bezirken Lichtenberg und Treptow-Köpenick agierenden MHSMitglieder nahmen regelmäßig an rechtsextremistischen Demonstrationen und sonstigen Veranstaltungen des Berliner Kameradschaftsnetzwerks teil. Gute Verbindungen bestehen zur Berliner NPD.6 So kandidierte der Vorsitzende MHS: Kontakte zur NPD des MHS auf Platz 6 der NPD-Landesliste für den Deutschen Bundestag. Zur Unterstützung ihres Vorsitzenden waren Mitglieder des MHS im Bundestagswahlkampf für die NPD aktiv. Die MHS-Sektion Berlin nutzt darüber hinaus regelmäßig ein NPD-Büro in Lichtenberg für Kameradschaftstreffen. Die mit der Gründung der Sektion Berlin verbundene Hoffnung auf eine engere Verzahnung der rechtsextremistischen Szenen Berlins und Brandenburgs haben sich bislang allerdings nicht erfüllt. Neben vereinzelten Flugblattverteilungen trat der MHS im MHS: Eigene Juni mit einer eigenen Schülerzeitung in der Öffentlichkeit Schülerzeitung auf. Das vierseitige Blatt wurde vor Berliner Schulen verteilt und enthielt rechtsextremistische aber strafrechtlich nicht relevante Artikel, in denen revisionistisch unter der Überschrift "60 Jahre Befreiungslüge" ein "Schluß mit dem Schuldkult!" gefordert wurde.7 5 Trotz ihrer Selbstbezeichnung sind die "Kameradschaft Spreewacht" und die "Kameradschaft Nordland" keine Kameradschaften. Vgl. S. 211 f. 6 Vgl. S. 50 ff. 7 "60 Jahre Befreiungslüge - Schluß mit dem Schuldkult!" hieß auch das Motto der von den "Jungen Nationaldemokraten" (JN) angemeldeten Demonstration am 8. Mai 2005 in Berlin. Vgl. S. 54 ff. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 23 Die übrigen Kameradschaften traten nur sporadisch in Erscheinung. Meist beschränkten sich ihre öffentlichen Aktivitäten darauf, Klebezettel und Plakate anzubringen. Slogans waren dabei "Vereinte Nationalisten Nordost, National befreite Zone", "Horst Wessel, wir trauern um dich. Horst Wessel, wir denken an dich. Horst Wessel, wir rächen dich" ("Kameradschaft Nord-Ost") oder "ANTIFA / your END is near! - KS-Nord-Ost" mit der Abbildung einer Person mit einer Schusswaffe in der Hand. Die in Pankow beheimateten "Vereinten Nationalisten Nordost" (VNNO) waren vereinzelt mit Transparenten auf rechtsextremistischen Demonstrationen präsent. Aufschwung "autonomer Aktionsgemeinschaften" Die bereits Ende 2004 festgestellte Entwicklung zu rechtsextremistischen autonomen Aktionsgemeinschaften setzte "Autonome sich fort. In Berlin waren 2005 zwei autonome AktionsNationalisten" und "Freie Kräfte" gemeinschaften aktiv: Zum einen die konspirativ agierenden "Autonomen Nationalisten Berlin" (ANB) und zum anderen die neu entstandenen, offener auftretenden "Freien Kräfte Berlin" (FKB). Den autonomen Aktionsgemeinschaften sind derzeit ca. 100 Personen zuzurechnen, die meist zwischen 16 und 30 Jahren alt sind und fast ausschließlich in den östlichen Schwerpunkt östliche Bezirke Bezirken agieren. Besondere Schwerpunkte sind die Ortsteile Lichtenberg, Pankow, Prenzlauer Berg und Treptow. Als Trefforte dienen die Bahnhöfe Lichtenberg und Schöneweide sowie Lokale in deren unmittelbarem Umfeld. Die FKB entstanden nach den Kameradschaftsverboten und traten zunächst unter der Bezeichnung "Arbeitsgemeinschaft Lichtenberg" (AGL) mit der Verteilung rechtsextremistischer Aufkleber in Erscheinung. Seit August nennen sie sich "Freie Kräfte Berlin". Auf ihrer Web-Seite berichten sie über ihre Aktivitäten, so z. B. "Hess Kundgebung unter den Linden", "Spontan 24 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 demo gegen Bullenübergriff auf Aktivisten" und "Freie Kräfte rocken am Kudamm".8 Der Internetauftritt der FKB verwendet eine dem autonomen linksextremistischen Bereich entlehnte Aufmachung. Die FKB waren auch als Veranstalter rechtsextremistischer Demonstrationen aktiv.9 Eintritte in die JN Eine zweite Strategie, repressiven Maßnahmen zu entgehen, war die Angliederung an die NPD und insbesondere an deren Gründung neuer JN-Gruppen Jugendorganisation JN. Hintergrund ist die Vermutung, dass die NPD aufgrund des Parteienprivilegs und der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im NPD-Verbotsverfahren10 wesentlich weniger repressivem Druck ausgesetzt sei als die Kameradschaften. Nach dem Verbot der KTB und der BASO gründeten Angehörige des Kameradschaftsnetzwerks in Absprache mit der NPD die JN Nordost, die JN Treptow-Köpenick sowie die JN Neukölln. Der Anführer der JN Treptow-Köpenick wurde am 26. November in den Bundesvorstand gewählt. Dabei handelt es sich um einen ehemaligen Aktivisten der BASO. 8 Internetauftritt der FKB, Aufruf am 12.9.2005. 9 So z. B. am 3.9. und 3.12.2005. 10 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, S. 53 ff. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 25 Zwischen JN, den konventionellen Kameradschaften und den autonomen Aktionsgemeinschaften bestehen weiterhin Gemeinsame enge Kontakte. So wurden die JN im Aufruf zur von den Demonstrationen FKB angemeldeten Demonstration am 3. Dezember als "unterstützende Gruppe" genannt. Darüber hinaus organisierten die Berliner JN selber verschiedene Demonstrationen, etwa am 22. Oktober mit 140 Teilnehmern unter dem Motto "Mehr Geld und soziale Gerechtigkeit für die deutsche Jugend". Auf einem Transparent wurde postuliert: "Wir räumen auf! Revolutionär. Sozialistisch. Aktivistisch. Reichshauptstadt Berlin - JN". Die JN Berlin beteiligten sich auch an einer rechtsextremistischen Demonstration der "JN Oberschlesien" mit 100 Teilnehmern am 2. Oktober in Görlitz unter dem Motto "Oder/Neiße find ich Scheiße". 1.2.2 Ideologie und Strategie: Neonazismus und "Autonomismus" Sozialrevolutionärer Neonazismus als verbindende Ideologie Sowohl konventionelle Kameradschaften als auch autonome Aktionsgemeinschaften vertreten eine nationalrevolutionäre Ideologie, welche sich vor allem in antisemitischer und Antisemitismus und kapitalismuskritischer Propaganda äußert. Der AntisemitisKapitalismuskritik mus manifestierte sich in zahlreichen rechtsextremistischen Schmierereien wie "Deutsche kauft nicht bei Juden", unterzeichnet mit "ANB" oder "Nie wieder Israel ANB". 26 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Die kapitalismuskritischen Elemente stehen in der ideologischen Nachfolge des "linken" Flügels der NSDAP um Ernst Röhm und die Gebrüder Strasser und führen zu einer Propagierung von Themen wie Antiimperialismus, Antikapitalismus, Antiamerikanismus und Globalisierungskritik. So stellt zum Beispiel der MHS einen "nationalen Sozialismus" in das Zentrum seiner politischen Forderungen und verknüpft diese Ideologie mit der aktuellen Debatte um die Gegen Agenda 2010 Reform der sozialen Marktwirtschaft. In einem Anfang 2005 erstellten Flugblatt der MHS-Sektion Berlin mit der Überschrift "Nein zur Agenda 2010 - Ein neues System bietet neue Möglichkeiten!" wird dazu ausgeführt: "Nationaler Sozialismus schafft Arbeit und soziale Gerechtigkeit [...]. Die liberale Marktwirtschaft ist durch ein sozialistisches und volkswirtschaftliches System zu ersetzen [...]. Unsere Lösungsvorschläge sind mit dem derzeitigen System nicht zu vereinbaren." Diese Position wird von den FKB weiter zugespitzt. Die FKB veranstalteten am 3. September in Berlin eine Demonstration unter dem Motto "Gegen imperialistische Kriegstreiberei und Aggressionskriege - Für freie Völker in einer freien Welt!" mit ca. 150 Teilnehmern. Neben diesem Motto wurde auf Transparenten auch der "Kampf dem Ausbeutungskapitalismus - Für eine zinsfreie Wirtschaftsordnung" propagiert. Diese linken Themen werden mit rechtsextremistischen Parolen verbunden. So klebte die AGL (später FKB) Plakate mit den Aufdrucken: "Dieses System hat meine Zukunft verspielt! - Meine letzte Hoffnung: Nationaler Sozialismus - AGL" und "60 Jahre 'Befreiung' ??? Nur Schwachsinnige feiern dieses Verbrechen! AGL Freie Kräfte Berlin". A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 27 Streit um Öffnungsstrategie Eine wichtige Entwicklung war die Auseinandersetzung mit der Strategie, Jugendliche durch einen sie besonders ansprechenden Stil zu rekrutieren. Dieser Stil äußert sich soRekrutierungsstrategie wohl in einem betont jugendlichen Habitus als auch in unverbindlicheren Organisationsformen. Deutlich wird das Bemühen, identitätsstiftende Merkmale wie ein zugleich modisches und charakteristisches Auftreten zu entwickeln. Die Autonome als linksextremistische autonome Szene dient hier als Vorbild Vorbild für den strategischen Ansatz und die stilistische Ausrichtung. Rechtsextremistische Inhalte werden in einen jugendlichen Slang gefasst - beispielsweise "Nur 8"11 und "Nur Hitler" sowie "Israel du Opfer". Der Begriff "Opfer" gilt auch unter unpolitischen Jugendlichen als Schimpfwort. Anglizismen werden verwendete wie bei dem Aufkleber "AGL - 'Raise your fist... and destroy the system' - Freie Kräfte Berlin". Die zur Schau getragene Revoluzzer-Pose soll auf Jugendliche anziehend wirken, denn wie in vielen Jugendkulturen spielt die Ablehnung einer "bürgerlichen Existenz" eine große Rolle. Kombiniert wird dies bei den autonomen Aktionsgemeinschaften mit einem neonazistischen Weltbild und aggressiven Parolen gegen den politischen Gegner, wie Farbschmierereien der ANB "8. Mai ANTIFA SMASHN" und "HITLER WAS RIGHT" zeigen. 11 Die 8 bezeichnet den 8. Buchstaben im Alphabet und ist in der rechtsextremistischen Szene gängiger Code für Hitler. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Symbole und Kennzeichen des Rechtsextremismus. 3. Auflage Berlin 2005, S. 20. 28 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Die autonomen Aktionsgemeinschaften nähern sich auch im Outfit linksextremistischen Autonomen an und sind oft nicht mehr ohne Weiteres von ihnen zu unterscheiden. "Leitfaden" der FKB Das Konzept der autonomen Aktionsgemeinschaften wurde in einer Art Leitfaden auf der Internetseite der FKB beschrieben. "Alles, was meinem Volk nützt, ist recht. Darum unterwerfe ich mich auch nicht den Zwängen einer bestimmten politischen Organisation, sondern bewahre mir die Freiheit, über alle Parteigrenzen und Organisationszwänge hinweg überall dort aktiv zu werden, wo es dem Kampf um Deutschland nutzt [...] Ich verstehe freien Nationalismus als eine innere Haltung, die sich grundsätzlich unterscheidet von lebensfremden Parteikonventionen, muffiger Vereinsmeierei und rechtem Spießbürgertum. [...] Das System ist nicht frei, nicht national und auch nicht sozial. Das System ist die Ursache des Übels und hat nicht anderes verdient als den eigenen Untergang."12 Die Aktivisten können aufgrund der offenen Struktur der Offenere Strukturen Aktionsgemeinschaften parallel in anderen rechtsextremistischen Personenzusammenschlüssen mitwirken. Diese verschiedenen Aktionsebenen beschreibt eine Aktivistin in einem rechtsextremistischen Internet-Forum: "Ich kann gleichzeitig öffentlichkeitswirksam in einer Kameradschaft arbeiten und das nette Mädchen von nebenan raushängen lassen, kann mich in der JN einbringen um dort die Jugend zu fördern und kann trotzdem noch nebenher Revoluzzer sein, der sich nicht um die bestehenden Gesetze schert, nach dem Motto 'alles ist erlaubt, solange ich mich nicht erwischen lasse'."13 12 Internetauftritt der FKB, Aufruf am 17.8.2005. Der Aufruf wurde nach ein paar Tagen aus unbekannten Gründen wieder von der Internetseite entfernt. 13 Internetauftritt des "Freien Widerstands", Aufruf am 29.9.2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 29 Der jugendliche Habitus und die Öffnung der OrganisationsWiderspruch aus strukturen stoßen innerhalb des aktionsorientierten RechtsMusiknetzwerk extremismus auch auf Widerspruch. Die Gegner kommen vor allem aus dem traditionellerweise eher an der Subkultur der Skinheads orientierten Musiknetzwerk ( Rechtsextremistische Musik) wie zum Beispiel der "Kameradschaft Spreewacht ( KSW). Über einen Besuch von Angehörigen der ANB in ihrem Clubhaus im November schreibt die KSW auf ihrer Web-Seite: "Wir wollten uns noch bei unseren schwarzbekleideten Gästen bedanken! Wie sie uns eindrucksvoll begreifbar gemacht haben, das Skinheads scheiße sind, Ian Stuart beschissen ist, das man mit zwanzig Jahren, soviel auf der Straße geleistet hat, das sie zu Besuch bei Alteingesessenen kommen dürfen, um sich wie offene Hose zu benehmen!!!!!!"14 Parallel dazu lief auf der Internet-Startseite für kurze Zeit ein Nachrichtenband mit dem Text "Haha ANB". Die Abwertung Ian Stuart Donaldsons durch autonome Rechtsextremisten gilt im Netzwerk Musik als Sakrileg. Der bereits verstorbene Donaldson genießt hier als ehemaliger Sänger der Band "Skrewdriver" und Gründungsmitglied der in Deutschland verbotenen Skinhead-Organisation "Blood & Honour ( B & H) Kultstatus. In einem Beitrag des rechtsextremistischen "Wikinger-Forums" versuchte eine Aktivistin zu vermitteln: "Ich hab hier Aktivisten, die sehen teilweise noch ein wenig "oldschool" aus, den würde so mancher Superrevoluzzer wahrscheinlich noch auslachen... Früher war es normal als Skinhead rumzulaufen. Vielleicht macht man sich ja in 15 Jahren über Leute lustig die im alternativen möchtegernHopper oder im Blackblock Style durch die Gegend rennen."15 Im Vergleich zur Orientierung an der Subkultur der Skinheads ist die neue Ausrichtung an einer weniger stigmatisierten und damit leichter zugänglichen Jugendkultur bemer14 Internetauftritt der "Kameradschaft Spreewacht", Aufruf am 7.11.2005. 15 Internetauftritt des "Wikingerversands", Aufruf am 25.10.2005. 30 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 kenswert. Sie stellt eine Abkehr von der bislang oft vertretenen Linie der Selbststigmatisierung als Außenseiter dar. Während Rechtsextremisten die Skinhead-Subkultur gerade aufgrund ihrer stilistischen Negation der Mehrheitskultur benutzten (Glatze und Springerstiefel können als bewusste Provokation interpretiert werden),16 wenden sie sich mit der neuen Strategie bewusst von einer solchen Unvereinbarkeitsund Abgrenzungsdoktrin ab. Die neue Strategie scheint viel eher als die Skinhead-Subkultur oder konventionelle Organisationsformen wie Kameradschaften dazu geeignet zu sein, wenig politisierte Jugendliche zum Mitmachen zu bewegen. Barrieren wie eine feste Einbindung in eine formelle Organisation oder die Übernahme eines eindeutigen und für viele stigmatisierenden Skinhead-Outfits entfallen. Die damit verbundene Auseinandersetzung zwischen VertreGenerationentern der autonomen Aktionsgemeinschaften und des Netzkonflikt werks Musik kann auch als Generationenkonflikt innerhalb des aktionsorientierten Rechtsextremismus begriffen werden. Die Angehörigen des Netzwerks Musik sind im Durchschnitt über dreißig Jahre alt, die Angehörigen des Netzwerks Kameradschaften im Durchschnitt Anfang zwanzig. Trotz der beiderseitigen Verhaftung im rechtsextremistischen Milieu gibt es wenig Berührungspunkte und ein gemeinsames Agieren scheint derzeit ausgeschlossen. 1.2.3 Zunehmende Gewaltbereitschaft und strategischer Einsatz von Gewalt Mit dem Aufkommen der rechtsextremistischen autonomen Aktionsgemeinschaften ist ein verändertes Verhältnis zur Zunehmende Gewalt festzustellen. Die Einschüchterung politischer GegAggressivität ner durch das Androhen von Gewalt sowie gewalttätiges Verhalten gegenüber Polizeibeamten haben zugenommen. Einige schwere Gewalttaten sowohl von rechtswie auch von linksextremistischer Seite waren Folge der sich gegen16 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Rechtsextremistische Skinheads. Berlin 2003, S. 15 ff. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 31 seitig aufschaukelnden Aggressivität im Jahr 2005.17 Autonome Rechtsextremisten setzen Gewalt zunehmend strategisch ein. In der polizeilichen Statistik "Politisch motivierte Rechtsextremisten Kriminalität - rechts" entfallen von insgesamt 52 Gewaltgegen taten alleine 20 auf Auseinandersetzungen zwischen AngeLinksextremisten hörigen der rechtsextremistischen und linksextremistischen Szene. Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen, da nicht jedes gewalttätige Aufeinandertreffen zur Anzeige gebracht wird. Gewalt und Gewaltandrohung spielen in der politischen AgiAgitation und tation der ANB und FKB eine zentrale Rolle. Ziel sind meist Gewaltandrohung Personen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Ihnen wird auf Hauswänden in der Nähe ihres Wohnorts Gewalt angedroht. So fanden sich am 18. Februar an einem Gemeindehaus die Schmierereien "K** aufs Maul" und "Smash TAG ANB" (TAG - "Treptower Antifa-Gruppe"); am 23. März wurden in Rudow die Schriftzüge "Smash the Reds! ANB Rudow", "Away [vermutlich] JEW-ANB is watching you!!!" und "S** wir kriegen dich! ANB" festgestellt.18 Die körperlichen Auseinandersetzungen und Gewalttaten der ANB-Aktivisten richten sich in erster Linie gegen Angehörige der "Antifa". Zwar erfolgt rechtsextremistische Gewaltanwendung meist spontan und bei günstigen Mehrheitsverhältnissen, wenn Rechtsextremisten "in ihrem Revier" persönlich bekannten politischen Gegnern oder unbekannten Personen, die in ihr Opferraster passen, begegnen.19 Die Täter aus dem Spektrum der autonomen RechtsGezielte extremisten hingegen suchen solche Gelegenheiten mitunter Gewaltanwendung auch gezielt. Das zeigen Gegenstände wie Pfefferspray, Schlagstöcke und Lederhandschuhe, die auch in warmer Jahreszeit mitgeführt wurden. Bei ANB-Aktivisten, die aus einer Gruppe von 15 vermummten Personen heraus am 17 Vgl. S. 78, 83 ff. 18 Bislang wurden keine rechtsextremistischen Gewalttaten gegen zuvor durch Schmierereien bedrohte Personen ausgeübt. 19 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Rechte Gewalt in Berlin. Berlin 2005. 32 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 23. Juli zwei junge Männer im Prenzlauer Berg attackierten, wurden ein schwarzes Leinendreieckstuch und ein Paar Lederhandschuhe mit frischen Blutspuren gefunden. Das gewalttätige Klima zwischen Linksund Rechtsextremisten steigerte sich im Zuge einer Gerichtsverhandlung gegen Rechtsextremisten in Potsdam im Juni und Juli. Vertreter beider Richtungen trafen sich hier regelmäßig. Dabei kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, an denen Berliner Aktivisten maßgeblich beteiligt waren. Die Konfrontation gipfelte in einem Überfall von elf Rechtsextremisten auf zwei ihnen bekannte "Antifa"-Aktivisten am 3. Juli in Potsdam. Die Gruppe setzte sich aus Potsdamer und Berliner Neonazis zusammen. Die Täter fuhren in einer Straßenbahn, als sie ihre Opfer zufällig auf einem Gehweg entdeckten und daraufhin die Notbremse zogen. Sie schlugen die Opfer mit Fäusten und Flaschen und traten auf sie mit Füßen ein. Gegen die Täter wurden Haftbefehle u. a. wegen versuchten Mordes erlassen. Am 26. April überfielen vier ANB-Aktivisten drei Angehörige einer Musikband in ihrem Proberaum in Berlin-Pankow mit Teleskopschlagstöcken. In der Vernehmung gaben sie an, dass sie die Opfer "für Linke gehalten" und sie aus politischen Motiven angegriffen hätten.20 Am 10. November griffen ca. 20 vermummte und mit Schlagstöcken bewaffnete Rechtsextremisten einen Informationsstand der "Antifa" in Lichtenberg an. Hintergrund war der bevorstehende Todestag des 1992 von Neonazis getöteten Silvio Meier. Am 20. Juli versuchten ca. 30 autonome Rechtsextremisten, ein Bundeswehr-Gelöbnis in Mitte und eine dagegen gerichtete "Antifa"-Demonstration zu stören. Einige Aktivisten waren bis auf Sehschlitze vollständig vermummt. Die Polizei nahm neun Personen fest, bei denen sie Pfefferspray, einen Mundschutz und einen Teleskopschlagstock fand. Der 20 Drei der Täter wurden am 23. Januar 2006 wegen versuchter Sachbeschädigung und gefährlicher Körperverletzung zu Jugendstrafen zwischen 10 und 14 Monaten Haft auf Bewährung sowie Geldstrafen verurteilt. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 33 neonazistische Protest richtete sich sowohl gegen die Veranstaltung an sich, da die Rechtsextremisten den militärischen Widerstand gegen Hitler ablehnen, als auch gegen die linken Gegendemonstranten. Bereits am Morgen des 20. Juli wurde in Marzahn auf einem Gehweg der Schriftzug "Fuck Stauffenberg, ANB" festgestellt. Eine gestiegene Gewaltbereitschaft gegen linksextremistische "Antifa"-Aktivisten und Polizeibeamte war im vergangenen Jahr besonders bei Demonstrationen zu verzeichnen. So bildete sich bei der rechtsextremistischen Demonstration Schwarze Blöcke bei am 1. Mai in Leipzig ein "schwarzer Block" autonomer Demonstrationen Rechtsextremisten,21 dem auch Berliner angehörten und aus dem heraus es zu Flaschenund Steinwürfen gegen Gegendemonstranten sowie zur Gewaltausübung gegenüber Polizeibeamten kam. Polizeibeamte sprachen von einer ungewohnten Gewaltbereitschaft von rechten und linken Veranstaltungsteilnehmern. Im Verlauf der gescheiterten JN / NPD-Demonstration am 8. Mai in Berlin richtete sich die Gewaltanwendung der Demonstranten abermals gegen die Polizei. Ein rechtsextremistischer autonomer "schwarzer Block" versuchte, die Polizeikette gewaltsam zu durchbrechen. Später organisierte der gleiche Personenkreis einen unangemeldeten Spontanaufzug in Marzahn, der durch die Polizei aufgelöst wurde. Im Zusammenhang mit den körperlichen Auseinandersetzungen auf Demonstrationen waren Ansätze einer "GewaltdeAnsätze einer batte" seitens der FKB festzustellen. Gewalt gegen PolizeiGewaltdebatte beamte zur Durchsetzung des eigenen Demonstrationszugs wurde von Rechtsextremisten begrüßt und als "sportliche Auseinandersetzung" bagatellisiert. Dies ist für Rechtsextremisten unüblich, da diese meist Respekt vor staatlichen Autoritäten zeigen. Anlass waren die fehlgeschlagenen Demonstrationsversuche am 5. November in Potsdam/Brandenburg und am 12. November in Halbe/Brandenburg. Da eine Vielzahl von Ge21 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 23 ff. 34 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 gendemonstranten jeweils die Strecke blockierte, wurden die Aufzüge vom Veranstalter abgebrochen. Am 5. November wich ein Großteil der Neonazis nach Berlin auf eine Spontandemonstration mit ca. 230 Teilnehmern in Prenzlauer Berg aus. Dort herrschte eine aggressive Stimmung mit Parolen wie: "Für linkes Gezeter 9mm", "autonom, militant, nationaler Widerstand", "Europa, Nation, Revolution" und "wir haben euch was mitgebracht - Hass, Hass, Hass". Die Teilnehmer weigerten sich, die Demonstration zu beenden. Nach Auflösung des Aufzugs vermummten sich einige Neonazis, und es kam zu körperlichen Auseinandersetzungen mit Polizisten und Gegendemonstranten. In einem rechtsextremistischen Forum wurde der Vorfall diskutiert: "Was sagt ihr, wie sollen wir uns Verhalten, wenn die Regierung uns wiedermal eine genehmigte Veranstaltung blockieren, verbieten oder verhindern will. Sollen wir mal zeigen das mit uns nicht zu Spaßen ist und das das für uns maximal kein Spiel ist. [...] Ich bin der Meinung wenn die nächste große Demo wieder so gestoppt werden soll werden wir's krachen lassen [...]. gruss Berlin rockt"22 Die zunehmende Gewalt der autonomen AktionsgemeinPrognose: schaften gegenüber politischen Gegnern und Polizeibeamten Zunehmende Gewalt lässt eine wachsende Gefährdung durch diesen Personenkreis prognostizieren. Dies gilt umso mehr, da die autonomen Aktionsgemeinschaften aufgrund ihres "modernen" Auftretens in den östlichen Bezirken vermehrt Jugendlichen als Vorbild dienen und diese somit für rechtsextremistische Aktionen rekrutieren können. 22 Internetauftritt des "Freien Widerstands", Aufruf am 23.11.2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 35 1.2.4 Netzwerk Rechtsextremistische Musik unter hohem Verfolgungsdruck nur wenig aktiv Das Netzwerk Rechtsextremistische Musik () unterlag in Berlin in den vergangenen Jahren einem hohen VerfolgungsVerfolgungsdruck: druck: Konzerte wurden von der Polizei aufgelöst, gegen Vielfältige Bands wurden Ermittlungsverfahren wegen strafrechtlich reMaßnahmen levanter Tonträger eingeleitet, die Mitglieder der Band "Landser" als kriminelle Vereinigung verurteilt,23 jugendgefährdende Werke indiziert und Ausreisebeschränkungen gegen eine Band, die an Konzerten im Ausland teilnehmen wollte, ausgesprochen. Einzelne, in den vergangenen Jahren zum Teil sehr aktive Gruppierungen wie die "Vandalen - Ariogermanische Kampfgemeinschaft () und Hammerskins () entfalten kaum noch öffentlichkeitswirksame Aktivitäten. Von einem Musik-Netzwerk im Sinne eines sporadischen, thematisch eingegrenzten Interaktionsprozesses von Personen und Gruppierungen untereinander kann kaum noch gesprochen werden. Symptomatisch ist, dass die beiden identitätsstiftenden, überregional beachteten Jahresfeiern von Jahresfeiern "Vandalen" und "Hammerskins" erstmals ausfielen. Der ausgefallen Rückzug einzelner Gruppierungen kann auch mit "Nachwuchssorgen" in Zusammenhang stehen, die aus einer jahrelangen Abschottung und der daraus folgenden mangelnden Dynamik resultieren. Nur der "Kameradschaft Spreewacht (),24 eine der jüngeren Gruppierungen in diesem Spektrum, gelang es erstmals seit Jahren wieder ein rechtsextremistisches Konzert in Berlin durchzuführen. Leicht zugenommen haben die finanziell lukrativen AktiZunehmende vitäten wie die Produktion von Tonträgern und das Betreiben Geschäftstätigkeit von rechtsextremistischen Szeneläden, wobei die Verantwortlichen darauf achten, keine jugendgefährdenden oder 23 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 35 ff. 24 Trotz ihrer Selbstbezeichnung ist die "Kameradschaft Spreewacht" keine Kameradschaft im klassischen Sinn. 36 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 strafrechtlich relevanten Texte zu verbreiten. Geblieben sind die aggressive Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sowie die rechtsextremistische Propaganda durch die Anhänger des Netzwerks Rechtsextremistische Musik. Sie sehen sich in einem regelrechten "Kampf gegen das System". Jahresfeiern von "Vandalen" und "Hammerskins" ausgefallen Während die Jahresfeiern von "Vandalen" und "Hammerskins" in den Vorjahren die beiden wichtigsten Veranstaltungen des Musik-Netzwerks in Berlin waren und überregionale Ausfall trotz überregionaler Bedeutung hatten, fanden sie 2005 erstmals nicht mehr statt. Bedeutung Sie hatten identitätsstiftenden Charakter und die Tatsache, dass auch ausländische Gäste anwesend waren, zeigte die überregionale Bedeutung. Die Teilnehmerzahl nahm wegen der regelmäßigen Auflösungen durch die Polizei allerdings sukzessive ab: Nach 160 Teilnehmern 2003 nahmen 2004 nur noch 88 Personen an der "Vandalen"-Feier teil. Bei den "Vandalen" könnte die Inhaftierung des Anführers und Sängers der Gruppe "Landser" ein Grund für diese Passivität sein. Dieser war als "Rädelsführer" der rechtsexHaftstrafe für tremistischen Musikgruppe im Dezember 2003 vom Kam"Vandalen"-Mitglied mergericht Berlin wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung (SS 129 StGB) zu einer Haftstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt worden. Nachdem der BGH seine Revision verworfen hatte, musste er im April 2005 seine Haftstrafe antreten. Vor seiner Haft hatte er sich intensiv seinen musikalischen Aktivitäten innerhalb seiner neuen Band "Die Lunikoff-Verschwörung" verschrieben.25 Ein weiteres "Vandalen"-Mitglied befand sich wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung bis Mitte November in Haft. Die zweite jährliche Großveranstaltung, die Jahresfeier der "Hammerskins", war 2004 zum zehnten Mal veranstaltet 25 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 35 ff. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 37 worden. Die Polizei konnte damals 97 Personen aus Berlin, aus anderen Bundesländern und dem Ausland feststellen. 2005 dagegen waren die Berliner "Hammerskins" nicht mehr "Hammerskins" öffentlichkeitswirksam aktiv. Damit folgen sie einer Entwenig aktiv wicklung innerhalb ihrer Gruppierung, die in vielen Regionen Deutschlands zu beobachten ist. Ihr elitäres Konzept und ihre Fixierung auf die Subkultur der "Skinheads" haben nach dem Abflauen der Skinhead-Bewegung in Berlin dazu geführt, dass sie für rechtsextremistischen Nachwuchs nicht mehr attraktiv sind.26 Konzertbetrieb Der rechtsextremistische Konzertbetrieb ist in Berlin bereits in den vergangenen Jahren beinahe zum Erliegen gekommen. Regelmäßig wurden Konzerte durch die Polizei aufgeRepression zeigt löst und beendet, Personalien festgestellt und meist auch Wirkung Ermittlungsverfahren eingeleitet (z. B. wegen Verstoßes gegen SS 86a StGB). Von den rechtsextremistischen Gruppierungen Berlins bemühte sich 2005 lediglich die "Kameradschaft Spreewacht" (KSW) um die Organisation rechtsextremistischer Konzerte. Diese fanden meist außerhalb Berlins statt. Am 26. November führte die KSW nach eigenen Angaben in Berlin ein rechtsextremistisches Konzert durch, das in kleinerem Rahmen blieb. Bei der Band handelte es sich um eine unbekannte, möglicherweise ad-hoc gebildete Gruppierung. Für diese Musikveranstaltung anlässlich der Einweihung ihres Clubhauses in Lichtenberg war nicht geworben worden. Eine Außenwirkung wurde nicht festgestellt, die KSW veröffentlichte lediglich im Anschluss Fotos im Internet. Am 6. August verhinderte die Polizei ein geplantes rechtsextremistisches Konzert in Marzahn-Hellersdorf. Hier sollte eine Thüringer NS-Black-Metal-Band auftreten. Am Veranstaltungsort überprüfte die Polizei ca. 60 Personen und leitete diverse Ermittlungsverfahren ein. 26 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Rechtsextremistische Skinheads. Berlin 2003. 38 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Aufgrund der konsequenten Polizei-Strategie verlagerten Auftritte außerhalb Berliner Bands ihre Auftritte in das sonstige Bundesgebiet Berlins und ins Ausland. Vor allem die Band "Lunikoff-Verschwörung" trat zu Beginn des vergangenen Jahres mehrfach in anderen Bundesländern auf. Am 2. April gab die Gruppe in Thüringen ein "Abschiedskonzert" anlässlich der bevorstehenden Inhaftierung ihres Sängers. Dieses Konzert mit über 1 000 Teilnehmern fand im Anschluss an den Thüringer NPD-Landesparteitag statt und hatte in der Szene große Resonanz. Damit folgte die "Lunikoff-Verschwörung" dem im letzten Jahr festgestellten Trend der Verbindung von politischen Veranstaltungen mit musikalischen Beiträgen.27 Tonträger-Produktion bleibt finanziell attraktiv Bereits in den vergangenen Jahren versuchten Berliner rechtsextremistische Bands größtmögliche finanzielle GeSuche nach neuen winne zu erzielen.28 Die Bands bemühten sich um das ErAbsatzmärkten schließen breiterer Abnehmerschichten. Die Anzahl der veröffentlichten rechtsextremistischen Tonträger stieg: Berliner Bands brachten im letzten Jahr sechs neue Soloalben heraus (2004: fünf, 2003: drei). Zwei CDs der Band "Spreegeschwader" enthielten lediglich eine Zusammenstellung alter Lieder, die neu eingespielt wurden. Daneben beteiligten sich Berliner Bands auch an zwei Samplern mit weitgehend bekanntem Liedmaterial. Tatsächlich neu waren im vergangenen Jahr vier der acht unter Beteiligung rechtsextremistischer Berliner Bands herausgegebenen CDs. Die Mehrfachverwertung älterer Werke beschert den Bands zusätzliche Einnahmen und führte zu kritischen Kommentaren von Kunden: "Ziemlich sinnlose Veröffentlichung! Wer kauft schon eine CD, wo er doch eh schon die meisten Lieder hat / kennt. Hört sich nach üblem Kommerz an."29 27 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 32. 28 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 38 f. 29 Internetauftritt des "Rocknord-Versandes", Aufruf am 5.12.2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 39 Auffallend war, dass die Band "Spreegeschwader" lediglich zwei "Best-of"-Alben herausbrachte. Ihre Mitglieder, die alle auch in der "Lunikoff-Verschwörung" spielten, richteten ihre Aktivitäten auf diese Band aus und stellten eigene Projekte zurück. Dies hatte zur Folge, dass sich die Mitglieder der Band "Spreegeschwader" nach der Inhaftierung des Bandgründers zunächst neu orientieren mussten. Um breitere Abnehmerschichten anzusprechen, vermieden sie weitgehend jugendgefährdende oder strafrechtlich releVermeidung vante Aussagen wie hetzende Parolen gegen Ausländer oder strafrechtlicher Juden sowie aggressive Bekenntnisse zum NationalsozialisRelevanz mus. Sie nutzen die Musik zur Verbreitung rechtsextremistischer Propaganda, fremdenfeindliche und antisemitische Aussagen werden aber zunehmend verklausuliert und erfordern eine Interpretation durch den Hörer. Inzwischen lassen einige Bands ihre Tonträger vor der Veröffentlichung anwaltlich überprüfen. Dies schlug sich in einer im Vergleich mit den Vorjahren geringeren Zahl an Indizierungen nieder.30 Nachdem 2004 Weniger noch fünf Tonträger von Berliner Bands indiziert worden Indizierungen waren, war es 2005 nur eine CD der Band "Schwarzer Orden".31 Begründet wurde diese Entscheidung unter anderem mit einem Text, in dem Repräsentanten des NS-Regimes (insbesondere Hermann Göring und Rudolf Hess) verherrlicht wurden. 30 Indizierungen jugendgefährdender Tonträger durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) dienen dazu, den Vertrieb rechtsextremistischer Musik insbesondere über den Internet-Versandhandel zu unterbinden und erschweren den Verkauf dieser Werke erheblich. 31 Vgl. BAnz. Nr. 120, 30. Juni 2005. 40 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 An die Stelle gegen Juden oder Ausländer hetzender oder eindeutig nationalsozialistischer Texte tritt zunehmend die "Kampf gegen das Forderung nach einem rechtsextremistischen "Kampf gegen System" das System". Das politische System der Bundesrepublik und die freiheitliche demokratische Grundordnung werden als "Scheindemokratie" bezeichnet und die Verfolgung strafrechtlich relevanter rechtsextremistischer Hetze als Unterdrückung: "Deutschland Scheindemokratie Freiheit findest Du hier nie Fürs System bist Du nur Dreck [...] Wenn Du ihnen nicht mehr passt Stecken sie Dich in den Knast"32 An ihrer Absicht zur gewaltsamen Beseitigung des politischen Systems der Bundesrepublik lassen die Musiker keinen Zweifel: "Wir lieben unser Land, aber wir hassen diesen Staat. Ihr werdet sie noch aufgehen sehn, unsre Saat. Und dann gibt es keine Gnade, unser Hass ist viel zu groß. Eure Dämme werden brechen und der deutsche Sturm bricht los."33 Dabei stilisieren sich die Rechtsextremisten als "aufrechte Kämpfer". Aus den Autoren menschenverachtender fremdenfeindlicher und antisemitischer Texte sollen so Opfer politischer Willkür und Helden eines Widerstandskampfes 32 X.X.X.: Die Antwort auf's System. 2005. 33 Die Lunikoff-Verschwörung: Niemals auf Knien. 2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 41 gemacht werden. Dies wird zum Beispiel an dem Titel der letzten CD der "Lunikoff-Verschwörung" "Niemals auf Knien" deutlich, mit dem der Sänger seine trotz Verurteilung "unbeugsame" Haltung betont. Zunehmende Bedeutung von Musik-CDs als Rekrutierungsmittel Für den Versuch der Bands, breitere Abnehmerschichten anzusprechen und jugendlichen Nachwuchs zu rekrutieren, gab es in den vergangenen beiden Jahren verschiedene Vorbilder. Erstmals sollte diese Strategie mit dem so genannten "Projekt "Projekt Schulhof" Schulhof" umgesetzt werden.34 Geplant war die kostenlose Verteilung einer CD mit dem Titel "Anpassung ist Feigheit - Lieder aus dem Untergrund" durch jeweils regional verankerte Rechtsextremisten im Umfeld von Jugendeinrichtungen und Schulen, um Jugendlichen neonazistisches Gedankengut näher zu bringen.35 Das Amtsgericht Halle-Saalkreis (Sachsen-Anhalt) bewertete ein Lied als strafrechtlich relevant nach SS 90 StGB (Verunglimpfung 34 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 39 ff. 35 Der Sampler enthält auch ein Lied des Berliner Soloprojekts "Spirit of 88". 42 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 des Staates und seiner Symbole) und erließ einen Beschlagnahmebeschluss. Daneben wurde ein Verstoß gegen das Jugendschutzgesetz gemäß SS 27 Abs. 1 i.V.m. SS 15 Abs. 1 JuSchG (Schwere jugendgefährdende Trägermedien) festgestellt.36 Das "Projekt Schulhof" konnte daher nicht in der geplanten öffentlichkeitswirksamen Form umgesetzt werden. Wenige Die Verteilung erfolgte 2005 ohne öffentliche AufmerksamVerteilaktionen keit und entsprach in Form und Umfang nicht den Erwartungen. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass das Bekanntwerden der äußerst konspirativ geplanten Aktion 2004, die Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden und die öffentliche Aufklärung den beabsichtigten Propagandaerfolg zunichte gemacht haben. 2005 wurden in mehreren Bundesländern einige Exemplare dieser "Schulhof-CD" festgestellt, jedoch nicht in Berlin. In der Nacht vom 8. zum 9. August wurden in Strausberg (Brandenburg) im PKW eines überregional bekannten Rechtsextremisten und Mitglieds des "Märkischen Heimatschutzes" (MHS) 671 Exemplare dieser CD von der Polizei gefunden. Die NPD nutzte diese Idee der Rekrutierung Jugendlicher NPD Wahl-CD durch Musik mit propagandistischem Erfolg. Die eigens zusammengestellte Musik-CD mit dem Titel "Schnauze voll? Wahltag ist Zahltag" wurde erstmals 2004 im Vorfeld der Wahl zum Sächsischen Landtag und 2005 bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein kostenlos verteilt. Auch zur Bundestagswahl setzte die NPD dieses Propagandamittel ein und verteilte eine Woche vor der Wahl eine so genannte Schulhof-CD mit dem Titel "Hier kommt der Schrecken aller linken Spießer und Pauker!" deutschlandweit in einer Auflage von angeblich 200 000 Exemplaren.37 Die Partei vermied es, strafrechtlich relevante Titel auf die Wahlkampf36 Durch das Amtsgericht Stendal erging im Februar 2006 ein Freispruch gegen den Hauptbeschuldigten und der Vorwurf der schweren Jugendgefährdung wurde fallengelassen. Da das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, bleibt der Beschlagnahmebeschluss des Amtsgerichts Halle jedoch vorerst bestehen. 37 An dieser CD waren keine Berliner Bands beteiligt. 2004 hatten mit "Spirit of 88" und der "Lunikoff-Verschwörung" noch zwei Berliner Musikgruppen an der Wahlkampf-CD der NPD mitgewirkt. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 43 CD aufzunehmen. Dies sicherte ihr im Gegensatz zu der ursprünglichen "Schulhof-CD" eine planmäßige Verteilung.38 Zum Nutzen rechtsextremistischer Musik für die Nachwuchsrekrutierung äußerte sich die Band "Deutsch, Stolz, Treue" (D.S.T.) in einem Interview: "Musik gibt natürlich auch Hoffnung, macht Mut, schweißt zusammen, festigt die Meinung, gibt Lebensfreude und bindet - nicht zuletzt - auch den Nachwuchs weitaus fester an uns, als andere Aktivitäten. Musik ist das Bindeglied zwischen uns und den zu Überzeugenden."39 Die Wirkung von rechtsextremistischer Musik muss jedoch differenziert betrachtet werden: Während die TonträgerMusik kaum zur Rekrutierung nicht rechtsextremistisch Rekrutierungseingestellter Jugendlicher geeignet ist, bietet der gemeinwirkung begrenzt same Konsum der Musik auf rechtsextremistischen Konzerten auch ein Einstiegsangebot an Szeneneulinge im Sinne einer "Erlebniswelt".40 Im Gegensatz zu den CDs besteht bei Konzerten aufgrund des persönlichen Kontakts durchaus die Gefahr der dauerhaften Einbindung von Jugendlichen in die rechtsextremistische Szene.41 Szeneläden prosperieren Rechtsextremistische Szeneläden haben 2005 in Berlin einen Aufschwung erlebt. Die traditionellen Einzelhandelsläden erfahren in Berlin eine Renaissance, da die Vermarktung Verkaufsvorteil: Kundenkontakt rechtsextremistischer Musik-, Textilund MerchandisingArtikel über das Internet den direkten Kundenkontakt anscheinend nicht ersetzen kann. Ein Grund für die Konkurrenzfähigkeit von Szeneläden könnte darin liegen, dass in der rechtsextremistischen Szene Wert auf persönliche Bekanntschaft gelegt wird. Zwei Fälle gehackter Web-Seiten 38 Vgl. S. 47 f. 39 Vgl. Szenepublikation "Der weiße Wolf" Nr. 20, S. 52. 2005. 40 "Menschenverachtung mit Unterhaltungswert", Thomas Pfeiffer, Innenministerium NRW. 2005. 41 Für eine ausführliche Darstellung vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Rechtsextremistische Skinheads. Berlin 2003. 44 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 rechtsextremistischer Online-Händler haben diesen Trend vermutlich verstärkt. Dabei wurden die Adresslisten der Kunden im Internet veröffentlicht. Auch die rechtsextremistischen Szeneläden in Berlin waren 2005 Kristallisationspunkte von "Antifa"-Protesten.42 In Berlin existieren inzwischen fünf Läden mit eindeutig Fünf Läden rechtsextremistischem Angebot (z. B. Tonträger, Aufnäher, Textilien). Auffallend ist, dass auch die Szeneläden in der Mehrzahl von einzelnen Mitgliedern rechtsextremistischer Bands oder diesen Bands nahestehenden Gruppen betrieben werden. Neu eröffnet wurden ein Geschäft eines "Vandalen"-Mitglieds in Lichtenberg sowie im Zusammenhang mit den Vertriebsaktivitäten der Bandmitglieder von "Spreegeschwader" ein Szeneladen in Oberschöneweide. Damit ist es diesem Personenkreis gelungen, neben dem InternetVersandhandel eine eigene Wertschöpfungskette von Produktion und Vertrieb der Musik bis hin zum Einzelhandel aufzubauen. Es liegen keine Hinweise dafür vor, dass der Ertrag aus diesen gewerblichen Tätigkeiten einen nennenswerten Beitrag zur Finanzierung rechtsextremistischer Aktivitäten leisten kann und soll. Der Ertrag scheint vielmehr dem eigenen Lebensunterhalt der Betreiber zu dienen. 1.3 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus 1.3.1 Rechtsextremistische Parteien bei Wahlen chancenlos Im vergangenen Jahr fanden in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen Landtagswahlen statt; darüber hinaus Wahlniederlagen trotz Bündnissen wurde - ein Jahr vor Ablauf der Wahlperiode - der 16. Deutsche Bundestag gewählt. Bei diesen Wahlgängen verfehlten die rechtsextremistischen Parteien den Einzug in die Parlamente deutlich, obgleich die Ausgangslage vielversprechend war: In Folge der Absprachen zwischen der "Nationaldemokratischen Partei Deutschlands ( NPD) und der 42 Vgl. S. 87. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 45 Deutschen Volksunion ( DVU) im Rahmen des "Deutschlandpakts"43 verzichtete die DVU bei allen drei Abstimmungen zu Gunsten der NPD auf einen Wahlantritt. Zwar blieben die Ergebnisse der NPD hinter den Erwartungen zurück, indes war eine Verschiebung der Kräfteverhältnisse innerhalb der rechtextremistischen Parteienlandschaft zugunsten der NPD festzustellen. Die Wahl-Bilanz der rechtsextremistischen "Volksfront" fällt daher zwiespältig aus. 44 1.3.1.1 Bundestagswahl Bei der Bundestagswahl am 18. September hatten die rechtsRegional extremistischen Parteien deutschlandweit sehr unterschiedunterschiedliche liche Ergebnisse zu verzeichnen, scheiterten jedoch klar an Ergebnisse der Fünf-Prozent-Hürde.45 Die NPD steigerte ihren Zweitstimmenanteil gegenüber der Bundestagswahl 2002 von 0,4 auf 1,6 Prozent und wurde dadurch stärkste rechtsextremistische Partei. Die NPD stellte sich flächendeckend zur Wahl und stand in nahezu allen Wahlkreisen mit Direktkandidaten auf dem Stimmzettel. Sie konnte in allen Bundesländern ihre Ergebnisse verbessern. Ihre größten Erfolge erzielte sie in den östlichen Bundesländern, insbesondere in Sachsen.46 Bei der Bundestagswahl erhöhte die NPD ihren Stimmenanteil in Berlin von 0,6 Prozent im Jahr 2002 auf Berlin: 1,6 Prozent. Dies bedeutet mehr als eine Verdopplung im NPD steigert Stimmenanteil Vergleich zur vorangegangenen Bundestagswahl. Der Wahlausgang in Berlin entsprach damit weitgehend der Entwicklung im Bundesgebiet. 43 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 59 f. 44 Vgl. S. 62 f. 45 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Ergebnisse extremistischer Parteien in Berlin. Bundestagswahl 2005. Berlin 2005. 46 In Sachsen erzielte die NPD 4,8 Prozent der Stimmen, gefolgt von Thüringen (3,7 Prozent), Mecklenburg-Vorpommern (3,5 Prozent), Brandenburg (3,2 Prozent) und Sachsen-Anhalt (2,5 Prozent). 46 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Hinsichtlich ihrer geographischen Verteilung lassen die Landesergebnisse der rechtsextremistischen Parteien deutOst-Westliche Unterschiede erkennen. Die NPD erzielte im Westteil Unterschiede Berlins 1,1 Prozent, im Ostteil der Stadt 2,3 Prozent der Stimmen. Der Wählerzuspruch war in den östlichen Bezirken damit mehr als doppelt so hoch wie in den westlichen Bezirken. Das Ost-West-Gefälle vertiefte sich weiter. Wahlergebnisse NPD Bundestagswahl Bundestagswahl Veränderung Zweitstimmen Berlin 2005 (in %) 2002 (in %) (in %-Punkten) West 1,1 0,3 0,8 Ost 2,3 1,1 1,2 Dabei verbesserte sich die NPD in allen zwölf Bezirken. Ihre höchsten Ergebnisse erzielte sie in den Bezirken MarzahnHellersdorf mit 3,2 Prozent der Stimmen, Lichtenberg (2,8 Prozent) und Treptow-Köpenick (2,4 Prozent). In einzelnen Wahllokalen war die NPD noch deutlich erfolgreicher. Im Bezirk Treptow-Köpenick stellte sich der NPDBundesvorsitzende Udo Voigt als Direktkandidat zur Wahl und erhielt 2,5 Prozent der Stimmen. Junge Wähler Bezogen auf das Alter der Wähler rechtsextremistischer Parteien erweist sich die NPD in Berlin als vergleichsweise jugendliche Partei. In der Gruppe der Jungwähler im Alter von 18 - 25 Jahren schnitt sie mit 16,7 Prozent deutlich besser ab als Bundestagsparteien.47 Den zahlenmäßig größten Anteil innerhalb der Wählerschaft von NPD stellte jedoch die Altersgruppe der 35 - 45-Jährigen (26,2 Prozent). Für das Abschneiden der rechtsextremistischen Parteien bei Hürde: Kurzer der diesjährigen Bundestagswahl spielten neben strukturellen Bundestagsund personellen Schwächen auch die für Kleinstparteien wahlkampf ungünstigen Rahmenbedingungen eine Rolle. Der extrem polarisierte und personalisierte Lagerwahlkampf zwischen den beiden großen Volksparteien und ihren Koalitions47 Vgl. Statistisches Landesamt Berlin: Wahl zum 16. Deutschen Bundestag in Berlin am 18. September 2005. Ergebnisse der repräsentativen Wahlstatistik, B VII 1 - 05, Berlin November 2005, S. 18, www.statistik-berlin.de/wahlen. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 47 partnern bot wenig Raum zur inhaltlichen Profilierung. Darüber hinaus dürfte die "Linkspartei.PDS" mit ihrer eindeutigen Frontstellung gegen die so genannte "Agenda 2010" einen Großteil der Protestwähler, die ein bedeutendes Wählerpotenzial für die rechtsextremistischen Parteien darstellten, absorbiert haben. Lediglich ihr Minimalziel, die Beteiligung an der staatlichen Wahlkampfkostenerstattung, hat die NPD erreicht. Das "Volksfront"-Bündnis aus NPD, DVU und "Freien Kräften" (parteiungebundenen Rechtsextremisten) führte Strategie: einen offensiven Straßenwahlkampf mit Schwerpunkt in den "Volksfront"Bündnis östlichen Bundesländern. Die größte öffentliche Aufmerksamkeit erzielte die NPD dabei durch die Ankündigung, eine Woche vor der Bundestagswahl deutschlandweit eine eigens zusammengestellte Musik-CD (in eine Auflage von angeblich 200 000 Exemplaren) kostenlos an Jugendliche und vor allem an Erstwähler zu verteilen.48 Die so genannte Schulhof-CD mit dem Titel "Hier kommt der Schrecken aller NPD Wahl-CD linken Spießer und Pauker!" sollte dem jugendlichen Zielpublikum, in dem die NPD ein erreichbares Wählerpotenzial vermutete, rechtsextremistisches Gedankengut näher bringen. Auf dem Sampler waren einschlägige rechtsextremistische Liedermacher und Bands zu hören, die jedoch keine strafbaren Inhalte präsentierten. 48 Vgl. S. 42. 48 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Tatsächlich gab es auch in Berlin vereinzelte Verteilaktionen. Anhänger der NPD verschenkten erstmals am 8. September einige CDs vor einer Oberschule in Pankow. Ein Einzelne Rechtsextremist trug dabei eine Eselsmaske und zeigte ein Verteilaktionen Plakat mit der Aufschrift "Ich Esel, lass mich von meinen Lehrern gegen die NPD aufhetzen!". Anlässlich einer weiteren Verteilaktion am 12. September vor einer Oberschule in Marzahn-Hellersdorf kam es zu einer Straftat durch einen NPD-Wahlkämpfer. Mehrere Schüler hatten ihre CDs einer Lehrerin übergeben, die daraufhin von einem Verteiler aufgefordert wurde, die Exemplare wieder herauszugeben. Als die Pädagogin dies verweigerte, entriss ihr der Aktivist die CDs gewaltsam und verteilte sie erneut. Eine vergleichbare CD hatte die NPD bereits in den Landtagswahlkämpfen in Sachsen (2004) und Schleswig-Holstein (2005) eingesetzt. Ob die CD den von den Produzenten erhofften Erfolg hatte, ist jedoch fraglich. Die Aktion erreichte aufgrund vielfältiger Formen des zivilgesellschaftlichen Protestes bislang nicht das erwartete Echo. Unterdessen hat die NPD die weitere Verteilung der CD angekündigt. 1.3.1.2 Landtagswahlen Auch bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein am 20. Februar erzielte die NPD mit 1,9 Prozent der Stimmen trotz Wahlverzichts anderer rechtsextremistischer Parteien Schleswig-Holstein ein für sie enttäuschendes Ergebnis (2000: 1,0 Prozent). Die Wahl in Schleswig-Holstein war die erste Landtagswahl nach dem unerwarteten Einzug der NPD in den Sächsischen Landtag im Jahr 2004. Der Aufbruchstimmung nach der Sachsen-Wahl folgte hier ein erster Dämpfer. Gründe für das schlechte Abschneiden der NPD dürften in den mangelnden organisatorischen Strukturen sowie dem Auftreten der Partei im Wahlkampf liegen. Anlässlich einer Wahlkampfveranstaltung kam es am 4. Dezember 2004 in einem Lokal in Itzehoe zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen NPD-Funktionären und Aktivisten sowie Gegendemonstranten. Darüber hinaus dürfte die negative Medienberichterstattung im Zusammenhang mit den revisionistischen Aus- A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 49 fällen der NPD-Fraktion im Sächsischen Landtag das Wahlverhalten beeinflusst haben. In Nordrhein-Westfalen fiel das Ergebnis am 22. Mai noch schlechter aus. Obwohl die Landesliste von dem Parteivorsitzenden Udo Voigt angeführt wurde (Wahlkreis 107; Nordrhein-Westfalen Bochum I: 1,5 Prozent) erzielte die NPD lediglich 0,9 Prozent der Stimmen (2000: 0,0 Prozent). Für das Ergebnis der NPD war vor allem die strukturelle Schwäche der Partei im bevölkerungsreichsten Bundesland verantwortlich. Damit verlief das Wahljahr 2005 für die rechtsextremistischen Parteien alles andere als wunschgemäß. Ihre Ergebnisse bewegten sich weiterhin auf niedrigem Niveau. Allerdings konnte die NPD bei allen drei Wahlgängen Zugewinne Zugewinne auf niedrigem Niveau verbuchen. Ein bemerkenswertes Ergebnis der Bundestagswahl ist die Verschiebung der Gewichte innerhalb des rechtsextremistischen Parteienspektrums. Die NPD wurde stärkste Kraft auf Bundesebene. Diese Kräfteverschiebung Kräfteverschiebung geht vor allem auf die überdurchschnittliche Steigerung der NPD in den neuen Bundesländern zurück. Die Partei konnte dort weiter Fuß fassen und offensichtlich Stammwähler gewinnen. Damit ist die NPD derzeit, gemessen an ihren Wahlergebnissen, eine ostdeutsche Regionalpartei. Die Wahlgänge des Jahres waren eine ernsthafte Bewährungsprobe für die Kooperationsbemühungen im Rahmen "Volksfront" besteht weiter der "Volksfront".49 Nach der Landtagswahl in NordrheinWestfalen hatte die NPD die Ankündigung von BundestagsNeuwahlen begrüßt und diesem Termin oberste Priorität für die gesamte Partei eingeräumt.50 Diesen Härtetest hat das rechtsextremistische Wahlbündnis bestanden. Der Termindruck und die gemeinsamen Wahlziele sorgten für relative Stabilität innerhalb des Bündnisses. NPD und DVU sahen sich trotz der niedrigen Ergebnisse nach der Bundestagswahl in ihrem Bündniskurs bestätigt und leiteten aus dem Wahler49 Vgl. S. 50 ff. 50 Vgl. Klaus Beier: Deutschland braucht die "Deutsche Volksbewegung". NPD-Präsidium tagt anlässlich der Ankündigung von Neuwahlen im Bund. Pressemitteilung vom 24.5.2005. 50 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 gebnis optimistische Prognosen für künftige Wahlgänge ab.51 Im März 2006 stehen die Landtagswahlen in BadenWürttemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt, im Herbst des Jahres die Wahlgänge in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin an. 1.3.2 "Volksfront" hat weiter Bestand Das Bemühen um eine Fortsetzung der "Volksfront"52 im rechtsextremistischen Lager war nicht nur im Zusammenhang mit den zurückliegenden Wahlgängen zu erkennen. Vor allem die NPD setzte sich auf breiter Front sowohl für die Fortentwicklung der Zusammenarbeit mit der DVU und Erfolge stabilisieren den Vertretern der "Freien Kräfte" als auch für die Konzept Ausweitung der Einigungsbestrebung ein. Dabei hatte die "deutsche Volksfront von rechts" auch einige Rückschläge zu verzeichnen und war immer wieder Angriffen ausgesetzt. Zwar sind die Konfliktlinien zwischen den ungleichen Bündnispartnern unvermindert vorhanden, solange aber zumindest relative Erfolge verzeichnet und eigene Vorteile in der Allianz gesehen werden, halten die Beteiligten an der strategischen Konzeption fest. 51 Vgl. NPD vervierfacht Bundestags-Wahlergebnis, Nachricht vom 19.9.2005, Internetauftritt der NPD; 1,6 Prozent der Berliner stimmten für die NPD, Internetauftritt des Berliner NPD-Landesverbands, Aufruf am 19.9.2005; Ein Aufwind war's - ein Sturm (noch) nicht. Abschneiden der NPD bei der Bundestagswahl und wie es rechts weitergeht. Internetauftritt der DVU, Aufruf am 19.9.2005; Bundestagswahlergebnis: "Optimale Ausgangsbasis für die Sachsen-Anhalt-Wahl". Internetauftritt der DVU, Aufruf am 21.9.2005. 52 Als "Volksfront" bezeichnen Rechtsextremisten eine im Jahr 2004 ins Leben gerufene Einigungsbestrebung unterschiedlicher rechtsextremistischer Spektren. Daran beteiligen sich sowohl rechtsextremistische Parteien wie parteiungebundene Rechtsextremisten, die so genannten "Freien Kräfte". Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht Berlin 2004. Berlin 2005, S. 49 - 64. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 51 Weiterentwicklung der "Volksfront" Die bereits zu Beginn des Jahres 2004 ausgerufene "Gesamtbewegung des nationalen Widerstands"53 wurde durch ein bilaterales Abkommen zwischen NPD und DVU vertieft. Am 15. Januar schlossen die beiden Parteivorsitzenden Abkommen NPD und DVU Udo Voigt und Dr. Gerhard Frey auf dem Bundesparteitag der DVU in München den "Deutschland-Pakt", eine Verabredung zur Vermeidung konkurrierender Wahlantritte.54 Diese Kooperationsvereinbarung wurde in der Folge konsequent umgesetzt. So verzichtete die DVU bei allen Wahlgängen des Jahres zu Gunsten der NPD auf einen eigenständigen Wahlantritt. Im Gegenzug öffnete die NPD ihre Kandidatenlisten für Vertreter der DVU und der "Freien Kräfte". Anlässlich der vorgezogenen Bundestagswahl wurde der "Deutschlandpakt" erstmals deutschlandweit angewandt. Auch der Berliner NPD-Landesverband wählte auf einem Gegenseitig auf Wahllisten vertreten außerordentlichen Landesparteitag am 24. Juli eine Vertreterin der DVU auf die von dem NPD-Landesvorsitzenden angeführte Kandidatenliste.55 Ebenfalls auf der Landesliste vertreten waren parteiungebundene Aktivisten. Durch die Kooperation der verschiedenen rechtsextremistischen Spektren im Wahlkampf konnten die strukturellen und finanziellen Schwächen des Berliner NPD-Landesverbands teilweise ausgeglichen werden. Die NPD erzielte insbesondere in einigen Bezirken im Ostteil der Stadt Achtungserfolge.56 Die Wahlkampfunterstützung durch die DVU und die Vertreter der "Freien Kräfte" wurde auf dem gemeinsamen Propagandamaterial dokumentiert. 53 "Volksfront statt Gruppenegoismus". Erklärung des Parteipräsidiums der NPD, Internetauftritt "Eine Bewegung werden", Aufruf am 19.9.2004. 54 Vgl. u. a. Deutschland-Pakt von DVU und NPD. In: "National-Zeitung" Nr. 04/2005, 21.1.2005. 55 Vgl. NPD Landesliste steht. Internetauftritt des Berliner NPD-Landesverbands, Aufruf am 25.7.2005. 56 Vgl. S. 45 ff. 52 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Des Weiteren unternahm die NPD den Versuch, weitere Weitere "Volksfront"Unterstützer in die "Volksfront" einzubinden. So sollten Unterstützer parteipolitisch unabhängige "Fachleute" für eine Zusammenarbeit gewonnen werden. Dies gelang im Januar bei Franz Schönhuber, dem langjährigen Publizisten in einschlägigen rechtsextremistischen Publikationen wie der "National-Zeitung" (NZ), der "Deutschen Stimme" (DS) und Nation & Europa ( N&E). Schönhuber übernahm die Funktion eines medienund europa-politischen Beraters der NPD57 und stellte sich - ohne Parteimitglied geworden zu sein - nach dem Tod einer Dresdner NPD-Kandidatin im Bundestagswahlkampf kurzfristig für eine Direktkandidatur zur Verfügung.58 Des Weiteren gelang es der NPD, Verbündete aus anderen rechtsextremistischen Organisationen zu gewinnen. Aus den Reihen der "Deutschen Partei" (DP) etwa wurde mit dem "Münchner-Bekenntnis" das Ende des "Bruderkampfes" 57 Vgl. NPD-Parteizentrale: Kreuther-Signal: Franz Schönhuber medienund europa-politischer Berater der NPD. Pressemitteilung vom 3.1.2005. 58 Franz Schönhuber verstarb im November 2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 53 erklärt und als Ziel eine "große nationale Bewegung" verkündet.59 Die Basis der Einigungsbestrebung konnte aber auch durch die Übernahme von Funktionen durch NPD-Aktivisten in bislang unbeteiligten rechtsextremistischen Organisationen NPD-Aktivisten verbreitert werden. So wurde der stellvertretende Chefredakübernehmen teur des NPD-Organs "Deutsche Stimme" im April zum Funktionen Vorsitzenden der "Gesellschaft für freie Publizistik" (GfP)60 gewählt, einer rechtsextremistischen Kulturvereinigung von Verlegern, Redakteuren, Schriftstellern und Buchhändlern. Neben einschlägig bekannten Rechtsextremisten referierten auf dem Jahreskongress der GfP mit dem Fraktionsvorsitzenden der NPD im Sächsischen Landtag und dem Pressesprecher der DVU weitere Fürsprecher der "Volksfront". Die Erfolge bei der Bündelung der Kräfte im rechtsextremistischen Lager ließen das NPD-Präsidium die Vision einer "Deutschen Volksbewegung" entwickeln und von einer "vereinten Nationalen Rechten" träumen.61 Demonstrationen am 13. Februar in Dresden und am 8. Mai in Berlin Die Erfolge dieser Bemühungen waren auch auf der Straße sichtbar. Es fanden zwei rechtsextremistische Großdemonstrationen anlässlich der identitätsstiftenden Jahrestage im GroßdemonZusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg statt, bei denen strationen zu Jahrestagen die Teilnehmerzahlen erheblich zunahmen. Allerdings blieb der Verlauf der Versammlungen nicht unumstritten. So kamen am 60. Jahrestag der Bombardierung Dresdens am 13. Februar ca. 5 000 Teilnehmer zu einem Demonstrations59 Ulrich Pätzold: Münchener Bekenntnis. Internetauftritt der DP, Aufruf am 28.1.2005. 60 Vgl. Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 116 f. 61 Klaus Beier: Deutschland braucht die "Deutsche Volksbewegung". NPD-Präsidium tagt anlässlich der Ankündigung von Neuwahlen im Bund. Pressemitteilung, vom 18.5.2005; vgl. Udo Voigt: Deutschland braucht eine Deutsche Volksbewegung. In: "Deutsche Stimme" Nr. 06/2005, Juni 2005. 54 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 zug durch die Stadt zusammen. Bemerkenswert war nicht allein die gegenüber dem Vorjahr erneut stark angewachsene Zahl der Demonstrationsteilnehmer (2004: 2 500 Teilneh13. Februar: Mediale mer), sondern auch die mediale Inszenierung der "VolksInszenierung front". An der Spitze des Zuges marschierten mehrere Exponenten des "Volksfront"Bündnisses gemeinsam hinter einem Fronttransparent, unter ihnen Gerhard Frey und Udo Voigt. Der NPD gelang es, die alljährlich von der "Jungen Landsmannschaft Ostpreußen" (JLO) organisierte Gedenkdemonstration unter der "Schirm herrschaft" des sächsischen NPD-Fraktionsvorsitzenden Holger Apfel parteipolitisch zu vereinnahmen.62 Im Zusammenhang mit dem Jahrestag war es zuvor im Sächsischen Landtag zu einem Eklat gekommen. Die Abgeordneten der NPD hatten den Plenarsaal während einer Schweigeminute des Landtags zum Gedenken an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verlassen. Weit schlechter gelang die Inszenierung am 8. Mai, dem 8. Mai 60. Jahrestag des Kriegsendes. Unter dem Motto "60 Jahre Befreiungslüge - Schluß mit dem Schuldkult!" meldete der Jugendverband der NPD, die "Jungen Nationaldemokraten" (JN), eine Demonstration in Berlin an. In den vergangenen Jahren führte die NPD noch eine zentrale 1. Mai-Kundgebung in Berlin durch. In diesem Jahr wurden zahlreiche dezentrale Kundgebungen veranstaltet und die Berliner Demonstration vom 1. auf den 8. Mai verlegt.63 Mitverantwortlich für diese Entscheidung dürfte der vorzeitige Abbruch der Versammlung im Vorjahr aufgrund massiver Ausschreitungen durch linksextremistische Gegendemon62 Vgl. Holger Szymanski: "Schluß mit den Lügen über Vergangenheit und Gegenwart!". 8 000 nationale Deutsche beim Trauermarsch in Dresden. Internetauftritt der NPD, Aufruf am 13.2.2005. 63 Vgl. S. 33. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 55 stranten gewesen sein.64 Offenbar war die NPD bemüht, angesichts der bevorstehenden Wahlen eine negative öffentliche Darstellung zu vermeiden. Auf einer eigens eingerichteten Kampagnenseite wurde unter der Überschrift "Wir feiern nicht" für die "europaweite InternetGroßdemonstration" mobilisiert. In verschiedenen redaktioMobilisierung nellen Beiträgen wurde der 8. Mai als "Fest der Sieger" diffamiert und angeblich "ritualisierte Schuldund Sühnefeiern" beklagt.65 Die angemeldete Wegstrecke führte ursprünglich am Holocaust-Mahnmal vorbei; am Brandenburger Tor sollte eine Kundgebung abgehalten werden. Die Versammlungsbehörde verfügte eine Verlegung der Wegstrecke, die letztinstanzlich vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde.66 Daraufhin versammelten sich die ca. 3 300 Teilnehmer am Alexanderplatz in Berlin-Mitte. Damit wurde bei dieser Demonstration die Teilnehmerzahl der 1. Mai-Demonstration des Vorjahrs bei Weitem übertroffen (2004: 2 300 Teilnehmer). Unter den Anwesenden befanden sich Abordnungen aus Griechenland, Spanien, Belgien und Rumänien. Nachdem mehrere tausend Demonstranten verschiedener Gegenkundgebungen die Demonstrationsroute friedlich blockierten, verzichtete die Polizei auf eine Räumung der Wegstrecke und die JN musste ihre Versammlung als stationäre Kundgebung abhalten. Die Stimmung unter den Teilnehmern wurde daraufhin zeitweise äußerst 64 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 52 - 54. 65 60 Jahre Befreiungslüge. Kampagnenseite im Internet zum 8. Mai 2005, Aufruf am 28.4.2005. 66 Vgl. BVerfGE 1 BvR 961/05. Der Vorbeimarsch des Demonstrationszugs am Holocaust-Mahnmal wurde auf der Grundlage des geänderten Versammlungsrechts untersagt. Das Versammlungsgesetz (SS 15 Abs. 2 Satz 2 VersG) bestimmt das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin als einen Ort, der als Gedenkstätte von historisch herausragender, überregionaler Bedeutung an die Opfer der menschunwürdigen Behandlung unter der nationalsozialistischen Gewaltund Willkürherrschaft erinnert (SS 15 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VersG). An derartigen Orten kann ein Aufzug verboten oder von Auflagen abhängig gemacht werden, wenn zu befürchten ist, dass durch den Aufzug die Würde der Opfer beeinträchtigt wird. 56 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 aggressiv. Nach mehreren Stunden wurde die Demonstration schließlich durch den Veranstalter aufgelöst. Am Abend des 8. Mai führten einige Rechtsextremisten eine Spontandemonstration im Bezirk Marzahn-Hellerdorf durch.67 Unterschiedliche Die Reaktionen auf diese Veranstaltung fielen sehr unterReaktionen schiedlich aus. Der Vorsitzende der veranstaltenden JN verkündete ebenso wie die NPD, die Versammlung sei ein "politischer Sieg der nationalen Opposition" gewesen und feierte die erfolgreiche "Zeichensetzung": "Wenn die Vertreter des Versagerkartells in Berlin nun im Büßergewand durch die Welt reisen, werden sie nicht länger heucheln können, daß ihre von den Alliierten vorgegebene und willig übernommene Befreiungslüge von allen deutschen als Staatsdoktrin angesehen wird."68 Handfeste Kritik wurde dagegen aus den Reihen der "Freien Kräfte" geäußert. In verschiedenen Beiträgen war im Zusammenhang mit dem verhinderten Demonstrationszug von einem Versagen der NPD, von Feigheit und Verrat die Rede. Viele Teilnehmer gingen auf Distanz zur NPD, sie hätten 67 Vgl. S. 33. 68 Erklärung der "Jungen Nationaldemokraten" (JN) zur Demonstration am 8. Mai in Berlin. Internetauftritt der JN, Aufruf am 9.5.2005; vgl. Die Redaktion: 8. Mai 2005. Ein politischer Sieg des nationalen Widerstandes. Internetauftritt der NPD, Aufruf am 8.5.2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 57 eine gewaltsame Durchsetzung der Demonstrationsstrecke befürwortet. Der Versammlungsleiter sah sich aufgrund der heftigen Vorwürfe gezwungen, sein Verhalten zu rechtfertigen. Die Kundgebung sei von Anfang an behindert worden, das Verhalten der Polizeikräfte sei "immer deutlicher als offener Rechtsbruch" zu erkennen.69 Letztlich konstatierte er sogar eine "Kumpanei von System und Antifa" und verwies auf die grundlegend widerstreitenden Interessen der NPD und der "Freien Kräfte": "Die Kundgebungen der auf parlamentarischer Ebene kämpfenden Organisationen werden auch zukünftig immer im Rahmen der gegebenen Möglichkeit durchgeführt werden. Wer anderes erwartet oder propagiert, wird sich zusätzliche Spielfelder schaffen müssen. Dies war bisher schon so gewesen und hat sich natürlich auch unter dem einigenden Band der Volksfront nicht verändert."70 Kritik an der "Volksfront" Nach Misserfolgen wie diesem blieb die Kritik an der strategischen Grundkonzeption der "Volksfront" nicht aus. Die Misstrauen bei Anfeindungen kamen aus allen Richtungen und zum Teil "Freien Kräften" von in der rechtsextremistischen Szene durchaus einflussreicher Seite. Dabei wurden die Konfliktlinien innerhalb des Bündnisses deutlich sichtbar. Das größte Misstrauen sprach aus einigen Stellungnahmen der "Freien Kräfte". Es waren aber auch Angriffe von außen auf die "Volksfront" zu verzeichnen. Insbesondere die magere Bilanz der Wahlen provozierte Kritik an angesichts der überzogenen Erwartungen nach dem überWahlergebnissen raschenden Einzug in den Sächsischen Landtag im Jahr 2004 harsche Kritik. In Vorfeld der Landtagswahl in Nordrhein69 Die JN legten Rechtsmittel gegen die Entscheidung der Polizei ein, die durch Gegendemonstranten blockierte Demonstrationsroute nicht freizuräumen. Das Verwaltungsgericht Berlin wies die Klage im März 2006 im Wesentlichen ab, da der Aufzug seinerzeit nur mit unverhältnismäßigen Mitteln hätte erzwungen werden können. Vgl. Urteil der VG Berlin, AZ 1A 98.04 vom 8.3.2006. 70 Thomas Wulff: Erklärung des Versammlungsleiters der JN-Kundgebung am 8. Mai 2005 in Berlin. Internetauftritt der NPD, Aufruf am 10.5.2005. 58 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Westfalen gaben mehrere parteiunabhängige Rechtsextremisten eine Erklärung ab, in der sie über ihre tatsächliche Motivation für die Beteiligung an der "Volksfront" und für die Unterstützung der NPD im Wahlkampf Aufschluss gaben. Gleichzeitig offenbarten sie unter dem Motto "Parteifrei - und trotzdem dabei!" die tiefen Gräben zwischen den Bündnispartnern: "Wir wollen dieses asoziale System nicht reformieren, sondern abschaffen und ersetzen! [...] Mit unserem Einsatz für ein nationales und soziales Deutschland stellen wir uns [...] deutlich sichtbar gegen die systemkonforme Politik des gemäßigten nationalen Lagers innerhalb und außerhalb der Volksfront!"71 Angesichts des schwachen Abschneidens der NPD wandten sich nach der Wahl wiederum Vertreter der "Freien Kräfte" gegen eine auf Wahlen begrenzte Sichtweise der "Volksfront" und sprachen sich damit gegen den von NPD und DVU verfolgten legalistischen Kurs aus: "Die Machtfrage an dieses System wird sich nicht über Parlamente stellen lassen. Faule Kompromisse, die den Marionetten des Kapitals abgerungen werden müssen, werden unser Volk nicht befreien. Parlamente dürfen daher in unserem Politikverständnis nichts anderes als Bühnen für unsere Systemalternative sein. [...] Zurück bleibt das gute Gefühl, daß zumindest in NRW deutliche Schritte zur positiven Zusammenarbeit möglich gewesen sind und die Volksfront trotz der Mitarbeit von Musterdemokraten wie Gerhard Frey auch eine Plattform für nationale Sozialisten sein kann."72 Innerhalb der NPD scheint das Konzept dagegen kaum mehr umstritten zu sein, dennoch gab es eine kritische StellungPosition JN nahme aus der Jugendorganisation der Partei sowie als Replik auf ein Papier des Publizisten und rechtsextre71 Viele freie Aktionsgruppen und freie Aktivisten: Erklärung freier Kräfte zur Landtagswahl in NRW. Internetauftritt "Eine Bewegung werden", Aufruf am 18.4.2005. 72 Aktionsbüro Norddeutschland: Nordrhein-Westfalen: Der 22. Mai aus freier Sicht - ein Wahlkampfresümee. Internetauftritt des "Freien Widerstands", Aufruf am 25.5.2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 59 mistischen Theoretikers Jürgen Schwab einen Offenen Brief des JN-Vorsitzenden. Richtete sich die Kritik des JN-Vorsitzenden gegen die DVU, so bemühte sich deren Vorsitzender Gerhard Frey Position DVU wiederum mehrfach um Distanz zu den neonazistischen Kräften in der "Volksfront". In einer Stellungnahme zu einer möglichen Radikalisierung der DVU durch die Beteiligung an der "Volksfront" lehnte er Nazismus und Neonazismus entschieden ab.73 Damit wandte er sich gegen eine Zusammenarbeit mit dem außerparlamentarischen Arm der "Volksfront", den neonazistischen "Freien Kräften". Aber auch in bezug auf den anderen Bündnispartner, den NPD-Vorsitzenden Udo Voigt, blieb er auf Distanz. In einem gemeinsamen Interview in der "Deutschen Stimme" betonte er mehrfach die Eigenständigkeit seiner DVU und versuchte, in Abgrenzung zu Voigt den Anschein von Verfassungstreue zu wahren.74 Als kritische Stimme außerhalb der "Volksfront" ließ sich der parteiunabhängige Rechtsextremist Christian Worch vernehmen. Er bemängelte das unklar gebliebene Profil der Einigungsbestrebung. Die Idee einer "Volksfront" sei bislang nicht wirklich umgesetzt worden: "Sicher ist nur, daß sie ein Wahlbündnis zwischen NPD und DVU ist, soweit es die parteiliche Ebene betrifft, und ein Wahlunterstützungsverein vor allem zugunsten der NPD (marginal zugunsten der DVU), soweit es die daran beteiligten parteifreien, radikalen Kräfte betrifft."75 Die bislang letzte Aufforderung, sich an den WahlabspraKooperationsangebot chen im Rahmen der "Volksfront" zu beteiligen, richteten der "Volksfront" die Parteivorsitzenden von NPD und DVU im Vorfeld der 73 Ja zum Grundgesetz - Knallhart gegen Gewalt - Nein zu Nazismus und Neonazismus. DVU weicht kein Jota von ihrem Kurs ab. Internetauftritt der DVU, Aufruf am 4.2.2005. 74 Bundestagswahl. Der Sieg der politischen Vernunft. Dr. Gerhard Frey und Udo Voigt beziehen Stellung zu den Brennpunktfragen nationaler Politik. In: "Deutsche Stimme" Nr. 09/2005, September 2005. 75 Christian Worch: Quo vadis, Volksfront?. Internetauftritt des Christian Worch, Aufruf am 19.9.2005. 60 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Bundestagswahl an die Republikaner (REP). Im Mai forderten sie den Bundesvorsitzenden, Dr. Rolf Schlierer, in einem Schreiben auf, sich "der bestehenden Gemeinsamkeit"76 nicht zu verschließen. Für den Fall, dass es Schlierer nicht gelingen sollte, den Beitritt zur "Volksfront" innerparteilich durchzusetzen, boten sie ihm ein vertrauliches Gespräch über die anstehenden Wahlen an, unter anderem über die Landtagswahl im REP-Stammland Baden-Württemberg. Doch Schlierer verweigerte sich einer Absprache und ließ das Schreiben unbeantwortet. Unterdessen distanzierten sich die Initiatoren der "Volksfront" seitens der "Freien Kräfte" mit Blick auf die gescheiterten Kooperationsbemühungen deutlich von den REP: "In diesem Zusammenhang gibt es nunmehr eine ganz klare Trennungslinie zu den Resten der Republikaner und deren Führungsclique um die Personen Schlierer und Winkelsett zu vermelden. Damit ist klar geworden, dass die Volksfrontbestrebungen da aufhören wo die notwendige Distanz zum Liberalkapitalistischen System und deren Handlanger der Besatzer-BRD deutlicht nicht vorhanden ist. Die Hetzereien der (Anti-Volksfrontler) um den REP-Vorsitzenden Schlierer sprechen die Sprache einer gekauften Systemmafia, aus anderer Richtung schienen es mehr gekränkte Eitelkeiten zu sein ..."77 Bilanz der "Volksfront" Die Bilanz der "Volksfront"-Bemühungen fällt somit zwieBilanz zwiespältig spältig aus. Zum einen ist es der NPD als Kristallisationspunkt und treibende Kraft des Projekts durchaus gelungen, die Vernetzung innerhalb des rechtsextremistischen Lagers voranzutreiben und zumindest in der eigenen Partei - von einigen Ausnahmen abgesehen - zu etablieren. Zum anderen steht das Bündnis vor allem unter den "Freien Kräften" nach wie vor in der Kritik. Die unterschiedlichen Reaktionen der 76 Dr. Gerhard Frey, Udo Voigt, Brief an Dr. Rolf Schlierer vom 30.5.2005. In: "Deutsche Stimme" Nr. 07/2005, Juli 2005. 77 Thomas Wulff, Ralph Tegethoff, Thorsten Heise: Ein Jahr im Zeichen der Volksfront. Internetauftritt "Eine Bewegung werden", Aufruf am 3.5.2005 (Fehler im Original). A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 61 NPD und der "Freien Kräfte" auf das schlechte Abschneiden bei den Wahlen und auf die Demonstrationsstrategie der NPD am 8. Mai offenbaren, dass die "Volksfront" noch keineswegs gefestigt ist. Die Äußerungen Gerhard Freys belegen, dass dieser in der Allianz lediglich den eigenen, parteipolitischen Vorteil sucht. Damit hat sich die "Volksfront" bislang nicht über Wahlabsprachen und gegenseitige Wahlkampfunterstützung hinaus entwickelt. Insbesondere eine inhaltliche Annäherung der verschiedenen Spektren ist nicht zu erkennen, die Interessen der ungleichen Unterschiedliche Interessen Partner bleiben weiterhin unterschiedlich. Während die "Freien Kräfte" Wahlkämpfe lediglich als zusätzliche, öffentlichkeitswirksame Plattform für ihre verfassungsfeindliche Agitation begreifen, steht für die DVU vor allem der unbehelligte Wahlantritt ihrer aussichtsreicheren Landesverbände im Vordergrund. Der NPD kommt die Aufgabe zu, an den Bruchstellen dieser beiden Extrempositionen zu vermitteln. Sie muss das Misstrauen zwischen den Beteiligten abbauen und strukturelle Gegensätze überwinden, um das Zweckbündnis am Leben zu halten. Dabei läuft sie Gefahr, durch den Spagat ihr eigenes Profil zu verlieren: Den Einen gilt sie immer noch als Systempartei, den Anderen ist sie längst schon zu verfassungsfeindlich. Bislang kann sich die NPD als Gewinner des Projekts bezeichnen. Steigende MitNPD profitiert gliederzahlen belegen die zunehmende Attraktivität der Partei.78 Unter diesen Vorzeichen bleibt die "Volksfront" ein stark erfolgsabhängiges Unterfangen, das von der Hoffnung auf gute Ergebnisse bei den Wahlen des Jahres 2006 sowie einem weiterhin öffentlichkeitswirksamen Demonstrationsgeschehen lebt. Insbesondere auf die Landtagswahl in Entwicklung offen Mecklenburg-Vorpommern setzt die NPD ihre Erwartungen. Es ist jedoch fraglich, ob die strategische Partnerschaft tatsächlich andauern wird. Einerseits erhöht die Zusammenarbeit zwar die Wahlchancen der beteiligten Parteien, andererseits ordnen sich die ungleichen Bündnispartner dem 78 Vgl. S. 63 f. 62 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Führungsanspruch der NPD nur widerwillig unter. Nach den ersten, Aufmerksamkeit erregenden Wahlteilnahmen (in Sachsen und Brandenburg 2004) blieb die "Volksfront" in den Folgewahlen (in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und bei der Bundestagswahl 2005) deutlich hinter den eigenen Zielen zurück. 1.3.3 Berliner NPD-Landesverband im Aufschwung Die NPD profitierte nicht nur auf Bundesebene von der Fortentwicklung und Ausweitung der rechtsextremistischen "Volksfront". Auch der Berliner Landesverband setzte das Konzept der Zusammenarbeit mit der DVU und mit Teilen der "Freien Kräfte" erfolgreich um. Durch diese EntwickBelebung der lung kam es zu einer Belebung der Parteistrukturen, wennParteistrukturen gleich diese weiterhin nur eingeschränkt handlungsfähig bleiben. Mit der Neuwahl des Vorstands brachte sich der Landesverband frühzeitig für die Abgeordnetenhauswahl 2006 in Stellung. "Volksfront" in Berlin Die Aktivitäten des NPD-Landesverbands waren zuletzt Bundestagsganz auf die Teilnahme an der Bundestagswahl ausgerichtet. wahlkampf Die gemeinsame Wahlliste und der gemeinschaftlich geführte Wahlkampf dokumentierten sichtbar den Erfolg des Bündnisses in Berlin.79 Zuvor war es - vor allem zwischen NPD und DVU - zu einer Annäherung der unterschiedlichen rechtsextremistischen Spektren gekommen. Die Vertreter beider Parteien demonstrierten ihre Verbundenheit anlässlich mehrerer Versammlungen und gemeinsamer öffentlicher Auftritte. So war der Landesvorsitzende der DVU zu Gast bei einer durch den NPD-Landesverband organisierten Vortragsreihe im Rathaus Tempelhof. Auf einer Veranstaltung am 10. Januar mit dem Thema "Auswirkungen des Zuzugs 79 Vgl. S. 46. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 63 von Ausländern nach Deutschland"80 betonte er in einem Grußwort die Chancen und Möglichkeiten der "Volksfront" und sprach sich für die Überwindung des Gegeneinanders aus.81 Anlässlich einer weiteren Veranstaltung am 14. März pries der NPD-Kreisverband sein Kommen als den erneuten "Schulterschluß der nationalbewußten Kräfte in der deutschen Hauptstadt"82. Auch die Zusammenarbeit der NPD mit den "Freien Kräften" setzte sich weiter fort. Die beiden Spektren verfügten schon seit längerem aufgrund der neonazistischen Ausrichtung sowohl der Berliner NPD wie des Kameradschaftsnetzwerks über zahlreiche inhaltliche und personelle Berührungspunkte. Dies äußerte sich etwa durch die gemeinsame Teilnahme an Demonstrationen. Dagegen gelang es den Befürwortern der "Volksfront" nicht, das Verhältnis zum Berliner Landesverband der REP zu verbessern. Der Ende 2004 neugewählte Landesvorsitzende scheint dem Abgrenzungskurs des Bundesvorstands zu folgen. Belebung der Partei Die Einigung von NPD, DVU und "Freien Kräften" auf Bundeswie Landesebene hatte nicht nur Folgen für die Stärkung der Außendarstellung und die öffentliche Wahrnehmung der Parteistrukturen NPD im Rahmen der "Volksfront", sondern auch für den innerparteilichen Zustand der Partei, was sich in der Stärkung der Parteistrukturen äußerte. Während die DVU deutliche Mitgliederverluste zu verzeichMitgliederzuwachs nen hatten, konnte die NPD im Jahr 2005 als einzige rechtsextremistische Partei neue Mitglieder hinzugewinnen. Nach 80 Der Bezirk Tempelhof-Schöneberg hatte dem NPD-Landesverband die Nutzung des Rathauses verweigert, war jedoch durch eine einstweilige Anordnung des VG Berlin dazu verpflichtet worden, der NPD - wie anderen Parteien auch - Räumlichkeiten für ihre Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen. Vgl. VG Berlin VG 2 A 3.05. vom 7.1.2005. 81 Vgl. Veranstaltung im Rathaus Tempelhof. Internetauftritt des NPDKreisverbands 8, Aufruf am 17.1.2005. 82 NPD erneut im Tempelhofer Rathaus. Internetauftritt des NPD-Kreisverbands 8, Aufruf am 17.3.2005. 64 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 einem stetigen Rückgang wurden die Verluste des Jahres 2004 nahezu ausgeglichen und die NPD verfügt nun wieder über ca. 175 Mitglieder in Berlin. Dies führte auch zu einer Restrukturierung der Untergliederungen der Partei. Der Landesverband gliedert sich in sechs Kreisverbände - die das Stadtgebiet allerdings immer noch lediglich formal abdecken. Zuletzt gründete sich am 28. Oktober ein Kreisverband im Bezirk Neukölln (Kreisverband 9).83 Darüber hinaus regten die Umstrukturierungen Neugründungen im Kameradschaftsnetzwerk und das Zusammenwachsen der "Volksfront" einige Aktivisten zur Neugründung der Berliner JN an.84 Im Lauf des Jahres wurden drei so genannte Stützpunkte des NPD-Jugendverbands ins Leben gerufen. NPD und JN sind seit kurzem auch auf Landesebene mit einem eigenen Auftritt im Internet vertreten. Neuwahl des Landesvorsitzenden Eine weitere Belebung der Partei erhoffte sich der NPDVorsitzender: Gewaltbereiter Landesverband von der Neuwahl seines Vorstands im Führungsaktivist Nachgang der Bundestagswahl. Auf dem ordentlichen Landesparteitag am 19. November wählte die Partei den bisherigen Beisitzer und als Rechtsextremisten bekannten Eckart Bräuniger zum Landesvorsitzenden. Die bisherigen stellvertretenden Vorsitzenden wurden in ihren Ämtern bestätigt.85 Der neue Landeschef ist in der rechtsextremistischen Szene Berlins seit langem verankert und gilt als gewaltbereiter Führungsaktivist. In Folge seiner wechselnden Tätigkeit für zahlreiche rechtsextremistische Organisationen verfügt er 83 Vgl. Gründung des Kreisverbands-Neukölln (KV 9), Internetauftritt des Berliner NPD-Landesverbands, Aufruf am 2.11.2005. Die Vergabe der Kreisverbandsnummern richtet sich anscheinend nicht nach der Anzahl der tatsächlich existierenden Kreisverbände. Im Februar 2006 wurden weitere Kreisverbände gegründet, und zwar die Kreisverbände Tempelhof-Schöneberg und Nord (Tegel, Reinickendorf, Wedding und der nördliche Teilbereich des Bezirks Mitte). 84 Vgl. S. 24 f. 85 Vgl. NPD wählte Landesvorstand. Internetauftritt des Berliner NPDLandesverbands, Aufruf am 20.11.2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 65 über gute Kontakte sowohl im Bereich des Musikund Kameradschaftsnetzwerks als auch zur DVU. Er trat wiederholt als Organisator und Teilnehmer von rechtsextremistischen Veranstaltungen sowie als Versammlungsredner in Erscheinung. Bräuniger war Mitglied der 1995 aufgrund ihrer Wesensverwandtschaft mit der NDSAP vom Bundesminister des Innern verbotenen "Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei" (FAP). Im April 2004 wurde er zusammen mit weiteren Mitgliedern der rechtsextremistischen "Kameradschaft Nordland" in einem Waldgebiet in Brandenburg bei einer Wehrsportübung festgenommen.86 Die neue Führung der Berliner NPD steht für die weitere Umsetzung des "Volksfront"-Konzepts. Der Wechsel an der Neonazistische Spitze verstärkt die bereits bestehende neonazistische und Ausrichtung aktionistische Ausrichtung des Landesverbands. Die NPD bewegt sich damit weiter auf die neonazistischen Kräfte zu. Ohnehin sind die Konfliktlinien zwischen den Bündnispartnern in Berlin weit schwächer ausgeprägt als auf Bundesebene. Weder bei der DVU noch bei dem größten Teil der parteiungebundenen Kräfte ist eine Scheu vor der Zusammenarbeit mit der NPD zu bemerken. Allerdings verfügt die NPD auch nicht über eine dominante Stellung im rechtsextremistischen Spektrum der Stadt. Aufgrund ihrer strukturellen und personellen Defizite bleibt sie weiterhin auf die Unterstützung durch ihre Partner angewiesen, will sie 2006 einen erfolgreichen Wahlkampf in Berlin bestreiten. Die öffentlichkeitswirksame Teilnahme an der Abgeordnetenhauswahl könnte jedoch - den Fortbestand der "Volksfront" vorausgesetzt - zu einer weiteren Verfestigung der Parteistrukturen führen. 86 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 34 - 35. 66 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 1.4 Diskursorientierter Rechtsextremismus 1.4.1 Revisionistenszene durch Inhaftierungen geschwächt Die internationale Revisionistenszene ( Revisionismus) ist durch die Inhaftierung ihrer wichtigsten Protagonisten gravierend geschwächt worden. Bereits in den letzten Jahren nahm die Agitation der international kooperierenden, jedoch zahlenmäßig geringen Holocaust-Leugner beständig ab. Den Revisionisten gelang es 2005 nicht, diesen Trend umzukehren. In Berlin wurde auch der 2003 in Vlotho (NordrheinWestfalen) gegründete "Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten ( VRBHV) von dieser Entwicklung erfasst und entfaltete nicht die öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten der vergangenen Jahre. Am 1. März wurde mit Ernst Zündel einer der bekanntesten Revisionisten von Kanada an Deutschland ausgeliefert. Auslieferungen und Gegen ihn wurde ein Prozess wegen Volksverhetzung, Inhaftierungen Beleidigung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener eröffnet. Am 1. November wurde der belgische Revisionist Siegfried Verbeke aufgrund eines europäischen Haftbefehls der Staatsanwaltschaft Mannheim überstellt und inhaftiert. Ebenso erging es dem in den USA festgenommenen deutschen Staatsbürger Germar Rudolf. Rudolf wurde, nachdem ein Asylantrag in den USA bereits im November 2004 abgelehnt worden war, am 19. Oktober bei einer Vorsprache in der amerikanischen Einwanderungsbehörde in Gewahrsam genommen und nach Deutschland abgeschoben. Er wurde am 15. November auf dem Frankfurter Flughafen aufgrund eines Urteils aus dem Jahre 1995 wegen Volksverhetzung und Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener verhaftet. Dem Antritt der Haftstrafe hatte er sich seinerzeit durch die Flucht ins Ausland entzogen. Inzwischen ist gegen ihn ein weiteres Verfahren wegen Volksverhetzung bei der Staatsanwaltschaft Mannheim anhängig. Ein weiterer Schlag gegen die Revisionistenszene war die Festnahme und Verurteilung des Historikers und britischen A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 67 Rechtsextremisten David Irving, der bei seiner Einreise nach Österreich am 11. November in der Steiermark festgenommen und inzwischen zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Seit dem 8. November 1989 bestand gegen Irving in Österreich ein Haftbefehl wegen des Verdachts der NS-Wiederbetätigung. Die zahlreichen Festnahmen prominenter Revisionisten VRBHV: Wenig hätten dem VRBHV ein großes Betätigungsfeld liefern könSolidaritätsaktionen nen, da es gemäß Satzung das Ziel dieses in Berlin ansässigen Vereins ist, verurteilte oder angeklagte HolocaustLeugner durch öffentlichkeitswirksame Agitation sowie materielle und personelle Koordinationsmaßnahmen zu unterstützen. Allerdings riefen Berliner Vereinsmitglieder des VRBHV nur vereinzelt zu Solidaritätsaktionen für die verhafteten Personen auf. Die Schwäche des VRBHV ist insbesondere auf die zeitweilige Inaktivität seines Führungsaktivisten und Initiators, Berufsverbot für Mahler Horst Mahler, zurückzuführen. Aufgrund einer Vielzahl anhängiger Verfahren wegen Volksverhetzung und Verunglimpfung des Staates verbot ihm das Amtsgericht BerlinTiergarten im Jahr 2004 vorläufig die Ausübung seines Berufs als Rechtsanwalt. Zuletzt wurde Mahler am 12. Januar 2005 vom Landgericht Berlin wegen Volksverhetzung (SS 130 StGB) zu einer neunmonatigen Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt. Gegen dieses Urteil legte er Revision ein. Lediglich die Verhaftung von Ernst Zündel zeitigte umfangreichere Aktivitäten der VRBHV-Mitglieder. Horst Mahler bezeichnete Zündel, der dem VRBHV beigetreten war, in Unterstützung für einer auf verschiedenen rechtsextremistischen InternetZündel auftritten veröffentlichten Stellungnahme vom 28. Februar als "Kriegsgefangenen" und "Symbol für den unbeugsamen Wahrheitswillen des menschlichen Geistes". Zündels Kraft und Überzeugungstreue werde viele "deutschwillige Deutsche" zur Teilnahme am "Feldzug gegen die Offenkundigkeit des Holocaust" motivieren. VRBHV-Mitglieder bekundeten ihre Solidarität mit dem Angeklagten. In einem in 68 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Berlin kursierenden Flugblatt wurde zur Unterstützung Zündels aufgerufen: "Warum wird keine öffentliche Untersuchung durch unabhängige Wissenschaftler gestattet, um alle Zweifler zum Schweigen zu bringen? Ein 'freier Rechtsstaat' hätte doch nichts zu verbergen? Der Holocaust ist NICHT 'offenkundig', solange er nicht aufgeklärt und bewiesen ist. Zum ersten Mal seit Kriegsende besteht nun die Möglichkeit, mit der öffentlichen Verteidigung Ernst Zündels die Verleumder und Feinde des Deutschen Reiches wieder als solche kenntlich zu machen: Jeder frei denkende Deutsche verfolgt daher den Inquisitionsprozeß gegen den deutschen Helden Ernst Zündel am 8., 9., 16. und 24. November 2005 im Landgericht Mannheim." Tatsächlich nahmen an dem Prozess gegen Zündel zahlreiche Rechtsextremisten aus dem Inund Ausland teil. Zu Beginn des Prozesses versuchte die Pflichtverteidigerin Ausschluss Mahlers Zündels, Mahler als ihren Assistenten zu etablieren. Der von Verteidigung Vorsitzende Richter schloss Horst Mahler wegen des gegen ihn bestehenden Berufsverbots jedoch bereits zum Auftakt des Verfahrens von der Verteidigung aus und entzog darüber hinaus der Pflichtverteidigerin das Mandat. Sie hatte unter anderem in ihrer Verteidigungsschrift ebenfalls den Völkermord an den europäischen Juden bestritten. Auch anlässlich der Verurteilung des früheren Rechtsterroristen und Neonationalsozialisten Manfred Roeder verbreitete Mahler eine Solidaritätsnote auf mehreren rechtsextremistischen Seiten im Internet: "Kämpft für Manfred Roeder, zeigt, daß die Fremdherrschaft Ihrem Ende nahe ist! [...] Wir sind alle Manfred Roeder!! [...] Rechtsanwalt Manfred Roeder, der Recke vom Richberg, sollte von den Feinden des Deutschen Reiches am Ostermontag 2005 (28.3.) für 10 Monate in Kriegsgefangenschaft genommen werden. [...] Er hatte in einem Offenen Brief an alle Bundestagsabgeordneten die Bundesrepublik Deutschland, die er "Bimbesrepublik" nannte, als das schändlichste Kapitel der Deutschen Geschichte charakterisiert. Das wurde als 'Verunglimpfung des Staates' (SS 90a StGB) mit 10 Monaten Freiheitsentzug sanktioniert [...]." Größere Reaktionen auf diesen Aufruf waren nicht festzustellen. Für die internationale Szene der Revisionisten stel- A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - R E C H TS E X TR E M I S M U S 69 len die Verhaftungen zahlreicher prominenter Mitglieder einen schweren Schlag dar. Bislang zeichnet sich nicht ab, dass diese Lücken durch neue Protagonisten geschlossen werden könnten. 70 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 2 LINKSEXTREMISMUS 2.1 Überblick Das linksextremistische Personenpotenzial hat sich mit Personenpotenzial ca. 2 330 Personen gegenüber dem Vorjahr nur unwesentlich leicht gesunken verringert (2004: ca. 2 375 Personen).87 Die leichten Mitgliederverluste waren in allen Bereichen des Linksextremismus zu verzeichnen. Mangelnde Attraktivität der angebotenen Konzepte und Aktivitäten der einzelnen Gruppen sowie die Zerstrittenheit der linksextremistischen Szene dürften die Ursachen sein. Linksextremistische Parteien, hier vor allem die Deutsche Kommunistische Partei ( DKP), sind von den Mitgliederverlusten besonders betroffen. Eine Ausnahme stellt die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands ( MLPD) dar. Ihr beständiges Engagement in der Kampagne gegen Hartz IV scheint sich bezahlt zu machen. Bei der Bundestagsund den Landtagswahlen 2005 blieben die linksextremistischen Parteien erfolglos. Wahlergebnisse von 0,1 Prozent belegen die Marginalität dieser Parteien. Gesamtpotenzial linksextremistischer Personenzusammenschlüsse: ca. 2 330 370 Gewaltbereite aktionsorientierte Linksextremisten 1225 Nicht-gewaltbereite 710 Linksextremisten Linksextremistische Parteien und innerparteiliche Zusammenschlüsse Auch der aktionsorientierte Linksextremismus wirkte 2005 deutlich geschwächt. Die Szene erscheint zunehmend seg87 Diese Angaben sowie alle folgenden Angaben zu Personenpotenzialen sind geschätzt. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 71 mentiert. Bündnisse zwischen den agierenden Gruppen sind Aktionsorientierter nur noch anlassbezogen mit Schwierigkeiten möglich und Linksextremismus erweisen sich nicht als langfristig haltbar. Als Beispiel kann geschwächt hier das 2004 gegründete Bündnis "ACT!" angeführt werden, welches 2005 kaum mehr in Erscheinung trat. Linksextremistisches Personenpotenzial* Berlin Bund 2004 2005 2004 2005 Gesamt 2 375 2 330 31 200 30 900 ./. Mehrfachmitgliedschaften 400 300 Tatsächliches 2 375 2 330 30 800 30 600 Personenpotenzial Personenpotenziale einzelner Personenzusammenschlüsse Berlin Bund 2004 2005 2004 2005 Gewaltbereite aktionsorientierte 1 280 1 250 5 500 5 500 Linksextremisten, davon Autonome 1 080 1 060 Anarchisten 150 120 Antiimperialisten 50 70 Nicht-gewaltbereite 715 710 25 700 25 400 Linksextremisten, davon "Linksruck" 110 110 "Sozialistische Alternative 45 40 Voran" "Rote Hilfe e. V." 300 320 Sonstige 260 240 Linksextremistische Parteien und innerparteiliche 380 370 s. o. s. o. Zusammenschlüsse * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. Die Anzahl der Straftaten im Bereich der "Politisch motiAnstieg der vierten Kriminalität - Links" ist gegenüber dem Vorjahr um Straftaten 7 Prozent gestiegen (715 Straftaten gegenüber 666 Strafta- 72 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 ten). Die Gewaltstraftaten und die anderen Straftaten wiesen Weniger jedoch gegenläufige Entwicklungen auf. Während die GeGewaltstraftaten waltstraftaten um 26 Prozent sanken (2005: 152 Gewaltstraftaten gegenüber 2004: 206 Gewaltstraftaten), nahmen die anderen Straftaten um 22 Prozent zu. Die starke Abnahme der Gewaltstraftaten dürfte vor allem durch den weitgehend friedlich verlaufenen 1. Mai bedingt sein, an dem 2005 ca. 48 Prozent weniger Gewaltdelikte zu verzeichnen waren als im Vorjahr. Die starke Zunahme der anderen Straftaten war wesentlich durch einen Anstieg der Sachbeschädigungen und der Verstöße gegen das Versammlungsgesetz begründet. Fallzahlen Politisch motivierte Kriminalität - Links* 2004 2005 Gesamt 666 715 Terrorismus, 2** 5 davon Bildung einer terroristischen SS 129a StGB 2** 5 Vereinigung Gewaltdelikte, 206 152 davon Körperverletzung SSSS 223 - 231 StGB 71 63 Brandstiftung SSSS 306 - 306 f StGB 13 12 Landfriedensbruch SSSS 125, 125 a StGB 65 49 Widerstandsdelikte SSSS 113 - 120 StGB 50 21 Raub SSSS 249 - 255 StGB 5 3 Verkehrsgefährdungen SSSS 315 - 315 c StGB 2 4 Andere Straftaten, 458 558 davon Propagandadelikte SSSS 86, 86 a StGB 12 4 Nötigung/Bedrohung SSSS 240, 241 StGB 11 8 Beleidigung / üble Nachrede / SSSS 185 - 189 StGB 30 39 Verleumdung Sachbeschädigung SSSS 303 - 305 a StGB 116 186 Versammlungsgesetz 203 250 Sonstiges 86 71 * Vollständige Angaben im Auszug aus dem Bericht "Kriminalität in Berlin 2005" im Anhang. ** Hierbei handelt es sich um Verfahren, die beim BKA aufgrund der Deliktzuweisung geführt, aber dem Land Berlin wegen der Tatörtlichkeit zugeordnet werden. Dieses Verfahren wird erst seit 2003 praktiziert. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 73 Der Minimalkonsens aller linksextremistischen Gruppen, den Kapitalismus und die freiheitliche demokratische Abnehmende Grundordnung abzuschaffen, bildet derzeit keine ausreichenMobilisierungsde Grundlage für eine Einigung über Strategien und Wege fähigkeit dorthin. Einzelinteressen und ideologische Zwistigkeiten überwiegen, so dass die Mobilisierungsfähigkeit der gesamten Szene 2005 gelitten hat. Konnte man im Vorjahr noch mit den Protesten gegen die Sozialreformen die eigene Anhängerschaft mobilisieren, verliefen entsprechende Aktivitäten 2005 im Sande. Lediglich der "antifaschistische Kampf" bleibt ein Thema, bei dem ein gruppenübergreifender Konsens und zudem Bündnisse mit nichtextremistischen Organisationen möglich sind. So konnte 2005 eine Intensivierung der "Antifa"-Aktivitäten festgestellt werden. Während die "Antifa"-Demonstrationen überwiegend friedlich verliefen, nahmen die Übergriffe von Linksauf Rechtsextremisten zu. 2005 waren neun Prozent mehr Gewaltdelikte von Linksextremisten auf Rechtsextremisten zu verzeichnen.88 Andere Themen, die die Szene beschäftigten, boten keine Anschlussfähigkeit in das bürgerliche Spektrum hinein. Die Selbstbezogenheit Auseinandersetzungen um die Räumung des Szeneobjekts und Isolierung Yorckstraße 59 oder die weiterhin andauernde Militanzdebatte belegen die Selbstbezogenheit und Isolierung linksextremistischer Gruppen. Einzig die Diskussion um die Bildung einer neuen Partei im linken Spektrum rief eine rege Beteiligung der verschiedenen linksextremistischen Parteien sowie von Gruppen aus dem autonomen Spektrum hervor. In dieser wird zum einen die Möglichkeit der Bildung einer marxistischen revolutionären Massenpartei und zum anderen einer parlamentarischen Vertretung des außerparlamentarischen Kampfes gesehen. Nach dem Wahlerfolg des nichtextremistischen Wahlbündnisses aus "Linkspartei.PDS" und WASG ließ die Diskussion jedoch wieder nach. 88 Vgl. S. 30 ff. 74 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 2.2 Linksextremistische Szene deutlich geschwächt Die linksextremistische Szene hat sich im vergangenen Jahr deutlich geschwächt gezeigt. Konnte man 2004 vor dem Szene zerstritten Hintergrund der Sozialproteste noch Mobilisierungserfolge verzeichnen, so verliefen 2005 viele Initiativen ohne größere Öffentlichkeitswirkung. Das erfolgreich gestartete Projekt "ACT!"89 schlief wieder ein. Unabhängig von der ideologischen Spaltung durch die "Antideutschen"90, die 2005 eine deutlich geringere Rolle als im Vorjahr spielte, war die linksextremistische Szene in Berlin untereinander zerstritten und geschwächt. Beispiele dafür waren die Kampagne "Agenturschluss", der 1. Mai und die Räumung der Yorckstraße 59. Lediglich das Projekt "Die Überflüssigen" machte mit Auftritten von sich reden; allerdings blieben auch diese ohne Auswirkungen. Kampagne "Agenturschluss" Nach Ansicht der Initiatoren sollte die Kampagne "Agenturschluss" noch einmal einen Höhepunkt der Proteste gegen die Hartz IV-Reformgesetze darstellen. Es war geplant, am 3. Januar, dem ersten Tag der praktischen Umsetzung der Gesetze, die neuen Arbeitsagenturen zu blockieren und den Betrieb lahm zu legen. Bereits seit Oktober 2004 wurde für die Kampagne mobilisiert. Die Szene versprach sich von den Aktionen, ihre Protestformen auch ins nichtextremistische Spektrum hineintragen zu können. Protestaktionen vor Tatsächlich kam es in Berlin und auch bundesweit in Arbeitsagenturen mehreren Städten zu Protestaktionen vor den Arbeitsagenturen. So suchten ca. 50 Personen von der anarchistischen 89 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 76 -78. 90 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 84 - 88. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 75 "Freien Arbeiter Union" (FAU) und deren Umfeld die Arbeitsagentur in Pankow auf und verteilten Flugblätter. Kurzfristig kam es zu einer Spontandemonstration mit ca. 100 Teilnehmern bei der Arbeitsagentur in der Charlottenstraße in Kreuzberg. Die zentrale Protestveranstaltung war eine Demonstration vor der Arbeitsagentur in der Müllerstraße in Wedding. An ihr beteiligten sich ca. 180 Personen. Versuche der Demonstranten, die Arbeitsagentur zu stürmen, konnten von der Polizei verhindert werden. Es kam zu Landfriedensbrüchen und 19 Festnahmen. Die Demonstranten konnten den Betrieb der Arbeitsagenturen aber nur behindern, sie zu besetzen oder ihren Betrieb stillzulegen gelang ihnen nicht. Die insgesamt geringe Beteiligung an den Aktionen belegt, Geringe Beteiligung dass es der linksextremistischen Szene nicht gelang, ihr gesamtes Mobilisierungspotenzial auszuschöpfen und ihren Protest ins bürgerliche Lager zu tragen. Zutreffend weist ein Aktivist hin auf "die völlig ungelöste Problematik zwischen minoritären Protestund Widerspruchsaktivismus auf dem sozialen Terrain versus der bislang damit weitgehend fehlenden Massenaktivierung".91 Auch die Berliner Gruppe "Für eine linke Strömung" (F.e.l.S.) bezeichnet die Proteste als enttäuschend: 91 Internetauftritt "Labournet", Aufruf am 2.11.2005. 76 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 "In Berlin ist am 3. Januar außerdem deutlich geworden, wie groß die Distanz linksradikaler Aktionspolitik zu den von Sozialkürzungen Betroffenen ist."92 Nach Ansicht von F.e.l.S. hat sich gezeigt, dass die linksSelbstkritik extremistische Szene, wenn sie erfolgreich sein will, "Möglichkeiten zum Mitmachen bieten"93 muss. Herkömmliche Protestaktionen müssten durch "Formen der Alltagsorganisierung"94, die eine Brücke zum bürgerlichen Spektrum schlügen, ergänzt werden. Derart offene Selbstkritik ist in der linksextremistischen Szene eher selten zu finden. Häufig werden Aktionen selbstbezogen als Erfolg verkauft, ohne zu reflektieren, dass sie tatsächlich nur geringe Außenwirkung zeigten. Die "Agenturschluss"-Aktionen schlossen die 2004 begonnenen Aktionen zu den Sozialprotesten ab: Die linksextremistische Szene war weder in der Lage, den zunächst nichtextremistischen Protest für eigene Zwecke zu instrumentalisieren, noch die Kampagne zu verlängern. Kampagnen zum 1. Mai Auch der 1. Mai verlief 2005 mit deutlich geringeren Teilnehmerzahlen und friedlicher als in den Vorjahren. Wie 1. Mai: friedlicher 2004 gab es im Vorfeld des 1. Mai wieder eine "Maisteine"Kampagne95, aber mit ihr konnte nur wenig Außenwirkung erzielt werden. Inhaltlicher Schwerpunkt der Aktionen, die unter dem Titel "Das Ende der Bescheidenheit" stattfanden, war wiederum das Thema "Soziales". In dem Reader zur Kampagne heißt es: "Zur Zeit versuchen Politiker der etablierten Parteien die Bevölkerung auf den Standort einzuschwören. Unter dem Druck des internationalen Wettbewerbs werden die Menschen von Schröder und Co. aufgefordert, im Interesse Deutschlands auf soziale Kämpfe zu verzichten. Neonazis 92 Internetauftritt von F.e.l.S., Aufruf am 2.11.2005. 93 Ebenda. 94 Ebenda. 95 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 90 - 97. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 77 versuchen mit nationalistischen, rassistischen oder antisemitischen Parolen die Schuld an der sozialen Verelendung den Menschen in die Schuhe zu schieben, die nicht in ihr menschenverachtendes Weltbild passen. In beiden Fällen soll das eigene soziale Interesse zugunsten einer konstruierten nationalen Gemeinschaft in den Hintergrund gestellt werden. Unser Widerstand richtete sich deshalb vor allem auch gegen jede nationalistische und reaktionäre Ideologie."96 Die Kampagne richtete sich gegen soziale Vereinzelung und prangerte Maßnahmen des Staates als Repression an. An den zwölf Veranstaltungen, die von Protesten gegen die Arbeitsbedingungen bei einem Einzelhandelsunternehmen bis zu "ACT!" kaum beteiligt Aufforderungen zum Schwarzfahren reichten, nahmen lediglich bis zu 100 Personen teil. Die Schwäche der Kampagne, mit der noch nicht einmal das eigene Spektrum mobilisiert werden konnte, war wahrscheinlich durch die weitgehend fehlende Beteiligung von "ACT!" bedingt. Zwar galt das Bündnis "ACT!" als Mitinitiator, tatsächlich wurde die Mehrheit der Veranstaltungen aber von kleineren Gruppen wie den "Internationalen Kommunisten" oder der "Berliner Anti-NATO Gruppe" (B.A.N.G.) getragen. Das gleiche Bild zeigte sich auch am 1. Mai. Weder an der Vorbereitung noch an der Durchführung der geplanten "Revolutionären 1. Mai Demonstration" beteiligten sich die in "ACT!" zusammengeschlossenen Gruppen. Während Vorbereitung durch Teile der Gruppen F.e.l.S. und "Autopool" zum "Euro-Mayunbedeutendere day" in Hamburg mobilisierten, beteiligte sich die mobiliGruppen sierungsstarke Antifaschistische Linke Berlin ( ALB) überhaupt nicht an den Vorbereitungen zum 1. Mai. Für sie standen die Vorbereitungen der Demonstration anlässlich des "Tages der Befreiung" am 8. Mai im Vordergrund. So wurde auch hier das Feld unbedeutenderen Gruppen überlassen. Da sich jedoch die Mobilisierungsschwäche für die 1. MaiDemonstration bereits im Vorfeld abzeichnete, nutzten die Organisatoren den Auflagenbescheid der Versammlungsbehörde, um ihre angemeldete Demonstration abzusagen und zu behaupten, die Auflagen stellten ein faktisches Verbot 96 Internetauftritt der "Maisteine"-Kampagne, Aufruf am 25.4.2005. 78 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 derselben dar. Mit diesem Verhalten entkamen sie der Blamage einer Niederlage in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren sowie der im Vergleich zum Vorjahr deutlich geringeren Demonstrationsteilnehmerzahl. Stattdessen wurde zu einer Spontandemonstration durch das vom Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg zusammen mit freien Trägern organisierte "MyFest" aufgerufen. Diese fand tatsächlich statt. An ihr beteiligten sich unter Rufen wie "Alles für alle und zwar umsonst" und "Hoch die internationale Solidarität" ca. 1 500 Personen, darunter mehrere hundert Schaulustige. Es kam zu Flaschenund Steinwürfen auf Polizeibeamte, welche jedoch schnell unterbunden werden konnten. Der weitgehend friedliche Verlauf des 1. Mai ist auf mehrere TerminFaktoren zurückzuführen. So ist die linksextremistische überschneidung Szene Berlins in sich nicht geschlossen und verfolgt teils unterschiedliche Zielrichtungen. Eine größere Zahl der Angehörigen der Berliner linksextremistischen Szene befand sich außerhalb der Stadt: Ein Teil nahm in Hamburg am "Euro-Mayday" teil, während andere wesentliche Teile der autonomen "Antifa"-Szene versuchten, die Demonstration von Rechtsextremisten in Leipzig zu verhindern. Darüber hinaus hat es den Anschein, als ob sich in der linksextremistischen Szene langsam ein Generationswechsel vollzieht. GenerationenGerade für die eher jüngeren Angehörigen der autonomen wechsel "Antifa"-Szene hat der 1. Mai in Kreuzberg nicht die identitätsstiftende Bedeutung. Ferner konnten durch die auch schon 2004 erfolgreiche polizeiliche Einsatzkonzeption Gewalttätigkeiten schnell unterbunden werden. Auch bei der Nachbereitung des 1. Mai wurden die Unfähigkeit der linksextremistischen Szene zur Selbstkritik und ihre Zerrissenheit deutlich. So wurde die "Spontandemonstration" überwiegend als Erfolg gefeiert. In einer Presseerklärung des "Linksradikalen & autonomen 1. Mai Bündnisses" heißt es: A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 79 "Die Taktik der Polizei und des Bezirksamtes, den Protest gegen die Verelendung im Kiez und ganz Berlin [...] mundtot zu machen, wurde durchkreuzt. Trotz Mischung aus massiver Repression und Befriedung solidarisierte sich die große Mehrheit der TeilnehmerInnen des Myfestes mit der Demonstration - sei es, in dem sie sich einreihten oder indem sie der Spontandemo zujubelten."97 Die Gruppen um den ehemaligen Anmelder der Demonstration, B.A.N.G. und "SternBurgBrigade", distanzierten sich Unterschiedliche hingegen von der Spontandemonstration. Die Route und den Bewertung Zeitpunkt der Demonstration "FINDEN WIR TOTAL SCHEISSE!"98, erklärten sie. Die Wirkung der Demonstration sei verpufft. Derartige Kritik blieb nicht unwidersprochen. So unterstellte das "Linksradikale und Autonome 1. Mai-Bündnis" in einer Nachbetrachtung vom 9. Juli dem ehemaligen Anmelder "Profilierungssucht".99 Sowohl an der Kampagne "Agenturschluss" als auch am 1. Mai wurde deutlich, dass sich das Bündnis "ACT!", welches noch im vergangenen Jahr federführend für Organisation von und Mobilisierung zu Veranstaltungen war, 2005 fast völlig zurückgezogen hat. Weder wurde die Homepage von "ACT!" aktualisiert noch waren gemeinsame Stellungnahmen des Bündnisses feststellbar. Es hat eher den Anschein, dass sich die in "ACT!" zusammengeschlossenen Gruppen wieder auseinander entwickelt haben. Nur so lassen sich getrennte Mobilisierungen am 1. Mai oder auch die Bildung eines internationalistischen Blocks auf der Demonstration am 8. Mai100 erklären. Aktionen der "Überflüssigen" Lediglich die "Überflüssigen" - die mehrheitlich Angehörige der in "ACT!" zusammengeschlossenen Gruppen sind - traten 2005 öffentlichkeitswirksam in Erscheinung. Die 97 Internetauftritt von "Indymedia", Aufruf am 4.5.2005. 98 Internetauftritt der B.A.N.G., Aufruf am 19.12.2005. 99 Internetauftritt des "Gegeninformationsbüros", Aufruf am 19.12.2005. 100 Vgl. S. 87 ff. 80 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 "Überflüssigen" waren erstmals 2004 festgestellt worden.101 In ihrem Selbstverständnis heißt es: "Die Überflüssigen setzen sich, wie viele kämpfende AktivistInnen weltweit, weiße Masken auf. Sie greifen die Barberei des Kapitalismus an, in der Menschen nicht als Menschen, sondern als gesichtsloser auszubeutender Rohstoff vorkommen und ihre Vielfalt für rassistische und sexistische Unterdrückung instrumentalisiert wird. [...] Die Überflüssigen stupsen sich aufmunternd an, während sie auf die Trutzburgen der Kapitalfundamentalisten zustürmen - denn sie haben eine ganze Welt zu gewinnen. Kapitalismus ist überflüssig - Alles für Alle!"102 Bei ihren Auftritten tragen die Aktionisten rote KapuzenEinheitliches Outfit pullis und weiße Theatermasken. So stürmten die "Überflüssigen" in Hamburg am 1. Mai das Restaurant "Süllberg", bedienten sich dort am Buffet und verteilten Flugblätter. In Berlin veranstalteten sie mit ca. 20 Personen am 20. Oktober frühmorgens eine "Weckaktion" vor dem Wohnhaus des Landesvorsitzenden der Arbeiterwohlfahrt (AWO) und verteilten lärmend einen offenen Brief. Hintergrund waren die Strafanzeigen gegen Mitglieder der "Überflüssigen" wegen ihrer Besetzung der AWO 2004. In dem Brief drohten sie wiederzukommen, falls die Strafanzeigen nicht zurückReaktion auf Strafanzeigen genommen würden.103 Auch in anderen Orten der Bundesrepublik sind die "Überflüssigen" in Erscheinung getreten. Teils handelt es sich um die Berliner Aktivisten, teils haben andere das Konzept der Berliner übernommen. Aktionen gegen die Räumung der Yorckstraße 59 Ein letztes Beispiel für die mangelnde MobilisierungsfähigSymbolobjekt keit der linksextremistischen Szene stellt die Räumung des Hauses Yorckstraße 59 dar. Die Yorckstraße 59 war eines der letzten Symbolobjekte der Berliner Szene. Das autonome Wohnprojekt beherbergte mehrere Wohngemeinschaften 101 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 78. 102 Internetauftritt der "Überflüssigen" [Fehler im Original], Aufruf am 19.12.2005. 103 Ebenda. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 81 sowie politische Initiativen und fungierte als Veranstaltungsraum. Nach einem Inhaberwechsel hatte der neue Besitzer die bestehenden Mietverträge gekündigt, weil die Mieter die Mieterhöhung nicht akzeptieren wollten. Gegen die Kündigung hatten die Bewohner und ihre Sympathisanten seit knapp einem Jahr mit einer Vielzahl öffentlichkeitswirksamer Aktionen protestiert. Es kam zu symbolischen Besetzungen, Störungen öffentlicher Veranstaltungen und erheblichen Straftaten. "Autonome Gruppen" verübten am 21. Mai einen Brandanschlag auf drei LKW eines Sanitärund Heizungshandels. Brandanschläge In der Selbstbezichtigung erinnerten sie an die im März 1996 von dem Firmeninhaber veranlasste Räumung der Palisadenstraße 49 und stellten diese in Zusammenhang mit der bevorstehenden Räumung der Yorckstraße 59. Sie erklärten, dass sich der Unternehmer sein Leben lang nicht aus der Verantwortung für die damalige Räumung stehlen könne und bezeichneten die Tat als "unmißverständlichen Denkanstoß.104 Sie drohten: "Im Falle der akut von Räumung bedrohten Yorckstr. 59 richtet sich unsere Warnung speziell an die Herren Mark W* [Eigentümer / d. Verf.] und Gregor M* [Verwalter / d. Verf.]. Wir werden euch und eure Bande nicht aus den Augen verlieren und euch für eure Schweinereien zur Verantwortung ziehen."105 Am 2. Juni verübte eine Gruppe namens "mudy fiftynine (militante Unterstützer/innen der Yorck 59)" einen Brandanschlag auf zwei LKW einer Umzugsfirma. In der dazu veröffentlichten Selbstbezichtigung beschuldigten die Täter die Firma, von Zwangsräumungen zu profitieren und an der Räumung des linken Wohnprojekts "Rigaer Str. 94" im Mai 2003 beteiligt gewesen zu sein. Sie erklärten: "All diejenigen, die von der Räumung direkt oder indirekt profitieren oder die Räumung umsetzen (Umzugsfirmen, Hausverwaltung, Eigentümer, Bullen ...), sagen wir unmissverständlich: Lasst es bleiben. Wir verstehen in dieser 104 Selbstbezichtigungsschreiben der "Autonomen Gruppen". 105 Ebenda. 82 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Hinsicht keinen Spaß und werden euch im Auge behalten. Das hat die gelungene Aktion der Autonomen Gruppen (die wir sehr herzlich grüßen) von vor zwei Wochen deutlich gezeigt. [...] Yorck 59 bleibt! Zwangsräumungen verhindern, Immer und überall! Die Häuser denen, die drin wohnen! Kapitalismus abschaffen!" 106 Nachdem die Verhandlungen mit den Bewohnern über AlterVerhandlungen nativangebote zur Yorckstraße 59 gescheitert waren - die gescheitert unterbreiteten Angebote wurden als "Knebelungsversuch" mit "völlig vagen Versprechungen"107 bezeichnet -, war die Räumung des Objekts am 6. Juni unabwendbar. Der Versuch von ca. 150 Personen, die Räumungsmaßnahme durch eine Sitzblockade vor dem Objekt zu verhindern, misslang. Die abendliche Protestdemonstration gegen die Räumung verlief überwiegend friedlich. Am 11. Juni haben Teile der ehemaligen Bewohner der Yorckstraße 59 den linken Seitenflügel des Künstlerhauses Bethanien besetzt. In diesem halten sie sich bis heute nach anfänglicher Duldung auf. Einzelaktionen Der Widerstand gegen die Räumung der Yorckstraße 59 war zwar durch eine Vielzahl von Einzelaktionen geprägt; diese wurden aber weitgehend von den Betroffenen selbst und einer kleinen Unterstützergruppe initiiert. Eine Ausweitung des Widerstands auf die gesamte linksextremistische Szene und darüber hinaus gelang nur mit Einschränkungen. In Anbetracht des unterstellten Symbolwerts des Objekts fielen 106 "INTERIM" Nr. 618 v. 16.6.2005, S. 8. 107 Internetauftritt der "Yorckstraße 59", Aufruf am 7.6.2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 83 die Proteste gegen die Räumung eher gering aus. Derzeit ist nicht ersichtlich, dass die im linksextremistischen Spektrum verankerten Gruppen wieder stärker kooperieren und eine höhere Mobilisierungsfähigkeit erhalten. 2.3 "Antifaschistischer Kampf" intensiviert Der "Antifaschistische Kampf" war 2005 das Kernthema für die linksextremistische Szene. Er ist derzeit auch das einzige Kernthema Thema, zu dem die Szene in der Lage ist, eine größere Anzahl von Gruppen über alle ideologischen Gräben hinweg zu mobilisieren. Antifaschistische Aktivitäten jeder Art haben gegenüber dem Vorjahr zugenommen. Dabei zeichnete sich eine zunehmende Radikalisierung und Gewaltbereitschaft ab. Der "Antifaschistische Kampf" wird in der linksextremistiRadikalisierung und schen Szene nicht allein als Aufklärung über und Protest Gewaltbereitschaft gegen rechtsextremistische Bestrebungen verstanden. Er zielt vielmehr auf die Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Faschismus ist nach dem vorherrschenden Verständnis nur eine spezielle Unterdrückungsform des in die Krise geratenen Kapitalismus.108 Aussagen 108 Dieses Verständnis wurde maßgeblich durch den bulgarischen Komintern Funktionär Georgi Dimitroff geprägt. Die nach ihm benannte Doktrin besagt, dass Faschismus die offene terroristische Diktatur der 84 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 gegen Rechtsextremisten werden zumeist mit der Forderung nach der Abschaffung des Kapitalismus verbunden. So heißt es im Selbstverständnis der "Autonomen Antifa Infernal" (AAI): "Zusammen Kämpfen gegen Nazis und alltäglichen Rassismus - Kapitalismus abschaffen, zuerst in den Köpfen".109 Deutlicher in der Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und im Bestreben, diese abzuschaffen, werden die Antifaschistische Linke Berlin ( ALB) und das "Antifaschistische Bündnis Südost" (ABSO):110 "Während PDSPDGrüne um einen aktiven Ausstieg aus progressiver Politik bemüht sind, wollen wir jedoch den Ausstieg aus diesem System. Wir scheißen auf Verwertungslogik so wie das Aussteigerprojekt Parlamentarismus und nehmen unsere Belange selbst in die Hand! Im Kampf um alternative Freiräume und gegen Nazis können wir darum nur auf uns selbst vertrauen."111 "Deshalb ist diese Veranstaltungsreihe Teil unseres Kampfes für ein selbst bestimmtes Leben in einer herrschaftsfreien, staatenlosen Gesellschaft ohne die unterdrückerischen Mechanismen des Kapitalismus."112 Antifaschismus erfüllt für die linksextremistische Szene Strategische mehrere Funktionen. Zum einen ermöglicht er, anlassbezoFunktionen des Antifaschismus gen (z. B. bei Demonstrationen) Bündnisse mit nichtextremistischen Organisationen zu bilden und sich damit Akzepam meisten reaktionären, chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals sei. In diesem Sinne seien alle kapitalistischen Systeme faschistisch. Vgl. Georgi Dimitroff, Ausgewählte Werke, Band I, Berlin 1976, Seiten 358 - 369 (Diskussionsbeitrag auf dem IV. Kongress der Gewerkschaftsinternationale). 109 Internetauftritt der AAI, Aufruf am 15.12.2005. 110 Das ABSO hat sich im Herbst 2005 gebildet. Ihm gehören die Gruppen "Antifaschistischer Aufstand Köpenick" (AAK), "Antikapitalistische Aktion Berlin" (AKAB) und "Treptower Antifa Gruppe" (TAG) an. 111 Internetauftritt der ALB, Aufruf am 13.12.2005. 112 Internetauftritt des ABSO, Aufruf am 13.12.2005. Bei der Veranstaltungsreihe handelt es sich um Informationsveranstaltungen über Strukturen und Erscheinungsformen des Rechtsextremismus aber auch über Grundlagen der Kapitalismuskritik. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 85 tanz zu verschaffen. Zum anderen dient er der Nachwuchsrekrutierung, denn gerade über "Antifa"-Themen lassen sich Jugendliche politisieren und organisieren. Die Nachwuchsrekrutierung war 2005 ein Schwerpunkt der Schwerpunkt Arbeit der "Antifa"-Gruppen. So hatte die ALB zum 11. Mai Nachwuchszu einem Treffen eingeladen, bei dem die Jugendgruppe rekrutierung "Antifa Brigade Berlin" (ABB) gegründet wurde.113 Eine weitere "Antifa"-Gruppe bildete sich im Sommer mit der "Autonomen Antifa Neukölln" (AAN)114. Aber nicht nur durch die Gründung von neuen Gruppen wurden die Rekrutierungsbemühungen intensiviert, sondern auch durch das "Antifa Jugend Treffen", das vom 18. bis 20. November stattfand. Bei dem Treffen wurden unter der Anleitung älterer Angehöriger der linksextremistischen Szene Workshops zur Theoriegeschichte und zu praktischen Themen wie z. B. Organisation einer Demonstration, Fertigung von Transparenten oder Verhalten bei der Polizei durchgeführt. Ziel des Treffens war, bereits organisierte Jugendliche fortzubilden und noch unorganisierte an sich zu binden. Die der autonomen Szene zuzurechnenden "Antifa"-GrupGewaltbereitschaft pen sind grundsätzlich als gewaltbereit einzustufen. So erklärten zwei Vertreter der "Antifaschistischen Initiative Reinickendorf" (AIR) in einem Radiointerview, dass es bei der Auseinandersetzung mit Rechtsextremisten auch schon mal zu "körperliche(n) Auseinandersetzungen" komme: "Ich glaub als radikaler Linker sollte man sich nicht die Option nehmen lassen, im Zweifelsfall auch die eigene Meinung oder die eigene Position beispielsweise bei so Naziaufmärschen auch mit Mitteln durchzusetzen, die sich nicht ans Bürgerliche Gesetzbuch halten oder so."115 Ähnlich klingt es auch in dem Aufruf des "Silvio-MeierBündnisses" zur jährlichen Demonstration. Dort betont die Mehrheit der Berliner autonomen "Antifa"-Gruppen, dass 113 Internetauftritt der ALB, Aufruf am 15.12.2005. 114 Sie tritt teilweise auch als "Autonome Neuköllner Antifa" (ANA) auf. 115 Interview des Radiosenders "ARA Berlin - Jugendradio gegen Rassismus" mit der AIR vom 17.1.2005. 86 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 "Antifaschismus auf allen Ebenen und mit allen Mitteln [...] nötiger denn je" sei.116 Bandbreite der Die Aktivitäten der autonomen "Antifa"-Gruppen reichten Aktivitäten vom Sammeln und Veröffentlichen von persönlichen Daten des politischen Gegners über die Durchführung von Demonstrationen bis hin zu körperlichen Übergriffen.117 Besondere Bedeutung erlangte 2005 das "Outen" von Plakatieren von Rechtsextremisten. Im Mai veröffentlichte die ALB unter Steckbriefen dem Titel "Who is who - Neonazis in Berlin und Brandenburg" eine Datei mit Namen und Bildern von Rechtsextremisten auf ihrer Homepage. Dem folgte im Juli eine weitere Veröffentlichung mit dem Titel "Who is who 3". Ergänzt wurden solche Aktionen durch die Verteilung und Plakatierung von Steckbriefen mit Bildern und persönlichen Daten von Rechtsextremisten in ihrem unmittelbaren Wohnumfeld. In mindestens sieben Fällen konnten solche Aktionen festgestellt werden. Diese Veröffentlichungen sind nicht nur als Information der Öffentlichkeit über Rechtsextremisten zu verstehen, sondern auch als indirekte Aufforderung, gegen die betroffenen Personen vorzugehen. Deutlich wird die linke Szenezeitschrift "Stressfaktor" in einem Artikel über den Anmelder einer rechtsextremistischen Demonstration am 3. Dezember: 116 Internetauftritt der ALB, Aufruf am 13.12.2005. 117 Zur Steigerung der gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Rechtsextremisten und Linksextremisten vgl. auch S. 30 ff. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 87 "Wir fordern, dass seine Nachbarn ihn mal besuchen und ihm ein paar Stunden Geschichtsunterricht erteilen! Neonazikader wie Sebastian S* haben kein Recht auf Privatsphäre."118 In dem Artikel wurde sogar die Kontoverbindung des Betroffenen veröffentlicht mit der Aufforderung, sich dieser zu bedienen. Tatsächlich versuchten unbekannte Täter am Vortag der Demonstration in dessen Wohnung einzudringen und ihn anzugreifen. Auch zwei weitere Rechtsextremisten, deren Daten zuvor veröffentlicht worden waren, wurden Opfer von körperlichen Übergriffen. Im gleichen inhaltlichen Zusammenhang stand die Kampagne "we will rock you". Sie richtete sich gegen verKampagne gegen meintliche und tatsächliche rechtsextremistische SzeneläSzeneläden den.119 In dem Aufruf der Kampagne heißt es, dass man denen, "die sich mit Rechtsrock eine goldene Nase verdienen und gleichzeitig ihre menschenverachtenden Ansichten weiter verbreiten", "auf die Pelle rücken" wolle120. Mit der Kampagne sollten Rechtsextremisten die "Rückzugsräume streitig" gemacht werden. Die Initiatoren der Kampagne erklärten: "Nazimusik, Nazikleidung, sowie rechte Läden und Kneipen bilden den Grundstein für rechtsextreme Ideologie. Sie bereiten den Nährboden für jene, die Flüchtlingsheime und Synagogen anzünden, gegen Homosexuelle, Obdachlose, Linke und Behinderte hetzen, oder sie bedrohen und ermorden."121 Im Rahmen der Kampagne wurden insgesamt acht Demonstrationen gegen entsprechende Läden durchgeführt. Die Ausschreitungen bei Auftaktdemonstration führte am 21. Mai durch Weißensee Demonstration an von der rechtsextremistischen Szene genutzten Geschäften vorbei. An ihr beteiligten sich ca. 450 Personen. Nachdem die Demonstration bis kurz vor ihrem Ende friedlich verlaufen war, kam es am Endplatz in unmittelbarer Nähe 118 "Stressfaktor", Dezember 2005, S. 3. 119 Vgl. Kapitel S. 43 f. 120 Internetauftritt der Kampagne, Aufruf am 16.12.2005. 121 Ebenda. 88 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 eines der Geschäfte zu Stein-, Flaschenund Farbeierwürfen auf die Polizeibeamten. Die Polizei konnte die Ausschreitungen schnell unterbinden und 16 Personen festnehmen. Am 12. August beteiligten sich ca. 320 Personen an einer Demonstration unter dem Titel "Im Westen nichts neues" durch Charlottenburg-Wilmersdorf. Die Initiatoren wollten Druck auf den hier wohnenden Zwangsverwalter des Geschäfts eines Rechtsextremisten in Hennigsdorf ausüben. Die Demonstration verlief ohne größere Vorkommnisse. Den vorläufigen Abschluss der Kampagne bildeten 2005 zwei Demonstrationen unter dem Titel "Kein (Weihnachts)geschäft mit Neonazis!" am 16. und 20. Dezember. Die erste dieser beiden Demonstrationen, die vom Görlitzer Bahnhof zum Alexanderplatz führen sollte, musste vom Veranstalter vorzeitig beendet werden, nachdem die Polizei wiederholt Teilnehmer des Aufzugs wegen Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz festnehmen musste. Diese Personen trugen nicht zulässige "Schutzbewaffnung" bei der Demonstration. Begleitet wurden die Demonstrationen auch durch VeranstalThemenbezogene tungen, die im thematischen Zusammenhang standen. So gab Veranstaltungen es Informationen über Modetrends und Musik von Rechtsextremisten und Parties, die auf die Demonstrationen einstimmen sollten. Die Veranstaltungen sollten dem eher jugendlichen Publikum auch ein erlebnisorientiertes Event bieten und sind auch als Teil der Nachwuchswerbung zu betrachten. Den Höhepunkt des Demonstrationsgeschehens stellte die Bundesweite Demonstration gegen eine Versammlung der JugendorganiMobilisierung zum sation der NPD, "Junge Nationaldemokraten" (JN) am 8. Mai 8. Mai dar. Diese beabsichtigten, unter dem Titel "60 Jahre Befreiungslüge - Schluss mit dem Schuldkult" vom Alexanderplatz am Holocaustmahnmal vorbei zum Brandenburger Tor zu marschieren. Als Protest gegen diese als Verhöhnung der Opfer des Faschismus empfundene Demonstration organisierten zahlreiche bürgerliche Gruppierungen aber auch die linksextremistische Szene am und um den 8. Mai herum mehrere Veranstaltungen. Zentrale Veranstaltung der linksextremistischen Szene war die vom Aktionsbündnis "Spasi- A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 89 bo 2005" organisierte Demonstration, zu der bundesweit mobilisiert wurde. Das Bündnis wurde von allen wesentlichen Gruppen der Berliner autonomen Szene, orthodoxkommunistischen Organisationen und einigen wenigen Gruppen aus dem bürgerlichen linken Spektrum unterstützt. Obwohl das Thema größtmögliche Bündnisfähigkeit innerInterne Konflikte halb der linksextremistischen Szene versprach, kam es im Vorfeld der Demonstration zu inhaltlichen Auseinandersetzungen. So meldeten die "Antideutschen"122 zunächst eigene Demonstrationen zum 8. Mai an, um sie dann wieder abzusagen. In einem Positionspapier erklärte die "Autonome Antifa Nordost ( AANO), dass die Kritik der antifaschistischen Linken anlässlich des Gedenkspektakels [...] am Gegenstand vorbei"123 gehe. "Das Schuldeingeständnis, das Sprechen von Aufarbeitung der Vergangenheit und Bekämpfung des Neonazismus ist keine Heuchelei der herrschenden Klasse, wie von der Linken gerne kolportiert wird, sondern ist Ideologie im Sinne des Begriffs [...] Das neue Selbstbild der Deutschen synthetisiert Schuld und Stolz und macht sich innenwie außenpolitisch nützlich..."124 Den Planern der Demonstration wird vorgeworfen, sie hätten sich durch 122 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 84 - 88. 123 AANO: Deutschland befreit sich - Warum wir am achten Mai nicht auf die Straße gehen. Internetauftritt der AANO, Aufruf am 14.12.2005. 124 Ebenda. 90 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 "ihren Pakt mit dem Volksmob, ihr interessiertes Verhältnis von Klassenkampf mit konformer Revolte vor dem Hintergrund der Anti-Hartz-Proteste längst selbst desavouiert".125 Die Demonstration zum 8. Mai würde eher systemerhaltende Funktion ausüben. Auch von Seiten der internationalistisch orientierten Gruppen gab es Kritik an den Organisatoren der Demonstration. Unter ihnen befanden sich die beiden "ACT!"-Gruppen "autopool" und "Subversion International", während ALB Streitpunkt und F.e.l.S. dem "Spasibo"-Bündnis angehörten. Der BünNationalflaggen dnisaufruf war ihnen inhaltlich nicht fundiert genug und zudem kritisierten sie die Erlaubnis, Nationalfahnen der USA bei der Demonstration mitzuführen. Nach ihrer Ansicht waren und sind "imperialistisches Herrschaftsverhältnis und Kapitalismus [...] Voraussetzungen für den Faschismus. So wurde der deutsche Krieg überhaupt erst möglich. Der Aufbau einer freien und gleichen Gesellschaft ist ohne Überwindung der kapitalistischen Ausbeutung, der Herrschaft der Menschen über den Menschen, nicht zu denken".126 Aufgrund dieses Verständnisses könne man gerade Nationalfahnen der USA nicht auf einer Demonstration mitführen. Noch deutlicher wird "autopool" in einer gesonderten Erklärung. Dort heißt es: "Militanter Antifaschismus braucht eine differenzierte Gesellschaftsanalyse und manchmal Waffen, aber er braucht keine Nationalfahnen! Fahnenflucht statt Fahnenhype!"127 Eine Spaltung der Demonstration konnte vermieden werden, indem diese Gruppen zu einem eigenen internationalistischantimilitaristischen Block innerhalb der Demonstration mobilisieren durften. Am 8. Mai beteiligten sich mehrere tausend Demonstranten aus dem überwiegend nichtextremistischen Spektrum aber 125 Ebenda. 126 "INTERIM" Nr. 614, S. 4 - 7. 127 "INTERIM" Nr. 614, S. 9. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 91 auch ca. 1 000 gewaltbereite Linksextremisten an den Protesten gegen die Versammlung der JN. Die Vielzahl der Demonstration gegen Demonstranten führte dazu, dass es den Rechtsextremisten Rechtsextremisten nicht gelang, den Demonstrationszug in Bewegung zu setzen. Sie konnten lediglich eine stationäre Kundgebung durchführen und mussten den Alexanderplatz danach unverrichteter Dinge wieder verlassen. Obwohl die Gegendemonstranten die Demonstration der Rechtsextremisten verhindern konnten, fiel die Nachlese der linksextremistischen Szene nachdenklich aus. Die Verhinderung der rechtsextremistischen Demonstration wurde als eigener Erfolg angesehen; gleichzeitig fühlte man sich aber von der offiziellen Politik missbraucht. So erklärte ein Sprecher der ALB in einem Interview mit der "tageszeitung", dass der Senat versuche, den Protest als seinen Erfolg zu vereinnahmen.128 Unabhängig von den "Antifa-Demonstrationen", die überwiegend friedlich verliefen, nahmen die Übergriffe von Linksauf Rechtsextremisten zu. 2005 waren 9 Prozent mehr Mehr GewaltGewaltdelikte von Linksextremisten auf Rechtsextremisten straftaten gegen zu verzeichnen. Betrachtet man alle Straftaten vor dem Rechtsextremisten Hintergrund von Links-Rechts-Auseinandersetzungen, so haben diese um 58 Prozent zugenommen (2005: 325 Straftaten gegenüber 2004: 206 Straftaten). Einen besonderen Anstieg weisen die Sachbeschädigungen und die Verstöße gegen das Versammlungsgesetz auf. Sie stiegen um 68 bzw. 137 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Am 25. März griffen 15 Personen des autonomen Spektrums zwei Personen in Treptow an. Die Angegriffenen wurden als "Nazi-Schweine" bezeichnet. Bei einer Tatverdächtigen wurde ein Teleskopschlagstock festgestellt. Am 28. Mai kam es im Bereich S-Bahnhof Storkower Straße zu Übergriffen einer Gruppe von ca. 20 schwarz gekleideten Personen auf drei Angehörige der rechtsextremistischen Szene. Die drei Personen wurden in ihrem PKW angegriffen und verletzt, der Wagen durch Steinwürfe erheblich beschädigt. 128 "die tageszeitung", 10.5.2005. 92 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Am selben Tag zerstörte eine Gruppe von ca. 20 bis 40 überwiegend vermummten und teilweise mit Schlagwerkzeugen Angriffe auf Wahlkampfstände sowie Reizstoffsprühgeräten ausgerüsteten Personen auf der politischer Gegner Marzahner Promenade die dortigen Informationsstände der "Republikaner" (REP) und der "Partei Rechtsstaatliche Offensive" (PRO). Zwei Mitglieder der "Republikaner" mussten medizinisch versorgt werden, nachdem sie geschlagen, getreten und mit Reizgas besprüht worden waren. Am 1. Juni griff eine Gruppe von 15 vermummten Personen sieben Personen der rechtsextremistischen Szene am Ostbahnhof mit Teleskopschlagstöcken und Reizgas an. Am selben Tag fand eine Gerichtsverhandlung in Potsdam gegen einen Straftäter aus der rechtsextremistischen Szene statt. Hierzu waren ca. 50 Personen der rechtsextremistischen und ca. 30 Personen der linksextremistischen Szene angereist. Die Angegriffenen befanden sich auf der Rückreise von diesem Prozess. Am 18. Juni wurden zwei Rechtsextremisten auf der RückPolizei verhindert reise von einer rechtsextremistischen Demonstration in HalEskalation der be (Brandenburg) von einer Gruppe von 18 Personen der Gewalt linksextremistischen Szene am Berliner Bahnhof Lichtenberg angegriffen. Weitere am Bahnhof anwesende Rechtsextremisten eilten den Angegriffenen zu Hilfe. Polizeibeamte konnten die Gruppen trennen. In ihrem Einsatzbericht wird deutlich, dass die "aggressive Stimmung beider politischer Lager" bei einem ungehinderten Aufeinandertreffen nach ihrer Einschätzung zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und Verletzten geführt hätte. In Lichtenberg wurde am 23. Juni ein Rechtsextremist von drei maskierten männlichen Personen mit Teleskopschlagstöcken angegriffen. Er erlitt leichte Verletzungen am Kopf und Oberkörper. Diese keineswegs vollständige Liste der Übergriffe verdeutlicht die Gewaltbereitschaft der autonomen "Antifa"-Szene. Das eigene Vorgehen wird von diesen Gruppen als gerechtfertigt angesehen. Die ALB führt dazu aus: A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 93 "Antifaschistische Gegenwehr hingegen resultiert nicht aus dieser vorgenommenen Unterteilung des Menschen in verschiedene Wertigkeiten und der einher gehenden, eigenen Verortung als Übermensch. Sie ist berechtigt, da sie eben diesen Mythos der Überlegenheit zu brechen versucht."129 Gleichermaßen äußert sich ein Vertreter der AIR in einem Interview: "Es ist schwierig, wenn Mittel und Wirkung vertauscht werden. Wenn ein Nazi einen Ausländer auf den Kopf haut, dann ist es vom Mittel und der Art und Weise relativ ähnlich wie, wenn ein Linker einen Nazi auf den Kopf haut. Die Intention, mit der das gemacht wird, ist allerdings eine sehr unterschiedliche. Wenn der Nazi dem Nichtdeutschen, dem Ausländer die Existenzberechtigung abspricht, weil er sie/ihn für rassisch minderwertig hält oder mit ähnlichen Begründungen läuft das ab. Bei der anderen Sache wäre es ja eher so, dass sozusagen, die Linken den Nazi angreifen, weil er halt eben eine menschenverachtende Ideologie transportiert und eine Gefahr für die Allgemeinheit, für Linke, für Nichtdeutsche, für andere darstellt. Und dann ist es, von der Wirkung sieht es ziemlich ähnlich aus, ich glaube aber inhaltlich sind es zwei verschiedene Sachen."130 Beide Zitate zeigen, dass ein Unrechtsbewusstsein fehlt. Die eigenen Taten werden im Sinne eines höherwertigen Ziels gerechtfertigt. Sie würden keine Straftaten, sondern "nur" Kein eine Art "Gefahrenabwehr" darstellen. Wird diese ArgumenUnrechtsbewusstein tation nicht geteilt, erklärt man, dass man es sich von niemanden diktieren und schon gar nicht verbieten lassen werde, wie man gegen Rechtsextremisten vorgehe.131 Vor diesem Hintergrund werden auch alle präventiv und strafprozessual getroffenen Maßnahmen der Sicherheitsbehörden zur Verhinderung und Bekämpfung entsprechender Taten als bewusste Kriminalisierung der Szene betrachtet. So bezichtigte ein Vertreter der ALB in einer Presseerklärung 129 Internetauftritt der ALB, Aufruf am 2.11.2005. 130 Interview des Radiosenders "ARA Berlin - Jugendradio gegen Rassismus" mit der AIR vom 17.1.2005. 131 Vgl. Internetauftritt der "Antifa U7", Aufruf am 26.9.2005. 94 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 die Berliner Polizei der "aktiven Wahlkampfunterstützung für die NPD":132 "Angesichts des völlig überzogenen und willkürlichen Vorgehens der Polizei geht die Antifaschistische Linke Berlin [ALB] davon aus, dass die Durchsuchungen mehr der Einschüchterung aktiver AntifaschistInnen denn der Verfolgung angeblicher Straftaten dienen sollten. [...] Ein Sprecher der ALB erklärte: [...] Wir verlangen ein Ende der Diffamierung und Kriminalisierung der antifaschistischen Initiativen Berlins."133 "Gegen die Kriminalisierung aktiver AntifaschistInnen! Kriminell ist das System, nicht der Widerstand!"134 Dem vorausgegangen waren Durchsuchungsmaßnahmen der Polizei am 27. August wegen des Verdachts des öffentlichen DurchsuchungsAufrufs zu Straftaten. Hintergrund des Ermittlungsverfahmaßnahmen rens war der Aufruf auf der Homepage der ALB zu einer "Antifa"-Party am 27. August im "Subversiv". Dort hieß es: "antifa heißt angriff: Nazi-Wahlkampf sabotieren! [...] Neonazis aus der gesamten BRD sind zur Zeit im Wahlkampf aktiv: wir auch! NPD-Plakate abreißen, Kundgebungen blockieren oder Nazi-Material von Infotischen in blaue Müllsäcke entsorgen."135 Den Teilnehmern der Party wurde für jedes mitgebrachte NPD-Plakat ein Cocktail gratis versprochen. Das Thema "Antifaschismus" wird auch künftig bei allen Antifaschismus auch inhaltlichen Differenzen der Szene das Bindeglied darstellen zukünftig und weiterhin ein Schwerpunkt sein. Gewalttätige AuseinanSchwerpunkt dersetzungen zwischen Linksund Rechtsextremisten bleiben daher auch in Zukunft zu befürchten. 132 Internetauftritt der "Linken Bande Spandau", Aufruf am 26.9.2005. 133 ALB: Presseerklärung zu den Repressionen gegen Antifas am 6. Juni 2005. Internetauftritt der ALB, Aufruf am 16.2.2006. 134 Internetauftritt der "Linken Bande Spandau", Aufruf am 26.9.2005. 135 Internetauftritt der ALB, Aufruf am 16.8.2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 95 2.4 Die Militanzdebatte geht weiter Die seit 2001 anhaltende Militanzdebatte der linksextremistischen Szene setzte sich 2005 fort. Das Ziel der Debatte, klandestin und militant agierende Gruppen zu vernetzen, Inhaltliche wurde bisher nicht erreicht. An der Debatte haben sich zwar Verflachung seit Herbst 2004 wieder deutlich mehr Gruppen beteiligt; jedoch ließ sich inhaltlich eine Verflachung der Diskussion feststellen. Auf der anderen Seite kam es in der zweiten Jahreshälfte mit fünf Anschlägen im Vorfeld des G 8-Gipfels in Heiligendamm erstmals zu militanten Anschlägen unterschiedlicher Gruppen zu einem Thema. Der Motor der Debatte blieb die Berliner "militante gruppe (mg) (), die die Diskussion im Jahr 2001 in der Berliner linksextremistischen Szenezeitschrift "INTERIM" initiiert hatte. Neben zahlreichen Diskussionspapieren erklärte sie sich auch wieder verantwortlich für Anschläge. So verübte sie am 10. Januar einen Brandanschlag auf der Heftige szeneBaustelle eines Lebensmittelmarkts. Ein Bauarbeiter beinterne Kritik merkte den Brand frühzeitig, so dass lediglich Sachschaden entstand. Die Tatsache, dass ein Mensch gefährdet gewesen war, rief in Teilen der Szene heftige Kritik an der "militanten gruppe (mg)" hervor. So forderte die bisher unbekannte Gruppe "Die zwei aus der Muppetshow" in einem Beitrag in der "INTERIM" die "militante gruppe (mg)" auf, aufzuwachen und auf den Boden der Tatsachen zurückzukehren: "Wer sind denn bitte schön die Opfer in eurem Kampf? Was ist mit dem 48jährigen Bauarbeiter Detlef R. im Dachgebälk des Lidl-Marktes? Es hätte nicht viel gefehlt und ihr hättet euren ersten Märtyrer [...] Und was noch viel schlimmer ist, das ganze Desaster wird einfach totgeschwiegen, Augen zu und durch."136 Auch die Redaktion der "INTERIM" forderte von der "militanten gruppe (mg)" in derselben Ausgabe, "Licht ins Dunkle zu bringen"137 und die Hintergründe der Tat zu erklä136 "Die zwei aus der Muppetshow": Über die Waffe der Kritik und die Kritik der Waffen oder Quo Vadis mg? In: "INTERIM" Nr. 611, 2005. 137 Ebenda. 96 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 ren; gleichzeitig betonte sie aber, dass sie die Kritik der anderen Gruppen als unsolidarisch erachte. Die "militante gruppe (mg)" selbst merkte zu den Vorwürfen lediglich an, dass sie auch weiterhin auf die körperliche Unversehrtheit Unbeteiligter achten werde.138 Die Militanzdebatte war dominiert von gegenseitiger Kritik: So bezeichnete ein ehemaliges Gründungsmitglied der "Bewegung 2. Juni" die Militanzdebatte in einem Interview mit der Wochenzeitung "Jungle World" als "haarsträubend".139 Daraufhin forderte eine Gruppe namens "Frau Glotz & Herr Geißler" "solchen 'Genossen' [...] kein 'Szene-Forum'" zu gewähren, da sie keine Solidarität mit von Repression betroffenen Personen übten.140 Sie kritisierten zudem eine andere Gruppe als altautonome "Quengelriege, die nur noch destruktiv an unliebsame Debatten herangeht"141. Umstritten: Umstritten war weiterhin die Gewalt gegen Menschen. So Gewalt gegen ließ sich die Gruppe "Einige FreundInnen von der Bühne". Menschen menschenverachtend über militante Aktionen aus: "[...] ähnlich wie früher, wenn die Guerilla ein Schwein gekillt hat. Wir gestehen ehrlich, auch wenn die Tötung von Menschen niemals ein Werkzeug aus dem Kasten der Autonomen war, dass es doch klammheimliche Freude und großes Feiern gab, nachdem z. B. der Chef der Deutschen Bank in die Luft geflogen ist".142 Die "postautonomen und konsumistischen Gruppen" sahen hier den "Tiefpunkt" der Debatte.143 Aus strategischer Per138 "militante gruppe (mg)": Zum Interim-Vorwort der Nr. 611 vom 10.2.2005. In: "INTERIM" Nr. 612, 2005. 139 "Jungle World" vom 26.1.2005. 140 Frau Glotz & Herr Geißler: Knofo Kröcher, der "Gleis-Bremsschuh", das peng-zong-kollektiv, die muppets und die Militanzdebatte. In: "INTERIM" Nr. 612, S. 3 - 4. 141 Ebenda. 142 Einige FreundInnen von der Bühne: Militanz. Ein paar Worte zu den Beiträgen in "INTERIM" 611. In: "INTERIM" Nr. 613, S. 11. 143 Postautonome und konsumistische Gruppen: Zur Militanzdebatte - An die FreundInnen von der Bühne ("INTERIM" Nr. 613). In: "INTERIM" Nr. 614, S. 10 - 11. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 97 spektive argumentierten sie, dass die gezielte Tötung von Menschen angesichts der derzeitigen Situation der Gesellschaft und der Linken "absurd" sei: "Wer sich auch nur ein wenig mit der Funktionsweise des Kapitalismus beschäftigt, wird feststellen müssen, dass mit der Liquidierung Einzelner wohl kaum irgendetwas am großen Falschen verändert werden kann".144 Die "militante gruppe (mg)" sah in diesen Diskussionspapieren "... kaum Passagen, die wir als Beiträge betrachten können, die am Diskussionsstand der Militanzdebatte ansetzen. Diese Texte sind aus unserer Sicht eher als Symptom der Krise dieser Debatte anzusehen".145 Sie betonte wie schon in der Vergangenheit, dass sie die Diskussion um die Liquidierung von Menschen nicht ablehne, sondern für notwendig erachte. Allerdings gebe es derzeit keinen Anlass, damit schon zu beginnen. Ferner stellte sie hinsichtlich der Debatte fest, dass es an der Zeit sei, Bilanz zu ziehen. Diese Bilanz folgte in einem Inter"Zeit für Bilanz" view in der linksextremistischen Zeitschrift "Radikal".146 Dort hob sie als positiv heraus, dass sich seit Beginn der Debatte eine Vielzahl von Gruppen beteiligt hätten. Eine organisatorische Vernetzung der verschiedenen militant agierenden Gruppen sei jedoch nicht erreicht worden. Ernüchtert stellte sie fest: "Unser Optimismus war im Endergebnis vielleicht zu groß. Wir sind keine PhantastInnen und wissen, daß das unter diesen Bedingungen nix mit einer militanten Plattform werden kann, die sich primär über eine Kontinuität der Diskussion und Aktion koordiniert."147 144 Postautonome und konsumistische Gruppen: Zur Militanzdebatte - An die FreundInnen von der Bühne ("INTERIM" Nr. 613). In: "INTERIM" Nr. 614, S. 10 - 11. 145 "militante gruppe (mg)": Zur "postautonomen und konsumistischen" Sicht auf die Militanzdebatte. In: "INTERIM" Nr. 618, S. 11 - 13. 146 "Radikal" Nr. 158, S. 6 - 19. 147 Ebenda, S. 11. 98 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Vor diesem Hintergrund sah sie es als ihre künftige Aufgabe an, die bisherigen Debattenergebnisse zusammenzufassen und Kriterien für eine militante Politik zu fixieren. Dabei betonte die "militante gruppe (mg)", dass sie weiterhin eine inhaltliche und organisatorische Vernetzung in Form einer militanten Plattform anstrebe, die politische Konflikte nicht nur mit militanten Aktionen begleite, sondern auch eigenständig initiiere. War die "militante gruppe (mg)" der Motor der Militanzdebatte, so überrascht es, dass die im August ins Leben gerufene militante Kampagne gegen den 2007 in Heiligendamm stattfindenden G 8-Gipfel zunächst an ihr vorbei ging. Ausgangspunkt der Kampagne war ein Brandanschlag auf den Privat-PKW des Vorstandsvorsitzenden der Norddeutschen Affinerie AG in Hollenstedt (Niedersachsen) in der Kampagne gegen Nacht zum 28. Juli. In der zur Tat veröffentlichten Selbst- G 8-Gipfel bezichtigung schlugen die Täter, "eine breite, auch militante Kampagne zum G 8-Gipfel 2007 in Heiligendamm"148 vor. Man wolle die Zeit bis zum Gipfel nutzen, zu diskutieren, "wo und wie wir Strukturen kapitalistischer Ausbeutung und imperialistischer Unterdrückung angreifen können und müssen". Die Kampagne solle die Solidarität mit den Kämpfen gegen "Ausbeutung und Imperialismus im Trikont" verdeutlichen, die globalen Strukturen hier angreifen und zudem die Verbindung zwischen "Aktionsfeldern des sozialen Widerstandes" herstellen. Auf diesen Brandanschlag und den Aufruf zur militanten Kampagne wurde in der zweiten Jahreshälfte bei mehreren Anschlägen Bezug genommen.149 So verübten die "autonomen gruppen / militant people" in der Nacht vom 16. auf den 17. Oktober einen Brandanschlag Erheblicher auf ein im Bau befindliches Gebäude des Auswärtigen Sachschaden bei Brandanschlag Amtes in Reinickendorf. Dabei entstand erheblicher Sachschaden. In der Selbstbezichtigung nimmt die Gruppe ausdrücklich Bezug zu dem Anschlag in Hollenstedt und be148 Selbstbezichtigungsschreiben. In: "INTERIM" Nr. 622, S. 15 - 20. 149 Ebenda. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 99 grüßt den Vorschlag einer breiten und auch militanten Kampagne gegen den G 8-Gipfel: "Der G 8-Gipfel in der BRD 2007 bietet uns als Symbol selbsternannter Weltherrschaft die Chance, unseren Beitrag zu einem weltweiten, in aller Vielfalt egalitären Kampf um Freiheit und Würde neu zu entwickeln."150 Mit dem Anschlag auf das Gebäude des Auswärtigen Amtes werde "die neue deutsche Außenpolitik, sprich Großmachtspolitik im ökonomischen und militärischen Sinne"151 angegriffen. Darüber hinaus bezog sich die Gruppe auch auf die Militanzdebatte. Mit einem Seitenhieb auf die "militante gruppe (mg)" erklärte sie, dass sie auch bei dieser die Kontinuität vermisse. Die Vielfalt ihrer Angriffsziele lasse keine originäre Linie erkennen. Die Forderung nach einer militanten Plattform wird als "militante Backform" verhöhnt. Deutlich wird, dass zwischen den "autonomen gruppen" und der "militanten gruppe (mg)" nicht nur inhaltliche, sondern auch sehr persönliche Differenzen bestehen. In der Nacht zum 9. November reagierte die "militante Erneuter gruppe (mg)" auf die Kampagne gegen den G 8-Gipfel. Sie Brandanschlag auf verübte einen Brandanschlag auf das Gebäude des DIW "Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung" (DIW) in Steglitz-Zehlendorf. In dem Selbstbezichtigungsschreiben152 stellte sie den Anschlag in den Kontext zu den "beginnenden 150 autonome gruppen / militant people (mp): No G8 2007 - die Verhältnisse zum Tanzen bringen! In: "INTERIM" Nr. 625, S. 6 - 8. 151 Ebenda. 152 "militante gruppe (mg)": Anschlagserklärung!!! vom 8.11.2005. 100 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Vorbereitungen für die Mobilisierungen gegen den 2007 in Heiligendamm (Mecklenburg-Vorpommern) stattfinden G 8- Gipfel". Das Anschlagsziel DIW sei "institutioneller Teil des organisierten Klassenangriffs von oben und somit ein erstrangiges Ziel militanter Aktionen". Zudem erklärte die mg als Antwort auf die "autonomen gruppen", dass sie mit dem wiederholten Angriff auf das DIW - sie hatte bereits am 1. Januar 2004 einen Anschlag auf das Wirtschaftsforschungsinstitut verübt - "inhaltliche und praktische Kontinuität in unserem militanten Agieren" dokumentiere. Unter nochmaliger Nennung ihrer bereits bekannten Positionen verwies die "militante gruppe (mg)" auf die militante Plattform. Es ginge darum, die Diskussion fortzuführen und ein "widerstandsebenenübergreifendes Netzwerk" zu schaffen. Militante Aktionen dürften sich "nicht auf Angriffe auf anonyme Institutionen beschränken, sondern müssen Formen von Ausbeutung und Unterdrückung personalisieren". Mit zwei weiteren Brandanschlägen am 8. und 16. Dezember in Hamburg wurde die militante Kampagne gegen den G 8- Brandanschlag in Gipfel fortgesetzt. Zunächst hatte eine Gruppe "AG HerzHamburg Infarkt" den PKW eines Vorstandsmitglieds der Tchibo AG in Brand gesetzt. Danach zündete die Gruppe "Zelle pack das pattex unter den Tank" zwei PKW einer Werbeagentur, die mitverantwortlich für die Kampagne "Du bist Deutschland" ist, an. Beide Gruppen nahmen in ihren Selbstbezichtigungsschreiben Bezug auf den G 8-Gipfel in Heiligendamm und wollten mit ihren Anschlägen eine militante Kampagne gegen diesen befördern. Zusammenfassend bleibt das Bild der Militanzdebatte widersprüchlich. Auf der einen Seite verflachte die Diskussion, Vernetzung fraglich und es konnten kaum neue Vorschläge festgestellt werden, so dass die "militante gruppe (mg)" erklären musste, dass eine organisatorische Vernetzung der unterschiedlichen Gruppen nicht zustande gekommen sei. Auf der anderen Seite ist mit fünf Anschlägen gegen den G 8-Gipfel in Heiligendamm erstmals eine militante Kampagne unterschiedlicher Gruppen zu einem Thema festzustellen. Bezeichnenderweise wurde diese Kampagne nicht A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 101 von der "militanten gruppe (mg)" initiiert. Fraglich bleibt jedoch, ob es sich tatsächlich um eine organisatorische Vernetzung der aktiven Gruppen handelt oder nicht vielmehr um eine gegenseitige Bezugnahme in den Selbstbezichtigungsschreiben. Zwar bietet der G 8-Gipfel seit langem erstmals wieder ein Thema, welches die linksextremistische Szene in einer Kampagne einen und mobilisieren könnte; aber angesichts der kritischen Äußerungen gegenüber der "militanten gruppe (mg)", insbesondere von den "autonomen gruppen" scheint eine stärkere Vernetzung eher fraglich. Es ist aber zu erwarten, dass es mit Näherkommen des G 8-Gipfels zu weiteren Anschlägen kommen wird. Ein Wechsel von objektzu personenbezogen Anschlägen ist Weitere Anschläge zu erwarten jedoch unwahrscheinlich. Dieser wäre nach Ansicht der Szene weder der Szene selbst noch einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln. Die von der "militanten gruppe (mg)" geforderte Personalisierung von Angriffen ist eine Wiederholung bereits bekannter Ansichten und Praktiken. Darunter ist unter anderem die in der Vergangenheit praktizierte Patronenverschickungen an einzelne Persönlichkeiten zu verstehen. Ein gezielter Angriff auf Personen gilt weiterhin als unwahrscheinlich. 2.5 Bedeutungslosigkeit linksextremistischer Parteien Der parlamentsorientierte Linksextremismus spielte 2005 wie auch in den vergangenen Jahren eine marginale Rolle. Die linksextremistischen Parteien waren selbst vor dem Hintergrund hoher Arbeitslosigkeit und stagnierenden WirtÜberalterte schaftswachstums nicht in der Lage, ein größeres WähMitglieder lerpotenzial an sich zu binden. Ihre Ergebnisse bei der Bundestagswahl lagen weit unter einem Prozent. Ferner mussten sie mit Ausnahme der "Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands ( MLPD) Mitgliederverluste hinnehmen. Ihre Mitgliedschaft ist überaltert und es gibt nur wenig Neuaufnahmen. Durch die Gründung der (nicht-extremistischen) "Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" (WASG) 102 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 zeichnete sich jedoch auch im parlamentsorientierten Linksextremismus eine neue Entwicklung ab. Insbesondere trotzkistische Gruppen wie Linksruck () und die Sozialistische Alternative Voran ( SAV) versuchten von Anfang an, den Parteibildungsprozess der WASG für sich auszunutzen. Eine Vielzahl der Berliner Mitglieder von "Linksruck" und SAV traten im Sinne einer Entrismusstrategie der WASG bei und übernahmen dort teilweise auch führende Positionen. Dabei handelten diese Organisationen keineswegs uneigennützig, sondern verfolgten weiterhin eigene, gegen die bestehende Ordnung gerichtete Ziele. In der WASG sehen beide Organisationen die Keimzelle einer von ihnen angestrebten revolutionären Partei der Arbeiterklasse, deren Aufbau für sie Voraussetzung für den Sturz der kapitalistischen Herrschaft und der bestehenden Gesellschaftsordnung ist. "Wir sehen in der gegenwärtigen Situation eine wichtige Aufgabe für MarxistInnen darin, den Aufbau der WASG voranzutreiben und gleichzeitig innerhalb der WASG die Debatte über demokratische Strukturen, eine kämpferische Praxis und eine antikapitalistische Ausrichtung zu führen. [...] Wir sind zuversichtlich, dass auf dieser Basis eine Mehrheit des aktiven Teils der Arbeiterklasse und der Jugend - in sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und der WASG - den Weg zum Marxismus finden werden und die Voraussetzung für eine erfolgreiche sozialistische Veränderung der Gesellschaft geschaffen wird: eine internationale marxistische Massenpartei."153 Im Vorfeld der Neuwahlen zum Deutschen Bundestag am 17. September 2005, bei der die "Linkspartei.PDS" mit einer Diskussion vor offenen Liste antrat, intensivierten sich die Diskussionen Bundestagswahl über eine Unterstützung oder mögliche Beteiligung an dieser Liste auch im Bereich linksextremistischer Organisationen und Parteien. Die mit Aktivisten in die WASG einge153 Ebenda. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 103 sickerten trotzkistischen Gruppen "Linksruck" und "Sozialistische Alternative" (SAV) riefen zur Wahl des Bündnisses aus "Linkspartei.PDS" und WASG auf. Die SAV erklärte: "Der beste Ansatzpunkt für eine politische Interessenvertretung, in der Tausende von AktivistInnen zusammen kommen, ist heute die neue Partei 'Arbeit & soziale Gerechtigkeit - Die Wahlalternative', die auf den offenen Listen der für die Bundestagswahl in Linkspartei umbenannten PDS antritt. [...] Je stärker die WASG und die kämpferischen Kräfte des linken Bündnisses aus dem Wahlkampf hervorgehen, desto größer sind die Chancen, mit den Abgeordneten zu einem Faktor in Protestbewegungen zu werden und den Aufbau einer kämpferischen und in der arbeitenden Bevölkerung gut verankerten Partei voranzutreiben, die zu einem Anziehungspunkt für AktivistInnen werden kann."154 Die Deutsche Kommunistische Partei ( DKP) und die "Kommunistische Partei Deutschlands" (KPD), die 2002 noch zu den Bundestagswahlen angetreten waren, verzichDKP und KPD: teten auf eine erneute Kandidatur und unterstützten das Kandidaturverzicht Wahlbündnis aus Linkspartei.PDS und WASG. Der Vorfür Wahlbündnis sitzende der DKP, Heinz Stehr, erklärte dazu in einem Interview mit der Parteizeitung "Unsere Zeit", dass sich die DKP immer für die Bündelung der linken Kräfte eingesetzt habe: "Die Kandidatur der Linkspartei kann ein weiterer Schritt zur Formierung von mehr Gemeinsamkeiten in der linken Bewegung bedeuten. Aus meiner Sicht sollten wir unsere Bemühungen zur Bündelung der linken Kräfte verstärken."155 Vereinzelt traten somit auch Mitglieder von DKP, SAV und "Linksruck" auf Landeslisten der "Linkspartei.PDS" zur Bundestagswahl an. Auch die "Kommunistische Plattform der PDS" (KPF) begrüßte den gemeinsamen Wahlantritt von WASG und "Linkspartei.PDS": 154 Internetauftritt der SAV, Aufruf am 5.10.2005. 155 Internetauftritt "Unsere Zeit", Aufruf vom 5.10.2005. 104 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 "Wir waren von Anfang an für ein Zusammengehen von WASG und PDS im Wahlkampf. Wir waren für dieses Zusammengehen, weil wir einen erfolgreichen Wahlkampf für zwingend geboten hielten."156 Gleichzeitig jedoch wurden Bedenken gegen die Fusion beider Parteien durch die KPF geäußert. Es wurde befürchtet, Bedenken gegen dass durch eine Vereinigung beider Parteien die antiParteifusion kapitalistische Ausrichtung zugunsten einer sozialreformerischen verloren ginge. So erklärte eine exponierte Vertreterin der KPF: "Daß hinsichtlich sozialer Fragen Gemeinsamkeiten existieren, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Unterschiede prinzipieller Natur sind. Deshalb bin ich der Überzeugung: Zusammenarbeit zwischen PDS und WASG vor und nach der Wahl in allen Punkten, die ein gemeinsames Vorgehen ermöglichen. Aber Erhalt der Identität der PDS: Festhalten an der sozialistischen Zielstellung, der antikapitalistischen Ausrichtung und der uneingeschränkten Ablehnung des Einsatzes militärischer Mittel zur Lösung internationaler Konfliktsituationen."157 Die MLPD war ursprünglich ebenfalls an der Beteiligung an MLPD isoliert einem breiten Linksbündnis interessiert. Ihr schriftliches Angebot wurde jedoch nach Aussagen des Vorsitzenden der MLPD, Stefan Engel, "von den Führern der WASG und der PDS abschlägig beschieden bzw. gar nicht beantwortet".158 So trat die MLPD eigenständig mit Landeslisten in allen Bundesländern zur Bundestagswahl an. Ihren Wahlkampf führte sie vorrangig gegen eine "große Koalition aus SPD, CDU, CSU, FDP und Bündnis 90 / Die Grünen"159 mit den Schwerpunktthemen "Hartz IV" und "Agenda 2010". PSG lehnt Die trotzkistische "Partei Soziale Gleichheit" (PSG) war eine Wahlbündnis ab der wenigen linksextremistischen Organisationen, die nie an 156 Bericht des Bundessprecherrates der KPF zur 4. Tagung der 12. Bundeskonferenz am 9.10.2005, Internetauftritt der KPF, Aufruf am 24.1.2006. 157 Internetauftritt der KPF, Aufruf am 24.1.2006. 158 Internetauftritt der MLPD, Aufruf am 5.10.2005. 159 Ebenda. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 105 einem Bündnis mit der Linkspartei interessiert waren. Sie grenzte sich vom Wahlbündnis kategorisch ab: "Im neuen Bündnis schließen sich die Erben der beiden großen bürokratischen Apparate zusammen, die während der Nachkriegszeit im Osten und im Westen Deutschlands die tragenden Säulen der bestehenden Ordnung waren - Sozialdemokratie und Stalinismus. [...] Ihr Ziel [Anm.: das der Linkspartei.PDS] ist es, eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse zu ersticken. Diese Partei stellt keine Alternative zur Sozialdemokratie dar. Sie versucht vielmehr, die Sozialdemokratie zu retten".160 Die PSG trat in vier Bundesländern (Berlin, NordrheinWestfalen, Sachsen und Hessen) mit eigenen Landeslisten zur Wahl an. Aber nicht nur parlamentsorientierte Linksextremisten bezogen zum "Linksbündnis" Stellung, auch den eher aktionsorientierten Teil der Szene ließ diese Entwicklung nicht unberührt. So veröffentlichten die undogmatischen (autonomen) Gruppierungen "Antifaschistische Linke Berlin" Aktionsorientierte (ALB) und "Für eine linke Strömung" (F.e.l.S.) am 8. Juli Szene: Offener Brief einen offenen Brief an die "Linkspartei" (PDS / WASG), in an Linksbündnis dem die Bildung einer gemeinsamen Liste positiv aufgegriffen wurde: "Wir hoffen, dass dieser Schritt dazu beiträgt, linke Positionen insgesamt zu stärken und damit auch die Rahmenbedingungen unserer Arbeit zu verbessern."161 In der Pressekonferenz zum offenen Brief ging der Vertreter von F.e.l.S. sogar soweit, ähnlich der Aussagen von SAV und "Linksruck" die Vision einer linken SammlungsbeweVision einer linken Sammlungsgung zu malen. Dies gäbe Anlass, das Verhältnis von bewegung "Linkspartei" und sozialer Bewegung zu überdenken. Es sei "an der Zeit, da in etwas klarere Kommunikation zu treten".162 160 Internetauftritt der PSG, Aufruf am 5.10.2005. 161 Offener Brief, Internetauftritt von F.e.l.S., Aufruf am 15.7.2005. 162 Pressekonferenz der ALB und F.e.l.S. am 14.7.2005. 106 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Gleichwohl betonten die Autoren die unterschiedliche Herkunft und Arbeitsweise von Parteien und sozialen Bewegungen, als deren Teil sie sich verstehen: Sie [Parteien und soziale Bewegungen] "sind und bleiben unterschiedliche Realitäten".163 Die dem Parlamentarismus an sich skeptisch bis ablehnend Annäherung an gegenüberstehenden Gruppen versprachen sich durch ihre "Linkspartei" Annäherung, die öffentliche Debatte und die "Linkspartei" beeinflussen zu können. In einem Internet-Posting der ALB heißt es: "Worum es uns geht, ist eine strategische Intervention in den Wahlkampf, um einige zentrale linke Forderungen wirkungsvoller in der öffentlichen Debatte zu platzieren, als wir das nur mit unseren eigenen Aktionen könnten."164 Der Einfluss der Wahlaussagen linksextremistischer Organisationen und Parteien zugunsten der "Linkspartei.PDS" im Bundestagswahlkampf ist nicht quantifizierbar. Das Ergebnis der zur Bundestagswahl eigenständig angetretenen linksextremistischen Parteien unterstreicht hingegen deren Bedeutungslosigkeit. Weder PSG noch MLPD konnten ein größeres Wählerpotenzial an sich binden. Sie erreichten lediglich 0,0 bzw. 0,1 Prozent der Zweitstimmen. Angesichts des geringen Ergebnisses von 60 531 Zweitstimmen, die sie bundesweit gemeinsam erzielten, ist eine tiefergehende Analyse des Ergebnisses nicht aussagekräftig. In Berlin wich das Ergebnis der linksextremistischen Parteien nur unwesentlich vom Bundesergebnis ab. Die PSG erzielte hier mit 0,1 Prozent der Zweitstimmen (1 618 Stimmen) ein besseres Ergebnis als im Bundesdurchschnitt. Dies ist aber der Tatsache geschuldet, dass sie ohnehin nur in vier Bundesländern angetreten war. Die MLPD hingegen erreichte auch in Berlin mit 0,1 Prozent der Zweitstimmen (1 290 Stimmen) das gleiche Ergebnis wie im Bundesdurchschnitt. Ihr Direktkandidat im Wahlkreis 83 (Berlin-Neukölln) kam auf 0,2 Prozent der Erststimmen. 163 Ebenda. 164 Internetauftritt AInfos, Aufruf am 15.7.2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - LI N K S E X TR E M I S M U S 107 Überraschend bei einem derartigen Ergebnis ist die WahlRealitätsferne analyse der betroffenen Parteien. So sah der Vorsitzende der Wahlanalyse MLPD in dem Wahlergebnis die Möglichkeit einer nachhaltigen "Höherentwicklung des proletarischen Klassenbewusstseins der Arbeiterklasse". Die eigenen Ergebnisse wurden als großer Gewinn dargestellt. So habe man in Sachsen-Anhalt den Stimmenanteil um 1 300 Prozent steigern können. Allerdings bleibe ein ärgerlicher Aspekt des Wahlergebnisses. Es könne "den tatsächlich seit zwei Jahren gewachsenen Einfluss der MLPD auf die Massen nicht einmal annähernd widerspiegeln".165 Auch die PSG bezeichnete ihr Wahlergebnis als "Ausdruck eines wachsenden sozialistischen Bewusstseins der Arbeiterklasse".166 Die Wahlergebnisse der Bundestagswahl 2005 lassen erwarten, dass linksextremistische Parteien auch künftig in der Marginalität verharren werden. Versuche von Linksextremisten, Einfluss auf die WASG zu nehmen, dürften jedoch nicht aussichtslos sein. Zumindest in Berlin scheinen insbesondere die Vertreter der SAV innerhalb der WASG soviel Einfluss erlangt zu haben, dass sie auch strategische Parteientscheidungen wie einen eigenständigen Wahlantritt der Partei bei der Abgeordnetenhauswahl 2006 erheblich beeinflussen können. Das Ergebnis der Urabstimmung unter den Berliner WASG-Mitgliedern vom 8. März 2006 zu dieser Frage entspricht mit 51,6 Prozent Zustimmung zumindest dem nachhaltig von der SAV und ihren Aktivisten in der Partei propagierten politischen Kurs. 165 Internetauftritt Rote Fahne News, Aufruf am 16.12.2005. 166 Internetauftritt der PSG, Aufruf am 16.12.2005. 108 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 3 AUSLÄNDEREXTREMISMUS 3.1 Überblick Linksextremistische, extrem nationalistische und islamistiUnterschiedliche sche Ausländerorganisationen weisen weder eine einheitliIdeologien und Strukturen che Ideologie noch eine vergleichbare organisatorische Struktur auf. Erhebliche Unterschiede zwischen den Organisationen bestehen vor allem in der Frage des Einsatzes von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele; hier reicht das Spektrum von der Ablehnung jeglicher Gewaltanwendung bis zur pseudoreligiösen Legitimation von Terrorismus. Unverändert werden extremistische Gruppierungen in Berlin nur von einer kleinen Minderheit der hier lebenden Ausländer unterstützt. Ca. 5 060 Personen lassen sich extremistischen Ausländerorganisationen zurechnen;167 dies entspricht ca. 1,1 Prozent der ausländischen Bevölkerung Berlins (30. Juni 2005: 453 977 Personen). Die Verteilung auf die einzelnen Extremismusfelder ist weitgehend konstant geblieben: Unter den ausländerexMehrheit islamistisch tremistischen Organisationen in Berlin bilden die Anhänger islamistischer Gruppierungen mit ca. 3 410 Personen die Mehrheit; dies entspricht einem Anteil von zwei Dritteln (67,4 Prozent). Linksextremistische Organisationen stellen mit ca. 1 350 Personen dagegen ein Viertel (26,7 Prozent). Ca. 300 Personen (ca. 6 Prozent) sind extremnationalistischen Organisationen zuzurechnen. 167 Diese Angaben sowie alle folgenden Angaben zu Personenpotenzialen sind geschätzt. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 109 Gesamtpotenzial extremistischer Ausländerorganisationen: ca. 5060 1350 Linksextremisten 300 3410 Extreme Nationalisten Islamisten Personenpotenziale Ausländerextremismus* Berlin Bund 2004 2005 2004 2005 Gesamt 5 710 5 060 57 520 57 420 Islamisten, 3 630 3 410 31 800 32 100 davon arabische 550 450 3 250 3 350 türkische 2 900 2 900 27 250 27 250 iranische 30 30 50 150 sonstige 150 30 1 250 1 350 Linksextremisten, 1 430 1 350 17 290 16 890 davon arabische 50 30 150 150 türkische 250 225 3 150 3 150 iranische 30 45 1 150 1 150 kurdische 1 100 1 050 11 950 11 500 Extreme Nationalisten 600 300 7 500 7 500 (türkisch) Sonstige 50 - 1 820 1 870 * Die Zahlen bilden geschätzte Personenpotenziale ab. Das geschätzte Personenpotenzial der gewaltorientierten extremistischen Ausländerorganisationen in Berlin beträgt insgesamt ca. 1 560 Personen. Das entspricht etwa einem 110 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Drittel des Gesamtpersonenpotenzials. Die Verteilung liegt Gewaltorientierung bei ca. 1 290 Angehörigen linksextremistischer Organisavor allem im tionen und ca. 270 Angehörigen islamistischer OrganisaAusland tionen. Diese Personen werden extremistischen Ausländerorganisationen zugerechnet, die im Ausland - regional unterschiedlich - entweder terroristisch aktiv sind oder ausdrücklich Gewalt befürworten, z. B. zur Beseitigung der Herrschaftsstrukturen im jeweiligen Heimatland. In Berlin treten die sich vor Ort aufhaltenden Angehörigen dieser Gruppierungen größtenteils mit Zurückhaltung und gewaltfrei in Erscheinung. Gesamtpotenzial gewaltorientierter extremistischer Ausländerorganisationen: ca. 1560 1290 Linksextremisten Islamisten 270 * Es handelt sich dabei um Organisationen, die regional im Ausland (z. B. im jeweiligen Heimatland) mit Gewalttaten in Erscheinung treten. In Deutschland verhalten sich die Anhänger dieser Organisationen weitgehend gewaltfrei. Die ca. 270 Islamisten, die gewaltorientierten arabischen islamistischen Organisationen zugerechnet werden, sind Gewaltorientierte Islamisten Angehörige der Hizb Allah ( /ca. 160 Personen), der Hizb al-Tahrir al-islami ( HuT / ca. 60 Personen) und der Bewegung des Islamischen Widerstands ( HAMAS / ca. 50 Personen). Bei öffentlichen Aktionen treten die Angehörigen dieser Gruppierungen in Berlin in der Regel friedlich auf. Es liegen keine belastbaren Zahlenangaben über in Berlin möglicherweise aufhältliche Angehörige islamistisch-terroristischer Gruppierungen bzw. Netzwerke vor. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 111 Innerhalb der nicht gewaltorientierten islamistischen Gruppierungen in Berlin stellen die türkischen Islamisten, die überwiegend in der "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs ( IGMG) organisiert sind, die große Mehrheit Nicht (ca. 2 900 Personen / 91,5 Prozent). Bei den arabischen nicht gewaltorientierte gewaltbereiten islamistischen Organisationen bilden die Islamisten Angehörigen der Muslimbruderschaft ( MB) mit ca. 100 Personen die stärkste Gruppe. Im Vergleich zu den türkischen Islamisten beträgt der Anteil nur 3,2 Prozent am Gesamtpersonenpotenzial nicht gewaltorientierter extremistischer Ausländerorganisationen. Potenzial islamistischer Ausländerorganisationen: ca. 3410 2900 450 30 Arabische Islamisten 30 Türkische Islamisten Iranische Islamisten Sonstige Islamisten Innerhalb des Spektrums der linksextremistischen Ausländerorganisationen von ca. 1 350 Personen nehmen die kurdischen Linksextremisten unverändert mit mehr als drei Vierteln (77,8 Prozent / ca. 1 050 Personen) den weitaus Linksextremisten größten Anteil ein, während die Anhänger türkischer Organisationen mit ca. 225 Personen 16,7 Prozent ausmachen. Anhänger arabischer Gruppierungen stellen unter den ausländischen Linksextremisten nur 2,2 Prozent (ca. 30 Personen), iranische Linksextremisten 3,3 Prozent (ca. 45 Personen). Von den ca. 1 350 Personen ausländischer linksextremistiGewaltorientierte scher Gruppierungen in Berlin gehören ca. 1 290 Personen Linksextremisten gewaltorientierten Ausländerorganisationen an. Dies ent- 112 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 spricht einem Anteil von 95,5 Prozent. Die kurdischen Linksextremisten - Anhänger der PKK und ihrer Nachfolgeorganisationen - stellen darunter die weitaus größte Gruppe mit ca. 1 050 Personen. Auch die Angehörigen dieser gewaltorientierten linksextremistischen Ausländerorganisationen treten hier in Berlin überwiegend gewaltfrei in Erscheinung. Potenzial linksextremistischer Ausländerorganisationen: ca. 1350 1050 Araber Iraner 225 45 30 Türken Kurden Im Phänomenbereich "Politisch motivierte AusländerkrimiWeniger nalität" gingen 2005 die erfassten politisch motivierten GeGewaltdelikte waltdelikte im Vergleich zum Vorjahr von zehn auf neun zurück. Zu beachten ist hierbei jedoch ein Anstieg der Zahl der Körperverletzungen von drei auf sechs. Bei den anderen Straftaten dieses Phänomenbereichs, zu deWeniger Straftaten nen vor allem Sachbeschädigungen, Verstöße gegen das Vereinsund Versammlungsgesetz, Propagandadelikte oder Volksverhetzung zählen, kam es zu einem starken Rückgang von 100 Straftaten im Jahre 2004 auf 64 erfasste Straftaten im Jahre 2005. Diese erneute deutliche Verringerung der Straftatenzahlen ist auf erhebliche Rückgänge bei den erfassten Sachbeschädigungen und Verstößen gegen das Vereinsgesetz zurück zu führen. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 113 Fallzahlen Politisch motivierte Kriminalität - Ausländer* 2004 2005 Gesamt 112 77 Terrorismus, 2 4** davon Bildung einer terroristischen SS 129 a StGB 2 4** Vereinigung Gewaltdelikte, 10 9 davon Körperverletzung SSSS 223 - 231 StGB 3 6 Brandstiftung SSSS 306 - 306 f StGB 0 1 Freiheitsberaubung SSSS 234 - 239 b StGB 1 0 Erpressung SS 253 StGB 2 0 Landfriedensbruch SSSS 125, 125 a StGB 2 1 Widerstandsdelikte SS 113 StGB 1 0 Raub SSSS 249 - 255 StGB 1 0 Verkehrsgefährdungen 0 1 Andere Straftaten, 100 64 davon Propagandadelikte SSSS 86, 86 a StGB 6 5 Volksverhetzung SS 130 StGB 12 10 Sachbeschädigung SSSS 303 - 305 a StGB 28 8 Versammlungsgesetz 9 5 Vereinsgesetz 21 8 Sonstiges 24 28 * Einschließlich antisemitischer und fremdenfeindlicher Straftaten. Vollständige Angaben im Auszug aus dem Bericht "Kriminalität in Berlin 2005" im Anhang. ** Hierbei handelt es sich um Verfahren, die beim BKA aufgrund der Deliktzuweisung geführt aber dem Land Berlin wegen der Tatörtlichkeit zugeordnet werden. Dieses Verfahren wird erst seit 2003 praktiziert. Bei den ausländerextremistischen Organisationen zeichnet sich hinsichtlich der Ideologie und der politischen Handlungsformen weiterhin ein vielschichtiges Bild ab. * Die Gefährdung durch den transnationalen islamistischen Anschläge des Terrorismus hält trotz wichtiger Erfolge im internatransnationalen tionalen Anti-Terrorkampf an. Nicht zuletzt die AnschläTerrorismus ge in Madrid (März 2004) und London (Juli 2005) 114 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 machen deutlich, dass der transnationale islamistische Terrorismus auch Europa konkret bedroht. Autonom operierende Gruppen verübten koordinierte und verheerende simultane Anschläge und benötigten hierzu offenbar nicht zwingend eine Steuerung oder zentrale Vorbereitung durch das Terrornetzwerk "al-Qa'ida" Im Falle der Anschläge von London genügte offenbar bereits die Wirkung der internationalistischen Ideologie von "alQa'ida", die über eine Vielzahl von Audio-, Videound Internetbotschaften verbreitet wird. Angesichts kontinuierlich erneuerter Anschlagsdrohungen und verstärkter Rekrutierungsbemühungen aus dem Umfeld von "alQa'ida" sowie der Gefahr, dass sich potenzielle Attentäter durch die "al-Qa'ida"-Ideologie beeinflussen lassen, besteht für Deutschland weiter eine nicht nur abstrakte Gefährdung sowie eine unverändert hohe besondere Gefährdung der hier ansässigen US-amerikanischen, britischen, israelischen und jüdischen Einrichtungen. * Auch 2005 war die deutsche Justiz mit Verfahren zum Prozesse und islamistischen Terrorismus befasst. Im Mittelpunkt der Exekutivmaßnahmen Prozesse und Exekutivmaßnahmen stand die Organisation Ansar al-Islam (). Im Ermittlungsverfahren wegen des geplanten Anschlags auf den damaligen irakischen Ministerpräsidenten im Jahr 2004 wurde Anklage erhoben, während in einem anderen Verfahren gegen diese Gruppierung in München eine Verurteilung erfolgte. In einem weiteren Verfahren gegen Mitglieder der islamistisch-terroristischen "Al-Tawhid"-Bewegung kam es in Düsseldorf zu einer Verurteilung. Die Verfahren im Zusammenhang mit dem 11. September 2001 gegen Mounir El-Motassadeq und Abdelghani Mzoudi in Hamburg wurden mit einer Verurteilung zu einer Haftstrafe und einem Freispruch beendet. * In der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e. V. ( IGMG) setzte sich die Diskussion zwischen ReforIGMG mern und Traditionalisten über die Ausrichtung der Organisation fort. Während die reformorientierten Mitglieder eine Distanzierung von Necmettin Erbakan in der A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 115 Türkei fordern, sind ihm die Traditionalisten weiter verbunden. In der Öffentlichkeit gibt die IGMG erneut ein ambivalentes Bild ab: So versucht sie zum einen, ihr Image als politische Bewegung abzulegen und sich als reine Religionsgemeinschaft zu präsentieren, die sich die Integration türkischer Muslime zum Ziel gesetzt hat. In der Realität appellieren Teile der Organisation dagegen an ihre Mitglieder, sich von der deutschen Gesellschaft abzugrenzen. Zum anderen belegen fortbestehende enge Verbindungen der IGMG zu Necmettin Erbakan, zur SP sowie zu deren Sprachrohr "Milli Gazete" ("Nationale Zeitung"), dass die IGMG nach wie vor Teil der MilliGörüs-Bewegung ist, die weiter eindeutig islamistische Positionen propagiert. * Die terroristischen Aktionen türkischer linksextremistischer Organisationen in der Türkei nahmen im Jahr 2005 weiter zu. Im Gegensatz zum Vorjahr wurden die AnLinksextremistische schläge jedoch häufiger mit innertürkischen Themen Türken begründet als mit den Entwicklungen internationaler Politik. In Deutschland nahmen erstmals Themen der deutschen Innenpolitik wie Arbeitslosigkeit oder Ausweisung einen breiten Raum ein. Vor dem Hintergrund sinkender Mitgliederzahlen wurde versucht, durch die Thematisierung von Alltagsproblemen der Immigranten in Deutschland neue potenzielle Anhängerkreise zu erschließen. * Die seit 2003 als Volkskongress Kurdistans (KONGRA-GEL) firmierende ehemalige "Arbeiterpartei Kurdistans ( PKK) setzte ihre Strategie fort, eine AbKurden: PKK kehr von der "alten" terroristischen PKK durch die Bekanntgabe scheinbarer struktureller Reformen vorzugeben. So wurden im Jahr 2005 zahlreiche Organisationen wie eine "neue" PKK, eine Frauenorganisation, zwei Jugendbewegungen sowie das System der "Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan" gegründet. Trotz dieser vorgeblichen Neuerungen sind grundlegende Änderungen in der Organisation bislang nicht zu erkennen. Stattdessen nahmen in der Türkei die Gefechte zwischen 116 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 den "Volksverteidigungskräften" der PKK (HPG) - die wiederholt von einem sich selbst zugewiesenen "Recht auf Selbstverteidigung" Gebrauch machten - und der türkischen Armee zu. Mit einer Beilegung des Konflikts in der Türkei ist nicht zu rechnen. In Deutschland hält sich die Organisation bisher weitgehend an den selbst auferlegten Friedenskurs. * Der Nationale Widerstandsrat Iran ( NWRI) als politischer Arm der "Volksmojahedin Iran-Organisation" Iraner: NWRI (MEK) setzte seine Bemühungen fort, sich gegenüber der Öffentlichkeit als demokratische Exilbewegung darzustellen, um so die Streichung der MEK von den Listen terroristischer Organisationen der EU und der USA zu erreichen. Dabei konzentrierte sich die Organisation anders als im Vorjahr auf einzelne öffentlichkeitswirksame Großveranstaltungen mit europaweiter Mobilisierung. 3.2 Transnationaler islamistischer Terrorismus 3.2.1 Erste Selbstmordanschläge in Europa Mit den Anschlägen auf drei Anschläge in U-Bahnzüge und einen Autobus am London 7. Juli in London, die 52 Menschen das Leben kosteten und über 700 verletzten, wurden erstmals Selbstmordanschläge auf europäischem Boden verübt. Als Attentäter wurden vier junge Muslime ermittelt, die größtenteils in Großbritannien geboren und dort aufgewachsen waren. Bisher ungeklärt ist, ob die Attentäter tatsächlich auf eigene Initiative handelten und selbst die Planung, Organisation und Durchführung der Anschläge übernahmen. Die Anschläge auf Zivilisten hatte einer der Attentäter in einem zuvor aufgezeichneten Bekennervideo mit dem Irak-Krieg und der britischen Beteiligung daran gerechtfertigt. Er gab an, bei der Entscheidung zu den Anschlägen vor allem von Bin Ladin, Zawahiri und Zarqawi "in- A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 117 spiriert worden" zu sein. Wie im Falle der zwei Wochen später in London gescheiterten Anschlagsversuche einer weiteren militanten Gruppe sowie der 2004 in Madrid und in Amsterdam (Van-Gogh-Mord) verübten Anschläge, spielte hierbei der Faktor "Diaspora-Muslime" eine Rolle, der die "Home-grown Herausbildung so genannter "homeNetworks" grown Networks" begünstigt. "Homegrown Networks" steht für Muslime der ersten oder zweiten Einwanderergeneration in Europa, die nur scheinbar integriert sind, sich im Laufe ihres Lebens radikalisieren und ihre terroristischen Aktivitäten schließlich gegen ihre Aufnahmeländer richten. Obwohl nicht abschließend geklärt ist, was die Radikalisierung der Attentäter beförderte, - gesichert ist lediglich, dass drei von ihnen mehrfach in Pakistan waren -, scheinen Erfahrungen der Desintegration und Entwurzelung, vorhandene oder hierdurch verstärkte Ressentiments gegen die Aufnahmegesellschaften sowie der IrakKrieg eine Rolle gespielt zu haben. Entscheidenden Anteil an der Herausbildung von Affinitäten "al-Qa'ida" als zum Jihadismus hat vor allem das Netzwerk "al-Qa'ida", das ideologische vermehrt als 'ideologische Leitstelle' zu fungieren scheint Leitstelle und mittels seiner Audiound Videobotschaften Motivation und strategische Ausrichtung von Attentätern maßgeblich beeinflusst. 3.2.2 Bedrohungslage für Deutschland Nach bisherigen Erkenntnissen deuten die Anschläge von London darauf hin, dass es nicht grenzüberschreitender Strukturen des Terrornetzwerkes "al-Qa'ida" bedarf, um in Autonom Europa terroristisch aktiv zu werden. Vielmehr sind auch operierende Gruppen autonom operierende Gruppen zu koordinierten und verheerenden simultanen Anschlägen in der Lage und bedürfen hierzu offenbar nicht zwingend einer operativen Steuerung oder zentralen Vorbereitung ihrer Aktivitäten. Im Falle der Attentäter von London, die die Anschläge mit dem - aus ihrer Sicht gegen die Gesamtheit der Muslime gerichteten - Irak-Krieg rechtfertigten, kann es ausreichen, dass sich 118 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 potenzielle Täter von der internationalistischen Ideologie "al-Qa'ida"s beeinflussen lassen. Zur internationalistischen Ideologie "al-Qa'ida"s gehört zum einen die Rechtfertigung des Kampfes gegen den Westen als vermeintlich anti-kolonialistisch und zum anderen die Instrumentalisierung der auch unter nicht-extremistisch gesinnten Ideologische Menschen verbreiteten Unzufriedenheit mit den autoGrundlagen kratischen Herrschaftsformen in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. Zentraler Bestandteil der Ideologie ist des Weiteren der Bezug auf ungelöste politische Regionalkonflikte - etwa auf den israelisch-palästinensischen Konflikt, den Kaschmiroder den Tschetschenienkonflikt. Betont anti-imperialistisch gibt sich die Propaganda "al-Qa'ida"s durch die Instrumentalisierung der Anwesenheit alliierter Truppen im Irak, die - trotz der von einer Mehrheit begrüßten demokratischen Entwicklung - von vielen Menschen weiterhin als eine unerwünschte Besatzung betrachtet wird. Die Tatsache, dass neben der Ideologie "al-Qa'ida"s und Entwicklungen der internationalen Politik auch die persönliche Lebenssituation von Attentätern und ihr subjektives Lebensgefühl in der europäischen Gesellschaft aktionsauslösend sein können, erschwert die Bekämpfung des islamistisch motivierten Terrorismus durch Polizei und Nachrichtendienste. Mit der Entwicklung hin zu einer Dezentralisierung des Jihad hat die Gefahr terroristischer Anschläge für alle euroTendenz: päischen Staaten eher zuals abgenommen: Auch für Dezentralisierung Deutschland muss von bislang nicht enttarnten oder potenziellen Jihadisten ausgegangen werden, die die Bundesrepublik nicht mehr allein als einen Rückzugsund Ruheraum zu nutzen versuchen, sondern inzwischen als Vorbereitungsraum und potenzielles Ziel von Anschlägen betrachten. Im Fokus von Terroristen ist Deutschland vor allem aufgrund seiner Beteiligung am weltweiten Kampf gegen den islamistischen Terrorismus - insbesondere in Afghanistan und am Afrikanischen Horn - sowie aufgrund der Aus- A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 119 bildung irakischer Polizeibeamter und Offiziere im Rahmen der NATO. Nach übereinstimmender Einschätzung der Sicherheitsbehörden hält die Gefährdung durch den transnationalen islamistiGefährdung hält an schen Terrorismus trotz wichtiger Erfolge im internationalen Anti-Terrorkampf weiter an. Angesichts der Anschlagsdrohungen und verstärkten Rekrutierungsbemühungen "alQa'ida"s sowie der Gefahr, dass sich Menschen durch die "al-Qa'ida"-Ideologie beeinflussen lassen, besteht für Deutschland weiter eine nicht nur abstrakte Gefährdung seiner staatlichen Institutionen und Wirtschaftsunternehmen sowie eine unverändert hohe besondere Gefährdung der hier ansässigen US-amerikanischen, britischen, israelischen und jüdischen Einrichtungen. Dass die Bundesrepublik von islamistisch motiviertem Terrorismus betroffen sein kann und hier Anschläge geplant und vorbereitet werden, belegen nicht zuletzt die in Deutschland geführten Prozesse und Verurteilungen von Terroristen sowie aufgedeckte Anschlagsvorbereitungen. 3.2.3 Strategie der internationalen Anschläge Die anhaltend hohe Gefährdung durch den transnationalen islamistischen Terrorismus belegt auch die hohe Zahl der dem Netzwerk "al-Qa'ida" und den organisatorisch oder ideologisch mit ihm verbundenen Gruppen zuzuordnenden Anschläge168, die zugleich eine internationale und eine regionale Stoßrichtung offenbaren. Der Schwerpunkt der Terroraktivitäten lag auch 2005 in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. Wie die vor allem Schwerpunkt: Naher und Mittlerer Osten im Irak, aber auch in Ägypten, Jordanien, Pakistan und Afghanistan verübten Anschläge deutlich machen, geht es 168 Hierzu zählen etwa die teilweise in Kooperation mit lokalen Akteuren verübten Selbstmordanschläge im ägyptischen Sharm al-Shaikh am 23.7.2005 sowie die der indonesischen "Jemaa Islamiya" zugerechneten Selbstmordanschläge in Bali am 1.10.2005. 120 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 "al-Qa'ida" und den verbündeten Netzwerken nach wie vor um die Vertreibung ausländischer Truppen aus der Region, um den Sturz der Regierungen in den arabischen und muslimischen Ländern sowie um das Fernziel der Vernichtung Israels. Wie bereits der 2004 verhinderte Giftgasanschlag auf die Zentrale des jordanischen Nachrichtendienstes GID zeigte, begrenzen insbesondere dem ZarqawiNetzwerk zuzuordnende Anhänger ihre Operationen nicht auf Anschläge im Irak, sondern agieren auch in den Nachbarregionen. Dies belegen im August aufgedeckte Pläne für Anschläge auf israelische Kreuzfahrtschiffe an der türkischen Südküste, der fehlgeschlagene Raketenangriff auf ein US-Kriegsschiff vor Aqaba am 24. August sowie die mindestens siebzig Tote fordernden Selbstmordanschläge auf drei Hotels in Amman am 9. November. 3.2.4 Aktionsund Rekrutierungsbasis Irak Insbesondere der Irak hat sich in den vergangenen drei Jahren zu einer zentralen Aktionsund Rekrutierungsbasis für Wirkung auf Europa den islamistischen Terrorismus entwickelt, die Glaubenskämpfer aus der arabischen Welt und aus Europa anzieht. Da eine Rückkehr kampferprobter Jihadisten in die europäischen Staaten droht, kann das Fortdauern der von Krieg und Bürgerkrieg gezeichneten Lage im Irak unmittelbare Wirkung auf die Sicherheit Europas haben. Begünstigt durch die instabilen Verhältnisse, insbesondere durch das Fehlen einer effektiven Zentralgewalt, haben sich im Irak neue terroristische Netzwerke herausgebildet. Ein Teil der mit "al-Qa'ida" nur lose verbundenen Gruppen Neue existierte zwar schon vor 2001, hat aber seit 2003 erheblich Terrornetzwerke an Zuwachs gewonnen. Bei den militanten 'Widerstandsgruppen' handelt es sich um - aus der aufgelösten BaathPartei und der irakischen Armee stammende - irakische Nationalisten sowie um islamistisch orientierte Gruppen. Hierzu zählen etwa die arabisch-sunnitische "Islamische A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 121 Armee im Irak" ("al-Jaish al-islami fi'liraq") oder die kurdisch-islamistische Gruppe Helfer des Islam ( Ansar alIslam", AAI), die seit 2004 unter dem Namen "Armee der Helfer der Sunna" ("Jaish Ansar al-Sunna", kurz: "Ansar alSunna", AAS) agiert. Da die AAI bzw. AAS im Irak erheblich an Zulauf gewann gewann, in Europa Helfernetzwerke unterhält und hier auch an der Vorbereitung terroristischer Aktionen beteiligt war, besteht die Gefahr, dass sie sich in Zukunft zur Keimzelle einer neuen transnational operierenden Organisation entwickelt. Im Zentrum des islamistisch geprägten 'bewaffneten Widerstands' im Irak steht das Netzwerk al-Zarqawi Netzwerk von Abu Mus'ab al-Zarqawi169, das in den vergangenen drei Jahren seinen Namen mehrfach wechselte. Bis Ende 2004 firmierte es unter dem Namen "Gruppe für das Einheitsbekenntnis und den Jihad" ("Jama'at al-tauhid wa'l-jihad"), bevor es in "Basis des Jihad im Zweistromland" ("Qa'idat al-jihad fi bilad al-rafidain") umbenannt wurde und Zarqawi seine Zugehörigkeit zu "alQa'ida" erklärt hatte. Seit Januar 2006 operiert das ZarqawiNetzwerk unter der Bezeichnung "Beratungsgremium der Muhjahidin" ("Majlis shura al-mujahidin"), einem Zusammenschluss aus mehreren militanten Gruppen. Dem Zarqawi-Netzwerk scheinen sich in letzter Zeit verstärkt Anhänger Saddam Hussains, einheimische Islamisten sowie vor allem ausländische Islamisten anzuschließen. Galt die Zarqawi-Gruppe vor 2002 als vorwiegend jordanischpalästinensische Truppe mit begrenztem terroristischen Potenzial, hat sie sich seit Sommer 2003 zu einem multinationalen Netzwerk entwickelt, dem inzwischen Syrer, Saudi-Araber, Kuwaitis sowie eine große Zahl einheimischer Iraker angehören. 169 Abu Mus'ab al-Zarqawi wurde am 7. Juni 2006 bei einem Luftangriff nahe Ba'quba nördlich von Bagdad getötet. 122 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Da seine Angriffe besonders viele Menschenleben kosten, hat das Zarqawi-Netzwerk für viele Islamistenkreise Vorcharakter. Zahlreiche islamistische Gruppen sind um einen Anschluss bemüht. Sie eint das gemeinsame Ziel, die alliierten Besatzungstruppen und den neuen Staat zu bekämpfen sowie auf irakischem Boden ein islamistisches Staatswesen zu errichten. Ziel des Bürgerkriegs im Irak Ziele der Anschläge auf alliierte Truppen, auf führende Repräsentanten der neugeschaffenen irakischen InstitutioDestabilisierung nen, auf die neuformierten Sicherheitskräfte sowie auf unbeteiligte Zivilisten sind die permanente Destabilisierung, das Schüren von Konflikten zwischen den Volksgruppen und Religionsgemeinschaften sowie die Unterbindung des demokratischen Prozesses im Lande. So bedrohte das ZarqawiNetzwerk sämtliche Wähler und Kandidaten mit dem Tode, falls sie an den Abstimmungen teilnähmen oder sich zur Wahl stellten. Allerdings vermochten weder die Morddrohungen noch die unzählige Tote fordernden Anschläge auf Stimmlokale die Institutionenbildung im Lande aufzuhalten, denn die Iraker bekundeten ihren Willen nach demokratischen Verhältnissen mit beeindruckender Courage und beteiligten sich mehrheitlich an den Wahlen und Abstimmungen zur irakischen Nationalversammlung (30. Januar), Regierung (4. Mai), Verfassung (15. Oktober) und zum Parlament (15. Dezember). Der neu gewählten Regierung gelang es allerdings bislang nicht, die nach wie vor nicht befriedigende Sicherheitslage in den Griff zu bekommen. Den Terroristen im Irak geht es vor allem darum, die Ziel: Abzug der Alliierten durch Anschläge auf militärische und zivile Alliierten Objekte zu zermürben und zu einem Abzug zu zwingen. Der Truppenabzug einiger Staaten sowie die Rückbeorderung A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 123 von Mitarbeitern internationaler Hilfsorganisationen und der UNO machen deutlich, dass die Entführungen und Tötungen von Geiseln sowie die Behinderung jeglicher Maßnahmen zur Wiederherstellung von Sicherheit und Infrastruktur im Lande ihre Wirkung nicht verfehlen. In seiner Mischung aus fanaTerror gegen tisch-religiösen, politischen und Zivilgesellschaft kriminellen Motiven richtet das Zarqawi-Netzwerk seine Angriffe im Irak darüber hinaus gegen die christliche Minderheit, gegen jene sunnitischen Bevölkerungsteile, die mit den Alliierten oder der neuen Regierung kooperieren sowie gegen die von ihm als religiöse Abtrünnige diffamierte schiitische Bevölkerungsmehrheit. Mit beispiellosen Anschlagsserien auf Moscheen und religiöse Zeremonien der Schiiten, denen neben unzähligen Zivilisten zahlreiche Vertreter aus Politik und Geistlichkeit zum Opfer Anti-schiitische fielen, verfolgt es seit 2004 eine betont anti-schiitische BürgerkriegsBürgerkriegsstrategie, die die Zerstörung des labilen Gleichstrategie gewichts zwischen den Volksgruppen und Religionsgemeinschaften zum Ziel hat. Dem Zarqawi-Netzwerk geht es darum, im Irak einen Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten zu entfesseln und schiitische Gegenschläge zu provozieren. Die Aufrechterhaltung eines permanent chaotischen Umfelds soll die Existenz militanter Gruppen im Irak sichern und eine Ausgangsbasis für den Export des Jihad in die umliegenden arabischen Staaten Syrien, Jordanien, Saudi-Arabien und Kuwait bilden. Inner-islamistische Kritik am Zarqawi-Netzwerk Die exzessive Gewaltanwendung des Zarqawi-Netzwerks stößt inzwischen nicht nur bei breiten muslimischen Bevölkerungsteilen auf Kritik, sondern Kritik kommt auch aus inner-islamistischen Kreisen. Gruppen wie die ägyptische Kritik: Falsches "al-Jama'a al-islamiya" ("Die islamische Gemeinschaft") Verständnis des und der "al-Jihad al-islami" ("Der islamische Kampf"), welJihad che früher selbst terroristisch aktiv waren oder es noch sind, werfen Zarqawi vor allem ein falsches Verständnis des Jihad 124 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 vor und betonen, dass mit dem Jihad nicht das Töten von Frauen, Kindern und Greisen - gleich, ob Muslime oder Nichtmuslime - gerechtfertigt werden könne.170 Scharfe Kritik am Vorgehen Zarqawis äußert auch Abu Muhammad al-Maqdissi (bürgerlich Issam al-Barqawi), geistlicher Mentor Zarqawis und Gründer der Gruppe "Gefolgschaftseid für den Imam" ("Bai'at al-Imam"), der Zarqawi in den 90er Jahren angehörte. Maqdissi kritisiert insbesondere die Praxis der Selbstmordanschläge, die aus seiner Sicht allenfalls als ein letztes Kampfmittel eingesetzt werden dürften, sowie die gezielte Tötung von Zivilpersonen. Ferner weist er die von Zarqawi betriebene Exkommunizierung und Ermordung der irakischen Schiiten als nicht seinen und anderen salafistischen Lehrauffassungen entsprechend zurück.171 Ein stärker strategisch ausgerichtetes Argument gegen die Strategische Aktionen des Zarqawi-Netzwerks führt dagegen ein Aiman Argumente al-Zawahiri zugeordnetes Schreiben vom 11. Oktober an. Das Vorgehen des Zarqawi-Netzwerks sei der Sache der Jihadisten und der Gesamtstrategie "al-Qa'ida"s schädlich. Der an Zarqawi gerichtete Brief kritisiert insbesondere, dass die unterschiedslose Tötung muslimischer Zivilisten und gemäßigter Religionsgelehrter der Glaubwürdigkeit "alQa'ida"s schade und sie der Unterstützung in der Bevölkerung für die Schaffung islamistischer Staatswesen beraube. In der Kritik noch weiter geht die ägyptische "al-Jama'a alislamiya", die sich von eigenen Terroraktivitäten der vergangenen Jahrzehnte inzwischen distanziert hat. Sie wirft sowohl dem Zarqawi-Netzwerk als auch "al-Qa'ida" vor, durch terroristische Akte - etwa die Sprengung der ägyptischen 170 Pressetext Al-Arabiya 11.7.2005 ("Zarqawi weiß nicht, was der Jihad bedeutet. Ägyptische Islamisten: Ziel der "al-Qa'ida" ist es, die Schiiten und die Kurden zu vernichten und nicht den Irak zu befreien."). 171 Al-Hayat 26.7.2005 ("Meinungsverschiedenheit zwischen al-Zarqawi und al-Maqdissi über die Priorität des Jihad oder den Vorrang der "selbstständigen Rechtsfindung"). A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 125 Botschaft in Pakistan oder die Ermordung des ägyptischen Botschafters in Bagdad - der islamistischen Sache insgesamt zu schaden sowie in der Vergangenheit gravierende strategische Fehler begangen zu haben. Hierzu zählt sie insbesondere die Angriffe vom 11. September 2001, die letztendlich zum Sturz des Taliban-Regimes in Afghanistan, zur Besetzung des Irak durch ausländische Truppen und zu einer "beispiellosen [...] Attacke gegen den Islam" geführt hätten.172 3.2.5 Audiound Videobotschaften von "al-Qa'ida" Mittels der von Bin Ladin, Aiman al-Zawahiri, Abu Mus'ab al-Zarqawi sowie weiteren diversen Gruppen über kommerzielle pan-arabische Fernsehsender wie "al-Jazeera" und Medienoffensive "al-Arabiya" verbreiteten Audiound Videobotschaften führen "al-Qa'ida" und ideologisch verwandte Gruppen eine professionelle Medienoffensive. Diese zielt auf die Steigerung der medialen Wirkung von Terroranschlägen sowie die Mobilisierung von Anhängern und die Rekrutierung neuer Attentäter. Ideologische Feindbilder Zu den wichtigsten ideologischen Bestandteilen der Audiound Videobotschaften aus dem Umfeld von "al-Qa'ida" "Exkommunizierungen" gehören - neben der Forderung nach "wahrhaft islamischer Herrschaft" und der Vertreibung ausländischer Truppen aus der Region - vor allem die Exkommunizierung (takfir) von als "nicht Islam-konform" verketzerten Muslimen und die Stigmatisierung von Nicht-Muslimen als vermeintliche "Ungläubige". Um die Gewaltanwendung gegen beide zu rechtfertigen, beruft sich "al-Qa'ida" vor allem auf den Jihad als Gewalt: vorgeblich legitime Form des Kampfes. Den Jihad deklaRechtfertigung durch Jihad rieren die Terroristen selbst im Falle eigener Angriffe als Verteidigung, erheben ihn zu einer vermeintlich indi172 Pressetext Al-Arabiya, 11.7.2005. 126 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 viduellen Pflicht eines jeden Muslims und versuchen, auf diese Weise Anschläge und Massenmord zu rechtfertigen. Hierzu agitieren die Audiound Videobotschaften mit teils drastischen Feindbildern. Diese betreffen nicht allein - als vermeintliche "Ungläubige" diffamierte und zu "Kreuzzüglern" erklärte - Juden und Christen, sondern auch jene Mehrzahl der Muslime, die den politischen Vorstellungen der Militanten, ihrem Bild eines "system-konformen" Muslims oder ihrer eng gefassten salafistischen Islam-Interpretation entgegen stehen. So zielen die Jihadisten mit ihrer pseudoreligiös legitimierten Ausgrenzung auf fast sämtliche politische Führer in den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens, deren Herrschaft sie als vermeintlich unislamisch ablehnen. Im Irak betreffen die Gewaltaufrufe aus dem Umfeld von "al-Qa'ida" vor allem die ethnische Gruppe der Kurden sowie Angehörige der schiitischen Konfession. Deren Tötung suchen die Militanten mit "Kollaboration" sowie mit vorgeblicher Häresie (Schiiten stellen eine heterodoxe Strömung im Islam dar) zu begründen. Hauptinhalte der Audiound Videobotschaften Durchgängiges Element der 2005 in Umlauf gebrachten Audiound Videobotschaften sowie Interneterklärungen aus Anschlagsdrohungen dem Umfeld von "al-Qa'ida" waren gezielte, wenn auch wenig konkretisierbare Anschlagsdrohungen, die eine internationale und eine regionale Dimension aufweisen. Die Anschlagsdrohungen richteten sich vor allem gegen die USA, gegen Israel sowie gegen jene Staaten, die im Irak oder in Afghanistan Truppen unterhalten oder die dortigen neuen Regierungen durch anderweitige Hilfsmaßnahmen unter- A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 127 stützen. Mit dem Tode bedroht wurden ferner Mitarbeiter der Vereinten Nationen sowie Regierungsvertreter, Wähler und Kandidaten der Wahlen und Abstimmungen im Irak. Darüber hinaus wurden erneut fast sämtliche politische Führer in der muslimischen Ländern (in den arabischen Staaten, in Pakistan und in Afghanistan) für exkommuniziert erklärt und "die Muslime" zum Sturz ihrer Regierungen aufgerufen. Ferner wurde an "alle Muslime" appelliert, im Namen des Jihad einen weltweiten Kampf gegen so genannte "Kreuzritter", d. h. westliche Ziele, zu führen, und militante Organisationen sowie terroristische Kleingruppen wurden für Anschläge gelobt. Von Usama Bin Ladin gab es 2005 keinerlei Videooder AudiobotBin Ladin schaften. Erst am 19. Januar 2006 meldete er sich in einer als authentisch betrachteten Audiobotschaft zu Wort. Hierin drohte er den USA mit Anschlägen in ihrem Lande und bot ihnen einen Waffenstillstand an, falls sie ihre Truppen aus Afghanistan al-Zawahiri und dem Irak zurückzögen. Mittels der Audiobotschaft, die vor allem den - sowohl gegenüber der westlichen Staatengemeinschaft als auch den Anhängern und Sympathisanten "al-Qa'ida"s demonstrierten - Nachweis zum Ziel hat, dass er nach wie vor am Leben ist, soll vor allem der Eindruck vermittelt werden, dass Bin Ladin weiter in operative Planungen des Terrornetzwerks eingebunden sei und diese steuere. Darüber hinaus versucht Bin Ladin, sich weiter als antiimperialistischer Kämpfer und als politisch-religiöse Führungsfigur der gesamten muslimischen Welt zu präsentieren. Im Zentrum der auch 2005 von "alQa'ida" fortgesetzten Medienoffensive standen elf Videobotschaften von Aiman al-Zawahiri, dem Stellvertreter von Usama Bin Ladin. Mittels szenischer Mittel, die ihn mit Turban, 128 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 weißem Gewand und Kalaschnikow zeigen, versucht al-Zawahiri, sich als religiöse Person zu stilisieren und den ungebrochenen Kampfeswillen "al-Qa'ida"s zu demonstrieren. So betont al-Zawahiri in mehreren Botschaften den militanten Jihad und die Notwendigkeit, diesen unvermindert fortzusetzen.173 Ziel des Jihad sollten vor allem die Regierungen Ägyptens, Saudi-Arabiens und Pakistans sein,174 die er zu "unislamischen diktatorischen Regimen" erklärt175 und deren Staatsoberhäupter - etwa den pakistanischen Premierminister Parviz Musharraf - er als vermeintliche Ungläubige diffamiert.176 Im Fokus seiner Kritik standen ferner westliche Demokratieund Reformbemühungen in den muslimischen Ländern. Er Kritik an Reformen verurteilte insbesondere die erfolgreichen Parlamentswahlen in Afghanistan in Afghanistan177 sowie die Wahlen in den palästinensischen Gebieten und lehnte sie wegen ihrer "säkularen Verfassung" als vermeintlich unislamisch ab.178 Die beiden islamistischen Gruppen HAMAS und "Palästinensischer Islamischer Jihad" (PIJ) warnte er wiederum davor, ihre Gewaltorientierung aufzugeben und sich von "islamfeindlichen" Kräften wie der palästinensischen Autonomiebehörde in das vorgesehene politische System integrieren zu lassen.179 Westlichen Bemühungen um Demokratie und Stabilisierung im Nahen und Mittleren Osten stellte al-Zawahiri Forderungen nach einer islamistischen Reform gegenüber, die drei Punkte umfassen solle. Diese betreffen die Einführung der Scharia als einzige Quelle der Rechtsprechung, die Befreiung der muslimischen Länder von ausländischer 173 Videobotschaften al-Zawahiri 31.1.2005 und 17.6.2005. 174 Videobotschaft al-Zawahiri 17.6.2005. 175 Videobotschaft al-Zawahiri 10.2.2005. 176 Videobotschaft al-Zawahiri 13.10.2005. 177 Videobotschaft al-Zawahiri 19.9.2005. 178 Videobotschaft al-Zawahiri 17.6.2005. 179 Videobotschaft al-Zawahiri 19.9.2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 129 Besatzung sowie die Freiheit der islamischen Gemeinschaft aller Muslime (Umma).180 Gegenstand mehrerer Videobotschaften waren die von ihm als "gesegneter Kriegszug"181 bezeichneten Anschläge von London am 7. Juli, für die er die britische Regierung Kommentar zu Anschlägen in verantwortlich machte und die er mit deren Weigerung, auf London das von Bin Ladin 2004 unterbreitete "Friedensangebot"182 einzugehen, begründete.183 Darüber hinaus bezeichnete er jene Mehrzahl muslimischer Staatsführer und Theologen, die die Terroranschläge auf das Schärfste verurteilt hatten, als "Verräter". Interessanterweise ließ al-Zawahiri die Verurteilung der Anschläge durch andere islamistische Organisationen unkommentiert. Ausdrücklich verurteilt hatten die Anschläge von London sowohl nicht-gewaltorientierte Gruppen wie die "Muslimbruderschaft" als auch regional gewaltorientierte Gruppen wie die HAMAS oder die "Hizb Allah". In einem weiteren Video stellte al-Zawahiri die Behauptung auf, die Londoner Anschläge seien im Namen von "alQa'ida" ausgeführt worden.184 Das Bekenntnis zu den Anschlägen ist aus Sicht der Sicherheitsbehörden bisher allerdings nicht als Beweis für die operative Einbindung der "alQa'ida"-Führung zu werten. Vielmehr scheint "al-Qa'ida" die Anschläge nachträglich ideologisch zu vereinnahmen, um der Öffentlichkeit ihre Handlungsfähigkeit sowie ihren Einfluss auf die internationale Jihadisten-Bewegung zu demonstrieren. Wie in vorherigen Botschaften, in denen dem Westen verheerende Anschläge und der Zusammenbruch ihrer Wirt180 Videobotschaft al-Zawahiri 17.6.2005. 181 Videobotschaft al-Zawahiri 19.9.2005. 182 Mit dem "Friedensangebot" Bin Ladins vom 15.4.2004 war den europäischen Nationen ein Aussetzen der Anschläge in Aussicht gestellt worden, falls sie binnen dreier Monate ihre Truppen abzögen und auf eine politische Einflussnahme im Mittleren Osten verzichteten. 183 Videobotschaften al-Zawahiri 4.8. und 1.9.2005. 184 Videobotschaft al-Zawahiri 19.9.2005. 130 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 schaftssysteme prophezeit worden waren,185 flankierte alZawahiri sein Bekenntnis zu den Londoner Anschlägen mit Weitere weiteren Anschlagsdrohungen und versuchte, diese erneut Anschlagsdrohungen mit der britischen Politik im Mittleren Osten und der Ablehnung des so genannten "Friedensangebots" Bin Ladins vom April 2004 zu begründen.186 Seine Drohungen richtete er insbesondere gegen jene Staaten, die in muslimischen Ländern Truppen stationiert haben oder den dortigen Regierungen Hilfe leisten. Nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden sind mit diesen implizit auch gegen Deutschland gerichteten Drohungen weltweit deutsche Einrichtungen gefährdet. Die an Hand von acht Audiobotal-Zarqawi schaften vorliegende Propaganda von Abu Mus'ab al-Zarqawi beinhaltet vor allem Drohungen gegen die alliierten Truppen im Irak187 sowie an die Iraker gerichtete Warnungen, sich an den demokratischen Prozessen im Lande zu beteiligen und mit der neuen irakischen Regierung, die er als "vom Islam abgefallen" diffamiert,188 zusammenzuarbeiten.189 Ferner betonte er mehrfach die Fortsetzung des bewaffneten Jihad ohne territoriale Begrenzung190 und bekannte sich zu zahlreichen - etwa den im Namen der "Löwen der Einheit Gottes" verübten - Autobombenund Selbstmordanschlägen.191 Im Mittelpunkt seiner Botschaften steht darüber hinaus die Drohung an Schiiten an die Sunniten im Irak gerichtete Aufforderung, die Schiiten gewaltsam zu bekämpfen.192 Die exzessive Tötung von Zivilpersonen versuchte er damit zu rechtfertigen, dass 185 Videobotschaft al-Zawahiri 10.2.2005. 186 Videobotschaft al-Zawahiri 4.8.2005. 187 Audiobotschaft al-Zarqawi 29.4.2005. 188 Audiobotschaft al-Zarqawi 18.5.2005. 189 Audiobotschaft al-Zarqawi 23.1. und 29.4.2005. 190 Audiobotschaft al-Zarqawi 29.4. und 5.7.2005. 191 Audiobotschaft al-Zarqawi 14.9.2005. 192 Audiobotschaft al-Zarqawi 14.9.2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 131 Autobombenund Selbstmordanschläge einem höheren Zweck, nämlich dem Jihad gegen "Ungläubige", dienten und dass im Kampf gegen die amerikanische Besatzung der Tod von Zivilisten in Kauf genommen werden müsse.193 Der Kritik seines geistlichen Mentors Abu Muhammad alMaqdissi an der Tötung von Zivilisten und Schiiten begegnete er damit, dass er dessen Äußerungen als den "Interessen der Kreuzfahrer" dienlich abqualifiziert.194 3.2.6 Internet Zu einem zentralen Instrument der propagandistischen Vorbereitung und der nachträglichen Legitimation von Terrorismus ist in den vergangenen Jahren vor allem das Medium Internet geworden. Wie die immens gestiegene Zahl Zentrales Instrument islamistischer Websites zeigt, nutzen "al-Qa'ida" und Sympathisanten das World Wide Web mit zunehmender Intensität. Als kaum kontrollierbar erweisen sich neben den mehr als 4 000 offen zugänglichen islamistischen Websites insbesondere das Schatten-Web (dark web) oder geschlossene Benutzergruppen im so genannten hidden web. Ziel der über offene Internetseiten und schwer zugängliche chatrooms verbreiteten Propaganda ist vor allem die Rekrutierung potenzieller Attentäter, ihre ideologische Schulung sowie die Verbreitung konkreter Handlungsanleitungen für Anschläge. Da auf diese Weise zentrale Teile der von "al-Qa'ida" verfassten "Enzyklopädie des Jihad" ungehindert verbreitet werden, droht sich über das Internet eine virtuelle Gemeinschaft potenzieller Jihadisten herauszubilden. Die frei von geografischen Grenzen kommunizierbare Jihad-Ideologie kann, wie die Anschläge von Madrid und London vermuten las193 Audiobotschaft al-Zarqawi 18.5.2005. 194 Audiobotschaft al-Zarqawi Juli 2005. 132 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 sen, auch auf organisatorisch nicht an "al-Qa'ida" gebundene Personen stimulierend wirken. Einige der zahlreichen islamistischen Internetpublikationen Professionalisierung weisen eine bemerkenswerte Professionalität auf. Zu den auf häufig wechselnden Rechnern, über freeserver oder über verdeckt genutzte Fremdserver ins Netz gestellten Internetmagazinen zählen neben den Online-Magazinen "Mu'askar al-Battar" ("Battar-Militärlager"), "Saut al-Jihad" ("Stimme des Jihad"), neue Magazine wie "al-Qal'a" (die Festung"), "tajdid" ("Neuerung") oder "al-mas'ada" ("die Löwenhöhle"). Zentrales Publikationsforum des NetzZentral: Islamic werks "al-Qa'ida" und seiner SympathiMedia Center santen ist seit 2004 das "Islamic Media Centre" (IMC). In diesem Forum, das umfangreiche Propagandasammlungen verschiedenster islamistischer Gruppen anbietet, finden sich neben gewaltverherrlichender Jihad-Propaganda detaillierte Anleitungen zum Bombenbau, Giftund Waffenbücher sowie als vermeintliche Rechtsgutachten (Fatwas) deklarierte Gewaltpamphlete selbsternannter Muftis. Teil des Angebots einer sich "Global Islamic Media Front" (GIMF) bezeichnenden Plattform ist eine Nachrichtensendung namens "Saut al-Khilafa" (Stimme des Kalifats). Diese polemisiert mit dem Slogan "ein wahres Wort gegenüber der Unwahrheit" heftig gegen sämtliche westlichen wie auch die pan-arabischen Fernsehsender "alJazeera" und "al-Arabiya". Hier werden aktuelle politische Ereignisse aus Sicht der Jihadisten dargestellt, neue Attentäter angeworben und Gewalttaten pseudoreligiös legitimiert. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 133 Ein wichtiges Element der Internet-Propaganda ist auch die Desinformation mittels vermeintDesinformation licher Selbstbezichtigungsschreiben. Ziel dieser etwa von den "Abu Hafs al-Masri Brigaden" verbreiteten, allerdings als nicht authentisch geltenden Botschaften ist die Irreführung der Sicherheitsbehörden in den westlichen Staaten, die Aufrechterhaltung eines Zustands permanenter Anschlagsgefahr sowie die Verbreitung von Angst und Schrecken vor Terroranschlägen unter der Bevölkerung. Im Rahmen der vom Netzwerk "al-Qa'ida" und seinen Sympathisanten verfolgten Taktik, in einem über Fernsehund Geiselvideos Internetbotschaften geführten "Medienkrieg" Terrordrohungen gegen westliche Staaten und mittelöstliche Regierungen zu richten, wird weiter auf den Einsatz von Geiselvideos gesetzt. Zweck dieser vor allem auf die Einschüchterung der Öffentlichkeit in den westlichen Staaten zielenden Videos, in denen nicht zuletzt die Effekte bestialischer Tötungen bewusst einkalkuliert sind, ist die Erpressung und Abschreckung westlicher und mittelöstlicher Regierungen im Sinne von "al-Qa'ida". Für Strafverfolgungsbehörden ergibt sich das Problem, dass die Internet-Auftritte extremistischer Personenzusammenschlüsse meist auf ausländischen Servern eingestellt werden und so das nationale Strafrecht nicht angewandt werden kann. 3.3 Prozesse und Exekutivmaßnahmen Dem internationalen islamistischen Terrorismus wird in der Bundesrepublik mit einem intensiven Verfolgungsdruck Intensiver begegnet. Ende 2005 wurde in 192 Verfahren mit islamisVerfolgungsdruck tisch-terroristischem Hintergrund ermittelt, davon führten 96 Verfahren das Bundeskriminalamt und 96 die Länder. 2005 standen für Berlin und Deutschland die Prozesse und "Ansar al-Islam"Exekutivmaßnahmen um die Organisation "Ansar alProzesse Islam () im Mittelpunkt. Insbesondere die Ermitt- 134 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 lungsergebnisse bezüglich des vereitelten Anschlags auf den damaligen irakischen Ministerpräsidenten Dr. Iyad Hashim Allawi während seines Staatsbesuchs am 2./3. Dezember 2004 in Berlin belegen, dass aktuell in Deutschland Strukturen der "Ansar al-Islam" existieren, die für diese Organisation nicht nur werbend und unterstützend tätig sind, sondern auch terroristische Aktivitäten auf deutschem Boden entfalten. In diesem Zusammenhang steht das Verfahren gegen Lokman M. vor dem Oberlandesgericht München, der u. a. wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung verurteilt wurde. Dass Berlin für terroristische Gruppen ein Anschlagsziel sein "Al-Tawhid"kann, zeigen ebenfalls der Prozess gegen Ihsan G. und der Prozess "Al-Tawhid"-Prozess. Beide Verfahren wurden 2005 abgeschlossen, wobei es jedoch nur im "Al-Tawhid"-Prozess zu einer Verurteilung wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung kam. Die Verfahren im Zusammenhang mit dem 11. September Verfahren 2001 gegen Mounir El-Motassadeq und Abdelghani Mzoudi 11. September in Hamburg wurden beendet. Sie zeigten die grundlegende Schwierigkeit, dass die Aufklärung der klandestinen terroristischen Vereinigungen vielfach nur durch nachrichtendienstliche Mittel möglich ist, welche jedoch in den Prozessen in der Regel nicht als Beweismittel verwendbar sind. Von den länderübergreifenden Durchsuchungen im Zuge der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München I gegen Mitglieder eines islamistisch-extremistischen Netzwerks am 12. Januar war auch ein Objekt in Berlin betroffen. 3.3.1 "Ansar al-Islam" Islamistische Kurden Bei der im September 2001 im Nordirak gegründeten "Ansar al-Islam" (in anderen Zusammenhängen auch als "Ansar al-Sunna" bezeichnet) handelt es sich um eine Organisation überwiegend islamistischer Kurden, die sich auch Vorbild: mit Waffengewalt für die Errichtung eines islamistischen Taliban-Regime Staatswesens im Irak nach dem Vorbild des früheren Taliban-Regimes in Afghanistan einsetzt. Zu ihrer logistischen und finanziellen Unterstützung unterhält die Organi- A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 135 sation auch in Westeuropa ein Netzwerk. Bezüglich der Mitgliederstärke gibt es keine gesicherten Zahlen. Vereitelter Anschlag auf den irakischen Ministerpräsidenten Wegen des Verdachts der Mitgliedschaft bei "Ansar al-Islam" hat der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof am 10. November gegen die drei irakischen Staatsangehörigen Ata A. R. aus Stuttgart, Mazen A. H. aus Augsburg und Rafik Y. aus Berlin vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart Anklage erhoben. Sie sollen als Mitglieder - der Angeklagte Ata A. R. als Anklagevorwurf: Terroristische Rädelsführer - von Deutschland aus für die ausländische terVereinigung roristische Vereinigung195 vornehmlich in den Bereichen Finanzierung und Rekrutierung tätig gewesen sein. Ata A. R. und Mazen A. H. werden zugleich der Begehung von Verstößen gegen das Außenwirtschaftsgesetz verdächtigt.196 Allen Angeschuldigten wird zudem eine Übereinkunft zur Tötung des ehemaligen irakischen Ministerpräsidenten Dr. Iyad Hashim Allawi zur Last gelegt.197 Die drei irakischen Staatsangehörigen waren am 3. Dezember 2004 vorläufig festgenommen worden und befinden sich seitdem in Untersuchungshaft. Die Hinweise auf Anschlagspläne hatten sich aus einer Vielzahl verschlüsselt geführter Telefongespräche ergeben. Sie zeigten, dass der Beschuldigte Rafik Y. aus Berlin konkrete Überlegungen zur Umsetzung eines Anschlags auf den Staatsgast anstellte und in den Abendstunden des 2. Dezember 2004 zur Vorbereitung der Tat eine Ausspähungsfahrt in Berlin unternahm, nachdem die weiteren Beschuldigten ihm die Erlaubnis zur Ausführung des Vorhabens erteilt hatten. In diesem Zusammenhang waren auch zehn Objekte in Augsburg, Stuttgart und Berlin durchsucht worden. Sprengstoff, Waffen oder sonstige zur 195 SSSS 129 a, 129 b StGB. 196 SS 34 Abs. 4 AWG. 197 SS 30 Abs. 2 StGB. 136 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Herstellung von Sprengstoff geeignete Utensilien wurden nicht gefunden. Erste Verurteilung wegen "Ansar al-Islam"-Bezug Am 12. Januar 2006 verhängte der 6. Strafsenat des MünErstmals chener Oberlandesgerichts - dem Antrag der BundesanwaltSS 129 b StGB schaft folgend - sieben Jahre Haft gegen Lokman M. wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung, der bandenmäßigen Einschleusung von Ausländern und Betrugs. Damit erfolgte erstmals in der Bundesrepublik eine Verurteilung wegen Mitgliedschaft in kriminellen und terroristischen Vereinigungen im Ausland sowie Werbung und Unterstützung für diese (Paragraph 129b StGB). Der Angeklagte bestritt den Hauptvorwurf, Mitglied in der ausländischen terroristischen Organisation "Ansar al-Islam" zu sein, räumte aber ein, bei der Schleusung von Landsleuten geholfen zu haben. Weiteres Verfahren gegen Unterstützer der "Ansar alIslam" Am 21. Dezember hat der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof Anklage gegen den irakischen StaatsanLogistische und gehörigen Dieman A. I. vor dem Staatsschutzsenat des Oberfinanzielle landesgerichts München erhoben. Er soll seit Ende 2002 in Unterstützung drei Fällen von der Bundesrepublik Deutschland aus die "Ansar al-Islam" logistisch und finanziell unterstützt und um Unterstützung für die Organisation geworben haben. Zugleich werden ihm gewerbsmäßiger Betrug und Verstöße gegen das Außenwirtschaftsgesetz zur Last gelegt. Der 40-jährige Dieman A. I. war am 14. Juni zusammen mit zwei weiteren mutmaßlichen Unterstützern der "Ansar alIslam" festgenommen worden. Im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen diese drei Beschuldigten sowie gegen elf weitere mutmaßliche Unterstützer der "Ansar al-Islam" wurden in Baden-Württemberg, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Hamburg 24 Objekte durchsucht. Die Beschuldigten sind verdächtig, vom Bundesgebiet aus Gelder für die "Ansar al-Islam" gesammelt oder Hilfstätig- A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 137 keiten wie etwa Kurierund Fahrerdienste für die Vereinigung ausgeführt zu haben. Darüber hinaus sind sie verdächtig, einen Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz begangen zu haben. 3.3.2 Prozess wegen Verdachts der Gründung einer terroristischen Vereinigung in Berlin Am 6. April wurde Ihsan G. vom Berliner Kammergericht198 Freiheitsstrafe zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten Ihsan G. wegen Steuerhinterziehung, Verstößen gegen das Waffengesetz und das Ausländergesetz sowie wegen Urkundenfälschung verurteilt.199 Das Gericht hielt es für erwiesen, dass Ihsan G. im Ausland Sprengstoffeine Ausbildung für den gewaltsamen Jihad durchlaufen und anschläge geplant geplant hatte, in Deutschland vermutlich zu Beginn des IrakKriegs 2003 zumindest einen Sprengstoffanschlag auf jüdische und US-amerikanische Ziele in der Bundesrepublik zu begehen. Dem Vorwurf des Generalbundesanwalts, dass G. zu diesem Zweck in Berlin gleichgesinnte Muslime gewinnen und sie zu einer nach außen abgeschotteten Vereinigung zusammenführen wollte (Vorwurf der Gründung einer terroristischen Vereinigung nach SS 129 a StGB),200 sah das Gericht jedoch nicht als erwiesen an. Es sei lediglich festgestellt worden, dass G. mehrere Personen zu überzeugen versucht hatte, mit Gewalt gegen "Ungläubige", also gegen Nichtmuslime, vorzugehen. Dies wertete das Gericht nicht als Bildung einer terroristischen Vereinigung, da diese "... einen auf eine gewisse Dauer angelegten Zusammenschluss von mindestens drei Personen voraus[setze], die mehrere im Gesetz im Einzelnen aufgezählte, erhebliche 198 2 StE 1/04-5/1/04. 199 Die Revision des Angeklagten wurde vom Bundesgerichtshof durch Beschluss vom 8.2.2006 als unbegründet verworfen. Az: 5 StR 515/05. 200 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 129 f. 138 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Straftaten begehen wollen, wie etwa Mord, Totschlag oder Sprenstoffanschläge".201 3.3.3 Urteilsverkündung im "Al-Tawhid"Verfahren Am 26. Oktober hat der 6. Senat des Oberlandesgerichts Freiheitsstrafe Düsseldorf im so genannten zweiten "Al-Tawhid"-Verfahren "Al-Tawhid"Prozess gegen Mitglieder der terroristischen "Al-Tawhid"-Bewegung202 die Angeklagten zu Freiheitsstrafen von fünf bis zu acht Jahren verurteilt. Nach den Feststellungen des Senats hatten drei der Angeklagten als Mitglieder einer terroristischen Zelle in Deutschland auf Anweisung des international gesuchten Terroristen al-Zarqawi Anschläge auf jüdische Ziele in Düsseldorf und Berlin vorbereitet (SS 129a Abs. 1 StGB). Des Weiteren hatten sie Urkundenfälschungen begangen, indem sie Kampfgenossen im Ausland mit Falschpapieren versorgten. Den vierten Angeklagten verurteilte das Gericht wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Nach Ausführungen des Vorsitzenden des 6. Senats sei es nur der Wachsamkeit der Nachrichtendienste und Strafverfolgungsbehörden zu verdanken gewesen, dass es nicht zu einem oder mehreren Anschlägen dieser Vereinigung in Deutschland gekommen ist. 201 Pressemitteilung der Justizpressestelle Moabit 18/2005 vom 6.4.2005. 202 Der in den einschlägigen Publikationen in der englischen Schreibweise mit "Tawhid" wiedergegebene Begriff "Tauhid" beschreibt das Prinzip des Monotheismus, der absoluten und unteilbaren Einheit Gottes nach der islamischen Lehre. Für die islamistischen Gruppen umfasst der Begriff jedoch auch das ideologische Konzept eines einheitlichen Weltbildes, das für ihre Anhänger zwingend vorgeschrieben ist. Der mehrdeutige Begriff taucht in den Bezeichnungen zahlreicher islamistischer Organisationen auf. Hierzu zählt auch das im folgenden Beitrag erwähnte Terrornetzwerk "Jama'at al-tauhid wa'l-jihad" ("Gruppe für das Einheitsbekenntnis und den Jihad") des Abu Mus'ab al-Zarqawi. Die Organisation gab sich 2004 den Namen "Qa'idat aljihad fi bilad al-rafidain" ("Basis des Jihad im Zweistromland"). A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 139 3.3.4 Prozesse im Zusammenhang mit dem 11. September 2001 Mounir El-Motassadeq Am 19. August erging das Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts gegen Mounir El-Motassadeq. Er wurde zu einer siebenjährigen Freiheitsstrafe wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Vom Vorwurf Freiheitsstrafe der Beihilfe zum Mord in mehr als 3 000 Fällen wurde er hingegen freigesprochen. Da das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, wurde El-Motassadeq am 7. Februar 2006 aus der Haft entlassen. Seiner Verfassungsbeschwerde gegen den Widerruf des Haftverschonungsbeschlusses wurde vom Bundesverfassungsgericht stattgegeben. Am 19. Februar 2003 war erstmals ein Urteil des Hanseatischen Oberlandesgerichts gegen El-Motassadeq ergangen, in dem er in allen o. g. Anklagepunkten schuldig gesprochen und zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Dieses Urteil wurde am 4. März 2004 durch den Bundesgerichtshof (BGH) aufgehoben und zur Neuverhandlung an das Hanseatische Oberlandesgericht zurückverwiesen. Der BGH begründete dies damit, dass Aussagen des mutmaßlichen Mittäters Ramzi Binalshib, der sich im USGewahrsam befindet, nicht berücksichtigt werden konnten. Nach Auffassung des BGH dürfen Geheimhaltungsinteressen der Exekutive nicht grundsätzlich zu Lasten des Angeklagten gehen. Abdelghani Mzoudi Am 9. Juni bestätigte der BGH den Freispruch des HanFreispruch seatischen Oberlandesgerichts vom 5. Februar im Prozess gegen Abdelghani Mzoudi, der damit rechtskräftig wurde. Mzoudi war, ebenso wie El-Motassadeq, wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und der Beihilfe zum Mord in mehr als 3 000 Fällen angeklagt. Der BGH stellte fest, dass dem Hanseatischen OLG keine Rechtsfehler unterlaufen sind und somit das Urteil Bestand 140 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 hat. Zwar hatte Mzoudi unzweifelhaft enge persönliche Kontakte zu der Gruppe der Attentäter unterhalten, jedoch konnte nicht zweifelsfrei geklärt werden, dass er auch in die Anschlagspläne eingeweiht war.203 Am 21. Juni reiste Mzoudi freiwillig aus und kehrte nach Marokko zurück. 3.3.5 Bundesweite Durchsuchungsaktion gegen islamistisches Netzwerk Im Zuge der Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München I Verdacht: wegen Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung Kriminelle gegen Mitglieder eines islamistischen Netzwerks durchVereinigung suchten am 12. Januar polizeiliche Einsatzkräfte in fünf Bundesländern, vorwiegend im Raum Ulm / Neu-Ulm, Freiburg i. B., Frankfurt a. M., Düsseldorf und Bonn sowohl Wohnungen als auch Call-Shops und Moscheen. Mehrere Personen wurden festgenommen. Auch in Berlin fanden Durchsuchungsmaßnahmen statt. Die kriminelle Vereinigung, die sich ausgehend vom Raum Ulm/Neu-Ulm zusammengeschlossen habe, stehe im Verdacht, Urkunden-, Vermögensund Schleusungsdelikte begangen zu haben. Mit den dort gebildeten finanziellen Ressourcen sei sie zur Verfolgung ihrer ideologischen Ziele in der Lage gewesen, Personen mit falschen Dokumenten auszustatten, ihnen illegalen Aufenthalt unter falschen Personalien im Inund Ausland zu ermöglichen und andere Gruppierungen Gleichgesinnter finanziell zu unterstützen. Außerdem stehe sie im Verdacht, ihr Gedankengut in volksverhetzender Art und Weise verbreitet und Personen für den Jihad angeworben zu haben. Das "Multi-Kultur-Haus Ulm e. V." in Neu-Ulm, das bei den "Multi-Kultur-Haus Ulm" verboten Durchsuchungsmaßnahmen einbezogen war, wurde durch das Bayerische Staatsministerium des Innern in einem vereinsrechtlichen Verbotsverfahren im Dezember verboten. Der Ausländerverein richte sich u. a. gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung. Die islamistische Szene im Umfeld des Vereins 203 Presseerklärung des Bundesgerichtshofes 85/2005 vom 9.6.2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 141 war bereits seit längerer Zeit im Visier der bayerischen und baden-württembergischen Sicherheitsbehörden. 3.4 Türkische Islamisten In der türkisch islamistischen "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) hat sich die interne Diskussion zwischen Reformern und Traditionalisten über die zukünfInterne Diskussionen tige Ausrichtung der Organisation fortgesetzt, ohne dabei größere Außenwirkung zu entfalten. Während die reformorientierten Mitglieder eine Distanzierung von Erbakan sowie eine Neuausrichtung auf die veränderten Bedürfnisse der Anhänger der zweiten und dritten Generation in Europa fordern, sind die Traditionalisten weiter dem Gründer der Milli Görüs-Bewegung verbunden. Gleichzeitig gab die IGMG erneut ein widersprüchliches Bild in der Öffentlichkeit ab. Zum einen versucht die Organisation, ihr Image als politische Bewegung abzustreifen und sich als Religionsgemeinschaft zu präsentieren, die die Interessen türkischer Muslime vertritt und deren Integration fördert. Entgegen der Behauptung der IGMG, die Integration zu befürworten, appelliert die Organisation aber an ihre Mitglieder, sich von der deutschen Gesellschaft abzugrenzen. Zum anderen belegen fortbestehende enge Verbindungen der IGMG zu Necmettin Erbakan, zur SP sowie zu deren Sprachrohr "Milli Gazete" ("Nationale Zeitung"), dass die IGMG nach wie vor Teil der islamistischen Milli-Görüs-Bewegung ist. Bei einer Gesamtbetrachtung der IGMG kann man in Teilen der Organisation Ansätze erkennen, sich von der islamistischen Ideologie frei zu machen. Ob dieser Prozess gelingen wird, innerhalb welchen Zeitraums er sich realistischerweise vollziehen kann und ob der zur Zeit beherrschende Einfluss der demokratische Werte ablehnenden Traditionalisten überwunden werden kann, bleibt offen. Jedenfalls ist eine Distanzierung von der Ideologie Erbakans bisher nicht erkennbar. 142 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Gründung eines neuen Dachverbandes Für die Interessenvertretung beabsichtigen mehrere islamische Verbände die Gründung eines neuen bundesweiten Bundesweite muslimischen Dachverbandes. Über ihre Mitgliedschaft in Organisation geplant dem von ihr dominierten "Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland e. V." (Islamrat) ist die IGMG an dieser Initiative beteiligt. Ziel soll sein, mittels "einheitlicher demokratischer und föderativer Organisationsstrukturen zur Vertretung der Muslime auf Landesund Bundesebene" dem Staat in Fragen, die die Muslime in Deutschland betreffen, einen "legitimen Ansprechpartner" zur Verfügung zu stellen. Im Vordergrund soll dabei das Thema "Islamischer Religionsunterricht an öffentlichen Schulen" stehen. Ein erstes Treffen mehrerer islamischer Verbände fand auf Initiative des Islamrats und des "Zentralrats der Muslime in Deutschland e. V." (ZMD) am 26./27. Februar in Hamburg statt. Beteiligt waren neben diesen beiden Organisationen der "Verband der islamischen Kulturzentren e. V." (VIKZ), die "Islamische Religionsgemeinschaft Hessen e. V." (IRH), die SCHURA-Hamburg, die SCHURA-Niedersachsen und die "Islamische Glaubensgemeinschaft Baden-Württemberg".204 Es bleibt abzuwarten, ob der neue Verband als Alleinvertretung von muslimischer Seite akzeptiert wird. Nur ein Viertel der in Deutschland lebenden Muslime ist in islamischen Vereinen organisiert. Darüber hinaus ist die "Türkisch-islamische Union der Anstalt für Religion e. V." (DITIB) - der für türkische Muslime in Deutschland wichtigste Dachverband - nicht an der Initiative beteiligt. Des Weiteren ist hinsichtlich des angestrebten Dialogs zu berücksichtigen, dass - mit der IGMG als dominierendes Mitglied des Islamrats sowie mit Anhängern der ägyptischen Muslimbruderschaft über die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) als Mitglied im ZMD - islamis204 Pressemitteilung von Islamrat und ZMD vom 28.2.2005, "Milli Gazete" vom 2.3.2005 und www.qantara.de "Islamische Verbände in Deutschland - Sprechen mit einer Stimme? vom 9.12.2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 143 tische Organisationen einen Einfluss auf die neue Interessenvertretung haben werden. Verbindung der IGMG zu Milli Gazete, Erbakan und SP Das Bestreben der IGMG, sich als Religionsgemeinschaft zu präsentieren, geht mit der Behauptung einher, sie würde Teil der MGkeine islamistischen Positionen mehr vertreten.205 Im GegenBewegung satz dazu läßt sich feststellen, dass die IGMG weiterhin eine eigenständige islamistische türkische Identität zu vermitteln versucht, die sich in Abgrenzung zur freiheitlichen deutschen Gesellschaft definiert. Sie ist nach wie vor Teil der islamistischen Milli Görüs-Bewegung. Die ideologischen Positionen von Milli Görüs (Nationale Persönliche und Sicht") und "Adil Düzen" ("Gerechte Ordnung") sowie die strukturelle Verbindungen Bewertung tagespolitischer Ereignisse aus Milli Görüs-Sicht werden in der IGMG-Anhängerschaft durch die Veröffentlichung einer europäischen Ausgabe der türkischen Tageszeitung "Milli Gazete" ("Nationale Zeitung") in Deutschland verbreitet. Durch Auftritte Necmettin Erbakans, Vorträge von hohen Parteifunktionären der SP und Vordenkern der Milli-Görüs-Ideologie auf IGMG-Veranstaltungen wird die enge Verbindung zur islamistischen Milli Görüs-Bewegung in der Türkei demonstriert. So nahmen auch an der größten Veranstaltung der IGMG - dem Familientag - in diesem Jahr wieder wichtige Vertreter der Milli Görüs-Bewegung teil. Der Familientag, der zum Politische Akzente zweiten Mal veranstaltet wurde, fand am 14. / 15. Mai am Hauptsitz in Kerpen statt. Die Veranstaltung stößt auf positive Resonanz bei den IGMG-Anhängern und mit angeblich 25 000 Personen aus ganz Europa206 ist die Teilnehmerzahl im Vergleich zum Vorjahr stark gestiegen.207 Die eher unpolitische und familiäre Ausrichtung des Fami205 "Die muslimischen Verbände in Deutschland über Islamismus, Verfassungsschutz und Integration - Die Politik hat leider noch kein vernünftiges Verhältnis zu den Muslimen". In: FAZ, 15.7.2005. 206 Internetauftritt der IGMG, Aufruf am 18.5.2005. 207 2004 nahmen an dem IGMG-Familientag ca. 5 000 Personen teil. 144 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 lientags passt zu der Strategie der IGMG, sich in der Öffentlichkeit als verfassungstreue und integrationsfördernde Religionsgemeinschaft zu präsentieren.208 Wie im Jahr zuvor handelte es sich trotzdem nicht um ein Zentrale Rolle Erbakans reines "Familienfest" mit Unterhaltungsprogramm. Oguz Ücüncü, Generalsekretär des Hauptverbandes, stellte den Tätigkeitsbericht der IGMG vor.209 Zum Thema "Europa und der Islam" nahmen an einer Podiumsdiskussion zwei hohe Parteifunktionäre der SP, Arif Ersoy - Chefideologe Necmettin Erbakans und Numan Kurtulmus teil. Des Weiteren beteiligten sich der für die "Milli Gazete" schreibende Ihsan Süreyya Sirma sowie der Vorsitzende des von der IGMG beeinflussten Islamrats Ali Kizilkaya an der Diskussion. Die starke emotionale Bindung an Necmettin Erbakan, den Gründer der Milli Görüs-Bewegung, wird nach wie vor auf den IGMG-Großveranstaltungen deutlich. Erbakan nimmt inzwischen zwar nicht mehr persönlich teil, er wird allerdings live zugeschaltet oder überbringt seine Grüße in Videobotschaften. Diese "Auftritte" sorgen unter der IGMGAnhängerschaft für große Begeisterung.210 Auch die IGMG-Jugendorganisationen, ein Bereich, dem die IGMG besondere Aufmerksamkeit widmet, nutzen diese Anziehungskraft Erbakans für ihre Veranstaltungen. So führte der IGMG-Jugendverband am 9. April im belgischen Genk seine diesjährige Hauptversammlung in Form eines Kulturfestivals durch und feierte gleichzeitig sein zehnjähriges Bestehen. Der türkischen "Milli Gazete" vom 15. April zufolge nahmen an der Veranstaltung über 8 000 Jugendliche aus ganz Europa teil. Neben dem IGMGJugendvorsitzenden Mesut Gülbahar und dem Generalvorsitzenden Yavuz Celik Karahan (Osman Döring) habe auch Necmettin Erbakan eine Rede gehalten. Der Gründer der Milli-Görüs-Bewegung sei per Telefon live zugeschaltet 208 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres Berlin: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 142 ff. 209 IGMG-Perspektive Nr. 126, Juni 2005. 210 "die tageszeitung", 7.5.2004. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 145 worden und habe die Jugendlichen in seiner Ansprache dazu aufgerufen, sich aktiv in der IGMG zu betätigen. Verbindung IGMG und "Milli Gazete" Die Tageszeitung "Milli Gazete" - Sprachrohr der SP - ist für den Zusammenhalt der Milli Görüs-Bewegung und für die Verbreitung ihrer ideologischen Positionen von zentraler "Milli Gazete": Bedeutung. Anlässlich der Neugestaltung der Aufmachung Sprachrohr der SP im März erneuerte die Zeitung ihr Bekenntnis zur MilliGörüs-Bewegung und erklärte, dass sie für die Gerechte Wirtschaftsordnung" (Adil Ekonomik Düzen) eintrete. Die Befreiung der gesamten Menschheit hänge u. a. von der Wiedererrichtung einer "Groß-Türkei" und einer "neuen Welt unter Führung von Milli-Görüs ab. Die gleichen "politischen Ziele" formulierte der SP-Vorsitzende Recai Kutan: "Das einzige Rezept zur Rettung unseres Landes ist die Glückseligkeitspartei, denn die Milli-Görüs ist nicht nur eine Sichtweise, die die Gerechtigkeit an oberste Stelle stellt, sondern auch die einzige Adresse für eine lebenswerte Türkei, eine neue Großtürkei und eine neue Welt, die auf Gerechtigkeit gründet."211 Die IGMG nutzt die "Milli Gazete" als Forum für die Kommunikation mit ihren Mitgliedern. Inhaltlich illustrieren zahlreiche Veranstaltungshinweise die Aktivitäten der Forum für IGMG auf Ortsvereins-, Landesoder Bundesebene. In nachKommunikation folgenden Ausgaben der Zeitung wird ausführlich über die angekündigten Veranstaltungen berichtet. Ins Auge fallen ebenso Inserate der verschiedenen IGMG-Organisations211 "Milli Gazete", 26.10.2005. 146 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 einheiten, um Glückwünsche und Beileidsbekundungen an Mitglieder zu überbringen.212 Des Weiteren belegen organisatorische sowie personelle Strukturelle und Verflechungen die enge Verbindung zwischen "Milli personelle Gazete" und IGMG. Ibrahim Gümüsoglu ist seit seinem Verflechtungen Rücktritt als Vorsitzender des IGMG-Landesverbandes Hessen PR-Beauftragter für die "Milli Gazete". In dieser Funktion wirbt er in IGMG-Ortsvereinen für ein Abonnement der Zeitung. Wie wichtig die "Milli Gazete" für die IGMG ist, belegen die Äußerungen eines IGMG-Ortsvereinsvorsitzenden, der anlässlich einer Feier zum Opferfest für den Bezug der "Milli Gazete" warb: "Die Milli Gazete ist unsere Lebensader. Für sie einzutreten, sie zu lesen und andere dazu zu motivieren, sollte unsere vorrangige Aufgabe sein."213 In einer Kolumne der "Milli Gazete" werden im Einklang mit der Milli Görüs-Ideologie politische Systeme, die nicht auf der islamischen Rechtsund Werteordnung (Scharia) basieren, als despotisch abgelehnt. Statt dessen wird eine politische Ordnung gefordert, die ihre Legitimation ausschließlich aus der Scharia bezieht. "Es gibt im Hinblick auf die Scharia zwei Arten von Politik: Die despotische Politik: eine Politik, die den Rechten des Volkes zuwiderläuft und die die Scharia verbietet. Die gerechte Politik: eine Politik, die die Rechte des Volkes aus den Händen der Despoten rettet, die Unterdrückung und das Übel vertreibt und diejenigen hindert, die Zwietracht und Unruhe säen; sie zählt zur Scharia. [...] Politik kann mit der Scharia eine gerechte Basis schaffen. [...] Erklärt die Politik 212 Am 23.10.2005 verstarb Necmettin Erbakans Ehefrau. Die Milli Gazete vom 26. Oktober war gefüllt mit Traueranzeigen für Nermin Erbakan, u.a. von der IGMG-Zentrale und den IGMG-Gebieten, darunter eine Anzeige des Berliner IGMG-Gebietsvorsitzenden Mehmet Gül. An der Trauerfeier in Istanbul nahm u. a. auch der IGMG-Vorsitzende Osman Döring (genannt Yavuz Celik Karahan) teil. 213 "Milli Gazete", 17.2.2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 147 ihre Unabhängigkeit von der Scharia, setzt sie sich absolut und wird selbst zur Quelle der Unterdrückung."214 IGMG - Berlin Auch in Berlin gab es in diesem Jahr einen "Liveauftritt" Auftritt Erbakans Erbakans. Am 12. März veranstaltete die Berliner IGMGJugendorganisation eine "Nacht der nationalen Kultur" ("Milli Kültür Gecesi"), an der ca. 1 000 Personen teilnahmen. Als Überraschung des Abends wurde Necmettin Erbakan live zugeschaltet, der die Anwesenden dazu aufforderte, sich ihrer "Nationalen Kultur" - gemeint ist die türkische und muslimische Identität - bewusst zu werden.215 Unter anderem wurde ein Theaterstück aufgeführt, welches den Generationenund Integrationskonflikt zum Inhalt hatte. Dabei wurde zum Ausdruck gebracht, dass Assimilation bedeute, die eigene Kultur teilweise aufzugeben, und man sich Nichtmuslimen nicht unbedingt anpassen müsse. Diese Betonung der "Nationalen Kultur" und die EmpfehAbgrenzung lung, sich nicht zu assimilieren, ist kein Einzelfall und geht mit der Aufforderung der IGMG an ihre Mitglieder einher, sich von der deutschen Gesellschaft abzugrenzen. So forderte der für die IGMG-Zentrale tätige Imam Sefer Ahmetoglu die Anhänger in einem Artikel der "Milli Gazete" auf, die eigenen Kinder nicht mit Personen Freundschaften eingehen zu lassen, die nicht zu ihrem Glauben und zu ihrer Mentalität passen.216 Dieser Imam war im Oktober in Berlin, um den IGMG-Anhängern eine islamische Reliquie zu präsentieren.217 Der Rechtsstreit eines Berliner IGMG-Funktionärs gegen seine Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland dauert an. Am 16. Dezember 2004 hatte die Berliner AusRechtsstreit um länderbehörde neben der Ausweisung des Predigers auch Predigerderen sofortige Vollziehung angeordnet und die AbschieAusweisung 214 "Milli Gazete", 5.7.2005. 215 "Milli Gazete", 17.3.2005. 216 "Milli Gazete", 27.12.2002. 217 "Milli Gazete", 14.10.2005. 148 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 bung angedroht. Sie sah es als erwiesen an, dass der Imam die öffentliche Sicherheit und Ordnung in schwerwiegender Weise gefährdet. Die Klage des IGMG-Funktionärs gegen den Ausweisungsbescheid am 11. Januar und seinen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz hatten das Verwaltungsgericht (VG)218 sowie das Oberverwaltungsgericht (OVG)219 abgelehnt. Am 13. Juni hat das Bundesverfassungsgericht einer Beschwerde des Imam gegen diese Beschlüsse stattgegeben.220 Der Fall wurde an das VG Berlin zurückverwiesen. Grundlage für die Ausweisung waren Äußerungen des Predigers auf einer Kundgebung am Berliner Oranienplatz am 12. Juni 2004. Dort hatte er anlässlich Misshandlung und Folterung von irakischen Häftlingen im Gefängnis von Abu Ghraib den Einsatz von Gewalt im Irak und in Nahost religiös legitimiert. Ergänzend stützte sich die Ausweisung auf Äußerungen von ihm in einer Predigt in der MevlanaMoschee e. V., die durch den Beitrag eines ZDF-Magazins am 9. November 2004 bekannt geworden waren. Danach habe sich der Imam in der Moschee diffamierend über Deutsche geäußert. In der Berliner IGMG hatte der 60-Jährige eine herausragende Funktion. Er organisierte die jährliche Pilgerfahrt des IGMG-Landesverbandes. Der Prediger ist Gründungsmitglied des "Mevlana-Moschee-e. V." und war dort von 1979 bis zu dem Vorfall tätig. Der "Mevlana-Moschee-e. V." ist Mitglied im Dachverband der "Islamischen Föderation in Berlin e. V." (IFB) Zwei Tage nach der Ausstrahlung der ZDF-Sendung teilte die IFB auf ihrer Homepage mit, dass der Beschuldigte bis zur Aufklärung des Vorfalls von seinen Ämtern enthoben sei. Die "Islamische Föderation in Berlin e. V." (IFB) wählte am 26. November in der Urania einen neuen Vorstand. Neben einem Vertreter der Milli Gazete war auch der Vorsitzende 218 VG 25A5.05 vom 22.2.2005. 219 OVG 3S17.05 vom 22.3.2005. 220 BVerfG 2 BvR 485/05 vom 13.6.2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 149 des IGMG-Hauptverbandes Osman Döring (genannt Yavuz Celik Karahan) anwesend.221 3.5 Türkische Linksextremisten Im Bereich der türkischen linksextremistischen Organisationen ist bereits das dritte Jahr in Folge eine Zunahme der Zunahme der terroristischen Aktivitäten in der Türkei zu verzeichnen. Die Anschläge in der Anzahl der Anschläge linksextremistischer Gruppen verdopTürkei pelte sich 2005 auf ca. 150. Inhaltlich spielten der Irak und die US-Politik eine geringere Rolle als in der Vergangenheit; es dominierten innertürkische Themen. Die Situation in Deutschland war gekennzeichnet durch ein thematisches Eingehen auf die innerdeutsche Politik sowie Kooperationen mit deutschen Linksextremisten. 3.5.1 Entwicklung in der Türkei Die von den linksextremistischen Organisationen in der Türkei ausgeübte Gewalt richtete sich bei einem Großteil der Anschlagsziel: Staat ca. 150 Anschläge wiederum gegen den Staat. Die Jugendorganisation TKP/ML () formulierte dazu: "Auf dem 2. Kongress wurden [ ] die imperialistischen Räuber und der ausbeuterische Staat [ ], die der Grund für Hunger, Armut und Bildungslosigkeit sind, erneut zur Zielscheibe erklärt."222 Am aktivsten ist weiterhin die "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei ( MLKP), die für mehr als 120 Anschläge verantwortlich MLKP war. Ziele der Anschläge sind nicht nur staatliche Einrichtungen, sondern auch Personen, die von Linksextremisten mit dem Staat in Verbindung gebracht werden wie Polizeikräfte, Richter, Armeeund Bankangehörige. 221 www.aypa.de "Der neue Imam", Aufruf am 29.11.2005. 222 "Yeni Demokrat Genclik" Nr. 93, Dezember 2004, S. 21. 150 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Im Vergleich zu den Vorjahren hat die Intensität der einzelnen Aktionen 2005 nicht zugenommen. Meist blieb es bei Sachschäden, da Terroranschläge, bei denen möglichst Primär Sachschäden viele Zivilisten getroffen werden sollen, mit der Ideologie der "Volksparteien" nicht vereinbar sind. Die militärische Ausbildung gehört dennoch zum jährlichen Programm der Organisationen: "Wir, die Aktivisten der Türkischen Kommunistischen Partei / Marxisten-Leninisten (TKP/ML), haben unser Ausbildungscamp 2005 [ ] erfolgreich durchgeführt. In diesem Ausbildungscamp gedachten wir der Märtyrer und erteilten Unterricht auf politischem, ideologischem und militärischem Gebiet. [ ] Die militärische Ausbildung hatte das Ziel, ein Mindestmaß an theoretischem und praktischem Wissen auf diesem Gebiet zu vermitteln. Unsere Aktivisten erhielten Unterricht in Waffenkunde [ ]. Außerdem wurden sie im Gebrauch der Waffen unterrichtet."223 Hauptgebiet der Aktionen ist die westliche Türkei mit Regionaler Schwerpunkt Istanbul. Hier wurden drei Viertel aller Schwerpunkt: Anschläge begangen. Grund dafür dürfte neben der Istanbul klassischen Klientel der linksextremistischen Gruppierungen - Arbeiter und Arbeitssuchende aus der Großstadt Istanbul und der Industrie der Westküste - die starke Präsenz der Medien in dieser Region sein. Auch die zeitnah zu den Anschlägen im Internet eingestellten Selbstbezichtigungen deuten darauf hin, dass strategisch eine breite Öffentlichkeit gesucht wird. Im Vergleich zu den Vorjahren beziehen sich die Anschläge Innenpolitische verstärkt auf innenpolitische Themen. 2005 können zwei Themen Drittel aller Anschläge innertürkischen Zusammenhängen zugerechnet werden: So waren Proteste von Arbeitern oder Jahrestage der Parteigründung ebenso Anlass für Anschläge wie Operationen der Sicherheitskräfte oder Auseinandersetzungen mit türkischen Nationalisten. Diese Entwicklung hebt sich ab von der vorjährigen starken Präsenz der US-Politik oder des Irak. 223 "Yeni Demokrat Genclik" Nr. 97, April 2005, S. 7. Die TKP/ML übernimmt in dieser Ausgabe die Verantwortung für mehrere Anschläge. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 151 Beispielhaft für diesen innertürkischen Fokus sind die Ereignisse in der Nacht zum 18. Juni im Mercan-Tal in "Dersim"224. Hier kam es zu AuseinanAuseinanderdersetzungen zwischen türkischen Sichersetzungen mit heitskräften und Mitgliedern der "MaoisSicherheitskräften tischen Kommunistischen Partei" (MKP), in deren Verlauf 17 "VolksbefreiungskämpferInnen der MKP"225 - zumeist hohe Parteifunktionäre - getötet wurden.226 Als Reaktion darauf gab es in der Türkei zahlreiche Anschläge. Die Formulierungen sind sehr deutlich: "Die MKP-Gefallenen sind unsterblich! Wir werden Rechenschaft für euren Tod verlangen! Es lebe die Revolution!"227 Auch die Haftbedingungen in türkischen Gefängnissen wurden weiterhin thematisiert. Dabei sind vor allem drei Thema Bombenanschläge im Juni hervorzuheben, die sich gegen die Haftbedingungen Einführung des neuen türkischen Strafvollzugsgesetzes richteten. Im gleichen Zusammenhang stand die Selbstverbrennung eines Mitglieds der "Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front ( DHKP-C) und Angehörigen der "12. Todesfastengruppe" am 26. Juni im Gefängnis in Tekirdag. Eine Besonderheit dieser Aktionen ist die Tatsache, dass es gerade die Angleichung an die Standards der Europäischen Union ist, die den Interessen der extremistischen Organisationen zuwiderläuft.228 Jede Anstrengung der 224 Kurdische Bezeichnung für die Provinz Tunceli im Osten der Türkei. 225 Erklärung des Tayad-Komitees vom 20.6.2005. 226 Nach Angaben der türkischen Presse hatte dort der 2. Kongress der Partei stattgefunden. Durch die Aktion sei die vermeintliche Kommandozentrale der Partei ausgehoben worden. 227 Erklärung der MLKP auf deutsch vom 21.6.2005. 228 Gleichermaßen waren bereits die Aktionen gegen "Isolationshaft" entstanden, weil die Parteien fürchteten, in den Zellen für 3-4 Personen ihren Einfluss zu verlieren. In den - in der Türkei üblichen - Massenzellen war es leichter, Organisationsstrukturen zu erhalten und Einfluss zu nehmen. 152 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 türkischen Regierung wird damit von vornherein abgelehnt, wenn zum Beispiel die TKP/ML erklärt: "Die Worte: 'Die Demokratisierung schreitet voran' haben wir schon oft genug gehört. Basierend auf diesem Hintergrund gewinnt das Beharren auf dem bewaffneten Kampf an Bedeutung."229 Ein weiteres Ereignis, das zu Anschlägen in der Türkei Attentatsversuch führte, war der Fall eines DHKP-C-Attentäters, der am 1. Juli vor dem türkischen Justizministerium erschossen wurde. Der Täter, der bereits wegen zweier Anschläge230 gesucht wurde, trug einen Sprengstoffgürtel, der Alarm auslöste. Trotz seines Versuchs, die Bombe zu zünden, detonierte diese nicht - wie die Rucksackbomben in London. Bei der Festnahme konnte er entkommen und als er trotz mehrerer Warnschüsse und Halt-Rufe weiter flüchtete, wurde er von den Sicherheitsbeamten erschossen. Aufrufe zur Gewalt Die Gewaltbereitschaft wird auch in den Parolen explizit - wie folgende Zitate der TKP/ML zeigen : "Die Gewehrläufe werden nicht erkalten."231 "Die rote Fahne wird im Wind wehen oder unser rotes Blut wird auf den Boden tropfen!"232 "Mit noch größerem Hass, mit noch mehr Wut, mit mehr Wille, mit noch mehr Entschlossenheit und Wagemut müssen wir den Kampf umarmen." "Blut wird mit Blut gewaschen, das sind die Sitten unseres Kampfes."233 "Wir werden für jeden einzelnen unserer Märtyrer Rechenschaft verlangen."234 229 "Yeni Demokrat Genclik" Nr. 93, Dezember 2004, S. 7. 230 2003 auf die Hochzeit des Sohnes von Recep Tayyip Erdogan und 2004 auf den NATO-Gipfel in Istanbul. 231 Internetbeitrag der TÄdegKKO, Aufruf am 1.2.2005. 232 "Yeni Demokrat Genclik" Nr. 93, Dezember 2004, S. 9. 233 Özgür Gelecek Yolunda Isci-Köylü Nr. 2004-9, S. 19, S. 31 f. 234 Flugblatt der MKP zu einer Veranstaltung im Januar 2005 in Berlin. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 153 Auch wenn innertürkische Angelegenheiten im vergangenen Jahr dominierten, sind türkische linksextremistische Organisationen in internationalen Zusammenhängen aktiv. Während die TKP/ML Mitglied der "Revolutionären Internationalen Bewegung" (RIM) ist, unterhält die MLKP nicht nur Internationale eine eigene "Kurdische Organisation", sondern beteiligt sich Kontakte auch an internationalen Konferenzen. So nahmen u. a. Vertreter der MLKP und der ihr nahe stehende "Konföderation der unterdrückten Immigranten in Europa" (AvEG-Kon) sowie Vertreter der "Irakischen Patriotischen Allianz" (IPA)235 am 2. Oktober in Rom an einer Irak-Konferenz teil. Auch der zum Umfeld der DHKP-C gehörende Verein TAYAD ist international tätig. So organisierte TAYAD vom 25. bis 27. Juni in Istanbul das "Symposium gegen Isolationshaft in der Türkei", über das auf der Internetseite der DHKC international ausführlich berichtet wird.236 3.5.2 Entwicklung in Deutschland In Deutschland, wo die DHKP-C ebenfalls verboten ist, Juristische musste sie in diesem Jahr zwei juristische "Niederlagen" Niederlagen 235 Ein Sprecher der IPA sprach sich mehrmals öffentlich für den bewaffneten irakischen Widerstand, auch gegen irakische Beamte oder im Land befindliche ausländische Zivilisten, aus, unter anderem anlässlich einer Irak-Konferenz am 12. März in den Räumen des Vereins "IKAD e. V." - einem Mitgliedsverein der "Anatolischen Föderation e. V." - in Berlin. An der Konferenz in Berlin war auch die AGÄdegF beteiligt. 236 Bei dieser Veranstaltung trat ebenfalls ein Redner der IPA auf. 154 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 einstecken. Bei den Aktivitäten türkischer linksextremistischer Organisationen sind Ansätze einer strategischen Neuausrichtung erkennbar. Vor dem Hintergrund der in den letzten Jahren eher sinkenden Zahl aktiver Mitglieder wurden neben der Entwicklung in der Türkei zunehmend deutsche sozialpolitische und innenpolitische Themen angesprochen. Staatliche Maßnahmen Am 24. Januar wurde die Vorsitzende des Kölner Vereins "Anatolische Föderation e. V."237 vom Landgericht Karlsruhe wegen Verstoßes gegen das Vereinsverbot zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Verurteilte durch aktive Teilnahme an einer "Schulungsveranstaltung" im August 2002 in Baden-Württemberg den organisatorischen Zusammenhalt der DHKP-C unterstützen wollte. Dabei hielt das Gericht in der Urteilsbegründung ausdrücklich fest, dass die "Anatolische Föderation" eine eindeutige Nähe zur DHKP-C aufweise. Am 27. Juni wurde der mutmaßliche DHKP-C Funktionär Hasan Hüseyin K. von den Niederlanden an Deutschland ausgeliefert. Ihm wird unter anderem Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, räuberische Erpressung und gefährliche Körperverletzung vorgeworfen. Nachdem der Haftbefehl vom Bundesgerichtshof in Karlsruhe eröffnet worden war, wurde am 26. Juli beim Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf Anklage erhoben. 237 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 150. Der Verein hatte im August 2004 im badenwürttembergischen Eberbach ein Zeltlager mutmaßlicher Anhänger der DHKP-C veranstaltet. In ihrem "Tätigkeitsbericht 2004-2005" im November 2005 behauptet die "Anatolische Föderation e. V.", die damalige Polizeiaktion sei "unrechtmäßig" gewesen, man habe keinen Kontakt zu Anwälten oder Dolmetschern erlaubt und sogar die Kinder im Camp "gefoltert". A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 155 Aktivitäten mit Türkei-Bezug Die für die türkischen linksextremistischen Organisationen wichtigsten Ereignisse des Jahres - die Militäroperation im Mercan-Tal, bei der 17 MKP-Angehörige starben, und die Erschießung eines Selbstmordattentäters nach einem missFriedliche glückten Attentatsversuch (s. o.) - hatten nicht nur AuswirReaktionen kungen in der Türkei. Im Gegensatz zu dort blieben die Reaktionen in Deutschland jedoch friedlich. Bundesweit fanden zahlreiche Protestdemonstrationen statt und auch in Berlin gab es Gedenkveranstaltungen, u. a. am 24. Juni. Nach einem Aufruf zur Teilnahme auf der Internetseite des TAYAD-Komitees fand die Veranstaltung mit 180 Demonstranten mehr Zuspruch als erwartet (ursprünglich angemeldet war eine Teilnehmerzahl von 100 Personen). Anlass für eine Demonstration war auch der 25. Jahrestag des Militärputsches in der Türkei. Als Unterstützer der Veranstaltung am 17. September, bei der sich Teilnehmer aus dem gesamten türkischen linksextremistischen Spektrum trafen, wurden unter anderem die Auslandskomitees der Überregionale MLKP, der TKP/ML und der MKP genannt. Zu der Mobilisierung Demonstration war zuvor auf der Internetseite der MLKPZeitschrift Atlm aufgerufen worden. Es zeigte sich einmal mehr, dass eine organisationsübergreifende Mobilisierung bei entsprechenden Themen in Berlin kein Problem darstellt. Auch andere Aktivitäten türkischer Linksextremisten, die im Verlauf des Jahres in Berlin stattfanden, verliefen sämtlich störungsfrei. Deutsche Innenpolitik als neues Themenfeld Obwohl auch Ereignisse der türkischen Politik in Aktionen "In Deutschland in Deutschland ihren Niederschlag finden, versuchen die angekommen" örtlichen Vereine inzwischen, Probleme der deutschen Alltagsgesellschaft zu thematisieren. Die Organisationen sind mittlerweile in Deutschland "angekommen". 156 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Die im Vergleich zum Vorjahr wachsende Beschäftigung mit deutscher Innenpolitik kann als Sozialpolitische Anzeichen dieses StrategieThemen wechsels interpretiert werden. Die Themenpalette reichte dabei von Arbeitslosigkeit und Armut über Rassismus und Abschiebung bis zur Assimilation. So führte zum Beispiel die "Anatolische Föderation e. V." im Februar eine bundesweite Kampagne "Gemeinsam gegen Rechtsraub" durch. Diese richtete sich vor allem gegen Hartz IV und das neue Zuwanderungsgesetz. In Berlin fanden fünf Veranstaltungen statt. Deutsch-türkische Plakate machten auf die Kampagne aufmerksam. Auch die anderen Organisationen entdeckten vermehrt die deutsche Innenpolitik. Dabei kooperierten sie mit deutschen Unterstützung für linksextremistischen Organisationen. So riefen gleich vier MLPD Gruppen ATIF/ATIK, ADHF und AGIF anlässlich der Bundestagswahl 2005 zur Unterstützung der "MarxistischLeninistischen Partei Deutschlands ( MLPD) auf. Zu den klassischen Terminen türkischer und deutscher Linksextremisten gehören die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration im Januar und die Demonstrationen am 1. Mai. Türkische Linksextremisten beteiligten sich in diesem Jahr jedoch an Beteiligung an Demonstrationen weiteren Veranstaltungen. So wurde die Demonstration zum "Tag der Befreiung" am 8. Mai ebenso unterstützt wie eine Demonstration gegen die NPD am 31. August. Ein zentraler Ansatzpunkt zur Mitgliederwerbung ist neben Thema Antifaschismus den sozialen Themen Arbeitslosigkeit und Abschiebung also auch das Thema Antifaschismus. Allerdings werden hier wie dort nicht nur die Nationalisten als Feindbild betrachtet: Der türkische Staat an sich wird traditionell als "faschistisch" bezeichnet und auch in Deutschland die "Fäulnis des Systems"238 angeklagt. 238 Flugblatt der TKP/ML zur LL-Demo am 9.1.2005 in Berlin. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 157 Beim "Sternmarsch gegen die zukünftige neue Regierung" am 5. November hielten ein Vertreter der ATÄdegF und der Vorsitzende des "IKAD e. V." im Namen der "Anatolischen Föderation e. V." Reden. In einem Heft der AvEG-Kon wird gegen "Sozialkahlschlag" und für das Recht auf Einwanderung gekämpft. Dass die "Gegner" - die demokratischen Parteien - als "Faschisten" gesehen werden, wird deutlich formuliert: "Die faschistischen Parteien, Organisationen und Parteien in Deutschland und Frankreich werden von der Haltung der USA inspiriert. [ ] Alle rassistischen, faschistischen Parteien und Organisationen müssen zerschlagen werden."239 Die Arbeit der Vereine in Europa und anderswo ist eine Unterstützung für wichtige Unterstützung für den Kampf in der Türkei, wie die Mutterorganisation TKP/ML klarstellt: "Verehrte Genossen, obwohl Ihr im Ausland lebt, haltet Ihr den Befreiungskrieg unseres Volkes in stolzer und revolutionärer Form hoch. Jeder Schritt, den Ihr im Sinne unserer Partei tut, ist wichtig. Ihr müsst wissen, dass Ihr mit Eurer mutigen Beteiligung am anti-imperialistischen und anti-kapitalistischen Kampf in den Ländern, in denen Ihr Euch befindet, unserer Revolution einen großen Dienst erweist."240 Noch konkreter formuliert es die MKP: "Es gibt vieles, was jeder einzelne Held der Arbeit [Sic!] tun kann, um die Welt zu verändern. Während der eine zur Waffe greift, nimmt der andere die Feder, wieder andere leisten finanzielle oder materielle Hilfe, um diese Revolution auszuweiten. Ihr solltet diesem Aufruf auch im Ausland folgen, wo wir aus finanziellen, politischen und anderen Gründen in Verbannung leben; ob klein oder groß, ob wenig oder viel, wir sollten überall dazu mobilisieren, unseren Dienst, unsere Unterstützung und unseren Beitrag zu unserem Krieg, dem Volkskrieg, zu organisieren [ ]."241 239 "Programm" der AvEG-Kon. 240 Özgür Gelecek Yolunda Isci-Köylü Nr. 2005-11, S. 2. 241 Auslandsbüro der MKP, Oktober 2004. 158 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Diese Aufrufe zeigen, warum die linksextremistischen Gruppierungen auch dann gefährlich bleiben, wenn sie aus taktischen Gründen in Deutschland selbst über mehrere Jahre hinweg gewaltlos agieren. Ohne die moralische, vor allem aber ohne die finanzielle Unterstützung der zahlreichen Tarnund Solidaritätsvereine könnte den Guerilla-Aktivitäten und terroristischen Aktionen im Ursprungsland ein wichtiger Rückhalt entzogen werden. 3.6 Extremistische Kurden Die Arbeiterpartei Kurdistans ( PKK) gibt mit der wiederholten Ankündigung struktureller Reformen wie der Konsolidierung Gründung von Nachfolgeorganisationen vor, den seit 1999 angestrebt proklamierten strategischen Kurswechsel fortzuführen. Die Organisation wollte sich in den vergangenen Jahren von der "alten" terroristischen PKK lösen und unter den neuen Namen "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK) und "Volkskongress Kurdistans" (KONGRAGEL) als anerkannter politischer Gesprächspartner etablieren. Im Jahr 2005 versuchte die Organisation in diesem Sinne, Vordergründige mit scheinbar strukturellen Reformen wie der Gründung Reformen einer "neuen" PKK, einer neuen Frauenorganisation sowie der Bildung des "Koma Komalen Kürdistan" (KKK / "Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan") ihre Wandlungsabsicht zu demonstrieren. Programmatisch wird für alle diese Organisationen das Prinzip des "Demokratischen Konföderalismus" verkündet.242 Grundlegende Änderungen vor allem in der Zielsetzung, der Kontinuität der Ziele Befehlsstruktur und den Aktivitäten sind bisher jedoch nicht zu erkennen. Die Zunahme von Gefechten zwischen den 242 Der "demokratische Konföderalismus" zielt auf die Erarbeitung demokratisch legitimierter Lösungsansätze in der "Kurdenfrage" ab, nach denen in den von Kurden besiedelten Staaten (Iran, Irak, Syrien und Türkei) ein freies, selbstbestimmtes Leben im friedlichen Nebenund Miteinander mit anderen Völkern geführt werden soll. Jedoch behält sich die Organisation den Einsatz militärischer Mittel für den "Verteidigungsfall" vor. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 159 "Volksverteidigungskräften" der PKK (HPG) und der türkischen Armee in der Türkei, die Beibehaltung einer militärischen Option sowie die gegen die türkische Regierung gerichteten Drohszenarien sprechen gegen eine ernst zu nehmende Wandlungsabsicht der Organisation. 3.6.1 Gründung einer "neuen" PKK Die KONGRA-GEL-orientierte türkischsprachige Tageszeitung "Özgür Politika" berichtete am 5. April über die Gründung einer "neuen" PKK ("Partiya Karkeren Kurdistan" Kongress im April - PKK). Diese sei im Anschluss an einen Kongress zum Wiederaufbau der PKK, der vom 28. März bis 4. April in den "Bergen Kurdistans" mit 250 Delegierten stattfand, verkündet worden. Laut einer Erklärung der Delegierten sei die "neue" PKK als "zweite offizielle Geburt" der Organisation zu verstehen. Die Neugründung solle im April von Aktionen "zur Beschleunigung der konföderierten demokratischen Organisation" begleitet werden. Bereits im Februar hatte ein seit Frühjahr 2004 aktives "Vorbereitungskomitee für den Wiederaufbau der PKK" unter dem Vorsitz von Murat Karayilan der Öffentlichkeit den Programmund Satzungsentwurf einer "neuen" PKK vorgestellt.243 Vermutlich ist die Schaffung einer "neuen" PKK auch eine Reaktion des KONGRA-GEL auf die im Jahr 2004 nur knapp verhinderte Spaltung der Partei und die Gründung der Reaktion auf von Osman Öcalan initiierten "Patriotisch-Demokratischen drohende Spaltung Partei" (PWD). Die PWD entwickelte sich bislang zwar nicht als ernst zu nehmende Konkurrenz zum KONGRAGEL, brachte die ohnehin angeschlagene Organisation jedoch zusätzlich in Zugzwang. Somit verschärfte sich die Situation für den KONGRA-GEL, der bereits durch andauernde Legitimationsprobleme gegenüber der Anhänger243 "Özgür Politika" vom 8.2.2005. Murat Karayilan, Vorsitzender des Leitungsrates des KONGRA-GEL und des "Komitees für den Wiederaufbau der PKK", hatte schon Ende November 2004 in einem Interview in der "Özgür Politika" mitgeteilt, dass man derzeit eine neue Satzung und ein neues Programm der PKK ausarbeite. Das im März 2004 gegründete Komitee hielt vom 29.4. bis 11.5.2004 einen Kongress zur Verhinderung der Spaltung des KONGRA-GEL ab. 160 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 schaft und die anhaltenden militärischen Operationen der türkischen Armee unter starken Druck geraten war. Innerhalb der Organisation gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, in welchem Verhältnis die "neue" PKK zum KONGRA-GEL steht. Es zeichnete sich ab, dass der KONGRA-GEL als Dachorganisation bestehen bleiben und in ihm möglichst viele kurdische Strömungen, Parteien und Interessengruppen vereint werden sollen, während die "neue" PKK als Teil des KONGRA-GEL eine Organisation für höhergestellte Aktivisten ("Kader") darstellen soll. Die "neue" PKK strebe im Nahen Osten ein "föderales demokratisches System" an. Damit würde sie die bereits von Noch keine KADEK und KONGRA-GEL bekundete Absicht fortführen, Auswirkungen auf Deutschland in allen kurdischen Regionen Organisationen gründen und koordinieren zu wollen, die sich auf legitime Weise für die Lösung der Kurdenfrage einsetzen. Grundlegende Auswirkungen der Gründung der scheinbar "neuen" PKK auf die Arbeit der Organisation in Deutschland zeichneten sich bislang nicht ab. 3.6.2 "Demokratischer Konföderalismus" auch in weiteren Neugründungen Neben der Schaffung der "neuen" PKK gab es weitere Neugründungen, bei denen ebenfalls die Programmatik des von Abdullah Öcalan geprägten "demokratischen Konföderalismus" betont wurde. Auf dem "1. Freiheitskongress der Frau", der vom 7. bis 18. April im Nordirak statt fand, wurde die Gründung des "Koma Jinen Bilind" (KJB) verkündet. Auch hier wurde "1. Freiheitskongress der Frau" betont, dass der KJB - entsprechend den Ankündigungen im Jahr 2004 zur Auflösung der bisherigen Frauenorganisation "Freie Frauenpartei" (PJA) und Schaffung eines neuen Organisationsmodells - auf dem Prinzip des "demokratischen Konföderalismus" basieren solle. Organisatorisch gliedert sich der KJB in drei Teilbereiche: - die "Freiheitspartei der Frauen Kurdistans" (PAJK) als ideologische Organisation, A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 161 - die "Freie Frauenbewegung" (YJA-STAR) als Organisation der legalen Verteidigung und - die "Freien Frauenverbände" (YJA) als politisch-soziale Bewegung. Abdullah Öcalan, auf dessen Initiative hin der KJB gegründet worden sei, werde als "Führer des Konföderalismus der Frau" und des KJB akzeptiert.244 Auf dem dritten Kongress des KONGRA-GEL vom 4. bis 21. Mai in Südkurdistan (Nordirak) wurde die "Gemeinschaft der Gründung des "Koma Komalen Kürdistan" (KKK) bekannt Kommunen" gegeben - ein bereits im März von Abdullah Öcalan ausgerufenes System der "Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan". Der KONGRA-GEL selbst definiere sich als "höchste demokratische Volkswillenskraft" und fungiere als Legislative des Systems. Auch die Gründung des KKK kann als weiterer Versuch gewertet werden, nach außen hin eine "Demokratisierung" der Organisation vermitteln zu wollen.245 Nach einem Bericht der "Özgür Politika" wurde am 6. Mai die Gründung einer vom KONGRA-GEL ins Leben gerufenen "Demokratischen Jugend" (Türkisch: "Demokratik Genclik" - DEM-GENC) bekannt gegeben, die ausgehend von der Basis die jugendliche Zielgruppe auf allen "Demokratische gesellschaftlichen Ebenen insbesondere auch unter verJugend" stärkter Einbeziehung der türkischen Jugend mobilisieren soll. Mit der geplanten Organisation der Jugend in "Räten" setzt die DEM-GENC die Vorgaben Abdullah Öcalans zum "Ausbau der Volksdemokratie" fort. In den Kreisen der KONGRA-GEL-Anhängerschaft wird die Gründung der DEM-GENC auch mit der Notwendigkeit erklärt, eine in der 244 "Koma Jinen Bilind" heißt aus dem Kurdischen wörtlich übersetzt: "Verband der stolzen Frauen". Bereits auf dem 5. Kongress der "Freien Frauenpartei" (PJA) im Juli 2004 wurde die Auflösung der PJA beschlossen und ein neues, aus drei Schwerpunkten bestehendes Organisationsmodell verabschiedet. 245 Internetauftritt des KONGRA-GEL, "Özgür Politika", 22.3.2005. 162 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Türkei losgelöst von dem bisherigen belasteten PKK-Image agierende Jugendorganisation zu schaffen.246 Als ihren Nachfolger erklärte die bisherige auch in Europa aktive PKK-Jugendorganisation "Bewegung der freien Jugend Kurdistans" (TECAK) die "Vereinigung der demokratischen Jugendlichen" (Kurdisch: "Koma Komalen Ciwanen Demokratik a Kurdistan" - KOMALEN CIWAN). Auf dem zweiten Kongress der TECAK, der vom 26. Juli bis 6. August mit 120 Delegierten aus allen Teilen "Kurdistans" (Türkei, Irak, Iran, Syrien) und Europa stattfand, wurde die Umbenennung in "KOMALEN CIWAN" beschlossen. Die KOMALEN CIWAN sei zur Umsetzung des "demokratischen Konföderalismus" gegründet worden.247 3.6.3 Verstärkte Gefechte zwischen "Volksverteidigungskräften" und türkischem Militär In Presseberichten wurde spekuliert, die Rückkehr der PKK zu ihrem alten Namen könne ein Zeichen dafür sein, dass sich die militanten Kräfte in der Organisation durchgesetzt haben und die Organisation zu ihren militanten Wurzeln zurückkehrt. 246 "Özgür Politika" vom 7.5.2005 und 22.8.2005. Bereits während eines vom 10. bis 12.3.2005 von den Jugendverbänden der türkischen "Demokratischen Volkspartei" (DEHAP) in der Türkei durchgeführten Kongresses wurde der Beschluss gefasst, sich in Räten zu organisieren, um die Probleme innerhalb der Organisation zu überwinden und die parteiinterne Demokratie zu fördern. Der Jugendbewegung sei es nicht gelungen, die türkische Jugend dem revolutionär-demokratischen Kampf vollständig zuzuführen. Daher sei - in Anlehnung an die "Revolutionäre Jugend" (DEV-GENC) der 60er Jahre - die Bildung einer DEM-GENC notwendig geworden. 247 "Özgür Politika" vom 15.8.2005. Vgl. auch Internetauftritt der TECAK (unter der bisherigen Internetadresse der TECAK wurde die Homepage der "KOMALEN CIWAN" eingestellt). A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 163 Seit der Beendigung der einseitig ausgerufenen Waffenruhe im Juni 2004 fanden vermehrte, auf beiden Seiten zu zahlVermehrte Gefechte reichen Opfern führende Gefechte zwischen den "Volksverteidigungskräften" (HPG) und der türkischen Armee statt. Die von der Türkei im Frühjahr 2005 begonnene "Großoffensive" gegen die PKK bezeichnete der stellvertretende Vorsitzende des Exekutivrates des KONGRA-GEL, Duran Kalkan, als "regelrechten Vernichtungskrieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung".248 Die Verstärkung der beiderseitigen Kampfhandlungen ging einher mit einer von den HPG im April gegenüber der türkischen Regierung ausgesprochenen Drohung. Der für die Drohung der HPG Region "Botan" zuständige HPG-Kommandeur Kadri Celik forderte den türkischen Staat auf, die Operationen sofort einzustellen, andernfalls würden die Guerillakämpfer auch Anschläge auf Wirtschaftsziele in den türkischen Metropolen verüben. Die HPG seien aus der Gründung der "neuen" PKK moralisch sehr gestärkt hervorgegangen. Angriffe des türkischen Militärs würden weiterhin nach dem Prinzip der "legitimen Verteidigung" beantwortet, wobei - ausgehend von der bislang "passiven Verteidigung" - nunmehr sogar ein Übergehen der HPG in die "aktive Verteidigungsposition" möglich sei.249 Entsprechend dieser Ankündigung verübten die HPG Anschläge am 30. Mai auf eine Erdöl-Pipeline in Recepler Anschläge bei Batman und am 28. Mai auf einen mit militärischem Gerät beladenen Güterzug zwischen Mus und Elazig. Das "Presseund Kommunikationszentrum" (BIM) der HPG gab Erklärungen ab, in denen sich die HPG zu den Anschlägen bekannten.250 Das Vorgehen der HPG erreicht mit den An248 "Frankfurter Rundschau", 8.4.2005, "Der Tagesspiegel", 20.4.2005, "Özgür Politika", 27.4.2005. 249 Wie in schon in der Vergangenheit rechtfertigt die Organisation von ihr ausgehende militärische Maßnahmen mit der "legitimen Verteidigung", es sei ein "Grundprinzip" und Recht der "kurdischen Bewegung", sich auf eigenem Boden zu verteidigen. "Özgür Politika", 17. und 28.4.2005, 19.7.2005. 250 "Özgür Politika", 30. und 31.5.2005. 164 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 griffen gegen zivile Ziele mit infrastruktureller Bedeutung eine neue Qualität. Auch die "Freiheitsfalken Kurdistans" (TAK), die sich bereits der am 10. August 2004 in zwei Istanbuler Hotels Drohungen der verübten Bombenattentate bezichtigt hatten, drohten "Freiheitsfalken mehrfach, Bombenanschläge in türkischen Städten verüben Kurdistans" zu wollen, wenn die türkische Regierung nicht die "Unterdrückung des kurdischen Volkes" beende. Zahlreiche Anhaltspunkte sprechen dafür, dass es sich bei den TAK, die vorgeben, unabhängig zu agieren, um eine Teilbewegung der KONGRA-GEL Jugendorganisation handeln könnte. In ihren Erklärungen bestreiten die HPG, dass sie oder der KONGRA-GEL in einer Beziehung zu den TAK stehen.251 In Medienberichten wird den TAK aufgrund ihrer Drohungen und der Art und Weise des Vorgehens die Verantwortung für zahlreiche Anschläge in der Türkei zugeschrieben. Zu einem Bombenanschlag am 10. Juli im westtürkischen Ferienort Cesme, bei dem nach Medienberichten mehrere Personen verletzt wurden, gab es eine telefonische Selbstbezichtigung der TAK gegenüber der Nachrichtenagentur MHA. Der Anrufer habe erklärt, weitere Anschläge würden folgen. Das Präsidium des KONGRA-GEL und der Exekutivrat des KKK kündigten am 19. August eine Waffenruhe der HPG Zwischenzeitliche vom 20. August bis zum 20. September an, die später bis Waffenruhe aufgekündigt zum 3. Oktober, dem Beginn der Beitrittsgespräche für einen Eintritt der Türkei in die Europäische Union, verlängert wurde. Mit dieser "Phase der Aktionslosigkeit" solle eine demokratische Lösung des Kurdenproblems unterstützt und auch gezeigt werden, dass man sich nicht gegen die türkische Regierung stellen wolle. Allerdings behielt sich der 251 "Özgür Politika", 12., 18. und 19.7.2005. Vgl. auch "Özgür Politika" 2.5., 8., 14. und 30.6.2005 sowie "Süddeutsche Zeitung", 25.7.2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 165 KONGRA-GEL das "Recht auf Selbstverteidigung" vor, lediglich ein Übergang von der "aktiven" in die "passive Verteidigung" sollte erfolgen. Nach Pressemitteilungen fanden auch in der Zeit der Waffenruhe Gefechte statt. Der KKK behauptete jedoch, die HPG hätten Angriffe in der Zeit der Waffenruhe unterlassen. Anfang Oktober meldete die Nachrichtenagentur MHA, die "Phase der Aktionslosigkeit" sei aufgehoben worden, weil der türkische Staat weiterhin militärische Operationen durchführe und somit mit Gewalt auf die Friedensinitiative reagiert habe.252 Nach der Aufhebung der Waffenruhe nahmen die Gefechte Keine Auswirkungen auf in der Türkei wieder zu. Die verstärkten Kampfhandlungen Deutschland in der Türkei führten zu keiner merklichen Änderung der Gefährdungslage in Deutschland, die nach wie vor von dem postulierten Friedenskurs der Organisation geprägt ist. 3.6.4 Verbot der "Özgür Politika" Am 5. September wurden das Verbot und die anschließende Auflösung der E. Xani-Presseund Verlags-GmbH, NeuIsenburg, als Herausgeberin der Zeitung "Özgür Politika" angeordnet. Mit Verfügung vom 30. August hatte das Bundesministerium des Innern festgestellt, dass die Tätigkeit des Verlags den Strafgesetzen zuwiderlaufe, die aus Gründen des Staatsschutzes erlassen worden seien. Die von dem Verbot betroffenen Medienbetriebe seien in die Strukturen des KONGRA-GEL eingebunden, nähmen für die Organisation eine "Sprachrohrfunktion" wahr und dienten propagandistischen Zwecken.253 In mehreren Bundesländern er252 "Özgür Politika", 20.8.2005, "Hürriyet", 22.9.2005 und 7.10.2005. 253 Unter das Verbot fiel die Fortführung bestehender Organisationen als Ersatzorganisationen und auch die Bildung von Ersatzorganisationen. Es wurden Exekutivmaßnahmen auch gegen die Mezopotamia Haber Ajansi (Nachrichtenagentur MHA, Neu-Isenburg), die Welat Presseund Verlags GmbH (Neu-Isenburg), die Mezopotamien Verlags und Vertriebs GmbH (Köln) und den MIR Musikverlag (Düsseldorf) durchgeführt. Das Verlagsvermögen und bestimmte Sachen und Forderungen Dritter wurden beschlagnahmt. Die sofortige Vollziehung der Maßnahmen (mit Ausnahme der Einziehungsanordnungen) wurde angeordnet. 166 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 folgten Durchsuchungsmaßnahmen, in Berlin wurde die Wohnung eines Kolumnisten der "Özgür Politika" durchsucht. Die E. Xani-Presseund Verlags-GmbH erhob am Erfolg bei Klage 22. September Klage gegen die Verfügung des Bundesgegen Verbot ministerium des Innern. Das Bundesverwaltungsgericht stellte am 18. Oktober fest, dass das Verbot und die Auflösung des Verlages als rechtswidrig anzusehen sind.254 Die Exekutivmaßnahmen hatten Protestaktionen auch in Protestaktionen Berlin zur Folge. So fand am 6. September vor dem Bundesministerium des Innern eine friedliche Kundgebung mit etwa 60 Personen statt. Es wurde ein Strafverfahren wegen Verdachts des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz (Waffentrageverbot) eingeleitet. Am 10. September wurde eine weitere Demonstration vom Rathaus Neukölln zum Mariannenplatz mit etwa 350 Teilnehmern durchgeführt. Gegen einen Teilnehmer, der im Veranstaltungsverlauf eine PKK-Parole skandiert hatte, wurde eine Strafanzeige wegen Verdachts des Verstoßes gegen das Vereinsgesetz gefertigt. Offiziell wurde mit der Demonstration gegen die Isolationshaft Abdullah Öcalans demonstriert, um keinen Bezug zu dem Verbot erkennen zu lassen. 3.6.5 Entscheidung des EGMR zum Prozess gegen Öcalan Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg (EGMR) stellte am 12. Mai fest, dass es sich bei dem Staatssicherheitsgericht, das den Urteil: "Unfaires Verfahren" Prozess gegen Öcalan geführt hatte, nicht um ein unabhängiges und unparteiisches Gericht gehandelt habe. Zudem sei das Verfahren als solches - u. a. aufgrund der Verletzung des Rechts auf anwaltliche Vertretung - unfair verlaufen. Auch das Recht auf unverzügliche Vorführung vor den 254 BVerwG 6 VR 5.05 (6 A 4.05). A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 167 Richter sowie das Recht auf eine binnen kurzer Zeit durchzuführende richterliche Haftprüfung seien verletzt worden.255 Mit dieser Entscheidung der Großen Kammer des EGMR wurde ein erstinstanzliches Urteil des EGMR aus dem Empfehlende Entscheidung Jahr 2003 bestätigt, gegen das die Türkei Widerspruch eingelegt hatte.256 Die türkische Regierung ließ unmittelbar nach dem aktuellen Urteilspruch verlauten, dass die Türkei ihrer rechtsstaatlichen Pflicht nachkommen werde. Ob die beanstandeten Verfahrensmängel zu einer Wiederaufnahme Auswirkungen offen des Prozesses führen, bleibt abzuwarten. Das jüngste Urteil setzt die auf eine Aufnahme in die Europäische Union hoffende Türkei nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpolitisch stark unter Druck, da die ungelöste Kurdenfrage und der Umgang mit dem Kurdenführer Öcalan in der Türkei nach wie vor brisant sind. Zum Prozess und zur Haftsituation Öcalans fanden auch in Berlin mehrere weitgehend störungsfreie Aktionen statt. So Aktionen für Öcalan wurden Aufzüge am 21. Mai zum Kottbusser Tor mit etwa 120 Teilnehmern und am 13. August zum Oranienplatz mit etwa 160 Personen durchgeführt.257 Darüber hinaus beteiligten sich Berliner KONGRA-GELAnhänger an europaweiten Großaktionen wie an der Straßburger Demonstration anlässlich des sechsten Jahrestages der Festnahme Öcalans sowie an dem 13. Internationalen Kurdistan-Festival am 3. September in Köln.258 255 Seit seiner Verhaftung im Jahr 1999 ist Öcalan auf der Gefängnisinsel inhaftiert. Das im Juni 1999 ausgesprochene Todesurteil wurde im Oktober 2000 in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. 256 Urteil der Ersten Kammer des EGMR vom 12.3.2003, Urteil der Großen Kammer vom 12.5.2005, EGMR Nr. 46221/99, EuGRZ 2003, 472 und 2005, 463. 257 Verdacht eines Verstoßes gegen das Vereinsgesetz am 21.5.2005. 258 Mit dem Kurdistan-Festival wurden die Verhandlungen für eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Union, die Kurdenproblematik sowie die Haftsituation Öcalans thematisiert. 168 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 3.6.6 Reaktionen auf Geschehnisse in Syrien Öffentliche Aktionen kurdischer Gruppen gab es in Berlin auch als Reaktionen auf die Lage in Syrien. So fand aus Protest gegen den dortigen Ausnahmezustand am 8. März Proteste vor syrischer Botschaft eine störungsfreie Demonstration vor der Botschaft der Arabischen Republik Syrien statt. Eine weitere Demonstration erinnerte am 10. März an die Auseinandersetzungen zwischen arabischen und kurdischen Fußballfans am 12. März 2004, die von syrischen Sicherheitskräften gewaltsam beendet wurden. Mehrere Kurden kamen damals ums Leben.259 Anlass zu Protestaktionen war zudem die Entführung von Scheich Mahschoq Khsanawi. Nach Pressemitteilungen hatten Unbekannte den sunnitischen Scheich, der als liberaler Verfechter der Rechte der Kurden galt, am 12. Mai in Damaskus entführt. Am 30. Mai soll das geistige Oberhaupt der Kurden in Syrien verstorben sein. In Kreisen syrischer Kurden wird davon ausgegangen, dass der syrische Geheimdienst den Scheich gefoltert und umgebracht habe.260 In diesem Zusammenhang wurde am 23. Mai ein zur syrischen Botschaft führender Aufzug organisiert, der mit etwa 50 Personen störungsfrei verlief. In zeitlicher Nähe dazu wurde am 24. Mai ein Brandanschlag auf das Botschaftsgebäude verübt. Unbekannte Täter warfen drei Molotowcocktails gegen das Gebäude, durch die leichter Sachschaden entstand. Die Ermittlungen des LKA führten bisher zu keiner Täterermittlung und damit keiner Klärung des Tathintergrunds. 259 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 161. 260 Die "Özgür Politika" vom 22.5.2005 berichtete, zehntausend Kurden hätten in der syrischen Stadt Qamislo (Kamishli) für die Freilassung des kurdischen Geistlichen demonstriert. Khsanawi (auch Maschuk al Khsanawi) habe Kontakte zwischen Vertretern der Europäischen Union und den in Syrien verbotenen kurdischen Parteien koordiniert. Vgl. auch Internetartikel der "Gesellschaft für bedrohte Völker" (GfbV) vom 12.5. und 2.6.2005. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - A U S L Ä N D E R E X T R E M I S M U S 169 Zu einer weiteren gewaltfreien Protestveranstaltung gegen die Entführung und vermutete Ermordung des Scheichs kamen am 6. Juni etwa 600 Teilnehmern vor der syrischen Botschaft zusammen. 3.7 Extremistische Iraner Die iranischen oppositionellen Gruppen in Deutschland setzten ihre Bemühungen fort, mittels Protestkundgebungen Protestkundauf ihre Anliegen in der Öffentlichkeit aufmerksam zu gebungen machen. Primäres Ziel der Anhänger des "Nationalen des NWRI Widerstandsrates Iran ( NWRI), des politischen Arms der "Volksmojahedin Iran-Organisation" (MEK), blieb wie in der Vergangenheit die politische Selbstdarstellung als freiheitsliebende und demokratische Exilbewegung. Mit diesem Mittel strebt die Organisation die Streichung der MEK von Ziel: Streichung von den Listen terroristischer Organisationen der EU und der Terrorliste USA an, um sich so in den westlichen Ländern einen Freiraum für politische Aktivitäten gegen die iranische Regierung zu verschaffen. Anders als im Vorjahr, als in Berlin zahlreiche Kundgebungen angemeldet worden waren, die entweder nur geringe Großveranstaltungen Teilnehmerzahlen erreichten oder aber ganz abgesagt wurden, konzentrierte sich der NWRI in 2005 auf einzelne, öffentlichkeitswirksamere Großveranstaltungen mit europaweiter Mobilisierung. Nachdem die für den 10. Februar geplante europaweite Großkundgebung aus Anlass des Jahrestags der Islamischen Demonstrationen Revolution im Iran in Paris am 4. Februar durch die dortige in Berlin Polizeipräfektur verboten worden war, wich die Organisation nach Berlin aus. Die Demonstration sowie die Abschlusskundgebung am Brandenburger Tor konnten stattfinden, nachdem das Verwaltungsgericht Berlin in einer Eilentscheidung die aufschiebende Wirkung einer vom Polizeipräsidenten in Berlin erlassenen Verbotsverfügung unter Anordnung von Auflagen wieder hergestellt hatte. So hatte jegliche Werbung für die MEK zu unterbleiben und MEK-Mitglieder durften nicht als Redner auftreten. Es beteiligten sich ca. 1 500 Anhänger des NWRI aus Deutsch- 170 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 land und anderen europäischen Ländern, darunter Norwegen, Schweden und Frankreich. Im Rahmen der Veranstaltung war auch Maryam Rajavi261 aus Frankreich per Satellit zugeschaltet, um sich an die Demonstranten zu wenden. Am 9. Mai fand in der Max-SchmelingHalle unter dem Leitthema "Demokratischer Wandel im Iran durch Unterstützung von Maryam Rajavi" der Kongress in Berlin "Bundeskongress von Deutsch-Iranern" statt. Im Vorfeld war sowohl auf verschiedenen dem NWRI nahestehenden Internetseiten als auch mittels Flugblättern massiv für die Veranstaltung geworben worden. Das Leitthema des Kongresses spiegelt die zentrale, seit Jahren vom NWRI propagierte Forderung wider, Frau Rajavi als Präsidentin an der Spitze eines neuen Iran zu installieren. Auch im Rahmen dieser Veranstaltung wurde die angestrebte Streichung der MEK von der Terrorliste der EU thematisiert und Unterstützung für den von Frau Rajavi gewiesenen so genannten 3. Lösungsweg262 bekundet. Wie bereits von NWRI / MEK-geprägten Veranstaltungen der Vergangenheit bekannt, wandte sich Rajavi auch hier mit einer auf Großbildleinwand live aus Paris übertragenen Botschaft an die ca. 900 Veranstaltungsbesucher. 261 Maryam Rajavi, Ehefrau des MEK-Führers Massoud Rajavi, wurde 1993 durch den NWRI zur "künftigen Präsidentin eines neuen Iran" gewählt. 262 Der so genannte 3. Lösungsweg Rajavis sieht vor, den Iran weder durch eine Appeasement-Politik noch durch militärische Intervention von außen zu demokratisieren, sondern das klerikale Regime durch das iranische Volk selbst mit Unterstützung des NWRI abzulösen. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - S P I O N A G E A B WE H R 171 4 SPIONAGEABWEHR 4.1 Überblick Gesetzlicher Auftrag der Spionageabwehr ist die Sammlung und Auswertung von Informationen über sicherheitsgefährSystematische dende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Aufklärung Macht. Ziel ist nicht nur, gegnerische Agenten zu überführen, sondern generell Strukturen, Methoden und Zielrichtungen in Deutschland tätiger Nachrichtendienste systematisch aufzuklären. Deutschland ist auch weiterhin ein Aufklärungsziel für Nachrichtendienste aus Ländern der "Gemeinschaft Unabhängiger Staaten" (GUS) - vornehmlich der Russischen Präsenz und Vorgehen Föderation -, solcher aus dem nah-, mittelund fernöstlichen unverändert sowie dem nordafrikanischen Raum. Eine grundlegende Veränderung hinsichtlich Präsenz und Vorgehensweise fremder Nachrichtendienste in Berlin wurde 2005 nicht festgestellt. Insgesamt hat sich bestätigt, dass politische und wirtschaftliche Annäherung sowie eine verstärkte Zusammenarbeit deutscher Sicherheitsbehörden mit ausländischen Diensten einige Länder nicht davon abhält, unvermindert in Deutschland nachrichtendienstliche Informationsgewinnung zu betreiben. Auftragslage und Zielrichtung der in Deutschland tätigen aufklärenden Dienste hängen von der aktuellen politischen Interessenlage der entsendenden Staaten sowie ihrem wirtschaftlichen und technischen Entwicklungsstand ab. Für DissidentenNachrichtendienste insbesondere aus einigen Ländern des ausspähung Nahen und Mittleren Ostens sowie Nordafrikas hat die Ausforschung der jeweiligen Exilopposition in Deutschland weiterhin oberste Priorität. Berlin steht als Anziehungspunkt und Sitz vieler ausländischer Gruppierungen insoweit besonders im Blickfeld. Andere Länder setzen ihren Aufklärungsschwerpunkt nach wie vor "klassisch", d. h. dass die Informationsbeschaffung Klassische Aufklärungsziele aus den Bereichen Politik, Wirtschaft und Militär im Vordergrund steht. Aufgabe der Nachrichtendienste dieser Län- 172 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 der ist es u. a., ihre Regierungen möglichst früh und Hohe Präsenz in detailliert über anstehende außen-, sicherheitsund wirtBerlin schaftspolitische Entscheidungen der deutschen Regierung sowie die politische und fachliche Meinungsbildung in Deutschland zu aktuellen politischen Themen und Konflikten zu informieren. Die hohe Präsenz fremder Nachrichtendienste in Berlin ist denn auch der Tatsache geschuldet, dass Berlin als bundespolitisches Entscheidungszentrum mit vielen die Politik beratenden Einrichtungen, Interessenverbänden und entsprechenden Veranstaltungen der politischen Spionage eine Vielzahl interessanter Ansatzpunkte bietet. Auch die große Zahl der in Berlin angesiedelten diplomatischen Vertretungen spielt eine Rolle. Denn unverändert Legalresidenturen zählt die Abdeckung hauptamtlicher Mitarbeiter fremder Nachrichtendienste durch den vor Strafverfolgung schützenden Diplomatenstatus zu den typischen Tarnmethoden. Von derartigen Legalresidenturen263 aus agieren die abgetarnten Agenten in der Regel bundesweit. Dabei kommen auch nachrichtendienstliche Mittel wie die klassische Agentenführung zum Einsatz. Eine wichtige Beschaffungsmethode aufklärender Nachrichtendienste ist weiterhin die offene Abschöpfung interessanter Kontakte, z. B. durch gezielte Gesprächsführung. Dabei wird das Wissen der Kontaktperson erschlossen, ohne dass diese Offene Abschöpfung den nachrichtendienstlichen Hintergrund des Kontakts erkennen muss. Insbesondere wird versucht, Personen, die gute Zugangsmöglichkeiten zum Zielgebiet oder -objekt aufweisen oder über entsprechende berufliche Perspektiven verfügen, möglichst langfristig zu binden. Gelingt dies, ist für den Betroffenen die Gefahr groß, gewollt oder ungewollt den Schritt hin zur geheimdienstlichen Agententätigkeit im Sinne von SS 99 StGB zu vollziehen. Der Verfassungsschutz ist unabhängig davon, wie weit der Kontakt mit einem Mitarbeiter eines fremden Nachrichten263 Unter einer Legalresidentur versteht man den Stützpunkt eines fremden Nachrichtendienstes, abgetarnt in einer amtlichen (z. B. Botschaft) oder halbamtlichen (z. B. Presseagentur) Vertretung seines Landes im Gastland. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - S P I O N A G E A B WE H R 173 dienstes vorangeschritten ist, für den Betroffenen der richtige Verfassungsschutz Ansprechpartner. Verdachtshinweisen auf einen möglicherbietet Hilfe weise nachrichtendienstlichen Kontaktversuch wird vertraulich und diskret nachgegangen. Im Falle einer bereits vorliegenden nachrichtendienstlichen Verstrickung kann die Spionageabwehr Hilfe anbieten, sich aus ihr zu lösen. Kontaktadressen des Berliner Verfassungsschutzes, darunter auch ein "Vertrauliches Telefon", finden Sie vorne im Impressum dieses Jahresberichts. 4.2 Wirtschaftsspionage Wirtschaftsspionage264 und Konkurrenzausspähung stellen Schaden in für die deutsche Wirtschaft weiterhin einen Deliktbereich Milliardenhöhe mit sehr hohem finanziellen Gefährdungspotenzial dar. Der durch ungewollten Informationsabfluss tatsächlich eingetretene Schaden dürfte unter Zugrundelegen einer aktuellen Hochrechnung in Deutschland pro Jahr in Milliardenhöhe liegen.265 Als Opfer von Know-how-Diebstahl und sonstigem ungewollten Wissensabfluss kommen vor allem Unternehmen mit Kleine und einem oder mehreren Wettbewerbsvorteilen in Betracht. mittelständische Dieser Vorteil kann in den verschiedensten Bereichen liegen, Unternehmen z. B. Technik, Produktlinie, Verfahrensprozesse, Kundenstamm, Strategie, etc. Als besonders gefährdet erweisen sich der o. a. Studie zufolge kleine, innovative, international agierende Unternehmen mit einem großen Wettbewerbsvorteil, wenn sie Kleinserienfertigung mit neuen Produkten und zukunftsweisenden Produktionsverfahren betreiben und nur mit wenigen Mitbewerbern konkurrieren. 264 Wirtschaftsspionage ist die staatlich gelenkte oder unterstützte, von fremden Nachrichtendiensten ausgehende Ausforschung von Wirtschaftsunternehmen. Sie ist abzugrenzen vom Begriff der Konkurrenzausspähung / Industriespionage, die ein konkurrierendes Unternehmen gegen ein anderes betreibt. 265 Studie der Universität Lüneburg (2004) "Fallund Schadensanalyse bezüglich Know-how-/Informationsverlusten in Baden-Württemberg ab 1995" im Auftrag des Sicherheitsforum Baden-Württemberg, siehe auch www.sicherheitsforum-bw.de. 174 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Ungewollter Informationsabfluss verringert Wettbewerbsvorteile und kann zum Verlust von Aufträgen an ausländVerlust von ische Konkurrenten führen. Damit verbunden ist eine SchwäAufträgen chung der deutschen Volkswirtschaft sowie eine Gefährdung von Arbeitsplätzen in Deutschland. Für das betroffene Unternehmen kann im Einzelfall sogar die Existenz auf dem Spiel stehen. Insbesondere vor dem Hintergrund dieses Gefährdungspotenzials schützen sich viele Unternehmen nur unzureichend Unterschätzung vor Spionage. Meist liegt der Schwerpunkt ihrer Sicherheitsder Gefahren vorkehrungen im Schutz ihrer internen Informationssysteme vor unbefugten Zugriffen. Die Möglichkeiten der Ausspähung des E-Mailverkehrs und der übrigen Telekommunikation werden häufig unterschätzt, ebenso die Gefahr durch Weitergabe kopierter oder fotografierter Unterlagen und von "Kopfwissen". Bei zeitlich befristeten Mitarbeitern wie z. B. Praktikanten oder Werkstudenten sollte auf die Einhaltung strenger Regeln zum Umgang mit schützenswerten Firmeninterna geachtet werden. In der Praxis muss der Schutz vor Wirtschaftsspionage und parallel dazu vor Konkurrenzausspähung "vor Ort" beginnen. Nur im jeweiligen Unternehmen kann eingeschätzt werden, inwieweit eine potenzielle Gefährdung durch Wirtschaftsspionage gegeben ist. Hierbei sollte berücksichtigt werden, dass der Wert der ausspähbaren Informationen von den unterschiedlichen Bedürfnissen, Entwicklungsund Sicherheitskonzept Wirtschaftsstandards der spionagebetreibenden Staaten aberforderlich hängig ist. Interne Bedrohungsbzw. Gefährdungsanalysen sind demzufolge der erste Arbeitsschritt. Hieraus ergibt sich eine Bewertung, die helfen soll, Risiken zu erkennen und zu minimieren. Diese Risikobewertung kann dann Grundlage für ein umfassendes Sicherheitskonzept sein, das unter Einbeziehung von technischen, organisatorischen und räumlichen Gegebenheiten auch menschliche Schwächen berücksichtigt. Problem: Es ist schwierig, gerichtsverwertbare Beweise bei der BeBeweisführung kämpfung von Wirtschaftsspionage zu erlangen, weil die nachrichtendienstliche Informationsbeschaffung häufig in A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - S P I O N A G E A B WE H R 175 geschäftsübliches Handeln eingebettet ist und sich oft in einer zum legalen Handeln schwer abzugrenzenden Grauzone bewegt. Zudem werden vermutete Spionagefälle von dem betroffenen Unternehmen wegen befürchteter Vertrauenseinbußen bei Geschäftspartnern selten dem Verfassungsschutz oder der Polizei mitgeteilt. Die Bekämpfung von Wirtschaftsspionage kann jedoch nur in Kooperation mit der Wirtschaft erfolgreich sein. Gerade die Verfassungsschutzbehörden, die nicht dem LegalitätsErfolg durch Kooperation prinzip266 unterliegen, können in Verdachtsfällen diskret Hilfe und Unterstützung leisten. Hinweise und Fragen werden dabei vertraulich behandelt. Der Berliner Verfassungsschutz steht auch für individuelle Informationsgespräche zur Verfügung, denn Information zur Prävention ist der erste Schritt zur Verhinderung von Spionage. Erste Informationen und Hinweise auf Ansprechpartner bietet auch die Broschüre Weiteres "Wirtschaftsspionage", die in ZusammenInformationsmaterial arbeit der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder erschienen ist. Sie kann bei der Verfassungsschutzbehörde des Landes Berlins angefordert werden oder ist auf den Internetseiten unter www.verfassungsschutz-berlin.de abrufbar. 4.3 Proliferation Als eine der führenden Industrienationen ist die Bundesrepublik Deutschland auch bevorzugtes Zielland von Proliferation267 betreibenden Ländern. 266 Das Legalitätsprinzip verpflichtet Strafverfolgungsbehörden, bei Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte Straftaten zu verfolgen. Im Gegensatz dazu gilt für Verfassungsschutzbehörden das Opportunitätsprinzip, wonach eine Mitteilung an Strafverfolgungsbehörden, wenn es zweckmäßig erscheint, in Ausnahmefällen unterbleiben kann. 267 Unter Proliferation wird die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte einschließlich des dafür erforderlichen Wissens sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen verstanden. 176 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Insbesondere Krisenländer268 bemühen sich, in den Besitz von atomaren, chemischen und biologischen Massenvernichtungswaffen oder der zu ihrer Herstellung verwendeten ProSicherheitsrisiko dukte und Vorprodukte sowie entsprechender WaffenträgerMassenvernichtungs waffen technologie zu gelangen. Auch der illegale Transfer des für die Herstellung erforderlichen Wissens fällt unter den Begriff Proliferation und gewinnt zunehmend an Bedeutung. Motiv nachrichtendienstlich gesteuerter Beschaffungsaktivitäten ist häufig, Forschungsund Entwicklungskosten zu vermeiden und embargo-belegte Technik und Wissen zu erhalten. Die wünschenswerte Kooperation zwischen Wissenschaft und Wirtschaft zwecks Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen in die wirtschaftliche Praxis kann insoweit ein besonderes Risiko in sich bergen. Ausländische Studenten und Praktikanten sowie Gastwissenschaftler können im Einzelfall unter dem Gesichtspunkt der Gewinnung proliferationsrelevanten Wissens oder der Wirtschaftsspionage für fremde Nachrichtendienste interessante Ansatzpunkte darstellen. Dem berechtigten Grundsatz von der Freiheit der Lehre und Forschung und dem Bestreben nach internationalen Geschäftsbeziehungen steht die ebenso berechtigte Forderung nach nationaler und internationaler Sicherheit gegenüber. Potenziell proliferationsrelevantes Wissen ist zum einen in der deutschen Wirtschaft und Industrie vorhanden, zum anderen aber auch in naturund ingenieurwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen sowie in Fachbereichen von Hochschulen und Fachhochschulen. Hier ist zu berücksichtigen, dass auch zivile Tätigkeitsoder Forschungsbereiche für eine militärische Nutzung interessant sein können. Exportkontrolle Die Weitergabe von proliferationsrelevantem Wissen wird von der Exportkontrolle ebenso wie die Weitergabe von Gütern erfasst, nur ist sie schwieriger zu erkennen und zu verhindern. Hilfreiche Hinweise bieten die beiden Merkblätter "Verantwortung und Risiken beim Wissenstransfer 268 Länder, von denen zu befürchten ist, dass von dort aus ABC-Waffen eingesetzt werden oder ihr Einsatz zur Durchsetzung politischer Ziele angedroht wird. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - S P I O N A G E A B WE H R 177 I + II"269 des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA), in denen Beispiele für kritischen Wissenstransfer sowie die aktuellen Anzeigeund Genehmigungspflichten aufgeführt sind. Proliferation stellt weltweit eines der größten Sicherheitsrisiken dar und kann, wenn deutsche Firmen oder Personen beteiligt sind, die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland erheblich schädigen. Unternehmen und Forschungseinrichtungen, die aktiv illegale Beschaffungsbemühungen unterstützt haben, müssen nicht nur mit Strafverfolgung, sondern auch mit Umsatzeinbußen und Reputationsverlust rechnen. Eine besondere Problematik beinhaltet hier der Transfer von Gütern, die sowohl zivil als auch militärisch verwendet werDual Use den können, also so genannten Dual-Use-Charakter haben. Hier liegt die mögliche Proliferationsrelevanz in der Endverwendung, die für den Unternehmer schwer zu erkennen ist. Kennzeichnend für proliferationskritische Exporte ist die Anwendung konspirativer Methoden. Es wird versucht, den tatsächlichen Verwendungszweck der Güter bzw. den Auftraggeber und/oder Endverbraucher über Drittländer oder Drittfirmen zu verschleiern. Folgende Auffälligkeiten können auf ein proliferationsrelevantes Geschäft hindeuten: * Der Endverbleib oder -empfänger der Güter ist unklar und kann nicht plausibel dargestellt werden. * Die Transportroute ist geografisch oder wirtschaftlich nicht plausibel. * Zwischenhändler werden ohne zwingenden Grund beteiligt. * Der Kunde kann nicht erläutern, wofür das Produkt gebraucht wird oder der genannte Verwendungszweck weicht erheblich von der vom Hersteller angegebenen Produktbestimmung ab. 269 Die Merkblätter sind auch unter www.ausfuhrkontrolle.info zu beziehen. 178 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 * Der Käufer ist als Händler militärischer Güter bekannt. * Der Käufer verfügt nicht über das erforderliche Fachwissen. * Die Identität eines Neukunden bleibt unklar. * Der Kunde wünscht eine ungewöhnliche bzw. abweichende Beschriftung oder Kennzeichnung der Güter. * Es werden ungewöhnlich günstige Zahlungsbedingungen angeboten. * Der Käufer zeigt kein Interesse an Einweisung, Serviceleistungen und Garantiebedingungen. * Angehörige der ausländischen Firma werden zu Informationsoder Ausbildungszwecken zur deutschen Herstellerfirma geschickt, obwohl eine Installation und Einweisung vor Ort sinnvoller wäre. * Mitglieder von Besucherdelegationen werden namentlich nicht vorgestellt. * Zu weiteren Geschäftskontakten bzw. Referenzen werden keine Angaben gemacht. Die Proliferation kann nur in enger Zusammenarbeit mit Bekämpfung durch anderen Sicherheitsbehörden und befreundeten NachrichtenZusammenarbeit diensten bekämpft werden. Zu diesem Zweck existieren eine Reihe rechtlicher Regelungen und internationaler Abkommen270, für deren Einhaltung die Firmen und wissenschaftlichen Einrichtungen selbst verantwortlich sind. Den Verfassungsschutzbehörden kommen hierbei auch präventive Aufgaben zu. Sie führen Aufklärungsund Sensibilisierungsgespräche durch und leisten in Verdachtsfällen Hilfe und Unterstützung. Hinweise und Fragen werden dabei vertraulich behandelt. 270 U. a. Außenwirtschaftsgesetz und Außenwirtschaftsverordnung (AWG / AWV), Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG), Chemiewaffenübereinkommen (CWÜ), diverse EU-Verordnungen und -Beschlüsse sowie weitere Embargoregelungen, die auf Beschlüssen der "Vereinten Nationen" (UN) oder der "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (OSZE) basieren. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - S P I O N A G E A B WE H R 179 Erste Informationen und Ansprechpartner bietet die Broschüre "Proliferation - Informationsmaterial das geht uns an!", die in Zusammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder erschienen ist. Sie kann bei der Verfassungsschutzbehörde des Landes Berlin angefordert werden und ist auf den Internetseiten des Berliner Verfassungsschutzes unter www.verfassungsschutzberlin.de abrufbar. 180 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 5 GEHEIMUND SABOTAGESCHUTZ Der Schutz von Informationen, deren Kenntnisnahme durch Geheimschutz unverzichtbar Unbefugte den Bestand oder lebenswichtige Interessen, die Sicherheit und die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden kann, ist unverzichtbar. Die Verfassungsschutzbehörde wirkt auf Antrag der zuständigen öffentlichen Stelle daran mit, durch personelle, technische und organisatorische Vorkehrungen Ausforschungen durch Unbefugte in sicherheitsempfindlichen Bereichen zu verhindern.271 Ferner sind sicherheitsempfindliche Stellen bei lebensund verteidigungswichtigen öffentlichen Einrichtungen zu schützen, deren Ausfall oder Zerstörung eine erhebliche Bedrohung für die Gesundheit und das Leben zahlreicher Menschen verursachen könnte oder die für das Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbar sind. Welche Einrichtungen dazu zählen, wird durch eine Rechtsverordnung der Senatsverwaltung für Inneres festgelegt.272 Die Verfassungsschutzbehörde überprüft bei öffentlichen SicherheitsStellen und Wirtschaftsunternehmen Mitarbeiter (so genanüberprüfungen nte Sicherheitsüberprüfungen) und trifft selbst oder veranlasst Maßnahmen zum materiellen Geheimschutz. Zum Zweck des so genannten personellen Sabotageschutzes sind Sicherheitsüberprüfungen gesetzlich vorgesehen. 5.1 Personeller und materieller Geheimschutz im öffentlichen Bereich Der personelle Geheimschutz soll den Schutz von im öffentVerschlusssachen lichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen (so genannte Verschlusssachen) gewährleisten. Verschlusssachen sind je nach dem Schutz, dessen sie bedürfen, nach SS 6 des "Berliner 271 SS 5 Abs. 3 Nr. 1 u. Nr. 3 VSG Bln, Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz (BSÜG) vom 2.3.1998 (GVBl. S. 26) in der Fassung vom 25.6.2001 (GVBl. S. 243), zuletzt geändert durch Art. XV des Gesetzes vom 17.12.2003 (GVBl. S. 617). Das Gesetz ist im Anhang abgedruckt. 272 Verordnung zur Festlegung der Arten lebenswichtiger Einrichtungen im Land Berlin vom 2.9.2003 (GVBl. S. 316). A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - GE H E I M - U N D S A B O T A G E S C H U TZ 181 Sicherheitsüberprüfungsgesetz " (BSÜG) in folgende Geheimhaltungsgrade einzustufen: 1. Streng Geheim 2. Geheim 3. VS-Vertraulich 4. VS-Nur für den Dienstgebrauch Um Sicherheitsrisiken auszuschließen, werden Personen, denen Verschlusssachen mit dem Geheimhaltungsgrad VSVertraulich und höher anvertraut werden sollen, vorher einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen. Alle Details zur Definition eines Sicherheitsrisikos, zum BSÜG Verfahren und zu den Folgen für den Betroffenen sind im BSÜG geregelt. Dabei berücksichtigt das BSÜG die Mindestanforderungen an Sicherheitsüberprüfungen, zu denen sich die Bundesrepublik Deutschland gegenüber ausländischen Staaten und als Mitglied zwischenstaatlicher Einrichtungen (z. B. NATO, WEU, EU) vertraglich verpflichtet hat, damit die Sicherheitsmaßnahmen einen möglichst einheitlichen Standard haben. Um die Grundrechte der Betroffenen zu gewährleisten, wird im BSÜG kein Zwang zur Sicherheitsüberprüfung festgelegt. Freiwilligkeit Dieser Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht273 wird nur mit Zustimmung der Betroffenen durchgeführt. Auch beim Ehegatten oder Lebenspartner, der bei bestimmten Überprüfungsarten in die Sicherheitsüberprüfung einbezogen wird, ist die Zustimmung Voraussetzung. Der Umfang der Sicherheitsüberprüfung richtet sich nach der Sicherheitsrisiko Höhe des Geheimhaltungsgrades, zu dem der Betroffene Zugang erhalten soll oder sich verschaffen kann. Ein Sicherheitsrisiko ist nach SS 7 Abs. 2 BSÜG dann als gegeben anzusehen, wenn tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, die Zweifel am Bekenntnis des Betroffenen zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder an seiner Zuverlässigkeit begründen. Ein weiterer Aspekt ist die Besorgnis der Er273 BVerfGE 65, 1. 182 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 pressbarkeit und damit die Anwerbungsmöglichkeit für eine gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete nachrichtendienstliche Tätigkeit. Die Verfassungsschutzbehörde wird nicht von sich aus tätig, sondern nur auf Antrag des Geheimschutzbeauftragten der Behörde, bei der die zu überprüfende Person beschäftigt ist (so genannte zuständige Stelle). Im Jahr 2005 führte der Berliner Verfassungsschutz 336 Überprüfungen durch (2004: 367). Der personelle Geheimschutz wird durch den materiellen Materieller Geheimschutz ergänzt, der technische und organisatorische Geheimschutz Maßnahmen gegen die unbefugte Kenntnisnahme von Verschlusssachen umfasst. Der Verfassungsschutz berät die öffentlichen Stellen des Landes Berlin: Er informiert über Verschlusssysteme wie den Einbau von Sicherheitstüren und die Installierung von Alarmsystemen; er berät über die Datensicherheit bei der Bearbeitung von Verschlusssachen in Datenverarbeitungssystemen und begleitet die Planung und Durchführung der Maßnahmen. Zum materiellen Geheimschutz gehört auch die Information über die Vorgaben der Verschlusssachenanweisung für das Land Berlin vom 1. Dezember 1992, welche die Bearbeitung, Verwahrung und Verwaltung von Verschlusssachen regelt, und die Kontrolle der Einhaltung dieser Anweisung. Diese Aufgabe obliegt den Geheimschutzbeauftragten, die in jeder Behörde, die Verschlusssachen bearbeitet und verwaltet, eingesetzt sind. Der wichtigste Grundsatz der Verschlusssachenanweisung "Kenntnis nur, lautet: "Kenntnis nur, wenn nötig!" Nur die Personen, die wenn nötig" mit einer bestimmten Verschlusssache befasst sind, sollen Kenntnis erlangen. Deshalb ist es Mitarbeitern, die Verschlusssachen bearbeiten oder sich Zugang verschaffen können, nicht erlaubt, mit Kollegen oder nach Feierabend mit Familienangehörigen über die zu erledigenden Aufgaben zu sprechen. Jede technische Sicherheitsmaßnahme ist sinnlos, wenn die Verschwiegenheit der Mitarbeiter nicht gegeben ist. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - GE H E I M - U N D S A B O T A G E S C H U TZ 183 5.2 Geheimschutz in der Wirtschaft Wirtschaftsunternehmen, die geheimschutzbedürftige Aufträge von Bundesund Landesbehörden ausführen, müssen Sicherheitsstandards vor Ausspähung fremder Nachrichtendienste geschützt und deshalb in das Geheimschutzverfahren von Bund und Ländern aufgenommen werden. Es sollen Sicherheitsstandards geschaffen und eingehalten werden, um zu verhindern, dass Unbefugte Kenntnis von den im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen (Verschlusssachen) erhalten. Ein Unternehmen kann die Aufnahme in die GeheimschutzGeheimschutzbetreuung grundsätzlich nicht für sich selbst beantragen. betreuung Lediglich Firmen, die sich an NATO-Infrastruktur-Ausschreibungen beteiligen wollen, sind zur Antragstellung in eigener Sache befugt.274 Voraussetzung für die Aufnahme eines Unternehmens in das Geheimschutzverfahren des Bundes ist die öffentliche Ausschreibung eines Auftrags mit Verschlusssachen im Bundesausschreibungsblatt. Öffentliche Auftraggeber können z. B. der Bundesminister für Verteidigung bzw. das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung sein. Bei derartigen Verschlusssachen-Aufträgen beantragt der Auftraggeber die Aufnahme des Unternehmens in das amtliche Geheimschutzverfahren beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie. Die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen führt die Geheimschutzverfahren für die Berliner Firmen durch, wenn diese einen Verschlusssachen-Auftrag von einer Landesbehörde erhalten haben. Berliner Behörden schreiben geheimschutzbedürftige AufAusschreibung im träge im Amtsblatt für Berlin aus. Wesentlich für die AusAmtsblatt schreibung bei vertraulichen Staatsaufträgen ist die Formulierung: "Es können sich geeignete Firmen bewerben, die bereits dem Geheimschutz in der Wirtschaft unterliegen, bzw. die sich dem Geheimschutzverfahren in der Wirtschaft unterziehen wollen." 274 Zuständig hierfür ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle mit Sitz in Eschborn. 184 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Vor Auftragserteilung sind mindestens ein gesetzlicher Vertreter des Unternehmens, ein Sicherheitsbevollmächtigter und auch die Firmenmitarbeiter, die von staatlicher Seite aus mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betraut werden sollen, einer freiwilligen Sicherheitsüberprüfung nach den Bestimmungen des BSÜG zu unterziehen. Mitwirkende Behörde bei der Sicherheitsüberprüfung ist nach SS 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 des VSG Bln die Verfassungsschutzbehörde. Im Jahr 2005 wurden 44 Sicherheitsüberprüfungen für Angehörige Berliner Unternehmen durchgeführt (2004: 72). SicherheitsEine weitere grundlegende Voraussetzung für die Aufnahme überprüfungen in den amtlichen Geheimschutz bei Landesaufträgen ist der Abschluss eines öffentlich-rechtlichen Vertrages zwischen der Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen und der Unternehmensleitung. Dies bedeutet die rechtsverbindliche Anerkennung der Bestimmungen der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie herausgegebenen Sicherheitsanleitung "Handbuch für den Geheimschutz in der Wirtschaft" (GHB). Der Sicherheitsbevollmächtigte des Unternehmens ist in Sicherheitsbevollmächtigte Angelegenheiten des Geheimschutzes für die ordnungsgemäße Durchführung der Sicherheitsüberprüfungen verantwortlich. Nach SS 28 Abs. 4 BSÜG wird der Sicherheitsbevollmächtigte für den personellen Geheimschutz von der Verfassungsschutzbehörde in seine Aufgaben eingeführt. Nach Überprüfung der erforderlichen Geheimschutzmaßnahmen erteilt die Senatsverwaltung für Wirtschaft, Arbeit und Frauen dem staatlichen Auftraggeber und dem Unternehmen einen Sicherheitsbescheid. Die Firma kann nunmehr an geheimhaltungsbedürftigen Auftragsverhandlungen beteiligt werden. Fast alle Berliner Firmen, die von staatlichen Auftraggebern einen Verschlusssachen-Auftrag erhalten haben, bearbeiten keine Verschlusssachen. Sie sind vielmehr mit Lieferungen und Leistungen beauftragt worden, bei denen sie Zugang zu Verschlusssachen haben bzw. sich verschaffen können, die VS-Vertraulich und höher eingestuft sind. Dazu zählen A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - GE H E I M - U N D S A B O T A G E S C H U TZ 185 Montageund Wartungsarbeiten sowie Instandsetzungen in sicherheitsempfindlichen Bereichen. Seit Inkrafttreten des Berliner SicherheitsüberprüfungsgeSensibilisierungssetzes 1998 und der damit verbundenen Regelung des gespräche Geheimschutzverfahrens fanden mit den Sicherheitsbevollmächtigten und Vertretern von Unternehmen 324 Aufklärungsund Sensibilisierungsgespräche statt, davon 29 im Jahr 2005. Um die vertrauensvolle Kooperation der betroffenen Unternehmen mit den Sicherheitsbehörden zu vertiefen, unterstützt der Berliner Verfassungsschutz den "Berliner Arbeitskreis für Sicherheitsbevollmächtigte" (SIBE-Arbeitskreis) und den "Arbeitskreis für Unternehmenssicherheit Berlin-Brandenburg" (AKUS) durch fachkundige Referenten und die Bereitstellung von Informationsmaterialien bei Seminaren und Tagungen. Beide Arbeitskreise sollen den in sicherheitsempfindlichen Bereichen tätigen Berliner Unternehmen ein Forum für den Informationsund Erfahrungsaustausch bieten. So fand am 14. November eine Informationsveranstaltung des AKUS zum Thema "Schutz des Know-hows am Wissensstandort Berlin-Brandenburg" statt, an der sich die Berliner Verfassungsschutzbehörde mit einem Beitrag über die Bekämpfung der Wirtschaftsspionage beteiligte. Durch die Partnerschaft von Wirtschaft und Sicherheitsbehörden trägt der Verfassungsschutz auch weiterhin zu einem Beratungsangebote effektiven Wirtschaftsund Informationsschutz bei, um Wirtschaftsspionage zu verhindern. Die Verfassungsschutzbehörde Berlin steht nicht nur geheimschutzbetreuten Unternehmen beratend zur Verfügung. Auch Unternehmen, die nicht mit geheimschutzbedürftigen Aufträgen befasst sind, können sich an den Verfassungsschutz wenden. 5.3 Sabotageschutz Ziel des Sabotageschutzes ist es, die Beschäftigung von Personen, bei denen Sicherheitsrisiken vorliegen, an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebenswichtigen öffentlichen Einrichtungen zu verhindern. Auch zu diesem Zweck ist die Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen gesetzlich vor- 186 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 gesehen (SSSS 1 Nr. 2; 2 Nr. 4 BSÜG). Regelungen zum Sabotageschutz sind erforderlich, weil Sabotageakte gegen lebenswichtige Einrichtungen erhebliche Risiken für die Gesundheit oder das Leben zahlreicher Menschen zur Folge haben oder das Funktionieren des Gemeinwesens gefährden können. In der Verordnung vom 2. September 2003 wurden die Arten der lebenswichtigen Einrichtungen für das Land Berlin festgelegt.275 5.4 Mitwirkung bei Einbürgerungsverfahren und sonstigen gesetzlich vorgeschriebenen Überprüfungen Eine weitere Mitwirkungsangelegenheit des Verfassungsschutzes sind nach SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG Bln Überprüfungen in Einbürgerungsverfahren. Dabei prüft der Verfassungsschutz auf Antrag der Einbürgerungsbehörde, ob über Personen, die einen Antrag auf Einbürgerung gestellt haben, Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörden der Länder oder des Bundes vorliegen. Seit dem 1. Januar 2000 ist eine Einbürgerung für Personen zwingend ausgeschlossen,276 welche Ausschließungs- * die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die gründe Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährden, * sich bei der Verfolgung politischer Ziele an Gewalttätigkeiten beteiligen, * öffentlich zur Gewaltanwendung aufrufen, * mit Gewaltanwendung drohen. Für die Versagung eines Einbürgerungsantrags reicht es aus, Regelanfragen wenn tatsächliche Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen, dass der Einbürgerungsbewerber verfassungsfeindliche Bestrebungen unterstützt oder verfolgt,277 wobei die Einbür275 Verordnung zur Festlegung der Arten lebenswichtiger Einrichtungen im Land Berlin vom 2.9.2003 (GVBl., S. 316). 276 Staatsangehörigkeitsgesetz (StAG), vom 22.7.1913 i. d. F. des Art. 6 Nr. 9 Gesetz zur Änderung des AufenthaltsG vom 14.3.2005. 277 SS 11 Nr. 2 StAG. A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - GE H E I M - U N D S A B O T A G E S C H U TZ 187 gerungsbehörde als zuständige Stelle bei der Entscheidung über einen Ermessensspielraum verfügt. Im Januar 2001 legte die Senatsverwaltung für Inneres fest, dass bei Einbürgerungsbewerbern aus bestimmten Herkunftsländern stets eine Anfrage beim Verfassungsschutz zu erfolgen hat. Unabhängig von der Herkunft ist eine Anfrage auch immer dann zu stellen, wenn Anhaltspunkte für eine extremistische Haltung oder sicherheitsgefährdende Tätigkeiten vorliegen. Im Jahr 2005 wurden 8 051 Anfragen bearbeitet (2004: 9 598). Vergleichbare Sicherheitsanforderungen gelten auch für das Einreiseverbote Aufenthaltsrecht von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland. Das 2005 neu gefasste Aufenthaltsgesetz (AufenthaltG)278 sieht vor, dass Personen, die gewaltbereit sind, terroristische Aktivitäten begehen oder unterstützen, keine Visa oder Aufenthaltsgenehmigungen erhalten oder einem Einreiseund Aufenthaltsverbot in Deutschland unterliegen. Zur Versagung der Einreise muss festgestellt werden, dass eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland besteht.279 Aus rechtsstaatlichen Gründen reichen Vermutungen nicht aus. Um terroristischen oder gewaltbereiten Ausländern keinen Ruheraum in Deutschland zu gewähren, wurden ferner die Ausweisungen Regelausweisungstatbestände erweitert. Im Regelfall wird ausgewiesen, wer nach dem neuen Versagungsgrund nicht hätte einreisen dürfen.280 Zur Feststellung von Versagungsgründen können die Ausländerbehörden den Verfassungsschutzbehörden der Länder und weiteren Sicherheitsbehörden die von ihnen erhobenen Personalien übermitteln. Die angefragten Behörden teilen der Ausländerbehörde unverzüglich mit, ob Versagungsgründe vorliegen.281 Im Jahr 278 Aufenthaltsgesetz (AufenthaltsG), BGBl. Teil I, S. 1953. 279 SS 5 Abs. 4 AufenthaltsG. 280 SS 55 Abs. 2 AufenthaltsG. 281 SS 73 Abs. 2 u. 3 AufenthaltsG. 188 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 2005 gingen 6 750 Anfragen bei der Verfassungsschutzbehörde ein (2004: 7 250). Zu den Aufgaben des Verfassungsschutzes zählt nach SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG auch die Mitwirkung bei Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach SS 7 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG)282 Luftsicherheitsgesetz Die Luftfahrtbehörde und zugleich Luftsicherheitsbehörde Berlins, organisatorisch angesiedelt bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, führt danach Zuverlässigkeitsüberprüfungen von Personen durch, die Zutritt zu den nicht allgemein zugänglichen Bereichen der Flughäfen Tegel und Tempelhof haben sollen. Zum Zweck der Überprüfung kann sich die Luftsicherheitsbehörde vorhandene, für die Beurteilung der Zuverlässigkeit bedeutsame Informationen von der Polizei, aus dem Bundeszentralregister und vom Verfassungsschutz übermitteln lassen. Liegen dem Verfassungsschutz Erkenntnisse vor, sind diese ohne Bewertung der Luftsicherheitsbehörde mitzuteilen. Über die Verwendung im Bereich der Flughäfen entscheidet die Behörde selbst. Im Jahr 2005 wurden 10 699 Personen gemäß SS 7 LuftSiG durch den Verfassungsschutz überprüft (2004: 6 258). Auch das Atomgesetz (AtomG)283 sieht ZuverlässigkeitsKerntechnische überprüfungen vor, an denen der Verfassungsschutz gemäß Anlagen SS 5 Abs. 3 Nr. 4 VSG mitwirkt. Da kerntechnische Anlagen im Hinblick auf mögliche unbefugte Handlungen besonders zu schützende Objekte darstellen, sind Sicherungsmaßnahmen auch in Form der Überprüfung von Personen erforderlich, die Zutritt zu den kerntechnischen Anlagen erhalten sollen. Im Land Berlin werden die Personen überprüft, denen der Zutritt zum Forschungsreaktor des Hahn-Meitner-Instituts gewährt werden soll. Weitere kerntechnische Anlagen sind im Land Berlin nicht vorhanden. Die Überprüfung gemäß SS 12 b AtomG wird ebenfalls von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung als zuständige atomrechtliche Behörde durchgeführt. Für die Prüfung der 282 BGBl, Teil I, S. 78 vom 11.1.2005. 283 BGBl., Teil I, S. 1565 mit letzten Änderungen vom 27.7.2001 (BGBl. Teil I, S. 1950). A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - GE H E I M - U N D S A B O T A G E S C H U TZ 189 Zuverlässigkeit werden auch hier Auskünfte von der Polizei, Informationen aus dem Bundeszentralregister und der Verfassungsschutzbehörde eingeholt. Eine Bewertung der übermittelten Erkenntnisse unterbleibt, diese obliegt der zuständigen atomrechtlichen Behörde. Im Jahr 2005 wurden durch den Verfassungsschutz 208 Personen überprüft (2004: 226). Darüber hinaus gibt es seit 2005 gesetzliche Regelungen über die Beteiligung der Verfassungsschutzbehörden bei Waffenund Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem Waffengesetz, dem Sprengstoffgesetz Sprengstoffgesetz und der Bewachungsverordnung. Seit 1. September 2005 sind die Verfassungsschutzbehörden der Länder für die Überprüfung von Personen zuständig, die gewerbsmäßig mit explosionsgefährlichen Stoffen umgehen oder den Verkehr mit solchen Stoffen betreiben wollen.284 Zuständige Behörde für die Durchführung der Zuverlässigkeitsüberprüfung in Berlin ist das Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheit und technische Sicherheit. Im Jahr 2005 erfolgten 29 Anfragen an die Berliner Verfassungsschutzbehörde. Wer gewerbsmäßig Leben und Eigentum fremder Personen bewachen will, bedarf einer Erlaubnis auf der Grundlage der BewachungsBewachungsverordnung durch die Gewerbeämter der Berverordnung liner Bezirke. In begründeten Einzelfällen können diese gemäß SS 9 Abs. 2 Nr. 2285 der Bewachungsverordnung bei der örtlich zuständigen Verfassungsschutzbehörde anfragen, ob Erkenntnisse vorliegen, die für die Beurteilung der persönlichen Zuverlässigkeit der Antragsteller von Bedeutung sind. Im Jahr 2005 gingen hierzu drei Anfragen bei der Berliner Verfassungsschutzbehörde ein. 284 SSSS 7 u. 8 a Abs. 5 Nr. 4 Sprengstoffgesetz ( SprengG) , BGBl. I S. 3518, zuletzt geändert durch Art. 1 des dritten ÄnderungsG vom 15.6.2005 (BGBl. I, S. 1676) Art. 35 des Gesetzes zur Umbenennung des BGS in Bundespolizei vom 21.7.2005 ( BGBl. I S. 1818) 285 BewachungsVO vom 7.12.1995 (BGBl. I S. 1602), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes zur Änderung des Bewachungsgewerberechts vom 23.7.2002 (BGBl. I S. 2724) 190 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 5.5 Mitwirkung bei den Sicherheitsmaßnahmen anlässlich der Fußballweltmeisterschaft 2006 Vor dem Hintergrund der aktuellen Sicherheitslage, insbesondere des islamistischen Terrorismus, kommt den SicherEinheitliche heitsmaßnahmen zur Fußball-WM 2006 eine besondere BeSicherheitsdeutung zu. Der Ausrichter der WM - der Weltfußballvervorkehrungen band FIFA - und die Innenminister von Bund und Ländern haben sich auf bundesweit einheitliche Sicherheitsvorkehrungen an den Veranstaltungsorten der WM (insbesondere den zwölf offiziellen Fußballstadien und dem Internationalen Medienzentrum) geeinigt. Die Innenministerkonferenz hat am 14. März 2005 festgelegt, Zuverlässigkeitsüberprüfungen im Rahmen der WM-Akkreditierungen durchzuführen. Der zu akkreditierende Personenkreis, der Zugang zu Stadien und Pressezentren erhält, umfasst Mitarbeiter der FIFA und Akkreditierte des Organisationskommitees der WM 2006 (OK WM), AnPersonen gehörige der Mannschaften und Begleitdelegationen, Mitarbeiter und Berechtigte der offiziellen Partner des Veranstalters, Medienvertreter sowie Personen, die im Bereich "Ordnerdienste" und durch die Hilfsorganisationen eingesetzt werden können; einschließlich Bedienstete der Feuerwehr, Freiwillige und Servicebedienstete aller Sparten.286 Die Überprüfung der Akkreditierungsbewerber erfolgt nur Einwilligung der auf der Grundlage der persönlichen und schriftlichen EinBetroffenen willigung der Betroffenen und umfasst eine Anfrage bei Polizei und Verfassungsschutz. Die Antragsteller werden im Datenschutz-Beiblatt, das Bestandteil des Antragsformulars zur Akkreditierung ist, umfassend über das Verfahren der Zuverlässigkeitsüberprüfung informiert und auf ihr Verweigerungsrecht hingewiesen. Weiterhin werden der vorgesehene Zweck, die Verarbeitung und Nutzung der erhobenen Daten erläutert. 286 Internet-Homepage der FIFA: www.fifairm.com/IRM_REGACRWC/Registration A K T U E L LE E N T W I C K L U N GE N - GE H E I M - U N D S A B O T A G E S C H U TZ 191 Die Verfassungsschutzbehörden und die Polizei erteilen ein Votum, das beim Bundeskriminalamt zusammengefasst wird Votum durch und auf dessen Grundlage das OK WM eine Entscheidung Polizei und über die Akkreditierung und damit über den Zutritt zu den Verfassungsschutz sensiblen Sicherheitsbereichen der Stadien trifft. Die bei den Überprüfungsverfahren anfallenden Daten werden von den Verfassungsschutzbehörden für die Dauer von einem Jahr ab dem offiziellen Ende der WM 2006 gespeichert und danach gelöscht. Die einjährige Speicherung dient dem Zweck, nachträgliche Überprüfungen zu ermöglichen. wicklungen - Geheimund Sabotageschutz Hintergrundinformationen 194 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 1 IDEOLOGIEN 1.1 Definition Extremismus Der Begriff Extremismus bezeichnet kein einheitliches Phänomen, sondern ist eine Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Bestrebungen, "die sich in der Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und Spielregeln einig wissen".287 Die verfassungsmäßige Grenze des politischen Handelns ist in der Bundesrepublik Deutschland eindeutig festgelegt. Anlässlich des Verbots der "Sozialistischen Reichspartei" (SRP) bestimmte das Bundesverfassungsgericht 1952 den Kern des demokratischen Verfassungsstaates, die freiheitliche demokratische Grundordnung. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind zu rechnen: * die Achtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte, vor allem des Rechtes der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, * die Volkssouveränität, * die Gewaltenteilung, * die Verantwortlichkeit der Regierung, * die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, * die Unabhängigkeit der Gerichte, * das Mehrparteienprinzip, * die Chancengleichheit aller politischen Parteien, * das Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.288 Die Verfassungsschutzbehörden verwenden den Extremismusbegriff seit Anfang der 70er Jahre in Abgrenzung zu dem oftmals synonym gebrauchten Begriff des Radikalismus. Während extremistische Positionen die Grenze der verfassungsmäßigen Ordnung überschreiten, bezeichnet 287 Uwe Backes / Eckhard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 4. Aufl. Bonn 1996, S. 45. 288 Vgl. BVerfGE 2, 1 ff; BVerfGE 5, 85 ff.; VSG Bln, SS 6. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - IDEOLOGIEN 195 der Radikalismus Auffassungen, die zwar grundlegende systemoppositionelle Positionen vertreten, die sich aber mit ihrer fundamentalen Kritik innerhalb der Grenzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewegen. 1.2 Ideologie des Rechtsextremismus Mit der Sammelbezeichnung Rechtsextremismus verbindet sich keine geschlossene politische Ideologie. Der Begriff umschreibt eine vielschichtige politische und soziale Gedankenwelt und ein Handlungssystem, das in der Gesamtheit seiner Einstellungen und Verhaltensweisen auf die Beseitigung oder nachhaltige Beeinträchtigung demokratischer Rechte, Strukturen und Prozesse gerichtet ist. Rechtsextremistischen Strömungen sind in jeweils unterschiedlichen Gewichtungen und Ausprägungen folgende Inhalte gemeinsam:289 * Ablehnung des Gleichheitsprinzips: Die Ideologie der Ungleichheit äußert sich in der gesellschaftlichen Diskriminierung bestimmter Menschen und Gruppen aufgrund ethnischer, körperlicher und geistiger Unterschiede. * Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit: Die eigene Nation oder "Rasse" wird zum obersten Kriterium der Identität erhoben. Ihr wird ein höherwertiger Status zugeschrieben, was die Abwertung und Geringschätzung von nicht zur eigenen "Nation" oder "Rasse" gehörenden Menschen und Gruppen zur Folge hat. * Antipluralismus: Der pluralistische Interessenund Meinungsstreit wird als die Homogenität der Gemeinschaft zersetzend angesehen. Rechtsextremisten streben eine geschlossene Gesellschaft an, in der Volk und Führung eine Einheit bilden. * Autoritarismus: In demokratischen Ordnungssystemen ist der Staat ein Instrument der Selbstorganisation der Gesellschaft, das Wechselbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft vorsieht. Im autoritären Staatsverständnis steht der Staat in einem einseitig dominierenden Verhältnis über der Gesellschaft. Im Phänomenbereich des Rechtsextremismus treten zahlreiche ideologische Überschneidungen und Mischformen auf. Die Überbewertung der 289 Vgl. Armin Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 2. Aufl., München 2000, S. 11 - 16. 196 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 eigenen Nation im Vergleich zu anderen Nationen wird als Nationalismus bezeichnet. Der Rassismus behauptet die Ungleichwertigkeit von "Menschenrassen" aufgrund ihrer unveränderlichen biologischen und sozialen Anlagen. Rassistische Ideologien leiten daraus ein "naturgegebenes" Recht zur Ausgrenzung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen ab. Eine besondere Form des Rassismus ist der Antisemitismus. Darunter versteht man die Feindschaft gegenüber den Juden als Gesamtheit aufgrund stereotypischer rassistischer, sozialer, politischer und/oder religiöser Vorurteile. Ein weiteres Element des Rechtsextremismus ist der Neonazismus, der durch seinen Bezug zum historischen Phänomen des Nationalsozialismus gekennzeichnet ist. Eine rechtsextreme Ideologie wird als neonazistisch bezeichnet, wenn sie an den historischen Nationalsozialismus anknüpft. 1.3 Ideologie des Linksextremismus Die Utopie linksextremistischer Ideologien ist auf ein herrschaftsfreies, mit politischer, sozialer und ökonomischer Freiheit (Befreiung von unterdrückerischen Machtstrukturen) ausgestattetes Gemeinwesen gleicher Menschen ausgerichtet: die so genannte herrschaftsfreie Ordnung.290 Sie reicht weit über das in demokratischen Verfassungsstaaten akzeptierte Prinzip der menschlichen Fundamentalgleichheit hinaus und kann direkt oder über Zwischenstufen wie etwa im Marxismus-Leninismus (Diktatur des Proletariats / Sozialismus) erreicht werden. Ziel ist, die herrschende, als imperialistisch oder kapitalistisch diffamierte Staatsordnung durch einen revolutionären Akt zu überwinden,291 da ihr unterstellt wird, sie diene ausschließlich der Unterdrückung der Massen bei gleichzeitiger Maskierung der Herrschaftssicherung der gesellschaftlichen Elite.292 290 Vgl. etwa Uwe Backes / Eckard Jesse: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1996, S. 60. 291 Vgl. Ernesto Che Guevara: Guerilla - Theorie und Methode, Berlin 1968, S. 7: "Wir diskutieren das Problem des friedlichen Übergangs zum Sozialismus nicht als ein theoretisches Problem [ ] Darum sagen wir [...], dass der Weg zur Befreiung der Völker, der nur der Weg des Sozialismus sein kann, in fast allen Ländern durch die Kugel erkämpft werden wird." 292 Der Linksextremismus bildet aktuell vor allem die Gegensatzpaare Neoliberalismus versus Antikapitalismus, Faschismus versus Sozialismus, Herrschaft versus Anarchismus aus und diskreditiert die freiheitliche demokratische Grundordnung. HINTERGRUNDINFORMATIONEN - IDEOLOGIEN 197 Trotz der Gemeinsamkeiten in der Umschreibung eines letzten utopischen Ziels unterscheiden sich die Ansätze bezüglich dessen Umsetzung stark voneinander. Anarchisten Anarchisten etwa erwarten eine spontane Bewusstseinsänderung, die - gegebenenfalls auch unter Anwendung von Gewalt - zur Auflösung sämtlicher staatlicher Institutionen führen werde. Diese seien durch dezentrale Selbstverwaltungseinheiten zu ersetzen: "Es kann auf keinen Fall der Zweck der anarchischen Aktion sein, auf die Eroberung der Macht oder die Verwaltung des Bestehenden auszugehen. [...] Die Arbeiter brauchen keine Vermittler, um an ihrer Stelle ihre Forderungen auszudrücken oder einen Kampf zu führen, sondern sie können und müssen es direkt selbst machen. Die Libertären [Anarchisten] denken, dass die Praxis der direkten Aktion, und des Streiks im besonderen, auch das bestmögliche und wirksamste Kampfmittel in den Händen der Arbeiter ist [...] Die Libertären haben sich immer jedem Versuch der Unterwerfung der revolutionären Bewegung oder der Arbeiterbewegung entgegengesetzt, und sie befürworten die Selbstorganisation, die kollektive und autonome Aktion der Arbeiter."293 Autonome Ebenso wie Anarchisten haben auch Autonome kein zentrales Theoriegebäude ausgebildet. Sie wenden sich vor allem aktionsorientiert gegen einen staatlichen "Repressionsapparat", sind ideologisch stark zerstritten, richten sich jedoch diskontinuierlich an polarisierenden Themen aus. Thematischer Minimalkonsens der autonomen Szene sind neben der Akzeptanz von Gewalt gegen Menschen und Sachen die Schlüsselbegriffe Faschismus, Kapitalismus, Imperialismus, Militarismus, Rassismus und Sexismus, die als wesentliche Bestandteile des herrschenden politischen Systems angesehen und jeweils als "Anti"Faschismus, -Kapitalismus etc. die linksextremistischen Aktionsschwerpunkte bestimmen. "Zuerst möchte ich sagen, dass ich grundsätzlich gegen Gewalt bin. Aber in manchen Situationen glaube ich nicht, dass ich etwas ohne Gewalt 293 I-AFD [Initiative für eine anarchistische Föderation in Deutschland] - IFA [Internationale der anarchistischen Föderation]: Was ist Anarchismus. Krefeld 1993, S. 4 f. 198 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 ändern kann. Und dieses System baut ja selbst seit jeher auf Gewalt auf."294 Versierter umschreibt die Gewaltoption ein Vordenker der autonomen Szene: "[...] wo Menschen anfangen die politischen, moralischen, technischen Herrschaftsstrukturen zu sabotieren, zu verändern, ist es ein Schritt zum selbstbestimmten Leben."295 Kommunisten Orthodoxer in der Lehre, strategischer bei der Wahl der thematisierten Politikfelder und organisierter in der Betreuung seiner Anhänger ist der Kommunismus. In unterschiedlichen Ausprägungen strebt er eine klassenlose Gesellschaft an. Dabei fordert er zunächst eine völlige Unterordnung des Individuums unter die revolutionären Ziele und die diese anstrebenden Organisationen. Über Revolutionen, in deren Verlauf das Proletariat die herrschende Elite stürzen solle, und interrevolutionäre Zwischenstufen sei die klassenlose Gesellschaft erreichbar: "1. Der Faschismus ist [...] notwendige Tendenz der kapitalistischen Gesellschaft. 2. Daher gibt es keinen Kampf gegen den Faschismus, es sei denn den Kampf für die Vernichtung des Kapitalismus durch die proletarische Revolution und Diktatur. 3. Denn jeder Aufruf, die Demokratie zu verteidigen, jeder Versuch den Faschismus aufgrund der Demokratie zu bekämpfen, jedes Bündnis mit 'demokratischen' Parteien und Klassen führt zur Zerstörung der proletarischen Bewegung und bahnt dem Faschismus den Weg."296 Von der Ideologie des Kommunismus als klassenloser Gesellschaft ist der real existierende Sozialismus als Übergangsphase vom Kapitalismus zum klassenlosen Gemeinwesen (Kommunismus) zu unterscheiden. Der Begriff des real existierenden Sozialismus stellt keine eigenständige ideologische Variante dar, er beschreibt vielmehr die gesellschaftlichen Gegebenheiten sozialistischer Staaten. Protagonisten derartiger Regime finden sich vor allem in der ehemaligen politischen Elite der DDR, die sich selbst ebenfalls dem Kommunismus zurechnet: 294 "Antifaschistische Aktion Berlin": Bravo Antifa 1. Ausgabe, 12.1996, S. 8. 295 Zitiert nach "Geronimo": Feuer und Flamme, Edition ID-Archiv, Berlin 1990, S. 103 f. 296 "Internationale Revolution" Nr. 3, 12.1969, S. 1, dok. in: Internetauftritt "sinistra". HINTERGRUNDINFORMATIONEN - IDEOLOGIEN 199 "Kommunist zu sein heißt [...] für die Einheit und Reinheit des MarxismusLeninismus zu kämpfen und gemäß der Lehren von Marx, Engels, Lenin und Stalin gegen alle Angriffe der bürgerlichen Ideologie und des Revisionismus und Reformismus innerhalb der Arbeiterklasse mit allen Mitteln zu verteidigen und zu vertreten, sich zur proletarischen Revolution, zur Diktatur des Proletariats und zum proletarischen Internationalismus zu bekennen."297 Gemeinsam ist den unterschiedlichen linksextremistischen Bestrebungen, dass sie eine andere gesellschaftliche Ordnung zu errichten trachten. Ferner stimmen sie trotz aller Differenzen in den Zielrichtungen bei der Wahl ihrer Mittel überein: Sie sehen Militanz gegen den Staat und seine gesellschaftliche Ordnung als probates Mittel der politischen Auseinandersetzung an: "Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!"298 1.4 Ausländerextremistische Ideologien Ausländische Organisationen werden als extremistisch bewertet, wenn sie sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten und die Durchsetzung ihrer Weltanschauung in Deutschland anstreben. Als extremistisch werden aber auch ausländische Organisationen eingestuft, die eine gewaltsame Veränderung der politischen Verhältnisse in den Heimatländern anstreben. Sie gefährden durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland. Ausländische Organisationen werden schließlich als extremistisch bewertet, wenn ihre Tätigkeit gegen das friedliche Zusammenleben der Völker (Art. 21 Abs. 1 des Grundgesetzes) gerichtet ist. Organisationen, die sich gegen das friedliche Zusammenleben der Völker richten, bedeuten eine erhebliche Gefahr für die innere Sicherheit. Sie bilden den Nährboden für die Entstehung extremistischer Auffassungen und 297 Internetauftritt der KPD, Aufruf am 10.9.2002. 298 Internetauftritt der KPD, Aufruf am 17.12.2002, Parteiprogramm vom 7.10.1999. 200 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 schüren Hass, der auch vor Anwendung terroristischer Gewaltanwendung nicht zurück schreckt. In den meisten Fällen werden die Aktivitäten ausländerextremistischer Organisationen von den politischen Verhältnissen in ihren Herkunftsländern bestimmt. Einige der in Deutschland ansässigen Organisationen lassen inzwischen jedoch Tendenzen zu eigenständigem Handeln erkennen. 1.4.1 Linksextremistische Gruppierungen Bei ausländerextremistischen Organisationen lassen sich linksextremistische, nationalistisch orientierte und islamistische Gruppierungen unterscheiden. Linksextremistische Organisationen folgen weitgehend der Ideologie des Marxismus-Leninismus und streben meist mit Gewalt die Etablierung eines sozialistischen bzw. kommunistischen Systems in ihren Heimatländern an. 1.4.2 Nationalistische Gruppierungen Nationalistische Ausländerorganisationen kennzeichnet ein auf ethnische, kulturelle und politisch-territoriale Unterschiede gegründeter Überlegenheitsanspruch der eigenen Nation sowie die Negierung der Rechte anderer Ethnien. In Deutschland spielen sie derzeit nur eine untergeordnete Rolle. 1.4.3 Islamistische Gruppierungen Die größte Gruppe innerhalb der extremistischen Ausländerorganisationen bilden die islamistischen Gruppierungen. Der Islamismus ist nicht gleichbedeutend mit der islamischen Religion. Vielmehr stellt der Islamismus eine politische Ideologie der Gegenwart dar, die sich primär gegen die Herrschaftsverhältnisse in den Heimatländern wendet und den Islam weltweit als ein alternatives Gesellschaftssystem propagiert. Der gesetzliche Beobachtungsauftrag des Verfassungsschutzes richtet sich weder auf die islamische Religion als solche noch auf die hier lebenden Muslime, von denen die Mehrheit unsere Rechtsordnung achtet. Dem Verfassungsschutz geht es um Bestrebungen, die auf die Durchsetzung der islamistischen Weltanschauung in Deutschland oder die gewaltsame Veränderung der politischen Verhältnisse in den Heimatländern abzielen. Was charakterisiert nun die Ideologie des Islamismus und wie ist das Phänomen eines transnationalen islamistischen Terrorismus einzuordnen? HINTERGRUNDINFORMATIONEN - IDEOLOGIEN 201 Herausbildung islamistischer Bewegungen Islamismus bezeichnet den Versuch einzelner Gruppen, den Islam zu ideologisieren und ein als islamisch deklariertes Herrschaftssystem zu errichten. Islamisten verkörpern weder per se eine anti-modernistische, rückwärtsgewandte Bewegung, noch rekrutieren sie sich mehrheitlich aus Modernisierungsverlierern. Vielmehr bilden sie eine breite, bis in die Mitte der Gesellschaft reichende Strömung. Ihnen geht es darum, den Islam zur Grundlage und Richtschnur allen Denkens und Handelns zu machen und Politik und Gesellschaft auf den Islam - so wie sie ihn verstehen - zu gründen. Der Islamismus stellt kein einheitliches Konzept dar, sondern umfasst höchst unterschiedliche Vorstellungen, die wiederum von den divergierenden historischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Herkunftsländer bestimmt sind. Insofern gibt es weder einen "Einheits-Islamismus" noch eine "islamistische Internationale". Richtiger ist es, von islamistischen Bewegungen und Grundzügen islamistischer Ideologie zu sprechen. Historisch geht islamistisches Denken auf die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurück. Angesichts des Bedeutungsverlusts, den die islamische Religion in der muslimischen Welt infolge der Kolonisierung erlitten hatte, hatten sich religiöse Reformer für die Erneuerung von Religion und Gesellschaft durch die "Rückkehr zu den reinen Ursprüngen des Islam" ausgesprochen. Reform und Erneuerung des Islam sowie anti-koloniale - und damit auch anti-westliche - Motive bestimmten in der Folge das Entstehen islamistischer Bewegungen - so etwa der 1928 in Ägypten gegründeten Muslimbruderschaft (). Große Anziehungskraft entfaltete islamistisches Denken nach dem Zweiten Weltkrieg, als in den dann unabhängigen arabischen Nationalstaaten nacheinander die Konzepte des Nationalismus, des Pan-Arabismus und des Sozialismus scheiterten. Ab den späten 70er Jahren gelang es Islamisten, dieses entstandene ideologische Vakuum zu füllen und den "Islam" als ein alternatives politisches und gesellschaftliches Modell zu präsentieren. Gefördert wurde das Erstarken islamistischer Bewegungen durch die iranische Revolution 1979. In der Folge etablierte sich der Iran als ein staatlicher Träger islamistischer Ideologie und suchte diese neue Weltanschauung durch den Export seiner Revolution zu verbreiten. Seit Ende der siebziger Jahre wurden islamistische Bewegungen auch von Saudi-Arabien unterstützt, das finanziell und ideologisch die Ausbreitung einer nicht minder fundamentalistischen islamischen Strömung, des Wahhabismus, über seine Landesgrenzen hinaus verfolgte. 202 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Eine entscheidende Rolle - insbesondere für die Herausbildung des Phänomens des islamistischen Terrorismus - spielte auch die Tatsache, dass ab 1979 Kämpfer (Mujahidin) in Afghanistan Krieg gegen die sowjetische Besatzung führten, der zehn Jahre später mit dem Rückzug der sowjetischen Truppen endete. Diese regionalpolitischen Entwicklungen erleichterten es Islamisten in den 80er Jahren, die scheinbare Überlegenheit eines "islamischen" Gesellschaftssystems gegenüber dem kapitalistischen und sozialistischen Gesellschaftssystem zu propagieren. Hierzu prägten sie vor allem das Schlagwort "Der Islam ist die Lösung". Ideologische Grundzüge des Islamismus Wichtigstes gemeinsames Kennzeichen islamistischer Ideologie ist der Anspruch, dass der Islam stets zugleich "Religion" und "Politik" verkörpert habe - ein Anspruch, den die Islamisten als eine für die islamische Geschichte geltende historische Tatsache darstellen. Die Behauptung, dass es sich beim Islam um eine unteilbare Einheit von Religion und Politik handele, ist allerdings ein nicht mehr als 100 Jahre altes Ideologem. Islamisten verstehen Religion nicht als Glaube und Ethik, sondern als vollkommene Lebensform und Weltanschauung. So propagierte etwa der Chefideologe der pakistanischen "Jamaat-i Islami"Partei, Abul Ala Al-Maududi (1903 - 1979), eine "Ordnung des Islam" (nizam al-islam), die alle Lebensbereiche zu regeln imstande sei und die es anzuwenden gelte. Methodisch orientieren sich Islamisten bevorzugt am Wortlaut des Koran, den sie als ein "für alle Orte und Zeiten gültiges Gesetz" betrachten, und an der Sunna, den in "Berichten" (Hadithen) schriftlich festgehaltenen Worten und Taten des Propheten Muhammad. Beide, Koran und Sunna, haben nach islamistischer Auffassung eine Vorbildfunktion für politisches Handeln in einem künftigen "islamischen Staat". Islamisten idealisieren das erste muslimische Staatswesen, die vor 1 400 Jahren gegründete "Gemeinde von Medina" sowie die Periode der "Vier Rechtgeleiteten Kalifen", die als direkte Nachfolger (Kalifen) des Propheten Muhammad eine "gerechte Kalifatsherrschaft" ausgeübt haben. Ein Idealbild haben Islamisten auch von der Scharia, die sie nicht allein als ein Recht betrachten, sondern als ein politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip. Mit dem Schlagwort der "Anwendung der Scharia" ("tatbiq ash-sharia") plädieren sie für eine vollständige Umsetzung der Bestimmungen des islamischen Rechts. Islamisten sind davon überzeugt, dass das islamische Recht lediglich angewandt werden HINTERGRUNDINFORMATIONEN - IDEOLOGIEN 203 müsse, um sämtliche politischen und sozialen Probleme zu bewältigen. Konkret betrachtet beinhaltet ihre Forderung nach "Anwendung der Scharia" allerdings nur die Anwendung islamischer Strafrechtsbestimmungen und Elemente einer "islamischen Wirtschaftsordnung". Auffällig ist der Versuch von Islamisten, politische Herrschaft mit vermeintlich religiösen Grundlagen zu legitimieren. So ist bei ihnen häufig von der "Gottesherrschaft" (hakimiyat Allah) die Rede, die impliziert, dass politische Herrschaft nicht den Menschen zustehe. Diese Formel steht für das Ziel der Gründung eines religiösen "islamischen Staates", wobei unklar bleibt, wer darin zur politischen Führung befugt und wie dieser Staat zu organisieren sei. Das Konzept der "Gottesherrschaft" geht zurück auf Abul Ala Al-Maududi und Sayyid Qutb (1906 - 1966), den 1966 hingerichteten Chefideologen der ägyptischen Muslimbruderschaft. Beide definierten die gesamte Welt, einschließlich des Westens und der islamischen Hemissphäre, als in einem Zustand der "heidnischen Unwissenheit" befindlich und forderten die Bekämpfung nicht-glaubenskonformer Muslime und so genannter "Ungläubiger" mit Hilfe des Jihad (Kampf). Den "Jihad um Gottes Willen" verstehen Islamisten nicht - wie in der klassischen islamischen Rechtstheorie definiert - als eine ausschließlich zum Zwecke der Verteidigung des Islam zulässige Methode. Der Jihad ist für sie vielmehr eine offensive und militante Aktionsform, die sie zudem zur individuellen Pflicht eines jeden Muslims erheben. Wie weit ein derartiges Verständnis des Jihad gehen kann, zeigte der von Usama Bin Ladin im Februar 1998 verfasste Aufruf der "Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler". Hierin hatte er u. a. die Tötung von Amerikanern zur individuellen Pflicht eines jeden Muslims erklärt und zugleich behauptet, sich in einem gerechten Verteidigungskampf gegen einen überlegenen Gegner zu befinden. Gemeinsam ist den islamistischen Bewegungen, dass sie die politischen Verhältnisse ihrer Heimatländer radikal in Frage stellen. Dies betrifft vor allem die Regierungen in Ägypten, Syrien, Jordanien, Algerien, Tunesien, Marokko, im Irak, sowie die Palästinensische Autonomiebehörde. Ziel der islamistischen Bewegungen ist es bis heute, die autokratischen Herrschaftssysteme in den muslimischen Ländern zu beseitigen, der islamischen Religion größeren Einfluss zu verschaffen und dort möglichst einen - wie auch immer gearteten - "islamischen Staat" zu errichten. Die Tatsache, dass die islamistischen Bewegungen eine gegen Monarchien, Militärdiktaturen und Einparteienherrschaften gerichtete 204 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Opposition darstellen, hat zur Konsequenz, dass die Regierungen dieser Staaten sie seit Jahrzehnten massiv bekämpfen; hierzu gehören auch langjährige Haftstrafen, die Anwendung von Folter und die Verhängung der Todesstrafe. Zusammen mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit finden sich bei Islamisten ferner heftige Polemiken gegen das Prinzip des Säkularismus, der Trennung von Religion und Politik. Die Polemiken sind vor allem gegen die herrschenden politischen Systeme der Herkunftsländer gerichtet, zielen aber auch gegen westliche Demokratiemodelle, die als vermeintlich "un-islamisch" abgelehnt werden. In dieser Hinsicht haben sich einige der islamistischen Gruppen nicht allein zu einer Bedrohung für die muslimischen Heimatländer, sondern auch für die internationale Staatengemeinschaft entwickelt. Dies gilt seit den Anschlägen vom 11. September 2001 im besonderen für den islamistischen Terrorismus, der sich einer ähnlichen Argumentation bedient. Den Boden für die zunehmende Militanz bereiten vor allem verbale Angriffe, die in der Mehrzahl gegen Israel und die USA gerichtet sind. Da hierbei selten zwischen staatlicher Politik und den Bewohnern eines Landes differenziert wird, entwerfen einige islamistische Gruppierungen drastische Feindbilder von "Juden" und "Christen". Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Großteil des ideologischen Gemeinguts islamistischer Gruppierungen unvereinbar mit den im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerten Prinzipien der Demokratie, des Rechtsstaats und der Menschenwürde ist. Die Unvereinbarkeit mit der Verfassung betrifft zum einen das Politikverständnis, das in der Forderung nach Schaffung einer "islamischen Ordnung" zum Ausdruck kommt und das die Errichtung eines religiösen Staates, die Anwendung des islamischen Rechts sowie den Anspruch auf Besitz einer absoluten Wahrheit umfasst. Dies gilt zum anderen für die gesellschaftspolitischen Vorstellungen - etwa in der Frage der Gleichberechtigung der Frau -, welche gleichfalls nicht mit unserem pluralistischen System vereinbar sind. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 205 2 RECHTSEXTREMISMUS 2.1 Aktionsorientierter Rechtsextremismus 2.1.1 "Anti-Antifa Als Reaktion auf die linksextremistische "Antifa" entwickelten gewaltbereite und ideologisch gefestigte, aktionsorientierte Rechtsextremisten das Konzept der "Anti-Antifa". Die "Anti-Antifa"-Aktivisten sammeln Informationen und persönliche Daten über Personen, die sie als politische Gegner ansehen, und veröffentlichen diese im Internet oder in Szenepublikationen. Zu diesem Personenkreis zählen Repräsentanten des Staates (z. B. Politiker, Polizeibeamte, Richter, Staatsanwälte), Repräsentanten jüdischer Organisationen sowie Personen, die sie als "Linke" einstufen. Durch diese Veröffentlichungen soll in erster Linie eine Drohkulisse aufgebaut und der politische Gegner verunsichert werden. Um die Gewalt gegen staatliche Organe oder deren Repräsentanten zu rechtfertigen wird die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland als Diktatur und "Unrechtsregime" verunglimpft, da nationalsozialistische Meinungen und politische Betätigungen unterdrückt würden. Die "Anti-Antifa"-Aktivitäten haben 2005 weiter zugenommen. Es kam vermehrt zu gewalttätigen Aktionen gegen politische Gegner. Erstmals wurden durch Rechtsextremisten Daten von politischen Gegnern bei einem der linksextremistischen "Antifa"-Szene zuzuordnenden Internetversand gehackt und in zwei rechtsextremistischen Kommunikationsplattformen veröffentlicht. 299 Als Personenzusammenschlüsse waren in diesem Bereich vor allem die "Autonomen Nationalisten Berlin" (ANB) sowie "Freie Kräfte Berlin" (FKB) aktiv. Beide sind dem Netzwerk Kameradschaften () und hier speziell den Autonomen Aktionsgemeinschaften () zuzurechnen. 299 Vgl. S. 30 ff. 206 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 2.1.2 "Autonome Aktionsgemeinschaften" Seit 2002 gibt es innerhalb des Kameradschaftsspektrums die Tendenz, sich hinsichtlich Habitus, Kleidung und Aktionen dem Stil autonomer Linksextremisten anzunähern. Diese "autonomen Rechtsextremisten" sind für Außenstehende, aber auch teilweise für die jeweiligen Szeneangehörigen, nicht mehr ohne Weiteres in der Öffentlichkeit von Linksautonomen zu unterscheiden. Zu den identitätsstiftenden Merkmalen zählen inzwischen auch ein eigener Slang, bestimmte Musik und eigene Codes. Gleichzeitig ist eine zunehmende Gewaltbereitschaft festzustellen. Im Gegensatz zu den konventionellen Kameradschaften handelt es sich bei autonomen Aktionsgemeinschaften um Gruppen ohne feste Bindung (z. B. formale Mitgliedschaft, Kassenund Buchführung) und Basisarbeit (z. B. Kameradschaftsabende, politische Schulungen). Bei den autonomen Aktionsgemeinschaften gilt vorwiegend das Prinzip "Mitgliedschaft durch Mitmachen". Es werden hauptsächlich anlassbezogene erlebnisorientierte politische Aktionen durchgeführt, zu denen oftmals spontan über SMS-Ketten mobilisiert wird. Zentrale Aktionsfelder sind "Anti-Antifa"-Aktivitäten - also das Ausspähen und Sammeln von Daten - sowie die Auseinandersetzung mit politischen Gegnern. Zum Aktionsrepertoire gehört darüber hinaus die öffentliche Darstellung durch das Anbringen von Aufklebern ("Spuckis"), Farbschmierereien sowie die Bildung "schwarzer Blöcke" bei rechtsextremistischen Demonstrationen. In Berlin existieren die neonazistischen autonomen Aktionsgemeinschaften "Autonome Nationalisten Berlin" (ANB) und "Freie Kräfte Berlin" (FKB). Während die erstmals 2002 in Erscheinung getretene ANB um Konspiration bemüht ist, tritt die 2005 nach den Kameradschaftsverboten gebildete FKB auch öffentlichkeitswirksam mittels einer Homepage und als Veranstalter von rechtsextremistischen Demonstrationen auf. Insgesamt sind den autonomen Aktionsgemeinschaften in Berlin etwa 100 Personen zuzurechnen, die fast ausschließlich in den östlichen Bezirken agieren. Besondere lokale Schwerpunkte sind Lichtenberg und Treptow-Köpenick. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 207 2.1.3 "Blood & Honour " ÜBERSICHT Abkürzung B&H Entstehung / Gründung 1986 Großbritannien 1994 Deutschland Organisationsstruktur 2000 Vereinsverbot Der in Deutschland verbotene neonazistische Skinhead-Zusammenschluss "Blood & Honour" (B & H) ist neben den "Hammerskins ( HS) eines der beiden international agierenden rechtsextremistischen Skinhead-Netzwerke ( Skinheads). Gegründet wurde B & H 1986 von Ian Stuart Donaldson in Großbritannien und etablierte sich im Laufe der 90er Jahre in vielen europäischen Ländern und den USA. Dem B & H-Netzwerk gehörten bundesweit rund 200 Personen an, die sich in 15 Sektionen organisierten. Die Sektion Berlin bestand aus ca. 30 fest eingebundenen Mitgliedern, das Aktivierungspotenzial der Organisation lag jedoch deutlich höher. B & H wird in Szenekreisen mit dem Zahlencode "28" abgekürzt (nach dem zweiten und achten Buchstaben des Alphabets). B & H versteht sich ausdrücklich als neonazistischer Personenzusammenschluss und ist Kommunikationsplattform ideologisch gefestigter, rechtsextremistischer Skinheads. Ziel der Organisation ist die Bildung eines Netzwerks und die Verbreitung der rechtsextremistischen Ideologie über das Medium der Musik ( Rechtsextremistische Musik). Im Gegensatz zu den Parteien wurde B & H von der rechtsextremistischen Skinhead-Szene als authentisch akzeptiert und gewann vor allem durch die Veranstaltung von Konzerten und die Produktion rechtsextremistischer Musik an Bedeutung. Da sich die Vereinigung gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung richtet, verbot der Bundesminister des Innern den Personenzusammenschluss im September 2000. Im Ausland ist B & H nicht verboten. Dort finden weiterhin von B & H organisierte Konzerte und Treffen statt. Ein Großteil der ehemaligen Berliner Aktivisten ist weiterhin im rechtsextremistischen Musiknetzwerk aktiv. In Berlin gelang es den ehemaligen B & H-Aktivisten nach 208 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 dem Verbot nicht, den organisatorischen Zusammenhalt aufrecht zu erhalten und Konzerte zu veranstalten.300 2.1.4 "Hammerskins" ÜBERSICHT Abkürzung HS Entstehung / Gründung Mitte der 80er Jahre USA 1994 Deutschland Mitgliederzahl Bund: ca. 100 (2004: ca. 100) Berlin: unter 20 (2004: unter 20) Organisationsstruktur Internationale Vereinigung Regional untergliedert in Chapter und Sektionen Die Hammerskins (HS) sind neben Blood & Honour ( B & H) die zweite international tätige rechtsextremistische Skinhead-Organisation ( Skinheads). Die HS wurden Mitte der 80er Jahre als neonazistische "Elite"-Organisation in den USA gegründet. Die Bemühungen um eine länderübergreifende Zusammenarbeit leiten sich aus einem rassistischen Weltbild ab. Ziel der HS ist die Vereinigung aller "weißen" Skinheads über Ländergrenzen hinweg in einer "Hammerskin-Nation". Das Symbol der HS sind zwei gekreuzte Zimmermannshämmer, die auf die Wurzeln der Skinhead-Subkultur im Arbeitermilieu hinweisen und dessen Kraft und Stärke symbolisieren sollen. In Deutschland bildeten sich ab etwa Mitte der 90er Jahre regionale Zusammenschlüsse ("Sektionen"). Aufgrund mangelnder Organisationsstrukturen und einer fehlenden Führungspersönlichkeit in ihren Reihen konnten die HS aber weder in Konkurrenz zu B & H treten, noch ihr Selbstbild als Elite der rechtsextremistischen Skinhead-Szene durchsetzen. Angesichts des postulierten Ziels einer "Hammerskin Nation" 300 In mehreren anderen Bundesländern sind Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf Fortführung der verbotenen Vereinigung B & H anhängig. Der Schwerpunkt der Ermittlungen liegt in Bayern und Baden-Württemberg. Am 7. März 2006 wurden in diesem Zusammenhang von der Polizei bundesweit über 120 Objekte durchsucht. Dabei wurden u. a. eine Handgranate und zwei Faustfeuerwaffen beschlagnahmt. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 209 fällt die Konzeptionslosigkeit der HS auf. Eine Strategie zur Umsetzung ihres Ziels ist nicht erkennbar. Überregionale Koordinierungstreffen finden zwar regelmäßig statt, konzeptionelle Impulse gehen von diesen Treffen bislang jedoch nicht aus. Die Berliner Sektion gründete sich 1994. Sie umfasste in der Folgezeit bei geringer Fluktuation nie mehr als 30 Mitglieder. Gemessen an dem von den "Hammerskins" formulierten Anspruch, geht von der Berliner Sektion keine nennenswerte Außenwirkung aus. Erstmals seit Jahren verzichteten die "Hammerskins" 2005 auf die Ausrichtung einer "Jahresfeier" in Berlin. 2.1.5 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige" ÜBERSICHT Abkürzung HNG Entstehung / Gründung 1979 Mitgliederzahl Bund: ca. 600 (2004: ca. 600) Berlin: ca. 50 (2004: ca. 45) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Frankfurt am Main Veröffentlichungen "Nachrichten der HNG" (überregional, monatlich, Auflage ca. 600) Die "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V." (HNG) ist mit bundesweit ca. 600 Personen der mitgliederstärkste Zusammenschluss im aktionsorientierten Rechtsextremismus. In Berlin verfügt die HNG über ein Mitgliederpotenzial von rund 50 Personen. Die HNG bezeichnet sich als "Sammelbecken und Solidargemeinschaft" für Neonazis aller politischen Gruppierungen aus Deutschland und dem nahen Ausland. Laut ihrer Satzung verfolgt sie "ausschließlich karitative Zwecke, indem sie nationale und politische Gefangene und deren Angehörige im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden Mittel unter- 210 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 stützt".301 Tatsächlich ist es ihr Ziel, die Einbindung der Straftäter in die rechtsextremistische Szene während der Haftzeit zu gewährleisten und sie nach der Haftentlassung nahtlos dort wieder zu integrieren. Zu diesem Zweck nutzt die HNG ihre Publikation "Nachrichten der HNG". Darin sind "Gefangenenlisten" abgedruckt sowie eine Liste derjenigen inhaftierten Rechtsextremisten, die Briefkontakt wünschen. Auch in Berliner Gefängnissen werden Rechtsextremisten von der HNG betreut. Darüber hinaus versucht die HNG den Eindruck zu erwecken, alle von ihr betreuten Straftäter seien "politische Gefangene". Aufgrund des eng umrissenen Vereinszwecks spielen ideologische oder strategische Meinungsverschiedenheiten der HNG-Mitglieder dabei keine große Rolle. Die HNG ist bemüht, sich aus politischen Auseinandersetzungen innerhalb des Rechtsextremismus herauszuhalten, einen "neutralen" Status zu wahren und die Vernetzung innerhalb des Rechtsextremismus zu fördern. 2.1.6 Kameradschaften Kameradschaften (KS) sind Personenzusammenschlüsse, die einen abgegrenzten Aktivistenstamm mit beabsichtigter geringer Fluktuation haben, eine lediglich lokale oder maximal regionale Ausdehnung, eine mindestens rudimentäre Struktur und die Bereitschaft zu gemeinsamer politischer Arbeit auf der Basis einer rechtsextremistischen, insbesondere neonazistischen Grundorientierung. Kameradschaften sind in der Regel hierarchisch gegliedert und bestehen aus einem autoritär agierenden Kameradschaftsführer, einem Stellvertreter und meist jugendlichen Kameradschaftsmitgliedern, die sich regelmäßig zu Kameradschaftsabenden treffen. Die für die Einordnung als Kameradschaft maßgebliche gemeinsame politische Arbeit geschieht z. B. durch geschlossene Teilnahme an Demonstrationen, Erstellung und Verbreitung von Flugblättern, Internetauftritte oder politische Schulungen. Kameradschaften entstanden als Reaktion der rechtsextremistischen Szene auf die zahlreichen Organisationsverbote in den 90er Jahren. An die Stelle der zerschlagenen überregionalen Strukturen sollten kleinere, unabhängige Einheiten treten, die aufgrund ihres informellen Charakters weniger Angriffspunkte für staatliches Vorgehen bie301 Satzung der HNG vom 13.3.1999, SS 2. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 211 ten sollten. Nach den Verboten der "Kameradschaft Tor Berlin" und "Berliner Alternative Süd-Ost" im Jahr 2005 ist die Organisationsform unattraktiver geworden. Es ist eine Hinwendung von Kameradschaftsaktivisten zu autonomen Aktionsgemeinschaften () und der JN ( NPD) festzustellen.302 In Berlin gibt es derzeit nur noch drei klassische neonazistische Kameradschaften, denen etwa 40 Personen zuzurechnen sind. Dabei handelt es sich um den "Märkischen Heimatschutz - Sektion Berlin" (MHS), die "Vereinten Nationalisten Nordost" (VNNO) sowie die "Kameradschaft Nord-Ost". Diese Kameradschaften agieren hauptsächlich in den Bezirken Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick. Neonazi-Cliquen, die sich mitunter selbst als Kameradschaft bezeichnen, bei denen aber der öffentlichkeitswirksamen politisch-ideologischen Arbeit nur sekundäre Bedeutung zukommt, werden vom Verfassungsschutz nicht als Kameradschaften definiert. Bei diesen Gruppen stehen konspirative Aktivitäten, gemeinschaftliches Auftreten und gemeinsame Freizeitaktivitäten auf Basis einer neonazistischen Grundorientierung im Vordergrund. Dies gilt z. B. für den rechtsextremistischen Personenzusammenschluss "Kameradschaft Nordland" . 2.1.7 "Kameradschaft Nordland" ÜBERSICHT Abkürzung KS Nordland Mitgliederzahl Unter 20 (2004: unter 20) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Im April 2004 wurden die Mitglieder der konspirativ agierenden "Kameradschaft Nordland" bei der Durchführung einer Wehrsportübung in Brandenburg von der Polizei festgestellt und ein Ermittlungsverfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung eingeleitet. 302 Vgl. S. 20 ff. 212 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Bei den Mitgliedern handelt es sich um ideologisch gefestigte und gewaltbereite Neonazis. Das Durchschnittsalter ist mit über 35 Jahren relativ hoch und jedes Mitglied ist mehrfach vorbestraft. Darunter sind neben politischen Propagandastraftaten, Körperverletzungen, Verstößen gegen das Waffenund Sprengstoffgesetz auch zahlreiche allgemeinkriminelle Straftaten. Die Staatsanwaltschaft hat gegen ein Mitglied aufgrund seiner Zugehörigkeit zu der Neonazi-Band "Deutsch, Stolz, Treue (D.S.T. / Rechtsextremistische Musik) ein Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung eingeleitet. Drei weitere Mitglieder waren führende Funktionäre der 1995 vom Bundesminister des Innern wegen der Wesensverwandtschaft mit der NSDAP verbotenen "Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei" (FAP). Die "Kameradschaft Nordland" gehört zum rechtsextremistischen Musiknetzwerk in Berlin. Es bestehen vor allem Verbindungen zu den Vandalen Ariogermanische Kampfgemeinschaft ( Vandalen). Unter den Mitgliedern befindet sich mit dem Neonazi Eckart Bräuniger auch der jetzige Landesvorsitzende der NPD Berlin. 2.1.8 "Kameradschaft Spreewacht" ÜBERSICHT Abkürzung KSW Entstehung / Gründung Ende der 90er Jahre Mitgliederzahl Unter 20 (2004: unter 20) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Die Mitglieder der "Kameradschaft Spreewacht" (KSW) sind der Subkultur der rechtsextremistischen Skinheads zuzurechnen. Die lebensälteren Rechtsextremisten propagieren neonazistisches Gedankengut und transportieren das subkulturelle Lebensgefühl der Mitglieder in Abgrenzung zur bürgerlichen Gesellschaft. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 213 Auf ihrer Homepage finden sich rechtsextremistische Symbole und Codes, so beispielsweise "88" für "Heil Hitler".303 Nach eigener Aussage gründete sich die Gruppe Ende der 90er Jahre und schottete sich ab, um sich der Beobachtung durch die Sicherheitsbehörden zu entziehen: "Wir die Kameradschaft Spreewacht ein feierfreudiges Völkchen haben uns Ende der 90er Jahre zusammen gerauft. Da gerade in Berlin die sogenannte Staatsmacht [...] alles daran setzte um geistig gefestigte Menschen zu kriminalisieren, und zu unterwandern, haben wir uns abgeschottet [...]."304 Auf der Homepage sind zahlreiche Schlagoder Schusswaffen abgebildet. Ihre Aggressivität gegenüber dem politischen Gegner zeigt eine Grafik, auf der ein Neonazi einer am Boden liegenden Person vor den Kopf tritt. Umrandet ist diese Szenerie mit dem Schriftzug: "Good night, left side."305 Die KSW gehört zum rechtsextremistischen Musiknetzwerk in Berlin, wie z. B. die auf der Homepage erwähnten Verbindungen zur Berliner Band "Legion of Thor" zeigen. Sie betreibt ein Clubhaus in BerlinLichtenberg. 2005 trat die "Kameradschaft Spreewacht" als Veranstalter rechtsextremistischer Konzerte in Erscheinung ( Rechtsextremistische Musik). 2.1.9 Neonazis Neonationalsozialisten (Neonazis) orientieren sich ideologisch am historischen Phänomen des Nationalsozialismus, wie er von der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei" (NSDAP) vertreten wurde. Wie in der NSDAP sind auch im Neonazi-Spektrum unterschiedliche ideologische Strömungen festzustellen. So gibt es Bezüge zum sozialrevolutionären Flügel innerhalb des Nationalsozialismus und dem damit verbundenen Antikapitalismus Ernst Röhms und der Gebrüder Strasser. Allen Versionen des Neonationalsozialismus gemeinsam ist die Glorifizierung der Führungspersonen des NS-Regimes und die Verharmlosung der NS-Verbrechen. 303 Internetauftritt der KSW, Aufruf am 20.12.2005. 304 Internetauftritt der KSW, Aufruf am 20.12.2005. Fehler im Original. 305 Internetauftritt der KSW, Aufruf am 20.12.2005. 214 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Ein Teil der Neonazi-Szene ist in festen Strukturen wie den so genannten Kameradschaften () organisiert. Andere Neonazis nehmen lediglich unregelmäßig an politischen Aktionen wie Demonstrationen teil oder betätigen sich in dem losen Verbund einer autonomen Aktionsgemeinschaft (). 80 Prozent der ideologisch gefestigten Berliner Neonazis wohnen in den östlichen Bezirken, bei den ideologisch gefestigten und gewaltbereiten Neonazis ergibt sich sogar ein Anteil von 85 Prozent. Geographische Schwerpunkte der Neonazi-Szene sind die Bezirke Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf, Pankow und Treptow-Köpenick. Allein in diesen vier Bezirken leben 75 Prozent der ideologisch gefestigten Neonazis und befinden sich 80 Prozent der von der Neonazi-Szene genutzten Trefforte. Besonders betroffen ist der Bezirk Lichtenberg, insbesondere die Gegend um den Bahnhof Lichtenberg. In den unmittelbar an dem Bahnhof gelegenen südöstlichen und nordwestlichen Wohngebieten lebt jeder sechste ideologisch gefestigte Berliner Neonazi. 2.1.10 Rechtsextremistische Musik Unter rechtsextremistischer Musik versteht man die Kombination rechtsextremistischer Texte mit verschiedenen Musikstilen (u. a. Rock / Hardrock, Liedermacher, Gothic, Dark Wave, Schlager, Rockabilly, Volkslieder).306 Die Musik-Szene ist seit Mitte der 90er Jahre einer der dynamischeren Bereiche des Rechtsextremismus. Im strukturarmen aktionsorientierten Rechtsextremismus stellt sie - und hier besonders durch die Konzerte - eine wichtige Kommunikationsplattform dar. Die Mitgliedschaft in einer Band bietet die Möglichkeit, sich innerhalb der Szene zu profilieren - je menschenverachtender die Texte einer Band sind, desto größer das Ansehen unter den Szene-Angehörigen. Eng mit dem Bedeutungszuwachs der Musikszene war der Aufstieg der Blood & Honour-Organisation ( B & H) verbunden. Strategisch denkende Köpfe wie der B & H-Gründer Ian Stuart Donaldson ver306 Oft verwendete Schlagwörter wie "Rechtsrock" oder "Skinhead-Musik" sind unpräzise, da sie entweder nur einen kleinen Teil rechtsextremistischer Musik bezeichnen (Rechtsrock) oder aber mit ihr nicht deckungsgleich sind. So spielen in der SkinheadSubkultur Musikrichtungen wie Ska, 2Tone oder Oi!-Punk eine wichtige Rolle. Diese Musikstile werden in der Regel nicht mit rechtsextremistischen Texten versehen. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Rechtsextremistische Skinheads. Berlin 2003, S. 56 ff. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 215 suchten, die Musik als Mittel der ideologischen Beeinflussung und Rekrutierung einzusetzen. Diese Strategie war nur begrenzt erfolgreich - eine Rekrutierung für die Szene erfolgt selten über das alleinige Hören rechtsextremistischer Musik. Für die Gewinnung Außenstehender ist der persönliche Kontakt mit der Szene, der auch auf Konzerten zustande kommt, wichtiger.307 Daneben erlangte der Musikbereich auch finanzielle Bedeutung für den aktionsorientierten Rechtsextremismus. Seit Mitte der 90er Jahre etablierten sich professionelle Händler, welche die Szene mit Tonträgern und sonstigem Szenebedarf (vor allem Kleidung) versorgen. Die Aktivitäten der rechtsextremistischen Musikszene in Berlin erreichten Mitte der 90er Jahre ihren Höhepunkt, bevor sie gegen Ende der 90er Jahre unter erheblichen Druck durch das Vorgehen der Sicherheitsbehörden gerieten: Rechtsextremistische Veranstaltungen wurden aufgelöst, Tonträger indiziert und Hausdurchsuchungen durchgeführt. Mit der Verurteilung der Mitglieder der Band "Landser" im Dezember 2003 wurde erstmals eine Band als kriminelle Vereinigung eingestuft.308 Gegen die Bandmitglieder von "Deutsch, Stolz, Treue" (D.S.T.) hat die Berliner Staatsanwaltschaft wegen der CD "Ave et Victoria", deren Texte Straftatbestände nach SSSS 86 a (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen) und 130 StGB (Volksverhetzung) verwirklichen, ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Der rechtsextremistische Konzertbetrieb im Land Berlin ist aufgrund des konsequenten Vorgehens der Sicherheitsbehörden in den vergangenen Jahren weitgehend zum Erliegen gekommen. Das hat dazu geführt, dass die Berliner Bands ihre Auftritte ins Bundesgebiet und ins Ausland verlegen mussten. Erstmals seit Jahren wurde 2005 allerdings wieder ein Konzert in Berlin durchgeführt.309 Hinsichtlich der Tonträgerproduktion ist in den letzten zwei Jahren ein leichter Anstieg festzustellen. 307 Vgl. Rainer Dollase: Welche Wirkung hat der Rock von Rechts? In: Dieter Baacke/Klaus Farin/Jürgen Lauffer (Hg.): Rock von Rechts. Milieus, Hintergründe und Materialien. Bielefeld 1999, S. 106 - 117. 308 Beschluss des Kammergerichts Berlin vom 22.12.2003, Az: (2) 3 StE 2/02-5(1) (2/02). Das Urteil des Kammergerichts Berlin wurde im März 2005 im Wesentlichen durch den Bundesgerichtshof bestätigt. Az: 3 StR 233/04. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004. 309 Vgl. S. 37. 216 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Tonträger-Veröffentlichungen Berliner Bands 12 10 10 8 7 7 6 6 5 5 5 5 4 3 2 2 2 2 1 1 1 0 0 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 Die Berliner Bands sind im Vergleich zu früheren Jahren bemüht, in ihren Veröffentlichungen jugendgefährdende oder strafrechtlich relevante Aussagen weitgehend zu vermeiden. Die Texte enthalten aber weiterhin fremdenfeindliche und antisemitische Aussagen - wenn auch zum Teil verschlüsselt -, beschreiben den fortwährenden "Kampf gegen das System" und machen deutlich, dass die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie zugunsten einer autoritären Staatsform angestrebt wird. Mit der Herausgabe von CDs, der Beteiligung an Samplern und Konzerten hat die rechtsextremistische Berliner Musikszene auch überregionale Bedeutung. Sie wird vor allem von Bands aus dem so genannten "Hardcore"-Bereich bestimmt: Zu den derzeit in Berlin aktiven Bands gehören "Spreegeschwader", "Spirit of 88" (Soloprojekt von "Spreegeschwader"), "Deutsch, Stolz, Treue" (D.S.T.), "Legion of Thor" (LoT), "Macht & Ehre" und "Schwarzer Orden" (Projekt von "Macht & Ehre"). Bis zur Verurteilung ihrer Mitglieder spielte die Band "Landser" eine dominante Rolle im rechtsextremistischen Musiknetzwerk. Der ehemalige Sänger dieser Band hat 2004 eine neue Band unter dem Namen "Die Lunikoff-Verschwörung" ins Leben gerufen, die zwischenzeitlich ebenso wie "Landser" verehrt wird. Seit seiner Inhaftierung ruhen die musikalischen Aktivitäten der Band. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 217 2.1.11 Skinheads Die Subkultur der Skinheads310 wird oft mit jugendlichem Rechtsextremismus gleichgesetzt. Dies ist eine unzutreffende Verkürzung, da die Skinheads zunächst eine jugendliche Subkultur wie die der Punks, Hippies oder Raver darstellen. Die Skinhead-Subkultur entstand in den 60er Jahren in Großbritannien und orientierte sich hinsichtlich ihrer Werte und ihres "Outfits" an der Arbeiterklasse. In Deutschland gibt es Skinheads seit Anfang der 80er Jahre, die größten Szenen entwickelten sich in Hamburg und Berlin. Erst im Laufe der Zeit driftete ein Teil der Skinhead-Szene in den Rechtsextremismus ab. Zum einen bestanden Abgrenzungsbestrebungen gegenüber den "linken" Punks, zum anderen bekam die Szene Zulauf aus dem neonazistischen Lager, nachdem die Skinheads aufgrund der Provokation mit rechtsextremistischen Zeichen in der Öffentlichkeit zum Symbol des Rechtsextremismus schlechthin wurden.311 Das Thema Rechtsextremismus spaltet die Skinhead-Szene. Viele Skinheads - wie zum Beispiel die sich selbst als unpolitisch bezeichnenden "Oi!-Skins" oder politisch links orientierte Skinheads ("Redskins") - wehren sich gegen die Vereinnahmung der Szene. Wissenschaftler schätzen, dass etwa zwischen 30 und 60 Prozent der Skinhead-Szene rechtsextremistisch eingestellt sind.312 Es handelt sich dabei allerdings nicht ausschließlich um fanatisierte Neonationalsozialisten. Obwohl es auch überzeugte, ideologisch gefestigte rechtsextremistische Skinheads gibt (so genannte Neonazi-Skins), hat ein großer Teil nur ein diffuses rechtsextremistisches Weltbild. Rechtsextremistische Skinheads sind dem aktionsorientierten Rechtsextremismus zuzuordnen. Sie sind zum großen Teil organisationsfeindlich eingestellt und lehnen eine Einbindung in feste (Partei-)Strukturen 310 Für eine ausführliche Darstellung vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Rechtsextremistische Skinheads. Berlin 2003. 311 Vgl. Christian Menhorn: Skinheads. Portrait einer Subkultur. Baden-Baden 2001, S. 22 und 149 ff. 312 Farin geht von ca. 30 Prozent, Menhorn von einem höheren Anteil aus (über 50 Prozent). Weltzer schätzt die Zahl in den alten Bundesländern auf 30 bis 50 Prozent, in den neuen Ländern liege der Anteil wesentlich höher. Vgl. Klaus Farin: Interview. In: "Jungle World" Nr. 51, 17.12.1997; Jörg Weltzer: Skinheads, NaziSkins und rechte Subkultur. In: Jens Mecklenburg (Hg.): Handbuch Deutscher Rechtsextremismus. Berlin 1996, S. 782 - 791, hier: S. 785. 218 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 ab. Versuche rechtsextremistischer Parteien, das Skinhead-Potenzial dauerhaft an sich zu binden (z. B. durch die "Aktionsfront Nationaler Sozialisten" Anfang der 80er Jahre, die "Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei" Mitte der 80er Jahre oder die "Nationale Alternative" Anfang der 90er Jahre), scheiterten. Den jüngsten Versuch machte die NPD mit ihrem Drei-Säulen-Konzept ( NPD). Im Gegensatz zu den Parteien, die von den rechtsextremistischen Skinheads überwiegend als szenefremd wahrgenommen werden, konnten sich in Deutschland seit Anfang der 90er Jahre zwei rechtsextremistische Skinhead-Zusammenschlüsse etablieren: Blood & Honour () und die Hammerskins (). 2.1.12 "Vandalen - Ariogermanische Kampfgemeinschaft" ÜBERSICHT Abkürzung Vandalen Entstehung / Gründung 1982 Mitgliederzahl Unter 20 (2004: unter 20) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Die "Vandalen - Ariogermanische Kampfgemeinschaft" (Vandalen) sind eine Gruppe ideologisch gefestigter Neonazis (). Die Gruppe wurde 1982 in Ost-Berlin gegründet. Ihre Mitglieder sind inzwischen alle älter als 35 Jahre. Sie machen sich entweder subkulturelle Codes der Rocker oder der Skinheads () zu eigen. Durch das uniforme Tragen einer "Kutte" verdeutlichen sie ihren Gruppenzusammenhalt. Im Zentrum ihrer Ideologie steht ein neonazistisches Weltbild in Verbindung mit einem völkischen Germanenkult. Die Mitglieder der "Vandalen" sind gewaltbereit, stark waffeninteressiert und begehen seit Anfang der 90er Jahre regelmäßig Straftaten (u. a. Körperverletzungen und Propagandadelikte). Ein Mitglied der "Vandalen" wurde im Jahr 2000 wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten auf Bewährung verurteilt. Der Verurteilte hatte versucht, ein Präzisionsgewehr inklusive Schalldämpfer und H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 219 Zielfernrohr mit passender Munition zu verkaufen. Die selbe Person wurde 2003 wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung zu einer erneuten Freiheitsstrafe verurteilt. Der Anführer der "Vandalen" war Initiator und Sänger der rechtsextremistischen Band "Landser". Die teilweise vorbestraften Bandmitglieder wurden im Dezember 2003 vom Kammergericht wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung verurteilt. Im März 2005 wurde in der vom Initiator der Band angestrengten Revisionsverhandlung das Urteil im Wesentlichen bestätigt, seither ist er inhaftiert. Die Monate vor der Inhaftierung nutze er mit seiner neuen Band "Lunikoff-Verschwörung" zur fortlaufenden Produktion rechtsextremistischer Musik und trat bundesweit auf Konzerten auf, wobei er sich um legales Auftreten bemühte. Die "Vandalen" verfügen über persönliche Kontakte zu beinahe allen Personenzusammenschlüssen im rechtsextremistischen Netzwerk Musik () in Berlin. Ihr Anführer wird als ehemaliger Texter und Sänger von "Landser" von vielen Rechtsextremisten idolisiert und inszeniert sich seit seiner Verurteilung als "Märtyrer". Die "Vandalen" haben daher eine dominante Stellung im rechtsextremistischen Netzwerk Musik in Berlin. Das Clubhaus der "Vandalen" in Berlin-Hohenschönhausen ist ein Treffort des Netzwerks. Der Ausfall ihres Anführers hat die Aktivitäten der "Vandalen" allerdings geschwächt. So fand 2005 erstmals seit Jahren keine "Jahresfeier" statt.313 Zum engen Umfeld der "Vandalen" gehören vor allem Mitglieder der Kameradschaft Nordland (), der Berliner Band Spreegeschwader und ehemalige Blood & Honour-Aktivisten (). 313 Vgl. S. 35. 220 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 2.2 Parlamentsorientierter Rechtsextremismus 2.2.1 "Deutsche Volksunion" ÜBERSICHT Abkürzung DVU Entstehung / Gründung Bund: 1987 Landesverband Berlin: 1988 Mitgliederzahl Bund: ca. 9 000 (2004: ca. 11 000) Berlin: ca. 420 (2004: ca. 450) Organisationsstruktur Partei Sitz München Veröffentlichungen "National-Zeitung / Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ) (überregional, wöchentlich, Auflage ca. 40 000) Die "Deutsche Volksunion" (DVU) wurde 1987 auf Initiative des Münchner Geschäftsmannes und Verlegers Dr. Gerhard Frey mit Unterstützung der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands ( NPD) als "Deutsche Volksunion - Liste D" gegründet. 1991 vollzog Frey mit der Streichung des Namensbestandteils "Liste D" die Trennung von der NPD. Das Organisationsgeflecht rund um die DVU umfasst den 1971 gegründeten Verein DVU e. V. sowie die drei so genannten Aktionsgemeinschaften "Initiative für Ausländerbegrenzung" (I.f.A.), "Ehrenbund Rudel" und "Aktion Oder-Neiße" (AKON). Darüber hinaus betreibt Frey den "DSZ Druckschriftenund Zeitungs-Verlag GmbH" (DSZ-Verlag) mit der "National-Zeitung / Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ) und den "FZ Freiheitlicher Buchund Zeitschriften-Verlag GmbH" (FZ-Verlag) als Buchund Devotionalienversand. Die DVU ist mit 16 Landesverbänden im gesamten Bundesgebiet vertreten und die mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei. In ihrem Parteiprogramm bekennt sich die DVU formal zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. In der praktischen Arbeit der Partei spielt die Programmatik allerdings kaum eine Rolle. Ihr politischideologischer Standpunkt spiegelt sich vielmehr in der Agitation der NZ wider. Die NZ ist die auflagenstärkste rechtsextremistische Wochen- H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 221 zeitung in Deutschland. Aufgrund der Rolle Freys als Herausgeber der NZ und Bundesvorsitzender der DVU kann die Zeitung als Presseorgan der Partei bezeichnet werden. In ihren Artikeln wird die angeblich einseitige Vergangenheitsbewältigung kritisiert. Die Verbrechen der Nationalsozialisten und insbesondere die Ermordung der Juden werden zwar als historische Tatsachen nicht geleugnet, jedoch wird der Holocaust relativiert und die deutsche Kriegsschuld bestritten. So wurde In 2004 unter der Schlagzeile "Wiesenthals Fälschungen" über den Tod Simon Wiesenthals, des Leiters des Dokumentationsarchivs des Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes, berichtet. Die Glaubwürdigkeit Wiesenthals wird ausführlich in Zweifel gezogen, um indirekt seine Aussagen über den Holocaust zu delegitimieren.314 Fremdenfeindliche Attacken sind regelmäßiger Bestandteil der politischideologischen Agitation der NZ, wodurch Vorurteile verbreitet und Überfremdungsängste geschürt werden. So wurde unter der Schlagzeile "Ausländerkrieg bald auch bei uns? Warum uns französische Verhältnisse drohen"315 über die tagelangen Unruhen in zahlreichen französischen Städten berichtet. Insbesondere gerät der Prozess der Erweiterung der "Europäischen Union" (EU) ins Visier, wobei die Türkei oder Israel als so genannte "raumfremde Staatswesen" eingestuft werden. Der mögliche EU-Beitritt der Türkei wird mit Schlagzeilen wie "Kommen 10 Millionen Türken?"316, "Wenn die Türken kommen. Was bleibt von Deutschland?"317 oder "Ist Deutschlands Zukunft türkisch? Was EU-Bonzen mit uns vorhaben"318 thematisiert. Zudem wird versucht, durch Angriffe auf das Demokratieprinzip und die Repräsentanten des demokratischen Verfassungsstaats das politische System Deutschlands insgesamt zu delegitimieren. Die DVU tritt bei Wahlen überwiegend auf Landesebene in loser Folge mit zumeist geringem Erfolg in den nordund ostdeutschen Bundesländern an. An der Bundestagswahl im September 2005 nahm die Partei nicht teil. Derzeit ist sie in der Bremischen Bürgerschaft sowie nach 314 Ein Übermensch als Leitgestirn. "National-Zeitung" Nr. 40/2005, 30.9.2005. 315 "National-Zeitung" Nr. 47/2005, 18.11.2005. 316 "National-Zeitung" Nr. 40/2005, 30.9.2005. 317 "National-Zeitung" Nr. 42/2005, 14.10.2005. 318 "National-Zeitung" Nr. 43/2005, 21.10.2005. 222 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 einer Wahlabsprache mit der NPD anlässlich der Landtagswahlen im September 2004 in Brandenburg und Sachsen erneut im Brandenburger Landtag vertreten.319 Ihr bestes Wahlergebnis erzielte die DVU 1998 mit 12,8 Prozent bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Politische Gestaltungserfolge konnten ihre Mandatsträger bislang jedoch nicht vorweisen. In den letzten Jahren verzichtete die DVU auf ihre traditionelle "Großkundgebung der National-Freiheitlichen" in der Passauer Nibelungenhalle. Dies ist ein deutliches Zeichen für die schon seit längerem anhaltende Stagnation in der Entwicklung der DVU. Die Mitgliederzahlen gehen zurück und die Partei überaltert zunehmend. Ein Parteileben findet nur in geringem Umfang statt. Die Mitglieder beschränken sich im Wesentlichen auf das Lesen der NZ. Der Grund für die mangelnde inhaltliche und strukturelle Dynamik der DVU liegt in ihrer besonderen Führungsstruktur. Die Partei wird von ihrem Gründer und Vorsitzenden autokratisch geleitet. Sie ist finanziell von dem privat vermögenden Frey abhängig. Die Kontrolle über die Parteifinanzen ermöglicht ihm die weitgehende Steuerung der gesamten Parteiarbeit. Auf dem Bundesparteitag im März 2004 wurde Gerhard Frey dementsprechend ohne Gegenkandidaten in seinem Amt bestätigt. Auch der Landesverband Berlin ist seit Jahren durch die Passivität seiner Mitglieder geprägt. Er verfügt über kein eigenständiges politisches Profil und agiert lediglich in enger Anlehnung an die Bundeszentrale der DVU. Auf einem Landesparteitag wurde zu Beginn des Jahres der bisherige Landesvorsitzende in seinem Amt bestätigt. Er stehtebenso wie der Bundesvorsitzende - für die Beteiligung der DVU an der "Volksfront". Eine Vertreterin der Berliner DVU kandidierte auf der Landesliste der NPD, ohne im Wahlkampf öffentlich in Erscheinung zu treten. 319 Vgl. S. 44 ff. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 223 2.2.2 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" ÜBERSICHT Abkürzung NPD Entstehung / Gründung Bund: 1964 Landesverband Berlin: 1966 Mitgliederzahl Bund: ca. 6 000 (2004: ca. 5 300) Berlin: ca. 175 (2004: ca. 150) Organisationsstruktur Partei Sitz Berlin Veröffentlichungen "Deutsche Stimme" (überregional, monatlich, Auflage ca. 21 000) "Zündstoff - Deutsche Stimme für Berlin und Brandenburg" (regional, vierteljährlich) Die "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) ging 1964 aus der rechtsextremistischen "Deutschen Reichspartei" (DRP) hervor. Der Vorsitzende der DRP, Adolf von Thadden, war Initiator der NPDGründung und von 1967 bis 1971 deren Vorsitzender. Die NPD verfügt mit den "Jungen Nationaldemokraten" (JN) über eine Jugendorganisation. Darüber hinaus existiert der "Nationaldemokratische Hochschulbund e. V." (NHB) als Studentenvereinigung. Als Parteizeitung vertreibt die NPD die Monatsschrift "Deutsche Stimme" (DS). Die NPD, deren Bundesgeschäftsstelle sich seit dem Jahr 2000 in Berlin befindet, ist im gesamten Bundesgebiet mit 16 Landesverbänden vertreten. Im April 2003 kam es zur Trennung des gemeinsamen Landesverbands Berlin-Brandenburg. Der gemeinsame Landesverband der Jugendorganisation blieb davon unberührt. Zum Jahresende 2003 löste sich jedoch der JN-Landesverband Berlin-Brandenburg nahezu selbst auf. Aus ihm ging im Februar 2004 die "Bewegung Neue Ordnung" (BNO) hervor.320 320 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 64 - 66. Im Jahresverlauf löste sich die BNO faktisch durch Spaltung auf. Ein Berlinbezug der Nachfolgegruppen ist kaum mehr feststellbar. 224 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Mittlerweile wurden erneut drei so genannte Stützpunkte der JN in Berlin gegründet.321 Die NPD vertritt fremdenfeindliche, rassistische und antisemitische Positionen und versteht sich als Fundamentalopposition zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Als "sozialrevolutionäre Erneuerungsbewegung" strebt sie in aggressiver Weise die grundsätzliche Neuordnung des Staatsaufbaus an. Ziel ist die Beseitigung des derzeitigen politischen Systems. Grund dafür sei die Zerstörung der nationalen Identität durch die "herrschenden Parteien": "Jegliche Form der Gemeinschaft wird zerstört. [...] Die Ursachen dieser Zerstörung sind in der liberalistischen Ideologie der herrschenden Parteien zu suchen. [...] Um diese Entwicklung unumkehrbar zu machen, werden immer mehr Ausländer nach Deutschland geholt, sei es als Asylbewerber, sei es im Rahmen der EU oder auf der Grundlage der sogenannten Greencards. Wenn die Politik der Kartellparteien ihr Ziel erreicht hat und die Bevölkerung der BRD ein zusammengestückeltes, wirres Sammelsurium von egoistischen Individuen ist, [...] die kein gemeinsames Aussehen, keine gemeinsame Kultur, keine gemeinsame Abstammung [...] und keine gemeinsame Sprache mehr haben, [...] ist das Endstadium der Gemeinschaftszerstörung und der Entkulturalisierung erreicht. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zum Bürgerkrieg [...]."322 Zu diesem Zweck agitiert sie gegen die "Systemparteien" als Träger der rechtsstaatlichen Ordnung und gegen demokratische Prinzipien wie den Pluralismus. Ideologische Grundlage ist ein anti-individualistisches Menschenbild und der völkische Kollektivismus. Freiheitsund Gleichheitsrechte lehnt die NPD mit dem Hinweis auf die Gefahr der "Umvolkung" Deutschlands (gemeint ist eine Verdrängung durch den Zuzug von Ausländern) ab. Das Ziel der NPD ist die Schaffung einer "ethnisch homogenen Volksgemeinschaft"323. Eine Wesensverwandtschaft ihrer Positionen mit der nationalsozialistischen Ideologie und eine Verharmlosung ihrer menschenverachtenden Folgen wird in der Wahl der Begriffe in ihrer Agitation deutlich. Hinzu kommt die Heroisierung führender Repräsentanten und Institutionen des NS-Regimes. Die NPD tritt regelmäßig mit ihrer aggressiven Propaganda öffentlich in Erscheinung. Wenige Jahre nach ihrer Gründung verzeichnete sie mit 321 Vgl. S. 24 f. 322 Bundeswahlprogramm der NPD 2005, S. 11. 323 Holger Apfel: Weder Recht noch Menschlichkeit. In: "Deutsche Stimme" Nr. 9/2003, September 2003. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 225 dem Einzug in mehrere Landesparlamente ihre ersten Erfolge. Ihren Höhepunkt erlebte die NPD im Jahr 1969, als sie bei der Bundestagswahl mit 4,3 Prozent der Stimmen nur knapp den Einzug in den Deutschen Bundestag verpasste. Danach kam es aufgrund innerparteilicher Querelen zu einem Bedeutungsverlust der Partei. Der seit 1996 amtierende Parteivorsitzende Udo Voigt versucht mit einem "DreiSäulen-Konzept" eine strategische Neuausrichtung und Wiederbelebung der Partei zu erreichen.324 Demnach konzentriert sich die Arbeit der Partei auf drei strategische Ebenen: den "Kampf um die Straße", den "Kampf um die Köpfe" und den "Kampf um die Parlamente". Das Konzept formuliert das Ziel, die NPD nicht nur als Wahlpartei zu etablieren ("Kampf um die Parlamente"), sondern auch Einfluss auf intellektuelle Diskurse zu nehmen ("Kampf um die Köpfe") und durch provokante Aktionen und Demonstrationen die Basis ihrer Anhängerschaft zu verbreitern ("Kampf um die Straße"). Mit dem "Drei-Säulen-Konzept" und der Öffnung der Partei konnte die NPD einerseits insbesondere in den ostdeutschen Bundesländern kurzfristig neue, überwiegend jüngere Mitglieder gewinnen. Andererseits war mit der konzeptionellen Neuausrichtung auch eine Radikalisierung der Partei verbunden, die im Jahr 2000 Anlass für die Einleitung eines Parteiverbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht war.325 Das Verfahren zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit der NPD und Auflösung ihrer Parteiorganisation wurde mit Entscheidung des Zweiten Senats vom 18. März 2003 eingestellt.326 324 Vgl. Holger Apfel: 35 Jahre NPD - Alles Große steht im Sturm. Tradition und Zukunft einer großen Partei. Stuttgart 1999. 325 Vgl. Beschluss des BVerfG vom 18.3.2003, 2 BvB 1/01. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2001. Berlin 2002, S. 32 - 36; Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2002. Berlin 2003, S. 17 - 20; Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, S. 53 - 56. 326 Im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts fand sich nicht die nach SS 15 Abs. 4 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) für eine Fortsetzung notwendige ZweiDrittel-Mehrheit. Eine Minderheit der Richter vertrat die Auffassung, dass die Beobachtung der NPD durch V-Personen, die unmittelbar vor und während des Verbotsverfahrens als Mitglieder des Bundesvorstands oder eines Landesvorstands fungieren, in der Regel unvereinbar mit den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren sei. Die Mehrheit hielt eine Fortsetzung des Verbotsverfahrens für geboten. Sie sah in dem Vorgehen der Verfassungsschutzbehörden keinen schwerwiegenden Mangel, der eine Verfahrenseinstellung rechtfertigen könnte. 226 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Seitdem bemüht sich die NPD um die Überwindung der Isolation im rechtsextremistischen Lager. Bei der Landtagswahl in Sachsen im September 2004 konnte die Partei u. a. aufgrund einer Wahlabsprache mit der DVU mit 9,2 Prozent der Stimmen in den Landtag einziehen. Im Anschluss daran rief sie mit Erfolg zur Bildung einer "Volksfront" auf. Dieser politische Kurs wurde auf dem Bundesparteitag der NPD im Oktober 2004 mit der Wiederwahl Udo Voigts zum Bundesvorsitzenden bestätigt und in 2005 weiter fortentwickelt und ausgeweitet.327 2.3 Diskursorientierter Rechtsextremismus 2.3.1 "Die Artgemeinschaft - Germanische GlaubensGemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung" ÜBERSICHT Entstehung / Gründung 1951 Mitgliederzahl Bund: ca. 150 (2004: ca. 150) Berlin: ca. 20 (2004: ca. 20) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Berlin Veröffentlichungen "Nordische Zeitung" (überregional, vierteljährlich, Auflage ca. 300) Die "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V." (Artgemeinschaft) ist eine heidnischgermanische Weltanschauungsgemeinschaft. Seit ihrer Gründung im Jahr 1951 sind in ihr verschiedene heidnische und germanische Kleingruppen aufgegangen. Vorsitzender ist seit 1988 der Neonazi Jürgen Rieger (Hamburg). Der rechtsextremistische Multi-Funktionär war auch Funktionär der NPD und der inzwischen verbotenen "WikingJugend e. V.". Mitteilungsorgan der "Artgemeinschaft" ist die "Nordische Zeitung", deren Schriftleiter ebenfalls Rieger ist. Daneben 327 Vgl. S. 50 ff. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 227 publiziert die "Artgemeinschaft" zwei Schriftenreihen, eine Buchreihe und Einzelschriften in geringerer Auflage. Die "Artgemeinschaft" versteht sich als religiöse Gemeinschaft, die sich "zum germanischen Kulturerbe und dessen Weiterentwicklung"328 bekennt. Statt der angeblich leibund lebensfeindlichen universalistischen Religionen des Christenund des Judentums bekennt sich die "Artgemeinschaft" zu einem "Leben im Einklang mit den Naturgesetzen"329. Dahinter verbirgt sich eine völkisch-rassistische Weltanschauung, in deren Mittelpunkt die Überbetonung der eigenen "Rasse" steht. In ihren programmatischen Schriften "Das Artbekenntnis" und "Das Sittengesetz unserer Art" formuliert die "Artgemeinschaft" eine pervertierte Lebensphilosophie, in deren Zentrum nicht das Leben, sondern Kampf, Opfer und Tod stehen. Gesellschaftspolitisches Vorbild ist für die "Artgemeinschaft" eine behauptete germanische Wertund Stammesordnung. Dieses Weltbild basiert auf der biologistischrassistischen Annahme von verschiedenen "Menschenarten" mit unterschiedlichen Wertigkeiten. Die Bewahrung und Förderung der eigenen Art ist für die "Artgemeinschaft" das höchste Ziel. Erreicht werden soll dieses Ziel durch "gleichgeartete Gattenwahl, die Gewähr für gleichgeartete Kinder"330. Die "Artgemeinschaft" nimmt eine klare Unterscheidung in "Eigene" und "Fremde" vor, wobei erstere als "Freunde", letztere als "Feinde" wahrgenommen werden: "Das Sittengesetz in uns gebietet Treue und Vertrauen, Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Freimut, Rücksichtnahme, Zuneigung und Liebe gegenüber Verwandten, Freunden und Gefährten, Wachsamkeit und Vorsicht gegenüber Fremden, Härte und Hass gegen Feinde."331 Die Aktivitäten der "Artgemeinschaft" beschränkten sich in den vergangenen Jahren fast ausschließlich auf die Ausrichtung von bundesweiten und regionalen Festen wie Sommerund Wintersonnenwendfeiern ("Julfeiern"). Die Feste sollen Gemeinschaftserlebnisse sein und tragen meist den Charakter von Familienfeiern; sie haben selten größere 328 Das Artbekenntnis. Art. 7. Internetauftritt der "Artgemeinschaft", Aufruf am 20.12.2005. 329 Ebenda, Art. 1. 330 Das Sittenbekenntnis unserer Art. Art. 19. Internetauftritt der "Artgemeinschaft", Aufruf am 20.12.2005. 331 Ebenda, Art. 21. 228 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Außenwirkung. Gefahr geht von Personenzusammenschlüssen wie der "Artgemeinschaft" dadurch aus, dass sie ihren meist aktionsorientierten Teilnehmern einen lebensweltlichen Gegenentwurf auf heidnischer und völkisch-rassistischer Grundlage bieten. Allerdings schränkt der antimoderne Habitus der "Artgemeinschaft" ihre Anziehungskraft ein. Im Frühjahr 2004 erwarb Rieger im Namen einer "Wilhelm-TietjenStiftung für Fertilisationsforschung" ein "Heisenhof" genanntes Gut in Niedersachsen. Wie bei einem mangels Interessenten gescheiterten Wohnprojekt in Schweden dürfte er die Absicht verfolgen, Wohnund Veranstaltungsraum für Familien mit rechtsextremistischer Gesinnung zu schaffen. Bisher fanden aufgrund des Renovierungsbedarfs offenbar noch keine Veranstaltungen auf dem Gelände statt. In der "Artgemeinschaft" sind auch Berliner Rechtsextremisten vertreten. Besondere Aktivitäten entfaltet der Personenzusammenschluss in Berlin jedoch nicht, da die Mitglieder für ihre Veranstaltungen ländliche Räume bevorzugen. 2.3.2 "Deutsches Kolleg" ÜBERSICHT Abkürzung DK Entstehung / Gründung 1994 Mitgliederzahl Bund: ca. 50 Berlin: unter 20 (2004: unter 20) Organisationsstruktur Einzelpersonen Sitz Kontaktadresse Würzburg Das "Deutsche Kolleg" (DK) wurde 1994 als Nachfolgeorganisation des Berliner Leserkreises der Wochenzeitung "Junge Freiheit" gegründet. Das DK versteht sich als "Denkorgan des Deutschen Reiches". Es erarbeitet theoretische Konzepte für ein völkisch geprägtes Deutsches Reich, anhand derer die "nationale Intelligenz" geschult werden soll. Die geistige Führung übernahm zunächst Reinhold Oberlercher. 1999 stieß Horst Mahler zum DK. Seitdem intensivierte das DK die programmatischen Ausarbeitungen und Schulungen. Sowohl Mahler als H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 229 auch Oberlercher waren bereits in der 68er-Bewegung aktiv. Oberlercher hatte nach eigenen Angaben eine führende Position in der "nationalen Fraktion" des "Sozialistischen Studentenbundes" (SDS) inne und bezeichnet sich heute als "völkisch-germanischen Nationalmarxisten". Das ehemalige RAF-Mitglied Horst Mahler war in seiner Funktion als Prozessvertreter im NPD-Verbotsverfahren in die NPD () eingetreten und trat kurz nach der Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts öffentlichkeitswirksam wieder aus der Partei aus. Beide sehen in ihrer nationalrevolutionären Programmatik die konsequente Fortführung der Ideologie der 68er-Bewegung. Nach einem Streit zwischen Mahler und Oberlercher ist keine Mitarbeit Mahlers mehr zu verzeichnen. Es steht zu erwarten, dass das DK aufgrund dieser Streitigkeiten an Bedeutung im rechtsextremistischen Lager verlieren wird. Auch wenn Mahler mittlerweile aus dem DK ausgeschieden ist, bilden von ihm verfasste Texte noch immer einen wesentlichen Teil der ideologischen Grundlage. Das DK vertritt eine nationalrevolutionäre Ideologie, die Antiliberalismus, Antikapitalismus, Rassismus und Antisemitismus verbindet. Die Völker bestehen für das DK aus verschiedenen Rassen, die je ein geistiges Prinzip vertreten und sich damit feindlich gegenüber stehen. Während die Westmächte Frankreich und England für Liberalismus und Individualismus stünden, sei dem deutschen Volk die "Aufhebung des Gegensatzes zwischen dem einzelnen und dem Gemeinwesen in der selbstbewußten Volksgemeinschaft" als Prinzip eigen.332 Die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges hätten jedoch versucht, das deutsche Volk durch ein "System von Fremdherrschaft und Kollaboration"333 - gemeint ist die Bundesrepublik Deutschland - systematisch "umzuerziehen". Der Kampf gegen diesen "Seelenmord" ist das wichtigste Anliegen des rechtsextremistischen Personenzusammenschlusses. Im Denken des DK entspricht der "innerlichen Reinhaltung" des deutschen "Volksgeistes" die "rassisch reine" Volksgemeinschaft. Die Orientierung an der Rasse müsse die zentrale Kategorie der Völker und Nationen werden: "Der Neger ist dem Neger schön, das Schlitzauge dem Schlitzauge sympathisch, der Weiße dem Weißen anziehend. Dem Neger aber ist der Weiße ein Greuel, dem Weißen das Schlitzauge unheimlich. Der Itzig hält 332 Horst Mahler: Zur heilsgeschichtlichen Lage des Deutschen Reiches, Art. 69. Internetauftritt des DK, Aufruf am 20.12.2005. 333 Flugblatt des DK. Internetauftritt des DK, Aufruf am 20.12.2005. 230 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 den Goy für ein Tier. Warum soll es unschicklich sein, darüber zu reden?"334 Gegenwärtig sei das deutsche Volk jedoch in seiner "nihilistischen und atomistischen Zersetzung"335 durch massenhafte Einwanderung bedroht. Das DK hält einen Aufstand gegen diese Zustände für notwendig: "Nur ein Volk, das sich der Fremden erwehrt, bewahrt sein eigenes Leben."336 Das staatspolitische Ziel des DK ist die Wiederherstellung des Deutschen Reiches unter der Führung der deutschen Fürsten. Antisemitismus nimmt in der Ideologie des DK eine zunehmend zentrale Rolle ein. Juden sind für das DK als "Anti-Volk" der "ewige Feind".337 In gängiger antisemitischer Weise behaupten die Theoretiker des DK, "die Juden" versuchten, aus Geldund Machtgier die Welt mithilfe der liberalen kapitalistischen Ordnung unter ihre Herrschaft zu bringen. Ihr Ziel sei "die unangefochtene jüdische Welthirtschaft".338 Auch die "Umerziehung" sei ein Werk der Juden, um das deutsche Volk niederzuhalten.339 Diese Überlegungen des DK münden in einen offenen Revisionismus und Antisemitismus. Die Schuld am Ersten und Zweiten Weltkrieg weist das DK allein den Westmächten zu, die Deutschland angegriffen hätten, da sie dessen geistige Führerschaft befürchteten. Das DK behauptet, "... daß der von dem jüdischen Weltkongreß schon im März 1933 dem Deutschen Reich erklärte Krieg mit den mehr als 60 Millionen Kriegstoten einzig und allein zur Verteidigung der Weltmacht des Geldes, also der Weltherrschaft der Juden, mit dem Ziel der totalen Vernichtung des Deutschen Reiches angezettelt worden" sei.340 Seine eigene Aufgabe sieht das DK darin, durch "Theorien, Schulungen, Programme, Erklärungen und Wortergreifungen" die "nationale Intelligenz" zu schulen. Es möchte damit einen "Beitrag zur Wiederherstellung der vollen Handlungsfähigkeit des Deutschen Volkes als Deut334 Ebenda, Art. 40. 335 Ebenda, Art. 47. 336 Ebenda, Art. 38. 337 Ebenda, Art. 18. 338 Terrorwarnung! Internetauftritt des DK, Aufruf am 20.12.2005. 339 Horst Mahler: Zur heilsgeschichtlichen Lage des Deutschen Reiches, Art. 207. Internetauftritt des DK, Aufruf am 20.12.2005. 340 Ebenda, Art. 113.. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 231 sches Reich" leisten. Bevor es zum tatsächlichen Umsturz des politischen Systems kommen könne, müsse der Zeitgeist vom Liberalismus befreit und im "nationalen" Sinne geprägt werden. Dabei will das DK die Führungsrolle übernehmen. Das DK verbreitet die Texte Mahlers und Oberlerchers hauptsächlich über das Internet. Eine weitere Aktionsform des DK sind die regelmäßig durchgeführten Seminare zu Themen der Wirtschaft, der Geschichte und der Philosophie. Diese finden hauptsächlich in Thüringen statt. Auch wenn das DK zur Zeit eine der bekanntesten Schulungsorganisationen ist, ist die szene-interne Wirkung beschränkt. Die Konzeptionen des DK werden im diskursorientierten Rechtsextremismus zwar stark rezipiert, stoßen allerdings wegen ihres hohen Abstraktionsgrades und schweren Verständlichkeit oft auf Ablehnung. Aufgrund ihres Artikels "Ausrufung des Aufstandes der Anständigen" wurden die Funktionäre des DK wegen Volksverhetzung gemäß SS 130 StGB angeklagt. Oberlercher und ein weiterer Funktionär wurden am 7. Dezember 2004 zu geringfügigen Geldstrafen verurteilt. Mahler, der zusätzlich wegen volksverhetzender Aussagen in einem Schriftsatz aus dem NPD-Verbotsverfahren angeklagt war und im Prozessverlauf anhaltend antisemitische Texte vorgetragen hatte, wurde dagegen am 12. Januar 2005 zu einer Haftstrafe von neun Monaten ohne Bewährung verurteilt. Er hat dagegen Rechtsmittel eingelegt. Das DK stellte am 15. November 2004 unter dem Titel "Letztes Wort zum politischen Schauprozess gegen das Deutsche Kolleg" eine antisemitische Erklärung auf seiner Homepage ein: "Aus einem Vermerk in den Ermittlungsakten geht hervor, daß die politische Abteilung der Berliner Staatsanwaltschaft von Vertretern der jüdischen Gemeinde unter Druck gesetzt wurde, gegen das Deutsche Kolleg wegen der Forderung des Verbots der jüdischen Gemeinden einen Strafprozeß anzustrengen. Da diese Forderung aber nun selbst unter den 130er Gesinnungsgummiparagraphen des BRD-StGB nicht subsumiert werden kann, wurden Scheinargumente aus dem 100-Tage-Programm vorgeschoben."341 341 Letztes Wort zum politischen Schauprozess gegen das Deutsche Kolleg. Internetauftritt des DK, Aufruf am 20.12.2005. 232 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 2.3.3 "Heimattreue Deutsche Jugend e. V." ÜBERSICHT Abkürzung HDJ Entstehung / Gründung 1990 Mitgliederzahl Bund: ca. 100 (2004: ca. 100) Berlin: unter 20 (2004: unter 20) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Berlin Veröffentlichungen "Funkenflug" (überregional, vierteljährlich) Die "Heimattreue Deutsche Jugend e. V." (HDJ) ist ein neonazistischer Jugendverband mit Sitz in Berlin. Sie entstand im Jahre 1990 als Abspaltung des rechtsextremistischen "Bundes Heimattreuer Jugend" nach einem Richtungsstreit. Zunächst firmierte sie unter "Die Heimattreue Jugend - Bund für Umwelt, Mitwelt und Heimat e. V." (DHJ). Den heutigen Namen gab sie sich im Jahr 2001. Die HDJ gibt die Zeitschrift "Funkenflug" heraus. Die HDJ beschreibt sich selbst als "die aktive volksund heimattreue Jugendbewegung für alle deutschen Mädel und Jungen im Alter von 7 bis 25 Jahren".342 Ihre rechtsextremistische, nationalistische Ideologie versucht sie hinter einer Selbstcharakterisierung als traditionsbewusst und wertorientiert ("volksund heimattreu") zu verbergen. Die HDJ behauptet, einzutreten für "... eine Lebensführung, die sich ganzheitlich in einem gesunden Körper, Geist und Charakter wiederspiegelt. Für ein Leben mit Tradition und Werten wie Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit, Hilfsbereitschaft, Kameradschaft, Treue. Gegen die Abwertung des Lebens durch Oberflächlichkeit, Beliebigkeit, Kulturlosigkeit und Verrohung".343 342 Internetauftritt der HDJ, Aufruf am 20.12.2005. 343 Ebenda. (Fehler im Original). H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 233 Die HDJ hat ein stark revisionistisches Geschichtsbild und residiert ihrer Ansicht nach in der "Reichshauptstadt Berlin"344. Gemäß ihrem damit verbundenen gebietsrevisionistischen Verständnis über die Grenzen Deutschlands werden nicht nur die ehemaligen Ostgebiete als zu Deutschland zugehörig reklamiert: "Der 30. Januar 1933 wird Ausgangspunkt einer der größten Wendungen, die die Geschichte des deutschen Volkes kennt. Nach Zurückgewinnung des Saarlandes, Österreichs, Sudetendeutschlands und der Inschutzstellung Böhmen und Mährens repräsentieren über 630 000 Quadratkilometer Fläche und 85,7 Millionen Einwohner das neu entstandene Großdeutschland."345 Entsprechend wird, wie in rechtsextremistischen Kreisen üblich, im Falle der neuen Bundesländer von Mitteldeutschland gesprochen.346 Ähnlich wie bei der seit 1994 verbotenen "Wiking Jugend" (WJ) zielt das Lebensbund-Konzept der HDJ darauf ab, ein rechtsextremistisches lebensweltliches Freizeitangebot für die ganze Familie zu bieten. Kinder und Jugendliche sollen bereits in jungen Jahren durch vorgeblich unpolitische Aktivitäten (Fahrten, Zeltlager, völkisches Brauchtum, Singen und körperliche Ertüchtigung) für die rechtsextremistische Szene gewonnen werden. So wurden 2005 ein Pfingstsowie Sommerlager, eine Segelfahrt und auch gemeinsam mit anderen Rechtsextremisten der überregional ausgerichtete "Märkische Kulturtag" angeboten. Bei diesen Aktivitäten wird systematisch ein rechtsextremistisches, am Ideal der "Volksgemeinschaft" orientiertes Weltbild vermittelt. Das Lebensbundkonzept soll darüber hinaus verhindern, dass ältere Mitglieder nach Familiengründung aus der rechtsextremistischen Szene ausscheiden. 344 Ebenda. 345 "Wo stehen wir? Ein Blick auf Historische Landkarten". In: Funkenflug 02/2005, S. 14. 346 Vgl. u. a. Funkenflug 03/2004, S. 4. 234 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 2.3.4 "Kampfbund Deutscher Sozialisten" ÜBERSICHT Abkürzung KDS Entstehung / Gründung 1999 Mitgliederzahl Bund: ca. 30 (2004: ca. 50) Berlin: ca. 20 (2004: ca. 20) Organisationsstruktur Vereinigung, regionale Stützpunkte, koordiniert durch Bundesleitung Sitz Berlin Veröffentlichungen "Der Gegenangriff" (überregional, unregelmäßiges Erscheinen,) "Wetterleuchten" (überregional, meist jährlich) Der "Kampfbund Deutscher Sozialisten" (KDS) ist eine der heterogensten Personenzusammenschlüsse des deutschen Rechtsextremismus. In ihm vereinen sich aktionsorientierte und diskursorientierte Rechtsextremisten. Eine funktionierende hierarchische Gliederung hat der am 1. Mai 1999 gegründete KDS nur in Ansätzen. Er gliedert sich in eine Vielzahl von Gauen, Sektionen und Bezirken, über denen formal eine vierköpfige Führungsgruppe steht. Das offizielle Organ des KDS ist "Der "Gegenangriff". Als "Theorieorgan" fungiert die Zeitschrift "Wetterleuchten". Beide werden vor allem im Internet verbreitet. Daneben existiert eine Anzahl kleinerer KDS-Publikationen. Der KDS in seiner Gesamtheit vertritt weder ein einheitliches Programm noch eine einheitliche Ideologie. Er bezeichnet sich selbst als "parteiund organisationsunabhängige(n) Zusammenschluß auf der Basis des Bekenntnisses zu Volk und Heimat"347. Als programmatische Grundlage diente bis Anfang 2005 die "Langener Erklärung"348. Dieses Gründungsmanifest enthält jedoch keine ausgearbeitete Programmatik. Einig sind sich die Mitglieder des KDS in der Betonung des Nationalstaats und 347 Internetauftritt des KDS, Aufruf am 16.12.2005. 348 Langener Erklärung. Internetauftritt des KDS, Aufruf am 16.12.2005. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 235 der Ablehnung aller "internationaler" Tendenzen. Jedes Volk habe das Recht auf Selbstbestimmung. Diese sei durch "internationalistische" Bestrebungen wie Imperialismus, Kapitalismus, Liberalismus und Globalisierung ("One-World-Terror") bedroht. Als Triebkräfte der Globalisierung und des Imperialismus klagt der KDS vor allem die USA und Israel an. Auf diesem Wege mischen sich auch antisemitische Töne und Parolen in Aussagen des KDS. Seine Ziele fasst der KDS zusammen in dem Aufruf: "Gegen 'One-World-Gesellschaft' und gegen die Diktatur des Kapitals! Für das Selbstbestimmungsrecht der Völker!"349 Dieses knappe Programm erlaubt es dem KDS, sich zugleich auf Joseph Goebbels, Friedrich Engels und Ernst Thälmann zu berufen und in Jassir Arafat, Slobodan Milosevic, Kim Jong Il und Saddam Hussain zeitgenössische Vorbilder im "Befreiungskampf" gegen "US-Imperialisten" zu sehen. In einem "INFOBRIEF für Mitglieder und Interessenten des Kampfbundes Deutscher Sozialisten - Frühjahr 2005" teilte ein Führungsfunktionär mit, dass sich der KDS einer kompletten Wandlung unterziehen wolle, da sich "... abweichend vom ursprünglichen Anspruch ein starres und in Anachronismen verhaftetes Erscheinungsbild entwickelt habe. Häufig sei der KDS wegen seines Auftretens als Relikt alter Tage wahrgenommen worden".350 Dies habe potenzielle Mitstreiter abgeschreckt. Grundlage für eine neue Politik soll das "Revolutionäre Manifest" vom 30. Januar 2005, dem Jahrestag der Machtergreifung der Nationalsozialisten bilden. Zu den Neuerungen gehört zukünftig der Verzicht auf die Gründung lokaler Strukturen, den so genannten Stützpunkten, und die Verwendung von Titeln und Uniformen. Seine ideologischen Ziele will der KDS jedoch beibehalten: "Der KDS ist Teil des revolutionären Widerstandes mit dem Ziel ihn zu stärken, seine Schlagkraft zu erhöhen und seinen Einfluß zu vergrößern. Wir wollen uns nicht auf eine bestimmte Art und Form des Kampfes festlegen sondern flexibel sein und uns den zeitlichen wie örtlichen Gegebenheiten anpassen. Lediglich bei unserem Grundbekenntnis zu einem nationalen Staat, zu einer sozialistischen Gesellschaft und zu einer 349 Per Rundmail verschickter "INFOBRIEF für Mitglieder und Interessenten des Kampfbundes Deutscher Sozialisten". 236 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 notwendigen Revolution die alles Dekadente, Zersetzende und Zerstörende nicht notdürftig reformiert, sondern konsequent hinwegfegt, sind wir unnachgiebig und erbarmungslos."351 Die Berliner Organisationseinheit des KDS ist nationalrevolutionär bis nationalbolschewistisch geprägt und beinahe ausschließlich diskursorientiert. Sie nimmt im KDS eine gewisse Sonderrolle ein. Während vor allem in westdeutschen Organisationseinheiten des KDS in Anlehnung an die ehemalige "Aktionsfront Nationaler Sozialisten / Nationale Aktivisten" (ANS/NA) des Michael Kühnen die NS-Verherrlichung dominiert, vertritt der Berliner KDS mit der Verehrung ehemaliger SEDGrößen eine "linke" Position im KDS. Die stärker antikapitalistische Ausrichtung der Berliner KDS-Abteilung wird unter anderem in der von ihr herausgegebenen Publikation "Wetterleuchten" deutlich. Sie erscheint in geringer Auflage und enthält jeweils nur eine sehr ausführliche Abhandlung. In sieben Kapiteln sollen die "Grundsätze eines Sozialistischen Nationalismus" abgehandelt werden. Einen ausformulierten Gegenentwurf einer Gesellschaftsordnung legte der KDS unter dem Titel "Die 'Sozialistische Nation' ist die nachkapitalistische Alternativ-Ordnung der Zukunft" mit dem 6. Grundsatz vor. Darin wird nicht nur der Kapitalismus als Wirtschaftsordnung abgelehnt, sondern auch die sich daraus ergebende pluralistische Gesellschaftsund demokratische Staatsform.352 Der KDS versteht sich als "Diskussionsund Kampfforum"353. Sein Ziel, ein politischer Faktor im Land zu werden, möchte der KDS über eine "Annäherung 'rechter' und 'linker' Sozialisten" erreichen. Bundesweit erzielt der KDS jedoch nur eine geringe Resonanz. Den KDSFunktionären gelingt es nicht, die umworbenen extremistischen Kräfte unter ihrer Führung zusammenzufassen. Dies verhindert auch die unorthodoxe Mischung von linksund rechtsextremistischen Ideologieelementen. Der Berliner KDS fällt in der Öffentlichkeit meist nur durch unerwartete symbolische Aktionen wie eine Grußadresse an Saddam Hussain auf. Seine Aktivitäten beschränken sich beinahe ausschließlich auf interne Schulungsveranstaltungen und vereinsähnliche Treffen. 351 Langener Erklärung. Internetauftritt des KDS, Aufruf am 16.12.2005. 352 Die "Sozialistische Nation" ist die nachkapitalistische Alternativ-Ordnung der Zukunft. "Wetterleuchten" Nr. 7/2003, Dezember 2003. 353 Internetauftritt des KDS, Aufruf am 16.12.2005. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 237 Im Jahr 2004 gab es darüber hinaus zwei Reisen von KDS-Delegationen nach Moskau. Im August besuchten KDS-Angehörige dort einen international bekannten Revisionisten. Über die Reise wird auch auf der Webseite des KDS berichtet. Der Artikel schließt mit dem Wunsch: "Mögen wir mit diesem Besuch den Grundstein für einen zweiten 23. August 1939 gelegt haben."354 In einer "Sonderausgabe" der Publikation "Gegenangriff" vom November 2004 berichten KDS-Funktionäre begeistert von ihrer Teilnahme an dem Parteitag einer rechtsextremistischen Partei im Oktober in Moskau. Eine Abbildung zeigt einen KDS-Vertreter eingerahmt von drei Personen, die den Hitlergruß zeigen. Die Bildunterschrift lautet: "In Moskau nicht verboten: Russische Jungrevolutionäre grüßen mit dem Deutschen Gruß!"355 2.3.5 "Nation & Europa - Deutsche Monatshefte" ÜBERSICHT Abkürzung N&E Entstehung / Gründung 1951 Herausgeber Peter Dehoust / Nation Europa Verlag Organisationsstruktur GmbH Sitz Coburg Veröffentlichungen Überregional, monatlich, Auflage ca. 18 000 Die Zeitschrift "Nation & Europa - Deutsche Monatshefte" (N & E) wurde 1951 von dem ehemaligen SS-Sturmbannführer Arthur Erhardt gegründet. Sie erschien unter wechselnden Titeln, zuletzt bis 1990 als "Nation Europa - Deutsche Rundschau". Herausgegeben wird die Zeitschrift monatlich (gelegentlich zweimonatlich) von Peter Dehoust und Harald Neubauer. Dehoust war Funktionär der NPD (), der Gesellschaft für freie Publizistik" (GfP) und der "Deutschen Liga für Volk und 354 "Der rot-braune Kanal". 47. Auflage, August 2004. Internetauftritt des KDS, Aufruf am 24.9.2004. Am 23.08.1939 wurde der unter dem Namen "Hitler-Stalin-Pakt" bekannt gewordene deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt in Moskau unterzeichnet. 355 "Der Gegenangriff". Sonderausgabe. Berlin, November 2004, S. 4. 238 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Heimat" (DLVH). Neubauer trat ebenso als Funktionär der NPD, als Redakteur im DSZ-Verlag Gerhard Freys ( DVU) und als Funktionär der DLVH in Erscheinung. Zeitweilig trat auch Adolf von Thadden (Vorsitzender der NPD von 1967 - 1971) als Mitherausgeber auf. Zur Redaktionsgemeinschaft gehört außerdem Karl Richter. Er ist ebenfalls Vorstandsmitglied der GfP und Mitarbeiter im rechtsextremistischen Grabert-Verlag. Der zugehörigen "Nation Europa Verlags GmbH" ist ein Versandbuchhandel mit einem umfangreichen Angebot rechtsextremistischer Literatur angegliedert. "Nation & Europa" versteht sich als überparteiliches Theorieund Strategieorgan. Laut ihrer Web-Seite ergreift die Zeitschrift Partei für "ein einiges Deutschland in einem Europa freier Völker und für den Nationalstaat als bewährtes Ordnungsprinzip".356 Sie agitiert gegen einen "EU-Vielvölkerstaat", den "Ausverkauf nationaler Lebensinteressen" und die "multikulturelle Zerstörung der Volksidentität durch Masseneinwanderung und Asylmissbrauch".357 Sie besetzt damit traditionelle rechtsextremistische Themenfelder und verbreitet Überfremdungsängste im Zusammenhang mit der europäischen Einigung und der Globalisierung. Inhaltliche Schwerpunkte der Berichterstattung bildeten 2005 die "verfehlte" Wirtschaftspolitik der EU, Ablehnung der Globalisierung sowie Beiträge zur Politik Israels und Artikel über die angebliche Unfähigkeit des politischen Systems zur Lösung sozialer Probleme. Die Zeitschrift bemüht sich um eine intellektuelle Vernetzung europäischer Rechtsextremisten. Die organisationsübergreifende Bedeutung und die weitreichenden Verbindungen der Zeitschrift werden an den Gastbeiträgen inund ausländischer Autoren deutlich. Diese finden in N & E ein Diskussionsforum und eine Plattform zur Verbreitung ihres Gedankenguts. 356 Internetauftritt von N & E, Aufruf am 20.12.2005. 357 Ebenda. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 239 2.3.6 Revisionismus Revisionismus ist eine Sammelbezeichnung für "politisch motivierte Umdeutungen durch einseitige, leugnende, relativierende oder verharmlosende Darstellungen der Zeit des Dritten Reiches".358 Revisionisten benutzen pseudowissenschaftliche Argumente, um ihre rechtsextremistischen Positionen zu rechtfertigen und moralisch zu entlasten. Typische Argumentationsmuster der Revisionisten sind: * die Leugnung der Kriegsschuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg, * die Umdeutung des Angriffskrieges Adolf Hitlers gegen die Sowjetunion als notwendigen Präventivkrieg gegen die "bolschewistische Expansion", * die Leugnung der Existenz oder des Umfangs des Holocaust, * das Aufrechnen der NS-Verbrechen mit den alliierten Bombenangriffen gegen deutsche Städte oder den Vertreibungen von "Volksdeutschen" nach Ende des Zweiten Weltkriegs, * die Betonung vermeintlich positiver Leistungen des NS-Regimes ("Autobahn-Bau", "Arbeitslosigkeit gesenkt") oder die Argumentation, der Nationalsozialismus sei eigentlich eine gute Idee gewesen, die nur schlecht ausgeführt worden sei. Die Veröffentlichung revisionistischer Literatur setzte in den 50er Jahren ein. Bekannt wurden Autoren wie Peter Kleist ("Auch Du warst dabei"), David Hoggan ("Der erzwungene Krieg. Die Ursachen und Urheber des Zweiten Weltkriegs") und Udo Walendy ("Wahrheit für Deutschland. Die Schuldfrage des zweiten Weltkriegs"). Der Revisionismus ist kein Phänomen, das auf Deutschland beschränkt ist, sondern spielt vor allem in den USA aber auch im europäischen Ausland eine Rolle. Da die Leugnung des Holocaust in Deutschland strafbar ist (SS 130 Abs. 3 StGB), agieren die Propagandisten der "Auschwitz-Lüge" vor allem vom Ausland aus, so bis zu seinem Tod Thies Christophersen ("Die Auschwitz-Lüge") und bis zu seiner Auslieferung nach Deutschland Ernst Zündel. Von besonderer Bedeutung sind der "LeuchterReport", der im Zusammenhang mit dem Prozess gegen den damals in Kanada lebenden Zündel verfasst wurde, und das "Rudolf-Gutachten" 358 Armin Pfahl-Traughber: Rechtsextremismus in der Bundesrepublik Deutschland. 2. Aufl. München 2000, S. 47. 240 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 des deutschen Rechtsextremisten Germar Rudolf. Hier wird mit pseudonaturwissenschaftlichen Methoden versucht, die Massenermordung in Auschwitz als technisch unmöglich darzustellen. Durch die Inhaftierung der führenden international kooperierenden Holocaust-Leugner Germar Rudolf, Siegfried Verbeke, Erich Zündel und David Irving im Jahr 2005 in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich wurde die Revisionisten-Szene erheblich geschwächt ( VRBHV).359 2.3.7 "Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten" ÜBERSICHT Abkürzung VRBHV Entstehung / Gründung 2003 Mitgliederzahl Bund: ca. 120 (2004: ca. 120) Berlin: unter 20 (2004: unter 20) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Berlin Veröffentlichungen "Reichsbürgerbriefe" (überregional, unregelmäßig) Der "Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten" (VRBHV) wurde am 9. November 2003 in Vlotho (Nordrhein-Westfalen) gegründet. Der Verein hat seinen Sitz in Berlin. Vorsitzender ist der Schweizer Revisionist Bernhard Schaub, der seit Jahren regelmäßig bei Vortragsveranstaltungen und Demonstrationen von Rechtsextremisten als Redner auftritt und mehrere Artikel und Bücher verfasste, in denen der Holocaust geleugnet wird ( Revisionismus).360 Geschäftsführer ist ein Berliner Rechtsextremist. 359 David Irving wurde am 20.2.2006 in Wien zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt, vgl. S. 66 ff. 360 Auch die weiteren im Internet genannten Gründungsmitglieder sind durchweg bekannte Holocaust-Leugner (u. a. Ernst Zündel, Robert Faurisson, Germar Rudolf, Frederick Toben). H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - R E C H TS E X T R E M I S M U S 241 Führender Kopf und Initiator des Vereins ist Horst Mahler. Das Konzept trägt Mahlers Handschrift und er verfasst nahezu alle Texte des VRBHV.361 Der Zweck des VRBHV ist in der Gründungserklärung niedergelegt. Darin heißt es: "Der von den Unterzeichnern hiermit gegründete "Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocausts Verfolgten" soll durch organisierte Anstrengungen die bisher vorherrschende Vereinzelung der Verfolgten aufheben, ihrem Kampf um Gerechtigkeit die notwendige Wahrnehmung in der Öffentlichkeit gewährleisten und die finanziellen Mittel für einen erfolgreichen Rechtskampf bereitstellen."362 Weiterhin beschließen die Unterzeichner, "die Wiederaufnahme aller Strafverfahren zu fordern, die zur Verurteilung wegen Verstoßes gegen SS 130 StGB mit der Begründung geführt haben, daß der Holocaust in dem beschriebenen Sinne eine 'offenkundige Tatsache' sei, die keines weiteren Beweises mehr bedürfe."363 Allerdings zielt Horst Mahler vielmehr darauf ab, die historische Tatsache des Holocaust zu widerlegen. Mittel zu diesem Zweck soll ein neuer "Auschwitzprozess" werden, der als Revision des Frankfurter Auschwitzprozesses (1963 - 1965) konzipiert werden soll. Laut Mahler stehe die internationale Gemeinde der revisionistischen "Wissenschaftler" bereit, sich in einem solchen Prozess zu engagieren.364 Das "Dogma" des Holocaust sei das ideelle Fundament der Bundesrepublik Deutschland, die von den Siegermächten nach dem Zweiten Weltkrieg völkerrechtswidrig als "Organisationsform einer Modalität der Fremdherrschaft" (OMF) installiert worden sei. Dieses "Dogma" verhindere die freie und selbstbestimmte Entfaltung des deutschen Volkes und führe zum "Seelenmord" an den Deutschen. Als tatsächlicher Zweck des VRBHV wird daher in der Gründungserklärung angegeben: "Reichsbürger treten dem VRBHV bei, um endlich den Allgemeinen Volksaufstand zur Wiedererlangung der Handlungsfähigkeit des deutschen Reiches durch einen organisierten und geordneten Angriff auf die 361 Vgl. S. 66 ff. 362 Gründungserklärung, Internetauftritt des VRBHV, Aufruf am 9.11.2003. 363 Ebenda. 364 Horst Mahler: Offener Brief an den Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten, datiert 16.3.2004. 242 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Auschwitzlüge als dem Fundament der Fremdherrschaft über das Deutsche Reich zu beginnen."365 Die Ausrufung dieses "Allgemeinen Volksaufstandes" kann als Kern der Mahlerschen Ideologie angesehen werden. Insofern steht die Vereinsgründung im Kontext einer langfristigen Kampagne Horst Mahlers. Er instrumentalisiert dabei eine Untersuchung eines SPIEGEL-Redakteurs vom Mai 2002, in der dieser zu dem Schluss kommt, in Auschwitz seien weniger Juden umgekommen als bislang angenommen. Dessen kritische Betrachtung aktueller Forschungsergebnisse griff Mahler bereits 2003 auf, um sie als Rechtfertigung für seine politischen Aktionen von der Selbstanzeigen-Kampagne wegen Bezweifelns des Holocaust über das "Verdener Manifest" bis hin zur geplanten Auschwitzreise zu missbrauchen.366 Die Agitation des VRBHV gegen die Holocaust-Geschichtsschreibung führte in der Zwischenzeit zu mehreren Gerichtsverfahren wegen Verstoßes gegen SS 130 StGB (Volksverhetzung). 365 Gründungserklärung. Internetauftritt des VRBHV, Aufruf am 9.11.2003. 366 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, S. 67 - 70. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - LI N K S E X TR E M I S M U S 243 3 LINKSEXTREMISMUS 3.1 Aktionsorientierter Linksextremismus 3.1.1 Autonome ÜBERSICHT Entstehung / Gründung Ab 1980 Mitgliederzahl Bund: ca. 5 000 (2004: ca. 5 000) Berlin: ca. 1 060 (2004: ca. 1 080) Organisationsstruktur Netzwerk einzelner Gruppen Veröffentlichungen Szenezeitschriften Berlin bildet einen regionalen Schwerpunkt der autonomen Szene in Deutschland. Die Anfänge der autonomen Szene reichen zurück bis zum Beginn der 80er Jahre. Aus Kreisen weder organisationsgebundener noch im traditionellen Sinne ideologisch festgelegter, so genannter undogmatischer Linksextremisten erschienen damals Thesen und Diskussionspapiere, deren Verfasser sich als "autonom" bezeichneten. Sie sprachen von einer "neuen autonomen Protestbewegung", die den "Koloss Staat" mit dezentralen Aktionen, mit "Phantasie und Flexibilität", mit "vielfältigen Widerstandsformen auf allen Ebenen" angreifen müsse. Es gelte, "den bürgerlichen Staat zu zerschlagen". Der Einsatz von "befreiender Gewalt" - sowohl gegen Menschen als auch gegen Objekte - als politisches Mittel gegen die "strukturelle Gewalt" der Gesellschaft und des Staates,367 stellt für die autonome Szene ein unverzichtbares Element ihrer "revolutionären Politik" dar.368 367 Vgl. Fridolin: Wo ist Behle? (Es handelt sich um ein unter Pseudonym geschriebenes Papier, das sich mit strategischen Fragen, auch dem Einsatz von Gewalt, auseinandersetzt und im März 1998 im "INTERIM"-Sonderheft "Bewegung - Militanz - Kampagne" veröffentlicht wurde.) 368 Die Bandbreite an Aktionsformen reicht von Demonstrationen, Informationsbzw. Diskussionsveranstaltungen, Vorträgen, Ausstellungen, der Herausgabe von Steckbriefen über politische Gegner, Flugblättern und Broschüren über Störaktionen, Blockaden, Brandanschläge und andere Sachbeschädigungen bis hin zu Überfällen auf tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten, wobei im Extremfall der Tod des Opfers billigend in Kauf genommen wird. 244 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Während sie ihren unversöhnlichen Hass auf das politische und gesellschaftliche System durch gezielte militante, bisweilen terroristische Aktionen zum Ausdruck bringt, lehnt sie zugleich das staatliche Gewaltmonopol kategorisch ab: "Manche werfen ihren ersten Stein als offensiven Akt der Befreiung, andere aus Notwehr gegen die Bullen. Aber allen ist gemeinsam, dass die Militanz zum identitätsstiftenden, prägenden Bestandteil der Bewegungserfahrung wird."369 Ihre Aktionsfelder beziehen sich auf Themen, die in hohem Maße polarisieren: Faschismus, Imperialismus, Kapitalismus, Militarismus, Rassismus, Sexismus werden als wesentliche Bestandteile des herrschenden politischen Systems betrachtet, das es abzuschaffen gilt.370 Die Autonomen diffamieren den Verfassungsstaat, lehnen das parlamentarische System ab und vertreten Versatzstücke kommunistischen und anarchistischen Gedankenguts. Das Ziel besteht darin, eine "unterdrückungsfreie Gesellschaftsordnung" zu erkämpfen. Ihre Ziele versuchen autonome Gruppen regelmäßig mittels Anschlägen zumeist gegen Firmen oder staatliche Stellen, die in ihren Augen das System repräsentieren, der Öffentlichkeit zu vermitteln.371 Die Auseinandersetzung mit den Themen Antifaschismus, Antimilitarismus, Antiimperialismus, Antisexismus, Antikapitalismus und Antirassismus verläuft dabei nicht in geraden Linien: Zum einen ist eine geschlossene theoretische Fundierung vielen Anhängern verdächtig, da sie ihrem Anspruch, autonom zu leben, widerspricht. Zum anderen versuchen sie, Protestbewegungen zu instrumentalisieren, um über sie - mit unterschiedlichem Erfolg - ihre Ideologie zu vermitteln. Das Verhältnis zur Theorie ist bei den einzelnen Gruppierungen der Autonomen unterschiedlich. Zu nennen sind zum einen die so genannten Altautonomen, die sich der autonomen Szene seit deren Entstehung372 bis 369 Mehr als nur eine kämpferische Haltung: Autonome Militanz: In: Autorenkollektiv AG Grauwacke: Autonome in Bewegung. Berlin 2003, S. 141 - 160, hier S. 142. 370 Vgl. S. 83 ff und S. 95 ff. 371 Vgl. S. 95 ff. 372 Die öffentliche Rekrutenvereidigung in Bremen am 6.5.1980, die zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten führte, gilt als die Geburtsstunde der autonomen Szene in Deutschland. Die Gewaltwelle der Jahre 1980/81 blieb bisher der quantitative Höhepunkt dieser Szene. Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 1995. Berlin 1996, S. 14 ff. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - LI N K S E X TR E M I S M U S 245 Mitte der 80er Jahre anschlossen. Sie suchten die Vernetzung mit Hausbesetzern und bürgerlichen Protestbewegungen wie AKW-Kritikern, Startbahn-West-Gegnern und der Friedensbewegung.373 In ihrer Selbstsicht verstehen sie sich als gesellschaftliche Avantgarde.374 "Unser Problem besteht vielmehr darin, es mit einer Bevölkerung zu tun zu haben, die zum überwiegend großen Teil mit den hier herrschenden Verhältnissen identifiziert ist, und zwar unabhängig davon, inwieweit diese ihr zum Vorteil gereichen oder nicht." Die Altautonomen gehören einem zahlenmäßig kleinen, ideologisch gefestigten und besonders theoretisch fundierten Kreis mit engen persönlichen Verbindungen an, der über szeneinterne Autorität verfügt und vorwiegend klandestin, abseits vom Tagesgeschehen operiert. Von diesen Autonomen der ersten Generation sind jene zu unterscheiden, die ebenfalls stark motiviert sind, allerdings erst ab den späten 80er Jahren zur Szene stießen. Sie bilden gegenwärtig den harten Kern und sind federführend bei der Organisation von Veranstaltungen, Protestaktionen und Anschlägen. Sie sind ideologisch gefestigt, verfügen jedoch nur selten über ein ähnlich theoretisch fundiertes Wissen wie die Altautonomen.375 Aufgrund ihrer aktionistisch ausgerichteten Vorgehensweise binden und rekrutieren sie Autonome der jungen Generation. Deren Mitglieder fluktuieren stark, sind zumeist im Ausbildungsalter und haben oft lediglich vage linksextremistische Vorstellungen, verbunden mit einem hohen Aggressionspotenzial, das sich ein Ventil im Hass auf das politische und gesellschaftliche System sucht.376 373 Bürgerinitiativen, die sich in den benannten Bereichen engagiert haben, sind nicht Gegenstand der Beobachtung des Verfassungsschutzes. Jedoch haben Vertreter des autonomen Spektrums häufig versucht, Protestbewegungen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Dies gelang in unterschiedlicher Intensität und mit wechselnder Nachhaltigkeit. 374 Internetveröffentlichung "Fridolin: Wo ist Behle?" S. 24. 375 Vgl. "INTERIM" Nr. 475, 22.4.1999, S. 26 ff. Die Ästhetik des Widerstands: "Soziale Bewegungen und als ein Teil davon die Autonomen waren ein ernstzunehmender Faktor der Gesellschaft. Dies hat sich seit Ende der 80er Jahre geändert. Wenn man nur noch eine x-beliebige Subkultur in einer beliebigen Gesellschaft ist, hat das keine Sprengkraft mehr." 376 Vgl. Matthias Mletzko: Merkmale politisch motivierter Gewalttaten von militanten autonomen Gruppen, S. 12: "Die schwammige Vorstellung einer unterdrückungsfreien Gesellschaftsordnung erschöpft sich meistens in Forderungen nach 'grundsätzlicher 246 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Verbindendes Element zwischen den Generationen der Autonomen ist die in Teilen hasserfüllte Ablehnung der bestehenden staatlichen Ordnung. Im Unterschied zu den Altautonomen und denen der zweiten Generation verfügen die Jugendlichen jedoch zumeist nicht über konkrete politische Vorstellungen, wie eine Gesellschaftsordnung nach der beabsichtigten Zerschlagung des bestehenden demokratischen Verfassungsstaates aussehen soll. Dieses jugendliche Mobilisierungspotenzial instrumentalisieren die in ihrer Weltanschauung gefestigten Autonomen zur Umsetzung ihrer Aktionen. Mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus Ende der 80er Jahre begann auch eine Erosion der linksextremistischen autonomen Szene. Ideologische Konzeptionslosigkeit und Legitimationsdefizite gegenüber der Bevölkerung im eigenen Land sorgten für einen kontinuierlichen zahlenmäßigen Rückgang der Autonomen. Seit Beginn der 90er Jahre verstärkte sich aufgrund einer wachsenden Kritik an der Unverbindlichkeit autonomer Strukturen die Tendenz, auch innerhalb des autonomen Lagers Organisierungsmodelle zu erproben, um zu einer dauerhaften Umsetzung von Theorie in Praxis zu gelangen. Insbesondere im Bereich des Antifaschismus wurden Vorstöße unternommen (z. B. AAB377), die allerdings nur einen Teil der Szene erfassten und sich als nicht beständig erwiesen. Die Autonomen sind zunehmend zerstritten. Individuelle und gruppenegoistische Interessen beeinträchtigten sie in ihrer Handlungsfähigkeit. Die früher feststellbare "Kiezbezogenheit" sowie die hohe Mobilisierungskraft der 80er Jahre gingen weitgehend verloren.378 Wenn auch das empirische Wissen zur autonomen Szene gering ist, lassen sich doch einige Feststellungen treffen: Die Angehörigen der autonomen Szene, deren Alter in der Regel zwischen dem 16. und 28. Lebensjahr liegt, wobei ein Anstieg des Eintrittsalters feststellbar ist, sind zumeist deutsche Staatsbürger - in Teilen aus bürgerlichen ElternGleichheit der Menschen, nach Selbstbestimmung und menschenwürdigen Lebensbedingungen'." 377 "Antifaschistische Aktion Berlin", Auflösung im Jahr 2003. Vorläuferorganisation der Antifaschistischen Linken Berlin ( ALB) sowie Kritik & Praxis ( KP). 378 Vgl. "INTERIM", Nr. 475, 22.4.1999, S. 26 ff. Die Ästhetik des Widerstands: "[...] daß die bisherigen politischen Konzepte der Autonomen in dieser veränderten Welt seit Jahren nicht mehr greifen, streitet doch heute kaum noch jemand ab." H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - LI N K S E X TR E M I S M U S 247 häusern.379 Zu einem hohen Prozentsatz befinden sie sich in Ausbildung oder Studium, teils sind sie ohne festes Einkommen. Der überwiegende Teil der autonomen Szene ist organisatorisch nicht gebunden. Dies drückt sich einerseits in der hohen Fluktuation der Gruppen, andererseits in deren zumeist geringer "Lebensdauer" aus. Gleichwohl existieren Netzwerke, die sich in der Regel mit Einzelthemen aktionistisch auseinandersetzen (in Berlin z. B. "B.A.N.G.", "Rote Aktion Berlin"). Bundesweit organisierte und kontinuierliche Zusammenarbeit gibt es seit dem Auseinanderbrechen der AA/BO jedoch nicht mehr. Als Gründe für die hohe Fluktuation innerhalb der autonomen Szene werden von ehemaligen Angehörigen angegeben: Die selbstgewählte gesellschaftliche Isolation, die Auseinandersetzungen mit Altautonomen oder zwischen Frauen und Männern sowie ständige ergebnislose Diskussionen.380 379 Helmut Willems betont die heterogene sozio-demografische Struktur militant Autonomer. Vgl. ders.: Jugendunruhen und Protestbewegungen. Opladen 1997, S. 455 - 459. 380 Vgl. Hugo Häberle: Sechs Anmerkungen zum Autonomie-Kongreß. In: "INTERIM" Nr. 329, 27.4.1995, S. 3. "Fertig macht mich, wenn alle paar Jahre das Rad neu erfunden werden muss [wegen Brüchen in der Diskussionskontinuität durch hohe Fluktuation]. Da wird über die Fragen von Internationalismus und nationale Befreiungsbewegungen geredet [...], da wird über die Widersprüche zwischen Mann und Frau diskutiert, als wäre es die neuste Erkenntnis. Wieso sind wir nicht in der Lage, unsere Erfahrungen und erarbeiteten Positionen so weiterzugeben, daß sie eine Grundlage bilden, auf der weiterdiskutiert wird?" 248 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 3.1.2 "Autonome Antifa Nordost" ÜBERSICHT Abkürzung AANO Entstehung / Gründung Wahrscheinlich 2001 Mitgliederzahl Ca. 20 (2004: ca. 20) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Flugblätter Die "Autonome Antifa Nordost" (AANO) ist die größte antideutsche "Antifa"-Gruppe381 in Berlin. Sie trat erstmals 2001 durch ein Interview der "jungen Welt"382 mit einer Sprecherin öffentlich in Erscheinung. Das ideologische Weltbild der AANO setzt sich aus kommunistischen, anarchistischen und insbesondere antideutschen Versatzstücken zusammen. Im Kern fordert sie den Kommunismus: "Solidarität mit den kriminalisierten Antifas! Delete Germany: Solidarität mit Israel! Für den Kommunismus!" (Erklärung der AANO zu den Ereignissen rund um den 31. Januar 2004 in Hamburg)383 "Neue Ordnung? Ne, wir wollen Kommunismus! ... Deutschland in den Rücken fallen! Kosmopolitischen Kommunismus erkämpfen!" (Mobilisierungsaufruf der AANO zu einer Demonstration am 24. April 2004 in Belzig)384 "Solidarität mit Israel! Für den Kommunismus!" (Transparent der AANO anlässlich einer Kundgebung unter dem Titel "Reclaim the Street" am 28. August 2003 in Berlin)385 381 Zu dem Begriff "antideutsch" vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 84 - 88. 382 "junge Welt", 2.2.2001. 383 Die Antifa ist tot, es lebe die Antifa. Erklärung der Autonomen "Antifa Nordost Berlin" (AANO), Internetportal "indymedia", Aufruf am 4.2.2004. 384 Internetveröffentlichung, Aufruf am 23.8.2004. 385 Ebenda. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - LI N K S E X TR E M I S M U S 249 Als Gesellschaftssystem strebt die AANO eine "Assoziation freier Individuen, keine wie auch immer nationale, ethnische oder religiöse Zwangsgemeinschaft"386 an. Dazu sei es erforderlich, "alle Verhältnisse, vor allem die deutschen, schonungslos umzuwerfen".387 In einer Presseerklärung der AANO zum 8. Mai fordert deren Sprecher "die völlige Demilitarisierung von Deutschland, ein Verbot von jeglichen Vertriebenenverbänden und das Deutschland wieder unter die Kontrolle von Alliierten gestellt wird".388 Trat die AANO im Vorjahr noch durch eine Vielzahl von Aktionen und Veröffentlichungen in Erscheinung, hat sie sich 2005 weitgehend zurückgezogen. Einer der Faktoren dafür dürfte in der zunehmenden selbstgewählten Isolation der AANO in der linksextremistischen Szene liegen. Ihre Kritik an anderen linksextremistischen Gruppierungen schreckt selbst vor Gruppen, die auch eher dem antideutschen Spektrum zuzurechnen sind, nicht zurück. Diese werden von der AANO als "geltungsbedürftige Bewegungslinke" bzw. "populistische Wendehälse"389 bezeichnet. 386 Ebenda. 387 Ebenda. 388 Internetauftritt der AANO, Aufruf am 3.1.2006. 389 AANO: Nachbetrachtungen zum 8. Mai. Internetauftritt der AANO, Aufruf am 3.1.2006. 250 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 3.1.3 "Antifaschistische Linke Berlin" ÜBERSICHT Abkürzung ALB Entstehung / Gründung 2003 Mitgliederzahl Ca. 60 (2004: ca. 60) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Flugund Faltblätter Die Vorgängerorganisation der "Antifaschistischen Linken Berlin" (ALB) wurde Mitte 1993 in Berlin von militanten Autonomen aus Passau - zunächst unter der Bezeichnung "Antifa A+P (Agitation und Praxis)", danach "Antifaschistische Aktion Berlin" (AAB) - gegründet. Diese war eine der mitgliederstärksten und politisch aktivsten autonomen "Antifa"-Gruppen in Berlin. Nach eigener Darstellung hat sich die AAB am 13. Februar 2003 "aufgelöst" und in zwei etwa gleich starke Gruppen - die "Antifaschistische Linke Berlin" (ALB) und die Gruppe Kritik & Praxis B3rlin ( KP) gespalten.390 Auf ihrer Internet-Homepage bietet die ALB neben grundlegenden Ausführungen - etwa zum praktizierten Antifaschismus - Diskussionsforen und aktuelle Informationen zu Aktionsschwerpunkten, Kampagnen sowie überregionalen Aktivitäten an. Die ALB propagiert einen militanten Antifaschismus, der sich gegen tatsächliche und vermeintliche "Nazis" richtet. Sowohl die Veröffentlichungen und Positionserklärungen der ALB als auch die personellen Kontinuitäten machen deutlich, dass sie die Nachfolgeorganisation der AAB ist. Das maßgebliche Personenpotenzial der ehemaligen AAB führt politische Absichten und praktische Aktionsformen als ALB fort. Sie verfolgt Ziele, die gegen den Bestand der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gerichtet sind. Das kommt z. B. in dem Aufruf 390 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin 2004, S. 97 f. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - LI N K S E X TR E M I S M U S 251 der ALB zu Protesten gegen den Irak-Krieg zum Ausdruck: "NO NATION - NO WAR - NO CAPITALISM! - WE WILL STOP YOU!" und in Slogans wie "SMASH CAPITALISM!". Noch deutlicher wird die Organisation in ihrem Aufruf zur LiebknechtLuxemburg-Demonstration 2005: "Der Kapitalismus ist nicht das Ende vom Lied. Die Revolution war, ist und bleibt großartig. Freiheit ist auch die Freiheit, den Staat zu zerstören und im Übrigen sind wir der Meinung, dass alles andere Quark mit Soße ist!"391 An anderer Stelle heißt es: "Die radikale Abschaffung der bestehenden Herrschaftsund Ausbeutungsverhältnisse in Form einer Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise kann die einzig sinnige Forderung sein. [...] Der Staat ist keine neutrale Instanz, die nur anders geführt oder besetzt werden muss, sondern Garant für den möglichst reibungslosen Ablauf der kapitalistischen Verwertung. [...] Eine Linke, die es mit der Abschaffung der Ausbeutung ernst meint, sollte sich aber stets bewusst sein, dass dies nicht ein Kampf um den Staat, sondern nur gegen den Staat sein kann."392 3.1.4 "Kritik & Praxis B3rlin" ÜBERSICHT Abkürzung KP Entstehung / Gründung 2003 Mitgliederzahl Ca. 30 (2004: ca. 30) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen Flugund Faltblätter "Kritik & Praxis B3rlin" (KP) versteht sich als den Flügel der ehemaligen "Antifaschistischen Aktion Berlin" (AAB), der durch Theoriearbeit eine Langzeitperspektive für die Systemüberwindung entwickeln möchte und weniger aktionsbezogen agiert. 391 Internetauftritt der ALB, Aufruf am 19.1.2005. 392 ALB: ALLES LÜGE - FASCHISTEN MACHEN AUF SOZIAL. Berlin 2005, S. 9 f. 252 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Dem entsprechend soll der Antifaschismus nicht mehr ausschließlicher Drehund Angelpunkt der Argumentation der KP sein, sondern die Gruppe orientiert sich - in Ablösung von der dominierenden antifaschistischen Ausrichtung der AAB - nunmehr stärker auf das Themenfeld 'Antikapitalismus'. In einer Selbstdarstellung bezeichnet sich KP als "ein antikapitalistisches Projekt [...], das versucht theoretisch fundierte Positionen zu erarbeiten und mit praktisch eingreifender Politik zu verbinden".393 Als Ziel verfolgt KP hierbei den Kommunismus als "ein Projekt der Negation des Kapitalismus": "Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. [...] Die Bewegung aber ist nicht abstrakt, sondern erscheint in verschiedenen politischen Bewegungen. Es gilt zu sichten, welche Theorie sich selbst als "eingreifende" zur Aufhebung des Bestehenden, sich selbst als Teil der Praxis der Subversion versteht und welche Argumente sie anführt, zentrale Bestimmungen des herrschenden Kapitalismus zu treffen."394 "Uns geht es nicht um Arbeitsplätze zu den Bedingungen des Kapitals, sondern um eine andere Gesellschaft jenseits von Lohnarbeit und Kapitalismus! [...] Für den Kommunismus!"395 "In diesem Sinne demonstrieren wir am 8. Mai gegen die Politik der Regierung, die ihre neue Machtpolitik mit der Erinnerung an den Faschismus legitimiert, gegen den Kapitalismus, der die Wurzeln des Faschismus bildet und gegen die Nazis, die erneut mit Antisemitismus, Schuldabwehr und Antikommunismus mobilisieren. Für den Kommunismus!"396 Die parlamentarische Demokratie stellt nach Ansicht der KP lediglich die "politische Herrschaft der formalen Freiheit und Gleichheit aller Staatsbürger unter den unfreien Bedingungen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse im Allgemeinen"397 dar: 393 Internetauftritt von KP, Veröffentlichung zum internationalen Kongress "Interdeterminante Kommunismus" vom 7. - 9.11.2003 in Frankfurt. 394 Ebenda. 395 Internetauftritt von KP, Aufruf zur Demonstration "Agenturschluss" am 3.1.2005. Aufruf am 3.1.2006. 396 Internetauftritt von KP, Aufruf zur Demonstration am 8.5.2005. Aufruf am 3.1.2006. 397 KP: Islamismuskritik - Jenseits von Rassismus und Antisemitismus? In: Phase 2, Nr. 15, März 2005, S. 33. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - LI N K S E X TR E M I S M U S 253 "Solange Existenzangst als Grundlage des Lebens der eigentumslosen Lohnarbeiter akzeptiert wird und Demokratie in der Wirtschaft tabuisiert ist, ist die kapitalistische Demokratie keine Demokratie."398 2005 agierte KP auf mehreren Ebenen. Neben der Beteiligung an und Organisierung von Demonstrationen vorrangig zum Thema Antifaschismus setzte sie die Theoriearbeit fort. Sie war federführend mitverantwortlich für den Kongress "Kapitalismus reloaded" in der Zeit vom 11. bis 13. November in Berlin. 3.1.5 "militante gruppe" ÜBERSICHT Abkürzung mg Entstehung / Gründung Vor 2001 Die "militante gruppe (mg)" ist eine klandestine Gruppe, die - ähnlich den "Revolutionären Zellen" (RZ) in den 80er Jahren - in Berlin und Umgebung Anschläge verübt. Erstmals trat die mg im Sommer 2001 in Aktion, als sie Patronen an den damaligen Regierungsbeauftragten für die Entschädigung der Zwangsarbeiter Otto Graf Lambsdorff und an zwei Mitglieder der Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft schickte. Ihre militanten Aktionen richteten sich seitdem im Wesentlichen gegen Autos und Gebäude von Behörden. Begründet hat die "militante gruppe (mg)" ihre Anschläge bisher vor allem mit den Themengebieten Zwangsarbeiterentschädigung, Sozialabbau und Antiimperialismus. Bis zum Jahreswechsel 2005/2006 hat sie sich zu sechzehn Brandanschlägen bekannt. Der Generalbundesanwalt ermittelt gegen die Gruppierung wegen des Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung. Im Zusammenhang mit den Brandanschlägen versucht die "militante gruppe (mg)", mit anderen militanten Gruppierungen eine Diskussion über die Zukunft der Anschlagsaktivitäten zu führen. Ziel dieser so genannten "Militanzdebatte"399, die über das autonome Szeneblatt 398 KP: Kommunismus und politische Praxis. In: Demopunk / Kritik & Praxis (Hg.): "Indeterminate! Kommunismus". Münster 2005, S. 313 - 322, hier S. 318. 399 Vgl. S. 95 ff. 254 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 "INTERIM" geführt wird, ist die Vernetzung der verschiedenen Gruppierungen. 3.2 Parlamentsorientierter Linksextremismus 3.2.1 "Deutsche Kommunistische Partei" ÜBERSICHT Abkürzung DKP Entstehung / Gründung 1968 Mitgliederzahl Bund: deutlich unter 4 500 (2004: ca. 4 500) Berlin: ca. 110 (2004: ca. 120) Organisationsstruktur Partei Sitz Essen Veröffentlichungen "Unsere Zeit" (UZ) (überregional, wöchentlich) Die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) wurde am 25. September 1968 von früheren Funktionären der 1956 verbotenen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD) gegründet. Der Aufbau einer Parteiorganisation in Berlin begann 1990.400 In einem Leitantrag vom 15. Parteitag (Juni 2000) hält die Partei am Marxismus-Leninismus fest und bekennt sich zur revolutionären Überwindung der bestehenden Gesellschaftsordnung in Deutschland: 400 Während der Teilung Deutschlands gab es aufgrund von Chruschtschows "DreiStaaten-Theorie" (Deutschland zerfalle in drei Staaten: BRD, DDR, Berlin) in Berlin keinen Landesverband der DKP. Statt dessen gründete sich die "Sozialistische Einheitspartei Westberlins" (SEW), die ebenso wie die DKP massiv durch die DDR unterstützt wurde. Nachfolgerin der SEW wurde 1990 die "Sozialistische Initiative" (SI), welche sich 1991 schon wieder auflöste. Sie propagierte einen Erneuerungsprozess hin zu einem "zutiefst demokratischen Sozialismus" (Leitgedanken für Grundsätze und Ziele der SI. In: Landesamt für Verfassungsschutz Berlin: Verfassungsschutzbericht Berlin 1990. Berlin 1991, S. 64). Noch im gleichen Jahr haben "SEWund SI-Mitglieder, die in der Wandlung der SEW zur SI eine Abkehr von der Klassenpartei sahen, eine DKP-Gruppe Berlin gegründet". Ebenda, S. 66. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - LI N K S E X TR E M I S M U S 255 "Das Ziel der DKP ist der Sozialismus als erste Stufe auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft. Sie strebt den grundlegenden Bruch mit den kapitalistischen Eigentumsund Machtverhältnissen an, orientiert auf die Arbeiterklasse als entscheidende gesellschaftsverändernde Kraft. Grundlage ihres Handelns ist die wissenschaftliche Theorie von Marx, Engels und Lenin, die sie entsprechend ihrer Möglichkeiten weiterentwickelt."401 Die DKP ist als Partei sowohl bundesweit wie auch in Berlin bedeutungslos und erreicht nur geringe Wahlergebnisse. Bei den Wahlen zum 16. Deutschen Bundestag im September 2005 trat die DKP nicht selbst an, sondern rief zur Unterstützung des Wahlbündnisses von "Linkspartei.PDS" und der "Wahlalternative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (WASG) auf. In einigen Wahlkreisen kandidierten einzelne DKP-Mitglieder auf deren offenen Listen. Stark engagiert ist die Partei bei der Mobilisierung zu Protesten unterschiedlicher Veranstalter gegen Arbeitsmarktund Sozialreformen. Sie beteiligt sich in Berlin regelmäßig an der jährlichen Luxemburg-Liebknecht (LL)-Demonstration im Januar. 3.2.2 "Linksruck" ÜBERSICHT Entstehung / Gründung 1993 / 1994 Mitgliederzahl Bund: ca. 450 (2004: ca. 500) Berlin: ca. 110 (2004: ca. 110) Organisationsstruktur Gruppe Sitz Berlin Veröffentlichungen "Linksruck" (überregional, zweiwöchentlich) "Linksruck" ist 1993 aus der "Sozialistischen Arbeitergruppe" (SAG) hervorgegangen und bildet die deutsche Sektion des internationalen trotzkistischen Dachverbands "International Socialists Tendency" (IST) mit Sitz in London, der einen wesentlichen inhaltlichen Einfluss auf die ihm angeschlossenen Gruppierungen ausübt. 401 Die DKP - Partei der Arbeiterklasse - Ihr politischer Platz heute. In: DKP-Informationen Nr. 3/2000 vom 15.6.2000, S. 24. 256 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 "Linksruck" versteht sich selbst als "Strömung der revolutionären Sozialisten" mit den Zielen der internationalen Abschaffung des Kapitalismus und Einführung einer Planwirtschaft und Rätedemokratie unter Führung der Arbeiterklasse: "Wir denken, dass wirkliche Veränderung nur von unten kommen kann. Veränderung kommt nicht durch das Parlament - die wirkliche Macht liegt bei ungewählten Managern, Bankern und Richtern, nicht bei Politikern. Wir denken, dass der Kapitalismus nicht reformiert werden kann, sondern gestürzt werden muß."402 Die seit 2001 in Berlin ansässige Bundesleitung setzt die von London vorgegebenen ideologischen Grundlinien um und gibt die Zeitschrift "Linksruck" heraus. In Berlin hat "Linksruck" ca. 100 Mitglieder, die einer hohen Fluktuation unterliegen, aber von einem stabilen Kern von Funktionären geführt werden. Die Gruppe bemüht sich intensiv um die Gewinnung von Schülern und Studenten für eine aktive Mitarbeit. "Linksruck" finanziert sich über Mitgliedsbeiträge, Spenden und durch Zeitschriftenund Publikationsverkauf. Aktionsschwerpunkt ist die Teilnahme an Kampagnen und Protesten, seit 2004 insbesondere gegen die Arbeitsmarktund Sozialreformen der Bundesregierung. Durch bereitwillige Vergabe von Transparenten und Plakaten auch an organisationsfremde Teilnehmer versucht "Linksruck" bei derartigen Anlässen, optisch eine größere Präsenz zu suggerieren, als tatsächlich gegeben. Dabei werden bewusst tagespolitische Forderungen in den Vordergrund gestellt, während die eigentlichen revolutionären und systemüberwindenden Ziele von "Linksruck" im Hintergrund gehalten werden. Durch die praktizierte Vorgehensweise ist "Linksruck" eine der aktivsten und optisch auffälligsten trotzkistischen Gruppierungen. "Linksruck"-Aktivisten engagieren sich mit einer ähnlichen Taktik in der im Jahr 2004 gegründeten "Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" (WASG), in der sie auch im Bundesvorstand vertreten sind. Dieses, auch bei anderen trotzkistischen Organisationen wie der Sozialistischen Alternative Voran ( SAV) festzustellende Engagement ist Teil der von Trotzkisten angewendeten "Entrismus"-Strategie mit dem Ziel, größere (nicht-extremistische) Organisationen zu unter402 Internetauftritt von "Linksruck", Aufruf am 25.10.2005. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - LI N K S E X TR E M I S M U S 257 wandern, dort Einfluss zu erlangen und sie für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. 3.2.3 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" ÜBERSICHT Abkürzung MLPD Entstehung / Gründung 1982 Mitgliederzahl Bund: ca. 2 300 (2004: ca. 2 000) Berlin: ca. 100 (2004: ca. 90) Organisationsstruktur Partei Sitz Gelsenkirchen Veröffentlichungen "Rote Fahne" (überregional, wöchentlich) "Lernen und Kämpfen" (überregional, mehrmals jährlich) "REBELL" (überregional, monatlich) Die 1982 in Bochum gegründete "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) bekennt sich zur Theorie des MarxismusLeninismus in der Interpretation durch Stalin und Mao Zedong. Sie ist aus dem "Kommunistischen Arbeiterverbund Deutschlands" (KABD)403 hervorgegangen. In Abgrenzung zu anderen kommunistischen Parteien - insbesondere zu jenen des ehemaligen Warschauer Paktes - grenzt sie sich mit dem Selbstverständnis einer "Partei neuen Typs" ab. Die MLPD wirft anderen kommunistischen Parteien vor, den Marxismus-Leninismus verraten zu haben: "Der Verrat an den kommunistischen Idealen, die Verbrechen entarteter Elemente an der Spitze der Partei-, Staatsund Wirtschaftsführung in der ehemaligen DDR, ihre Machtergreifung als neue Bourgeoisie und der 403 Der Zusammenschluss besteht seit 1972 aus der "Kommunistischen Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten (Revolutionärer Weg)" und dem "Kommunistischen Arbeiterbund Deutschlands (Marxisten-Leninisten)". 258 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 moderne Revisionismus haben den Begriff des 'Kommunismus' bei den Werktätigen in Misskredit gebracht."404 Die MLPD versteht sich dabei als Vorhut der Arbeiterklasse. Die Ziele der Partei implizieren die Aufhebung wesentlicher Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung: "Ihr grundlegendes Ziel ist der revolutionäre Sturz der Diktatur des Monopolkapitals und die Errichtung der Diktatur des Proletariats für den Aufbau des Sozialismus als Übergangsstadium zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft."405 Der politische Einfluss der Partei ist gering. Zu den Europawahlen 2004 trat sie nicht an, jedoch beteiligte sie sich mit Landeslisten in allen Bundesländern an der Bundestagswahl 2005, nachdem das Interesse an einer Beteiligung der MLPD am Wahlbündnis zwischen der "Linkspartei.PDS" und der "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (WASG) auf keine Resonanz gestoßen war. In Berlin erreichte die MLPD dabei 0,1 Prozent der Zweitstimmen (1 290 Stimmen), was auch ihrem bundesweiten Ergebnis entsprach. Im Berliner Wahlkreis 83 (Neukölln) trat die MLPD zudem mit einem Direktkandidaten an, der 0,2 Prozent der Erststimmen erhielt. Schwerpunktthemen der Partei sind Arbeit und Soziales. Das von der MLPD ins Leben gerufene und dominierte "Berliner Bündnis Montagsdemo" organisiert regelmäßige Montags-Protestzüge gegen Arbeitsmarktund Sozialreformen und mobilisierte bundesweit zu einem Sternmarsch "gegen die neue Regierung" im November 2005, an dem sich - im Gegensatz zu den von der MLPD zunächst genannten 25 000 Teilnehmern - etwa 4 000 Personen beteiligten. 404 Präambel zum Statut der MLPD. Internetauftritt der MLPD, Aufruf am 27.1.2006. 405 Ebenda. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - LI N K S E X TR E M I S M U S 259 3.2.4 "Sozialistische Alternative Voran" ÜBERSICHT Abkürzung SAV Entstehung / Gründung 1994 Mitgliederzahl Bund: ca. 400 (2004: ca. 350) Berlin: ca. 40 (2004: ca. 45) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Berlin Veröffentlichungen "Solidarität - Sozialistische Zeitung" (überregional, monatlich) Die "Sozialistische Alternative Voran" (SAV) ist die deutsche Sektion des in London ansässigen trotzkistischen Dachverbands "Committee for a Workers International" (CWI). Die in Berlin ansässige Bundesleitung steuert die Arbeit der verschiedenen Ortsgruppen in anderen Städten, hier liegt somit der organisatorische Schwerpunkt. Perspektivisches Ziel der SAV ist laut Grundsatzprogramm der Aufbau einer Arbeiterpartei als einer revolutionären, sozialistischen Massenpartei. Damit solle der Kapitalismus abgeschafft und durch ein sozialistisches System verbunden mit der Aufhebung des Mehrparteienstaates ersetzt werden. "Sozialismus bedeutet für sie [Anm: SAV] im Sinne von Marx, Engels, Lenin, Luxemburg und Trotzki: weltweit Gemeineigentum an Produktionsmitteln, demokratische Planung und Kontrolle von Wirtschaft und Gesellschaft durch die arbeitende Bevölkerung. Das setzt eine sozialistische Revolution voraus. Die Aufgabe der sozialistischen Revolution ist es, die Produktionsmittel in Gemeineigentum zu überführen und demokratische Verwaltungsorgane der Arbeiterklasse an Stelle des bürgerlichen Staatsapparats aufzubauen."406 Die SAV finanziert sich über Mitgliedsbeiträge, Spenden und durch den Vertrieb ihres Organs "Solidarität - Sozialistische Zeitung". 406 Grundsatzprogramm der SAV. Internetauftritt der SAV, Aufruf am 27.1.2006. 260 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Wie bei der trotzkistischen Gruppe Linksruck () bildete die Beteiligung an Protesten gegen Arbeitsmarktund Sozialreformen der Bundesregierung407 den Aktionsschwerpunkt der SAV, der auch die Themenauswahl in der Zeitung "Solidarität" und auf der Homepage der SAV bestimmt. SAV-Aktivisten engagieren sich im Sinne der "Entrismus"-Strategie in der Partei "Wahlalternative für Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" (WASG) und riefen für die Bundestagswahl zu einer Unterstützung des Wahlbündnisses mit der "Linkspartei.PDS" auf. Ihre systemüberwindenden Absichten werden aus taktischen Erwägungen jedoch nicht in den Vordergrund gestellt. 408 Zwar strebt die SAV langfristig eine Abschaffung von repräsentativen parlamentarischen Strukturen an, möchte diese aber zunächst noch nutzen um "...mit einer Bundestagsfraktion eine starke Stimme zu gewinnen für die Masse der Bevölkerung, die von keiner der etablierten Parteien nennenswert vertreten wurde. Es ging darum, mit einer Bundestagsfraktion den Widerstand in Betrieben, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu stärken."409 In Berlin nehmen SAV-Mitglieder in der WASG Vorstandsfunktionen wahr. Ihr Ziel ist zunächst, einen Zusammenschluss der Parteien WASG und "Linkspartei.PDS" zu verhindern und in Berlin zu den Abgeordnetenhauswahlen 2006 eigenständig gegen die an der Regierung beteiligte "Linkspartei.PDS" anzutreten.410 407 Vgl. S. 74 ff. 408 Vgl. S. 101 ff. 409 "Bundestagswahl: Rückenwind für die Linke", Internetauftritt der SAV, Aufruf am 13.12.2005. 410 Das Ergebnis der Urabstimmung unter den Berliner WASG-Mitgliedern vom 8. März 2006 zu dieser Frage entspricht mit 51,6 Prozent Zustimmung zumindest dem nachhaltig von der SAV und ihren Aktivisten in der Partei propagierten politischen Kurs. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 261 4 AUSLÄNDEREXTREMISMUS 4.1 Gewaltorientierte Islamisten 4.1.1 Transnationale Terrornetzwerke 4.1.1.1 "Mujahidin-Netzwerke / "al-Qa'ida" ÜBERSICHT Entstehung / Gründung Anfang 80er Jahre Afghanistan / Pakistan Organisationsstruktur Transnationale Netzwerke Veröffentlichungen Audiound Video-Botschaften Der Begriff "Mujahidin" bezeichnet pan-islamistisch orientierte Kämpfer unterschiedlicher ethnischer Herkunft, die an Kampfeinsätzen in Afghanistan, Bosnien, Tschetschenien oder im Kaschmir teilgenommen haben. Das Entstehen der "Mujahidin" geht auf den Afghanistan-Krieg zurück, als sich 1979 freiwillige "Kämpfer" (ArabischPersisch "Mujahidin") dem - unter dem Motto des Jihad geführten - Krieg gegen die sowjetische Besatzung anschlossen und dafür vor allem in afghanischen und pakistanischen Militärlagern ausgebildet wurden. Die Lage im von Krieg und Bürgerkrieg gezeichneten Afghanistan bot seinerzeit ideale Bedingungen für die ideologische Schulung und terroristische Ausbildung der "Mujahidin". Hierzu gehörten ein weitgehend rechtsfreier Raum, Kampfgebiete sowie die Tatsache, dass sich im Bürgerkrieg 1996 die islamistischen "Taliban-Kämpfer" durchsetzten. Die terroristischen Aktivitäten der "Mujahidin" richteten sich ab 1992 vor allem gegen Ägypten und Algerien, nachdem sich einzelne kampferprobte "Mujahidin" des Afghanistan-Kriegs den dortigen militanten islamistischen Gruppierungen angeschlossen hatten. 262 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Im Zentrum der "Mujahidin" steht die von Usama Bin Ladin Ende der 80er Jahre gegründete Organisation "al-Qa'ida" ("Die Basis"), die sich vermutlich Mitte der 90er Jahre mit Teilen der militanten ägyptischen Gruppen "al-Jihad al-islami" ("Der islamische Kampf") und "al-Jama'a al-islamiya"411 ("Die islamische Gemeinschaft") zu einem transnationalen Netzwerk zusammenschloss. Als zweiter Mann hinter Bin Ladin gilt der Führer der ägyptischen Gruppe "al-Jihad al-islami", Aiman al-Zawahiri.412 Programmatische Grundlage der internationalen Anschläge von "alQa'ida" war der von Usama Bin Ladin 1998 mitunterzeichnete413 Aufruf der "Islamischen Weltfront für den Jihad gegen Juden und Kreuzzügler"414, den die Verfasser als ein religiöses Rechtsgutachten (fatwa)415 deklarierten. Darin waren die Tötung von Amerikanern zur vermeintlichen individuellen Pflicht eines jeden Muslims erhoben, die Stationierung von US-Truppen in Saudi-Arabien für unzulässig erklärt und als Ziel die Verdrängung der USA von der Arabischen Halbinsel genannt 411 Hierbei handelt es sich um die hocharabische Schreibweise. Im ägyptischen Dialekt werden die Gruppierungen phonetisch als "al-Gihad al-islami" und "al-Gama'a al-islamiya" wiedergegeben. 412 Vgl. S. 125 ff. 413 Zu den fünf Unterzeichnern gehörten Usama Bin Ladin ("al-Qa'ida"), Aiman alZawahiri ("al-Jihad al-islami"), Abu Yasir Rifa'i Ahmad Taha ("al-Jama'a alislamiya"), Mir Hamza (Generalsekretär der "Jam'iyat-ul-Ulama Pakistan") und Fazlur Rahman (Chef der "Jihad"-Gruppe, Bangladesch). 414 In der Verlautbarung hieß es: "Das Urteil, die Amerikaner und ihre Alliierten, Zivilisten und Militärs gleichermaßen zu töten, wo immer ihm dies möglich ist, ist eine individuelle Pflicht für jeden Muslim, der hierzu in der Lage ist, bis die AqsaMoschee [in Jerusalem] und die Heilige Moschee [in Mekka] von ihnen befreit sind und bis ihre Armeen das gesamte Territorium des Islam verlassen haben, geschlagen und unfähig, irgend einen Muslim noch zu bedrohen." Vgl. "Nass Bayan al-Jabha alislamiya al-alamiya li-Jihad al-Jahud wa'l-Salibiyin" in der arabischsprachigen Zeitung "al-Quds al-arabi", London, 23.2.1998. Eine englische Übersetzung findet sich im Internet unter: www.fas.org/irp/world/para/docs/980223-fatwa.htm. 415 Diese fatwa ist aus Sicht der islamischen Theologie nicht gültig, da Usama Bin Ladin als Laie weder die theologische Qualifikation noch die religiöse Autorität zur Erstellung von Rechtsgutachten, geschweige denn zur Ausrufung des Jihad im Namen der Muslime besitze. Entsprechend wurden die Anschläge vom 11. September 2001 von einem Großteil der islamischen Religionsgelehrten als nicht mit dem Islam vereinbar zurückgewiesen, da die islamische Religion sowohl den Mord an unschuldigen Zivilisten als auch den Selbstmord verbiete. Vgl. Hanspeter Mattes: Ein Jahr danach. Der islamistische Terrorismus und seine Bekämpfung. In: Herder Korrespondenz 56, 9/2002, S. 444 - 448. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 263 worden. Hierzu sollten die USA als Schutzmacht Saudi-Arabiens angegriffen und - wie bereits die Anschläge auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania im August 1998 und auf das Marineschiff USS Cole im Oktober 2000 zeigten - möglichst viele Menschen, vor allem US-Bürger, getötet werden. Statt Anschlägen der Basis-Organisation "al-Qa'ida" standen seit 2004 die Aktivitäten der so genannten "non-aligned Mujahidin" im Vordergrund.416 Das Terrornetzwerk "al-Qa'ida" scheint mit seinen zahlreichen - auch auf die Binnenkommunikation innerhalb und im Umfeld der Netzwerke zielenden - Audio-, Videound Internetbotschaften eher die ideologische Begründung für die Anschläge zu liefern, als diese zentral zu planen und selbst durchzuführen. Dies mag durch den erhöhten Verfolgungsdruck bedingt sein, dem sich Usama Bin Ladin und Aiman al-Zawahiri durch die USA und die alliierten Truppen ausgesetzt sehen. Die "non-aligned Mujahidin" stehen für Kleingruppen oder einzelne Personen, die keiner bestimmten Organisation zuzurechnen sind. Sie finanzieren sich selbst - z. B. durch Allgemein-Kriminalität wie den Handel mit Betäubungsmitteln, Kreditkartenbetrug oder Raubüberfälle. 4.1.1.2 "Ansar al-Islam" ("Anhänger des Islam") / "Ansar al-Sunna" ("Anhänger der Sunna") ÜBERSICHT Abkürzung AAI AAS Entstehung / Gründung 2001 Irak (als Nachfolgeorganisation des "Jund al-Islam" ("Heer des Islam) Organisationsstruktur Transnationales Netzwerk Die 2001 im Nordirak aus verschiedenen Splittergruppen entstandene Organisation "Ansar al-Islam" besteht hauptsächlich aus islamistischen Kurden, die die Errichtung eines islamistischen kurdischen Staatswesens im Nordirak nach dem Vorbild des früheren Taliban-Regimes in Afghanistan anstreben. Hierzu bekämpft sie mit Waffengewalt die laizistischen kurdischen Gruppen "Patriotische Union Kurdistan" (PUK) und die 416 Vgl. S. 116 ff. 264 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 "Kurdische Demokratische Partei" (KDP). Ihre terroristischen Aktionen richtet sie seit 2003 auch gegen die alliierten Streitkräfte im Irak sowie gegen dort tätige humanitäre Hilfsorganisationen. Seit 2004 agiert die "Ansar al-Islam" unter dem Namen "Jaish Ansar alSunna" ("Armee der Anhänger der Sunna"; kurz: "Ansar al-Sunna"; AAS) - eine Bezeichnung, mit der sie vor allem im Internet auftritt. Im Irak, wo sie in den letzten Jahren erheblich an Zulauf gewann, fungiert die AAI bzw. AAS als Dachorganisation und als Sammelbecken für nicht-kurdischstämmige ausländische "Mujahidin".417 Ideologisch ist die AAI bzw. AAS den salafistischen Jihadisten zuzuordnen, die sich an der Jihad-Konzeption von Sayyid Qutb (1906 - 1966), des Chefideologen des militanten Islamismus, orientieren. So propagiert die AAI bzw. AAS die Bekämpfung von Juden und Christen und befürwortet die strikte Umsetzung islamischer Glaubensvorschriften sowie eine weitgehend an den Bestimmungen des Korans orientierte ursprüngliche Lebensweise. Die Organisation, die bis 2004 von dem im norwegischen Exil lebenden Mullah Krekar angeführt wurde, unterhält zur logistischen und finanziellen Unterstützung auch in Westeuropa ein Netzwerk. In Deutschland fielen ihre Anhänger nicht allein durch werbende und unterstützende Tätigkeiten auf, sondern durch die Vorbereitung terroristischer Aktivitäten. Mehrere Personen sollen die die AAI bzw. AAS durch Logistik, Geldbeschaffung, die Einschleusung irakischer Staatsbürger nach Deutschland sowie durch die Rekrutierung von "Jihad-Kämpfern" für den Irak-Krieg unterstützt haben. Sie wurden wegen der Unterstützung bzw. der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt; eine Person wurde nach Paragraph 129b StGB, der die Mitgliedschaft in kriminellen und terroristischen Vereinigungen im Ausland sowie Werbung und Unterstützung für diese unter Strafe stellt, verurteilt.418 417 Vgl. S. 120 ff. 418 Vgl. S. 134 ff. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 265 4.1.2 Regional gewaltausübende Gruppen 4.1.2.1 "Bewegung des Islamischen Widerstands" (HAMAS) ÜBERSICHT Abkürzung HAMAS Entstehung / Gründung 1987 Gaza Mitgliederzahl Bund: ca. 300 (2004: ca. 300) Berlin: ca. 50 (2004: unter 50) Die mit dem Kurzwort HAMAS419 bezeichnete "Bewegung des Islamischen Widerstands" wurde 1987 im Gaza-Streifen von Ahmad Yassin in der Nachfolge eines Zweigs der "Muslimbruderschaft" gegründet. In ihrer Charta von 1988 verneint die HAMAS das Existenzrecht Israels und strebt die "Befreiung ganz Palästinas" durch bewaffneten Kampf sowie die Errichtung eines islamistischen Staatswesens an. Den 1993 begonnenen Oslo-Friedensprozess lehnt die HAMAS als "Ausverkauf palästinensischer Interessen" ab und konkurriert gleichzeitig mit der von der laizistischen Fatah dominierten Palästinensischen Autonomiebehörde um die Führung der Palästinenser. Durch ihre mit dem Hinweis auf fehlende Erfolge begründete Kritik an den Friedensverhandlungen der Autonomiebehörde mit Israel sowie durch den kontinuierlichen Ausbau ihrer Basis im sozialen Bereich hat sie sich im innerpalästinensischen Machtgefüge inzwischen zu einem bedeutenden politischen Faktor entwickelt. In der Folge verzeichnete die HAMAS nicht allein bei den Kommunalwahlen 2004 und 2005 deutliche Erfolge, sondern siegte überraschend auch bei den Parlamentswahlen am 25. Januar 2006. Im neugewählten Palästinensischen Legislativrat stellt sie nun 76 der 132 Abgeordneten und verfügt gegenüber der bisher dominierenden Fatah (43 Sitze) und den sonstigen Gruppen (13 Sitze) über die absolute Mehrheit. 419 Arabisch "Harakat al-Muqawama al-islamiya". Der Begriff "Hamas" stellt zugleich ein - bereits im Koran enthaltenes - arabisches Wort dar, das "Begeisterung", "Eifer" und "Leidenschaft" bedeutet. Islamisten interpretieren den Begriff als "Tapferkeit". 266 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Für die HAMAS bedeutet der Wahlsieg zwar einen Zugewinn an Reputation, der weit über das islamistische Spektrum hinaus wirkt, andererseits auch eine große Herausforderung, die sowohl das Selbstverständnis der Organisation als auch ihre künftigen Handlungsspielräume beeinflussen werden. Das Spektrum der offenen Fragen reicht von der Bewältigung der Anforderungen im Regierungsbereich über ihr Verhältnis zum Friedensprozess bis zur Reaktion auf Forderungen nach Gewaltverzicht und Anerkennung Israels. Eine am 27. Januar 2006 seitens der im Nahostquartett vertretenen UNO, USA, EU und Russland verbreitete Erklärung kritisierte den "fundamentalen Widerspruch zwischen den Aktivitäten bewaffneter Gruppen und Milizen und dem Aufbau eines demokratischen Staates" und forderte die HAMAS zum Gewaltverzicht und zur Anerkennung Israels auf. Voraussetzung für die im Friedensplan für den Nahen Osten angestrebte Gründung eines palästinensischen Staates sei, "dass alle Beteiligten dieses demokratischen Prozesses der Gewalt und dem Terror abschwören, das Existenzrecht Israels anerkennen und ihre Waffen ablegen".420 Diesen Forderungen begegnet die HAMAS derzeit mit an Israel gerichteten Gegenforderungen. Hierzu zählten der Rückzug Israels auf die Grenzen von 1967, der Abbau der jüdischen Siedlungen im Westjordanland, die Freilassung der Gefangenen, die Rückkehr der palästinensischen Flüchtlinge sowie der Stopp der Praxis gezielter Tötungen des HAMAS-Führungspersonals. In der Frage der von der HAMAS verfolgten Gewaltstrategie beharrt die Organisation weiter darauf, Gewalt gegen israelische Interessen zu den von ihr bestimmten Zeitpunkten und Anschlagsorten auszuüben. So betonte der Führer der Auslandssektion Khalid Mash'al am 9. Februar421, dass die von der HAMAS als "Widerstand" bezeichnete Gewaltausübung weiter eine "strategische Option" der Organisation sei, die neben der "Option Demokratie" fortbestehe. Der Zeitung "al-Hayat" zufolge habe Mash'al in einem Interview mit der BBC allerdings Israel einen "längeren Waffenstillstand" für den Fall angeboten, dass sich Israel auf die Grenzen von 1967 zurückzieht und die "Rechte der Palästinenser" 420 Spiegel Online 27.1.2006. 421 "al-Hayat" 9.2.2006 H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 267 (Rückkehr nach Ost-Jerusalem, Auflösung der Siedlungen in Westjordanland) anerkennt. Die Gewaltstrategie der HAMAS schließt seit 1994 vor allem Selbstmordanschläge422 ein. Mit dem Ausbruch der "al-Aqsa-Intifada" im September 2000 und der Verschärfung des israelisch-palästinensischen Konflikts hatten die Selbstmordanschläge ihres militärischen Flügels, der "Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden"423, gegen israelische Ziele erheblich zugenommen. Diese als "Märtyrer-Operationen" bezeichneten Anschläge hatte die HAMAS dabei nicht auf die palästinensischen Gebiete des Westjordanlands und Gaza-Streifens begrenzt, sondern vor allem im israelischen Kernland ausgeführt. Die Anschläge zielten zudem nicht allein auf Militärpersonal, sondern auch auf die israelische Zivilbevölkerung. Dieses seit Errichten des Grenzzauns erschwerte und von Waffenstillstandsabkommen zeitweise unterbrochene terroristische Vorgehen begründet die HAMAS nach wie vor mit einem "Recht auf Selbstverteidigung". Seit ihrem Sieg bei den Parlamentswahlen im Januar 2006 wurde von der HAMAS kein Anschlag mehr durchgeführt. Die "Unterbrechung" der terroristischen Aktionen der HAMAS gegen israelische Ziele führte inzwischen zu einer Reaktion von "al-Qa'ida". In einer am 4. März 2006 veröffentlichten Interneterklärung bestärkt der Stellvertreter von Usama Bin Ladin, Aiman al-Zawahiri, die HAMAS, den bewaffneten Kampf gegen Israel fortzusetzen. Die HAMAS dürfe die "Kapitulationsabkommen nicht befolgen, welche die Konfessions422 Theoretische Basis für die Selbstmordanschläge ist der Begriff des Märtyrers, den die HAMAS - Ideologen uminterpretieren. Galten Märtyrer im Islam bisher hauptsächlich als Menschen, die durch Außeneinwirkung unschuldig zu Tode kamen, verwenden sie den Begriff auch für Personen, die Selbstmordanschläge verüben. So erhebt die HAMAS jemanden zum Märtyrer, "der sein Martyrium aktiv herbeiführt" und popularisiert hierfür den Begriff des Istishhadi (wörtlich "derjenige, der zum Märtyrertod bereit ist"). Da im Islam sowohl Mord als auch Selbstmord verboten sind, bezeichnet sie jene Selbstmordanschläge, die ihr als politisch opportun erscheinen, als so genannte "Märtyrer-Operationen" (Arabisch "amaliyat istishhadiya"). Dies betrifft hauptsächlich Selbstmordanschläge des israelisch-palästinensischen Konflikts, die von der HAMAS, dem "Palästinensischen Islamischen Jihad" (PIJ) oder den laizistischen "al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden" verübt werden. Im Gegensatz hierzu werden die von "alQa'ida" oder ihr nahestehenden Gruppierungen verübten Selbstmordanschläge als Terrorismus abgelehnt und mit dem Begriff "Selbstmordanschläge" (Arabisch "amaliyat intihariya") bezeichnet. 423 Die "Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden" waren bereits im Juni 2002 in die EU-Liste terroristischer Organisationen aufgenommen worden; seit Anfang September 2003 wird auch die Gesamtorganisation der HAMAS als terroristisch eingestuft. 268 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 losen innerhalb der Palästinenserführung in der Vergangenheit unterzeichnet" hätten. Der Kern der Botschaft von al-Zawahiri gilt der weiteren politischen Ausrichtung der HAMAS nach ihrem Wahlsieg bei den Parlamentswahlen im Januar 2006. Innerhalb von "al-Qa'ida" scheint die Befürchtung gewachsen zu sein, mit einer beginnenden "Normalisierung" der Beziehungen zwischen HAMAS und Israel könne eines der wichtigsten Konfliktfelder wegbrechen, an denen "al-Qa'ida" bislang die "kreuzzüglerischen Bestrebungen" des Westens festgemacht hat. Die hohe Bedeutung, die "al-Qa'ida" dem Palästinenserkonflikt und der Aberkennung des Existenzrechts Israels beimisst, ist schon in früheren Verlautbarungen von Usama Bin Ladin und Aiman al-Zawahiri immer wieder deutlich geworden. Der Konflikt stellt einen wesentlichen Begründungszusammenhang im Hinblick auf die Durchführung terroristischer Anschläge dar. Wohin sich der künftige Kurs der HAMAS vor dem Hintergrund der vom Westen und von Russland erhobenen Forderungen, auf Israel zuzugehen, gewalttätige Aktionen einzustellen und stattdessen eine Politik des pragmatischen Nebeneinander zu verfolgen entwickelt, bleibt abzuwarten. In Deutschland tritt die HAMAS nicht offen in Erscheinung. Vielmehr treffen sich Anhänger der HAMAS in Moscheen, Moscheevereinen und Islamischen Zentren. Als Berliner Treffpunkt von HAMAS-Anhängern gilt das "Islamische Kulturund Erziehungszentrum Berlin e. V.". Als Spendensammelverein der HAMAS galt der in Aachen ansässige "AlAqsa e. V.". Mit Verfügung vom Juli 2002 stellte das Bundesministerium des Innern fest, dass die Tätigkeit des Vereins Gewaltanwendung zur Durchsetzung politischer, religiöser und sonstiger Belange unterstütze, befürworte und hervorrufe. Die Tätigkeit richte sich außerdem gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Der Verein wurde verboten und aufgelöst. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Verbot am 3. Dezember 2004 bestätigt.424 Auf Grundlage dieser Entscheidung wurden am gleichen Tag die Vereinsräume des "Al Aqsa e. V." in Aachen, des "YATIM-Kinderhilfe e. V." in Essen und des "Bremer Hilfswerk e. V." in Bremen durchsucht. Der "YATIM-Kinderhilfe e. V." und der "Bremer Hilfswerk e. V." gelten als weitere Spendensammel424 Az.: BVerwG 6 A 10.2.2004. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 269 vereine. Darüber hinaus wurden Wohnungen führender Funktionäre der genannten Vereine durchsucht. In Berlin waren zwei Personen von den Maßnahmen betroffen. 4.1.2.2 "Hizb Allah" ("Partei Gottes") ÜBERSICHT Abkürzung HA Entstehung / Gründung 1982 Beirut Mitgliederzahl Bund: ca. 900 (2004: ca. 850) Berlin: ca. 160 (2004: ca. 160) Veröffentlichungen "Al-Ahd - Al-Intiqad" ("Die Verpflichtung - Die Kritik") (überregional, wöchentlich) "Al-Manar-TV" ("Der Leuchtturm") Die schiitisch-islamistische "Hizb Allah" (HA / "Partei Gottes") wurde im Sommer 1982 nach dem Einmarsch israelischer Truppen in den Libanon gegründet und agierte im 15-jährigen libanesischen Bürgerkrieg zusammen mit der AMAL als eine der beiden schiitischen Milizen. Aus ideologischen, regionalpolitischen und konfessionellen Motiven wird die hierarchisch strukturierte Bewegung vom Iran und von Syrien finanziell und militärisch unterstützt. Unter ihrem Generalsekretär Hassan Nasrallah negiert die "Hizb Allah" weiter das Existenzrecht Israels und propagiert den bewaffneten Kampf gegen Israel, den sie als "legitimen Widerstand" bezeichnet. Im Libanon operierte ihr bewaffneter Arm, die Miliz des "Islamischen Widerstands" ("al-Muqawama al-islamiya"), jahrelang mit militärischen und terroristischen Mitteln gegen Armeeeinrichtungen und Soldaten Israels. Hierzu gehörten auch Selbstmordanschläge gegen israelische Soldaten. Darüber hinaus wird die HA für zwei Anschläge auf jüdische Einrichtungen in Argentinien 1992 und 1994 verantwortlich gemacht. Innenpolitisch hat sich die "Hizb Allah" dagegen als eine parteiähnliche politische Bewegung konstituiert, die wegen ihrer sozialen Aktivitäten vor allem unter der schiitischen Bevölkerung des Libanon über breiten gesellschaftlichen Rückhalt verfügt. Seit 1992 gibt es Abgeordnete der 270 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 "Hizb Allah" im libanesischen Parlament; im Kabinett der nach der Ermordung von Premierminister Rafiq al-Hariri (14. Februar) neugebildeten Regierung unter Fouad Signora ist sie sogar mit Ministern vertreten. Als Folge des innerlibanesischen Bürgerkriegs (1976 - 1989), der Auseinandersetzungen gegen die 22-jährige israelische Besatzung sowie der Politik Syriens, das sie für einen Stellvertreterkrieg gegen Israel benutzt, verfügt die HA im Libanon über eine Sonderstellung: Als einzige der ehemaligen Milizen des Bürgerkriegs unterhält sie weiter eine bewaffnete Miliz mit parallel zur libanesischen Armee existierenden militärischen Verbänden, die u. a. die Grenze zu Israel kontrollieren. Diese Sonderstellung versucht die HA bis heute aufrechtzuerhalten: Sie ignoriert weiter die nach dem im Mai 2000 erfolgten Rückzug der israelischen Truppen aus der so genannten "Sicherheitszone"425 erhobene Forderung, sich aus dem Südlibanon zurückzuziehen und ihre Miliz zu entwaffnen und sich im Libanon ausschließlich als politische Partei zu betätigen. Diese Forderung war zentraler Bestandteil des 1989 zur Beendigung des libanesischen Bürgerkriegs geschlossenen Friedensabkommens von Ta'if. Seit 2000 benutzt sie den ausbleibenden Rückzug Israels aus den "Shebaa-Farmen"426 als einen Vorwand, um in diesem Grenzgebiet ungehindert militärisch und terroristisch gegen Israel vorzugehen. Einen weiteren Vorwand für die Aufrechterhaltung der militärischen Option bezieht die "Hizb Allah" aus dem Andauern der 2000 ausgebrochenen "Al-Aqsa-Intifada", die sie seitdem ideologisch, militärisch, finanziell, und propagandistisch zu unterstützen sucht. Der Status der HA, mittels dessen sie sich nach außen und nach innen als selbsternannte "Widerstandsbewegung" zu legitimieren versucht, ist seit 2004 allerdings unter zunehmenden außenund innenpolitischen Druck geraten. Hierzu zählt vor allem die am 2. September 2004 verabschiedete UN-Resolution 1559. Diese wie auch diverse weitere Initiativen der 425 Diesen Rückzug der israelischen Truppen feierte die HA als einen bedeutenden Sieg des "Islamischen Widerstands", der Vorbildcharakter für die "Lösung" des Palästinakonflikts haben sollte. 426 Israel hatte 2000 seinen Nichtrückzug aus den im Grenzdreieck zwischen Libanon, Syrien und Israel gelegenen "Shebaa-Farmen" damit begründet, dass diese syrisches Territorium darstellten. Der Libanon dagegen betrachtet die "Shebaa-Farmen" als sein - von Israel zu Unrecht besetztes - Staatsgebiet. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 271 UNO fordern nicht allein den Abzug sämtlicher ausländischer Truppen von libanesischem Territorium, sondern darüber hinaus die bedingungslose Entwaffnung sämtlicher Milizen427 sowie die Ausdehnung der staatlichen Autorität auf das gesamte libanesische Territorium. Die "Hizb Allah" hat auf derartige - inzwischen zunehmend auch aus innerlibanesischen Kreisen vorgebrachte - Forderungen nach Entwaffnung bisher ablehnend reagiert. Sie behauptet, dass der "Islamische Widerstand" keine Miliz, sondern eine gesamtlibanesische Organisation darstelle, die ausschließlich der Verteidigung des Landes gegen Israel diene. Unbeeindruckt von der massiven Kritik an dem als Staat im Staate agierenden "Islamischen Widerstand" beging die HA am 29. Oktober 2005 in Beirut und in Baalbeck den so genannten "al-Quds-Tag". Mittelpunkt der seit 1979 alljährlich stattfindenden Massendemonstration, mit der die "Befreiung" Jerusalems (Arabisch "al-Quds") von "zionistischer Besatzung" propagiert wird, war eine mehrstündige Militärparade mit dem Slogan "Wir kommen". Zu einem Streitfall auf internationaler Ebene ist auch der parteieigene TV-Sender "Al-Manar" ("Der Leuchtturm") geworden, durch welchen die "Hizb Allah" ihre "Widerstandsideologie" propagiert. Fester Bestandteil im Programm des per Satellit auch in Deutschland zu empfangenden TV-Senders sind die Propagierung des bewaffneten Kampfes im Rahmen der "Al-Aqsa-Intifada" sowie die Popularisierung von als "Märtyrer-Operationen" bezeichneten Selbstmordanschlägen. In einschlägigen Filmen und Videoclips werden Attentäter der militärischen Flügel der HAMAS und des PIJ, der "Izz ad-Din al-QassamBrigaden" und der "Jerusalem-Kompanien" ("Saraya al-Quds") glorifiziert. Die seit 2002 betriebene anti-israelische Hetze und Propaganda des Senders zeigt etwa den Generalsekretär der "Hizb Allah", Hassan Nasrallah, der seinen Anhängern versichert, dass "Israel in seiner Existenz vergehen wird". Die Propagandafilme beinhalten auch Bilder israelischer Attentatsopfer - unterlegt mit dem Text "Gewiss wird Israel verschwinden". Mit der Begründung, dass "Al-Manar" zu Hass und Gewalt gegen Israel aufrufe und Sendungen mit eindeutig antisemitischem Charakter aus427 Dies betrifft Forderungen nach Entwaffnung der militärischen Verbände der HA sowie palästinensischer Gruppen außerhalb der Flüchtlingslager. 272 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 strahle,428 wurde dem Sender von Frankreich und von den USA 2004 die Sendelizenz entzogen. Seitdem ist der Empfang des Senders in Europa eingeschränkt. Darüber hinaus setzte das amerikanische Außenministerium "Al-Manar" 2004 auf die Liste derjenigen terroristischen Organisationen, deren Unterstützung zu Einreiseverweigerung oder Ausweisung führen kann ("Terrorist Exclusion List"). Die "Hizb Allah" wird von den USA seit Jahren aufgrund ihrer zahlreichen, hauptsächlich in den 90er Jahren verübten Anschläge als Terrororganisation eingestuft; dies veranlasste auch die Regierung Kanadas, sie 2003 in die kanadische Liste der Terrororganisationen aufzunehmen. Die britische, französische und seit Juli 2003 auch die australische Regierung bewerten zwar nicht die Gesamtorganisation der "Hizb Allah" als terroristisch, wohl aber den Auslandssicherheitsdienst "External Security Apparatus" (ESA), der als integraler Bestandteil der "Hizb Allah" gilt. In Berlin agieren die Anhänger der Organisation nicht offen unter der Bezeichnung "Hizb Allah". Zu ihren Aktivitäten zählen vor allem die Vorbereitung und Beteiligung an Demonstrationen, interne Propagandaveranstaltungen und das Sammeln von Spendengeldern. Die in Berlin von Anhängern der "Hizb Allah" und iranischen Regimetreuen initiierte alljährliche Demonstration zum so genannten "Al-Quds"-Tag verlief am 29. Oktober als Schweigemarsch mit 300 Teilnehmern ohne besondere Vorkommnisse. 428 Hierzu zählt vor allem die während des Ramadan 2003 ausgestrahlte Sendereihe "alShatat" ("Diaspora"), in der die Existenz einer seit Jahrhunderten bestehenden geheimen jüdischen Weltregierung unterstellt wird, die für zahlreiche politische Komplotte und Großereignisse wie den Ausbruch des Ersten und Zweiten Weltkriegs verantwortlich zeichnen soll. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 273 4.1.3 Gewaltbefürwortende Gruppen 4.1.3.1 "Hizb al-Tahrir al-islami" ("Partei der islamischen Befreiung") ÜBERSICHT Abkürzung HuT Entstehung / Gründung 1953 Jordanien 1987 Landesverband Berlin Mitgliederzahl Bund: ca. 300 (2004: ca. 200) Berlin: ca. 60 (2004: ca. 60) Organisationsstruktur 2003 vereinsrechtliches Betätigungsverbot Veröffentlichungen "Explizit" (überregional, bis Januar 2003 "Al-Wa'i" ("Bewusstsein") (überregional, monatlich) "Khalifa" / "Hilafet" ("Kalifat") (überregional, monatlich) Die 1953 in Jordanien von Taqi ad-Din an-Nabhani (1909 - 1977) gegründete HuT ist eine pan-islamistische parteiähnliche Bewegung, die sich die weltweite Missionierung von Muslimen im Sinne ihrer Ideologie zum Ziel gesetzt hat. Ideologisch verfolgt die HuT eine universelle Staatsund Gesellschaftsdoktrin, die sie auf vermeintlich authentisch islamische Herrschaftskonzepte zurückführt. Im Zentrum stehen die Betonung des pan-islamischen Gedankens (in der Behauptung der Existenz einer weltumfassenden islamischen Gemeinde, "Umma") sowie die Forderung nach Errichtung einer weltweiten Kalifatsherrschaft. Erklärte Ziele sind ferner die Überwindung nationalstaatlicher Strukturen, die Vernichtung des Staates Israel, die Befreiung der muslimischen Welt von westlichen Einflüssen sowie die Einführung der Scharia als politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip. Die Ideologie kennzeichnet ferner eine ausgeprägte Judenfeindschaft sowie die Rechtfertigung von Gewaltanwendung durch vermeintlich reli- 274 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 giöse Bezüge: So werden etwa Koranverse aus ihrem historischen Kontext herausgelöst und Begriffe wie Jihad ("Bemühen", "Kampf") fast durchgängig militant interpretiert. In den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wurde die HuT aufgrund ihrer radikalen Ausrichtung, insbesondere wegen ihrer Aufrufe zum gewaltsamen Umsturz der Regierungen, unmittelbar nach ihrer Gründung verboten. Seitdem operiert sie weitgehend im Geheimen; ihre Anhänger sind strikter Verfolgung ausgesetzt. Begründet werden die Maßnahmen mit der Beteiligung der HuT an Staatsstreichen - etwa in Jordanien (1968), Irak (1969), Ägypten (1974) sowie Syrien (1976). Nach Darstellung der Organisation ist sie in diesen Ländern wie auch in Kuwait weiter aktiv; darüber hinaus agiert sie im zentralasiatischen Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan. Die HuT entspricht weder hinsichtlich ihres legalen Status noch ihrer tatsächlichen Struktur den Prinzipien einer Partei. Derzeitiger Vorsitzender ist der 1943 im Libanon geborene Jordanier Ata Abu al-Rashta, dessen Aufenthaltsort im Libanon vermutet wird. In Deutschland trat die HuT vorwiegend in Universitätsstädten durch die Verbreitung von Flugblättern und Zeitschriften in Erscheinung. Diese enthielten regelmäßig antiisraelische und antiwestliche Positionen. In Berlin geriet die Organisation ins Blickfeld der Öffentlichkeit, als am 27. Oktober 2002 in der "Alten TU-Mensa" eine Vortragsveranstaltung zum Thema "Der Irak - ein neuer Krieg und die Folgen" mit dem Herausgeber der der HuT zuzurechnenden Zeitschrift "Explizit", Shaker Assem, als Referent stattfand. Für ein breites Medieninteresse sorgte seinerzeit die Anwesenheit des NPD-Vorsitzenden Udo Voigt und des prominenten NPD-Mitglieds Horst Mahler. Am 10. Januar 2003 erließ der Bundesminister des Innern ein Betätigungsverbot gegen die HuT. Die HuT legte dagegen Klage beim Bundesverwaltungsgericht ein. Der sechste Senat hatte die Entscheidung des Ministeriums bereits im August 2005 per Gerichtsbescheid für rechtmäßig erklärt. Die Organisation akzeptierte dies jedoch nicht und bestand auf einer mündlichen Verhandlung, woraufhin das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig das vom BMI erlassene Verbot am 25. Januar 2006 bestätigte.429 429 BVerwG 6A 6.05. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 275 Das Urteil wurde damit begründet, dass die HuT mehrmals "zur gewaltsamen Beseitigung des Staates Israel und zur Tötung von Menschen aufgefordert" und auf diese Weise "der friedlichen Lösung der israelisch-palästinensischen Interessensgegensätze entgegengewirkt" habe. In seiner Begründung verwies der Senat auch auf Art. 9 Abs. 2 GG, wonach Organisationen verboten werden, die sich gegen die Verfassung oder den Gedanken der Völkerverständigung richten. 4.1.3.2 "Kalifatsstaat" ("Hilafet Devleti") ÜBERSICHT Entstehung / Gründung 1984 Mitgliederzahl Bund: ca. 750 (2004: ca. 750) Berlin: Einzelmitglieder Organisationsstruktur 2001 Vereinsverbot Sitz Köln Veröffentlichungen "Barika-i Hakikat" ("Das Aufleuchten der Wahrheit") (überregional, letztmalig erschienen Oktober 2004) Der islamistische "Kalifatsstaat" spaltete sich 1984 unter der Leitung von Cemaleddin Kaplan zunächst mit der Bezeichnung "Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e. V. Köln" (ICCB) von der "Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e. V." (AMGT)430 ab. Sowohl der damalige ICCB als auch die AMGT strebten für die Türkei eine an der Scharia ausgerichtete islamistische Staatsordnung an. Grundlegender Unterschied zwischen beiden Organisationen und gleichzeitiger Anlass für die Abspaltung der so genannten Kaplanclar (Kaplan-Anhänger) war hierbei die Frage, auf welchem Weg die Gründung eines als "islamisch" deklarierten islamistischen Staatswesens zu realisieren sei. Während sich die AMGT für den gewaltfreien parlamentarischen Weg entschied, sprach sich Kaplan ausdrücklich für eine Revolution nach dem Vorbild des Iran aus. Im Zuge dieser Revolution sollte das 1924 in der neu gegründeten türkischen Republik abgeschaffte Kalifat - das Amt 430 Heute IGMG. 276 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 des weltlichen Oberhaupts der Muslime - wieder eingeführt werden. Den legalen Weg zur Macht über demokratische Wahlen lehnte Kaplan entschieden ab, da westliche Demokratiemodelle nicht mit der Scharia vereinbar seien. Seinen Vorstellungen zufolge sollte sich das zu gründende islamistische Staatswesen zunächst auf das Gebiet der heutigen Türkei beschränken, später aber alle muslimischen Länder unter der Herrschaft eines Kalifen, eines Oberhaupts aller Muslime, vereinen. Als selbsternannter "Emir der Gläubigen und stellvertretender Kalif" rief Cemaleddin Kaplan 1992 den "Föderativen Islamstaat Anatolien" aus. 1994 ließ er sich von seinen Anhängern zum Kalifen ausrufen, worauf die Umbenennung der Organisation in "Hilafet Devleti" ("Kalifatsstaat") erfolgte. Nach dem Tod Cemaleddin Kaplans im Jahr 1995 übernahm sein Sohn Metin den Titel eines selbsternannten Kalifen. Kurze Zeit danach wurde die Rechtmäßigkeit des neuen "Kalifen" von einigen Anhängern der Gemeinde in Frage gestellt. 1996 erfolgte die Spaltung der Organisation, als der Berliner Arzt und frühere Vertraute von Cemaleddin Kaplan, Dr. Halil Ibrahim Sofu, von seiner Anhängerschaft zum "Gegenkalifen" ausgerufen wurde. Im Mai 1997 wurde Sofu in seiner Wohnung in Wedding von Unbekannten erschossen. Metin Kaplan wurde daraufhin am 15. November 2000 vom Oberlandesgericht Düsseldorf wegen zweifacher öffentlicher Aufforderung zur Ermordung Sofus zu vier Jahren Haft verurteilt. Nach Verbüßung der Haftstrafe wurde er am 27. Mai 2003 aus dem Gefängnis entlassen. Gegen ihn lag ein Auslieferungsantrag der Türkei wegen Hochverrats vor. Nach einem längeren Rechtsstreit, in dem Kaplan gegen die Aberkennung seines Status als Asylbewerber sowie die Abschiebung in die Türkei mit der Begründung klagte, dass dort für ihn kein rechtsstaatliches Strafverfahren gewährleistet sei, erfolgte schließlich am 12. Oktober 2004 seine Festnahme und Auslieferung an die Türkei.431 Dort verurteilte ein Istanbuler Schwurgericht das Oberhaupt des "Kalifatsstaats" am 20. Juni 2005 zu lebenslanger Haft. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Kaplan 1998 ein Attentat gegen die türkische Staatsspitze während eines Festaktes am Atatürk-Mausoleum in Ankara geplant hatte. In seiner Verteidigungsrede bezeichnete Kaplan diese 431 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 138 ff. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 277 Vorwürfe als "frei erfunden", bekannte sich jedoch offen dazu, in der Türkei ein islamistisches Staatswesen gründen zu wollen:432 "Wir wollen ein System in der Türkei, in dem der Koran die Verfassung, die Scharia die Rechtsprechung und der Islam den Staat darstellt." Am 30. November 2005 hob die neunte Strafkammer des Kassationshofs in Ankara die Verurteilung Metin Kaplans zu lebenslanger Haft auf. Das oberste Berufungsgericht der Türkei begründete seine Entscheidung mit Verfahrensfehlern und unzureichenden Ermittlungen. In Deutschland übernahm nach der Verhaftung von Metin Kaplan Harun Aydin am 25. März 1999 die Leitung des Verbandes, wobei das ideologische Konzept Cemaleddin Kaplans beibehalten und die aggressive, demokratiefeindliche und antisemitische Agitation fortgeführt wurden. Am 12. Dezember 2001 verbot der Bundesminister des Innern den "Kalifatsstaat". Das nach Entscheidungen des Bundesverwaltungsund Bundesverfassungsgerichts433 rechtskräftige Verbot wurde durch die Streichung des Religionsprivilegs im Vereinsgesetz möglich.434 Begründet wurde das Verbot damit, dass sich der "Kalifatsstaat" offen gegen die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland sowie den Gedanken der Völkerverständigung richtet und die innere Sicherheit sowie außenpolitische Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet.435 Das Verbot betraf den Gesamtverband und 19 bundesweit vorhandene Teilorganisationen sowie die zum Verband gehörende, in den Niederlanden registrierte Stiftung "Diener des Islam". In Berlin war u. a. die Muhacirin-Moschee in Friedrichshain-Kreuzberg von den Maßnahmen betroffen. Nach der Verbotsverfügung gab es Hinweise, dass Mitglieder der Gruppierung weiterhin aktiv seien und ihr organisatorischer Zusammenhalt aufrechterhalten werde. Anlass zu dieser Annahme gaben weitere Veröffentlichungen der Zeitung "Ümmet-i Muhammed" ("Die Gemeinde Muhammads") und die Fortsetzung der Sendungen des Fernsehkanals 432 "Die Akte Kaplan ist zu", FAZ, 22.6.2005. 433 BVerwG 6 A 4.02 vom 27.11.2002 und BVerfG 1 BvR 536/03 vom 2.10.2003. 434 Erstes Gesetz zur Änderung des Vereinsgesetzes, BGBl. I, Nr. 64, 2001, S. 3319. 435 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2001. Berlin 2002, S. 79 ff. 278 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 HAKK-TV nach dem 8. Dezember 2001.436 Aus diesem Grund leitete der Generalbundesanwalt am 8. April 2002 ein Ermittlungsverfahren gegen unbekannte Angehörige des "Kalifatsstaats" wegen des Verdachts der Zuwiderhandlung gegen das Vereinsverbot ein. Im Zuge dieses Verfahrens wurden am 19. September 2002 16 weitere Teilorganisationen dieser Gruppierung in Baden-Württemberg, Hessen, NordrheinWestfalen, Rheinland-Pfalz und Niedersachsen verboten. Wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Vereinsverbot erfolgten in 2005 weitere Exekutivmaßnahmen gegen mutmaßliche Mitglieder des "Kalifatsstaats". Am 29. September fanden Durchsuchungen in den Bundesländern Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sowie in den Niederlanden statt. Am 23. November durchsuchten bayerische Sicherheitskräfte 22 Wohnungen und eine Moschee. Die Maßnahmen zeigten, dass die Anhänger des "Kalifatsstaats" weiterhin aktiv sind und versuchen, die verbotene Organisation fortzuführen. Die Verbreitung der dritten vom "Kalifatsstaat" herausgegebenen Zeitung "Barika-i Hakikat" ("Das Aufleuchten der Wahrheit") ab März 2004 wurde noch im selben Jahr wieder eingestellt. Statt dessen bemüht sich die Organisation derzeit um den Neuaufbau von Internetseiten.437 Das Vereinsverbot, zahlreiche Exekutivmaßnahmen sowie die Abschiebung Metin Kaplans in die Türkei führten zwar zu einer deutlichen Schwächung des "Kalifatsstaats", trotzdem lassen sich Bestrebungen beobachten, verbliebene Strukturen zu reorganisieren. 436 In beiden Fällen handelt es sich um die vormaligen Verlautbarungsorgane des "Kalifatsstaats". 437 Nach dem Verbot des "Kalifatsstaats" wurden dessen Internetseiten gesperrt. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 279 4.2 Islamisten mit unklarer Gewaltorientierung 4.2.1 "Tabligh-i Jama'at" bzw. "Jama'at-i Tabligh" ("Gemeinschaft für islamische Verkündigung" oder "Predigergemeinschaft") ÜBERSICHT Abkürzung TJ JT Entstehung / Gründung 1927 Indien Mitgliederzahl Bund: ca. 500 Berlin: ca. 30 Organisationsstruktur Netzwerk Die 1927 in Indien von Muhammad Ilyas (1885 - 1944) gegründete "Tabligh-i Jama'at" ist eine pan-islamische Missionierungsbewegung, die netzwerkartig organisiert ist und weltweit mehrere Millionen Anhänger umfassen soll. Die TJ beschreibt sich selbst als apolitisch und nicht gewaltorientiert. Im Gegensatz zu anderen islamistischen Gruppen, die vorrangig die Errichtung eines islamistischen Staatswesens anstreben, kann die TJ als pietistische Massenbewegung definiert werden, deren primäres politisches Ziel die "Durchsetzung der Scharia" ist. Hierzu orientiert sich die TJ an frühislamischen Vorschriften und Lebensgewohnheiten wie sie im siebten Jahrhundert in Mekka und Medina vorherrschten. Ihr Bemühen, eine am Frühislam orientierte muslimische Idealgesellschaft zu schaffen, schließt ein weitgehend wörtliches Verständnis des Korans und der Sunna ein. Dies hat zur Konsequenz, dass ihre gegenwärtige Vorstellungswelt von der Befürwortung der rechtlichen Benachteiligung der Frau und der Abgrenzung gegenüber NichtMuslimen geprägt ist. Auf gewaltorientierte islamistische Gruppen üben wiederum ihre straffe Organisationsstruktur und ihr missionarisches Anliegen, Muslime zu einer ursprünglichen Frömmigkeit zurückzuführen, besondere Anziehungskraft aus. So sollen Mujahidin-Aktivisten die TJ als Rekrutierungspool und zur Tarnung von Reiseaktivitäten nutzen. In den letzten Jahren sollen sich einzelne Anhänger der "Tabligh-i Jama'at" radikali- 280 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 siert, gewaltorientierten islamistischen Gruppen angeschlossen und terroristische Aktionen vorbereitet haben. 4.3 Nicht-gewaltorientierte Islamisten 4.3.1 "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs ÜBERSICHT Abkürzung IGMG Entstehung / Gründung 1985 (als Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e. V.) Mitgliederzahl Bund: ca. 26 500 (2004: ca. 26 500) Berlin: ca. 2 900 (2004: ca. 2 900) Organisationsstruktur Eingetragener Verein Sitz Bonn Veröffentlichungen "IGMG Perspektive" (überregional, monatlich) Der Vorläufer dieser islamistischen Organisation wurde 1985 unter der Bezeichnung "Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e. V." (Avrupa Milli Görüs Teskilatlar - AMGT) in Köln gegründet. 1995 gingen daraus die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) und die "Europäische Moscheebauund Unterstützungsgemeinschaft e. V." (EMUG) hervor. Die EMUG ist für die Verwaltung des Immobilienbesitzes der Vereinigung verantwortlich. Die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. vertritt eine islamistische Ideologie, die auf das politische Konzept von Necmettin Erbakan zurückgeht, das dieser 1973 in dem gleichnamigen Buch Milli Görüs (Nationale Sicht) veröffentlichte. Erbakans Ziel ist es, die türkischen Bürger unter dem Dach von Nationalismus und Islamismus zu einen und in der Türkei ein islamistisches Staatswesen zu errichten. Als politisches und gesellschaftliches Ordnungsmodell propagiert er eine "gerechte Ordnung" ("Adil Düzen"), in welcher die Scharia gilt und politisches Handeln sich an den Prinzipien von Koran und Sunna orientiert. Erbakan lehnt wesentliche rechtsstaatliche Prinzipien wie Volkssouveränität oder H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 281 Parteienpluralismus als unvereinbar mit der 'gerechten Ordnung' ab. Noch im Juli 2002 war im Internet ein Videomitschnitt von Erbakan zu sehen, in dem er einen Systemwechsel nicht allein für die Türkei, sondern auch für die Bundesrepublik Deutschland forderte "Du willst dich von diesen Sorgen befreien? Um dich von diesen Sorgen befreien zu können, muss aus der Staatsordnung in Deutschland eine 'gerechte Ordnung' werden. Bevor hier keine 'gerechte Ordnung' herrscht, wirst du nicht zu deinem Recht kommen. Alles hängt letztlich davon ab, ob aus der hiesigen Staatsordnung eine gerechte Ordnung wird."438 Eine Äußerung Erbakans anlässlich eines im Oktober in Istanbul veranstalteten Iftar-Essens zeigt, dass er den Islam als Gesellschaftsmodell betrachtet, das sämtlichen westlichen Gesellschaftssystemen überlegen sein soll. "Wo immer die Imperialisten hinkommen, verbreiten sie Tod und Verderben. Die islamische Zivilisation wird den Menschen Frieden und Gerechtigkeit bringen."439 1970 hatte Necmettin Erbakan auf der Grundlage der Milli-GörüsIdeologie - seine erste islamistische Partei in der Türkei gegründet. Im Gegensatz zu Parteiführern des linken und rechten Spektrums konnte er trotz mehrmaliger Parteiverbote und anschließender Neugründungen eine Spaltung seiner Anhängerschaft bis 2001 verhindern. Interne Flügelkämpfe zwischen den so genannten Traditionalisten und den Erneuerern in der "Fazilet Partisi" (FP - "Tugendpartei") führten nach ihrem Verbot im Juni 2001 jedoch zur Gründung von zwei Nachfolgeparteien. Hierzu gehört die im Juli 2001 vom ehemaligen Vorsitzenden der "Tugendpartei", Recai Kutan, gegründete "Saadet Partisi" (SP - "Partei der Glückseligkeit"), in der sich die "Traditionalisten" wiederfinden, die sich zur Milli-Görüs-Ideologie und deren Begründer Erbakan bekennen. Die zweite Nachfolgepartei stellt die - im August 2001 vom ehemaligen Istanbuler Oberbürgermeister und früheren Anhänger der FP, Recep Tayyip Erdogan gegründete - "Adalet ve Kalknma Partisi (AKP - Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei) dar, die als politisches Lager der "Erneuerer" gilt. Zwischen IGMG, Necmettin Erbakan und der SP bestehen, wie bei den anderen früher von Erbakan geführten Parteien, enge inhaltliche und personelle Verbindungen. In einem Interview mit dem ehemaligen IGMG438 Rede von Necmettin Erbakan, "Adil Düzen" ("Gerechte Ordnung", 1990). 439 "Milli Gazete", 20.10.2005. 282 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Generalsekretär, Mehmet Sabri Erbakan, einem Neffen von Necmettin Erbakan, erwiderte dieser auf die Bemerkung eines Journalisten, Necmettin Erbakan werde regelmäßig in der "Milli Gazete" als "Führer" von Milli Görüs bezeichnet und sei anlässlich der IGMG-Jahreshauptversammlung als solcher gefeiert worden, sein Onkel sei der "Führer dieser geistigen Bewegung".440 Necmettin Erbakan sowie SP-Parteifunktionäre nehmen häufig an Veranstaltungen der IGMG teil.441 Darüber hinaus sind Funktionäre der IGMG in Ämter der islamistischen Parteien Erbakans in Ankara gewählt worden. 1995 kandidierten 33 Mitglieder der damaligen AMGT für ein Mandat der Wohlfahrtspartei. Drei von ihnen gelang der Einzug ins Parlament: Sevket Yilmaz, ehemaliges Mitglied des Exekutiv-Komitees der AMGT, Abdullah Gencer, früher stellvertretender Vorsitzender der AMGT sowie Osman Yumakogullari, der bis 1995 langjähriger Vorsitzender der Milli Görüs in Deutschland war und gleichzeitig als Verantwortlicher der Deutschlandausgabe der "Milli Gazete" fungierte.442 Osman Yumakogullari kandidierte bei den Wahlen zum türkischen Parlament am 3. November 2002 auf der Liste der SP und leitet seit dem 20. April 2003 den Istanbuler SP-Landesverband. Die IGMG präsentiert sich insbesondere seit den Terroranschlägen in den USA vom 11. September 2001 in ihren offiziellen Verlautbarungen als eine auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehende Organisation, die sich für den Dialog zwischen türkischen Muslimen und der deutschen Gesellschaft einsetzt. Von der islamistischen Milli Görüs-Ideologie Erbakans hat sie sich bislang genausowenig distanziert, wie von der Milli Gazete - dem Publikationsorgan der SP. In der türkischen Tageszeitung finden sich immer wieder Artikel, die eine antidemokratische Haltung belegen und die Ablehnung Andersgläubiger offenbaren. So hieß es in einer Kolumne über die Besetzung des Irak mit dem Titel "An alle Muslime der Welt": "Politiker! Das Ende des Ungeheuers, das das Blut aller Länder gesaugt hat, ist gekommen. Er zappelt wie ein Kapaun, der geköpft wurde. [...] seid 440 "die tageszeitung", 3.8.2000. 441 Vgl. S. 141 ff. 442 Vgl. dazu Günter Seufert: Die Milli-Görüs-Bewegung (AMGT/IGMG). Zwischen Integration und Isolation, in: Günter Seufert und Jacques Waardenburg: Turkish Islam and Europe - Türkischer Islam und Europa. Stuttgart/Istanbul 1999, S. 296. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 283 nicht wie die verschrockenen Tiere, die vor einer toten Hyäne Angst haben, weil sie denken, dass sich ihre Haare noch bewegen, es ist der Wind. Es ist an der Zeit, dass sich alle auf sie stürzen. Ihr habt kein anderes Schild außer eurem Blut gegen die Mörder, die den Glauben unserer Intellektuellen rauben und das Leben unserer Gläubigen nehmen. Mudjahedin! Schlagt dieses übelriechende Ungeheuer um, das von anderen Ländern bisher nicht angegriffen werden konnte, weil sich seine Haare noch im Wind bewegten. Schlagt es um, damit diejenigen, die bisher vor ihm Angst hatten, seine Haare und Knochen im Topf ihres Hasses kochen. Erlaubt auch nicht den Kindern dieser Hyänen-Herde, die innerlich wie die Pest schmutzig ist und sich äußerlich wie Jesus geschmückt hat, euch mit dem Kreuz zu erdolchen. Schickt diese Henker, die sich mit dem Mantel der Demokratie gekleidet haben, in Särgen zurück, damit ihre ekeligen Leichen das heimische Land nicht beschmutzen."443 In der Internetausgabe der Zeitung444 wird offen gegen Juden und Christen polemisiert: "Du wirst naturgemäß feststellen, dass die bedeutendsten Feinde der Gläubigen die Juden und Götzendiener sind. Du wirst feststellen, dass die Christen behaupten, dass sie den Gläubigen am nächsten nahe stehen, weil sie Pfarrer und Mönche haben. [...] Jedoch in der Sure Fatima wird uns gelehrt, dass das Wichtigste, was wir von Gott verlangen können, die Wahrheit ist. Diese Wahrheit ist dieselbe Wahrheit, die Gott seine Propheten gelehrt hat und uns wird auch gelehrt zu beten, dass wir nicht den Weg der perversen Christen, die glauben, sie wären auf dem wahren Weg, und der von Gott verfluchten Juden gehen dürfen." Die IGMG ist die größte islamistische Organisation in Deutschland, die durch Mitgliedsbeiträge und Spenden über erhebliche finanzielle Mittel verfügt. Dies ermöglicht es ihr, eine Vielzahl von Aktivitäten anzubieten. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt in der Erziehungsund Bildungsarbeit für Kinder und Jugendliche. Sefer Ahmedoglu, ein für die IGMG tätiger Imam führte hierzu in der "Milli Gazete" aus: "Einige unserer Brüder erwerben Häuser und Wohnungen, die weit von den Moscheen entfernt sind. Auf diese Weise vernachlässigen sie den Besuch der Gemeinde. [...] Sie selbst verlieren langsam das Interesse an der Gemeinde. Weil sie in weiter Entfernung zu den Moscheen wohnen, müssen ihre Töchter und Söhne muslimische Freunde und das muslimische Umfeld entbehren. [...] Sie sind gezwungen, Freundschaften mit Personen einzugehen, die nicht zu ihrem Glauben und zu ihrer Mentalität passen. Deswegen mache ich eindringlich darauf aufmerksam, dass Muslime unbedingt in der Nähe von Moscheen wohnen sollten. Sie sollten sich in einem islamischen Umfeld aufhalten und sich nicht von den Moscheen 443 Internetausgabe der "Milli Gazete", 14.5.2004. 444 Internetausgabe der "Milli Gazete", 14.7.2004. 284 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 und Gemeinden entfernen. Wir haben damit viel Erfahrung. Wenn wir dieser Situation keine besondere Aufmerksamkeit schenken, stehen wir der großen Gefahr gegenüber, unsere [junge] Generation und unseren Glauben zu verlieren. [...]"445 Die zahlreichen Angebote sowie die Mitarbeit in islamischen Dachverbänden nutzt die IGMG auch für ihr Bestreben, hinsichtlich der Interessenvertretung der in Deutschland lebenden türkischen Muslime eine Vorrangstellung einzunehmen.446 Im Oktober 2002 trat der Vorsitzende des IGMG-Hauptverbandes, Mehmet Sabri Erbakan, von seinem Amt zurück. Dieser Schritt, die deutliche Niederlage der SP von Necmettin Erbakan bei den türkischen Parlamentswahlen vom 3. November 2002 sowie der Wahlsieg der "Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei" (AKP) von Recep Tayyip Erdogan447 lösten in der IGMG in Deutschland eine Krise aus und führten zu internen Auseinandersetzungen zwischen Traditionalisten und Reformern über die zukünftige Ausrichtung der Organisation. Die Traditionalisten in der IGMG erwarten, dass die Organisation ihre Arbeit weiter auf die Verwirklichung politischer Ziele in der Türkei orientiert und Necmettin Erbakans Forderungen nachkommt. Die Reformer hingegen fordern eine Neuausrichtung auf die veränderten Bedürfnisse vor allem der Anhänger der zweiten und dritten Generation in Europa. Diese wünschen den Ausbau des religiösen und sozialen Angebots. Sie fordern eine Emanzipation von Erbakan sowie der SP und wollen mehr Mitbestimmung in der IGMG durchsetzen. Die IGMG-Führung versucht, beiden Positionen gerecht zu werden, um eine Spaltung des Verbandes zu vermeiden. Dabei werden Positionen vertreten, die nicht miteinander vereinbar sind. Dies zeigt sich an Äußerungen des IGMG-Generalsekretärs Oguz Ücüncü. In der "Welt" vom 11. August 2004 sprach Ücüncü die Angst vor einer Spaltung der IGMG an. Als Angehöriger der zweiten Generation vertritt er die Modernisierer in dem Verband. Er will Neuerungen in der Organisation durchsetzen, gibt aber zu, dass viele Mitglieder an der Basis 445 "Milli Gazete", 27.12.2002. S. 15. 446 Vgl. S. 141 ff. 447 Von ehemals 15,4 Prozent vor der Spaltung der islamistischen Partei sank das Ergebnis der SP auf 2,5 Prozent. Die AKP erhielt dagegen 34,2 Prozent der Wählerstimmen. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 285 sich gegen Reformen und eine Öffnung sträuben. In einem Interview mit der "tageszeitung" vom 7. Mai 2004 bekannte er sich zu Menschenrechten, Gleichberechtigung und Pluralismus, erklärte aber gleichzeitig, dass er bei der Parlamentswahl 2002 Necmettin Erbakans "Saadet Partisi" (SP) gewählt habe und dass Erbakan für die IGMG eine Integrationsfigur sei. Angesichts der Programmatik der SP, die den demokratischen Rechtsstaat zugunsten einer islamistischen Staatsordnung abschaffen will, wird Ücüncüs Bekenntnis zur Demokratie widersprüchlich und damit fragwürdig. Die ambivalenten Äußerungen des Generalsekretärs Ücüncü zeigen, dass die IGMG eine Distanzierung von Necmettin Erbakan und seiner islamistischen Milli-Görüs-Ideologie vermeidet. Eine öffentliche Diskussion der unterschiedlichen Standpunkte zwischen Traditionalisten und Reformern innerhalb des Verbandes findet kaum statt. Mit dieser Strategie ist es der IGMG-Führung zwar bislang gelungen, eine Spaltung zu verhindern; die Glaubwürdigkeit des Verbandes in der deutschen Öffentlichkeit fördert dies allerdings nicht. Eine programmatische Neuausrichtung und Reformierung des Verbandes ist auf Grundlage dieser Taktik nicht zu erwarten. 4.3.2 "Muslimbruderschaft" / "Islamische Gemeinschaft in Deutschland" ÜBERSICHT Abkürzung MB IGD Entstehung / Gründung 1928 Ägypten 1960 Deutschland (IGD) Mitgliederzahl Bund: ca. 1 300 (2004: ca. 1 300) Berlin: ca. 100 (2004: keine gesicherten Erkenntnisse) Organisationsstruktur Eingetragener Verein (IGD) Die 1928 in Ägypten gegründete "Muslimbruderschaft" ist die älteste und zugleich bedeutendste arabische islamistische Gruppierung. Die pan-islamistische Organisation ist heute, teils unter anderem Namen, in fast allen Ländern des Vorderen Orients vertreten und unterhält auch 286 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Zweige in westeuropäischen Ländern. In den meisten nahöstlichen Staaten bildet die MB eine halbbis illegale Opposition zur Regierung, wobei ihre Aktivitäten von den jeweiligen politischen Verhältnissen abhängen: Während in Syrien der Aufstand gegen die Staatsmacht 1982 gewaltsam beendet wurde, nahm die Bereitschaft der MB zur Anpassung dort zu, wo eine Einbindung in den parlamentarischen Prozess gelang. Dies war in Ägypten bereits in den 80er Jahren der Fall; auch in Jordanien ist die MB im Parlament vertreten. Die ägyptische MB, größte der MB-Organisationen, durchlief verschiedene historische Phasen: In ihrer Frühphase in den 20er und 30er Jahren hatte für sie die Lehre und Erziehung der Gläubigen Vorrang. In den 40er, 50er und 60er Jahren agierte sie militant und verübte zahlreiche politische Attentate auf Repräsentanten des ägyptischen Staates. Höhepunkt der drei Jahrzehnte andauernden gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen MB und dem Staat war die Hinrichtung ihres Chefideologen Sayyid Qutb 1966. Als nicht mehr gewaltorientiert gilt die ägyptische MB erst nach Abspaltung ihrer militanten Flügel in den späten 70er Jahren (Entstehen der terroristischen Gruppen "Takfir wa'lHijra"448 und "al-Jihad al-Islami"), auf die eine Phase der Integrationsbereitschaft in das politische System folgte. Diese Entwicklung war nicht zuletzt Ergebnis der Politik des ägyptischen Präsidenten Anwar asSadat (regiert von 1970 - 1981), der vor allem die linke Opposition zu schwächen versuchte und den Islamisten mehr politischen Freiraum einräumte. Der in den 80er Jahren getroffene Entschluss der MB, sich im politischen System Ägyptens auch an Wahlen zu beteiligen und im Parlament mitzuarbeiten, wird teilweise als ein "Marsch durch die Institutionen" gewertet. Ideologisch verkörpert die MB ein breites Spektrum, das zeitgenössischen Aussagen zufolge bis zur Schaffung einer so genannten "islamischen Demokratie" reicht. Aus den 30er Jahren stammt der Anspruch der MB, dass es eine "Ordnung des Islams" gebe. Dieser relativ unkonkrete Anspruch definiert die islamische Religion als ein "System", das "zu jeder Zeit und an jedem Ort" anwendbar sein soll und das den Koran und die Sunna zur Richtschnur politischen Handelns erhebt. Zeitge448 Wörtlich: "Exkommunizierung [des bestehenden Gesellschaftssystems] und [innere] Emigration". Das Wort "Hijra" (wörtlich "Auswanderung") bezieht sich zugleich auf die 622 a. D. erfolgte "Auswanderung" des Propheten Muhammad von Mekka nach Medina, wo er die Grundlagen des ersten islamischen Gemeinwesens schuf. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 287 nössische Vorstellungen zu Staat und Gesellschaft vertritt die MB mit der Forderung nach "Anwendung der Scharia", des islamischen Rechts und der Schaffung eines islamistischen Staatswesens. Da in diesem islamistischen Staatswesen Religion und Staat nicht getrennt sein sollen, wäre das von der MB angestrebte Staatswesen zwangsläufig ein Staat, der westlichen Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zuwiderläuft. Einen beachtlichen Wahlerfolg erzielte die MB bei den ägyptischen Parlamentswahlen 2005, zu denen sie mit dem bereits in den 80er Jahren verwendeten Slogan "Der Islam ist die Lösung" antrat. Bei diesen Wahlen, die sie mit den Themen Demokratie, Pluralismus und Gewaltenteilung bestritten hatte, erhöhte sie die Zahl ihrer Parlamentssitze von 15 auf 88 und stellt nun ein Fünftel der 437 Abgeordneten. Im Parlament agiert sie als einzig bedeutende Opposition gegenüber den Abgeordneten der Staatspartei NDP (314 Sitze) und propagiert öffentlichkeitswirksam Themen wie die Aufhebung der Notstandsgesetze und der Militärtribunale. Ambivalenz kennzeichnet nach wie vor die Haltung der MB in der Gewaltfrage. Auf der einen Seite lehnt sie seit den 70er Jahren Gewaltanwendung zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele ab - sowohl hinsichtlich der Ausweitung islamischer Herrschaft in der Welt als auch der Änderung der politischen Verhältnisse in den muslimischen Staaten. Die MB vertritt inzwischen die Auffassung, dass der Staat nicht mittels des militanten Jihad bekämpft werden dürfe, auch dann nicht, wenn sich dessen Herrschaft als tyrannisch und ungerecht erweisen sollte. Als ausdrücklich nicht legitime Ziele und Mittel werden daher die - seinerzeit vor allem von Sayyid Qutb befürworteten - Methoden abgelehnt, politische Systeme und ungerechte Herrscher als unislamisch zu diffamieren und diese mittels Jihad gewaltsam zu bekämpfen. Auf der anderen Seite befürwort die MB Gewalt in spezifischen Konflikten - etwa im israelisch-palästinensischen Konflikt. Hier rechtfertigt die MB den militanten Jihad mit einer Verteidigungssituation und erklärt ihn auf diese Weise für vermeintlich legitim. In einschlägigen Äußerungen führender MB-Vertreter, die bis zur expliziten Verneinung des Existenzrechts Israels reichen, werden Jihad und Selbstmordanschläge mit der militärischen Unterlegenheit der Palästinenser gegenüber Israel sowie mit dem vermeintlich militärischen Charakter der israelischen Gesellschaft zu begründen versucht. 288 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Mit der Begründung, dass hier für Muslime keine Verteidigungssituation gegeben sei, lehnt die MB dagegen sowohl die Terroranschläge vom 11. September 2001 als auch die Anschläge auf Touristenzentren 1997 in Luxor, 2002 in Djerba und Bali, sowie die 2005 in London verübten Anschläge ab. In der ägyptischen MB kam es in den vergangenen Jahren zu einem mehrfachen Führungswechsel. Nachdem 2002 der fünfte so genannte "Oberste Führer" Mustafa Mashhur verstorben war, war im November 2002 der Jurist Ma'mun al-Hudaibi zum sechsten "Obersten Führer" der ägyptischen MB ernannt worden. Nachdem dieser nach nur 13 Monaten Amtszeit verstarb, wurde im Januar 2004 der 77-jährige Mohammad Mahdi Akif, der allgemein der "alten Garde" zugerechnet wird, zum siebten "Obersten Führer" der ägyptischen MB bestimmt. Als sein Stellvertreter wurde der 67-jährige Professor für Ingenieurwissenschaften Muhammed Habib ernannt. In Deutschland werden die Interessen der MB von der 1960 gegründeten "Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) vertreten, die unter dem Einfluss der ägyptischen MB steht. Der IGD gehören mehrere Islamische Zentren in Deutschland an. Ihre Hauptaktivitäten sind gegenwärtig auf die Organisierung und die Ausrichtung der in Deutschland lebenden Muslime im Sinne der Ideologie der MB gerichtet. So wird in Einrichtungen der IGD zum Teil offen gegen die Existenz des Staates Israel agitiert. Als Berliner Treffpunkt für Anhänger der MB gilt das "Islamische Kulturund Erziehungszentrum Berlin e. V.". Eine Berliner Zweigstelle der IGD befindet sich in der Drontheimer Straße im Wedding. Im vergangenen Jahr hat die "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) am 3. Dezember in Leverkusen unter dem Motto "Muslime in Deutschland - Mittendrin und doch daneben!" ihr 27. Jahrestreffen abgehalten. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 289 4.4 Linksextremisten449 4.4.1 "Arbeiterkommunistische Partei Irans" ÜBERSICHT Abkürzung API Entstehung / Gründung 1991 Deutschland 2004 Spaltung in "Arbeiterkommunistische Partei Irans" und "Arbeiterkommunistische Partei Irans - Hekmatist" Mitgliederzahl Bund: ca. 250 (2004: ca. 250) Berlin: unter 20 (2004: unter 20) Sitz Köln Veröffentlichungen "Anternational" (überregional, wöchentlich) Flugblätter Bei der "Arbeiterkommunistischen Partei Irans" (API) handelt es sich um eine marxistisch ausgerichtete Partei, die das politische System der Islamischen Republik Iran auch mit terroristischen Mitteln bekämpft. Ziel der API ist die Errichtung einer kommunistischen Gesellschaftsordnung im Iran, die durch die "soziale Revolutionierung der Arbeiterklasse" zustande kommen soll. Zur Bekämpfung der Islamischen Republik Iran bejaht sie ausdrücklich die Anwendung von Gewalt. Die API vertritt eine stark anti-westliche, aber auch anti-islamistische Haltung. Nach den Terroranschlägen in den USA schrieb beispielsweise Mansoor Hekmat, der am 4. Juli 2002 verstorbene Chefideologe der API, in seiner Analyse "The world after September 11",450 dass sich die Welt in einer neuen und zerstörerischen Phase des "internationalen Krieges der Terroristen" befände. Hierbei spricht Hekmat von "zwei Formen von Terrorismus": Bei der ersten Form handele es sich um "Staatsterrorismus", der der API zufolge von den USA und westlichen Staaten ausgeübt werde. Die zweite Form stelle der "islamistische 449 Es handelt sich um Organisationen, die regional im Ausland (z. B. im jeweiligen Heimatland) mit Gewalttaten in Erscheinung treten. In Deutschland verhalten sich die Anhänger dieser Organisationen weitgehend gewaltfrei. 450 Internetauftritt von Mansoor Hekmat, Aufruf am 16.2.2006. 290 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Terrorismus" dar, der für die Völkermorde in Iran, Afghanistan und Algerien verantwortlich sei. Das mit dem Tod der Leitfigur Mansoor Hekmat in der Parteispitze entstandene Vakuum förderte einen schwelenden Machtkampf, der schließlich in der Spaltung der Partei kulminierte. Unter Führung des ehemaligen Parteivorsitzenden Koroush Modaresi fassten 24 Mitglieder des bisherigen Zentralkomitees der API, darunter auch Berliner Funktionäre, am 24. August 2004 den Entschluss, die Partei "API-Hekmatist" zu gründen. Diese Abspaltung des rechten Parteiflügels sieht sich in der Tradition der API und der Ideologie von Hekmat,451 ist aber eher pragmatisch-realpolitisch ausgerichtet, während die API unter ihrem jetzigen Vorsitzenden Hamid Taghwai eine konservativ-orthodoxe Linie vertritt. In Deutschland tritt die API vor allem durch das Organisieren von Demonstrationen in Erscheinung, mit denen auf Menschenrechtsverletzungen der iranischen Regierung aufmerksam gemacht werden soll. Diese Kundgebungen werden meist von einer Nebenorganisation der API, der "Föderation der iranischen Flüchtlingsund Immigrantenräte e. V." (IFIR), organisiert. Allerdings waren auch in 2005 nur wenige, kleinere Kundgebungen zu verzeichnen, die API entfaltet kaum noch von der Öffentlichkeit wahrnehmbare Außenwirkung. 451 Internetauftritt der API-Hekmatist, Aufruf am 16.2.2006. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 291 4.4.2 "Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei" ÜBERSICHT Abkürzung MLKP Entstehung / Gründung 1994 Türkei Mitgliederzahl Bund: ca. 600 (2004: ca. 600) Berlin: ca. 25 (2004: ca. 25) Organisationsstruktur Türkei: Verbotene Organisation Veröffentlichungen Atlm (Vorstoß) (überregional, täglich) "Partinin Sesi" ("Stimme der Partei") (überregional, täglich) Ziel der "Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei" (MLKP) ist die Errichtung eines kommunistischen Gesellschaftssystems in der Türkei auf der Basis der Ideologie des Marxismus-Leninismus. Hierbei versteht sich die Organisation als die authentische Stimme des Proletariats einer gemeinsamen türkisch-kurdischen Nation sowie als Vertreterin nationaler Minderheiten. In der Türkei versucht die MLKP, ihre politischen Ziele auch mit terroristischen Mitteln durchzusetzen. Hierzu bedient sie sich ihres militärischen Arms, der so genannten "Bewaffneten Streitkräfte der Armen und Unterdrückten" (FESK). Bereits seit mehreren Jahren sind die MLKP und ihr zugehörige Organisationen für über drei Viertel der Anschläge linksextremistischer Gruppierungen in der Türkei verantwortlich. In Deutschland liegt der Agitationsschwerpunkt der MLKP auf öffentlichen Veranstaltungen, die sich thematisch hauptsächlich auf aktuelle Ereignisse in der Türkei beziehen. Auf Spruchbändern und Flugblättern wird dabei anstelle der Bezeichnung MLKP meist der Begriff "Föderation der Arbeitsimmigranten aus der Türkei in Deutschland e. V." (AGÄdegF) verwendet. Bei der AGÄdegF handelt es sich um einen Dachverband MLKP-orientierter Vereine in Deutschland, dessen Programmatik sich gegen "Imperialismus" und "Globalisierung" richtet. 292 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Auch in Berlin agierte die MLKP im Jahr 2005 auf zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen, die ohne Störungen verliefen. Neben einer Demonstration zum "Tag der Befreiung" am 8. Mai gehörten wie jedes Jahr die Teilnahme an der "Luxemburg-Liebknecht-Demonstration" am 9. Januar und an den Demonstrationen zum 1. Mai zum Programm. 4.4.3 "Revolutionäre Volksbefreiungspartei -Front" / "Türkische Volksbefreiungspartei /-Front - Revolutionäre Linke" ÜBERSICHT Abkürzung DHKP-C THKP-C Entstehung / Gründung 1994 Türkei Mitgliederzahl Bund: ca. 650 (2004: ca. 650) Berlin: ca. 65 (2004: ca. 70) Organisationsstruktur Türkei: verboten Deutschland: 1998 Vereinsverbot Veröffentlichungen Yürüyüs (Protestmarsch) (überregional, wöchentlich) "Devrimci Sol" ("Revolutionäre Linke") Die miteinander rivalisierenden Organisationen "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) und "Türkische Volksbefreiungspartei/-Front - Revolutionäre Linke" (THKP/-C - Devrimci Sol) sind aus der 1978 in der Türkei gegründeten Organisation "Devrimci Sol" ("Revolutionäre Linke") hervorgegangen, die 1983 in Deutschland verboten wurde. Beide Organisationen sind in der Türkei terroristisch aktiv und streben die Beseitigung des türkischen Staatsgefüges und die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Ideologie an. Sie wurden am 13. August 1998 durch den Bundesminister des Innern ebenfalls verboten. Die DHKP-C ist auch unter den Namen "Revolutionäre Volksbefreiungspartei" (DHKP) bzw. "Revolutionäre Volksbefreiungsfront" (DHKC) aktiv. Meist wird die DHKC als "bewaffneter Arm" der Organisation bezeichnet. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 293 Laut Statut kämpft die DHKP-C für die "Befreiung der türkischen und kurdischen Nation und aller anderen Nationen". Die DHKP-C geht davon aus, dass es in einem "vom Imperialismus abhängigen, durch den Faschismus regierten Land unmöglich" sei, die Machtverhältnisse durch Wahlen zu verändern. Deshalb könne "die faschistische Macht, die unter der Kontrolle des Imperialismus und der Oligarchie [stehe], nur durch den bewaffneten Kampf des Volkes zerstört werden". Personen, deren Aktivitäten gegen die "Revolution" gerichtet seien, droht die DHKP-C eine "gnadenlose Bestrafung"452 an. Bereits 2003 nahm die DHKC in der Türkei ihre terroristischen Aktivitäten wieder auf. Selbstbezichtigungen der Organisation erscheinen dabei jeweils zeitnah im Internet und sind sogar in deutscher Übersetzung verfügbar. Im Juni 2005 wurde ein Attentäter der DHKP-C, dessen Sprengsatz versagt hatte, von Sicherheitskräften erschossen, als er sich der Verhaftung zu entziehen versuchte. In Deutschland engagieren sich DHKP-C-nahe Organisationen wie zum Beispiel das "Tayad-Komitee" ("Verein zur Solidarität mit Familien von Inhaftierten und Verurteilten") seit November 2000 in Form von Solidaritätskundgebungen für die Hungerstreikenden in den türkischen Gefängnissen453 und führten in dem Zusammenhang in Berlin auch in diesem Jahr Protestkundgebungen durch. Außerdem beteiligten sich Organisationen aus dem Umfeld der DHKP-C an verschiedenen Demonstrationen wie der "Luxemburg-Liebknecht-Demonstration" am 9. Januar und den Demonstrationen zum 1. Mai. 452 Programm der DHKP. 453 Vgl. auch die Berliner Verfassungsschutzberichte der letzten Jahre. Die DHKP-C ist die einzige türkische linksextremistische Organisation, deren Mitglieder weiterhin versuchen, ihre politischen Ziele durch Hungerstreikaktionen durchzusetzen. 294 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 4.4.4 "Türkische Kommunistische Partei / Marxisten-Leninisten" MKP Partisan ÜBERSICHT Abkürzung TKP/ML (heute: TKP/ML-Partizan bzw. MKP) Entstehung / Gründung 1972 Türkei 1973/74 Deutschland Mitgliederzahl Bund: ca. 1 300 (2004: ca. 1 300) Berlin: ca. 95 (2004: ca. 100) Organisationsstruktur Türkei: verbotene Organisation Deutschland: Eingetragene Vereine, TKP/ML-Partizanbzw. MKP-Verbindung verschleiert Sitz Türkei Veröffentlichungen TKP / ML: Özgür Gelecek Yolunda Isci Köylü (Arbeiter und Bauer auf dem Weg zur freien Zukunft") (überregional, zweiwöchentlich) MKP: "Halk icin Devrimci Demokrasi" ("Revolutionäre Demokratie für das Volk") (zweiwöchentlich) MKP: Halk Savas (Volkskrieg) (monatlich) Flugblätter Die "Türkische Kommunistische Partei / Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) ist seit 1994 in zwei Flügel gespalten. Der "Partizan-Flügel" verfügt über bewaffnete Einheiten, die die Bezeichnung "Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee (TIKKO) tragen. Der zweite Flügel - bis Dezember 2002 unter dem Namen "Ostanatolisches Gebietskomitee" (DABK) aktiv - ist die "Maoistische Kommunistische Partei" (MKP), deren bewaffnete Einheiten heute als "Volksbefreiungsarmee" (HKO) agieren. Beide Flügel sind marxistisch-leninistisch und sozialrevolutionär beziehungsweise maoistisch orientiert und streben die gewaltsame Beseitigung der staatlichen Ordnung in der Türkei an, um dort ein kommunistisches Gesellschaftssystem zu errichten. Beide Organisationen verüben unabhängig voneinander Anschläge gegen den türkischen Staat und führen einen Guerillakampf gegen die als H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 295 "faschistisch" bezeichneten Streitkräfte der Türkei. So ist die TKP/ML in 2005 für mehrere Anschläge mit Bomben und Molotowcocktails in der Türkei verantwortlich. Zum Umfeld der TKP/ML gehören in Deutschland und in anderen europäischen Ländern verschiedene Dachorganisationen. Dem PartizanFlügel nahe stehen die Organisationen "Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e. V. (ATIF) und die Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK). Bezüge zur MKP weisen die Dachorganisationen "Föderation für demokratische Rechte in Deutschland e. V." (ADHF) und "Konföderation für demokratische Rechte in Europa" (ADHK) auf. Auch 2005 war die TKP/ML in der deutschen Öffentlichkeit aktiv. Am 30. Januar fand in Berlin eine Musikveranstaltung statt. Das "Organisationskomitee" verbreitete dazu in einem Flugblatt die Parolen: "Hoch lebe unsere 'Maoistische Kommunistische Partei'" und "Hoch lebe der Volkskampf!" Zudem beteiligte sich die TKP/ML wie schon in früheren Jahren an der "Luxemburg-Liebknecht-Demonstration" am 9. Januar sowie an den Demonstrationen zum 1. Mai. Außerdem nahmen beide Flügel der TKP/ML zusammen mit anderen türkischen linksextremistischen Gruppen an den Protesten gegen die türkische Armee am 17. September in Berlin teil. 296 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 4.4.5 "Volkskongress Kurdistans" / "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" / "Arbeiterpartei Kurdistans" ÜBERSICHT Abkürzung KONGRA-GEL KADEK PKK Entstehung / Gründung 1978 Türkei Mitgliederzahl Bund: ca. 11 500 (2004: ca. 11 500) Berlin: ca. 1 050 (2004: ca. 1 050) Organisationsstruktur 1993 vereinsrechtliches Betätigungsverbot in Deutschland (gilt in der Nachfolge auch für KADEK und KONGRAGEL) Veröffentlichungen "Serxwerbun" ("Unabhängigkeit") (überregional, monatlich) Faltund Flugblätter Die PKK - Vorgängerorganisation von KADEK / KONGRA-GEL - wurde 1978 vor dem Hintergrund des jahrzehntelangen Konflikts der im Ländereck Türkei, Iran, Irak und Syrien lebenden 25 Millionen Kurden im Südosten der Türkei gegründet. Erklärtes Ziel der Organisation war die Anerkennung der Kurden als Nation und die Erlangung der politischen Autonomie für die kurdische Minderheit innerhalb des türkischen Staatsgebiets. Von 1984 bis 1999 führte die PKK in der südöstlichen Türkei einen Guerillakrieg für ein unabhängiges Kurdistan. 1992 und 1993 verübten Anhänger der PKK zahlreiche Brandanschläge auf türkische Einrichtungen in Deutschland; bei Demonstrationen kam es wiederholt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Am 24. Juni 1993 besetzten 13 Kurden das türkische Generalkonsulat in München und nahmen 20 Geiseln. Diese gewalttätigen Aktionen führten 1993 zum vereinsrechtlichen Betätigungsverbot in Deutschland. Ab Mitte 1996 bis zur Festnahme des PKK-Führers Abdullah Öcalan im Jahre 1999 verliefen Demonstrationen und Kundgebungen der Anhänger der PKK in Deutschland in der Regel gewaltfrei. Die Festnahme und Auslieferung Öcalans an die Türkei führten dagegen zu weltweiten H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 297 militanten Protesten. In Berlin erstürmten am 17. Februar 1999 PKKAnhänger das israelische Generalkonsulat, wobei vier Kurden von israelischen Sicherheitskräften erschossen wurden. Seit 1999 verfolgt die Organisation einen strategischen Kurswechsel mit dem Ziel, sich durch die Ankündigung von internen Reformen als politischer Gesprächpartner zu etablieren. Dieser Reformprozess wird nach außen sichtbar gemacht, indem auch die Teilund Nebenorganisationen der deutschen PKK umbenannt werden. Allerdings blieben die bisherigen Hierarchieund Befehlsstrukturen erhalten. Auf dem vom 4. bis 10. April 2002 abgehaltenen 8. Parteikongress der PKK wurde der "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK) gegründet, nachdem zuvor die Einstellung aller Tätigkeiten unter dem Namen "PKK" ab dem 4. April 2002 beschlossen worden war. Im September 2003 wurde bekannt, dass die kurdische Jugend eine neue Organisation, die "Bewegung der freien Jugend Kurdistans" (TECAK), gegründet hat. Die bisherige Jugendorganisation des KADEK, die "Union der Jugendlichen aus Kurdistan" (YCK), sei aufgelöst worden. Die bereits am 12. August 2003 gegründete TECAK betrachte es als ihre Aufgabe, alle bisher von der YCK geschaffenen Werte zu verteidigen und weiterzuentwickeln. Der KADEK beschloss nach eigenen Angaben auf seinem 2. außerordentlichen Kongress am 26. Oktober 2003 im Nordirak seine Auflösung, um den Weg für eine Neustrukturierung der Organisation zu ebnen und die Lösung der kurdischen Frage auf friedlicher und demokratischer Basis herbeizuführen. Am 15. November 2003 gab der "Volkskongress Kurdistans" (Kurdisch: "Kongra Gel (e) Kurdistan" - KONGRA-GEL) seine Gründung, die auf einem Kongress zwischen dem 27. Oktober und dem 6. November 2003 im Nordirak stattgefunden habe, bekannt. Auf ihrem 5. ordentlichen Kongress, der vom 12. bis 21. Juni 2004 im Süden Frankreichs stattfand, beschloss die "Kurdische Demokratische Volksunion" (YDK) ihre Selbstauflösung und Reorganisation unter der Bezeichnung "Koordination der kurdischen demokratischen Gesellschaft in Europa". Diese neue Organisation werde über so genannte Volksräte basisdemokratisch aufgebaut sein, um den Vorgaben Abdullah Öcalans 298 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 zum "Ausbau der Volksdemokratie" gerecht zu werden.454 Die YDK wurde Anfang Mai 2000 als Ersatzorganisation für die im Januar 2000 aufgelöste und 1993 durch den Bundesminister des Innern verbotene "Nationale Befreiungsfront Kurdistans" (ERNK / war auf internationaler Ebene für die politische Arbeit der PKK zuständig) gegründet. In einer Mitte August 2004 veröffentlichten Erklärung wurde die Gründung einer neuen Kurdenorganisation mit dem Namen "Partiya Welatperez'e Demokratik" (PWD) unter der Führung Osman Öcalans, Bruder von Abdullah Öcalan, angekündigt. Ziel der Partei sei die friedliche Unterstützung der "kurdischen Befreiungsbewegung". Die PWD entwickelte sich bislang nicht als ernst zu nehmende Konkurrenz zum KONGRA-GEL. Im Jahr 2005 wurden - in Umsetzung der Programmatik des von Abdullah Öcalan geprägten "demokratischen Konföderalismus" - eine "neue" PKK, die Frauenorganisation "Verband der stolzen Frauen" (KJB), die "Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan" (KKK) sowie zwei Jugendorganisationen, die "Demokratische Jugend" (DEM-GENC) und die "Vereinigung der demokratischen Jugendlichen" (KOMALEN CIWAN, als TECAK-Nachfolger) gegründet. Diese scheinbar strukturellen Reformen bewirkten bisher keine wesentlichen Änderungen in der Arbeit der Organisation in Deutschland.455 454 "Özgür Politika", 26.6.2004. 455 Vgl. S. 158 ff. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 299 4.4.6 "Volksmojahedin Iran-Organisation" / "Nationaler Widerstandsrat Iran" ÜBERSICHT Abkürzung MEK NWRI Entstehung / Gründung 1965 Iran 1981 Paris / in Deutschland vertreten seit 1994 (NWRI) Mitgliederzahl Bund: ca. 900 (2004: ca. 900) Berlin: ca. 35 (2004: ca. 25) Organisationsstruktur Verein (NWRI) Sitz Bei Paris (MEK) Berlin (NWRI) Veröffentlichungen "Mojahed" (überregional, wöchentlich) Flugblätter Nachdem die ursprünglich linksextremistisch ausgerichtete "Volksmojahedin Iran-Organisation" (MEK) seit 1965 bereits für den Sturz des Schah-Regimes gekämpft hatte, gehört die Beseitigung des politischen Systems der Islamischen Republik Iran zu ihren erklärten Zielen. Zu diesem Zweck verübte die MEK über ihren im iranisch-irakischen Grenzgebiet stationierten bewaffneten Arm, die "Nationale Befreiungsarmee" (NLA) bis zum Sturz Saddam Hussains terroristische Anschläge im Iran. Die NLA genoss bis dahin die politische und militärische Unterstützung des mit dem Iran verfeindeten Irak und bildete eine 5 000 Personen umfassende Armee, in der Soldatinnen als Kämpfer dominierten. Anhänger der Organisation in den europäischen Staaten wurden für zeitlich begrenzte Einsätze in der NLA rekrutiert. Während des Irak-Krieges im März / April 2003 flüchteten Mitglieder der Organisation nach Europa. Dies geschah unmittelbar vor den Angriffen der US-Luftwaffe auf ihre Militärlager im Irak. Im Mai 2003 schlossen die Alliierten einen Waffenstillstand mit der MEK und begannen mit der Entwaffnung der NLA, die seitdem faktisch nicht mehr existiert. Den noch ca. 3 800 Kämpfern der NLA, die im Hauptstützpunkt "Camp Ashraf" bei Bagdad unter US-Aufsicht gestellt sind, drohte nach einem 300 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 am 9. Dezember 2003 ergangenen Beschluss des provisorischen irakischen Regierungsrates die Ausweisung in den Iran. Mit dem am 21. Juli 2004 vom Stellvertretenden Generalkommandeur der Multinationalen Truppen im Irak unterzeichneten Memorandum wurde dieses Schicksal abgewendet und den NLA-Angehörigen der Status von "geschützten Personen" nach den Bestimmungen der Vierten Genfer Konvention zuerkannt. In Deutschland wird die MEK durch ihren international agierenden politischen Arm, den "Nationalen Widerstandsrat Iran" (NWRI), vertreten. Dessen Aktivitäten konzentrieren sich vor allem auf massive Propaganda gegen den Iran und die Beschaffung von Spendengeldern, die zum Teil auch auf illegalem Wege mittels eigens dafür gegründeter Tarnvereine unter Vortäuschung humanitärer Ziele erfolgt. Staatsbesuche iranischer Politiker in Deutschland nutzt der NWRI regelmäßig für Kundgebungen - und in der Vergangenheit auch militante Aktionen - mit dem Ziel, die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und dem Iran zu stören. Die Organisation geriert sich im Widerspruch zu ihrer inneren Struktur, die durch strenge Hierarchien und einen autoritären Führungsstil gekennzeichnet ist, verstärkt als friedliche und demokratische Exil-Oppositionsbewegung, um so die angestrebte Streichung von den Listen terroristischer Organisationen der EU und der USA zu erreichen. Dafür bedient sie sich einer geschickten Lobbyarbeit unter Einbindung von gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsträgern - insbesondere Parlamentariern und Menschenrechtsorganisationen - in Verbindung mit der Veranstaltung von Kundgebungen, Unterschriftenaktionen und Informationsständen. Anders als im Vorjahr, in dem zahlreiche kleinere Kundgebungen durchgeführt worden waren, konzentrierte sich die Organisation in 2005 auf einzelne, öffentlichkeitswirksamere Großveranstaltungen, für die die Mitglieder europaweit mobilisiert wurden456. Thematisiert wurden die gesellschaftlichen Verhältnisse im Iran sowie die angestrebte Streichung der MEK von der Terrorliste der EU. 456 Vgl. S. 169 ff. H I N T E R G R U N D I N F O R M A T I O N E N - A U S L Ä N D E R E X TR E M I S M U S 301 Zur Finanzierung dieser Aktivitäten wurden in 2005 verstärkt Spendensammlungen durchgeführt. Hierzu bediente sich der NWRI insbesondere des Tarnvereins "Menschenrechtszentrum für Exiliranerinnen" (MEI). 302 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Hintergrundinformationen - Ausländerextremismus 303 Verfassungsschutz Berlin 304 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 1 STRUKTUR Verfassungsschutzbehörde für das Land Berlin ist die Senatsverwaltung für Inneres. Die Aufgaben werden durch die Abteilung II - Verfassungsschutz wahrgenommen. Diese gliedert sich in vier Referate: Abteilung II -VerfassungsschutzAbteilungsleiterin Referat II A Referat II B Referat II C Referat II D Grundsatz, Recht, Auswertung RechtsAuswertung AusBeschaffung Öffentlichkeitsarbeit, extremismus, Linksländerextremismus Verwaltung, Inforextremismus Geheimschutz mationstechnik Spionageabwehr Während das Grundsatzreferat II A zentrale Querschnittsaufgaben wie Verwaltung, Recht, Informationstechnik und Öffentlichkeitsarbeit abdeckt, sind die Auswertungsreferate II B und II C für die Analyse und Bewertung von Informationen zuständig. Das Referat II D beschafft Informationen mit nachrichtendienstlichen Mitteln. Für die Aufgaben des Verfassungsschutzes standen im Jahr 2005 Haushaltsmittel in Höhe von 8,4 Mio. EUR zur Verfügung (2004: 8,2 Mio. EUR). Der Abteilung waren 192 Stellen zugewiesen (2004: 192). V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R LI N 305 2 GESETZLICHE GRUNDLAGEN 2.1 Aufgaben und Befugnisse Die Arbeit des Verfassungsschutzes ist hinsichtlich der Aufgabenstellungen, der Befugnisse und der Kontrollverfahren im Grundgesetz und Einzelgesetzen festgeschrieben. Von Bedeutung sind hier: * das Grundgesetz (GG), Artikel 73 und 87, * das Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin (VSG Berlin)457, * das Gesetz zur Beschränkung des Postund Fernmeldegeheimnisses (Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz)458 sowie das Gesetz zur Ausführung des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz459, * das Bundesverfassungsschutzgesetz 460, * das Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz461. 2.1.1 Grundgesetz Im Grundgesetz ist im Artikel 87 Abs. 1 die Schaffung einer "Zentralstelle zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes" festgelegt. Dem Bund wird gleichzeitig die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz zur Regelung der Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes zugewiesen (Artikel 73). 2.1.2 Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin Die Aufgaben und Befugnisse sowie die parlamentarische Kontrolle der Verfassungsschutzbehörde Berlin sind im Gesetz über den Verfassungsschutz in Berlin (VSG Berlin) geregelt. Nach SS 5 Abs. 1 VSG Berlin hat 457 GVBl. Nr. 28 vom 21.7.2001, S. 235, zuletzt geändert durch Gesetz vom 5.12.2003 (GVBl. S. 571). Der vollständige Gesetzestext ist im Anhang abgedruckt. 458 BGBl. I, S. 1254 ff. vom 26.6.2001, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.8.2002 (BGBl. I, S. 3390, 3391). 459 Gesetz vom 25.6.2001 (GVBl. S. 251), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5.12.2003. Der vollständige Gesetzestext ist im Anhang abgedruckt. 460 Gesetz vom 20.12.1990 (BGBl. I, S. 2954) zuletzt geändert durch Art. 9 G zur Neuregelung des Zollfahndungsdienstes (ZFnrG) vom 16.8.2002 (BGBl. I, S. 3202). 461 GVBl. Nr. 28 vom 21.7.2001, S. 243. Der vollständige Gesetzestext ist im Anhang abgedruckt. 306 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 die Verfassungsschutzbehörde die Aufgabe, die zuständigen staatlichen Institutionen und die Öffentlichkeit über Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder zu unterrichten, damit sie gefahrenabwehrende Maßnahmen ergreifen können. Um diese Aufgaben zu erfüllen, sammelt und wertet die Verfassungsschutzbehörde nach SS 5 Abs. 2 VSG Berlin Informationen aus über * Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben, * sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes für eine fremde Macht, * Bestrebungen, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden oder gegen das friedliche Zusammenlegen der Völker (Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes) gerichtet sind.462 Die Befugnisse der Verfassungsschutzbehörde sind detailliert im Gesetz geregelt, insbesondere unter welchen Voraussetzungen nachrichtendienstliche Mittel eingesetzt werden dürfen (vgl. SSSS 8 bis 9a VSG Berlin). Darüber hinaus gibt es detaillierte Regelungen zum Umgang mit personenbezogenen Daten (SSSS 11 ff. VSG Berlin), zur Auskunftserteilung an Betroffene (SS 31 VSG Berlin) und zur parlamentarischen Kontrolle (SSSS 33 ff. VSG Berlin). 2.1.3 Gesetz zur Beschränkung des Postund Fernmeldegeheimnisses Das Gesetz zur Beschränkung des Postund Fernmeldegeheimnisses legt die Voraussetzungen fest, unter denen Telekommunikation und Post überwacht werden dürfen. Demnach darf die Überwachung nur erfolgen, 462 Aufgabenerweiterung durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes zu Artikel 10 GG und zur Änderung des VSG Bln vom Dezember. Durch die Änderung des Verfassungsschutzgesetzes Berlin wurden die Regelungen des Bundesgesetzes zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus vom Januar für Berlin - mit Einschränkungen - übernommen. (Vgl. GVBl 2003, S. 571.) V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R LI N 307 - wenn es erforderlich ist, um drohende Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes abzuwehren (SS 1 Abs. 1 Nr. 1), - wenn Anhaltspunkte für bestimmte schwerwiegende Straftaten - z. B. geheimdienstliche Agententätigkeit oder Bildung einer terroristischen Vereinigung - vorliegen (SS 3 Abs. 1), - wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert ist (SS 3 Abs. 2). Der Eingriff unterliegt einem umfassenden Genehmigungsverfahren, in dem der Senator für Inneres die einzelnen Maßnahmen anordnet. Zusätzlich ist die Zustimmung der so genannten G-10-Kommission erforderlich.463 Die Genehmigung der Maßnahmen ist jeweils auf eine Dauer von drei Monaten befristet, danach ist eine Verlängerung in gleicher Weise wie vorstehend beschrieben erforderlich. Der Ausschuss für Verfassungsschutz wird in Abständen von sechs Monaten über die Durchführung von Beschränkungsmaßnahmen durch die oberste Landesbehörde unterrichtet. Nicht nur die Anordnung von Beschränkungsmaßnahmen durch den Innensenator, sondern der gesamte Prozess der Erhebung, Speicherung und Nutzung der Daten unterliegen der Kontrolle der G 10-Kommission (SS 2 Abs. 2 AG G 10 [Gesetz zur Ausführung des Artikel 10Gesetzes]).464 463 Die Kommission besteht aus dem Vorsitzenden, der die Befähigung zum Richteramt haben muss, und einer der im Abgeordnetenhaus vertretenden Fraktionen entsprechenden Anzahl von Fraktionsvertretern (SS 2 Abs. 3 des Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz). 464 Diese Kontrollbefugnisse gehen auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14.7.1999 zurück (BVerfGE 100, 313 ff.). In dieser Entscheidung hat das BVerfG dem Gesetzgeber Auflagen zur Neuregelung der strategischen Fernmeldeüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst gemacht und grundlegende Maßstäbe für Eingriffe in das Grundrecht auf Telekommunikationsfreiheit gesetzt. Die Bundesregierung hat daraufhin die Durchführung von Maßnahmen zur Beschränkung dieses Grundrechts neu geregelt. Nach der Neufassung des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10-Gesetz) vom 26.6.2003 trat am 13.12.2003 das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz und zur Änderung des Verfassungsschutzgesetzes Berlin in Kraft (vgl. GVBl. S. 571). 308 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 2.1.4 Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz Auf der Basis des Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetzes wirkt die Verfassungsschutzbehörde auf Ersuchen der zuständigen öffentlichen Stellen mit bei der Sicherheitsüberprüfung - von Personen, denen im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse anvertraut werden, die Zugang dazu erhalten sollen oder ihn sich verschaffen können und - von Personen, die an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen beschäftigt sind oder werden sollen.465 Darüber hinaus wirkt der Verfassungsschutz mit bei technischen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz von im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen gegen die Kenntnisnahme durch Unbefugte. Mitwirkungsangelegenheiten Durch das Terrorismusbekämpfungsgesetz466 ist auch die Informationsübermittlung des Bundesamtes für ausländische Flüchtlinge an das Bundesamt für Verfassungsschutz sowie die Informationsübermittlung der Ausländerbehörden an die Landesämter geregelt worden. Darüber hinaus können sich die Ausländerbehörden vor der Erteilung oder Verlängerung von Aufenthaltsgenehmigungen zur Feststellung von Versagungsgründen an die Sicherheitsbehörden wenden (SS 64a AuslG). Der Verfassungsschutz wirkt zudem bei Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem Luftsicherheitsgesetz, dem Atomgesetz, dem Waffengesetz, dem Sprengstoffgesetz und der Bewachungsverordnung mit.467 465 Der vollständige Gesetzestext ist im Anhang abgedruckt. 466 Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus vom 16.8.2002 (BGBI. I 2002 S. 3202). 467 Detaillierte Informationen zur Mitwirkung bei Zuverlässigkeitsüberprüfungen S. 175 ff. V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R LI N 309 2.1.5 Entwicklungen in der Rechtsprechung In letzter Zeit sind einige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ergangen, die zwar den polizeilichen und strafverfolgenden Bereich betreffen, aber dennoch Anlass sind zu prüfen, inwieweit sich daraus organisatorischer oder gesetzlicher Änderungsbedarf auch für den Verfassungsschutz ergibt. Urteil zur Wohnraumüberwachung Das Bundesverfassungsgericht hat am 3. März 2004468 SS 100 c Abs. 1 Nr. 3 StPO und weitere damit verbundene Normen, die die Wohnraumüberwachung zu Strafverfolgungszwecken regeln, in wesentlichen Teilen für verfassungswidrig erklärt. Die neue Ermächtigung soll konkrete Regelungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung vor staatlichem Zugriff, zum Anwendungsbereich und zum Datenerhebungsund Verarbeitungsverfahren treffen. Die Entscheidung enthält wesentliche Kernaussagen zu Art. 13 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung) und zu Art. 1 Abs.1 GG (Würde des Menschen). Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass Art. 13 Abs. 3 GG (Wohnraumüberwachung) verfassungsgemäß ist, auch wenn durch diese Regelung in die Unverletzlichkeit der Wohnung eingegriffen wird.469 Eine akustische Wohnraumüberwachung zu Strafverfolgungszwecken ist mit dem Verfassungsgrundsatz der Menschenwürde (Art. 1 Abs.1 GG) vereinbar. Allerdings können Art und Weise der Durchführung der akustischen Wohnraumüberwachung zu einer Situation führen, in der die Menschenwürde verletzt ist. Entscheidend ist, dass die einschlägigen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen die Eingriffsvoraussetzungen des Art. 13 Abs.3 GG nicht nur wiederholen, sondern der Gesetzgeber die Voraussetzungen im Einzelnen konkretisiert. Ungeeignet ist insoweit ein allgemeiner Verweis auf Straftatenkataloge in der Strafprozessordnung. Wichtig ist, dass die einzelnen Vorschriften umfassende Schutzvorkehrungen insbesondere verfahrensrechtlicher Art enthalten, die das Risiko einer Verletzung des Kernbereichs der Menschenwürde reduzieren. Dazu gehört eine Verpflichtung 468 BVerfGE 100, S. 313 ff. Das Bundesverfassungsgericht hat in dieser Entscheidung grundlegende Maßstäbe zur Telekommunikationsfreiheit und den Bedingungen für Eingriffe in dieses Grundrecht aufgestellt. 469 BVerfGE 109, S. 279, 311. 310 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 zum sofortigen Abbruch einer Überwachungsmaßnahme, sobald ein derartiger Eingriff erkennbar wird, die Konstituierung eines absoluten Verwertungsverbotes hinsichtlich der unter Verletzung des Kernbereichs erhobenen Daten wie auch eine unbedingte Löschungspflicht.470 Schließlich hat der Gesetzgeber eine Kennzeichnung der aus einer (rechtmäßigen) Wohnraumüberwachungsmaßnahme stammenden Daten zur Sicherung der Zweckbindung jedenfalls im Fall einer Übermittlung der Daten an eine andere Behörde vorzuschreiben.471 Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur präventiven Telekommunikationsüberwachung durch die Polizei Diese hohen Maßstäbe haben ihre Fortsetzung in den weiteren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gefunden. So hat es am 27. Juli 2005472 grundsätzlich gebilligt, dass die Polizei bereits im Vorfeld einer konkreten Gefahr zur Verhütung von künftigen Straftaten, also unabhängig von einem Anfangsverdacht auf eine Straftat, die Telekommunikation überwachen darf. Die Voraussetzungen für diesen schwerwiegenden Eingriff und die Beschreibung des betroffenen Personenkreises im Niedersächsischen Polizeigesetz hat das Bundesverfassungsgericht jedoch als zu unbestimmt und unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig angesehen. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Telekommunikationsüberwachung der Nachrichtendienste hat das Bundesverfassungsgericht bereits in seiner Entscheidung vom 14. Juli 1999473 überprüft. Die vom Gericht geforderten Änderungen - insbesondere bei der Kontrollbefugnis der G 10-Kommission und den Befugnissen des BND - wurden zwischenzeitlich umgesetzt.474 470 BVerfGE 109, S. 279, 327 f. 471 BVerfGE 109, S. 279, 374 ff. 472 BVerfG, 1 BvR 668/04. 473 BVerfGE 100, S. 313 ff. 474 Diese Kontrollbefugnisse gehen auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14.7.1999 zurück (BVerfGE 100, 313 ff.). In dieser Entscheidung hat das BVerfG dem Gesetzgeber Auflagen zur Neuregelung der strategischen Fernmeldeüberwachung durch den Bundesnachrichtendienst gemacht und grundlegende Maßstäbe für Eingriffe in das Grundrecht auf Telekommunikationsfreiheit gesetzt. Die Bundesregierung hat daraufhin die Durchführung von Maßnahmen zur Beschränkung dieses Grundrechts neu geregelt. Nach der Neufassung des Gesetzes zur Beschränkung des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10-Gesetz) vom 26.6.2003 trat V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R LI N 311 Das Bundesverfassungsgericht hat nunmehr auch für die Telekommunikationsüberwachung besondere Vorkehrungen zum Schutz des absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung gefordert.475 Allerdings hat es deutlich gemacht, dass der Schutz des Verhaltens in Wohnräumen als "letztes Refugium" zur Wahrung der Menschenwürde bei der Telekommunikationsfreiheit anders ausgestaltet ist. Die Bürger sind zur höchstpersönlichen Kommunikation nicht in gleicher Weise darauf angewiesen wie auf eine Wohnung. Das Gericht hat gefordert, dass bei der Telekommunikationsüberwachung Vorkehrungen ergriffen werden müssen, die sichern, dass die Kommunikationsinhalte des höchstpersönlichen Bereichs nicht gespeichert und verwertet werden dürfen, sondern unverzüglich gelöscht werden, wenn es ausnahmsweise zu ihrer Erhebung gekommen ist. Derartige organisatorische Vorkehrungen sind bei der Telekommunikationsüberwachung durch die Berliner Verfassungsschutzbehörde geübte Praxis. Es bleibt zu prüfen, inwieweit eine gesetzliche Klarstellung auf Bundesoder Landesebene erforderlich ist. Urteil zu Publikationen des Verfassungsschutzes Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Entscheidung vom 24. Mai 2005476 mit der Frage der Nennung eines Presseverlags in einem Verfassungsschutzbericht befasst. Die Berliner Wochenzeitung "Junge Freiheit" (JF) hatte dagegen geklagt, als rechtsextremistische Publikation in den Verfassungsschutzberichten des Landes Nordrhein-Westfalen von 1994 und 1995 genannt zu werden. In seinem Beschluss stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Veröffentlichungen in Verfassungsschutzberichten dem Zweck dienen, durch Aufklärung der Öffentlichkeit besondere Gefahren abzuwenden. Das Bundesverfassungsgericht hat die Sache an das Verwaltungsgericht zurückgewiesen. Dieses wird neben der Form der Veröffentlichung zu prüfen haben, ob hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte für einen Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen der JF vorliegen, die eine Information der Öffentlichkeit rechtfertigen. am 13.12.2003 das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz und zur Änderung des Verfassungsschutzgesetzes Berlin in Kraft (vgl. GVBl. S. 571). 475 Zu diesem Kernbereich vgl. BVerfGE 109, S. 279, 311ff. 476 BVerfGE, 1 BvR 1072/01. 312 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts, unter welchen Umständen die in einer Zeitung von Dritten veröffentlichten Artikel Verlag und Redaktion zuzurechnen sind, werden bei der erneuten Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu berücksichtigen sein. 2.2 Kontrolle 2.2.1 Kontrollinstanzen Die Verfassungsschutzbehörde unterliegt bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben einer weitgehenden Kontrolle auf mehreren Ebenen: Öffentliche Revision Kontrolle Kontrollinstanz der durch Bürger und Leitung der Medien Senatsverwaltung für Inneres Datenschutz Allgemeine Beauftragter für parlamentarische Datenschutz und Kontrolle durch das Abgeordnetenhaus Informationsfreiheit Debatte, Aktuelle Abteilung Stunden, Kleine und VerfassungsGroße Anfragen, schutz Petitionen Gerichtliche Besondere Kontrolle parlamentarische durch VerwaltungsKontrolle gerichte Ausschuss für Verfassungsschutz / ggf. Untersuchungsausschuss G10-Kommission Vertrauensperson Kontrolle von des Ausschusses für Eingriffen in das Verfassungsschutz Postund Fernmeldegeheimnis nach Art. 10 GG V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R LI N 313 2.2.2 "In camera"-Verfahren Zur Behebung einer Rechtsschutzlücke wurde nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Oktober 1999477 das so genannte "in camera-Verfahren" durch Gesetz vom 20. Dezember 2001478 in die Verwaltungsgerichtsordnung eingeführt (SS 99 VwGO). Bis dahin war es möglich, dass die Verwaltung wegen überragender Geheimhaltungsgründe in Verwaltungsgerichtsprozessen keine oder nur Teile der Akte vorlegte. Wenn aber die zugrundeliegenden Verwaltungsvorgänge nicht neu vorgelegt werden, können die Verwaltungsgerichte und die betroffenen Kläger die angefochtenen Entscheidungen nicht überprüfen. Das Bundesverfassungsgericht hat anerkannt, dass es überwiegende Geheimhaltungsinteressen der Verwaltung geben kann, die einer Offenlegung der Verwaltungsvorgänge entgegenstehen. Durch das "in cameraVerfahren" unterliegt die Entscheidung der Nichtvorlage von Verwaltungsvorgängen aber einer umfassenden gerichtlichen Überprüfung. Auf Antrag eines Prozessbeteiligten sind die geheimhaltungsbedürftigen Verwaltungsvorgänge einem eigens hierfür eingerichteten Fachsenat beim Oberverwaltungsgericht vorzulegen. Das Oberverwaltungsgericht prüft anhand der vorgelegten Unterlagen, ob die Entscheidung, die Vorgänge nicht vorzulegen, rechtmäßig war. Das "in camera"-Verfahren spielt insbesondere bei Auskunftsverfahren eine Rolle. Es kann aber auch bei Einbürgerungsverfahren oder ausländerrechtlichen Verfahren von Bedeutung sein, wenn Unterlagen des Verfassungsschutzes, die für die Entscheidung wichtig sind, aus Geheimhaltungsgründen nicht vorgelegt werden können. 477 BVerfGE 1 BvR 385/90. 478 BGBl. I S. 3987. 314 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 3 ARBEITSWEISE Der Verfassungsschutz Berlin hat laut VSG Berlin die Aufgabe, den Senat und das Abgeordnetenhaus, andere zuständige staatliche Stellen und die Öffentlichkeit über Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung zu unterrichten.479 Die Tätigkeit des Verfassungsschutzes kann dabei in drei Bereiche unterteilt werden: Die Informationsbeschaffung, die Informationsbearbeitung sowie die Informationsweitergabe. 3.1 Informationsbeschaffung Bei der Informationsbeschaffung ist grundsätzlich zwischen der Informationsgewinnung aus offenen Materialien und aus nachrichtendienstlichen Quellen zu unterscheiden. 3.1.1 Offenes Informationsmaterial Der Verfassungsschutz erhält einen hohen Anteil seines Informationsaufkommens aus allgemein zugänglichen Veröffentlichungen oder Veranstaltungen. Hierunter fallen z. B. frei erhältliche Publikationen, Beiträge elektronischer Medien aber auch Erkenntnisse aus öffentlichen Veranstaltungen von beobachteten Gruppierungen. Die systematische Auswertung des Internets gewinnt angesichts der Nutzung dieses Mediums durch Extremisten zunehmend an Bedeutung. Ein weiterer Teil der Informationen beruht auf Angaben anderer Behörden oder auf freiwilligen Auskünften von Personen. 3.1.2 Datenzugänge Zur Bekämpfung gewalttätiger, insbesondere terroristischer Bestrebungen dürfen Anfragen an Luftverkehrsunternehmen, Telekommunikationsanbieter und Kreditinstitute gestellt werden.480 Gerade zur Aufklärung islamistischer terroristischer Netzwerke kann es erforderlich sein, Flüge ins europäische oder außereuropäische Ausland festzustellen, Finanzierungsströme aufzuklären und Telefonverbindungsdaten zur Feststellung von Kontakten zu erlangen. Wegen der Eingriffstiefe dieser 479 Vgl. SSSS 1, 5 und 6 VSG Berlin. 480 SS 27a VSG Berlin. V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R LI N 315 Befugnisse sind sie vom Gesetzgeber nur befristet bis Januar 2007 vorgesehen worden. Zu diesem Zweck müssen halbjährliche bzw. jährliche Berichte an den Ausschuss für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses sowie das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundes erfolgen. Die gesetzlich vorgesehene Evaluierung dieser neuen Befugnisse wurde auf Bundesebene bereits durchgeführt. Hierzu wurde im ersten Halbjahr 2005 ein Bericht vorgelegt, in dem die Regelungen als erfolgreich und angemessen bewertet wurden. 3.1.3 Nachrichtendienstliche Quellen Nachrichtendienstliche Mittel dürfen nach den Bestimmungen des VSG Bln in Fällen eingesetzt werden, in denen sich verfassungsfeindliche Bestrebungen unter weitgehend konspirativer Abschottung und Geheimhaltung entfalten und sich anderweitig keine Informationen gewinnen lassen. Gemäß den Vorgaben des VSG Bln soll der Einsatz dieser Mittel nur erfolgen, wenn sie erkennbar im Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachverhalts stehen. Der Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel kommt deshalb erst dann in Betracht, wenn die anderen Mittel der Nachrichtenbeschaffung erschöpft sind, d. h. wenn die Erforschung des Sachverhaltes auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre. Zu den nachrichtendienstlichen Mitteln zählen insbesondere der Einsatz von Vertrauenspersonen (so genannten V-Personen, die aus Beobachtungsobjekten berichten), die Observation sowie die Überwachung des Postund Fernmeldeverkehrs, deren besonders engen rechtlichen Voraussetzungen im Gesetz zu Artikel 10 GG481 geregelt sind. Die Informationsbeschaffung durch V-Personen ist ein Kernbereich nachrichtendienstlicher Arbeit, der in einem außerordentlichen Spannungsfeld steht: Auf der einen Seite bedarf es des Schutzes unserer freiheitlichen Demokratie, auf der anderen Seite der Beschaffung von Informationen durch Mitglieder extremistischer Organisationen. V-Personen sind Privatpersonen, die in der Regel der zu beobachtenden verfassungsfeindlichen Organisation angehören oder ihr nahe stehen. Sie berichten über deren Strukturen und Aktivitäten. Ihr Einsatz ermöglicht es dem Verfassungsschutz, auch "hinter die Fassade" zu blicken und 481 BGBl. Teil I, 2001, S. 1254 ff.; BGBl. Teil I, 2002, S. 361, 364. 316 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 fundierte Einschätzungen gegenüber Politik und Öffentlichkeit abzugeben. Der Gesetzgeber hat dieses Mittel der Informationsbeschaffung den Verfassungsschutzbehörden ausdrücklich zugewiesen. Aufgrund der besonderen Sensibilität der Maßnahme sind dem Einsatz von V-Personen aber enge rechtsstaatliche Grenzen gesetzt, die sich sowohl aus den einschlägigen Gesetzen als auch aus internen Dienstvorschriften ergeben. So dürfen Aufträge an V-Personen nicht weiter gehen als die gesetzlichen Befugnisse der Verfassungsschutzbehörden. Sie dürfen keinen steuernden Einfluss auf die Organisation, der sie angehören, ausüben. V-Personen sind auch keine "Agents provocateurs" - sie dürfen nicht zu Straftaten anstiften. V-Personen geben die Informationen, die sie erhalten haben, aus freien Stücken weiter. Außer ihren Prämien für Informationen bekommen sie keine weiteren Vergünstigungen. Voraussetzung beim Einsatz von V-Personen ist die Vertraulichkeit. Deshalb wird die Identität einer V-Person und ihre Verbindung zum Verfassungsschutz besonders geschützt. Auch ihre Informationen werden nur dann offen genutzt, wenn ein Rückschluss auf den Informationsgeber nicht möglich ist (so genannter Quellenschutz). 3.2 Informationsbearbeitung Die durch die Informationsbeschaffung gesammelten Rohdaten müssen gefiltert, systematisiert und analysiert werden. Dabei nimmt die Informationstechnik eine immer wichtigere Rolle ein, da so größere Datenmengen verarbeitet und durch verschiedene Anwendungen analysiert werden können. Als bundesweite Hinweisdatei existiert für die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder das "Nachrichtendienstliche Informationssystem" (NADIS). Hierüber ist es möglich abzufragen, ob und für welchen Aufgabenbereich eine Person bei einer Verfassungsschutzbehörde erfasst ist. Hinweise auf den Hintergrund der Speicherung sowie Inhalt und Umfang der zugrunde liegenden Informationen lassen sich daraus nicht erkennen. Die Speicherungsgrundlagen sowie die Speicherungsdauer sind im VSG Berlin geregelt.482 482 SSSS 11 - 17 VSG Berlin. V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R LI N 317 Für Berlin waren Ende 2005 15 312 Datensätze im NADIS gespeichert (2004: 15 561). Rund zwei Drittel entfallen dabei auf Sicherheitsüberprüfungen, die übrigen verteilen sich auf die Aufgabenbereiche Spionageabwehr, Ausländer-, Rechtsund Linksextremismus. Die Zahl der gespeicherten Datensätze ist seit dem Jahr 2000 kontinuierlich zurückgegangen. NADIS-Datensätze 25000 20257 20000 17371 15839 15960 15561 15312 Anzahl 15000 10000 5000 0 2000 2001 2002 2003 2004 2005 Jahr Zahl der gespeicherten Datensätze im NADIS in den Jahren 2000 bis 2005. Für die Auswertung ist die computergestützte geographische Analyse von Daten ein wichtiges Werkzeug. Auf diesem Weg können lokale Schwerpunkte herausgearbeitet werden, wie es beispielsweise in der "Im Fokus"-Studie "Rechte Gewalt in Berlin" angewandt wurde. Darüber hinaus spielt die präzise Definition von Analysebegriffen eine wichtige Rolle. Der Verfassungsschutz Berlin hat zu diesem Zwecke in den letzten Jahren das Konzept der "Risikoanalyse" entwickelt. Die Risikoanalyse definiert sozialwissenschaftliche Kategorien zur präzisen Beschreibung aktueller Phänomene im extremistischen Spektrum und bietet eine Grundlage für statistische Analysen von gespeicherten Personendaten.483 Das Konzept der Risikofelder des aktions-, parlamentsund diskursorientierten Rechtsextremismus ist mittlerweile auch in der Wissenschaft eine gängige Unterteilung. 483 Vgl. S. 15 f. 318 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 3.3 Informationsweitergabe Das VSG Berlin umschreibt in SS 5 Abs. 1 die Aufgabe des Verfassungsschutzes Berlin: "Die Verfassungsschutzbehörde hat die Aufgabe, den Senat und das Abgeordnetenhaus von Berlin, andere zuständige staatliche Stellen und die Öffentlichkeit über Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder zu unterrichten. Dadurch soll es den staatlichen Stellen insbesondere ermöglicht werden, rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zur Abwehr dieser Gefahren zu ergreifen." In diesem Sinne begreift sich der Verfassungsschutz Berlin als politikberatende Institution, deren Ziel es ist, politische Entscheidungsträger, andere Behörden und die Öffentlichkeit umfassend und zeitnah über Entwicklungen im Bereich des Extremismus und der Spionage zu informieren und zu beraten. 3.3.1 Zusammenarbeit mit anderen Behörden Die Zusammenarbeit mit anderen Behörden geschieht auf Grundlage der Regelungen des VSG Berlin über die Informationsweitergabe.484 Es wird bei der Weitergabe von Erkenntnissen über Personen danach unterschieden, ob es sich um andere Sicherheitsbehörden, öffentliche Stellen außerhalb der Sicherheitsbehörden oder ausländische Institutionen handelt. - Bei der Zusammenarbeit im Verfassungsschutzverbund besteht eine Informationspflicht für alle anfallenden Erkenntnisse, die für die Aufgabenerfüllung der anderen Behörden erforderlich sind. (SS 19 VSG Berlin) - Die Zusammenarbeit mit Polizei und Staatsanwaltschaft wird durch besondere Übermittlungsbefugnisse flankiert. Insbesondere, wenn es zur Verhinderung und Verfolgung von Straftaten im Zusammenhang mit extremistischen Bestrebungen erforderlich ist, dürfen Erkenntnisse weitergegeben werden. (SS 21 VSG Berlin) - An andere öffentliche Stellen dürfen Erkenntnisse über Personen insbesondere übermittelt werden, wenn sie die Informationen zum 484 Der vollständige Gesetzestext ist im Anhang abgedruckt. S. speziell SSSS 18 - 25 VSG Berlin. V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R LI N 319 Schutz vor verfassungsfeindlichen Bestrebungen benötigen oder wenn es zur Aufgabenerfüllung der Verfassungsschutzbehörde erforderlich ist. (SS 22 VSG Berlin) - Besondere Beschränkungen gelten für die Weitergabe personenbezogener Informationen an ausländische Stellen. (SSSS 24, 25 VSG Berlin) Stärkung der Zentralstellenfunktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz Angesichts der anhaltenden Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus485 haben die Innenminister die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden weiter ausgebaut. Zur Bekämpfung dieser Gefahr sind die Verfassungsschutzbehörden auf einen optimalen Informationsaustausch angewiesen. Die Funktion des Bundesamtes für Verfassungsschutz als Zentralstelle für Informationsauswertung und -steuerung wurde auf Initiative Berlins durch eine Änderung der Koordinierungsrichtlinie im Jahr 2004 gestärkt. In dieser von der Innenministerkonferenz am 26.11.1993 beschlossenen "Richtlinie für die Zusammenarbeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz und der Landesbehörden für Verfassungsschutz" wird Art und Verfahren der Zusammenarbeit geregelt. Ausdrücklich geregelt ist nunmehr, dass die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder sich unter Federführung des Bundesamtes für Verfassungsschutz kontinuierlich über die Schwerpunkte der Beobachtung des islamistischen Terrorismus abstimmen und die arbeitsteilige Durchführung der erforderlichen Maßnahmen vereinbaren. Das Bundesamt für Verfassungsschutz wertet alle Erkenntnisse aus und unterrichtet die Landesbehörden für Verfassungsschutz unverzüglich über alle relevanten Erkenntnisse.486 Gemeinsame Datei Zur weiteren Verbesserung des Informationsaustauschs zwischen Polizei und Nachrichtendiensten wurde im November 2004 von der Innenministerkonferenz die Einführung einer gemeinsamen Datei von Polizei und Nachrichtendiensten beschlossen. Im Sommer 2005 trat hierzu eine Arbeitsgruppe zusammen, an der Vertreter der Länder Baden-Württem485 Vgl. S. 116 ff. 486 Vgl. Senatsverwaltung für Inneres: Verfassungsschutzbericht 2004. Berlin 2005, S. 275 f. 320 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 berg, Bayern, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und des Bundesministeriums des Innern teilnahmen und die den vom Bundesministerium des Innern vorgelegten Entwurf zur Anti-Terror-Datei diskutierten. An der zweiten Sitzung nahmen zusätzlich Vertreter der Länder NordrheinWestfalen, Thüringen und Berlin teil. Neben Verfahrensfragen ging es vor allem um die Frage, ob die Datei als Indexoder Volltextdatei ausgestaltet werden soll. Die Anforderungen an eine derartige Datei sind sehr vielfältig. Einerseits müssen die fachlichen Belange der Sicherheitsbehörden sowie notwendige Geheimhaltungsinteressen Berücksichtigung finden, andererseits soll eine Verfahrenserleichterung erreicht werden, die die Sicherheitsbehörden in die Lage versetzt, Querverbindungen von Personen mit terroristischem Hintergrund herzustellen. Zu klärende Punkte sind, welche Behörden neben Polizei und Nachrichtendiensten Zugriff auf den sensiblen Datenbestand erhalten sollen, ob auch Daten nicht gewaltbereiter Islamisten aufgenommen werden sollen und ob sich die Daten auf Grunddaten und die speichernde Stelle beschränken oder auch Texte eingestellt werden sollen. Bei Klärung dieser Fragen werden die unterschiedlichen Aufgaben von Nachrichtendienst und Polizei zu berücksichtigen sein, die auch zu einer Begrenzung der Übermittlung - z. B. bei Personen, die nicht für die Strafverfolgung oder Verhütung von Straftaten relevant sind - führen. Das Legalitätsprinzip, das die Polizei bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte zur Verfolgung von Straftaten verpflichtet, also ein Zuwarten nicht ermöglicht, ist bei der Frage der Einstellung von Texten durch die Nachrichtendienste zu berücksichtigen. Bei Einstellung von Texten ist auch zu beachten, dass hier die Gefahr der Informationsverkürzung und Fehlinterpretation besteht und möglicherweise vor der Nutzung der Information von Anfragen bei der einspeichernden Stelle abgesehen wird. Dies kann bei polizeilichen Maßnahmen wie Durchsuchungen oder Verhaftungen erhebliche Auswirkungen haben. Gemeinsames Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) Eine wesentliche Verbesserung der Zusammenarbeit und der Analysefähigkeit der Sicherheitsbehörden ist durch die Zusammenarbeit im "Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum" (GTAZ) in Berlin-Treptow zu verzeichnen. Das GTAZ hat seine Arbeit 2004 aufgenommen. Neben Experten des BfV, BKA, BND, GBA und ausländischer Partnerdienste sind die Länder mit Verbindungsbeamten der Polizei und der Verfas- V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R LI N 321 sungsschutzbehörden dort vertreten. Das LKA und der Verfassungsschutz Berlin sind seit dem 1. Dezember 2004 mit Verbindungsbeamten täglich präsent. Das GTAZ ist ein Informationsund Analysezentrum und ermöglicht durch die enge Zusammenarbeit aller deutschen Sicherheitsbehörden, dass die den islamistischen Terrorismus betreffendenden Informationen umgehend gemeinsam bewertet und analysiert, die erforderlichen operativen Maßnahmen abgestimmt und die anfallenden Erkenntnisse ohne Zeitverzug ausgetauscht werden. Gerade bei der Bewältigung der besonderen Lage anlässlich der Anschläge in London, hat sich die Institution bewährt. 3.3.2 Öffentlichkeitsarbeit Die Öffentlichkeitsarbeit hat für den Berliner Verfassungsschutz eine große Bedeutung, denn die öffentliche Auseinandersetzung mit extremistischen Ideologien dient ebenso dem Schutz der Demokratie wie repressive Maßnahmen gegen extremistische Bestrebungen. So ist die Unterrichtung der Öffentlichkeit auch als Aufgabe im Verfassungsschutzgesetz Berlin festgeschrieben.487 Publikationen Der große Informationsbedarf spiegelt sich in der steigenden Zahl der Publikationen wieder: Über 21 000 Broschüren sind im Jahr 2005 durch den Verfassungsschutz verteilt worden. Um den unterschiedlichen Erwartungen gerecht zu werden, wurden unterschiedliche Publikationsreihen entwickelt. * Verfassungsschutzberichte: Den umfassendsten Überblick über die einzelnen Beobachtungsfelder geben die jährlichen Verfassungsschutzberichte. Sie informieren über das aktuelle Geschehen im extremistischen Spektrum, über die Ideologien im Rechts-, Linksund Ausländerextremismus sowie über die wichtigsten in Berlin vertretenen extremistischen Gruppierungen. * Reihe Im Fokus: Die Im Fokus-Reihe behandelt einzelne Themenkomplexe des Extremismus. Stärker als im Verfassungsschutzbericht steht die Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen For487 Der vollständige Gesetzestext ist im Anhang abgedruckt. S. speziell SS 5 VSG Berlin 322 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 schung im Vordergrund. Die Studienreihe ist 2005 mit zwei Publikationen zu den Themen "Rechte Gewalt in Berlin" und "Islamismus. Diskussion eines vielschichtigen Phänomens" fortgesetzt worden. Die Studie zur rechten Gewalt basiert auf einer empirischen Analyse von Ermittlungsakten zu den Tatverdächtigen 365 rechter Gewalttaten. Sie stieß auf große Resonanz in Berlin. Aufgrund des Ansatzes der Geographisierung rechter Gewalttaten in Berlin dient sie vor allem der Beratung von Akteuren "vor Ort". Die Studie zum Islamismus dokumentiert die Fachbeiträge anlässlich des vom Verfassungsschutz Berlin veranstalteten Symposiums "Islamismus in Deutschland". Die Studien ergänzen damit die schon vorliegenden "Im Fokus"-Studien über rechtsextremistische Skinheads (2003) und Antisemitismus im extremistischen Spektrum (2004). * Lageund Wahlanalysen: Diese Publikationsreihe bietet kurzfristige Analysen zu aktuellen Detailthemen. 2005 wurden Beiträge zu den Wahlergebnissen extremistischer Parteien bei den Bundestagswahlen und zu extremistischen Schülerzeitungen veröffentlicht. * Reihe Info: Die Info-Reihe bietet praxisnahe kompakte Informationen über Kennzeichen und Erscheinungsformen des Extremismus. Von der weiterhin stark nachgefragten Publikation "Symbole und Kennzeichen des Rechtsextremismus" wurde 2005 eine aktualisierte Neuauflage heraus gegeben. Anfang 2006 erschien eine "Info"Publikation zum Thema Islamismus. * Lupe: Die Broschüre Verfassungsschutz nehmen Sie uns unter die Lupe" gibt Basisinformationen über Aufgaben und Befugnisse, Arbeitsfelder und Vorgehensweisen des Verfassungsschutzes. Veranstaltungen und Vorträge Ein weiteres Mittel der Information der Öffentlichkeit sind Veranstaltungen und Vorträge über extremistische Bestrebungen und Spionagetätigkeiten. Der Verfassungsschutz Berlin hat hier seine Tätigkeit im vergangenen Jahr mit über 70 Veranstaltungen aufgrund der großen Nachfrage erneut ausgeweitet (2004: 35 Veranstaltungen). Hauptadressat dieser Vorträge sind schulische und außerschulische Bildungseinrichtungen, Vertreterinnen und Vertreter der Polizei, der Ordnungs-, Justizund anderen Verwaltungsbehörden des Landes, der Medien oder der Parteien. Thematisch standen der Islamismus / transnationale Terrorismus und der Rechtsextremismus im Vordergrund. V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R LI N 323 Darüber hinaus hat der Verfassungsschutz Berlin am 7. März in Kooperation mit dem Verfassungsschutzausschuss des Abgeordnetenhauses eine Fachkonferenz zum Thema "Rechte Gewalt in Berlin" veranstaltet. Grundlage der mit ca. 220 Teilnehmern ausgerichteten Veranstaltung war die im gleichen Jahr vom Verfassungsschutz Berlin veröffentlichte Studie "Im Fokus: Rechte Gewalt". Zu dem Thema referierten Experten aus Politik, Behörden, Wissenschaft und der Pädagogik. Der Verfassungsschutz sucht in der Gremienarbeit auch den Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen, um die Zusammenarbeit auszubauen und Vertrauen zu schaffen. So beteiligte er sich am Islamforum, das sich am 16. November in Berlin konstituierte.488 Im Mittelpunkt der ersten Sitzung stand die Kooperation in Sicherheitsfragen. Auf Bundesebene gab es zudem den "Gemeinsamen Dialog zwischen muslimischen Organisationen und Sicherheitsbehörden", aus dem das Konzept "Vertrauensbildende Maßnahmen" hervorging. Beteiligt waren der Zentralrat der Muslime und die Türkisch-Islamische Union sowie Vertreter deutscher Sicherheitsbehörden von Bundesund Länderebene. Bekräftigt wurde "die Bereitschaft, beim Schutz der gesamten in Deutschland lebenden Bevölkerung vor den Gefahren des internationalen Terrorismus mitzuwirken". Internet Der Verfassungsschutz Berlin hat seinen Internet-Auftritt grundlegend überarbeitet und das Informationsangebot ausgeweitet. So können alle Publikationen als pdf-Dokument abgerufen werden; darüber hinaus enthält die Webseite auch Aktuelle Meldungen, Informationen über die Grundlagen der Verfassungsschutzarbeit, über Veranstaltungen des Verfassungsschutzes Berlin sowie aktuelle Lagebilder und Kurzanalysen. 488 Das Islamforum ist ein Kooperationsprojekt zwischen dem Beauftragten des Berliner Senats für Integration und Migration und der 2003 gegründeten Muslimischen Akademie Deutschlands. 324 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Bürgerund Hinweistelefon Das Bürgertelefon als Teil der Öffentlichkeitsarbeit nimmt Ihre Hinweise oder Fragen gerne entgegen. Zu erreichen sind wir unter der Telefonnummer (030) 90 129-0 oder unter der E-Mail-Adresse info@verfassungsschutz-berlin.de (weitere Details siehe Impressum). Neben dem Bürgertelefon hat der Verfassungsschutz Berlin ein vertrauliches Hinweistelefon zur Aufklärung des islamistischen Terrorismus eingerichtet: (030) 90 129-400 (in deutscher und englischer Sprache) (030) 90 129-401 (in türkischer Sprache) (030) 90 129-402 (in arabischer Sprache). Die Anschlüsse sind werktags von 9.00 bis 15.00 Uhr von sprachkundigen Mitarbeitern besetzt. Außerhalb der genannten Zeiten ist ein Anrufbeantworter geschaltet. Darüber hinaus können auch vertrauliche E-Mails an die Adressen info@verfassungsschutz-berlin.de oder aman@verfassungsschutz-berlin.de gesendet werden. Verfassungsschutz Berlin 325 Anhang 326 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 1 ENTWICKLUNG POLITISCH MOTIVIERTER KRIMINALITÄT IN BERLIN 2005 (Auszug aus dem Bericht des Polizeipräsidenten "Kriminalität in Berlin 2005") 1.1 Kriminalpolizeilicher Meldedienst Politisch motivierte Kriminalität (KPMD - PMK) Der KPMD - PMK gewährleistet die bundesweit einheitliche und systematische Erhebung und Darstellung der Politisch motivierten Kriminalität. Er bildet eine verlässliche Datenbasis für polizeiliche Auswertung und präventive wie repressive Maßnahmen, für kriminologische Forschung und kriminalpolitisches Handeln. Der KPMD - PMK ermöglicht die differenzierte Betrachtung der Politisch motivierten Kriminalität durch Angaben zur Deliktsqualität, zu Themenfeldern, Phänomenbereichen, internationalen Bezügen und extremistischen Ausprägungen. Die innerhalb der Phänomenbereiche gesondert abgebildete Politisch motivierte Gewaltkriminalität ist die Teilmenge der Politisch motivierten Kriminalität, die eine besondere Gewaltbereitschaft der Straftäter erkennen lässt. Sie umfasst folgende Deliktsbereiche: Tötungsdelikte, Körperverletzungen, Brandund Sprengstoffdelikte, Landfriedensbruch, gefährliche Eingriffe in den Schiffs-, Luft-, Bahnund Straßenverkehr, Freiheitsberaubung, Raub, Erpressung, Widerstandsund Sexualdelikte. Die verwendete Darstellungsgröße "Fallzahlen" bedeutet, dass jeder Lebenssachverhalt (gewaltsame Aktion bzw. Gesetzesverletzung) unabhängig von der Zahl der Tatverdächtigen und der Anzahl der Einzeldelikte jeweils nur als ein "Fall" gewertet wird (Grundsatz: derselbe Tatort, dieselbe Tatzeit, derselbe Tatentschluss = ein Fall). Wurde dabei gegen mehrere Rechtsbestimmungen verstoßen, zählt grundsätzlich nur der schwerer wiegende Straftatbestand. Mehrere Straftaten, die z. B. den Tatbestand des Landfriedensbruchs verwirklichen, sind bei unmittelbarem räumlichen Zusammenhang und unabhängig von der Zahl der Tatverdächtigen somit als ein Fall zu zählen. Dabei kann sich der räumliche Zusammenhang z. B. auf einen Platz oder eine Straße nebst benachbarter Nebenstraßen beziehen - obwohl mitunter zehn oder mehr Täter Steine warfen. ANHANG 327 Für die Fallzahlen der Themenbereiche (antisemitische Straftaten, fremdenfeindliche Straftaten, 1. Mai, Links-Rechts-Auseinandersetzungen) gilt, dass die Summe der Themenbereiche keine Rückschlüsse auf die tatsächlichen Fallzahlen der drei Phänomene zulässt. Die Abweichung resultiert aus der Möglichkeit der kumulativen Nennung von Fallzahlen in den Themenbereichen. Die Zahlen aus dem KPMD - PMK vereinen die Merkmale von Eingangsund Ausgangsdaten. Während im Rahmen einer so genannte Erstmeldung ein Delikt nach vorläufigem Erkenntnisstand erfasst und bewertet wird, kann sich diese Bewertung im Verlauf der Ermittlungen erheblich verändern. Wird etwa eine Tat zunächst als politisch motivierter Mord angenommen, kann sie nach Abschluss der polizeilichen Ermittlungen - also nach Klärung aller Tatumstände - im Rahmen der sog. Abschlussmeldung als eine gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge ohne politische Motivation bewertet werden. Die ursprünglich enthaltene Mordtat findet sich dann mangels politischer Motivation in den Fallzahlen nicht wieder. 1.2 Gesamtzahlen KPMD - PMK Politisch motivierte Kriminalität in Berlin 2004 2005 Terrorismus Bildung terroristischer Vereinigung 4 9 489 Summe Terrorismus 4 9 Gewaltdelikte Brandstiftung 13 18 Erpressung 4 Freiheitsberaubung 1 Körperverletzung 129 119 Landfriedensbruch 73 54 Raub 6 7 Tötungsdelikte 1 489 Hierbei handelt es sich um Verfahren, die bis auf zwei Verfahren im Bereich PMKAusländer (2005) beim BKA auf Grund der Deliktzuweisung geführt, aber dem Land Berlin wegen der Tatörtlichkeit zugeordnet werden. Dieses Verfahren wird erst seit 2003 praktiziert. 328 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 2004 2005 Gewaltdelikte (Fortsetzung) Verkehrsgefährdungen 2 5 Widerstandsdelikte 58 24 Summe Gewaltdelikte 287 227 Andere Straftaten Amtsanmaßung / Missbrauch von Titeln 1 1 Anleitung zu Straftaten 1 3 Asylverfahrensgesetz 1 Aufenthaltsgesetz 2 Begünstigung / Hehlerei 1 6 Beleidigung / üble Nachrede / Verleumdung 96 120 Belohnung / Billigung v. Straftaten 5 2 Betrug / Untreue 2 2 Bildung krimineller Vereinigungen 1 Diebstahl / Unterschlagung 6 15 Gewaltdarstellung 3 Falschaussage / Meineid 1 Hausfriedensbruch 26 18 Landesverrat 3 Missbrauch von Notrufen 1 Nichtanzeige geplanter Straftaten 1 Nötigung / Bedrohung 36 32 Öffentliche Aufforderung zu Straftaten 31 23 Pressegesetz 2 Propagandadelikte 1 021 1 367 Sachbeschädigung 185 464 Sprengstoffgesetz 2 Störung d. öffentlichen Friedens 30 12 Störung öffentlicher Betriebe 1 Straftaten bei Wahlen 1 Straftaten gg. ausländische Staaten 10 7 Straftaten gg. Religion / Weltanschauung 2 3 Straftaten gg. Verfassungsorgane 1 Telekommunikationsgesetz 1 Umweltstraftaten 2 Urheberrechtsgesetz 2 16 Urkundenfälschung 2 Vereinsgesetz 23 14 ANHANG 329 2004 2005 Andere Straftaten (Fortsetzung) Verletzung amtlicher Bekanntmachungen 1 1 Versammlungsgesetz 256 349 Verunglimpfung d. Staates u. seiner Symbole 7 8 Verunglimpfung v. Verfassungsorganen 3 4 Volksverhetzung 185 179 Vortäuschen einer Straftat 1 2 Waffengesetz 4 8 Widerstandsdelikte 4 3 Summe Andere Straftaten 1 952 2 671 Gesamt 2 243490 2 907491 1.3 Politisch motivierte Kriminalität - rechts 1.3.1 Fallzahlen KPMD - PMK für Politisch motivierte Kriminalität - rechts -492 2004 2005 Gewaltdelikte Erpressung 1 Körperverletzung 51 44 Landfriedensbruch 4 3 Raub 4 Tötungsdelikte 1 Widerstandsdelikte 3 1 Summe Gewaltdelikte 60 52 Andere Straftaten Amtsanmaßung / Missbrauch von Titeln 1 1 Beleidigung / üble Nachrede / Verleumdung 35 39 Belohnung / Billigung von Straftaten 1 490 Zur Gewährleistung der Vergleichbarkeit sind in dem vorliegenden Jahresbericht für 2004 die Vergleichszahlen aus dem letzten Jahresbericht heran gezogen worden, das bezieht sich auf alle Phänomenbereiche. 491 Die Summe ergibt sich aus den Fallzahlen der Phänomenbereiche PMK Rechts, Links, Ausländer und den "nicht zuzuordnenden" Fällen. Auf den Bereich der "nicht zuzuordnenden" Fälle wird in der folgenden Darstellung nicht weiter eingegangen. 492 Einschließlich antisemitischer und fremdenfeindlicher Straftaten. 330 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 2004 2005 Andere Straftaten (Fortsetzung) Bildung krimineller Vereinigungen 1 Diebstahl / Unterschlagung 1 4 Gewaltdarstellung 1 Hausfriedensbruch 1 Nötigung / Bedrohung 11 6 Öffentliche Aufforderung zu Straftaten 2 3 Propagandadelikte 655 1018 Sachbeschädigung 20 201 Störung d. öffentlichen Friedens 1 3 Straftaten gg. Religion / Weltanschauung 1 1 UrheberrechtsG 1 6 Urkundenfälschung 1 Vereinsgesetz 2 6 Versammlungsgesetz 28 39 Verunglimpfung d. Staates u. seiner Symbole 3 Verunglimpfung v. Verfassungsorganen 1 1 Volksverhetzung 154 163 Waffengesetz 1 1 Widerstandsdelikte 1 Summe Andere Straftaten 916 1 449 493 Gesamt 976 1 551 Die Steigerung der Fallzahlen im Bereich PMK - rechts um 575 Fälle (59 %) ist nicht allein auf einen Anstieg der Propagandadelikte zurückzuführen, sondern das Fallaufkommen sonstiger Delikte (PMK - rechts ohne Gewaltund Propagandadelikte) hat sich um 220 Fälle (84 %) von 261 Fällen (2004) auf 481 (2005) erhöht. Bei den Gewaltdelikten konnte dagegen ein Rückgang um 8 Fälle (minus 13 %) von 60 (2004) auf 52 (2005) verzeichnet werden. Der Anstieg der Propagandadelikte um 363 Fälle (55 %) weist eine Kontinuität über den gesamten Jahreszeitraum auf. Ursächlich hierfür ist zum einen das Anlegen eines strengeren Maßstabes bei der Bewertung von Propagandadelikten. Verstöße gegen die SSSS 86 oder 86 a StGB sind 493 Vgl. Fußnote 502. ANHANG 331 gemäß Definitionssystem KPMD-PMK, sofern eine politische Motivation nicht gänzlich verneint werden kann, grundsätzlich dem Phänomenbereich PMK - rechts zuzuordnen. Zum anderen könnte die Sensibilisierung der Bevölkerung durch die Medien sowie die Eröffnung der Berliner Internetwache für ein erhöhtes Anzeigenaufkommen bei derartigen Straftaten geführt haben. Straftaten im Zusammenhang mit dem Tragen des Thor-Steinar-Labels können als Ursache für den Anstieg weitestgehend ausgeschlossen werden. Insgesamt wurden in diesem Themenzusammenhang 56 Fälle (2005) im Bereich PMK - rechts registriert, das entspricht einem Anteil am Gesamtaufkommen der Propagandadelikte rechts von gerade 5 %. Anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass 139 weitere Propagandadelikte (2005) im Zusammenhang mit dem Tragen des Thor-SteinarLabels registriert wurden, die jedoch nach Würdigung der Umstände der Tat und/oder der Motivation des Täters als "Staatsschutzkriminalität ohne explizite politische Motivation" eingestuft wurden. Mitte Oktober 2005 begann eine Serie von Sachbeschädigungen durch das Sprühen von Davidsternen bzw. antisemitischen Äußerungen, die Anfang Dezember abrupt endete. Bislang unbekannte Täter brachten im gesamten Stadtgebiet Davidsterne in diffamierender Weise mittels Farbe an. Aufgrund der unterschiedlichen Begehungsweisen kann von mehreren Tätern oder Tätergruppen ausgegangen werden. Im Monat Oktober 2005 wurden 29 derartige Fälle registriert. Im November 2005 wurden 71 Fälle, im Dezember 2005 nur noch 4 Fälle gemeldet. Als weiterer Grund für den Anstieg der Fallzahlen können die im Zusammenhang mit der am 18.9.2005 stattgefundenden Bundestagswahl registrierten Fälle (33) gesehen werden. 1.3.2 Langfristige Entwicklung der Fallzahlen Fallzahlen PMKrechts 2002 2003 2004 2005 Antisemitisch 229 123 146 272 Fremdenfeindlich 138 150 146 155 Antisemitisch und fremdenfeindlich 26 31 32 28 Sonstige PMK - rechts 555 641 652 1 096 PMK - rechts gesamt 948 945 976 1 551 332 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 1443 der 1551 Fälle (93 %) sind im Jahr 2005 als extremistisch bewertet worden, im Jahr 2004 waren es 922 von 976 (94 %). 1.3.3 Antisemitische Straftaten494 Für das Jahr 2005 waren hier 272 Fälle zu registrieren, von denen 2 als Gewaltdelikte klassifiziert worden sind. Im Jahr 2004 wurden 4 von 146 Fällen als Gewaltdelikte registriert. Ursächlich für den Anstieg der Fallzahlen um 86 % sind die antisemitischen Farbschmierereien in den Monaten Oktober bis Dezember 2005. 1.3.4 Fremdenfeindliche Straftaten Bei den fremdenfeindlich motivierten Straftaten ist ein leichter Anstieg um 9 Fälle (6 %) von 146 Fällen (2004) auf 155 Fälle (2005) zu verzeichnen. Die darin enthaltenen Gewaltdelikte nahmen dagegen von 28 (2004) auf 18 (2005) Fälle ab. Insgesamt sind im Jahr 2005 128 der 155 Fälle (82 %) als extremistisch bewertet worden, im Jahr 2004 waren es 131 von 146 (89 %). 1.3.5 Propagandadelikte Vorgänge Propagandadelikte 2002 2003 2004 2005 Propagandadelikte gesamt 1 202 985 1 021 1 367 Antisemitisch 63 23 36 48 Fremdenfeindlich 68 57 64 64 Antisemitisch und fremdenfeindlich 9 6 7 5 Sonstige PMK - rechts 486 587 548 901 Propagandadelikte rechts gesamt 626 673 655 1 018 Der Anteil der Propagandadelikte rechts an den Propagandadelikten gesamt beträgt 47 %. Während sich die Fallzahlen im Bereich der Hasskriminalität (die bedeutendsten Teilmengen sind hier antisemitische und fremdenfeindliche Straftaten) nur leicht verändert haben, ist im Bereich der sonstigen Propagandadelikte PMK - rechts ein Anstieg um 353 Fälle (64 %) von 548 (2004) auf 901 (2005) zu verzeichnen. Konkrete Ursachen oder Anlässe für diesen Anstieg sind nicht erkennbar. 494 Alle Fallzahlen als rechtsextremistische Kriminalität bewertet. ANHANG 333 1.3.6 Rechts-Links-Auseinandersetzungen 2004 2005 Gewaltdelikte Körperverletzung 12 20 Landfriedensbruch 1 Summe Gewaltdelikte 13 20 Andere Straftaten Beleidigung / Üble Nachrede / Verleumdung 2 1 Diebstahl / Unterschlagung 2 Gewaltdarstellung 1 Hausfriedensbruch 1 Nötigung / Bedrohung 1 4 Öffentliche Aufforderung zu Straftaten 1 Propagandadelikte 12 26 Sachbeschädigung 2 22 Urheberrechtsgesetz 1 Vereinsgesetz 1 Versammlungsgesetz 3 10 Volksverhetzung 3 2 Waffengesetz 1 Summe Andere Straftaten 25 71 Gesamt 38 91 Im Jahr 2005 stiegen die Gewaltdelikte im Bereich der Rechts-LinksAuseinandersetzungen um 7 Fälle (53 %) von 13 Fällen (2004) auf 20 Fälle (2005) an. Konkrete Anhaltspunkte, die auf die Ursache des Anstiegs schließen lassen, sind aus den vorliegenden Sachverhalten, bei denen es sich in allen Fällen um Körperverletzungen zum Nachteil vermeintlich oder erkannter Personen der "linken Szene" handelte, nicht zu erkennen. Auch bei den "Anderen Straftaten" ist eine Steigerung der Fallzahlen von 25 (2004) auf 71 (2005) zu erkennen, wobei die höchste Steigerung bei den Sachbeschädigungen (um 20 Fälle) zu verzeichnen ist. In 15 Fällen wurden Parolen, wie "Good Night left Side" oder "Smash Antifa" gesprüht, in 7 Fällen wurden mittels körperlicher Gewalt Beschädigungen an Pkw oder Gebäuden durchgeführt. 12 der 22 Sachbeschädigungen wurden im Verwaltungsbezirk Lichtenberg begangen, sind jedoch nicht konkret gegen bestimmte Personen oder Objekte gerichtet. 334 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 1.3.7 Besondere Entwicklungen Kameradschaften / Anti-Antifa Die in den Vorjahren aktivsten Kameradschaften "Berliner Alternative Süd-Ost" (BASO) und "Kameradschaft Tor Berlin" wurden aufgrund ihrer verfassungsfeindlichen Ziele mit Verfügung der Senatsverwaltung für Inneres vom 7.3.2005 verboten. Die Angehörigen und das Umfeld der verbotenen Organisationen waren durch die Verbotsmaßnahmen monatelang orientierungslos; öffentlichkeitswirksame Aktionen oder Straftaten wurden kaum bekannt. Erst im Mai/Juni konnten wieder erwähnenswerte relevante Aktivitäten festgestellt werden. Der Fokus dieser nunmehr selbst ernannten sog. "Freien Kräfte" - bestehend aus ehemaligen Angehörigen der "KS Tor" und "BASO" sowie "Kameradschaft Nord-Ost" - richtete sich nun mehr auf die Auseinandersetzung mit den Strafverfolgungsbehörden ("Polizeiwillkür") und dem "politischen Gegner" aus der "linken Szene" (Kampf gegen Antifa = Anti-Antifa). Durch zahlreiche festgestellte gemeinsame politische Aktivitäten von Mitgliedern der beiden verbotenen Kameradschaften, hier insbesondere die der "Kameradschaft Tor", konnte der Verdacht der Fortführung einer verbotenen Vereinigung nachgewiesen werden. Als weitere polizeilich relevante Kraft kann die Sektion Berlin des Brandenburger "Märkischen Heimatschutzes" mit ursprünglich ca. 10 - 15 Personen angesehen werden. Sie ist der NPD nah und aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit den "Freien Kräften" nicht mit diesen gleichzusetzen. Aktionen und Beteiligungen an Demonstrationen/Kundgebungen werden häufig separat vorgenommen. Parteien Das vom Bundesminister für Inneres angestrebte NPD-Verbotsverfahren, das vom Bundesverfassungsgericht am 18. März 2003 eingestellt wurde, ließ die NPD auf Bundesund Landesebene eine politische und gesellschaftliche Stärkung ihrer Partei erhoffen. ANHANG 335 Aufgrund anhaltender interner Streitigkeiten auf regionaler und überregionaler Ebene verlor die Partei jedoch offensichtlich innerhalb der rechtsradikalen Skinheadund Neonaziszene an Akzeptanz. Größere Aktivitäten oder Mobilisierungen der Partei konnten im Berliner Raum für das Jahr 2005, bis auf die traditionelle Demonstration/Kundgebung zum 8. Mai (früher 1. Mai) mit über 3 300 Teilnehmern aus dem Bundesgebiet und dem europäischen Ausland, nicht festgestellt werden. Weitere regional beschränkte Aufzüge/Kundgebungen erfolgten teilweise in Zusammenarbeit mit der JN (Jugendorganisation der NPD) am 9.7. (120 Teilnehmer), 31.8. (300 Teilnehmer) und 20.12.2005 (60 Teilnehmer) in Berlin. Als größeres Ereignis 2005 mit entsprechender Präsenz in der Öffentlichkeit kann die vorgezogene Bundestagswahl angesehen werden. Zum Wahlkampf verteilte die NPD zahlreiche Wahlplakate mit bekannten plakativen Forderungen/Aussagen und richtete eine Vielzahl von NPDInfoständen im Stadtgebiet ein. Dabei wurden auch die schon im Vorfeld bekannte - strafrechtlich nicht relevante - sog. Schulhof-CD der NPD verteilt. Während die proklamierte Zusammenarbeit mit der DVU und "Die Republikaner" in Berlin nicht zu Stande kam, lässt der vor kurzem gewählte neue Landesvorsitzende der NPD (Eckart Bräuniger) aufgrund seiner Herkunft aus der aktionsorientierten, gewaltbereiten rechten Szene die Vermutung zu, dass sich die NPD zukünftig wieder mehr den gewaltbereiten Personenzusammenschlüssen (z. B. "Freie Kräfte") andienen könnte. Rechtsextremistische Musik Das gegen den Sänger und Texter Michael R. verhängte Urteil im Verfahren gegen Mitglieder der Band "Landser" wurde im März 2005 vom BGH bestätigt. Der Haftantritt von R. erfolgte am 11.4.2005 (Haftstrafe: 3 Jahre und 4 Monate). Es ist offensichtlich, dass R., nachdem seine Band "Landser" nicht mehr existiert hatte, eng mit der rechten Berliner Musikband "Spreegeschwader" zusammenarbeitete. Öffentlichkeitswirksame Aktivitäten sind in diesem Zusammenhang in Berlin im 2. Halbjahr 2005 aber nicht festgestellt worden. 336 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 1.3.8 Ermittlungsverfahren Kameradschaft Tor Berlin Beim LKA Berlin wurde im Jahr 2005 unter anderem ein Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Mitglieder der "Kameradschaft Tor Berlin" geführt. Die Ermittlungen wegen Verstoßes gegen das Vereinsgesetz richten sich gegen insgesamt 14 Beschuldigte. Diesbezüglich wurden im Rahmen einer Durchsuchungsaktion des LKA Berlin am 11.1.2006 bei den Tatverdächtigen in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern 20 Objekte mit Erfolg durchsucht. Die Auswertung der beschlagnahmten Asservate dauert an. Ausgangspunkt für die Ermittlungen war der Verdacht, dass die "KTB" trotz der Verbotsverfügung vom 7.3.2005 weiter aktiv sei. Dieser Verdacht konnte bestätigt werden. "Komplex Bügeleisen" Eine rechtsextremistische Jugendgruppe, die sich nach eigenen Aussagen "Deutsche Schläger Gemeinschaft" nennen wollte, verübte in dem Zeitraum von Januar bis Mai 2005 mehrere Straftaten zum Nachteil vermeintlich Pädophiler. Die Opfer wurden gezielt aufgesucht und ausgeraubt. In einem Fall wurde das Opfer großflächig mit einem Bügeleisen verbrannt. Ein weiteres Raubund Körperverletzungsdelikt verübte die Gruppe zum Nachteil zweier Punks. Im Zuge der Ermittlungen konnten 16 Tatverdächtige ermittelt werden, gegen 10 Personen wurde Haftbefehl erlassen. Bei den Durchsuchungen konnte umfangreiches Raubgut aufgefunden werden. Der Prozess läuft derzeit; es werden langjährige Haftstrafen erwartet (bis zu 12 Jahren). Obwohl alle Straftaten von der besagten rechtsextremistischen Jugendgruppe verübt und auch der gesamte Komplex beim Staatsschutz bearbeitet wurde, sind nicht alle als Delikte mit politischer Handlungsmotivation rechts in den KPMD-PMK aufgenommen worden. Vielmehr wurde gerade bei den Straftaten in Zusammenhang mit den vermeintlich Pädophilen von einer anderen Handlungsmotivation (Rache, Selbstjustiz) der Täter ausgegangen. ANHANG 337 Gefährliche Körperverletzung Am 27.4.2005 überfielen vier Heranwachsende im Bezirk Pankow den Probenraum einer vermeintlich alternativen Musikband und gingen unter Einsatz von Schlagstöcken und Pfefferspray mit massiver Gewalt gegen die drei Bandmitglieder vor. Die Geschädigten erlitten zum Teil schwerwiegende Verletzungen im Kopfund Oberkörperbereich. Die Beschuldigten konnten auf der Flucht gestellt und zahlreiche Beweismittel sichergestellt werden. Im Zuge der kriminalpolizeilichen Ermittlungen zeigten sich die Beschuldigten teilgeständig. Das Gericht wertete den Überfall als eine politisch motivierte Straftat. Am 23. Januar 2006 wurden drei der Angeklagten zu Jugendstrafen zwischen 10 und 14 Monaten verurteilt, ein Angeklagter erhielt eine Verwarnung und eine Woche Dauerarrest. Zudem müssen die Verurteilten insgesamt 2500 Euro Schmerzensgeld an die Opfer zahlen. Sämtliche Beschuldigten werden der rechtsextremistischen Gruppierung ANB zugerechnet. 1.3.9 Zusammenarbeit mit dem Land Brandenburg Insbesondere im Rahmen von Veranstaltungen, die rechtsextremistisches Klientel beider Bundesländer betreffen, findet anlassbezogen ein reger Informationsaustausch mit dem LKA Brandenburg statt. Auch in Ermittlungsund Gerichtsverfahren, die aufgrund der Tatverdächtigen oder Geschädigten länderübergreifende Relevanz haben, fließen gemeinsame Erkenntnisse oder strafprozessuale Maßnahmen ein. Eine besonders intensive Zusammenarbeit im Jahr 2005 fand aufgrund von Rechts-Linksauseinandersetzungen in Potsdam von Akteuren beider Szenen aus Berlin und Brandenburg statt. 1.3.10 Prognose Auch zukünftig wird die rechtsextremistische Szene - insbesondere die sog. "Freien Kräfte" und restlichen Kameradschaften - in Berlin öffentlichkeitswirksame Demonstrationen oder Aktionen durchführen und dadurch zahlreiche Gegenveranstaltungen der "linken Szene" verursachen. Im Rahmen des Demonstrationsgeschehens ist erkennbar, dass Berlin immer öfter als Ausweichmöglichkeit für im Umland angemeldete aber dann verbotene oder mit Auflagen versehene Kundgebungen/Demonstrationen ausgewählt wird. 338 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Im Jahr 2005 setzte sich der im Jahr 2004 abzeichnende Trend zunehmender Aggressivität der rechten Klientel fort. Beschränkte sich das aggressive Verhalten im Vorjahr fast nur auf den Bereich von Demonstrationen, so ist dieses Jahr ein gesteigertes Aggressionsverhalten auch im Umgang mit dem so genannten politischen Gegner in Form von Rechts-/Linksauseinandersetzungen erkennbar. Darüber hinaus richten sich die Aggressionen (meist verbaler Art) aufgrund des anhaltenden Verfolgungsdruckes auf die Strafverfolgungsbehörden und hier insbesondere auf Polizeibeamte bei Veranstaltungen der Szene in der Öffentlichkeit. Die NPD hat im Nachhinein in Berlin kaum vom Verbotsverfahren profitiert. Eine engere Zusammenarbeit zwischen Kameradschaften und der Partei ist lediglich beim MHS Sektion Berlin nachweisbar. Zwar hat es im Laufe des Jahres mehrere Beitritte von Personen der rechten Szene gegeben, eine nachhaltige Stärkung der NPD mit entsprechender Präsenz in der Öffentlichkeit ist daraus aber noch nicht abzuleiten. Eine Prognose hinsichtlich des Verhaltens der rechten Szene im Zusammenhang mit der WM 2006 ist schwierig. Grundsätzlich ist ein derartiges Großereignis mit weltweitem medialen Interesse geeignet, eigene (Propaganda-) Interessen wirkungsvoll durchzusetzen. Bisher wurde die WM 2006 nicht thematisiert. ANHANG 339 1.4 Politisch motivierte Kriminalität - links - 1.4.1 Fallzahlen KPMD - PMK für Politisch motivierte Kriminalität - links - 2004 2005 Terrorismus Bildung terroristischer Vereinigung 2 5 495 Summe Terrorismus 2 5496 Gewaltdelikte Brandstiftung 13 12 Körperverletzung 71 63 Landfriedensbruch 65 49 Raub 5 3 Verkehrsgefährdungen 2 4 Widerstandsdelikte 50 21 Summe Gewaltdelikte 206 152 Andere Straftaten Anleitung zu Straftaten 3 Beleidigung / üble Nachrede / Verleumdung 30 39 Belohnung / Billigung v. Straftaten 4 1 Betrug / Untreue 2 Diebstahl / Unterschlagung 1 4 Gewaltdarstellung 2 Hausfriedensbruch 25 15 Missbrauch von Notrufen 1 Nötigung / Bedrohung 11 8 Öffentliche Aufforderung zu Straftaten 27 15 Pressegesetz 2 Propagandadelikte 12 4 Sachbeschädigung 116 186 Sprengstoffgesetz 2 495 Hierbei handelt es sich um Verfahren, die bis beim BKA auf Grund der Deliktzuweisung geführt, aber dem Land Berlin wegen der Tatörtlichkeit zugeordnet werden. Dieses Verfahren wird erst seit 2003 praktiziert. 496 Vgl. Fußnote 489. 340 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 2004 2005 Andere Straftaten (Fortsetzung) Störung d. öffentlichen Friedens 2 2 Störung öffentlicher Betriebe 1 Straftaten gg. ausländische Staaten 3 2 Straftaten gg. Religion / Weltanschauung 1 Straftaten gg. Verfassungsorgane 1 Telekommunikationsgesetz 1 Umweltstraftaten 2 Urheberrechtsgesetz 10 Verletzung amtlicher Bekanntmachungen 1 1 Versammlungsgesetz 203 250 Verunglimpfung d. Staates u. seiner Symbole 3 1 Verunglimpfung v. Verfassungsorganen 1 3 Vortäuschen einer Straftat 1 Volksverhetzung 4 Waffengesetz 2 5 Widerstandsdelikte 3 3 Summe Andere Straftaten 458 558 497 Gesamt 666 715 Das Fallzahlenaufkommen im Phänomenbereich PMK - links ist im Vergleich zum Vorjahr leicht um 49 Fälle (7 %) gestiegen. Im Bereich der Gewaltkriminalität ist ein Rückgang um 54 Fälle zu verzeichnen (minus 26 %). Ursächlich hierfür ist zum einen das geringere Fallzahlenaufkommen anlässlich der Veranstaltungen zur Walpurgisnacht am 30.4.2005 sowie zum Tag der Arbeit am 1.5.2005. Hier konnte ein Rückgang der Gewaltdelikte von 63 auf 33 Fälle (minus 48 %) fest werden. Zum anderen wurden im Zusammenhang mit der Thematik "Bildungspolitik" wurden im Jahr 2004 39 Gewaltdelikte registriert, im Jahr 2005 waren es nur noch 3. Dies entspricht einem Rückgang um 36 Fälle (minus 92 %). Im Bereich der "Anderen Straftaten" ist eine Steigerung um 100 Fälle (22 %) festzustellen. Hauptursache dafür sind die begangenen Straftaten (hauptsächlich Verstoß gegen das Versammlungsgesetz) anlässlich von Gegendemonstrationen zur NPD-Kundgebung am 8.5.2005 (47 Fälle). 497 Vgl. Fußnote 490. ANHANG 341 Im Vorjahr wurden im Zusammenhang mit dem "Tag der Befreiung" keine Straftaten registriert. Weitere Ursachen für den Fallzahlenanstieg sind vermehrt Straftaten im Zusammenhang mit demonstrativen Ereignissen, u. a. die Demonstration "Im Westen nicht Neues - keine Vermietung von Geschäftsräumen an organisierte Neonazis" am 12.8.2005 (45 Fälle) sowie dem "Silvio-Meier-Gedenkmarsch" am 19.11.2005 (30 Fälle, hierunter fallen allein 29 Fälle im Bereich Versammlungsgesetz). Im Bereich der Sachbeschädigungen ist die Steigerung der Fallzahlen u. a. mit begangenen Straftaten im Zusammenhang mit der Räumung des besetzten Hauses Yorckstr. 59 (19 Fälle) sowie vermehrten Übergriffen auf Pelzgeschäfte (7 Fälle) und Sachbeschädigungen zum Nachteil vermeintlicher oder durch die "linke Szene" erkannter Anhänger der rechten Szene (84 Fälle 2005, 50 Fälle 2004) zu erklären. Nach polizeilicher Einschätzung waren 235 der 715 Politisch links motivierten Fälle im Jahr 2005 der extremistischen Kriminalität zuzurechnen (33 %). Für das Jahr 2004 waren 236 der 666 Fälle als extremistisch bewertet worden (35 %). 1.4.2 Delikte um den 1. Mai498 2004 2005 Gewaltdelikte Brandstiftung 2 Körperverletzung 13 12 Landfriedensbruch 25 13 Verkehrsgefährdungen 1 Widerstandsdelikte 24 6 Summe Gewaltdelikte 63 33 Andere Straftaten Beleidigung / Üble Nachrede / Verleumdung 6 8 Nötigung / Bedrohung Öffentliche Aufforderung zu Straftaten 3 1 Sachbeschädigungen 14 18 Sprengstoffgesetz 1 Verletzung amtlicher Bekanntmachungen 1 498 In der polizeilichen Betrachtung handelt es sich um den Zeitraum vom 30.4. bis 2.5. 342 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 2004 2005 Andere Straftaten (Fortsetzung) Versammlungsgesetz 35 22 Waffengesetz 1 Widerstandsdelikte 1 Summe Andere Straftaten 61 50 Gesamt 124 83 Die Walpurgisnacht und der 1. Mai 2005 in Berlin waren durch eine starke Zurückhaltung großer Teile der "linken Szene" hinsichtlich der Planung und Durchführung von Demonstrationen und Veranstaltungen geprägt. Das Interesse der "linken Szene" konzentrierte sich vielmehr auf rechte Demonstrationen am 1. Mai in Leipzig und am 7./8. Mai in Berlin. Wie im letzten Jahr wurden daher die Ausschreitungen in der Walpurgisnacht und in Kreuzberg nicht durch die "linke Szene" dominiert, sondern vielmehr von gewaltgeneigten, alkoholisierten, unpolitischen Personen, die teilweise konträren Szenen angehörten. Am 1. Mai 2005 konnte ein deutlicher Rückgang der Gewaltdelikte um 30 Fälle (47 %) von 63 (2004) auf 33 (2005) vor allem bei den Landfriedensbrüchen und Widerstandsdelikten verzeichnet werden. Auch die "Anderen Straftaten" sind um 11 Fälle (18 %) von 61 (2004) auf 50 (2005) gesunken. Der Rückgang der Fallzahlen kann neben den zahlreichen Bürgerinitiativen, die Straßenfeste wie das "Myfest" organisierten, um der Gewalt entgegenzuwirken, auch auf das erfolgreiche Deeskalationskonzept der Berliner Polizei zurückgeführt werden. ANHANG 343 1.4.3 Links-Rechts-Auseinandersetzungen 2004 2005 Gewaltdelikte Brandstiftung 4 Körperverletzung 21 28 Landfriedensbruch 18 23 Raub 4 3 Verkehrsgefährdungen 1 1 Widerstandsdelikte 5 3 Summe Gewaltdelikte 53 58 Andere Straftaten Beleidigung / Üble Nachrede / Verleumdung 13 13 Belohnung / Billigung von Straftaten 2 Diebstahl / Unterschlagung 1 2 Gewaltdarstellung 2 Hausfriedensbruch 3 Nötigung / Bedrohung 7 6 Öffentliche Aufforderung zu Straftaten 5 7 Pressegesetz 2 Propagandadelikte 7 4 Sachbeschädigung 50 84 Sprengstoffgesetz 1 Störung d. öffentlichen Friedens 1 Urheberrechtsgesetz 5 Verletzung amtlicher Bekanntmachungen 1 Versammlungsgesetz 59 140 Vortäuschen einer Straftat 1 Waffengesetz 1 3 Widerstandsdelikte Summe Andere Straftaten 153 267 Gesamt 206 325 Im Jahr 2005 ist ebenso wie im Jahr 2004 festzustellen, dass in der "linken Szene" - trotz erkennbarer Spaltungstendenzen - die Bekämpfung rechter Aufzüge bzw. rechter Infrastrukturen oberste Priorität einnimmt. In Bezug auf die Gewaltdelikte ist festzustellen, dass nach einem stetigen Anstieg in den vergangenen Jahren auch 2005 eine leichte Zunahme um 5 Fälle (9 %) von 53 (2004) auf 58 (2005) zu verzeichnen ist. Anders verhält es sich im Bereich der "Anderen Straftaten". Hier ist ein starker 344 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Anstieg der Fallzahlen um 114 Fälle (74 %) von 153 (2004) auf 267 (2005) erkennbar. Wie bereits erwähnt gelang es der "linken Szene" im Jahr 2005 unter dem Stichwort "Antifaschismus" umfassend, zu Demonstrationen zu mobilisieren und rechte Demonstrationszüge regelmäßig erheblich zu stören. So wurde eine Gegendemonstration anlässlich des am 8.5.2005 stattfindenden Aufzuges der NPD durch zahlreiche Gegendemonstrationen verhindert. In diesem Zusammenhang kam es zu Verstößen gegen das Versammlungsgesetz (42 Fälle). Auch im Rahmen des Gedenkmarsches "Silvio Meier - Kein Fußbreit den Faschisten" kam es gegenüber dem Jahr 2004 zu zahlreichen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz (29 Fälle). Dieser Anstieg ist zum größten Teil auf eine konkretisierte rechtliche Auslegung der Staatsanwaltschaft hinsichtlich der Strafbarkeit des Tragens von Stahlkappenschuhen bei Versammlungen zu sehen ("Schutzbewaffnung" im Sinne des Versammlungsgesetzes). Als Ursache für den quantitativen Anstieg der gewalttätigen LinksRechts-Auseinandersetzungen in den letzten beiden Jahren muss das vermehrte Aufkommen rechter Versammlungen (10 im Jahr 2004, 20 im Jahr 2005) sowie das aggressive Auftreten der rechten Szene bei zunehmender Gewaltbereitschaft in Betracht gezogen werden, was wiederum die Mobilisierungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft der Antifa-Szene begünstigt. Die hier genannten Fallzahlen sind auch ursächlich für den Gesamtanstieg der Fallzahlen im Bereich Versammlungsgesetz PMK links um 47 Fälle (23 %) von 203 (2004) auf 250 (2005). Neben den Verstößen gegen das Versammlungsgesetz wurden auch in diesem Jahr zahlreiche Sachbeschädigungen zum Nachteil vermeintlich oder durch die Szene erkannter "rechter" Personen verübt, indem die Wände der Wohnhäuser oder deren Pkw beschmiert oder beschädigt wurden. In diesem Zusammenhang ist ein Anstieg der Fallzahlen um 34 Fälle (68 %) von 50 (2004) auf 84 (2005) zu verzeichnen. 1.4.4 Schwerpunkte Yorkstraße 59 Hauptsächlich konzentrierten sich die Aktivitäten zu dieser Thematik 2005 auf zahlreiche Protestaktionen für den Erhalt der Yorckstr. 59. Das seit 1989 bestehende Projekt mit mehreren dort ansässigen Initiativen ANHANG 345 und Gruppen, die sich in etlichen Bereichen der "linken Szene" engagierten, hatte aufgrund seiner Bedeutung für die linke Subkultur eine Art Kultstatus inne. Neben einer Vielzahl von weitestgehend friedlich verlaufenden Demonstrationen und Kundgebungen kam es bereits im Vorfeld der am 6.6.2005 erfolgten Räumung zu Straftaten, die sich zumeist gegen die zuständige Hausverwaltung und die Büroanschrift des Hausbesitzers richteten. In diesem thematischen Zusammenhang kam es auch zu zwei Brandanschlägen: * Am 21.5.2005 kam es zu einem Brandanschlag auf einen LKW. Der Besitzer ist Eigentümer eines 1996 geräumten Objektes. Zu der Tat bekannten sich "autonome gruppen". * Am 2.6.2005 wurde ein weiterer Brandanschlag auf einen LKW verübt, der als Fahrzeug eines an der Räumung des Szeneobjektes Rigaer Str. 94 beteiligten Umzugsunternehmens zu erkennen war. Hierzu bekannten sich "mudy fiftynine, militante Unterstützer/Innen der Yorck 59". Nach der ebenfalls von Straftaten begleiteten Räumung besetzten die Bewohner der Yorckstr. 59 wenige Tage später einen Flügel des Künstlerhauses "Bethanien", wo sie sich bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt mit Duldung des Bezirksamtes aufhalten. Reformprojekt "Hartz IV" / Proteste gegen den "Sozialabbau" Während die Reformen um Hartz IV im Jahr 2004 in breiten Schichten der Bevölkerung Proteste auslösten, ebbten die Proteste im Jahr 2005 stark ab. Durch die MLPD wurde zwar regelmäßig die sog. "Montagsdemonstration" weitergeführt, die Teilnehmerzahlen bewegten sich aber meist unter 100 Teilnehmern. Die zuletzt durchgeführte Großdemonstration am 5.11.2005 mit etwa 4 000 Teilnehmern verlief ebenfalls friedlich. Die Aktion "Agenturschluss" am 3.1.2005 wurde unter direktem Protest an und in Arbeitsagenturen durchgeführt. Hier kam es zu einigen Straftaten. 346 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 1.4.5 Besondere Entwicklungen Die "Militante Gruppe (mg)" Die "Militante Gruppe" trat auch im Jahr 2005 in Erscheinung und bekannte sich zu folgenden Anschlägen: * Brandanschlag auf eine im Rohbau befindliche LIDL-Filiale in der Nacht zum 10.1.2005 in 12157 Berlin, Vorarlberger Damm 24-26. * Brandanschlag auf den Pkw eines Polizeibeamten des A 13 in der Nacht zum 29.4.2005 in 13407 Berlin, Alt-Reinickendorf 29. * Brandanschlag auf das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in der Nacht zum 9.11.2005 in 12163 Berlin, Haderslebener Str. 4. Auf dieses Institut war bereits in der Nacht zum 1.1.2004 ein Brandanschlag verübt worden, zu der sich ebenfalls die "mg" bekannte. 1.4.6 Neue Gruppierungen Antifa Bündnis Südost (ABSO) Dieses Bündnis setzt sich aus den Gruppierungen "Antifaschistischer Aufstand Köpenick", "Antikapitalistische Aktion Berlin" und "Treptower Antifa Gruppe" zusammen. Der Schwerpunkt der Aktivitäten richtet sich gegen rechte Strukturen im Südosten Berlins. 1.4.7 Ermittlungsverfahren Am 1.6.2005 kam es im Zusammenhang mit der oben erwähnten Thematik "Links-Rechts-Auseinandersetzungen" zu einem besonders schweren Landfriedensbruch, gefährlicher Körperverletzung und Bedrohung. Auf ihrer Rückreise von einer Gerichtsverhandlung gegen einen Angehörigen der rechten Szene in Potsdam wurden sieben Personen der rechtsextremistischen Szene Berlin auf dem Ostbahnhof von fünfzehn teilweise vermummten Personen der linksextremistischen Szene angegriffen und zum Teil erheblich verletzt. Die Ermittlungen führten zur Namhaftmachung von derzeit insgesamt acht tatbeteiligten Personen. ANHANG 347 1.4.8 Zusammenarbeit mit dem Land Brandenburg / Länderübergreifende Kriminalitätsphänomene Im Jahr 2005 war eine große Beteiligung von Angehörigen der "linken Szene" aus Berlin an zahlreichen demonstrativen Aktionen in Brandenburg feststellbar. So beteiligten sich zahlreiche Personen unter anderem an mehreren Antifa-Demonstrationen, an Demonstrationen gegen Naziläden sowie an Demonstrationen anlässlich des Volkstrauertages in Halbe. Eine entsprechende Zusammenarbeit und eine zeitgerechte Abstimmung im Vorfeld der Demonstrationen sowie Auflieferung relevanter Erkenntnisse war gegeben. 1.4.9 Prognose Im Jahr 2005 konzentrierte sich die "linke Szene" hauptsächlich auf die Betätigungsfelder Antifaschismus/Antirassismus und Sozialabbau, wobei oftmals eine Verschmelzung mit anderen Themenbereichen, wie beispielsweise mit der Problematik um den Aufbau und Erhalt linker Projekte, festzustellen war. Die zunehmende Gewaltbereitschaft bei den Links-Rechts-Auseinandersetzungen und die gezielte Aufklärung von Personen aus dem rechten Spektrum machen deutlich, dass auch im kommenden Jahr ein Hauptaugenmerk der "linken Szene" auf der Bekämpfung rechter Strukturen liegen wird. Daneben dürften Themen wie Sozialabbau, Aufbau und Erhalt linker Projekte bei Thematisierung in der Öffentlichkeit und weiteren Kürzungen im sozialen Bereich auch wieder einen höheren Mobilisierungsfaktor erzielen. In Hinblick auf die bevorstehende Fußball-WM 2006 in Deutschland ist seitens der "linken Szene" auch in anderen Begründungszusammenhängen mit verschiedenen Aktionsformen bis hin zu Straftaten zu rechnen. Die zu erwartenden Aktionen werden sich nicht gegen die Weltmeisterschaft an sich richten. Die "linke Szene" wird die WM zum medialen Transport ihrer Proteste zu Themen wie z. B. Sozialabbau benutzen und ihre Aktionen vornehmlich gegen Sponsoren, aber auch Institutionen richten, die sich mit der WM befassen. Neben den Hauptbetätigungsfeldern der "linken Szene" können durch aktuelle politische Entwicklungen auch Bereiche wie Kernenergie, 348 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Gentechnik, Rüstungspolitik, Kriege und Globalisierung wieder an Bedeutung gewinnen. 1.5 Politisch motivierte Ausländerkriminalität 1.5.1 Fallzahlen KPMD - PMK für Politisch motivierte Ausländerkriminalität 2004 2005 Terrorismus Bildung terroristischer Vereinigung 2 4 Summe Terrorismus 2 4499 Gewaltdelikte Brandstiftung 1 Erpressung 2 Freiheitsberaubung 1 Körperverletzung 3 6 Landfriedensbruch 2 1 Raub 1 Verkehrsgefährdungen 1 Widerstandsdelikte 1 Summe Gewaltdelikte 10 9 Andere Straftaten Asylverfahrensgesetz 1 Aufenthaltsgesetz 2 Begünstigung / Hehlerei 1 5 Beleidigung / üble Nachrede / 7 6 Verleumdung Betrug / Untreue 2 Falschaussage / Meineid 1 Hausfriedensbruch 1 Nichtanzeige geplanter Straftaten 1 Nötigung / Bedrohung 5 3 Öffentliche Aufforderung zu Straftaten 1 1 Propagandadelikte 6 5 Sachbeschädigung 28 8 499 Im Jahr 2004 sind beide Verfahren vom BKA bearbeitet worden. Im Jahr 2005 wurden 2 der 4 Verfahren von Berlin bearbeitet. Alle sind aber aufgrund der Tatörtlichkeit dem Land Berlin zugeordnet. Dieses Verfahren wird erst seit 2003 praktiziert. ANHANG 349 2004 2005 Andere Straftaten (Fortsetzung) Störung d. öffentlichen Friedens 5 2 Straftaten gg. ausländische Staaten 3 1 Vereinsgesetz 21 8 Versammlungsgesetz 9 5 Verunglimpfung des Staates und seiner 2 Symbole Volksverhetzung 12 10 Waffengesetz 1 1 Summe Andere Straftaten 100 64 Gesamt 112500 77 Der Rückgang der Fallzahlen ist auf eine nur in den ersten Monaten des Jahres 2004 durchgeführte Kampagne der Kongra Gel (vormals PKK) zurückzuführen, die überwiegend von der Jugendorganisation TECAK getragen wurde und sich im Jahr 2005 nicht wiederholte. Aus Anlass des 5. Jahrestages der Festnahme Öcalans sollte auf das Schicksal und den Gesundheitszustand Öcalans aufmerksam gemacht werden. Neben friedlichen Aktionen (Demonstrationen, Übergabe von Petitionen) wurde durch TECAK-Vertreter ausdrücklich zu anderen Aktionen mit Themenbezug aufgerufen, was zunächst zu einer großen Zahl von Sachbeschädigungen, Farbschmierereien, Verstößen gegen das Vereinsgesetz, Waffengesetz und Gefährlichen Eingriffen in den Straßenverkehr führte. Die Aktion endete im Frühjahr 2004. In der Folge kam es schon 2004 und auch in 2005 wieder zu einem deutlichen Rückgang der Fallzahlen. Im Jahre 2005 wurden keine öffentlichkeitswirksamen organisierten Aktionen der Kongra Gel durchgeführt, gleichwohl kam es in zeitlicher Nähe zum Newroz-Fest (21.3.2005) zu vereinzelten Aktionen (wie oben beschrieben) durch TECAK-Anhänger, die aber in Anzahl und Intensität mit dem Geschehen im Vorjahr nicht vergleichbar waren. Nach polizeilicher Einschätzung waren 56 der 77 Fälle (73 %) der extremistischen Kriminalität zuzurechnen. Für das Jahr 2004 waren 85 von 112 Fällen (76 %) als extremistisch bewertet worden. 500 Vgl. Fußnote 490. 350 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 1.5.2 Ausländerextremismus Besondere Entwicklungen Das Jahr 2005 war dadurch gekennzeichnet, dass alle bisher auffälligen ausländischen Organisationen nicht öffentlichkeitswirksam agiert haben. Dies gilt besonders für die (verbotene) Kongra Gel und iranische Oppositionsgruppen. Dabei ist insbesondere bei Demonstrationen der Trend erkennbar, sich weitestgehend an gesetzliche Vorgaben zu halten und der Polizei wenig Grund zum Einschreiten zu geben. Bei der Kongra Gel dürfte die Ursache dafür zum Einen in der internen Anordnung liegen, sich unauffällig zu verhalten, zum Anderen dürfte auch die Tätigkeitseinschränkung durch das Verbot sowie die innere Zerstrittenheit dazu beitragen. Den iranischen Oppositionsgruppen dürfte lediglich ein passender Anlass (Staatsbesuch o. ä) für spektakuläre und demonstrative Aktionen gefehlt haben. Ermittlungsverfahren Am 24.5.2005 kam es durch einen unbekannt gebliebenen Täter zu einem Brandanschlag auf das Botschaftsgebäude der Arabischen Republik Syrien in 10787 Berlin-Mitte (Tiergarten), Rauchstr. 25. Dabei wurden vier sog. Molotow-Cocktails verwendet, die zum Teil zwar Fensterscheiben durchschlugen, jedoch keine Schäden im Inneren des Gebäudes anrichteten. Das Feuer erlosch von selbst. Personen im Gebäude wurden nicht verletzt. Obwohl keine Tatbekennung einging, wurde als Hintergrund das Verschwinden bzw. die durch Syrien offiziell nicht bestätigte Inhaftierung des regimekritisch eingestellten kurdischen Scheichs Maschuk Al Khznawi vermutet. Eine auf richterlichen Beschluss angeordnete Durchsuchung bei einem anonym angezeigten gebürtigen Syrer verlief ohne Erfolg. Das Ermittlungsverfahren wurde ohne Konkretisierung des Tatverdachtes durch die Justiz eingestellt. Zusammenarbeit mit dem Land Brandenburg / Länderübergreifende Kriminalitäts-phänomene Wie bereits in den vergangenen Jahren anhand von Kongra-Gel Aktivitäten festgestellt wurde, bilden der Raum Berlin / Brandenburg und teilweise auch die angrenzenden Bundesländer einen einheitlichen Aktionsraum (Region Nord). Dies dürfte auch darin begründet sein, dass in den ANHANG 351 angrenzenden Flächenländern nach wie vor nur ein relativ geringer Anteil an Ausländern wohnhaft ist und somit eigene Strukturen nicht erfolgversprechend erscheinen. Insofern spielen staatliche Verwaltungsgrenzen keine Rolle. Prognose Die Aktivitäten türkischer / kurdischer Organisationen (incl. Kongra Gel) in Berlin dürften öffentlichkeitswirksam auf niedrigem Niveau fortgeführt werden. Dies ist neben dem erkennbaren Kurswechsel der Türkei (gemäßigter Umgang mit der Kurdenproblematik) sicher auch dem propagierten Ziel der Organisationen geschuldet, mit legalen politischen Mitteln ihre Anliegen zu vertreten. Ebenso ist ein angepasstes Verhalten der iranischen Oppositionsgruppen zu erwarten, zumindest solange keine offiziellen Vertreter des Irans zu öffentlichkeitswirksamen Terminen in Deutschland weilen. Das gemäßigte Auftreten dieser Organisationen sollte jedoch nicht über die vorhandene Handlungsfähigkeit hinwegtäuschen. Es besteht jederzeit die Möglichkeit, dass neue oder sich verschärfende internationale oder auch nationale Konflikte zu friedlichen und auch unfriedlichen Aktionen der hier lebenden betroffenen Personen führen können. Dazu bietet insbesondere die bevorstehende WM 2006 eine medienwirksame Plattform. Aktivitäten gegnerischer Nachrichtendienste 2005 wurden erneut Aktivitäten mit Berlinbezug von gegnerischen Nachrichtendiensten aus der Nahostregion festgestellt und im LKA Berlin bearbeitet. Vorrangig zielten diese Aktivitäten auf regimekritische Strukturen und Gruppierungen sowie deren Einwirkungsmöglichkeiten auf die jeweiligen Herkunftsländer ab. 1.5.3 Islamistischer Terrorismus Besondere Entwicklungen Für den Bereich des Islamistischen Extremismus/Terrorismus ist eine nach außen hin starke Abschottung, einhergehend mit wenig öffentlichen Bekundungen, feststellbar. Hintergrund hierfür könnte einerseits der inzwischen durch verschiedene bundesweite, aber auch weltweite Ermittlungserfolge eingetretene Verfolgungsdruck sein. Andererseits gibt das neu in Kraft getretene Aufent- 352 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 haltsgesetz auch den Ausländerbehörden zahlreiche Möglichkeiten an die Hand, nicht nur gegen verurteilte Straftäter, sondern auch gegen Personen aufenthaltsbeendende Maßnahmen einzuleiten, die bspw. Zielsetzungen terroristischer Organisationen unterstützen. Dass sich in den letzten Jahren islamistische Strukturen in Berlin gebildet haben, konnte durch zahlreiche, nicht dem KPMD unterliegende gefahrenabwehrende Maßnahmen belegt werden. Nicht zuletzt die Auswertung der vom BKA geführten Ermittlungen in diesem Deliktsbereich bestätigen diese Aussage: Vor der 1. Strafkammer des Kammergerichts Berlin wurde in der Zeit vom 4.5.2004 bis 6.4.2005 die Hauptverhandlung gegen den Angeklagten Ihsen G. wegen des Verdachts der versuchten Gründung einer terroristischen Vereinigung und anderer Straftaten geführt. Nach der Anklageschrift des GBA soll G. u. a. nach Rückkehr in Deutschland beabsichtigt haben Freunde und Bekannte aus dem Umfeld einer Berliner Moschee als Vereinigungsmitglieder zu gewinnen. G. wurde am 6.4.2005 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten wegen unerlaubter Einreise in Tateinheit mit unerlaubtem Aufenthalt im Bundesgebiet, unrichtigen Angaben gegenüber der Ausländerbehörde und Urkundenfälschung sowie unerlaubten Besitzes einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe und Steuerhinterziehung verurteilt. Der Senat konnte bezüglich des Hauptvorwurfes der versuchten Gründung einer terroristischen Vereinigung nicht überzeugt werden. Aufgrund der Beweislage habe für den Senat zwar kein Zweifel bestanden, dass G. einen Sprengstoffanschlag verüben wollte, nicht eindeutig belegt sei dagegen gewesen, dass der Angeklagte eine Vereinigung zur Durchführung dieser Aktionen habe gründen wollen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Auch bereits im Jahr 2003 verdichteten sich Informationen der Sicherheitsbehörden dahingehend, dass sich in Deutschland Mitglieder und Sympathisanten der Ansar al Islam (AAI) aufhalten und logistische sowie finanzielle Unterstützung für die Organisation und den bewaffneten Kampf im Nordirak leisten sollen. Im Rahmen eines beim Bundeskriminalamt geführten Strukturermittlungsverfahrens konnten Hinweise erlangt werden, dass ein möglicher Anschlag auf den irakischen Ministerpräsidenten Dr. ALLAWI während seines Aufenthaltes in Berlin im Dezember 2004 geplant ist. Als Mitglieder der vermutlichen Berliner Zelle wurde seitens des BKA ein Ermittlungsverfahren wegen ANHANG 353 des Verdachts der Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung gegen Rafik M. Y. sowie Mohamad F. eingeleitet. M. Y. wurde verhaftet und wartet seit dem auf den für dieses Jahr erwarteten Prozess. Ermittlungsverfahren gegen einen Beschuldigten wegen Bildung Krimineller Vereinigung mit möglichem islamistischem Hintergrund Am 27.12.2004 wurden anlässlich eines Polizeieinsatzes in der Wohnung des Beschuldigten Hinweise gefunden, die auf eine mögliche Anschlagsvorbereitung 2005 in Portugal hindeuteten. Im Rahmen von hier geführten umfangreichen Ermittlungen zum Sachverhalt konnten mehrere Kontakte des Beschuldigten zu Personen des islamistischen Spektrums festgestellt werden. Das ursprüngliche Verfahren wurde im Oktober 2005 durch die Staatsanwaltschaft Berlin eingestellt. Ausgehend von den Ermittlungen zu dem Komplex wurden mehrere Verfahren wegen Verstoßes gegen das Ausländergesetz, Urkundenfälschung und mittelbarer Falschbeurkundung eingeleitet, in deren Ausgang drei männliche Nordafrikaner jeweils zu Haftstrafen auf Bewährung verurteilt wurden. Gegen alle drei Personen wurde eine Ausweisungsverfügung erlassen, zwei Personen wurden bereits in ihre Heimatländer abgeschoben. Ermittlungsverfahren i. Z. m. der verbotenen Hisb ut-Tahrir 2005 wurden auch drei Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Mitglieder der vom BMI am 10.1.2003 mit einem Betätigungsverbot belegten Hizb ut-Tahrir wegen Verdachts des Verstoßes gegen das Vereinsgesetz geführt. Die Beschuldigten stehen im Verdacht, trotz inzwischen rechtskräftigen Verbots, die Ziele der Organisation, die u. a. das Existenzrechts Israels nicht anerkennt, aktiv weiter zu verfolgen. Die Auswertung der anlässlich der durchgeführten Durchsuchungen beschlagnahmten Beweismittel wurde inzwischen abgeschlossen, die Verfahren der Staatsanwaltschaft Berlin übergeben. 354 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Ermittlungen bezüglich möglicher islamistischer Hintergründe im Mordfall S. Am 7.2.2005 wurde Hatun S. in Berlin Tempelhof ermordet. Z. Z. findet vor dem Landgericht Berlin der Prozess gegen ihre drei tatverdächtigen Brüder statt. Medienberichten zufolge, soll der Angeklagte Mutlu S. vor der Tat die Konformität der Tötung der eigenen Schwester mit dem Islam von einem bislang unbekannt gebliebenen islamischen Glaubensgelehrten "seiner" Moschee eingeholt haben. Daher bestand der Anfangsverdacht der "Nichtanzeige einer geplanten Straftat" gegen Unbekannt. Bei den Ermittlungen wurde festgestellt, dass Mutlu S. und andere Mitglieder der Familie S. tatsächlich Kontakte zu islamistischen Personen und Gruppierungen (Kaplan-Verband und Hizb-ut Tahrir) hatten. Dabei bezogen sie Publikationen der o. a. Gruppierungen, nahmen an Veranstaltungen dieser Gruppierungen teil und vertraten die Ideologien dieser Gruppierungen in der Öffentlichkeit (durch Verteilen von Flugblättern). Die Ermittlungen führten aber nicht zur Namhaftmachung der/des Täter/s. Die gewonnenen Erkenntnisse flossen allerdings in den Mordprozess ein und sind Gegenstand der Beurteilung der Motivlage der Angeklagten. Ein Urteil wird im Frühjahr 2006 erwartet. Zusammenarbeit mit dem Land Brandenburg / Länderübergreifende Kriminalitätsphänomene Für den Bereich des Islamistischen Extremismus/Terrorismus ergaben sich in 2005 keine sichtbaren länderübergreifenden Kriminalitätsphänomene. Gleichwohl kann aufgrund des weltweit agierenden Terrornetzwerks davon ausgegangen werden, dass solche Bezüge nach Brandenburg im Einzelfall existieren. Berlin mit seinem hohem Ausländeranteil als Schmelztiegel verschiedenster Nationen und Kulturen dürfte dabei - auch aufgrund der Anonymität, die eine Großstadt bietet - Schwerpunkt dieses Kriminalitätsphänomens sein. Prognose Bezüglich des Phänomens "Islamistischer Terrorismus" ist festzustellen, dass weltweit nicht von einer nachhaltigen Schwächung oder gar Zerschlagung der Al Qaida und der Netzwerke arabischer Mudjahedin aus- ANHANG 355 gegangen werden kann. Wie die Entwicklung, insbesondere im Irak, zeigt, wird inzwischen jeder erdenkliche Anlass durch Islamisten instrumentalisiert, um gegen die "westliche Ideologie" vorzugehen. Daher ist eine kurzfristige Lageentspannung nicht zu erwarten. Auch die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in internationale Missionen in Afghanistan und anderen islamisch geprägten Ländern kann durch Terroristen als Rechtfertigung für Angriffe auf Ziele hier im Land, auch in Berlin mit seiner Symbolwirkung als Bundeshauptstadt, herangezogen werden. Es ist davon auszugehen, dass extremistisch islamistische Gruppierungen und Einzelpersonen in der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlins präsent sind und versuchen, ihre eigenen netzwerkartigen Strukturen aufzubauen und zu erhalten. 356 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 2 GESETZESTEXTE SS3 Gesetz über den Dienstkräfte Verfassungsschutz in Berlin (1) Die Dienstkräfte der Verfassungsschutzab(Verfassungsschutzgesetz Berlin - VSG Bln) in der teilung haben neben den allgemeinen Pflichten die Fassung vom 25. Juni 2001, geändert durch Art. V sich aus dem Wesen des Verfassungsschutzes und des Gesetzes vom 30. Juli 2001 (GVBl. S. 305), ihrer dienstlichen Stellung ergebenden besonderen zuletzt geändert durch Art. II des Gesetzes vom Pflichten. Sie haben sich jederzeit für den Schutz 5. Dezember 2003 (GVBl. 571) der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes und der Verfassung von Berlin einzusetzen. Die Funktion des Leiters der für ERSTER ABSCHNITT den Verfassungsschutz zuständigen Abteilung soll nur einer Person übertragen werden, die die Aufgaben und Befugnisse der Befähigung zum Richteramt besitzt. Verfassungsschutzbehörde (2) Der Senat von Berlin kann jährlich bestimmen, SS1 in welchem Umfang Dienstkräften der VerfassungsZweck des Verfassungsschutzes schutzabteilung freie, frei werdende und neu geschaffene Stellen in der Hauptverwaltung für Der Verfassungsschutz dient dem Schutz der freiZwecke der Personalentwicklung vorbehalten heitlichen demokratischen Grundordnung, des Bewerden. standes und der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Länder. SS4 Zusammenarbeit SS2 Organisation (1) Die Verfassungsschutzbehörde ist verpflichtet, mit Bund und Ländern in Angelegenheiten des (1) Verfassungsschutzbehörde ist die SenatsverVerfassungsschutzes zusammenzuarbeiten. Die Zuwaltung für Inneres. Die für den Verfassungsschutz sammenarbeit besteht insbesondere in gegenseitiger zuständige Abteilung nimmt ihre Aufgaben gesonUnterstützung und Information sowie in der Unterdert von der für die Polizei zuständigen Abteilung haltung gemeinsamer Einrichtungen (wie z. B. das wahr. nachrichtendienstliche Informationssystem des (2) Die für den Verfassungsschutz zuständige Bundes und der Länder [NADIS] und die Schule Abteilung ist datenverarbeitende Stelle im Sinne für Verfassungsschutz). des SS 4 Abs. 3 Nr. 1 des Berliner Datenschutzge(2) Verfassungsschutzbehörden anderer Länder setzes in der Fassung vom 17. Dezember 1990 dürfen im Geltungsbereich dieses Gesetzes nur im (GVBl. 1991 S. 16, 54), das zuletzt durch Artikel Einvernehmen, das Bundesamt für VerfassungsIX des Gesetzes vom 30. November 2000 (GVBl. schutz nur im Benehmen mit der VerfassungsS. 495) geändert worden ist. Die Übermittlung an schutzbehörde tätig werden. andere Organisationseinheiten der Senatsverwaltung für Inneres ist ungeachtet der fachund SS5 dienstaufsichtlichen Befugnisse zulässig, wenn dies Aufgaben der Verfassungsschutzbehörde für die Aufgabenerfüllung nach SS 5 Abs. 1 erforderlich ist. (1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die Aufgabe, den Senat und das Abgeordnetenhaus von (3) Bei der Leitung der Senatsverwaltung für InneBerlin, andere zuständige staatliche Stellen und die res wird eine Revision eingerichtet. Die Revision ist Öffentlichkeit über Gefahren für die freiheitliche unbeschadet ihrer Verantwortung gegenüber dem demokratische Grundordnung, den Bestand und die Senator im Übrigen in der Durchführung von Sicherheit des Bundes und der Länder zu unterPrüfungen und der Beurteilung von Prüfungsvorrichten. Dadurch soll es den staatlichen Stellen insgängen unabhängig. besondere ermöglicht werden, rechtzeitig die erfor- ANHANG 357 derlichen Maßnahmen zur Abwehr dieser Gefahren Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz vom zu ergreifen. 2. März 1998 (GVBl. S. 26) geregelt. (2) Zur Erfüllung dieser Aufgaben sammelt und SS6 wertet die Verfassungsschutzbehörde InformatioBegriffsbestimmungen nen, insbesondere sachund personenbezogene Daten, Auskünfte, Nachrichten und Unterlagen aus (1) Bestrebungen im Sinne des SS 5 Abs. 2 Nr. 1 über und 3 sind politisch motivierte, zielund zweck1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche degerichtete Verhaltensweisen oder Betätigungen von mokratische Grundordnung, den Bestand oder die Organisationen, Personenzusammenschlüssen ohne Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet feste hierarchische Organisationsstrukturen sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der (unorganisierte Gruppen) oder Einzelpersonen Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes gegen die in SS 5 Abs. 2 bezeichneten Schutzgüter. oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziele Für eine Organisation oder eine unorganisierte haben, Gruppe handelt, wer sie in ihren Bestrebungen nachdrücklich unterstützt. Verhaltensweisen von 2. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Einzelpersonen, die nicht in einer oder für eine Tätigkeiten im Geltungsbereich des Grundgesetzes Organisation oder in einer oder für eine unfür eine fremde Macht, organisierte Gruppe handeln, sind Bestrebungen im 3. Bestrebungen im Geltungsbereich des GrundSinne dieses Gesetzes, wenn sie auf Anwendung gesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder von Gewalt gerichtet sind oder aufgrund ihrer darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärWirkungsweise geeignet sind, ein Schutzgut dieses tige Belange der Bundesrepublik Deutschland geGesetzes erheblich zu beschädigen. fährden oder gegen das friedliche Zusammenleben der Völker (Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes) (2) Bestrebungen im Sinne dieses Gesetzes, die gerichtet sind. gegen die freiheitliche demokratische Grund(3) Die Verfassungsschutzbehörde wirkt auf Ersuordnung gerichtet sind, sind solche, die auf die chen der zuständigen öffentlichen Stellen mit Beseitigung oder Außerkraftsetzung wesentlicher 1. bei der Sicherheitsüberprüfung von Personen, Verfassungsgrundsätze abzielen. Hierzu gehören: denen im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbe1. das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in dürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse Wahlen und Abstimmungen und durch besondere anvertraut werden, die Zugang dazu erhalten sollen Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Geoder ihn sich verschaffen können, walt und der Rechtsprechung auszuüben und die 2. bei der Sicherheitsüberprüfung von Personen, Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, die an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebensfreier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, oder verteidigungswichtigen Einrichtungen 2. die Bindung der Gesetzgebung an die verbeschäftigt sind oder werden sollen, fassungsmäßige Ordnung und die Bindung der voll3. bei technischen Sicherheitsmaßnahmen zum ziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Schutz von im öffentlichen Interesse geheimhalGesetz und Recht, tungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Er3. das Recht auf Bildung und Ausübung einer kenntnissen gegen die Kenntnisnahme durch Unbeparlamentarischen Opposition, fugte, 4. die Ablösbarkeit der Regierung und ihre 4. bei aufenthaltsrechtlichen Verfahren, EinbürVerantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, gerungsverfahren, jagdund waffenrechtlichen Ver5. die Unabhängigkeit der Gerichte, fahren sowie bei sonstigen gesetzlich vorgeschrie6. der Ausschluss jeder Gewaltund Willkürherrbenen Überprüfungen; die Mitwirkung ist nur schaft und zulässig, wenn diese zum Schutz der freiheitlichen 7. die im Grundgesetz konkretisierten Menschendemokratischen Grundordnung oder für Zwecke der rechte. öffentlichen Sicherheit erforderlich ist; Näheres wird in einer Verwaltungsvorschrift des Senators (3) Im Sinne dieses Gesetzes sind für Inneres im Benehmen mit dem Berliner Be1. Bestrebungen gegen den Bestand des Bundes auftragten für den Datenschutz und für das Recht oder eines Landes solche, die darauf gerichtet sind, auf Akteneinsicht bestimmt. die Freiheit des Bundes oder eines Landes von Die Befugnisse der Verfassungsschutzbehörde bei fremder Herrschaft aufzuheben, ihre staatliche Einder Mitwirkung nach Satz 1 Nr. 1 und 2 sind im heit zu beseitigen oder ein zu ihm gehörendes Gebiet abzutrennen, 358 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 2. Bestrebungen gegen die Sicherheit des Bundes körperlichen Zwanges gegen Personen oder eine oder eines Landes solche, die darauf gerichtet sind, nicht unerhebliche Einwirkung auf Sachen. den Bund, die Länder oder deren Einrichtungen in ihrer Funktionsfähigkeit erheblich zu SS8 beeinträchtigen. Befugnisse der Verfassungsschutzbehörde (4) Auswärtige Belange im Sinne des SS 5 Abs. 2 (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf die zur Nr. 3 werden nur gefährdet, wenn innerhalb des Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlichen InformatioGeltungsbereichs des Grundgesetzes Gewalt ausgenen einschließlich personenbezogener Daten verübt oder durch Handlungen vorbereitet wird und arbeiten und bei Behörden, sonstigen öffentlichen diese sich gegen die politische Ordnung oder EinStellen sowie nicht öffentlichen Stellen, insbesonrichtungen anderer Staaten richten. dere bei Privatpersonen, erheben, soweit die Bestimmungen dieses Gesetzes dies zulassen. Ein SS7 Ersuchen der Verfassungsschutzbehörde um ÜberVoraussetzung und Rahmen für die Tätigkeit der mittlung personenbezogener Daten darf nur diejeVerfassungsschutzbehörde nigen personenbezogenen Daten enthalten, die für die Erteilung der Auskunft unerlässlich sind. (1) Soweit dieses Gesetz nichts anderes bestimmt, Schutzwürdige Interessen des Betroffenen dürfen darf die Verfassungsschutzbehörde bei der Wahrnur im unvermeidbaren Umfang beeinträchtigt nehmung ihrer Aufgaben nach SS 5 Abs. 2 nur tätig werden. werden, wenn im Einzelfall tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht der dort genannten Bestre(2) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur heimbungen oder Tätigkeiten vorliegen. lichen Informationsbeschaffung, insbesondere zur Erhebung personenbezogener Daten, nur in begrün(2) Die Verfassungsschutzbehörde darf für die deten Fällen folgende nachrichtendienstliche Mittel Prüfung, ob die Voraussetzungen des Absatzes 1 anwenden: vorliegen, die dazu erforderlichen personenbezoge1. Einsatz von Vertrauensleuten, sonstigen geheinen Daten aus allgemein zugänglichen Quellen men Informanten, zum Zweck der Spionageabwehr erheben, speichern und nutzen. Eine Speicherung überworbenen Agenten, Gewährspersonen und dieser Daten im nachrichtendienstlichen Inforverdeckten Ermittlern, mationssystem (NADIS) oder in anderen Verbunddateien ist nicht zulässig. Eine Speicherung der 2. Observation, nach Satz 1 erhobenen personenbezogenen Daten in 3. Bildaufzeichnungen (Fotografieren, VideoAkten und Dateien über den Ablauf eines Jahres grafieren und Filmen), seit der Speicherung hinaus ist nur zulässig, wenn 4. verdeckte Ermittlungen und Befragungen, spätestens von diesem Zeitpunkt an die Voraus5. Mithören ohne Inanspruchnahme technischer setzungen des Absatzes 1 vorliegen. Dasselbe gilt Mittel, für das Anlegen personenbezogener Akten. 6. Mithören und Aufzeichnen des nicht öffentlich (3) Zur Erfüllung ihrer Aufgaben darf die Verfasgesprochenen Wortes unter Einsatz technischer sungsschutzbehörde nur die dazu erforderlichen Mittel, Maßnahmen ergreifen; dies gilt insbesondere für 7. Beobachtungen des Funkverkehrs auf nicht für die Erhebung und Verarbeitung personenbezogener den allgemeinen Empfang bestimmten Kanälen Informationen. Von mehreren möglichen und sowie die Sichtbarmachung, Beobachtung, Aufgeeigneten Maßnahmen hat sie diejenige auszuzeichnung und Entschlüsselung von Signalen in wählen, die den einzelnen, insbesondere in seinen Kommunikationssystemen, Grundrechten, und die Allgemeinheit voraus8. Verwendung fingierter biografischer, berufsichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Eine Maßlicher oder gewerblicher Angaben (Legenden), nahme hat zu unterbleiben, wenn sie einen Nachteil 9. Beschaffung, Erstellung und Verwendung von herbeiführt, der erkennbar außer Verhältnis zu dem Tarnpapieren und Tarnkennzeichen, beabsichtigten Erfolg steht. Sie ist nur solange zu10. Überwachung des Brief-, Post-, und Fernmellässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, deverkehrs nach Maßgabe des Artikel 10-Gesetzes, dass er nicht erreicht werden kann. vom 26. Juni 2001 (BGBl. I S. 1254, 2298), zuletzt (4) Soweit in diesem Gesetz besondere Eingriffsgeändert durch Artikel 5 Abs. 1 des Gesetzes vom befugnisse das Vorliegen gewalttätiger Bestre22. August 2002 (BGBl. I S. 3390), bungen oder darauf gerichtete Vorbereitungshand11. Einsatz von weiteren vergleichbaren Metholungen voraussetzen, ist Gewalt die Anwendung den, Gegenständen und Instrumenten zur heim- ANHANG 359 lichen Informationsbeschaffung, insbesondere das freiheitliche demokratische Grundordnung zulässig, sonstige Eindringen in technische Kommunikawenn diese Bestrebung die Anwendung von Gewalt tionsbeziehungen durch Bild-, Ton-, und Datenbilligen oder sich in aktiv kämpferischer, aggresaufzeichnungen; dem Einsatz derartiger Methoden, siver Weise betätigen. Die Maßnahme ist unverzügGegenstände und Instrumente hat der Ausschuss für lich zu beenden, wenn ihr Zweck erreicht ist oder Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses von sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass er nicht Berlin vorab seine Zustimmung zu erteilen. oder nicht auf diese Weise erreicht werden kann. Daten, die für das Verständnis der zu speichernden Personen, die berechtigt sind, in Strafsachen aus Informationen nicht erforderlich sind, sind unberuflichen Gründen das Zeugnis zu verweigern verzüglich zu löschen. Die Löschung kann unter(SSSS 53 und 53a der Strafprozessordnung), darf die bleiben, wenn die Informationen von anderen, die Verfassungsschutzbehörde nicht von sich aus nach zur Erfüllung der Aufgaben erforderlich sind, nicht Satz 1 Nr. 1 zur Beschaffung von Informationen in oder nur mit unvertretbarem Aufwand getrennt Anspruch nehmen, auf die sich ihr Zeugnisverwerden können; in diesem Fall dürfen die Daten weigerungsrecht bezieht. Die Behörden des Landes nicht verwertet werden. Berlin sind verpflichtet, der Verfassungsschutzbehörde technische Hilfe für Tarnungsmaßnahmen (5) Die näheren Voraussetzungen für die Anwenzu geben. dung der Mittel nach Absatz 2 sind in einer Verwaltungsvorschrift des Senators für Inneres zu re(3) Die Verfassungsschutzbehörde darf Informageln, die auch die Zuständigkeit für die Anordnung tionen einschließlich personenbezogener Daten mit solcher Informationsbeschaffung regelt. Die Verden Mitteln gemäß Absatz 2 erheben, wenn waltungsvorschrift ist dem Ausschuss für Verfas1. sich ihr Einsatz gegen Organisationen, unorgasungsschutz des Abgeordnetenhauses von Berlin nisierte Gruppen, in ihnen oder einzeln tätige Pervorab zur Kenntnis zu geben. sonen richtet, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht der Bestrebungen oder Tätigkeiten (6) Für die Speicherung und Löschung der durch nach SS 5 Abs. 2 bestehen, Maßnahmen nach Absatz 2 erlangten personenbez2. auf diese Weise Erkenntnisse über gewalttätige ogenen Daten gilt SS 4 Abs. 1 des Artikel Bestrebungen oder geheimdienstliche Tätigkeiten 10-Gesetzes entsprechend. gewonnen werden können, (7) Polizeiliche Befugnisse stehen der Verfas3. auf diese Weise die zur Erforschung von sungsschutzbehörde nicht zu; sie darf die Polizei Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 auch nicht im Wege der Amtshilfe um Maßnahmen erforderlichen Quellen erschlossen werden können ersuchen, zu denen sie selbst nicht befugt ist. oder 4. dies zum Schutz der Dienstkräfte, Einrich(8) Die Verfassungsschutzbehörde ist an die allgetungen, Gegenstände und Quellen der Verfassungsmeinen Rechtsvorschriften gebunden (Artikel 20 schutzbehörde gegen sicherheitsgefährdende oder des Grundgesetzes). geheimdienstliche Tätigkeiten erforderlich ist. SS9 Datenerhebungen nach Satz 1 Nr. 2 dürfen sich Einsatz technischer Mittel zur Überwachung von gegen andere als die in SS 6 Abs. 1 Satz 2 und 3 Wohnungen genannten Personen nur richten, soweit dies zur Gewinnung von Erkenntnissen unerlässlich ist. (1) Das in einer Wohnung nicht öffentlich gesprochene Wort darf mit technischen Mitteln aus(4) Die Erhebung nach Absatz 2 ist unzulässig, schließlich bei der Wahrnehmung der Aufgaben auf wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere, dem Gebiet der Spionageabwehr und des gewaltdie betroffene Person weniger beeinträchtigende bereiten politischen Extremismus heimlich Weise möglich ist; eine geringere Beeinträchtigung mitgehört oder aufgezeichnet werden. Eine solche ist in der Regel anzunehmen, wenn die InformaMaßnahme ist nur zulässig, wenn sie im Einzelfall tionen aus allgemein zugänglichen Quellen oder zur Abwehr einer dringenden Gefahr für die durch eine Auskunft nach SS 27 gewonnen werden öffentliche Sicherheit, insbesondere einer gemeinen können. Die Anwendung eines Mittels gemäß Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne PerAbsatz 2 soll erkennbar im Verhältnis zur Bedeusonen, unerlässlich ist, ein konkreter Verdacht in tung des aufzuklärenden Sachverhalts stehen. Der Bezug auf eine Gefährdung der vorstehenden Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel nach Abs. 2 Rechtsgüter besteht und der Einsatz anderer Satz 1 Nr. 6 und 7 ist grundsätzlich nur zur InforMethoden und Mittel zur heimlichen Informationsmationsbeschaffung über Bestrebungen gegen die beschaffung keine Aussicht auf Erfolg bietet. Die 360 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Sätze 1 und 2 gelten entsprechend für einen verzuteilen, sobald eine Gefährdung des Zwecks der deckten Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung Maßnahme mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen in mehr zu erwarten ist. Die durch Maßnahmen im Wohnungen. Maßnahmen nach den Sätzen 1 bis 3 Sinne des Satzes 1 erhobenen Informationen dürfen dürfen nur aufgrund richterlicher Anordnung nur nach Maßgabe des SS 4 Abs. 1 des Artikel 10getroffen werden. Bei Gefahr im Verzuge kann die Gesetzes verwendet werden. Maßnahme auch durch den Senator für Inneres, der im Verhinderungsfall durch den zuständigen SS 9a Staatssekretär vertreten wird, angeordnet werden; Eingriffe, die in ihrer Art und Schwere einer eine richterliche Entscheidung ist unverzüglich Beschränkung des Brief-, Postund nachzuholen. Fernmeldegeheimnisses gleichkommen (2) Die Anordnung ist auf höchstens drei Monate (1) Ein Eingriff, der in seiner Art und Schwere zu befristen. Verlängerungen um jeweils nicht mehr einer Beschränkung des Brief-, Postund Fernals drei weitere Monate sind auf Antrag zulässig, meldegeheimnisses gleichkommt und nicht den soweit die Voraussetzungen der Anordnung fortRegelungen des SS 9 unterliegt, wozu insbesondere bestehen. Liegen die Voraussetzungen der Anorddas Abhören und Aufzeichnen des nicht öffentlich nung nicht mehr vor oder ist der verdeckte Einsatz gesprochenen Wortes mit dem verdeckten Einsatz technischer Mittel zur Informationsgewinnung nicht technischer Mittel gehört, bedarf der Anordnung mehr erforderlich, ist die Maßnahme unverzüglich durch den Senator für Inneres, der im Verhinzu beenden. Der Vollzug der Anordnung erfolgt derungsfall durch den zuständigen Staatssekretär unter Aufsicht eines Bediensteten der Verfassungsvertreten wird. schutzbehörde, der die Befähigung zum Richteramt hat. (2) Die SSSS 2 und 3 des Gesetzes zur Ausführung des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz gelten ent(3) Sind technische Mittel ausschließlich zum sprechend. Schutze der bei einem Einsatz in Wohnungen tätigen Personen vorgesehen, kann die Maßnahme (3) SS 9 Abs. 6 gilt entsprechend. durch den Senator für Inneres, der im Verhinderungsfall durch den zuständigen Staatssekretär SS 10 vertreten wird, angeordnet werden. Eine anderRegistereinsicht durch die weitige Verwertung der hierbei erlangten ErkenntVerfassungsschutzbehörde nisse zum Zwecke der Gefahrenabwehr ist nur zulässig, wenn zuvor die Rechtmäßigkeit der Maß(1) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur Aufnahme richterlich festgestellt worden ist; bei Gefahr klärung im Verzuge ist die richterliche Entscheidung unver- - von sicherheitsgefährdenden oder geheimzüglich nachzuholen. dienstlichen Tätigkeiten für eine fremde Macht oder (4) Zuständig für richterliche Entscheidungen nach - von Bestrebungen, die durch Anwendung von den Absätzen 1 und 3 ist das Amtsgericht TierGewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandgarten. Für das Verfahren gelten die Vorschriften lungen gegen die freiheitliche demokratische des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiGrundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des willigen Gerichtsbarkeit entsprechend. Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder - von Bestrebungen, die durch Anwendung von (5) Der Senat unterrichtet die Kommission nach Gewalt oder darauf gerichtete VorbereitungshandSS 2 des Gesetzes zur Ausführung des Artikel 10lungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Gesetzes in der Fassung vom 25. Juni 2001 (GVBl. Deutschland gefährden, S. 251), das zuletzt durch Art. 1 des Gesetzes vom 5. Dezember 2003 (GVBl. S. 571) geändert worden von öffentlichen Stellen geführte Register, z. B. ist, unverzüglich, möglichst vorab, und umfassend Melderegister, Personalausweisregister, Passreüber den Einsatz technischer Mittel nach Absatz 1 gister, Führerscheinkarteien, Waffenscheinkarteien, und, soweit richterlich überprüfungsbedürftig, nach einsehen. Absatz 3. SS 3 des Gesetzes zur Ausführung des (2) Eine solche Einsichtnahme ist nur zulässig, Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz gilt entwenn sprechend. 1. die Aufklärung auf andere Weise nicht mög(6) Eine Maßnahme nach den Absätzen 1 und 3 ist lich erscheint, insbesondere durch eine Übermittnach ihrer Beendigung der betroffenen Person mit- ANHANG 361 lung der Daten durch die registerführende Stelle der schutzbehörde gegen sicherheitsgefährdende oder Zweck der Maßnahme gefährdet würde, und geheimdienstliche Tätigkeiten erforderlich ist oder 2. die betroffene Person durch eine anderweitige 5. sie auf Ersuchen der zuständigen Stelle nach Aufklärung unverhältnismäßig beeinträchtigt würSS 5 Abs. 3 tätig wird. de, und In Akten dürfen über Satz 1 Nr. 2 hinaus personen3. eine besondere gesetzliche Geheimhaltungsbezogene Daten auch gespeichert, verändert und vorschrift oder ein Berufsgeheimnis der Einsichtgenutzt werden, wenn dies sonst zur Erforschung nahme nicht entgegensteht. und Bewertung von Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 (3) Die Anordnung für die Maßnahme nach Abzwingend erforderlich ist. satz 1 trifft der Leiter der Verfassungsschutzabtei(2) In Dateien gespeicherte Informationen müssen lung, im Falle der Verhinderung der Vertreter. durch Aktenrückhalt belegbar sein. (4) Die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse (3) In Dateien ist die Speicherung von Informadürfen nur zu den in Absatz 1 genannten Zwecken tionen aus der Intimsphäre der betroffenen Person verwendet werden. Gespeicherte Informationen unzulässig. sind zu löschen und Unterlagen zu vernichten, sobald sie für diese Zwecke nicht mehr benötigt SS 12 werden. Speicherung, Veränderung und Nutzung (5) Über die Einsichtnahme ist ein gesonderter personenbezogener Informationen von Nachweis zu führen, aus dem ihr Zweck, die in Minderjährigen Anspruch genommene Stelle, die Namen der Betroffenen, deren Daten für eine weitere VerwenDie Speicherung personenbezogener Informationen dung erforderlich sind, sowie der Zeitpunkt der Einüber Minderjährige, die das 14. Lebensjahr nicht sichtnahme hervorgehen. Diese Aufzeichnungen vollendet haben, ist unzulässig. sind gesondert aufzubewahren, durch technische und organisatorische Maßnahmen zu sichern und, SS 13 soweit sie für die Aufgabenerfüllung der VerfasSpeicherungsdauer sungsschutzbehörde nach SS 5 Abs. 2 nicht mehr benötigt werden, am Ende des Kalenderjahres, das (1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die Speidem Jahr der Erstellung folgt, zu vernichten. cherungsdauer auf das für ihre Aufgabenerfüllung erforderliche Maß zu beschränken. Die in Dateien gespeicherten Informationen sind bei der EinzelfallZWEITER ABSCHNITT bearbeitung, spätestens aber fünf Jahre nach Speicherung der letzten Information, auf ihre ErforDatenverarbeitung derlichkeit zu überprüfen. Sofern die Informationen Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 Nr. 1 oder 3 betrefSS 11 fen, sind sie spätestens zehn Jahre nach der zuletzt Speicherung, Veränderung und Nutzung gespeicherten relevanten Information zu löschen. personenbezogener Informationen (2) Sind Informationen über Minderjährige in (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf zur ErfülDateien oder in Akten, die zu ihrer Person geführt lung ihrer Aufgaben rechtmäßig erhobene persowerden, gespeichert, ist nach zwei Jahren die nenbezogene Informationen speichern, verändern Erforderlichkeit der Speicherung zu überprüfen und und nutzen, wenn spätestens nach fünf Jahren die Löschung 1. tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen vorzunehmen, es sei denn, dass nach Eintritt der oder Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 vorliegen oder Volljährigkeit weitere Erkenntnisse nach SS 5 Abs. 2 2. dies für die Erforschung oder Bewertung von angefallen sind, die zur Erfüllung der Aufgaben im gewalttätigen Bestrebungen oder geheimdienstSinne dieses Gesetzes eine Fortdauer der Speichelichen Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 erforderlich ist rung rechtfertigen. oder 3. dies zur Schaffung oder Erhaltung nachrichtendienstlicher Zugänge über Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 erforderlich ist oder 4. dies zum Schutz der Dienstkräfte, Einrichtungen, Gegenstände und Quellen der Verfassungs- 362 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 SS 14 dem Betroffenen bestritten, so ist dies in der Akte Berichtigung, Löschung und Sperrung zu vermerken oder auf sonstige Weise festzuhalten. personenbezogener Informationen in Dateien (2) Die Verfassungsschutzbehörde hat personen(1) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in bezogene Informationen in Akten zu sperren, wenn Dateien gespeicherten personenbezogenen Informasie im Einzelfall feststellt, dass ohne die Sperrung tionen zu berichtigen, wenn sie unrichtig sind; sie schutzwürdige Interessen von Betroffenen beeinsind zu ergänzen, wenn sie unvollständig sind und trächtigt würden und die Daten für ihre Aufgabendadurch schutzwürdige Interessen der betroffenen erfüllung nicht mehr erforderlich sind. Gesperrte Person beeinträchtigt sein können. Informationen sind mit einem entsprechenden Vermerk zu versehen; sie dürfen nicht mehr genutzt (2) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in oder übermittelt werden. Eine Aufhebung der Dateien gespeicherten personenbezogenen InformaSperrung ist möglich, wenn ihre Voraussetzungen tionen zu löschen, wenn ihre Speicherung irrtümnachträglich entfallen. lich erfolgt war, unzulässig war oder ihre Kenntnis für die Aufgabenerfüllung nicht mehr erforderlich SS 16 ist und schutzwürdige Interessen der betroffenen Dateianordnungen Person nicht beeinträchtigt werden. (1) Für jede automatisierte Datei der Verfassungs(3) Die Verfassungsschutzbehörde hat die in Daschutzbehörde sind in einer Dateianordnung im teien gespeicherten personenbezogenen InformatioBenehmen mit dem Berliner Beauftragten für den nen zu sperren, wenn die Löschung unterbleibt, Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht weil Grund zu der Annahme besteht, dass durch die festzulegen: Löschung schutzwürdige Interessen der betroffenen Person beeinträchtigt würden; gesperrte Informatio1. Bezeichnung der Datei, nen sind entsprechend zu kennzeichnen und dürfen 2. Zweck der Datei, nur mit Einwilligung der betroffenen Person ver3. Inhalt, Umfang, Voraussetzungen der Speichewendet werden. rungen, Übermittlung und Nutzung (betroffener Personenkreis, Arten der Daten), (4) In Dateien gelöschte Informationen sind ge4. Eingabeberechtigung, sperrt. Unterlagen sind zu vernichten, wenn sie zur Erfüllung der Aufgaben nach SS 5 nicht oder nicht 5. Zugangsberechtigung, mehr erforderlich sind, es sei denn, dass ihre 6. Überprüfungsfristen, Speicherungsdauer, Aufbewahrung zur Wahrung schutzwürdiger Inte7. Protokollierung, ressen der betroffenen Person notwendig ist. Die 8. Datenverarbeitungsgeräte und Betriebssystem, Vernichtung unterbleibt, wenn die Unterlagen von 9. Inhalt und Umfang von Textzusätzen, die der anderen, die zur Erfüllung der Aufgaben erforderErschließung von Akten dienen. lich sind, nicht oder nur mit unvertretbarem Aufwand getrennt werden können. (2) Die Verfassungsschutzbehörde hat in angemessenen Abständen die Notwendigkeit der Wei(5) Personenbezogene Informationen, die austerführung oder Änderung ihrer Dateien zu prüfen. schließlich zu Zwecken der Datenschutzkontrolle, der Datensicherung oder zur Sicherstellung eines SS 17 ordnungsgemäßen Betriebes einer DatenverarbeiGemeinsame Dateien tungsanlage gespeichert werden, dürfen nur für diese Zwecke und zur Verfolgung der in der jeweiBundesgesetzliche Vorschriften über die Datenverligen Fassung des Berliner Datenschutzgesetzes als arbeitung in gemeinsamen Dateien der VerfasStraftaten bezeichneten Handlungen verwendet sungsschutzbehörden des Bundes und der Länder werden. bleiben unberührt. SS 15 Berichtigung und Sperrung personenbezogener Informationen in Akten (1) Stellt die Verfassungsschutzbehörde fest, dass in Akten gespeicherte personenbezogene Informationen unrichtig sind, oder wird ihre Richtigkeit von ANHANG 363 DRITTER ABSCHNITT Daten, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Übermittlung zur Verhinderung Informationsübermittlung oder Verfolgung von Straftaten, die im Zusammenhang mit Bestrebungen oder Tätigkeiten nach SS 18 SS 5 Abs. 2 stehen, erforderlich ist. Grundsätze bei der Informationsübermittlung durch die Verfassungsschutzbehörde SS 22 Übermittlung von Informationen an den Die Übermittlung von personenbezogenen Informaöffentlichen Bereich tionen ist aktenkundig zu machen. In der entsprechenden Datei ist die Informationsübermittlung zu (1) Die im Rahmen der gesetzlichen Aufgabenvermerken. Vor der Informationsübermittlung ist erfüllung gewonnenen, nicht personenbezogenen der Akteninhalt im Hinblick auf den ÜbermittErkenntnisse der Verfassungsschutzbehörde können lungszweck zu würdigen und der Informationsüberan andere Behörden und Stellen, insbesondere an mittlung zugrunde zu legen. Erkennbar unvolldie Polizei und die Staatsanwaltschaft, übermittelt ständige Informationen sind vor der Übermittlung werden, wenn sie für die Aufgabenerfüllung der im Rahmen der Verhältnismäßigkeit durch Einempfangenden Stellen erforderlich sein können. holung zusätzlicher Auskünfte zu vervollständigen. (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf personenSS 19 bezogene Informationen an inländische Behörden Informationsübermittlung zwischen den und juristische Personen des öffentlichen Rechts Verfassungsschutzbehörden übermitteln, wenn dies zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich ist oder der Empfänger die Die Verfassungsschutzbehörde unterrichtet das Informationen zum Schutz vor Bestrebungen oder Bundesamt für Verfassungsschutz und die VerTätigkeiten nach SS 5 Abs. 2 oder zur Strafverfolfassungsschutzbehörden der Länder über alle Angegung benötigt oder nach SS 5 Abs. 3 tätig wird. legenheiten, deren Kenntnis zur Erfüllung der Aufgaben der empfangenden Stellen erforderlich (3) Die empfangende Stelle von Informationen ist. nach Absatz 2 ist darauf hinzuweisen, dass sie die übermittelten personenbezogenen Informationen SS 20 nur zu dem Zweck verwenden darf, zu dessen ErInformationsübermittlung an den füllung sie ihr übermittelt wurden. Bundesnachrichtendienst und den Militärischen Abschirmdienst SS 23 Übermittlung von Informationen an Personen und Die Verfassungsschutzbehörde übermittelt dem Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs Bundesnachrichtendienst und dem Militärischen Abschirmdienst die ihr bekannt gewordenen InforPersonenbezogene Informationen dürfen an Persomationen einschließlich personenbezogener Daten, nen oder Stellen außerhalb des öffentlichen Bewenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, reichs nicht übermittelt werden, es sei denn, dass dass die Übermittlung für die Erfüllung der Aufdies zum Schutz der freiheitlichen demokratischen gaben der empfangenden Stellen erforderlich ist. Grundordnung, des Bestandes oder der Sicherheit Handelt die Verfassungsschutzbehörde auf Ersudes Bundes oder eines Landes erforderlich ist und chen, so ist sie zur Übermittlung nur verpflichtet der Senator für Inneres, der im Verhinderungsfall und berechtigt, wenn sich die Voraussetzungen aus durch den zuständigen Staatssekretär vertreten den Angaben der ersuchenden Behörde ergeben. wird, im Einzelfall seine Zustimmung erteilt hat. Die Verfassungsschutzbehörde führt über die AusSS 21 kunft nach Satz 1 einen Nachweis, aus dem der Informationsübermittlung an Zweck der Übermittlung, die Aktenfundstelle und Strafverfolgungsbehörden in Angelegenheiten des der Empfänger hervorgehen; die Nachweise sind Staatsund Verfassungsschutzes gesondert aufzubewahren, gegen unberechtigten Zugriff zu sichern und am Ende des Kalenderjahres, Die Verfassungsschutzbehörde übermittelt den das dem Jahr seiner Erstellung folgt, zu vernichten. Staatsanwaltschaften und, vorbehaltlich der staatsDer Empfänger darf die übermittelten personenanwaltlichen Sachleitungsbefugnis, den Polizeibebezogenen Informationen nur für den Zweck hörden des Landes die ihr bekannt gewordenen verwenden, zu dem sie ihm übermittelt wurden. Der Informationen einschließlich personenbezogener Empfänger ist auf die Verwendungsbeschränkung 364 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 und darauf hinzuwiesen, dass die Verfassungsbei ist die Übermittlung von personenbezogenen schutzbehörde sich vorbehält, um Auskunft über die Informationen nur zulässig, wenn die Bekanntgabe vorgenommene Verwendung der Informationen zu für das Verständnis des Zusammenhanges oder der bitten. Darstellung von Organisationen oder unorganisierten Gruppierungen erforderlich ist und die InterSS 24 essen der Allgemeinheit an sachgemäßen InforÜbermittlung von Informationen an die mationen das schutzwürdige Interesse des BetrofStationierungsstreitkräfte fenen überwiegen. Die Verfassungsschutzbehörde darf personenbezoSS 27 gene Informationen an Dienststellen der StatioÜbermittlung von Informationen an die nierungsstreitkräfte übermitteln, soweit die BundesVerfassungsschutzbehörde republik Deutschland dazu im Rahmen von Artikel 3 des Zusatzabkommens zu dem Abkom(1) Die Behörden des Landes und die sonstigen men zwischen den Parteien des Nordatlantikpaktes der Aufsicht des Landes unterstehenden juristischen über die Rechtsstellung ihrer Truppen hinsichtlich Personen des öffentlichen Rechts übermitteln von der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten sich aus der Verfassungsschutzbehörde die ihnen ausländischen Streitkräfte vom 3. August 1959 bekannt gewordenen Informationen, insbesondere (BGBl. 1961 II S. 1183) verpflichtet ist. Die Überpersonenbezogene Daten, über Bestrebungen nach mittlung ist aktenkundig zu machen. Der EmSS 5 Abs. 2, die durch Anwendung von Gewalt oder pfänger ist darauf hinzuweisen, dass die überdarauf gerichtete Vorbereitungshandlungen verfolgt mittelten Informationen nur zu dem Zweck verwerden, und über geheimdienstliche Tätigkeiten. wendet werden dürfen, zu dem sie ihm übermittelt Die Staatsanwaltschaften und, vorbehaltlich der wurden. staatsanwaltlichen Sachleitungsbefugnis, die Polizei übermitteln darüber hinaus auch andere im Rahmen SS 25 ihrer Aufgabenerfüllung bekannt gewordene InforÜbermittlung von Informationen an öffentliche mationen über Bestrebungen im Sinne des SS 5 Stellen außerhalb des Geltungsbereichs des Abs. 2. Grundgesetzes (2) Die Verfassungsschutzbehörde kann von jeder Die Verfassungsschutzbehörde darf personenbeder in Absatz 1 genannten öffentlichen Stellen zogene Informationen an ausländische öffentliche verlangen, dass sie ihr die zur Erfüllung ihrer Stellen sowie an überoder zwischenstaatliche StelAufgaben erforderlichen Informationen einschließlen übermitteln, wenn die Übermittlung zur Erfüllich personenbezogener Daten übermittelt, wenn die lung ihrer Aufgaben oder zur Wahrung erheblicher Informationen nicht aus allgemein zugänglichen Sicherheitsinteressen des Empfängers erforderlich Quellen oder nur mit unverhältnismäßigem Aufist. Die Übermittlung unterbleibt, wenn auswärtige wand oder nur durch eine den Betroffenen stärker Belange der Bundesrepublik Deutschland oder belastende Maßnahme erhoben werden können. Es überwiegende schutzwürdige Interessen der betrofdürfen nur die Informationen übermittelt werden, fenen Person entgegenstehen. Die Übermittlung ist die bei der ersuchten Behörde bereits bekannt sind. nur im Einvernehmen mit dem Bundesamt für (3) Die Verfassungsschutzbehörde braucht ErsuVerfassungsschutz zulässig. Sie ist aktenkundig zu chen nicht zu begründen, soweit dies dem Schutz machen. Der Empfänger ist darauf hinzuweisen, der betroffenen Person dient oder eine Begründung dass die übermittelten personenbezogenen Informaden Zweck der Maßnahme gefährden würde. tionen nur zu dem Zweck verwendet werden dürfen, zu dem sie ihm übermittelt wurden, und die Verfas(4) Die Übermittlung personenbezogener Informasungsschutzbehörde sich vorbehält, um Auskunft tionen, die aufgrund einer Maßnahme nach SS 100 a über die vorgenommene Verwendung der Informader Strafprozessordnung bekannt geworden sind, ist tionen zu bitten. nur zulässig, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass jemand eine der in SS 3 des SS 26 Artikel 10-Gesetzes genannten Straftaten plant, Unterrichtung der Öffentlichkeit begeht oder begangen hat. Auf die der Verfassungsschutzbehörde nach Satz 1 übermittelten InforDie Verfassungsschutzbehörde unterrichtet die mationen findet SS 4 Abs. 6, auf die dazugehörenden Öffentlichkeit mindestens einmal jährlich über Unterlagen findet SS 4 Abs. 1 Satz 2 des Artikel 10Bestrebungen und Tätigkeiten nach SS 5 Abs. 2. DaGesetzes entsprechende Anwendung. ANHANG 365 (5) Vorschriften zur Informationsübermittlung an Abs. Nr. 2 und 3 erforderlich ist und tatsächliche die Verfassungsschutzbehörde nach anderen GesetAnhaltspunkte für Gefahren für Leib und Leben zen bleiben unberührt. vorliegen. (6) Die Verfassungsschutzbehörde hat die über(4) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einzelmittelten Informationen nach ihrem Eingang fall zur Beobachtung gewalttätiger Bestrebungen unverzüglich darauf zu überprüfen, ob sie zur Ernach SS 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3 und wenn tatsächliche füllung ihrer in SS 5 genannten Aufgaben erforderAnhaltspunkte für Gefahren für Leib und Leben lich sind. Ergibt die Prüfung, dass sie nicht erforvorliegen unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. 1 derlich sind, sind die Unterlagen unverzüglich zu des Art. 10-Gesetzes bei denjenigen, die geschäftsvernichten. Die Vernichtung unterbleibt, wenn die mäßig Telekommunikationsdienste und Teledienste Trennung von anderen Informationen, die zur Ererbringen oder daran mitwirken, unentgeltlich Ausfüllung der Aufgaben erforderlich sind, nicht oder künfte über Telekommunikationsverbindungsdaten nur mit unvertretbarem Aufwand erfolgen kann; in und Teledienstnutzungsdaten einholen. Die Ausdiesem Fall sind die Informationen gesperrt und kunft kann auch in Bezug auf zukünftige Telekomentsprechend zu kennzeichnen. munikation und zukünftige Nutzung von Telediensten verlangt werden. Telekommunikationsver(7) Soweit andere gesetzliche Vorschriften nicht bindungsdaten und Teledienstnutzungsdaten sind: besondere Regelungen über die Dokumentation treffen, haben die Verfassungsschutzbehörde und 1. Berechtigungskennungen, Kartennummern, die übermittelnde Stelle die InformationsüberStandortkennung sowie Rufnummer oder Kennung mittlung aktenkundig zu machen. des anrufenden und angerufenen Anschlusses oder der Endeinrichtung, SS 27a 2. Beginn und Ende der Verbindung nach Datum Übermittlung von Informationen durch nicht und Uhrzeit, öffentliche Stellen an die 3. Angaben über die Art der vom Kunden in Verfassungsschutzbehörde Anspruch genommenen Telekommunikationsund Teledienst-Dienstleistungen, (1) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einzel4. Endpunkte festgeschalteter Verbindungen, ihr fall bei Kreditinstituten, FinanzdienstleistungsinBeginn und ihr Ende nach Datum und Uhrzeit. stituten und Finanzunternehmen unentgeltlich Auskünfte zu Konten, Kontoinhabern und sonstigen (5) Auskünfte nach den Abs. 1 bis 4 dürfen nur auf Berechtigten sowie weiteren am Zahlungsverkehr Antrag eingeholt werden. Der Antrag ist von der Beteiligten und zu Geldbewegungen und GeldanlaLeitung der Verfassungsschutzabteilung, im Falle gen einholen, wenn dies zur Beobachtung gewaltihrer Verhinderung von ihrem Vertreter schriftlich tätiger Bestrebungen nach SS 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3 zu stellen und zu begründen. Über den Antrag erforderlich ist und tatsächliche Anhaltspunkte für entscheidet der Senator für Inneres, im Fall seiner Gefahren für Leib und Leben vorliegen. Verhinderung der Staatssekretär. Die Senatsverwaltung für Inneres unterrichtet die Kommission (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf im Einzelnach SS 2 des Gesetzes zur Ausführung des Art. 10fall zur Beobachtung gewalttätiger Bestrebungen Gesetzes über die beschiedenen Anträge vor deren nach SS 5 Abs. 2 Nr. 2 und 3 und wenn tatsächliche Vollzug. Bei Gefahr in Verzug kann der Senator für Anhaltspunkte für Gefahren für Leib und Leben Inneres, im Falle seiner Verhinderung der vorliegen unter den Voraussetzungen des SS 3 Abs. 1 Staatssekretär den Vollzug der Entscheidung auch des Art. 10-Gesetzes bei Personen und Unterbereits vor der Unterrichtung der Kommission nehmen, die geschäftsmäßig Postdienstleistungen anordnen. Die Kommission prüft von Amts wegen erbringen, sowie bei denjenigen, die an der oder aufgrund von Beschwerden die Zulässigkeit Erbringung dieser Dienstleistungen mitwirken, unund Notwendigkeit der Einholung von Auskünften. entgeltlich Auskünfte zu Namen, Anschriften, SS 15 Abs. 5 des Art. 10-Gesetzes ist mit der MaßPostfächern und sonstigen Umständen des Postgabe entsprechend anzuwenden, dass die Kontrollverkehrs einholen. befugnis der Kommission sich auf die gesamte Erhebung, Verarbeitung und Nutzung der nach den (3) Die Verfassungsschutzbehörde darf im EinzelAbs. 1 bis 4 erlangten personenbezogenen Daten fall bei Luftfahrtunternehmen unentgeltlich Auserstreckt. Entscheidungen über Auskünfte, die die künfte zu Namen, Anschriften und zur InanspruchKommission für unzulässig oder nicht notwendig nahme von Transportleistungen und sonstigen Umerklärt, hat die Senatsverwaltung für Inneres ständen des Luftverkehrs einholen, wenn dies zur unverzüglich aufzuheben. Für die Verarbeitung der Beobachtung gewalttätiger Bestrebungen nach SS 5 366 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 nach den Abs. 1 bis 4 erhobenen Daten ist SS 4 des (2) Informationen einschließlich personenbezoArt. 10-Gesetzes entsprechend anzuwenden. Das gener Daten über das Verhalten Minderjähriger vor Auskunftsersuchen und die übermittelten Daten Vollendung des 16. Lebensjahres dürfen nach den dürfen dem Betroffenen oder Dritten nicht mitVorschriften dieses Gesetzes nicht an ausländische geteilt werden. SS 12 Abs. 1 und 3 des Art. 10-Geoder überoder zwischenstaatliche Stellen übersetzes findet entsprechende Anwendung. mittelt werden. (6) Die Senatsverwaltung für Inneres unterrichtet SS 30 im Abstand von höchstens sechs Monaten den Nachberichtspflicht Ausschuss für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses über die Durchführung der Absätze 1 Erweisen sich Informationen nach ihrer Übermitbis 5; dabei ist insbesondere ein Überblick über tlung nach den Vorschriften dieses Gesetzes als Anlass, Umfang, Dauer, Ergebnis und Kosten der unvollständig oder unrichtig, so hat die übermitim Berichtszeitraum durchgeführten Maßnahmen telnde Stelle ihre Informationen unverzüglich genach den Absätzen 1 bis 4 zu geben. genüber der empfangenden Stelle zu ergänzen oder (7) Die Senatsverwaltung für Inneres unterrichtet zu berichtigen, wenn dies zu einer anderen Bedas Parlamentarische Kontrollgremium des Bundes wertung der Informationen führen könnte oder zur jährlich über die nach den Absätzen 1 bis 5 durchWahrung schutzwürdiger Interessen der betroffenen geführten Maßnahmen; Abs. 6 gilt entsprechend. Person erforderlich ist. Die Ergänzung oder Berichtigung ist aktenkundig zu machen und in den (8) Das Grundrecht des Brief-, Postund Fernmelentsprechenden Dateien zu vermerken. degeheimnisses (Art. 10 des Grundgesetzes, Art. 16 der Verfassung von Berlin) wird nach Maßgabe der Absätze 2, 4 und 5 eingeschränkt. VIERTER ABSCHNITT Auskunftserteilung SS 28 Übermittlungsverbote SS 31 Auskunft an den Betroffenen Die Übermittlung von Informationen nach den Vorschriften dieses Abschnitts unterbleibt, wenn (1) Die Verfassungsschutzbehörde erteilt einer 1. eine Prüfung durch die übermittelnde Stelle ernatürlichen Person über die zu ihr gespeicherten gibt, dass die Informationen zu löschen oder für die Informationen auf Antrag unentgeltlich Auskunft. empfangende Stelle nicht mehr bedeutsam sind, Die Auskunftsverpflichtung erstreckt sich nicht auf 2. überwiegende Sicherheitsinteressen dies erforInformationen, die nicht der alleinigen Verfügungsdern, berechtigung der Verfassungsschutzbehörde unter3. für die übermittelnde Stelle erkennbar ist, dass liegen, sowie auf die Herkunft der Informationen unter Berücksichtigung der Art der Informationen und die Empfänger von Übermittlungen. und ihrer Erhebung die schutzwürdigen Interessen (2) Die Verfassungsschutzbehörde darf den Antrag der betroffenen Personen das Allgemeininteresse an ablehnen, wenn das öffentliche Interesse an der der Übermittlung überwiegen oder Geheimhaltung ihrer Tätigkeit oder ein über4. besondere gesetzliche Übermittlungsregelunwiegendes Geheimhaltungsinteresse Dritter gegengen entgegenstehen; die Verpflichtung zur Wahüber dem Interesse der antragstellenden Person an rung gesetzlicher Geheimhaltungspflichten oder der Auskunftserteilung überwiegt. In einem solchen von Berufsoder besonderen Amtsgeheimnissen, Fall hat die Verfassungsschutzbehörde zu prüfen, die nicht auf gesetzlichen Vorschriften beruhen, ob und inwieweit eine Teilauskunft möglich ist. Ein bleibt unberührt. Geheimhaltungsinteresse liegt vor, wenn SS 29 1. eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung durch Minderjährigenschutz die Auskunftserteilung zu besorgen ist, 2. durch die Auskunftserteilung Quellen gefähr(1) Informationen einschließlich personenbezodet sein können oder die Ausforschung des Ergener Daten über das Verhalten Minderjähriger dürkenntnisstandes oder der Arbeitsweisen der Verfasfen nach den Vorschriften dieses Gesetzes übersungsschutzbehörde zu befürchten ist, mittelt werden, solange die Voraussetzungen der 3. die Auskunft die öffentliche Sicherheit gefährSpeicherung nach SS 13 Abs. 2 erfüllt sind. den oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines Landes Nachteile bereiten würde oder ANHANG 367 4. die Informationen oder die Tatsache der Betroffenen mit Daten Dritter oder geheimhaltungsSpeicherung nach einer Rechtsvorschrift oder ihrem bedürftigen sonstigen Informationen derart verbunWesen nach, insbesondere wegen der überwieden sind, dass ihre Trennung auch durch Vervielgenden berechtigten Interessen Dritter, geheimfältigung und Unkenntlichmachung nicht oder nur gehalten werden müssen. mit unverhältnismäßig großem Aufwand möglich ist. In diesem Fall ist dem Betroffenen zusammenDie Entscheidung nach den Sätzen 1 und 2 trifft der fassende Auskunft über den Akteninhalt zu erteilen. Leiter der Verfassungsschutzabteilung oder ein von ihm besonders beauftragter Mitarbeiter. (3) Das Berliner Informationsfreiheitsgesetz vom 15. Oktober 1999 (GVBl. S. 561) findet auf die von (3) Die Ablehnung einer Auskunft ist zumindest der Verfassungsschutzabteilung der Senatsverwalinsoweit zu begründen, dass eine verwaltungstung für Inneres geführten Akten keine Anwengerichtliche Nachprüfung der Verweigerungsgründe dung. gewährleistet wird, ohne dabei den Zweck der Auskunftsverweigerung zu gefährden. Die Gründe der Ablehnung sind in jedem Fall aktenkundig zu maFÜNFTER ABSCHNITT chen. Parlamentarische Kontrolle (4) Wird die Auskunftserteilung ganz oder teilweise abgelehnt, ist die betroffene Person darauf SS 33 hinzuweisen, dass sie sich an den Berliner Ausschuss für Verfassungsschutz Beauftragten für den Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht wenden kann. Dem Berliner (1) In Angelegenheiten des Verfassungsschutzes Beauftragten für den Datenschutz und für das Recht unterliegt der Senat von Berlin der Kontrolle durch auf Akteneinsicht ist auf sein Verlangen Auskunft den Ausschuss für Verfassungsschutz des Abgeordzu erteilen, soweit nicht der Senator für Inneres im netenhauses von Berlin. Die Rechte des AbgeordEinzelfall feststellt, dass dadurch die Sicherheit des netenhauses und seiner anderen Ausschüsse bleiben Bundes oder eines Landes gefährdet würde. Mitunberührt. teilungen des Berliner Beauftragten für den Datenschutz und für das Recht auf Akteneinsicht an den (2) Der Ausschuss für Verfassungsschutz besteht Betroffenen dürfen keine Rückschlüsse auf den in der Regel aus höchstens zehn Mitgliedern. Das Erkenntnisstand der Verfassungsschutzbehörde zuVorschlagsrecht der Fraktionen für die Wahl der lassen, soweit sie nicht einer weitergehenden AusMitglieder richtet sich nach der Stärke der Frakkunft zustimmt. Der Kontrolle durch den Berliner tionen, wobei jede Fraktion mindestens durch ein Beauftragten für den Datenschutz und für das Recht Mitglied vertreten sein muss. Eine Erhöhung der im auf Akteneinsicht unterliegen nicht personenbeSatz 1 bestimmten Mitgliederzahl ist nur zulässig, zogene Informationen, die der Kontrolle durch die soweit sie zur Beteiligung aller Fraktionen notKommission nach SS 2 des Gesetzes zur Ausführung wendig ist. des Gesetzes zu Artikel 10 Grundgesetz unter(3) Scheidet ein Mitglied aus dem Abgeordneliegen, es sei denn, die Kommission ersucht den tenhaus oder seiner Fraktion aus, so verliert es die Berliner Beauftragten für den Datenschutz und für Mitgliedschaft im Ausschuss für Verfassungsdas Recht auf Akteneinsicht, die Einhaltung der schutz. Für dieses Mitglied ist unverzüglich ein Vorschriften über den Datenschutz bei bestimmten neues Mitglied zu wählen; das gleiche gilt, wenn Vorgängen oder in bestimmten Bereichen zu ein Mitglied aus dem Ausschuss ausscheidet. kontrollieren und ausschließlich ihr darüber zu berichten. SS 34 Geheimhaltung SS 32 Akteneinsicht Die Öffentlichkeit wird durch einen Beschluss des Ausschusses ausgeschlossen, wenn das öffentliche (1) Sind personenbezogene Daten in Akten gespeiInteresse oder berechtigte Interessen eines einzelchert, so kann dem Betroffenen auf Antrag Aktennen dies gebieten. Sofern die Öffentlichkeit auseinsicht gewährt werden, soweit Geheimhaltungsgeschlossen ist, sind die Mitglieder des Ausschusinteressen oder schutzwürdige Belange Dritter nicht ses zur Verschwiegenheit über Angelegenheiten entgegenstehen. SS 31 gilt entsprechend. verpflichtet, die ihnen dabei bekannt geworden (2) Die Einsichtnahme in Akten oder Aktenteile ist sind. Das gleiche gilt auch für die Zeit nach dem insbesondere dann zu versagen, wenn die Daten des Ausscheiden aus dem Ausschuss. Die Verpflich- 368 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 tung zur Verschwiegenheit kann von dem Ausdie Dauer der jeweils laufenden Wahlperiode vom schuss aufgehoben werden, soweit nicht berechtigte Ausschuss für Verfassungsschutz mit der Mehrheit Interessen eines Einzelnen entgegenstehen oder der von zwei Dritteln seiner Mitglieder gewählt. Senat widerspricht; in diesem Fall legt der Senat dem Ausschuss seine Gründe dar. SECHSTER ABSCHNITT SS 35 Schlussvorschriften Aufgaben und Befugnisse des Ausschusses SS 37 (1) Der Senat hat den Ausschuss umfassend über Einschränkung von Grundrechten die allgemeine Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörde und über Vorgänge von besonderer BedeuAufgrund dieses Gesetzes kann das Grundrecht auf tung zu unterrichten; er berichtet auch über den Unverletzlichkeit der Wohnung nach Artikel 13 des Erlass von Verwaltungsvorschriften. Der Ausschuss Grundgesetzes eingeschränkt werden. hat Anspruch auf Unterrichtung. SS 38 (2) Der Ausschuss hat auf Antrag mindestens Anwendbarkeit des Berliner Datenschutzgesetzes eines seiner Mitglieder das Recht auf Erteilung von Auskünften, Einsicht in Akten und andere UnterlaBei der Erfüllung der Aufgaben nach SS 5 durch die gen, Zugang zu Einrichtungen der VerfassungsVerfassungsschutzbehörde finden die SSSS 6a, 10 bis schutzbehörde sowie auf Anhörung von deren 17 und 19 Abs. 2 bis 4 des Berliner DatenschutzDienstkräften. Die Befugnisse des Ausschusses gesetzes in der Fassung vom 17. Dezember 1990 nach Satz 1 erstrecken sich nur auf Gegenstände, (GVBI. 1991 S. 16, 54), das zuletzt durch Artikel I die der alleinigen Verfügungsberechtigung der Verdes Gesetzes vom 30. Juli 2001 (GVBI. S. 305) fassungsschutzbehörde unterliegen. geändert worden ist, in der jeweils geltenden Fas(3) Der Senat kann die Unterrichtung über einsung keine Anwendung. zelne Vorgänge verweigern und bestimmten Kontrollbegehren widersprechen, wenn dies erforderlich SS 39 ist, um vom Bund oder einem deutschen Land Inkrafttreten, Außerkrafttreten Nachteile abzuwenden; er hat dies vor dem Ausschuss zu begründen. (1) Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung im Gesetzund Verordnungsblatt für Berlin in (4) Das Abgeordnetenhaus kann den Ausschuss Kraft. für einen bestimmten Untersuchungsgegenstand als Untersuchungsausschuss (Artikel 48 der VerfasSS 27a tritt außer Kraft, sobald das Bundesversung von Berlin) einsetzen. SS 3 des Gesetzes über fassungsschutzgesetz vom 20. Dezember 1990 die Untersuchungsausschüsse des Abgeordneten(BGBl. I S. 2954, 2970), zuletzt geändert durch Art. hauses von Berlin vom 22. Juni 1970 (GVBI. 9 des Gesetzes vom 16. August 2002 (BGBl. I S. 925), zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. Juni S. 3202), gemäß Art. 22 Abs. 2 des Terrorismus1991 (GVBI. S. 154), findet keine Anwendung. bekämpfungsgesetzes vom 9. Januar 2002 (BGBl. I S. 361, 3142) wieder in seiner am 31. Dezember (5) Für den Ausschuss gelten im Übrigen die Be2001 maßgeblichen Fassung gilt. Der Tag des stimmungen der Geschäftsordnung des AbgeordneAußerkrafttretens ist im Gesetzund Verordtenhauses von Berlin. nungsblatt für Berlin bekannt zu machen. SS 36 Vertrauensperson des Ausschusses für Verfassungsschutz Der Ausschuss für Verfassungsschutz kann zur Wahrnehmung seiner Kontrollaufgaben im Einzelfall nach Anhörung des Senats mit der Mehrheit seiner Mitglieder eine Vertrauensperson beauftragen, Untersuchungen durchzuführen und dem Ausschuss über das Ergebnis in nicht öffentlicher Sitzung zu berichten. Die Vertrauensperson soll die Befähigung zum Richteramt besitzen und wird für ANHANG 369 Gesetz über die Voraussetanfallender Verschlusssachen von der jeweils zuzungen und das Verfahren von ständigen obersten Landesbehörde im Einvernehmen mit der Verfassungsschutzbehörde zum SicherSicherheitsüberprüfungen im heitsbereich mit dem Erfordernis einer SicherheitsLand Berlin (Berliner Sicherüberprüfung nach SS 10 erklärt worden ist, oder heitsüberprüfungsgesetz - 4. an einer sicherheitsempfindlichen Stelle einer BSÜG) lebensoder verteidigungswichtigen öffentlichen Einrichtung beschäftigt ist, bei deren Ausfall oder in der Fassung vom 25. Juni 2001 (GVBl. S. 243), Zerstörung eine erhebliche Bedrohung für die Gezuletzt geändert durch Art. XV des Gesetzes vom sundheit oder das Leben zahlreicher Menschen zu 17. Dezember 2003 (GVBl. S. 617) befürchten ist oder die für das Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbar ist. ERSTER ABSCHNITT Der Senat wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung die zu schützenden Arten von Einrichtungen Allgemeines oder Teile von Einrichtungen abschließend festzulegen. SS1 Zweck und Anwendungsbereich des Gesetzes SS3 Betroffener Personenkreis Zweck dieses Gesetzes ist es, (1) Eine Person, die mit einer sicherheitsempfind1. im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbelichen Tätigkeit betraut werden soll (Betroffener), dürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse ist vorher einer Sicherheitsüberprüfung zu untervor der Kenntnisnahme durch Unbefugte zu schütziehen. Die beamtenund arbeitsrechtlichen Pflichzen und den Zugang von Personen zu verhindern, ten bleiben unberührt. Auf eine Sicherheitsüberbei denen ein Sicherheitsrisiko nicht ausgeschlossen prüfung nach diesem Gesetz kann verzichtet werden kann (personeller Geheimschutz), und werden, wenn der Betroffene bereits vor weniger 2. die Beschäftigung von Personen, bei denen ein als fünf Jahren im erstrebten Umfang oder höher Sicherheitsrisiko nicht ausgeschlossen werden überprüft worden ist und die Unterlagen verfügbar kann, an sicherheitsempfindlichen Stellen von sind. Eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit darf lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen erst nach Vollendung des 16. Lebensjahres überzu verhindern (personeller Sabotageschutz). tragen werden. (2) Soweit dieses Gesetz vorsieht, können auch ZWEITER ABSCHNITT Angaben zum volljährigen Ehegatten, Lebenspartner oder Partner, mit dem der Betroffene in Personeller Geheimund Sabotageschutz bei einer auf Dauer angelegten Gemeinschaft lebt öffentlichen Stellen (Lebensgefährte), erhoben und sie in die Sicherheitsüberprüfung einbezogen werden. Geht der SS2 Betroffene die Ehe ein, begründet er eine LebensSicherheitsempfindliche Tätigkeiten partnerschaft oder beginnt er eine auf Dauer angelegte Gemeinschaft während oder erst nach erfolgEine sicherheitsempfindliche Tätigkeit übt aus, wer ter Sicherheitsüberprüfung, so hat er die zuständige 1. Zugang zu Verschlusssachen hat oder ihn sich Stelle umgehend zu unterrichten, die über die Erheverschaffen kann, die STRENG GEHEIM, bung von Angaben zum Ehegatten, Lebenspartner GEHEIM oder VS-VERTRAULICH eingestuft oder Lebensgefährten und über deren Einbeziehung sind, in die Sicherheitsüberprüfung entscheidet; dies gilt 2. Zugang zu Verschlusssachen überstaatlicher auch bei später eintretender Volljährigkeit des Einrichtungen und Stellen hat oder ihn sich verEhegatten, Lebenspartners oder Lebensgefährten. schaffen kann, wenn die Bundesrepublik Deutsch(3) Dieses Gesetz gilt nicht für land verpflichtet ist, nur sicherheitsüberprüfte Personen hierzu zuzulassen, 1. die Mitglieder des Abgeordnetenhauses; das 3. in dem Teil einer Behörde oder sonstigen Abgeordnetenhaus bestimmt im Rahmen dieses Geöffentlichen Stelle des Landes tätig ist, der aufsetzes die Voraussetzungen für den Zugang seiner grund des Umfanges und der Bedeutung dort Mitglieder zu geheimhaltungsbedürftigen Angelegenheiten, 370 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 2. Richter, soweit sie Aufgaben der RechtspreVerfassungsschutzbehörde zuständigen Geheimchung wahrnehmen, schutzbeauftragten wahrgenommen. 3. ausländische Staatsangehörige, die in der Bun(6) Die Verwaltung des Abgeordnetenhauses ist desrepublik Deutschland im Interesse zwischenzuständig für die Sicherheitsüberprüfung der Mitstaatlicher Einrichtungen und Stellen eine sicherarbeiter der Abgeordneten und der Fraktionen, die heitsempfindliche Tätigkeit nach SS 2 Satz 1 Nr. 2 Zugang zu Verschlusssachen gemäß SS 6 erhalten ausüben sollen. sollen. (4) Mitglieder der Bezirksverordnetenversammlungen sowie Personen, die vom Abgeordnetenhaus SS5 oder einer Bezirksverordnetenversammlung in ein Bestellung von Geheimschutzbeauftragten öffentliches Amtsoder Dienstverhältnis gewählt oder berufen werden, sind Geheimnisträger kraft (1) Bei Stellen, die mindestens fünf Personen eine Amtes. Sie sind auf eigenen Antrag einer Sichersicherheitsempfindliche Tätigkeit übertragen haben, heitsüberprüfung zu unterziehen. Dies gilt für ist ein Geheimschutzbeauftragter zu bestellen. Er Staatssekretäre entsprechend. nimmt die Aufgaben der zuständigen Stelle (SS 4 Abs. 1) wahr, sorgt dafür, dass die erforderlichen SS4 Geheimschutzmaßnahmen getroffen werden, und Zuständigkeit führt die Sicherheitsüberprüfungen durch. SS 4 Abs. 2 findet Anwendung. Wird weniger als fünf (1) Die Aufgaben dieses Gesetzes werden von der Personen eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit Behörde oder sonstigen öffentlichen Stelle wahrgeübertragen, so nimmt die Aufgaben des Geheimnommen, die einer Person eine sicherheitsempfindschutzbeauftragten der Leiter der Stelle oder sein liche Tätigkeit übertragen will (zuständige Stelle). Vertreter wahr. Für die Geheimschutzbeauftragten und ihre Vertreter werden die Aufgaben der zuständigen Stelle (2) Abweichend von Absatz 1 können die obersten von dem für die Verfassungsschutzbehörde zustänLandesbehörden und die Bezirksämter mit Zustimdigen Geheimschutzbeauftragten wahrgenommen. mung der Verfassungsschutzbehörde für die zu Zuständige Stelle für Behördenleiter ist die oberste ihrem Geschäftsbereich gehörenden nachgeordLandesbehörde. neten Behörden die Aufgaben gemäß Absatz 1 übernehmen. (2) Die Aufgaben der zuständigen Stelle nach diesem Gesetz sind von einer von der PersonalverSS6 waltung getrennten Organisationseinheit wahrzuVerschlusssachen nehmen. Die zuständige Stelle sollte bei der Ausübung dieser Tätigkeit dem Behördenleiter unmit(1) Verschlusssachen sind im öffentlichen Intertelbar unterstellt sein. esse geheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse unabhängig von ihrer (3) Mitwirkende Behörde bei der SicherheitsüberDarstellungsform. Sie werden entsprechend ihrer prüfung ist nach SS 5 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 2 des Schutzbedürftigkeit von einer amtlichen Stelle oder Verfassungsschutzgesetzes Berlin vom 25. März auf deren Veranlassung eingestuft. 1995 (GVBl. S. 254, 762), das zuletzt durch Artikel II des Gesetzes vom 30. November 2000 (GVBl. (2) Eine Verschlusssache ist S. 495) geändert worden ist, die Verfassungsschutz1. STRENG GEHEIM, wenn die Kenntnisnahme behörde. durch Unbefugte den Bestand oder lebenswichtige (4) Die sicherheitsempfindlichen Stellen von Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder lebensoder verteidigungswichtigen öffentlichen eines ihrer Länder gefährden kann, Einrichtungen nach SS 2 Satz 1 Nr. 4 werden auf 2. GEHEIM, wenn die Kenntnisnahme durch deren Antrag von der Verfassungsschutzbehörde im Unbefugte die Sicherheit der Bundesrepublik Einvernehmen mit der zuständigen obersten LanDeutschland oder eines ihrer Länder gefährden oder desbehörde bestimmt. ihren Interessen schweren Schaden zufügen kann, 3. VS-VERTRAULICH, wenn die Kenntnis(5) Die Aufgaben der zuständigen Stelle bei der nahme durch Unbefugte für die Interessen der Überprüfung gemäß SS 3 Abs. 4 Satz 2 werden für Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer vom Abgeordnetenhaus Gewählte vom Präsidenten Länder schädlich sein kann, des Abgeordnetenhauses und für von einer Bezirksverordnetenversammlung Gewählte von dem für die ANHANG 371 4. VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH, (2) Die Einwilligung des Betroffenen ist Vorauswenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte für die setzung für die Durchführung einer SicherheitsInteressen der Bundesrepublik Deutschland oder überprüfung. Sie bezieht sich nur auf die Art der eines ihrer Länder nachteilig sein kann. Sicherheitsüberprüfung, die Gegenstand der Unterrichtung war, sowie auf die Befragungen, die nach (3) Eine Person, die Zugang zu Verschlusssachen Art der Sicherheitsüberprüfung vorgeschrieben erhalten soll oder sich verschaffen kann, ist nach sind. Willigt der Betroffene in die Sicherheitseiner Sicherheitsüberprüfung und dem Ergebnis, überprüfung nicht ein, so ist die Sicherheitsüberdass keine Sicherheitsrisiken vorliegen oder erkennprüfung undurchführbar. Dem Betroffenen darf bar sind, von der zuständigen Stelle förmlich zu dann keine sicherheitsempfindliche Tätigkeit überbelehren und zu ermächtigen. Die Belehrung und tragen werden. die Ermächtigung werden ohne förmliche Sicherheitsüberprüfung vorgenommen, wenn es sich nur (3) Der Betroffene ist verpflichtet, die zur Sicherum Verschlusssachen des Geheimhaltungsgrades heitsüberprüfung erforderlichen Angaben vollstänVS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH handig und wahrheitsgemäß zu machen. delt. (4) Der Betroffene kann Angaben verweigern, die SS7 für ihn, einen nahen Angehörigen im Sinne von Sicherheitsrisiken SS 52 Abs. 1 der Strafprozessordnung oder den Lebensgefährten die Gefahr strafrechtlicher oder (1) Sicherheitsrisiken sind Umstände, die es aus disziplinarischer Verfolgung, der Entlassung oder Gründen des staatlichen Geheimschutzes oder des Kündigung begründen könnten. Über das VerwieSabotageschutzes verbieten, einem Betroffenen eine gerungsrecht ist der Betroffene zu belehren. sicherheitsempfindliche Tätigkeit zuzuweisen. Die (5) Sollen Angaben zum Ehegatten oder LebensBeurteilung ist auf den Einzelfall abzustellen. partner oder Lebensgefährten erhoben oder soll (2) Ein Sicherheitsrisiko liegt vor, wenn tatsächeiner von diesen in die Sicherheitsüberprüfung einliche Anhaltspunkte bezogen werden, gelten die Absätze 1 bis 4 1. Zweifel am Bekenntnis des Betroffenen zur entsprechend. freiheitlichen demokratischen Grundordnung im (6) Die Absätze 1 bis 5 gelten auch für die ErSinne des Grundgesetzes oder am jederzeitigen Eingänzung der Sicherheitserklärung und Wiedertreten für deren Erhaltung begründen, holungsüberprüfungen. 2. Zweifel an der Zuverlässigkeit des Betroffenen bei der Wahrnehmung einer sicherheitsempfindSS9 lichen Tätigkeit begründen oder Arten der Sicherheitsüberprüfung 3. eine besondere Gefährdung durch Anbahnungsoder Werbungsversuche fremder Nach(1) Entsprechend der vorgesehenen sicherheitsrichtendienste, insbesondere die Besorgnis der empfindlichen Tätigkeit wird entweder eine Erpressbarkeit, begründen. 1. einfache Sicherheitsüberprüfung (SÜ 1), Ein Sicherheitsrisiko kann auch aufgrund tatsäch2. erweiterte Sicherheitsüberprüfung (SÜ 2) oder licher Anhaltspunkte zur Person des Ehegatten oder 3. erweiterte Sicherheitsüberprüfung mit SicherLebenspartners oder Lebensgefährten vorliegen. heitsermittlungen (SÜ 3) durchgeführt. SS8 Rechte und Pflichten des Betroffenen und der (2) Ergeben sich bei der Sicherheitsüberprüfung einbezogenen Person tatsächliche Anhaltspunkte, die eine weitergehende Überprüfung notwendig machen, kann die zustän(1) Der Betroffene ist über Art und Umfang der dige Stelle die nächsthöhere Art der Sicherheitsbeabsichtigten Sicherheitsüberprüfung sowie über überprüfung mit Zustimmung des Betroffenen und die damit verbundene Erhebung und Speicherung der einzubeziehenden oder einbezogenen Person personenbezogener Daten und die weitere Datenanordnen. Diese ist jedoch nur soweit durchzuverarbeitung zu unterrichten. Wird eine weiterführen, wie es zur Aufklärung des Sicherheitsgehende Sicherheitsüberprüfung als ursprünglich risikos erforderlich ist. SS 15 Abs. 4 bleibt unberührt. vorgesehen notwendig (SS 9 Abs. 2), so ist auch für diese eine entsprechende Unterrichtung erforderlich. 372 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 SS 10 SS 13 Einfache Sicherheitsüberprüfung Datenerhebung (1) Die einfache Sicherheitsüberprüfung ist für (1) Die zuständige Stelle und die VerfassungsPersonen durchzuführen, die schutzbehörde dürfen die zur Erfüllung ihrer Aufga1. Zugang zu VS-VERTRAULICH eingestuften ben nach diesem Gesetz erforderlichen Daten Verschlusssachen erhalten sollen oder ihn sich vererheben. Der Betroffene, die einzubeziehende Perschaffen können oder son sowie die sonstigen zu befragenden Personen und nicht-öffentlichen Stellen sind auf den Zweck 2. eine Tätigkeit in entsprechend eingestuften Beder Erhebung, die Auskunftspflichten nach diesem reichen nach SS 2 Satz 1 Nr. 3 oder 4 wahrnehmen Gesetz und auf eine dienst-, arbeitsrechtliche oder sollen. sonstige vertragliche Mitwirkungspflicht, ansonsten (2) In den Fällen von Absatz 1 Nr. 2 kann die auf die Freiwilligkeit ihrer Angaben hinzuweisen. zuständige Stelle von der Sicherheitsüberprüfung Bei Sicherheitsüberprüfungen gemäß SS 4 Abs. 4 absehen, wenn Art oder Dauer der Tätigkeit dies kann die Angabe der erhebenden Stelle gegenüber zulassen. den sonstigen zu befragenden Personen oder nichtöffentlichen Stellen unterbleiben, wenn dies zum SS 11 Schutz des Betroffenen oder der VerfassungsErweiterte Sicherheitsüberprüfung schutzbehörde erforderlich ist. Eine erweiterte Sicherheitsüberprüfung ist für Per(2) Die zuständige Stelle erhebt die personensonen durchzuführen, die bezogenen Daten grundsätzlich beim Betroffenen und, falls es darüber hinaus erforderlich ist, geson1. Zugang zu GEHEIM eingestuften Verschlussdert bei dem in die Sicherheitsüberprüfung einzusachen erhalten sollen oder ihn sich verschaffen beziehenden Ehegatten oder Lebenspartner oder können, Lebensgefährten. Reicht diese Erhebung nicht aus 2. Zugang zu einer hohen Anzahl von VSoder stehen ihr schutzwürdige Interessen des BeVERTRAULICH eingestuften Verschlusssachen ertroffenen oder seines Ehegatten oder Lebensparthalten sollen oder ihn sich verschaffen können oder ners oder Lebensgefährten entgegen, können andere 3. an sicherheitsempfindlichen Stellen von geeignete Personen oder Stellen befragt werden. Ist lebensoder verteidigungswichtigen Einrichtungen zum Zwecke der Sammlung von Informationen die nach SS 2 Satz 1 Nr. 4 beschäftigt sind oder werden Weitergabe personenbezogener Daten unerlässlich, sollen, so dürfen schutzwürdige Interessen der betroffenen soweit nicht die zuständige Stelle im Einzelfall Personen nur in unvermeidbarem Umfang benach Art und Dauer der Tätigkeit eine Sicherheitseinträchtigt werden. Der Einsatz nachrichtendienstüberprüfung nach SS 10 für ausreichend hält. licher Mittel ist nicht zulässig. SS 12 SS 14 Erweiterte Sicherheitsüberprüfung mit Einleitung der Sicherheitsüberprüfung Sicherheitsermittlungen (1) Die zuständige Stelle unterrichtet den BeEine erweiterte Sicherheitsüberprüfung mit Sichertroffenen und die einzubeziehende Person über die heitsermittlungen ist für Personen durchzuführen, Rechte und Pflichten nach SS 8 und fordert sie zur die Abgabe der Sicherheitserklärung auf. Anzugeben 1. Zugang zu STRENG GEHEIM eingestuften sind frühere Sicherheitsüberprüfungen und Verschlusssachen erhalten sollen oder ihn sich verschaffen können, 1. Namen, auch frühere, und Vornamen, 2. Zugang zu einer hohen Anzahl von GEHEIM 2. Geburtsdatum und -ort, Bundesland, eingestuften Verschlusssachen erhalten sollen oder 3. Staatsangehörigkeit, auch frühere und doppelte ihn sich verschaffen können oder Staatsangehörigkeiten, 3. als Dienstkräfte der Verfassungsschutzbehörde 4. Familienstand, tätig werden sollen, 5. Wohnsitze und Aufenthalte von längerer Dauer als zwei Monate, und zwar im Inland in den soweit nicht die zuständige Stelle im Einzelfall vergangenen fünf Jahren, im Ausland ab dem nach Art und Dauer der Tätigkeit eine Sicherheits18. Lebensjahr, überprüfung nach SS 10 oder SS 11 für ausreichend hält. 6. ausgeübter Beruf, ANHANG 373 7. Arbeitgeber und dessen Anschrift, beziehung nach SS 15 Abs. 2 Nr. 3 sind zusätzlich 8. Anzahl der Kinder, die in Absatz 1 Satz 2 Nr. 5 bis 7, 12, 13, 17, und 9. im Haushalt lebende Personen über 18 Jahre 18 genannten Daten anzugeben. (Namen, auch frühere, und Vornamen, Geburts(5) Bei Sicherheitsüberprüfungen der in SS 4 Abs. 4 datum und -ort; Verhältnis zu dieser Person), genannten Personen sind zusätzlich die Wohnsitze 10. Eltern, gegebenenfalls Stiefoder Pflegeeltern seit der Geburt, die Geschwister und abgeschlos(Namen, auch frühere, und Vornamen, Geburtssene Strafund Disziplinarverfahren sowie alle datum und -ort, Staatsangehörigkeit und Wohnsitz), Kontakte zu ausländischen Nachrichtendiensten 11. Ausbildungsund Beschäftigungszeiten, Wehroder zu Nachrichtendiensten der ehemaligen Deutund Zivildienstzeiten mit Angabe der Ausbildungsschen Demokratischen Republik anzugeben. stätten, Beschäftigungsstellen sowie deren Anschriften, (6) Die Sicherheitserklärung ist vom Betroffenen der zuständigen Stelle zuzuleiten. Sie prüft die 12. Nummer des Personalausweises oder ReisepasAngaben des Betroffenen und, soweit möglich, des ses, Ehegatten oder Lebenspartners oder Lebensge13. Angaben über in den vergangenen fünf Jahren fährten anhand der Personalunterlagen des Betrofdurchgeführte Zwangsvollstreckungsmaßnahmen fenen auf Vollständigkeit und Richtigkeit. Die und darüber, ob zur Zeit die finanziellen Verpflichzuständige Stelle richtet eine Anfrage an den tungen erfüllt werden können, Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staats14. Kontakte zu anderen Nachrichtendiensten einsicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen schließlich der Nachrichtendienste der ehemaligen Demokratischen Republik, wenn der Betroffene Deutschen Demokratischen Republik, oder die einbezogene Person vor dem 13. Ja15. Beziehungen zu Organisationen, die von ihren nuar 1972 geboren wurde und der personalverwalAnhängern unbedingten Gehorsam verlangen und tenden Stelle eine uneingeschränkte Auskunft nicht deshalb den Betroffenen in Konflikt mit seiner Vervorliegt. SS 13 Abs. 2 Satz 1 gilt entsprechend. Die schwiegenheitspflicht bringen können, zuständige Stelle leitet die Sicherheitserklärung und 16. Beziehungen zu verfassungsfeindlichen Orsicherheitserhebliche Erkenntnisse an die Verfasganisationen, sungsschutzbehörde weiter, teilt dieser mit, in 17. anhängige Strafund Disziplinarverfahren, welcher sicherheitsempfindlichen Tätigkeit der Betroffene im Einzelnen eingesetzt werden soll, 18. Angaben zu Wohnsitzen, Aufenthalten, Reiund beauftragt diese, die nach SS 15 erforderlichen sen, nahen Angehörigen und sonstigen BeziehunMaßnahmen durchzuführen. Dies entfällt, wenn die gen in und zu Staaten, von denen die Verfassungszuständige Stelle bereits bei der Prüfung der schutzbehörde festgestellt hat, dass besondere Sicherheitserklärung festgestellt hat, dass ein Sicherheitsrisiken zu besorgen sind, und Sicherheitsrisiko vorliegt, das einer sicherheitsem19. drei Referenzpersonen (Namen und Vornamen, pfindlichen Tätigkeit entgegensteht. Berufe, berufliche und private Anschriften und Rufnummern sowie zeitlicher Beginn der BekanntSS 15 schaft). Maßnahmen der Verfassungsschutzbehörde bei den Der Sicherheitserklärung sind zwei aktuelle Lichteinzelnen Überprüfungsarten bilder mit der Angabe des Jahres der Aufnahme beizufügen. (1) Bei einer Sicherheitsüberprüfung nach SS 10 trifft die Verfassungsschutzbehörde zur Feststellung (2) Bei der Sicherheitsüberprüfung nach SS 10 und Aufklärung eines Sicherheitsrisikos folgende entfallen die Angaben zu Absatz 1 Satz 2 Nr. 8, 11, Maßnahmen: 12 und 19 sowie die Pflicht, Lichtbilder beizubrin1. sicherheitsmäßige Bewertung der Angaben in gen; Absatz 1 Satz 2 Nr. 10 entfällt, soweit die dort der Sicherheitserklärung unter Berücksichtigung genannten Personen nicht in einem Haushalt mit der Erkenntnisse der Verfassungsschutzbehörden dem Betroffenen leben. des Bundes und der Länder, (3) Bei der Sicherheitsüberprüfung nach SS 11 ent2. Anfragen unter Beteiligung der Landeskrimifällt die Angabe zu Absatz 1 Satz 2 Nr. 19. nalämter an die Polizeidienststellen der Wohnsitze des Betroffenen, in der Regel beschränkt auf die (4) In jeder Sicherheitsüberprüfung werden zur letzten fünf Jahre, und, soweit es im Einzelfall Person des Ehegatten oder Lebenspartners oder sachdienlich erscheint, an das Bundeskriminalamt, Lebensgefährten die Angaben nach Absatz 1 Satz 2 Nr. 1 bis 4, 14 und 16 erhoben. Bei einer Ein- 374 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 3. Anfragen an die für das Meldewesen zuständi(3) Sieht die Verfassungsschutzbehörde ein Sigen Behörden der Wohnsitze des Betroffenen, in cherheitsrisiko als gegeben an, unterrichtet sie der Regel beschränkt auf die letzten fünf Jahre, und schriftlich unter Darlegung der Gründe und ihrer 4. Ersuchen um Datenübermittlung aus dem zenBewertung die zuständige Stelle. Bei nachgeordtralen staatsanwaltschaftlichen Verfahrensregister neten Stellen erfolgt die Unterrichtung über die zuund Einholung einer unbeschränkten Auskunft aus ständige oberste Landesbehörde. dem Bundeszentralregister. (4) Über Umstände, die zur Ablehnung der Zu(2) Bei der Sicherheitsüberprüfung nach SS 11 trifft lassung führen können, gibt die zuständige Stelle die Verfassungsschutzbehörde zusätzlich zu Absatz dem Betroffenen Gelegenheit zur Äußerung. Der 1 folgende Maßnahmen: Betroffene kann zur Anhörung einen Rechtsbei1. Prüfung der Identität des Betroffenen, stand hinzuziehen. Bei der Anhörung ist der Quellenschutz zu gewährleisten und den schutzwür2. Anfragen an die Grenzschutzdirektion und die digen Belangen von Personen, die in die SicherNachrichtendienste des Bundes und heitsüberprüfung einbezogen wurden, Rechnung zu 3. Überprüfung und, soweit erforderlich, Befratragen. Die Anhörung unterbleibt, wenn sie einen gung des Ehegatten oder Lebenspartners oder erheblichen Nachteil für die Sicherheit des Bundes Lebensgefährten des Betroffenen in dem in oder eines Landes zur Folge hätte, insbesondere bei Absatz 1 genannten Umfang, sofern nicht die Sicherheitsüberprüfungen der Bewerber bei der zuständige Stelle von der Einbeziehung abgesehen Verfassungsschutzbehörde. hat. Von der Einbeziehung kann in den Fällen des SS 11 Nr. 3, bei dauernd getrennt lebenden Ehegatten (5) Liegen in der Person des Ehegatten oder oder Lebenspartnern sowie in vergleichbaren Fällen Lebenspartners oder Lebensgefährten Anhaltspunkabgesehen werden. te vor, die ein Sicherheitsrisiko begründen, ist ihm Gelegenheit zu geben, sich vor der Ablehnung der (3) Bei der Sicherheitsüberprüfung nach SS 12 Zulassung des Betroffenen zu einer sicherheitsbefragt die Verfassungsschutzbehörde zusätzlich zu empfindlichen Tätigkeit zu den für die Entscheiden Maßnahmen der Absätze 1 und 2 Referenzdung erheblichen Tatsachen zu äußern. Absatz 4 personen, um zu prüfen, ob die Angaben des Satz 2 bis 4 gilt entsprechend. Betroffenen zutreffen und ob ein Sicherheitsrisiko vorliegt. (6) Die zuständige Stelle entscheidet, ob ein Sicherheitsrisiko vorliegt, das der sicherheitsem(4) In Fällen, in denen ein Sicherheitsrisiko pfindlichen Tätigkeit des Betroffenen entgegenaufgrund der vorstehenden Maßnahmen nicht aussteht. Kann die Sicherheitsüberprüfung nicht mit geschlossen werden kann und die Befragung des der Feststellung abgeschlossen werden, dass kein Betroffenen oder seines Ehegatten, Lebenspartners Sicherheitsrisiko vorliegt, hat das Sicherheitsinoder Lebensgefährten nicht ausreicht oder ihr teresse Vorrang vor anderen Belangen. schutzwürdige Belange entgegenstehen, können von anderen geeigneten Stellen, insbesondere (7) Lehnt die zuständige Stelle die Verwendung in Staatsanwaltschaften oder Gerichten, zusätzliche sicherheitsempfindlicher Tätigkeit ab, ist der Auskünfte eingeholt oder weitere geeignete AusBetroffene zu unterrichten. kunftspersonen befragt werden. (8) Die Absätze 1 bis 7 sind auch im Falle der SS 16 Ablehnung einer Weiterbeschäftigung in einer Abschluss der Sicherheitsüberprüfung sicherheitsempfindlichen Tätigkeit anzuwenden. (1) Ein Rechtsanspruch auf Verwendung in einem SS 17 sicherheitsempfindlichen Bereich oder auf ErmächVorläufige Zuweisung einer tigung zur Bearbeitung von Verschlusssachen sicherheitsempfindlichen Tätigkeit besteht nicht. Die zuständige Stelle kann in Ausnahmefällen ab(2) Kommt die Verfassungsschutzbehörde zu dem weichend von SS 3 Abs. 1 die sicherheitsempfindErgebnis, dass kein Sicherheitsrisiko vorliegt, teilt liche Tätigkeit des Betroffenen vor Abschluss der sie dies der zuständigen Stelle mit. Hat die VerfasSicherheitsüberprüfung erlauben, wenn die Verfassungsschutzbehörde Erkenntnisse, die kein Sichersungsschutzbehörde heitsrisiko begründen, aber weiterhin sicherheits1. bei der einfachen Sicherheitsüberprüfung die erheblich sind, übermittelt sie dies der zuständigen Angaben in der Sicherheitserklärung unter BerückStelle. sichtigung der eigenen Erkenntnisse bewertet hat ANHANG 375 und sich hierbei keine Erkenntnisse ergeben haben, SS 20 die auf ein Sicherheitsrisiko hindeuten, oder Sicherheitsakte und Sicherheitsüberprüfungsakte 2. bei der erweiterten Sicherheitsüberprüfung und bei der erweiterten Sicherheitsüberprüfung mit Si(1) Die zuständige Stelle führt über den Becherheitsermittlungen die Maßnahmen der nächsttroffenen eine Sicherheitsakte, in die alle die Siniederen Art der Sicherheitsüberprüfung abgecherheitsüberprüfung betreffenden Informationen schlossen hat, auch wenn bei dieser eine Antwort aufzunehmen sind. auf eine Anfrage nach SS 14 Abs. 6 Satz 3 noch nicht (2) Informationen über die persönlichen, dienstvorliegt, und sich keine Erkenntnisse ergeben lichen und arbeitsrechtlichen Verhältnisse der mit haben, die auf ein Sicherheitsrisiko hindeuten. sicherheitsempfindlichen Tätigkeiten befassten PerSS 18 sonen sind zur Sicherheitsakte zu nehmen, soweit Erkenntnisse nach Abschluss der sie für die sicherheitsmäßige Beurteilung erheblich Sicherheitsüberprüfung sind. Zu diesen Informationen zählen insbesondere: 1. Betrauen mit einer sicherheitsempfindlichen (1) Die zuständige Stelle und die VerfassungsTätigkeit, die dazu erteilte Ermächtigung sowie deschutzbehörde unterrichten sich gegenseitig, wenn ren Änderung und Beendigung, sicherheitserhebliche Erkenntnisse über den Betrof2. Umsetzung, Abordnung, Versetzung und Ausfenen oder zu der nach SS 15 Abs. 2 Nr. 3 einbescheiden, zogenen Person bekannt werden oder sich mit3. Änderung des Familienstandes, des Namens, geteilte Erkenntnisse als unrichtig erweisen. eines Wohnsitzes und der Staatsangehörigkeit, (2) Die mitwirkende Behörde prüft die mitge4. Anhaltspunkte für Überschuldung, z. B. Pfänteilten Erkenntnisse und stellt fest, ob ein Sicherdungsund Überweisungsbeschlüsse, heitsrisiko vorliegt. Im Übrigen findet SS 16 ent5. nicht getilgte Strafund Disziplinarsachen sosprechend Anwendung. wie dienstund arbeitsrechtliche Maßnahmen. (3) Die Verfassungsschutzbehörde führt über den SS 19 Betroffenen eine Sicherheitsüberprüfungsakte, in Ergänzung der Sicherheitserklärung die aufzunehmen sind: und Wiederholungsüberprüfung 1. Informationen, die die Sicherheitsüberprüfung, (1) Die Sicherheitserklärung ist dem Betroffenen, die durchgeführten Maßnahmen und das Ergebnis der eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit ausübt, betreffen, und der nach SS 15 Abs. 2 Nr. 3 einbezogenen Per2. das Ausscheiden aus oder die Nichtaufnahme son in der Regel alle fünf Jahre erneut zur der sicherheitsempfindlichen Tätigkeit, Aktualisierung zuzuleiten. 3. Änderungen des Familienstandes, des Namens, (2) Die zuständige Stelle kann eine Wiederhoeines Wohnsitzes und der Staatsangehörigkeit, lungsüberprüfung einleiten, wenn tatsächliche An4. die in Absatz 2 Satz 2 Nr. 4 und 5 genannten haltspunkte gemäß SS 7 Abs. 2 bekannt werden, die Daten nur, wenn sie sicherheitserheblich sind. auf ein Sicherheitsrisiko hindeuten. Auf die (4) Sicherheitsakten und SicherheitsüberprüfungsWiederholungsüberprüfung finden die Vorschriften akten sind keine Personalakten. Sie sind gesondert über die Erstüberprüfung Anwendung. Bei Sicherzu führen und dürfen der personalverwaltenden heitsüberprüfungen nach den SSSS 11 und 12 sind in Stelle nicht zugänglich gemacht werden. Wechselt der Regel im Abstand von zehn Jahren Wiederder Betroffene zu einer anderen Behörde oder sonholungsüberprüfungen durchzuführen. Sie ist bei stigen öffentlichen Stelle, ist die Sicherheitsakte an den Sicherheitsüberprüfungen nach SS 11 jedoch nur die nunmehr zuständige Stelle abzugeben, wenn soweit durchzuführen, wie der Überprüfungszweck auch dort eine sicherheitsempfindliche Tätigkeit dies erfordert, und umfasst zumindest die Maßnahausgeübt werden soll. Auf Anforderung ist die men nach SS 15 Abs. 1 Nr. 1 bis 4. Bei SicherheitsSicherheitsüberprüfungsakte an die nunmehr mitüberprüfungen nach SS 12 umfasst die Wiederhowirkende Verfassungsschutzbehörde abzugeben. lungsüberprüfung alle Maßnahmen nach SS 15; die mitwirkende Behörde kann von einer erneuten (5) Die zuständige Stelle ist verpflichtet, die in Identitätsprüfung absehen. Absatz 3 Nr. 2 bis 4 genannten Daten unverzüglich der mitwirkenden Behörde zu übermitteln. 376 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 SS 21 (5) Die Übermittlung von personenbezogenen Nutzung, Verarbeitung und Behandlung der Daten ist aktenkundig zu machen. Die Nutzung Unterlagen und Daten, Zweckbindung oder Übermittlung personenbezogener Daten unterbleibt, soweit gesetzliche Verwendungsregelungen (1) Die Unterlagen und Daten über die Sicherentgegenstehen. Der Empfänger darf die überheitsüberprüfung sind gesondert aufzubewahren mittelten Daten nur für den Zweck verarbeiten und und gegen unbefugten Zugriff zu schützen. nutzen, zu dessen Erfüllung sie ihm übermittelt werden, und zum Zweck der Strafverfolgung gemäß (2) Die im Rahmen der Sicherheitsüberprüfung Absatz 2 Satz 2 Nr. 2. Eine nicht-öffentliche Stelle rechtmäßig erhobenen personenbezogenen Daten ist darauf hinzuweisen. dürfen zur Durchführung der Sicherheitsüberprüfung nicht an andere als die im Rahmen der (6) Unterlagen über die Sicherheitsüberprüfung Sicherheitsüberprüfung zu beteiligenden Behörden sind zu vernichten, wenn sie nicht mehr benötigt und Stellen übermittelt werden. Sie dürfen von der werden, zuständigen Stelle oder Verfassungsschutzbehörde 1. von der zuständigen Stelle spätestens nur für a) nach Ablauf eines Jahres nach Abschluss der 1. die mit der Sicherheitsüberprüfung verfolgten Sicherheitsüberprüfung, wenn der Betroffene keine Zwecke, sicherheitsempfindliche Tätigkeit aufnimmt, es sei 2. Zwecke der Verfolgung von Straftaten von erdenn, der Betroffene willigt in die weitere Aufbeheblicher Bedeutung, wahrung ein, 3. Zwecke der strafoder disziplinarrechtlichen b) nach Ablauf von fünf Jahren nach dem Verfolgung sowie von dienstoder arbeitsrechtAusscheiden des Betroffenen aus der sicherheitsemlicher Maßnahmen, die sich aus der Sicherheitspfindlichen Tätigkeit, es sei denn, es ist beabsichüberprüfung ergeben, wenn dies zur Gewährtigt, dem Betroffenen erneut eine sicherheitsemleistung des Verschlusssachenschutzes erforderlich pfindliche Tätigkeit zuzuweisen, und der Betroffene ist, willigt in die weitere Aufbewahrung ein, 4. Zwecke parlamentarischer Untersuchungsaus2. von der mitwirkenden Behörde schüsse a) bei einfachen Sicherheitsüberprüfungen nach genutzt und übermittelt werden. Die Nutzung von Ablauf von fünf Jahren nach dem Ausscheiden des Erkenntnissen aus Anfragen nach SS 14 Abs. 6 Satz Betroffenen aus der sicherheitsempfindlichen 3 ist nur unter den Voraussetzungen des SS 29 StasiTätigkeit, Unterlagen-Gesetzes vom 20. Dezember 1991 b) bei den übrigen Überprüfungsarten nach (BGBl. I S. 2272), das zuletzt durch vom Ablauf von zehn Jahren nach den in Nummer 1 20. Dezember 1996 (BGBl. I S. 2026) geändert genannten Fristen, worden ist, zulässig. Die Strafverfolgungsbehörden c) die nach SS 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 gespeicherten dürfen die Ihnen nach Satz 2 Nr. 2 übermittelten Daten, wenn feststeht, dass der Betroffene keine Daten für Zwecke eines Strafverfahrens nur versicherheitsempfindliche Tätigkeit aufnimmt oder wenden, wenn die Strafverfolgung auf andere aus ihr ausgeschieden ist. Weise erheblich weniger erfolgversprechend oder (7) Im Übrigen sind in Unterlagen über die Sicherwesentlich erschwert wäre. heitsüberprüfung gespeicherte personenbezogene (3) Die Verfassungsschutzbehörde darf die gespeiDaten zu löschen, wenn ihre Speicherung unzucherten Daten nutzen und anderen Verfassungslässig ist. Die Löschung unterbleibt, wenn Grund zu schutzbehörden übermitteln, wenn dies für Zwecke der Annahme besteht, dass durch sie schutzwürdige der Spionageund Terrorismusabwehr oder zur AbInteressen des Betroffenen beeinträchtigt würden. wehr sonstiger extremistischer Bestrebungen von In diesem Fall sind die Daten zu sperren. Sie dürfen erheblicher Bedeutung erforderlich ist. Die nach nur noch mit Einwilligung des Betroffenen verarSS 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 gespeicherten Daten dürfen beitet oder genutzt werden. zur Erfüllung aller Zwecke des Verfassungsschutzes genutzt und übermittelt werden. SS 22 Speichern, Verändern und Nutzen (4) Die mitwirkende Behörde darf personenbezopersonenbezogener Daten in Dateien gene Daten nach den Absätzen 2 und 3 nur an öffentliche Stellen übermitteln. (1) Die zuständige Stelle darf zur Erfüllung ihrer Aufgaben nach diesem Gesetz die in SS 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 und 6 genannten personenbezoge- ANHANG 377 nen Daten, ihre Aktenfundstelle und die der mitwirdurch die zuständige Stelle hinsichtlich solcher kenden Behörde sowie die Beschäftigungsstelle, Daten, die ihr von der mitwirkenden Behörde überVerfügungen zur Bearbeitung des Vorganges und mittelt wurden. beteiligte Behörden in Dateien speichern, verändern und nutzen. (3) Die Auskunft unterbleibt, soweit 1. eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung der (2) Die mitwirkende Behörde darf zur Erfüllung speichernden Stelle durch die Auskunftserteilung zu ihrer Aufgaben besorgen ist, 1. die in SS 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 6 genannten 2. die Auskunft die öffentliche Sicherheit gefährpersonenbezogenen Daten des Betroffenen und des den oder sonst dem Wohl des Bundes oder eines in die Sicherheitsüberprüfung einbezogenen EheLandes Nachteile bereiten würde oder gatten oder Lebenspartners oder Lebensgefährten 3. die Daten oder die Tatsache der Speicherung und die Aktenfundstelle, nach einer Rechtsvorschrift oder ihrem Wesen nach 2. Verfügungen zur Bearbeitung des Vorganges oder wegen der überwiegenden berechtigten und Interessen Dritter geheimgehalten werden müssen 3. sicherheitserhebliche Erkenntnisse und Erund deswegen das Interesse des Antragstellers an kenntnisse, die ein objektives Sicherheitsrisiko beder Auskunftserteilung zurücktreten muss. gründen, in Dateien speichern, verändern und nutzen. Die (4) Die Ablehnung der Auskunft bedarf keiner Daten nach Satz 1 Nr. 1 dürfen auch in nach SS 6 des Begründung, soweit dadurch der Zweck der AusBundesverfassungsschutzgesetzes zulässigen Verkunftsverweigerung gefährdet würde. Die Gründe bunddateien gespeichert werden. der Auskunftsverweigerung sind aktenkundig zu machen. Wird die Auskunft ganz oder teilweise SS 23 abgelehnt, ist der Antragsteller auf die RechtsBerichtigen, Löschen und Sperren grundlage für das Fehlen der Begründung und dapersonenbezogener Daten rauf hinzuweisen, dass er sich an den Berliner Beauftragten für den Datenschutz und für das Recht (1) Die zuständige Stelle und die Verfassungsauf Akteneinsicht wenden kann. Diesem ist auf schutzbehörde haben personenbezogene Daten zu Verlangen Auskunft zu erteilen. Personenbezogene berichtigen, wenn sie unrichtig sind. Wird die Daten einer Person, der Vertraulichkeit zugesichert Richtigkeit personenbezogener Daten vom Betrofworden ist, dürfen nur dem Berliner Beauftragten fenen oder der einbezogenen Person bestritten, so für den Datenschutz und für das Recht auf ist dies, soweit sich die personenbezogenen Daten Akteneinsicht persönlich offenbart werden. Mitteiin Akten befinden, dort zu vermerken oder auf lungen des Berliner Beauftragten für den Datensonstige Weise festzuhalten. In Dateien gesperrte schutz und für das Recht auf Akteneinsicht dürfen Informationen sind entsprechend zu kennzeichnen. keine Rückschlüsse auf den Erkenntnisstand der zuZuständige Stelle und Verfassungsschutzbehörde ständigen Stelle und der mitwirkenden Behörden unterrichten einander. zulassen, sofern diese nicht einer weitergehenden (2) Auf in Dateien gespeicherte personenbezogene Auskunft zustimmen. Daten findet SS 21 Abs. 6 und 7 entsprechend (5) Dem Betroffenen haben die zuständige Stelle Anwendung. und die mitwirkende Behörde auf Antrag Einsicht in die Teile der Sicherheitsund SicherheitsüberSS 24 prüfungsakten zu gewähren, die Daten zu seiner Auskunft, Akteneinsicht Person enthalten. Die Absätze 2 bis 4 gelten entsprechend. Die Einsichtnahme in Sicherheitsak(1) Die zuständige Stelle oder mitwirkende Beten ist insbesondere dann zu versagen, wenn hörde erteilt auf schriftlichen Antrag der anfraüberwiegende öffentliche oder überwiegende Gegenden Person (Antragsteller) unentgeltlich Ausheimhaltungsinteressen Dritter entgegenstehen oder kunft über die im Rahmen der Sicherheitsüberdie Daten des Betroffenen mit Daten Dritter derart prüfung zu seiner Person gespeicherten Daten. verbunden sind, dass ihre Trennung nach Verviel(2) Bezieht sich die Auskunft auf personenbezofältigung und Unkenntlichmachung nicht oder nur gene Daten, die von der zuständigen Stelle der mit unverhältnismäßig großem Aufwand möglich mitwirkenden Behörde übermittelt wurden, so ist ist. In diesem Fall ist dem Betroffenen zusammendie Auskunft nur mit deren Zustimmung zulässig. fassende Auskunft über den Akteninhalt zu erteilen. Entsprechendes gilt für die Auskunftserteilung 378 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 (6) Das Auskunftsrecht sowie das Einsichtsrecht einer nicht-öffentlichen Stelle, bei deren Abwickin die Sicherheitsakten nach Absatz 4 Satz 3 in lung Verschlusssachen entstehen, erst geschlossen Verbindung mit Absatz 5 darf nur vom Berliner Bewerden, nachdem die zuständige Stelle unter auftragten für den Datenschutz und für das Recht Mitwirkung der Verfassungsschutzbehörde geprüft auf Akteneinsicht persönlich ausgeübt werden, und bestätigt hat, dass wenn die Verfassungsschutzbehörde im Einzelfall 1. keine Umstände vorliegen, die Zweifel an der feststellt, dass dies die Sicherheit des Bundes oder Wahrung des Geheimschutzes begründen können, eines Landes gebietet. Entsprechendes gilt für die 2. die erforderlichen Geheimschutzmaßnahmen Sicherheitsüberprüfungsakte. getroffen sind und (7) SS 24 Abs. 2 Satz 4 Nr. 2 Buchstabe c und 3. die Sicherheitsüberprüfungen der betroffenen Satz 5 des Bundesdatenschutzgesetzes findet AnPersonen durchgeführt sind. wendung. Die zuständige Stelle kann von einer eigenen Prüfung absehen, wenn sich die nicht öffentliche Stelle SS 25 in der Geheimschutzbetreuung des Bundes oder Reisebeschränkungen eines anderen Bundeslandes befindet und in diesem (1) Personen, die eine sicherheitsempfindliche Zusammenhang bereits Feststellungen zu den in Tätigkeit im Sinne von SS 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 Satz 1 Nr. 1 bis 3 genannten Voraussetzungen geausüben, die eine Sicherheitsüberprüfung nach SSSS troffen worden sind. 11 und 12 erfordert, können verpflichtet werden, (2) Auf Antrag einer nicht-öffentlichen lebensDienstund Privatreisen in und durch Staaten, für oder verteidigungswichtigen Einrichtung kann die die besondere Sicherheitsregelungen gelten, der zuständige Stelle die Einrichtung oder Teile von ihr zuständigen Stelle oder der nicht-öffentlichen Stelle zur sicherheitsempfindlichen Stelle erklären, bei rechtzeitig vorher anzuzeigen. Die Verfassungsderen Ausfall oder Zerstörung eine erhebliche schutzbehörde wird ermächtigt, die PersonengrupBedrohung für die Gesundheit oder das Leben zahlpen und die Staaten durch eine Dienstanweisung reicher Menschen zu befürchten oder die für das festzulegen. Die Verpflichtung kann auch für die Funktionieren des Gemeinwesens unverzichtbar ist. Zeit nach dem Ausscheiden aus der sicherheitsempfindlichen Tätigkeit angeordnet werden. (3) Für den personellen Geheimund Sabotageschutz bei nicht-öffentlichen Stellen gelten die (2) Die zuständige Stelle kann die Reise unterVorschriften der SSSS 2 bis 25 entsprechend, sofern sagen, wenn Anhaltspunkte zur Person oder eine nicht nachfolgend etwas anderes geregelt ist. besonders sicherheitsempfindliche Tätigkeit vorliegen, die eine erhebliche Gefährdung des Betrof(4) Die nicht-öffentliche Stelle darf die nach diefenen durch fremde Nachrichtendienste erwarten sem Gesetz zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforlassen. derlichen personenbezogenen Daten der betroffenen Person in Dateien speichern, verändern und nutzen. (3) Ergeben sich insbesondere bei einer Reise in und durch Staaten, für die besondere SicherheitsreSS 27 gelungen gelten, Anhaltspunkte, die auf einen Zuständigkeit Anbahnungsoder Werbungsversuch fremder Nachrichtendienste hindeuten können, so hat der (1) Für den personellen Geheimschutz und den Betroffene die zuständige Stelle unverzüglich nach personellen Sabotageschutz werden die Aufgaben seiner Rückkehr zu unterrichten. der zuständigen Stelle von der Verfassungsschutzbehörde wahrgenommen, soweit nicht im Einvernehmen mit ihr die für Wirtschaft zuständige oberDRITTER ABSCHNITT ste Landesbehörde die Aufgabe als zuständige Personeller Geheimund Sabotageschutz bei Stelle wahrnimmt. nicht-öffentlichen Stellen (2) Die Entscheidung nach SS 26 Abs. 2 trifft die SS 26 Verfassungsschutzbehörde. Weitergabe geheimhaltungsbedürftiger SS 28 Angelegenheiten, Sabotageschutz Bestellung eines Sicherheitsbevollmächtigten (1) An eine nicht-öffentliche Stelle dürfen Ver(1) Liegt ein Vertrag zwischen einer nicht-öffentschlusssachen erst weitergegeben und Verträge mit lichen Stelle und der zuständigen Stelle zur Durch- ANHANG 379 führung der Sicherheitsüberprüfungen oder die SS 30 Bestimmung zur sicherheitsempfindlichen Stelle im Abschluss der Sicherheitsüberprüfung, Weitergabe Sinne von SS 4 Abs. 5 vor, benennt die Geschäftsvon Erkenntnissen leitung der zuständigen Stelle einen fachlich und persönlich geeigneten leitenden UnternehmensDie zuständige Stelle unterrichtet den Sicherheitsangehörigen als Sicherheitsbevollmächtigten, der in bevollmächtigten nach Abstimmung mit der VerAngelegenheiten des Geheimschutzes und des perfassungsschutzbehörde nur darüber, ob oder ob keisonellen Sabotageschutzes für die ordnungsgemäße ne Bedenken bestehen, dass dem Betroffenen eine Durchführung der Sicherheitsüberprüfungen verantsicherheitsempfindliche Tätigkeit übertragen wird. wortlich und mit den erforderlichen Befugnissen Erkenntnisse, auf denen diese Entscheidung beruht, ausgestattet ist. Der Sicherheitsbevollmächtigte dürfen nicht mitgeteilt werden. Zur Gewährleistung muss der Geschäftsleitung unmittelbar unterstellt des Verschlusssachenschutzes können sicherheitsersein; die Verantwortung der Geschäftsleitung bleibt hebliche Erkenntnisse an die nicht-öffentliche Stelle hierdurch unberührt. übermittelt werden und dürfen von ihr ausschließlich zu diesem Zweck genutzt werden. Die nicht(2) Der Sicherheitsbevollmächtigte muss sicheröffentliche Stelle hat die zuständige Stelle unheitsüberprüft sein nach der höchsten bei der nichtverzüglich zu unterrichten, wenn Erkenntnisse zum öffentlichen Stelle vorkommenden VerschlussBetroffenen oder zur einbezogenen Person bekannt sacheneinstufung. werden, die auf ein Sicherheitsrisiko hindeuten. (3) Die Aufgaben der nicht-öffentlichen Stelle nach diesem Gesetz sind grundsätzlich von einer SS 31 der Personalverwaltung getrennten OrganisationsBehördliche Aufsicht einheit wahrzunehmen. Die zuständige Stelle kann Ausnahmen zulassen, wenn die nicht-öffentliche (1) Soweit eine nicht-öffentliche Stelle über Stelle sich verpflichtet, Informationen, die ihr im Verschlusssachen verfügt, überprüft die zuständige Rahmen der Sicherheitsüberprüfung bekannt Stelle unter Mitwirkung der Verfassungsschutzbewerden, nur für solche Zwecke zu gebrauchen, die hörde die Ausführung dieses Gesetzes und der mit der Sicherheitsüberprüfung verfolgt werden. vertraglich übernommenen Pflichten. (4) Der Sicherheitsbevollmächtigte wird für den (2) Die mit geheimhaltungsbedürftigen Angepersonellen Geheimschutz und für den personellen legenheiten befasste nicht-öffentliche Stelle hat der Sabotageschutz von der Verfassungsschutzbehörde zuständigen Stelle bei der Wahrnehmung der in seine Aufgaben eingeführt. Die VerfassungsAufgaben nach Absatz 1 die erforderliche Unterschutzbehörde berät und informiert in Fragen des stützung zu gewähren. Sie hat insbesondere die gepersonellen Geheimund des personellen Sabotageheimhaltungsbedürftigen Angelegenheiten und die schutzes. zu deren Schutz getroffenen Maßnahmen nachzuweisen. Die zuständige Stelle ist befugt, soweit es SS 29 zur Wahrnehmung der Aufgaben nach Absatz 1 Sicherheitserklärung, Sicherheitsakte erforderlich ist, Grundstücke und Geschäftsräume der mit geheimhaltungsbedürftigen Angelegen(1) Abweichend von SS 14 Abs. 6 nimmt der heiten befassten nicht-öffentlichen Stelle zu betreSicherheitsbevollmächtigte der nicht-öffentlichen ten und dort Prüfungen und Besichtigungen vorzuStelle die Sicherheitserklärung entgegen. Er prüft nehmen. Die nicht-öffentliche Stelle hat diese Maßdie Vollständigkeit und Richtigkeit der Angaben nahmen zu dulden. Das Grundrecht der Unvergegebenenfalls unter Beziehung der Personalunterletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Grundgesetz, lagen und gibt sie an die zuständige Stelle weiter. Artikel 28 Abs. 2 der Verfassung von Berlin) wird Er teilt Erkenntnisse mit, die auf ein Sicherheitsinsoweit eingeschränkt. risiko hindeuten. SS 32 (2) Für die Sicherheitsakte in der nicht-öffentParteien lichen Stelle gelten die Vorschriften dieses Gesetzes über die Sicherheitsakte entsprechend mit der Politischen Parteien nach Artikel 21 des GrundMaßgabe, dass die Sicherheitsakte der nichtgesetzes, die über Organisationseinheiten verfügen, öffentlichen Stelle bei einem Wechsel des Arbeitdie den in SS 2 Satz 1 Nr. 3 beschriebenen Stellen gebers nicht abgegeben wird. vergleichbar oder die mit geheimhaltungsbedürftigen Angelegenheiten befasst sind, obliegt die Durchführung von Sicherheitsüberprüfungen für 380 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Mitarbeiter und Mitglieder, die Zugang zu Vereinen anderen zu schädigen, so ist die Strafe Freischlusssachen gemäß SS 6 erhalten sollen, und der heitsstrafe bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe. Maßnahmen nach diesem Gesetz selbst. Die Verfassungsschutzbehörde kann auf Ersuchen Maßnah(4) Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt. men nach SS 15 übernehmen, wenn die Voraussetzungen nachgewiesen sind. SS 35 Übergangsvorschriften VIERTER ABSCHNITT (1) Bei Sicherheitsüberprüfungen, die vor Inkrafttreten dieses Gesetzes abgeschlossen wurden, ist die Schlussvorschriften Wiederholungsüberprüfung gemäß SS 19 zehn Jahre nach Abschluss der Erstoder der letzten WiederSS 33 holungsüberprüfung durchzuführen. Erlass allgemeiner Verwaltungsvorschriften (2) Maßnahmen im Rahmen von Sicherheits(1) Die Verfassungsschutzbehörde erlässt die zur überprüfungen, die vor Inkrafttreten dieses Gesetzes Ausführung dieses Gesetzes erforderlichen Verwaleingeleitet wurden, aber noch nicht abgeschlossen tungsvorschriften. sind, gelten weiter, sofern sie nach den Bestimmungen dieses Gesetzes gleichwertig sind. (2) Die allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur Ausführung dieses Gesetzes im Bereich der nicht(3) Sicherheitsund Sicherheitsüberprüfungsakten öffentlichen Stellen erlässt die Verfassungsschutzsind bis zum Ablauf von zwölf Monaten nach Inbehörde im Einvernehmen mit der für Wirtschaft krafttreten dieses Gesetzes den Erfordernissen des zuständigen obersten Landesbehörde. SS 20 anzupassen. SS 34 SS 36 Strafvorschriften Änderung von Gesetzen (1) Wer unbefugt von diesem Gesetz geschützte Das Gesetz über das Landesamt für Verfassungspersonenbezogene Daten, die nicht offenkundig schutz in der Fassung vom 25. März 1995 (GVBl. sind, S. 254, 762 ) wird wie folgt geändert: 1. speichert, verändert oder übermittelt, 1. SS 5 Abs. 3 wird wie folgt geändert: 2. zum Abruf mittels automatisierten Verfahrens a) Satz 2 wird wie folgt gefasst: bereithält oder "Die Befugnisse des Landesamtes für Verfassungs3. abruft oder sich oder einem anderen aus schutz bei der Mitwirkung nach Satz 1 Nr. 1 und 2 Dateien verschafft, sind im Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit vom 2. März 1998 (GVBl S. 26) geregelt." Geldstrafe bestraft. b) Satz 3 wird aufgehoben. (2) Ebenso wird bestraft, wer 2. SS 11 wird wie folgt geändert: 1. die Übermittlung von durch dieses Gesetz gea) SS 11 Abs. 2 wird aufgehoben. schützten personenbezogenen Daten, die nicht b) Die bisherigen Absätze 3 und 4 wer den offenkundig sind, durch unrichtige Angaben erdie neuen Absätze 2 und 3. schleicht oder 2. entgegen SS 21 Abs. 2 oder SS 30 Daten für SS 37 andere Zwecke nutzt, indem er sie innerhalb der Inkrafttreten Stelle an einen anderen weitergibt. Dieses Gesetz tritt am ersten Tage des auf die (3) Handelt der Täter gegen Entgelt oder in der AbVerkündung im Gesetzund Verordnungsblatt für sicht, sich oder einen anderen zu bereichern oder Berlin folgenden Kalendermonats in Kraft. ANHANG 381 3 PERSONENUND SACHREGISTER 1. Mai 33, 54 f, 72 ff., 156, 234, 292, 327, al-Qa'ida 114, 117, 119 f, 124 ff., 261 ff. 335, 341 f. Al-Quds-Tag 271 f. 11. September 262 Altautonome 245 ff. 8. Mai 22, 27, 33 ff., 61, 77, 79, 88 ff., 156, Al-Tawhid 114, 134, 138 249, 252, 292, 335, 342 AMGT Siehe Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e. V. A Anarchisten 197 Anatolische Föderation 154, 156 ANB Siehe Autonome Nationalisten Berlin AAB Siehe Antifaschistische Aktion Berlin ANS/NA Siehe Aktionsfront Nationaler AAI Siehe Ansar al-Islam Sozialisten / Nationale Aktivisten AANO Siehe Autonome Antifa Nordost Ansar al-Islam Siehe Helfer des Islam AAS Siehe Ansar al-Sunna Ansar al-Sunna Siehe Helfer des Islam ABB Siehe Antifa Brigade Berlin Anti-Antifa 4, 18, 205, 206, 334 ABSO Siehe Antifaschistisches Bündnis Antideutschen 74, 89 Südost Antifa 4, 18, 31 ff., 44, 57, 73, 78, 84 ff., Abu Hafs al-Masri Brigaden 133 91 ff, 198, 205 f, 248, 250, 333 f., 346 f. ACT! 71 ff., 90 Antifa A+P (Agitation und Praxis) 250 ADHF Siehe Föderation für demokratische Antifa Brigade Berlin 85 Rechte in Deutschland e. V. Antifaschismus 244, 246, 250 ADHK Siehe Konföderation für Antifaschistische Aktion Berlin 198, 246, demokratische Rechte in Europa 251 Adil Düzen 143, 280 f. Antifaschistische Initiative Reinickendorf 85 Agenturschluss 74 ff., 252, 345 Antifaschistische Linke Berlin 77, 84 ff., 90, AGIF Siehe Föderation der Arbeitsimmi91 ff, 105 f, 246, 250 f. grantInnen aus der Türkei in Deutschland Antifaschistischer Kampf 4, 73, 83 AGL Siehe Arbeitsgemeinschaft Lichtenberg Antifaschistisches Bündnis Südost 84, 346 AIR Siehe Antifaschistische Initiative Antipluralismus 195 Reinickendorf Antirassismus 244 Akif, Mohammad Mahdi 288 Antisemitismus 25, 196, 229 f, 252, 322, 395 AKON Siehe Aktion Oder-Neiße Apfel, Holger 54, 224 f. AKP Siehe Gerechtigkeitsund EntwickAPI Siehe Arbeiterkommunistische Partei lungspartei Irans Aktion Oder-Neiße 220 Arbeiterkommunistische Partei Irans 289 f. Aktionsfront Nationaler Arbeiterpartei Kurdistans Siehe FreiheitsSozialisten / Nationale Aktivisten 218, 236 und Demokratiekongress Kurdistans Al-Ahd - Al-Intiqad 269 Arbeitsgemeinschaft Lichtenberg 23, 26 f. al-Aqsa-Intifada 270 f. Arbeitskreis für Unternehmenssicherheit al-Arabiya 125, 132 Berlin-Brandenburg 185 ALB Siehe Antifaschistische Linke Berlin Armee der Helfer der Sunna Siehe Helfer des al-Jaish al-islami fi'l-iraq Siehe Islamische Islam Armee im Irak Artgemeinschaft - Germanische Glaubensal-Jama'a al-islamiya 124, 262 Gemeinschaft wesensgemäßer al-Jazeera 125, 132 Lebensgestaltung e. V. 226 ff. al-Jihad al-islami 262 ATIF Siehe Föderation der Arbeiter aus der Al-Manar-TV Siehe Der Leuchtturm Türkei in Deutschland e. V al-Maqdassi, Abu Muhammad 124, 131 ATIK Siehe Konföderation der Arbeiter aus Al-Maududi, Abul Ala 202 f. der Türkei in Europa 382 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Atomgesetz 188 BNO Siehe Bewegung Neue Ordnung Aufenthaltsgesetz 187, 328, 348, 352 Brandanschläge 81, 95, 98 ff., 168, 253, 296, Autonome 18, 23, 28, 31, 71, 79, 81 f., 85, 345 f., 350 89, 96, 198, 205 f., 245, 246, 248, 197, 243 Bräuniger, Eckart 64 f., 212, 335 ff. Bremer Hilfswerk e. V. 268 Autonome Aktionsgemeinschaften 18 ff., 34, BSÜG Siehe Berliner Sicherheitsüberprü206, 211 fungsgesetz Autonome Antifa Infernal 84 Bundesamt für Wirtschaft und AusfuhrkonAutonome Antifa Nordost 89, 248 trolle 177 Autonome Gruppen 81, 98, 99 ff. Bundesminister für Verteidigung 183 Autonome Nationalisten Berlin 23 ff., 31 ff., Bundestagswahl 4, 19, 42 ff., 59 ff., 101 ff., 205 f., 337 156, 221, 225, 258, 260, 331, 335 Autonome Szene 197, 243 ff. Bundesverfassungsgericht 24, 55, 139, 148, Autonomismus 25 194, 225, 229, 277, 307 ff., 334 autopool 77, 90 Bundeswehr-Gelöbnis 32 Autoritarismus 195 Bürgerund Hinweistelefon 324 AvEG-Kon Siehe Konföderation der unterdrückten Immigranten in Europa C Aydin, Harun 277 Christophersen, Thies 239 B Committee for a Workers International 259 B & H Siehe Blood & Honour D B.A.N.G. Siehe Berliner Anti-NATO Gruppe Baath-Partei 120 D.S.T. Siehe Deutsch, Stolz, Treue BAFA Siehe Bundesamt für Wirtschaft und Dehoust, Peter 237 Ausfuhrkontrolle Der Gegenangriff 234 Basis des Jihad im Zweistromland 138 Der Leuchtturm 269 ff. BASO Siehe Berliner Alternative Süd-Ost Deutsch, Stolz, Treue 43, 212, 215 f. Berliner Alternative Süd-Ost 18, 20 f., 24, Deutsche Kommunistische Partei 70, 103, 211, 334 254 f. Berliner Anti-NATO Gruppe 77, 79, 247 Deutsche Liga für Volk und Heimat 238 Berliner Arbeitskreis für SicherheitsbevollDeutsche Volksunion 15, 19, 45 ff., 58 ff., mächtigte 185 220 ff., 238, 335 Berliner Nationale Jugend 21 Deutsche Stimme 52 f., 223 Berliner Sicherheitsüberprüfungsgesetz Deutsches Kolleg 228 ff. 180 f., 185, 305, 308, 357, 369, 380 Deutschland-Pakt 51 Bewachungsverordnung 189, 308 DHKC Siehe Revolutionäre VolksbefreiBewaffnete Streitkräfte der Armen und Unterungsfront drückten 291 DHKP-C Siehe Revolutionäre VolksbefreiBewegung 2. Juni 96 ungspartei-Front Bewegung der freien Jugend Kurdistans 162, Die Lunikoff-Verschwörung 36, 40, 216 297 f., 349 Die Überflüssigen 74, 80 Bewegung des Islamischen Widerstands 110, DK Siehe Deutsches Kolleg 128 f., 265 ff. DKP Siehe Deutsche Kommunistische Partei Bewegung Neue Ordnung 223 DLVH Siehe Deutsche Liga für Volk und Bin Ladin, Usama 116, 125 ff., 203, 262 f., Heimat 267 f. Donaldson, Ian Stuart 29, 207, 214 Binalshib, Ramzi 139 Drei-Säulen-Konzept 218, 225 Blood & Honour 29, 207 f., 214, 218 f. DS Siehe Deutsche Stimme BNJ Siehe Berliner Nationale Jugend ANHANG 383 DSZ Druckschriftenund Zeitungs-Verlag Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei 65, GmbH 220 212, 218 DVU Siehe Deutsche Volksunion Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans 112, 115 f., 158 ff., 296 ff., 349 E Freiheitsfalken Kurdistans 164 Freiheitspartei der Frauen Kurdistans 160 Frey, Dr. Gerhard 51, 54, 58, 59, 60, 220, E. Xani-Presseund Verlags-GmbH 165 f. 221, 222 Ehrenbund Rudel 220 Funkenflug 232, 233 Einbürgerungsverfahren 186, 313, 357 Für eine linke Strömung 75 ff., 90, 105 El-Motassadeq, Mounir 114, 134, 139 FZ Freiheitlicher Buchund ZeitschriftenEMUG Siehe Europäische Moscheebauund Verlag GmbH 220 Unterstützungsgemeinschaft e. V. Engel, Stefan 104 Erbakan, Mehmet Sabri 282, 284 G Erbakan, Necmettin 114, 141 ff., 280 ff. Erdogan, Recep Tayyip 281, 284 G 8-Gipfel 98 ff. ERNK Siehe Nationale Befreiungsfront G-10-Kommission 307 Kurdistans Gebrüder Strasser 26, 213 Ersoy, Arif 144 Geheimschutz 180 ff., 369, 378 f. ESA Siehe External Security Apparatus Geheimschutzbeauftragte 182, 370 Euro-Mayday 77, 78 Geheimschutzverfahren 183 Europäische Moscheebauund UnterGemeinsames Terrorismusabwehrzentrum stützungsgemeinschaft e. V. 280 320 f. External Security Apparatus 272 Gemeinschaft Unabhängiger Staaten 171 Gerechtigkeitsund Entwicklungspartei 281, F 284 Gesellschaft für freie Publizistik 53, 237 Gewaltdebatte 33 F.e.l.S. Siehe Für eine linke Strömung GfP Siehe Gesellschaft für freie Publizistik FAP Siehe Freiheitliche Deutsche ArbeiterGG Siehe Grundgesetz partei Globalisierung 291 Faschismus 196 ff., 244, 293 Göring, Hermann 39 FAU Siehe Freie Arbeiter Union Grabert-Verlag 238 Fazilet Partisi Siehe Tugendpartei Grundgesetz 3, 59, 194, 199, 204, 305, 307, FESK Siehe Bewaffnete Streitkräfte der 311, 356 ff., 379 Armen und Unterdrückten Gruppe für das Einheitsbekenntnis und den FKB Siehe Freie Kräfte Berlin Jihad 138 Föderation der Arbeiter aus der Türkei in GTAZ Siehe Gemeinsames TerrorismusDeutschland e. V. 295 abwehrzentrum Föderation der ArbeitsimmigrantInnen aus der Türkei in Deutschland 291 Föderation der iranischen Flüchtlingsund H Immigrantenräte e. V. 290 Föderation für demokratische Rechte in HAKK-TV 278 Deutschland e. V. 156, 295 HAMAS Siehe Bewegung des Islamischen FP Siehe Tugendpartei Widerstands Freie Arbeiter Union 75 Hammerskins 19, 35 f., 207 ff., 218 Freie Frauenpartei 160 Hartz IV 70, 74, 104, 156 Freie Frauenverbände 161 HDJ Siehe Heimattreue Deutsche Freie Kräfte 19, 23 ff., 31, 33, 205 f., 335 Jugend e. V. Heimattreue Deutsche Jugend e. V. 232 384 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 Heisenhof 228 Islamischer Widerstand 110, 270 f. Helfer des Islam 114, 121, 133 ff., 263 f. Islamisches Kulturund Erziehungszentrum Hess, Rudolf 23, 39 Berlin e. V. 268, 288 Hilfsorganisation für nationale politische Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland Gefangene und deren Angehörige e. V. e. V. 142 209 IST Siehe International Socialists Tendency Hizb Allah 110, 129, 269 ff. Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden 267, 271 Hizb al-Tahrir al-islami 110, 273, 274, 275 HKO Siehe Volksbefreiungsarmee J HNG Siehe Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren AngeJaish Ansar al-Sunna Siehe Helfer des Islam hörige e. V. Jama'at al-tauhid wa'l-jihad 138 Hoggan, David 239 Jihad 118, 123 ff., 137 ff., 203, 261 ff., 274, Holocaust-Leugner 66 f., 240 286 f. home-grown Networks 117 Jihadismus 117 HS Siehe Hammerskins JLO Siehe Junge Landsmannschaft OstHussain, Saddam 299 preußen HuT Siehe Hizb al-Tahrir al-islami JN Siehe Junge Nationaldemokraten Junge Landsmannschaft Ostpreußen 54 I Junge Nationaldemokraten 4, 18, 21 ff., 28, 33, 54 ff., 64, 88, 91, 211, 223, 335 I.f.A. 220 Siehe Initiative für AusländerJungle World 96, 217 begrenzung ICCB Siehe Verband der islamischen Ver- K eine und Gemeinden e. V. Köln IFB Siehe Islamische Föderation in KABD Siehe Kommunistischer ArbeiterBerlin e. V. verbund Deutschlands IFIR Siehe Föderation der iranischen KADEK Siehe Freiheitsund DemokratieFlüchtlingsund Immigrantenräte e. V. kongress Kurdistans IGD Siehe Islamische Gemeinschaft in Kalifatsstaat 275, 276, 277, 278 Deutschland e. V. Kameradschaft Nordland 22, 65, 211 f., 219 IGMG Siehe Islamische Gemeinschaft Milli Kameradschaft Nord-Ost 22 f., 211, 334 Görüs e. V. Kameradschaft Spreewacht 22, 29, 35, 37, IMC Siehe Islamic Media Centre 212 f. in camera-Verfahren 313 Kameradschaft Tor Berlin 18 ff., 24, 211, indymedia 248 334 ff. Initiative für Ausländerbegrenzung 220 Kameradschaften 4, 18, 20 ff., 30, 205 f., INTERIM 82, 90, 95 ff., 243 ff., 254 210 ff., 334 ff. International Socialists Tendency 255 Kameradschaftsnetzwerk 20 f., 64 IPA Siehe Irakische Patriotische Allianz Kampfbund Deutscher Sozialisten 234 ff. Irakische Patriotische Allianz 153 Kaplan, Cemaleddin 275 f. Irving, David 67, 240 Kaplan, Metin 276 ff. Islamic Media Centre 132 Karahan, Yavuz Celik 144 ff. Islamische Armee im Irak 121 KDS Siehe Kampfbund Deutscher SoziaIslamische Föderation in Berlin e. V. 148 listen Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. KJB Siehe Koma Jinen Bilind 142, 288 KKK Siehe Koma Komalen Kürdistan Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. Kleist, Peter 239 111, 114 f., 141 ff., 275, 280 ff. KNO Siehe Kameradschaft Nord-Ost Islamische Religionsgemeinschaft Koma Jinen Bilind 160, 161, 298 Hessen e. V. 142 ANHANG 385 Koma Komalen Kürdistan 158, 161, 164, 298 Mädelgruppe 20 Komalen Ciwan 162, 298 Mahler, Horst 67 f., 228 ff., 241 f., 274 Kommunismus 198, 248, 252 f., 258 Maoistische Kommunistische Partei 151 ff., Kommunistische Partei Deutschlands 103, 294 f. 199, 254 Märkischer Heimatschutz - Sektion Berlin Kommunistische Plattform der PDS 103 f. 22, 26, 42, 211, 334, 338 Kommunistischer Arbeiterverbund DeutschMärkischer Kulturtag 233 lands 257 Marxismus-Leninismus 196, 199 f., 254, 257, Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in 291 Europa 295 Marxistisch-Leninistische Kommunistische Konföderation der unterdrückten Immigranten Partei 149 ff., 291 f. in Europa 153, 157 Marxistisch-Leninistische Partei Konföderation für demokratische Rechte in Deutschlands 70, 101, 104 ff., 156 ff., 345 Europa 295 Mash'al, Khalid 266 KONGRA-GEL Siehe Volkskongress MB Siehe Muslimbruderschaft Kurdistans MEK Siehe Volksmojahedin IranKonkurrenzausspähung 173 f. Organisation Kontrollinstanzen 312 Mevlana-Moschee-e. V. 148 Kontrollverfahren 305 MHS Siehe Märkischer Heimatschutz - Konzerte 19, 35, 43, 207, 214, 215, 216, 219 Sektion Berlin KP Siehe Kritik & Praxis B3rlin militante gruppe (mg) 95 ff., 253 KPD Siehe Kommunistische Partei Militanz 199, 204, 243 f. Deutschlands Militanzdebatte 95 ff., 253 KPF Siehe Kommunistische Plattform der Milli Gazete 115, 141 ff., 281 ff. PDS Milli-Görüs-Bewegung 282 Kritik & Praxis B3rlin 51, 246, 250, Mitwirkungsangelegenheit 186 KSW Siehe Kameradschaft Spreewacht MKP Siehe Maoistische Kommunistische KTB Siehe Kameradschaft Tor Partei Kühnen, Michael 236 MLKP Siehe Marxistisch-Leninistische Kurdische Demokratische Volksunion 297 Kommunistische Partei Kutan, Recai 281 MLPD Siehe Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands L mudy fiftynine 81, 345 Mujahidin 202, 261 ff., 279 Muslimbruderschaft 111, 129, 142, 201, 203, Landfriedensbruch 17, 72, 113 265, 285 Landser 35, 36, 215, 216, 219, 335 MyFest 78 Landtagswahlen 4, 19, 44, 48, 50, 70, 222 Mzoudi, Abdelghani 114, 134, 139 f. Langener Erklärung 234, 236 Legalitätsprinzip 175, 320 Legalresidenturen 172 N Legion of Thor 213, 216 Linksruck 71, 102 ff., 255 f., 260 N&E Siehe Nation & Europa - Deutsche Liste D 220 Monatshefte Luftsicherheitsgesetz 188, 308 Nachrichtenbeschaffung 315 Luxemburg-Liebknecht-Demonstration 156, Nachrichtendienste 371 ff., 378 292 ff. Nachrichtendienstliche Mittel 315 Nachrichtendienstliches Informationssystem M 316 f., 356 f. NADIS Siehe Nachrichtendienstliches Informationssystem Macht & Ehre 216 386 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 NAPB Siehe Nationale Aktivisten P Prenzlauer Berg Nasrallah, Hassan 269 ff PAJK Siehe Freiheitspartei der Frauen Nation & Europa - Deutsche Monatshefte Kurdistans 52, 237 f. Palästinensischer Islamischer Jihad 128, 267, Nationaldemokratische Partei Deutschlands 4, 271 14 ff., 33, 38, 42 ff., 88, 94, 156, 211 f., Partei Soziale Gleichheit 104, 105, 106, 107 218 ff., 237, 274, 334 f., 338 f., 344 Parteienprivileg 24 Nationaldemokratischer Hochschulbund e. V. Partiya Welatperez'e Demokratik 298 223 Partizan-Flügel 294 f. Nationale Aktivisten Prenzlauer Berg 21 PIJ Siehe Palästinensischer Islamischer Jihad Nationale Alternative 218 PJA Siehe Freie Frauenpartei Nationale Befreiungsfront Kurdistans 298 PKK Siehe Freiheitsund DemokratiekonNationaler Widerstandsrat Iran 116, 169 f., gress Kurdistans 299 ff. PRO Siehe Partei Rechtsstaatliche Offensive Nationalsozialismus 196, 213, 239 Projekt Schulhof 41 f. Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Proliferation 175 ff. 213 Propagandadelikte 17, 72, 112 f., 218, 328 National-Zeitung / Deutsche Wochen-Zeitung ff., 339, 343, 348 51 f., 220 ff. PSG Siehe Partei Soziale Gleichheit Neonazi 213 ff. PWD Siehe Partiya Welatperez'e DemoNeonazismus 25, 59, 89, 196 kratik Netzwerk Kameradschaften Siehe Kameradschaften Netzwerk Musik 18 f., 29, 219 Q Neubauer, Harald 237 f. NHB Siehe Nationaldemokratischer HochQa'idat al-jihad fi bilad 138 schulbund e. V. Quellenschutz 316, 374 Nordische Zeitung 226 Qutb, Sayyid 203, 264, 286 f. NPD Siehe Nationaldemokratische Partei Deutschlands R NPD-Verbotsverfahren 24, 229 ff. NSDAP Siehe Nationalsozialistische Radikal 97 Deutsche Arbeiterpartei Rajavi, Maryam 170 NWRI Siehe Nationaler Widerstandsrat Iran Rassismus 196, 197, 244 NZ Siehe National-Zeitung / Deutsche REBELL 257 Wochen-Zeitung Rechts-Links-Auseinandersetzungen 17, 83, 333 O Regelausweisungstatbestände 187 Revisionismus 66, 199, 230, 239 f., 258 Oberlercher, Reinhold 228 ff. Revisionisten 20, 66 ff., 237 ff. Observation 315, 358 Revolutionäre 1. Mai Demonstration 77, 292 ff. Revolutionäre Internationale Bewegung 153 Ö Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front 151 ff., 292 f. Öcalan, Abdullah 160 f., 166 f., 296 ff. Revolutionäre Zellen 253 Öcalan, Osman 159, 167, 298 Richter, Karl 205, 225, 238, 370 Özgür Politika 159 ff., 298 Rieger, Jürgen 226, 228 RIM Siehe Revolutionäre Internationale Bewegung ANHANG 387 Roeder, Manfred 68 Telekommunikationsüberwachung 310 f. Röhm, Ernst 26, 213 Terrorismusbekämpfungsgesetz 308 Rote Fahne 107, 257 THKP/-C - Devrimci Sol Siehe Türkische Rudolf, Germar 39, 66, 239 f. Volksbefreiungspartei/Front - RZ Siehe Revolutionäre Zellen Revolutionäre Linke TIKKO Siehe Türkische Arbeiterund S Bauernbefreiungsarmee TKP/ML Siehe Türkische Kommunistische Partei / Marxisten-Leninisten Saadet Partisi 281 ff. Tonträger 35 ff., 43 f., 215 f. Sabotageschutz 180, 185 f., 369, 378 f. Tugendpartei 281 SAG Siehe Sozialistische Arbeitergruppe Türkische Arbeiterund SAV Siehe Sozialistische Alternative Voran Bauernbefreiungsarmee 294 Scharia 128, 146, 202, 275 f., 280 Türkische Kommunistische Schaub, Bernhard 240 Partei / Marxisten-Leninisten 149 f., 294 f. Schlierer, Dr. Rolf 60 Türkische Volksbefreiungspartei/-Front - Schönhuber, Franz 52 Revolutionäre Linke 292 Schulhof-CD 42 f., 47, 335 Türkisch-islamische Union der Anstalt für Schwab, Jürgen 59 Religion e. V. 142 Schwarzer Orden 39, 216 Selbstmordattentate 3, 116 ff., 131, 267 ff., 287 Ü Sicherheitsüberprüfungen 12, 180 ff., 308, 317, 357, 369 ff. Überwachung des Postund FernmeldeverSkinheads 29 f., 37, 43, 207 ff., 395 kehrs 315 Sofu, Dr. Halil Ibrahim 276 Ücüncü, Oguz 144, 284 f. Solidarität - Sozialistische Zeitung 259 Ümmet-i Muhammed 277 Sozialistische Alternative Voran 102 ff., 256 ff. U Sozialistische Arbeitergruppe 255 SP Siehe Saadet Partisi Union der Jugendlichen aus Kurdistan 297 Spionageabwehr 171, 317, 358 f. Spirit of 88 41, 216 Spreegeschwader 38 f., 44, 216, 219, 335 V Sprengstoffgesetz 189, 212, 308, 328, 339 ff. Stehr, Heinz 103 Vandalen - Ariogermanische KampfgemeinSternBurgBrigade 79 schaft 19, 35 f. , 44, 212, 218 f. Stressfaktor 86, 87 Verband der islamischen Kulturzentren e. V. Subversion International 90 142 Szeneläden 19, 35, 43 f., 87 Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e. V. Köln 275 T Verbeke, Siegfried 66, 240 Verein zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten 66 f., 240 ff. Tabligh-i Jama'at 279 Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa TAK Siehe Freiheitsfalken Kurdistans e. V. 275, 280 ff. takfir 125 Vereinsgesetz 20, 277 Taliban 125, 134, 261 f. Vereinte Nationalisten Nordost 22 f., 211 TAYAD 153 ff. Verfassungsschutzgesetz Berlin 184 ff., 194, Tayad-Komitee 293 305 f., 315 f., 321, 356 TECAK Siehe Bewegung der freien Jugend Verschlusssachen 369 ff. Kurdistans Verschlusssachenanweisung 182 388 V E R F AS S U N GS S C H U TZ B E R I C H T B E R L I N 2 0 0 5 VNNO Siehe Vereinte Nationalisten NordWilhelm-Tietjen-Stiftung für FertilisationsOst forschung 228 Voigt, Udo 46, 49, 51 ff., 59 f., 225, 274 Wirtschaftsspionage 173 Volksbefreiungsarmee 294 Wohnraumüberwachung 309 Volksfront 15, 19, 45 ff., 222, 226 Worch, Christian 59 Volkskongress Kurdistans 115, 158 ff., YATIM-Kinderhilfe e. V. 268 296 ff. Volksmojahedin Iran-Organisation 116, Y 169 f., 299 f. Volksverhetzung 17, 113 YCK Siehe Union der Jugendlichen aus Volksverteidigungskräfte 116 Kurdistan V-Personen 225, 315 f. YDK Siehe Kurdische Demokratische VRBHV Siehe Verein zur Rehabilitierung Volksunion der wegen Bestreitens des Holocaust VerYJA Siehe Freie Frauenverbände folgten Yorckstraße 59 73 f., 80 ff. VSG Bln Siehe Verfassungsschutzgesetz Yumakogullar, Osman 282 Berlin W Z Zarqawi, Abu Mus'ab 116, 120 ff., 130 f., Waffengesetz 137, 189, 218, 308, 329 ff., 138 340 ff., 349 Zawahiri, Aiman 116, 124 ff., 127 ff., 262, Wessel, Horst 23 267, 268 Wetterleuchten 234 ff. Zündel, Ernst 66 ff., 239 f Wikinger-Forum 29 Zündstoff - Deutsche Stimme für Berlin und Wiking-Jugend e. V. 226 Brandenburg 223 Zuverlässigkeitsüberprüfungen 188 ANHANG 389 PUBLIKATIONEN DES VERFASSUNGSSCHUTZES BERLIN REIHE IM FOKUS Rechtsextremistische Skinheads 1. Auflage Berlin 2003 (im Internet abrufbar). 86 Seiten. Antisemitismus im extremistischen Spektrum Berlins 1. Auflage Berlin 2004 (im Internet abrufbar). 44 Seiten. Islamismus. Diskussion eines vielschichtigen Phänomens 1. Auflage Berlin 2005. 116 Seiten. Rechte Gewalt in Berlin 2. Auflage Berlin 2006. 64 Seiten. REIHE INFO Symbole und Kennzeichen des Rechtsextremismus 3. überarbeitete Auflage Berlin 2005. 27 Seiten. Islamismus 1. Auflage Berlin 2006. 39 Seiten. Diese sowie weitere Publikationen des Berliner Verfassungsschutzes können Sie unter der rückseitig angegebenen Adresse sowie telefonisch unter (030) 90 129-853 bestellen oder aber im Internet abrufen unter www.verfassungsschutz-berlin.de. Der Berliner Verfassungsschutz bietet zudem Vorträge zu den einzelnen Extremismusbereichen und zur Spionage an. Nähere Informationen erhalten Sie hierzu unter (030) 90 129-874. Senatsverwaltung für Inneres Abteilung Verfassungsschutz Postfach 620560 10795Berlin Tel.: (030) 90129-0 Internet: www.verfassungsschutz-berlin.de E-Mail: info@verfassungsschutz-berlin.de