Landesamt für Verfassungsschutz BERLIN VerfassungsschutzBericht Berlin 1990 Landesamt für Verfassungsschutz BERLIN VerfassungsschutzBericht Berlin 1990 2 Herausgeber: Landesamt für Verfassungsschutz Berlin Redaktion: UV II A März 1991 (Redaktionsschluß: 28. Februar 1991) Druck: Verwaltungsdruckerei Berlin Abdruck gegen Quellenangabe gestattet, Belegexemplar erbeten Vorwort 3 Vorwort Das Jahr 1990, das als Wende der Nachkriegszeit in die Annalen der deutschen Geschichte eingehen wird, beendete die unnatürliche Teilung Deutschlands, unter der gerade Berlin und die Berliner in besonderem Maße zu leiden hatten. Andererseits ließ der Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 eine ganz neue Situation entstehen. Dies wird gerade hier in Berlin deutlich, wo die mit dem Beitritt verbundenen Probleme und Chancen wie unter einem Brennglas sichtbar werden. Von besonderer Bedeutung für die Stadt war auch der mit der Wiedervereinigung einhergehende Wegfall der Alliierten Vorbehaltsrechte. Damit liegt die Gewährleistung der inneren Sicherheit in der alleinigen Verantwortung des Senats. Dies gibt mir die Möglichkeit, für das Jahr 1990 erstmals einen Jahresbericht des Landesamtes für Verfassungsschutz der Öffentlichkeit vorzustellen. Mit der Herausgabe eines eigenen Jahresberichts schließt sich Berlin einer in den alten Bundesländern und dem Bund schon seit langem geübten und bewährten Praxis an. Er dient in erster Linie dazu, die Öffentlichkeit über Aufgaben, Methoden und Ergebnisse auf den einzelnen Arbeitsgebieten des Landesamtes für Verfassungsschutz zu unterrichten. Neben der Vermittlung eines Lagebildes über den politischen Extremismus und den Aktivitäten gegnerischer Nachrichtendienste soll er dazu beitragen, die gerade in Berlin geführte Diskussion um die Institution "Verfassungsschutz" zu versachlichen. Der Bericht macht deutlich, daß das Landesamt für Verfassungsschutz ein unverzichtbares Element einer wirksamen Sicherheitspolitik darstellt, auf das auch in der Zukunft nicht verzichtet werden kann. Darüber hinaus erscheint mir der Jahresbericht ein geeignetes Mittel, die Bürgerinnen und Bürger der östlichen Bezirke Berlins, die seit 1933 in einer Diktatur leben mußten, trotz ihrer negativen und leidvollen Erfahrung mit der Staatsmacht und insbesondere mit der Stasi davon zu überzeugen, daß sich auch der freiheitliche demokratische Rechtsstaat gegen seine Feinde verteidigen muß. 4 Vorwort Zu den staatlichen Instrumenten der wehrhaften Demokratie zählt der im Grundgesetz verankerte Verfassungsschutz als Frühwarnsystem gegenüber extremistischen und sicherheitsgefährdenden Bestrebungen. Während die Stasi verbrecherischen Amtsträgern eines totalitären Systems diente, um deren Macht durch eine totale Überwachung der Bürger zu sichern, und sogar der RAF bei deren terroristischen Anschlägen Unterstützung gewährte, wirkt der Verfassungsschutz mit, den inneren Frieden unseres freiheitlichen Rechtsstaates zu wahren und das Entstehen einer Diktatur oder Anarchie zu verhindern. Der Verfassungsschutz hält bei der Erledigung seiner Aufgaben die Freiheit des einzelnen und den Schutz des Gemeinwesens in einem ausgewogenen Verhältnis. Er ist an Recht und Gesetz gebunden und unterliegt, wie kaum eine andere Behörde, einer strengen Kontrolle durch zahlreiche Maßnahmen, Gremien und Personen. Allerdings ist das Eintreten für unsere durch die Verfassung geschützten Werte nicht nur Aufgabe des Staates, sondern geht uns alle an. Aus diesem Grund bitte ich Sie, nicht zu zögern, sich auch direkt an das Landesamt für Verfassungsschutz zu wenden, wenn Sie Fragen oder Vorschläge zu diesem Bericht haben; man ist dort für jede Anregung dankbar und wird Ihnen gern Auskunft erteilen. Berlin, im August 1991 Professor Dr. Dieter HECKELMANN Senator für Inneres Inhaltsverzeichnis 5 Inhaltsverzeichnis Einleitung 13 1. Aufgaben, Grundlagen und Kontrolle des Verfassungsschutzes 17 1.1 Allgemeines 18 1.2 Geschichtliche Entwicklung 18 1.2.1 Verfassung und Verfassungsschutz 18 1.2.2 Trennungsgebot 19 1.2.3 Entwicklung des LfV 19 1.2.4 Der besondere Status Berlins ....20 1.2.5 Entwicklung des Verfassungsschutzes 21 1.3 Aufgaben des LfV 22 1.3.1 Gesetzlicher Auftrag 22 1.3.2 Die freiheitliche demokratische Grundordnung 23 1.4 Gesetzliche Befugnisse zur Aufgabenerfüllung 25 1.4.1 Informationsbeschaffung 25 1.4.1.1 Die sogenannte offene Beschaffung 25 1.4.1.2 Der sogenannte geheime Meldeweg 25 1.4.2 Informationsverwertung 25 1.5 Struktur des LfV 26 1.6 Verfassungsschutz, Datenschutz und Auskunftserteilung 27 1.7 Kontrolle des LfV 28 2. Politischer Extremismus 29 2.1 Linksextremismus 30 2.1.1 Linksextremistisch motiviertes Gewaltpotential 30 2.1.1.1 Vorbemerkung 30 2.1.1.2 "Rote Armee Fraktion" (RAF) 31 2.1.1.2.1 Grundlagen und Ziele 31 6 Inhaltsverzeichnis 2.1.1.2.2 Strukturen 2.1.1.2.3 Ausblic! 2.1.1.3 "Revolutionäre Zellen" (RZ), 2.1.1.3.1 Entstehung... 2.1.1.3.2 Grundlagen, Ziele, Strukturen 2.1.1.3.3 Anschläge in Berlin 2.1.1.3.4 2.1.1.4 2.1.1.4.1 2.1.1.4.2 Grundlagen, Ziele, Strukturen. 2.1.1.4.3 Die "Militanz" der Autonomen... 2.1.1.4.4 Aktuelle Aktivitäten der Autonomen. 2.1.1.4.5 Ausblick 22 DogmatischeNeue Linke. 2.1.2.1 Vorbemerkung 2.1.2.2 _Revolutionär-marxistische Gruppen. 2.1.2.2.1 "Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD" (AB) 2.1.2.2.2 "Bund Westdeutscher Kommunisten" (BWK) 2.1.2.2.3 "Kommunistische Partei Deutschlands" (KPD). 2.1.2.2.4 "Kommunistischer Bund" (KB) ... 2.1.2.2.5 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) 2.1.2.2.6 "Marxistische Gruppe" (MG) 2.1.2.2.7 "Rote Garde Berlin" (RG)... 2.1.2.2.8 "Rote Hilfe e.V." (RH) 2.1.2.2.9 "Sympathisanten der Revolutionären'Kommunisten (BRD)' 2.1.2.2.10 "Vereinigte Sozialistische Partei" (VSP) 2.1.2.2.11 "Volksfront gegen Reaktion, Faschismus und Krieg" (Volksfront)... 2.1.2.3 Trotzkistische Parteien und Gruppen 2.1.2.3.1 "Bund Sozialistischer Arbeiter" (BSA) 2.1.2.3.2 "Internationale Sozialistische Arbeiterorganisation" (ISA)... 2.1.2.3.3 "Sozialistische Arbeitergruppe" (SAG). 2.1.2.3.4 "Spartakist - Arbeiterpartei Deutschlands" (SpAD) 2.1.24 Ausblick Inhaltsverzeichnis 7 1 2.1.3 Orthodoxer Kommunismus 63 2.1.3.1 Vorbemerkung 63 2.1.3.2 Umwandlung der "Sozialistischen Einheitspartei Westberlins" (SEW) zur "Sozialistischen Initiative" (Sl) 63 2.1.3.3 Die Sl als Übergangspartei 64 2.1.3.4 Aktivitäten der Sl 65 2.1.3.5 Ausblick 66 2.1.4 Sonderthema: Die Selbstdarstellung einer Berliner RZ in der Diskussion 67 2.2 Rechtsextremismus 71 2.2.1 Vorbemerkung 71 2.2.2 Neuer Nationalsozialismus (Neonazismus) 74 2.2.2.1 "Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front" (GdNF), früher "Die Bewegung" 74 2.2.2.2 "Freiheitspartei" 76 2.2.2.3 "Nationalistische Front" (NF) 76 2.2.2.4 "Asgard-Bund e.V."/"Wotans Volk" 78 2.2.2.5 "Wiking-Jugend volkstreue nordländische Jugendbewegung Deutschland e.V." (WJ) 79 2.2.2.6 "Nationale Alternative" (NA) 80 2.2.2.7 "Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei" (FAP) 81 2.2.2.8 "Nationale Offensive" (NO) 82 2.2.2.9 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) 83 2.2.2.10 Rechtsextremistisches/Neonazistisches Potential der Skinheads 83 2.2.3 "Nationalfreiheitliche"/ "Nationaldemokraten" 86 2.2.3.1 "Nationalfreiheitliche" (DVU e.V./DVU-üste D) 86 2.2.3.2 "Nationaldemokraten" 91 2.2.4 Sonstige rechtsextremistische Organisationen 96 2.2.4.1 "Deutsche Kulturgemeinschaft Berlin" (DKG-Berlin) 96 2.2.5 Gesetzesverletzungen mit rechtsextremistischem Hintergrund 98 2.2.6 Ausblick 102 8 Inhaltsverzeichnis 2.2.7 Sonderthema: Eine Partei nur für Berlin - Zur Entstehung der "Nationalen Alternative" (NA) - 104 2.2.7.1 "Nationales Kommunikationszentrum" Weitlingstraße 122 105 2.2.7.2 "Bürgerinitiative für Wohnraumsanierung e.V." (BIWOSAN) 106 2.2.7.3 Aktivitäten der NA 107 2.2.7.4 Programm der NA 110 2.3 Ausländerextremismus 112 2.3.1 Überblick 112 2.3.2 Palästinenser/Araber 114 2.3.2.1 PLO-Mitgliedsorganisationen 114 2.3.2.2 Islamisch-extremistische Palästinenser-und Araber-Organisationen 116 2.3.3 Kurden 117 2.3.4 Türken 120 2.3.4.1 Linksextremisten 120 2.3.4.2 Rechtsextremisten 122 2.3.4.3 Islamisch-extremistische Türken 123 2.3.5 Iraner 124 2.3.6 Ausblick 125 2.3.7 Sonderthema: Terroraktionen im Bereich des Ausländerextremismus in Berlin, Anschläge und Attentate mit staatsterroristischem Hintergrund 126 2.3.7.1 Abgrenzungskriterien "..."... ^126 2.3.7.2 Träger staatsterroristischer Bestrebungen 127 2.3.7.3 Diplomatische Vertretungen als Basen für staatsterroristische Operationen 127 2.3.7.4 Aktivitäten in Berlin mit staatsterroristischem Hintergrund 128 2.3.7.5 Geplante bzw. durchgeführte Anschläge ausländischer Terror-Organisationen in Berlin 131 3. Spionageabwehr 135 3.1 Veränderung der Abwehrlage im Jahre 1990 136 3.2 Kurzer Abriß zur Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit 137 Inhaltsverzeichnis 9 3.3 Gewonnene Erkenntnisse über die Spionagebedrohung 139 3.3.1 Gründe für die Aussagebereitschaft 139 3.3.2 Zielrichtungen der nachrichtendienstlichen Angriffe 140 3.3.3 Aufdeckung von Verratsfällen 141 3.3.4 Observationen in Berlin (West) 142 3.3.5 Kontrolle der Grenzübergänge durch das MfS 142 3.3.6 Nachrichtendienstliche Nutzung der Grenzübergänge 143 3.3.7 Überwachung des Telefonverkehrs 143 3.4 Ausspähung des LfV .....145 3.5 Ausgewertete Erkenntnisfälle 146 3.6 Auswirkungen der politischen Veränderungen in den osteuropäischen Staaten auf deren Nachrichtendienste 149 3.6.1 UdSSR 149 3.6.2 Polen 151 3.6.3 Ungarn 152 3.6.4 CSFR 152 3.6.5 Rumänien 153 3.6.6 Bulgarien 153 3.6.7 Jugoslawien 153 3.7 Geheimschutz 154 3.7.1 Geheimschutz in der Verwaltung des Landes Berlin 154 3.7.2 Geheimschutz in der Wirtschaft 155 3.8 Wirkungsvolle Spionageabwehr ist nur mit Hilfe der Bevölkerung möglich 156 4. Anhang I: Kurzdarstellungen wichtiger extremistischer Organisationen 157 4.1 Linksextremismus 158 4.1.1 Linksextremistisch motiviertes Gewaltpotential 158 4.1.1.1 "Rote Armee Fraktion" (RAF) 158 4.1.1.2 "Revolutionäre Zellen" (RZ) 158 4.1.1.3 Autonome 158 10 Inhaltsverzeichnis 4.1.2 Dogmatische Neue Linke 159 4.1.2.1 Revolutionär-marxistische Gruppen 159 4.1.2.1.1 "Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD" (AB) 159 4.1.2.1.2 "Bund Westdeutscher Kommunisten" (BWK) 159 4.1.2.1.3 "Kommunistische Partei Deutschlands" (KPD) 159 4.1.2.1.4 "Kommunistischer Bund" (KB) 160 4.1.2.1.5 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) 160 4.1.2.1.6 "Marxistische Gruppe" (MG) 161 4.1.2.1.7 "Revolutionäre Internationalistische Bewegung" (RIM) 161 4.1.2.1.8 "Rote Garde Berlin" (RG) 161 4.1.2.1.9 "Rote Hilfe e.V." (RH) 161 4.1.2.1.10 "Vereinigte Sozialistische Partei" (VSP) 162 4.1.2.1.11 "Volksfront gegen Reaktion, Faschismus und Krieg" (Volksfront) ".162 4.1.2.2 Trotzkistische Parteien und Gruppen 162 4.1.2.2.1 "Bund Sozialistischer Arbeiter" (BSA) 162 4.1.2.2.2 "Internationale Sozialistische Arbeiterorganisation" (ISA), deutsche Sektion der IV. Internationale (Internationales Zentrum für ihren Wiederaufbau) - IZ - 163 4.1.2.2.3 "Spartakist-Arbeiterpartei Deutschlands" (SpAD) 163 4.1.2.2.4 "Vereinigung der Arbeitskreise für Arbeitnehmerpolitik und Demokratie" (VAA) 163 4.1.3 Orthodoxe Kommunisten ..................................164 4.1.3.1 "Sozialistische Initiative" (Sl) 164 4.2. Rechtsextremismus 165 4.2.1 Neuer Nationalsozialismus/Neonazismus 165 4.2.1.1 "ASGARD-Bund e.V." 165 4.2.1.2 "Bund Vaterlandstreuer Volksgenossen" (BW) 165 4.2.1.3 "Deutsche Alternative" (DA) 165 4.2.1.4 "Deutsche Jugendinitiative Berlin" (DJI) 165 4.2.1.5 "Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei" (FAP) 166 4.2.1.6 "Freiheitspartei" 166 4.2.1.7 "Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front" (GdNF) 166 Inhaltsverzeichnis 11 4.2.1.8 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) 167 4.2.1.9 "Nationale Alternative Berlin" (NA Berlin) 167 4.2.1.10 "Nationalistische Front" (NF) 167 4.2.1.11 "Nationale Offensive" (NO) 167 4.2.1.12 "Völkischer Freundeskreis" 168 4.2.1.13 "Wiking-Jugend, volkstreue, nordlandische Jugendbewegung Deutschland e.V." (WJ) 168 4.2.1.14 "Wotans Volk" 168 4.2.2 "Nationaldemokraten" und "Nationalfreiheitliche" 168 4.2.2.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) 168 4.2.2.2 "Deutsche Volksunion e.V." (DVU) 169 4.2.2.3 "Deutsche Volksunion - Liste D" (DVU - Liste D) 169 4.2.3 Sonstige 170 4.2.3.1 "Deutsche Kulturgemeinschaft Berlin" (DKG - Berlin) 170 4.3 Ausländerextremismus 171 4.3.1 Palästinenser/Araber 171 4.3.1.1 "ALFATAH" 171 4.3.1.2 "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP) 171 4.3.1.3 "Demokratische Front für die Befreiung Palästinas" (DFLP) 171 4.3.1.4 "Volksfront für die Befreiung Palästinas-Generalkommando" (PFLP-GC) 172 4.3.1.5 "Palästinensische Volkskampffront" (PPSF) 172 4.3.1.6 "ALSAIQA" 172 4.3.1.7 "Abu-Nidal-Organisation" (ANO) 172 4.3.1.8 "Islamische Widerstandsbewegung" (HAMAS) 173 4.3.1.9 "Moslembruderschaft" (MB) 173 4.3.1.10 "Hizb Allah" (Partei Gottes) 173 4.3.1.11 AMAL 173 4.3.1.12 "Hizb AI-Da'Wa Al-Islamia" 174 4.3.2 Kurden 174 4.3.2.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) 174 4.3.3 Türken 174 4.3.3.1 "Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/M-L) : 174 12 Inhaltsverzeichnis 4.3.3.2 "Revolutionäre Kommunistische Partei der Türkei" (TDKP) 175 4.3.3.3 'Türkische Volksbefreiungspartei/-front" (THKP/-C) 175 4.3.3.4 "Devrimci Sol" (Revolutionäre Linke) 175 4.3.3.5 "Avrupa'da Dev Gene" (Revolutionäre Jugend in Europa) 175 4.3.3.6 "Partei der Nationalistischen Arbeit" (MCP) 175 4.3.3.7 "Wohlstandspartei" (RP) 176 4.3.3.8 "Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e.V. Köln" (ICCB) 176 4.3.4 Iraner 176 4.3.4.1 "Union islamischer Studentenvereine in Europa" (U.I.S.A.) 176 4.3.4.2 "Organisation der Volksmojahedin Iran" (PMOI) 177 4.3.4.3 "Organisation der Iranischen Studenten in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin, Sympathisanten der Volksfedayin Guerilla Iran" (O.I.P.F.G.) 177 4.3.4.4 "Rat der Konstitutioneilen Monarchie des Iran in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin" (R.K.M.I.) .....177 5. Anhang II: Chronologie 179 5.1 Linksextremismus/Gewaltpotential 180 5.2 Rechtsextremismus 189 5.3 Auslänäerextremismus.....^:;."7..7......"".T.........7.T7..".......193 Einleitung 13 Einleitung Dieser erste Jahresbericht des Landesamtes für Verfassungsschutz Berlin (LfV) spiegelt die tiefgreifenden Veränderungen infolge des Zusammenbruchs des "realen Sozialismus" in Deutschland und Osteuropa sowie die Überwindung der deutschen Teilung wider. Für den politischen Extremismus war dieser Prozeß das beherrschende Thema von häufig existentieller Bedeutung. Mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland veränderte sich auch die Aufgabenstellung des Bereichs Spionageabwehr grundlegend. Am unmittelbarsten betroffen waren die Parteien und Gruppierungen des Linksextremismus. So beraubte der Zerfall der DDR die "Sozialistische Einheitspartei Westberlins" (SEW) der finanziellen und ideologischen Alimentation durch die "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands" (SED). Die "Sozialistische Initiative" (Sl) als Nachfolgepartei der SEW stellte erkennbar nur eine Übergangserscheinung dar. Die drastisch reduzierte Zahl der SlMitglieder wird sich mittelfristig der "Partei des demokratischen Sozialismus" (PDS) oder der nun auch in Berlin auftretenden "Deutschen Kommunistischen Partei" (DKP) zuwenden. Die militanten Autonomen und Angehörige des Berliner RAF-Umfeldes suchten die als Heraufkommen eines großdeutschen "Vierten Reiches" diffamierte deutsche Einigung durch vielfältige Aktionen zu stören; gleichzeitig knüpfte man verstärkt Kontakte zu "Ostautonomen", durch die sich Zahl und Militanz der autonomen Szene erhöhte. Die gefährlichste deutsche Terrorgruppe "Rote Armee Fraktion" (RAF) deutete die "Einverleibung" der DDR als Teil einer "imperialistischen Gesamtstrategie" zur Unterwerfung des bisherigen sozialistischen Lagers. Es ist zu befürchten, daß die RAF diese Entwicklung als Anknüpfungspunkt für terroristische Anschläge auch in Berlin und in den neuen Bundesländern nutzen wird. 14 Einleitung Das Thema "Großdeutschland" lieferte "Revolutionären Zellen" (RZ) bereits 1990 die Begründung für eine Reihe von Sprengstoffund Brandanschlägen. Die Gruppen der dogmatischen Neuen Linken bewältigten den Niedergang des Realsozialismus trotz anfänglicher Irritationen noch am leichtesten; besonders trotzkistische Zusammenschlüsse bemühten sich nach der "Wende" um eine Ausdehnung in die DDR bzw. die neuen Länder. Zur Fortentwicklung des organisierten Rechtsextremismus bemühten sich 1990 neonazistische Gruppierungen ebenso wie die Parteien der Alten Rechten frühzeitig um Gefolgschaft in der damaligen DDR. Besonders westdeutsche Neonazis wie Michael KÜHNEN konnten dabei vielfach auf rechtsextremistische Zusammenhänge zurückgreifen, die sich seit Anfang der 80er Jahre in der DDR entwickelt hatten; in Berlin entstand auf diese Weise die "Nationale Alternative" (NA), eine Partei nur für Berlin. Die Blütenträume von "Nationaldemokraten" und "Nationalfreiheitlichen" reiften nicht wie erhofft. Als besonderes Sicherheitsproblem erwies sich 1990 der dramatische Anstieg von rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten ostdeutscher Skinheads, die sich vor allem gegen Ausländer richteten. Anders als im Rechtsund Linksextremismus waren bei den in Deutschland agierenden Gruppen extremistischer Ausländer nicht die deutsche Einigung beherrschendes Thema, sondern die Zustände in ihren Heimatländern. Vor allem für arabische und palästinensische Extremisten stand der sich abzeichnende Golf-Konflikt im Vordergrund, wobei es gelegentlich zur Zusammenarbeit mit deutschen Linksextremisten, vor allem aus der autonomen Szene und dem RAFUmfeld kam. Mit der Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) bzw. dessen Nachfolgeorganisation, des Amtes für Nationale Sicherheit (ANS), im Jahre 1990 entfielen die Spionageaktivitäten, die Einleitung 15 jahrelang Hauptarbeitsgebiet der Spionageabwehr der Verfassungsschutzbehörden waren. Demgegenüber wurde die Aufklärungstätigkeit der sowjetischen Nachrichtendienste - trotz Glasnost und Perestroika - fortgesetzt. Neben der überblickartigen Darstellung der wesentlichen Entwicklungslinien in den unterschiedlichen Bereichen des Extremismus enthält der vorliegende Jahresbericht einzelne Kapitel, in denen schwerpunktmäßig besondere Erscheinungsformen des politischen Extremismus, die im Jahr 1990 auch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zogen, behandelt werden. In einem Anhang werden schließlich "Höhepunkte" extremistischer Aktivitäten im Berichtszeitraum stichwortartig aufgeführt sowie wichtige extremistische Organisationen in Kurzform dargestellt. 1. - Aufgaben, Grundlagen und Kontrolle - 17 1. Aufgaben, Grundlagen und Kontrolle des Verfassungsschutzes 18 1. - Aufgaben, Grundlagen und Kontrolle - 1.1 Allgemeines Das Landesamt für Verfassungsschutz Berlin (LfV) ist ein Nachrichtendienst, der ausschließlich für die Inlandsaufklärung zuständig ist. Seit dem 15. September 1990 ist das Amt, ehemalig Abteilung IV, aus der Senatsverwaltung für Inneres ausgegliedert und hat nunmehr den Status einer nachgeordneten Sonderbehörde. Es steht unter der Dienstund Fachaufsicht der Senatsverwaitung für Inneres. Die parlamentarische Kontrolle wird von dem Ausschuß für Verfassungsschutz des Abgeordnetenhauses von Berlin ausgeübt. Die Rechtsgrundlage für die Arbeit des LfV ergibt sich aus dem Gesetz über das Landesamt für Verfassungsschutz (LfVG) in der Fassung vom 31. Juli 1989 (GVBI. S. 1545). 1.2 Geschichtliche Entwicklung 1.2.1 Verfassung und Verfassungsschutz Die Erfahrungen der Weimarer Republik haben gezeigt, daß eine demokratische Verfassung auch von innen heraus zerstört werden kann. Unter diesem Eindruck entstanden unmittelbar nach 1945 eine Reihe von Landesverfassungen - insbesondere in der damaligen amerikanischen Besatzungszone -, die den Schutz der Verfassung ausdrücklich vorsahen. Dies ging im Falle des Landes Hessen (Artikel 146) so weit, daß die Verpflichtung für jeden Bürger bestand, mit allen ihm zu Gebote stehenden Kräften für den Bestand der Verfassung einzutreten. Diesen Weg hat jedoch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1949 nicht gewählt. Statt dessen wurden in den Artikeln 73 Nr. 10 und 87 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) die Grundlagen für die gesetzliche Errichtung administrativer Einrichtungen zum Schutz der Verfassung geschaffen. Damit spiegelt sich im Grundgesetz die Grundentscheidung des Verfassungsgebers für die streitbare und wehrhafte Demokratie wider, deren Zweck es ist, die verfassungsmäßige Ordnung gegen Beseitigung und Aushöhlung zu schützen und zu verteidigen. 1. - Aufgaben, Grundlagen und Kontrolle - 19 1.2.2 Trennungsgebot Für den Bereich des unmittelbaren Verfassungssschutzes wurden auf der Grundlage dieser Vorgaben ab 1950 die Gesetze über die Ämter für Verfassungsschutz in Bund und Ländern erarbeitet. Allen voran stand das Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes (BVerfSchG) vom 27. September 1950 (BGBl 1950 I S. 682). Dieses Gesetz setzt einen ausdrücklichen Wunsch der damaligen Alliierten um. Es handelt sich dabei um die Einhaltung des sogenannten Trennungsgebotes. Das Trennungsgebot wurde erstmals im "Polizeibrief" der alliierten Militärgouverneure vom 14. April 1949 ausgesprochen. Es heißt dort: ...(2) Der Bundesregierung wird es ebenfalls gestattet, eine Stelle zur Sammlung und Verarbeitung von Auskünften über umstürzlerische, gegen die Bundesregierung gerichtete Tätigkeiten einzurichten. Diese Stelle soll keine Polizeibefugnis haben... Aus diesem Schreiben wird bis heute das strikte Verbot für Verfassungsschutzbehörden gefolgert, polizeiliche Befugnisse auszuüben oder einer Polizeidienststelle angegliedert zu sein. Gerade dieses Verbot ist das augenscheinliche Merkmal für einen neuen Typus des Verfassungsschutzes, der in dieser Art grundlegend anders als die bisher in der Geschichte bekannten Geheimpolizeibehörden sein sollte. 1.2.3 Entwicklung des LfV Nach SS 1 Abs. 1 des BVerfSchG aus dem Jahre 1950, welches durch eine grundlegende Neuregelung am 30. Dezember 1990 ersetzt wurde (Gesetz zur Fortentwicklung der Datenverarbeitung und des Datenschutzes, BGBl. I S. 2953 ff, hier Artikel 2 mit dem neuen Bundesverfassungsschutzgesetz), waren und sind Bund und Länder verpflichtet, in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes zusammenzuarbeiten. Dies hat zu der in SS 2 Abs. 2 BVerfSchG normierten Verpflichtung der Länder geführt, jeweils eine Behörde für die Bearbeitung von Angelegenheiten des Verfassungsschutzes zu 20 1. - Aufgaben, Grundlagen und Kontrolle - schaffen. Dieser Verpflichtung kam das Land Berlin mit der Schaffung des LfV durch die Verabschiedung des Gesetzes über die Errichtung eines Landesamtes für Verfassungsschutz im Jahre 1952 nach (GVBI. S. 106). Das LfV war zunächst als nachgeordnete Behörde unter der Aufsicht des Senators für Inneres organisiert, nachdem die Aufsichtsbefugnisse des Regierenden Bürgermeisters auf den Innensenator übertragen worden waren. Im Januar 1966 wurde das LfV unter Beibehaltung seines Behördennamens in die Innenverwaltung als Abteilung IV integriert. 1.2.4 Der besondere Status Berlins Der besondere Status des Landes und der Stadt Berlin machte es selbstverständlich, daß die Verfassungsschutzangelegenheiten in enger Abstimmung mit den drei Schutzmächten betrieben wurden. Dieses Erfordernis der ständigen Abstimmung begleitete das LfV bis zur Suspendierung der alliierten Vorbehaltsrechte am 3. Oktober 1990. Aus der besonderen Situation Berlins ergaben sich für das Berliner Amt u.a. Beschränkungen der Arbeitsweisen, denen die anderen Ämter für Verfassungsschutz nicht unterlagen. Wegen der Nichterstreckung des Gesetzes zu Artikel 10 GG (G 10-Gesetz) auf Berlin war es deutschen Behörden bis zum 3. Oktober 1990 nicht möglich, in Berlin Maßnahmen nachrichtendienstlicher Postund Telefonkontrolle durchzuführen. Auch nach der Suspendierung der alliierten Vorbehaltsrechte bleiben die Beschränkungen, die auf der Grundläge des Besatzungsstatutes ergingen, für die Vergangenheit weiter bestehen. Dies betrifft vor allem das Verbot, Auskünfte an andere Stellen oder Bürger über Kontakte des LfV zu alliierten Dienststellen zu erteilen. Die Folge ist, daß derartige Vorgänge auch nach der Suspendierung des Besatzungsstatuts nicht der Prüfung durch die deutsche Gerichtsbarkeit unterliegen. Mit dem Tage der Vereinigung beider Teile Deutschlands gilt das Berliner Verfassungsschutzgesetz auch im früheren Ost-Berlin. 1. - Aufgaben, Grundlagen und Kontrolle - 21 1.2.5 Entwicklung des Verfassungsschutzes Die zur Zeit geltende Rechtsgrundlage für die Tätigkeit des LfV ergibt sich aus der Gesetzesfassung vom 3. Juli 1989, einer Fortentwicklung der Gesetzesfassungen von 1952 und insbesondere von 1974. Mit dem sogenannten "Volkszählungsurteil" des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1983 (BVerfGE 65, 1 ff) und den daraus folgenden Grundsätzen hinsichtlich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, hat sich auch für das Land Berlin die Notwendigkeit ergeben, ein neues Gesetz für die Tätigkeit des Verfassungsschutzes zu schaffen. Die Arbeiten an diesem Gesetz wurden 1990 aufgenommen und werden unter Beteiligung des LfV vorangetrieben. Dieses Gesetz muß den Vorgaben des neuen Bundesverfassungsschutzgesetzes entsprechen. 22 1. - Aufgaben, Grundlagen und Kontrolle - 1.3 Aufgaben des LfV 1.3.1 Gesetzlicher Auftrag Nach der zur Zeit gültigen Rechtsgrundlage hat das LfV die folgenden Aufgaben: SS2 (1) Aufgabe des Landesamtes für Verfassungsschutz ist die Sammlung und Auswertung von Auskünften, Nachrichten und sonstigen Unterlagen über 1. Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand und die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern verfassungsmäßiger Organe des Bundes oder eines Landes zum Ziel haben, 2. sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht, 3. Bestrebungen, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden. (2) Ferner wirkt das Landesamt für Verfassungsschutz mit 1. bei den Überprüfungen von Personen, denen im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftige Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse anvertraut werden, die Zugang dazu erhalten sollen oder ihn sich verschaffen können, 2. bei der Überprüfung von Personen, die an sicherheitsempfindlichen Stellen von lebenswichtigen Einrichtungen beschäftigt sind oder werden sollen, 1. - Aufgaben, Grundlagen und Kontrolle - 23 3. bei technischen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz von im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenständen oder Erkenntnissen gegen die Kenntnisnahme durch Unbefugte. Diese Aufgabenzuweisung ist mit der für die übrigen Verfassungsschutzbehörden identisch. 1.3.2 Die freiheitliche demokratische Grundordnung Neben eindeutig umrissenen und klar bezeichneten Bereichen der Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden erscheint der Begriff des Schutzes der freiheitlichen demokratischen Grundordnung besonders erläuterungsbedürftig. Diesen Begriff hat das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen zu den Verboten der rechtsextremistischen "Sozialistischen Reichspartei" (SRP) 1952 und der linksextremistischen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD) 1956 eindeutig definiert. Die freiheitliche demokratische Grundordnung wird von den tragenden Säulen des Grundgesetzes bestimmt. Sie umfaßt: 1. das Recht des Volkes, die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben und die Volksvertretung in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl zu wählen, 2. die Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an Gesetz und Recht, 3. das Recht auf Bildung und Ausübung einer parlamentarischen Opposition, 4. die Ablösbarkeit der Regierung und ihre Verantwortlichkeit gegenüber der Volksvertretung, 24 1. - Aufgaben, Grundlagen und Kontrolle - 5. die Unabhängigkeit der Gerichte, 6. der Ausschluß jeder Gewaltund Willkürherrschaft und 7. die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte. Die vorgenannten Grundsätze werden sowohl in SS 92 Abs. 2 StGB als auch in SS 4 Abs.2 des Bundesverfassungsschutzgesetzes aufgeführt. 1. - Aufgaben, Grundlagen und Kontrolle - 25 1.4 Gesetzliche Befugnisse zur Aufgabenerfüllung 1.4.1 Informationsbeschaffung Das LfV bedient sich zu seiner Aufgabenerfüllung unterschiedlicher Möglichkeiten, um die erforderlichen Informationen zu sammeln und auszuwerten: 1.4.1.1 Die sogenannte offene Beschaffung Sie vollzieht sich durch die Auswertung von offen erhältlichen Publikationen, den Besuch von öffentlichen Veranstaltungen, die Mitteilung von Informationen durch andere Behörden in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes, Auskunftsersuchen an andere Behörden, die Befragung von Bürgern, die sich freiwillig zu Angelegenheiten des Verfassungsschutzes äußern. 1.4.1.2 Der sogenannte geheime Meldeweg Dazu zählen u.a. der Einsatz von Vertrauenspersonen (VM) und die Maßnahme nach dem Gesetz zu Artikel 10 GG, Postund Telefonkontrolle. 1.4.2 Informationsverwertung Die auf diesen Wegen erlangten Informationen werden grundsätzlich auf ihre Relevanz, bezogen auf den gesetzlichen Auftrag des LfV, geprüft und gegebenenfalls zur Informationssammlung des LfV genommen. 26 1. - Aufgaben, Grundlagen und Kontrolle - Das LfV ist wie alle anderen Landesämter zusammen mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) an das Nachrichtendienstliche Informationssystem (NADIS) angeschlossen. Dieses System, das Aktenfundstellen zu Personen speichert, dient zur Feststellung, ob bereits Informationen im Sinne des SS 2 LfVG zu einer Person oder Vereinigung bei den Verfassungsschutzbehörden vorhanden sind. Auf dieser Grundlage ist der schnelle und umfassende Informationsaustausch der bundesweit erlangten Informationen zwischen den NADIS-Partnem sichergestellt. 1.5 Struktur des LfV Das LfV gliedert sich in drei Abteilungen, von denen die Abt. I für die Grundsatzund Rechtsangeiegenheiten und die zentralen Dienste des Amtes zuständig ist. In der Abt. II werden alle Bereiche des politischen Extremismus beobachtet. Die Abt. III ist für die Bereiche der Spionageabwehr und des Geheimschutzes zuständig. Die Änderung der politischen Weltlage und der sich daraus ergebende Wegfall des "Frontstadtcharakters" Berlins lassen aber in diesem relativ kleinen Bereich der Berliner Verwaltung erhebliche Veränderungen erwarten. 1. - Aufgaben, Grundlagen und Kontrolle - 27 1.6 Verfassungsschutz, Datenschutz und Auskunftserteilung Es läßt sich nicht leugnen, daß Verfassungsschutz und Datenschutz von ihren Aufgaben her in einem dauernden Spannungsverhältnis stehen. Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1983 zum Volkszählungsgesetz 1983 wurde erstmals das Recht des Einzelnen auf informationelle Selbstbestimmung anerkannt. Dieses Recht gibt dem einzelnen Bürger die Befugnis, grundsätzlich über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Die Schranken ergeben sich allerdings aus überwiegendem Allgemeininteresse und bedürfen der gesetzlichen Normierung. In dem hier interessierenden Bereich der wehrhaften Demokratie, in deren Zentrum der Verfassungsschutz steht, muß erkannt werden, daß der Verfassungsschutz verfassungsrechtlichen Rang hat. Er ist verfassungsrechtlich ebenso legitimiert wie der aus dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung folgende Datenschutz. Beide Verfassungsgüter müssen ständig gegeneinander abgewogen werden. Die Abwägung kann danach nicht ausnahmslos zugunsten des Datenschutzes ausfallen. Bereits ohne ausdrückliche gesetzliche Verpflichtung hat das LfV eine Auskunftsregelung im Rahmen einer Verwaltungsvorschrift geschaffen. Diese Auskunftsregelung ermöglicht sowohl die Auskunftserteilung als auch die Akteneinsicht. Bis zum 31. Dezember 1990 hat es 950 Anfragen beim LfV gegeben. In 429 Fällen konnte den anfragenden Bürgern mitgeteilt werden, daß keine Erkenntnisse über sie vorhanden sind. 36 Fälle konnten nicht abschließend bearbeitet werden, da die zur Identitätsfeststellung erforderlichen Angaben zur Person des Anfragenden teilweise auch auf Nachfrage nicht mitgeteilt wurden (es handelt sich überwiegend um das fehlende Geburtsdatum und den fehlenden Geburtsort). In 485 Fällen lagen über die anfragenden Personen Erkenntnisse vor. Soweit es rechtlich möglich ist, wurde bzw. wird bei diesen "Positivfällen" auch Aktenbzw. Teilakteneinsicht gewährt. Dies geschah bis zum 31. Dezember 1990 in 170 Fällen. 28 1. - Aufgaben, Grundlagen und Kontrolle - Aber nicht nur im Bereich der Auskunft und der Akteneinsicht hat der Datenschutz Auswirkungen auf den Verfassungsschutz. Wie alle Behörden des Landes Berlin unterliegt auch das LtV der Kontrolle des Berliner Datenschutzbeauftragten. Die Prüfungsergebnisse des Landesdatenschutzbeauftragten können sich unmittelbar auf die Arbeit des LtV auswirken. 1.7 Kontrolle des LfV Das Landesamt für Verfassungsschutz unterliegt seit seiner Ausgliederung aus der Senatsverwaltung für Inneres als nachgeordnete Behörde der allgemeinen Fachund Rechtsaufsicht durch die Senatsverwaltung für Inneres. Darüber hinaus wird das Landesamt durch das Abgeordnetenhaus von Berlin kontrolliert, das auf der Grundlage des SS 5 LfVG ein besonderes Gremium, den sogenannten Ausschuß für Verfassungsschutz, als ' KontrollinstrumenWeingerichtet hat. Schließlich wurden bei den umfangreichen Prüfungen durch den Berliner Datenschutzbeauftragten zahlreiche Aktensammlungen und Datenfundstellen kontrolliert. Dies führte in vielen Fällen zu Neueinschätzungen des vorliegenden Materials und damit zur Verringerung des aktiven Datenbestandes. 2. - Politischer Extremismus - 29 2. Politischer Extremismus ""'" i I I M 1 -- -- * 30 2. - Politischer Extremismus - 2.1 Linksextremismus 2.1.1 Linksextremistisch motiviertes Gewaltpotential 2.1.1.1 Vorbemerkung Im Bereich des Linksextremismus liegt das Hauptgewicht der Arbeit des LfV auf denjenigen linksextremistisch motivierten Gruppen, die den Gewalteinsatz als Mittel der politischen Auseinandersetzung bejahen. Maßgeblich für die Einordnung dieser Gruppen als linksextremistisch ist deren Ablehnung jeglicher Herrschaft des Menschen über den Menschen, sei es, daß zentrale Organisationsformen generell als Übel gelten, sei es, daß in der kapitalistischen Klassengesellschaft die Ursache aller gesellschaftlichen Mißstände ausgemacht wird. Die parlamentarische Demokratie, die lediglich der geschickten Verschleierung gesellschaftlicher Herrschaft und Unterdrückung diene, wird kompromißlos abgelehnt. Für diese Gruppen und deren Tätigkeit wird vielfach die Bezeichnung "Terrorismus" bzw. "Linksterrorismus" gebraucht. Dabei versteht man unter Terrorismus den nachhaltig geführten Kampf für politische Ziele, die mit Hilfe von Anschlägen auf Leib, Leben und Eigentum anderer Menschen durchgesetzt werden sollen, insbesondere durch schwere Straftaten, wie sie in SS 129 a Abs. 1 des Strafgesetzbuches genannt sind (vor allem: Mord, Totschlag, erpresserischer Menschenraub, Brandstiftung, Herbeiführung einer Explosion durch Sprengstoff) oder durch andere Gewalttaten, die der Vorbereitung solcher Straftaten dienen. Der deutsche linksextremistisch motivierte Terrorismus hat drei Aktionskreise von Bedeutung hervorgebracht: Die "Rote Armee Fraktion" (RAF), die "Revolutionären Zellen" (RZ) und 2. - Politischer Extremismus - 31 die weitgehend auf Berlin (West) beschränkte "Bewegung 2. Juni". Alle drei Gruppen verfolgten oder verfolgen gleiche Ziele mit dem militärisch-politischen Kampf gegen das politische System in der Bundesrepublik Deutschland. Von den zuvor genannten Gruppen durch den Mangel eines durchgängigen ideologischen Konzepts getrennt, aber aufgrund ihrer Militanz dennoch dazugehörig, stellen sich die Autonomen als in diesen Zusammenhang gehörende Erscheinung dar. 2.1.1.2 "Rote Armee Fraktion" (RAF) 2.1.1.2.1 Grundlagen und Ziele Die Keimzelle der relevantesten deutschen linksextremistisch motivierten Terrorgruppe bildete sich 1970 um Ulrike MEINHOF, Andreas BAADER, Gudrun ENSSLIN und Horst MAHLER in Berlin. Sie verstand sich von Anfang an als eine marxistisch-leninistische Gruppe und somit als Fraktion einer weltweiten revolutionären Bewegung. Die RAF suchte ihren bewaffneten Kampf als Stadtguerilla nach dem Vorbild südamerikanischer Terroristen zu führen und operierte aus dem Untergrund heraus. Sich selbst hatte die RAF die Funktion einer revolutionären Avangarde zugedacht. Die terroristischen Aktionen sollten zum einen das revolutionäre Feuer in den "Metropolen" des "Kapitalismus" entfachen und die "Massen" mobilisieren. Das Konzept "Stadtguerilla" bestimmte die Frühphase der RAF über die Festnahme der ersten RAF-Generation hinaus. Seit Anfang der 80er Jahre sieht sich die RAF nicht mehr nur als verlängerter Arm der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, sondern als eigenständige Guerilla im imperialistischen Zentrum Westeuropa. Ihr antiimperialistischer Kampf gilt insbesondere den maßgeblichen Stützen der bestehenden Machtstrukturen. Dazu zählt sie neben den Sicherheitsbehörden - "dem Repressionsapparat" - die 32 2. - Politischer Extremismus - Bereiche Politik, Militär, Kapital und Industrie, deren Verflechtungen als "militärischindustrieller Komplex" (MIK) bezeichnet werden. 2.1.1.2.2 Strukturen Kommandoebene Alle wesentlichen Entscheidungen werden gemeinsam von der seit Jahren auf etwa 15 bis 20 Personen geschätzten Kommandoebene der RAF getroffen. In Berlin (West) sind in der Vergangenheit keine Angehörigen der Kommandoebene festgestellt worden, wie auch bisher Berlin (West) von Anschlägen dieser Gruppe verschont blieb. Alle Terroranschläge dieser Ebene werden von - "Märtyrern" des eigenen Lagers gewidmeten - sog. Kommandos ausgeführt. So wurde der am 27. Juli 1990 ausgeführte Anschlag auf den Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Hans NEUSEL, dem nach einem Hungerstreik im Mai 1990 verstorbenen Inhaftierten der spanischen Terrorgruppe GRAPO, Jose Manuel SEVILLANO, gewidmet. Das Kommando begründete den Anschlag damit, daß Neusei den angriff der faschistischen bestie Westeuropa auf das gefangenenkollektiv von pce (r) und grapo durch seine Mitarbeit in Geheimdienstgremien und der NATO mitorganisiert habe. In einem weiteren Papier lieferte die RAF erstmalig seit langer Zeit eine umfassende aktuelle politische Analyse. Auffällig an der Erklärung war, daß sie ausdrücklich an die linksalternative Sammlungsbewegung "Radikale Linke" gerichtet ist, die von der RAF bislang nicht als adäquate revolutionäre Kraft angesehen wurde. Insofern war die Erklärung ganz offensichtlich für diejenigen linksextremistischen Kräfte und dabei insbesondere an die militanten Autonomen bestimmt, die zwar Gewalt bislang und auch terroristische Aktionen nicht ausschließen, aber der RAF eine elitäre Verhaltensweise vorwarfen und ihre Aktionen deshalb für kaum vermittelbar hielten. 2. - Politischer Extremismus - 33 In dem der autonomen Szene zuzurechnenden Berliner Infoblatt "INTERIM" wurde diese Erklärung der RAF denn auch in einer ersten Diskussion ausgesprochen positiv aufgenommen. Die Erklärung zeige, daß die RAF von ihrem arroganten Avantgardedenken abrücke und für Kritik und Diskussionsversuche offener werde. Militante der RAF Auch dieser zweite "kämpfende Teil" der RAF ist bisher in Berlin nicht in Erscheinung getreten. Die Militanten der RAF rekrutieren sich in erster Linie aus dem RAF-Umfeld und leben grundsätzlich in der Legalität. Sie wechseln nur für die Zeit der Attentate in die Illegalität und treten dann als "kämpfende Einheit" auf. Ihre Anschläge richten sich nicht auf die Vernichtung von Menschenleben und ähneln insofern denen der "Revolutionären Zellen" (RZ) RAF-Umfeld Dem Umfeld der RAF werden von den Sicherheitsbehörden diejenigen, in der Szene als "Antiimps" bezeichneten Personen zugerechnet, die sich voll mit den Zielen der RAF identifizieren und sie politisch-propagandistisch unterstützen. Dieser Personenkreis umfaßt im Westteil Berlins derzeit etwa 50 Personen. Von diesen werden dem engeren RAF-Umfeld etwa 15 Personen zugerechnet, die im Verdacht stehen, die RAF durch praktische Hilfeleistung zu unterstützen. Die Zugehörigkeit zum engeren RAF-Umfeld wird u.a. an folgenden Kriterien festgemacht: Verdacht der Unterstützung der "Kommandos" oder der Militanten, z.B. durch logistische Hilfeleistung, mitverantwortliche Vorbereitung und Beteiligung an Veranstaltungen, die der Propagierung der Ziele und Forderungen der RAF dienen, 34 2. - Politischer Extremismus - Bekenntnisse zur Konzeption und Strategie der RAF (z.B. auch bei Besuchen in Haftanstalten) und nicht nur kurzfristige Einbindungen in regionale und überregionale Strukturen. "inhaftierte der RAF" Die Inhaftierten der RAF sind nach eigenen Aussagen mit ihrer Verhaftung nicht mehr Mitglieder der RAF, bleiben aber Teil des revolutionären Prozesses. In Berliner Haftanstalten sitzen derzeit keine "Gefangenen der RAF" ein. "Verwandtengruppe" Die "Gefangenen aus RAF und Widerstand" werden regelmäßig von "Angehörigen der politischen Gefangenen in der BRD (Verwandtengruppe)" betreut. Diese im gesamten Bundesgebiet etwa 40 Personen umfassende Gruppe, in der auch Angehörige des Berliner RAF-Umfeldes mitarbeiten, besucht die Inhaftierten, sorgt für Postkontakte und versucht, durch Herausgabe eines vierzehntäglich erscheinenden "Angehörigeninfos" sowie durch sonstige, teils spektakuläre Aktivitäten die Forderungen der Inhaftierten zu propagieren. So nahmen sie u.a. im Mai 1990 mit einem Info-Stand am Katholikentag in Berlin teil. "Rote Säge" Während des Hungerstreiks der "Gefangenen der RAF und aus dem Widerstand" (vom 1. Februar bis 12. Mai 1989) wurde ein "Hungerstreik-Info-Büro" von führenden Angehörigen des Berliner RAF-Umfeldes eingerichtet, das nach Beendigung des Hungerstreiks seine Tätigkeit unter dem Namen "Rote Säge, Büro zur Unterstützung der kämpfenden Gefangenen" fortsetzte. Ihre vordringliche Aufgabe sehen die Mitarbeiter der "Roten Säge" darin, die Forderung nach Zusammenlegung bzw. Freilassung von Gefangenen zu unterstützen. In diesem Zusammenhang 2. - Politischer Extremismus - 35 nahmen sie an bundesweiten Treffen der "Info-Büros" und "Zusammenlegungs-Plenen" teil und hielten Verbindung zu Inhaftierten der RAF. Aktuelle Aktivitäten des Berliner RAF-Umfeldes Neben dem von Autonomen als positiv bewerteten Ansatz einer Annäherung in Zusammenhang mit der "NEUSEL-Erklärung" der RAF (vgl. 2.1.1.4) sowie der Anerkennung ihrer Unterstützung der europaweiten Zusammenlegungskampagne macht die Zusammenarbeit zwischen RAF-Anhängern und Autonomen zum Thema "Wiedervereinigung" deutlich, daß man im Aufbau einer gemeinsamen "revolutionären Front" weiterkommen will. Die Zusammenarbeit erscheint heute intensiver als früher. Zu den Vereinigungsfeierlichkeiten am 3. Oktober 1990 in Berlin bemühten sich Angehörige des Berliner RAF-Umfeldes und Autonome in enger Kooperation, die organisatorischen Vorarbeiten zu leisten, um die Inszenierungen der Herrschenden zu stören. So legten Berliner RAF-Anhänger, Autonome, Angehörige sog. Antifa-Gruppen und Hausbesetzer aus dem Ostund Westteil der Stadt in Vorbereitungsveranstaltungen - die teilweise von Angehörigen des RAF-Umfeldes geleitet wurden - eine einheitliche "Marschlinie" fest und mobilisierten mit Plakaten und Aufrufen in der ehemaligen DDR wie auch im ehemaligen Bundesgebiet zu Aktionen gegen die Vereinigungsfeierlichkeiten. Die Beteiligung an der von etwa 10.000 Personen besuchten Großdemonstration unter dem Motto Deutschland halt's Maul, Es reicht sowie die daran anschließenden Krawalle wurden in der gewaltbereiten Szene als "Erfolg" gewertet. Für den 3. November 1990 plante die Sammlungsbewegung "Radikale Linke" in Berlin eine Großdemonstration unter dem Motto Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Die Veranstaltung gegen Deutschen Nationalismus, Rassismus und Imperialismus wurde von mehr als 140 - nicht nur linksextremistischen - Organisationen, Gruppen und Einzelpersonen unterstützt. Als Redner traten u.a. Autonome und Angehörige der "Gefangenen 36 2. - Politischer Extremismus - aus RAF und Widerstand" sowie ein ehemaliger "RAFGefangener" auf, die im Rahmen der Zusammenlegungskampagne für eine Zusammenlegung von "Gefangenen der RAF" in größere Gruppen warben. Darüber hinaus wurde im Zusammenhang mit dem Aufzug bereits am 2. November ein Tag der revolutionären Gefangenen durchgeführt. Aus Anlaß des Todestages der seinerzeit in Stuttgart-Stammheim inhaftiert gewesenen BAADER, ENSSLIN und RASPE am 18. Oktober hatten Angehörige des RAF-Umfeldes und Autonome auch zur Unterstützung der Zusammenlegungsforderung bundesweit einen antifaschistischen und antiimperialistischen Aktionstag geplant. Neben Aufzügen und Diskussionsveranstaltungen am 18. Oktober in Köln, Mainz und Wiesbaden wurde in Berlin ein von einem Angehörigen des Berliner RAF-Umfeldes angemeldeter Aufzug unter dem Motto Gegen Kontaktsperre und Isolation durchgeführt, an dem sich mehr als 400 Personen, darunter neben Angehörigen des Berliner RAF-Umfeldes Autonome, Punks und türkische Jugendliche, beteiligten. 2.1.1.2.3 Ausblick Die RAF interpretiert den Beitritt der DDR als Teilerfolg der "imperialistischen" Strategie zur Machtausdehnung auch auf die sozialistischen Staaten. Deren Ausbeutung ist - nach Ansicht der RAF - ein weiterer Erfolg des Kurses der Eroberungspolitik, um schließlich zu einer Neuordnung Europas unter Vorherrschaft Deutschlands zu gelangen. Diese Aussagen berechtigten zu der Annahme, daß eine verstärkte Gefährdung für exponierte Personen aus der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland, vorrangig Angehörige der Bereiche Wirtschaft und Politik, gegeben ist, sofern sich diese Personen zusätzlich zu ihrer bisherigen Funktion auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR engagieren. 2. - Politischer Extremismus - 37 Zwar hat sich die Kommandoebene der RAF bisher nicht zur Entwicklung am Golf geäußert, doch könnte eine thematische Anknüpfung an die Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten der Kommandoebene auch wegen der traditionell großen Bedeutung, die der Nahost-Komplex für die RAF besitzt - zuletzt an der Taterklärung zum Anschlag auf Gerold von BRAUNMÜHL ablesbar -, angezeigt erscheinen. Auch der Kampf gegen "Großdeutschland" ist nach wie vor als ein in den Augen der RAF geeignetes Thema zur Überwindung der augenblicklichen ideologischen und strukturellen Schwächephase, in die die RAF infolge des Zusammenbruchs der sozialistischen Systeme in Mittelund Osteuropa geraten war, anzusehen. Schließlich könnte es im Zusammenhang mit einer Wiederaufnahme der Kampagne für die Zusammenlegung bzw. Freilassung der "Gefangenen aus RAF und Widerstand" zu einem erneuten Hungerstreik der Inhaftierten der RAF kommen. Im Verhältnis zwischen RAF und Autonomen ist zukünftig eine sozusagen arbeitsteilige Vorgehensweise wie etwa anläßlich der AntiIWF-Kampagne 1987 nicht auszuschließen, heißt es doch in einem Beitrag von autonomer Seite zur RAF in der "INTERIM" vom 25. Oktober 1990 (Nr. 120): Es geht in den kommenden Monaten und Jahren um die Entwicklung und Formulierung einer Politik, die sich nicht schwerpunktmäßig an den jeweiligen Schweinereien der Herrschenden gegenüber den Gefangenen, sondern am weiteren Ausbau von sozialer Gegenmacht im Alltag und einer Sozialrevolutionären Bewegung orientiert, die sich vielfältigst zusammensetzt, und von der auch Teile in der Lage sind, an die Verantwortlichen heranzukommen. 38 2. - Politischer Extremismus - 2.1.1.3 "Revolutionäre Zellen" (RZ) 2.1.1.3.1 Entstehung Die "Revolutionären Zellen" (RZ) bildeten sich Anfang der siebziger Jahre nach der "Roten Armee Fraktion" (RAF) und neben der heute nicht mehr existenten "Bewegung 2. Juni" als dritte eigenständige und unabhängige Gruppe im Bereich des deutschen linksextremistisch motivierten Terrorismus. Die RZ knüpften an die Tradition der Berliner "umherschweifenden Haschrebellen" an. Wie für die "Bewegung 2. Juni" war auch für die RZ die Debatte in der militanten linken Szene über Strategie und Taktik der RAF konstitutiv. Kritiker der terroristischen Praxis der RAF vertraten die Position, daß nur solche Angriffe auf die bestehende Gesellschaftsund Verfassungsordnung durchgeführt werden dürften, die potentiellen Sympathisanten "vermittelbar" seien und deshalb einem möglichst großen relevanten Personenkreis eine Identifikation ermöglichten. Dem "bewaffneten Kampf", wie ihn die RAF aus der "Illegalität" führt, sprechen die RZ in aller Regel jegliche "Effizienz" ab. Die Weiterführung des RZ-Konzepts war dann die Losung Bildet viele RZ. 2.1.1.3.2 Grundlagen, Ziele, Strukturen Die theoretischen Grundlagen der RZ, die ihr ideologisches Selbstverständnis und ihre Aktionsformen u.a. in ihrer Zeitschrift "Revolutionärer Zorn" vermitteln, unterscheiden sich nur unwesentlich von denen der RAF. Anders als die Kommandoebene der RAF agieren die Kleingruppen der RZ nicht aus dem Untergrund, sondern verlassen ihren normalen Lebensrhythmus nur zur Durchführung von Aktionen ("Feierabendterrorismus"). Die schriftliche Begründung der Anschläge in Selbstbezichtigungen, mit denen die angeblichen politischen Zusammenhänge der Tat erläutert werden, bilden einen unverzichtbaren Bestandteil der RZ-Aktionen. Im allgemeinen besteht die Taktik der RZ darin, mit möglichst geringem Einsatz und Risiko möglichst großen Sachschaden anzurichten. Dieser schadet nach dem Kalkül der RZ den betroffenen Einrichtungen mehr als der Ausfall von Führungspersonen. Ihre 2. - Politischer Extremismus - 39 Attentate haben deshalb - anders als die "militärischen Angriffe" des Kommandobereichs der RAF - nicht unmittelbar den Mord am Menschen zum Ziel. Aus dem Gebot der "Vermittelbarkeit" ihrer terroristischen Aktionen folgern die thematischen Anknüpfungspunkte der RZ. Sie greifen auch in der breiten Öffentlichkeit diskutierte Themen wie Stadtsanierung, Ausbeutung der Dritten Welt, Volkszählung, Ausländerund Asylproblematik und Biobzw. Gentechnologie auf. 2.1.1.3.3 Anschläge in Berlin "Revolutionäre Zellen" In Berlin (West) begannen die RZ ihre Anschlagstätigkeit am 17. November 1973 mit einem Sprengstoffanschlag auf ein Bürohaus der Firma ITT-Schaub Lorenz im Bezirk Charlottenburg. Im September 1986 setzte eine Phase verstärkter Anschlagstätigkeit in Berlin (West) ein. Mehrere Brandanschläge und "Bestrafungsaktionen" (Knieschüsse) der RZ richteten sich gegen Einrichtungen und Verantwortliche der Berliner Asylund Ausländerpolitik. Bis Ende 1990 gab es keine den RZ zuzurechenden Anschläge in Berlin (West) mehr, doch ist zu befürchten, daß RZ auch in Berlin ihre Anschlagstätigkeit wieder aufnehmen werden. "Rote Zora" Die autonome Frauengruppe der RZ "Rote Zora", deren Anschläge sich bevorzugt gegen die imperialistische Frauenunterdrückung hierund in der Dritten Welt richtet, wurde in Berlin (West) bisher lediglich einmal, am 18. Oktober 1986, mit einem versuchten Sprengstoffanschlag auf das Institut für 40 2. - Politischer Extremismus - gentechnische Forschung Berlin GmbH im Bezirk Zehlendorf aktiv. Resonanz-RZ Parallel zu den Brandund Sprengstoffanschlägen der Revolutionären Zellen gab es in den letzten Jahren auch in Berlin Anschläge von "Resonanz-" oder "Nachahmer-RZ". Seit 1979 waren entsprechend der Forderung der RZ, schafft viele revolutionäre Zellen, im gesamten damaligen Bundesgebiet Gruppierungen entstanden, die nach dem Vorbild der RZ Aktionen durchführten, ihre Tatausführungen jedoch einfacher gestalteten und in Selbstbezichtigungen nicht so argumentativ und umfassend erläuterten, wie es von den originären RZ bekannt ist. Eine für das Selbstverständnis derartiger ResonanzRZ wie auch der sich am RZ-Konzept orientierenden autonomen Gruppen aufschlußreiche Diskussion entwickelte sich Ende 1989/Anfang 1990 in dem autonomen Szene-Blatt "INTERIM" (vgl. 2.1.5). Im Jahre 1990 waren die folgenden Anschläge in Berlin Resonanz-RZ zuzuordnen: Am 27. April 1990 richtete sich der Anschlag einer Revolutionären Zelle in Berlin (West) gegen das Möbelhaus "Wohnen 2001" im Bezirk Schöneberg. Der hohen Sachschaden verursachende Brandanschlag wurde mit der auf den nationalen Taumel der Hauptstadtund OlympiaEuphorie folgenden Zerstörung sozialer Milieus und deren Verdrängung in die Randgebiete begründet. In der Nacht zum 8. Juli 1990 ereignete sich der erste Brandanschlag einer RZ in Berlin (Ost), als unbekannte Täter einen Container der Deutschen Bank im Bezirk Prenzlauer Berg in Brand setzten und eine Selbstbezichtigung zurückließen, in der sie die Deutsche Bank als Urheber des Imperialismus bezeichneten. Auf einen Container der Dresdner Bank in Berlin (Ost) wurde 2. - Politischer Extremismus - 41 darüber hinaus am 26. September 1990 ein Brandanschlag verübt, für den "revolutionäre Flammen" verantwortlich zeichneten. Die Täter erläuterten dazu, daß sie sich zwar als RZ verstünden, aber ihren Namen geändert hätten, um Irreführung oder Verwechslung zu unterbinden. Ziel weiterer Brandanschläge waren am 19. November 1990 die Firmen "Möbel Hübner" und "Lichthaus Mösch am Tauentzien" im Bezirk Schöneberg. In einem Selbstbezichtigungsschreiben einer "Revolutionären Zelle" übernahmen die Verfasser gemäß der Kreuzberger Linie, d.h. im Rahmen des Kampfes gegen eine angebliche Neuaktivierung des Bezirks durch Politik und Kapital, die Verantwortung für beide Anschläge auf die teuren Konsumtempel. 2.1.1.3.4 Ausblick Die Aufklärung von Aktionen der RZ bereitet beinahe noch größere Schwierigkeiten als die von RAF-Anschlägen, weil die den RZ eigene Strategie des "Feierabendterrorismus", die organisatorische Struktur selbständig operierender Zellen mit jeweils nur wenigen Mitgliedern und die thematische Breite der RZ, die Aktionen gegen eine Vielzahl von Sachobjekten mit angeblicher Symbolfunktion vielen Sympathisanten plausibel macht, eine Eingrenzung des möglichen Täterbereichs außerordentlich erschwert. Dies erklärte sich auch daraus, daß die Aktivitäten der RZ offensichtlich weit mehr positive Resonanz als die der RAF im allgemeinen und unter Autonomen im besonderen finden. Mehr als die terroristischen Aktivitäten der RZ ist ihre Vorbildfunktion für ähnliche Aktionen anderer zur Gewaltausübung bereiter Gruppen und Personen zu fürchten. Insbesondere militante Autonome orientieren sich - offenbar häufig - am Handlungsmuster der RZ. Denjenigen, die einen Zusammenschluß nach dem Muster der RZ bilden wollen, bietet der "Feierabendterrorismus" der RZ günstigere Bedingungen als die Ideologie der RAF, die ein Abtauchen in die Illegalität beinhaltet. 42 2. - Politischer Extremismus - Die Anschläge "Revolutionärer Zellen" bzw. von Resonanz-RZ gegen "Wohnen 2001" und eine Bank im Ostteil der Stadt belegten im Jahr 1990, daß die RZ in viel stärkerem Maße als die RAF in der Lage sind, ohne große Vorbereitungszeiten aktuelle Themen in ihre Anschlagstätigkeiu"n clnzubeziehen und sich neuen Gegebenheiten anpassen. Gegenwärtig ist von mehreren in der Stadt existierenden RZ bzw. Resonanz-RZ auszugehen. Mit weiteren RZ-Anschlägen insbesondere zu aktuellen Themen, wie "Großdeutschland" und zu den sozialen Problemen im Ostteil der Stadt ui.d in den neuen Bundesländern, ist zu rechnen. 2. - Politischer Extremismus - 43 2.1.1.4 Autonome 2.1.1.4.1 Vorbemerkung Bei der Vielzahl heterogener, mehr oder weniger konstanter Gruppen, Zirkel etc., die sich selbst als Autonome bezeichnen, sind die Übergänge zwischen gewaltablehnenden und gewaltbefürwortenden Kräften fließend. Grundsätzlich unterliegen nur diejenigen Autonomen der Beobachtung der Sicherheitsbehörden, die an gewalttätigen Aktionen mit linksextremistischem Hintergrund mitgewirkt oder diese vorbereitet haben, den Einsatz von Gewalt bei diesen Aktionen befürwortet haben oder häufige oder enge Kontakte zu Gewalttätern oder Gewaltbefürwortern hatten, d.h. insbesondere zu Mitgliedern von Gruppen, die Gewalttaten propagieren, vorbereiten oder durchführen. 2.1.1.4.2 Grundlagen, Ziele, Strukturen Die Grundtendenz Autonomer zur Ablehnung der Organisation, zur Dezentralisierung, zum Ideologieverzicht, zur Ablehnung von Disziplin, zur Selbstorganisation und eben zur "Autonomie" hat zahllose differierende und oft nur kurzlebige Ausformungen bewirkt. Zudem wird der Begriff "autonom" von den verschiedenen Gruppen nicht einheitlich angewendet. Daraus erklärt sich auch die Vielfalt der oftmals spontan entstandenen, losen, nach außen jedoch eher abgeschotteten sogenannten Zusammenhänge. Zu ihnen gehören u.a. militante Kernkraftgegner, Anhänger von Arbeitslosen-, Jobberund SozialhilfeempfängerInitiativen, die sich selbst als Sozialrevolutionär bezeichnen, Angehörige von Antifa-Gruppen und auch von anarchistisch inspirierten Zusammenschlüssen. 44 2. - Politischer Extremismus - Die Autonomen entziehen sich folgerichtig jeder nach organisatorischen Einheiten gegliederten Darstellung. Strukturelle Ansätze werden nur in einzelnen Kommunikationszentren und Anlaufund Fixpunkten wie Szenekneipen einschließlich der sie bewirtschaftenden Kollektive, einigen Info-Läden, einer Telefonkette und in Wohngemeinschaften sichtbar. Wohngemeinschaften, aber auch zu bestimmten Themen entstandene Gruppen, sind oft jedoch von nur geringer Konsistenz. Sie existieren nur Wochen oder Monate in der ursprünglichen Form. Zudem litten die bislang vor allem im Bezirk Kreuzberg anzutreffenden Wohngemeinschaften seit der Öffnung der Mauer an Auszehrung, da der Ostteil der Stadt einer großen Zahl von Autonomen mehr Nischen bot als ihre bisherige Hochburg. Die ganz überwiegende Mehrheit der Autonomen sind Jugendliche bzw. jüngere Erwachsene zwischen 18 und 28 Jahren. Zumeist sind es Schüler, Auszubildende, darunter viele, die mit der Lehre oder dem Studium nicht zurechtkommen, Gelegenheitsjobber, Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger. Viele Autonome wenden sich schon nach wenigen Jahren ernüchtert von der Szene ab, enttäuscht über das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit autonomer Lebensziele. Als besonders frustrierend werden die selbstgewählte Ghettosituation und die ständigen ergebnislosen Perspektivdiskussionen empfunden. Die Zahl der Autonomen wird von den Sicherheitsbehörden seit Jahren für die alten Bundesländer auf etwa 2.000 bis 3.000 Personen geschätzt. Eine genauere Quantifizierung ist nicht möglich. Eben noch auffällige aktive "Zusammenhänge" haben sich wenige Wochen später bereits wieder aufgelöst. Zudem führt häufiger Wechsel von Aktionsund Politikfeldern zu ständigen Umgruppierungen. Schon vor der Maueröffnung stellten die Autonomen in Berlin (West) mit mehr als 400 Anhängern das größte Kontingent innerhalb des deutschen linksextremistisch motivierten Gewaltpotentials dar. Damit zählte schon Berlin (West) zu den Zentren der Autonomen in der Bundesrepublik Deutschland. Bereits vor Öffnung der innerdeutschen Grenzen unterhielten Autonome Kontakte zu ähnlich denkenden Gruppen im Ostteil der Stadt und in der ehemaligen DDR; Autonome aus Berlin (West) beteiligten sich u.a. an den Friedensdemonstrationen 2. - Politischer Extremismus - 45 in Leipzig. Teilweise verlegten Autonome ihren Wohnsitz in den Ostteil der Stadt. Dabei gelang es ihnen, sich innerhalb kurzer Zeit in der neuen Umgebung einzurichten, Führungsrollen zu übernehmen und die dort anfänglich friedlich agierenden Gruppen zunehmend zu gewaltorientiertem Handeln zu veranlassen. Inzwischen ist davon auszugehen, daß es eine einheitliche, gegenwärtig etwa 650 Personen umfassende autonome Szene in Berlin gibt, soweit Autonome überhaupt als Einheit beschrieben werden können. Bei der Zahl der Berliner Autonomen ist hinsichtlich ihrer tatsächlichen Stärke ein mobilisierbares Potential in der Berliner Alternativ-Szene und unter türkischen Jugendbanden zu berücksichtigen. Das Ausmaß dieser zusätzlichen Mobilisierungsmöglichkeiten hängt weitgehend vom jeweiligen Anlaß ab und läßt sich daher nur schwer beziffern, dürfte jedoch mehr als 1.000 Personen - nach Einschätzung der Autonomen bis zu 4.000 Personen - betragen. Über den Resonanzeffekt von Autonomen in Ost-Berlin gibt es bisher keine verläßlichen Angaben. 2.1.1.4.3 Die "Militanz" der Autonomen Gewalt gegen Sachen, aber auch gegen Personen ist für viele Autonome selbstverständlich, Militanz geradezu ein wesentliches Kriterium "autonomer" Politik. Die Militanz der Autonomen äußert sich vor allem durch "Randale" bei Demonstrationen sowie durch Sachbeschädigungen, Brandanschläge und Überfälle auf Einrichtungen des "Schweinesystems" und politische Gegner. Seit 1989 ist jedoch ein Differenzierungsprozeß im autonomen Lager in der Gewaltfrage sichtbar geworden. Während einerseits autonome Gruppen weiterhin "klandestine militante Aktionen", wie Brandanschläge o.a., durchführten, zeigte sich andererseits, daß Autonome durchaus bereit sind, auf den Einsatz von Gewalt zu verzichten, insbesondere dann, wenn Militanz für die Erreichung des Ziels nicht opportun erscheint. Autonome, die militantes Vorgehen um jeden Preis durchsetzen wollen, bezeichneten die Abweichler als "autonome Reformisten" oder "Reformautonome". 46 2. - Politischer Extremismus - 2.1.1.4.4 Aktuelle Aktivitäten der Autonomen Zu den Aktionsschwerpunkten Berliner Autonomer zählten 1990 die Anti-Shell-Kampagne, die Unterstützung des Hungerstreiks inhaftierter Mitglieder der spanischen Terrorgruppe GRAPO, die Aktionen anläßlich der Vereinigung Deutschlands, Hausbesetzungen sowie die Aktivitäten militanter Frauen. Die Aktionsformen der Autonomen reichten hierbei von Versammlungen und Demonstrationen über Sachbeschädigungen bis zu terroristischen Anschlägen, die sich an das Handlungsmuster der "Revolutionären Zellen" anlehnten (vgl. 2.1.5). Auch 1990 ging die Mehrzahl aller Anschläge - zumeist Brandanschläge mit einfachen, aber wirksamen Mitteln - auf das Konto der Autonomen. Soweit sie Selbstbezichtigungen abgaben, traten sie u.a. unter Namen wie "Internationalistische Zelle", "Autonome Gruppen", "Autonome Feuerwerker", "Furien" auf. Bei einigen der oben genannten Themen konnte eine Kooperation zwischen Autonomen und Angehörigen des RAF-Umfeldes festgestellt werden. Diese Zusammenarbeit könnte sich infolge der Veröffentlichung der Taterklärung der RAF zum Anschlag auf Staatssekretär NEUSEL in "INTERIM" und der sich daran anschließenden Diskussion, in deren Verlauf Autonome neuen Raum für eine Strategiedebatte zwischen "Metropolen-Guerilla und autonomer Bewegung" ausgemacht hatten, intensivieren. Anti-Shell-Kampagne Die seit etwa 1987 anhaltende internationale Anti-ShellKampagne unter dem Slogan Shell raus aus Südafrika ! Kill a Multi!, in deren Verlauf auch in Berlin mehrere militante Aktionen bis zu versuchten Brandanschlägen zu verzeichnen waren, nutzten Autonome 1990, um sich führend an Demonstrationen und Blockaden gegen Shell-Tankstellen zu beteiligen. Darüber hinaus begingen im Februar 1990 "einige autonome Gruppen aus West-Berlin" Sachbeschädigungen an mehreren 2. - Politischer Extremismus - 47 Shell-Tankstellen und verübten im Juni 1990 unbekannte Täter einen Brandanschlag auf ein mit einem Shell-Emblem versehenes Tankfahrzeug. Unterstützung des Hungerstreiks inhaftierter Mitglieder der spanischen Terrorgruppe GRAPO Trotz der Enttäuschung über den unerwarteten Abbruch des Hungerstreiks inhaftierter RAF-Terroristen im Mai 1989, griffen Autonome in der Folgezeit zum Teil führend in die Solidaritätsbekundungen für inhaftierte Mitglieder der GRAPO ein, die bislang von RAF-Anhängern getragen worden waren. Die für den sog. Tag X, dem möglichen Todestag eines inhaftierten Hungerstreikenden der GRAPO, durch Autonome angekündigten militanten Aktionen blieben jedoch aus, als am 25. Mai 1990 nach 177tägigem Hungerstreik einer der Beteiligten starb. Am 19. Februar 1990 und 17. August 1990 begingen unbekannte Täter Sachbeschädigungen bzw. einen Brandanschlag gegen Filialen der spanischen VW-Tochterfirma SEAT in Berlin. Aktivitäten anläßlich der Vereinigung Deutschlands Bereits weit im Vorfeld des 2./3. Oktober 1990 gingen Angehörige des Berliner RAF-Umfeldes, militante Autonome und Hausbesetzer an die Planung von Gegenaktionen. Unter den Unentschlossenen oder für gewaltfreie Aktionen Eintretenden agierten Angehörige des Berliner RAF-Umfeldes, die vor allem für Militanz warben. Gleichwohl konnte die Absicht, die zentralen Feierlichkeiten nachhaltig zu stören, nur in beschränktem Umfang in die Tat umgesetzt werden. Unter den ca. 10.000 Demonstranten, die am Nachmittag des 3. Oktober 1990 in einem Protestmarsch unter dem Motto Deutschland halt's Maul - es reicht! vom westlichen in den östlichen Stadtteil zogen, befanden sich nahezu 1.000 Autonome. Nach dem Aufzug randalierten rund 500 von ihnen 48 2. - Politischer Extremismus - bis in die Nacht hinein auf dem Alexanderplatz sowie in angrenzenden Straßen. Bereits am späten Abend des 1. Oktober 1990 zündeten je zwei Brandsätze im "Kaufhaus des Westens" (Sachschaden ca. 1,5 Mio. DM) und im "CentrurrT'-Kaufhaus im östlichen Stadtteil (hoher Sachschaden). !n einer Kreuzberger Bankfiliale wurde am frühen Morgen des 2. Oktober 1990 ein Brandsatz in den Kassenraum geworfen. Autonome Hausbesetzerszene Nachdem im Westteil Berlins mit wenigen Ausnahmen (Marchstraße/Einsteinufer in Charlottenburg) fast alle besetzten Häuser von der Polizei geräumt worden waren, konzentrierten sich West-Berliner Autonome auf die Neubesetzung von Häusern im Ostteil der Stadt oder zogen in dort bereits besetzte Häuser ein. Dabei gelang es den aus dem Westteil der Stadt "eingereisten" Autonomen, in der "unerfahrenen" Ost-Berliner Besetzerszene innerhalb kürzester Zeit Führungsrollen zu übernehmen und die dort von der Hausbesetzerszene anfänglich gezeigte moderate Haltung gegenüber der Polizei zu unterdrücken. Die von "Westautonomen" in die Ost-Berliner Hausbesetzerszene transplantierte Militanz wurde erstmals im Anschluß an eine "Antifaschistische Großdemonstration" am 23. Juni 1990 deutlich sichtbar. Dabei kam es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Autonomen und autonomen Hausbesetzern und der Volkspolizei, die einen Angriff auf das von Neonazis bewohnte Haus Weitlingstraße 122 im Bezirk Lichtenberg zu verhindern suchte. Nach der Räumung von drei besetzten Häusern im Ostteil Berlins am 12. November 1990 nach der "Berliner Linie" (Verhandlungen für bestehende besetzte Häuser, Verhinderung von Neubesetzungen) eskalierte die angespannte Situation. Im Bereich der Mainzer Straße blockierten Autonome den 2. - Politischer Extremismus - 49 Fahrzeugverkehr, warfen Steine und bauten Barrikaden, um ein Eindringen der Polizei in die Mainzer Straße zu verhindern. Eine wegen dieser Ausschreitungen beschlossene Räumung der zehn besetzten Häuser in der Mainzer Straße am 14. November 1990 führte zu massiven Angriffen gegen die räumenden Polizeibeamten. Hierbei wurden auch von Dächern aus Steine und Molotowcocktails geworfen. In den Tagen nach der Räumung kam es stadtweit zu Sachbeschädigungen und Ausschreitungen bei Demonstrationen, wobei auch eine Beteiligung von aus dem übrigen Bundesgebiet angereisten Autonomen zu erkennen war. Im Verlauf des Jahres 1990 verübten Autonome darüber hinaus mehrere Brandanschläge und gezielte Sachbeschädigungen gegen Wohnungsgesellschaften, Immobilienbüros und -händler sowie Baufirmen, die in einen Zusammenhang mit von Autonomen besetzten Häusern oder Häuserräumungen gebracht wurden. Neben zahlreichen Flugblättern brachten autonome Hausbesetzer aus beiden Teilen Berlins ab August 1990 die "Besetzerinnen-Zeitung" heraus. Sie hat mit ihrem politischen Anspruch für den Ostteil Berlins eine ähnliche Funktion wie das von Autonomen im Westteil Berlins herausgegebene Info-Blatt "INTERIM". Die autonome Hausbesetzerszene Ost-Berlins ist inzwischen gespalten in solche, die vertraglichen Vereinbarungen mit dem Senat nicht abgeneigt sind und sich deshalb in einem Vertragsgremium organisiert haben, und in solche, die Verhandlungen strikt ablehnen. Die in letzter Zeit in die Minderheit geratenen und im sog. Häuseroder Besetzerrat zusammengeschlossenen Nichtverhandler stehen unter dem maßgeblichen Einfluß ehemaliger "Westautonomer". Militante Frauenbewegung Seit etwa 1987 zunehmend eigenständig auftretende autonome Frauengruppen führten auch 1990 militante Aktionen und 50 2. - Politischer Extremismus - Demonstrationen durch. So verübten militante Frauengruppen u.a. einen Brandanschlag sowie Sachbeschädigungen gegen Sex-Shops, störten Veranstaltungen des Katholikentages und initiierten bzw. beteiligten sich an Demonstrationen und Veranstaltungen, insbesondere zu den Themen Rassismus, Sexismus, Patriarchat, Gen-Technologie, SS 218 StGB sowie Frauenhanclel und Sextourismus. Neben ihrem Kampf gegen das Patriarchat in Staat und Gesellschaft wenden sich autonome Frauen auch gegen eine angebliche Unterdrückung in der autonomen Szene. Durch beständige Kritik am machohaften Gehabe der "autonomen Männer", u.a. in der "INTERIM", ist es ihnen zunehmend gelungen, ihre Themen auch in autonome Männerzusammenhänge einzubringen. 2.1.1.4.5 Ausblick Die etwa 650 Personen umfassende autonome Szene im Ostund Westteil der Stadt bildet nach wie vor keine Einheit. Die Bevormundung der "Ostautonomen" durch ihre aus dem Westen zugereisten Gesinnungsgenossen führte vor allem in der Hausbesetzer-Szene im Ostteil Berlins zu einer zunehmenden Isolierung "Westautonomer", die mit ihrer "Nichtverhandler-Postition" inzwischen in die Minderheit geraten sind. Auf anderen Betätigungsfeldern Autonomer wurden dagegen Angleichungstendenzen sichtbar. Autonome aus beiden Teilen der Stadt arbeiteten aus Anlaß des 1. Mai 1990 bei "Verteidigungsaktionen" gegen angebliche Faschos und bei Aktionen gegen den Golfkonflikt teilweise eng zusammen. Trotz der notorischen Organisationsfeindlichkeit Autonomer wurden in jüngster Zeit Vernetzungsbemühungen auf den Gebieten "Antifaschistischer Kampf" , Info-Läden und Cafes sowie in dem Versuch anarchistisch orientierter autonomer Gruppen, zu einer beständigen Zusammenarbeit zu kommen, erkennbar. Dabei reichten die Vernetzungsansätze über die Stadtgrenzen hinaus und schlössen 2. - Politischer Extremismus - 51 u.a. Potsdam, Leipzig und Dresden wie auch die alten Bundesländer ein. Bereits jetzt zeichnen sich neben dem "Kampf gegen Faschos" einschließlich Skinheads und Hooligans Themenkomplexe wie die zunehmenden Spannungen im Ostteil der Stadt und auch "Europa 92" als willkommene Anlässe für gemeinsame Krawalle, Sachbeschädigungen und Brandanschläge ab. 52 2. - Politischer Extremismus - 2.1.2 Dogmatische Neue Linke 2.1.2.1 Vorbemerkung Neben den gewaltorientierten linksextremistisch motivierten Gruppen versuchen auch andere linksextremistische Organisationen und Zusammenschlüsse, die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland auf revolutionärem Weg zu beseitigen. Dazu zählen außer einer Reihe relativ unbedeutender anarchistischer Zirkel und Zusammenhänge, die eine herrschaftsfreie Gesellschaft anstreben, insbesondere marxistisch-leninistische Bünde und Parteien sowie trotzkistische Gruppierungen. Diesen überwiegend aus der Studentenbewegung der sechziger Jahre entstandenen Organisationen ist gemeinsam, daß sie den Klassenkampf und die proletarische Revolution propagieren und eine kommunistische Diktatur errichten wollen. Dabei sind sie auch bereit, Gewalt zur Duchsetzung dieses politischen Ziels anzuwenden, sobald die Situation dies ihrer Meinung nach zuläßt. 2.1.2.2 Revolutionär-marxistische Gruppen In Berlin sind mehr als zehn Organisationen der sogenannten K- Gruppen, die überwiegend auch bundesweit aktiv täfig sind; mit unterschiedlichen Aktivitäten und Mitgliederstärken (insgesamt etwa 500 Angehörige) vertreten. 2.1.2.2.1 "Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD" (AB) Der schwerpunktmäßig in Bayern vertretene, bundesweit etwa 200 Mitglieder zählende AB trat in Berlin nur mit Flugblattaktionen in Erscheinung. 2. - Politischer Extremismus - 53 Anläßlich der Bundestagswahlen veranstaltete der AB zusammen mit der PDS einen "Anachronistischen Zug 1990" von Bonn nach Berlin und hatte zu dessen Vorbereitung in Berlin eigens ein Büro eingerichtet 2.1.2.2.2 "Bund Westdeutscher Kommunisten" (BWK) Der 1980 aus einer Spaltung des "Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW)" hervorgegange BWK gliedert sich in acht Landesverbände und die formal selbständige Gruppe "Bund Westdeutscher Kommunisten (BWK) - Westberlin". Der BWK will vorerst nicht in den neuen Bundesländern auftreten und hält an der Fiktion einer deutschen Zweistaatlichkeit fest. Auch in Berlin ist der BWK bemüht, Bündnisse mit "antifaschistischen", "antiimperialistischen" deutschen und ausländischen Organisationen einzugehen. Zusammen mit der "Volksfront gegen Reaktion, Faschismus und Krieg" verfügt der BWK mit der "Gesellschaft für Nachrichtenerfassung und Nachrichtenverbreitung, Verlagsgesellschaft Politische Berichte mbH" (GNN) und der "GNN Verlagsgesellschaft Westberlin" an über 160 Standorten über technische Einrichtungen, die die Herstellung von Druckund Kopiervorlagen ermöglichen und auch von anderen linksextremistischen Gruppen genutzt werden. Der BWK strebt Verhandlungen mit den verschiedensten Gruppen zwecks Bildung einer gemeinsamen Organisation an; eine Verschmelzung mit der "Vereinigten Sozialistischen Partei" (VSP) und anarchistischen Gruppierungen scheiterte jedoch zum Jahresanfang 1990. Wegen der geringen Mitgliederzahl (bundesweit nicht mehr als 350, in Berlin etwa 20) beschränkt sich der BWK überwiegend auf publizistische Aktivitäten und beteiligt sich an Veranstaltungen anderer Organsationen. 54 2. - Politischer Extremismus - 2.1.2.2.3 "Kommunistische Partei Deutschlands" (KPD) Die KPD, die sich als die einzige Verfechterin eines "unverfälschten" Marxismus-Leninismus und somit als legitime Nachfolgerin der 1933 verbotenen KPD Ernst THÄLMANNs verstanden hatte, besteht faktisch nicht mehr. Zur Zeit gibt es drei Gruppierungen, die sich jeweils als rechtmäßige KPD bezeichnen und deren Mitglieder die 1986 vollzogene Fusion mit der trotzkistischen "Gruppe Internationale Marxisten" (GIM) zur VSP nicht akzeptiert haben. Diese Gruppen haben in Berlin insgesamt etwa 30 Angehörige; außer publizistischer Tätigkeit entfalten sie keine nennenswerten Aktivitäten; bekannt ist, daß sich einzelne ehemalige SEW-Mitglieder der KPD angeschlossen haben. 2.1.2.2.4 "Kommunistischer Bund" (KB) Der 1971 in Hamburg gegründete KB, der derzeit etwa 400 Mitglieder umfaßt, hat sich - auch in Berlin - in zwei annähernd gleichgroße Lager gespalten. Eine "Mehrheit" (knapp über 50 % der Mitglieder) orientierte sich frühzeitig darauf, mit der "DDR-Opposition" und - nach der Volkskammerwahl im März 1990auch mit der PDS zusammenzuarbeiten. Die "Minderheit" bezeichnet die PDS als DDR-spezifisches Produkt mit linkssozialdemokratischer Programmaktik ohne sozialistische Perspektive. Eine Orientierung des KB auf diese Partei sei eine PanikReaktion und Ausdruck der politischen Krise und Perspektivlosigkeit innerhalb der Organisation. Die "Mehrheit" konnte sich im September auf einer KBArbeitskonferenz mit ihrem Vorschlag, das Wahlbündnis PDS/Linke Liste zu unterstützen, gegen einen geplanten "Wahlboykott" durchsetzen. Die KB-"Minderheit"bekämpft diese linke Wiedervereinigung und will den ideologischen Traditionen des KB treu bleiben. 2. - Politischer Extremismus - 55 Wichtiger Bezugspunkt und Informationsquelle für das gesamte "linke Spektrum" ist die seit 1971 erscheinende KB-Publikation "akArbeiterkampf"; von der zwischen 6.000 bis 8.000 Exemplare liegenden Auflage werden in Berlin monatlich etwa 500 verkauft. Die Zeitschrift wirkt identitätsstiftend nach "innen" und meinungsund diskussionsprägend nach "außen" und ist wesentlich angesehener als der KB selbst. Aufgrund der internen Auseinandersetzungen waren in Berlin kaum nennenswerte Aktivitäten der KB-Mitglieder festzustellen. 2.1.2.2.5 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) Die 1982 gegründete MLPD ist bundesweit mit etwa 1.500 Mitgliedern eine der mitgliederstärksten K-Gruppen. Seit den Volkskammerwahlen 1990 versuchte die MLPD mit Freiabonnements ihres Zentralorgans "Rote Fahne" auf dem Gebiet der damaligen DDR ihr Gedankengut einzubringen und vorhandene Gruppen und Organisationen, die sich auf den Marxismus-Leninismus berufen, als Verbündete zu gewinnen. Die MLPD-Führung sieht in Berlin als Großraum das wichtigste industrielle Zentrum neben dem Ruhrgebiet und will den Parteibezirk Berlin mit besonderen Maßnahmen unterstützen. Eine "Rote FahneWerbekampagne" im Herbst 1990 wurde mit einem bundesweit groß angekündigten Pressefest in der "Dynamo-Sporthalle" im Ostteil Berlins als Höhepunkt abgeschlossen. Die MLPD finanziert sich mit einem erheblichen Spendenaufkommen und Pflichtbeiträgen ihrer Mitglieder. Von der Bezirksleitung Berlin der MLPD wurden 1990 bis zu 15 Veranstaltungen mit unterschiedlicher Teilnehmerzahl (teilweise über 100) durchgeführt. Außerdem hatte sie zeitweise Informationsstände unterhalten, um Anhänger zu gewinnen. Zur Schulung ihrer Mitglieder werden auch sogenannte Rote-FahneLesetreffs veranstaltet. Der Rekrutierung klassenbewußten Nachwuchses dienen der "ARBEITERJUGENDVERBAND/Marxisten-Leninisten" (AJV/M-L) und der "Marxistisch-Leninistische Schülerund Studentenverband" (MLSV). Lehrer und Erzieher sind in der Nebenorganisation 56 2. - Politischer Extremismus - "Marxistisch-Leninistischer Bund Intellektueller" (MLBI) organisiert, um die "Interessen der Arbeiterklasse unter der kleinbürgerlichen Intelligenz" zu vertreten. Außerdem war die MLPD maßgeblich am Aufbau einer "Antiimperialistischen Initiative/Westberlin" beteiligt, die im Zusammenhang mit der Golfkrise mehrere Veranstaltungen durchführte und zum Widerstand gegen den Großmachtskurs Deutschlands und dessen Folgen aufrief. 2.1.2.2.6 "Marxistische Gruppe" (MG) Die zu Beginn der 70er Jahre in Bayern entstandene MG will kommunistische Politik mit durch und durch destruktiver Kritik aller bestehender Verhältnisse betreiben. Die periodischen MG-Publikationen haben Auflagen bis zu 20.000 Exemplare. Bundesweit verfügt die MG über mehr als 10.000 fest in die Organisation eingebundene Anhänger; hinzu kommen mehrere tausend Personen, die regelmäßig an Schulungen und sonstigen Veranstaltungen teilnehmen. Die MG unterhält in Berlin einen eigenen Buchladen und regelmäßige Büchertische an den Universitäten in beiden Teilen der Stadt; außerdem werden die MG-Publikationen in zahlreichen Buchund Zeitschriftenläden in ganz Berlin zum Kauf angeboten. Sowohl im Westals auch im Ostteil Berlins führte die MG 1990 jeweils mehr als zehn Veranstaltungen zu den unterschiedlichsten Themen durch und initiierte zahlreiche Flugschriftenaktionen. Zur Gewinnung neuer Mitglieder wurden sogenannte Sympathisantenschulungen mit bis zu zehn Personen sowie Diskussionsveranstaltungen mit maßgeblichen MG-Funktionären durchgeführt. 2.1.2.2.7 "Rote Garde Berlin" (RG) Die "Rote Garde" versteht sich als Kampforganisation der proletarischen und werktätigen Jugend. 2. - Politischer Extremismus - 57 Die Ende 1988 als "Rote Garde Westberlin" gegründete Organisation nahm unmittelbar nach dem Fall der Mauer erste Kontakte zu Jugendlichen im Ostteil Berlins auf und will in ganz Deutschland den Zusammenschluß von revolutionären und fortschrittlichen Jugendlichen zu Rote-Garde-Gruppen unterstützen. In der RG, die in freundschaftlichem Verhältnis zur KPD steht, haben sich auch ehemalige Mitglieder des "SJV Karl Liebknecht" und ehemalige SEWMitglieder zusammengeschlossen. Die SED/PDS wird als Partei der sozialistischen Marktwirtschaft abgelehnt und als Verräter am Sozialismus beschimpft. Vierteljährlich wird die Publikation "Roter Rebell" herausgegeben. 2.1.2.2.8 "Rote Hilfe e.V." (RH) Die seit 15 Jahren bestehende "Rote Hilfe" versteht sich als Schutzorganisation für die gesamte Linke und setzt sich für die Betreuung von "politischen Häftlingen" ein. Die in Ortsgruppen gegliederte RH hat bundesweit etwa 900 Mitglieder, die teilweise auch in K-Gruppen organisiert sind. In der vierteljährlich mit etwa 2.000 Exemplaren erscheinenden überregionalen Publikation "Die Rote Hilfe" wird über Prozesse und Ermittlungen berichtet. Von der "Roten Hilfe Berlin", in der etwa 100 Personen organisiert sind, erscheint zusätzlich monatlich ein "Rote Hilfe Info" als Informationsblatt mit Prozeßterminen, Berichten über Prozessse und Informationen über Repressionsmaßnahmen. Aktivitäten mit Außenwirkungen sind kaum erkennbar. 2.1.2.2.9 "Sympathisanten der Revolutionären Kommunisten (BRD)" Bei dieser Gruppierung handelt es sich um Anhänger der 1984 entstandenen "Revolutionären Internationalistischen Bewegung" (RIM) mit Sitz in London. Diese vereint als Dachverband derzeit 19 maoistische Parteien und Zusammenschlüsse aus verschiedenen Ländern, darunter die auch in 58 2. - Politischer Extremismus - Deutschland tätige "Türkische Kommunistische Partei/MarxistenLeninisten" (TKP/M-L). Die in der RIM zusammengeschlossenen Gruppen orientieren sich ideologisch an MARX, ENGELS, LENIN und MAO ZEDONG und stellen dabei besonders MAOs Konzept des "Revolutionären Volkskrieges" heraus. In Berlin existiert eine etwa 30 Personen starke Gruppe, die an Demonstrationen in einem geschlossenen Block teilnimmt und gelegentlich Flugblattaktionen durchführt. 2.1.2.2.10 "Vereinigte Soziaiistische Partei" (VSP) Die VSP wurde 1986 als Zusammenschluß der Mehrheiten der "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD) und der trotzkistischen "Gruppe Internationale Marxisten" (GIM) gegründet. Die VSP, die aufgrund unausgetragener interner Auffassungsunterschiede in wichtigen programmatischen Fragen zunehmend handlungsunfähig wird und kaum mehr Anziehungskraft ausübt, hat seit ihrer Gründung einen erheblichen Teil ihrer Mitglieder verloren. 1990 waren etwa 325 Mitglieder (davon ca. 150 Trotzkisten) in 25 Ortsgruppen und dem Landesverband Berlin organisiert. Ein Scheitern ihrer Vereinungsbemühungen mit dem BWK sieht die VSP als Rückschlag für den Prozeß der Überwindung linker Zersplitterung an und tritt für weitere praktische Zusammenarbeit und inhaltliche Auseinandersetzung mit anderen Kräften ein. Die VSP will ihren Geltungsbereich vorerst nicht auf das Gebiet der neuen Bundesländer und den Ostteil Berlins ausdehnen, hier strebt sie eine enge gleichberechtigte Zusammenarbeit mit der Gruppe "Vereinigte Linke" an. Ein Zusammenschluß steht wegen unterschiedlicher Strukturen und verschiedenartiger Strömungen voerst nicht zur Debatte. Eine enge publizistische Zusammenarbeit sowie "Betriebsund Gewerkschaftstreffen" sind geplant. Im Landesverband Berlin der VSP sind nur noch 15 Mitglieder (bei der Gründung über 30) organisiert. 12 Personen im Ostteil Berlins sollen 2. - Politischer Extremismus - 59 sich bereits in einem Arbeitskreis "Revolutionäre Sozialistinnen und Sozialisten der ehemaligen DDR" zusammengefunden haben, die als "Kandidaten - Mitglieder" von der VSP aufgenommen werden sollen. Das Organ der VSP "SoZ - Sozialistische Zeitung" erscheint 14tägig in einer Auflage von 2.500 Exemplaren. Zu Schwerpunktthemen bzw. aktuellen Themen der politischen Auseinandersetzung wird eine "Soz aktuell" in Auflagen bis zu 20.000 Exemplaren herausgegeben. 2.1.2.2.11 "Volksfront gegen Reaktion, Faschismus und Krieg" (Volksfront) Die Ende 1979 gegründete Volksfront - mit derzeit etwa 400 Mitgliedern versteht sich als antifaschistische Mitgliederund Bündnisorganisation. Bei einem hohen Anteil von BWK-, KPDund VSP-Mitgliedem dominieren Mitglieder des BWK in den Führungsgremien der Volksfront. In ihrem "antifaschistischen Kampf" wenden Volksfrontmitglieder auch Gewalt an, setzen aber vor allem auf die Wirkung ihrer Publikationen wie der überregionalen "Antifaschistischen Nachrichten" (14täglich), des Mitteilungsblattes "Volksecho" (vierteljährlich) oder des von ihrem Berliner Landesverband, in dem etwa 25 Mitglieder organisiert sind, herausgegebenen "frontblatt". Darüber hinaus arbeitet sie u.a. auch mit Autonomen und dem militanten Spektrum zuzurechnenden Antifa-Gruppen zusammen. Mitglieder der Berliner Volksfront arbeiten außerdem in verschiedenen bezirklichen "Antifa-Bündnissen" und unabhängiggen "Antifa-Gruppen" mit. Darüber hinaus bestehen enge Verbindungen zu extremistischen Ausländer-Organisationen in Berlin. 60 2. - Politischer Extremismus.2.1.2.3 Trotzkistische Parteien und Gruppen In Berlin sind derzeit acht, insgesamt über etwa 200 Mitglieder verfügende, trotzkistische Parteien und Gruppen aktiv, von denen einige auch die Methode der Unterwanderung von Parteien und Gewerkschaften ("Entrismus") praktizieren. Durch den Niedergang des "reaien Soziaiismus", der von Trotzkisten als "bürokratische Entartung" angesehen wird, und das Ende der DDR sahen sich die trotzkistischen Gruppen ideologisch bestätigt. Bereits zu den Volkskammerwahlen im März 1990 traten Trotzkisten mit der Forderung Für ein rotes Deutschland zur Wahl an und begannen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zielstrebig mit dem Aufbau von neuen Stützpunkten. 2.1.2.3.1 "Bund Sozialistischer Arbeiter" (BSA) Der 1971 gegründete BSA ist die deutsche Sektion des "Internationalen Komitees der Vierten Internationale" in London. Der BSA hatte zu den DDR-Volkskammerwahlen im März sowie zu den gesamtdeutschen Bundestagswahlen im Dezember 1990 erfolglos kandidiert. In Berlin erhielt er 386 bzw. 161 Stimmen. Er verfügt bundesweit über etwa 100 Mitglieder, in Berlin besteht der BSA aus einer Funktionärsgruppe. 2.1.2.3.2 "Internationale Sozialistische Arbeiterorganisation" (ISA) Die 1979 aus einer Gruppe um die Zeitschrift "Internationale Arbeiterkorrespondenz" hervorgegange ISA ist die deutsche Sektion der "IV.Intemationale/Intemationales Zentrum für ihren Wiederaufbau", die ihren Sitz in Paris hat. Die ISA propagiert unter Berufung auf das von Leo TROTZKI im Jahre 1938 entworfene "Übergangsprogramm" die "Zerschlagung des bürgerlichen Staates", die "permanente Revolution" im Weltmaßstab und die "Diktatur des Proletariats" in Form eines Rätesystems. 2. - Politischer Extremismus - 61 Auf Beschluß des V. Kongresses der ISA wurden 1989 "Arbeitskreise für Arbeitnehmerpolitik" gebildet, in denen auch Gewerkschaftler, Sozialdemokraten, Grüne-Mitglieder und Jugendliche mitarbeiten sollen. Unter dem Tarnnamen "Vereinigung der Arbeitskreise für Arbeitnehmerpolitik und Demokratie" (VAA) hat die ISA erfolglos zur DDR-Volkskammer und zum Deutschen Bundestag kandidiert. In Berlin erhielt die Liste 167 bzw. 480 Stimmen. Auch zu den DDRKommunalwahlen im Mai 1990 hatten Kandidaten der VAA im Bezirk Treptow erfolglos kandidiert. Die ISA, die seit einiger Zeit hauptsächlich unter ihrer Tarnbezeichnung VAA auftritt, hat Ende 1990 ihren Sitz von Köln nach Berlin verlegt, die Gesamtmitgliederstärke beträgt etwa 150 Personen. 2.1.2.3.3 "Sozialistische Arbeitergruppe" (SAG) Die SAG, deutsche Sektion der "Internationalen Sozialisten", hat in den letzten Monaten in Berlin eine Ortsgruppe aufgebaut, der etwa 20 Personen angehören. In naher Zukunft will die SAG, die bundesweit etwa 120 Mitglieder umfaßt, ihre Zentrale von Hannover nach Berlin verlegen, wo sie 1990 monatliche Diskussionveranstaltungen durchführte, an denen bis zu 30 Personen teilnahmen. 2.1.2.3.4 "Spartakist - Arbeiterpartei Deutschlands" (SpAD) Die SpAD, deutsche Sektion der "Internationalen Kommunistischen Liga (Vierte Internationalisten)" (IKL), wurde im Januar 1990 von der "Trotzkistischen Liga Deutschlands" (TLD) und von "Spartakist"Gruppen gegründet. Diese hatten sich auf Initiative der IKL und ihrer deutschen Sektion im Ostteil Berlins und in mehreren Städten der damaligen DDR gebildet und schlössen sich zum Zwecke der Kandidatur zur DDR-Volkskammer mit der TLD im Januar 1990 zusammen. 62 2. - Politischer Extremismus - In Berlin erhielt die SpAD, die derzeit etwa 50 Mitglieder hat, bei der Volkskammerwahl im März 1990 620 und bei der Bundestagswahl 200 Stimmen. 2.1.2.4 Ausblick Im Gegensatz zur orthodox-kommunistischen SEW haben die Gruppen der dogmatischen Neuen Linken den Schock des Niedergangs des "realen Sozialismus" und der Vereinigung Deutschlands weitgehend unbeschadet überstanden, obwohl auch bei diesen Gruppen zunächst Ratlosigkeit und eine gewisse Demoralisierung die Folge waren. Nach anfänglichem, überwiegend verbalem Widerstand gegen die Vereinigung agitierten die Bünde und Parteien in der Folgezeit vor allem gegen die europäische Supermacht Großdeutschland und versuchten, die sozialen Folgen der Vereinigung als Ansatzpunkte zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele zu nutzen. Den trotzkistisch orientierten Zusammenschlüssen ist es gelungen, von der Vereinigung zu profitieren. Diese begannen bereits im Herbst 1989 Stützpunkte im Ostteil Berlins und in anderen Städten der ehemaligen DDR zu errichten und sich mit Erfolg nach neuen Bündnispartnern umzusehen. Berliner Trotzkisten, vor allem die SpAD, bemühen sich in jüngster Zeit, insbesondere Mitglieder aus der Konkursmasse der SED zu werben. Dabei werden sie auch in Zukunft vor allem ihre beachtlichen publizistischen Möglichkeiten nutzen, geben doch alle diese Gruppen "Zentralorgane" heraus, deren Auflagen die Zahl ihrer Mitglieder bei weiten übersteigen. 2. - Politischer Extremismus - 63 2.1.3 Orthodoxer Kommunismus < 2.1.3.1 Vorbemerkung Die in den Ostblockstaaten im Verlauf des Jahres 1989 offen zutagegetretene Krise der internationalen kommunistischen Bewegung und insbesondere das endgültige Scheitern des realen Sozialismus.in der DDR führten 1990 zum Untergang der aus der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) hervorgegangenen Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW). Die SEW war bis 1958 organisatorisch ein Teil der SED. Erst 1962 entließ die SED die West-Berliner Kreisverbände formal aus ihrer Abhängigkeit, faßte sie in der SED Westberlin zusammen, die 1969 in "Sozialistische Einheitspartei Westberlins" (SEW) umbenannt wurde. 2.1.3.2 Umwandlung der "Sozialistischen Einheitspartei Westberlins" (SEW) zur "Sozialistischen Initiative" (Sl) Nachdem die SED die Alimentation der SEW abrupt zur Jahreswende 1989/90 eingestellt hatte, mußte die SEW mangels eigener Finanzierungsmöglichkeiten ihren rund 90 hauptamtlichen Mitarbeitern kündigen, ihre Büroräume größtenteils aufgeben, die Herausgabe ihrer Publikationen beenden und ihrerseits die Zuwendungen an ihre Nebenorganisationen einstellen. Die SEW-Führung vermochte in dieser Situation zunächst nur hilflos der Parteibasis die Auflösung der SEW vorzuschlagen, doch fand sich auf dem zu diesem Zweck einberufenen außerordentlichen Parteitag vom 16.-18. Februar 1990 nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Vielmehr wurde ein "Geschäftsführender Ausschuß" (GA) gewählt und der Parteitag vertagt. Die ehemalige SEW-Führung mußte sich auf dem Parteitag herbe Kritik gefallen lassen. Zwar sei der Niedergang der internationalen kommunistischen Bewegung ursächlich für die existentielle Krise der SEW gewesen, andererseits habe die SEW-Führung die Entwicklung in 64 2. - Politischer Extremismus - den Ländern des real existierenden Sozialismus falsch eingeschätzt. Die Vorstellung von der notwendigen übergeordneten Synchronität der Interessen von SED und SEW hätte zu einer verhängnisvollen ideologischen Abhängigkeit geführt. Am 29. April 1990 stimmte der weitergeführte außerordentliche Parteitag der Umbenennung der SEW in "Sozialistische Initiative" (Sl) zu. 2.1.3.3 Die Sl als Übergangspartei Die Sl verstand sich im Sinne des Parteiengesetzes als Nachfolgepartei der SEW, zu deren Geschichte sie sich ausdrücklich bekannte. Sie begriff sich als eine Übergangsorganisation, mit der sich die Westberliner Kommunistinnen in den Neuformierungsprozeß der sozialistischen Linken einbringen, und wollte in erster Linie als organisatorischer Rahmen der notwendigen grundsätzlichen Neubestimmung sozialistischer/kommunistischer Theorie und Praxis dienen. In den "Leitgedanken für Grundsätze und Ziele der Sozialistischen Initiative" vom 29. April 1990 erklärte die Sl als Ziel ihres Erneuerungsprozesses einen "zutiefst demokratischen Sozialismus" und bekannte sich gleichzeitig zu den Zielen des "Kommunistischen Manifests". Zu ihren Erkenntnismethoden zählte die Sl insbesondere den dialektisch-materialistischen Denkansatz und die darauf begründeten gesellschaftstheoretischen Grundlagen des Marxismus, wofür viele Namen mit z.T. unterschiedlichen Positionen stehen. Einen bisher von der SEW vertretenen Avantgardeanspruch innerhalb der linken Bewegung lehnte die Sl ab. Die Sl-Leitungsgremien setzten sich aus langjährigen Angehörigen der SEW oder ihrer Nebenorganisationen zusammen. Einzelne SlFunktionäre waren zuvor z.T. hauptamtlich beim SEW-Parteivorstand angestellt und als Vorsitzende (bzw. Stellvertretende Vorsitzende) verschiedener SEW-Kreisverbände tätig gewesen; einige hatten als Wahlbewerber für die SEW kandidiert. Noch Anfang 1990 ging die SEW von 2.840 Mitgliedern aus. Im April 1990 bezifferte der GA der SEW die noch aktiven SEW-Mitglieder mit 2. - Politischer Extremismus - 65 etwa 1.200. Nach der Umbenennung der Partei Ende April 1990 waren der Sl nur etwa 500 Mitglieder verblieben. 2.1.3.4 Aktivitäten der Sl Trotz des Selbstverständnisses der Sl als Übergangspartei nahm der außerordentliche Parteitag am 29. April 1990 ein mehrseitiges Thesenpapier "Leitgedanken für Grundsätze und Ziele der Sozialistischen Initiative" und ein "Vorläufiges Statut der Sozialistischen Initiative" an. Im Oktober 1990 wurde zudem eine Schiedsordnung der Sl in Kraft gesetzt. Die Sl beschränkte sich in der Folge weitgehend auf die Unterstützung von Kampagnen anderer Gruppierungen wie die Demonstrationen gegen die Wiedervereinigung, gegen die Einführung der Wehrpflicht in Berlin und die Abgabe einer Presseerklärung gegen die von Westberliner Polizei begonnene Serie rücksichtsloser Räumungsaktionen gegen besetzte Häuser in Ostberlin. Anläßlich der Wahlen am 2. Dezember 1990 zum Bundestag und zum Berliner Abgeordnetenhaus unterstützte die Sl die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), indem sie ihr personelle und materielle Hilfe zuteil werden ließ. Nachdem bereits im Oktober 1990 der Parteivorstand einräumen mußte, den Erwartungen der Mitglieder nicht gerecht geworden zu sein, beauftragte im Dezember 1990 eine zentrale Mitgliederversammlung, an der sich etwa 100 Mitglieder der Sl beteiligten und die von Vertretern u.a. der PDS und DKP besucht worden war, den Parteivorstand, für den März 1991 einen Parteitag vorzubereiten, auf dem über Form und Zeitpunkt einer Beendigung der Tätigkeit der Sl beschlossen werden sollte. Der Parteivorstand wurde auch beauftragt, mit der PDS Verhandlungen zu führen, um Mitgliedern der ehemaligen SEW gleiche Möglichkeiten ihrer kontinuierlichen Parteizugehörigkeit zu sichern, wie sie die PDS für ehemalige SEDMitglieder sichert. 66 2. - Politischer Extremismus - 2.1.3.5 Ausblick Der überwiegende Teil der ca. 500 Mitglieder der Sl beabsichtigt, in die PDS einzutreten, was ihnen durch die Gründung von PDSKreisverbänden in West-Berlin erleichtert worden ist. Sl-Mitglieder wollen sich auch an Neugründungen weiterer Kreisverbände der PDS im Westteil der Stadt beteiligen. Zwar wurde die PDS von zahlreichen Sl-Funktionären und Mitgliedern wiederholt als zu lasch bezeichnet, dennoch könnten diese Sl-Vertreter - wie verschiedenen Äußerungen zu entnehmen war - eine Perspektive in der Stärkung der "Kommunistischen Plattform der PDS" sehen und sich die Positionen des Sl-Kreisverbandes Kreuzberg zu eigen machen, der sich im Sommer 1990 als "Kommunistische Plattform Kreuzberg" formiert hatte. Einige wenige frühere SEW-Mitglieder haben sich Gruppen der dogmatischen Neuen Linken angeschlossen. Vereinzelt haben von der PDS enttäuschte Mitglieder, darunter auch einige Funktionäre, die Absicht geäußert, in den neuen Landesverband Berlin der "Deutschen Kommunistischen Partei" (DKP) oder in die von ehemaligen SED-Mitgliedern wiedergegründete "Kommunistische Partei Deutschlands" (KPD) einzutreten. Im Sommer 1990 hatten ehemalige SEWund Sl-Mitglieder, die in der Wandlung der SEW zur Sl eine Abkehr von der Klassenpartei sahen, eine DKP-Gruppe Berlin, den jetzigen Landesverband Berlin der DKP, gegründet. Von der Bundesorganisation der DKP dürfte zudem künftig eine verstärkte Werbung um Mitglieder ausgehen, da diese entsprechend der Westausweitung der PDS eine Ostausweitung der DKP beabsichtigt. 2. - Politischer Extremismus - 67 2.1.4 Sonderthema: Die Selbstdarstellung einer Berliner RZ in der Diskussion. Eine offensichtlich in Berlin angesiedelte "Revolutionäre Zelle" (RZ) meldete sich Ende 1989 im autonomen Szene-Blatt "INTERIM" vom 7. Dezember 1989 (Nr. 82) mit einem umfangreichen Positionspapier (Mit den revolutionären Zellen ins postfordistische Zeitalter) zu Wort. Die Gruppe gehört nach eigenen Angaben nicht zum traditionellen Teil der RZ und hat dieses Markenzeichen erst nach einem längeren Diskussionsprozeß übernommen, da es für eine Politik stehe, die ihre militanten, klandestinen Aktionen am Stand der Bewegung orientiere, dabei Theorie und Praxis verbinde und Kontinuität entwickele. Wie das Verhältnis zwischen den einzelnen Zellen aussieht, sei den Autoren des Papiers bis heute nicht ganz klar. Jede Zelle sei autonom, und nicht nur die Urzeiten besäßen Anrecht auf die Bezeichnung RZ. Dennoch entbehre die Unterscheidung der Verfassungsschutzbehörden in Ur-RZ und Resonanz-Zellen nicht jeglicher Grundlage. Kleine Zellen könnten sich der politischen Vorgaben der größeren Zellen oft nur anschließen. Deshalb sei es wünschenswert, im Interesse der Festlegung einer gemeinsamen politischen Linie der RZ die interzellulare Demokratisierung voranzutreiben. Auseinandersetzungen innerhalb der Zellen müßten offener geführt werden, damit die internen politischen Prozesse der RZ in der linken Öffentlichkeit nachvollziehbar würden und so zu einer Verbreiterung der RZ beigetragen werde. Nur so könnten die RZ der Gefahr entgehen, vollends zum Mythos zu werden. Diese Gefahr sei dann besonders groß, wenn die RZ ihre Aktionen nur noch reproduzierten, ohne auf ihre politischen Wirkungen zu achten. In diesem Zusammenhang kritisierten die Autoren die RZ-Kampagne gegen Ausländerund Flüchtlingspolitik. Die im Rahmen dieser Kampagne verübte Anschlagsserie habe über den angerichteten Sachschaden hinaus politisch nicht viel bewirkt. Die Berliner RZ konstatiert in ihrem Positionspapier eine Krise der militanten Linken und erörtert die Aussichten, die ein militanter, klandestiner Ansatz in schlechten linken Zeiten habe. 68 2. - Politischer Extremismus - Auch aus einer schwachen Position könne man Erfolge erzielen, wenn mit einer Mischung aus provokanter Aktion und theoretischer Vermittlung die Finger in ideologische Widersprüche des Gegners gelegt werden und dabei Formen gewählt werden, die weder übersehen werden können, noch uns bei denen diskreditieren, die wir erreichen wollen. Hauptangriffspunkt derartiger Aktionen sind in der Konzeption dieser RZ die Vertreter moderner Wachstumsbranchen (Stichworte: HighTech, Mikroelektronik, Gentechnologie) und Symbole der YuppieKultur, die bis weit in die Linke Einzug hielten; diese gelte es praktisch anzugreifen d.h. Sachschaden anzurichten. Zum einen werde man durch derartige Aktionen die Selbstverständlichkeit und politische Unangefochtenheit dieser Erscheinungsformen gesellschaftlichen Wandels durchbrechen, zum anderen könnten kleinere High-TechUnternehmen direkt zur Aufgabe gezwungen werden. Man wolle auf diese Weise gern dazu beitragen, das wieder im Aufwind befindliche Westberliner Investitionsklima zu schwächen. Derartige klandestine Aktionen hätten allerdings nur dort Aussicht auf Erfolg, wo - wie in den linken Hochburgen Berlin und Hamburg - diese Aktionen keine Einzelakte seien, breiter diskutiert würden, potentiell vermassbar sind und so in politischen Druck umgemünzt werden könnten, etwa mit dem Ziel, die Umstrukturierung der eigenen Stadtviertel zu verhindern und Strukturen von Gegenmacht aufzubauen. Die Aufgabe von Gruppen wie der RZ sei es dabei, mit ihren Aktionen immer ein Stück weiter zu gehen, als die Bewegungen bzw. die Linke als Ganzes vermögen, und sich dabei nicht auf die Revolution im Kiez zu beschränken. Das Positionspapier der Berliner RZ löste in der "INTERIM" eine breite Debatte aus, an der sich überwiegend militante autonome Gruppen beteiligten. Trotz partieller Übereinstimmung in der Situationsbeschreibung des RZ-Papiers (Stichworte: Krise der militanten Linken, fehlender Austausch innerhalb der Szene, Mangel an politischer Perspektive) wurde in den Stellungnahmen der Avantgardeansatz der RZ kritisiert, 2. - Politischer Extremismus - 69 die das Ziel verfolge, ein Thema durch militante Eingriffe anzuschieben. Wo die RZ allein die eigene Einsicht zum Leitfaden des politischen Handelns mache, würden ihre Aktionen voluntaristisch und liefen Gefahr, in der Avantgarde-Sackgasse zu enden (so die "Revolutionäre Vire Thomas Müntzer" in "INTERIM" Nr. 84 vom 21. Dezember 1989). Unter dem Slogan Fight the Power - Klassenkrieg 90 erörterte in der gleichen "INTERIM"-Ausgabe eine Gruppe vermutlich militanter Autonomer Kernaussagen des RZ-Papiers. Zu dem Anspruch der RZ, die Revolution im Kiez mit dem Widerstand gegen gesellschaftliche Strukturveränderungen zu verknüpfen, vertreten die Autonomen die Position, man müsse die eigene Schwäche akzeptieren und sich dort einbringen, wo wir noch Machtfaktor sind. Man hege nicht die Illusion, den Umstrukturierungsprozeß auch nur entscheidend behindern zu können; vielmehr gehe es darum, in der Sabotage gegen die Umstrukturierung eine proletarische Widerstandskultur zu entwickeln, durch Besetzung von Politikfeldern Attraktivität für die proletarischen türkisch-deutschen Jugendlichen zu entwickeln (auch, um nicht den Faschos dieses Feld zu überlassen). In den als Folge des gesellschaftlichen Strukturwandels zu erwartenden Klassenauseinandersetzungen müsse die militante Linke mit handlungsfähigen Strukturen präsent und in der Lage sein, soziale Unruhen zu verbreitern, militärisch abzusichern und in andere Stadtviertel zu verlagern. Eine Gruppe, die nach eigener Aussage seit einiger Zeit versucht, eine militante Praxis kontinuierlich zu realisieren, vermißte in dem RZ-Papier eine Auseinandersetzung mit Texten und Praxis der "Roten Zora" und kritisierte ausführlich dessen patriarchalen und chauvinistischen Hintergrund. Als Hauptproblem militanter Politik sieht diese Gruppe - und stimmt insoweit mit dem RZ-Papier überein - die Isolation der verschiedenen Kleingruppen. Eine öffentliche Auseinandersetzung über illegale Organisierung finde nicht statt, es gebe kaum Kontakt von militanten Gruppen untereinander und daraus folgend keine gemeinsame wirksame Logistik. Jede Kleingruppe müsse fast alle technischen und politischen Schwierigkeiten selbst lösen, die politische Diskussion über revolutionäre Praxis könne nur innerhalb der Gruppe selbst stattfinden. Aus diesem Grund plädiert die ihren Text mit 70 2. - Politischer Extremismus - "PudeRZucker" signierende Gruppe für eine Vernetzung der revolutionären Gruppen zur Organisationsform der Guerilla. (In Gefahr und höchster Not bringt der Mittelweg den Tod, in: "INTERIM" Nr. 85 vom 11. Januar 1990 und Nr. 87 vom 25. Januar 1990). In einer mit "RuckiZuckis" gezeichneten Stellungnahme ("INTERIM" Nr. 88 vom 1. Februar 1990) wird die Diskussion, die sich als Folge der Veröffentlichung des RZ-Papiers entwickelte, als Kunstprodukt bezeichnet, das ohne Folge bleiben werde. Das Papier sei wohl nur deshalb so ernst und wichtig genommen worden, weil es mit "RZ" unterzeichnet war. Die Autoren kritisieren den inflationären Gebrauch der bestimmten zwei Buchstaben, der eher zu politischer Verwirrung als zu politischer Gemeinsamkeit und Klarheit führe; sie werfen der Gruppe, die sich RZ nennt, vor, daß sie, bevor noch irgendwas gelaufen ist, bekannt gibt, zu welchem Thema sie aktiv sein will, in welcher Stadt sie aktiv sein will, welche Art von Aktionen sie machen will. Das sei eher kontraproduktiv. Den Verfassern des RZ-Papiers wird besonders ihre Berlinbzw. SO 36-Fixiertheit vorgeworfen. Letztlich werde in dem Papier keine militante Antipostfordismusstrategie, sondern eine militante Stadtteilstrategie für Kreuzberg 36 mit einigen außerkreuzbergerischen Außenposten entwickelt. Zur Propagierung eines solchen Ansatzes sei es allerdings nicht notwendig, sich RZ zu nennen. Es wäre klüger, sich nicht derart ins Rampenlicht der linksradikalen (...) Öffentlichkeit und des Bulleninteresses zu stellen, bevor überhaupt Aktionen gelaufen sind. 2. - Politischer Extremismus - 71 2.2. Rechtsextremismus 2.2.1 Vorbemerkung Die unter dem Sammelbegriff Rechtsextremismus zusammengefaßten Parteien, Organisationen oder Gruppierungen zeichnen sich im Gegensatz zu linksextremistischen, auf dem Marxismus (-Leninismus) oder anderen Gedankengebäuden basierenden Strömungen nicht durch ein geschlossenes theoretisches Bezugssystem aus. Gemeinsam ist ihnen eine antirationalistische, antiindividualistische, die demokratische Grundüberzeugung von der fundamentalen Gleichheit aller Menschen negierende Haltung und die daraus erwachsende Ablehnung des auf dem Prinzip gleicher politischer Rechte beruhenden demokratischen Verfassungsstaates. Im Rahmen dieser gemeinsamen Grundhaltung lassen sich schlagwortartig wesentliche Elemente rechtsextremistischer "Weltanschauung" benennen, die sich in unterschiedlicher Gewichtung und unterschiedlichen Ausprägungen bei den verschiedenen rechtsextremistischen Strömungen feststellen lassen. Dazu zählen: ein übersteigerter, oft aggressiver Nationalismus, verbunden mit Feindschaft gegen Ausländer, Minderheiten, fremde Völker und Staaten, Antisemitismus und Rassismus, verbunden mit der Propagierung biologistischer und sozialdarwinistischer Ideen, völkischer Kollektivismus, d.h. Überbewertung der aufgrund ethnischer Zugehörigkeit definierten "Volksgemeinschaft" zu Lasten der Rechte und Interessen des Einzelnen, Überbetonung militärischer bzw. soldatischer Werte und hierarchischer Prinzipien ("Führer" und "Gefolgschaft"), verbunden mit der Propagierung einer entsprechenden autoritären bzw. diktatorischen staatlichen und sozialen Ordnung 72 2. - Politischer Extremismus - sowie der Überbetonung der Notwendigkeit eines nach innen und außen starken Staates (Etatismus). Gemeinsam ist den rechtsextremistischen Gruppierungen schließlich die Verharmlosung oder Leugnung der Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, die gerade in den letzten Jahren unter dem Stichwort "Revisionismus" zunehmend an Bedeutung gewonnen haben. Unter den verschiedenen rechtsextremistischen Strömungen lassen sich in grober Zweiteilung einerseits neonazistische Organisationen, die sich offen zum historischen Vorbild des Nationalsozialismus bzw. zu dessen von den Gebrüdern STRASSER und Ernst RÖHM repräsentierten Sozialrevolutionären Flügel bekennen, andererseits die sich selbst als "nationalfreiheitlich" bzw. "nationaldemokratisch" bezeichnenden Organisationen der "alten Rechten" unterscheiden, die sich stärker an völkisch-kollektivistischen, etatistischen, nicht unbedingt nationalsozialistischen Vorstellungen orientieren. Eine Besonderheit der Entwicklung des Rechtsextremismus in Berlin resultierte aus dem besonderen Status der Stadt und der Stellung der Alliierten Siegermächte. Anders als im Bundesgebiet galten in Berlin diejenigen alliierten Gesetze und Verordnungen, die nach 1945 erlassen worden waren, um ein Wiederaufleben des Nationalsozialismus zu verhindern, bis zum Jahr 1990 fort und bildeten die Grundlage für eine Reihe von Verfahren gegen rechtsextremistische, vor allem neonazistische Organisationen und Einzeltäter. So wurden 1979 24 Anhänger einer "NSDAP-Ortsgruppe Berlin", die durch zahlreiche Aktionen im Stadtgebiet von sich reden gemacht hatte, u.a. wegen Neubildung der NSDAP zu - teilweise mehrjährigen - Freiheitsstrafen und zu Geldstrafen verurteilt. Auch der Versuch, die 1983 verbotene "Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten" (ANS/NA) des prominenten Neonazis Michael KÜHNEN in Form von Leserkreisen informell weiterzuführen, endete 1986 mit der Verurteilung dreier Aktivisten zu Freiheitsstrafen zwischen 6 und 18 Monaten auf der Grundlage alliierter Bestimmungen, so daß in der 2. - Politischer Extremismus - 73 Folgezeit die Anhänger der neonazistischen "Bewegung" es unterließen, die vielfältigen Organisationsbildungen ihrer westdeutschen Gesinnungsgenossen nachzuvollziehen, die sich nach der Spaltung der "Bewegung" infolge Auseinandersetzungen um die bis dahin unumstrittene Führerfigur KÜHNEN ("HomosexuellenDebatte") ergaben. Wohl auch aufgrund der besonderen Situation der Stadt zeichnete sich die Berliner Neonazi-Szene trotz der Existenz unterschiedlicher Gruppierungen durch ein größeres Maß an Einheitlichkeit als im Bundesgebiet aus, die sich in vielfältigen Kontakten und regelmäßiger Zusammenarbeit unterschiedlicher Gruppen ausdrückte. Das nach dem Fall der Mauer festzustellende Hinzutreten von Organisationen, die vor allem durch Neonazis aus dem Ostteil Berlins geprägt werden, wie der "Nationalen Alternative" (NA), könnte geeignet sein, die bisherige Geschlossenheit der Berliner Neonazi-Szene aufzubrechen. Die im Oktober 1990 erfolgte Gründung eines Berliner Landesverbandes der "Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei" (FAP), die sich in erklärter Gegnerschaft zu der um KÜHNEN gescharten "Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front" (GdNF) befindet, ist ein erstes Indiz dieser möglichen Entwicklung. 74 2. - Politischer Extremismus - 2.2.2 Neuer Nationalsozialismus (Neonazismus) 2.2.2.1 "Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front" (GdNF), früher "Die Bewegung" Unter der Bezeichnung "Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front" sammelte sich nach der Spaltung der neonazistischen "Bewegung" (vgl. 2.2.1) die Anhängerschaft Michael KÜHNENs. In Berlin bestand bis 1988 eine Gruppe, die der westdeutschen "Bewegung" zwar zuzurechnen war, eine eindeutige Stellungnahme in der Auseinandersetzung um KÜHNEN aber vermied. Erst Ende 1988 spaltete sich ein Teil der "Bewegung" in Berlin (West) ab und schlug sich auf die Seite KÜHNENs. Führer dieser Gruppe war der Neonazi Oliver SCHWEIGERT. Er nannte seine Gruppe fortan "Kameradschaft Berlin der Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front". SCHWEIGERT und seine Gefolgsleute schlössen sich Mitte 1989 dann der neonazistischen "Deutschen Alternative" (DA) an, dem parteipolitischen Arm der "Gesinnungsgemeinschaft". Die GdNF zählte 1990 im früheren Bundesgebiet etwa 200 Gefolgsleute, in Berlin etwa 15 Anhänger. Einige "Kameraden", die die Orientierung an KÜHNEN nicht weiter mitmachen wollten, hatten 1989 den "Völkischen Freundeskreis" (VFK) gebildet. Die GdNF sieht sich in der Tradition der SA Ernst RÖHMs und strebt die Überwindung des NS-Verbotes an. In einer Vielzahl von Veröffentlichungen, in denen sie einen nationalen, völkischen und nichtmarxistischen Sozialismus propagiert, bekennt sie sich eindeutig zum Nationalsozialismus als historischem Vorbild und zu Adolf HITLER als Heilsgestalt der arischen Rasse und deutschem Nationalhelden. Für die KÜHNEN-Anhänger war das öffentliche Auftreten ihres "Chefs" am 17. März 1990 in Berlin-Steglitz der Höhepunkt des Jahres. Etwa 120 Personen waren einer Einladung KÜHNENs zu einer zentralen Saalkundgebung der deutsch-alternativen Opposition zum Thema Unser Weg zur deutschen Einheit gefolgt. Unter den Teilnehmern 2. - Politischer Extremismus - 75 befanden sich neben Berliner Neonazis Gesinnungsgenossen aus Westdeutschland, aus der damaligen DDR und aus Österreich. Nach der Saalveranstaltung demonstrierten noch etwa 100 Neonazis auf dem Hermann-Ehlers-Platz in Steglitz und skandierten neonazistische Parolen. Einzelne entboten den "Hitler-Gruß". Ziel dieser Aktion war es, Präsenz der Neonazi-Szene im deutschen Einigungsprozeß in der "Reichshauptstadt" zu demonstrieren und den Einfluß der KÜHNENAnhänger auf die Gesinnungsgenossen in Berlin (Ost) und in der DDR frühzeitig zu sichern. Diesem Zwecke diente auch die am 16. März 1990 im Westteil Berlins durch ostdeutsche Neonazis unter der Regie KÜHNENs vorgenommene Gründung einer "mitteldeutschen" DA. Bereits Ende 1989 waren in der damaligen DDR einzelne Ortsgruppen der DA von KÜHNEN-Anhängern ins Leben gerufen worden, so in Cottbus und Dresden. Oliver SCHWEIGERT wurde zum "Bereichsleiter Ost" der DA bestellt. In der Folge trat die "mitteldeutsche" DA mit der "Freien Gewerkschaftsbewegung" (FGB) am 1. Mai 1990 in Neukirchen bei Eisenach zum "Tag der Deutschen Arbeit" auf. Am 7. Juli 1990 wurde der erste "mitteldeutsche DA-Parteitag" in Kiekebusch bei Cottbus mit 200 Teilnehmern durchgeführt. Nach dem Muster des KÜHNENAufmarschs in BerlinSteglitz am 17. März 1990 verliefen gleiche Aktionen der DA am 20. Oktober in Dresden und am 1. Dezember 1990 in Cottbus. Die genannten Aktivitäten fanden regelmäßig die besondere Aufmerksamkeit der Medien. In Ost-Berlin überließ die DA der am 1. Februar 1990 gegründeten "Nationalen Alternative" (NA) (vgl. 2.2.2.5 und vor allem 2.2.6) das Feld. 76 2. - Politischer Extremismus 2.2.2.2 "Freiheitspartei" Der nach der Trennung SCHWEIGERTs und seiner Anhänger von der "Bewegung" verbliebene Teil scharte sich um den militanten Neonazi Lutz SCHILLOK. Sie riefen die "Freiheitspartei" ins Leben, die ihnen die Teilnahme an den Berliner Wahlen am 29. Januar 1989 ermöglichen sollte. Tatsächlich nahm die "Freiheitspartei" nur an den Wahlen für die Bezirksverordnetenversammlung Wedding teil und erzielte dabei 208 Stimmen (0,3 %). Auf der Liste der "Freiheitspartei" kandidierten neben deren führenden Aktivisten Reinhard GOLIBERSUCH und Lutz SCHILLOK auch der Berliner Führer der "Nationalistischen Front" (NF), Andreas POHL, und der militante Neonazi Arnulf-Winfried PRIEM. Auch dies war ein Indiz für den engen Zusammenhalt der Berliner NeonaziSzene über die Organisationsgrenzen hinweg. Im Jahr 1990 beteiligte sich die "Freiheitspartei" nicht an den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus. Abgesehen von der genannten Wahlbeteiligung 1989 traten die Anhänger der "Freiheitspartei" bislang nur gelegentlich mit Flugblattaktionen in der Öffentlichkeit in Erscheinung. 1990 beteiligte sie sich am 18. November 1990 an einem "Heldengedenktag" auf dem Soldatenfriedhof in Halbe (Kr. Märkisch Buchholz, Brandenburg), in dessen Rahmen Lutz SCHILLOK einen Kranz der "Freiheitspartei" niederlegte. 2.2.2.3 "Nationalistische Front" (NF) Die 1985 in Bielefeld gegründete nationalrevolutionäre "Nationalistische Front" (NF) trat bisher überwiegend in Nordrhein-Westfalen, Bremen und Berlin (West) in Erscheinung. Die NF versteht sich als Partei im Sinne des Parteiengesetzes, doch gelang ihr die angestrebte Teilnahme an der Europawahl 1989 nicht, da sie die Zahl der erforderlichen Unterschriften nicht beibrachte. Der Parteivorstand unter dem Generalsekretär Meinolf SCHÖNBORN residiert in Bielefeld. Dort und seit Mitte 1989 in Pivitsheide bei Detmold (Nordrhein-Westfalen) unterhält die Partei sogenannte Zentralen, vor 2. - Politischer Extremismus - 77 denen es wiederholt zu Gegenkundgebungen und Ausschreitungen kam. Die NF knüpft an die Programmatik der NSDAP an, bezieht sich vor allem aber auf die Ideen der Gebrüder Gregor und Dr. Otto STRASSER. Auch wenn sich Michael KÜHNEN und andere Neonazis auf die Gebrüder STRASSER berufen, so ist die NF doch diejenige neonazistische Organisation, die die Vorstellungen der nationalrevolutionären bzw. sog. linksnationalsozialistischen Gebrüder STRASSER regelrecht zum Programm erhoben hat. Die NF unterstützt verbal Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und Regime, die sie für gleichsam nationalrevolutionär hält. Die NF ist kadermäßig organisiert und hat einen Aktivistenkern von bundesweit etwa 80 Personen. Sie hatte im alten Bundesgebiet engere Verbindungen zur Skinhead-Szene als andere Neonazi-Gruppen. Die NF gibt die Publikationen "Nachrichten aus der Szene" und "Aufbruch" heraus. Die Berliner "Ortsgruppe" der NF bestand anfänglich als loser Zusammenschluß, bis sich im September 1987 die jetzige organisatorische Form ergab. Im September 1990 hat sich von der Berliner NF-Ortsgruppe ein "Stützpunkt" Berlin-Süd abgespalten. Daneben gibt es Ansätze zur Bildung von weiteren "Stützpunkten" in Berlin und Umgebung. Auffällig ist die hohe Fluktuation innerhalb der Berliner NF, die derzeit in Berlin um 15-20 Gefolgsleute zählt und von Andreas POHL geführt wird, der zugleich stellvertretender Bundesvorsitzender der NF ist. Die Berliner NF ging wie in den Vorjahren auch 1990 mit der Verteilung von Flugblättern, Broschüren und Zeitschriften an die Öffentlichkeit und trat durch zahlreiche Klebeaktionen und Schmierereien im Stadtbild in Erscheinung. Bei Flugblattverteilaktionen arbeitete die Berliner NF-Ortsgruppe gelegentlich auch mit anderen neonazistischen Gruppen zusammen. So bildete sie im Herbst 1986 mit Anhängern der neonazistischen "Bewegung" (vgl.2.2.2.1) das Aktionsbündnis "Deutsche 78 2. - Politischer Extremismus - Jugendinitiative Berlin " (DJI), das vor allem 1987 durch zahlreiche Flugblattverteilaktionen vor Berliner Schulen, in Fußgängerzonen und Einkaufszentren von sich reden machte. Im übrigen hielt die Ortsgruppe Berlin der NF auch 1990 interne Schulungsabende in einem sog. NF-Zentrum im Bezirk Charlottenburg unter der Leitung ihres Anführers Andreas POHL ab, an denen bis zu 20 Mitglieder und Interessenten teilnahmen und in deren Rahmen u.a. Themen wie Arterhaltung und Rasse; Rasse, Blut und Boden; Otto Strasser und der deutsche Sozialismus behandelt wurden. Führende NF-Funktionäre organisierten darüber hinaus in der Nähe Berlins mehrere Informationsveranstaltungen in Gaststätten, um mit Hilfe derartiger Treffen Anhänger für die politische Arbeit der NF aus der ehemaligen DDR zu gewinnen. 2.2.2.4 "Asgard-Bund e.V."/"Wotans Volk" Der 1980 von dem militanten Neonazi Arnulf-Winfried PRIEM ins Leben gerufene "Asgard-Bund e.V." versteht sich als "Gemeinschaft heidnisch-germanischer Weltanschauung". Seit 1979 gibt er den "Nordisch-Germanischen-Jahrweiser" heraus, der vornehmlich Abbildungen aus germanisierender Literatur der NS-Zeit und deutschtümelnde Sentenzen faksimiliert. Die Aktivitäten des "AsgardBundes", der formell etwa 20 Mitglieder umfaßt, beschränken sich inzwischen auf die Herausgabe des "Jahrweisers". Im Gegensatz dazu entfaltet die erstmals 1987 als "Jugendgruppe des Asgard-Bundes" hervorgetretene Gruppe "Wotans Volk" ebenfalls mit PRIEM als Führer seit Öffnung der Mauer vielfältige Aktivitäten in OstBerlin und im Berliner Umland. So nahm sie frühzeitig Kontakt zu ostdeutschen Gesinnungsgenossen auf und unternahm wie auch andere neonazistische Kleingruppen Exkursionen in die Berliner Umgebung, um wehrsportähnliche Übungen abzuhalten und Schlachtfelder des Zweiten Weltkrieges nach Waffen und Militaria abzusuchen. 1990 war deutlicher eine engere Zusammenarbeit PRIEMs und seiner Kameraden mit KÜHNEN und seiner Berliner Gefolgschaft festzustellen. 2. - Politischer Extremismus - 79 2.2.2.5 "Wiking-Jugend volkstreue nordländische Jugendbewegung Deutschland e.V." (WJ) Die "Wiking-Jugend e.V." (WJ) wurde 1952 als volkstreue nordländische Jugendbewegung gegründet und versteht sich als Lebensgemeinschaft auf völkischer Grundlage. Sie kultiviert eine verschrobene nordisch-germanische Ideologie und sieht sich in der Tradition der "Hitlerjugend" (HJ). Die WJ verfügte auf dem Gebiet der früheren Bundesrepublik einschließlich eines "Mädel-Bundes" zuletzt über etwa 400 Mitglieder, die in Gauen und Horsten organisiert sind. Spätestens seit Beginn der 80er Jahre ist die Hinwendung der WJBundesführung unter dem seit 1961 amtierenden Wolfgang NAHRATH zum Neonazismus unverkennbar, die 1984 zu einer Zusammenarbeit mit der FAP führte. Nachdem sich 1987 bei der Neuwahl der Bundesführung NAHRATH gegen Kritiker der Zusammenarbeit der WJ mit Neonazis durchgesetzt hatte, kam es zu Abspaltungen des "Arbeitskreises Junge Familie" und seiner Jugendorganisation "Sturmvogel - Deutscher Jugendbund". Beide Gruppierungen waren 1990 in Berlin nicht mehr aktiv. Der Gau Berlin der WJ trat erstmals 1975 öffentlich in Erscheinung. Im Oktober 1976 übernahm ein Gründungsmitglied der NSDAP - Ortsgruppe Berlin (vgl. 2.2.1) die Leitung der Berliner WJ. Seit 1978 fiel die Berliner WJ durch zum Teil spektakuläre Aktionen auf, die zur Verurteilung einiger WJ-Angehöriger wegen gefährlicher Körperverletzung und anderer Straftaten führten. Diese Entwicklung hatte zur Folge, daß der WJ-Bundesführer im Frühjahr 1980 den Gau Berlin vorübergehend auflöste, weil er besorgt war, daß das militante Auftreten einzelner WJ-Mitglieder die Gefahr eines Vereinsverbots heraufbeschwor. Die WJ führte in Berlin (West) in den zurückliegenden Jahren interne Zusammenkünfte und Flugblattverteilaktionen zur Mitgliederwerbung durch, ohne in der Öffentlichkeit besonders aufzufallen. Die Berliner WJ-Formation trat 1990 nur mit wenigen, gemeinsam mit der "Deutschen Kulturgemeinschaft" (DKG) Berlin organisierten Veranstaltungen wie einer BISMARCK-Gedenkfeier in der damaligen 80 2. - Politischer Extremismus - DDR und einem "Heldengedenktag" im Land Brandenburg (vgl. 2.2.4.1) in Erscheinung. Die WJ beabsichtigt, in der Zukunft verstärkt in den Ländern der ehemaligen DDR aktiv zu werden. Durch Fahrten und Veranstaltungen, insbesondere in der Nähe der sogenannten Oder-Neiße-Grenze, sollen die bisherigen, regelmäßig von der WJ in der Neujahrsnacht durchgeführten Demonstrationen an der innerdeutschen Grenze ersetzt werden, um dadurch auf ihr politisches Ziel, Deutschland in seinen früheren Grenzen wiederherzustellen, aufmerksam zu machen. Entsprechend lautet die WJ-Jahreslosung für 1991: Das Reich - Erbe * Verantwortung * Zukunft. 2.2.2.6 "Nationale Alternative" (NA) Die "Nationale Alternative" (NA) wurde am 1. Februar 1990 in Berlin (Ost) von Angehörigen der Ost-Berliner Neonaziund Skinhead-Szene mit Unterstützung westdeutscher KÜHNEN-Anhänger ins Leben gerufen. Die auch mit Hilfe West-Berliner Neonazis eingerichtete Parteizentrale der NA in der Weitlingstraße 122 im Bezirk Lichtenberg zog 1990 das Interesse inund ausländischer Medien auf sich und war wiederholt Angriffsobjekt der Berliner Autonomen-Szene. In Absprache mit Michael KÜHNEN, dessen "Deutsche Alternative" (DA) auf eine Ost-Berliner Gliederung verzichtete und nur in der ehemaligen DDR Fuß zu fassen suchte, bemühte sich die NA erfolglos um eine Kandidatur bei den Wahlen zur Volkskammer der DDR am 18. März und bei den DDR-Kommunalwahlen am 6. Mai 1990 und trat gelegentlich mit Flugblattaktionen und Aufzügen in Erscheinung. Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus am 2. Dezember 1990 trat die NA mit einem Einzelbewerber im Wahlkreis Lichtenberg 4 zur Wahl an und erhielt 30 der abgegebenen gültigen Stimmen (0,2 %). Nach eigenen Angaben zählte die NA 1990 um 30 Mitglieder. (Eine ausführliche Darstellung der NA findet sich als Sonderthema unter 2.2.6). . 2. - Politischer Extremismus - 81 2.2.2.7 "Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei" (FAP) Die zunächst unbedeutende "Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei" (FAP) diente den Mitgliedern der 1983 verbotenen neonazistischen "Aktionsfront Nationaler Sozialisten/Nationale Aktivisten" (ANS/NA) als Mantel, unter dessen Schutz sie ihre Aktivitäten fortsetzen konnten. Die Übernahme der FAP durch Anhänger der "Bewegung" transportierte auch den internen Streit zwischen Anhängern von KÜHNEN einerseits und seinem Rivalen MOSLER andererseits in die FAP. Die innerparteilichen Streitigkeiten führten im Ergebnis zu einer fortgesetzten Schwächung der FAP sowohl im Mitgliederbestand als auch in der Organisationsstruktur bis hin zu partiellen Auflösungserscheinungen. Die MOSLER-Anhänger wurden 1990 von den kompromißlosen KÜHNEN-Gegnern um den FAP-Vorsitzenden Friedhelm BUSSE aus der Partei gedrängt und organisierten sich z.T. in der Mitte 1990 gegründeten Partei "Nationale Offensive" (NO) (vgl. 2.2.2.8). In Berlin existierte zunächst keine formelle Untergliederung der FAP. Die Berliner Anhänger der "Bewegung" unterließen es aus Furcht vor Exekutivmaßnahmen auf der Grundlage alliierter Bestimmungen, die Organisationsbildungen der "Bewegung" nachzuvollziehen. Ein am 31. Januar 1987 in der Gaststätte "Jägerhäuschen" im Bezirk Spandau abgehaltenes Treffen von über 100 FAP-Anhängern aus Berlin und dem übrigen Bundesgebiet, das möglicherweise der Bildung eines FAP-Landesverbandes hätte dienen sollen, wurde durch Einschreiten der Polizei aufgelöst und führte zu einem Ermittlungsverfahren wegen des Verstoßes gegen alliierte Vorschriften. Erst im Gefolge der Vereinigung Deutschlands bildete sich 1990 ein Berliner Landesverband der FAP. Schon im Vorfeld der Einigung hatten Neonazis aus unterschiedlichen Lagern versucht, Kontakte mit Gesinnungsgenossen in Ost-Berlin und in der ehemaligen DDR aufzunehmen, um gemeinsame politische Vorstellungen und Aktivitäten zu entwickeln und gegebenenfalls neue gesamtdeutsche Organisationseinheiten zu bilden. Im Gegensatz zu den KÜHNENAnhängern vermochte die FAP dabei allerdings erst vergleichsweise spät Tritt zu fassen. 82 2. - Politischer Extremismus - Am 20. Oktober 1990 trafen sich rund 80 FAP-Anhänger in Wildau (Kr. Königs Wusterhausen, Brandenburg), um unter Leitung des FAPBundesvorsitzenden BUSSE einen Landesverband Berlin der FAP zu gründen. Neben Teilnehmern aus Ost-Berlin waren insbesondere solche aus Leipzig und Dresden anwesend; z.T. wurden uniformähnliche Bekleidungsstücke (Braunhemden, schwarze Hosen, Schulterriemen mit Koppel u.a.) getragen. Soweit bekannt, hat der Berliner Landesverband der FAP bislang nur mehrere formlose Treffen durchgeführt, an denen zeitweilig etwa 30 überwiegend jüngere Personen teilnahmen. Während die FAP bundesweit einen anhaltenden Abwärtstrend zu bewältigen hat, gelang ihr mit der Gründung eines Berliner Landesverbandes offensichtlich ein Schritt nach vorn. Da sich die Mitglieder des neuen Landesverbandes aber überwiegend aus der ehemaligen DDR rekrutieren, ist nicht auszuschließen, daß der neugegründete Landesverband Berlin der FAP dann wieder an Bedeutung verliert, wenn es zur Bildung von FAP-Landesverbänden in den Ländern der ehemaligen DDR gekommen sein wird. 2.2.2.8 "Nationale Offensive" (NO) Die "Nationale Offensive" (NO) wurde am 3. Juli 1990 in Augsburg gegründet. Die neue Gruppierung versteht sich als Auffangbecken für enttäuschte Gefolgsleute der "Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei"(FAP), vor allem für MOSLER-Anhänger, aber auch für Angehörige des übrigen rechtsextremistischen Spektrums. Ende 1990 übernahm auf dem NO-Bundesparteitag in Weimar der ehemals führende FAP-Aktivist Michaei SWIERCZEK den Bundesvorsitz. In Berlin fanden sich 1990 nur wenige Interessenten für die neue Partei. Aus der ehemaligen DDR sind allerdings Bemühungen bekannt geworden, auch für Berlin einen Landesverband zu begründen. 2. - Politischer Extremismus - 83 2.2.2.9 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) Ziel der seit 1970 bestehenden HNG, bei deren Gründung linke Vorbilder Pate gestanden haben, ist die finanzielle und ideelle Unterstützung sog. nationaler Gefangener, d.h. inhaftierter Neonationalsozialisten. Die Organisation, die weitgehend von KÜHNEN-Anhängern beeinflußt ist, hat in Berlin (West) keine Gliederung. Sie verfügt hier nur über Einzelmitglieder. Die HNG gibt die monatlich erscheinenden "Nachrichten der HNG" heraus, in denen in der Vergangenheit auch seinerzeit inhaftierte Berliner Neonazis wie Reinhard GOLIBERSUCH und Ekkehard WEIL erwähnt wurden. Auch der bei der Durchsuchung der Weitlingstraße 122 durch die Volkspolizei am 27. April 1990 festgenommenen NAFunktionäre wurde in den "Nachrichten der HNG" gedacht. Flugblätter der HNG wurden in Berlin gelegentlich von Angehörigen der "Kameradschaft Berlin der Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front" an Passanten verteilt. 2.2.2.10 Rechtsextremistisches/Neonazistisches Potential der Skinheads Die militante Skinhead-Szene bildet ein besonderes, an Aktualität zunehmendes sicherheitspolitisches Problem in der Bundesrepublik Deutschland, besonders in den neuen Bundesländern und in den östlichen Bezirken Berlins. Bei den Skinheads handelt es sich um eine seit Anfang der 80er Jahre auch in Ost-Berlin und der DDR aufgetretene Erscheinungsform jugendlicher Subkultur, die ihre Wurzeln in den Arbeiterwohnbezirken britischer Industriestädte der 60er Jahre hat. Äußerliches Kennzeichen der Skinheads sind kahloder kurzgeschorene Köpfe, sog. Bomberjacken und Springer-Stiefel. Ihre Einstellungen und Verhaltensmuster werden geprägt durch eine latente Gewaitbereitschaft, insbesondere gegen Ausländer, Asylanten, "Linke", Homosexuelle und gegen sonstiges in ihrer Vorstellungswelt Andersartige. Mit diesen Feindbildern erweisen sich Skinheads als 84 2. - Politischer Extremismus - anfällig für rechtsextremistische, insbesondere neonazistische Beeinflussung. Bundesweit war nach Erkenntnissen des BfV 1990 ein hoher Anteil von Skinheads an Gewalttaten mit rechtsextremistischem Bezug auffällig. Betrug der Anteil der Brandanschläge und Körperverletzungen an der Gesamtzahl der Gesetzesverietzungen mit rechtsextremistischem Bezug insgesamt nur 4,57 %, so machten diese Delikte bei den von Skinheads begangenen Taten 29,84 % aus. Über 57 % aller Brandanschläge und Körperverletzungen mit rechtsextremistischem Bezug wurden 1990 von Skinheads begangen. Nach den bisher vorliegenden Zahlen des BfV, die keine Angaben über die neuen Bundesländer enthalten, sind etwa 250 der 2.500 bis 3.000 Skinheads in Westdeutschland der organisierten Neonazi-Szene zuzurechnen. Die meisten davon gehören der Altersstufe zwischen 18 und 30 Jahren an. Unter den bekannten Berliner Neonazis (ohne die östlichen Bezirke) stammen etwa 45 aus der Skinhead-Szene. Wegen des sehr unvollständigen Informationsstandes sind derzeit exakte Angaben über das Gewaltpotential neonationalsozialistischer Skinheads in den östlichen Bundesländern nicht möglich. Festzustellen ist jedoch, daß die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten von Skinhead-Gruppen beachtlich zugenommen hat. Polizei, Presse und Fernsehen dokumentieren immer wieder, daß Skinheads in Ostdeutschland ihre Gesinnungsgenossen in Westdeutschland an Anzahl, Radikalität und Brutalität deutlich übertreffen. Bei Krawallen legen ostdeutsche Skinheads weit stärkere neonazistische Verhaltensmuster an den Tag und identifizieren sich damit viel deutlicher als ihre westdeutschen Gesinnungsgenossen. Besondere Schwerpunkte neonazistischer Skinhead-Aktivitäten bilden Sachsen und Brandenburg. Dabei stehen rechtsextremistische Merkmale, wie aggressiver Nationalismus und rassistisch motivierte Fremdenfeindlichkeit, im Vordergrund. Aber auch in Berlin, insbesondere in den östlichen Bezirken der Stadt, war 1990 eine steigende Tendenz rechtsextremistisch motivierter Skinhead-Aktivitäten zu verzeichnen. 2. - Politischer Extremismus - 85 Die bundesweite Skinhead-Bewegung . war bislang kein Beobachtungsobjekt der Verfassungsschutzbehörden, da die Verwendung von NS-Symbolen alleine noch nicht als Ausdruck rechtsextremistischer Überzeugung und Anhaltspunkt verfassungsfeindlicher Bestrebungen angesehen wurde. Vielmehr wurde das vor allem auf die Provokation zielende, im Grunde unpolitische Element derartiger Verhaltensweisen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die häufig eher Ausdruck persönlicher und sozialer Probleme als politischer Überzeugungen sind, im Vordergrund gesehen. Skinheads wurden nur insoweit beobachtet, als sie im Rahmen organisierter rechtsextremistischer, v.a. neonazistischer Bestrebungen auftraten; die restliche Skinheadszene fiel - soweit aus diesem Bereich Straftaten begangen wurden - in die Zuständigkeit der Polizei. Aus diesem Grunde liegen den Verfassungsschutzbehörden bisher keine gesicherten Erkenntnisse über Strukturen und Potential der Skinhead-Szene vor. Es wird allerdings bei dem sich gegenwärtig abzeichnenden weiteren Anstieg rechtsextremistisch motivierter Gewalttätigkeiten durch Skinheads zu prüfen sein, ob eine Beobachtung derjenigen Skinheadgruppen, bei denen Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß sie aus rechtsextremistischen, vor allem aggressiv nationalistischen und rassistischen Motiven Gewalttätigkeiten begehen, notwendig ist. 86 2. - Politischer Extremismus - 2.2.3 "Nationalfreiheitliche"/"Nationaldemokraten" 2.2.3.1 "Nationalfreiheitliche" (DVU e.V./DVU-Liste D) Die 1971 von dem Münchner Verleger Dr. Gerhard FREY als Auffangbecken für enttäuschte NPD-Anhänger ins Leben gerufene DVU versteht sich als überparteiliche Sammelbewegung der verfassungstreuen Rechten. Integraler Bestandteil der DVU sind verschiedene "Aktionsgemeinschaften" - u.a. "Aktion Deutsche Einheit" (AKON), die seit dem 3. Oktober 1990 wieder ihren alten Namen "Aktion Oder Neiße" führt, "Ehrenbund Rudel -Gemeinschaft zum Schutz der Frontsoldaten", "Initiative für Ausländerbegrenzung", "Volksbewegung für Generalamnestie" (für NS-Verbrechen) - , deren Mitglieder kraft Satzung gleichzeitig Mitglieder der DVU sind. FREY gelang es auf diese Weise, die DVU zur mitgliederstärksten rechtsextremistischen Organisation der Bundesrepublik zu machen (Höchststand 1987 mit über 12.500 Mitgliedern, 1990 noch etwa 11.500 Mitglieder; FREY gibt jeweils höhere Zahlen an), ohne daß diese allerdings merkliche Aktivitäten in der Öffentlichkeit entfaltete. Von den Mitgliedern der DVU wird außer der Zahlung monatlicher Beiträge, dem Abonnement FREY'scher Zeitungen und eventuell dem Besuch der jährlichen Großveranstaltung FREYs in Passau keine weitere Aktivität erwartet. Die DVU ist im wesentlichen ein Verein zur finanziellen und ideellen Unterstützung der Interessen ihres Mentors. Die politischen Ziele der DVU lassen sich denn auch in erster Linie in den FREY'schen Wochenblättern ablesen - das Programm ist bewußt allgemein formuliert, um die demokratische Fassade der "Nationalfreiheitlichen" (so die Selbstbezeichnung der in den FREY'schen Organisationen zusammengeschlossenen Rechtsextremisten) bewahren zu können. Die FREY'schen Blätter - "Deutsche Nationalzeitung" (aktuelle Auflage 70.000), "Deutsche Wochenzeitung" (20.000) sowie der mit dieser nahezu identische "Deutsche Anzeiger", der sein Erscheinen mit Ablauf des Jahres 1990 einstellte (Auflage zuletzt 18.000) - sind geprägt durch eine aggressive Fremdenfeindlichkeit, einen - in jüngster Zeit nicht nur latenten - Antisemitismus, die Verharmlosung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und Leugnung der deutschen Schuld am Ausbruch 2. - Politischer Extremismus - 87 des Zweiten Weltkrieges sowie durch systematische Verunglimpfung der demokratischen Institutionen der Bundesrepublik und ihrer Repräsentanten. Im März 1987 gründete FREY unter maßgeblicher Beteiligung von Mitgliedern und Funktionären der NPD die "Deutsche Volksunion - Liste D" als "Neue Rechtspartei"; die DVU e.V. blieb daneben als "überparteiliche Organisation" bestehen, doch wurden ihre Mitglieder durch eine Satzungsänderung 1988 in die neue Partei übernommen, die dadurch und auch durch einen beachtlichen Zulauf von Neumitgliedern innerhalb von zwei Jahren auf 25.000 Mitglieder wuchs. Die in der NPD nicht unumstrittene Unterstützung der Parteigründung durch die NPD markierte 1987 das Ende einer langjährigen, z.T. heftig geführten Dauerfehde zwischen den beiden größten Organisationen des "Nationalen Lagers", die sich im gleichen Jahr zu einer "Allianz der Nationalen" zusammenschlössen, um eigene Schwächen zu überwinden und von den Stärken des jeweiligen Partners - die NPD von den publizistischen Möglichkeiten und der Finanzkraft FREYs, die DVU von dem eingespielten Parteiapparat der NPD - zu profitieren. Eine bis zur Bundestagswahl 1990 befristete Wahlabsprache sah vor, daß bei Wahlen in diesem Zeitraum nur jeweils eine der beiden Parteien kandidieren und von der anderen in ihrem Wahlkampf unterstützt werden sollte. Die jeweils nicht antretende Partei sollte dafür mit Kandidaten auf der Liste der anderen Partei vertreten sein. So verzichtete die NPD zugunsten der DVU auf eine Teilnahme an der Europawahl im Juli 1989, die DVU zugunsten der NPD auf eine Kandidatur bei der Bundestagswahl 1990. Bis zur Europawahl ging das hinter der Wahlabsprache stehende Kalkül auch weitgehend auf, und das Wahlbündnis errang bemerkenswerte Achtungserfolge. So gelang es der DVU bei den Wahlen zur Bremer Bürgerschaft im September 1987 nach einem sehr aufwendigen Wahlkampf als erster rechtsextremistischer Partei seit Ende der 60er Jahre, ein Landtagsmandat zu gewinnen sowie zwei Mandate in der Bremerhavener Stadtverordnetenversammlung zu erhalten. Die von der DVU unterstützte NPD wiederum errang bei den 88 2. - Politischer Extremismus - hessischen Kommunalwahlen im März 1989 insgesamt 29 Mandate, davon allein 7 in Frankfurt am Main. Die empfindliche Niederlage der DVU bei den Wahlen zum Europaparlament im Juni 1989, bei denen trotz eines beispiellosen, nach Angaben FREYs mit 18 Millionen DM finanzierten Wahlkampfes, nur ein Stimmenanteil von 1,6 % erreicht wurde, bedeutete für FREY und damit für die DVU eine deutliche Zäsur in ihrem Verhältnis zur NPD. FREY, mit einem finanziellen Verlust in Höhe von etwa 12 Millionen DM an seiner empfindlichsten Stelle getroffen, zog sich in der Folgezeit immer mehr aus dem Wahlbündnis zurück. Zwar trat die DVU nicht als direkte Konkurrenz zur NPD auf, doch die zugesagte Unterstützung blieb entweder aus oder reduzierte sich - wie im Fall des Bundestagswahlkampfes 1990 - auf einen halbherzigen Aufruf zugunsten der NPD in den FREY'schen Wochenblättern. Maßgeblich dafür dürfte neben den finanziellen Verlusten FREYs die nüchterne Erkenntnis gewesen sein, daß für das Wahlbündnis aufgrund der Konkurrenz der das gleiche Wählerpotential ansprechenden Partei "Die Republikaner" (REP) ein dauerhafter politischer Erfolg nicht zu erwarten ist. Zudem sei durch die innerdeutsche Entwicklung das Thema Wiedervereinigung - in ihren Augen bisher eine Domäne von NPD und DVU - von den "etablierten" Parteien besetzt worden. Das schlechte Abschneiden der NPD bei den Bundestagswahlen am 2. Dezember 1990 (0,3 %) rechtfertigte nachträglich FREYs Pessimismus. Das Wahlbündnis zwischen DVU und NPD ist mit der Bundestagswahl auch formal beendet. Beide Parteien gehen aus ihrem Bündnis geschwächt hervor. Zwar befindet sich die DVU nicht in einer so schweren Existenzkrise wie die NPD (vgl. 2.2.3.2), doch ist ihr rasanter Aufstieg seit 1987 deutlich gestoppt worden. Zum ersten Mal seit Gründung der DVU-Liste D verzeichnen die "Nationalfreiheitlichen" sinkende Mitgliederzahlen - nach Einschätzung der Verfassungsschutzämter sind sie von 25.000 im Jahr 1989 auf etwa 22.000 im Jahr 1990 zurückgegangen. Dieser Verlust in den alten Bundesländern (auf diese bezieht sich die für 1989 genannte Zahl) dürfte durch neue Mitglieder in der ehemaligen DDR noch nicht ausgeglichen worden sein. 2. - Politischer Extremismus - 89 Im Unterschied zur NPD ist die DVU in den neuen Bundesländern bisher kaum öffentlich in Erscheinung getreten und betreibt ihre Werbung fast ausschließlich durch die Wochenzeitungen ihres Vorsitzenden. Vor allem in Sachsen und Thüringen kam es zur Gründung einzelner Kreisverbände der DVU -Liste D , doch beteiligte sich die Partei 1990 an keiner Wahl in der damaligen DDR bzw. in den neuen Bundesländern. Auch in den alten Bundesländern blieb die DVU - Liste D (die DVU e.V. fristet mittlerweile nur noch ein Schattendasein) 1990 weitgehend inaktiv; die bisher nicht bewältigten Folgen der Niederlage bei der Europawahl 1989 dürften sich lähmend auf die - im Vergleich zu anderen Parteien - ohnehin nicht sehr rege Parteiarbeit ausgewirkt haben. So traten die "Nationalfreiheitlichen" auch 1990 vor allem publizistisch in Form der FREY'schen Wochenblätter in Erscheinung. Neben den bereits erwähnten Standardthemen der FREY'schen Agitation wurde seit der Besetzung Kuwaits durch irakische Truppen der Golfkonflikt zu einem beherrschenden Thema, das FREY und seinen Schreibern Gelegenheit gab, ihrem immer aggressiver werdenden Antiamerikanismus freien Lauf zu lassen. War FREY in früheren Jahren aus seiner antikommunistischen Haltung heraus ein Befürworter der deutschen NATO -Mitgliedschaft, so näherte er sich 1988 mehr dem neutralistischen Kurs der NPD an, verzichtete im Programm der DVU e.V. auf bisherige antikommunistische Parolen und forderte ein blockfreies Gesamtdeutschland, in seinen Blättern ließ FREY 1990 die traditionelle deutsch-russische bzw. -sowjetische Freundschaft beschwören und empfahl eine stärkere Ostorientierung der deutschen Politik. Das vereinigte Deutschland müsse sich aus den Fesseln der sog. westlichen Wertegemeinschaft befreien; als Anhängsel der USA laufe Deutschland stets Gefahr, in deren zahlreiche Imperialabenteuer verwickelt zu werden. Der im Juni 1973 ins Leben gerufene Landesverband Berlin der DVU e.V., der seit seiner Gründung von dem ehemaligen NPD-Funktionär Hans-Werner ROLOFF geführt wird, verzichtete von Anbeginn weitgehend auf öffentliches Auftreten und beschränkte sich auf interne 90 2. - Politischer Extremismus - Zusammenkünfte und Veranstaltungen. Seit Gründung des Landesverbandes Berlin der DVU -Liste D im Juni 1988 spielten sich die Aktivitäten der "Nationalfreiheitlichen" ausschließlich im Rahmen der Partei ab; die DVU e.V. hat daneben keine eigenständige Bedeutung mehr. Die DVU-Liste D ist mit etwa 800 Mitgliedern die weitaus größte rechtsextremistische Organisation Berlins, doch ist sie innerhalb der rechtsextremistischen Szene der Stadt weitgehend isoliert; in das bisher berlintypische enge Beziehungsgeflecht zwischen den verschiedenen rechtsextremistischen Organisationen konnten oder wollten sich die "Nationalfreiheitlichen" nicht integrieren. Fanden 1989 noch neun Veranstaltungen mit durchschnittlich 40-50 Teilnehmern statt, so waren es 1990 nur noch vier Veranstaltungen, an denen sich auch nur noch durchschnittlich 30 Personen beteiligten. Die große Mehrzahl der eingeschriebenen Mitglieder nimmt zweifellos am "Parteileben" keinen Anteil und ist seit Jahren inaktiv; die Zahl der "Karteileichen" dürfte das in anderen Parteien übliche Maß bei weitem übersteigen. Höhepunkt im "nationalfreiheitlichen Leben" war auch 1990 der Besuch der alljährlichen Großkundgebung der DVU in der Passauer Nibelungenhalle am 10. März 1990, an der etwa 35 Berliner Mitglieder, darunter auch DDR-Bürger, teilnahmen. Daneben weckte noch eine Vortragsveranstaltung mit dem einzigen Landtagsabgeordneten der DVU-Liste D, dem Bremer Bürgerschaftsabgeordneten Hans ALTERMANN, das Interesse von etwa 40 Mitgliedern. Daß die Berliner "Nationalfreiheitlichen" in absehbarer Zeit selbst einen Mandatsträger stellen können, ist derzeit wenig wahrscheinlich: In wohl realistischer Beurteilung ihrer Erfolgsaussichten trat die DVU-Liste D bisher zu Wahlen nicht an. 2. - Politischer Extremismus - 91 2.2.3.2 "Nationaldemokraten" Die 1964 von Funktionären der "Deutschen Reichspartei" (DRP) und anderer rechtsextremistischer Parteien gegründete "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) konnte Ende der 60er Jahre eine Reihe aufsehenerregender Wahlerfolge verbuchen, die sie zwischen 1966 und 1968 in sieben Länderparlamente einziehen ließ. Nachdem sie bei den Bundestagswahlen 1969 nur knapp an der 5 %-Hürde gescheitert war, setzte jedoch ein rascher Niedergang der Partei ein, der sie von 28.000 Mitgliedern im Jahre 1969 auf 5.900 im Jahre 1982 sowie auf Wahlergebnisse um 0,2% und damit in die politische Bedeutungslosigkeit führte. Trotz zahlreicher Lippenbekenntnisse zur freiheitlichen demokratischen Ordnung des Grundgesetzes und Bemühungen, ihre verfassungsfeindliche Zielsetzung durch allgemeine und mehrdeutige Formulierungen in ihren programmatischen Aussagen zu kaschieren, ergibt sich aus den Äußerungen und Aktivitäten der Parteiführung und ihrer Mitgliedschaft sowie aus den periodischen Publikationen der Partei eindeutig ihre Gegnerschaft zur freiheitlichen demokratischen Ordnung des Grundgesetzes. Diese manifestiert sich vor allem in einer an völkisch-kollektivistischen Vorstellungen orientierten Überbewertung der "Volksgemeinschaft" zu Lasten der Individualrechte und -interessen, die mit den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten nicht vereinbar ist. In ihrer beständigen Agitation gegen Ausländer und Asylanten, gegen Überfremdung und Vielvölkerbrei ( = Rassenvermischung) offenbart sich eine rassistisch motivierte Ausländerfeindlichkeit der NPD. Die systematische Diffamierung der demokratischen Institutionen und ihrer Repräsentanten dient offensichtlich dem Zweck, die freiheitliche demokratische Grundordnung insgesamt in Frage zu stellen. Wie andere rechtsextremistische Parteien und Organisationen leugnet oder verharmlost die NPD die Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft oder versucht, sie durch Aufrechnung mit Verbrechen anderer Völker zu relativieren. 92 2. - Politischer Extremismus - Den Hoffnungen, die auch in der NPD auf das Wahlbündnis mit der DVU gesetzt worden waren, wurde mit der Europawahl ein deutlicher Dämpfer aufgesetzt. Das von Anfang an umstrittene Bündnis mit dem verhaßten FREY wurde immer stärker innerhalb der NPD kritisiert. Das enttäuschende Abschneiden der NPD bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen (0,0 %) und Niedersachen (0,2 %) im Mai 1990 wurde denn auch vor allem auf die unzureichende Unterstützung durch die "Nationalfreiheitlichen" zurückgeführt und verstärkte den Zerfall des Wahlbündnisses. Wie fast alle rechtsextemistischen Parteien und Organisationen setzte die NPD auf die nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft sich ergebende gesamtdeutsche Entwicklung große Hoffnungen. Bereits frühzeitig waren NPD-Gruppen auf den großen Demonstrationen, vor allem auf der Leipziger Montagsdemonstration, vertreten gewesen und hatten Kontakte zu ostdeutschen Gesinnungsgenossen geknüpft. Die NPD konzentrierte sich dabei auf den Aufbau der mit ihrer tatkräftigen Hilfe Anfang 1990 ins Leben gerufenen "Mitteldeutschen Nationaldemokraten" (MND). Auf einem "Vereinigungsparteitag" in Erfurt am 7. Oktober 1990 erklärten die mittlerweile gebildeten fünf "mitteldeutschen" NPD-Landesverbände ihren Beitritt zur Bundespartei. Bei den Wahlen in der DDR bzw. in den neuen Ländern konnte die NPD trotz erheblicher personeller und materieller Unterstützung durch ihre "Kameraden" aus dem Westen keine Erfolge erzielen. Die erstmals bei den Landtagswahlen am 14. Oktober 1990 zur Wahl angetretene NPD erzielte in vier der fünf neuen Länder enttäuschende 0,1 bis 0,2 % der Stimmen. Nur in Sachsen kam sie auf 0,7 %, doch verdankte sie diesen "Erfolg" der Tatsache, daß dort die "Republikaner" nicht kandidiert hatten. Nach diesen Enttäuschungen konzentrierte die NPD alle Anstrengungen auf die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl am 2. Dezember 1990. Die Hoffnungen der Partei richteten sich dabei allerdings nicht - wie 1969 - auf die Überwindung der 5 % - sondern der 0,5 %-Hürde, die die NPD erst in den Genuß der Wahlkampfkostenrückerstattung gebracht hätte. Eine erhebliche Erleichterung für die NPD stellte der von ihr erwirkte Beschluß des 2. - Politischer Extremismus - 93 Bundesverfassungsgerichts vom 17. Oktober 1990 dar, der die in den fünf neuen Ländern kandidierenden Parteien und Listenverbindungen ebenso von der Pflicht zur Beibringung von Unterstützungsunterschriften befreite wie diejenigen Parteien in den alten Bundesländern, die - wie die NPD - bei der vorangegangenen Bundestagswahl mindestens 75.000 Zweitstimmen erhalten hatten. Durch diesen Beschluß der Karlsruher Richter wurde die NPD vor einem sich abzeichnenden Desaster bewahrt, da es ihr - besonders infolge der rudimentären Organisationsstruktur der Partei in den neuen Bundesländern, wo ihre Mitgliederzahl sich zwischen 400 und 800 Personen bewegen dürfte - nur äußerst mühsam gelang, die erforderlichen Unterschriften zu sammeln. In ihrem Wahlkampf konzentrierte sich die NPD auf die Agitation gegen Asylschwindel und Überfremdung, gegen die Anerkennung der OderNeiße-Grenze (Verzicht bleibt Verrat!) und für völlige Souveränität Deutschlands (Wir wollen Herr im eigenen Hause sein!). Ihre Hoffnungen auf die Stimmen der unzufriedenen Bürger, der Unterprivilegierten und sozial Schwachen in beiden Teilen Deutschlands erfüllten sich am 2. Dezember 1990 nicht: mit 145.895 Zweitstimmen (= 0,3 %) blieb die NPD deutlich hinter ihren Erwartungen zurück, wobei sie besonders in den alten Bundesländern für sie enttäuschend abschnitt (in Bayern etwa sank ihr Anteil von 0,6 % in 1987 auf 0,2%). Das schlechteste Ergebnis aller Bundesländer erzielte die NPD in Berlin, wo sie mit 2.170 Zweitstimmen nur 0,1 % der Wähler gewann. Es war das erste Mal, daß sich "Nationaldemokraten" in Berlin zur Wahl stellten. Dem im März 1966 gegründeten Landesverband Berlin der NPD, der von sich aus 1967 und 1971 auf eine Teilnahme an den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus verzichtet hatte, wurde seit 1975 durch Anordnungen der Alliierten Kommandatura Berlin eine Kandidatur untersagt. Bereits seit Oktober 1969 war es der NPD verboten, Parteitage in Berlin abzuhalten, seit Mai 1974 durften weder die NPD noch ihre Nebenorganisationen öffentliche Kundgebungen in der Stadt abhalten, und seit April 1977 durften sie keinerlei öffentliche Propaganda in Berlin betreiben. 94 2. - Politischer Extremismus - Die Mitgliederentwicklung der Berliner NPD vollzog sich parallel zur Bundespartei. Verfügte sie 1968 über mehr als 500 Mitglieder in 12 Kreisverbänden, so sank deren Zahl Anfang der 80er Jahre auf ca. 100 in 4, seit Anfang 1986 sogar nur 3 Kreisverbänden. 1990 umfaßte der Landesverband Berlin einschließlich des im November 1990 gegründeten Kreisverbandes Ost etwa 130 Mitglieder. Die Zahl der von der Berliner NPD durchgeführten geschlossenen Veranstaltungen, die im Durchschnitt von etwa 30 Personen besucht wurden, ging 1990 im Vergleich zum Vorjahr leicht zurück. "Höhepunkte" waren dabei die von etwa 60 Mitgliedern besuchte traditionelle "Reichsgründungsfeier" und der im niedersächsischen Bahrdorf abgehaltene "21. ordentliche Landesparteitag im Exil", an dem sich etwa 50 Mitglieder, darunter 28 stimmberechtigte Delegierte, beteiligten. Nachdem die Alliierte Kommandatura ihre bis zum 31. Mai 1990 befristete Anordnung, mit der der NPD die öffentliche politische Betätigung in Berlin untersagt worden war, nicht verlängert hatte, triumphierte das NPD-Organ "Deutsche Stimme", die Partei habe gegenüber den jahrelangen Versuchen der Besatzer und ihnen ergebene(r) Politiker im Berliner Senat, die NPD mit Schikanen, Grundrechtsentzug, Wahlantrittsund Parteitagsverboten (....) zu eliminieren, den längeren Atem bewiesen. Nun komme auf die NPD jedoch die härteste Probe in Gestalt des Bundestagswahlkampfes zu. Als höchste Hürde erwies sich dabei die Sammlung von 2.000 Unterstützungsunterschriften für die Zulassung der NPD-Landesliste und der Direktkandidaten in den 13 Berliner Wahlkreisen. Wäre die Partei durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts nicht von dieser Pflicht enthoben worden, hätte sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht diese Voraussetzung für eine Wahlbeteiligung erfüllen können. War die Teilnahme an der Bundestagswahl nach dem 17. Oktober gesichert, so verzichtete die NPD von sich aus auf eine Kandidatur bei der parallel dazu durchgeführten Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, da ihr hierzu die personellen und materiellen Voraussetzungen fehlten. 2. - Politischer Extremismus - 95 Erst am 17. November 1990 kam es zur Gründung des Kreisverbandes Ost der Berliner NPD; an der Gründungsversammlung im Bezirk Treptow beteiligten sich etwa 30 Personen, darunter 13 stimmberechtigte Mitglieder des neuen Kreisverbandes. In ihrem Wahlkampf beschränkte sich die Berliner NPD auf einige wenige Veranstaltungen und die Verteilung von Flugblättern, in denen u.a. Forderungen wie Ausländerstopp - Deutschland den Deutschen; Arbeitsplätze und Wohnungen zuerst für deutsche Arbeitnehmer, Austritt Deutschlands aus der NATO erhoben wurden. In der Öffentlichkeit trat die NPD kaum in Erscheinung. Diesem matten Wahlkampf entsprach denn auch das Abschneiden der NPD bei dem ersten Wahlgang, dem sie sich in Berlin stellte. Mit 2.451 Erstund 2.170 Zweitstimmen (jeweils 0,1 %) erzielte sie das schlechteste Ergebnis aller NPD-Landesverbände. In der Bundespartei löste das enttäuschende Abschneiden der NPD eine heftige Diskussion über den Fortbestand der Partei aus. Der Rückfall in die politische Bedeutungslosigkeit und die äußerst angspannte Finanzlage der Partei, die nach ihrem Scheitern an der "0,5 %-Hürde" die Wahlkampfkostenvorauszahlung in Höhe von ca. 820.000,DM zurückzahlen muß, führten zur Resignation des langjährigen NPD-Bundesvorsitzenden Martin MUßGNUG, der Ende des Jahres von seinem Posten zurücktrat und seitdem gemeinsam mit ehemaligen REP-Funktionären seit längerem diskutierte Pläne für eine Sammlung aller "nationalen" Parteien und Gruppen in einer neuen rechten Partei forcierte. In der Mehrheit der Partei - so auch im Berliner Landesverband - stießen diese, vor allem von den badenwürttembergischen "Nationaldemokraten" vertretenen Pläne auf Ablehnung, da es für die NPD gegenwärtig noch keinen Ersatz gebe; die funktionierende Parteiorganisation müsse erhalten bleiben und die NPD als harter Kern der deutschen Rechten weiterbestehen. 96 2. - Politischer Extremismus - 2.2.4 Sonstige rechtsextremistische Organisationen 2.2.4.1 "Deutsche Kulturgemeinschaft Berlin" (DKG-Berlin) Die 1983 von einem Kreis oppositioneller Berliner NPD-Mitglieder um die als Integrationsfigur der rechtsextremistischen Szene Berlins respektierte Dr. Ursula SCHAFFER ins Leben gerufene "Deutsche Kulturgemeinschaft Berlin" hat sich seit etwa 1988 mit ihren Vortragsveranstaltungen, Reichsgründungs-, Sonnwendund anderen Gedenkfeiern zunehmend zu einem Sammelbecken für das gesamte rechtsextremistische Spektrum Berlins von der NPD über die WJ bis hin zu eindeutig neonazistischen Gruppen wie der NF, der "Kameradschaft Berlin" der GdNF oder der Gruppe "Wotans Volk" entwickelt. Die DKG Berlin zählt gegenwärtig etwa 30 Mitglieder, vorwiegend Angehörige der Berliner NPD, aber auch einige bekannte Neonazis. Während zu den Vortragsveranstaltungen der DKG Berlin, auf denen in der rechtsextremistischen Szene prominente Referenten auftreten, durchschnittlich etwa 60 Zuhörer erscheinen - wobei der häufig hohe Anteil Jugendlicher auffällig ist-, gelingt es ihr, zu Großveranstaltungen mit überregionaler Resonanz mehrere 100 Rechtsextremisten zu mobilisieren. Seit Öffnung der innerdeutschen Grenzen veranstaltete die DKG Berlin ihre Gedenkfeiern bevorzugt in der DDR bzw. in den neuen Bundesländern. So organisierte sie anläßlich des 175. Geburtstages Otto von BiSMARCKs am 1. April 1990 in dessen Geburtsort Schönhausen bei Tangermünde eine Gedenkfeier, an der sich etwa 150 Berliner Rechtsextremisten - neben Mitgliedern der DKG-Berlin Angehörige der NPD, der WJ, der NF sowie etwa 10 sog. Nazi-Rocker aus Ost-Berlin - beteiligten. Höhepunkt der Aktivitäten der DKG-Berlin im Jahre 1990 war der gemeinsam mit der WJ und der Berliner Ortsgruppe der NF am 18. November 1990 auf dem Soldatenfriedhof in Halbe (Kr. Märkisch Buchholz, Brandenburg) veranstaltete "Heldengedenktag", an dem sich etwa 300 Personen beteiligten, neben Angehörigen der 2. - Politischer Extremismus - 97 veranstaltenden Organisationen auch Mitglieder der JN, des FAPLandesverbandes Berlin, der GdNF, der NA, der "Freiheitspartei", der Gruppe "Wotans Volk" sowie Vertreter rechtsextremistischer Organisationen aus Belgien, Frankreich und Spanien. Die DKG-Berlin entfaltete mit dieser und anderen Veranstaltungen eine ausgesprochen integrative Wirkung innerhalb der rechtsextremistischen Szene Gesamtberlins einschließlich des Ostteils der Stadt und des Berliner Umlandes. 98 2. - Politischer Extremismus - 2.2.5 Gesetzesverletzungen mit rechtsextremistischem Hintergrund Die Zahl der im Jahr 1990 bekanntgewordenen Gesetzesverletzungen mit erkennbarem oder vermutetem rechtsextremistischen Hintergrund ist gegenüber dem Vorjahr von 604 auf 285 auf den ersten Blick stark zurückgegangen. Auffällig ist jedoch der weiterhin hohe Anteil rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten gegen Personen und Sachen, deren Zahl im Jahre 1990 bei 20 (1989: 25) lag. Der insgesamt starke Rückgang hat mehrere Ursachen, die eng mit den rechtlichen und praktischen Auswirkungen der Öffnung der Grenzen in Deutschland seit dem 9. November 1989 zusammenhängen: Wegen des de facto fast rechtsfreien Raumes in den östlichen Bezirken Berlins während der ersten 9 Monate des Jahres 1990 verlagerten rechtsextremistische Täter ihre Aktivitäten nach Berlin (Ost) und ins Berliner Umland und entzogen sich damit einer Beobachtung. Auch der mit dem Verzicht der Alliierten auf ihre Vorbehaltsrechte verbundene Wegfall weitergehender Straftatbestände wirkte sich auf die Statistik aus. Erst nach dem 3. Oktober 1990 - nach Ausdehnung der rechtlichen Zuständigkeit des Berliner Senats auf die ganze Stadt - begann sich die polizeiliche Präsenz in den östlichen Bezirken langsam zu stabilisieren. Dies spiegelt sich auch in der Zahl rechtsextremistischer Gesetzesverletzungen im letzten Quartal 1990 wider. Im Zeitraum vom 3. Oktober 1990 bis 15. Januar 1991 wurden in Gesamtberlin etwa 70 Gesetzesverletzungen mit rechtsextremistischem Hintergrund registriert. Der Anteil der östlichen Bezirke machte mit über 40 Vorfällen bereits mehr als die Hälfte aus. Diese Tatsache läßt die Vermutung zu, daß die tatsächliche Zahl der rechtsextremistischen Vorfälle 1990 in Gesamt-Berlin erheblich höher gewesen sein dürfte. Es ist daher zu vermuten, daß deren Zahl im Jahr 1991 wieder deutlich ansteigen wird. Während im Jahre 1989 die festgestellten 25 Gewalttaten an der Gesamtzahl der 2. - Politischer Extremismus - 99 Gesetzesverletzungen von etwa 600 ca. 4 % ausmachten, liegt der Anteil der Gewalttaten des Jahres 1990 bei 7 %. Die meisten Gewalttaten hatten ausländerfeindlichen oder antisemitischen Charakter. Bei den antisemitisch motivierten Gewalttaten handelte es sich um die Schändung (Umstürzen und Beschmieren) von jüdischen Grabsteinen, die unbekannte Täter in der Zeit vom 12. November 1990 bis 7. Januar 1991 in den östlichen Bezirken verübt hatten. An den Gewalttaten waren in 6 Fällen Skinheads beteiligt. Die nachstehend aufgeführte Tabelle gibt einen Überblick über die Entwicklung der Gesetzesverletzungen der vergangenen 3 Jahre. In Klammern ist jeweils die Anzahl der Gesetzesverletzungen mit bekanntgewordenen Tätern oder Tatverdächtigen angegeben. 100 2. - Politischer Extremismus - Jahr 1990 1989 1988 (Stichtag) (15.1.91) (15.1.90) (15.1.89) Gesamtzahl der 285 604 456 Gesetzesverletzungen (73) (159) (114) Gewalttaten 20 25 5 (5) (8) (3) Unbefugter 2 2 1 Waffenbesitz (2) (2) 0) (Schußwaffen) Schmier-, Verteilund 184 367 300 Klebeaktionen (15) (23) (18) Beleidigung auf 35 104 84 antisemitischer (14) (31) (31) Grundlage, Volksverhetzungen, Bedrohungen Verwenden von NS44 100 55 Symbolen und NS(37) (90) (53) Propagandamitteln Sonstige 0 6 11 Ausschreitungen (5) (8) (Absingen von NSLiedern u.a.) Rechtskräftige 15 34 22 Verurteilungen durch Berliner Gerichte 2. - Politischer Extremismus - 101 In 73 Fällen von Gesetzesverletzungen im Jahr 1990 sind jeweils ein oder mehrere Täter bzw. Tatverdächtige namentlich bekannt. Von diesen insgesamt 112 Personen, die zwischen 16 und 60 Jahre alt waren, sind sechs erkannte Rechtsextremisten. Im einzelnen stellt sich die Altersverteilung der Täter bzw. Tatverdächtigen wie folgt dar: Alter: Anzahl: Unter 18 Jahre 24 18 bis 25 Jahre 51 26 bis 35 Jahre 13 36 bis 45 Jahre 4 46 Jahre und älter 20 Auch in den anderen alten Bundesländern ist die Zahl der bekanntgewordenen Gesetzesverletzungen mit rechtsextremistischem Bezug 1990 im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen - wenn auch nicht in so starkem Maße wie in Berlin -, die Zahl der Gewalttaten jedoch konstant geblieben. 102 2. - Politischer Extremismus - 2.2.6 Ausblick In ihrem Selbstverständnis waren "Nationaldemokraten" und "Nationalfreiheitliche" die einzigen politischen Kräfte, die in den Jahren der Teilung an dem Gedanken der deutschen Einheit festgehalten hatten. So hofften sie, nach dem Fall der Mauer den Lohn für ihre "Standfestigkeit" empfangen und von einer "nationalen Welle" profitieren zu können. NPD und DVU mußten jedoch sehr bald schmerzlich feststellen, daß "ihr" Thema Wiedervereinigung von den "etablierten" Parteien besetzt wurde und sich die deutschlandpolitische Entwicklung an den Wahlurnen nicht zugunsten des organisierten Rechtsextremismus auswirkte. Auch die Hoffnung, unter der ostdeutschen Bevölkerung nach den Erfahrungen von 40 Jahren Realsozialismus in großem Maße Gesinnungsgenossen rekrutieren und in der ehemaligen DDR fest Fuß fassen zu können, erfüllten sich nicht. Das zweifellos vorhandene rechtsextremistische Potential in den neuen Bundesländern konnte bisher, trotz erheblicher Bemühungen zumindest der NPD, nicht im erwarteten Maß von den Parteien der "alten Rechten" ausgeschöpft werden. Zielgruppe rechtsextremistischer Agitation dürften in Zukunft vor allem die von den wirtschaftlichen Folgen des Einigungsprozesses besonders betroffenen Bürger der ehemaligen DDR sein. Rechtsextremisten werden sich zunehmend bemühen, bei diesen Sozialneid und Fremdenfeindlichkeit gegen in Deutschland lebende Ausländer und Asylbewerber wie auch gegen nach Deutschland kommende Bürger ehemaliger "Bruderländer" (vor allem Polen und Sowjetbürger) zu schüren und so in der ehemaligen DDR mehr als bisher Fuß zu fassen. Ob die einfachen Antworten der extremen Rechten bei wachsenden sozialen Spannungen in den neuen Ländern auf größere Resonanz stoßen werden, bleibt abzuwarten; bei den Bundestagswahlen 1990 ging die Spekulation mit den Stimmen der Enttäuschten jedenfalls nicht auf. Auch die Entwicklung des organisierten Neonazismus West-Berlins wurde 1990 in starkem Maße von der deutschen Vereinigung bestimmt. Aktivisten aus West-Berlin verlegten ihren Wohnsitz nach Ost-Berlin, nachdem sie dort auf ein Potential gestoßen waren, mit dem 2. - Politischer Extremismus - 103 sie kaum gerechnet hatten. Ganz offensichtlich hatten in Ost-Berlin schon seit einigen Jahren rechtsextremistische und auch neonazistische Zusammenhänge bestanden, die nach der Wende ins öffentliche Bewußtsein traten. In den ersten Monaten nach der Maueröffnung leiteten Neonazis aus West-Berlin und Westdeutschland ihre Ost-Berliner Gesinnungsgenossen in dominierender Weise an. Sie drangen in die sich bietenden Freiräume ein und versuchten, die rechtsextremistische Szene um sich zu versammeln. Wurde das Angebot, sich von den westdeutschen Kameraden führen zu lassen, anfänglich begrüßt, so trat im Verlauf des Jahres 1990 doch offensichtlich eine gewisse Abkühlung im Verhältnis zueinander ein. Gegen Jahresende 1990 mehrten sich die Anzeichen für eine zunehmende Verselbständigung der ostdeutschen Neonazis und eine wachsende Distanz zu dem die ostdeutschen Neonazis bis dahin dominierenden Michael KÜHNEN. Dies wurde in der Entwicklung der NA besonders deutlich. Die Ost-Berliner Skinhead-Szene war 1990 für Neonazis eine zunächst erfolgversprechende Zielgruppe. Die dortigen Zusammenschlüsse von Skinheads zeichneten sich in der Regel durch ein höheres Maß an Gewaltbereitschaft und insbesondere an Ausländerfeindschaft aus. Dies ist um so bemerkenswerter angesichts der Tatsache, daß der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung in der ehemaligen DDR extrem gering ist. Ob es den Neonazis oder anderen rechtsextremistischen Organisationen gelingt, das Skinhead-Potential für ihre Ziele zu instrumentalisieren, bleibt abzuwarten, doch sind angesichts der weitgehend gescheiterten Versuche, westdeutsche Skinheads für eine kontinuierliche Mitarbeit in neonazistischen Organisationen zu gewinnen, eher Zweifel angebracht. Im übrigen kann angenommen werden, daß Neonazis auch weiterhin bemüht sein werden, sich durch Einbindung der Medien eine ihre tatsächliche Bedeutung weit übersteigende Präsenz im öffentlichen Bewußtsein zu verschaffen. 104 2. - Politischer Extremismus - 2.2.7 Sonderthema: Eine Partei nur für Berlin - Zur Entstehung der "Nationalen Alternative" (NA) - Die "Nationale Alternative" (NA) wurde am 1. Februar 1990 in Berlin (Ost) ins Leben gerufen. Die Gründungsmitglieder waren ganz überwiegend als Angehörige der Neonazibzw. Skinheadszene oder aus Strafverfahren bekannt. Mit Schreiben vom 5. April 1990 meldete sich die NA als am 3. April offiziell gegründete Partei bei der Volkskammer der DDR an. Das Präsidium der Volkskammer ließ die NA in das dort geführte Parteienregister unter der Registriernummer 39/90 eintragen. Nahezu alle damals dem NA-Vorstand angehörenden Neonazis waren zugleich Mitglieder der "Deutschen Alternative" (DA). Tatsächlich handelte es sich bei der NA um eine mit der DA identische Organisation, deren Ost-Berliner Teil unter dem Namen "Nationale Alternative" firmierte. Die NA stellte eine taktische Variante des von Michael KÜHNEN - obgleich nicht Parteivorsitzender, so doch Chefkoordinator und ideologischer Vordenker der DA - entwickelten "Arbeitsplan Ost" vom 21. Januar 1990 dar. Neben der DA war vor allem die Hamburger "Nationale Liste" (NL) unterstützend für die NA tätig geworden. Das KÜHNEN-Organ "Die Neue Front" schrieb unter der Überschrift: Gau Groß-Berlin. Nationale Alternative im Aufwind: Die NA gehört organisatorisch nicht zu unserer Gesinnungsgemeinschaft der NEUEN FRONT, steht uns aber ohne Berührungsängste und kameradschaftlich gegenüber. Unsere Kameraden arbeiten sowohl bei der NA wie auch bei der Sammlungsbewegung BERLINER BLOCK mit, bilden darüber hinaus aber auch eine Berliner SA. (Die Neue Front Nr. 74/September 1990, S. 41 f) Der sog. Berliner Block war ein informelles Bündnis Berliner Neonazis im Jahr 1990. Der Berliner Block schloß sich seinerseits dem Bündnis "Neubeginnen" an, das bis März 1990 bereits 21 rechtsextremistische und neonazistische Gruppen umfaßte. 2. - Politischer Extremismus - 105 2.2.7 A "Nationales Kommunikationszentrum" Weitlingstraße 122 Zu Jahresbeginn 1990 wurde in der Türrschmidtstraße im Ost-Berliner Bezirk Lichtenberg ein Haus besetzt. Nachdem sich herausgestellt hatte, daß es in Privateigentum stand und unter Denkmalschutz gestellt wurde, bot der Rat des Stadtbezirks ein "Ausweichobjekt" an - das Gebäude Weitlingstraße 122. Gleichwohl gaben sich die Bewohner der Weitlingstraße 122 - vor allem Journalisten gegenüber - als "Besetzer" aus. Hier richtete die NA ihre Parteizentrale ein und zog während vieler Wochen das Interesse inund ausländischer Medien auf sich. Bereits in der Türrschmidtstraße waren für die Hausbesetzerszene untypische Besucher wie etwa der Neonazi Michael KÜHNEN und "Kameraden" aus der "Ostmark" ("Volkstreue Außerparlamentarische Opposition" - VAPO) und aus Hamburg ("Nationale Liste" - NL) sowie Berliner Lokalgrößen wie SCHWEIGERT und PRIEM bemerkt worden. Ferner fanden sich in der Weitlingstraße 122 auch solche Personen ein, die in der rechtsextremistischen Szene gewissermaßen als Prominenz gelten, Ekkehard WEIL und Gary Rex LAUCK. Zu den bekanntesten Stationen von WEILs rechtsextremistischer Karriere zählen sein 1970 unternommener Versuch, einen Wachsoldaten am sowjetischen Ehrenmal im Bezirk Tiergarten zu erschießen und ein Brandanschlag am 1. August 1979 auf das Kreisbüro Charlottenburg der "Sozialistischen Einheitspartei Westberlins" (SEW). Auch im Ausland wurde WEIL wegen der Verübung von Sprengstoffanschlägen gesucht und inhaftiert. Der US-Bürger Gary Rex LAUCK ist "Propagandaleiter" der "Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei - Auslandsund Aufbauorganisation" (NSDAP-AO) mit Sitz in Lincoln/Nebraska (USA) und gibt den zweimonatlich erscheinenden "NS-Kampfruf" heraus, in dem u.a. Artikel Michael KÜHNENs veröffentlicht werden. Die NSDAPAO unterhält in den alten Bundesländern eine Vielzahl von "Stützpunkten", die zur Verbreitung des in den USA hergestellten Propagandamaterials dienen. LAUCKs Aufenthalt in der Weitlingstraße 122 mag der Verbreitung bzw. Einrichtung eines weiteren "Stützpunktes" gedient haben. 106 2. - Politischer Extremismus - LAUCK und KÜHNEN sollen sich gemeinsam in der Weitlingstraße 122 aufgehalten haben, wobei sie bemüht waren, ihr Erscheinen nicht bekannt werden zu lassen. Erst am 21. Juli gaben LAUCK und KÜHNEN ihr Berliner Treffen in einer Presseerklärung bekannt. Darin forderten sie auch die Gründung des "Vierten Reiches". In diesem Zusammenhang hieß es: Nun gilt der Kampf der Rückgewinnung der uns geraubten Ostgebiete des Deutschen Reiches und der Wiedervereinigung mit der deutschen Ostmark. Medienbewußt hatten sich KÜHNEN und LAUCK gemeinsam vor dem Empfangsgebäude des Flughafens Berlin-Schönefeld fotografieren lassen. 2.2.7.2 "Bürgerinitiative für Wohnraumsanierung e.V." (Bl WOSAN) Der Kommunalen Wohnungsverwaltung (KWV), dem öffentlichen Eigentümer des Objekts Weitlingstraße 122, gegenüber trat nicht die NA als Bewohner auf, sondern eine "Bürgerinitiative für Wohnraumsanierung e.V." (Bl WOSAN). Die personellen Überschneidungen zwischen NA und Bl WOSAN waren jedoch augenfällig. Sowohl NA als auch Bl WOSAN verteilten im Bezirk Lichtenberg Flugblätter, in denen sie gegen Arbeitslosigkeit und Wohnraummangel polemisierten und als Gegenmittel die Ausweisung von Ausländern propagierten (Arbeiterwehrt euch!). In einem anderen Flugblatt der WOSAN hieß es: Betrogene dieser Republik! Wohnräume statt Büros! Nach der Revolution voio 9. November besteht nun die Möglichkeit, auf Mißstände hinzuweisen und durch Eigeninitiative und Tatkraft an einer besseren Zukunft mitzuarbeiten. Die Initiative für Wohnraumsanierung soll ein Zusammenschluß von jungen und alten Menschen sein, die nun gemeinsam die historisch gewachsenen Wohnviertel erhalten und gestalten soll. 2. - Politischer Extremismus - 107 Der Versuch von Neonazis, sich bisher in der linken Szene gebräuchlicher Begriffe zu bedienen, war erfolgreich - am 20. April 1990 ("Führergeburtstag") wurden mit der KWV Umund Ausbauverträge für die Weitlingstraße 122 unterzeichnet. 2.2.7.3 Aktivitäten der NA Wegen der Beteiligung von Mitgliedern der NA an Krawallen auf dem Alexanderplatz am 20. April 1990 wurde am 27. April 1990 das Haus Weitlingstraße 122 von einer Sondereinheit der Volkspolizei durchsucht. Dabei wurden fast der gesamte Vorstand der NA und 14 weitere Personen festgenommen. Bis zum I.Juni blieb der Parteivorstarid der NA in Untersuchungshaft. Die gegen mehrere NAVorstandsmitglieder eingeleiteten Verfahren, wie auch das Ermittlungsverfahren des Generalstaatsanwalts der DDR gegen die NA, wurden ohne Ergebnis eingestellt. Gefunden wurden bei der Durchsuchung des Hauses neben Gaspistolen und anderen Waffen vor allem neonazistische Schulungsund Propagandamaterialien. Diese Funde führten am 3. Mai zum Ausschluß der NA von den Kommunalwahlen in der DDR am 6. Mai 1990, für die die NA das Parteivorstandsmitglied Andre RIECHERT als Kandidaten nominiert hatte. Der - vpn der NA so bezeichnete - Häusersturm durch die Volkspolizei verhalf dem Haus Weitlingstraße 122 allerdings zu ansonsten kaum zu erreichender Publizität. Die Vertreter inund ausländischer Medien - vor allem der Fernsehanstalten - gaben sich von nun an im Haus Weitlingstraße 122 die Klinke in die Hand. Die Journalisten ließen sich Dreherlaubnis und Interviewbereitschaft auch "Aufwandsentschädigungen" kosten. Damit hatte das Haus Weitlingstraße 122 der Maxime von Michael KÜHNEN Rechnung getragen, nach der es in der Mediengesellschaft wichtiger ist, in deren Bewußtsein zu verbleiben, als tatsächlich existent zu sein. Bei der Durchsuchung der Weitlingstraße 122 am 27. April 1990 fand die Polizei u.a. eine Beschreibung eines nächtlichen Überfalls auf ein besetztes Haus im Bezirk Friedrichshain, bei dem einige Wochen zuvor eine Frau erheblich verletzt worden war. 108 2. - Politischer Extremismus - In "Die Neue Front" las sich dies so: Am 4.4. wurde gegen ein von linken Chaoten besetztes Haus im Berliner Osten (Horst-Wessel-Bezirk Friedrichshain) ein gut geplanter Angriff durchgeführt, der den Gegner hart getroffen hat. Die Truppe wurde zweckmäßig ausgerüstet und rückte gegen 23.30 Uhr geschlossen und diszipliniert zum Zielobjekt ab. Mit einer Leiter gelangten sechs Kameraden auf den nicht verschlossenen Balkon der 1. Etage, den die sehr wahrscheinlich bekifften Chaoten nicht bewacht hatten. Vier Kameraden hielten vor dem Haus Wache. Im Haus selber wurden nur noch zwei Anarchos angetroffen, da sich der Rest bei Beginn der Aktion vor lauter Angst über die Dächer abgesetzt hatten. Das Haus wurde gründlich durchsucht, wobei uns drei Fahnen mit linken Symbolen in die Hände fielen und in Verwahrung genommen wurden. Um 0.15 Uhr wurde vom Einsatzleiter der Befehl zum Abrücken gegeben, dem diszipliniert Folge geleistet wurde. Beim Abrücken wurde die Taktik der "Verbrannten Erde" angewandt. Dieser Schlag der Berliner SA gegen die linke Szene im Berliner Osten muß als erster, aber sicherlich nicht letzter großer Erfolg gewertet werden, der den linken Chaoten noch lange in Erinnerung bleiben wird. Durch diesen hervorragend geleiteten Einsatz haben wir einmal mehr bewiesen, wo die bessere Führung und Weltanschauung ist und bleibt. ...Vorwärts im Geiste Horst Wessels. DER FURCHT SO FERN, DEM TOD SO NAH, HEIL DIR SA. (Die Neue Front Nr. 74/September 1990, S. 42) Erstmals am 24. November 1990 führte die NA einen - nicht angemeldeten - öffentlichen Aufzug im Bezirk Lichtenberg durch. Anlaß der Demonstration war offenbar die erwartete Räumung des Hauses Weitlingstraße 122 nach dem 30. November. Die etwa 100 Teilnehmer des Zuges führten Transparente mit sich, die u.a. Texte trugen wie NA gegen Rotfront; Neue Wege für Berlin; Maßnahmen gegen Spekulation; Nationaler Widerstand = Sieg und Schlesien gehört uns. 2. - Politischer Extremismus - 109 Für die Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin am 2. Dezember 1990 empfahl sich die NA als wirkliche Alternative zum herrschenden Parteienkartell (...) mit dem festen Willen, einzig und allein die Interessen der deutschen Menschen dieser Stadt zu vertreten. In einem Flugblatt mit der Überschrift Neue Wege für Berlin forderte die NA u.a.: keine Aufnahme von Asylbewerbern in dieser Stadt; die sofortige schrittweise Rückführung aller hier lebenden Scheinasylanten in ihre Herkunftsländer; Heranziehung aller "Sozial-Schmarotzer" zu gemeinnützigen Arbeiten. Die Wohnungsbaugesellschaft Lichtenberg mbH verlängerte das Nutzungsverhältnis, das mit der WOSAN eingegangen worden war, nicht und verlangte, die Weitlingstraße 122 bis zum 30. November 1990 zu räumen. Eine bereits zuvor für den 24. November 1990 geplante "Großveranstaltung" aus Anlaß der Wahlen am 2. Dezember 1990 wurde zugleich zur Protestkundgebung gegen eine erwartete Räumung erweitert. Im Anschluß an den Aufzug gab der Sprecher der Bl WOSAN eine Pressekonferenz, auf der er mitteilte, man werde sich der Räumung nicht widersetzen, während ein anderer führender NA-Funktionär passiven Widerstand ankündigte. Tatsächlich wurde das Objekt Weitlingstraße 122 von seinen Nutzern unauffällig geräumt. Auch aus den Medien bekannte Neonazis gaben die Weitlingstraße als Domizil auf und zogen in ihre Privatwohnungen zurück. Einige Neonazis hatten vergeblich Versucht, in der Weitlingstraße 122 ein strenges Regiment über die Hausbewohner zu errichten, womit vor allem diejenigen diszipliniert werden sollten, die nicht aus der Szene des organisierten Neonazismus, sondern eher aus dem Milieu der Skinheads kamen. 110 2. - Politischer Extremismus - Mit dem Auszug der NA-Aktivisten aus der Weitlingstraße 122 war auch die Bl WOSAN erloschen, zumal nennenswerte eigenständige Aktivitäten von der angeblichen Bürgerinitiative ohnehin nicht ausgegangen waren. An den Wahlen zum Deutschen Bundestag und zum Abgeordnetenhaus von Berlin am 2. Dezember 1930 sollte für die NA ursprünglich wieder Andre RIECHERT aufgestellt werden. Tatsächlich kandidierte dann Oliver SCHWEIGERT als Einzelbewerber im Wahlkreis Lichtenberg 4 (Nöldnerplatz, Marie-Curie-Allee, Einbecker Straße) für die Wahl zum Abgeordnetenhaus. Er erhielt 30, d.h. 0,2 % der abgegebenen gültigen Stimmen. 2.2.7.4 Programm der NA Das der Volkskammer der DDR im April 1990 vorgelegte "Programm der Nationalen Alternative" gibt sich betont zurückhaltend. Im Mittelpunkt des Programm stehen deutschlandpolitische Forderungen, vor allem die Vereinigung beider deutscher Staaten bis 1995. Weiterhin fordert die NA gesamtdeutsche Neutralität (Ziff. 1.3 des Programms): Um die Vorbedingung für ein blockfreies Deutschland zu schaffen, soll die Mitgliedschaft zu NATO und EG einerseits und zum Warschauer-Pakt andererseits ab sofort bis zu einem künftigen Volksentscheid ruhen. Außerdem soll zur Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit Deutschlands nach innen und außen umgehend ein Staatsoberhaupt gewählt werden, welches in seiner Funktion die Interessen Deutschlands gegenüber den innerdeutschen Landesregierungen und im Ausland mit außerordentlichen Vollmachten vertritt. Diese Formulierung entspricht der bei rechtsextremistischen Gruppierungen häufig anzutreffenden Forderung nach dem "starken Mann". Bei Neonazis findet dieser Ruf seine praktische innerparteiliche Ausformung im sogenannten Führerprinzip. Insofern kann der genannte Programmpunkt - insbesondere mit Formulierung außerordentliche Vollmachten für das Staatsoberhaupt gegenüber den 2. - Politischer Extremismus - 111 innerdeutschen Landesregierungen und dem Ausland - als nicht vereinbar mit dem Grundgesetz angesehen werden. In der Forderung, keine internationale Bevormundung Deutschlands zuzulassen (Ziff. 2.2), muß eine Absage an zahlreiche supranationale Abkommen bzw. Zusammenschlüsse Deutschlands gesehen werden. Die Forderung, es müsse die deutsche Nation sich verpflichtet fühlen, den nationalen Befreiungskampf aller unterdrückten Völker zu unterstützen (Ziff. 2.1 : Nichteinmischung in die Angelegenheit anderer Länder) hat deutliche Parallelen in der Programmatik sogenannter nationalrevolutionärer Organisationen. Das Programm der NA enthält ferner die Forderung nach Zulassung aller politischen Parteien, sofern sie nicht Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzungen bejahen (Ziff. 1.5). Dahinter verbirgt sich die Forderung nach Aufhebung des NSDAP-Verbots, die für alle neonazistischen Organisationen konstitutiv ist. Für 1991 plant die NA die Durchführung eines Parteitages, verbunden mit der Beratung und Beschlußfassung über ein neues Parteiprogramm. 112 2. - Politischer Extremismus 2.3 Ausländerextremismus 2.3.1 Überblick Im Bereich des Ausländerextremismus liegt das Hauptgewicht der Arbeit des LfV bei der Aufklärung gewaltorientierter extremistischer Bestrebungen. In Berlin wurden 1990 keine Terroranschläge von gewaltorientierten Ausländer-Organisationen verübt. Die Beobachtung des gewaltfreien politischen Extremismus von Ausländern ist für die Verfassungsschutzbehörden von nachrangiger Bedeutung. Dies gilt auch für orthodox-kommunistische AusländerOrganisationen, die sich nach dem Scheitern des realen Sozialismus in einer existentiellen Krise befinden. Von ihnen geht keine wesentliche Beeinträchtigung der inneren Sicherheit aus. Im Westteil Berlins waren nach Angaben des Statistischen Landesamtes Berlin am 31. Dezember 1990 insgesamt 312.374 Ausländer gemeldet. Statistische Erhebungen über den Ausländeranteil an der Einwohnerzahl von Gesamt-Berlin gibt es derzeit noch nicht. Den höchsten Ausländeranteil im Westteil der Stadt stellten 1990 wie in den Vorjahren die 133.878 türkischen Staatsangehörigen. Daneben lebten etwa 13.000 Angehörige verschiedener arabischer Staaten, etwa 6.500 Iraner und etwa 1.000 irische Staatsangehörige in Berlin. Die Anzahl der im Westteil der Stadt - z.T. illegal - aufhäitlichen Palästinenser wurde auf über 10.000 geschätzt. Der Anteil der Ausländer, die extremistischen oder extremistisch beeinflußten Organisationen angehören, war 1990 mit ca. 2.200 Personen ( = 0,9 % der im Westteil Berlins gemeldeten Ausländer) äußerst gering. 2. - Politischer Extremismus - 113 Zu den Beobachtungsschwerpunkten der Verfassungsschutzbehörde zählten 1990 der sog. Staatsterrorismus sowie die in Berlin bestehenden Gruppen extremistischer gewaltorientierter Palästinenserund Araber-Organisationen sowie gewaltorientierte extremistische Organisationen von Kurden, Türken und Iranern. Nicht unerwähnt bleiben dürfen die terroristischen Aktivitäten der "Provisional Irish Republican Army" (PIRA), die auch 1990 von deren Terrorkommandos in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt wurden, auch wenn Berlin wegen der besonderen Lage der Stadt in der Vergangenheit nicht Ziel von Anschlägen der PIRA war. Die extremistischen bzw. extremistisch beeinflußten Organisationen anderer Ausländergruppen (z.B. Armenier, Jugoslawen, Sikhs und Tamilen) waren dagegen nachrangige Beobachtungsfelder, weil von diesen Gruppen im Berichtszeitraum keine sicherheitsrelevanten Aktivitäten in Berlin ausgingen. Ein besonderes Problem stellt das unorganisierte, politisch motivierte Gewaltpotential jugendlicher Ausländer dar. Erstmals 1989 fielen lose Gruppen bzw. Banden von Ausländern, insbesondere Türken, auf, die aus Selbstschutz wegen gewaltsamer Übergriffe von Skinheads und Neonazis auf in Berlin lebende Ausländer mit Gewalt gegen vermeintliche oder tatsächliche deutsche Rechtsextremisten vorgingen. Dieses zahlenmäßig nicht genau bestimmbare Gewaltpotential war auch 1990 an Gewalthandlungen, die im Verlauf von Demonstrationen entfacht wurden, beteiligt. Bei den an gewaltsamen Ausschreitungen beteiligten Ausländern ist zu unterscheiden zwischen vor allem jugendlichen Gewalttätern, die sich ohne politische Motive an Zerstörungen und Plünderungen beteiligten, und solchen Gewalttätern, bei denen politische Motive,im Vordergrund gestanden haben dürften. Zwischen diesen gewaltbereiten Ausländern und deutschen Autonomen dürfte es im Vorfeld von Demonstrationen oder sonstigen Aktivitäten zu Absprachen gekommen sein. 114 2. - Politischer Extremismus - 2.3.2 Palästinenser/Araber Arabische und palästinensische Extremisten bilden seit Jahren eine ständige Gefahr für die innere Sicherheit Berlins. Träger dieser sicherheitsgefährdenden Bestrebungen sind einerseits die in der "Palästinensischen Befreiungsorganisation" (PLO) zusammengeschlossenen Palästinenser-Organisationen sowie aus diesen hervorgegangene Splittergruppen und andererseits islamischfundamentalistisch bzw. - extremistisch ausgerichtete Palästinenserund Araber-Organisationen. Diese Gruppen operieren sowohl im Nahen Osten als auch in Europa einschließlich der Bundesrepublik Deutschland. Das extremistische Kernpotential unter den Arabern und Palästinensern in Berlin umfaßt nach hiesiger Schätzung etwa 300 Personen. 2.3.2.1 PLO-Mitgliedsorganisationen Etwa 180 dieser 300 Personen sind in den folgenden PLOMitgliedsorganisationen organisiert: "AL FATAH" "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP) "Demokratische Front für die Befreiung Palästinas" (DFLP) "Volksfront für die Befreiung Palästinas - Generalkommando" (PFLP-GC) "Palästinensische Volkskampffront" (PPSF) "AL SAIQA" "Abu-Nidal-Organisation" (ANO) 2. - Politischer Extremismus - 115 In Berlin gibt es Gruppen bzw. lose Zusammenschlüsse dieser Palästinenser-Organisationen. 1990 boten sie in Berlin folgendes Erscheinungsbild: Die "FATAH" verfügt gegenwärtig noch über etwa 100 Mitglieder. Die Gruppe ist seit einigen Jahren in mehrere Fraktionen gespalten. Eine Führung der Berliner Gliederung gibt es derzeit nicht. Darüber hinaus wurde die diplomatische Vertretung der PLO in der ehemaligen DDR, die bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten noch einen gewissen Einfluß auf die Berliner "FATAH"-Gruppe ausübte, im Zuge der Vereinigung geschlossen und das Botschaftspersonal, das sich fast ausschließlich aus hochrangigen "FATAH"-Funktionären zusammensetzte, abgezogen. Gegenwärtig ist man bemüht, eine "Informationsstelle Palästina" (ISPA) in Berlin einzurichten. Diese Informationsstelle soll künftig die bisherigen Aufgaben der Botschaft übernehmen. Aufgrund des desolaten Gesamtzustandes der Gruppe gingen von ihr als Organisation im Berichtszeitraum keine sicherheitsgefährdenden Aktivitäten aus. Der Berliner Gruppe der PFLP gehörten 1990 etwa 25 Palästinenser an, die konspirativ in Zellen arbeiten. Die Gruppe wird von einem Kollektiv geleitet. Im Jahr 1990 führte die Gruppe kleinere Veranstaltungen durch, die alle störungsfrei verliefen. Der DFLP in Berlin gehörten 1990 etwa 30 Mitglieder an. Der DFLP-Zentrale in der Bundesrepublik Deutschland gelang es 1990, das organisatorische Tief in Berlin zu beseitigen und die Gliederungen zu konsolidieren. Die beiden DFLP-Gruppen im Westund Ostteil der Stadt wurden zusammengeschlossen. Eine neue Berliner Führung wurde gebildet. 116 2. - Politischer Extremismus - Die übrigen oben genannten Palästinenser-Organisationen wie die PFLP-GC, ANO, AL SAIQA und PPSF sind mit Einzelmitgliedern und Anhängern in Berlin vertreten. Die meisten Berliner Angehörigen dieser palästinensischen Widerstandsorganisationen sind außerdem im "Palästinensischen Arbeiterverein" (PAV) bzw. im "Palästinensischen Studentenverein" (PSV) in Berlin organisiert. Beide Vereinigungen fungierten als Sammelbecken der in Berlin lebenden Palästinenser. Zusammen verfügten sie über etwa 450 Mitglieder, die gleichzeitig als mobilisierbares Potential der extremistischen Palästinenser für Veranstaltungen, Aufzüge und Kundgebungen in Berlin angesehen werden konnten. Die Vorstände beider Vereinigungen wurden von der Berliner "FATAH" majorisiert. 1990 waren sowohl der PAV als auch der PSV weitestgehend inaktiv. Mit Beginn der Golfkrise am 2. August 1990 kam es auch in Berlin zu pro-irakischen Aktionen, die von irakischen Diplomaten initiiert wurden. Am 18. August 1990 fand auf Initiative der irakischen Botschaft im Ostteil der Stadt eine Demonstration gegen die Politik der USA und anderer westlicher Mächte in der Golfregion statt, an der etwa 200 Araber und Palästinenser teilnahmen. Ein sog. Arabisches Solidaritätskomitee führte am 29. September 1990 unter dem Motto "Krieg ist Völkermord" eine Demonstration durch, an der sich etwa 100 Angehörige der Berliner Gliederungen verschiedener PLO-Mitgliedsorganisationen beteiligten. 2.3.2.2 Islamisch-extremistische Palästinenserund Araber-Organisationen Neben den zuvor erwähnten PLO-Mitgliedsorganisationen stellten im Jahre 1990 islamisch-extremistische Palästinenserund AraberOrganisationen wegen ihrer Bejahung terroristischer Methoden eine latente Bedrohung der inneren Sicherheit Berlins dar. 2. - Politischer Extremismus - 117 Die in diesem Zusammenhang wichtigsten islamisch-extremistischen Palästinenserund Araber-Organisationen waren: "Islamische Widerstandsbewegung" (HAMAS) "Moslembruderschaft" mit ihrer radikalen Abspaltung "Islamische Avantgarden" "Hizb Allah" (Partei Gottes) AMAL-Bewegung "Hizb AIDa'Wa Al-Islamia" (Partei des Islamischen Rufs der Islamischen Mission) Diese Organisationen, die ihre Zentralen in den von Israel besetzten Gebieten, im Libanon und im Iran haben, verfügten 1990 in Berlin über Gliederungen mit zusammen etwa 80 bis 100 Mitgliedern. Von diesen Gruppen gemeinsam 1990 durchgeführte öffentliche Aktionen zeigten, daß die islamisch-extremistischen Organisationen in Berlin derzeit über eine weitaus größere Anhängerschaft verfügen als die in Berlin aktiven PLO-Mitgliedsorganisationen, nämlich ein mobilisierbares Potential von etwa 1.000 bis 3.000 Personen. Dieses Potential fand sich bei seit Beginn der Golfkrise von extremistischen Organisationen veranstalteten Demonstrationen ein. So' veranstalteten vor dem Hintergrund des "Massakers" auf dem Tempelberg in Jerusalem am 8. Oktober 1990 und der Golfkrise die genannten islamisch-extremistischen Gruppen am 27. Oktober 1990 eine Demonstration unter der Losung Frieden für die Al-Aksa-Moschee, an der sich etwa 1.100 Personen, in der überwiegenden Mehrzahl Mitglieder und Anhänger islamisch-extremistischer Gruppen in Berlin sowie Angehörige mehrerer PLO-Mitgliedsorganisationen, beteiligten. 2.3.3 Kurden In Berlin leben heute zwischen 35.000 und 50.000 Kurden verschiedener Staatsangehörigkeiten. Von diesen werden ungefähr 200 den extremistischen und extremistisch beeinflußten Kurden- 118 2. - Politischer Extremismus - Organisationen zugerechnet. Von den linksextremistischen KurdenOrganisationen in Berlin ist für die Beurteilung der Sicherheitslage der Stadt nur die linksextremistische, international agierende, gewaltorientierte "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) von Bedeutung. Diese Organisation, die sich fast ausschließlich aus türkischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit rekrutiert, war in den vergangenen Jahren für zahlreiche Terroranschläge und Morde in der Türkei sowie für Anschläge auf türkische Einrichtungen und deren Repräsentanten im Ausland verantwortlich. Gewaltakte bis hin zum Mord wurden darüber hinaus gegen "abtrünnige" PKK-Mitglieder sowie gegen Kritiker aus konkurrierenden Kurden-Organisationen verübt. Dem Gebietskomitee Berlin der PKK gehörten etwa 150 Mitglieder und Anhänger an. Treffund Versammlungsort der Gruppe ist das "Kurdische Kulturzentrum BOTAN in Berlin e.V." im Bezirk Kreuzberg. Über 80 % der Angehörigen der Berliner PKK-Gliederung sind zwischen 20 und 40 Jahre alt. Geleitet wird die Berliner Gruppe von einem sog. PKK-Reisekader, der sich in der Regel nur für einen begrenzten Zeitraum in der Stadt aufhält. Diese Kader treten als solche sehr selten öffentlich in Erscheinung. Öffentliche Aktionen der PKK in Berlin (wie Demonstrationen) werden grundsätzlich von offiziellen, den Sicherheitsbehörden namentlich bekannten PKK-Aktivisten angemeldet. Eine wichtige Aufgabe der Berliner PKK-Gruppe bestand 1990 in der propagandistischen Unterstützung des am 24. Oktober 1989 begonnenen Strafprozesses gegen 17 ehemals führende Funktionäre der PKK vor dem 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf. Die Anklage warf ihnen die Mitgliedschaft in bzw. Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, Mord, Freiheitsberaubung, gefährliche Körperverletzung u.a.m. vor. Im Vorfeld des Prozesses kam es zu zahlreichen bundesweiten Solidaritätsaktionen von PKK-Anhängern für die inhaftierten Parteifunktionäre. Im Zuge der Ermittlungen der Bundesanwaltschaft durchsuchte am 23. Januar 1990 die Polizei auf Ersuchen des Bundeskriminalamtes (BKA) 2. - Politischer Extremismus - 119 die Räume des Kurdischen Kulturzentrums BOTAN in Kreuzberg. Dabei wurden zahlreiche Unterlagen beschlagnahmt und die Personalien von 25 Personen festgestellt. Als Reaktion auf die Durchsuchungsaktion der Polizei führte die Berliner Gliederung der PKK am 27. Januar 1990 eine Protestdemonstration unter dem Motto Gegen die Diskriminierung der Kurden durch, an der sich etwa 120 Personen, etwa je zur Hälfte Kurden sowie Deutsche aus dem autonomen Bereich, beteiligten. In diesem Zusammenhang veranstaltete die Berliner PKK-Gruppe nicht nur in Berlin Protestaktionen, sondern beteiligte sich überdies auch an Großdemonstrationen in anderen Städten der Bundesrepublik. Als Kronzeuge für den Prozeß in Düsseldorf steht der Bundesanwaltschaft der ehemalige PKK-Funkionär Ali C. zur Verfügung. Das Landgericht Berlin verurteilte ihn am 26. März 1990 wegen der Beteiligung an der Ermordung des ehemaligen abtrünnigen PKK-Mitgliedes Murat B. am 4./5. Juni 1984 in Berlin zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren. Die PKK-Führung hat C , der in Berlin seine Haftstrafe verbüßt, inzwischen zum Tode verurteilt. Mit einem Anschlag gegen C. durch ein Mordkommando der PKK muß daher jederzeit gerechnet werden. Die Berliner PKK-Gruppe arbeitete im Berichtszeitraum auch mit deutschen linksextremistischen Organisationen wie der "Volksfront gegen Reaktion, Faschismus und Krieg" und der "Roten Hilfe" zusammen. So organisierten sie z.B. gemeinsam eine Demonstration am 28. April 1990 zur Situation in Türkisch-Kurdistan und eine Veranstaltung am 23. Mai 1990 zu den Themen Volksaufstand in Kurdistan und PKK-Prozeß in Düsseldorf im Audimax der Technischen Universität. Die PKK hat sich im Berichtszeitraum mit Gewalttaten zurückgehalten, um die Strafprozesse gegen ihre Mitglieder nicht zu beeinträchtigen. Dies ist auf eine Weisung der PKK-Führung zurückzuführen, in der Öffentlichkeit Zurückhaltung zu üben, um damit im Zusammenhang mit dem Prozeß in Düsseldorf zu dokumentieren, daß die PKK keine 120 2. - Politischer Extremismus - terroristische Organisation ist. Dieses Verhalten stellt jedoch nur eine taktische Maßnahme dar, die jederzeit wieder aufgehoben werden kann. 2.3.4 Türken 2.3.4.1 Linksextremisten Zu den gewaltorientierten linksextremistischen Türken-Organisationen, die in Berlin Aktivitäten entwickelten, gehören "Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/M-L), "Revolutionäre Kommunistische Partei der Türkei" (TDKP), "Türkische Volksbefreiungspartei/-front" (THKP/-C), die verbotene Türken-Organisation "Devrimci Sol" (Revolutionäre Linke) sowie ihre Nachfolgeorganisation in der Bundesrepublik Deutschland "Avrupa1 da'Dev Gene" (Revolutionäre Jugend in Europa). Diesen Organisationen bzw. Gruppen wurden in Berlin etwa 120 Personen (aktiver Kern) zugerechnet. Die in Berlin bestehende Gruppe der TKP/M-L mit etwa 50 aktiven Mitgliedern und nach hiesiger Schätzung weiteren 100 Anhängern entwickelte 1990 zahlreiche Aktivitäten. Wie auch in den vergangenen Jahren beteiligten sich auch 1990 Angehörige der TKP/M-L an gewaltsamen Auseinandersetzungen mit der Polizei bei Demonstrationen in Berlin (z.B. 1. Mai 1990). Darüber hinaus wurde festgestellt, daß sich die TKP/M-L in Berlin im Berichtszeitraum bei Spendensammlungen für den revolutionären Kampf in der Türkei zunehmend krimineller Methoden bedient. Im Rahmen einer derartigen Spendenaktion im April 1990 in Kreuzberg wurden türkische 2. - Politischer Extremismus - 121 Geschäftsleute - teilweise unter Androhung von Gewalt - um Spenden bzw. "Kleinkredite" für die TKP/M-L "gebeten". Im Falle einer Weigerung wurden anschließend die Schaufenster der Geschäfte zerschlagen. Im Zusammenhang mit dem Golfkonflikt führte die Berliner Gruppe der TKP/M-L gemeinsam mit den anderen oben genannten TürkenOrganisationen und der Berliner PKK-Gruppe mehrere Aktionen durch. Am 1. September 1990 veranstaltete sie eine Demonstration und Kundgebung gegen die Haltung der türkischen Regierung im Golfkonflikt. An der Demonstration beteiligten sich ca. 40 Personen. Vor dem Generalkonsulat der Türkei wurde eine kurze Kundgebung abgehalten. Die während der Veranstaltung verteilten Flugblätter waren von den "Sympathisanten der Revolutionären Kommunisten (BRD)" unterzeichnet. Bei dieser Gruppe handelt es sich um Anhänger der "Revolutionären Internationalistischen Bewegung" (RIM). Dieser 1984 entstandene Dachverband, dem weltweit etwa 20 Parteien und Organisationen, darunter die TKP/M-L, angehören, orientiert sich ideologisch am Marxismus/Leninismus in der Ausformung durch STALIN und MAO ZEDONG. Am 12. September 1990 führte die TKP/M-L unter Beteiligung der Berliner Gruppe der "Avrupa' da'Dev Gene" einen Fackelzug aus Anlaß des 10. Jahrestages der Machtübernahme durch das Militär in der Türkei durch, an dem sich etwa 250 Personen beteiligten und der mit einer Kundgebung endete, auf der in scharfer Form das amerikanische Engagement am Golf kritisiert wurde. Am 15. September 1990 fand auf dem Breitscheidplatz eine Kundgebung gegen den Krieg am Golf statt, die gemeinsam von der TKP/M-L, der "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) sowie der "Revolutionären Kommunistischen Partei der Türkei" (TDKP) organisiert worden war. 122 2. - Politischer Extremismus - An der Außenmauer der Gedächtniskirche wurde ein Transparent mit der Aufschrift Der Mittlere Osten wird dem Imperialismus und den reaktionären Kräften zum Grab befestigt. 2.3.4.2 Rechtsextremisten Die etwa 170 türkischen Rechtsextremisten in Berlin sind in den extrem-nationalistischen "Idealistenvereinen" organisiert, die sich an den Ideen und politischen Zielen der "Partei der Nationalistischen Arbeit" (MCP) in der Türkei orientieren. In Berlin gibt es vier dieser Idealistenvereine: "Großer Idealer Kreis Türkischer Kulturverein Berlin e.V." (BÜD) mit etwa 50 Mitgliedern, "Türkische Gemeinschaft in Berlin e.V." (BTO) mit etwa 50 Mitgliedern, "Vereinigung der türkischen Jugend in Berlin e.V." (BTGB) mit etwa 60 Mitgliedern, "Türkischer Studentenund Jugendverein Berlin e.V." (TÖGD) mit etwa 10 Mitgliedern. Sie sind in der Lage, für Groß-Veranstaltungen zwischen 500 und 1.000 Personen zu mobilisieren. Die "Idealistenvereine" in Berlin beschränkten ihre Aktivitäten im Berichtszeitraum größtenteils auf interne Zusammenkünfte und Veranstaltungen aus Anlaß nationaler und religiöser Feiertage. Diese Inaktivität war auf die 1987 erfolgte Spaltung des bundesweiten MCPorientierten Dachverbandes "Föderation der türkisch-demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V." (ADÜTDF) mit Sitz in Frankfurt am Main und die dadurch entstandenen jeweils vereinsinternen Streitigkeiten zurückzuführen. 2. - Politischer Extremismus - 123 Die BTO schloß sich zwischenzeitlich der neuentstandenen Dachorganisation "Union der türkisch-islamischen Kulturvereine" (TIKDB) mit Sitz in Frankfurt am Main an. Am 17. November 1990 fand in den Vereinsräumen des BÜD eine Zusammenkunft der Angehörigen der in Berlin ansässigen Idealistenvereine BÜD, BTO und BTGB statt, an der etwa 60 Personen teilnahmen. Ziel dieser Zusammenkunft war es insbesondere, die bestehenden Zwistigkeiten zwischen den "Idealistenvereinen" beizulegen und diese auf eine gemeinsame Linie einzuschwören. Es wurden auch Überlegungen zur verstärkten Mitgliederwerbung angestellt. Damit will man der wachsenden Ausländerfeindlichkeit der Deutschen begegnen, die sich nach Ansicht der Anwesenden insbesondere durch die Ablehnung des Ausländerwahlrechts durch das Bundesverfassungsgericht manifestiert habe. Von der Linie der Zurückhaltung in der Öffentlichkeit wichen die "Idealistenvereine" anläßlich der am 10. Februar 1990 in Berlin durchgeführten Protestdemonstration unter dem Motto Gegen die sowjetische Politik in Aserbaidschan ab, an der sich etwa 3.000 Personen beteiligten. 2.3.4.3 Islamisch-extremistische Türken Etwa 1.320 Türken sind in Berlin in der "Islamischen Föderation in Berlin e.V." organisiert. Dieser Dachverband von über 20 Vereinigungen in Berlin wird maßgeblich von der islamisch-extremistischen "Vereinigung der Neuen Weltsicht in Europa e.V." (AMGT) mit Sitz in Köln beeinflußt, die die Ideen und politischen Ziele der islamischextremistischen "Wohlstandspartei" (RP) in der Türkei vertritt. Öffentliche Aktivitäten, die die innere Sicherheit Berlins gefährdeten, gingen 1990 von der "Islamischen Föderation in Berlin e.V." nicht aus. Es gab Bemühungen der Föderation, an Berliner Schulen Unterricht in der islamischen Lehre erteilen zu dürfen. 124 2. - Politischer Extremismus - Als weitere islamisch-extremistische Türken-Vereinigung in Berlin ist das "Muslimen Treffund Kulturzentrum" zu nennen, in dem etwa 20 Türken organisiert sind. Diese Vereinigung orientiert sich an den Lehren des unter der Bezeichnung "türkischer KHOMEINI" bekannten Cemaleddin KAPLAN und bezeichnet sich öffentlich als Berliner Repräsentantin des von KAPLAN geführten Verbandes der "Islamischen Vereine und Gemeinden e.V. Köln" (ICCB). Nennenswerte Aktivitäten entwickelte die Vereinigung in Berlin 1990 nicht. 2.3.5 Iraner In den in Berlin bestehenden extremistischen Vereinigungen von Iranern sind etwa 140 Personen organisiert. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der islamisch-extremistische Bereich, zu dem insbesondere die "Union Islamischer Studentenvereine in Europa" (U.I.S.A.) mit ihrem Berliner Mitgliedsverein "Verein islamischer Studenten in Berlin (West) e.V." - etwa 20 Mitglieder - gehört. In den in der U.I.S.A. zusammengeschlossenen Vereinigungen sind fanatische Anhänger des iranischen Mullah-Regimes organisiert. Die U.I.S.A. wird vom Iran aus bzw. von den entsprechenden iranischen diplomatischen Vertretungen im Ausland gesteuert. Die U.I.S.A.-Vereinigungen arbeiteten auch 1990 mit anderen islamisch-extremistischen Organisationen (u.a. "Hizb Allah") zusammen. Ferner waren in Berlin extremistische Iraner-Organisationen aktiv, die in Opposition zum Mullah-Regime im Iran stehen. Zu diesen gehörte die gewaltorientierte linksextremistische "Organisation der Iranischen Studenten in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin - Sympathisanten der Volksfedayin Guerilla Iran" (O.I.P.F.G.), die über eine kleine Gruppe von Anhängern in Berlin verfügt. An weiteren extremistischen Gruppen sind in Berlin tätig: die marxistisch geprägte islamisch-fundamentalistische "Organisation der Volksmojahedin Iran" (PMOI), deren Ziele in Berlin der "Moslem-Studentenverein West-Berlin" mit etwa 50 Mitgliedern vertritt, und 2. - Politischer Extremismus - 125 der monarchistische "Rat der Konstitutionellen Monarchie im Iran" (R.K.M.I.). dessen Berliner Gliederung etwa 60 Mitglieder zählt. 2.3.6 Ausblick Solange der seit Jahrzehnten andauernde arabisch/israelische Konflikt, innerpalästinensisch/arabische Spannungen und andere mit der Golfregion zusammenhängende Probleme nicht gelöst sind, ist mit Terroranschlägen palästinensischer, arabischer und extremistisch/islamisch-fundamentalistischer Organisationen gegen Institutionen und Personen im westlichen Ausland weiterhin zu rechnen. In Berlin ist die Gefährdungslage wegen der hier bestehenden zahlreichen, insbesondere arabischen diplomatischen Vertretungen (Außenstellen der Botschaften), sowie wegen des im Vergleich zu anderen Bundesländern hohen Anteiles an Arabern und Palästinensern unter den ausländischen Mitbürgern besonders groß. Aus diesem Grund haben die deutschen Sicherheitsbehörden 1990 den palästinensischen bzw. arabischen Extremisten die größte Aufmerksamkeit gewidmet. Eine Gefahr für die innere Sicherheit Berlins dürfte auch von den hier aktiven gewaltorientierten linksextremistischen Türken-Organisationen ausgehen, die bemüht sind, das Potential vor allem jugendlicher, meist unpolitischer türkischer Gewalttäter, bei größeren öffentlichen Veranstaltungen für ihre Ziele einzusetzen. Zumindest bei der TKP/M-L und der THKP/-C gibt es darüber hinaus Anzeichen, daß beide Gruppen mit gewaltbereiten deutschen Gruppen (Autonome, militante Antifa-Gruppen) zusammenarbeiten. Von den rechtsextremistischen bzw. islamisch-extremistischen TürkenVereinigungen in Berlin geht derzeit keine akute Beeinträchtigung der Sicherheitsfage aus. Da die Weisung der PKK-Führung im Zusammenhang mit dem derzeitigen Prozeß in Düsseldorf, in der Öffentlichkeit Zurückhaltung zu üben, jederzeit wieder aufgehoben werden kann, stellt auch die PKK eine Bedrohung dar, die schnell virulent werden kann. 126 2. - Politischer Extremismus - Aufgrund der nunmehr unkontrollierten Zugangsmöglichkeit nach Berlin ist künftig auch mit terroristischen Aktivitäten der PIRA gegen Einrichtungen und Personen der hier stationierten britischen Streitkräfte zu rechnen. 2.3.7 Sonderthema: Terroraktionen im Bereich des Ausländerextremismus in Berlin, Anschläge und Attentate mit staatsterroristischem Hintergrund 2.3.7.1 Abgrenzungskriterien Unter Staatsterrorismus versteht man im allgemeinen sowohl die Durchführung terroristischer Aktionen durch staatliche Stellen gegen Einrichtungen und Bürger eines anderen Staates unterhalb der Schwelle eines offenen Krieges ("Ersatzkrieg") als auch die von Regierungen bzw. staatlichen Stellen ausgehenden Repressionsmaßnahmen gegen im Ausland lebende Regimegegner. Der Staatsterrorismus als besondere Erscheinungsform des internationalen Terrorismus hat seinen wesentlichen Ursprung im arabisch-israelischen Konflikt. Aus diesem Konflikt entwickelte sich auch die erste Komponente des Staatsterrorismus, als "Ersatzkrieg" bezeichnete terroristische Aktionen, die im Auftrag von Staaten und unter Mitwirkung staatlicher Stellen gegen Einrichtungen und Bürger anderer Staaten durchgeführt werden, wobei Auftrag und Mitwirkung von der ausländischen Macht abgetarnt und geleugnet werden. Die Mächte im Hintergrund vermeiden auf diese Art, die Schwelle zur offenen kriegerischen Auseinandersetzung zu überschreiten. Die zweite Komponente des Staatsterrorismus definierte das Bundesamt für Verfassungsschutz 1983 wie folgt: Staatsterrorismus ist der systematisch geführte Kampf einer ausländischen Macht zur Aufrechterhaltung ihrer eigenen Herrschaft mittels Gewaltandrohung und Gewaltmaßnahmen gegen Regimegegner auch außerhalb des jeweiligen Staatsgebietes. 2. - Politischer Extremismus - 127 Die terroristischen Mittel, mit denen staatliche Stellen gegen im Ausland lebende Oppositionelle vorgehen, reichen von Bedrohung und Nötigung über Körperverletzung bis zu Entführung und Mord. Die Aktionen dienen nicht allein der Einschüchterung und Ausschaltung einzelner Regimegegner, sondern auch der Verunsicherung und Disziplinierung aller anderen Oppositionellen. Darüber hinaus zielen Anschläge gegen im Ausland lebende Regimegegner auch darauf ab, die Regierungen der Länder, in denen Regimegegner Zuflucht gefunden haben, zur Nachgiebigkeit gegenüber dem verfolgenden Staat zu veranlassen (z.B. durch Versagen von Asylbegehren oder durch Auslieferung von Regimegegnern). 2.3.7.2 Träger staatsterroristischer Bestrebungen Staatsterroristische Aktionen bedürfen einer intensiven und speziellen Vorbereitung. Die Geheimdienste ausländischer Mächte sind aufgrund ihrer personellen, sachlichen und finanziellen Ausstattung sowie wegen der grundsätzlichen Tarnung ihrer Maßnahmen für solche Aktionen am besten geeignet. Die Durchführung staatsterroristischer Aktionen wird in der Regel von angeworbenen Einzelpersonen oder von eingesetzten Terrorkommandos vorgenommen. Nach Erkenntnissen der deutschen Sicherheitsbehörden, die z.T. auf nunmehr zugänglich gewordenen Materialien des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR basieren, sind die Geheimdienste einzelner Staaten im Nahen Osten als Träger staatsterroristischer Bestrebungen in der Bundesrepublik Deutschland anzusehen. 2.3.7.3 Diplomatische Vertretungen als Basen für staatsterroristische Operationen Staatsterroristische Aktionen bedürfen zu ihrer Vorbereitung und Durchführung einer sicher erscheinenden Operationsbasis. Staaten, die im Exil lebende Oppositionelle bekämpfen und töten bzw. Terroraktionen gegen Einrichtungen im Ausland vorbereiten wollen, müssen in dem Land, in dem sie ihre Aktionen durchführen, über einen vor Ermittlungen und Verfolgungen sicheren Ausgangspunkt verfügen. Ideale Basen für staatsterroristische Operationen im Ausland sind deshalb diplomatische Vertretungen. Von dort aus können die 128 2. - Politischer Extremismus - Geheimdienste ohne die Gefahr der Enttarnung logistische Vorbereitungen treffen, d.h. Waffen, Munition, Sprengstoff beschaffen, Mordkommandos einweisen und einsetzen sowie Dokumente zur Ausschleusung der Kommandoangehörigen herstellen und bereithalten. Die mit der Vorbereitung von staatsterroristischen Aktionen betrauten Angehörgen diplomatischer Vertretungen brauchen wegen ihres Status keine Strafverfolgung zu befürchten. 2.3.7.4 Aktivitäten in Berlin mit staatsterroristischem Hintergrund Der Westteil Berlins war seit jeher ein bevorzugtes Ziel von asylsuchenden Regimegegnern von Staaten im Nahen und Mittleren Osten. Dies liegt zum einen an dem relativ liberalen Asylrecht der Bundesrepublik Deutschland und zum anderen an der hohen Konzentration von Ausländern gerade im Westteil der Stadt. Seit etwa Anfang der 80er Jahre verfolgen einzelne Regime im Nahen Osten im Ausland lebende regimefeindliche Staatsbürger mit Terrorakten. Der Westteil Berlins war in der Vergangenheit mehrfach Ziel entsprechender Aktionen. Am 1. August 1980 wurden zwei Mitarbeiter der irakischen Botschaft in der ehemaligen DDR im Westteil Berlins festgenommen, nachdem sie einem irakischen Kurden einen Koffer mit hochbrisantem Sprengstoff übergeben hatten. Der Kurde, der sich zuvor der Polizei offenbart hatte, sollte den Sprengsatz im Tagungslokal der "Vereinigung Kurdischer Studenten im Ausland" (AKSA) zur Detonation bringen, einer Organisation, die -das Programm der in Opposition zum irakischen Baath-Regime stehenden "Patriotischen Union Kurdistans" (PUK) vertritt. Der Kurde wäre bei erfolgter Explosion mit Sicherheit selbst ums Leben gekommen. Die irakischen Diplomaten wurden am 17. Dezember 1980 nach Bagdad abgeschoben. Am 29. März 1981 durchsuchte die Berliner Polizei die Wohnung und die Geschäftsräume eines damaligen Funktionärs der von Syrien gesteuerten Palästinenser-Organisation "SAIQA" in Berlin wegen des Verdachts der Vorbereitung eines Sprengstoffverbrechens. Dabei 2. - Politischer Extremismus - 129 wurde ein kurz zuvor aus Beirut illegal eingereister Palästinenser festgenommen. In der Reisetasche des Festgenommenen wurden vier in zwei Zahnpastatuben versteckte Sprengkapseln gefunden. Es konnte nicht abschließend geklärt werden, welches Anschlagsziel hier vorgesehen war. Bei einer Sprengstoffexplosion am 22. März 1982 in einem Hotelzimmer in Berlin-Wilmersdorf wurden zwei äthiopische Staatsangehörige lebensgefährlich verletzt. Einer von ihnen erlag seinen schweren Verletzungen, der andere wurde am 16. Mai 1982 nach Äthiopien abgeschoben. Am Explosionsort wurde ein nicht gezündeter Sprengkörper mit 460 g hochbrisantem Sprengstoff und Zündvorrichtung, versteckt in einem präparierten Buch, gefunden. Weitere Unterlagen wiesen darauf hin, daß die Äthiopier einen Anschlag auf einen deutschen Mitarbeiter der evangelischen Kirche, der öffentlich gegen die Unterdrückung von Minderheiten in Äthiopien protestiert hatte, geplant hatten. Am 30. Juli 1984 wurde der wohnungslose libysche Staatsangehörige Mustafa E. in einer Parkanlage in Berlin-Tiergarten durch drei Kopfschüsse ermordet aufgefunden. Nach den Ermittlungen der Polizei wurde E. von einem Palästinenser, der zumindest zum damaligen Zeitpunkt Kontakt zu libyschen Stellen unterhielt, erschossen. In seinem Asylantrag hatte E. angegeben, in Libyen für eine Oppositionsgruppe gearbeitet zu haben. Nach seinen eigenen Angaben hatte ihn ein Angehöriger der libyschen diplomatischen Vertretung im Ostteil Berlin erfolglos aufgefordert, nach Libyen zurückzukehren. Am 29. März 1986 gegen 21.00 Uhr wurde ein Sprengstoffanschlag auf ein Wohnhaus in Berlin-Kreuzberg verübt. Der Sprengsatz war im 1. Stock des zwölfgeschossigen Hauses vor den Vereinsräumen der "Deutsch-Arabischen Gesellschaft Berlin e.V." (DAGB) abgestellt worden. Bei dem Anschlag wurden zwei Personen schwer, neun weitere leicht verletzt. Darüber hinaus entstand erheblicher Sachschaden, u.a. auch an den umliegenden Gebäuden. Nach 130 2. - Politischer Extremismus - Feststellung der Polizei handelte es sich bei der Sprengladung um einen unverdämmten Sprengsatz von drei bis fünf Kilo gewerblichen Sprengstoffes. Am 20. April 1986 wurde gegen den in Berlin wohnhaften Palästinenser Ahmad H. Haftbefehl wegen des Verdachts der Beihilfe zur Vorbereitung eines Sprengstoffverbrechens erlassen. Bei der Durchsuchung der Wohnung von H. wurde u.a. eine Visitenkarte der DAGB gefunden, auf deren Rückseite sich eine Skizze, die wahrscheinlich die Räumlichkeiten dieses Vereins wiedergab, befand. H. gab nach längeren Vernehmungen schließlich zu, den Anschlag auf das Büro der DAGB zusammen mit einem ebenfalls verhafteten Jordanier begangen zu haben. Beide erklärten gegenüber der Polizei, den für die Tat benutzten Sprengsatz von der syrischen Botschaft im Ostteil der Stadt erhalten zu haben. Als Motiv für den Sprengstoffanschlag gab H. eine von ihm vermutete Zusammenarbeit der DAGB mit dem israelischen Nachrichtendienst Mossad an. Am 26. November 1986 wurden H. und der Mittäter zu 14 bzw. 13 Jahren Haft verurteilt. Am 5. April 1986 gegen 01.45 Uhr explodierte in der Diskothek "La Belle" in Berlin-Schöneberg ein Sprengsatz. Zum Zeitpunkt der Explosion hielten sich etwa 280 Personen, überwiegend Deutsche und Amerikaner, in der Diskothek auf. Bei dem Anschlag wurden drei Personen getötet, über 230 Personen wurden verletzt. Darüber hinaus entstand beträchtlicher Sachschaden. Nach Angaben der Polizei war der aus etwa drei bis fünf Kilo gewerblichen Sprengstoffs bestehende Sprengsatz neben der Bar in unmittelbarer Nähe der Tanzfläche explodiert. Die inzwischen den Strafverfolgungsbehörden der Bundesrepublik Deutschland vorliegenden Unterlagen des ehemaligen MfS der DDR verstärkten den Ursprungsverdacht westlicher Sicherheitsbehörden, daß libysche Stellen Drahtzieher dieses Anschlages waren. Inzwischen wurde gegen den Libanesen Daher F. Haftbefehl erlassen. F. soll in der Nacht zum 5. April 1986 mit einer Bombe, die er in seiner 2. - Politischer Extremismus - 131 Jacke versteckt hatte, in die Diskothek "La Belle" gegangen sein und den Sprengkörper in der Nähe der Tanzfläche deponiert haben. Am 2. Mai 1986 wurde im Treptower Volkspark der ehemalige Mitarbeiter der libyschen diplomatischen Vertretung in Bonn Mohammed A. durch Genickschuß ermordet aufgefunden. Aus Ermittlungsunterlagen des ehemaligen MfS wurde den Berliner Strafverfolgungsbehörden bekannt, daß der libysche Geheimdienst A. als vermeintlichen Agenten liquidieren ließ. 2.3.7.5 Geplante bzw. durchgeführte Anschläge ausländischer Terror-Organisationen in Berlin Am 24. und 26. April 1979 wurden insgesamt sieben Palästinenser, die der Palästinenser-Organisation "AL FATAH" zuzurechnen waren, von der Polizei festgenommen. Die Palästinenser hatten geplant, Anschläge auf den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und auf ein Tanklager in Berlin-Lankwitz zu verüben. Am Morgen des 24. April 1979 wurden bei einer polizeilichen Durchsuchung einer Wohnung in Berlin-Kreuzberg zwei Palästinenser des Kommandos, die illegal nach Berlin eingereist waren, festgenommen. In der Wohnung wurden in einer Zigarettenschachtel 12 Zündkapseln sichergestellt. Ein in der Wohnung befindlicher, mit ca. 18 kg Sprengstoff gefüllter Koffer wurde bei der Durchsuchung zwar entdeckt, aber nicht sichergestellt, da der Inhalt des Koffers wegen der raffinierten Tarnung nicht als Sprengstoff erkannt worden war. Am Abend des 24. April wurde dieser Koffer von zwei weiteren Angehörigen des Kommandos aus der polizeilich versiegelten Wohnung in Kreuzberg abgeholt und am 25. April in einem Schließfach am Bahnhof Zoo deponiert. Dort konnte am Abend des 25. April ein Palästinenser, der den Koffer wieder abholen wollte, festgenommen und der Koffer sichergestellt werden. Am 26. April konnte der Rest des 7köpfigen Kommandos festgenommen werden. 132 2. - Politischer Extremismus - Die Kommando-Mitglieder wurden am 24. April 1980 zu Haftstrafen von zweieinhalb bzw. dreieinhalb Jahren verurteilt. Im Zusammenhang mit Festnahmen von Exilkroaten am 30. November 1981 in der Schweiz und am 2. Dezember 1981 in Darmstadt sowie dem dortigen Auffinden von 160 kg Sprengstoff konnte die Polizei in Berlin am 9. Dezember 1981 eine aus Exilkroaten bestehende terroristische Gruppe zerschlagen, die Anschläge auf jugoslawische Einrichtungen in Berlin geplant hatte. Die Polizei fand bei der Gruppe Sprengkapseln, Sprengzünder, eine Pistole einschl. Munition sowie 27 kg Sprengstoff. Drei Angehörige der Gruppe, die im Besitz der Sprengmittel waren, wurden am 14. Dezember 1982 zu Freiheitsstrafen zwischen zwei Jahren/acht Monaten und vier Jahren verurteilt. Bei einem Sprengstoffanschlag am 15. Januar 1982 auf das Restaurant "mifgash israel" in Berlin-Wilmersdorf wurden 25 Personen zum Teil schwer verletzt, ein Kleinkind erlag drei Tage später seinen Verletzungen. In anonymen Anrufen bei den Presseagenturen dpa in Berlin und Reuter in Beirut bezichtigten sich ein "Volksbund freies Palästina" und eine "Arabische Organisation 15. Mai", den Anschlag begangen zu haben. Bei der 1979 gegründeten "Arabischen Organisation 15. Mai", auch "PFLP-Kommando 15. Mai" genannt, handelt es sich um eine radikale Abspaltung der PLO-Mitgliedsorganisation "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP). Die Organisation, die ihre Basis im Irak hat, zeichnete Anfang der 80er Jahre für zahlreiche Anschläge gegen israelische Einrichtungen in Europa verantwortlich. Seit etwa Mitte der 80er Jahre ist die Gruppe nicht mehr in Erscheinung getreten. Der Begriff "Volksbund freies Palästina" tauchte erstmals in der Bekennung zum Anschlag auf das Restaurant "mifgash israel" auf. Möglicherweise war damit die PFLP gemeint. Der oder die Attentäter konnten nicht gefaßt werden. 2. - Politischer Extremismus - 133 Am 25. August 1983 ereignete sich im Maison de France in BerlinCharlottenburg eine Sprengstoffexplosion, bei der eine Person getötet und 23 Personen zum Teil schwer verletzt sowie erheblicher Sachschaden angerichtet wurden. Kurz nach dem Anschlag rief eine unbekannte männliche Person beim Berliner afp-Büro an und übermittelte in französischer Sprache mit arabischem Akzent die Worte ASALA-Attentat-France. Der Ursprungsverdacht, daß die armenische Terrororganisation "Geheime Armenische Befreiungsarmee" (ASALA) den Anschlag durchgeführt hatte, erhärtete sich nicht. Mit Poststempel vom 4. Oktober 1983 ging bei der deutschen Botschaft in Dschidda/Saudi-Arabien ein handschriftliches Bekennerschreiben in englischer Sprache zum Anschlag auf das Maison de France ein, das mit Organisation des bewaffneten arabischen Kampfes, Arm der arabischen Revolution: Carlos unterzeichnet war und zwei sichtbar angebrachte Fingerabdrücke aufwies. Dem Schreiben war eine handgefertigte Skizze mit Markierung des Ortes, an dem nach Angaben des Verfassers der Sprengsatz deponiert worden war,beigefügt. In dem Schreiben wurde der Anschlag als Warnung bezeichnet, die in der Schweiz inhaftierte, der Beteiligung an dem OPEC-Anschlag in Wien am 21.Dezember 1975 verdächtigte deutsche Terroristin Gabriele KRÖCHER-TIEDEMANN an die Bundesrepublik Deutschland auszuliefern. Die erwähnten Fingerabdrücke konnten vom Bundeskriminalamt zweifelsfrei als die des international gesuchten Terroristen lllich RAMIREZ-SANCHEZ alias "Carlos" identifiziert werden. Am 5. Juni 1984 wurde in Berlin-Tiergarten der ehemalige PKKFunktionär Murat B.ermordet aufgefunden. B. hatte sich 1983 von der PKK abgewendet und befand sich seitdem auf der Flucht. Als einer der Täter konnte der frühere PKK-Spitzenfunktionär Ali C. ermittelt werden. C. wurde im September 1988 in Schweden festgenommen und später an die Bundesrepublik Deutschland ausgeliefert. Am 26. März 1990 verurteilte das Landgericht Berlin C. wegen gemeinschaftlichen Mordes an B. zu einer fünfjährigen Haftstrafe. 134 2. - Politischer Extremismus - Am 25. Juni 1984 wurden bei einer polizeilichen Untersuchung einer Wohnung eines Mitgliedes der PFLP in Berlin zwei mit Sprengstoff präparierte Koffer sichergestellt. Gegen das zum Zeitpunkt des Auffindens der Koffer untergetauchte PFLP-Mitglied und zwei weitere, der PFLP-Abspaltung "Arabische Organisation 15. Mai" angehörende Palästinenser wurden Fahndungsmaßnahmen eingeleitet, die nicht zum Erfolg führten. Am 30. November 1988 überfielen fünf Maskierte, zwei von ihnen bewaffnet, eine Filiale eines türkischen Bankinstituts in BerlinKreuzberg. Sie fesselten zwei Bankangestellte und drei Kunden. Anschließend beschmierten sie die Wände u.a. mit den Parolen Tod dem Faschismus in der Türkei und Der einzige Weg ist die Revolution und beschädigten die Fernschreibund Telefonanlage. Die Täter, die unerkannt entkommen konnten, hinterließen Bekennerschreiben der "Türkischen Volksbefreiungspartei/-front" (THKP/-C). Am 7. Dezember 1988 überfielen drei bewaffnete, maskierte Männer, offensichtlich Türken, das in Berlin-Charlottenburg gelegene Büro der Berliner Redaktion der türkischen Tageszeitung "Hürriyet". In den Redaktionsräumen hielten sich der Angestellte Süleyman S. und sein dort zufällig anwesender Vater Mustafa S. auf. Einer der Täter verletzte Mustafa S. durch einen Kopfschuß. Anschließend fesselten die Täter ihre Opfer mit Handschellen an einen Heizkörper. Die Täter, die unerkannt entkamen, hinterließen eine Selbstbezichtigung einer "Zelle Hüseyin Cevahir der THKP/-C", das mit den Losungen Der einzige Weg ist die Revolution, Kampf bis zur Befreiung und Es lebe die THKP/-C Zelle Hüseyin Cevahir endet. 3. - Spionageabwehr - 135 3. Spionageabwehr 136 3. - Spionageabwehr - 3.1 Veränderung der Abwehrlage im Jahre 1990 Die jahrzehntelang von der DDR ausgehende Spionagebedrohung der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West) war der arbeitsintensivste Bereich der Spionageabwehr der Verfassu ngsschutzbehörden. Im Hinblick darauf war das Jahr 1990 durch den Umstand gekennzeichnet, daß die Spionageaktivitäten, die von den beiden Nachrichtendiensten der damaligen DDR "Ministerium für Staatssicherheit (MfS)", zuletzt "Amt für Nationale Sicherheit (ANS)" "Verwaltung Aufklärung" (militärischer Nachrichtendienst), zuletzt "Informationszentrum des Ministeriums für Nationale Verteidigung" ausgegangen waren, durch deren Auflösung im Zuge der politischen Veränderungen zum Erliegen gekommen waren. Dies hatte zur Folge, daß für den Berichtszeitraum des Jahres 1990 keine Erkenntnisse über Aufträge der ehemaligen DDRNachrichtendienste gegen die Belange der Bundesrepublik und Berlin (West) anfielen. Gleichwohl wurden im Berichtszeitraum 1990 189 Erkenntnisfälle bezüglich Spionageaktivitäten der DDR-Nachrichtendienste erfaßt, die aber sämtlich auf das Jahr 1989 und frühere Jahrgänge zurückgehen. 3. - Spionageabwehr - 137 3.2 Kurzer Abriß zur Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit Schon bald nach den als "Wende" bezeichneten politischen Ereignissen in der ehemaligen DDR Anfang November 1989 wurden aus der aufbegehrenden Bevölkerung Stimmen laut, die in der Forderung nach Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gipfelten. Als Folge davon wurde am 18. November 1989 Wolfgang SCHWANITZ zum Leiter des "Amtes für Nationale Sicherheit" ernannt, das das bisherige MfS ersetzen sollte. Noch im Dezember 1989 wurde auf Druck der Bevölkerung und des "Runden Tisches" mit der Entlassung von Mitarbeitern und der Auflösung von Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen des MfS/ANS begonnen. Die Anfang Februar 1990 durch den damaligen DDR-Ministerrat erfolgte Einsetzung des "Komitees zur Auflösung des ehemaligen MfS/ANS" führte dazu, daß die ursprünglich bis Juni 1990 vorgesehene Auflösung des MfS zielstrebig durchgeführt und hinsichtlich des nach innen gerichteten Repressionsapparates bis Ende März/Anfang April 1990 zum Abschluß kam. Abweichend von der Absicht, diese mit dem Bereich "Innere Sicherheit" befaßten Teile des MfS aufzulösen, gab es im damaligen Ministerrat der DDR unter Ministerpräsident MODROW Pläne, den Aufklärungsbereich des MfS, die "Hauptverwaltung Aufklärung (HVA)", in einen "Auslandsnachrichtendienst" umzuwandeln. Aus diesem Grunde wurde Anfang Januar 1990 die Abtrennung der HVA und ihres nachgeordneten Bereiches in den Bezirksverwaltungen (BV) und Kreisdienststellen (KD) vom MfS verfügt. Gleichzeitig wurde jedoch auf Betreiben des schon genannten "Komitees" der Personalabbau durch Entlassungen auch bei der HVA vorangetrieben. Nach dem veröffentlichten Stellenplan hatte die HVA vor Beginn der Auflösung einen Personalbestand von 4328 hauptamtlichen Mitarbeitern in der Zentrale zuzüglich der 1200 Mitarbeiter, die in den Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen der HVA-Linie zugeordnet waren. Dazu erklärte der Regierungsbeauftragte 138 3. - Spionageabwehr - FISCHER am 12. März 1990, daß der noch verhandene Personalbestand bis zum Juni 1990 auf 250 Mitarbeiter verkleinert werden solle. Anfang März 1990 wurde der Restbestand der HVA aus den Gebäuden der ehemaligen MfS-Zentrale in Berlin-Lichtenberg in ein Objekt an der Roedemstraße (Nähe Orankesee) in Berlin-Weißensee verlegt. Die genannten Pläne zum Aufbau eines Auslandsnachrichtendienstes der DDR wurden jedoch von der Regierungskoalition der bei den Wahlen vom 18. März 1990 siegreichen "Allianz für Deutschland" nicht weiter verfolgt. Nach einer Verlautbarung des Innenministeriums vom 25. April 1990 soll die nachrichtendienstliche Tätigkeit der HVA schon zu diesem Zeitpunkt seit "mehreren Monaten" vollständig eingestellt worden sein. Es wurden jedoch "Einzelaktionen zur Abwicklung und Absicherung der Beendigung der nachrichtendienstlichen Tätigkeit sowie zur Regelung humanitärer Fragen noch bis Juni 1990" eingeräumt. Vorliegende Erkenntnisse, insbesondere im Zusammenhang mit dem Fall des Beamten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, K., belegen jedoch, daß noch im September 1990 Betreuungsaktivitäten zu verzeichnen waren, obwohl nach offizieller Lesart die Auflösung der HVA als Organisationseinheit bereits zum 30. Juni 1990 erfolgt war. 3. - Spionageabwehr - 139 3.3 Gewonnene Erkenntnisse über die Spionagebedrohung Frühere Einschätzungen über Aggressivität und Umfang der von den Nachrichtendiensten der DDR betriebenen Spionage entsprachen wegen des Fehlens umfassender Informationen nicht der realen Bedrohungslage. Erst nach Öffnung der Grenze im Jahre 1989 wurde ein realistischer Informationsstand erreicht. Dies wurde im wesentlichen möglich aufgrund von Aussagen hauptamtlicher sowie inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Nachrichtendienste, die als Überläufer oder Informationspendler zum LfV Kontakt gesucht hatten. Im Berichtszeitraum 1990 waren dies fast einhundert Personen, die aus den unterschiedlichsten Teilbereichen der früheren DDRNachrichtendienste stammten. Die bisher gewonnenen Erkenntnisse reichen von Strukturund Methodikerkenntnissen, über Hinweise zur Enttarnung von Agenten bis hin zu solchen Sachverhalten, die zwar über den Rahmen der Spionageabwehr hinausgehen, gleichwohl aber von politischer Bedeutung sind; z.B. Bespitzelung der inneren Opposition in der DDR; Beziehungen des Staatssicherheitsdienstes zu Terroristen; (angebliche) Spitzelverpflichtungen von Personen des öffentlichen Lebens in der DDR. Nach der Staatsvereinigung am 3. Oktober 1990 und der Ausdehnung des Zuständigkeitsbereichs des LfV auf das Gebiet Gesamtberlins wurden ehemalige MfS-Mitarbeiter durch die Verfassungsschutzbehörde im ehemaligen Ost-Berlin gezielt angesprochen und befragt. 3.3.1 Gründe für die Aussagebereitschaft Die Staatssicherheitsbediensteten genossen in der früheren DDR eine Reihe von Privilegien, zu denen insbesondere deutlich über dem Durchschnitt liegende Vergütungen zählten. Nach der Auflösung ihrer Organisationseinheiten mußten dann viele von ihnen einen sozialen Abstieg, hervorgerufen durch Arbeitsund Perspektiviosigkeit, 140 3. - Spionageabwehr - hinnehmen. Häufig versuchten sie daher, ihre Aussagebereitschaft gegenüber dem LfV mit Forderungen nach Geld, Wohnung und Beschäftigung zu verbinden. In keinem Fall wurde solchen Wünschen entsprochen. 3.3.2 Zielrichtungen der nachrichtendienstlichen Angriffe Aus den Befragungen von Überläufern und Informationspendlern sind in Berlin bisher über siebzig polizeiliche Ermittlungsverfahren entstanden. Die Hinweise stammen sowohl von Überläufern, die vom LfV befragt wurden als auch von solchen, die ihre Angaben gegenüber befreundeten Nachrichtenbehörden gemacht haben. Die Spionageaktivitäten richteten sich auf folgende Ziele: Senatsgästehaus Bundeshaus in Berlin Behörden Politische Parteien Rundfunkanstalten Technische Universität Privatwirtschaft (illegaler TechnologietränsfefT arabische Terrorszene Polizei Verfassungsschutz. So hat beispielsweise ein Ehepaar, das langjährig im Senatsgästehaus als sog. Tafeidecker arbeitete, alle ihm bekanntgewordenen Informationen und Beobachtungen über Politiker und andere 3. - Spionageabwehr - 141 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens an den Staatssicherheitsdienst berichtet. Das Agentenehepaar verfügte über ein aufwendiges Infrarotsendegerät, mit dem es seine Informationen über die Mauer hinweg an die Führungsstelle des Staatssicherheitsdienstes übermitteln konnte. In einem weiteren Fall wurde das Institut für Luftund Raumfahrttechnik durch eine dort Beschäftigte für das MfS ausgeforscht. Die Frau war das Opfer ihrer Zuneigung zu ihrem Führungsoffizier geworden, der auftragsgemäß ihre angeblich private Bekanntschaft gemacht hatte. Ein anderer Agent hatte den Auftrag, Kontakte zu Fremdsprachensekretärinnen zu suchen, die bei alliierten Dienststellen beschäftigt waren oder perspektivisch dort eingesetzt werden könnten. Er ist geständig, dem MfS etwa 30 - 40 Frauen benannt zu haben. Der Agent hatte totalgefälschte Personalpapiere und einen sogenannten "Wohnstützpunkt" (Aufenthaltsort ohne meldebehördliche Registrierung) benutzt. 3.3.3 Aufdeckung von Verratsfällen In einer Reihe von äußerst schwerwiegenden Verratsfällen wurden die ersten Verdachtshinweise in gezielten Befragungen von ehemaligen MfS-Angehörigen durch das LfV bekannt; die weitere Bearbeitung erfolgte mangels örtlicher Zuständigkeit durch Sicherheitsbehörden im bisherigen Bundesgebiet und führte zu einer Serie von Enttarnungen von Agenten, so z.B. im Falle des im Bereich "Operative Spionageabwehr" des Bundesamtes für Verfassungsschutz tätigen Oberamtsrates K., der aufgrund seiner Verwendung und besonderer Umstände weitgehende Einblicke hatte. K. gestand, seit 1981 für das MfS gearbeitet zu haben 142 3. - Spionageabwehr - im Falle der beim Bundesnachrichtendienst (BND) in Pullach an einer wichtigen Schaltstelle tätigen Regierungsdirektorin G., die seit mehr als 20 Jahren für das MfS gearbeitet haben soll. 3.3.4 Observationen in Berlin (West) Dem Verfassungsschutz war seit langem bekannt, daß die DDRNachrichtendienste ihre Ermittlungsaktivitäten im Westteil der Stadt durch Einsatz von Observationskräften unterstützen ließen. Allerdings ging man davon aus, daß die Observanten für den jeweiligen Einsatz aus Ostberlin anreisten. Erst jetzt wurde durch einen glaubwürdigen Hinweisgeber bekannt, daß das MfS Observationsgruppen unterhielt, die ständig in Berlin (West) stationiert waren. Diese Observationseinheiten sollen aus jeweils 3 bis 4 Personen bestanden haben und z.T. über mit Video-Kameras ausgerüstete Fahrzeuge verfügt haben. 3.3.5 Kontrolle der Grenzübergänge durch das MfS Obwohl die Paßkontrolleinheiten an den Grenzübergängen in Uniformen der Grenztruppen der DDR gekleidet waren, waren sie Diensteinheiten des MfS und unterstanden dessen örtlich zuständigen Bezirksverwaltungen; so gehörten beispielsweise die Transitübergänge Drewitz und Stolpe zur Bezirksverwaltung Potsdam des MfS. Schon zur Jahreswende 1989/90 fielen durch ehemalige Angehörige der Paßkontrolleinheiten umfangreiche Erkenntnisse über Kontrollverfahren und technische Einrichtungen an den Grenzübergängen an. Dabei waren die Hinweise auf Kontrollgeräte zum Aufspüren von in Fahrzeugen versteckten Flüchtlingen besonders interessant. Da jedoch die Bauart und Wirkungsweise dieser Geräte sogar dem übrigen Grenzpersonal gegenüber streng geheimgehalten wurde, berichteten die Hinweisgeber irrtümlich von "Infrarot-Geräten". Erst später tauchten in der Presse beunruhigende Informationen auf, daß die Kontrollen mit Hilfe von radioaktiven Geräten ("Röntgengeräte", "Strahlenkanonen") durchgeführt seien. 3. - Spionageabwehr - 143 Es bestehen keine Zweifel am Wahrheitsgehalt solcher Meldungen. Die schon frühzeitig (Oktober/November 1989) demontierten und seitdem spurlos verschwundenen Geräte sollen in MfS-eigenen Werkstätten entwickelt worden sein. 3.3.6 Nachrichtendienstliche Nutzung der Grenzübergänge Seit ihrem Bestehen statteten die DDR-Nachrichtendienste ihre Agenten und operativen Reisekader zur Verschleierung der tatsächlichen Identität mit gefälschten westlichen Personalpapieren aus. Während die Hersteilung von Falschpapieren früher keine Schwierigkeiten darstellte, sah man sich seit der Einführung des fälschungssicheren Personalausweises in der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West) einem schwer lösbaren Problem gegenüber. Das MfS bemühte sich daher seit langem um Erkenntnisse über die Herstellung dieser Personalausweise. Auch aus diesem Grunde gehörten zur technischen Ausrüstung an den Grenzübergängen Spezialkameras zum Fotografieren fälschungssicherer Personalausweise, um in den Besitz großer Mengen von Vergleichsmaterial zu gelangen. Darüber hinaus war für das MfS durch den zeitweisen Einbehalt der Reisedokumente im Kontrollverfahren die umfassende Möglichkeit gegeben, Basismaterial für jegliche geheimdienstliche Tätigkeit - insbesondere auch für die Werbung von Agenten - zu beschaffen. Zudem wurde das Kontrollverfahren für nachrichtendienstliche Ansprachen von Reisenden, z. B. nach Verstößen gegen das Transitabkommen, genutzt. 3.3.7 Überwachung des Telefonverkehrs Das MfS war in der Lage, den über Richtfunk abgewickelten Telefonverkehr zwischen Berlin (West) und dem übrigen Bundesgebiet nahezu flächendeckend zu überwachen. Dies belegen Aussagen mehrerer ehemaliger Angehöriger des MfS. Die technische Durchführung und Auswertung der abgehörten Telefonate oblag der Hauptabteilung III des MfS, die über einen Personalbestand von mehreren tausend Mitarbeitern verfügte. Sie arbeitete in eigener Zuständigkeit, erhielt jedoch auch in großer Zahl Abhöraufträge - sog. 144 3. - Spionageabwehr - Zielkontrollen - von anderen MfS-Diensteinheiten; so zum Beispiel auch von der "Hauptverwaltung Aufklärung", dem eigentlichen Spionageapparat des Ministeriums für Staatssicherheit. Dem LfV liegen jedoch keine Ergebnisprotokolle über Telefonabhörmaßnahmen des MfS vor. 3. - Spionageabwehr - 145 3.4 Ausspähung des LfV Es konnten umfangreiche Erkenntnisse über die Ausspähung des LfV durch das frühere MfS gewonnen werden. Diese lassen erkennen, daß dem MfS eine weitgehende Enttarnung von Dienststellen, Mitarbeitern und Arbeitsmethoden des LfV gelungen war. Diese Aussage trifft allerdings auch auf andere westliche Nachrichtendienste in Berlin zu. Nach Bearbeitung aller vorliegenden Informationen, Hinweise und Spuren ist jedoch davon auszugehen, daß es zu keiner nachrichtendienstlichen Anwerbung einer Dienstkraft des LfV durch einen Nachrichtendienst der ehemaligen DDR gekommen ist. Hinsichtlich eines im Jahre 1982 verschollenen Beamten des LfV, der bisher für tot gehalten worden war, gaben Aussagen von ehemaligen Mitarbeitern des MfS Anlaß, dessen Aufenthalt in der ehemaligen DDR zu vermuten. Daraufhin wurde im November 1990 von Mitarbeitern des LfV mit Unterstützung des Thüringer Innenministeriums der 1982 in die DDR übergetretene frühere Regierungsamtmann der Spionageabwehr des Amtes, Gerhard K., ausfindig gemacht und zu umfangreichen Aussagen über die Umstände bzw. den Umfang seines Verrats veranlaßt. Nach dem bisherigen Ermittlungsstand wechselte Gerhard K. aufgrund von Problemen im privaten und dienstlichen Bereich am 6. April 1982 über den Bahnhof Friedrichstraße nach Ostberlin und stellte sich dem MfS für umfangreiche Aussagen zur Verfügung. Das Bemühen des MfS, Gerhard K. als "Maulwurf" zurückzuschicken, scheiterte vermutlich an dessen seelischer Verfassung. Gerhard K. lebte seit 1982 unter veränderter Identität an verschiedenen Orten der DDR und übte zuletzt in Thüringen eine leitende Tätigkeit bei einem Handelsunternehmen aus. 146 3. - Spionageabwehr - 3.5 Ausgewertete Erkenntnisfälle Im Jahre 1990 wurden 30 Erkenntnisfälle über Aktivitäten gegnerischer Nachrichtendienste (ohne ND der ehemaligen DDR) ausgewertet. Erkenntnisfall: Sachverhalt, in dem mit Sicherheit ein Kontakt zu einem gegnerischen Nachrichtendienst erkannt wurde und die erkannte nachrichtendienstliche Aktivität sich gegen die Bundesrepublik Deutschland oder einen ihrer Verbündeten richtete. Die Aktivitäten gingen von folgenden Nachrichtendiensten aus: Sowjetunion in 14 Fällen Polen in 11 Fällen Tschechoslowakei in 2 Fällen Rumänien in 2 Fällen Jugoslawien in 1 Fall 23 (76,7 %) dieser Fälle wurden durch Selbstgestellung der Betroffenen bei den dafür zuständigen Sicherheitsbehörden bekannt. 7 (23,3 %) der Erkenntnisfälle sind das Ergebnis von Ermittlungen der zuständigen Behörden. Die festgestellten Kontakte gehen auf folgende Jahre zurück: 1969 = 1984 = 2 1973 = 1985 = 1 1975 = 1986 = 5 1976 = 1987 = 5 1979 = 1988 * 2 1982 = 2 1989 = 6 1983 = 1 1990 = 1 30 3. - Spionageabwehr - 147 Erkannte Kontaktanlässe zu den gegnerischen Nachrichtendiensten waren u. a. Wohnsitz im ehemaligen Ostblock Selbstangebot Kontakt zu einer Vertretung eines Staates des ehemaligen Ostblocks persönliche Ansprache per Telefon Verstoß gegen gesetzliche Bestimmungen in einem Land des ehemaligen Ostblocks Aussiedlung aus dem ehemaligen Ostblock. Beispielhaft seien hier folgende Einzelfälle erwähnt: Der in Berlin (West) wohnhafte Student P. machte anläßlich eines Studienaufenthaltes in Moskau im Jahre 1988 die Bekanntschaft des sowjetischen Staatsangehörigen "Boris". Er nahm "Boris" entgegen den in der UdSSR bestehenden Vorschriften mit in eine für Ausländer vorbehaltene Verkaufsstelle. P. wurde später von einem "Zivilisten" unter Hinweis auf diesen Verstoß angesprochen und unter massiven Drohungen zur Zusammenarbeit aufgefordert. Das Ansinnen, "Boris" durch eine Übergabe von Devisen zu kompromittieren, lehnte P. nach eigenen Angaben trotz der Drohungen des unbekannt gebliebenen "Zivilisten", dessen Zugehörigkeit zum KGB als sicher gelten kann, entschieden ab. Weitere Kontaktierungen seien danach unterblieben. Der in Berlin lebende Computerfachmann B. bot mit anderen Mitgliedern eines Computer-Clubs einem als Angehörigen der Sowjetischen Handelsvertretung im damaligen Ost-Berlin getarnten KGB-Mitarbeiter Informationen an, die sie durch sogenanntes "Hacken" (unerlaubtes Eindringen in vernetzte 148 3. - Spionageabwehr - Computersysteme) aus westlichen Datenspeichern erlangt hatten. In der Folgezeit forderte der KGB-Führungsoffizier gezielt Informationen, vorzugsweise aus dem militärischen bzw. Rüstungsbereich, die nach Lieferung einer Bewertung unterzogen und mit entsprechenden Geldbeträgen honoriert wurden. Die Beteiligten wurden nach Aufdeckung und umfangreichen Ermittlungen im Jahre 1990 zu Gefängnisstrafen verurteilt. Der in Berlin wohnende Angehörige der Kriminalpolizei X. verpflichtete sich im Jahre 1983, als er bei der Volkspolizeiinspektion eines Ost-Berliner Bezirks tätig war, zur Mitarbeit für den sowjetischen Geheimdienst KGB. Die Bereitschaft für die Mitarbeit war ihm unter Hinweis auf das angestrebte Aufstiegsstudium für den Leitenden Dienst von einem Vorgesetzten nahegelegt worden. In der Folgezeit erhielt X. von seinen jeweiligen Führungsoffizieren Aufträge zu Abklärungen von DDR-Bürgern und deren westlichen Bekannten oder Verwandten. X. durfte das angestrebte Aufstiegsstudium durchführen. 1990 offenbarte sich X. beim LfV. Noch im September 1990 versuchte der Führungsoffizier telefonisch, X. zu einer Fortsetzung der Zusammenarbeit mit dem KGB zu bewegen. X. lehnte dies ab. 3. - Spionageabwehr - 149 3.6 Auswirkungen der politischen Veränderungen in den osteuropäischen Staaten auf deren Nachrichtendienste Einhergehend mit der unterschiedlichen politischen Entwicklung in den Staaten des ehemaligen Ostblocks und Jugoslawiens zeichnet sich auch hinsichtlich der Auslandsnachrichtendienste kein einheitliches Bild ab. Entsprechend schwierig, wenn nicht gar unmöglich, erscheint daher die Abgabe einer Prognose, bevor die neu entstandenen bzw. noch entstehenden Strukturen der Auslandsaufklärung dieser Staaten nicht feste Gestalt angenommen haben. Sollte jedoch die Lösung der eklatanten wirtschaftlichen Probleme nicht durch engere Zusammenarbeit mit westlichen Staaten erreicht werden, ist mit anhaltenden Aufklärungsaktivitäten im Wirtschaftsbereich (z. B. illegale Beschaffung von technischem "know how", Forschungsund Entwicklungsergebnissen) zu rechnen; von weiterem Interesse wird die zukünftige Entwicklung im geeinten Deutschland sein. Deshalb wird es sorgfältiger Beobachtung durch die Spionageabwehr der Verfassungsschutzbehörden bedürfen, um Erkenntnisse über die Fortsetzung oder aber Einstellung nachrichtendienstlicher Aktivitäten gegen die Bundesrepublik Deutschland zu gewinnen. Aus der Sicht des Jahres 1990 bietet sich folgendes Lagebild dar: 3.6.1 UdSSR Die Auslandsaufklärung der Nachrichtendienste der UdSSR kann seit dem Jahre 1990 nur unter völlig veränderten Bedingungen fortgesetzt werden. Wesentlicher Grund dafür ist der Wegfall der bisherigen Unterstützung durch die Nachrichtendienste der Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts, vor allem der des MfS der DDR. 150 3. - Spionageabwehr - Einen deutlichen Hinweis darauf enthält ein im Juni 1990 veröffentlichtes Interview des vorzeitig in den Ruhestand versetzten Generalmajors des KGB, Oleg KALUGIN. KALUGIN unterstrich, daß die Hauptverwaltung Aufklärung des MfS die Hauptstütze der sowjetischen Aufklärung gegen die Bundesrepublik und Westeuropa gewesen sei. Die enge Zusammenarbeit habe umfassenden Informationsaustausch, Kaderschulung und gemeinsame Aktionen zum Inhalt gehabt. Vom Gebiet der ehemaligen DDR als sicherer "operativer Basis" wurden Agenten geworben, und von dort aus wurden sie geführt. Eine Fortsetzung dieser Aktivitäten im vereinigten Deutschland gestaltet sich für die sowjetischen Nachrichtendienste zunehmend schwieriger, obwohl bis zum Abzug der noch im Gebiet der ehemaligen DDR stationierten sowjetischen Truppen im Jahre 1994 die Möglichkeit einer militärischen Abdeckung bestehen bleibt. Exemplarisch für die veränderten Verhältnisse ist die Festnahme einer Majors des KGB im November 1990 in Potsdam, als dieser im Park von Sanssouci einen nachrichtendienstlichen Treff mit einem deutschen Staatsangehörigen wahrnahm. Da nach vorliegenden Äußerungen aus den eigenen Reihen die Aufklärungstätigkeit der sowjetischen Nachrichtendienste unabhängig von den in der UdSSR stattfindenden Reformen fortgesetzt werden soll, besteht die Notwendigkeit der verstärkten eigenen Anstrengung zur Schaffung eines neuen Informantenspektrums. Ansatzmöglichkeiten könnten dabei unter anderem die MfS-Akten bieten, die zu einem Teil - zumindest als Verfilmung - den sowjetischere Nachrichtendiensten vorliegen dürften; ein weiteres nachrichtendienstliches Werbungspotential sind möglicherweise ehemalige hauptamtliche Angehörige und inoffizielle Mitarbeiter des MfS, denen die politischen Veränderungen den wirtschaftlichen aber auch ideologischen Boden entzogen haben. Als weiteres wichtiges Instrument zur Informationsgewinnung werden für die sowjetischen Nachrichtendienste die "Legalen Residenturen" an Bedeutung gewinnen. 3. - Spionageabwehr - 151 Als "Legale Residenturen" werden die getarnten Stützpunkte von Nachrichtendiensten in den amtlichen und halbamtlichen Vertretungen, wie z. B. Botschaften, Konsulaten, Handelsvertretungen, bezeichnet. Dies bedeutet, daß ein Teil der an diesen Institutionen tätigen Bediensteten entgegen der offiziellen Darstellung für die Auslandsaufklärung des jeweiligen Nachrichtendienstes tätig ist. Die zu erwartende Aufklärungstätigkeit dieser aus den Legalresidenturen operierenden Nachrichtendienst-Offiziere muß sich nicht zwingend konspirativer Methoden bedienen. Zunehmend ist eine offene Gesprächsaufklärung zu beobachten, die auf die nachrichtendienstliche Arglosigkeit der Bürger baut und der mit Mitteln der Spionageabwehr nur schwer zu begegnen ist. Vor diesem Hintergrund werden die auch nach der Vereinigung Deutschlands im ehemaligen Ost-Berlin weiterhin bestehenden Vertretungen der Sowjetunion, die lediglich zu Außenstellen der entsprechenden Vertretungen in Bonn deklariert wurden, im Blickfeld der Spionageabwehr stehen. 3.6.2 Polen Der Demokratisierungsprozeß in Polen führte 1990 im Bereich der Nachrichtendienste zur Auflösung der meisten für die innere Sicherheit zuständigen Teile dieser Dienste. Neu geschaffen wurde ein "Amt für Staatsschutz", in dessen Rahmen die Bereiche Auslandsaufklärung und Spionageabwehr ohne gravierende Veränderungen weiterbestehen. Hinsichtlich der Aufgabenstellung der künftigen Auslandsaufklärung äußerte der damalige Chef des Auslandsnachrichtendienstes und der Spionageabwehr, General SAREWICZ, in der Ausgabe der Zeitung "POLITYKA" vom 20. Januar 1990: Unsere Interessen konzentrieren sich in Europa, wo die potentiellen Bedrohungen für die polnische Staatsräson verborgen sind. Ich verrate hier kein Geheimnis, wenn ich sage, daß uns ganz besonders das interessiert, was sich in deutscher Richtung abspielt. 152 3. - Spionageabwehr - Zum Umfang der gesamten Auslandsspionage erklärte der neu ernannte Chef der Auslandsaufklärung im Amt für Staatsschutz, Oberst Henryk JASYK, in der "Warschauer Wochenrevue", daß das bestehende polnische Agentennetz in Deutschland und die jeweiligen Führungsoffiziere nahtlos übernommen werden. Neben dem Feld der politischen Spionage wird mit Aktivitäten auf dem Feld der Wirtschaftsspionage zu rechnen sein, sofern nicht andere Überlegungen dazu führen, auf den daraus zu erzielenden volkswirtschaftlichen Gewinn zu verzichten. Noch für das Jahr 1989 hatte der damalige Innenminister KISZAK den erzielten Effekt in diesem Bereich mit 1,5 Billionen Zloty beziffert. 3.6.3 Ungarn Die politischen Veränderungen und die Bemühungen um die Zuwendung des Landes nach Westeuropa hatten im Bereich der Geheimdienste Verlautbarungen aus Regierungskreisen zur Folge, daß eine weitere Ausspähungstätigkeit mit Zielrichtung Bundesrepublik Deutschland nicht mehr betrieben werde. Hier wird für die nähere Zukunft zu verfolgen sein, ob diese Absichtserklärungen realisiert worden sind. 3.6.4 CSFR Die politischen Veränderungen im Zuge der Demokratisierung in der CSFR führten im Bereich der Geheimdienste dazu, daß der zivile Dienst aufgelöst und nur in den nicht repressiven Teilen neu installiert wurde. Nach einer offiziellen Erklärung des Innenministeriums der CSFR wurden die bislang in den Vertretungen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland tätigen Nachrichtendienstmitarbeiter bereits abgezogen. Eine abschließende Aussage hinsichtlich des Fortgangs nachrichtendienstlicher Aktivitäten ist derzeit auch aufgrund der jüngsten politischen Entwicklung bezüglich der Separatismusbewegung in der Slowakei nicht möglich. 3. - Spionageabwehr - 153 3.6.5 Rumänien Bereits wenige Tage nach Ausbruch der Revolte in Rumänien im Dezember 1989 wurde der Staatssicherheitsdienst SECURITATE aufgelöst. Als Nachfolgeorganisation wurde in den Monaten März/April 1990 der neue Sicherheitsdienst SRI (Servicuil Roman de Informatii) eingerichtet. Dieser Dienst soll sich nach offiziellen Verlautbarungen mit Abwehraufgaben und Informationsbeschaffung im Inund Ausland befassen. Da in den Machtverhältnissen in Rumänien keine grundlegende Änderung eingetreten ist, liegt die Annahme nahe, daß auch nach der Neuorganisation des Sicherheitsdienstes Aufgaben und Zielsetzung der Auslandsaufklärung keine wesentlichen Veränderungen erfahren haben. 3.6.6 Bulgarien Auch in Bulgarien erfolgten Umorganisationen im Bereich der Geheimdienste. Nicht betroffen war jedoch die Auslandsaufklärung. Da die Ergebnisse der Parlamentswahlen im Juli 1990 nicht zu einem grundlegenden Wechsel der Machtverhältnisse führten, sind Veränderungen im Bereich der gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichteten Aufklärungsarbeit unwahrscheinlich. 3.6.7 Jugoslawien Die politische Entwicklung Jugoslawiens, die von Auflösungstendenzen des Bundesstaates bis zur Unabhängigkeit der Teilrepubliken gekennzeichnet ist, läßt eine Einschätzung der Entwicklung der jugoslawischen Nachrichtendienste, die Organe des Bundesstaates sind, derzeit nicht zu. Nach vorliegenden Erkenntnissen zeichnet sich jedoch ab, daß z. Z. eine verstärkte Beobachtung der jugoslawischen Emigrantenszene in Deutschland erfolgt. 154 3. - Spionageabwehr - 3.7 Geheimschutz Das Bestreben der Spionageabwehr muß es sein, nicht nur auf Spionageangriffe gegnerischer Nachrichtendienste nachträglich zu reagieren, sondern das Eindringen von Agenten in Behörden und Wirtschaftsunternehmen, in denen geheimzuhaltende Angelegenheiten bearbeitet werden, von vornherein zu verhindern. Geheimschutz ist daher vorbeugende Spionageabwehr. Ohne Kenntnis von Schwerpunkten und Methodik gegnerischer Spionagetätigkeit kann ein wirksamer Geheimschutz nicht aufgebaut werden. Gerade die Erfahrungen aus aufsehenerregenden Spionagefällen der letzten Jahre untermauern die aufgezeigte Notwendigkeit eines umfassenden materiellen und personellen Geheimschutzes. 3.7.1 Geheimschutz in der Verwaltung des Landes Berlin Vor diesem Hintergrund wirkt das LfV im Rahmen des Geheimschutzes für die Berliner Behörden bei der Sicherheitsüberprüfung von Personen und bei technischen und nichttechnischen Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz von geheimhaltungsbedürftigen Informationen und Unterlagen mit. Aufgabenschwerpunkt ist die Sicherheitsüberprüfung von Dienstkräften des Landes Berlin aus Anlaß ihres Einsatzes bei sicherheitsempfindlichen Tätigkeiten (insbesondere beim Zugang zu Verschlußsachen). Sicherheitsüberprüfuhgen werden durch die Geheimschutzbeauftragten der Behörden veranlaßt, denen vom LfV das Überprüfungsergebnis als Entscheidungshilfe mitgeteilt wird. Unter Mitwirkung des LfV konnte der Umfang der von Sicherheitsüberprüfungen betroffenen Arbeitsgebiete in den Berliner Behörden im Jahr 1990 erheblich verringert werden. Bei der regelmäßigen Beratung über die zur Sicherheit von Verschlußsachen zu treffenden technischen und nichttechnischen Maßnahmen konnten bei mehr als 50 % der überprüften Dienststellen Empfehlungen für eine Verbesserung der technischen Einrichtungen erteilt werden. i 3. - Spionageabwehr - 155 In der Praxis hat sich allerdings gezeigt, daß der beste Geheimschutz darin besteht, bei allen Betroffenen ein ausgeprägtes Sicherheitsbewußtsein zu wecken und aufrechtzuerhalten. 3.7.2 Geheimschutz in der Wirtschaft Seit 1961 ist der Bundesminister für Wirtschaft verantwortliche Sicherheitsbehörde für die Wirtschaft in Bund und Ländern und nimmt in dieser Eigenschaft die Aufgaben des personellen und materiellen Geheimschutzes im Bereich der Wirtschaft wahr. Die Behörden für Verfassungsschutz wirken an diesem Verfahren mit. Die Mitwirkung des LfV beschränkte sich jedoch bis zur staatlichen Vereinigung Deutschlands im Jahre 1990 aufgrund des besonderen Status von Berlin (West) im Gegensatz zur Praxis in den übrigen Ländern des Bundesgebiets auf die Überprüfung von Personen, die an sicherheitsempfindlichen Stellen lebenswichtiger Einrichtungen der Berliner Wirtschaft beschäftigt waren oder beschäftigt werden sollten. Geschützte Bereiche in Firmen, d. h. betriebliche Einrichtungen, in denen Aufträge hinsichtlich geheimhaltungsbedürftiger Entwicklungen und Fertigungen zu Zwecken der Landesverteidigung erfüllt werden, gab es aufgrund des schon aufgeführten Status (Besatzungsstatut) bisher in Berlin (West) nicht. Seit dem 3. Oktober 1990 sind diese Beschränkungen für Berlin weggefallen. Damit ist für das LfV erstmalig die Zuständigkeit für die Mitwirkung in Geheimschutzverfahren auf dem Gebiet der Landesverteidigung als zusätzliche Aufgabe gegeben. 156 3. - Spionageabwehr - 3.8 Wirkungsvolle Spionageabwehr ist nur mit Hilfe der Bevölkerung möglich Im Bewußtsein dessen werden alle Betroffenen, die von Aktivitäten gegnerischer Nachrichtendienste gegen die Bundesrepublik Deutschland Kenntnis haben oder von diesen Nachrichtendiensten angesprochen oder zur Mitarbeit aufgefordert worden sind, gebeten, ihr Wissen im Interesse unseres Gemeinwesens, aber auch der eigenen Sicherheit zu offenbaren. Das gilt selbst für diejenigen, die schon nachrichtendienstlich tätig geworden sind. Hier können die Verfassungsschutzbehörden helfen, sich aus der Verstrickung zu befreien. Voraussetzung ist jedoch eine umfassende Offenbarung. Das LfV steht jederzeit für eine Ansprache bereit. Vertraulichkeit wird zugesichert. Die Beratungsstelle des Landesamtes für Verfassungsschutz Berlin ist unter der Telefonnummer 867 42 16 zu erreichen. 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 157 4. Anhang I Kurzdarstellungen wichtiger extremistischer Organisationen 158 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 4.1 Linksextremismus 4.1.1 Linksextremistisch motiviertes Gewaltpotential 4.1.1.1 "Rote Armee Fraktion" (RAF) Terrorgruppe, die sich in einem bewaffneten antiimperialistischen Kampf sieht und über militärische Offensiven eine einheitliche antiimperialistische Front in Westeuropa als Zwischenetappe zu einer kommunistischen Gesellschaft anstrebt. Ihr illegaler Kern (Kommandobereich) besteht aus etwa 15 Personen. Offensiven der RAF werden durch Brandund Sprengstoffanschläge der "Militanten der RAF", die als "zweite kämpfende Ebene" in die RAF eingebunden sind, unterstützt. Angaben über deren personelle Stärke sind nicht möglich. Das bundesweit aus ca. 250, in Berlin aus ca. 50 Personen bestehende RAF-Umfeld unterstützt den "bewaffneten Kampf" der RAF propagandistisch und übt als Sprachrohr der RAF eine wichtige Vermittlerrolle aus. 4.1.1.2 "Revolutionäre Zellen" (RZ) Kleingruppen ohne erkennbare Struktur, die mit z.T. schweren Sprengstoffund Brandanschläge^ Sabotageakten und "Bestrafungsaktionen" wie Knieschüssen ein auf Breitenwirkung angelegtes - teilweise "sozialrevolutionäres" Konzept - verfolgen. Die RZ knüpfen hierbei in der Regel an aktuelle gesellschaftliche Probleme an. Die innerhalb der RZ als "Rote Zora" selbständig agierende radikal feministische Frauengruppe verübt Anschläge nach dem RZ-Konzept zu überwiegend frauenspezifischen Problemen. 4.1.1.3 Autonome Lose strukturierte Zusammenschlüsse - teilweise auch Einzelpersonen ohne Gruppenzusammenhang - mit diffusen anarchistischen, nihilistischen, bisweilen auch revolutionär-marxistischen Zielen. Sie 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 159 befürworten und praktizieren militante Aktionen wie öffentliche gewalttätige Protestaktionen, aber auch Brandund Sprengstoffanschläge im Kampf gegen "das System".Die Zahl der Autonomen wird bundesweit auf über 2.000, in Berlin auf mehr als 400 Personen geschätzt. 4.1.2 Dogmatische Neue Linke 4.1.2.1 Revolutionär-marxistische Gruppen 4.1.2.1.1 "Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD" (AB) Der stalinistisch ausgerichtete AB entstand 1973 durch Zusammenschluß "Sozialistischer Betriebsgruppen" mit "ArbeiterBasis-Gruppen" in Bayern und hat bundesweit etwa 200 Mitglieder; in Berlin besteht ein Sympathisanten-Zirkel. Zentralorgan: "Kommunistische Arbeiterzeitung" (KAZ), Aufl.: ca. 1.200. 4.1.2.1.2 "Bund Westdeutscher Kommunisten" (BWK) Der 1980 als Abspaltung des "Kommunistischen Bund Westdeutschland" (KBW) gegründete BWK strebt die "Zerschlagung des bürgerlichen Staatsapparates" an. Der BWK verfügt bundesweit über etwa 350 Mitglieder; in Berlin sind etwa 20 Personen im BWK organisiert. Organ:"Politische Berichte", 14tgl. Aufl.: ca. 1.200. 4.1.2.1.3 "Kommunistische Partei Deutschlands" (KPD) 1968 als "Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten" (KPD/M-L) gegründet, 1980 in KPD umbenannt. 1986 Fusion der Mehrheitsfraktion mit der trotzkistischen "Gruppe Internationale Marxisten" (GIM) zur "Vereinigten Sozialistischen Partei" (VSP). 160 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - Verblieben sind Splittergruppen, von denen jede für sich den bisherigen Parteinamen beansprucht und die insgesamt etwa 70, in Berlin etwa 30 Mitglieder umfassen. Von zwei KPD-Gruppierungen wird jeweils als Zentralorgan monatlich die Publikation "Roter Morgen" in einer Auflage von jeweils 200 bis 300 Exemplaren herausgegeben. 4.1.2.1.4 "Kommunistischer Bund" (KB) Der 1971 gegründete, ursprünglich nur im norddeutschen Raum vertretene KB breitete sich erst ab 1975 im Bundesgebiet aus und umfaßt bundesweit etwa 400, in Berlin etwa 40 Mitglieder. Organ: "akArbeiterkampf", mtl.Aufl.: ca. 6.000 bis 8.000. 4.1.2.1.5 "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) Die 1982 in Bochum gegründete, aus dem "Kommunistischen Arbeiterbund Deutschlands" (KABD) hervorgegangene MLPD bekennt sich zur Theorie des Marxismus-Leninismus in seiner Interpretation durch MAO ZEDONG. In der MLPD sind bundesweit 1.500 Miglieder organisiert, in Berlin gehören der MLPD bis zu 100 Personen an. Zentralorgan: "Rote Fahne", wo., Aufl.: 6.000 Nebenorganisationen (Zusammen weniger als 400 Mitglieder): ARBEITERJUGENDVERBAND/Marxisten-Leninisten (AJV/ML) Marxistisch-Leninistischer Bund Intellektueller (MLBI) Marxistisch-Leninistischer Schülerund Studentenverband (MLSV) 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 161 4.1.2.1.6 "Marxistische Gruppe" (MG) Die aus "Roten Zellen" hervorgegangene MG verfügt bundesweit über mehr als 10.000 fest in die Organisation eingebundene Anhänger, die in Sympathisanten, Kandidaten und Mitglieder unterteilt sind. Publikationen: "Marxistische Arbeiterzeitung" (MAZ), "Marxistische Hochschulzeitung" (MHZ), "Marxistische Streitund Zeitschrift" (MSZ), Aufl.: bis zu 10.000. 4.1.2.1.7 "Revolutionäre Internationalistische Bewegung" (RIM) 1984 entstandener Dachverband (Sitz London) von derzeit 19 revolutionären Parteien und Zusammenschlüssen aus verschiedenen Ländern. In Berlin zählen etwa 30 Personen zu den Sympathisanten der RIM, die sich bundesweit als "Sympathisanten der Revolutionären Kommunisten (BRD)" bezeichnen. 4.1.2.1.8 "Rote Garde Berlin" (RG) 1988 gegründete "Kampforganisation der proletarischen und werktätigen Jugend", mit etwa 30 Mitgliedern. Publikation: "Roter Rebell", vj. 4.1.2.1.9 "Rote Hilfe e.V." (RH) 1975 gegründete Rechtsund Hafthilfeorganisation der "Neuen Linken", die maßgeblich von Migliedem/ehemaligen Mitgliedern von K- Gruppen getragen wird und bundesweit über 900, in Berlin über etwa 100 Mitglieder verfügt. Publikationen: "Die Rote Hilfe", vj., Aufl.:2.000 bis 2.500; in Berlin: "Rote Hilfe Info", mtl. 162 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 4.1.2.1.10 "Vereinigte Sozialistische Partei" (VSP) Die 1986 aus der Fusion von "Kommunistischer Partei Deutschlands" (KPD) und "Gruppe Internationale Marxisten" (GIM) hervorgegangene VSP umfaßt bundesweit etwa 325 Mitglieder in etwa 25 Ortsgruppen und dem Landesverband Berlin. Organ: "SoZ - Sozialistische Zeitung", 14tgl., Aufl.: 2.500. 4.1.2.1.11 "Volksfront gegen Reaktion, Faschismus und Krieg" (Volksfront) 1979 von der damaligen KPD/ML gegründete "antifaschistische" Bündnisorganisation mit einem hohen Anteil von Mitgliedern des BWK und der VSP; in den Führungsgremien dominieren inzwischen Mitglieder des BWK. Die Volksfront hat derzeit 400 Mitglieder, von denen etwa 25 im "Landesverband Westberlin" organisiert sind. Publikationen: "Antifaschistische Nachrichten" (14tgl., Aufl.: 600), "Volksecho" (vj., Aufl.: 800); in Berlin: "frontblatt" (mtl.). 4.1.2.2 Trotzkistische Parteien und Gruppen 4.1.2.2.1 "Bund Sozialistischer Arbeiter" (BSA) Der 1972 gegründete BSA, dem bundesweit etwa 100 Mitglieder angehören, sieht im Kampf gegen "Stalinismus und Kapitalismus" die zentrale Achse seines Programms. Organ: "Neue Arbeiterpresse". 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 163 4.1.2.2.2 "Internationale Sozialistische Arbeiterorganisation" (ISA), deutsche Sektion der IV. Internationale (Internationales Zentrum für ihren Wiederaufbau) - IZ - Die 1979 gegründete ISA ging aus einer Gruppe um die trotzkistische Zeitschrift "Internationale Arbeiterkorrespondenz" (IAK) hervor und umfaßt etwa 150 Mitglieder, davon etwa 20 in Berlin. Organ: "Sozialistische Arbeiterzeitung" (SAZ), dt. Beilage der mtl. Zeitschrift "Internationale Tribüne - La Verite", die vom Generalrat der IV. Internationale (IZ) herausgegeben wird. 4.1.2.2.3 "Spartakist-Arbeiterpartei Deutschlands" (SpAD) Der im Januar 1990 in Berlin gegründeten SpAD, deutsche Sektion der "Internationalen Kommunstischen Liga (Vierte Internationalisten)" (IKL)., gehören etwa 50 Mitglieder an. Vorläuferorganisation waren die 1974 gegründete "Trotzkistische Liga Deutschlands" (TLD) sowie die 1989 auf dem Gebiet der damaligen DDR gegründeten "SpartakistGruppen". Organ: "Spartakist", mtl. 4.1.2.2.4 "Vereinigung der Arbeitskreise für Arbeitnehmerpolitik und Demokratie" (VAA) 1989 mit dem Ziel, Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Jugendliche zur Mitarbeit zu gewinnen, von der ISA gebildete Tarnorganisation. Organ: "Freie Tribüne für Arbeitnehmerpolitik", 14tgl. 164 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 4.1.3. Orthodoxe Kommunisten 4.1.3.1 "Sozialistische initiative" (Sl) Die am 29. April 1990 durch Umbenennung der orthodoxkommunistischen "Sozialistischen Einheitspartei Westberlins" (SEW) entstandene Sl umfaßte Mitte 1990 ca. 500 Mitglieder. Nebenorganisationen der SEW: "Sozialistischer Jugendverband Karl Liebknecht" (SJV Karl Liebknecht) -1990 aufgelöst -; "Demokratischer Frauenbund Berlin" (DFB); "Aktionsgemeinschaft von Demokraten und Sozialisten Westberlin" (ADS Westberlin); i "Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft Berlin (West)" - DSF Berlin (West); "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Westberlin - Verband der Antifaschisten" (VVN Westberlin/Verband der Antifaschisten). Mit der Beendigung der Finanzierung der SEW durch die "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands" (SED) Anfang 1990 mußte die SEW ihrerseits die Finanzierung ihrer Nebenorganisationen einstellen, was zu einer erheblichen Reduzierung der Aktivitäten der Nebenorganisationen führte und Diskussionen um den politischen Standpunkt in diesen Organisationen auslöste. Es konnte 1990 noch keine Aussage darüber getroffen werden, ob die ehemaligen Nebenorganisationen der SEW in einer entsprechenden Abhängigkeit zur Sl verblieben. 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 165 4.2. Rechtsextremismus 4.2.1 Neuer Nationalsozialismus/Neonazismus 4.2.1.1 "ASGARD-Bund e.V." Der 1980 unter dem maßgeblichen Einfluß des militanten Neonazis Arnulf-Winfried PRIEM gebildete ASGARD-Bund strebt die Gleichstellung des germanischen Kulturkreises mit den anderen Religionen an und versteht sich als religiöse unabhängige Gemeinschaft. Der ASGARD-Bund tritt inzwischen nur noch durch die jährliche Herausgabe seines "Nordisch-germanischen Jahrweisers" hervor (vgl. Wotans Volk). 4.2.1.2 "Bund Vaterlandstreuer Volksgenossen" ( B W ) 1988 in Berlin (West) entstandene neonazistische, politisch weitgehend selbständig operierende Kleingruppe, die 1990 sporadisch mit Klebeaktionen (Ausländer raus!,Besatzer raus!) in Erscheinung trat. 4.2.1.3 "Deutsche Alternative" (DA) Die 1989 in Bremen gegründete, bundesweit etwa 140 Mitglieder umfassende Partei vertritt die politischen Ziele der von Michael KÜHNEN geführten "Gesinnungegemeinschaft der Neuen Front" (GdNF). Die etwa 20 Berliner Mitglieder der DA sind zugleich Angehörige der "Kameradschaft Berlin" der GdNF oder der "Nationalen Alternative". 4.2.1.4 "Deutsche Jugendinitiative Berlin" (DJI) Etwa 30 Personen umfassendes loses Aktionsbündnis von Anhängern der "Freiheitspartei", "Nationalistischen Front" (NF) und einigen unorganisierten Neonazis. Seit 1986 tritt die DJI sporadisch mit Flugblattaktionen in der Öffentlichkeit auf. 166 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 4.2.1.5 "Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei" (FAP) Seit 1984 von Anhängern der 1983 verbotenen neonazistischen ANS/NA unterwanderte Partei. Der Landesverband Berlin der FAP wurde erst am 20. Oktober 1990 in Wildau, Kreis Königs Wusterhausen, gegründet. Publikation: "Neue Nation - Volkstreue Zeitung für Deutschland". 4.2.1.6 "Freiheitspartei" 1987 von Berliner Anhängern der neonazistischen "Bewegung" als "Auffangbecken" für den Fall eines Verbots der FAP gegründete Partei, die 1989 aus Anlaß der Berliner Wahlen für die Bezirksverordnentenversammlung Wedding als Wählergemeinschaft kandidierte. 1990 trat sie öffentlich kaum in Erscheinung. 4.2.1.7 "Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front" (GdNF) Nach Ausgrenzung seiner Anhänger aus der FAP von Michael KÜHNEN gebildeter Zusammenschluß, der bundesweit etwa 200 Personen umfaßt, die sich uneingeschränkt zum Nationalsozialmus bekennen. Nach dem Verbot der von KÜHNEN gegründeten "Nationalen Sammlung" (NS) im März 1989 bildeten er und seine Anhänger verschiedene andere Organisationen wie die bisher auf Hamburg beschränkte "Nationale Liste" (NL) und die auch in der ehemaligen DDR verbreitete "Deutsche Alternative" (DA). Die "Kameradschaft Berlin" der GdNF umfaßte 1990 etwa 20 Personen, die gleichzeitig Mitglieder der DA oder der NA sind. Publikation: "Die Neue Front", mtl., Aufl.: ca. 400. 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 167 4.2.1.8 "Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V." (HNG) 1979 gegründete Organisation zur Unterstützung inhaftierter Neonazis mit bundesweit etwa 200 Mitgliedern. In Berlin existiert keine Gliederung der HNG, sondern nur Einzelmitglieder. Publikation: "Nachrichten der HNG", mtl., Aufl.: ca. 300. 4.2.1.9 "Nationale Alternative Berlin" (NA Berlin) Eine am 1. Februar 1990 auf Initiative westdeutscher KÜHNENAnhänger im Ostteil Berlins gegründete Partei, die nach eigenen Angaben etwa 30 Mitglieder zählt. 4.2.1.10 "Nationalistische Front" (NF) 1985 gegründete, 1990 bundesweit etwa 80 Mitglieder umfassende Partei mit nationalrevolutionärer Ausrichtung. In Berlin bestand bis September 1990 eine etwa 15-20 Mitglieder umfassende Ortsgruppe, die sich von diesem Zeitpunkt an in die NF-Ortsgruppe Berlin und den "Stützpunkt" Berlin-Süd aufteilte. 4.2.1.11 "Nationale Offensive" (NO) Am 3. Juli 1990 in Augsburg gegründete völkisch-nationalistische Partei unter Führung des ehemaligen FAP-Aktivisten Michael SWIERCZEK, die bisher vorzugsweise im süddeutschen Raum tätig war, aber die Gründung von Gruppen in der ehemaligen DDR anstrebt. In Berlin besteht z.Z. nur ein informeller NO-Funktionärskreis, der Verbindung zur Nationalen Alternative Berlin unterhält. 168 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 4.2.1.12 "Völkischer Freundeskreis" 1989 von ehemaligen Mitgliedern der "Kameradschaft Berlin" der GdNF ins Leben gerufene Funktionärsgruppe, die sich von Michael KÜHNEN als Führer distanziert hat. 4.2.1.13 "Wiking-Jugend, volkstreue, nordiändische Jugendbewegung Deutschland e.V." (WJ) Die 1952 gegründete, heute bundesweit etwa 400 Mitglieder umfassende WJ sieht sich nach Aussage ihres Bundesführers Wolfgang NAHRATH in der Tradition der "Hitler-Jugend". Die etwa 10 Mitglieder des Gaues Berlin der WJ beteiligten sich 1990 an verschiedenen Veranstaltungen anderer rechtsextremistischer Organisationen in Westdeutschland sowie auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. 4.2.1.14 "Wotans Volk" Erstmals 1987 als "Jugendgruppe" des "ASGARD-Bundes" hervorgetretener Zusammenschluß einiger Anhänger des militanten Neonazis Arnulf-Winfried PRIEM, der mit dieser Gruppe die Tradition der 1984 aufgelösten "Kampfgruppe Priem e.V." fortsetzt. Die Gruppe beteiligt sich sporadisch an Flugblattund Schmieraktionen neonazistischen Gharakters 4.2.2. "Nationaldemokraten" und "Nationalfreiheitliche" 4.2.2.1 "Nationaldemokratische Partei Deutschlands" (NPD) Die 1964 aus der "Deutschen Reichspartei" (DRP) hervorgegangene NPD, umfaßte 1990 bundesweit etwa 6.500 Mitglieder. Der Berliner Landesverband der NPD, hatte zum Jahresende 1990 einschließlich des im November 1990 gegründeten Kreisverbandes Ost etwa 130 Mitglieder. 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 169 Die NPD-Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) umfaßte 1990 bundesweit etwa 750, in Berlin etwa 20 Mitglieder. 4.2.2.2 "Deutsche Volksunion e.V." (DVU) einschließlich: "Aktion Oder-Neiße" (AKON) "Aktion deutsches Radio und Fernsehen" (ARF) "Deutscher Schutzbund für Volk und Kultur" (DSVK) "Ehrenbund Rudel" (ER) "Initiative für Ausländerbegrenzung" (l.f.A.) "Volksbewegung für Generalamnestie" (VOGA) 1971 von dem Münchner Verleger Dr. Gerhard FREY als "überparteiliches" Sammelbecken der "Verfassungstreuen Rechten" gegründete Kernorganisation der "National-Freiheitlichen". In den von FREY herausgegebenen Wochenzeitungen ("Deutsche NationalZeitung", Aufl.: 70.000; "Deutsche Wochen-Zeitung", Aufl.: 20.000; "Deutscher Anzeiger", Aufl.: 18.000, Erscheinen Ende 1990 eingestellt) wird regelmäßig rechtsextremistische Agitation betrieben. Seit Gründung des Berliner Landesverbandes der DVU - Liste D sind für die DVU e.V. keine Aktivitäten mehr zu verzeichnen; die Mitglieder des Vereins sind automatisch Mitglieder der Partei. > 4.2.2.3 "Deutsche Volksunion - Liste D" (DVU - Liste D) 1987 auf Initiative Dr. FREYs gegründete Partei. Die DVU - Liste D ist mit inzwischen rund 22.000 Mitgliedern die mit Abstand größte Partei im rechtsextremistischen Spektrum. Der 1988 gegründete Berliner Landesverband ist mit etwa 800 Mitgliedern die größte rechtsextremistische Organisation Berlins. 170 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 4.2.3. Sonstige 4.2.3.1 "Deutsche Kulturgemeinschaft Berlin" (DKG - Berlin) Die im März 1983 von oppositionellen Berliner NPD-Mitgliedern gegründete 1990 etwa 30 Mitglieder umfassende Vereinigung hat sich seit 1988 zu einem Sammelbecken für Berliner Rechtsextremisten unter Einschluß der neonazistischen Gruppen entwickelt. 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 171 4.3. Ausländerextremismus 4.3.1 Palästinenser/Araber 4.3.1.1 "AL FATAH" Ende der 50er Jahre gegründete, zahlenmäßig stärkste PLOMitgliedsorganisation unter Führung von Yassir ARAFAT. Die FATAH hat ihre Hauptstützpunkte in Tunis, Tripolis und Bagdad. Erklärtes Ziel der "FATAH" ist die "Befreiung Palästinas" durch Zerstörung des Staates Israel und die Errichtung eines unabhängigen palästinensischen Staates. In der Vergangenheit war sie für zahlreiche Terrorakte verantwortlich (z.B. 1972 auf die israelische OlympiaMannschaft in München). In Berlin besteht eine Gliederung der FATAH mit ca. 100 Mitgliedern (bundesweit ca. 500). 4.3.1.2 "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP) Die 1967 gegründete PFLP unter Leitung von Dr. George HABBASH mit Sitz in Damaskus will ihr politisches Ziel, die Schaffung eines panarabischen Staates, mit den Mitteln des Guerilla-Krieges, insbesondere durch organisierten Terror, erreichen. In der Vergangenheit hat die PFLP zahlreiche Terroranschläge gegen Israel und mißliebige europäische Staaten verübt. Die PFLP verfügt in Berlin über eine Gliederung mit etwa 25 Mitgliedern (bundesweit ca. 150). 4.3.1.3 "Demokratische Front für die Befreiung Palästinas" (DFLP) Die 1969 gegründete DFLP unter Leitung von Nayef HAWATMEH mit Sitz ist Damaskus lehnt die Lösung der "Palästina-Frage" auf dem Verhandlungswege ab. Sie ist in Israel und den von Israel besetzten Gebieten durch zahlreiche Terrorakte in Erscheinung getreten. In der Bundesrepublik Deutschland sind Terrorakte von der DFLP bisher nicht durchgeführt worden. In Berlin besteht eine Gliederung der DFLP mit etwa 30 Mitgliedern (bundesweit ca. 200). 172 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 4.3.1.4 "Volksfront für die Befreiung Palästinas-Generalkommando" (PFLP-GC) Die 1968 gegründete PFLP-GC unter Leitung von Ahmed JIBRIL mit Sitz in Damaskus zählt zu den aggressivsten palästinensischen Terrororganisationen. Sie zeichnete für zahlreiche Terrorakte in Israel und den von Israel besetzten Gebieten sowie in Westeuropa verantwortlich. 1986 und 1988 gelang es deutschen Sicherheitsbehörden, Anschlagsvorbereitungen von PFLP-GCAngehörigen in der Bundesrepublik Deutschland aufzudecken. Im Bundesgebiet und in Berlin verfügt die PFLP-GC nur über Einzelmitglieder. 4.3.1.5 "Palästinensische Volkskampffront" (PPSF) Die 1967 gegründete PPSF unter Leitung von Dr. Samir GHOUSHA mit Sitz ist Damaskus lehnt eine politische Lösung der "Palästina-Frage" ab und fordert die Fortsetzung des bewaffneten Kampfes bis zur völligen Vernichtung Israels. In der Bundesrepublik Deutschland hat die PPSF bisher keine Terrorakte verübt. In Berlin gibt es wie im Bundesgebiet nur Einzelmitglieder der PPSF. 4.3.1.6 "AL SAIQA" Die 1968 von der in Syrien regierenden BAATH-Partei gegründete "AL SAIQA" vertritt die Interessen Syriens in der PLO. Sie verfügt im Bundesgebiet wie in Berlin nur über Einzelmitglieder. 4.3.1.7 "Abu-Nidal-Organisation" (ANO) Die 1972 von Hassan Sabri AL BANNA alias "Abu NIDAL" gegründete ANO, die ihre Hauptstützpunkte in Libyen und Irak besitzt, gehört zu den aggressivsten palästinensischen Terrororganisationen. Seit ihrer Gründung hat sie für zahlreiche Terrorakte, u.a. in Westeuropa, verantwortlich gezeichnet. Sie verfügt im Bundesgebiet wie in Berlin nur über Einzelmitglieder. 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 173 4.3.1.8 "Islamische Widerstandsbewegung" (HAMAS) Die 1987 gegründete "HAMAS" tritt für den Jihad (Heiligen Krieg) gegen Israel und die Errichtung eines islamischen Staates in Israel und den von Israel besetzten Gebieten ein. Sie operierte bisher terroristisch ausschließlich in den von Israel besetzten Gebieten, wo sie auch ihre Hauptstützpunkte hat. Sie verfügt in Berlin über Einzelmitglieder (bundesweit ca. 50). 4.3.1.9 "Moslembruderschaft" (MB) Die bereits 1928 in Ägypten gegründete "Moslembruderschaft" ist ein Zusammenschluß radikaler sunnitischer Muslime, der hauptsächlich in Ägypten und Syrien mit Gewalt die dortigen Regime stürzen will. In Berlin leben etwa 10 Mitglieder der MB (bundesweit ca. 700). 4.3.1.10 "Hizb Allah" (Partei Gottes) Die 1982 im Libanon gebildete, vom Iran gesteuerte "Hizb Allah", die sich in den letzten Jahren zur stärksten Kraft unter den pro-iranischen Schiiten-Organisationen entwickelte, hat sich die Schaffung einer Islamischen Republik Libanon zum Ziel gesetzt. Sie ist für zahlreiche Terrorakte im Libanon verantwortlich, u.a. die Entführung der Deutschen SCHMIDT und CORDES. In Berlin verfügt die "Hizb Allah" über etwa 40 Mitglieder (bundesweit ca. 300). 4.3.1.11 AMAL Die 1969 im Libanon gegründete, sowohl vom Iran als auch von Syrien unterstützte AMAL-Bewegung ist die größte und bedeutendste schiitische Organisation im Libanon. Sie zeichnete in der Vergangenheit für zahlreiche Gewaltakte und Entführungsaktionen im Libanon verantwortlich. In der Bundesrepublik Deutschland sind bisher keine Gewaltakte der AMAL-Bewegung bekanntgeworden. In Berlin verfügt sie über eine Gliederung mit etwa 10 Mitgliedern (bundesweit ca. 240). 174 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 4.3.1.12 "Hizb AI-Da'Wa Al-Islamia" Die Ende der 60er Jahre im Irak von dem 1980 hingerichteten Muhammad BAKIR ins Leben gerufene, vom Iran gesteuerte Partei will das Regime unter Saddam HUSSEIN stürzen und eine Islamische Republik Irak errichten. Anhänger dieser Partei haben mehrere Anschläge auf staatliche Einrichtungen im Irak und auf irakische Vertretungen im Ausland verübt. In der Bundesrepublik Deutschland ist sie bisher durch Gewalthandlungen nicht in Erscheinung getreten. In Berlin verfügt sie über etwa 10 Mitglieder (bundesweit ca. 150). 4.3.2 Kurden 4.3.2.1 "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) Die 1978 in der Türkei gegründete PKK unter Leitung von Abdullah ÖCALAN mit Sitz in Damaskus erstrebt die Schaffung eines vereinigten Kurdistans unter Einsatz auch terroristischer Mittel. Seit 1979 ist die PKK in der Bundesrepublik Deutschland aktiv und seitdem durch zahlreiche Aktionen in Erscheinung getreten. Wegen der in den vergangenen Jahren in der Bundesrepublik Deutschland verübten Morde an PKK-Dissidenten stehen in Düsseldorf und Celle derzeit mehrere PKK-Mitglieder vor Gericht. Von den ca. 2.600 in der Bundesrepublik festgestellten PKK-Mitgliedern leben ca. 150 in Berlin. 4.3.3 Türken 4.3.3.1 "Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/M-L) Die 1972 gegründete proalbanische TKP/M-L spaltete sich 1981 in die Gruppen Partizan (P) und Bolsevik (B). In der Vergangenheit wurden in Berlin von Anhängern der TKP/M-L (P) Gewalthandlungen durchgeführt. In Berlin verfügt sie über eine Gliederung mit etwa 50 Mitgliedern (bundesweit ca. 1.600). 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 175 4.3.3.2 "Revolutionäre Kommunistische Partei der Türkei" (TDKP) Die 1980 gegründete proalbanische TDKP, die den gewaltsamen Umsturz in der Türkei propagiert, verfügt in Berlin über etwa 60 Anhänger (bundesweit ca. 900). Gewaltaktionen sind von ihren Mitgliedern bzw. Anhängern in der Bundesrepublik Deutschland bereits ausgegangen. 4.3.3.3 'Türkische Volksbefreiungspartei/-front"(THKP/-C) Die 1971 gegründete THKP/-C übt in der Türkei individuellen Terror nach dem Vorbild lateinamerikanischer Stadtguerilleros aus. Aus der THKP/-C gingen mehrere konspirativ arbeitende Gruppen hervor, deren Mitglieder und Anhänger in der Öffentlichkeit durch zahlreiche, z.T. gewalttätige Aktionen in Erscheinung getreten sind. Die THKP/-C verfügt in Berlin über etwa 10 Mitglieder (bundesweit ca. 300). 4.3.3.4 "Devrimci Sol" (Revolutionäre Linke) Die Gruppe ging im Mai/Juni 1978 aus der THKP/-C als konspirativ arbeitender Zusammenschluß hervor. Sie strebt in der Türkei eine kommunistische Gesellschaftsordnung durch einen bewaffneten Volkskrieg an. Trotz des Verbots vom 9. Februar 1983 durch den Bundesminister des Innern sind Einzelmitglieder der Gruppe nach wie vor in der Bundesrepublik Deutschland aktiv. 4.3.3.5 "Avrupa'da Dev Gene" (Revolutionäre Jugend in Europa) Tarnbezeichnung, unter der Anhänger der verbotenen "Devrimci Sol" in der Bundesrepublik Deutschland aktiv sind. 4.3.3.6 "Partei der Nationalistischen Arbeit" (MCP) Nachfolgeorganisation der 1957 gegründeten und durch das Militär in der Türkei 1980 verbotenen und aufgelösten "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP). Die von Alparslan TÜRKES 176 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - geführte, laizistischnationalistische Partei mit antikommunistischer und antisemitischer Haltung verfügt bundesweit über ca. 6.600, in Berlin über ca. 500 Mitglieder und Anhänger. 4.3.3.7 "Wohlstandspartei" (RP) Nachfolgeorganisation der 1972 gegründeten und durch das Militär in der Türkei 1980 verbotenen "Nationalen Heilspartei" (MSP). Die RP ist eine nationalistische, islamisch-fundamentalistische Organisation, die sich gegen den Laizismus wendet. Bundesweit umfaßt die von dem MSP-Gründer Necmettin ERBAKAN geführte RP ca. 12.500, in Berlin etwa 1.320 Mitglieder und Anhänger. 4.3.3.8 "Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e.V. Köln" (ICCB) Der 1983 gegründete, von Cemaleddin KAPLAN geführte ICCB strebt wie die RP die Errichtung einer islamischen Republik in der Türkei durch eine Revolution nach iranischem Vorbild an. Kaplan, dessen Anhängerschaft bundesweit ca. 4.200, in Berlin etwa 20 Personen umfaßt, lehnt jegliche Zusammenarbeit mit der RP ab. 4.3.4 Iraner 4.3.4.1 "Union islamischer Studentenvereine in Europa" (U.I.S.A.) Nach dem Sieg der islamischen Revolution im Iran wurde die Anfang der 60er Jahre gegründete U.I.S.A. durch die islamischfundamentalistischen Kräfte zu einer regimetreuen Organisation umgestaltet. Mitglieder der bundesweit ca. 400, in Berlin ca. 20 Personen umfassenden U.I.S.A. sind in der Bundesrepublik Deutschland in der Vergangenheit durch Gewalttaten in Erscheinung getreten. 4. - Anhang I: Kurzdarstellungen - 177 4.3.4.2 "Organisation der Volksmojahedin Iran" (PMOI) Bei der 1965 gegründeten PMOI handelt es sich um eine islamischfundamentalistische Organisation mit marxistischer Prägung ( Sitz Bagdad). Sie zielt auf den gewaltsamen Sturz des Mullah-Regimes im Iran. Die PMOI verfügt in der Bundesrepublik Deutschland über etwa 800 Mitglieder, davon 50 in Berlin. 4.3.4.3 "Organisation der Iranischen Studenten in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin, Sympathisanten der Volksfedayin Guerilla Iran" (O.I.P.F.G.) Die am 8. Februar 1971 im Iran gegründete O.I.P.F.G. strebt den gewaltsamen Sturz des Mullah-Regimes im Iran an. Von den bundesweit 200 Mitgliedern leben etwa 10 in Berlin. 4.3.4.4 "Rat der Konstitutionellen Monarchie des Iran in der Bundesrepublik Deutschland und West-Berlin" (R.K.M.I.) 1984 gegründete Dachorganisation der in der Bundesrepublik ansässigen monarchistischen Organisationen und Einzelpersonen, die die Wiedereinführung der Monarchie im Iran anstrebt. Sie verfügt bundesweit über ca. 900, in Berlin über ca. 60 Mitglieder. 5. - Anhang II: Chronologie - 179 5. Anhang II Chronologie 180 5. - Anhang II: Chronologie - 5.1. Linksextremismus/Gewaltpotential 02.01.1990 "Anti-Räumungs-Party" im Hause Lübbener Straße 27 im Bezirk Kreuzberg. Die überwiegend dem politischen Gewaltpotential zuzurechnenden Festteilnehmer bewarfen eintreffende Polizeiund Feuerwehrkräfte u.a. von dem Dach des Hauses gezielt mit Pflastersteinen, Gehwegplatten, Ziegelsteinen und Eisenstangen. Bei einer anschließenden Durchsuchung fand die Polizei Steindepots, Molotow-Cocktails und gefüllte Benzinkanister. 20.01.1990 Blockade einer Shell-Tankstelle im Bezirk Tiergarten im Rahmen der Anti-Shell-Kampagne durch etwa 400 Personen, darunter Autonome und Angehörige des RAF-Umfeldes. 21.01.1990 Gründung der "Spartakist-Arbeiterpartei Deutschlands" (SpAD) durch Vertreter der "Spartakist-Gruppen" und der "Trotzkistischen Liga Deutschlands" (TLD). 16./18.02.1990 Außerordentlicher Parteitag der SEW, auf dem die vom Parteivorstand empfohlene Auflösung der SEW nicht die notwendige Mehrheit erhielt. Wahl eines provisorischen "Geschäftsführenden Ausschusses". 18.02.1990 Sachbeschädigungen an sechs Shell-Tankstellen im Rahmen der Anti-Shell-Kampagne. In einer Selbstbezichtigung bekannten sich "einige Gruppen aus West-Berlin" zu der Tat und bezeichneten sie als "internationale koordinierte Sabotageaktion" mit Parallelaktionen in Italien und in den Niederlanden. 5. - Anhang II: Chronologie - 181 28.02.1990 Brandanschlag auf einen Supermarkt im Bezirk Charlottenburg. Selbstbezichtigungsschreiben einer "Internationalistischen Zelle" an verschiedene Tageszeitungen. 03.03.1990 Demonstration für die Zusammenlegung hungerstreikender Angehöriger der GRAPO in Spanien. Unter den etwa 300 Personen befanden sich neben Autonomen auch Angehörige des Berliner RAF-Umfeldes. 06.03.1990 Brandanschlag auf einen Sex-Shop im Bezirk Charlottenburg. Selbstbezichtigungsschreiben einer bislang unbekannten Gruppierung "Die Furien". 20.04.1990 Krawalle im Bezirk Kreuzberg unter Beteiligung von Autonomen. Anlaß war der gescheiterte Versuch von Teilnehmern eines Spontanaufzuges, in den Ostteil der Stadt zu gelangen um dort Gleichgesinnte zu unterstützen, die nach Angrifffen auf ein besetztes Haus in Kämpfe mit Hooligans und Neonazis verwickelt waren. 22.04.1990 Brandanschlag auf den Pkw eines leitenden Mitarbeiters der "Gewerbesiedlungs-Gesellschaft - GSG". Bekennerschreiben unterzeichnet mit "Dona Camilia und Peppone", in dem der Anschlag u.a. mit der Vertreibung von Teilen der Bevölkerung durch steigende Mieten begründet wird. 27.04.1990 Brandanschlag auf das Möbelgeschäft "Wohnen 2001"., das total zerstört wurde. In der Selbstbezichtigung einer "Revolutionären Zelle" wird der Anschlag mit der dem "nationalen Taumel der Hauptstadtund Olympia-Euphorie" folgenden "Zerstörung sozialer Milieus und deren Verdrängung in die Randgebiete" begründet. Das Schreiben schließt mit der Parole: eat the rieh! 182 5. - Anhang II: Chronologie - 28./29.04.1990 Fortsetzung des außerordentlichen SEW-Parteitages. Umbenennung der Partei in "Sozialistische Initiative" (Sl). Wahl eines Parteivorstandes und eines vierköpfigen "Sprecherinnenrates". 01.05.1990 "Revolutionäre 1. Mai-Demonstration" im Bezirk Kreuzberg. Vor, während und insbesondere nach dem Aufzug, der u.a. von Autonomen und Angehörigen des RAF-Umfeldes organisiert worden war, kam es z.T. zu erheblichen Krawallen, an denen neben türkischen Jugendlichen bis zu 200 Autonome und andere Gewalttäter beteiligt waren. 07.05.1990 Sprengstoffanschlag auf die Firma Data-Domizil im Bezirk Zehlendorf. Selbstbezichtigungsschreiben einer Gruppe "Autonome Arbeiterinnen Intitiative West-Berlin" (AAI), in dem die Enteignung aller Spekulanten und Hausbesitzer gefordert wird. 24.05.1990 Störung einer Veranstaltung im Rahmen des 90. Deutschen Katholikentages durch etwa 200 Angehörige militanter Frauengruppen, unter ihnen zahlreiche Autonome. 02.06.1990 Tätliche Auseinandersetzungen zwischen OstBerliner Hausbesetzern bzw. Autonomen und Skinheads nach einem Skinhead-Überfall auf ein "multinationales Kulturzentrum" im Bezirk Mitte sowie auf besetzte Häuser in der Mainzer Straße im Bezirk Friedrichshain. 09.06.1990 Bundesmitgliederversammlung der "Roten Hilfe e.V." im Mehringhof im Bezirk Kreuzberg mit etwa 50 Teilnehmern aus acht Ortsgruppen. 14.06.1990 Brandanschlag auf Shell-Tanklastzüge, in BerlinMoabit, von denen einer völlig ausbrannte. 5. - Anhang II: Chronologie - 183 14.06.1990 Störung einer Sondervorstellung des Zirkus Roncalli mit anschließendem Empfang für die Teilnehmer des 7. internationalen Kaffeekongresses durch etwa 150 Personen, u.a. Autonome und Angehörige des Berliner RAF-Umfeldes, die anschließend den Tagungsort des Kongresses mit Farbbeuteln bewarfen. 23.06.1990 Ausschreitungen nach einer "Antifaschistischen Großdemonstration" im Bezirk Lichtenberg. In der Umgebung des von Neonazis bewohnten Hauses Weitlingstraße 122 griffen etwa 500 militante Autonome und Angehörige des Berliner RAFUmfeldes, die sich z.T. mit Helmen, Knüppeln, Molotow-Cocktails und Leuchtpistolen ausgerüstet hatten, Volkspolizisten an und setzten dabei u.a. mehrere Polizeifahrzeuge in Brand. 01.07.1990 Sachbeschädigungen von Autonomen im Bezirk Zehlendorf im Anschluß an eine Demonstration gegen Grundstücksund Mietspekulanten. Etwa 20 in Kleingruppen agierende Demonstranten auf Fahrrädern zerstörten Scheiben an insgesamt 25 Personenkraftwagen. 08.07.1990 Brandanschlag auf einen Repräsentationscontainer der Deutschen Bank im Bezirk Prenzlauer Berg durch eine "Revolutionäre Zelle", die in der Umgebung Handzettel "An die Presse" mit einer kurzen Tatbegründung hinterließ. 14.07.1990 Sachbeschädigung durch etwa 20 vermummte, in Kleingruppen agierende Personen im Bezirk Wilmersdorf. Die Täter beschädigten u.a. Häuser von zwei lmmobilienmaklern/-besitzern durch Einschlagen von Fensterscheiben sowie 24 Pkw durch Einschlagen der Scheiben, Zerkratzen des Lacks und Farbschmierereien. 184 5. - Anhang II: Chronologie - 17.08.1990 Inbrandsetzen von zwei auf dem Gelände der Firma "SEAT" im Bezirk Kreuzberg abgestellten Pkw. Selbstbezichtigung mit der Parole Zusammen kämpfen - Zusammenlegung durchsetzen. 18.08.1990 Tätlicher Angriff von etwa 35 Autonomen, militanten Antifa-Gruppen-Anhängern und Hausbesetzern aus Ostund West-Berlin auf einen InformatioRsstand der Republikaner im Bezirk Lichtenberg. Die Angreifer waren mit Schlagstöcken, Ketten, Messern und Reizgasdosen bewaffnet. 12 mutmaßliche Täter wurden vorübergehend festgenommen und insgesamt 7 Personen verletzt. 26.09.1990 Brandanschlag auf einen Container der Dresdener Bank im Bezirk Pankow. Bekennerschreiben einer bisher unbekannten Gruppe "Die revolutionären Flammen". 01.10.1990 Brandanschläge mit bauartgleichen Brandsätzen auf das Warenhaus Centrum im Bezirk Mitte und das KaDeWe im Bezirk Schöneberg. In beiden Fällen entstand erheblicher Sachschaden. Die Selbstbezichtigung zu beiden Anschlägen richtet sich gegen die Vereinigung Deutschlands und endet mit Deutschland, einig, stark und groß - Die Scheiße geht von vorne los! 02.10.1990 Brandanschlag auf eine Filiale der Berliner Volksbank im Bezirk Kreuzberg. Zwei Tatverdächtige konnten vorläufig festgenommen werden. 2./3.10.1990 Demonstrations-, Veranstaltungsund Aktionsreihe des linksextremistischen Gewaltpotentials (Autonome, RAF-Anhänger, militante Hausbesetzer, Angehörige militanter Antifa-Gruppen) anläßlich der 5. - Anhang II: Chronologie - 185 Vereinigungsfeierlichkeiten. Demonstration Deutschland halts Maul - Es reicht mit ca. 10.000 Teilnehmern. Im Anschluß an die Demonstration kam es im Bereich des Alexanderplatzes zu erheblichen Ausschreitungen. 03.10.1990 Brandanschlag auf eine Stormversorgungsanlage im Bezirk Friedrichshain. 4.10.1990 Brandanschlag auf ein Modehaus im Bezirk Prenzlauer Berg. Es entstand Sachschaden von ca. 250.000,-DM. 06.10.1990 Brandanschlag auf eine Filiale der Dresdner Bank im Bezirk Wilmersdorf. Es entstand ein Sachschaden von ca. 300.000,DM. 11.10.1990 Schaufensterzerstörungen an Geschäftsräumen des Reisebüros TUI im Bezirk Charlottenburg. In der am Tatort zurückgelassenen Selbstbezichtigung begründen die Täter die Aktion mit dem angeblichen Sextourismus des Unternehmens. Das Schreiben endet mit Legen wir den sexistischen und rassistischen Schweinen das Handwerk! und ist mit Frauen bildet Banden unterzeichnet. 13.10.1990 Erste zentrale Mitgliederversammlung der Sl beschließt Unterstützung des Wahlkampfs der "Linken Liste/PDS" (bzw. der PDS) bei den Wahlen am 2. Dezember 1990. 18.10.1990 Demonstration Gegen Kontaktsperre und Isolation im Rahmen eines bundesweiten Aktionstages für die Zusammenlegung der Gefangenen von RAF und GRAPO. An der Demonstration nahmen mehr als 400 Personen teil, darunter Autonome und Angehörige des Berliner RAF-Umfeldes. 186 5. - Anhang II: Chronologie - 20.10.1990 Erneuter Brandanschlag auf den Pkw eines ALPolitikers im Bezirk Kreuzberg. 21.10.1990 Brandanschlag auf das Hofka-/Kaiser'sKaufhaus im Bezirk Friedrichshain. Die Täter zeichneten mit Revolutionäre Flammen. 03.11.1990 Demonstrationen unter dem Motto Der Tod ist ein Meister aus Deutschland - Gegen das Feiern, gegen das Vergessen, an der sich ca. 5.000 Personen, darunter Angehörige des Berliner RAF-Umfeldes und Autonome, beteiligten. Nach Ende der Veranstaltung randalierten etwa 200 meist vermummte Personen im Bezirk Kreuzberg. Sie griffen Polizeibeamte mit Steinen und Brandsätzen an; vereinzelt schössen sie auch mit Zwillen und Leuchtmunition, stürzten Fahrzeuge um und zündeten sie an. 12.11.1990 Nach Räumung der drei besetzten Häuser Cotheniusstraße 16, Bezirk Prenzlauer Berg, und Pfarrstraße 110 und 112, Bezirk Lichtenberg, wurden im Bereich der Mainzer Straße, Bezirk Friedrichshain, Barrikaden errichtet. Polizeibeamte und -fahrzeuge wurden beim Räumen der Hindernisse massiv mit Pflastersteinen, Dachziegeln, Gehwegplatten und Brandsätzen beworfen sowie mit Leuchtmunition und Katapulten beschossen. Die Krawalle, an denen sich bis zu 500 Personen beteiligten, setzten sich bis in die Morgenstunden fort. 14.11.1990 Räumung von 13 besetzten Häusern in der Mainzer Straße, Bezirk Friedrichshain; es kam zu schwersten Ausschreitungen. 323 Personen wurden vorläufig festgenommen. 5. - Anhang II: Chronologie - 187 14.11.1990 Demonstration unter dem Motto Hände weg von unseren Häusern , an der sich ca. 4.000 Personen, darunter Autonome und militante Hausbesetzer, beteiligten. Nach Beendigung des Aufzuges kam es im Bezirk Friedrichshain zu Auseinandersetzungen zwischen ca. 250 Personen und der Polizei. 15.11.1990 Brandanschlag auf einen Kleintransporter der GASAG im Bezirk Charlottenburg, der völlig zerstört wurde. Das Feuer griff auf andere Pkw über. 19.11.1990 Brandanschlag auf die Firma Möbel Hübner im Bezirk Tiergarten, der einen Sachschaden von ca. 500.000,DM verursachte. In einem Selbstbezichtigungsschreiben begründeten "Revolutionäre Zellen" den Anschlag mit den Häuserräumungen in der Mainzer Straße und wiesen auf einen weiteren Brandsatz im "Lichthaus Mösch" hin. Aufgrund des Selbstbezichtigungsschreibens wurde das Lichthaus am 22. November durchsucht. Es wurde ein Brandsatz gefunden, der nicht zur Zündung gekommen war. 19.11.1990 Brandanschlag auf eine Filiale der Dresdner Bank im Bezirk Charlottenburg. Ein Zusammenhang mit den beiden anderen Brandanschlägen des gleichen Tages ist nicht auszuschließen. 02.12.1990 Wahlen zum 12. Deutschen Bundestag. Kandidatur der trotzkistischen Organisationen "Bund Sozialistischer Arbeiter" . (BSA) -161 Zweitstimmen (80 West/81 Ost) = 0,0 % -. 188 5. - Anhang II: Chronologie - "Internationale Sozialistische Arbeiterorganisation" (ISA) in Gestalt ihrer Tarnorganisation "Vereinigung der Arbeitskreise für Arbeitnehmerpolitik" (VAA) - 480 Zweitstimmen (192 West/288 Ost) = 0,1 % -. "Spartakist-Arbeiterpartei Deutschlands" (SpAD) - 200 Zweitstimmen (115 West/85 Ost) = 0,0 % -. Keine Kandidatur zu den gleichzeitig durchgeführten Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus. 06.12.1990 Versuchter Brandanschlag auf das Gebäude einer Wohnungsbaugesellschaft im Bezirk Friedrichshain, die Verwalterin der geräumten Häuser in der Mainzer Straße ist. 08.12.1990 Brandanschlag auf eine in der Mainzer Straße tätige Sanierungsfirma in Berlin-Uchterfelde. in der Selbstbezichtigung eines "Autonomen Bastelvereins für den Erhalt besetzter Häuser" wurde u.a. die Rückgabe aller geräumten Häuser und die Einstellung aller Strafverfahren im Zusammenhang mit Hausbesetzungen gefordert. 15.12.1990 MLPD-Pressefest aus Anlaß des 20-jährigen Bestehens ihres Zentralorgans "Rote Fahne" mit etwa 1.700 Besuchern in der Dynamo-Sporthalle, Bezirk Hohenschönhausen. 16.12.1990 Zweite zentrale Mitgliederversammlung der Sl. Der Parteivorstand wurde beauftragt, für den 9./10. März 1991 einen Parteitag einzuberufen, um über eine Auflösung der Sl zu beschließen. 21.12.1990 Versuchter Brandanschlag auf das Kaufhaus Wertheim im Bezirk Chariottenburg. Tatmittelgleichheit mit den Anschlägen am 19.11. auf die Firmen Hübner und Mosch. 5. - Anhang II: Chronologie - 189 5.2. Rechtsextremismus 18.01.1990 Traditionelle "Reichsgründungsfeier" des Berliner NPD-Landesverbandes" in einer Gaststätte im Bezirk Spandau, an der etwa 60 Personen teilnahmen. 20.01.1990 "Reichsgründungsfeier" der "Deutschen Kulturgemeinschaft (DKG) Berlin" in einer Gaststätte im Bezirk Steglitz mit etwa 70 Personen, unter ihnen etwa 15 Neonazis. 01.02.1990 Gründung der "Nationalen Alternative" (NA) durch Angehörige der Ost-Berliner Neonaziund SkinheadSzene unter maßgeblichem Einfluß westdeutscher Neonazis aus dem Umkreis Michael KÜHNENs. 25.02.1990 Vortragsabend der DKG-Berlin in einer Gaststätte im Bezirk Steglitz mit ca. 80 Personen, darunter bekannte Berliner Neonazis und etwa zehn Teilnehmer aus der ehemaligen DDR. Der Referent pries die "sozialen Errungenschaften" des Nationalsozialismus. 16.03.1990 Gründungsparteitag der von dem westdeutschen Neonazi Michael KÜHNEN ins Leben gerufenen "Deutschen Alternative" als "mitteldeutsche Partei". 17.03.1990 Nichtöffentliche Veranstaltung der von KÜHNEN gegründeten "Initiative Volkswille" zum Thema Unser Weg zur deutschen Einheit in einer Gaststätte im Bezirk Steglitz. Unter den etwa 150 Teilnehmern befanden sich neben Berliner Neonazis zahlreiche Gesinnungsgenossen aus Westdeutschland, etwa 20 aus der DDR sowie einige österreichische Neonazis. Nach dem Ende der Veranstaltung marschierten die Teilnehmer geschlossen zum Hermann-Ehlers-Platz in Steglitz. 190 5. - Anhang II: unronoiogie - 21.04.1990 "21. ordentlicher Landesparteitag im Exil" des Berliner NPD-Landesverbandes in Bahrsdorf (Niedersachsen) mit etwa 50 Personen. 27.04.1990 Bei einer polizeilichen Durchsuchungsaktion der NAParteizentrale in der Weitlingstraße 122 im Bezirk Lichtenberg wurden mehrere Vorstandsmitglieder der NA und 14 weitere Personen vorläufig festgenommen sowie neonazistisches Propagandamaterial sichergestellt. 01.07.1990 Nachdem das bis zum 31. 05.1990 befristete alliierte Verbot der öffentlichen Betätigung der NPD in Berlin nicht verlängert worden war, nominierte eine Mitgliederversammlung des NPD-Landesverbandes die Kandidaten für die Wahlen zum Deutschen Bundestag 04.08.1990 Mitgliederversammlung des Landesverbandes Berlin der "Deutschen Volksunion - Liste D" (DVU) in einer Gaststätte im Bezirk Reinickendorf, auf der der Landesvorsitzende ROLOFF erklärtere Berliner DVU - Liste D werde nicht an den bevorstehenden Wahlen am 2. Dezember 1990 teilnehmen. 17.08.1990 Kundgebung des Landesverbandes Berlin der __ "Jungen Nationaldemokraten" (JN) in der Nähe des Standortes des ehemaligen Alliierten Kriegsverbrechergefängnisses im Bezirk Spandau. Die 26 Teilnehmer führten u.a. ein Transparent mit der Aufschrift Rudolf Heß, sein Opfer, unsere Verpflichtung mit. 18.08.1990 Kundgebung der FAP für Rudolf HEß im Bezirk Spandau mit etwa 60 Teilnehmern. 5. - Anhang II: Chronologie - 191 16./18.08.1990 Im Stadtgebiet wurden Plakate des "Bundes Vaterlandstreuer Volksgenossen" mit dem Bild Rudolf HEß' und dem Text: Einst kommt der Tag der Rache, Wir trauern um Rudolf Heß, Märtyrer des Friedens. geklebt. 20.10.1990 Vortragsveranstaltung der DKG-Berlin in einer Gaststätte im Bezirk Steglitz. Vor etwa 60 Veranstaltungsteilnehmern, darunter zahlreiche Neonazis, leugnete der Referent die Schuld des Deutschen Reiches am Zweiten Weltkrieg und behauptete, die eigentlichen Kriegstreiber seien England und Polen gewesen. 20.10.1990 Gründung eines Landesverbandes Berlin der "Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei" (FAP) in Wildau (Kr. Königs Wusterhausen, Brandenburg) unter der Leitung des Parteivorsitzenden Friedhelm BUSSE. An dem Treffen nahmen etwa 80 FAPAnhänger, überwiegend aus dem Gebiet der ehemaligen DDR, teil. 24.10.1990 Außerordentliche Mitgliederversammlung des Berliner NPD-Landesverbandes in einer Gaststätte im Bezirk Spandau. Etwa 40 stimmberechtigte NPDMitglieder wählten die Kandidaten der NPDLandesliste zur Bundestagswahl am 2. Dezember 1990. 17.11.1990 Gründung des Kreisverbandes Berlin-Ost der NPD durch den NPD-Landesverband Berlin in einer Gaststätte im Bezirk Treptow. 192 5. - Anhang II: Chronologie - 18.11.1990 Gemeinsame Feier der DKG-Berlin, der NF und der WJ eines "Heldengedenktages" in Halbe (Kr. Märkisch Buchholz, Brandenburg). Unter den 250 Teilnehmern befanden sich auch Anhänger der JN, des FAP-Landesverbandes Berlin, der GdNF sowie Vertreter rechtsextremistischer Organisationen aus Belgien, Spanien und Frankreich. 24.11.1990 Teilnahme von Anhängern der "Kameradschaft Berlin" der GdNF an einer von der NA initiierten Demonstration. An der Kundgebung im Bezirk Lichtenberg beteiligten sich etwa 100 Personen. 02.12.1990 Die NPD, die mit Landeslisten in allen 16 Bundesländern zur Wahl des 12. Deutschen Bundestages angetreten war, erzielte bundesweit 0,3% (145.895 Stimmen). In Berlin erhielt sie 2451 Erstimmen (1443 West/1008 Ost) = 0,1 % und 2170 Zweitstimmen (1402 West/768 Ost) = 0,1 %. Sie hatte als einzige rechtsextremistische Partei bundesweit kandidiert. An der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin hatte sich die NPD nicht beteiligt. Der Neonazi Oliver SCHWEIGERT kandidierte bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus von Berlin für die NA im Bezirk Lichtenberg, Wahlkreis 4. Er erhielt 30 (0,2 %) der abgegebenen gültigen Stimmen. 22.12.1990 Zusammenkunft von etwa 100 Berliner Rechtsextremisten in BerlinFrohnau aus Anlaß einer geplanten Sonnwendfeier. Unter den Anwesenden befanden sich Mitglieder und Anhänger der DKG-Berlin, der WJ, der JN, der NF, der GdNF, des "ASGARD-Bundes e.V." und der NA. Starke Polizeipräsenz am Versammlungsort hielt die Teilnehmer davon ab, die Feier durchzuführen. 5. - Anhang II: Chronologie - 193 5.3. Ausländerextremismus 05.01.1990 Festveranstaltung der Berliner Gliederung der "FATAH" aus Anlaß des 25. Jahrestages der Gründung der PLO in der Alten Mensa der TU Berlin, mit etwa 300 Teilnehmern, fast ausschließlich Araber und Palästinenser. 27.01.1990 Protestdemonstration der Berliner Gliederung der PKK gegen die Diskriminierung der Kurden. Aktueller Anlaß der Protestdemonstration, an der sich etwa 120 Personen, davon etwa 60 Deutsche, beteiligten, war die Durchsuchung der Vereinsräume des "Kurdischen Kulturzentrums BOTAN in Berlin e.V." am 23. Januar 1990 durch die Polizei. 10.02.1990 Auf Initiative der "Föderation der türkischdemokratischen Idealistenvereine in Europa e.V." (ADÜTDF) demonstrierten etwa 3.000 Personen gegen die sowjetische Politik in Aserbaidschan. 05.03.1990 Etwa 15 Anhänger der PKK versammelten sich vor dem Landgericht Berlin, um gegen die Verfolgung der Kurden zu protestieren. Aktueller Anlaß dieser Aktion war der seit dem 15. Februar 1990 vor dem Landgericht Berlin laufende Prozeß gegen den ehemaligen PKK-Funktionär Ali C. 16.03.1990 Fackelzug der Berliner Gliederung der PKK aus Anlaß des 2. Jahrestages der Bombardierung der kurdischen Stadt Halabja/Irak mit Giftgas. Unter den etwa 120 Teilnehmern befanden sich zahlreiche Anhänger der "Avrupa'da Dev Gene". 30.03.1990 Festveranstaltung der "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP) aus Anlaß des palästinensischen Gedenktages "Tag des Bodens" in der Alten Mensa der TU Berlin mit etwa 180 Teilnehmern. 194 5. - Anhang II: Chronologie - 07.04.1990 Veranstaltung der "Avrupa'da Dev Gene" im Audimax der TU Berlin zum Gedenken an die Märtyrer und Revolutionäre von Kizildere mit etwa 350 Teilnehmern. 28.04.1990 Demonstration aus Solidarität mit dem kurdischen Volksaufstand zum Generalkonsulat der Türkei im Bezirk Wilmersdorf mit etwa 300 Personen, darunter zahlreiche Anhänger der PKK und etwa 100 Deutsche. 19.05.1990 Solidaritätsveranstaltung für die Kämpfer der PKK in Türkisch-Kurdistan des "Vereins Patriotischer Künstler in der Bundesrepublik Deutschland e.V." (HUNERKOM), einer Nebenorganisation der PKK, im Mehringhof im Bezirk Kreuzberg mit etwa 200 Teilnehmern. 22.05.1990 Aus Anlaß der Unruhen in den von Israel besetzten Gebieten Palästinas vom 20. Mai 1990 versammelten sich etwa 100 Palästinenser, darunter zahlreiche Anhänger der PLOMitgliedsorganisationen, zu einer Spontankundgebung auf dem Breitscheidplatz im Bezirk Charlottenburg. 23.05.1990 Informationsveranstaltung, der PKK imi Audimax der TU Berlin zu den Themen Die Lage in Kurdistan und Der PKK-Prozeß in Düsseldorf, an der etwa 200 Personen, darunter einige Deutsche aus dem autonomen Bereich, teilnahmen. 5. - Anhang II: Chronologie - 195 08.06.1990 Auf Initiative der Berliner Gruppe der "Hizb Allah" führte die Gemeinde der schiitischen Moslems in Berlin eine Gedenkveranstaltung aus Anlaß des 1. Todestages KHOMEINIs in einem Versammlungsraum im Bezirk Tiergarten durch. Unter den ca. 800 Teilnehmern befanden sich der ehemalige iranische Botschafter in der DDR sowie der Leiter des "Islamischen Zentrums Hamburg e.V. 18.08.1990 Demonstration gegen die Politik der USA und anderer westlicher Mächte in der Golfregion zum Amerika-Haus im Bezirk Charlottenburg. Daran beteiligten sich etwa 200 Personen, darunter Angehörige der Berliner Gliederung der PLOMitgliedsorganisationen "AL FATAH", PPSF und DFLP. 01.09.1990 Großveranstaltung der Berliner Gliederung der PKK im Audimax der TU Berlin aus Anlaß des 6. Jahrestages des Beginns des bewaffneten Kampfes in der Türkei durch die "Volksbefreiungsarmee Kurdistans" (AP.GK), an der sich etwa 1.000 Personen beteiligten. 01.09.1990 Aufzug der Berliner Gruppe der TKP/M-L aus Protest gegen das türkische Engagement im Golfkonflikt zum Generalkonsulat der Türkei im Bezirk Wilmersdorf. Unter den etwa 40 Teilnehmern befanden sich auch einzelne Anhänger der PKK. 12.09.1990 Fackelzug der Berliner Gruppe der TKP/M-L aus Anlaß des 10. Jahrestages des Militärputsches in der Türkei mit etwa 200 Teilnehmern. 196 5. - Anhang II: Chronologie - 15.09.1990 Kundgebung der Berliner Gruppe der TKP/M-L gegen die Anwesenheit von US-Truppen am Persischen Golf auf dem Breitscheidplatz im Bezirk Charlottenburg. Unter den etwa 75 Teilnehmern befanden sich auch Mitglieder der PKK sowie der TDKP. 29.09.1990 Demonstration eines Arabischen Solidaritätskomitees unter dem Motto Krieg ist Völkermord zum Amerika-Haus im Bezirk Charlottenburg. Der aus etwa 100 Personen gebildete Demonstrationszug setzte sich größtenteils aus Angehörigen der "FATAH", PFLP, PPSF und DFLP zusammen. Anf. 10.1990 Flugblattverteilaktion einer Gruppe junger Türken auf dem Nettelbeckplatz im Bezirk Wedding. Angeboten wurde eine Veröffentlichung von "Sympathisanten der Revolutionären Kommunisten" mit der Überschrift: Nazis jagen, Nazis schlagen, das ganze Scheißsystem begraben. 13.10.1990 Kundgebung mehrerer Berliner Gliederungen von PLO-Mitgliedsorganisationen mit etwa 100 Teilnehmern auf dem Breitscheidplatz im Bezirk Charlottenburg aus Protest gegen das Massaker am 8. Oktober 1990 auf dem Tempelberg in Jerusalem. 27.10.1990 Demonstration mehrerer islamisch-extremistischer Gruppen (Moslembruderschaft, "Hizb Allah", "Hizb AI-Da'Wa Al-Islamia" und HAMAS) unter dem Motto: Frieden für die AL-AKSA-Moschee in Jerusalem zum Amerika-Haus im Bezirk Charlottenburg. Unter den etwa 1.100 Teilnehmern befanden sich auch Anhänger Berliner Gliederungen von PLOMitgliedsorganisationen. 5. - Anhang II: Chronologie - 197 08.12.1990 Festveranstaltung der Berliner Gliederung der "Volksfront für die Befreiung Palästinas" (PFLP) aus Anlaß des 23. Jahrestages der Gründung der Organisation. Die Veranstaltung in der Alten Mensa der Technischen Universität Berlin wurde von 350 Personen, fast ausschließlich Palästinensern und anderen Arabern, besucht.