Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration Verfassungsschutzbericht 2023 Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 4 Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, unsere freiheitliche Demokratie und unser Rechtsstaat garantieren, dass in unserem Land Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Religion oder ihrer Herkunft in Sicherheit und Freiheit leben können. Ein aufmerksamer Blick über die Grenzen Deutschlands und Europas hinaus zeigt, dass Demokratien wie die unsrige jedoch nicht der Regelfall sind. So konstatiert das Forschungsprojekt der Universität Göteborg "Varieties of Democracy" in seinem "Democracy Report 2023" weltweit einen besorgniserregenden Rückgang der Demokratien auf das Niveau von 1986, während autokratische Systeme im Aufwind begriffen sind. In immer mehr Staaten werden der gesamten Bevölkerung oder Teilen hiervon Menschenrechte verweigert, Freiheitsrechte beschnitten oder sukzessive entwertet. Der Wert unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung für ein friedliches Miteinander kann aufgrund des Befundes aus Göteborg daher nicht hoch genug geschätzt werden. Umso verstörender ist es, dass in unserem Land zunehmend Demokratiemüdigkeit, ja sogar offene Demokratieablehnung um sich zu greifen scheinen. Demokratische Abläufe werden in Zweifel gezogen, politisch Verantwortliche aller Ebenen sehen sich - ebenso wie die etablierten Medien - zunehmend Misstrauen, zuweilen sogar unverhülltem Hass gegenüber. Vordergründige Auslöser hierfür sind oft politisch schwierige Entscheidungen, die mit ungewohnten Belastungen der Gesellschaft insgesamt oder einzelner ihrer Teile einhergehen. Natürlich: Moderne pluralistische Gesellschaften bringen naturgemäß eine Konkurrenz verschiedenster Interessen mit sich. Der faire Wettstreit der Ideen und Interessen sowie der sachliche Austausch der Meinungen und Argumente sind Demokratien wesensimmanent. Aktuell beobachten wir jedoch, dass sich zu gesellschaftlich besonders virulenten Themen die widerstreitenden Positionen immer weiter an die politischen Ränder bewegen. Ohne jegliche Kompromissbereitschaft oder Verständnis für die Belange des Anderen wird unversöhnlich auf der eigenen Maximalforderung beharrt. Die Konfliktlinien verlaufen quer durch die Gesellschaft, wobei sich die Themen zum Teil überschneiden oder gegenseitig verstärken. Sie verlaufen zum Beispiel zwischen städtischen und ländlichen Milieus, zwischen Jung und Alt, Hochund Geringqualifizierten, Befürwortern und Gegnern von Migration oder von Klimaschutzmaßnahmen und vieles mehr. 5 Derartige Auflösungsund Spaltungstendenzen versuchen Extremisten zu verstärken, indem sie vor allem in Chatforen bestimmte Reizworte, sog. "Trigger" setzen, um Diskussionen in ihrem extremistischen Sinn zu beeinflussen und zu steuern. Die Folge ist eine sich immer mehr verhärtende Frontstellung "wir gegen die". Durch die kontinuierliche Befeuerung von Feindbildern erodiert der für eine Demokratie notwendige Grundkonsens über die unveräußerlichen Grundlagen unseres Zusammenlebens zusehends. Ein erschreckendes Beispiel hierfür sind die Reaktionen auf den Nahostkonflikt: Nicht nur Islamisten und Anhänger ausländischer extremistischer Organisationen bejubeln auf deutschen Straßen hemmungsund mitleidlos den Terrorangriff der HAMAS, sondern auch Teile der migrantischen Community. Linksextremisten und ihr pseudointellektuelles Umfeld leugnen die Verbrechen an israelischen Zivilisten oder schieben in einer Opfer-Täter-Umkehr Israel die Schuld an der Eskalation zu. Rechtsextremisten behaupten, der Krieg und etwaige Migrationsbewegungen seien Teil eines von "Juden" gesteuerten "Austausches" der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Jüdische Mitbürger werden in aller Öffentlichkeit, ja sogar an Universitäten bedroht und angegriffen. Diese Auswüchse werden wir nicht tolerieren. Das Bekenntnis zur Demokratie setzt die Bereitschaft und die Fähigkeit voraus, diese im Sinne der grundgesetzlichen Wehrhaftigkeit zu verteidigen: Die Verfassungsschutzbehörden sind, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Bayerischen Verfassungsschutzgesetz im Jahr 2022 herausgestellt hat, institutioneller Ausdruck der Grundentscheidung unserer Verfassung für eine wehrhafte Demokratie. Die Aufklärung verfassungsfeindlicher Aktivitäten ist ihr verfassungsmäßiger Auftrag. Dies setzt effektive Befugnisse voraus, auch und gerade angesichts der rasch voranschreitenden Entwicklung der modernen Informationstechnologie und der globalen Vernetzung. Nicht alle Länder stellen ihren Verfassungsschutzbehörden ein so modernes Instrumentarium zur Verfügung wie Bayern. Auch das Bundesamt für Verfassungsschutz kann beispielsweise nicht verdeckt auf informationstechnische Systeme und dort gespeicherte Daten zugreifen. Allerdings haben die gesetzlichen Grundlagen aufgrund der hohen Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht an Normenklarheit, Dokumentation und Kontrolle stellt, sowohl im Umfang als auch in ihrer Komplexität ein kritisches Maß erreicht. Wenn der Verfassungsschutz mehr mit der Bürokratie zur Minimierung hypothetischer Missbrauchsrisiken beschäftigt ist als mit der Beobachtung von Verfassungsfeinden, droht eine Fehlsteuerung der personellen Ressourcen des Rechtsstaates, die ihm zur Verteidigung der Demokratie zur Verfügung stehen. Denn die Demokratie wird nicht von den Institutionen bedroht, die sie schützen, sondern von den im Inund Ausland erstarkenden Kräften, die sie zerstören wollen. Joachim Herrmann Sandro Kirchner Staatsminister Staatssekretär 6 Liebe Bürgerinnen und Bürger, am 23. Mai jährt sich der Erlass unseres Grundgesetzes zum 75. Mal. Gerade im Angesicht der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Dynamiken sollten wir dies zum Anlass nehmen, uns erneut den historischen Hintergrund und die Kernelemente dieses bedeutenden Dokumentes und zentralen Fundamentes unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung vor Augen zu führen. Als die Väter und Mütter des Grundgesetzes die deutsche Verfassung erarbeiteten, war die Erinnerung noch frisch an die Abermillionen Opfer des Zweiten Weltkrieges, die unsäglichen Gräuel des Holocaust und die Misshandlung und Tötung unzähliger Sinti und Roma, politischer Oppositioneller, Homosexueller und anderer, dem menschenverachtenden nationalsozialistischen Regime missliebiger Menschen. Neben dem vollständigen politisch moralischen Zusammenbruch, der auf das Unvorstellbare folgte, waren die Konsequenzen von übersteigertem Nationalismus und Rassenwahn im Deutschland Ende der 1940er Jahre allgegenwärtig. Im Krieg haben europaweit Millionen Menschen ihre Angehörigen verloren, die jüdische Bevölkerung Deutschlands und in den überfallenen Ländern wurde durch Vertreibung, Flucht und industrielle Vernichtung fast gänzlich ausradiert. Unzählige Familien hofften oft vergebens auf die Rückkehr ihrer Liebsten aus der Kriegsgefangenschaft. An Körper und Geist Versehrte prägten das Leben ebenso wie die Allgegenwärtigkeit von Mangel, Hunger und kriegerischer Zerstörung. Vor diesem Hintergrund entstand in den westdeutschen Besatzungszonen ein neuer Staat, für den das Grundgesetz Fundament, Leitbild und Auftrag einer neuen moralischen, gesellschaftlichen und politischen Ordnung werden sollte. Ein Vorbild hierfür war die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, deren Präambel die revolutionärfortschrittliche Überzeugung enthält, dass alle Menschen gleich geschaffen und mit unveräußerlichen Rechten auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück versehen sind. Das Grundgesetz geht jedoch einen wesentlichen Schritt weiter. So war die Menschenverachtung des Nationalsozialismus der Impetus für Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." 7 Die verfassungsgemäße Festschreibung der garantierten Menschenwürde und die Verpflichtung aller staatlicher Gewalt, diese Würde zu achten und zu schützen, waren Meilensteine in der Geschichte Deutschlands und der westlich demokratischen Welt; gleichsam ist es mahnendes Bekenntnis zur endgültigen Abkehr von nationalistischer Überhöhung, Rassismus und Diskriminierung. Ausgehend von der Menschenwürdegarantie etabliert das Grundgesetz bis heute zahlreiche Grundrechte, die eine fundamentale Abkehr von der Lebenswirklichkeit der vorausgegangenen totalitären Diktatur darstellen. So garantiert das Grundgesetz sowohl weitreichende Abwehrrechte gegen den Staat als auch Anspruchsrechte an den Staat. Als 1990 die ostdeutschen Bundesländer der Bundesrepublik beitraten, wurden Grundrechte wie etwa das Recht auf Glaubensund Gewissensfreiheit, die Meinungs-, Versammlungsund Vereinigungsfreiheit, das Recht auf Freizügigkeit oder auch das Recht auf freie Berufswahl zur Lebensrealität vieler Menschen, die zuvor in einer weiteren deutschen Diktatur gelebt hatten. Heute, knapp achtzig Jahre nach Holocaust und Zweitem Weltkrieg und ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des DDR-Regimes, sind die alltäglichen Freiheiten basierend auf den Grundrechten unserer Verfassung für viele Menschen in unserem Land zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Mehr als dies sind vor dem Hintergrund der zahlreichen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Krisen der letzten Jahre bei einer zunehmenden Zahl der Menschen in unserem Land Staatsverdrossenheit und Demokratieskepsis, in Teilen gar Staatshass festzustellen. Ein Teil der Bevölkerung zeigt sich anfälliger für extremistische Ideologieelemente oder unterstützt - oft unwissentlich - Akteure, die ihre extremistische Gesinnung unter dem Deckmantel des Populismus verbergen. Andererseits sind auch Tendenzen festzustellen, wonach Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, ohne eine extremistisch-ideologische Motivation oder Zielsetzung zu vertreten, vermehrt Distanz zu dem Staat und seinen Institutionen entwickeln. Aus Enttäuschung über unliebsame politische Entscheidungen und Sorge um die Zukunft verbreiten sich so in Teilen unserer Gesellschaft Frustration und Zynismus, die Wertschätzung für die Grundwerte unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung schwindet. Gesellschaftlicher und politischer Diskurs und inhaltliche Debatte sind Kernelemente einer Demokratie, sie lebt geradezu vom Widerstreit der Visionen und Positionen. Die deutsche Geschichte sollte uns Mahnung sein, dass Unzufriedenheit mit gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Gegebenheiten nicht zum Steigbügelhalter für antidemokratische Akteure werden darf. 8 Der diesjährige Jahrestag von Erlass und Inkrafttreten unseres deutschen Grundgesetzes sollte uns vor Augen führen, was wir und die Generationen vor uns erreicht haben und welch hohen Preis europaweit Millionen Menschen gezahlt haben, damit wir heute in dieser freiheitlichen demokratischen Gesellschaft leben können. Freiheit, Würde, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit sind Güter, die es zu schützen gilt. Auch wenn unsere Demokratie nicht perfekt sein mag: Es ist die einzige Staatsform, die jedem Einzelnen ein Leben in Freiheit und Sicherheit garantiert. Lassen Sie uns in der Sache streiten, jedoch im Bekenntnis zu Freiheit und Demokratie in Eintracht stehen. Lassen sie uns, wie in den letzten Monaten vielfach überall in Deutschland zu sehen, aufstehen gegen Extremismus. Lassen Sie uns tagtäglich eintreten für unsere Demokratie. München, im April 2024 Dr. Burkhard Körner Präsident des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz 9 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Inhalt Informationen zum Verfassungsschutz 18 1. Der Verfassungsschutz als Frühwarnsystem 18 2. Gesetzlicher Auftrag 18 3. Informationsbeschaffung 23 4. Kontrolle des Verfassungsschutzes 24 5. Zusammenarbeit mit der Polizei 25 6. Information und Prävention 26 6.1 Phänomenübergreifende Information und Prävention 26 6.2 Phänomenspezifische Prävention 29 6.2.1 Prävention gegen Islamismus und Salafismus 29 6.2.2 Prävention gegen Rechtsextremismus 31 6.2.3 Prävention gegen Reichsbürger und Selbstverwalter 34 6.2.4 Prävention gegen Linksextremismus 35 6.2.5 Prävention gegen die Scientology-Organisation 36 6.2.6 Wirtschaftsschutz und Cyber-Allianz-Zentrum 37 Verfassungsschutzrelevante Reaktionen auf den Nahostkonflikt 38 1. Demonstrationsgeschehen in Bayern 39 2. Reaktionen bayerischer extremistischer Akteure 40 2.1 Auslandsbezogener Extremismus 40 2.1.1 Samidoun 40 2.1.2 BDS-Bewegung 40 2.1.3 Türkischer Linksextremismus 43 2.2 Islamismus 44 2.2.1 Legalistischer Islamismus 44 2.2.2 Salafismus und Jihadismus 45 2.3 Linksextremismus 46 2.4 Rechtsextremismus 48 10 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus 52 1. Personenpotenzial in Bayern 53 2. Allgemeines 54 2.1 Strömungen im Islamismus 54 2.2 Antisemitismus im Islamismus 56 3. Strukturen 60 3.1 Legalistischer Islamismus 60 3.1.1 Die Muslimbruderschaft (MB) und ihr Einfluss in Deutschland 62 3.1.2 Milli Görüs-Bewegung 66 3.1.3 Furkan Bewegung (ehemals: Furkan Gemeinschaft) 69 3.1.4 Hizb ut-Tahrir (HuT) 71 3.1.5 Tablighi Jama'at (TJ) 75 3.1.6 Schiitischer Islamismus 76 3.2 Salafismus 78 3.2.1 Ursprung 78 3.2.2 Ideologie 78 3.2.3 Personenpotenzial 80 3.2.4 Reisebewegungen sowie Rückkehrerinnen und Rückkehrer 82 3.2.5 Rekrutierung und Propaganda 85 3.2.6 Salafistische Bestrebungen im Justizvollzug 94 3.2.7 Anschlagsgeschehen und Täterprofile 95 3.2.8 Exekutivmaßnahmen 100 3.2.9 Islamischer Staat, al-Qaida und andere jihadistischsalafistische Strukturen 103 3.3 Sonstiger islamistischer Terrorismus 110 3.3.1 HAMAS (Islamische Widerstandsbewegung) 110 3.3.2 Hizb Allah (Partei Gottes) 111 4. Sonstige verbotene Organisationen 113 11 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Auslandsbezogener Extremismus 116 1. Personenpotenzial in Bayern 117 2. Allgemeines 117 2.1 Strömungen des auslandsbezogenen Extremismus 118 2.2 Konfliktund Gewaltpotenzial 122 2.3 Präsidentschaftsund Parlamentswahlen in der Türkei 123 2.4 Antisemitismus 124 2.4.1 Antisemitismus und Antizionismus der PKK-Szene 126 2.4.2 Antisemitismus im türkischen Rechtsextremismus 126 2.4.3 Antisemitismus im türkischen Linksextremismus 127 3. Strukturen 127 3.1 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) 127 3.2 Türkischer Rechtsextremismus 133 3.2.1 Organisierte Ülkücü-Szene 135 3.2.2 Freie türkisch-rechtsextremistische Szene 136 3.3 Türkischer Linksextremismus 137 3.3.1 DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) 137 3.3.2 Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) 139 Rechtsextremismus 142 1. Personenpotenzial in Bayern 144 2. Gewaltpotenzial 146 3. Staatliche Maßnahmen 148 3.1 Lagebild "Rechtsextremisten, 'Reichsbürger' und 'Selbstverwalter', Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates in Sicherheitsbehörden" 148 3.2 Prävention 149 3.3 Bekämpfung von Hass-Postings 150 3.4 Vereinsverbote 150 3.5 Waffenentzug 152 4. Rechtsextremistische Themenfelder und Aktionsformen 153 4.1 Rechtsextremistische Themenfelder 153 4.2 Rechtsextremistische Aktionsformen 169 4.2.1 Kampfsportaktivitäten und Waffenaffinität 169 4.2.2 Internationale Kontakte bayerischer Rechtsextremisten 170 4.2.3 Freizeitaktivitäten zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls und zur Nachwuchsgewinnung 172 5. Internet 172 5.1 Nutzung unterschiedlicher Plattformen und Formate 173 5.2 Vernetzungsaktivitäten und Radikalisierung im Netz 174 12 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 6. Musik, Medien und Vertriebe 177 6.1 Rechtsextremistische Musik 177 6.2 Rechtsextremistische Medien 179 6.3 Rechtsextremistische Vertriebe 181 7. Immobiliensuche und -erwerb 182 8. Rechtsextremistische Parteien und parteinahe Strukturen 183 8.1 Die Heimat (vormals Nationaldemokratische Partei Deutschlands, NPD) 183 8.2 Partei Der Dritte Weg (III. Weg) 188 8.3 Junge Alternative für Deutschland Bayern (JA Bayern) 194 9. Beobachtung der AfD 196 10. Parteiunabhängige rechtsextremistische Organisationen 206 10.1 Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) 206 10.2 Extremistische Bestrebungen innerhalb bayerischer Burschenschaften 209 11. Neonazismus und Kameradschaften 211 12. Rechtsextremistische Subkulturen 212 Reichsbürger und Selbstverwalter 216 1. Personenpotenzial 218 2. Gewaltpotenzial und Straftaten 220 3. Ideologie 223 4. Typische Aktivitäten 225 4.1 Auftreten gegenüber Justiz und Verwaltung 225 4.2 Beantragung von Staatsangehörigkeitsausweisen und Nutzung eigener Dokumente 226 4.3 Seminare, Vorträge und Veranstaltungen 227 4.4 Onlineaktivitäten 228 4.5 Überregionale und internationale Kontakte 230 5. Aktuelle Aktivitäten in Bayern 231 6. Reichsbürgergruppierungen in Bayern 234 6.1 Vaterländischer Hilfsdienst (VHD) 234 6.2 Königreich Deutschland (KRD) 236 6.3 Indigenes Volk Germaniten (IVG) 237 6.4 Geeinte deutsche Völker und Stämme (GdVuSt) 238 13 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates 240 1. Aktuelle Entwicklungen 241 2. Personenpotenzial 242 3. Aktivitäten im Netz 243 4. Agitation gegen Repräsentanten des Staates 243 Linksextremismus 246 1. Personenpotenzial in Bayern 248 2. Militanzund Gewaltpotenzial 248 2.1 Neue Ziele und Entgrenzung Iinksextremistischer Gewalt 252 2.2 Aktivitäten in Zusammenhang mit der IAA 2023 254 2.3 Strafund Gewalttaten 257 3. Einflussnahme auf bürgerliche Kampagnen 258 4. Linksextremistische Themenfelder 260 5. Internet und Medien 268 6. Linksextremistische Parteien und Vereinigungen 270 6.1 Offen extremistische Strukturen in der Partei DIE LINKE 270 6.2 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und Umfeld 271 6.2.1 DKP 271 6.2.2 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) 272 6.3 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) 274 6.4 Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD (AB) 276 6.5 Freie Deutsche Jugend (FDJ) 277 6.6 Rote Hilfe e. V. (RH) 278 7. Autonome, Postautonome und Anarchisten 280 7.1 Beschreibung/Hintergrund 280 7.2 Autonome Szene in Bayern 283 7.2.1 Autonome Zentren und Szenetreffs 284 7.2.2 Vernetzungsbestrebungen 288 14 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Scientology-Organisation (SO) 290 1. Personenpotenzial 292 2. Aktionen und Aktivitäten 293 2.1 Aktivitäten der "Ehrenamtlichen Geistlichen" 293 2.2 Offensive Öffentlichkeitsarbeit der Tarnorganisation "Der Weg zum Glücklichsein" 295 2.3 Nutzung eines Nachrichtenportals durch die Scientology-Organisation 298 3. Organisationsstruktur 299 3.1 Finanzierung der Scientology-Organisation 301 3.2 Unterorganisationen der Scientology-Organisation 302 3.3 Formen der Kontaktaufnahme 307 4. Aussteigerinnen und Aussteiger 308 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, Cyber-Allianz-Zentrum (CAZ) 310 1. Spionageaktivitäten ausländischer Nachrichtendienste 312 1.1 Russische Föderation 315 1.2 Volksrepublik China 319 1.3 Sonstige nachrichtendienstliche Aktivitäten 322 2. Wirtschaftsschutz 325 3. Cyber-Allianz-Zentrum Bayern (CAZ) 327 4. Cyberabwehr Bayern (CAB) 330 5. Proliferation 332 15 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Organisierte Kriminalität (OK) 336 1. OMCGs und rockerähnliche Gruppierungen 338 1.1 Allgemeines 338 1.2 OMCGs in Bayern 340 1.3 Gefährdungslage Bund/Bayern 341 1.4 Phänomenübergreifende Aspekte 344 2. Russisch-Eurasische OK (REOK) 345 3. Italienische OK 346 4. Nigerianische OK 349 Anhang 352 Personenpotenzial und Gewalttaten 352 Stichwortregister 353 Verzeichnis der genannten Organisationen und Gruppierungen 358 Bildnachweis 366 Impressum 371 16 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 17 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Verfassungsschutz in Bayern Informationen zum Verfassungsschutz 1. DER VERFASSUNGSSCHUTZ ALS FRÜHWARNSYSTEM Die Bundesrepublik Deutschland ist nach ihrer Verfassung eine wertgebundene, wachsame und wehrhafte Demokratie. Der Staat kann gegen Bestrebungen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen, die in der Verfassung vorgesehenen Abwehrmittel einsetzen, z. B. ein Parteioder Vereinsverbot. Das setzt aber voraus, dass er solche Bestrebungen oder Aktivitäten, die als extremistisch oder als verfassungsfeindlich bezeichnet werden, rechtzeitig erkennen kann. Hier setzt die Aufgabe des Verfassungsschutzes als Frühwarnsystem zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sowie zum Schutz des Bestandes und der Sicherheit von Bund und Ländern ein. 2. GESETZLICHER AUFTRAG Die Aufgaben und Befugnisse des Verfassungsschutzes sind gesetzlich genau festgelegt. Ein Ermessensspielraum bei der Entscheidung, welche Bestrebungen zu beobachten sind, besteht nicht. Das Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) regelt die von Bund und Ländern im Rahmen des Verfassungsschutzes gemeinsam zu erfüllenden Aufgaben und ist zugleich Rechtsgrundlage für die Arbeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Daneben gibt es in allen Ländern eigene Verfassungsschutzgesetze. Novellierung In Bayern regelt das Bayerische Verfassungsschutzgesetz des Bayerischen (BayVSG) die Aufgaben und Befugnisse des Bayerischen VerfassungsLandesamts für Verfassungsschutz, das seinen Sitz in München schutzgesetzes hat und dem Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration unmittelbar nachgeordnet ist. Das Gesetz 18 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 war im Jahr 2022 Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung (Urteil vom 26.04.2022, Az. 1 BvR 1619/17), in deren Folge mit Wirkung vom 1. August 2023 mehrere Vorschriften geändert wurden (GVBl. S. 374). Dies betrifft insbesondere die Vorschriften zur Wohnraumüberwachung und zum Einsatz Foto: Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz in München verdeckter Mitarbeiter sowie von Vertrauensleuten, aber auch die Vorschriften zur Datenübermittlung. Für das Landesamt wurden im Haushaltsplan 2023 insgesamt rund 575 Stellen für Beamte und Tarifbeschäftigte im öffentlichen Dienst ausgewiesen. Das Haushaltsvolumen 2023 betrug rund 44 Millionen Euro. Der Verfassungsschutz sammelt Informationen über sicherBeobachtungsheitsgefährdende und verfassungsfeindliche Bestrebungen im auftrag Inland und wertet diese aus. Diesem originären Beobachtungsauftrag unterliegen im Wesentlichen - Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind, 19 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Verfassungsschutz in Bayern - sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht (Sabotage und Spionage), - Bestrebungen, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, - Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker, gerichtet sind sowie - Bestrebungen und Tätigkeiten der Organisierten Kriminalität. Als "Bestrebung" ist eine politisch bestimmte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweise definiert, die darauf gerichtet ist, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes bzw. Verfassungsgrundsätze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Solche Bestrebungen können von Gruppierungen oder Einzelpersonen ausgehen. Arbeitsschwerpunkt des Verfassungsschutzes ist die Beobachtung von extremistischen Personenzusammenschlüssen (Organisationen), d. h. in erster Linie die Analyse ihrer Ziele, Aktivitäten, ihrer Stärke, ihres Aufbaus und ihrer finanziellen Verhältnisse. Aber auch die Beobachtung von extremistischen Einzelpersonen ist zulässig. Extremistische oder sicherheitsgefährdende Bestrebungen werden in Bayern derzeit in folgenden Phänomenbereichen beobachtet: - Islamismus - Auslandsbezogener Extremismus - Rechtsextremismus - Reichsbürger und Selbstverwalter - Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates - Verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit - Linksextremismus - Scientology-Organisation Der Beobachtungsauftrag des Verfassungsschutzes umfasst auch extremistische Aktivitäten im Internet, z. B. in Blogs und Foren. Dabei ist aber eine "automatische" Zurechnung von anonymen Beiträgen in Blogs oder Foren zulasten der Verantwortlichen rechtlich nicht zulässig. Erst wenn eine politisch motivierte, gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Zielrichtung zurechenbar festzustellen ist, ist der Beobachtungsauftrag des Verfassungsschutzes eröffnet. 20 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Nach einer Grundsatzentscheidung des BundesverfassungsgeBeobachtung von richtes aus dem Jahr 2013 zu den Voraussetzungen und Grenzen Abgeordneten der Beobachtung von Abgeordneten durch den Verfassungsschutz ist die Beobachtung von Parlamentsabgeordneten durch die Verfassungsschutzbehörden wegen des darin liegenden Eingriffes in das freie Mandat der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) nur unter engen rechtlichen Voraussetzungen zulässig. An die Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist dabei mit Blick auf die Bedeutung, die das Grundgesetz dem freien Mandat zuerkennt, ein strenger Maßstab anzulegen. Ein die Beobachtung rechtfertigendes, überwiegendes Interesse am Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung liegt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes insbesondere dann vor, wenn Abgeordnete ihr Mandat zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbrauchen oder diese aktiv und aggressiv bekämpfen. In Bayern ist die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität (OK) Organisierte seit 1994 nicht nur Aufgabe der Polizei, sondern - zum Schutz der Kriminalität verfassungsmäßigen Ordnung - auch des Verfassungsschutzes. Der Bayerische Verfassungsschutz klärt da auf, wo Polizei oder Staatsanwaltschaft rechtlich noch nicht tätig werden können, und liefert so einen wertvollen Beitrag zur Bekämpfung krimineller Strukturen. Die Strukturaufklärung ist dabei nicht auf die Bearbeitung einzelner Delikte ausgerichtet, sondern analysiert die kriminellen Strukturen in einem ganzheitlichen Zusammenhang. Personen, die der OK angehören bzw. sich in deren Umfeld aufhalten, agieren sehr konspirativ. Die Aufklärung dieser Strukturen setzt eine systematische und vor allem langfristig angelegte Beobachtung voraus, die auch den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel erfordert. Liegen dem Verfassungsschutz konkrete Anhaltspunkte für kriminelle Strukturen und Straftaten vor, werden im Rahmen der gesetzlichen Übermittlungsbefugnisse diese zur weiteren Bearbeitung an Polizei und Staatsanwaltschaft abgegeben. Eine weitere Aufgabe des Verfassungsschutzes ist die SpionageSpionageabwehr abwehr, d. h. die Abwehr der Spionageaktivitäten von Nachrichtendiensten fremder Staaten gegen Deutschland. Wesentliche Angriffsziele sind die Bereiche Politik, Militärtechnologie und Wirtschaft. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet die Aktivitäten ausländischer Nachrichtendienste, sammelt Informationen und wertet sie aus, um z. B. deutsche Unternehmen zu schützen. 21 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Verfassungsschutz in Bayern Das seit Juli 2013 bestehende Cyber-Allianz-Zentrum Bayern im Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz unterstützt Unternehmen, Betreiber kritischer Infrastrukturen sowie Wissenschaftsbzw. Forschungseinrichtungen bei der Prävention und Abwehr gezielter Cyberangriffe. Elektronische Angriffe gegen deutsche und bayerische Ziele sind Verursacher enormer betriebsund volkswirtschaftlicher Schäden; ihre Häufigkeit und Qualität steigen seit Jahren stark an. MitwirkungsDaneben hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz aufgaben und eine Reihe von Mitwirkungsaufgaben, bei denen es als FachGeheimschutz berater bei Sachentscheidungen einer anderen Behörde hinzugezogen wird. Dabei fließen die bereits vorhandenen oder aus Anlass des Mitwirkungsersuchens gewonnenen Erkenntnisse in den Entscheidungsprozess einer anderen Behörde mit ein. Zu den Mitwirkungsaufgaben gehören der Geheimund Sabotageschutz. Der Geheimschutz umfasst die Maßnahmen, die verhindern sollen, dass Unbefugte von im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Informationen und Unterlagen - sog. "Verschlusssachen" - Kenntnis erhalten. Verschlusssachen gibt es in Behörden, aber auch in privatwirtschaftlichen Unternehmen, die im Auftrag des Staates tätig werden. Der materielle Geheimschutz befasst sich mit den organisatorischen und technischen Voraussetzungen, die geschaffen werden müssen, um Verschlusssachen vor unbefugtem Zugriff zu schützen. Der personelle Geheimschutz beinhaltet die Sicherheitsüberprüfung von Personen, die mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betraut werden sollen. Die Sicherheitsüberprüfung nach dem Bayerischen Sicherheitsüberprüfungsgesetz (BaySÜG) soll gewährleisten, dass nur zuverlässige Personen eingesetzt werden, bei denen keine Umstände vorliegen, die ein Sicherheitsrisiko darstellen. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz bringt außerdem seine Erkenntnisse im Rahmen weiterer Beteiligungsaufgaben ein, insbesondere bei einbürgerungsund aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen. Es ist an der behördenübergreifenden Arbeitsgruppe "BIRGiT" (Beschleunigte Identifizierung und Rückführung von Gefährdern aus dem Bereich des islamistischen Terrorismus/Extremismus) beteiligt. 22 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Zudem hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz die Aufgabe, im Einzelfall amtliche Auskünfte im Rahmen der Verfassungstreueüberprüfung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst zu erteilen. Ergänzend dazu erfolgen vor Neueinstellungen in den Polizeivollzugsdienst sowie bei der Berufung von Personen in ein Richterverhältnis jeweils Regelanfragen. Außerdem übermittelt das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz relevante Erkenntnisse im Rahmen von Zuverlässigkeitsüberprüfungen, z. B. nach dem Luftsicherheitsgesetz und dem Atomgesetz. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz ist auch Ansprechpartner für die Waffenbehörden: Nach dem zum 20. Februar 2020 in Kraft getretenen Dritten Waffenrechtsänderungsgesetz genügt bereits die bloße Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung, um die waffenrechtliche Unzuverlässigkeit zu vermuten. Bislang waren hier konkrete Unterstützungsleistungen nachzuweisen. Zudem sind die Waffenbehörden nun verpflichtet, auch im Rahmen der waffenrechtlichen Zuverlässigkeitsprüfung eine Auskunft des Verfassungsschutzes einzuholen (Regelanfrage). Die Verfassungsschutzbehörden haben unaufgefordert nachzuberichten, wenn ihnen zu einem späteren Zeitpunkt relevante Erkenntnisse vorliegen (Nachberichtspflicht). Die Regelanfrage ist auch vor Erteilung eines Jagdscheins und im Rahmen sprengstoffrechtlicher Erlaubnisverfahren durchzuführen. 3. INFORMATIONSBESCHAFFUNG Zur Erfüllung seines gesetzlichen Auftrages darf das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz Informationen sammeln und auswerten sowie die für die Fachaufgabenerfüllung erforderlichen Speicherungen vornehmen. Diese Informationen werden zum weit überwiegenden Teil aus offenen Quellen gewonnen (z. B. aus dem Internet, aus Zeitungen, Zeitschriften, Flugblättern, Programmen, Broschüren sowie bei öffentlichen Veranstaltungen extremistischer Organisationen). Einen Teil der Informationen erhält der Verfassungsschutz durch Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel, deren Einsatz das Vorliegen bestimmter gesetzlicher Voraussetzungen erfordert. Für nachrichtendienstliche Mittel, die mit einer erhöhten Eingriffsintensität für die Betroffenen verbunden sind, gelten dabei qualifizierte Anforderungen. 23 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Verfassungsschutz in Bayern Dazu gehören insbesondere: - der Einsatz von Vertrauensleuten (Personen, die der Verfassungsschutzbehörde selbst nicht angehören, aber aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dem jeweiligen Beobachtungsobjekt "Szeneerkenntnisse" gegen Bezahlung liefern), - das Beobachten verdächtiger Personen (Observation) sowie - verdeckte Bildund Tonaufzeichnungen. Eingriffe in das Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis (Überwachung des Postund Telekommunikationsverkehrs) sind besonders strengen rechtsstaatlichen Anforderungen unterworfen. Die Voraussetzungen, unter denen vom Inhalt einer Telekommunikation Kenntnis genommen werden darf, sind in einem eigenen Bundesgesetz geregelt, das nach dem Grundrecht des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses "Artikel 10-Gesetz" (G 10) genannt wird. Ein Verfahren mit mehreren voneinander unabhängigen Kontrollinstanzen stellt sicher, dass in dieses Grundrecht nur eingegriffen wird, wenn die im Gesetz genannten besonderen Gründe vorliegen. Ähnliches gilt für die Auskunftsverpflichtungen von Postund Telekommunikationsdienstleistern sowie für die Verwendung technischer Mittel zur Identifizierung von bisher unbekannten Mobilfunkanschlüssen. Besonders strenge rechtsstaatliche Sicherungen gelten auch für den Einsatz von technischen Mitteln in Wohnund Geschäftsräumen sowie für den verdeckten Zugriff auf informationstechnische Systeme. Solche Maßnahmen dürfen nur auf richterliche Anordnung vorgenommen werden. 4. KONTROLLE DES VERFASSUNGSSCHUTZES Die Tätigkeit des bayerischen Verfassungsschutzes unterliegt einer vielfältigen Kontrolle. Dazu gehört die allgemeine parlamentarische Kontrolle, die durch die Berichtspflicht des verantwortlichen Ministers gegenüber dem Landtag im Rahmen von Anfragen von Abgeordneten, Petitionen usw. ausgeübt wird. Eine besondere Kommission des Bayerischen Landtags, das Parlamentarische Kontrollgremium, überwacht die Arbeit des Verfassungsschutzes. Die G 10-Kommission überprüft u. a. die 24 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Maßnahmen zur Überwachung des Postund Telekommunikationsverkehrs sowie die Zulässigkeit und Notwendigkeit der Auskunftsverpflichtungen von Postund Telekommunikationsdienstleistern, Luftfahrtunternehmen oder Kreditinstituten. Die Verwaltungskontrolle obliegt dem Innenminister im Rahmen der Dienstund Fachaufsicht, ferner dem Bayerischen Landesbeauftragten für den Datenschutz und dem Bayerischen Obersten Rechnungshof. Diese Kontrollen werden ergänzt durch die Möglichkeit, gegen belastende Maßnahmen die Verwaltungsgerichte anzurufen. Schließlich findet über die Medienberichterstattung auch eine Kontrolle durch die Öffentlichkeit statt. 5. ZUSAMMENARBEIT MIT DER POLIZEI Beim Schutz von Staat und Verfassung arbeiten Polizei und Verfassungsschutz eng zusammen. Dabei sind die Polizeiund Verfassungsschutzbehörden jedoch voneinander getrennt (organisatorische Trennung). Aufgabe der Polizei sind die Abwehr von Gefahren sowie die Aufklärung von Straftaten. Sie verfügt über Eingriffsrechte und Zwangsbefugnisse (z. B. Festnahmen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen) und muss eingreifen, sobald sie Hinweise auf Straftaten erhält. Der Verfassungsschutz ist dagegen für die Vorfeldaufklärung zuständig und hat keine Zwangsbefugnisse und kein Weisungsrecht gegenüber der Polizei (befugnisrechtliche Trennung). Hat der Verfassungsschutz ausreichend Erkenntnisse, die ein sicherheitsrechtliches Eingreifen erforderlich machen, unterrichtet er die zuständige Sicherheitsbehörde. Diese entscheidet dann selbstständig, ob und welche Maßnahmen zu treffen sind. Begrenzt wird dieser Informationsaustausch jedoch durch das sog. "informationelle Trennungsprinzip". Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes dürfen aufgrund der verschiedenen Aufgaben von Polizei und Verfassungsschutzbehörden und deren unterschiedlichen Befugnissen Informationen durch den Verfassungsschutz an die Polizei nur in bedeutsamen Fällen übermittelt werden. Daher enthält das BayVSG sehr ausdifferenzierte Regelungen für die Informationsübermittlung an die Polizei. 25 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Verfassungsschutz in Bayern 6. INFORMATION UND PRÄVENTION 6.1 Phänomenübergreifende Information und Prävention Der Verfassungsschutz hat den gesetzlichen Auftrag, Regierung und Parlament sowie die Öffentlichkeit über Aktivitäten und Ziele verfassungsfeindlicher Organisationen zu informieren. Zu diesem Zweck veröffentlicht das Bayerische Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz die jährlich erscheinenden Verfassungsschutzberichte. Eingang in den Verfassungsschutzbericht finden Bestrebungen, bei denen hinreichend gewichtige Anhaltspunkte für Extremismus vorliegen. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz informiert und sensibilisiert auf seiner Webseite, in Veranstaltungen und eigenen Publikationen. Ab 2017 startete online eine gezielt an junge Menschen gerichtete Kurzfilmreihe unter dem Titel "10 Tipps wie du dich nicht verarschen lässt". In 6 Filmen informiert das Präventionsprojekt über Rechtsund Linksextremismus, Salafismus, die Scientology-Organisation, Hass, Hetze und Extremismus im Internet sowie umsichtiges Verhalten in sozialen Medien. Die Filme sind weiterhin über www.verfassungsschutz. bayern.de sowie den YouTube-Kanal der Bayerischen Staatsregierung abrufbar. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz wirkte überdies an anderen Filmprojekten mit, so bei der "Schau hin"-Filmreihe des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration sowie bei der Kampagne "Radikalisierung hat kein Geschlecht" des Bayerischen Staatsministeriums für Familie, Arbeit und Soziales. Seit 2023 erscheint monatlich eine Folge von "Abgehört - dem kompakten Podcast des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz mit Einblicken in Arbeitsweisen und Themenfelder eines deutschen Inlandsnachrichtendienstes". In jeweils 20-minütigen Folgen geben Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz Einblicke in ihr Fachwissen und ihre Erfahrungen. Themen der bereits erschieNeuer Podcast nenen Folgen sind: "Abgehört" - der gesetzliche Auftrag des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz, - die Zusammensetzung und Berufsbilder seines Personals, - das novellierte Bayerische Verfassungsschutzgesetz, - die Arbeit des Cyber-Allianz-Zentrums - der Phänomenbereich Reichsbürger und Selbstverwalter, 26 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 - die Tätigkeit einer Observantin beim Verfassungsschutz sowie - das Verhältnis von Verfassungsschutz und Medien. Mehr Insiderwissen zum Verfassungsschutz bietet kein anderer Podcast. "Abgehört" ist auf allen gängigen Streaming-Plattformen verfügbar. Anregungen und Feedback können jederzeit an abgehoert@lfv.bayern.de gesandt werden. Im Rahmen seiner Öffentlichkeitsarbeit klärt das Bayerische LanFachvorträge für desamt für Verfassungsschutz zudem durch zielgruppenorienMultiplikatoren tierte Fachvorträge über aktuelle extremistische Entwicklungen auf. Diese Fachvorträge richten sich vor allem an Multiplikatoren (Schulen, Universitäten, Bildungsakademien, Träger politischer Bildungsund Jugendarbeit, Kommunen, demokratische Bürgerinitiativen, politische Parteien). Der Verfassungsschutz leistet einen wichtigen Beitrag zur geistig-politischen Auseinandersetzung mit dem Extremismus und dient der Sicherung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz intensiviert stetig seine Beteiligung an Ausbildungsund Fortbildungsmaßnahmen anderer Behörden, z. B. der Bayerischen Polizei, Ausländerbehörden und Bildungseinrichtungen im Sinne der Extremismusprävention im öffentlichen Dienst. Im Jahr 2009 wurde die organisatorisch beim Bayerischen BIGE Landesamt für Verfassungsschutz angesiedelte "Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus" (BIGE) als zentrale Informationsund Beratungsstelle der Staatsregierung zur Bekämpfung des politischen Extremismus eingerichtet. Das Aufgabenfeld der BIGE umfasst den Rechtsund Linksextremismus, die verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit, die verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates sowie die Reichsbürger und Selbstverwalter. Die BIGE soll in diesen Phänomenbereichen nicht nur die Bekämpfung des Extremismus unterstützen, sondern auch die Zusammenarbeit von staatlichen Stellen, Kommunen, Schulen und gesellschaftlichen Einrichtungen stärken. Die BIGE betreibt im Rahmen einer breit angelegten Öffentlichkeitsarbeit zusammen mit dem Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus das Internetportal "Gemeinsam gegen Extremismus" (www.bige.bayern.de). Das Internetportal stellt detailliertes Fachwissen zu den genannten Phänomenbereichen zur Verfügung, informiert mit aktuellen Nachrichten und regionalen Lagebildern über die extremistischen Szenen und hält Beratungssowie Hilfsangebote für betroffene Bürgerinnen und Bürger, Kommunen, Unternehmen, Vereine und Schulen bereit. 27 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Verfassungsschutz in Bayern Insbesondere für Kommunen bietet die BIGE umfangreiche Beratungsleistungen an. Wesentliche Beratungsfelder sind die Unterbindung des Immobilienankaufes für rechtsextremistische Aktivitäten, die Verhinderung von rechtsextremistischen Veranstaltungen wie Konzerten sowie die lokale Agitation von Extremisten insbesondere auch im Zusammenhang mit Unterkünften für Asylbewerber. Fallbezogen arbeitet die BIGE auch mit zivilgesellschaftlichen Initiativen wie der "Landeskoordinierungsstelle Demokratie leben! Bayern gegen Rechtsextremismus" und mit der Projektstelle gegen Rechtsextremismus des "Bayerischen Bündnisses für Toleranz - Demokratie und Menschenwürde schützen" zusammen. Bei Aktivitäten von extremistischen Organisationen im Umfeld von Schulen und bei Problemstellungen mit extremistischem Bezug im Schulalltag steht die BIGE in Zusammenarbeit mit den Regionalbeauftragten für Demokratie und Toleranz der Schulfamilie mit einem umfassenden Maßnahmenkonzept zur Seite. Die BIGE beteiligt sich ferner an Ausund Fortbildungsmaßnahmen anderer Behörden, u. a. mit regelmäßigen Informationsveranstaltungen in der Ausbildung der Beamtenanwärterinnen und -anwärter der 2. und 3. Qualifikationsebene der Bereiche Polizei, Justiz, Finanzen, Sozialverwaltung, Allgemeine Innere Verwaltung und weiterer. Analoge Veranstaltungen sind ab 2024 auch Teil des ressortübergreifenden Einführungslehrganges für die 4. Qualifikationsebene. Das bereits seit 2001 beim Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz bestehende "Bayerische Aussteigerprogramm" wurde mit Gründung der BIGE dort integriert. Hier werden Einzelpersonen durch speziell ausgebildete Beraterinnen und Berater in ihrem Ausstiegsbzw. Deradikalisierungsprozess und damit ihrer Distanzierung von der extremistischen Szene begleitet. Dabei wird auch proaktiv auf Personen zugegangen, die erstmals oder wiederholt in extremistischen Zusammenhängen auffällig geworden sind. Die Zusammenarbeit mit der Bayerischen Polizei in diesem Bereich wurde weiter intensiviert, um den aktuellen Herausforderungen Rechnung zu tragen. Für das Aussteigerund Deradikalisierungsprogramm im Bereich des Islamismus zeichnet das Bayerische Landeskriminalamt verantwortlich. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz und die BIGE sind wie folgt erreichbar: 28 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz Postfach 450145, 80901 München Telefon: 089/31201 0 (rund um die Uhr) Telefax: 089/31201 380 E-Mail: poststelle@lfv.bayern.de www.verfassungsschutz.bayern.de Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus (BIGE) Knorrstraße 139, 80937 München Bürgertelefon: 089/2192 2192 Aussteigertelefon: 089/2192 2767 E-Mail: gegen-extremismus@stmi.bayern.de www.bige.bayern.de 6.2 Phänomenspezifische Prävention 6.2.1 Prävention gegen Islamismus und Salafismus Im Rahmen der Präventionsund Öffentlichkeitsarbeit zum Präventionsstelle Phänomenbereich Islamismus wurde die im Jahr 2015 eingeSalafismus/ richtete Präventionsstelle Salafismus 2021 in Präventionsstelle Islamismus Islamismus umbenannt und um weitere Themenschwerpunkte erweitert. Sie bietet in Form von Präsenzund Onlineinformationsveranstaltungen vielfältige Sensibilisierungs-, Beratungsund Fortbildungsformate zu den Themen Salafismus, Antisemitismus im Islamismus, Legalistischer Islamismus, Schiitischer Islamismus sowie zum Phänomenbereich des auslandsbezogenen Extremismus an. Die Präventionsstelle steht an den Standorten München und Nürnberg für Anfragen aus ganz Bayern zur Verfügung und betreibt u. a. ein Hinweistelefon für Verdachtsfälle und Islamismusprävention. Um Radikalisierungsund Rekrutierungsmechanismen erkennen zu können, qualifiziert die Präventionsstelle Beschäftigte in der Schulund Jugendarbeit, der Verwaltung, der Polizei, des Justizund Maßregelvollzuges und der Bewährungshilfe sowie der Hochschulen. Das Angebot richtet sich auch an Hauptund Ehrenamtliche in der Flüchtlingsarbeit, Sicherheitspersonal von 29 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Verfassungsschutz in Bayern größeren Unternehmen und Wirtschaftsverbänden sowie an Personen, die im sozialen und familiären Umfeld mit den betreffenden Themen in Berührung kommen. Die Präventionsstelle Islamismus unterstützt und berät zudem Landratsämter, Gemeinden und kommunale Einrichtungen, wenn diese vor Ort Anhaltspunkte für entsprechende extremistische Bestrebungen feststellen. In den Vorträgen und Workshops werden Hintergründe sowie aktuelle Entwicklungen in den Bereichen Islamismus und auslandsbezogener Extremismus vermittelt sowie bzw. der Unterschied zwischen dem Islam als Religion und dem Islamismus als extremistischer Ideologie veranschaulicht. In Gesprächen vor Ort werden Handlungsoptionen aufgezeigt und gemeinsam ein mögliches Vorgehen erörtert. Eine Übersicht über die angebotenen Vorträge und Workshops ist im Internet unter www.verfassungsschutz.bayern.de/praevention_islamismus abrufbar. Mit dem Flyer "Was tun gegen Islamismus?" informiert die Präventionsstelle Islamismus über ihre vielfältigen Sensibilisierungs-, Beratungsund Fortbildungsformate. Netzwerk für Im Bereich der Islamismusprävention kooperiert das Bayerische Prävention und Landesamt für Verfassungsschutz im Rahmen des 2015 unter Deradikalisierung Federführung des Staatsministeriums des Innern, für Sport und gegen Salafismus Integration und in Zusammenarbeit mit dem Staatsministerium der Justiz, dem Staatsministerium für Unterricht und Kultus und dem Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales gegründeten "Bayerischen Netzwerk für Prävention und Deradikalisierung gegen Salafismus" mit verschiedensten staatlichen Stellen in den Bereichen der Bildungsarbeit, der Integrationsund Sozialpolitik sowie der Jugendarbeit und des Strafvollzuges. Der ganzheitliche Ansatz des Netzwerkes, an dem auch zivilgesellschaftliche Träger beteiligt sind, deckt die beiden Säulen Prävention und Deradikalisierung systematisch ab. Die Maßnahmen und Strukturen in beiden Bereichen werden stets an aktuelle Entwicklungen sowie neue Zielgruppen und Schwerpunkte angepasst. Das Netzwerk unterhält ein eigenes Internetportal mit Informationen zur Salafismusprävention in Bayern. Interessierte und Betroffene finden unter www.antworten-auf-salafismus.de Antworten auf Fragen zum Thema Salafismus sowie vielfältige Beratungs-, Unterstützungsund Förderangebote. Die Internetplattform wurde 2019 komplett überarbeitet und in 2020 um neue, jugendaffine und interaktive Inhalte erweitert. 30 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Die vom Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Sport Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration und Integration in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz herausgegebene Broschüre Salafismus Prävention durch Information "Salafismus - Prävention durch Information" enthält neben Fragen und Antworten Informationen zum Salafismus auch Informationen über BeraTaghut tungsstellen und Ansprechpartner im Bereich der Prävention und Deradikalisierung, an die sich Betroffene wenden können. Die Broschüre ist im Internet unter www.stmi.bayern.de abSchahid ?Tauhid Salaf ?? ? ? Kuffar Shirk e 21 ag 20 ufl rufbar und kann auch über das Broschürenportal Bayern unter a eu N www.bestellen.bayern.de kostenfrei angefordert werden. Seit April 2018 steht eine weitere Informationsbroschüre mit dem Titel "Islamismus erkennen" zur Verfügung. In der vom Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz herausgegebenen Broschüre liegt der Schwerpunkt der Darstellung auf Logos, Bildern und Symbolfiguren, die eine hohe Wirkkraft auf Anhänger islamistischer Gruppierungen entfalten. Zweck der Broschüre ist es, eine wichtige Grundkompetenz zum möglichst frühzeitigen Erkennen von Radikalisierungsprozessen und extremistischen Gefahren zu vermitteln. Die Broschüre wurde in 2023 überarbeitet, sie ist im Internet abrufbar unter www.verfassungsschutz.bayern.de. Mit dem Informationsfilm "Lass dich nicht verarschen - diesmal von Salafisten" aus seiner oben genannten Filmreihe wirkt das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz den aus salafistischer Propaganda erwachsenden Gefahren für den Einzelnen entgegen. Hinweistelefon für Verdachtsfälle und Islamismusprävention Telefon: 089/31201 480 E-Mail: islamismuspraevention@lfv.bayern.de 6.2.2 Prävention gegen Rechtsextremismus Das 2009 erstmals vorgelegte "Bayerische Handlungskonzept gegen Rechtsextremismus" stellt die staatlichen Strukturen, Vorgehensweisen und Maßnahmen in Bayern, die konzeptionell eingebettet sind in die 3 Säulen Vorbeugen - Unterstützen - Eingreifen, umfassend dar. Neben den verschiedenen Erscheinungsformen des Rechtsextremismus werden die staatlichen Akteure und Anlaufstellen vorgestellt sowie die ressortübergreifende Zusammenarbeit und Vernetzung mit zivilgesellschaftlichen 31 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Verfassungsschutz in Bayern Akteuren aufgezeigt. Das Handlungskonzept wird im Rahmen der interministeriellen Zusammenarbeit zwischen dem federführenden Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration, dem Staatsministerium der Justiz, dem Staatsministerium für Unterricht und Kultus, dem Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst und dem Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales fortgeschrieben und wurde Ende 2022 neu aufgelegt. Dabei wurden auch neue Entwicklungen im Bereich des Rechtsextremismus (z. B. die Beteiligung von Rechtsextremisten an aktuellen Protestbewegungen, Verschwörungstheorien im Rechtsextremismus), neue Präventionsangebote sowie das Hinzutreten weiterer Akteure, wie etwa des Beauftragten der Bayerischen Justiz zur Bekämpfung von Hate Speech sowie des zentralen Antisemitismusbeauftragten der Bayerischen Justiz, mit einbezogen. Für die breite Öffentlichkeit wurde begleitend eine kurze Broschüre erstellt. Handlungskonzept und Begleitbroschüre sind für alle Bürgerinnen und Bürger über die Internetpräsenzen der beteiligten Ministerien und staatlichen Akteure abrufbar und können auch in gedruckter Form über das Broschürenportal Bayern unter www.bestellen.bayern.de angefordert werden. Die BIGE ist ein wichtiger Bestandteil des "Bayerischen Handlungskonzepts gegen Rechtsextremismus". Ein Kernthema ihrer Präventionsarbeit gegen Rechtsextremismus ist die Beratung von Kommunen. Einer der Schwerpunkte der Beratung sind Handlungsempfehlungen zur wirksamen Bekämpfung der Agitation gegen Asylbewerber und den Bau von Asylbewerberunterkünften. Aufgrund der zuletzt wieder steigenden Flüchtlingszahlen und der damit einhergehenden Instrumentalisierung des Themas Asyl durch rechtsextremistische Gruppierungen hat die BIGE im Februar 2022 die Handreichung "Umgang mit Rechtsextremisten im Zusammenhang mit Asylbewerberunterkünften" für politische Entscheidungsträger auf kommunaler Ebene sowie deren Mitarbeiter erstellt und an alle bayerischen Landratsämter und Kommunen verteilt. Sie enthält Hintergrundinformationen zur Motivation und Strategie der rechtsextremistischen Szene im Zusammenhang mit Asylbewerberunterkünften, zeigt grundsätzliche Handlungsempfehlungen zum Umgang mit rechtsextremistischer Agitation vor Ort auf und bietet konkrete Tipps - z. B. hinsichtlich der Durchführung von Bürgerversammlungen. 32 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Mit dem "HandIungsIeitfaden zum Umgang mit Rechts(rock)-Konzerten und vergleichbaren Veranstaltungen" unterstützt die Staatsregierung u. a. Gemeinden, die mit solchen Veranstaltungen effektiv und sachgerecht umgehen müssen und vielfach nur eine sehr kurze Vorbereitungszeit für die Prüfung von Untersagungsgründen, Anordnungen oder Auflagen zur Verfügung haben. Ergänzend zum Leitfaden berät die BIGE Kommunen im konkreten Einzelfall. Ziel ist es, bereits im Vorfeld derartige Veranstaltungen möglichst zu verhindern und die Etablierung oder Verfestigung einer rechtsextremistischen Szene vor Ort zu unterbinden. Das strikte Vorgehen der bayerischen Sicherheitsbehörden führte bereits wiederholt dazu, dass Musikveranstaltungen in Bayern nicht stattfanden. Seit Einrichtung der BIGE 2009 wurden zahlreiche Kommunen in Bayern im Hinblick auf Kauf, Pacht, Anmietung oder sonstige längerfristige Nutzung von Immobilien durch die rechtsextremistische Szene beraten. In mehreren Fällen konnte bereits ein Kauf von Gasthöfen durch Szeneangehörige mit Unterstützung der BIGE verhindert werden. Ferner unterstützt die Bayerische Staatsregierung mit dem "Handlungsleitfaden für Städte und Gemeinden zum Umgang mit rechtsextremistisch genutzten Immobilien" jene Kommunen, die mit entsprechenden Problemstellungen konfrontiert werden. Die zusammen mit dem Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration am 1. Juli 2020 neu aufgelegte Broschüre "Nein zu Nazis und Co." informiert über rechtsextremistische Agitation unter Jugendlichen und Heranwachsenden und klärt über neue Erscheinungsformen sowie Ziele, Taktiken und Strategien von Rechtsextremisten auf. Neben der sicherheitsbehördlichen Beobachtung und Auswertung verfassungsfeindlicher Aktivitäten im Internet ist das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz auch im Bereich der Aufklärung und Sensibilisierung bezüglich extremistischer Gefahren im Netz aktiv. Im Juni 2020 erschien im Rahmen der oben genannten Filmreihe "10 Tipps, wie du dich nicht verarschen lässt - diesmal von Rechtsextremisten". 33 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Verfassungsschutz in Bayern Weiterführende Informationen zum Rechtsextremismus www.verfassungsschutz.bayern.de www.bige.bayern.de Broschüre: "Nein zu Nazis und Co." Telefon: 089 / 2192 2192 E-Mail: gegen-extremismus@stmi.bayern.de 6.2.3 Prävention gegen Reichsbürger und Selbstverwalter Mit dem Flyer "Reichsbürger und Selbstverwalter: Harmlose Spinner oder gefährliche Extremisten?" stellt das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz weitergehende Informationen über die Ziele und Agitationsformen von Reichsbürgern und Selbstverwaltern zur Verfügung. Der Flyer klärt darüber auf, welche Argumente Szeneangehörige nutzen und in welchen Bereichen sie aktiv sind. Zugleich wird aufgezeigt, wie man sich in unerwünschten Konfrontationssituationen souverän verhalten kann, um sich vor Vereinnahmungsversuchen, aber auch Einschüchterungsund Bedrohungsszenarien, zu schützen. Die BIGE informiert auf ihrer Webseite www.bige.bayern.de zu Hintergründen und aktuellen Aktivitäten von Reichsbürgern und Selbstverwaltern. Darüber hinaus ist sie mit Messeständen, Vorträgen, Workshops und Veranstaltungen zu diesem Phänomenbereich aktiv. Sie bietet zudem Beratung und Unterstützung im Umgang mit diesem Personenkreis an, etwa im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Kommunen, staatlichen Behörden sowie Polizei und Justiz. Weiterführende Informationen zur Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter www.verfassungsschutz.bayern.de www.bige.bayern.de Flyer: "Reichsbürger und Selbstverwalter: Harmlose Spinner oder gefährliche Extremisten?" Telefon: 089 / 2192 2192 E-Mail: gegen-extremismus@stmi.bayern.de 34 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 6.2.4 Prävention gegen Linksextremismus Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz klärt mit einem Informationsfilm und einem Flyer über die Ziele und Vorgehensweisen der autonomen linksextremistischen Szene auf und sensibilisiert damit insbesondere junge Menschen für deren Anwerbestrategien. Mit dem Informationsfilm "Lass dich nicht verarschen - diesmal von autonomen Linksextremisten" aus der eingangs genannten Filmreihe vermittelt das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz eine differenzierte Sichtweise auf die gewaltbereite autonome Szene und gibt Nutzerinnen und Nutzern 10 Tipps an die Hand, wie sie Anwerbestrategien der linksextremistischen Szene erkennen und sich vor einer Vereinnahmung schützen können. Der Film kann auf dem Youtube -Kanal der Bayerischen Staatsregierung unter www.youtube.com/ user/bayern abgerufen werden. Mit dem Flyer "Autonome - Linksextremistische Gewalttäter oder selbsternannte Freiheitskämpfer?" stellt das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz weitergehende Informationen über die Gewaltbereitschaft der linksautonomen Szene zur Verfügung. Der Flyer klärt darüber auf, in welchen Bereichen Autonome aktiv sind, wie sie ihren Nachwuchs rekrutieren und welche Hinweise es für eine beginnende Radikalisierung gibt. Er ist über das Publikationsportal der Bayerischen Staatsregierung unter www.bestellen.bayern.de abrufund bestellbar. Die BIGE informiert zur linksextremistischen Szene in Bayern auf ihrer Webseite www.bige.bayern.de sowie bei Veranstaltungen und bietet bei Bedarf individuelle Beratungen an. Weiterführende Informationen zum Linksextremismus www.verfassungsschutz.bayern.de www.bige.bayern.de Telefon: 089 / 2192 2192 E-Mail: gegen-extremismus@stmi.bayern.de 35 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Verfassungsschutz in Bayern 6.2.5 Prävention gegen die Scientology-Organisation Mit der in 2020 neu aufgelegten Broschüre "Das System Scientology" klärt das Bayerische Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration über die Ideologie und die Ziele der "Scientology-Organisation" (SO) sowie deren Strategien zur Gewinnung neuer Mitglieder auf. Die Broschüre bietet zudem Hilfestellung und nennt Anlaufstellen für Ausstiegswillige, Betroffene und deren Angehörige. Seit mehr als 20 Jahren wird die Broschüre erfolgreich in der Präventionsarbeit eingesetzt und zählt zu den gefragtesten Publikationen des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz. Zeitgleich mit der Neuauflage der Broschüre veröffentlichte das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz einen Kurzfilm, mit dem vor allem junge Menschen über die Manipulationsmethoden der SO informiert werden sollen. Der vom Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz produzierte Kurzfilm ist der 5. Teil der oben genannten Filmreihe "10 Tipps wie du dich nicht verarschen lässt". Weitergehende Informationen zur SO, ein Glossar zum scientologischen Sprachgebrauch sowie die Adressen von Beratungsstellen finden sich auf den Internetseiten des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz sowie des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration. Opfer und Aussteiger der "Scientology-Organisation" (SO) sowie Angehörige von SO-Mitgliedern können sich an ein vertrauliches Telefon des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz wenden. Vertrauliches Telefon Telefon: 089/31201 296 Weitere Informationen und Beratungsstellen Broschüre: "Das System Scientology" www.stmi.bayern.de www.verfassungsschutz.bayern.de 36 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 6.2.6 Wirtschaftsschutz und Cyber-Allianz-Zentrum Im Rahmen seiner Wirtschaftsschutztätigkeit stellt das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz Unternehmen und Forschungseinrichtungen zielgerichtete Präventionsangebote zur Spionageabwehr zur Verfügung. Einen Schwerpunkt bildet hier die Abwehr elektronischer Angriffe, die seit Juli 2013 vom Cyber-Allianz-Zentrum Bayern (CAZ) wahrgenommen wird. Erkenntnisse des CAZ fließen regelmäßig in die Arbeit der Cyberabwehr Bayern (CAB) ein, eine behördeninterne Informationsund Kooperationsplattform für alle mit Cybersicherheitsaufgaben betrauten bayerischen Behörden. Die CAB ist seit 2020 im Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beheimatet. Wirtschaftsschutz und Cyber-Allianz-Zentrum Bayern Telefon: 089/31201 222 E-Mail:wirtschaftsschutz@lfv.bayern.de www.wirtschaftsschutz.info Telefon: 089/31201 222 E-Mail:caz@lfv.bayern.de www. verfassungsschutz.bayern.de 37 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzrelevante Reaktionen auf den Nahostkonflikt Am 7. Oktober 2023 griff die islamistische Terrororganisation HAMAS Israel im Rahmen der "Operation Al-Aqsa-Flut" vom Gazastreifen aus an. Bei dem Angriff wurden nach israelischen Angaben über 1.400 Personen, überwiegend israelische Staatsangehörige, getötet und ca. 240 Personen in den Gazastreifen verschleppt. Israel rief daraufhin den Kriegszustand aus. Es handelt sich um die größte Eskalation des Nahostkonfliktes seit dem Jom-Kippur-Krieg vor exakt 50 Jahren. Bei dem Angriff der HAMAS wurden auch mehrere Bundesbürger getötet bzw. verletzt. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes ist von bislang 8 Toten und 21 sonstigen geschädigten Personen auszugehen. 13 deutsche Staatsangehörige wurden bislang - im Rahmen von Vermittlungsverhandlungen zwischen Israel und der HAMAS - aus der Geiselhaft entlassen. Die Terrorangriffe der HAMAS in Israel und die daraus resultierenden Wechselwirkungen im Rahmen eines bewaffneten Konfliktes können nicht als isoliertes regionales Phänomen betrachtet werden. Vielmehr sind durch Gesellschaft und Sicherheitsbehörden vielfältige internationale Auswirkungen bis auf das deutsche Bundesgebiet und den Freistaat Bayern zu beobachten. Eine im Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz gebildete Sonderstruktur bearbeitet phänomenbereichsübergreifende Sachverhalte in Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt und dessen Auswirkungen auf den Freistaat Bayern. Neben einer intensivierten Strukturaufklärung von relevanten extremistischen Akteuren in Bayern im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt liegt der Schwerpunkt der Maßnahmen darauf, Vernetzungen zwischen den Akteuren aufzudecken, Stimmungsbilder zu erfassen und potenzielle sich daraus ergebende Radikalisierungsund Gefährdungssachverhalte zu identifizieren. 38 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 1. DEMONSTRATIONSGESCHEHEN IN BAYERN Die Zahl der Versammlungen in Bayern hat sich bis Ende 2023 auf einem niedrigen Niveau eingependelt. Insgesamt ist die Mobilisierung rückläufig, die angekündigten Teilnehmerzahlen wurden zumeist verfehlt. Die bislang in Bayern abgehaltenen Versammlungen verliefen überwiegend störungsfrei. Den Schwerpunkt der versammlungsbezogenen Straftaten bilden antiisraelische und/oder antisemitisch motivierte Straftaten, wie der Diebstahl israelischer Flaggen, Beleidigungen oder Volksverhetzung, z. B. durch die Ablehnung des Existenzrechtes Israels. Die weitere Entwicklung des Versammlungsgeschehens dürfte vom weiteren Kriegsverlauf abhängen. Besonders mit Blick auf Veranstaltungen, die von extremistischen Akteuren angemeldet wurden oder bei denen unter den Teilnehmern ein erhebliches extremistisches Personenpotential zu erwarten war, führte das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz verschiedene Informationsveranstaltungen zum Thema Nahostkonflikt durch. So wurden die Polizeipräsidien über die relevanten extremistischen Akteure und Symbole mit Bezügen zum Nahostkonflikt sensibilisiert. 39 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Krisenthemen und Extremismus 2. REAKTIONEN BAYERISCHER EXTREMISTISCHER AKTEURE 2.1 Auslandsbezogener Extremismus 2.1.1 Samidoun Im Bereich des auslandsbezogenen Extremismus geriet zunächst die der "Volksfront zur Befreiung Palästinas" (PFLP, "Popular Front for the Liberation of Palestine") nahestehende Organisation "Samidoun" ins Blickfeld der medialen Öffentlichkeit. Das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) belegte mit Verfügung vom 2. November Samidoun wegen Verstößen gegen den Gedanken der Völkerverständigung mit einem Betätigungsverbot. In den Aktionsformen und Aussagen von "Samidoun"-Akteuren zeigte sich u. a. die Befürwortung von Gewaltanwendung zur Durchsetzung politischer Belange. 2.1.2 BDS-Bewegung Agitationsmuster mit Extremismusbezug konnten in Bayern u. a. hinsichtlich des BDS-Spektrums festgestellt werden. Die BDS-Bewegung ("Boycott, Divestment, Sanctions"; deutsch: "Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen") entstand kurz nach dem Ende der sog. "al-Aqsa-Intifada" im Jahr 2005 und wurde durch die Veröffentlichung ihres Manifestes "Palestinian Civil Society Call for BDS" offiziell ins Leben gerufen. BDS propagiert eine Kampagne, die einen umfassenden (wirtschaftlichen, kulturellem, akademischen) Boykott, den Rückzug von Investitionskapital und gezielten Sanktionen gegen den Staat Israel zum Ziel hat. Nach eigenen Angaben besteht die BDS-Bewegung als Teil der palästinensischen Zivilgesellschaft aus einem Zusammenschluss von 171 teils sehr unterschiedlichen palästinensischen NGOs und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Laut BDS wird dieser Zusammenschluss von den "Palestinian National and Islamic Forces" angeführt. Dieser Zusammenschluss tritt gleichzeitig als Koordinationsorgan der wichtigsten politischen Parteien in den palästinensischen Autonomiegebieten auf. Vertreten in diesem Bündnis sind mehrere auf der EU-Terrorliste geführte Organisationen, wie etwa HAMAS, der "Palästinensische Islamische Jihad" (PIJ, "Palestinian Islamic Jihad") und PFLP. 40 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Die BDS-Bewegung ist keine homogene Vereinigung, Partei oder Organisation, sondern vielmehr ein Zusammenschluss von unterschiedlichen Personen mit fluider Gruppendynamik, wobei sich BDS mittels unterschiedlicher Aktionsformen als selbstständige Vertreterin palästinensischer Interessen gegen Israel sieht. In Reaktion auf den Terrorangriff der HAMAS führten auch "Palästina spricht - Mitglieder der Gruppierung "Palästina spricht - München" (PS München" MUC) pro-palästinensische Versammlungen in Bayern durch. PS MUC wird aufgrund ihrer Aktionsund Agitationsformen dem BDS-Spektrum zugerechnet. Im Verlauf der Versammlungen wurden auch Parolen und Slogans verwendet, die den Anfangsverdacht der Volksverhetzung erfüllen. Hierunter fällt u. a. die Formulierung: "From the river to the sea, Leugnung des ExisPalestine will be free". Systematisch ist die vielfach geäußtenzrechts Israels erte Argumentationslinie u. a. auf die erste Forderung des sog. "BDS-Call" zurückzuführen, welcher "das Ende der Besatzung und Kolonialisierung allen arabischen Landes" fordert. Personen, die diesen Ausruf tätigen oder auf Bannern verbreiten, drücken damit ihren Wunsch aus, dass sich ein palästinensischer Staat vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer erstrecken soll. Für einen (jüdischen) Staat Israel bliebe nach überwiegender Interpretation dieses Satzes in diesem Szenario kein Platz, da an dessen Stelle der palästinensische Staat treten würde. Diese Form des Vernichtungs-Antizionismus steht der freiheitlichen demokratischen Grundordnung entgegen und ist auch mit dem Gedanken der Völkerverständigung nicht in Einklang zu bringen. In Übereinstimmung mit der Auffassung der Rechercheund Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern ist festzustellen, dass es Anhängerinnen und Anhängern dieser Position zumeist "nicht um eine Zwei-Staaten-Lösung, sondern um eine Kein-Staat-Israel-Lösung" geht. Diese Interpretation des Slogans wurde bei Veranstaltungen von PS MUC auch dadurch bestätigt, dass regelmäßig Banner verwendet wurden, die das gesamte Territorium Israels in die Farben der palästinensischen Flagge einfärbten. Inhaltliche Entsprechungen findet diese Interpretation des Übereinstimmung Slogans "From the river to the sea" auch in der Charta der mit Charta der HAMAS von 2017. In Artikel 20 der Charta heißt es: HAMAS 41 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Krisenthemen und Extremismus Die Hamas ist der Ansicht, dass kein Teil des Landes Palästina aufgegeben oder zugestanden werden darf, unabhängig von den Ursachen, den Umständen und dem Druck und unabhängig davon, wie lange die Besatzung andauert. Die Hamas lehnt jede Alternative zur vollständigen und uneingeschränkten Befreiung Palästinas vom Fluss bis zum Meer ab. Der Rekurs auf Rhetorikmuster aus dem israelisch-palästinensischen Konfliktgebiet zeigte sich auch in einem Social-Media-Post von PS MUC. Mit einem Beitrag auf der Plattform Instagram erinnerte die Gruppe im August an den Tod von Ibrahim Al-Nabulsi, der am 9. August 2022 durch israelische Kräfte in Nablus (Westjordanland) getötet wurde. Al-Nabulsi war ein ranghoher Führer der "Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden". Die "Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden" gelten als bewaffneter Arm der "Fatah" (Politische Partei in den Palästinensischen Autonomiegebieten) und werden auf der EU-Terrorliste geführt. 42 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 2.1.3 Türkischer Linksextremismus Wie im deutschen Linksextremismus existiert auch im türkischen Linksextremismus kein rassistisch motivierter Antisemitismus. Dennoch sind hier auch in Teilen des türkisch-linksextremistischen Spektrums unter den Stichworten "Antizionismus", "Antiimperialismus" sowie "Antikapitalismus" im Kern antisemitische Ressentiments vorhanden, die vorrangig in Stellungnahmen zum ungelösten Nahostkonflikt in Erscheinung treten. Auch Angehörige der türkisch-linksextremistischen Szene sehen Israel als imperialistische Besatzungsmacht, die Krieg gegen das palästinensische Volk führe und ein Vorposten der USA sei. DHKP-C "Avrupa Dev Genc", die europäische Jugendorganisation der türkisch-linksextremistischen Terrororganisation DHKP-C, teilte über ihren deutschsprachigen Instagram-Account mehrere Veranstaltungsaufrufe sowie Unterstützungsbeiträge für "Samidoun Deutschland" - darunter die Ankündigung der "Demo for a free Palestine (Palästina-Kampagne)" am 11. Oktober in Berlin-Neukölln. Weiterhin veröffentlichte "Avrupa Dev Genc" diverse Einzelbeiträge, die den terroristischen Angriff der HAMAS am 7. Oktober sowie den Raketenbeschuss auf Israel befürworteten bzw. verharmlosten. Die marxistischleninistisch ausgerichtete DHKP-C tritt seit ihrer Gründung im Jahr 1994 für eine gewaltsame Zerschlagung der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnung in der Türkei ein. Statt dieser soll mittels eines "bewaffneten Volkskampfes" unter der Führung der DHKP-C eine sozialistische Gesellschaft auf Grundlage des Marxismus-Leninismus errichtet werden. MLKP Die türkisch-linksextremistische Jugendorganisation "Young Struggle" (YS) kritisierte über ihren deutschsprachigen Instagram-Account und ihre offizielle Webseite eine vermeintlich pro-israelische "Kriegspropaganda" in den sozialen Medien und bekundete ihrerseits die Unterstützung für den "palästinensischen Befreiungskampf". YS ist die im Jahr 2010 gegründete Jugendorganisation der türkisch-linksextremistischen "Marxistischen Leninistischen Kommunistische Partei" (MLKP), die in Deutschland über ca. 600 Anhängerinnen und Anhänger verfügt. 43 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Krisenthemen und Extremismus 2.2 Islamismus 2.2.1 Legalistischer Islamismus "Realität Islam", Im Bereich des legalistischen Islamismus sind die Online-Initia"Generation Islam" tiven "Realität Islam" (RI), "Generation Islam" (GI) und "Muslim und "Muslim InterInteraktiv" (MI) im Kontext des aktuellen Nahostkonfliktes stark aktiv" präsent. Sie posten fortlaufend sich schnell und reichweitenstark verbreitende Beiträge, die auch von der salafistischen Szene geteilt werden. Alle 3 Initiativen werden durch den Verfassungsschutz-Verbund der seit 2003 durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat verbotenen Terrororganisation "Hizb ut-Tahrir" (HuT) zugerechnet. RI, GI und MI arbeiten daran, die muslimische Community gegen die westliche Gesellschaft aufzubringen. Die Unterscheidung von Islam als Religion und Islamismus als gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Ideologie sowie staatliche Präventionsprogramme gegen islamistische Radikalisierung werden von diesen OnlineInitiativen abgelehnt und als ein Versuch betrachtet, die muslimische Gemeinschaft zu spalten und zu schwächen. Einseitige Darstellung Entsprechend ihrer polarisierenden Strategie veröffentlichen des Konflikts RI, GI und MI zum Nahostkonflikt Statements auf YouTube, Facebook und Instagram, in denen ein klassisch islamistisches Freund-Feind-Schema Anwendung findet. Unter Ausblendung der Gräueltaten der HAMAS wird ausschließlich die Bombardierung des Gazastreifens durch das "zionistische Besatzerregime" thematisiert und Deutschland eine "kompromisslose Solidarität für das zionistische Terrorregime" vorgeworfen. Diese einseitige Gegenüberstellung von "Aggressor Israel" und "Opfer Palästina" bzw. Gaza zieht sich durch sämtliche Beiträge von RI, GI und MI und mündet häufig im Aufruf an die "Umma" (deutsch: "Gemeinschaft aller Musliminnen und Muslime"), in Solidarität für den Islam einzustehen. Der israelisch-palästinensische Konflikt wird propagandistisch als ein israelischislamischer Konflikt dargestellt. Exemplarisch ist hierbei ein Posting von GI anzuführen, in dem die "7 größten muslimischen Armeen" mit angeblich rund 2,8 Millionen Soldaten der geringeren Anzahl israelischer Soldaten gegenübergestellt wird. Die unmittelbare geografische Nähe der muslimischen Armeen zu Palästina wird als weiterer Vorteil betont. 44 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 2.2.2 Salafismus und Jihadismus In der bayerischen salafistischen Szene konnten seit dem 7. Oktober vereinzelt Unterstützungsreaktionen für die HAMASAngriffe beobachtet werden. Einzelpersonen aus Bayern teilten z. T. unmittelbar nach dem ersten Bekanntwerden des terroristischen Großangriffes Propagandabildund -videoaufnahmen der HAMAS in den sozialen Netzwerken. Einzelbeiträge glorifizierten die Kämpfer der "al-Qassam-Brigaden" und später auch des PIJ, begrüßten den gewaltsamen "palästinensischen Widerstand" und äußerten die Hoffnung auf eine "Vernichtung der Zionisten" und der diese unterstützenden westlichen Nationen. Mit Beginn der israelischen Gegenoffensive "Eiserne Schwerter" Islamistisches fokussierte sich die salafistische Szene auf das islamistische Opfernarrativ Opfernarrativ und insbesondere auf die Verbreitung der emotionalisierenden Beiträge der Online-Initiativen aus dem Bereich der HuT-Bewegung. So teilten salafistische Akteure die durch RI getätigte Behauptung, Israel würde bei "zionistischen Luftangriffen" Phosphorbomben gegen die palästinensische Zivilbevölkerung einsetzen. Daneben warben salafistische Einzelpersonen über die sozialen Medien für die Teilnahme an pro-palästinensischen Demonstrationen und teilten israelbezogene antisemitische Karikaturen, KI-generierte Schockbilder, Aufrufe zu Spenden, Bittgebete (arabisch: "dua") für die Glaubensgeschwister bzw. "muslimischen Opfer" in Gaza und Boykottaufrufe für israelische Produkte. Der salafistische Moscheeverein "Islamisches Zentrum Weiden e. V." bediente in mehreren Freitagspredigten mit Blick auf die Eskalation antisemitische Feindbilder. Der aus Deutschland ausgewiesene jihadistischsalafistische Prediger Izzudin Jakupovic ruft über den Messenger-Dienst Telegram und über sein deutschsprachiges Missionierungsprojekt "Weg der Rechtleitung" unverblümt zur Gewalt gegen Juden, zur Ausreise aus Deutschland nach Palästina und zur Kampfbeteiligung aufseiten der HAMAS auf. Anschlagsankündigungen, Ausreiseabsichten und die tatsächliche Teilnahme am bewaffneten Kampf im Nahostkonflikt wurden für die bayerische salafistische Szene nicht festgestellt. Ebenso wenig teilte die Szene die zahlreichen durch die jihadistischen Gruppierungen "Islamischer Staat" (IS) und "al-Qaida" (AQ) verbreiteten 45 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Krisenthemen und Extremismus Aufforderungen zu terroristischen Anschlägen auf jüdische und/oder israelische Menschen und Einrichtungen in Europa. Teile der deutschsprachigen jihadistisch-salafistischen Online-Szene warnen seit Konfliktbeginn wiederholt und ausdrücklich sogar vor einer Unterstützung der HAMAS unter Verweis auf deren erklärt "nationalistische Agenda" und angeblich inkonsequente Anwendung der Scharia-Gesetze. Die Bekämpfung der jüdischen Glaubensgemeinschaft und des Staates Israel bildet nichtsdestotrotz ein verbindendes und omnipräsentes Ideologieund Propagandaelement zwischen der salafistischen und jihadistischen Szene und der HAMAS. 2.3 Linksextremismus Innerhalb der bayerischen linksextremistischen Szene nahm das Thema Nahostkonflikt insgesamt gesehen keine dominierende Stellung ein. Soweit der Konflikt thematisiert wurde, wurde eine schon seit längerem zu beobachtende szeneinterne Bruchlinie deutlich. Diffamierung Israels Aufgrund der überwiegend antiimperialistischen Ausrichtung der als "Apartheid"linksextremistischen Szene fand eine vermehrte Solidarisierung Regime mit der palästinensischen Bevölkerung statt. Dieser Teil der Szene sieht den Staat Israel als Verbündeten des "imperialistischen und kapitalistischen" Westens, den es zu bekämpfen gelte. Der Nahostkonflikt wird als Folge der angeblichen "imperialistischen Ausbeutung" der palästinensischen Bevölkerung durch den kapitalistischen Westen wahrgenommen. In diesem Narrativ wird der Staat Israel in der Regel als "unterdrückerischer Besatzer" und als "Apartheitsregime" dargestellt. Das Leid der bei dem Terrorangriff der HAMAS getöteten oder verschleppten Menschen wird negiert oder als Kollateralschaden verharmlost. Der antiimperialistische Flügel der Szene geht davon aus, dass nur eine sozialistische bzw. kommunistische Gesellschaftsordnung, in der sich die Gegensätze zwischen Palästinensern und Israelis auflösen, den Frieden bringen könne. Als Adressaten ihrer Forderungen werden die Arbeiterschaft in Israel und der arabischen Welt gesehen. Aus diesem Grund haben sich Linksextremisten aus dem antiimperialistischen Flügel an propalästinensischen 46 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Demonstrationen beteiligt oder, in einem kleinen Maßstab, diese selbst initiiert. Entsprechende Reden auf diesen Demonstrationen fanden jedoch kaum Anklang bei den Teilnehmern. Stellvertretend für diese Sichtweise kann in Bayern z. B. die "Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend" (SDAJ), die Jugendorganisation der "Deutschen Kommunistischen Partei" (DKP), in München genannt werden, die mehrfach für pro-palästinensische Veranstaltungen in München mobilisierte. So waren sowohl auf Demonstrationen am 28. Oktober und am 11. November Fahnen der SDAJ zu beobachten. Auf der Demonstration am 11. November trat zudem ein Aktivist der SDAJ als Redner auf und hielt eine durch linksextremistische Ideologiefragmente geprägte Rede. Am 25. Oktober veranstalteten DKP und SDAJ zusammen mit anderen Gruppierungen eine Kundgebung zum Nahostkonflikt am Münchener Rotkreuzplatz. Ein weiterer Akteur, der sich im aktuellen Nahostkonflikt bereits "Klasse gegen früh pro-palästinensisch positionierte, ist die linksextremistische Klasse" Gruppierung "Revolutionäre Internationale Organisation" mit "Unikomitee ihrer Internetplattform "Klasse gegen Klasse" und ihrer HochMünchen für schulgruppe "Waffen der Kritik". "Klasse gegen Klasse" bekunPalästina" dete schon kurz nach dem Angriff auf ihrer Webseite Solidarität mit dem palästinensischen Volk und verurteilte das Vorgehen Israels. Israel wird auch von "Klasse gegen Klasse" als "Apartheitsregime" bewertet und scharf angegriffen. Aus den Reihen von "Waffen der Kritik" gründete sich das "Unikomitee München für Palästina", dessen Ziel es ist, die Solidarität mit Palästina an den Münchner Universitäten voranzutreiben. So besetzten Aktivistinnen und Aktivisten des Komitees einen Hörsaal der Ludwig-Maximilians-Universität am 31. Januar 2024. Dabei forderten die Besetzer, die Universitätsleitung solle sich der Forderung nach einem Waffenstillstand in Gaza anschließen und eine Zivilklausel einführen. Hiermit solle unterbunden werden, dass die Forschung der Universität Rüstungsprojekten zugutekommt. Demgegenüber kam es insbesondere aus dem Bereich der antiSzene gespalten faschistischen und autonomen Szene zu Solidaritätsbekundungen für Israel und zu Aufrufen, an pro-israelischen Demonstrationen teilzunehmen. So positionierte sich die antifaschistische Gruppierung "antifa f" aus Regensburg in einem Beitrag auf ihrer Webseite vom 9. November klar gegen die Organisatoren einer pro-palästinensischen Demonstration in Regensburg, denen sie eine Nähe zur HAMAS vorwarf. Der Beitrag kam zu dem Fazit, dass sich wegen des auf diesen Demonstrationen verbreiteten Antisemitismus eine Teilnahme verbiete. 47 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Krisenthemen und Extremismus Die zwiespältige Haltung der linksextremistischen Szene zum Nahostkonflikt und die unterschiedlichen Positionierungen gegenüber Israel zeigen eine schon länger vorhandene Bruchlinie auf. Sie verdeutlicht eine alte Auseinandersetzung zwischen den orthodox kommunistisch eingestellten Antiimperialisten - die meist unkritisch auf der Seite der Palästinenser stehen - und den autonom zu bewertenden sog. "Antideutschen", die Israel aufgrund der deutschen Schuld am Holocaust beinahe bedingungslos unterstützen. Dies führte in der Vergangenheit bereits zu feindlichen und sogar gewalttätigen Auseinandersetzungen. 2.4 Rechtsextremismus Die rechtsextremistische Szene kommentiert die Angriffe der HAMAS auf das Staatsgebiet Israels uneinheitlich. Antisemitismus ist ein Kernelement der neonazistischen Ideologie, weshalb die neonazistische Szene grundsätzlich israelfeindliche Positionen einnimmt. Die Ziele der HAMAS werden in der Regel begrüßt. Gleichzeitig ist die rechtsextremistische Szene fremdenund migrationsfeindlich und wendet sich speziell gegen Zuwanderung aus muslimischen Staaten. Durch den Nahostkonflikt sieht sie die Gefahr einer vermehrten Zuwanderung. Teilweise werden explizit Flüchtlinge aus dem Gazastreifen genannt, die als "Vertriebene" im "die halbe Welt versorgenden Wohlfahrtsstaat der BRD landen" würden. Ein häufig geteiltes Meme gibt eine dritte Positionierung wieder: 2 Figuren, die jeweils stereotyp als "palästinensisch" bzw. "jüdisch" dargestellt werden, fordern eine ebenfalls stereotyp als "deutsch bzw. nordisch" gezeichnete Figur auf, für eine Seite Partei zu ergreifen. Als Reaktion hierauf äußert diese Figur die "Hoffnung", sie mögen sich gegenseitig umbringen. Das Meme offenbart somit einen unverhohlenen rechtsextremistischen Rassismus. Verknüpfung des Die anfänglich mehrheitlich pro-palästinensische Positionierung Konflikts mit in rechtsextremistischen Kanälen war schon nach etwa 2 Wochen, Migrationsthematik abgesehen von Präsenzen der Partei "Die Heimat" (ehemals NPD), nicht mehr feststellbar. Stattdessen wurde der Konflikt zunehmend im Kontext einer vermeintlich drohenden muslimischen Flüchtlingswelle und deren - ausschließlich negativ 48 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 gezeichneten - Auswirkungen auf Deutschland thematisiert. Dabei überwogen in der rechtsextremistischen Szene fremdenfeindliche Argumentationsmuster und Warnungen vor drohender "ausufernder Gewalt" durch in Deutschland lebende Migrantinnen und Migranten. Dabei wurde sowohl die Gefahr von militanten Solidaritätskundgebungen für die HAMAS als auch von Gewalt gegen jüdische und/oder israelische Einrichtungen und Personen beschworen. Rechtsextremisten gelang es auch hier wieder, den Nahostkonflikt mit ihrem Hauptagitationsthema "Migration" zu verknüpfen. Neben der islambezogenen Ausländerfeindlichkeit offenbarten Antisemitismus rechtsextremistische Akteure im Kontext des Nahostkonfliktes auch einen unverblümten Antisemitismus, teilweise geknüpft an krude Verschwörungstheorien. So teilte beispielsweise die neonazistische Organisation "Kollektiv Zukunft schaffen - Heimat schützen" auf Telegram: Im Fall Israel, lassen auf jeden Fall alle ihre Maske fallen und somit sollte es endlich der dümmste [sic!] verstehen, wer im Hintergrund die Fäden zieht und wem sie dienen. Zion lässt grüßen. Lasst euch nicht täuschen, (Sie) brauchen den Krieg. Wir dürfen uns nicht immer weiter in ihre Machenschaften und Konflikte hineinziehen lassen und müssen uns von ihnen komplett befreien! Freies Deutschland jetzt! - Free Germany now! Der IB-Protagonist Martin Sellner verbreitete in einem Video am 10. Oktober die Theorie, nach der Israel, ähnlich wie angeblich die USA bei den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor vom 7. Dezember 1941, den Angriff der HAMAS selbst initiiert oder zumindest geduldet habe, um eine moralische Rechtfertigung für eine Kriegserklärung gegen das palästinensische Volk zu erzeugen. Zur Begründung verwies er auf die demografische Entwicklung auf beiden Seiten: Demnach habe Palästina perspektivisch mehr junge, wehrfähige Männer zur Verfügung, was Israel nicht zulassen wolle. Abschließend warnt Sellner das rechte Lager, dass eine Solidarisierung mit der einen oder anderen Seite zur Spaltung des rechtsextremistischen Lagers führen könne. Dieses müsse den Konflikt vielmehr nutzen, um die Auswirkungen der "Multikulturalisierung Europas" aufzuzeigen und "Remigration" [phon.] zu fordern. 49 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Krisenthemen und Extremismus Auch der deutschen Bundesregierung wird unterstellt, sie stecke mit Israel "unter einer Decke", bzw. sei durch Israel gesteuert und habe daher Interesse am Konflikt. So heißt es in der "COMPACT.DerTag"-Folge "Israel: Nicht unser Krieg!" vom 11. Oktober 2023: Kaum lässt die Kriegsbegeisterung im UkraineKrieg nach, führt uns die Bundesregierung ins nächste Gemetzel. Während sie das Brandenburger Tor mit dem Davidstern anstrahlen, entlädt sich der Konflikt gewaltsam auch auf unseren Straßen. [...] Worum es bei diesem Konflikt geht und was wirklich hinter dem jüngsten Angriff stecken könnte, erfahren Sie jetzt von Chefredakteur Jürgen Elsässer und TV-Chef Paul Klemm. Insgesamt verhält sich die rechtsextremistische Szene widersprüchlich: Beispielsweise kritisieren Rechtsextremisten häufig die behördlichen Untersagungen pro-palästinensischer Demonstrationen und den Umgang der Politik mit dieser Thematik, zugleich schüren sie aber auch vermehrt Ängste vor Migration. Die Verlautbarungen der rechtsextremistischen Partei "Der III. Weg" ("III. Weg") stehen exemplarisch für die ambivalente Haltung zum Nahostkonflikt. Auf ihrer Webseite lehnt der III. Weg in typisch antisemitischem Duktus jegliche Solidarität mit dem "imperialistischen Terrorstaat Israel" ab. Gleichzeitig könne man sich mit den Palästinenserinnen und Palästinensern nur dann solidarisieren, wenn die von "den Arabern okkupierten Gebiete in Deutschland und Westeuropa" wieder freigegeben würden. 50 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 51 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Islamismus Der Islam als Religion und seine Ausübung werden nicht vom Verfassungsschutz beobachtet. Dem gesetzlichen Beobachtungsauftrag unterliegen jedoch islamisch-extremistische (Kurzform: islamistische), d. h. religiös-politisch motivierte Organisationen und Einzelpersonen mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen. Islamismus ist ein Überbegriff für eine Vielzahl von unterschiedlichen (Teil-)Strömungen, wie beispielsweise den Salafismus. Als Gemeinsamkeit dieser Strömungen lassen sich folgende Kernelemente des Islamismus herausstellen: - Der Islam ist nicht allein Glaube und Ethik, sondern begründet eine alles umfassende Lebensform, die auf Koran und Sunna (Überlieferung der Aussprüche und Taten des Propheten) basiert. - Die Muslime bilden eine religiöse und politische Einheit (panislamische Zielsetzung). - Die Scharia (hier als islamisches Gesetz definiert) stellt ein politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip dar. - Koran und Sunna haben "Verfassungsrang" und verbindliche Vorbildfunktion für politisches Handeln und einen zukünftigen "islamischen Staat". 52 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Diese Zielsetzungen widersprechen den im Grundgesetz garantierten Freiheitsund Menschenrechten und sind daher extremistisch. Islamistische Bestrebungen sind darüber hinaus verfassungsund integrationsfeindlich. Dem terroristischen Spektrum zugehörige Personen stellen überdies unverändert eine große Gefahr für die Innere Sicherheit Deutschlands dar. Sie verfolgen das Ziel, weltweit eine totalitäre islamistische Gesellschaftsordnung zu errichten. Dabei berufen sie sich auf die vermeintliche Pflicht der muslimischen Weltgemeinschaft, sich gegen westliche, d. h. "ungläubige" Einflüsse zu "verteidigen", und rufen zur Teilnahme am gewalttätigen Jihad auf. 1. PERSONENPOTENZIAL IN BAYERN Islamistischen Vereinigungen bzw. Bestrebungen werden in Bayern seit mehreren Jahren rund 4.200 Personen zugerechnet. Zu den anhängerund mitgliederstärksten Gruppierungen bzw. Strömungen zählt nach wie vor, neben der "Milli GörüsBewegung" (etwa 2.900 Personen), der Salafismus. Nach einem kontinuierlichen Anstieg ab 2013 von 550 auf 770 Personen zum Jahresende 2019 sank das salafistische Personenpotenzial in Bayern seitdem auf 720 zum Jahresende 2023. Von diesen 720 Personen waren knapp 15 Prozent dem gewaltorientierten Spektrum zuzuordnen. 53 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus 2. ALLGEMEINES 2.1 Strömungen im Islamismus Bei islamistischen Bestrebungen in Deutschland gilt es, grundsätzlich zwischen den verschiedenen Strömungen und deren Einstellung zur Gewalt zu unterscheiden: - Legalistischer Islamismus: Ihm zuzurechnende Organisationen wie die "Muslimbruderschaft" (MB) mit ihren verschiedenen Abspaltungen versuchen, innerhalb der bestehenden Rechtsordnung ihre langfristigen Ziele und gesellschaftspolitischen Vorstellungen durch strategische Einflussnahme auf das politische System, Verbände und Parteien sowie auf die muslimische Gemeinschaft in Deutschland umzusetzen. Die aus Strukturen der MB in den palästinensischen Gebieten hervorgegangene "Islamischen Widerstandsbewegung" (HAMAS) ist explizit vom legalistischen Islamismus ausgenommen und dem islamistischen Terrorismus zuzurechnen. - Salafismus: Diese aus dem Wahhabismus des 18. Jahrhunderts hervorgegangene Strömung beruft sich als islamistische Ideologie und moderne extremistische Gegenkultur auf einen vermeintlich unverfälschten "Ur-Islam" des 7. Jahrhunderts. - Schiitischer Islamismus: Dieser ist eng mit der Iranischen Revolution von 1978/79 verknüpft und heute insbesondere in Iran, Libanon und Irak verbreitet. Ausländische schiitischislamistische Organisationen wie die libanesische "Hizb Allah" treten in ihren Heimatstaaten militant in Erscheinung und nutzen Deutschland als Rückzugsraum, für Spendensammlungen sowie für Propagandaund Rekrutierungsaktivitäten. Legalistischer Die Strömungen des legalistischen Islamismus interpretieren Islamismus die religiösen Normen des Islam politisch und legen sie so aus, dass ein konfliktfreies Zusammenleben mit Andersdenkenden unmöglich erscheint. Sie bestehen auf einer strengen Lesart des Korans, der unabhängig von Zeit und Ort für alle Menschen gültig sei und dessen Inhalte und Weisungen, die im islamischen Recht ihren Niederschlag gefunden haben, nicht relativiert werden könnten. Unter Nutzung der von der deutschen Rechtsordnung garantierten Freiräume verfolgen sie eine Strategie der nicht gewaltorientierten Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft, um langfristig eine Umformung zu einem Staat nach islamischen Regeln zu erreichen. 54 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Sie stehen damit allerdings in offenem Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung, deren Werte sie in zentralen Punkten ablehnen. Angehörige des legalistisch-islamistischen Spektrums verwahren sich strikt gegen die Abdrängung des Religiösen ins Private. Nach dem Bekenntnis "Der Islam ist Religion und Staat" (arabisch: "din wa daula") müssen die Normen der Scharia in allen Lebensbereichen und auf allen Ebenen durchgesetzt werden. Der legalistische Islamismus bedient und reaktiviert ein in den Ursprüngen des Islam begründetes Überlegenheitsgefühl der muslimischen Gemeinschaft als Inhaber und Wahrer der "letzten und erhabensten Religion". Der Salafismus ist die in den letzten Jahren am schnellsten Salafismus gewachsene islamistische Strömung in Deutschland. Als fundamentalistische Form des islamistischen Extremismus lässt sich der Salafismus in eine politische und in eine gewaltbereite jihadistische Strömung unterteilen, die sich lediglich hinsichtlich der Methodik zur Umsetzung ihrer Ziele unterscheiden: Während der politische Salafismus auf die Ausübung direkter Gewalt zum Erreichen seiner Ziele verzichtet, befürwortet der jihadistische Salafismus eine unmittelbare und sofortige Gewaltanwendung. Dem gewaltorientierten bzw. jihadistischen Salafismus sind beispielsweise internationale Terrororganisationen wie "al-Qaida" (AQ) oder der "Islamische Staat" (IS) zuzuordnen. In Deutschland ist zu beobachten, dass die Grenzen zwischen legalistischem Islamismus und politischem Salafismus zunehmend verschwimmen. Dabei beeinflussen sich die beiden Strömungen gegenseitig. Eine klare Zuordnung zu den einzelnen islamistischen Strömungen kann somit nicht immer eindeutig getroffen werden. Bundesweit ist eine weitverzweigte, heterogene Infrastruktur des Salafismus festzustellen. Durch die Vermittlung extremistischer Grundhaltungen und Konzepte bereitet insbesondere die salafistische Ideologie den Nährboden für Radikalisierungsprozesse, die zu terroristischen Handlungen führen können. Auch die Grenzen zwischen politischem und jihadistischem Salafismus sind fließend. Die Durchlässigkeit zwischen den beiden Teilströmungen wird durch die hierarchiearmen Strukturen salafistischer Netzwerke begünstigt. Islamistische Propaganda im öffentlichen Raum findet bundesweit seit Ende der Corona-Pandemie und vor allem seit dem Wiederaufflammen des Nahostkonfliktes wieder vermehrt statt. Verstärkt durch die pandemiebedingten Kontaktbeschränkungen 55 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus und die damit einhergehenden temporären Schließungen der Moscheeräume, haben sich salafistische Missionierungsbemühungen fest im nicht öffentlichen und im virtuellen Raum etabliert. Auch Aufrufe zu Spendensammlungen werden fast ausschließlich über das Internet und über Instant-Messaging-Dienste verbreitet. Schiitischer Im schiitischen Islamismus ist die Errichtung einer Theokratie Islamismus (dt. "Gottesherrschaft") und die "Herrschaft der Rechtsgelehrten" (arabisch: "wilayat al-faqih"/persisch: "velayat-e faqih") von zentraler Bedeutung. Diese Zielsetzung geht wesentlich auf den Führer der Iranischen Revolution Ajatollah Khomeini (1902-1989) zurück und ist seit 1979 Staatsdoktrin und Verfassungsgrundsatz der Islamischen Republik Iran. Seine Ideen verband Khomeini mit antikolonialistischen, antiimperialistischen und klassenkämpferischen Elementen und forderte so zur Revolution, zur Einheit des Islam und zur Durchsetzung von Körperstrafen auf. Alle wichtigen Fragen der Menschheit seien bereits in Koran und Sunna geregelt, so sein Fazit. Islamistischer Vom internationalen islamistischen Terrorismus geht weiterhin Terrorismus eine der größten Gefahren für die Staatengemeinschaft aus. Er stellt auch für die Innere Sicherheit Deutschlands - trotz zahlreicher Fahndungserfolge - eine der größten Bedrohungen dar. Der internationale islamistische Terrorismus tritt inzwischen sehr vielfältig in Erscheinung: Netzwerke werden ebenso festgestellt wie autark operierende Kleinstgruppen oder einzelagierende Täter (EAT). Vor allem die jüngste Eskalation in Nahost und die daran anknüpfenden islamistischen Opfernarrative können auf Einzelpersonen emotionalisierend wirken und diese zu islamistischen Anschlägen motivieren. Die Aktivitäten islamistischer Terrorstrukturen in Deutschland reichen von der Nutzung Deutschlands als Rückzugsund Ruheraum über die Rekrutierung, Radikalisierung und Indoktrinierung neuer Anhängerinnen und Anhänger bis hin zur Planung und Durchführung terroristischer Anschläge. 2.2 Antisemitismus im Islamismus Antisemitismus ist im Nahen und Mittleren Osten größtenteils ein Phänomen der jüngeren Geschichte. Zwar fanden über die Jahrhunderte seitens verschiedener Akteure punktuell Judenverfolgungen statt. Flächendeckende, tief verwurzelte Judenfeindlichkeit, wie sie in Europa vorherrschte, existierte jedoch lange Zeit nicht. 56 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Heutzutage ist Antisemitismus in Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit über verschiedene politische und religiöse Spektren hinweg verbreitet. Überdies ist Antisemitismus mit den zugehörigen Verschwörungstheorien ein zentrales Wesensmerkmal islamistischer Ideologien. Hierbei wird weniger auf klassisch islamische Literatur als vielmehr auf rassistische Schriften aus Europa und Nordamerika Bezug genommen, die bruchstückhaft mit aus dem Kontext gerissenen, jüdische Gruppen auf der Arabischen Halbinsel des 7. Jahrhunderts betreffenden Koranversen und Überlieferungen (arabisch: "Hadithe") angereichert werden. Eine zentrale Rolle kommt hierbei der erstmals 1903 in Russland erschienenen antisemitischen Propagandaschrift "Protokolle der Weisen von Zion" zu, die 1926 ins Arabische übersetzt wurde. Auch rassistische Literatur, wie "Der internationale Jude" des US-amerikanischen Antisemiten Henry Ford oder Hitlers "Mein Kampf", ist in islamistischen Kreisen weit verbreitet. Im Zuge des Nahostkonfliktes entstand in der arabischen Welt ein auf den Staat Israel bezogener Antisemitismus, bei dem traditionell antisemitische und antizionistische, d. h. den israelischen Staat ablehnende Positionen, miteinander verschmelzen. Dies stellt im Islamismus einen wichtigen Teil der Propaganda dar und hat sich seit dem Wiederausbruch des Nahostkonfliktes infolge des HAMAS-Angriffes auf israelische Ortschaften und Kibbuzim am 7. Oktober weiter verschärft. Eine wesentliche Grundlage für den Antisemitismus im IslaAntisemitische mismus bildet die Schrift "Unser Kampf mit den Juden" (1950) Schriften des ägyptischen Islamisten Sayyid Qutb (1906-1966), der eine vermeintliche "antagonistische jüdische Macht" und eine dem Judentum seit der Zeit des Propheten Muhammads "immanente Feindschaft gegen den Islam" am Werk sieht. Der einflussreiche Theoretiker der MB beschreibt Juden als bösartig und macht sie verantwortlich für den von ihm diagnostizierten Verfall von Religion, Moral und Anstand in den mehrheitlich muslimischen Staaten. Qutbs Schriften sind dabei ein Versuch der Verknüpfung des europäischen Antisemitismus mit islamischen Quellen. Die zur Ideologie der MB gehörende Terrororganisation "Islamische Widerstandsbewegung" (HAMAS) beruft sich in ihrer Gründungscharta aus dem Jahr 1988 auf die "Protokolle der Weisen von Zion" zur Legitimation ihres Antisemitismus. Demnach stünden Juden hinter der Französischen Revolution und dem Kommunismus, hätten den 1. Weltkrieg herbeigeführt, um das osmanische Kalifat auszulöschen, und den 2. Weltkrieg ausgelöst, um dann den Staat Israel gründen zu können. All dies solle dem Zweck gedient haben, die Weltherrschaft an sich zu 57 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus reißen. Die Aktivisten der HAMAS rekurrieren wiederholt auf den Mythos einer vermeintlichen jüdischen Verschwörung zur Errichtung eines "Groß-Israel" vom Nil bis zum Euphrat und darüber hinaus. In den genannten Aspekten zeigt sich eine Kontinuität des durch die "Protokolle der Weisen von Zion" geprägten europäischen Antisemitismus, der mit religiösen Versatzstücken versehen sowie mit Koranzitaten und Prophetenüberlieferungen legitimiert werden soll. VerschwörungsInsbesondere im jihadistischen Salafismus werden regelmäßig theorien antisemitische Stereotype aufgegriffen. Sowohl in der von jihadistischen Gruppierungen 1998 veröffentlichten Deklaration "Internationale islamische Front für den Jihad gegen Juden und Kreuzfahrer" als auch in Verlautbarungen Usama bin Ladins ("Brief an Amerika" oder "An die Völker Europas") bis hin zu einer Videobotschaft von AQ zum 10. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 werden Politik, Wirtschaft und Medienwelt als jüdisch kontrolliert und die Menschheit und insbesondere die muslimische Weltgemeinschaft (arabisch: "umma") als jüdisch unterdrückt bezeichnet. Gruppierungen wie AQ und IS dient die Kennzeichnung der USA bzw. "des Westens" als "jüdisch-kapitalistisch" und "jüdisch dominiert" als Handlungslegitimation und Anknüpfungspunkt für die Rekrutierung neuer Mitglieder. Somit haben antisemitische Verschwörungstheorien im Islamismus inzwischen einen konstitutiven Charakter. Auch im schiitischen Islamismus des iranischen Regimes oder bei der libanesischen Terrororganisation "Hizb Allah" lassen sich antisemitische Verschwörungstheorien finden. Als beispielsweise ab März 2011 im Rahmen des sog. "Arabischen Frühlings" Teile der syrischen Bevölkerung gegen das Assad-Regime demonstrierten, wurde insbesondere auch von der libanesischen "Hizb Allah" das Narrativ einer "amerikanisch-zionistisch-wahhabitischen Verschwörung" verbreitet. 2013 rechtfertigte die Miliz hiermit ihren Einmarsch in Syrien an der Seite des syrischen Präsidenten Assad. Ebenso ist spezifisch im schiitischen Islamismus auch die Behauptung weitverbreitet, wonach hinter der Revolution in Syrien, AQ und dem IS eigentlich eine Verschwörung aus Israel, den USA und Saudi-Arabien stünde, um den Widerstand gegen Israel zu schwächen. 58 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 In Deutschland und Bayern sind diverse islamistische Organisationen aktiv, die auch ein antisemitisches Weltbild vertreten. Hierzu gehören die MB, die "Milli Görüs-Bewegung", salafistische Zusammenschlüsse, aber auch nicht an Organisationen gebundene Personen mit entsprechender ideologischer Prägung. In Deutschland verbotene Fernsehsender, wie der der "Hizb Allah" nahestehende Sender "al-Manar", verbreiten antisemitische Propaganda über das Internet via Livestream und können somit auch hierzulande konsumiert werden. In Reaktion auf den terroristischen Großangriff der HAMAS auf Auswirkungen des israelisches Staatsgebiet am 7. Oktober traten auch die OrgaNahostkonfliktes nisationen "Realität Islam" (RI), "Generation Islam" (GI) und "Muslim Interaktiv" (MI), die allesamt der verbotenen "Hizb ut-Tahrir" (HuT) nahestehen, in Erscheinung. Die 1953 in Jerusalem gegründete HuT vertritt eine im Kern antisemitische Ideologie, die sich u.a. in antisemitischen Verschwörungstheorien und dem ideologischen Ziel der Zerstörung Israels manifestiert. Anders als die offen antisemitisch agierende und in Deutschland seit 2003 verbotene HuT versuchen RI, GI und MI nach außen hin gemäßigter und weniger gewaltoffen aufzutreten. So behaupten die 3 Gruppierungen regelmäßig, nur Kritik an Israel zu äußern und keine grundsätzlich antisemitischen Positionen zu vertreten. Tatsächlich sind jedoch antisemitische Elemente der HuT-Ideologie unterschwellig in den Aussagen von RI, GI und MI enthalten. Zum einen negieren sie regelmäßig das Existenzrecht Israels, indem sie Israel beispielweise in Anführungszeichen setzen, als "Terrorregime" diffamieren oder den Staat herabsetzend als "Gebilde" bezeichnen, was fester Bestandteil des israelbezogenen Antisemitismus ist. Zum anderen bedienen sich die Gruppierungen klassisch-antisemitischer Narrative und Motive, z. B. der Kennzeichnung Israels als angeblicher "Kindermörder". Im Rahmen des Demonstrationsgeschehens seit dem Angriff der HAMAS kam es in Bayern wiederholt zu israelbezogenen antisemitischen Äußerungen, gewaltverharmlosenden Aussagen sowie teilweise extremistischen Einlassungen. In der Gesamtbetrachtung sind Antisemitismus und die dazu gehörenden Verschwörungstheorien Kernbestandteil jeder islamistischen Ideologie, ob im legalistischen Islamismus, dem politischen und jihadistischen Salafismus oder bei schiitisch-islamistischen Strömungen. 59 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus 3. STRUKTUREN 3.1 Legalistischer Islamismus Nicht gewaltorientierte, sogenannte legalistisch-islamistische Gruppierungen verfolgen ihre extremistischen Ziele mit politischen Mitteln innerhalb der bestehenden Rechtsordnung. Eine unmittelbare Gefährdung im Hinblick auf die Anwendung direkter Gewalt oder die Begehung terroristischer Anschläge in Deutschland geht von solchen Gruppierungen nicht aus. Personen des legalistisch-islamistischen Spektrums bestehen auf einer strengen Lesart und extremistischen Interpretation des Korans, der nach ihrer Auffassung unabhängig von Zeit und Ort für alle Menschen gültig sei. Eine nicht relativierbare, moralische und rechtliche Richtschnur sind für sie die Weisungen, die im islamischen Recht, so etwa in der Scharia, enthalten sind. Durch Lobbyarbeit o. ä. versuchen sie, Einfluss auf Entscheidungsprozesse in Politik und Gesellschaft zu nehmen. Dabei verfolgen sie eine Doppelstrategie: Während sie sich nach außen offen, tolerant und dialogbereit geben, bestehen innerhalb dieser Organisationen antidemokratische und totalitäre Tendenzen. BeeinflussungsZiel des legalistischen Islamismus ist es, zunächst Teilbereiche strategie der Gesellschaft zu manipulieren und im Sinne der eigenen Weltanschauung zu ideologisieren. Langfristig wird die Umformung des demokratischen Rechtsstaates in einen islamistischen Staat angestrebt. Um ihre Ziele zu erreichen, betreiben legalistisch-islamistische Personen Kulturvereine, Sportgruppen und Moscheen, die einerseits der Werbung von Mitgliedern, andererseits der Verbreitung der Ideologie dienen. Über ihre Dachverbände versuchen sie, sich gleichsam gegenüber dem Staat, den Medien oder sonstigen, z. B. kommunalen Entscheidungsträgern, als Ansprechpartner in muslimischen Fragen sowie vorgebliches Sprachrohr "der muslimischen Gemeinschaft" anzubieten. Ein Großteil der ideologischen Grundsätze legalistischer islamistischer Organisationen ist unvereinbar mit den im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerten Prinzipien der Demokratie, des Rechtsstaates und einer auf der Menschenwürde basierenden politischen Ordnung, beispielsweise der Gleichberechtigung der Religionen und Geschlechter, dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung sowie der Volkssouveränität. Entgrenzung zwiIn den Bereichen des legalistischen Islamismus und des polischen Legalismus tischen Salafismus zeichnet sich eine zunehmende Tendenz der und Salafismus Entgrenzung ab. Hierbei ist keine einseitige Beeinflussung zu beobachten, vielmehr kann von einer wechselseitigen Diffusion 60 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 gesprochen werden. Personen aus der legalistisch-islamistischen Szene haben teilweise erkannt, dass die Kooperation mit überregional bekannten Szeneakteuren des Salafismus oder die Übernahme der medienund jugendaffinen Öffentlichkeitsarbeit salafistischer Prediger und Gruppierungen ein nützliches Mittel sowohl zur Erschließung eines erweiterten und generationenübergreifenden Personenkreises als auch zur Erzielung von Einnahmen ist. Sie distanzieren sich damit jedoch nicht von ihrem klassischen Betätigungsfeld der Moschee, sondern setzen zusätzlich auf eine moderne Jugendarbeit und Nachwuchsförderung sowie die Etablierung vermeintlich unabhängiger Online-Initiativen in den einschlägigen sozialen Netzwerken. Auch bei der Themenwahl orientieren sie sich verstärkt am islamistischen Opfernarrativ und einer angeblichen Islamfeindlichkeit der deutschen Politik, Medien und Mehrheitsgesellschaft. So werden etwa die Kopftuchdebatte sowie ganz allgemein eine vorgebliche "Verschwörung des Westens" gegen den Islam thematisiert. Im Zuge des seit Oktober verschärften Nahostkonfliktes wurden Onlinebeiträge von RI, GI und MI, in denen z. B. unbedingte Solidarität mit den palästinensischen Glaubensgeschwistern gefordert wurde, auch von Personen aus dem salafistischen Spektrum in den sozialen Medien weiterverbreitet. Präventionsprojekte und Medienartikel, in denen eine kritische Auseinandersetzung bzw. Berichterstattung zum Themenfeld (legalistischer) Islamismus und Salafismus stattfindet, werden übereinstimmend als "Hetze" diffamiert sowie der liberale Diskurs um das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und Personen aus der queeren Community offen abgelehnt. Anhängerinnen und Anhänger beider Strömungen teilen, verbreiten und kommentieren solche Beiträge in ihren Communities und tragen damit zur vermehrten Sichtbarkeit und medialen Reichweite islamistischer und salafistischer Deutungsweisen, Verschwörungserzählungen und Desinformationen bei. Dieser ideologische Schulterschluss zwischen legalistischem Islamismus und politischem Salafismus zeigt sich ebenso in überschneidenden antisemitischen und stark israelfeindlichen Haltungen. Organisationen im legalistischen Islamismus sind die in Deutschland existierenden Strukturen der MB, die türkisch geprägte "Milli Görüs-Bewegung", die "Furkan-Bewegung", die "Hizb ut-Tahrir" (HuT), die "Tablighi Jama'at" (TJ) sowie schiitischislamistische Gruppierungen. 61 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus 3.1.1 Die Muslimbruderschaft (MB) und ihr Einfluss in Deutschland Personenpotenzial Deutschland: etwa 1.4501 Bayern: etwa 140 Gründung 1928 in Ägypten 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 Vertretung in Deutschland: Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG), ehemals: Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD) Gründung 1960 Präsident Khallad Swaid (seit 2017) Sitz Köln/Berlin Die 1928 von Hassan al-Banna in Ägypten gegründete MB ist die einflussreichste und älteste Bewegung des zeitgenössischen Islamismus, deren politischer Charakter sich von Anfang an aus dem Selbstverständnis als antikoloniale und nationalrevolutionäre Missionierungsbewegung ergibt. Die ägyptische Mutterorganisation der Muslimbruderschaft Auf der Basis der durch Hassan al-Banna formulierten Organisationsund Missionierungskonzepte konnte sich die MB in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch den Aufbau eines Netzwerkes von karitativen Einrichtungen und Bildungsinstitutionen zu einer populären Massenbewegung entwickeln. Wegen zunehmender Konkurrenz zu staatlichen Institutionen und wachsender Militanz wurde die MB in den 1950er und 1960er Jahren unter dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser zunächst verboten. Ab Mitte der 1980er Jahre wurde sie mit dem Ziel der Zurückdrängung sozialistischer Einflüsse neuerlich gefördert und konnte sich durch die Teilnahme an Parlamentswahlen auch in der politischen Landschaft etablieren. Diese Entwicklung der MB im Bereich der politischen Partizipation erreichte in Ägypten ihren Höhepunkt 2011 mit der Gründung der "Freedom and Justice Party" (FJP, arabisch: "hizb al-hurriya wa-l-'adala") und der Regierung ihres Präsidentschaftskandidaten Muhammad Mursi von 2012 bis 2013. Bestrebungen der MB, ihre Ideologie durchzusetzen, eine islamistische Klientelpolitik sowie dadurch ausgelöste Proteste der ägyptischen Öffentlichkeit führten 2013 zu einem Militärputsch, zur Zerschlagung des institutionellen Netzwerkes der MB und ihre Einstufung als 62 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Terrororganisation. Seitdem ist die ägyptische Mutterorganisation durch konspirative Untergrundaktivitäten und durch Exilstrukturen, insbesondere eine "Istanbul-Front" und eine "London-Front", d.h. miteinander konkurrierende Gruppierungen in der Türkei und Großbritannien, geprägt. Vor dem Hintergrund der auf den Sturz Mursis im Jahr 2013 folgenden Auseinandersetzungen zwischen MB-Sympathisantinnen und -Sympathisanten einerseits und dem ägyptischen Militär andererseits, etablierte sich das Symbol der schwarzen Hand mit 4 ausgestreckten Fingern und eingeklapptem Daumen, genannt "Rabia" (deutsch: "Vierte"), als Sympathiebekundung für die MB. Ideologie Es existieren ideologische Konstanten der MB, die den Kern ihrer Unvereinbarkeit mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bilden. Zuvorderst steht die Vorstellung vom Islam als umfassendes System, welches vor allem über Bildungsarbeit, vom Individuum über die Familie bis zur Gesellschaft, etabliert werden soll. Der ursprünglich als Präsidentschaftskandidat der FJP vorgesehene Khairat al-Shater verdeutlichte 2011 die gesellschaftspolitischen Ziele der MB: Die Mission ist klar: Erneuerung des Islam in seiner allumfassenden Konzeption, Unterwerfung der Menschen unter Gott, Institutionalisierung von Gottes Religion, Islamisierung des Lebens, Ermächtigung von Gottes Religion und Etablierung der Wiedergeburt der Umma auf der Basis des Islam. Das Konzept beinhaltet die Untrennbarkeit von Politik und ReliUntrennbarkeit von gion sowie die Forderung nach der Anwendung der Scharia als Politik und Religion oberstes gesellschaftliches und politisches Ordnungsprinzip. Fragen politischer Herrschaft werden von der MB in der Regel in Referenz auf die Scharia beantwortet. Der frühere Slogan "tatbiq al-shari'a" (deutsch: "Anwendung der Scharia") wurde, unter Beibehaltung der inhaltlichen Übereinstimmung, durch die Zielsetzung eines "zivilen Staates mit islamischem Referenzrahmen" ersetzt. Im Ergebnis ist ein taktisches Verhältnis der MB zu Begriffen wie Taktisches Verhältnis Demokratie und Pluralismus feststellbar. Einerseits unterstützt zur Demokratie die MB mit ihrem Verständnis vom zivilen Staat den Pluralismus 63 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus sowie bürgerliche und politische Freiheiten, die vor allem vor dem Hintergrund autoritärer Regime durchaus im Interesse der MB sind. Andererseits zielt der Zusatz des islamischen Referenzrahmens darauf ab, die Ausrichtung von Staat und Gesellschaft an den Bestimmungen der Scharia zu erzwingen, illiberale religiöse Konzepte durchzusetzen und Einschränkungen von bürgerlichen sowie politischen Freiheiten zu begründen. Islam der Mäßigung Die MB nimmt für sich in Anspruch, einen "Islam der Mäßigung" und "Wasatiyyabzw. einen "Islam der Mitte" zu vertreten. Wichtigste ReferenzKonzept" quelle der MB ist das "Wasatiyya-Konzept" des im September 2022 verstorbenen Yusuf al-Qaradawi, der als einer der wichtigsten Ideologen der MB gilt. Die Rhetorik der MB suggeriert, mit dem Begriff der "wasatiyya" (deutsch: "Mittelposition" oder "Mäßigung") eine Position zu vertreten, die Extremismus ablehnt. Al-Qaradawis Verständnis von "Mitte" basiert allerdings auf einer extremistischen Islaminterpretation, die mit einem Wahrheitsund Überlegenheitsanspruch sowie der Forderung nach uneingeschränkter Gültigkeit und Umsetzung in der Gegenwart einhergeht. Das Verhältnis der MB zu Fragen der Gewaltanwendung ist weiterhin davon geprägt, dass sie sich bis heute nicht eindeutig von den militanten Konzepten des Muslimbruders und ideologischen Vordenkers des Jihadismus, Sayyid Qutb, distanziert. Offiziell hat die MB, mit Ausnahme ihres Ablegers, der HAMAS, zwar seit einigen Jahrzehnten der Gewalt abgeschworen, die Haltung der Führungsebene der MB seit dem Sturz Muhammad Mursis zeigt sich in dieser Frage jedoch ambivalent bis hin zu al-Qaradawis Auffassung, wonach der militärische Jihad auch in aktuellen Konflikten legitim sei. Die MB bekämpft von ihrer islamistischen Auslegung abweichende, vor allem liberale Islaminterpretationen, macht ihr Staatsbürgerkonzept am islamischen Glauben fest und lässt in ihrem Konzept politischer Herrschaft nur islamkonforme Parteien zu. Zudem weicht sie nicht von der Scharia als Grundlage politischer Herrschaft ab und bekennt sich nicht zu persönlichen Freiheitsrechten und der Akzeptanz gleicher Rechte für alle Staatsbürger. Entsprechend sind die gesellschaftlichen und politischen Zielsetzungen der MB als islamistisch zu werten. Strategischer Ansatz Nach außen gibt sich die MB offen, tolerant und dialogbereit und strebt eine Zusammenarbeit mit politischen Institutionen und Entscheidungsträgern an, um so Einfluss im öffentlichen Leben 64 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 zu erlangen. Ihr Ziel bleibt aber die Errichtung einer auf der Scharia basierenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung. Das zu Zeiten des Verbotes der Organisation in Ägypten etablierte "Usra-System" (deutsch: "Familie") dient auch in Europa Bildungszwecken und der Verbreitung der MB-Ideologie. Angelehnt an das "Usra-System" verfügen auch auf europäischer und deutscher Ebene der MB zuzurechnende Verbände, Moscheen und Vereine, teilweise finanziert durch intransparente Zuwendungen aus dem Ausland, nur über wenige Schnittstellen. Sie bestreiten jegliche Nähe zur MB und sind bestrebt, sich als unabhängig und als Repräsentanten islamischer Pluralität darzustellen. Gemäß der legalistischen Strategie bewegt sich die MB innerhalb der hiesigen Rechtsordnung und nutzt deren Freiräume, insbesondere die Religionsfreiheit, um ihre extremistische Islaminterpretation als vorgeblichen "Islam der Mäßigung" zu etablieren. Hierzu sucht sie gezielt den Kontakt zu öffentlichen Institutionen und Entscheidungspersonen, um sich als Interessenvertretung "der muslimischen Gemeinschaft" und Ansprechpartnerin in Sachen Islam anzubieten und politische Anerkennung zu erzielen. Langfristig soll über die erlangte Deutungshoheit die gesellschaftliche Grundlage für die Errichtung einer politischen Ordnung nach den Vorstellungen der MB geschaffen werden. Organisatorische Strukturen Die MB hat den Charakter einer Bewegung bzw. eines internationalen Netzwerkes. In zahlreichen Staaten existieren Vereinigungen, die sich ideologisch an der MB-Mutterorganisation in Ägypten orientieren, z. B. die "al-Nahda" in Tunesien. Offiziell haben sich die meisten Zweige der MB von Gewalt abgewandt. Die HAMAS als palästinensische Repräsentanz der MB nutzt jedoch weiterhin militärische Mittel im Kampf gegen Israel. Die MB tritt in Deutschland zwar nicht offen in Erscheinung, wird jedoch durch die "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V." (DMG), ehemals "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD), vertreten. Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG), ehemals: Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD) Die DMG mit Sitz in Berlin wurde Anfang der 1960er Jahre zunächst als "Islamische Gemeinschaft Süddeutschland" gegründet. Sie firmierte ab 1982 unter dem Namen "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) und wurde 2018 in DMG umbenannt. Seit 2017 wird die Organisation von Khallad Swaid geführt. Die DMG ist die wichtigste und zentrale 65 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Organisation von Anhängerinnen und Anhängern der MB in Deutschland. Verbindungen von DMG-Funktionären zu ausländischen Akteuren der MB belegen die Einbindung der DMG in ein weltweites MB-Netzwerk. DMG-nahe StrukDurch ihre an der MB-Ideologie ausgerichtete Strategie der turen in Bayern Einflussnahme im gesellschaftlichen und politischen Bereich richten sich die Bestrebungen der DMG gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland. Ihre Klage gegen die Nennung im Verfassungsschutzbericht des Bundes nahm die DMG im August 2021 zurück. In Bayern wird das "Islamische Zentrum München" (IZM) der DMG zugerechnet. 3.1.2 Milli Görüs-Bewegung Personenpotenzial Bayern: ca. 2.900 Gründer Necmettin Erbakan Entstehung ca. 1970 in der Türkei Ideologischer Bezug Muslimbruderschaft Sprachrohr der Milli Gazete (Nationale Zeitung) Milli-Görüs-Bewegung Die islamistische "Milli Görüs-Bewegung" gründet sich auf der Ideologie des am 27. Februar 2011 verstorbenen türkischen Politikers Necmettin Erbakan. Ziel der Bewegung ist es, zunächst die laizistische Staatsordnung, d. h. die Trennung von Religion und Staat, in der Türkei durch eine islamistische Staatsund Gesellschaftsordnung mit dem Koran und der uneingeschränkten Gültigkeit der Scharia als Grundlagen des Staates und des gesellschaftlichen Zusammenlebens abzulösen. Ihr erklärtes Fernziel ist die weltweite Einführung einer islamistischen Staatsund Gesellschaftsordnung nach dem historischen Vorbild des Osmanischen Reiches unter der Führung der heutigen Türkei. Die Bestrebungen der "Milli Görüs-Bewegung" richten sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und gegen den Gedanken der Völkerverständigung. "Adil Düzen/Batil Die "Milli Görüs-Bewegung" wurde Ende der 1960er Jahre von Düzen"-Konzept Erbakan gegründet. Zentrale Bedeutung in seinem politischen Denken haben die von ihm geprägten Schlüsselbegriffe "Milli Görüs" (deutsch: "nationale Sicht") und "Adil Düzen" (deutsch: "gerechte Ordnung"). Nach der von Erbakan entwickelten Ideologie ist die Welt zweigeteilt: Er unterscheidet zwischen der auf dem Wort Gottes basierenden religiös-islamischen 66 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 "gerechten Ordnung" und der "westlichen Ordnung", geprägt von Morallosigkeit, Gewalt und Unterdrückung ("Batil Düzen", deutsch: "nichtige Ordnung"). Es gelte, die "westliche Ordnung" durch eine "gerechte Ordnung" zu ersetzen, wofür die Ausrichtung an islamischen Grundsätzen statt an von Menschen geschaffenen und damit "willkürlichen" Regeln erforderlich sei. Auch andere von Menschen erdachte Gesellschafts-, Staatsund Wirtschaftssysteme zählen zu Erbakans Feindbildern. Zudem negiert seine islamistische Ideologie das Existenzrecht des Staates Israel, dessen Regierung und Bevölkerung meist abwertend mit dem Wort "Zionisten" umschrieben werden. Insgesamt ist das "Adil Düzen"-Konzept mit den Grundprinzipien Antisemitische der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar, da Tendenzen die Einführung einer islamistischen Gesellschaftsordnung den Grundsatz der Gewaltenteilung, das Rechtsstaatsprinzip, die Unabhängigkeit der Justiz und das Demokratieprinzip beseitigen würde. Die Ausrichtung der "Milli Görüs-Bewegung" steht damit im Widerspruch zum republikanischen Strukturprinzip Deutschlands sowie der hier gelebten demokratischen Ordnung. Zudem ist die antisemitische oder zumindest stark antizionistische Ideologie der "Milli Görüs-Bewegung" unvereinbar mit der Religionsfreiheit, dem Gleichbehandlungsgrundsatz sowie den im Grundgesetz verankerten Menschenrechten, und richtet sich außerdem gegen die Völkerverständigung. Der "Milli Görüs-Bewegung" sind insbesondere die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs" (IGMG), die "Saadet Partisi" (SP, deutsch: "Glückseligkeitspartei") als politische Vertreterin der Bewegung, die "Ismael Aga Gemeinschaft" (IAC), die "Erbakan-Stiftung", die türkische Tageszeitung "Milli Gazete" (deutsch: "Nationale Zeitung") und der türkische Fernsehsender "TV5" zuzurechnen. Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) In Deutschland wird die "Milli Görüs-Bewegung" durch die IGMG repräsentiert. Die Zentrale der IGMG hat ihren Sitz in Köln und ist untergliedert in mehrere nachgeordnete "Gebiete". Innerhalb der "Gebiete" ist eine Vielzahl von "Ortsvereinen" organisiert. In Bayern werden der IGMG derzeit 45 Vereine zugerechnet. Die Regionalverbände befinden sich in Nürnberg und München. Anzeichen für einen Loslösungsprozess der IGMG von der "Milli Görüs-Bewegung" konnten in Bayern nur in wenigen Einzelfällen bestätigt werden. Eine Orientierung der IGMG an der islamistischen "Milli Görüs"-Ideologie ist daher bis auf wenige 67 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Ausnahmen in Bayern weiterhin feststellbar. Gedenkveranstaltungen und Grabbesuche, auch von Delegationen aus Bayern, verdeutlichen weiterhin Erbakans Bedeutung für die IGMG. Saadet Partisi (SP) In der Türkei ist die Unterstützerszene der "Milli Görüs-Bewegung" seit 2001 politisch in der SP organisiert. Ihre diversen Vorgängerparteien wurden allesamt aufgrund "anti-laizistischer Aktivitäten" verboten, nachdem ihnen vorgeworfen worden war, die Trennung von Staat und Religion in der Türkei beseitigen zu wollen. Seit den Parlamentswahlen 2023 ist die SP durch eine Bündnisliste mit 10 Abgeordneten im türkischen Parlament vertreten. Die seit 2013 bestehende Deutschlandvertretung der SP verfügt auch in Bayern über Strukturen, wie z. B. den Regionalverband Südbayern mit Sitz in München. Auch diese Strukturen sind fest in der Ideologie der "Milli Görüs-Bewegung" verhaftet. Im März organisierte die bayerische SP beispielsweise erneut eine Präsenzveranstaltung zum Gedenken Erbakans. Ismael Aga Gemeinschaft (IAC) Die "Ismael Aga Gemeinschaft" (IAC) ist eine islamistische Glaubensgemeinschaft aus der Türkei. Namensgebend ist die namensgleiche Moschee im Istanbuler Stadtbezirk Fatih. Die IAC ist Teil der weitverzweigten mystischen Bruderschaft der "Naqshbandiya", benannt nach dem im 14. Jahrhundert verstorbenen Bahauddin Naqshband, der auch Necmettin Erbakan, der verstorbene Führer der "Milli Görüs-Bewegung", angehörte. Die IAC gilt als einer der radikaleren Zweige der Bruderschaft. Der Gründer und das spirituelle Oberhaupt der IAC war bis zu seinem Tod Sheikh Mahmut Ustaosmanoglu, der auch Mahmut Hoca oder Mahmut Efendi genannt wurde. Er starb im Juni 2022 im Alter von 93 Jahren in Istanbul. Seit seinem Tod wird die IAC in der Türkei von Hasan Kilic angeführt. In Deutschland wird die IAC durch den Prediger und die Leitfigur Nusret Cayir geprägt, der die Einführung der Scharia in Deutschland fordert und die Gleichstellung von Frauen vehement ablehnt. Von der Türkei aus hält Cayir über regelmäßige OnlineVideobotschaften den Kontakt zu seiner Gefolgschaft aufrecht und verbreitet über die Videos seine demokratiefeindliche, gegen den Rechtsstaat, den Gleichbehandlungsgrundsatz und die Volkssouveränität gerichtete Ideologie auch in Deutschland. 68 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 3.1.3 Furkan Bewegung (ehemals: Furkan Gemeinschaft) Personenpotenzial Deutschland: ca. 4001 Bayern: ca. 30 Vorsitzender Alparslan Kuytul Gründung 1994 in der Türkei Publikation Furkan Nesli Dergisi 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 Die islamistische Ideologie der "Furkan Bewegung" zielt darauf ab, weltweit eine "Vorreitergeneration" zu schaffen, die nach dem Vorbild des Propheten Muhammad und seiner Gefährten zu einer "islamischen Zivilisation" zurückkehren will. Dabei wird Gott das alleinige Herrschaftsrecht zugesprochen. Die Forderungen der "Furkan Bewegung" beinhalten die grundsätzliche Ersetzung der Demokratie durch eine islamische Gesetzgebung, die Teilnahme an Wahlen gilt hiernach als verboten. Dieses Islamverständnis ist unvereinbar mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, insbesondere mit der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung. Die "Furkan Bewegung" weist eine ideologische Nähe zum GeIdeologische Nähe dankengut der MB auf. In einer Publikation bezeichnet die Orgazur "Muslimbrudernisation Hassan al-Banna, den Gründer der MB, als "hochgeehrschaft" ten Lehrer". Ihren institutionellen Grundstein bildet die "Furkan Stiftung für Bildung und Dienst" (türkisch: "Furkan Egitim ve Hizmet Vakfi"), die 1994 in der türkischen Stadt Adana von Alparslan Kuytul gegründet wurde. Die Stiftung und ihre zahlreichen Ortsvereine engagieren sich vorrangig in der muslimischen Bildungsund Missionierungsarbeit mittels Konferenzen, Kundgebungen und Jugendprogrammen, mit denen sie in der Türkei mehrere zehntausend Personen erreichen. Ergänzt werden diese Aktivitäten durch eine starke Präsenz in den sozialen Netzwerken und auf YouTube, beispielsweise mit den Kanälen "Furkan Haber" und "Furkan TV" oder dem deutschsprachigen YouTube-Kanal "Furkan Bewegung". Über die Veranstaltungen und Medienplattformen der "Furkan Bewegung" werden auch Predigten und Vorträge von Kuytul (teils mit deutschen Untertiteln) verbreitet, der als Anführer der Gemeinschaft bis heute eine starke Vorbildund Autoritätsfunktion bei seiner Gefolgschaft genießt. In der Vergangenheit trat Kuytul vereinzelt auch in Deutschland auf. 69 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Inhaftierung des In der Türkei bestehen seit mehreren Jahren politische AuseinGründers andersetzungen zwischen der türkischen Regierung und der "Furkan Stiftung für Bildung und Dienst". In Konsequenz werden weiterhin Kundgebungen und Konferenzen verboten und gewaltsam von der Polizei aufgelöst. Ebenso werden die Organisation und die zugehörigen Ortsvereine immer wieder mit Betätigungsverboten belegt. Seit Januar 2018 befindet sich Kuytul aufgrund des Vorwurfes der Terrorunterstützung, -propaganda und -finanzierung immer wieder in Haft. Zuletzt befand sich Kuytul von Mitte Mai 2022 bis Mitte Juni 2023 abermalig in Untersuchungshaft. Er wurde auf Anweisung der Generalstaatsanwaltschaft von Adana unter dem Vorwurf der "Freiheitsberaubung, Erpressung, Anstiftung zur Körperverletzung und Folter" in Gewahrsam genommen. Im Umfeld des Kuytul wurde hingegen seine wiederholte Kritik am türkischen Staatspräsidenten Erdogan als Grund für die Inhaftierung angesehen. Die Verhaftung Kuytuls führte sowohl in der Türkei als auch in Deutschland zu verschiedenen Solidaritätsund Protestbekundungen. An den Aktivitäten beteiligten sich auch Anhänger der "Furkan Bewegung" aus Bayern. Eigene PodcastDie "Furkan Bewegung" veröffentlicht seit März 2021 unter Serie ihrem damaligen Namen "Furkan Gemeinschaft" eine Podcast-Reihe mit bislang 6 Folgen. Die jüngste Podcast-Folge #6 erschien im Dezember, nach rund anderthalbjähriger Veröffentlichungspause, und thematisiert den im Oktober neu aufgeflammten Nahostkonflikt sowie den Diskurs über Parolen auf pro-palästinensischen Demonstrationen in Deutschland. Wie in anderen Podcast-Folgen werden auch in dieser Veröffentlichung "staatliche" Maßstäbe der Extremismusund Antisemitismusbewertung abgelehnt. Die Unterscheidung von Islam und Islamismus diene der Spaltung der Muslime, wogegen man sich wehren müsse. Auf der Streaming-Plattform Spotify sowie auf der eigenen Webseite der "Furkan Bewegung" wurden alle Folgen der Podcast-Reihe im Juni 2022 im neuen Design unter dem neuen Namen "Furkan Bewegung" aktualisiert bereitgestellt. In Podcast-Folge #3 mit dem Titel "Wer ist die Furkan Gemeinschaft?" findet sich eine politische Auslegung des "tauhid" (deutsch: "Ein(s)heit und Einzigartigkeit Gottes)" wie sie auch von Salafisten vertreten wird. Insbesondere die Aspekte des "tauhid", wonach Gott allein gesetzgebend sei, führen die Sprecher des Podcasts als Begründung für eine, ihrer Meinung nach, Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie nach "westlichem" Modell an. Das Konzept des "tauhid" widerspreche dem Prinzip der Volkssouveränität und einer Legislative, die auf einer anderen 70 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 als der Autorität Gottes beruhe. Weiter fordern die Sprecher die uneingeschränkte Gültigkeit des Koran und der darin offenbarten Geund Verbote Gottes, die nicht verändert oder modernisiert werden dürften. Auch die "ahkam" (traditionelle Gesetze, zu denen auch Körperstrafen gehören) sollen uneingeschränkt gelten. Die Podcast-Sprecher berufen sich mehrfach auf den Muslimbruder und wichtigsten Vordenker des Islamismus Sayyid Qutb. Dieser forderte in seinen Büchern und Predigten die strikte Ablehnung einer Reformation des islamischen Rechtes und gleichsam auch die Ablehnung einer Gesellschaft, die sich nicht ausschließlich dem Gesetz Gottes unterwerfe. Die Zurückweisung der liberalen Demokratie als unislamisch wird an verschiedenen Stellen der Podcast-Folgen wiederholt. Die Maßstäbe, nach denen in allen Bereichen des Lebens geurteilt werden solle, seien allein Gott, Koran und Sunna. In Podcast-Folge #5 findet sich das langfristige Ziel der Einsetzung der Scharia mit der Aussage, dass die Scharia nicht sofort eingesetzt werden solle, da der Staat dies nicht zulasse. 3.1.4 Hizb ut-Tahrir (HuT) Personenpotenzial Deutschland: ca. 7501 Bayern: Einzelpersonen Gründung 1953 in Jerusalem Betätigungsverbot Verbotsverfügung des Bundesministers des Innern vom 10. Januar 2003 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 Die "Hizb ut-Tahrir" (HuT, deutsch: "Partei der Befreiung") wurde 1953 von Taqiaddin al-Nabhani (1909-1977) in Jerusalem gegründet. Sein im selben Jahr veröffentlichtes Hauptwerk "Die Lebensordnung des Islam" (arabisch: "nizam al-Islam") bildet bis heute die ideologische Grundlage der Organisation. Demnach regelt der Islam abschließend und unumstößlich alle gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Belange, einschließlich die des alltäglichen Lebens. Das Ziel der panislamisch ausgerichteten HuT ist die Vereinigung der muslimischen Gemeinschaft (arabisch: "umma") in einem weltweiten Kalifat mit einer Rechtsordnung auf Basis der Scharia. Islam und Demokratie sind für die HuT nicht miteinander vereinbar. Säkulare Staatsordnungen sind aus ihrer Sicht abzulehnen und zu bekämpfen, die Wiedererrichtung des Kalifats ist unbedingtes Ziel. Zu diesem Zweck bemüht sich die Organisation insbesondere um die Rekrutierung angehender Akademikerinnen und Akademiker, 71 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus die perspektivisch in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen platziert werden sollen. Zu einem späteren Zeitpunkt soll es deren Aufgabe sein, politische Macht zu übernehmen, um das Kalifat einzuführen. Die meist jungen Sympathisantinnen und Sympathisanten der HuT werden dazu regelmäßig durch Schulungen in die Lehren des Gründers al-Nabhani eingeführt. Die HuT ist in Deutschland seit 2003 vereinsrechtlich verboten. "Realität Islam" Aktuell treten vor allem in den sozialen Netzwerken Gruppierun"Generation Islam" gen auf, die eine ideologische Nähe zur HuT aufweisen. Dazu "Muslim Interaktiv" zählen vorrangig die Initiativen "Realität Islam" (RI), "Generation Islam" (GI) sowie "Muslim Interaktiv" (MI). In den Veröffentlichungen der Gruppierungen, die häufig tagesaktuelle Themen aus Politik und Gesellschaft aufgreifen, wird die muslimische Bevölkerung zum Opfer politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse in Deutschland stilisiert. Die Bewahrung einer "wahren" islamischen Identität sei nur durch Abgrenzung von der westlichen Gesellschaft möglich. Maßgeblich seien die Vorgaben der Scharia. Protest gegen KoranDer realweltliche Einfluss und die Mobilisierungskraft dieser verbrennungen Online-Initiativen zeigte sich u.a. im Februar in Hamburg bei einer Kundgebung unter dem Motto "Die Zukunft gehört dem Koran", die von MI in Reaktion auf die Koranverbrennungen in Schweden und Dänemark im Januar durchgeführt wurde. An dieser sehr öffentlichkeitswirksamen Veranstaltung nahmen mehrere Tausend Menschen teil. Auf einer Bühne wurden emotional aufgeladene Reden von Führungspersonen der Gruppierung gehalten, die mit ihrem teilweise aggressiven Auftreten die Stimmung der Versammlung aufheizten. Immer wieder kam es zu von MI initiierten "Allahu Akbar"-Rufen der versammelten Menge, dem Zeigen des sog. "Tauhid"-Fingers (ausgestreckter, nach oben weisender Zeigefinger) und dem Hochhalten mitgebrachter Koran-Exemplare. Neben der Verurteilung der genannten Koranverbrennungen propagierten einige der Redner auch antiwestliche Positionen wie eine angebliche "Assimilationsagenda" des deutschen Staates, die auf die Unterdrückung der muslimischen Gemeinschaft abziele. Das hohe Maß an Vorbereitung der Veranstaltung - beispielsweise über vorgefertigte 72 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Plakate, die zahlreichen Ordner oder entsprechende Bewerbung im Vorfeld - sowie die hohe Teilnehmerzahl, die eigene Dokumentation mithilfe eines Kamerateams und die anschließende Veröffentlichung eines Zusammenschnittes auf dem YouTubeKanal von MI belegen die Professionalität und Reichweite der Gruppierung. Das hierzu aufwendig produzierte Video "Muslim Interaktiv setzt Zeichen | #DieZukunftgehörtdemQuran Kundgebung in Hamburg" hatte mit Stand Dezember über 17.000 Aufrufe und bedient das Narrativ einer sich gegen die Unterdrückung durch die Mehrheitsgesellschaft zur Wehr setzenden muslimischen Opferund Schicksalsgemeinschaft. Die kontinuierliche Bedienung dieses Opfernarratives durch die Täter-Opfer-Umkehr HuT-nahen Gruppierungen zeigte sich auch im Zusammenhang mit der jüngsten Eskalation im Nahostkonflikt. Mit den Ereignissen am 7. Oktober nahm die Veröffentlichung von pro-palästinensischen sowie antiisraelischen Beiträgen auf allen SocialMedia-Accounts von GI, RI und MI stark zu. Diese Beiträge wurden zudem durch Einzelpersonen und Gruppen aus dem islamistischen Spektrum in Bayern weiterverbreitet. Insbesondere RI teilte zahlreiche Videos von Verletzten und Toten, insbesondere von Kindern, sowie der Zerstörung in Gaza. Diese Videos beinhalten ein erhebliches Emotionalisierungspotenzial und vermitteln ein einseitiges und stark vereinfachtes Bild der Ereignisse im Nahen Osten. Verbunden mit der undifferenzierten Darstellung der Sachverhalte erwecken diese Inhalte beim Adressaten den Eindruck eines einseitigen Konfliktes, der ausschließlich vom "Aggressor" Israel ausgehe - der Terror der HAMAS hingegen findet in den Onlinebeiträgen keine Erwähnung. Ergänzt wurde dieses Bild durch antisemitische Narrative wie beispielsweise der Bezeichnung Israels als "zionistisches Terrorregime" oder "Kindermörder". Begleitend wurden nach dem 7. Oktober Vergleiche der palästinensischen Situation mit der Lage der Ukraine im russischen Angriffskrieg gezogen und 73 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Israel mit Russland als eigentlicher Aggressor im Konflikt gleichgesetzt. Diese Darstellung des Konfliktes mit ihrer den Aussagen zugrundliegenden Täter-Opfer-Umkehr zielte darauf ab, dem Betrachter ein sehr einseitiges Bild der Hintergründe der Gewalt und der Situation zu vermitteln. Neben den Schuldzuweisungen an Israel stand auch die Verurteilung der westlichen Reaktionen, insbesondere auch der deutschen Politik und Medien, im Vordergrund. Dem deutschen Staat wurde dabei ein pro-israelischer "Solidarisierungsdruck" vorgeworfen, der die deutsche Bevölkerung in ein "Denkgefängnis" zwänge und keine abweichenden Meinungen zulassen würde. Opfernarrativ Das verwendete Opfernarrativ zielt grundsätzlich auf die Darstellung ab, dass praktizierende Muslime in Deutschland systematisch diskriminiert und kriminalisiert würden. Dabei werden insbesondere Medienakteure und Politikerinnen und Politiker als Verantwortliche für die Erzeugung einer islamfeindlichen Stimmung in der Bevölkerung verunglimpft. Aufgrund dieser vermeintlich islamfeindlichen Haltung von Politik und Gesellschaft solle sich die muslimische Gemeinschaft, deren Alleinvertretung extremistische Akteure gerne für sich reklamieren, aktiv von der deutschen Mehrheitsgesellschaft und deren liberaler "Wertediktatur" abgrenzen. Bei einer pro-palästinensischen Demonstration am 3. November in Essen (NordrheinWestfalen), die von GI organisiert wurde, wurden laut Anti-Israel-Slogans skandiert und schwarze Banner mit weißer arabischer Aufschrift (muslimisches Glaubensbekenntnis) getragen, welche mit der HuT in Verbindung gebracht werden können. Unter den Hauptrednern der Demonstration, an der rund 3.000 Personen teilnahmen, befand sich Ahmad Tamim, ein relevanter Funktionär der GI. Tamim hielt eine emotional aufgeladene, teilweise aggressive Rede, in welcher er u.a. die Haltung der westlichen Staaten sowie ihre "einseitige Berichterstattung" kritisierte. 74 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 3.1.5 Tablighi Jama'at (TJ) Personenpotenzial Deutschland: ca. 550 1 Bayern: ca. 160 Gründung 1926 bei Delhi (Indien) 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 Die TJ (deutsch etwa: "Missionsgemeinschaft") ist eine 1926 in Britisch-Indien gegründete Missionierungsbewegung, die heute weltweit aktiv ist. Seit ihren Ursprüngen ist sie eng mit der islamischen Hochschule von Deoband in Indien verbunden. Diese steht für eine streng konservative, von vermeintlich fremden Einflüssen befreite Islamauffassung und hat teilweise auch sunnitisch-islamistische Gruppen wie die "Taleban" beeinflusst. Die TJ verbreitet ein rigoroses Islamverständnis mit dem langfristigen Ziel, islamistische Gesellschaftssysteme zu etablieren. Die TJ propagiert neben der Ablehnung säkularer Prinzipien auch Ausund Abgrendie Abgrenzung gegenüber Nichtmuslimen. Dies birgt ein hohes zungstendenzen Potenzial für die Bildung abgeschotteter Parallelgesellschaften und begünstigt eine islamistische Radikalisierung. Auch wenn die TJ selbst keine terroristische Organisation ist, weist sie eine gemeinsame ideologische Basis mit solchen Gruppierungen auf. Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, dass die Strukturen der Bewegung von terroristischen Netzwerken genutzt werden und sich einzelne TJ-Angehörige terroristischen Organisationen anschließen. Die TJ ist sowohl in Deutschland als auch global als Netzwerk strukturiert, dessen Anhängerschaft über informelle Kontakte miteinander in Verbindung steht. Charakteristisch für die TJ sind mehrtägige bis mehrwöchige missionarische Reisetätigkeiten in Gruppen (arabisch: "jama'at") im Inund Ausland mit dem Ziel, neue Anhängerinnen und Anhänger zu rekrutieren. Hierbei werden teilweise auch Moscheen aufgesucht, die keinen unmittelbaren Bezug zur TJ haben. Die Aktivitäten, z. B. in Form von Islamunterricht oder Predigten, richten sich in erster Linie an muslimische Bevölkerungsteile, die nach Auffassung der TJ-Anhängerschaft nicht islamkonform leben; die Bekehrung von Nichtmuslimen erfolgt nachrangig. Die TJ ruft auch ihre Gefolgschaft in Deutschland dazu auf, TJ-Moscheen Missionierungsarbeit in der hiesigen muslimischen Community in Bayern zu leisten. Dabei können auch Reisebewegungen entsprechender 75 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Gruppen nach bzw. innerhalb Bayerns festgestellt werden. In Bayern sind 2 Moscheevereine den TJ-Strukturen zuzurechnen: Die "Islamische Gemeinde Hof e. V." und der "Kulturverein für deutschsprachige Muslime e.V." in München. Im Moscheeverein in München fand im Mai ein großes TJ-Treffen mit einer Vielzahl an Gelehrten der TJ statt, das auch live im Internet übertragen wurde. Im Rahmen der Vorträge wurden in Teilen islamistische Botschaften vermittelt, die u. a. gegen den Gleichheitsgrundsatz von Frau und Mann sowie das Prinzip der sexuellen Selbstbestimmung verstoßen. Konträr zur Eigendarstellung der TJ, eine apolitische Missionierungsbewegung zu sein, wurden ebenso Aussagen gegen das demokratische Prinzip der Volkssouveränität getätigt, wonach die Gesetze Allahs über alle anderen zu stellen seien, d. h. auch über weltliche Gesetze. Neben ihren Missionierungsreisen veranstaltet die TJ auch größere Treffen ihrer Anhängerschaft auf regionaler und überregionaler bzw. internationaler Ebene. Seit dem Wegfall der Corona-Beschränkungsmaßnahmen konnten auch wieder verstärkt Reisetätigkeiten und Treffen der TJ festgestellt werden. 3.1.6 Schiitischer Islamismus Personenpotenzial Bayern1 ca. 40 Ideologischer Bezug Iranisches Regime 1 Bundesverfassungsschutzbericht 2022: keine gesicherten Zahlen Die Ursprünge des zeitgenössischen schiitischen Islamismus sind in der sog. "Islamischen Revolution" 1978/79 in Iran zu finden. Das von Ajatollah Ruhollah Khomeini eingeführte Herrschaftssystem "velayat-e faqih" (deutsch: "Herrschaft" bzw. "Statthalterschaft der Rechtsgelehrten") sieht den Export der Islamischen Revolution und die Unterstützung schiitischer Bevölkerungsteile, vor allem im Nahen und Mittleren Osten, vor. Dies wird als Befreiungskampf gedeutet und metaphorisch mit historischen Stationen der Konfession der "Shi'a" (deutsch: "Schiiten") ideologisch überhöht. Im Zuge der Iranischen Revolution wurde mit den sog. "Revolutionsgarden" (persisch: "Pasdaran") eine Teilstreitkraft des iranischen Militärs gegründet, die direkt dem geistlichen Oberhaupt des Iran unterstellt ist und seitdem immer wieder maßgeblich am Aufbau Iran-naher Milizen beteiligt war. So bauten Revolutionsgardisten beispielsweise während der israelischen 76 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Besetzung des Libanon Anfang der 1980er Jahre die "Hizb Allah" (deutsch: "Partei Gottes") auf, die neben ihren militärischen Aktivitäten seit 1993 auch als politische Partei innerhalb Libanons großen Einfluss ausübt. Innerhalb der schiitischen Gemeinschaften in Deutschland dient das 1962 gegründete "Islamische Zentrum Hamburg" (IZH) als Multiplikator schiitisch-islamistischen Gedankengutes im Sinne des Revolutionsexportes. Neben der iranischen Botschaft ist das IZH die wichtigste offizielle Vertretung Irans in Deutschland und gleichzeitig eines seiner bedeutendsten Propagandazentren in Europa. Die enge Anbindung des IZH an die Führung Irans zeigt sich u. a. darin, dass der Leiter des IZH ein ausgewiesener islaIZH in Hamburg mischer Rechtsgelehrter sein muss, der vom iranischen Außenministerium bestimmt wird und als Vertreter des iranischen "Revolutionsführers" in Zentraleuropa gilt. Iran versucht auf diesem Weg, Schiiten aller Nationalitäten an sich zu binden und die gesellschaftlichen, politischen und religiösen Grundwerte der Iranischen Revolution in Europa zu verbreiten. Ein wichtiges Element für die Steuerung der Interessen des IZH ist der schiitische Dachverband "Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden in Deutschland e. V." (IGS). In Bayern wird die "Islamische Vereinigung Bayern" (IVB) mit Sitz in München dem IZH als Außenstelle zugerechnet. Zwischen IZH und IVB bestehen enge Verflechtungen. In den letzten Jahren konnten, u. a. zu bestimmten hohen religiösen Anlässen wie z. B. während des Fastenmonats Ramadan, vereinzelt Imame festgestellt werden, die in unregelmäßigen Abständen vom IZH in die IVB entsandt werden. In der Satzung der IVB ist ebenso festgelegt, dass das Vereinsvermögen im Falle einer Auflösung des Vereins an das IZH fallen soll. Im Rahmen eines vereinsrechtlichen Ermittlungsverfahrens bundesweite des Bundesministeriums des Innern und für Heimat gegen das Durchsuchungen IZH und dessen Teilorganisationen erfolgten am 16. November bundesweit Durchsuchungen. Das IZH steht im Verdacht, sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und gegen den Gedanken der Völkerverständigung zu richten und damit die Verbotsgründe nach Artikel 9 Absatz 2 des Grundgesetzes und SS 3 Absatz 1 des Vereinsgesetzes zu erfüllen. Die Islamische Vereinigung in Bayern e. V. (IVB) als mutmaßlich eine dieser Teilorganisationen wurde im Zuge der Maßnahme durchsucht. Im schiitischen Extremismus ist häufig eine antisemitische und antiisraelische Grundeinstellung vorzufinden. So konnte auf dem YouTube-Kanal "Kuran ve Ehl-i Beyt Mektebi Augsburg" 77 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Durchsuchung in beispielsweise ein Video im Zusammenhang mit einem AutoAugsburg korso anlässlich des "al-Quds-Tags" 2021 mit antisemitischen und volksverhetzenden Inhalten festgestellt werden. Der Verein "Kuran ve Ehl-i Beyt Mektebi Augsburg" ist Teil des "Kuran ve Ehl-i Beyt Mektebi"-Netzwerkes mit Repräsentanzen in Offenbach, Bremen und Den Haag. Der Internetauftritt des "Kuran ve Ehl-i Beyt Mektebi Augsburg" ist verknüpft mit dem Kanal "Welayet TV", über den auch Propagandabeiträge iranischer Medien verbreitet werden. Am 13. September durchsuchten Polizeikräfte die Vereinsräumlichkeiten des "Kuran ve Ehl-i Beyt Mektebi Augsburg" (vereinsrechtlich: "Islamisches Buchund Kulturhaus e. V.") sowie weitere Objekte im Zusammenhang mit dem Verein. Bei der Generalstaatsanwaltschaft München ist aufgrund des Verdachtes der Volksverhetzung gemäß SS 130 StGB ein Verfahren anhängig. 3.2 Salafismus 3.2.1 Ursprung Der Salafismus geht auf Muhammad Ibn Abdalwahhab zurück, der Ende des 18. Jahrhunderts auf der arabischen Halbinsel eine Reinigung des Islam von, aus seiner Sicht, unerlaubten Neuerungen und vermeintlichem Irrglauben forderte. Vorbildfunktion in Bezug auf den "wahren Islam" böten einzig die sog. "frommen Altvorderen" (arabisch: "al-salaf al-salih"), d. h. die ersten 3 Generationen des frühen Islam im 7. Jahrhundert. Die sich aus dem Gedankengut von Ibn Abdalwahhab konstituierende Ideologie, der sogenannte "Wahhabismus", gilt als maßgebliche Quelle des heutigen Salafismus. 3.2.2 Ideologie "tauhid" und "bid'a" Heutige Angehörige des Salafismus richten ihren Glauben, ihre religiöse Praxis und ihre Lebensführung ausschließlich an den Prinzipien des Korans und dem vom Propheten Muhammad und den frommen Altvorderen gesetzten Vorbild aus. Jegliches Abweichen von dieser Norm, die in ihren Augen als ursprünglicher und reiner Islam gilt, lehnen sie als unerlaubte Verfälschung des Islam bzw. als "Neuerung" (arabisch: "bid'a") ab. Ablehnung der Zentraler salafistischer Glaubensinhalt ist die Ein(s)heit und Demokratie Einzigartigkeit Gottes (arabisch: "tauhid"). Dies beinhaltet auch, dass Gott der einzig legitime Souverän und Gesetzgeber ist. Die Scharia ist für Angehörige des Salafismus als "Gesetz Gottes" letztgültiger Maßstab. Der Salafismus lehnt weltliche Gesetze 78 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 und die Werte westlicher Gesellschaftsund Herrschaftssysteme daher als unislamisch und unterlegen kategorisch ab. Er orientiert sich kompromisslos an der islamischen Frühzeit vor ca. 1.400 Jahren und befürwortet frühislamische Herrschaftsund Gesellschaftsformen. Dies führt zur Ablehnung der als wesensfremd empfundenen demokratischen Mehrheitsgesellschaft und ihrer Werte. Vor allem die von salafistischen Akteuren in Deutschland propagierte Einheit von Religion und Staat und der ebenfalls erhobene absolute Geltungsanspruch der islamischen Rechtsordnung machen deutlich, dass salafistische Auffassungen Geltung für sämtliche Lebensbereiche beanspruchen. Als Höherwertigkeitsideologie richtet sich der Salafismus zwar Höherwertigkeitsauch gegen nicht-islamische, z. B. jüdische und christliche ideologie Glaubensvorstellungen; besonders in der Kritik stehen jedoch andere islamische Glaubensauffassungen - insbesondere das schiitische und das mystische Islamverständnis. Salafisten diffamieren die Anhängerschaft dieser Glaubensformen als Ungläubige, "Verweigerer der wahren Lehre" (arabisch: "rawafid") oder werfen ihnen Götzendienst (arabisch: "shirk") vor. Am Dialog mit Andersgläubigen sind sie nur insoweit interessiert, wie er ihrer Missionierungsarbeit (arabisch: "da'wa") dienlich ist. Die ideologischen Grundsätze des Salafismus sind letztlich unvereinbar mit den im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerten Prinzipien, insbesondere denen der Demokratie, des Rechtsstaates und einer auf der Menschenwürde basierenden politischen Ordnung. Die Ideologie des Salafismus lässt sich in eine politische und eine jihadistische Strömung unterteilen, wobei die Übergänge fließend sind. Sie unterscheiden sich vor allem in der Wahl der Mittel, mit denen ihre Ziele realisiert werden sollen. Jihadistische wie auch politische Angehörige des Salafismus stützen sich jedoch auf dieselben ideologischen Autoritäten und Vordenker und verfolgen die gleichen Ziele. Der politische Salafismus verzichtet zwar auf die Ausübung Politischer direkter Gewalt zur Erreichung seiner Ziele. Er bietet aber Salafismus immer wieder den ideologischen Nährboden für terroristische Aktionen. So waren fast alle bisher in Deutschland identifizierten islamistischen terroristischen Netzwerkstrukturen und Einzelpersonen salafistisch geprägt bzw. haben sich in salafistischen Milieus entwickelt. 79 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Jihadistischer Der jihadistische Salafismus befürwortet eine unmittelbare und Salafismus sofortige Gewaltanwendung. Dabei wird auch der bewaffnete Kampf gegen Regierungen in Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit, denen vorgeworfen wird, vom Islam abgefallen und Handlanger des verhassten "Westens" zu sein, propagiert. Derzeit ist nur ein kleiner Prozentsatz des salafistischen Personenpotenzials dem jihadistischen Salafismus zuzurechnen, die überwiegende Mehrheit ist dem politischen Salafismus zugehörig. Jihadistische Salafisten kämpfen derzeit im Nahen und Mittleren Osten, in Asien sowie vor allem auf dem afrikanischen Kontinent. Die bedeutendsten jihadistisch-salafistischen Terrororganisationen bilden der "Islamische Staat" (IS) und sein von Afghanistan aus operierender Ableger "Islamischer Staat - Provinz Khorasan" (ISPK), das Terrornetzwerk "al-Qaida" (AQ) und dessen zahlreiche weltweiten Regionalableger, darunter "al-Shabab" in Somalia und "Boko Haram" in Nigeria, sowie die ehemals im AQ-Netzwerk zu verortende Organisation "Hai'at Tahrir al-Sham" (HTS). Transformation Initiiert durch seine militärischen Niederlagen und territorialen des IS Rückschläge in Syrien und Irak hat der IS in den vergangenen Jahren eine Transformation durchlaufen: Er formierte sich im Untergrund neu und fokussierte sich vermehrt auf seine selbst ausgerufenen IS-Verwaltungsprovinzen (arabisch: "wilayat") jenseits des einstigen Kerngebietes. Weiterhin rufen jihadistisch-salafistische Gruppierungen wie AQ und IS bzw. ISPK dazu auf, den gewaltsamen Jihad auch in westliche Staaten zu tragen. Auch zu Anschlägen in Deutschland und dessen Nachbarstaaten wurde in den vergangenen Jahren wiederholt aufgerufen. 3.2.3 Personenpotenzial Anhänger/Besucher Deutschland: ca. 10.500 1 Bayern: ca. 720 Entstehung erste Strukturen in Bayern Mitte der 1990er Jahre 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 Bundesweit ist eine weitverzweigte, heterogene "Infrastruktur" des Salafismus festzustellen. Die salafistische Szene ist allerdings meist nur lose organisiert und weist eine hohe Dynamik auf. Feste, überregionale Organisationsstrukturen sind nur selten vorhanden. Es gibt jedoch viele örtliche salafistische Vereine, die 80 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 häufig gleichzeitig als Träger salafistisch geprägter Moscheen fungieren. Daneben gibt es lose Personennetzwerke oder autonom agierende Einzelpersonen, die salafistische Aktivitäten entfalten. Die Anhängerzahlen des salafistischen Spektrums bewegen Personenpotenzial sich auf hohem Niveau. In Bayern liegt das Potenzial bei 720 Perim Bund und in sonen (2022: 690). Davon waren knapp 15 Prozent dem gewalBayern torientierten Spektrum zuzurechnen. Bei ca. 10 Prozent der 720 Personen handelt es sich um Konvertitinnen und Konvertiten. Rund 7 Prozent des Personenpotenzials sind weiblich. Frauen, Familien und Minderjährige Obgleich die öffentliche Darstellung und Wahrnehmung im Salafismus häufig auf stereotype Männerbilder reduziert wird, sind in den letzten Jahren vermehrt auch Frauen in diesem Phänomenbereich aktiv. Sowohl in der realen als auch in der virtuellen Welt haben sich salafistische Frauennetzwerke gebildet. Neben dort diskutierten Alltagsthemen, wie z. B. Kindererziehung und Kleidung, spielen in diesen Frauennetzwerken häufig auch Glaubensfragen, Spendensammlungen, Gefangenenhilfe und eine mögliche Heiratsvermittlung eine große Rolle. In Einzelfällen wurde festgestellt, dass junge Frauen allein über Messengergruppen und -kanäle salafistisch indoktriniert wurden und Kontakte in die Szene erlangten. Frauen sind jedoch auch in der realweltlichen gewaltorientierten Szene vertreten. Insbesondere innerhalb terroristischer Gruppen spielen sie neben der ihnen dort zugesprochenen Funktion als Ehefrau und Mutter eine aktive Rolle bei Missionierungsarbeiten, Rekrutierungen, logistischer Unterstützung, Spendensammlungen und bisweilen selbst bei Kampfhandlungen oder Attentaten. Die salafistische Ideologie kann sich auch innerhalb familiärer Strukturen verbreiten. Im besonderen Fokus steht hierbei die Mutter, da diese in salafistischen Kreisen vorrangig für die Erziehungsarbeit verantwortlich ist. Dabei besteht die Gefahr, dass die salafistische, gewaltorientierte Ideologie der Eltern oder eines Elternteiles negative Auswirkung auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder hat. Diese sind daher als schutzbedürftige Opfer der geschlossenen Weltund Werteordnung ihrer Eltern anzusehen. 81 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Auch für junge Erwachsene auf Identitätssuche erscheint der Salafismus attraktiv, da er ihnen eine vermeintlich klare Orientierung und Struktur (auch im Alltag) bietet. Der Komplexität und Unübersichtlichkeit der modernen Welt setzt er ein konsequentes "Schwarz-Weiß-Denken" gegenüber. Von individuellen Entscheidungen und persönlicher Verantwortung wird der junge Mensch durch eine Vielzahl von eindeutigen Geboten und Verboten entbunden. Vielen orientierungslosen jungen Anhängerinnen und Anhängern stiftet der Salafismus eine neue und grenzüberschreitende Identität. Die Jugendlichen fühlen sich dadurch anerkannt und als fester Bestandteil einer weltweiten Solidargemeinschaft wahrgenommen. Der Anteil der 15bis 25-Jährigen in der salafistischen Szene in Bayern liegt bei ca. 15 Prozent. 3.2.4 Reisebewegungen sowie Rückkehrerinnen und Rückkehrer Die Dynamik der Ausreisen aus Deutschland in Richtung Syrien und Irak hat weiter deutlich abgenommen. Die Utopie des "Kalifats" hat mit den territorialen und personellen Verlusten des IS ihre Anziehungskraft nahezu vollständig verloren. Bis Ende 2023 lagen Erkenntnisse zu etwa 1.150 Personen aus Deutschland vor, die aus islamistischer Motivation in Richtung Syrien und Irak gereist sind. Unverändert werden einzelne Ausreisesachverhalte teilweise erst nachträglich bekannt. Neue Ausreisen Richtung Syrien und Irak werden aktuell nur noch sehr vereinzelt registriert. Etwa 25 Prozent der gereisten Personen sind weiblich. Deutschland Ausreisen aus Deutschland bis Ende 2023 ca. 1.150 davon Verstorben ca. 280 Aktuell noch im Ausland ca. 400 davon im Ausland in Gefangenschaft ca. 82 Rückkehrerinnen und Rückkehrer ca. 460 davon Rückkehrerinnen und Rückkehrer mit ca. 150 Kampferfahrung/Kampfausbildung Ermittlungsverfahren zu Rückkehrerinnen und 311 Rückkehrern 82 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Bayern Personen mit Ausreisebezug aus Bayern 99 davon tatsächlich ausgereist 69 Verstorben 22 Rückkehrerinnen und Rückkehrer 25 In Bayern aufhältig 16 Im Ausland in Gefangenschaft 3 Derzeit gehen die Sicherheitsbehörden davon aus, dass noch bei 2 der 16 in Bayern aufhältigen Rückkehrerinnen und Rückkehrern weiterhin eine intensive jihadistisch-salafistische Bindung vorliegt. 5 der Rückkehrerinnen und Rückkehrer gehören nach wie vor dem salafistischen Spektrum, jedoch ohne aktuelle Gewaltorientierung, an. Bei den übrigen 9 zurückgekehrten Personen liegen keine Anhaltspunkte vor, dass sie weiterhin über Kontakte in die salafistische Szene verfügen. Gegen die in Bayern aufhältigen Personen werden in enger Kooperation mit den zuständigen Sicherheitsbehörden die für den jeweiligen Einzelfall erforderlichen und individuell abgestimmten Maßnahmen durchgeführt, sowohl unter Beachtung präventivpolizeilicher und repressiver Aspekte als auch unter Ausschöpfung der im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten bestehenden verwaltungsund ausländerrechtlichen Maßgaben. Gefahr durch Rückkehrerinnen und Rückkehrer Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus den ehemals vom IS kontrollierten Gebieten und Personen, die ein terroristisches Ausbildungslager absolviert bzw. aktiv an paramilitärischen Kampfhandlungen teilgenommen haben, können ein erhebliches Sicherheitsrisiko darstellen. Die islamistischen Terroranschläge in Paris (2015) und in Brüssel (2016) wurden durch aus Syrien zurückgekehrte Personen verübt, was deren Bereitschaft und Fähigkeit unterstreicht, entsprechende Attentate durchzuführen. Am 24. Oktober wurde in Duisburg (Nordrhein-Westfalen) der Festnahme in 29-Jährige Tarik S. festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, eiDuisburg nen Anschlag auf eine Pro-Israel-Veranstaltung geplant zu haben. S. radikalisierte sich 2012 und reiste 2013 im Alter von 20 Jahren nach Syrien aus, wo er sich der jihadistisch-salafistischen Terrororganisation IS anschloss. Nach seiner Rückkehr 2016, wurde er 2017 zu 5 Jahren Haft verurteilt und hatte im Anschluss erfolgreich an einem Deradikalisierungsprogramm teilgenommen. Welche genauen Faktoren zu seiner Reradikalisierung führten, ist derzeit unklar. 83 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Aus bisher erhobenen Daten ergeben sich unterschiedliche Motivlagen sowohl für die Ausals auch Rückreise, weshalb sich keine Pauschalurteile über Rückkehrerinnen und Rückkehrer ableiten lassen. Welche Gefahr von diesen Personen ausgeht, muss daher jeweils im Einzelfall bewertet werden. Die Sicherheitsbehörden legen deshalb ein besonderes Augenmerk auf diesen Personenkreis. Eine unkontrollierte Rückkehr von in Krisengebiete ausgereisten Personen nach Deutschland und Europa gilt es zu verhindern. Bei Personen, die nach Deutschland zurückkehren, greift das gesamte sicherheitsbehördliche Instrumentarium. Rückkehrende Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die an der Außengrenze festgestellt werden, werden - soweit rechtlich möglich - zurückgewiesen. Eine verstärkte Ankunft rückkehrender Personen ist jedoch weiterhin nicht feststellbar. Es ist nicht auszuschließen, dass Personen mit jihadistischem Hintergrund aus Krisenund "Jihadregionen" gezielt in westliche Staaten entsendet werden, um dort Anschläge zu begehen. Ebenso können junge Männer, in Einzelfällen auch Frauen, die bereits für den IS oder andere islamistisch-terroristische Gruppen gekämpft haben und in Eigeninitiative nach Europa gelangt sind, ein Sicherheitsrisiko darstellen, wenn sie aufgrund von Frustration und Perspektivlosigkeit erneut empfänglich für Jihad-Propaganda werden. Handlungskonzept Bayern verfügt mit dem 2009 erarbeiteten "Gemeinsamen zur Verhinderung Handlungskonzept des Bayerischen Landeskriminalamts, des von Ausreisen und Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz und des OpeWiedereinreisen rativen Staatsschutzes der Bayerischen Polizei im Zusammenhang mit Reisebewegungen von Islamisten in terroristische Ausbildungslager oder zur Teilnahme am bewaffneten Jihad" über ein Maßnahmenpaket zur Verhinderung jihadistisch-salafistisch motivierter Ausreisen in Krisengebiete. Schwerpunkt des zuletzt 2022 aktualisierten Handlungskonzeptes ist ein möglichst frühzeitiger, umfassender und kontinuierlicher Informationsaustausch aller Sicherheitsbehörden. Ziel ist einerseits die Verhinderung von Ausreisen. Andererseits werden bei ausländischen Staatsangehörigen aufenthaltsbeendende Maßnahmen durch die Arbeitsgruppe BIRGiT ("Beschleunigte Identifizierung und Rückführung von Gefährdern aus dem Bereich des islamistischen Extremismus/Terrorismus") geprüft, wenn z. B. der Anwerbung weiterer Personen für salafistische Zielsetzungen hierdurch entgegengewirkt werden kann. Soweit Personen mit ausländischer Nationalität bereits aus Deutschland 84 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 in Kampfgebiete ausgereist sind, werden alle aufenthaltsrechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft, um eine Wiedereinreise nach Deutschland zu verhindern. 3.2.5 Rekrutierung und Propaganda Staatliche Maßnahmen, wie z. B. Vereinsverbote, Ermittlungs"Home-Da'wa" und Strafverfahren gegen jihadistische Protagonisten sowie konsequente Abschiebungen, führten zu einer Verhaltensänderung der salafistischen Szene und zum Rückzug aus der Öffentlichkeit ins Private. Szeneangehörige agieren seither vermehrt in geschlossenen Gruppen der sozialen Medien und vernetzen sich durch klandestine Treffen, beispielsweise in Wohnungen ("Home-Da'wa"). Auch die wiederkehrenden Aufrufe zu öffentlichen Missionierungsaktivitäten des bundesweit bekannten Salafistenpredigers Pierre Vogel an die salafistische Szene konnten diese Entwicklung bisher nicht aufhalten. Um dem Fokus der Sicherheitsbehörden möglichst zu entgehen, haben einige salafistische Organisationen ihre Außenwirkung zudem angepasst: Weg vom traditionellen szenetypischen Äußeren hin zu einem modernen Auftreten, welches eine ZuModernisierung ordnung zum salafistischen Spektrum nicht auf den ersten Blick der Inhalte und des möglich macht. Anstelle der bisherigen Kampagnen werden inErscheinungsbildes zwischen neue Formate propagiert, die in der Regel einen höheren "intellektuellen" Anspruch haben. Dabei werden berufliche und wirtschaftliche Kompetenzen mit ideologischen Zielen verbunden. Als Beispiel kann die österreichische Da'wa-Organisation "IMAN" genannt werden, die Seminare anbietet, im Rahmen derer sie ihre Ideologie verbreitet.' Ergänzt werden die Aktivitäten um Kooperationen mit Personen und Organisationen des nicht-salafistisch islamistischen sowie des nicht extremistisch muslimischen Milieus. Es ist davon auszugehen, dass damit salafistische Strukturen fest in der muslimischen Community und in der Zivilgesellschaft etabliert werden sollen. Salafistischen Akteuren gelingt es weiterhin, neue virtuelle AkVerbreitung der tionsformen und Angebote in Deutschland zu etablieren. WurIdeologie via Internet den in der Vergangenheit salafistische Islam-Infostände in Fußgängerzonen und Großveranstaltungen auf öffentlichen Plätzen bis hin zu mehrtägigen Islamseminaren durchgeführt, gefilmt und als Videos ins Internet gestellt, finden sich aktuell vermehrt Kurse und Vorträge, die über diverse Medienkanäle live mitverfolgt oder im Nachgang jederzeit abgerufen werden können. Diese digitale und zeitgemäße Verbreitung der salafistischen 85 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Ideologie übt eine beträchtliche Anziehungskraft nicht zuletzt auf junge, emotional und sozial noch nicht gefestigte Persönlichkeiten aus. Junge Menschen bilden grundsätzlich die Hauptzielgruppe salafistischer Missionierungsund Rekrutierungsaktivitäten bzw. salafistischer Onlinepropaganda. Virtuelle SpendenAuch Spendengelder werden mittlerweile fast ausschließlich sammlungen über Aufrufe im Internet oder über Onlineangebote gesammelt. Zur Anregung der Spendenbereitschaft wird die Übergabe von Spenden vor Ort per Video dokumentiert und auf verschiedenen Internetkanälen neben den Spendenaufrufen veröffentlicht. In Bayern sind weiterhin vereinzelte Missionierungsaktivitäten einer sich in Netzwerken organisierenden Anhängerschaft der salafistischen Ideologie zu beobachten. Sie finden jedoch nur noch selten im öffentlichen Raum statt. Dabei hat sich die Zahl der klassischen Islam-Infostände in Bayern in den letzten Jahren auf einem niedrigen Niveau im 1-stelligen Bereich eingependelt. Einzig im Regierungsbezirk Mittelfranken konnten Islam-Infostände mit salafistischer Bücherauslage festgestellt werden. Die Aufrufe bundesweit bekannter Szeneakteure wie des salafistischen Predigers Pierre Vogel zur verstärkten "Da'wa"-Arbeit in der Öffentlichkeit werden von der bayerischen Szene zwar wahrgenommen, eine Umsetzung wurde in den vergangenen Jahren jedoch nicht festgestellt. Im Juli erfolgte die Ankündigung der Missionierungskampagne "Was danach?" mit Bezug zum salafistischen Verein "Deutschsprachige Muslimische Gemeinschaft e. V. Braunschweig" (DMG e. V. Braunschweig) sowie zu Pierre Vogel selbst. Auf den über die sozialen Netzwerke verbreiteten Aufruf zur Bestellung und Spenden für den Druck von Flyern meldeten sich Interessenten aus mehreren Städten in Bayern. Zudem betreibt der 2015 in Passau gegründete salafistische Verein "Bayerische Islamische Gemeinschaft (BIG) e. V." verschiedene Literaturund Spendenprojekte, bei denen weitreichende Bezüge in die islamistische Szene in Deutschland und das europäische Umland erkennbar sind. Am 4. Juni fand in München ein Workshop der österreichischen salafistischen Organisation "IMAN" statt. Dieses sogenannte "Dawah Training" "Dawah Training" wurde, wie bereits im eine vergleichbare Veranstaltung 2022 in Nürnberg, über soziale Netzwerke und einschlägige Messengerdienste beworben. "IMAN" ist Teil des britischen Missionierungsnetzwerkes "The Islamic Education and Research Academy" (iERA), das weltweit salafistische 86 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Missionierungsarbeit betreibt und beispielhaft für die zunehmende Professionalisierung und Modernisierung des öffentlichen Auftretens junger Salafistinnen und Salafisten steht. Neben dem Workshop richtete "IMAN" am 4. Juni unter dem Deckmantel eines "Islam-Quiz" auch einen Missionierungsstand in der Münchener Innenstadt aus. Weitere Stände mit dem Slogan "Teste dein Wissen" wurden von "IMAN" am 13. Juni in München sowie am 14. Juni in Nürnberg durchgeführt. Salafistische Prediger spielen in der Szene und im Kontext der Salafistische Propaganda und Rekrutierung weiterhin eine wichtige Rolle. Prediger Während in der Vergangenheit große, öffentlichkeitsund medienwirksame Veranstaltungen wie z. B. öffentliche Kundgebungen mehrere Hundert, zumeist junge Menschen anzogen, finden diese seit Ende 2016 nicht mehr statt. Grund hierfür dürfte die intensivierte Beobachtung durch die Sicherheitsbehörden sein. Der bundesweit bekannte Konvertit Marcel Krass ist in unregelmäßigen Abständen als Prediger im Rahmen des salafistischen "DMG e. V. Braunschweig" aktiv und trat im August in München und damit erstmalig in Bayern auf. Entgegen der nur wenigen öffentlichen Auftritte nimmt die Internetpräsenz der salafistischen Prediger und ihrer Ideologie weiterhin zu. Angepasst an die Bedürfnisse und Interessen ihrer Zielgruppen sprechen Szeneakteure wie der in Bayern geborene salafistische Prediger Ibrahim El Azzazi, Amir Al-Kinani oder die "DMG e. V. Braunschweig" rund um den Prediger Abul Baraa, über Themen wie Freundschaft, Sexualität oder die Rolle der Frau. Sie verbinden dabei salafistische Ideologieelemente mit Ratschlägen von alltagspraktischer Relevanz für junge Menschen. Bundesweit aktive salafistische Prediger betätigen sich überdies El Azzazi oft mehrmals im Jahr als Reiseleiter bei Pilgerreisen nach Mekka bzw. Medina. Die Prediger übernehmen dabei eine ideologische Betreuung und nutzen die Reisen zur Erweiterung ihres Rezipientenkreises, u. a. durch begleitende Vorträge und persönliche Gespräche mit den Mitreisenden. Informationen zu salafistischen Predigern, die für die bayerische Szene relevant sind, finden sich in der vom Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz herausgegebenen und 2023 überarbeiteten Broschüre "Islamismus erkennen". 87 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Salafistische und salafistisch beeinflusste Moscheen in Bayern Obwohl sich die Missionierungsarbeit im salafistischen Spektrum stark auf den nicht-öffentlichen Raum verlagert hat, dienen Moscheen nach wie vor als Plattformen für salafistische Vortragsveranstaltungen sowie als integrale Treffund Kontaktpunkte für Teile des salafistischen Personenpotenzials in Bayern. Die Freitagspredigten und Vorträge in salafistischen Moscheen sind inhaltlich meist strafrechtlich nicht relevant, auch weil die Prediger eine Beobachtung durch die Sicherheitsbehörden fürchten. Konsequenterweise formulieren sie ihre öffentlichen Äußerungen sehr vorsichtig, um z. B. Anzeigen oder Vereinsverbote zu vermeiden. Dennoch werden unter dem Deckmantel der Meinungsund Religionsfreiheit subtil und suggestiv antidemokratische, desintegrative, antisemitische, antifeministische und homophobe Botschaften verbreitet und damit Radikalisierungsprozesse sowie die Entstehung von Parallelgesellschaften begünstigt. Vereinzelt wird die Grenze zur Strafbarkeit überschritten. So wurde ein Imam einer salafistischen Moschee in München zu einer Geldstrafe wegen Volksverhetzung verurteilt. Salafistisch geprägte Moscheen in Bayern sind die im Regierungsbezirk Schwaben verortete "Salahuddin Moschee" des Vereins "Islamischer Verein Augsburg e. V." in Augsburg sowie die Moschee des Vereins "Islamisch albanisches Zentrum Ulm - Qendra islamike shqiptare Ulm e.V." mit Sitz in Neu-Ulm. In München sind die "El-Salam"-Moschee des Vereins "Islamische Federation München El-Salam Moschee e. V.", die "Taufiq"-Moschee des Vereins "Somalische Gemeinde München e. V." und die "Imam Malik Moschee" des Vereins "Marokko Haus für Kultur und Bildung e.V." zu nennen. Entsprechende Moscheen im Regierungsbezirk Oberpfalz sind die Moschee des Vereins "Islamisches Zentrum Weiden e. V.", die "As-Salam"-Moschee des Vereins "Islamisches Zentrum Schwandorf e. V." und die "Al-Hikmah"-Moschee des Vereins "Internationaler-Kulturverein e. V." in Regensburg. Im Regierungsbezirk Niederbayern sind die Moschee des Vereins "Vereinigung Passauer Muslime e. V." (ehemals "Islamisches Zentrum Passau e. V.") mit Sitz in Passau und die "Al-Rahman"-Moschee des Vereins "Basma für Kultur, Religion und Barrierefreiheit Passau e. V." salafistisch geprägt. 88 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Im Regierungsbezirk Mittelfranken ist die mittlerweile geschlossene Moschee des "Muslimischen Interaktionsvereins Nürnberg e. V." dem Salafismus zuzuordnen. Internet Angehörige der salafistischen Szene nutzen das Internet als Propaganda-, Kommunikations-, Mobilisierungsund Steuerungsmedium. Onlinepropaganda und deren digitale Weiterverbreitung stellen zudem wichtige Faktoren für die Fremdund Selbstradikalisierung von Personen, die Rekrutierung neuer Anhängerinnen und Anhänger sowie die Vernetzung im jihadistisch-salafistischen Milieu dar. Zahlreiche Da'wa-Accounts, Gruppen, Kanäle, Server und WebHauptzielgruppe seiten sowie eine Vielzahl von Einzelpersonen und GruppierunJugend gen sorgen für eine dynamische und weltweite Verbreitung und Sichtbarkeit der islamistischen und salafistischen Ideologie im virtuellen Raum. Die Hauptzielgruppe religiös begründeter extremistischer Onlinepropaganda und Rekrutierungsaktivitäten bilden junge Menschen im Alter von 14 bis 29 Jahren. Legalistische und salafistische Einzelpersonen und Gruppierungen sprechen diese im Internet gezielt in sozialen Netzwerken und auf Messengerdiensten an. Sie orientieren sich dort weiterhin an der Alltagswelt sowie den medialen Rezeptionsgewohnheiten junger Leute und verwenden Themen, Begriffe und Symbole, die gerade auch Heranwachsende kennen und ansprechen. Neue populäre Onlineplattformen, App-Funktionen und Trends im digitalen Mediengebrauch werden von den Szeneangehörigen konsequent aufgegriffen und für propagandistische Zwecke sowie zur Indoktrination von Szeneeinsteigerinnen und -einsteigern instrumentalisiert. Vielfache Anwendung im Internet finden Memes (in Bildern oder "Memefizierung" Videos eingebettete prägnante Texte). Anhängerinnen und Ander Propaganda hänger der islamistischen Ideologie verwenden diese schnell und einfach erstellbaren Text-Bild-Collagen als Kommunikationsmittel, um extremistisches Gedankengut subtil und zielgruppengerecht in Umlauf zu bringen. Memes, egal ob in öffentlichen sozialen Netzwerkprofilen oder privaten Messengergruppen geteilt, haben das Potenzial, politisch-religiöse Botschaften visuell eingängig zu vermitteln und plakativ zu überhöhen. Thematisch wird dabei auf lebensnahe Inhalte, wie z. B. Fragen zu muslimischer Identität oder Zugehörigkeit, auf Diskriminierungserfahrungen, 89 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus aber auch eine religiös begründete Höherwertigkeitserzählung der muslimischen Gemeinschaft bzw. der "wahren" Muslime zurückgegriffen. Die Motive und Abbildungen verstärken häufig geschickt die inhärenten extremistischen Textbotschaften und transportieren das Narrativ von vermeintlichen gesellschaftlichen Missständen und einer angeblich gezielt von Politik, Medien und Mehrheitsgesellschaft beförderten sozialen Benachteiligung von Menschen muslimischen Glaubens. Dieser politisch motivierten Desinformation wird häufig die Forderung nach einem panislamischen Zusammenschluss aller Muslime weltweit oder die Heroisierung islamischer "Mujahidin" (deutsch: "die sich Mühenden" bzw. im Kontext: "islamische Widerstandskämpfer") bzw. des jihadistischen "Lone Wolf" (deutsch: "Einsamer Wolf" bzw. "Einzelkämpfer") entgegengehalten. Ein junges Phänomen im islamistischen Milieu stellt die Verwendung von Memes aus der Onlinesubkultur der Image Boards, beispielsweise 4chan, dar. In den vorgeblich humoristischen Text-Bild-Collagen werden andersdenkende und liberale Muslime, kurdische, jüdische und christliche sowie feministisch eingestellte Personen, Angehörige der LGBTQIA+-Community sowie die liberale westliche Gesellschaft im Allgemeinen verhöhnt bzw. verächtlich gemacht. Das soziale Netzwerk Instagram wird weiterhin umfassend zur plattformübergreifenden Bewerbung von legalistischen und salafistischen Events, neuen Da'wa-Projekten, Pilgerreisen und Propagandamedien sowie zur klassischen Ideologievermittlung und Vernetzung der Szene über Phänomenbereichsgrenzen hinweg genutzt. "TikTokisierung" Eine verstärkte Einbindung in die Onlineaktivitäten islamistischer Akteure, Gruppierungen und Netzwerke erfuhr zudem der bei jüngeren Menschen populäre Kurzvideodienst TikTok. Die Ideologievermittlung erfolgt in diesen Videobeiträgen zielgruppengerecht 90 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 und in inhaltlich verkürzter und leicht verständlicher Form. Islamistische Szeneakteure, die TikTok zur Verbreitung ihrer Botschaften nutzen, sind beispielsweise der salafistische Prediger Ibrahim El Azzazi, dessen bereits mehrfach gesperrtes Online-Da'wa-Projekt "IslamContent5778" oder das bundesweit bedeutende Predigernetzwerk "DMG e. V. Braunschweig". Die von der Anhängerschaft eigeninitiativ und über zahlreiche inoffizielle Da'wa-Seiten weiterverbreiteten Kurzvideos mit einer Länge von teils nur einigen Sekunden sind so konzipiert, dass sie aufgrund der Themenwahl bei der jungen Zielgruppe Interesse wecken und einen niedrigschwelligen Einstieg in islamistische Denkweisen und Filterblasen bieten. In den Videos werden konkurrierende bzw. abweichende Sichtweisen verschwiegen und Feindbilder somit einfacher bzw. widerspruchslos transportiert. Während die im Bereich der Gaming-Szene fest etablierte Chat-Plattform Discord vermehrt als Anlaufstelle für salafistische Da'waund Propagandaaktivitäten feststellbar ist, konnte 2023 u. a. im Zusammenhang mit TikTok eine Zunahme der offenen und organisationsindifferenten Verwendung von Symbolen und Kennzeichen jihadistischer Terrororganisationen wie IS, AQ und HAMAS durch junge Nutzerinnen und Nutzer beobachtet werden. Das zentrale Betätigungsfeld der jihadistisch-salafistischen Onlineszene sowie die wichtigste Verbreitungsplattform sowohl für die offizielle Propaganda der etablierten ausländischen Terrororganisationen als auch für die inoffizielle Propaganda ihrer Unterstützerszenen ist weiterhin der Messengerdienst Telegram. Aufrufe zu Spenden und zur Gefangenenhilfe sowie gewaltbefürwortende Gelehrtenaussagen und Mediendateien können via Telegram in verschlüsselter Einzelkommunikation, in privaten oder öffentlichen Gruppenchats sowie über frei zugängliche eigene Telegram-Kanäle weitgehend anonym verbreitet werden. In AQund IS-nahen Telegram-Kanälen werden neben verfassungsfeindlichen Ideologieelementen auch Aufrufe zu Einzeltäteranschlägen und beispielsweise Baupläne zur Herstellung von Unkonventionellen Sprengund Brandvorrichtungen (USBV) geteilt. 91 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Zudem setzt die jihadistisch-salafistische Szene derzeit wieder verstärkt auf Webseiten als Verbreitungsmethode. Dieses klassische Medium wird beispielsweise für den IS-Newsletter "al-Naba", Bekennermeldungen zu Terroranschlägen via IS-Nachrichtenagentur "Amaq", den Treueschwur (arabisch: "bai'a") auf den neuen "IS-Kalifen" sowie Drohbotschaften der diversen pro-IS-Medienstellen genutzt. Dieser sogenannte "Media Jihad" bewertet der IS als gleichwertig mit der unmittelbaren Beteiligung am bewaffneten Kampf. Daneben finden Chat-Plattformen wie Rocket.Chat und der Twitterbzw. X-Klon ChirpWire Einsatz bei der Verbreitung von AQund IS-nahen Publikationen. Die im Internet verbreitete islamistische Propaganda und die daraus entstehenden Netzwerke tragen entscheidend dazu bei, dass sich Unterstützerinnen und Unterstützer weiterhin als Teil einer eingeschworenen, vermeintlich elitären und in Teilen zum Selbstopfer bereiten Bewegung begreifen. In letzter Konsequenz können solche Personen auch als Einzeltäterinnen und Einzeltäter bzw. "Homegrown"-Terroristen ohne unmittelbare oder notwendige Einbindung in eine terroristische Kleinstgruppe oder Organisationsstruktur in Erscheinung treten. Die Strategie des inspirierten Einzeltäteranschlages und Aufrufe dazu stellen unverändert einen festen Bestandteil der jihadistischen Onlinepropaganda dar, für die nach einem zeitweisen Rückgang im Zuge des territorialen Niederganges des IS und spezifisch seit 2020/2021 wieder eine Zunahme an medialer Vielfalt, Qualität und Quantität zu verzeichnen ist. Eine zentrale Stellung nehmen hierin Übersetzungsdienste wie "Halummu" (pro-IS) und das "Islamic Translation Center" (pro-AQ) sowie mehrsprachige und multimediale Newsund Archiv-Webseiten ein, die z. T. über das verschlüsselte TORNetzwerk abrufbar sind und Bekanntmachungen der IS-, AQoder "al-Shabab"-Führung sowie Kampfmeldungen aus den Jihad-Gebieten in Afrika und Asien u.a. in deutscher Sprache bereitstellen. Der durch die AQ-nahe "Globale islamische Medienfront" (GIMF) betriebene Rocket.Chat-Server "GeoNews" ist zudem von tragender Funktion für offizielle Propagandastellen des AQ-Netzwerkes und für die Vernetzungsund Rekrutierungsaktivitäten der pro-AQ-Szene. 92 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Gezielt für die digitalen Verbreitungswege konzipiert sind jihadistische Onlinemagazine wie "Voice of Khurasan" des von Afghanistan operierenden IS-Ablegers "Islamischer Staat - Provinz Khorasan" (ISPK), das am 11. September 2019 erstmalig und in englischer Sprache erschienene "One Ummah" (AQ) oder "Sada al-Malahim" ("al-Qaida auf der arabischen Halbinsel", AQAH). In ihnen werden - neben Koraninterpretationen jihadistischer Lesart - der gewaltsame Jihad verherrlicht und verschiedene Typen von Einzeltäteranschlägen beworben. Bis Ende 2023 sind über die offizielle ISPK-Medienstelle "Al Azaim Foundation for Media Production" 31 Ausgaben von "Voice of Khurasan" erschienen. Wiederholt sind hierin Drohbotschaften gegen die queere Gemeinschaft in Deutschland und Europa sowie Aufrufe zu Anschlägen auf jüdische Menschen, öffentliche Veranstaltungen, Demonstrationen und Fußballspiele sowie auf Beschäftigte bei Sicherheitsbehörden zur Vergeltung der Koranverbrennungen in Europa festzustellen. Die Onlinepropaganda der AQ-nahen Gruppierungen und der AQ-Unterstützerszene hat ebenso eine neue Qualität erreicht und spricht verstärkt wieder ein globales Publikum an. Neben theologischen Ausführungen zur "Hijra" (deutsch: "Auswanderung", hier in islamisches Siedlungsgebiet) und dem bewaffneten Jihad als vorgebliche Pflicht eines jeden Muslims, bieten die zumeist arabischsprachigen Veröffentlichungen auch Aufforderungen und Hinweise zur Durchführung terroristischer Anschläge sowie eine Auswahl geeigneter Anschlagsziele. Ende Dezember reaktivierte der jemenitische AQ-Regionalableger "al-Qaida auf der arabischen Halbinsel" (AQAH) das PDF-Online-Magazin "Inspire" als Videoformat und rief zum "Open Source Jihad für Palästina", d. h. Selbstmordanschlägen mit simplen und einfach zu beschaffenden Tatmitteln im Westen auf. Während "Kern-AQ" und AQ-Regionalableger der pro-palästinensischen HAMAS zu deren terroristischen Großangriff auf Israel vom 7. Oktober offen gratulierten und seither zu Anschlägen explizit auf israelische Einrichtungen und jüdische Menschen aufrufen, forderte der IS seine Anhängerschaft in erster Linie zur bewaffneten Unterstützung der muslimischen Bevölkerung in Gaza auf. 93 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus In Design und Inhalt professionell aufbereitete Onlinemagazine sind grundsätzlich dazu geeignet, auf in Deutschland lebende JihadUnterstützerinnen und -Unterstützer bzw. potenzielle Einzeltäterinnen und Einzeltäter motivierend einzuwirken. Die Auswahl ihrer Themen (Koranverbrennungen in Europa, Nahostkonflikt, queere Community), die Angabe potenzieller Anschlagsziele und mehrsprachige OnlinePropagandaprodukte unterstreichen, dass Anhängerinnen und Anhänger der jihadistischen Ideologie weiterhin bestrebt sind, radikalisierte Einzelpersonen oder eigenständig handelnde Kleinstgruppen für sogenannte "Lone Wolf"-Angriffe zu mobilisieren. 3.2.6 Salafistische Bestrebungen im Justizvollzug Beispiele islamistischer Attentäter der Vergangenheit wie Anis Amri, der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016, zeigen, dass eine gewaltbereite oder kriminelle Vergangenheit eine zumindest begünstigende Voraussetzung für die Begehung terroristischer Anschläge darstellen kann. Vor diesem Hintergrund kommt Haftanstalten als potenziellen Radikalisierungsund -Rekrutierungsorten eine wichtige Bedeutung für die frühzeitige Erkennung und Beobachtung salafistischer Tendenzen zu. Inhaftierte in Bayern Ende 2023 befanden sich in bayerischen Justizvollzugsanstalten etwa 29 Inhaftierte, bei denen Bezüge zur salafistischen Ideologie und teilweise auch zum islamistischen Terrorismus erkennbar waren. Bei einem Teil dieser Gefangenen handelt es sich um Personen, die den Sicherheitsbehörden schon vor ihrer Inhaftierung als dem salafistischen Spektrum zugehörig bekannt waren, bei anderen wurden Bezüge zum Salafismus erst während des Haftaufenthaltes ersichtlich. Darüber hinaus befinden sich 48 weitere Personen in Haft, bei denen zumindest der Verdacht besteht, dass sie vor ihrer Inhaftierung eine islamistische Ideologisierung durchlaufen haben. Die Justizvollzugsanstalten stehen vor der Herausforderung, mit Missionierungsaktivitäten und Radikalisierungsprozessen konfrontiert zu werden, und unternehmen umfangreiche Anstrengungen, diesen wirksam zu begegnen. Es besteht insbesondere die Gefahr, dass bisher nicht ideologisierte Inhaftierte durch die Missionierungsarbeit salafistischer Mithäftlinge an die Ideologie herangeführt werden und sich bereits radikalisierte Häftlinge zu Gruppen zusammenschließen. 94 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 In Bayern ist die Zentrale Koordinierungsstelle für Maßnahmen Zentrale Koordigegen Extremismus (ZKE) zuständig für die Einleitung von Maßnierungsstelle für nahmen der Extremismusbekämpfung innerhalb des JustizMaßnahmen gegen vollzuges. Durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Polizei, Extremismus Justiz und Verfassungsschutz wird der Ausbreitung und Verfestigung des Salafismus in Haftanstalten entgegengewirkt und das bayerische Justizvollzugspersonal dabei unterstützt, Fälle von salafistischer Ideologisierung und Radikalisierung frühzeitig zu erkennen und zu verhindern. Gefangenenhilfe Innerhalb der salafistischen Szene stellen Solidarisierungsbekundungen mit inhaftierten "Glaubensgeschwistern" einen wichtigen Baustein dar, um das Gemeinschaftsgefühl zu festigen. Hierbei wird der Rechtsstaat als ungerechtes System dargestellt und so das westliche Staatsund Gesellschaftsprinzip diffamiert. Ziel der salafistischen Gefangenenhilfe ist es, Resozialisierungsprozesse zu verhindern, inhaftierte Szeneangehörige weiterhin an die salafistische Ideologie zu binden und sie dazu zu motivieren, Mithäftlinge an den Salafismus heranzuführen. Vor allem über das Internet wird zu vorwiegend finanziellen HilSolidaritätsaktionen feleistungen für inhaftierte Gleichgesinnte aufgerufen. Zudem finden Solidaritätsaktionen im Rahmen von Gerichtsverfahren statt, die ebenso die Anwesenheit von Szeneangehörigen bei Gerichtsverhandlungen beinhalten können. Auch Gerichtsprozesse in Bayern stellen für Akteure der salafistischen Gefangenenhilfe wiederholt eine Plattform dar. Außerdem ist bekannt, dass Initiativen und Akteure der salafistischen Gefangenenhilfe in Einzelfällen Briefe an in Bayern Inhaftierte muslimischen Glaubens verschickt haben. 3.2.7 Anschlagsgeschehen und Täterprofile Anschlagsgeschehen Europa liegt weiterhin im Zielspektrum des internationalen islamistischen Terrorismus. Verdeutlicht wird die anhaltend hohe Bedrohungslage durch Attentate der vergangenen Jahre in Deutschland, aber auch in Belgien, Frankreich, Großbritannien, Norwegen, Österreich, Spanien und Schweden. Während es in den letzten Jahren keiner jihadistischen Terrororganisation gelang, in Europa komplexe Anschlagsszenarien wie in Paris (2015) und Brüssel (2016) umzusetzen, nahm die Anzahl von Einzeltäter-Anschlägen zu. 95 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Anschläge in Europa Anfang Februar wurden in Istanbul mehrere Terrorverdächtige festgenommen. Den Verdächtigen wird vorgeworfen, vom ISPK zu Anschlägen auf westliche Konsulate sowie Kirchen und Synagogen in Istanbul beauftragt worden zu sein. Die Anschläge seien als Rache für die Koranverbrennung in Stockholm geplant worden. Wegen des Verdachtes der Planung eines Sprengstoffanschlages wurden am 25. April die Wohnungen des 28-jährigen Anas K. in Hamburg und dessen der Beihilfe verdächtigten 24-jährigen Bruders Ahmad K. in Kempten durchsucht. Die Brüder planten mutmaßlich in Schweden in einer vollbesetzten Kirche einen Sprengstoffgürtel zur Detonation zu bringen. Der ältere Bruder stand diesbezüglich über den Messengerdienst Threema in Kontakt zu einem Befehlshaber des IS. Auch in Österreich wurden am 18. Juni 3 mutmaßliche Sympathisanten des IS festgenommen, die einen Anschlag auf die PrideParade mit rund 300.000 Teilnehmern in Wien geplant hatten. Am 6. Juli wurden 7 Mitglieder der terroristischen Vereinigung ISPK an verschiedenen Orten in Nordrhein-Westfalen festgenommen. Der Einsatz war eng mit den Ermittlungsbehörden in den Niederlanden koordiniert, wo es zeitgleich zur Festnahme von 2 weiteren Personen kam. Die Mitglieder sollen öffentlichkeitswirksame Anschläge geplant und mögliche Tatorte erkundet haben. Ein konkreter Anschlagsplan bestand zum Zeitpunkt der Festnahme jedoch noch nicht. Bei den Festgenommenen handelt es sich um 5 tadschikische sowie jeweils 1 turkmenischen und 1 kirgisischen Staatsangehörigen, welche kurz nach Beginn des Russland-Ukraine-Krieges mehrheitlich als Asylbewerber aus der Ukraine nach Deutschland eingereist waren. Am 13. Oktober wurde bei einem Messerangriff an einer Schule in Arras (Frankreich) ein Lehrer mit mehreren Messerstichen getötet. Bei der Tatausführung soll der Täter, ein ehemaliger Schüler, "Allahu Akbar" gerufen haben. Bei dem Täter handelt es sich um einen 20-jährigen Tschetschenen, welcher den französischen Behörden bereits als stark radikalisiert bekannt war und in einer Gefährderdatei geführt wurde. Am 15. Oktober wurde in Hartlepool (Großbritannien) eine Person erstochen und eine weitere schwer verletzt. Der festgenommene Tatverdächtige soll während der Tat "Allahu Akbar" gerufen haben und gab später bei seiner Vernehmung an, nach Palästina reisen und in Jerusalem sterben zu wollen. Die Tat wird durch die britischen Sicherheitsbehörden derzeit als islamistisch motivierter Anschlag bewertet. 96 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Am 16. Oktober erschoss ein Attentäter 2 schwedische Staatsangehörige am Rande eines Fußballländerspieles in der Innenstadt von Brüssel (Belgien). Der Attentäter veröffentlichte direkt nach der Tat ein Video, in dem er angab, den Anschlag in Namen des IS begangen zu haben. Ein weiteres vor dem 16. Oktober entstandenes Handyvideo des Attentäters zeigt diesen beim Treueeid auf den im August verkündeten neuen "IS-Kalifen" Abu Hafs al-Hashimi al-Qurashi. Der Täter befand sich zunächst auf der Flucht, wurde einen Tag nach der Tat von der belgischen Polizei angeschossen und verstarb wenig später an seinen Schussverletzungen. Die offizielle IS-Nachrichtenagentur "Amaq" hat den islamistischen Anschlag für sich proklamiert. Es handelt sich hierbei um den ersten islamistischen Terroranschlag in Europa seit dem 2. November 2020 in Wien, zu welchem sich der IS offiziell bekennt. Am 2. Dezember verübte der iranisch-stämmige französische Staatsangehörige Armand R. einen islamistisch motivierten Anschlag in Paris. Der 26-Jährige griff mehrere Personen mit einem Messer und einem Hammer an und verletzte einen philippinisch-stämmigen deutschen Staatsangehörigen, der sich als Tourist in Paris aufhielt, tödlich. Erst kurz vor der Tat hatte R. ein rund 2-minütiges Selfie-Video auf seinem Facebook-Account veröffentlicht, in dem er den Treueeid auf den neuen "IS-Kalifen" al-Qurashi leistet und erklärt, mit seinem Handeln das Leiden von Muslimen rächen zu wollen. Nach der Festnahme gab er weiter an, wütend über die Gewalt gegen Muslime in Gaza zu sein. Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte am 19. Dezember Lebenslange Hafteinen 27-jährigen Syrer zu einer lebenslangen Haftstrafe mit strafe für Mord in anschließender Sicherungsverwahrung. Der IS-Sympathisant Duisburg hatte in der Duisburger Innenstadt am 9. April sein erstes Opfer mit 28 Messerstichen getötet. 9 Tage später drang der Attentäter in den Umkleidebereich eines Duisburger Fitnessstudios ein und stach auf 3 Männer ein. Einem 4. Mann, der zur Hilfe eilte, stach er in den Oberschenkel. Die Absicht des Täters war es, gezielt "Ungläubige" töten. Die Opfer wurden teils lebensgefährlich verletzt. Zu Prozessbeginn betrat der Angeklagte den Justizsaal mit dem sog. "Tauhid"-Finger und teilte später mit, Anhänger der jihadistischen Terrororganisation IS zu sein. Aufgrund ihres christlich-religiösen Hintergrundes waren auch Weihnachtsmärkte in den Wintermonaten vermehrt das Zielspektrum jihadistischer Gewalttäter. 97 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Anschlagspläne auf So wurden am 29. November in Nordrhein-Westfalen und Weihnachtsmärkte Brandenburg 2 Jugendliche festgenommen, die sich in einer Telegram-Gruppe zu Anschlagsplänen ausgetauscht und bereits ein konkretes Datum sowie einen Ort für einen Anschlag festgelegt hatten. Eine Woche zuvor war ein 20-jähriger Iraker aus Sachsen-Anhalt in Gewahrsam genommen worden, nachdem er einen Terroranschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Hannover geplant haben soll. Nach Hinweisen auf mögliche Anschlagspläne an Weihnachten bzw. Silvester in Köln, Wien und Madrid durch eine islamistische Terrorzelle, wurden am 24. sowie am 31. Dezember mehrere Personen festgenommen. 7 der ursprünglich 9 Festgenommenen wurden zeitnah wieder freigelassen. Im Zentrum des Netzwerkes steht ein 30-jähriger Tadschike, welcher nach derzeitigem Erkenntnisstand bundesweit vernetzt ist und Kontakte ins europäische Ausland pflegt. Gegen einen ebenfalls 25-jährigen Tadschiken wurde ein 14-tägiger Sicherheitsgewahrsam angeordnet. Der geplante Anschlag am Kölner Dom sollte mutmaßlich mit einem Auto verübt werden. Erhöhte AnschlagsIn Reaktion auf die jüngsten Koranverbrennungen in Europa riefen gefahr infolge des jihadistische Terrororganisationen im Ausland wiederholt zu AnNahost-Konflikts schlägen auf Angehörige von Sicherheitsbehörden sowie öffentliche Veranstaltungen wie Fußballspiele und Konzerte, Paraden und Demonstrationsgeschehen auf. Jihadistisch-salafistischen Terrorgruppen wie AQ und IS gelingt es dabei wieder vermehrt, vor allem Jugendliche für sich zu gewinnen, indem sie die Eskalation in Nahost als Teil einer vermeintlich anti-muslimischen westlichen Strategie darstellen. Der terroristische Angriff der HAMAS gegen Israel sowie die israelische Gegenoffensive im Gazastreifen haben die Gefahr eines potenziellen terroristischen Anschlages in Deutschland bzw. Europa erhöht. Insbesondere gehen nach derzeitiger Einschätzung erhöhte Gefahren von emotionalisierten Einzelpersonen aus. "Low-Profile"Im Unterschied zu komplexen Anschlägen mit hohem logisAngriffe tischem und planerischem Aufwand, wie in Paris (2015) und Brüssel (2016), zeichnen sich die Anschläge der letzten Jahre durch einen einfachen und leicht umsetzbaren Modus Operandi aus. Häufig werden dabei leicht zu beschaffende Tatwaffen wie Messer verwendet. Die Anschlagsorte sind oftmals eher zufällig und weniger symbolträchtig, die Opfer dementsprechend unspezifisch bis zufällig der jeweiligen Situation geschuldet. Die Täter sind häufig Einzelpersonen ohne organisatorische Anbindung an eine Terrorgruppierung. Die Zerstörungskraft dieser "LowProfile"-Attentate ist damit zwar kleiner, ihre psychologische 98 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Wirkung jedoch ähnlich groß. Ziel ist es, ein gesellschaftliches Klima der Angst und Unsicherheit zu erzeugen. Viral verbreitete Handyvideos vom Anschlagsgeschehen und die Verehrung der Attentäter als "Märtyrer" innerhalb der Szene leisten dazu ihren Beitrag. Auch weltweit ereigneten sich zahlreiche Attentate, die vor allem dem IS und seinen verschiedenen Ablegern weltweit, darunter dem ISPK in Afghanistan und den IS-Provinzen in Afrika, und der somalischen "al-Shabab" (pro-AQ) zugerechnet werden können, oder von diesen zu Propagandazwecken für sich reklamiert werden. Seitens des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz erfolgt die Bearbeitung von Terrorismussachverhalten und entsprechenden Hinweisen im engen Austausch mit anderen Sicherheitsbehörden bzw. bundesweit im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) sowie mit europäischen und internationalen Partnern. Täterprofile Radikalisierungsprozesse sind in hohem Maße von komplexen individuellen Faktoren abhängig, was die Erstellung eindeutiger Täterund Prognoseraster erschwert. Es ist eine wichtige Aufgabe der Sicherheitsbehörden, Tätermerkmale zu analysieren und potenzielle Attentäterinnen und Attentäter frühzeitig zu identifizieren. Einzelattentäter, die spontan, unvermittelt und ohne vorherige Einbindung in jihadistische Netzwerke terroristische Anschläge begehen, stellen Sicherheitsund Ermittlungsbehörden vor große Herausforderungen. Teilweise handelt es sich dabei auch um instabile Persönlichkeiten, die sich fast ausschließlich über das Internet radikalisieren. Täter mit psychischen Auffälligkeiten und unklarer Motivlage In den letzten Jahren ist eine Zunahme psychischer Probleme bei auffällig oder straffällig gewordenen Einzeltätern im islamistischen Phänomenbereich feststellbar. Die genaue Korrelation von psychischen Erkrankungen und der Begehung islamistisch bzw. extremistisch motivierter Gewalttaten bei einzelagierenden Täterinnen und Tätern ist bisher unklar, wissenschaftliche Studien legen jedoch eine Verbindung nahe. Bestimmte psychische Dispositionen und Erkrankungen können sich, beispielsweise in Kombination mit gesteigertem Alkoholund/oder Drogenkonsum, enthemmend auf das Gewaltverhalten auswirken. Im konkreten Fall eines Attentates lässt sich oft nur nach 99 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus umfassenden Ermittlungen und psychiatrisch-forensischen Untersuchungen einschätzen, ob aus einer islamistischen Motivation heraus, aufgrund einer psychischen Krankheit oder aus einer Kombination beider Faktoren gehandelt wurde. Psychisch auffällige Die Unschärfe zwischen islamistisch motiviertem Handeln und Täter in Bayern psychischen Störungen wird durch 2 Messerangriffe in Bayern im Jahr 2021 deutlich: So wurde im Fall eines somalischen Staatsangehörigen, der im Juni 2021 in Würzburg 3 Frauen tötete und weitere Personen z.T. lebensgefährlich verletzte, zunächst eine islamistisch motivierte Tat vermutet. 2 Gutachter stellten später jedoch eine paranoide Schizophrenie fest. Vor Prozessbeginn wurde der Mann als nicht schuldfähig erklärt, eine islamistische Motivation konnte nicht als ursächlich für die Tat festgestellt werden. Bei Abdalrahman A., der im November 2021 in einem ICE zwischen Regensburg und Nürnberg einen Messerangriff verübte, wurde im Rahmen der psychiatrischen Erstbegutachtung zunächst eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Mehrere im Anschluss erstellte Gutachten konnten das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung jedoch nicht bestätigen. Zudem wies jihadistisch-salafistisches Propagandamaterial im Besitz des Angreifers auf eine islamistische Motivation für die Tat hin. Das Oberlandesgericht München entschied, dass der Angeklagte den Messerangriff aufgrund seiner islamistischen Radikalisierung verübt und die psychische Erkrankung lediglich simuliert habe. Abdalrahman A. wurde im Dezember 2022 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren verurteilt. Das Urteil ist mittlerweile rechtskräftig. Bei allen in Bayern verübten Anschlägen kam dem Internet für Tatplanung, Durchführung oder Radikalisierung eine nicht unerhebliche Rolle zu. Die meisten Taten werden im Vorfeld aber auch von realweltlichen Aktivitäten begleitet. 3.2.8 Exekutivmaßnahmen Vereinsrechtliche Verbotsund Ermittlungsverfahren Vereinsverbote sind ein wichtiges Instrument der wehrhaften Demokratie in Deutschland. Ein Verein ist nach Art. 9 Abs. 2 GG verboten, wenn der Zweck der Tätigkeit des Vereins den Strafgesetzen zuwiderläuft, sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet. 100 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Das Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) hat am 5. Mai 2021 die salafistische Vereinigung "Ansaar International e. V." einschließlich ihrer 8 Teilorganisationen verboten und aufgelöst. Das Verbot schließt alle Internetpräsenzen, Kennzeichen, Schriften etc. der betreffenden Vereinigungen mit ein. Das Verbot war in insgesamt 10 Bundesländern, darunter auch in Bayern, mit Durchsuchungsund Beschlagnahmungsmaßnahmen vollzogen worden. Im Rahmen eines vereinsrechtlichen Ermittlungsverfahrens Durchsuchungen bei des BMI gegen das "Islamische Zentrum Hamburg" (IZH) und IZH und Teilorganisadessen Teilorganisationen erfolgten am 16. November bundestionen weit Durchsuchungen. Das IZH steht im Verdacht, sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und gegen den Gedanken der Völkerverständigung zu richten und damit die Verbotsgründe nach Artikel 9 Absatz 2 des Grundgesetzes und SS 3 Absatz 1 des Vereinsgesetzes zu erfüllen. Die Islamische Vereinigung in Bayern e. V. (IVB) als mutmaßlich eine dieser Teilorganisationen wurde im Zuge der Maßnahme durchsucht. Ausländerrechtliche Maßnahmen Unter Anwendung ausländerrechtlicher Vorschriften besteht die Möglichkeit der Überwachung ausreisepflichtiger ausländischer Staatsangehöriger aus Gründen der Inneren Sicherheit bzw. der Abschiebung aus der Bundesrepublik Deutschland nach den SSSS 56 ff. AufenthG. Ermittlungsund Strafverfahren Neben Vereinsverboten besteht die Möglichkeit, auch gegen Einzelpersonen, beispielsweise aufgrund des Verdachtes der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat gemäß SS 89a StGB oder bezüglich der Bildung einer terroristischen Vereinigung nach SS 129a StGB, zu ermitteln und diese anzuklagen. Bei den bundesweiten Durchsuchungsmaßnahmen gegen ein Durchsuchung bei salafistisches Spendensammelnetzwerk am 31. Mai standen in Spendennetzwerk Bayern insgesamt 11 Frauen und 2 Männer im Fokus. Die Beschuldigten stehen im Verdacht der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland, namentlich des IS. Über die teilweise aus dem Ausland betriebenen Telegram-Kanäle "Unsere Schwestern/ WL Al-Khayr" und "A Rose in Sham" sollen Gelder akquiriert und über Finanzmittler in Deutschland ein mittlerer 5-stelliger Betrag an IS-Mitglieder in Syrien transferiert worden sein. 101 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Festnahmen in Am 6. September wurde in München die Wohnung des syriMünchen und Kiel schen Staatsangehörigen Basel O. durchsucht und O. wegen des dringenden Verdachtes der mitgliedschaftlichen Betätigung in einer terroristischen Vereinigung im Ausland festgenommen. Es bestehen laut Bundesanwaltschaft Anhaltpunkte, dass sich der Beschuldigte seit frühestens Februar 2013 bis Mitte Juni 2014 in Syrien für die ausländische terroristische Vereinigung "Liwa Jund al-Rahman" (deutsch: "Brigade der Soldaten des Barmherzigen") engagierte, indem er sich als Kommandeur von Kampfeinheiten an Kampfhandlungen beteiligte. Bei "Liwa Jund al-Rahman" handelte es sich um eine bewaffnete Rebellengruppe mit dem Ziel, das syrische Regime gewaltsam zu stürzen. Sie bekannte sich eingangs zur säkularen "Freien Syrischen Armee" (FSA), verfolgte aber eine islamistische Agenda. Seit spätestens April 2013 nahm die Vereinigung im Rahmen des Bürgerkrieges in Syrien wiederholt an Kampfhandlungen gegen die syrische Armee teil. Parallel zur Verhaftung des O. erfolgte in Kiel die Festnahme des syrischen Staatsangehörigen Amer A., unter dessen Führung die "Liwa Jund al-Rahman" 2013 gemeinsam mit der AQ-nahen "Jabhat al-Nusra" (JaN) und anderen jihadistischen Gruppierungen ein Dorf nahe der syrischen Stadt Deir ez-Zor überfiel. Die als "Säuberung" bezeichnete Operation galt der ansässigen schiitischen Bevölkerung. Bis zu 60 Menschen wurden getötet, der Rest zur Flucht in andere syrische Regionen oder ins Ausland gezwungen. Verurteilungen in Am 9. Oktober wurden der russische Staatsangehörige SchamMünchen wegen sudin M. sowie der deutsche und kosovarische StaatsangehöAnschlagsplanungen rige Etrit P. vor dem Oberlandesgericht Hamburg wegen der Mitgliedschaft in der ausländischen terroristischen Vereinigung IS, Gewaltdarstellungen sowie der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat zu einer Haftstrafe von 3 Jahren und 3 Monaten bzw. von 3 Jahren und 6 Monaten nach Jugendstrafrecht verurteilt. Die beiden Beschuldigten waren die führenden Mitglieder der jihadistisch-salafistischen pro-ISbzw. pro-ISPK-Telegram-Gruppe "Wilayah Almania" (deutsch: "IS-Provinz Deutschland"). Seit Sommer 2022 stand Schamsudin M. in regelmäßigem Kontakt mit einem in Afghanistan aufhältigen Mitglied des ISPK und erklärte sich später bereit, in Deutschland eine IS-Zelle zu gründen. Begleitend übersetzte und verbreitete Schamsudin M. im Auftrag der Terrororganisation Propagandamaterial, stellte in der von ihm gegründeten Telegram-Gruppe "Wilayah Almania" Hinrichtungsvideos ein, rief im Namen des IS zu Anschlägen in Deutschland auf und verteilte Anleitungen zum Bau von Sprengsätzen. Ergänzend bemühte er sich intensiv um die Anwerbung neuer Mitglieder und Unterstützer für den 102 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 IS und bot Hilfe bei Reisen in das Operationsgebiet des IS an. Etrit P. plante im Namen des IS einen Anschlag in Deutschland. Durch ein weiteres, ebenso in Afghanistan aufhältiges ISPK-Mitglied ließ er sich zunächst in der Herstellung einer unkonventionellen Sprengund Brandvorrichtung unterweisen, bevor er später einen Messerangriff auf Polizeibeamte plante. Schamsudin M. war in dieses Vorhaben des Etrit P. eingeweiht und stellte zu dessen Förderung einen ISPK-Kontakt her. Zu den Mitgliedern der Online-Gruppe "Wilayah Almania" zählten zeitweise auch Einzelpersonen aus Bayern. Ein Direktkontakt zwischen den in Bayern wohnhaften Mitgliedern der Telegram-Gruppe und den in Afghanistan aufhältigen ISPK-Mitgliedern bestand nach Erkenntnisstand zu keinem Zeitpunkt. Am 18. Oktober wurden in Marktoberdorf im Landkreis Ostallgäu die Wohnung des Yaroub A. durchsucht. Gegen den Beschuldigten führt die Bayerische Zentralstelle zur Bekämpfung von Extremismus und Terrorismus (ZET) bei der Generalstaatsanwaltschaft München ein Ermittlungsverfahren nach SS 129a und SS 129b StGB wegen des Verdachtes der Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung. Dem Beschuldigten wird vorgeworfen, mindestens im Zeitraum Juni/Juli 2014 in Syrien für den IS tätig gewesen zu sein, indem er sich als Angehöriger der sog. "Hisba" (deutsch: "Sittenpolizei") an Durchsuchungsund Festnahmeaktionen beteiligte. 3.2.9 Islamischer Staat, al-Qaida und andere jihadistisch-salafistische Strukturen Der arabische Begriff "Jihad" bedeutet übersetzt "Anstrengung" und kommt in unterschiedlicher Bedeutung in den islamiEntstehung und schen Überlieferungen vor. Dabei wird die Anstrengung im reliEntwicklung giösen Sinn sowohl als Kampf gegen die innere Triebseele (der sogenannte "große Jihad") als auch als militanter Kampfeinsatz (der sogenannte "kleine Jihad") verstanden. Die Einteilung in "groß" und "klein" erklärt sich aus der theologischen Bedeutungszumessung, die den Kampf gegen die innere Triebseele als bedeutsamer versteht. Im Jihadismus jedoch wird der kleine bzw. bewaffnete Jihad deutlich überhöht und zu einer Individualpflicht aller Muslime (arabisch: "fard al-ain") und als Erweiterung der "fünf Säulen des Islam" - namentlich: Glaubensbekenntnis, Gebet, Fasten, Pilgerfahrt und Almosengabe - zur vorgeblich 6. Säule umgedeutet. Das ideologische Kernziel dieses Jihad-Verständnisses bildet die Errichtung eines islamistischen "Gottesstaates", der gegebenenfalls mithilfe von Gewalt errichtet werden muss. Es sei 103 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Pflicht eines jeden Muslims, diesen einzufordern oder zumindest zu unterstützen. Aus dieser Überzeugung heraus lehnen Jihadisten sowohl die Regierungen in muslimisch geprägten Staaten, denen sie den Abfall von den Lehren des einzig "wahren" Islam vorwerfen, als auch westlich-säkulare Staaten und die freiheitlich-demokratische Grundordnung ab. Ein Merkmal von Jihadisten in Deutschland und Europa ist ihre ideologische und strategisch-taktische Nähe zu internationalen jihadistischen Terrorgruppierungen. Zu den größten und bekanntesten Organisationen im jihadistischen Salafismus bzw. Jihadismus, mit Anhängerinnen und Anhängern in und aus Bayern, zählen der "Islamische Staat" (IS), "al-Qaida" (AQ) und der vormalige AQ-Ableger "Hai'at Tahrir al-Sham" (HTS). Die von Usama bin Ladin und Abdullah Azzam etablierte Ideologie des AQ-Netzwerkes ist geprägt von den Schriften Azzams und des Muslimbruders Sayyid Qutb und deren Rechtfertigung des bewaffneten Jihad und des "Für-ungläubig-Erklärens" (arabisch: "takfir"). Demnach gibt es nur den einen "wahren" Islam der "frommen Altvorderen" (arabisch: "al-salaf al-salih") der islamischen Frühzeit. Im Unterschied zu regional-terroristischen Akteuren wie HTS oder IS, letzterer mit (gescheitertem) Staatsgründungsprojekt in Syrien und Irak als territorialer Startpunkt für eine darauffolgende militärische Expansion des "IS-Kalifats", verfolgt das AQ-Netzwerk die transnationale und langfristige Zielsetzung, durch die Bekämpfung und Beseitigung von Gegenkräften die Rahmenbedingungen bzw. die Basis (arabisch: "al-qa'ida") für die Etablierung eines globalen Kalifats herbeizuführen. 3.2.9.1 Der Islamische Staat (IS) Die Wurzeln der terroristischen Vereinigung "Islamischer Staat" (IS) reichen bis zur Jahrtausendwende zurück, als der jordanische Jihadist Abu Mus'ab al-Zarqawi die Gruppe "Jama'at al-Tauhid wal-Jihad" (JTJ) gründete. 2004 schloss diese sich dem "al-QaidaNetzwerk" (AQ) an und benannte sich in "al-Qaida im Zweistromland" (AQIZ) um. Obgleich die Jihadisten um al-Zarqawi fortan zwar offiziell Mitglieder von AQ waren, agierte die Gruppe in Irak weitgehend selbstständig. Nach dem Tod AlZarqawis im Jahr 2006 wurde AQIZ unter neuer Führung im Oktober 2006 in "Islamischer Staat in Irak" (ISI) umbenannt. Der Iraker Abu Bakr al-Baghdadi übernahm 2010 bis zu seinem Tod die Führung der Organisation, löste sie von AQ ab und gab ihr 2013 den neuen Namen "Islamischer Staat in Irak und der Levante" (ISIL). Aufgrund von militärischen und territorialen Erfolgen sowie steigender Anhängerinnenund Anhängerzahlen 104 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 rief al-Baghdadi im Jahr 2014 das Kalifat in Syrien und Irak aus und benannte die Organisation in "Islamischer Staat" (IS) um. Al-Baghdadi kam 2019 bei einem Einsatz des US-Militärs im Eliminierung Nordwesten Syriens zu Tode. Sein Nachfolger, Abu Ibrahim mehrerer IS-Kalifen al-Hashimi al-Qurashi, wurde bei einem US-Einsatz im Februar 2022 getötet. Im März 2022 erfolgte die Ernennung des IS-Anführers Abu Hasan al-Hashimi al-Qurashi, der im Oktober 2022 bei Gefechten zwischen dem IS und der "Freien Syrischen Armee" (FSA) in Syrien getötet wurde. Ende November 2022 wurde der neue "IS-Kalif" Abu Hussain al-Hussaini al-Qurashi bekannt gegeben. Er wurde im Frühjahr in Syrien durch die rivalisierende AQ-nahe HTS getötet. In einer am 3. August über die zentrale IS-Medienstelle "Al-Furqan Media" veröffentlichten Audiobotschaft erklärte der IS-Sprecher Abu Hudaifa Al-Ansari offiziell Abu al-Husain alHusaini al-Qurashi zum neuen und insgesamt fünften "IS-Kalif". Mit der territorialen Niederlage des IS in Irak und Syrien ab Frühjahr 2019 veränderte sich die frühere Strategie von der Festigung und aggressiven Expansion des territorialen Kalifats hin zu einer strategischen Symbiose aus Terrorismus und Guerillataktik auf lokaler Ebene, mittels derer der IS aus dem Untergrund heraus agieren kann. Zugleich beschleunigte der IS seine Dezentralisierung durch die weltweite Etablierung neuer IS-Verwaltungsprovinzen. Die Terrororganisation kann sich bis heute als vitale und global operierende Terrororganisation darstellen und auf lokaler Ebene fortlaufend neue Unterstützerinnen und Unterstützer gewinnen. IS-Splittergruppen sind u. a. in Afghanistan, Indien, Libyen, Provinzen des IS Pakistan, auf dem Sinai, in Zentralafrika und im zentralasiatischnordkaukasischen Raum aktiv und haben dort z. T. eigene ISVerwaltungsprovinzen ausgerufen. Im März 2015 schloss sich ein Teil der terroristischen Organisation "Boko Haram" aus Nigeria dem IS an, im gleichen Jahr verkündete der IS zudem die Gründung der "Provinz Kaukasus". Spätestens seit April 2019 ist ebenso die Existenz der "Provinz Türkei" bekannt. Der Schwerpunkt des IS bzw. seiner Verwaltungsprovinzen hat IS-Schwerpunkt in sich zunehmend auf den afrikanischen Kontinent verlegt, darunter Afrika Mali, Mosambik, Niger und die Zentralafrikanische Republik, wo damit einhergehend auch eine erhöhte terroristische Aktivität zu verzeichnen ist. Die zahlreichen Ableger und Provinzen des IS in Afrika ermöglichten letztlich, den territorialen Verlust in Irak und Syrien zu kompensieren, neue Anhängerinnen und Anhänger zu rekrutieren und eine neue terroristische Infrastruktur zu schaffen. Von dieser Entwicklung profitiert der IS mittlerweile weltweit. 105 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Die IS-Propaganda findet aktuell über eine Reihe von Onlineplattformen Verbreitung, die sowohl als offizielle als auch als inoffizielle Sprachrohre dienen. Insbesondere die Onlinedienste Instagram, Telegram und TikTok haben sich zur Verbreitung jihadistischer Propaganda etabliert bzw. an Bedeutung gewonnen. Mit dem offiziellen IS-Nachrichtenkanal "Amaq News Agency" wird weiterhin jihadistische Propaganda über die sozialen Netzwerke verbreitet. Insgesamt strahlt die Propagandaarbeit des IS respektive seiner Anhängerschaft ein neues Sendungsbewusstsein aus, womit weltweit potenzielle Sympathisantinnen und Sympathisanten erreicht werden. Insbesondere sollen Einzeltäter mobilisiert und dazu motiviert werden, öffentlichkeitswirksame Anschläge zu verüben. Seit dem 12. September 2014 ist die Betätigung innerhalb der Vereinigung IS sowie die öffentliche Verwendung und Verbreitung von dessen Schriften und Symbolen in Deutschland verboten. Islamischer Staat - Provinz Khorasan (ISPK) Guerillakrieg gegen Nach dem Abzug der US-amerikanischen und übrigen internadie "Taleban" tionalen Truppen aus Afghanistan ab August 2021 nahmen die "Taleban" die afghanische Hauptstadt Kabul ein; die ehemalige Regierung floh größtenteils außer Landes. Bereits kurz nach der Machtergreifung der afghanischen "Taleban" konnten zahlreiche inhaftierte Mitglieder des IS-Ablegers "Islamischer Staat - Provinz Khorasan" (ISPK) aus den zuvor von der gestürzten Regierung betriebenen Gefängnissen entkommen. Seither versucht der ISPK, wieder verstärkt in Afghanistan Fuß zu fassen und verübt vor Ort immer wieder Anschläge, u. a. auch auf die "Taleban". Der ISPK, der in der Vergangenheit bereits zeitweise kleinere Territorien im Osten von Afghanistan kontrollierte, fordert die Herrschaft der "Taleban" direkt heraus und kämpft gegen die neue Führung im Land. Im Gegenzug gehen die "Taleban" mit Nachdruck gegen die Kämpfer des ISPK vor. Ergänzend fokussiert sich der ISPK auf den Ausbau von Netzwerken in Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan, wobei er insbesondere unter Tadschiken und Usbeken erfolgreich ist. Hierbei kann der ISPK womöglich auf erfahrene Jihadisten der 1998 gegründeten "Islamischen Bewegung Usbekistan" (IBU) zurückgreifen, die sich seit den 2000er Jahren verstärkt am globalen Jihad im Sinne von "al-Qaida" orientierte und ihr Netzwerk bis Deutschland ausbauen und dort einzelne Anhänger rekrutieren konnte. 106 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Wenngleich sich das Kerngebiet des ISPK auf Afghanistan und das angrenzende Pakistan beschränkt, kam es international immer wieder zu Festnahmen von mutmaßlichen ISPK-Einzelanhängern und -Zellen, beispielsweise in der Türkei, in Bremen bzw. Bremerhaven sowie im Juni zeitgleich in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Belgien und den Niederlanden. Angesichts des hohen Verfolgungsdruckes durch die "Taleban" in Afghanistan ist der ISPK derzeit bestrebt, durch Anschlagsvorhaben im Westen und durch intensive Onlinepropagandaaktivitäten IS-Anhänger u. a. in Europa zu (re-)aktivieren, neue Jihad-Sympathisanten für den IS zu gewinnen und das "ISKalifat" als Idee und Bestrebung neu zu beleben. Durch diese verstärkte Fokussierung auf den globalen Jihad ist davon auszugehen, dass mit dem Netzwerk des ISPK größere Anschlagsvorhaben mit Symbolkraft zu erwarten sind, wie es die durch die Sicherheitsbehörden vereitelten Anschlagsvorbereitungen auf den Kölner Dom im Dezember verdeutlicht haben. Die gezielte Auswahl eines symbolträchtigen Ortes wie den Kölner Dom in der Weihnachtszeit orientiert sich an der Strategie des globalen Jihad, wonach weltweite Aufmerksamkeit erregt, eine nachhaltige Einschüchterung des Gegners erreicht und neue Anhänger mobilisiert werden sollen. 3.2.9.2 Das al-Qaida-Netzwerk (AQ) Die terroristische Organisation AQ und ihre regionalen Netzwerke und Ableger sind für eine Vielzahl von terroristischen Anschlägen weltweit verantwortlich, darunter die Anschläge am 11. September 2001 in den USA. Die Entstehung des AQ-Netzwerkes ist eng mit dem von 1979 bis 1989 andauernden bewaffneten Konflikt um das sowjetisch besetzte Afghanistan verbunden. In dem nach dem Sieg über die sowjetischen Truppen entstandenen Machtvakuum gelang es dem Jihad-Ideologen Abdullah Azzam und dem späteren AQ-Chef Usama bin Ladin, den Grundstein für das terroristische Netzwerk zu legen. Mit der Machtübernahme der "Taleban", die zwischen 1996 und 2001 einen Großteil des afghanischen Staates regierten, begannen bin Ladin und die AQ-Führungsperson Aiman al-Zawahiri ab 1996 - und unter dem Schutz des damaligen "Taleban"-Führers Mullah Omar - die Organisation neu auszurichten. Dabei vollzog AQ einen Strategiewechsel vom erklärten Krieg gegen den nahen Feind, d. h. Staaten im Nahen und Mittleren Osten, hin zum fernen Feind, vor allem die USA und der Westen im Allgemeinen. 107 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 formierte sich AQ unter dem verstärkten Verfolgungsdruck neu, hin zu einem flexiblen und globalen Netzwerk. Die neu entstanden regionalen Ableger wie "al-Qaida in Irak" (AQI), "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQIM), "al-Qaida auf der arabischen Halbinsel" (AQAH) und "al-Qaida im indischen Subkontinent" (AQIS) erweckten den Anschein eines weltweit aktiven Netzwerkes. Die "Kern-AQ" unter der damaligen Führung al-Zawahiris fungierte als ideologische Inspiration für Einzelpersonen und jihadistische Gruppierungen weltweit, wie z. B. in Irak, Mali, Somalia und Syrien. Durch die Tötung mehrerer Führungspersonen der "Kern-AQ", darunter bin Ladin (2011) und al-Zawahiri (2022), wurde die Kernorganisation stark geschwächt. Aufgrund ihrer dezentralen Organisation büßten die regionalen Ableger dabei jedoch kaum an Bedeutung ein. Dennoch können AQ bisher keine Anschläge in vergleichbaren Dimensionen wie 2001 zugerechnet werden. Kooperation mit den Das innerhalb der "Taleban" agierende "Haqqani-Netzwerk" hält "Taleban" - trotz divergierender Machtansprüche - enge Beziehungen zu AQ. Bereits bin Ladin genoss auf Basis dieser Verbindung Gastrecht in Afghanistan, was nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 letztlich zum Sturz der damaligen "Taleban"-Herrschaft im Rahmen einer US-geführten Militärkampagne führte. Infolge der neuerlichen Machtübernahme der "Taleban" in Afghanistan im August 2021 gestanden diese, trotz des mit den USA 2020 geschlossenen "Doha-Abkommens", der AQ weiterhin das Gastrecht zu. Im Gegenzug beglückwünschte AQ die "Taleban" anlässlich der erneuten Machtübernahme. Beides spricht für eine Interessenkonvergenz und für eine mögliche Nutzung Afghanistans als Rückzugsraum für AQ. AQ ist in den letzten Jahren zunehmend zu einem symbolischen Markenzeichen und zu einer Inspirationsquelle für jihadistische Personen geworden, die der Vorgehensweise des IS entweder ablehnend gegenüberstehen oder die Schwächung des IS zum Anlass nehmen, AQ zu folgen. Seine mehr als 30-jährige Entwicklung bietet für ehemalige Anhängerinnen und Anhänger des IS aus deren Sicht den Vorteil, die transnational-terroristische Infrastruktur AQs zu nutzen, die insbesondere jihadistische Ausbildungslager sowie grenzüberschreitende Kontaktverhältnisse umfasst. Aufrufe zu AnDer Ägypter Saif al-Adel gilt nach bin Ladin und al-Zawahiri als schlägen in Europa mutmaßlich dritter Emir (deutsch: "Befehlshaber") der "KernAQ". Seit August ruft diese im Westen lebende Muslime zu 108 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Anschlägen, insbesondere zur Tötung von Initiatoren und Teilnehmern an Koranverbrennungen sowie zu Sprengstoffund Brandanschlägen gegen Botschaften und Diplomaten in Dänemark, den Niederlanden und Schweden auf. Diese scharfe Rhetorik lässt erkennen, dass der de-facto-Anführer al-Adel möglicherweise einen Kurswechsel hin zu einem aggressiveren und aktionsorientierten Auftreten einschlägt. 3.2.9.3 Hai'at Tahrir al-Sham (HTS) Der AQ-Ableger "al-Qaida in Irak" (AQI) schickte ab 2011 Kämpfer nach Syrien, um im Rahmen des dortigen Bürgerkrieges eine syrische AQ-Gruppe zu gründen. Im Januar 2012 trat diese erstmals als "Jabhat al-Nusra li-Ahl al-Sham" (JaN, kurz auch "Jabhat al-Nusra") in Erscheinung und avancierte in der Folgezeit zu einem einflussreichen Akteur auf Seiten der syrischen Rebellengruppen. Ab 2013 spaltete sich in Syrien eine Zelle der "Kern-AQ" von "Khorasan-Gruppe" JaN ab und bildete fortan als "Khorasan-Gruppe" aus Europa stammende Kämpfer u. a. für die Begehung von Anschlägen in deren Herkunftsstaaten aus. Nach ihrer Umbenennung in "Jabhat Fath al-Sham" (JFS) schloss sie sich 2017, ohne die Zustimmung der "Kern-AQ", mit mehreren regimefeindlichen, islamistischen Gruppen in Syrien zur Gruppe "Hai'at Tahrir al-Sham" (HTS) zusammen. HTS inszeniert sich als lokal verwurzelte Organisation, die für Konflikt mit die "syrische Revolution" kämpft und dadurch versucht, Unter"al-Qaida" stützung innerhalb der syrischen Bevölkerung zu generieren. Auf strategischer Ebene verfolgt HTS einen auf Syrien fokussierten Ansatz zum Ausbau des eigenen Einflussgebietes. Dieser strategische Ansatz führte schlussendlich zu einem offenen Bruch mit der "Kern-AQ". Der HTS-Führung unter Abu Muhammad al-Jaulani wird, auch seitens des IS, vorgeworfen, zugunsten einer nationalistischen Agenda ihre jihadistisch-salafistische Ideologie verwässert zu haben. Im Mai 2018 stufte das US-Außenministerium HTS als ausländische terroristische Organisation sowie als global ausgerichtete Zweigorganisation der "Kern-AQ" ein. Ebenfalls im Mai 2018 stufte das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz HTS als formal eigenständige terroristische Vereinigung ein, was eine Strafverfolgung nach SS 129a und SS 129b StGB ermöglicht. 109 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus HTS gelang es, nicht zuletzt aufgrund des Fokus der internationalen Gemeinschaft auf den Kampf gegen den IS, zu einer der größten und einflussreichsten bewaffneten Gruppen in Syrien aufzusteigen. Im Norden und Nordwesten Syriens versucht sie, durch die von ihr installierte sogenannte "Heilsregierung" (arabisch: "hukumat al-Inqad") einen Mikrostaat zu errichten. HTS ist darum bemüht, jihadistische Konkurrenz von AQ oder IS vor Ort zu bekämpfen und kleinzuhalten. Sie setzt nach außen auf eine PR-Strategie einer scheinbaren Mäßigung, um internationale Legitimität zu erlangen und sich als "Vertretung der syrischen Revolution" präsentieren zu können. HTS betont dabei, dass von ihr für den Westen keine Gefahr z. B. durch Anschläge ausgehe. Im Juni 2021 stellte HTS der jihadistischen Gruppierung "Junud al-Sham" ein Ultimatum, sich der HTS anzuschließen oder die syrische Region Idlib zu verlassen. "Junud al-Sham" beugte sich der HTS und übergab die bisher von ihr besetzten Gebiete an HTS. Für "Junud al-Sham" hatten auch Personen mit Bezügen nach Bayern gekämpft. Seither konnte HTS ihre Vorherrschaft in der Provinz Idlib behaupten und versucht den eigenen Machtund Einflussbereich in andere Bereiche Nord-Syriens auszudehnen, was allerdings auf den Widerstand insbesondere von der Türkei unterstützte Milizen und Teilen der zivilen Opposition stößt. 3.3 Sonstiger islamistischer Terrorismus 3.3.1 HAMAS (Islamische Widerstandsbewegung) Personenpotenzial Deutschland: ca. 4501 Bayern: Einzelpersonen Gründung 1988 Ideologischer Bezug Muslimbruderschaft 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 EU-Terrorliste Nach Beginn der sog. "Ersten Intifada" ("Aufstand der Palästinenser") im Dezember 1987 schlossen sich Anfang 1988 die palästinensischen Anhängerinnen und Anhänger der MB unter Führung von Ahmad Yasin zur "Harakat al-Muqawama al-Islamiya" (HAMAS, deutsch: "Islamische Widerstandsbewegung") zusammen und nahmen den bewaffneten Kampf gegen Israel auf. 110 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Die HAMAS übt seit ihrer gewaltsamen Machtübernahme 2007 die alleinige Kontrolle über den Gaza-Streifen aus. Sie verneint das Existenzrecht Israels und will auf dem gesamten Gebiet Palästinas einen "islamischen Staat" errichten. Sie lehnt deshalb auch den israelisch-palästinensischen Friedensprozess ab. Die HAMAS ist für eine Vielzahl terroristischer Aktionen verantBetätigungsverbot wortlich, darunter zahlreiche Selbstmordattentate. Sie steht auf für HAMAS der EU-Liste terroristischer Organisationen. Vor diesem Hintergrund wurde im Juni auch die Verbreitung von Propagandamitteln der gelisteten Organisationen nach SS 86 StGB unter Strafe gestellt. Im November belegte das Bundesministerium des Innern und für Heimat die HAMAS mit einem Betätigungsverbot. Mit dem als "Operation Al-Aqsa-Flut" bezeichneten terroris"Operation tischen Angriff der HAMAS auf Israel vom 7. Oktober erlebte Al-Aqsa-Flut" die Gewalteskalation im Nahostkonflikt einen neuen Höhepunkt. Insgesamt wurden nach Angaben der israelischen Armee insgesamt mehr als 200 israelische Personen in den Gazastreifen verschleppt und über 1.000 Menschen ohne Rücksicht auf Alter oder Geschlecht auf oftmals grausame Weise getötet. Israel erklärte der HAMAS daraufhin den Krieg. Bei den Angriffen der HAMAS wurden 8 deutsche Staatsangehörige getötet. Von der in Deutschland lebenden HAMAS-Anhängerschaft gehen Bestrebungen aus, die auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden und gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind. Deutschland wird von der HAMAS zur Sammlung von Spenden und zur Verbreitung ihrer Propaganda genutzt. 3.3.2 Hizb Allah (Partei Gottes) Personenpotenzial Deutschland: ca. 1.2501 Bayern: Einzelpersonen Gründung 1982 in Libanon Publikation al-Intiqad ("Die Kritik") Fernsehsender al-Manar ("Der Leuchtturm"), Sitz in Beirut Ideologischer Bezug Schiitischer Islamismus 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 Die "Hizb Allah" (auch "Hisbollah" oder "Hizbollah", deutsch: "Partei Gottes") ist eine auf Initiative Irans gegründete schiitische Partei, die seit 1992 im libanesischen Parlament vertreten ist. Sie 111 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus wird von Iran finanziell, materiell und ideologisch unterstützt. Abseits ihres politischen und sozialen Engagements, das vor allem in den ärmeren Bevölkerungsschichten positiv aufgenommen wird, verfügt sie ebenso über militärische Einheiten, die insbesondere im Süden Libanons unabhängig von der Staatsgewalt agieren. Der Aufforderung zur Entwaffnung dieser Miliz gemäß der UN-Sicherheitsratsresolution 1559 aus dem Jahr 2004 kam der politische Flügel der "Hizb Allah" bislang nicht nach. Das langfristige Ziel der "Hizb Allah" ist die Zerstörung des Staates Israel und die "Herrschaft des Islam" über Jerusalem. Seit Jahren ist die "Hizb Allah" für Terroranschläge in Israel verantwortlich. In Deutschland hat sie bislang keine gewaltsamen Aktionen durchgeführt, nutzt aber das Bundesgebiet als Ruheund Rückzugsraum. Im Mai 2008 hat das libanesische Kabinett der "Hizb Allah" offiziell "das Recht zum Widerstand gegen Israel" zugestanden. Die schiitische Miliz kann daher ungehindert den Ausbau der Verteidigungsanlagen nördlich der UN-Pufferzone zur Grenze Israels vorantreiben. Seit Beendigung des Libanonkrieges im Sommer 2006 wird sowohl von israelischer Seite als auch von der "Hizb Allah" selbst über eine erhebliche Aufrüstung der Miliz berichtet. Die "Hizb Allah" verbreitet ihre antisemitische Propaganda u. a. über den libanesischen TV-Sender "al-Manar", der seinen Sitz in Beirut hat und auch in Deutschland zu empfangen ist. Da die Tätigkeit des Senders gegen deutsche Strafgesetze verstößt und sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet, wurde der Sender im Oktober 2008 vom Bundesministerium des Innern als verfassungsfeindliche Organisation verboten. Ansprachen und Fernsehinterviews des "Hizb Allah"-Generalsekretärs Hassan Sayyed Nasrallah werden in Deutschland hauptsächlich über die sozialen Medien verbreitet. Betätigungsverbot Die Bestrebungen der "Hizb Allah" gefährden auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland und richten sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Aus diesem Grund wurde die "Hizb Allah" mit Wirkung zum 30. April 2020 vom Bundesministerium des Innern mit einem Betätigungsverbot belegt. 112 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 4. SONSTIGE VERBOTENE ORGANISATIONEN Hilafet Devleti (Kalifatsstaat) Personenpotenzial Deutschland: ca. 7001 Bayern: ca. 30 früherer Vorsitzender Metin Kaplan Gründung 1984 Sitz Köln Ideologischer Bezug Milli-Görüs-Bewegung Publizistisches Sprachrohr Muhacirun ("Auswanderer") 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 Die 1984 in Köln gegründete Organisation "Hilafet Devleti" (deutsch: "Kalifatsstaat", ehemals "Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e. V.") wurde 2001 vom Bundesminister des Innern in Deutschland nach dem Vereinsgesetz verboten. Am 22. Oktober 2013 verbot das Bayerische Staatsministerium des Innern den 2009 gegründeten Verein "Kulturund Bildungszentrum Ingolstadt e. V." als Ersatzorganisation des "Kalifatsstaates". Mit Urteil vom 27. Januar 2016 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof eine gegen das Verbot erhobene Klage des Vereins abgewiesen. Das Urteil ist rechtskräftig. Der "Kalifatsstaat" war eine am Führerprinzip orientierte, streng hierarchisch gegliederte Organisation, deren Ziel die "Weltherrschaft des Islam" unter dem Kalifat ihres Anführers Cemaleddin Kaplan und später seines Sohnes Metin Kaplan war. Der "Kalifatsstaat" richtete sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung sowie den Gedanken der Völkerverständigung und gefährdete die Innere Sicherheit Deutschlands. Das Verbotsverfahren und die staatlichen Exekutivmaßnahmen haben die Organisationsstruktur geschwächt. Gleichwohl gibt es in Deutschland noch immer Anhängerinnen und Anhänger, die das Gedankengut des "Kalifatsstaates" weiterhin verbreiten. Zudem ist die offizielle Internetseite des "Kalifatsstaates", die über einen Server in den Niederlanden betrieben wird, auch in Deutschland abrufbar. 113 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Islamismus Der frühere Vorsitzende des "Kalifatsstaates", Metin Kaplan, der wegen Mordaufrufes eine 4-jährige Gefängnisstrafe in Deutschland verbüßt hatte, wurde 2004 in die Türkei abgeschoben und dort ebenfalls zu einer Haftstrafe verurteilt. Seit seiner Haftentlassung im November 2016 lebt Kaplan in Istanbul und hält den Kontakt zu seiner Gefolgschaft durch die Veröffentlichung von Predigten und Freitagsgebeten über Onlineplattformen aufrecht. In Bayern liegen Erkenntnisse über Strukturen und propagandistische Aktivitäten im Sinne der "Kalifatsstaat"-Ideologie von Anhängerinnen und Anhängern Kaplans vor. Am 28. Juni 2022 fanden bundesweit staatliche Exekutivmaßnahmen gegen Mitglieder und Unterstützer des "Kalifatsstaates" statt. Hiervon waren auch verantwortliche Personen in Bayern betroffen. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. 114 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 115 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Auslandsbezogener Extremismus Auslandsbezogener Extremismus Nichtislamistische extremistische Gruppierungen, die ihren Ursprung im Ausland haben, sind auch in Deutschland und Europa aktiv, um die politischen Verhältnisse in ihren Heimatstaaten antidemokratisch zu verändern, in Deutschland lebende Personen, mit oder ohne Migrationshintergrund, für ihre Ziele und Zwecke zu gewinnen und zu rekrutieren, oder für ihre Ideologie zu werben. Sie wollen z. B. eigene Staaten gründen, verfolgen eine rechtsextremistische Agenda oder unterstützen die Errichtung kommunistischer Systeme. Die Umsetzung und ideologische, finanzielle oder logistische Unterstützung der Ziele der Akteure im auslandsbezogenen Extremismus werden hierbei von Deutschland und Bayern aus betrieben. Ihre Bestrebungen richten sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung und gefährden die Innere Sicherheit, die öffentliche Ordnung sowie die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland. Unter ihrer Gefolgschaft finden sich, neben Ausländerinnen und Ausländern, auch deutsche Staatsangehörige mit und ohne Migrationshintergrund sowie deutsche Extremistinnen und Extremisten aus anderen Phänomenbereichen. 116 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 1. PERSONENPOTENZIAL IN BAYERN Im Jahr 2023 waren dem Spektrum des auslandsbezogenen Extremismus (ohne Islamismus) etwa 3.040 Personen (2022: 3.190) zuzurechnen: 2021 2022 2023 PKK 1.900 1.700 1.700 Rechtsextremistische 1.300 1.300 1.150 Organisationen Linksextremistische 190 190 190 Organisationen gesamt 3.390 3.190 3.040 Die Zahlenangaben sind geschätzt und gerundet. 2. ALLGEMEINES Organisationen, die dem auslandsbezogenen Extremismus zuzurechnen sind, verfolgen grundsätzlich eine Doppelstrategie. Während sie in ihren Ursprungsstaaten ihre Gefolgschaft für den - in Teilen bewaffneten - Kampf mobilisieren bzw. bis hin zur Gewaltanwendung radikalisieren, nutzen sie Deutschland und Europa primär als Rückzugs-, Finanzierungsund Rekrutierungsraum. Sie wollen hier Gefolgsleute werben, Spenden und Mitgliedsbeiträge generieren und nicht zuletzt Einfluss auf den politischen Diskurs gewinnen. Ihre Strategien und Aktivitäten in Deutschland zielen daher besonders darauf ab, Akzeptanz und Anschlussfähigkeit in der Mehrheitsgesellschaft zu erlangen. 117 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Auslandsbezogener Extremismus 2.1 Strömungen des auslandsbezogenen Extremismus Beim auslandsbezogenen Extremismus handelt es sich um einen Sammelbegriff, der unterschiedliche und sich in Teilen ideologisch oppositionell gegenüberstehende Organisationen und Strömungen umfasst, etwa: - Arbeiterpartei Kurdistans (PKK): Die marxistisch-leninistisch orientierte Organisation verfolgt das Ziel eines staatenübergreifenden kurdischen Autonomiemodells. Hierfür führt die PKK innerhalb und außerhalb der Türkei u. a. terroristische Anschläge durch. - Türkischer Rechtsextremismus: Diese Strömung umfasst ein breites Spektrum ultra-nationalistischen, antisemitischen und rassistischen Gedankenguts. Eine herausragende Rolle nimmt hierbei die "Ülkücü"-Bewegung ein, die auf einer Überhöhung des Türkentums und der Abwertung von armenischen, kurdischen und jüdischen Menschen beruht. - Türkischer Linksextremismus: Der türkische Linksextremismus ist in sich in unterschiedliche ideologische Flügel fragmentiert. Trotz dieser Diversität und interner Spaltungen teilen sie ideologische Prinzipien wie den Antiimperialismus und z. T. die Bereitschaft zum bewaffneten Kampf gegen das bestehende politische System in der Türkei. Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Die PKK setzt zur Durchsetzung ihrer Ziele auf ein zweigeteiltes Vorgehen: Während sie mit ihren bewaffneten Einheiten eine kulturelle Autonomie und lokale Selbstverwaltung in den kurdischen Siedlungsgebieten anstrebt, stellen Deutschland sowie weitere europäische Staaten für die Organisation und ihre Anhängerschaft bedeutende Rückzugs-, Rekrutierungsund Finanzierungsräume dar. Sog.e "Kader" der Partei treiben bei hier lebenden Sympathisanten "Spendengelder" ein, um den umfangreichen Propagandaapparat in Europa und den Unterhalt der Organisation zu finanzieren. Neben dem finanziellen Beitrag zur Unterstützung der Organisation und ihrer Ziele erwartet die PKK von ihrer Anhängerschaft zudem, den politischen und militärischen Kampf der Bewegung für die "Freiheit Kurdistans" mitzutragen. Zentrale Forderung der Propaganda in Deutschland ist die Aufhebung des im November 1993 erlassenen Betätigungsverbotes für die PKK: Im Juli 1993 verübten militante 118 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 PKK-Angehörige nahezu zeitgleich in verschiedenen Städten Deutschlands rund 60 Überfälle und Brandanschläge auf türkische diplomatische Vertretungen sowie Banken, Reisebüros, Gaststätten und Vereinslokale. Bei den Anschlägen wurden 1 türkischer Staatsbürger getötet und mehrere Personen verletzt. Seit spätestens Ende der 1990er Jahre ist die PKK zunehmend darum bemüht, sich vom negativen Image einer Terrororganisation zu befreien. Sie will in Deutschland und Europa nach außen hin jede Assoziation mit den Themen "Kampf" und "Gewalt" vermeiden und ihren Bestrebungen ein demokratisches Antlitz verleihen. Türkischer Rechtsextremismus Die als "Graue Wölfe" bekannte türkisch-rechtsextremistische "Ülkücü"-Bewegung verfolgt in der Türkei und in Deutschland eine Doppelstrategie. So zielt ihre legalistische Agenda in der Türkei darauf ab, in Gestalt der "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP, türkisch: "Milliyetci Hareket Partisi"), Wählerstimmen und einen möglichst großen Einfluss auf staatliche Strukturen zu gewinnen. Die MHP steht hierzu in einem 119 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Auslandsbezogener Extremismus Wahlbündnis mit der Regierungspartei "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung" (AKP, türkisch: "Adalet ve Kalkinma Partisi"). In Deutschland versuchen die Angehörigen der türkisch-rechtsextremistischen Szene hingegen, sich vor allem im Rahmen ihrer offiziellen Vereinsund Verbandsaktivitäten als rechtsund verfassungsloyale Kulturinitiatorinnen und -initiatoren zu präsentieren, um hier - möglichst abseits einer kritischen Öffentlichkeit - Indoktrinationsund Rekrutierungsarbeit innerhalb türkischsprachiger Gesellschaftsteile betreiben zu können. Die "Ülkücü"-Bewegung hat es in einem über Jahrzehnte währenden Wandlungsund Ausdifferenzierungsprozess geschafft, ihre im Kern auf rassistischen Überlegenheitsvorstellungen fußende Ideologie immer breitenwirksamer zu propagieren. Heute umfasst die ideelle und organisatorische Anschlussfähigkeit der ihr zugeschriebenen Organisationen und Gruppierungen ein breites Spektrum innerhalb der türkischen Gesellschaft bzw. innerhalb der türkischstämmigen Bevölkerung in Europa und Deutschland. Diese reicht von nationalistisch eingestellten Türkinnen und Türken über säkular orientierte Anhänger des Kemalismus bis hin zu islamistisch geprägten Milieus. Gewaltund WaffenGerade im Hinblick auf die innerhalb der "Ülkücü"-Bewegung affinität vorherrschende Gewaltund Waffenaffinität sind insbesondere die europäischen Ableger der Bewegung darum bemüht, ihre Anhängerschaft zu einem gemäßigten Auftreten in der Öffentlichkeit anzuhalten. Gleichzeitig werden innerhalb der Organisationen und im Rahmen entsprechender Veranstaltungen die gewaltinhärenten Aspekte der "Ülkücü"-Bewegung und ihrer Geschichte regelmäßig gewürdigt und zelebriert. Insbesondere in der unorganisierten türkisch-rechtsextremistischen Szene ist darüber hinaus eine hohe Affinität zu Schusswaffen zu beobachten. In einer Vielzahl von Social-Media-Beiträgen einzelner Szeneangehöriger werden Schusswaffen - oft mit Symbolen der "Ülkücü"-Bewegung versehen - dargestellt und stoßen auf positive Resonanz bei anderen Szeneangehörigen. Türkischer Linksextremismus Die türkische linksextremistische Szene und ihr Unterstützerkreis in Deutschland stellen sich als in der Türkei zu Unrecht verfolgte "Regimegegner" dar und versuchen, ihr Image in Deutschland aufzubessern. Wenngleich sie häufig - auch offen - die terroristischen Aktionen ihrer Heimatorganisationen in der Türkei befürworten, versuchen sie, Einfluss auf den öffentlichen 120 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Diskurs in Deutschland auszuüben. Insbesondere durch die Zusammenarbeit mit der deutschen linksextremistischen Szene soll der politische Anschluss bis hinein ins bürgerliche Spektrum erreicht werden. Ein wichtiges Ziel der türkisch-linksextremistischen Szene und ihrer Propaganda ist es, einer strafrechtlichen Verfolgung und öffentlichen Stigmatisierung ihrer Anhängerschaft entgegenzuwirken. Hierfür inszenieren sie sich mitunter als Opfer der deutschen Justiz, die sie in öffentlichen Beiträgen wahlweise als "Handlangerin des türkischen Regimes" oder Repräsentantin eines "kapitalistischen Unterdrückungsregimes" diffamieren. Sonstiger auslandsbezogener Extremismus Im Bereich des auslandsbezogenen Extremismus finden sich nicht nur Gruppierungen mit Bezug zur Türkei, sondern auch Organisationen, die systemverändernde oder separatistische Bestrebungen in ihren Heimatstaaten in anderen Teilen der Welt verfolgen. Im Fokus stehen dabei insbesondere säkulare extremistische palästinensische Gruppierungen, wie zum Beispiel die "Volksfront zur Befreiung Palästinas" (PFLP, englisch: "Popular Front for the Liberation of Palestine"), deren Ziel die Gründung eines palästinensischen Staates in den Grenzen des historischen Palästinas vor Gründung des modernen Staates Israel ist. In Deutschland konzentrieren sich diese Gruppierungen in der Regel auf Propagandaarbeit, z. B. mittels Veranstaltungen. Intensität und Emotionalität des Demonstrationsgeschehens in Deutschland werden hierbei maßgeblich von der Lage im Nahen Osten bestimmt. Auch Aktivitäten und Handlungen in Deutschland im Zusammenhang mit der Unterstützung des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine können in das Spektrum des auslandsbezogenen Extremismus fallen. 121 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Auslandsbezogener Extremismus 2.2 Konfliktund Gewaltpotenzial Die Aktivitäten auslandsbezogener extremistischer Organisationen in Deutschland werden im Wesentlichen von politischen Ereignissen und Entwicklungen in den jeweiligen Herkunftsstaaten beeinflusst. So können aktuelle Konflikte im Ausland unmittelbar zu gewaltsamen Aktivitäten in Deutschland führen. Die Eskalation des Kurdenkonfliktes in der Türkei seit 2015 sowie die Ereignisse in der Folge des gescheiterten Militärputsches vom 15. Juli 2016 wirken sich nach wie vor erkennbar auf türkische und kurdische extremistische Organisationen in Deutschland aus. Vor allem zwischen Vertretern des PKK-Lagers und der türkisch-rechtsextremistischen Szene kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Übergriffen und teils gewalttätigen Konfrontationen. Bombenanschlag Am 1. Oktober kam es in der türkischen Hauptstadt Ankara zu der PKK in Ankara einem Bombenanschlag vor dem türkischen Innenministerium. Das PKK-nahe Nachrichtenportal ANF berichtete, dass sich die PKK zu dem Anschlag bekannt hat. Die "Aktion" sei genau nach Plan verlaufen und eine Reaktion auf das Vorgehen der Türkei in kurdischen Gebieten, zitierte ANF aus einem mutmaßlichen Bekennerschreiben der HPG ("Hezen Parastina Gel", deutsch: "Volksverteidigungskräfte"), dem militärischen Arm der PKK. Unmittelbar nach dem Anschlag führte die Türkei Luftangriffe auf 20 Stellungen der PKK in Nordirak durch. Deutschlandweit war daraufhin ein erhöhtes Demonstrationsgeschehen festzustellen. In Bayern fanden Protestaktionen u. a. in München und Ingolstadt statt, an denen neben bürgerlichen Initiativen ebenso PKK-Anhänger sowie deutsche Linksextremisten teilnahmen. 122 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Faktoren wie der Grad der Polarisierung der politischen Debatte in der Türkei sowie das militärische und außenpolitische Wirken der Türkei in internationalen Konfliktregionen sorgen nicht nur unter PKK-Anhängern für ein gesteigertes Gewaltpotenzial. Zunehmend zeichnet sich auch innerhalb der türkisch-rechtsextremistischen Szene in Deutschland und Bayern ein gewisses Aggressionspotenzial ab. In der Vergangenheit kam es im Rahmen prokurdischer Demonstrationen wiederholt zu Provokationen und gewalttätigen Übergriffen von "Ülkücü"-Angehörigen. Auch die anhaltende Feindbildrhetorik türkischer RegierungsFeindbildrhetorik verantwortlicher sowie in regierungsnahen Medien gegenüber Personen und Gruppierungen, die in tatsächlicher oder mutmaßlicher Opposition zur gegenwärtigen Regierung stehen, können grundsätzlich einen gewaltfördernden Effekt auf die hiesige "Ülkücü"-Bewegung haben. Insbesondere der unorganisierten "Ülkücü"-Szene zuzurechnende Personen beteiligen sich in unterschiedlicher Form an digitalen Agitationskampagnen gegen vermeintliche Feinde der aktuellen türkischen Staatsführung im Inund Ausland. 2.3 Präsidentschaftsund Parlamentswahlen in der Türkei Am 14. und in der Stichwahl am 28. Mai fanden in der Türkei die Präsidentschaftsund Parlamentswahlen statt. Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan konnte die Stichwahl mit insgesamt 52 Prozent für sich entscheiden. Von den 600 zu vergebenden Parlamentssitzen erlangte die "Volksallianz" (türkisch: "Cumhur Ittifaki") 323 Sitze, das Wahlbündnis "Bündnis der Nation" (türkisch: "Millet Ittifaki") 212 Sitze und das "Bündnis für Arbeit und Freiheit" (türkisch: "Emek ve Özgürlülük") 65 Sitze. Unter den in Deutschland lebenden türkischen Wahlberechtigten lag die Wahlbeteiligung zur Präsidentschafts-Stichwahl bei knapp 49 Prozent. Ca. 67 Prozent der Wahlbeteiligten in Deutschland gaben Ihre Stimme für Erdogan ab. In Bayern war das Ergebnis deutlich, in allen 3 bayerischen Wahlorten erhielt Erdogan mit jeweils über 60 Prozent die Mehrheit. 123 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Auslandsbezogener Extremismus Nach der Verkündung des Wahlergebnisses kam es in der Türkei und u. a. in Deutschland zu Jubelfeiern und Autokorsos in der Öffentlichkeit. Große öffentliche Spontanfeiern bzw. Versammlungen bildeten sich beispielsweise in München und Nürnberg. Der Wahlabend verlief in Bayern weitgehend störungsfrei. Es kam zu keinen Ausschreitungen, es konnten lediglich vereinzelt der "Wolfsgruß" und "Ülkücü"-Symboliken als Sympathiebekundungen festgestellt werden. Mit dem Wahlergebnis der Präsidentschaftsund Parlamentswahlen konnte Staatspräsident Erdogan seine Regierungsmacht in der Türkei erneut konsolidieren und das stark nationalistisch ausgerichtete Regierungshandeln seines Wahlbündnisses u. a. aus AKP und MHP fortführen. Dies bringt die Gefahr mit sich, dass sich dadurch die Fronten zwischen dem türkischrechtsextremistischen Lager einerseits und türkisch-linksextremistischen bzw. kurdisch-extremistischen Akteuren sowie religiösen oder ethnischen Minderheiten andererseits weiter verhärten. Das damit einhergehende erhebliche Konfliktpotenzial könnte sich auch in Deutschland und Bayern in gewaltsamen Auseinandersetzungen entladen. 2.4 Antisemitismus Im Kontext des auslandsbezogenen Extremismus erscheint Antisemitismus in unterschiedlicher Gestalt. Während er sich etwa im türkischen Rechtsextremismus teils unverhohlen rassistisch manifestiert, spielt er im Bereich der PKK und des türkischen Linksextremismus zwar ideologisch eine untergeordnete Rolle, ist jedoch immer wieder in Form antisemitisch konnotierter Kapitalismusund Israelkritik unterschwellig präsent. Grundsätzlich sind die meisten Akteure aller Strömungen des auslandsbezogenen Extremismus bestrebt, offen antisemitische Äußerungen zu vermeiden, um ihr vorrangiges Ziel nicht zu gefährden, sich in Deutschland als seriöse, gemäßigte Ansprechpartner für Politik, Behörden und Sozialverbände zu positionieren. Dennoch sind immer wieder antisemitische Ausführungen und Parolen festzustellen. 124 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Vor allem der durch den terroristischen Angriff der HAMAS Antizionismus und auf israelisches Territorium im Oktober neu entflammte IsraelNahostkonflikt Palästina-Konflikt stellt eine zentrale Bezugsgröße für die antijüdische Agitation der verschiedenen Akteure des auslandsbezogenen Extremismus dar. Hier setzt insbesondere auch der antizionistische Antisemitismus an - eine Form des Antisemitismus, die über einzelne Szenegrenzen hinausreicht und vorgibt, "nur" das Handeln des Staates Israel zu kritisieren, tatsächlich aber das Existenzrecht Israels ablehnt. Antizionisten diffamieren den jüdischen Staat und seine Siedlungspolitik, indem sie ihm einen "Vernichtungskrieg" und eine Politik der "Ausrottung" vorwerfen. Die Feindschaft gegen den Staat Israel wird hierbei mit klassischen Stereotypen der Judenfeindlichkeit verbunden. Typische Aktionsformen sind z. B. israelkritische Boykottaufrufe. Auf Veranstaltungen im Zusammenhang mit der Eskalation des Nahostkonflikts wurde der Slogan "From the river to the sea, Palestine will be free" verwendet. Diese in extremistischen Kreisen weit verbreitete Chiffre kann, abhängig von Kontext und Verwendungsintention, als Negierung des Existenzrechtes des Staates Israel verstanden werden. Vor allem bei vergleichbaren Veranstaltungen im Bundesgebiet ging diese Parole mit dem Zeigen von Abbildungen "Palästinas" einher, in denen der Staat Israel nicht mehr erscheint. Auch Akteure wie die "Palästinensische Befreiungsorganisation" (PLO, englisch: "Palestine Liberation Organization"), die PFLP oder auch die islamistische HAMAS bzw. deren Unterstützerszenen, verwenden den Slogan im Sinne der Verneinung des Existenzrechtes Israels. Auch im Zusammenhang mit dem diesjährigen "Nakba-Tag" (deutsch: "Unglück" oder "Katastrophe") wurde im Mai bei einer öffentlichen Veranstaltung in München der Slogan "From the river to the sea, Palestine will be free" verwendet. Der "Nakba-Tag" findet jährlich am 15. Mai, dem Tag nach der israelischen Staatsgründung, statt. Als "Nakba" wird die Flucht und Vertreibung des palästinensischen Volkes aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina bezeichnet. 125 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Auslandsbezogener Extremismus 2.4.1 Antisemitismus und Antizionismus der PKK-Szene Auch die Ideologie und Propaganda der PKK weist antisemitische bzw. antizionistische Anknüpfungspunkte auf. Die PKK setzt ihren Kampf dabei regelmäßig mit der Situation des palästinensischen Volkes gleich und sieht sich selbst als dessen Verbündete im Kampf gegen den "Imperialismus" Israels. Gleichwohl ist die PKK darauf bedacht, über ihre deutschsprachigen Kanäle und Medien nicht offen antisemitisch zu agitieren. Klar antisemitische Positionen werden vornehmlich in organisationsinternen Publikationen und Debatten verlautbart. In der Februar-Ausgabe 2021 der Parteizeitung "Serxwebun" (deutsch: "Unabhängigkeit") erschien z. B. ein Beitrag unter der Überschrift "Der Sieg von Gare", in dem ein "internationales Komplott" beschworen wird, hinter dem die "geistige und finanzielle Kraft Israels" stecke. In der gleichen Ausgabe findet sich zudem ein Auszug aus einem Buch des PKK-Führers Abdullah Öcalan, in dem dieser u. a. ausführt, dass der Anteil des jüdischen Kapitals und der jüdischen Ideologen am deutschen Faschismus nicht vernachlässigt werden dürfe. In Deutschland bestünde zwischen dem Judentum und dem Faschismus eine "dialektische Verbindung", so Öcalan in seinem Buch. 2.4.2 Antisemitismus im türkischen Rechtsextremismus Überhöhung des Antisemitismus ist charakteristisches Merkmal der türkischTürkentums rechtsextremistischen "Ülkücü"-Bewegung. Die nationalistische und rassistische Ideologie der Bewegung basiert auf einer Überhöhung der Türkei und des Türkentums bei gleichzeitiger Abwertung von Menschen jüdischen Glaubens oder anderer Ethnien und Religionen wie z. B. Armeniern und Kurden. Nihal Atsiz, ein bis heute innerhalb der Szene verehrter "Ülkücü"-Vordenker und Autor rassistischer und antisemitischer Schriften, schrieb bereits 1934 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "Orhun", deren Titel auf eine alttürkische Runen-Schrift verweist: Die als "Jude" bezeichnete Kreatur wird von niemandem auf dieser Welt gemocht, außer von den Juden selbst und von den Charakterlosen. [...] Das Türkentum ist ein Privileg, das nicht jedem Menschen, schon gar nicht Menschen wie den Juden, zuteil wird. 126 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Wenngleich der organisierte Teil der Bewegung in Deutschland einen derart offenen Antisemitismus zu vermeiden versucht, äußern sich vor allem jugendliche Gefolgsleute der Bewegung insbesondere im Internet offen und unverhohlen antisemitisch. Im Rahmen der antisemitischen Propaganda im türkischen Rechtsextremismus werden Menschen jüdischen Glaubens pauschal als Staat und Gesellschaft kontrollierende, obskure Machthaber im Hintergrund dargestellt, die sowohl Medien manipulieren als auch innermuslimische Konflikte sowie Krisen und Konflikte in der Türkei schüren. In sozialen Netzwerken, aber auch auf Demonstrationen, trifft man zudem auf Angehörige der türkisch-rechtsextremistischen Szene, die israelkritische Themen als Anlass für ihre Agitation aufgreifen und sich hierbei typischer Motive der islamistischen Israelund Judenfeindlichkeit bedienen. 2.4.3 Antisemitismus im türkischen Linksextremismus Wie im deutschen Linksextremismus existiert auch im türkiAntizionismus schen Linksextremismus kein rassistisch motivierter AntiseAntiimperialismus mitismus. Dennoch sind auch in Teilen des türkisch-linksextreAntikapitalismus mistischen Spektrums unter den Stichworten "Antizionismus", "Antiimperialismus" sowie "Antikapitalismus" im Kern antisemitische Ressentiments vorhanden, die vorrangig in Stellungnahmen zum ungelösten Nahostkonflikt in Erscheinung treten. Auch Angehörige der türkisch-linksextremistischen Szene sehen Israel als imperialistische Besatzungsmacht, die Krieg gegen das palästinensische Volk führe und ein Vorposten der USA sei. Die Übergänge zum Antisemitismus sind in der Argumentation teilweise fließend. 3. STRUKTUREN 3.1 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Anhänger Deutschland: 14.500 1 Bayern: ca. 1.700 Leitung Abdullah Öcalan Gründung 1978 in der Türkei Publikation Serxwebun (Unabhängigkeit), Yeni Özgür Politika (Neue Freie Politik) 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 127 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Auslandsbezogener Extremismus Die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK, kurdisch: "Partiya Karkeren Kurdistane") ist in Deutschland seit dem 26. November 1993 verboten. Seit dem 2. Mai 2002 wird sie in der Liste terroristischer Organisationen der EU geführt. Das deutsche Verbot umfasst die späteren Umbenennungen in "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK, kurdisch: "Kongreya Azadi u Demokrasiya Kurdistane"), "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA GEL, kurdisch: "Kongra Gele Kurdistan), "Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan" (KKK, kurdisch: "Koma Komalen Kurdistane") und "Vereinigte Gemeinschaften Kurdistans" (KCK, kurdisch: "Koma Civaken Kurdistan"). Verbot der Mit Schreiben vom 2. März 2019 verfügte das BundesminisÖcalan-Fahne terium des Innern, für Bau und Heimat eine Ausweitung der Verbotsverfügung gegen die PKK und ihre Kennzeichen. Seitdem ist es in Deutschland auch verboten, die Fahne mit dem Abbild Abdullah Öcalans auf gelbem oder gelb-grünem Hintergrund zu zeigen. Die PKK wurde 1978 von Abdullah Öcalan in Ostanatolien als marxistisch-leninistisch orientierte Organisation gegründet. Sie sollte durch einen Guerillakrieg eine Revolution mit dem Ziel eines unabhängigen kurdischen Staates herbeiführen. Über 2 Jahrzehnte lang führte die PKK innerhalb und außerhalb der Türkei terroristische Anschläge durch, darunter auch in Deutschland. Demokratischer Nach der Festnahme des PKK-Führers Abdullah Öcalan im Jahr Konförderalismus 1999 kam es zu einem taktisch bedingten Kurswechsel. Zumindest im Ausland wurde auf die Durchführung planmäßiger Gewaltaktionen verzichtet. Das ursprüngliche Ziel der Errichtung eines unabhängigen kurdischen Staates wurde zugunsten eines staatenübergreifenden kurdischen Autonomiemodells, das die bestehenden staatlichen Grenzen der Türkei anerkennt, aufgegeben. Dabei soll unter der klaren Vorherrschaft der PKK in den traditionell kurdischen Siedlungsgebieten in Irak, Iran, Syrien und der Türkei eine unter dem Begriff "Demokratischer Konförderalismus" propagierte Selbstverwaltung geschaffen werden. Regionale Strukturen Bei der PKK und ihren deutschen Ablegern handelt es sich um in Bayern: "Eyalets" eine Kaderorganisation mit einem weitverzweigten Funktionärswesen und strikten Befehlsstrukturen. Die PKK hat sich 2016 in Deutschland regional umstrukturiert. Unter Beibehaltung der 31 Gebiete wurden die ehemals 4 Sektoren nun in 9 Regionen ("Eyalets") aufgeteilt. In Bayern existieren die Gebiete Südbayern und Nordbayern. An der Spitze dieser hierarchischen 128 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Struktur stehen Funktionäre, die in der Regel durch die europäische Leitungsebene der Organisation eingesetzt werden. Die Zuweisung auf die einzelnen Funktionen erfolgt zumeist nur für einen begrenzten Zeitraum. Die hauptamtlichen Kader der PKK sind ideologisch geschult und leben äußerst konspirativ und gemäß einem etablierten Rotationsverfahren an häufig wechselnden Orten. Ziel ist es dabei vor allem, Beobachtungsund Verfolgungsmaßnahmen durch staatliche Stellen zu erschweren. Die PKK-Anhängerschaft organisiert sich in Deutschland und Bayern auch unter dem Deckmantel legaler Vereinsund Verbandsstrukturen. Die Organisationen, die diesen Strukturen zuzurechnen sind, stellen sich in der Regel nach außen als reine Kulturvereine dar. Ein Nachweis, dass ihre Betätigung unmittelbar der PKK zuzurechnen ist, lässt sich meist nur im Einzelfall führen. Insgesamt kann jedoch angenommen werden, dass der illegal tätige Funktionärsapparat der PKK die Agenda dieser legalistischen Strukturen in Deutschland und Europa maßgeblich beeinflusst und steuert. Die jeweiligen Vereine und Verbände haben vor diesem Hintergrund vor allem die Aufgabe, die Ziele und die Politik der PKK zu verbreiten und zu fördern, und dienen des Weiteren als regionale Anlaufstellen für ihre Anhänger. Der Dachverband dieser PKK-nahen Strukturen in Deutschland erfuhr 2019 eine Umstrukturierung: Die zuvor unter der Bezeichnung "Dachverband Demokratisches Kurdisches Gesellschaftszentrum Deutschlands e. V." (NAV-DEM, kurdisch: "Navenda Civaka Demokratik ya Kurden li Almanyaye") auftretende Dachorganisation firmiert seither unter der Bezeichnung "Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland e. V." (KON-MED, kurdisch "Konfederasyona Civaken Kurdistaniyen li Almanya"). Organisatorisch unterscheidet sich die KON-MED vom Vorgänger NAV-DEM u. a. darin, dass sie über regionale Untergruppierungen verfügt, die sog. "Föderationen". Zuständig für Bayern und Baden-Württemberg ist die "Föderation der Völker Kurdistans" (FED-GEL, kurdisch: "Federasyona Gelen Kurdistani"). In Bayern existieren zurzeit 3 Vereine, die der KON-MED anKON-MED in Bayern gehören: "Medya Volkshaus e. V." in Nürnberg, "Kurdisches Gesellschaftszentrum München e. V." und "Demokratisches Kurdisches Gesellschaftszentrum Aschaffenburg e. V." Alle 3 Vereine initiieren regelmäßig Versammlungen zur PKKThematik, wie beispielsweise zu der von ihnen geforderten Aufhebung des PKK-Verbotes. Auch Fahrten zu überregionalen Veranstaltungen mit PKK-Bezug werden organisiert. 129 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Auslandsbezogener Extremismus Festnahme eines Am 22. Dezember 2022 wurde ein mutmaßlicher PKK-GebietsGebietsleiters leiter aufgrund eines Haftbefehls des Oberlandesgerichtes München (OLG) festgenommen. Er steht in dringendem Tatverdacht, seit Juli 2021 in der Position des PKK-Regionsleiters von Bayern sowie zeitgleich als PKK-Gebietsleiter für das Gebiet Nordbayern eingesetzt gewesen zu sein. Die Generalstaatsanwaltschaft München leitete gegen den Beschuldigten ein Ermittlungsverfahren ein wegen des Verdachtes der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland nach SS 129a und SS 129b StGB. Zeitgleich wurden mehrere Objekte durchsucht, darunter die Meldeadresse des Tatverdächtigen, ein Wohnobjekt sowie der Vereinssitz des "Medya Volkshaus e. V." in Nürnberg. JahresspendenEine der zentralen Aktivitäten der PKK in Europa und Deutschkampagnen land ist die Jahresspendenkampagne. Diese beginnt zumeist Anfang Herbst und stellt eine Haupteinnahmequelle der Organisation dar. Die PKK erwartet, dass die geschätzt etwa 1,5 Millionen in Europa lebenden Kurdinnen und Kurden einen finanziellen Beitrag zur Unterstützung der Organisation bzw. zur "Befreiung Kurdistans" leisten. Jährlich liegen die Spendeneinnahmen im Bundesgebiet geschätzt zwischen 16 und 17 Millionen Euro. Die Höhe der Beiträge richtet sich nach dem Jahreseinkommen. Während von durchschnittlich verdienenden kurdischen Familien mehrere Hundert Euro verlangt werden, erwartet man von vermögenden Geschäftsleuten mehrere Tausend Euro. Die Spender sind dabei zum Teil einem hohen psychischen Druck ausgesetzt. Zwar wird bei Zahlungsunwilligkeit keine Gewalt angewendet, doch ist mit sozialer Ausgrenzung zu rechnen. Die Spendengelder dienen der Finanzierung der PKK-Strukturen in Europa, der Türkei und in den übrigen kurdischen Siedlungsgebieten im Nahen Osten. Ferner profitiert der PKK-Medienapparat von den Einnahmen. Es ist davon auszugehen, dass ein Teil der Spendensumme auch zur finanziellen Unterstützung der Guerillaeinheiten der PKK weitergeleitet wird. Verhältnis zur Gewalt Die PKK zeigt ein ambivalentes Verhältnis zur Gewalt. Einem militärischen Auftreten im türkisch-irakischen bzw. türkischsyrischen Grenzgebiet steht ein grundsätzlich friedliches Vorgehen in Deutschland und Europa gegenüber. Dieses Vorgehen wird auch aktuell von der Zielsetzung geleitet, sich europäische Staaten als Ruheund Rückzugsräume zu bewahren. Die PKK ist nach wie vor in der Lage und bereit, zumindest punktuell Gewalt auch in Deutschland einzusetzen bzw. Gewalttaten ihrer jugendlichen Gefolgschaft zu dulden. Als wesentliche Propagandaplattformen dienen in Deutschland, neben im 130 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Ausland ansässigen Fernsehsendern, regelmäßig erscheinende Zeitungen wie die Tageszeitung "Yeni Özgür Politika" (deutsch: "Neue Freie Politik"), in denen fortlaufend Stellungnahmen von führenden PKK-Funktionären veröffentlicht werden. Auch soziale Netzwerke und mehrsprachige Webseiten werden intensiv zur Verbreitung von Propaganda und zur Mobilisierung für Veranstaltungen und Kundgebungen genutzt. Für das Aktivitätsund Aggressionsniveau der PKK in Deutschland ist die innenpolitische Lage in der Türkei ein entscheidender Faktor. Die PKK-nahe Szene reagiert mitunter äußerst rasch und unmittelbar auf Ereignisse und Konflikte in der Türkei und der umliegenden Region. Dadurch will die Szene in Deutschland Einfluss auf die türkische Innenpolitik und die auswärtigen Beziehungen der Türkei ausüben, den türkisch-kurdischen Konflikt zugleich aber auch auf die Tagesordnung deutscher und internationaler Politik bringen. Zwar zählt Deutschland als Rückzugsund Ruheraum der Rekrutierung in PKK, dennoch stellen auch Rekrutierungsaktivitäten ein zenDeutschland trales Aktionsfeld der PKK in Deutschland dar. Seit Juni 2013 sind mehr als 300 Personen behördlich bekannt geworden, die sich aus Deutschland in die kurdischen Kampfgebiete im Nahen Osten begeben und sich dort verschiedenen Kampfeinheiten der PKK angeschlossen haben. Dabei handelt es sich vorrangig um die HPG ("Hezen Parastina Gel", deutsch: "Volksverteidigungskräfte") sowie die Milizen ihrer syrischen Schwesterpartei PYD ("Partiya Yekitiya Demokrat", deutsch: "Partei der Demokratischen Union"), hier vor allem der YPG ("Yekineyen Parastina Gel", deutsch: "Volksverteidigungseinheiten"). Die Anwerbung und Indoktrinierung erfolgt zumeist in den lokalen PKK-Vereinen, über den PKK-Medienapparat oder auf jährlich wiederkehrenden Großveranstaltungen der PKK. Zudem werden regelmäßig Schulungen veranstaltet, bei denen die Ausreisewilligen auf ein Leben im Kampf für die PKK vorbereitet werden sollen. PKK-nahe Medien berichteten im Juni über einen deutschen Tod eines Deutschen Staatsangehörigen, der am 15. Juni im Alter von 27 Jahren im Kampfgebiet bei Kampfhandlungen zwischen der HPG und dem türkischen Militär in Nordirak ums Leben gekommen sein soll. Er war bis zu seiner Ausreise im Jahr 2016 in Bayern wohnhaft und dort in der deutschen linksextremistischen Szene aktiv. Nachdem er im Frühjahr 2016 an einer Delegationsreise in das kurdische Siedlungsgebiet teilgenommen hatte, verließ er im Herbst Bayern und schloss sich einer bewaffneten Kampfeinheit der PKK an. Dieses Beispiel zeigt, dass für Rekrutierungen geeignete Personen nicht nur über die lokalen PKK-Vereinsstrukturen oder durch 131 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Auslandsbezogener Extremismus PKK-Kader angeworben werden. Auch zahlreiche gemeinsame Aktionen und Veranstaltungen zwischen der deutschen linksextremistischen Szene und PKK-nahen Gruppierungen werden zu Rekrutierungszwecken genutzt. Aus diesen Kontakten können auch personelle Verflechtungen entstehen. Zusammenarbeit mit der linksextremistischen Szene Zwischen der PKK und deutschen linksextremistischen Gruppierungen kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu einer themenbezogenen Kooperation und gegenseitigen Unterstützung. Eine Zusammenarbeit erfolgt vorwiegend dann, wenn sich die vom linksextremistischen Spektrum besetzten Aktionsfelder, wie z. B. Antiimperialismus oder Antimilitarismus, und das von der PKK besetzte Themenpotenzial überschneiden. Die türkischen Militäroffensiven in Rojava seit 2016 lösten ein Zusammenrücken beider Lager aus. Bei der hauptsächlich von Kurdinnen und Kurden bevölkerten Region Rojava handelt es sich um ein Autonomiegebiet in Nordund Ostsyrien. Defend Kurdistan Ein Beispiel für die Zusammenarbeit mit der deutschen linksextremistischen Szene stellt die Gruppierung "Defend Kurdistan" dar. Vor dem Hintergrund des anhaltenden militärischen Konfliktes zwischen der Türkei und der PKK wurde die Gruppierung im Juni 2021 gegründet und ruft seither regelmäßig in Deutschland zu Protestaktionen auf. Getragen wird das Bündnis nicht nur durch Anhängerinnen und Anhänger der PKK, sondern auch von sogenannten Internationalisten aus dem linksextremistischen Personenspektrum. Seit dem Jahr 2022 ist die Gruppierung "Defend Kurdistan" bundesweit vor allem mit mehreren Besetzungsund Störaktionen von Büros politischer Parteien sowie der Organisation von Demonstrationen und Vortragsveranstaltungen aufgefallen. Am 17. Dezember 2022 veranstaltete der Kreisverband Nürnberg der Partei "Bündnis 90/Die Grünen" seine Weihnachtsfeier in einem Nürnberger Lokal unter Beteiligung verschiedener Mandatsträger. Kurz nach 19 Uhr betraten etwa 35 vermummte Personen das Lokal und verteilten Flugblätter, die sich mit dem türkischen Angriffskrieg gegen 132 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 die kurdische Bevölkerung und die angebliche Kooperation der deutschen Bundesregierung mit der Türkei und Iran beschäftigen. Neben einem Banner der Nürnberger Ortsgruppe "Defend Kurdistan" wurde vor Ort auch ein Transparent mit dem Logo der "Interventionistischen Linken" (IL) gezeigt. Die Nürnberger Ortsgruppe der IL berichtete auf Twitter über die Aktion. Im zugehörigen Bericht des der PKK nahestehenden Internetportals "ANF News" wurden zudem Fahnen mit dem Logo der "Antifa" sowie der YPG erwähnt. "Defend Kurdistan" erreicht mit ihrer politischen Agenda ein breites gesellschaftliches Spektrum. Bei den Aktionen der Gruppierung treten immer wieder Personen in Erscheinung, die als Sympathisanten oder Mitglieder deutscher sowie türkischer linksextremistischer Organisationen bekannt sind. Thematisch setzt sich die Gruppierung allerdings ausschließlich für die Interessen der PKK ein. Darunter fallen zum Beispiel öffentlichkeitswirksame Gedenken an gefallene PKK-Kämpfer (u. a. in Bremen, Stuttgart und Göttingen) oder Veranstaltungen, die in Kooperation mit Vereinen, die dem KON-MED angehören, durchgeführt werden und dabei eindeutig der Zielsetzung der PKK entsprechen. So hielt "Defend Kurdistan Bayern" u. a. in Kooperation mit dem "Demokratischen Kurdischen Gesellschaftszentrum München" im November einen Vortrag, in dem die kurdische Region Rojava als autonome Selbstverwaltung nach dem Vorbild der politischen Ideen Abdullah Öcalans und als Alternative für ein freies und selbstbestimmtes Leben aller Menschen propagiert wurde. In dem Aufruf zur Veranstaltung heißt es weiter: "Gemeinsam wollen wir darüber diskutieren was diese Perspektive für uns und für den Aufbau einer weltweiten Organisation der Jugend und Gesellschaft bedeutet." 3.2 Türkischer Rechtsextremismus Mitglieder Deutschland: 12.100 1 Bayern: ca. 1.150 Publikation Türk Federasyon Bülteni und Alperen/Alperen-Genclik 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 Der türkische Rechtsextremismus umfasst ein breites Spektrum ultranationalistischen, antisemitischen und rassistischen Gedankenguts. Eine herausragende Rolle nimmt hierbei die "Ülkücü"-Bewegung ("Idealisten"-Bewegung) ein, deren 133 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Auslandsbezogener Extremismus Ursprünge bereits auf die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zurückgehen. Vordenker aus dieser Zeit sind u. a. Alparslan Türkes und Hüseyin Nihal Atsiz. Die rechtsextremistische Ideologie der "Grauen Wölfe" basiert auf einer Überhöhung der Türkei und des Türkentums bei gleichzeitiger rassistischer Abwertung beispielsweise von armenischen, kurdischen und jüdischen Menschen. Des Weiteren ist diese Ideologie maßgeblich durch den Panturkismus bzw. Turanismus beeinflusst, der im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Dieser hatte die Gründung eines Großtürkenreiches unter der Bezeichnung "Turan" zum Ziel, welches - je nach Auslegung - ein Gebiet vom Pazifik bis nach Europa umfassen soll. Der Panturkismus basiert auf der Idee eines ethnisch homogenen Ursprunges aller Turkvölker; verbunden mit dem Bestreben, diese in einer gemeinsamen Heimat unter Führung der heutigen Türkei zu vereinen. Nationalistische Während der übersteigerte Nationalismus und die Vorstellung Komponenten eines ethnisch kohärenten, nur von Turkvölkern bewohnten türkischen Großreiches durchgängige Motive der "Ülkücü"Ideologie darstellen, ist die türkisch-islamische Komponente innerhalb der diversen Strömungen der Bewegung unterschiedlich ausgeprägt. Im Laufe der Zeit haben islamische und teilweise auch islamistische Elemente innerhalb der "Ülkücü"-Bewegung an Bedeutung zugenommen. Vor allem das seit den 1970er Jahren propagierte Konzept der "Türk-Islam sentezi" (deutsch: "Türkisch-Islamische Synthese") ist heute fester Bestandteil des türkischen Nationalismus. Hiernach werden Islam und Türkentum als unabdingbare Einheit dargestellt, religiöse und nationalistische Motive in teils stark verklärender Weise miteinander verwoben und auf das historische Osmanische Reich als Idealvorstellung projiziert. Das bekannteste Symbol der "Ülkücü"-Bewegung ist der "Graue Wolf", der gemäß unterschiedlichen Legenden als Schutztier aller Turkvölker gilt. Ein daran angelehntes Erkennungszeichen der Szene ist ein mit 5 Fingern stilisierter Wolfskopf, auch "Wolfsgruß" genannt. Mitunter wird dieses Handzeichen auch benutzt, um politische Gegnerinnen und Gegner beispielsweise bei öffentlichen Kundgebungen zu provozieren. Doch auch wenn das Zeigen des "Wolfsgrußes" ein Bekenntnis zur "Ülkücü"-Bewegung ist, muss nicht jede Person, die diesen Gruß zeigt, ein türkischer Rechtsextremist sein. 134 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Weitere häufig genutzte Symboliken von Anhängerinnen und Anhängern der "Ülkücü"-Ideologie sind der in Orchon-Runen gehaltene Schriftzug "Turk" (deutsch: "Türke" bzw. "türkisch"), die Zahlenfolge "1453", dem Jahr der Eroberung von Konstantinopel durch das Osmanische Reich, und die "Üc Hilal"-Flagge (deutsch: "Drei Halbmonde"), die im Osmanischen Reich u. a. als Kriegsflagge genutzt wurde und heutzutage als Parteilogo der rechtsextremistischen MHP dient. 3.2.1 Organisierte Ülkücü-Szene Der Großteil der "Ülkücü"-Bewegung in Deutschland und Bayern ist in großen Dachverbänden organisiert. Die zahlenmäßig stärkste Gefolgschaft weisen dabei die sogenannten "Kulturund Idealistenvereine" der "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e. V." (ADÜTDF, türkisch: "Almanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Federasyonu") aus. Die ADÜTDF wurde 1978 in Frankfurt am Main durch den Zusammenschluss von zahlreichen türkischen Vereinen gegründet. Sie gilt seit ihrer Gründung als Auslandsorganisation der MHP, dem politischen Arm der "Ülkücü"-Bewegung in der Türkei. Kulturund "Ülkücü"-Vereine sind in Bayern vor allem mit kulturellen, religiöIdealistenvereine der sen und sportlichen Veranstaltungen aktiv. Häufig werden diese ADÜTDF Veranstaltungen durch Szenesänger und -gruppen begleitet, wobei die dargebotenen Lieder stilistisch meist volkstümlicher türkischer Musik entsprechen. Inhaltlich sind die Liedbeiträge durch pathetische, patriotische und auf Heimatgefühle rekurrierende Motive geprägt. Nationalistische und rechtsextremistische Botschaften werden teils offen, teils aber auch in subtiler Form über die Musik transportiert. Ziel der "Ülkücü"-Vereine ist es, mit derartigen Events, die überwiegend in einem dezidiert familienaffinen Umfeld stattfinden, das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Szene zu stärken, potenzielle Gefolgsleute, insbesondere Kinder und Jugendliche, möglichst früh an die "Ülkücü"-Ideologie heranzuführen und nicht zuletzt auch Einnahmen für die beteiligten Organisationen zu generieren. Da über den fraktionsübergreifenden Antrag des Deutschen "Ülkücü"-Verbote Bundestages zum Verbot von Strukturen der "Grauen Wölfe" in Deutschland noch nicht entschieden wurde, agieren die Verantwortlichen der organisierten "Ülkücü"-Szene in Deutschland und in Bayern hinsichtlich der Durchführung öffentlichkeitswirksamer Veranstaltungen und Zurschaustellung "Ülkücü"-relevanter Symbolik weiterhin zurückhaltend. 135 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Auslandsbezogener Extremismus Reaktionen der Die unterschiedlichen öffentlichen Reaktionen von "Ülkücü"Bewegung auf Führungspersonen aus Deutschland und aus der Türkei bezügVerbotsdebatten lich der Verbotsdebatten belegen, dass die "Ülkücü"-Bewegung nach wie vor eine hybride Kommunikationsund Beeinflussungsstrategie verfolgt. Je nach anvisiertem Adressatenkreis erfolgt entweder die Anwendung einer taktisch gemäßigten Rhetorik, z. B. gegenüber der nicht-türkischen bzw. kritischen Öffentlichkeit, oder einer eindeutig aufwiegelnden Agitation im Falle von türkischen bzw. türkisch-rechtsextremistisch eingestellten Rezipientenkreisen): So bezeichnete der Vorsitzende der ADÜTDF, Sentürk Dogruyol, 2020 in öffentlichen Stellungnahmen zur deutschen Verbotsdebatte die ADÜTDF als Organisation, die "die Interessen Deutschlands immer als ihre eigenen betrachtet" habe und "alle Arten von Aktivitäten und Diskursen, die den sozialen Frieden gefährden könnten" sowie "provokative Interaktionen im Internet" stets vermieden habe. 3.2.2 Freie türkisch-rechtsextremistische Szene Ein nicht unerheblicher Teil der türkisch-rechtsextremistischen Szene ist vereinsmäßig ungebunden und agitiert verstärkt über soziale Netzwerke. Dabei kommt es mitunter nur noch zu vagen Bezugnahmen auf konkrete Elemente der "Ülkücü"-Ideologie. Dennoch beinhalten die Beiträge in den sozialen Medien erkennbar Elemente einer spezifisch türkisch-rechtsextremistischen Weltanschauung und lassen eine verfassungsschutzrelevante Agenda erkennen. Merkmale hierfür sind: 136 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 - die einseitige und überhöhte Darstellung des türkischen Staates und des türkischen Regierungshandelns bei gleichzeitiger Diffamierung deutscher Politikerinnen und Politiker sowie von Institutionen, - die Verächtlichmachung und Stilisierung türkeikritischer Personen aus den Bereichen Politik, Medien und Kultur zu Feindbildern, - die Verbreitung von Verschwörungstheorien sowie die Anwendung mitunter gewaltimplizierender Hassrede und Wort-Bild-Darstellungen. Deutsche Politikerinnen und Politiker werden zudem häufig der "Terrorismusunterstützung", etwa mit Verweis auf die PKK und deren Aktivitäten in Deutschland, sowie einer angeblichen "Hetze" oder "Feindlichkeit" gegenüber türkischen bzw. türkischstämmigen Menschen muslimischen Glaubens bezichtigt. In der Gesamtschau lässt sich oft die Absicht erkennen, staatliche Strukturen und politisch Verantwortliche in Deutschland zu delegitimieren, eine größtmögliche Spaltung innerhalb der deutschen Gesellschaft herbeizuführen sowie über das Internet Angstund Drohkulissen gegenüber Kritikern des türkischen Regierungshandelns zu schaffen. In letzter Konsequenz können sich diese rechtsextremistischen Agitationsund Verunglimpfungskampagnen auch gewaltinspirierend auf einzelne Szeneangehörige auswirken und in realweltliche Gewalttaten münden. 3.3 Türkischer Linksextremismus 3.3.1 DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) Mitglieder Deutschland: 650 1 Bayern: ca. 80 Gründung 1994 Publikation Yürüyüs (Marsch) 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 Die "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C, türkisch: "Devrimci Halk Kurtulus Partisi-Cephesi") ist in Deutschland seit 1998 verboten. Auslöser ihres Verbotes war eine Serie militanter Aktionen von DHKP-C-Aktivisten Mitte der 137 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Auslandsbezogener Extremismus 1990er Jahre u. a. gegen hiesige türkische Einrichtungen. Unter das Verbot fällt auch die Verbreitung der Publikation "Yürüyüs" (deutsch: "Marsch"). Seit 2002 wird die DHKP-C zudem auf der EU-Terrorliste geführt. Die DHKP-C wurde 1994 als Abspaltung der 1983 aufgrund terroristischer Aktivitäten durch den Bundesminister des Innern verbotenen Gruppierung "Devrimci-Sol" (deutsch: "Revolutionäre Linke") gegründet. Die DHKP-C versteht sich, wie die Ursprungsorganisation, als eine an den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus ausgerichtete revolutionäre Volksbewegung. Sie zählt zu den militantesten türkischen linksextremistischen Gruppierungen, die mithilfe einer bewaffneten Revolution auf die Zerschlagung des türkischen Staates zielen. Ziele ihrer Agitation sind die NATO, die USA sowie die Türkei und deren Gesellschaftsordnung. Die DHKP-C richtet sich damit gegen den Gedanken der Völkerverständigung und gefährdet die Innere Sicherheit und die öffentliche Ordnung sowie sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland. Anschläge in der Nachdem der DHKP-C-Gründer Dursun Karatas im Jahr Türkei 1999 in einem Strafverfahren gegen einen früheren Deutschlandverantwortlichen der DHKP-C eine "Gewaltverzichtserklärung" abgegeben hatte, wurden die Gewaltaktionen auf deutschem Boden nicht weiter fortgesetzt. Am bewaffneten Kampf in der Türkei wurde jedoch festgehalten. Ab Juni 2012 war in der Türkei eine neue Anschlagsoffensive der DHKP-C zu verzeichnen, im Zuge derer u. a. 2013 ein DHKP-C-Aktivist in Ankara einen Selbstmordanschlag im Eingangsbereich des US-amerikanischen Botschaftsgeländes durchführte. Der Attentäter hatte sich zuvor mehrere Jahre in Deutschland aufgehalten. An den Protesten gegen die Münchner Sicherheitskonferenz im Februar nahmen auch Mitglieder der türkischen Musikgruppe "Grup Yorum" auf dem Marienplatz in München teil. In diesem Zusammenhang wurden neben den musikalischen Beiträgen der Gruppe auch politische Forderungen verlautbart. "Grup Yorum", deren Lieder explizit verstorbenen Kämpferinnen Märtyrerkult und Kämpfern bzw. "Märtyrern" der DHKP-C gewidmet sind, ist auch außerhalb der Türkei bekannt und tourt regelmäßig durch Staaten mit einer großen türkischen und kurdischen Diaspora. In Erscheinung tritt "Grup Yorum" vor allem bei lokalen Veranstaltungen der DHKP-C. Der Verkauf von Konzertkarten, zugehörigen Bustickets sowie Tonträgern von "Grup Yorum" werden 138 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 u. a. zur Finanzierung der DHKP-C genutzt. Immer wieder wird den Bandmitgliedern die Mitgliedschaft in der DHKP-C vorgeworfen, was in der Türkei wiederholt zu Verhaftungen führt. Im Jahr 2020 verstarben 2 Bandmitglieder, Helin Bölek und Ibrahim Gökcek, an den Folgen eines Hungerstreiks (sog. Todesfasten). Während die meisten DHKP-C-Aktivitäten hauptsächlich in Metropolregionen außerhalb Bayerns stattfinden, wurden 2023 auch in Bayern vereinzelte Solidaritätsaktionen von DHKP-CUnterstützern festgestellt. Derartige Solidaritätskundgebungen führen auch zu Vernetzungen mit Sympathisanten des deutschen Linksextremismus. Für die Durchsetzung ihrer politischen Ziele befinden sich mehrere Aktivisten der Organisation in Deutschland seit Monaten in einem unbefristeten Hungerstreik. Zudem campierten die Aktivisten vor dem Bundesministerium der Justiz in Berlin, wo sie zeitweilig auch übernachteten. Überdies suchten die Anhängerinnen und Anhänger immer wieder politische Mandatsträger und Medienhäuser auf, um ihren Forderungen öffentlichkeitswirksam - beispielsweise in den sozialen Medien - Ausdruck zu verleihen. In diesem Zusammenhang kam es auch mehrfach zu inszenierten Fotos mit Abgeordneten des Deutschen Bundestages. Der sogenannte "Lange Marsch" der Organisation, bei dem für die Freilassung inhaftierter Mitglieder protestiert wird, zog im Februar u. a. auch durch Nürnberg, Augsburg und München. 3.3.2 Türkische Kommunistische Partei/MarxistenLeninisten (TKP/ML) Mitglieder Deutschland: 8001 Bayern: ca. 80 Gründung 1994 in der Türkei Publikation Partizan (Partisan) 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 Die "Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML, türkisch: "Türkiye Komünist Partisi/Marksist-Leninist") vertritt die Ideologie des Marxismus-Leninismus, ergänzt um die Ideen Mao Tse-tungs. Sie befürwortet den bewaffneten Kampf und propagiert den Bürgerkrieg als Mittel zur Erreichung 139 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Auslandsbezogener Extremismus ihres Zieles, der Errichtung eines kommunistischen Regimes in der Türkei. Sie unterhält in der Türkei die bewaffneten Teilorganisationen "Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee" (TIKKO, türkisch: "Türkiye Isci Köylü Kurtulus Ordusu") sowie die "Volksbefreiungsarmee" (HKO, türkisch: "Halk Kurtulus Ordusu"). Diese Gruppierungen verüben in der Türkei terroristische Anschläge, die sich in erster Linie gegen polizeiliche und militärische Einrichtungen wenden. Im Verlauf von bewaffneten Auseinandersetzungen ums Leben gekommene TKP/ML-Aktivisten werden als "Märtyrer" verehrt. Die TKP/ML wurde in den 1970er Jahren von Ibrahim Kaypakkaya in der Türkei gegründet und durchlief seither zahlreiche Spaltungen und Umbenennungen, jeweils unter Beibehaltung der marxistisch-leninistischen und gewaltorientierten Ausrichtung. In Deutschland ist die Anhängerschaft der TKP/ML seit 1997 in den beiden Basisorganisationen "Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e. V." (ATIF, türkisch: "Almanya Türkiyeli Isciler Federasyonu"), gegründet 1976, und in der Ende 1986 gebildeten "Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa" (ATIK, türkisch: "Avrupa Türkiyeli Isciler Konfederasyonu") organisiert. Beide Vereinigungen präsentieren sich als Massenorganisationen und tarnen ihre Verbindungen zur TKP/ML. Sie beschränken sich in Deutschland auf Propagandaaktivitäten und auf die Beschaffung finanzieller Mittel. Interne Streitigkeiten führten zu einer Spaltung der TKP/ML, aus der in den Jahren 2019/2020 2 eigenständige Organisationen mit nahezu gleichen Bezeichnungen hervorgingen: Die "Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) und die neue "Türkische Kommunistische Partei-Marxisten-Leninisten" (TKP-ML). Beide Organisationen sind unverändert fest im ideologischen Fundament Kaypakkayas verankert. 140 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Am 28. Juli 2020 hatte das Oberlandesgericht München nach über 4 Jahren Verhandlungsdauer 10 Funktionäre der TKP/ML wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland und in einem Fall wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland gemäß SS 129a und SS 129b StGB zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Urteile sind rechtskräftig, die Revision wurde am 4. April vom Bundesgerichtshof verworfen. Am 18. Februar waren im Rahmen der Demonstrationen gegen die Münchner Sicherheitskonferenz zahlreiche Personen samt den szenetypischen Fahnen von TKP/ML-Teilorganisationen feststellbar. Zumeist wurden auf den Demonstrationen Fotos gemacht, die dann öffentlichkeitswirksam in den sozialen Netzwerken publiziert wurden. Neben der Beteiligung an öffentlichen Demonstrationen kam es von März bis Mai bundesweit zu mehreren öffentlich beworbenen Filmvorführungen über das Leben eines kommunistischen "Märtyrers" der TKP/ML. 2 der in diesem Zusammenhang abgehaltenen Veranstaltungen fanden in Nürnberg und Neu-Ulm statt. Im Mai wurde anlässlich des 50. Todestages von TKP/MLGründer Ibrahim Kaypakkaya eine Gedenkveranstaltung außerhalb Bayerns abgehalten. Zur Anreise wurden Reisebusse organisiert, die u. a. die Städte Regensburg, Straubing und Nürnberg anfuhren. In Bayern war 2023 zudem die TKP/ML-Jugendorganisation "Neue Demokratische Jugend" (YDG, türkisch: "Yeni Demokrat Genclik") aktiv. Mehrfach partizipierte die Organisation u. a. an Klimademonstrationen. Ferner rief die YDG zum Protest gegen die Münchner Sicherheitskonferenz auf und war auch auf dem sogenannten "Antikriegstag" im September in Nürnberg anwesend. 141 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Rechtsextremismus Rechtsextremismus hat viele verschiedene Ausprägungen: Parteien kämpfen um Einfluss in Parlamenten, Publizisten versuchen rassistisches und nationalistisches Gedankengut intellektuell zu verpacken, rechtsextremistische Antisemiten diffamieren Menschen jüdischen Glaubens als Urheber aller Probleme oder Krisen und Neonazis bekennen sich offen zum Nationalsozialismus. Während die einen teilweise aggressiv und kämpferisch auftreten, versuchen andere durch die Gründung von Tarnorganisationen und die Verwendung von Chiffren und Codes ihre wahren Absichten zu verschleiern. Kennzeichnend für alle rechtsextremistischen Strömungen ist jedoch eine Ideologie der Ungleichwertigkeit der Menschen. Der Rechtsextremismus geht davon aus, dass die Zugehörigkeit zu einer "Ethnie", "Nation" oder "Rasse" den Wert eines Menschen und auch seine Rechte bestimmt. Das rechtsextremistische Gesellschaftsideal ist eine ethnisch-kulturell oder ethnisch-biologistisch begründete homogene "Volksgemeinschaft". Diese Konzeption steht im fundamentalen Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes. Die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz, das Demokratieprinzip, Meinungsund Glaubensfreiheit und andere fundamentale 142 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Grundrechte werden von Rechtsextremisten mal mehr, mal weniger offen abgelehnt. In der Folge prägen Rassismus, Antisemitismus, Geschichtsrevisionismus und Demokratiefeindlichkeit die rechtsextremistische Agitation. Rassistisch begründet ist auch der vor allem von der "Neuen Rechten" propagierte "Ethnopluralismus". Dieser gibt vor, die Identität des eigenen Volkes durch die räumliche und kulturelle Trennung unterschiedlicher "Ethnien" schützen zu wollen. 143 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus 1. PERSONENPOTENZIAL IN BAYERN Parteien1 2021 2022 2023 JA 2 100 70 350 NPD/Die Heimat 480 450 430 Der Dritte Weg 160 150 155 Parteiunabhängige bzw. parteiungebundene 570 555 570 Strukturen3 Weitgehend unstrukturiertes rechts1.460 1.410 1.310 extremistisches Personenpotenzial4 Summe 2.770 2.650 2.815 Mehrfachzählungen5 70 60 90 Gesamtzahl 2.700 2.590 2.725 Neonazis von der Gesamtzahl 730 690 710 Gewaltorientierte Personen von der Gesamtzahl 6 1.075 1.070 1.030 Die Zahlen sind geschätzt und gerundet. 1 Die Beobachtung der AfD erfolgt um zu klären, ob die AfD als Gesamtpartei aktuell von einer verfassungsfeindlichen Grundtendenz beherrscht wird. Der Beobachtungsauftrag umfasst dabei nicht sämtliche Funktionäre und Mitglieder. 2 Eigenangabe der JA. 3 Dazu zählen Personen in rechtsextremistischen Zusammenschlüssen und Vereinen, beispielsweise in subkulturell geprägten Gruppen oder in neonazistischen Kameradschaften; als Kategorie neu eingeführt im Jahr 2017. 4 Dazu zählen beispielsweise rechtsextremistische Internetaktivisten oder rechtsextremistische Strafund Gewalttäter; als Kategorie neu eingeführt im Jahr 2017. 5 Mehrfachzählungen werden vom Gesamtpotenzial abgezogen. 6 Dazu zählen gewalttätig, gewaltbereit, Gewalt unterstützend und Gewalt befürwortend. Personenpotenzial in Das rechtsextremistische Personenpotenzial in Bayern belief Bayern sich Ende 2023 auf insgesamt 2.725 Personen (2022: 2.590). Darunter waren rund 710 Neonazis (2022: 690). Das rechtsextremistische Personenpotenzial wird in den folgenden 3 Kategorien erfasst: - Parteien - parteiunabhängige bzw. parteiungebundene Strukturen - weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial 144 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 In 2023 wurden in Bayern insgesamt 935 Mitglieder und Sympathisanten rechtsextremistischer Parteien und parteinaher Gruppen erfasst. Die Kategorie der parteiunabhängigen bzw. parteiungebundenen Strukturen umfasst Personen in rechtsextremistischen Zusammenschlüssen und Vereinen, beispielsweise in subkulturell geprägten Gruppen oder in neonazistischen Kameradschaften. In 2023 zählten hierzu insgesamt rund 570 Personen (2022: 555). Dem weitgehend unstrukturierten rechtsextremistischen PersoLeichter Rückgang nenpotenzial werden Szeneangehörige zugeordnet, die keiner bei unstrukturiertem Partei oder Organisation (mehr) zugerechnet werden können. Personenpotenzial Hierzu zählen beispielsweise Personen, die rechtsextremistische Strafund Gewalttaten begangen haben oder rechtsextremistische Aktivitäten im Internet verfolgen sowie subkulturell geprägte Einzelpersonen. Diesem Personenpotenzial werden in Bayern etwa 1.310 Personen (2022: 1.410) zugerechnet. Dabei geht insbesondere das im Internet aktive unstrukturierte Personenpotenzial weit über das bekannte parteiund organisationsgebundene rechtsextremistische Spektrum hinaus und ist zahlenmäßigen Schwankungen unterworfen. Das Internet wird von rechtsextremistischen Einzelpersonen dazu genutzt, extremistische Inhalte zu verbreiten, um ihre verfassungsfeindliche Ziele zu verwirklichen. Sie wollen ein Klima von Misstrauen und Hass gegenüber Flüchtlingen und Andersdenkenden, aber auch gegenüber etablierten Medien, staatlichen Einrichtungen und dem demokratischen Prozess schaffen. Soziale Medien bieten diesen Einzelpersonen niedrigschwellige Möglichkeiten, in virtuellen Räumen verfassungsfeindliche Propaganda zu betreiben, sich zu vernetzen und Aktionen zu planen, die im äußersten Fall zur Begehung von schweren Straftaten in der Realwelt, wie Angriffen gegen Repräsentanten des Staates und der Politik, führen können. 145 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus 2. GEWALTPOTENZIAL Gewaltkult Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, verbunden mit Hass und Ablehnung von Demokratie und pluralistischer Gesellschaft, bilden den Nährboden für rechtsextremistische Gewalttaten. Die Abwertung und die Entmenschlichung von Menschen und Menschengruppen fördern ein Sinken der Hemmschwelle zur Gewaltanwendung. Der in Teilen der Szene gepflegte Gewaltkult, der mit der Verherrlichung von "kriegerisch-soldatischer Tugend" einhergeht, wirkt sich ebenfalls begünstigend auf Gewaltbefürwortung und -anwendung aus. Häufig erfolgen rechtsextremistische Gewalttaten aus einer Situation heraus, in der Angehörige der rechtsextremistischen Szene - einzeln oder in kleinen Gruppen - auf Personen treffen, die den typischen rechtsextremistischen Feindbildern entsprechen. Allerdings gibt es auch immer wieder Zusammenschlüsse von Personen, die auf eine geplante Begehung von Gewalttaten abzielen. Haftstrafen gegen Am 13. April 2021 begann der Prozess gegen die mutmaßlichen Mitglieder der Mitglieder einer als "Gruppe S." bezeichneten rechtsterroris"Gruppe S." tischen Vereinigung vor dem OLG Stuttgart. Der Gruppe wurde vorgeworfen, Anschläge auf Politikerinnen und Politiker, Asylbewerber und Personen muslimischen Glaubens geplant zu haben, um so "bürgerkriegsähnliche Zustände" in Deutschland zu provozieren. Am 30. November wurde der Rädelsführer aus der Nähe von Augsburg zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Auch gegen weitere Mitglieder und Unterstützer der Gruppe ergingen Haftstrafen, teils auf Bewährung. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Ermittlungen gegen Die Bundesanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen die "Vereinte Patrioten" "Vereinten Patrioten" übernommen, denen vorgeworfen wird, eine terroristische Vereinigung gegründet zu haben. Die Gruppe besteht aus 5 Hauptbeschuldigten, darunter auch 1 Angeklagter aus Bayern. Er soll neben Sprengstoffanschlägen auch die Entführung des Bundesgesundheitsministers geplant haben. Ziel der Gruppe sei es laut Bundesanwaltschaft gewesen, bürgerkriegsähnliche Zustände in Deutschland auszulösen und somit einen Sturz der parlamentarischen Demokratie zu befördern. Vorausgegangen waren Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz, in deren Rahmen auch 3 Objekte in Bruckberg im Landkreis Landshut, in München und in Pottenstein im Landkreis Bayreuth durchsucht wurden. Im Oktober kam es bundesweit zu weiteren Durchsuchungen in 6 Ländern, in Bayern wurde 1 weitere Person festgenommen. Im Februar 2024 befanden sich noch 2 bayerische Beteiligte in Haft. 146 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremistisch motivierte Strafund Gewalttaten Straftaten mit extremistischem Hintergrund aus dem Bereich "Politisch motivierte Kriminalität - rechts" Politisch motivierte Gewaltdelikte 2021 2022 2023 Tötungsdelikte (auch Versuch) 1 1 1 Körperverletzungen 45 20 44 Brandund Sprengstoffdelikte 0 1 3 Landfriedensbruch 0 0 0 Raub 1 0 0 1 Widerstandsdelikte 4 1 2 Erpressung 2 0 0 Sonstige Gewalttaten 11 0 11 Gesamt 53 23 52 Kriminelle Vereinigung/Terrorismus 4 2 0 Sonstige Straftaten Sachbeschädigungen 38 17 25 Propagandadelikte 978 505 165 Nötigung/Bedrohung 30 9 19 Volksverhetzung 528 190 171 Sonstige Straftaten 119 41 44 Gesamt 1.693 762 424 Straftaten insgesamt 1.750 787 476 1 Ein gefährlicher Eingriff in den Bahn-, Schiffs-, Luftund Straßenverkehr Gewalttaten 2023 wurden in Bayern 52 rechtsextremistisch motivierte Gewaltdelikte registriert (2022: 23). Dabei handelt es sich überwiegend um Körperverletzungsdelikte (44). Von den 52 Gewalttaten waren 47 (2022: 18) fremdenfeindlich motiviert. Bei 3 der Gewaltdelikte lag eine antisemitische Motivation zugrunde (2022: 2). Insgesamt konnten 43 Gewalttaten aufgeklärt werden, dabei wurden insgesamt 45 männliche Tatverdächtige ermittelt. 147 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Sonstige Straftaten In Bayern wurden 2023 insgesamt 424 (2022: 762) sonstige rechtsextremistische Straftaten (ohne Gewalttaten) sowie keine Delikte der Bildung einer kriminellen Vereinigung/des Terrorismus gezählt (2022: 2). Davon waren 244 fremdenfeindlich (2022: 246) und 118 antisemitisch motiviert (2022: 141). In den meisten Fällen handelte es sich um Propagandadelikte (2023: 165, 2022: 505), aber auch um Volksverhetzung (2023: 171, 2022: 190) und Sachbeschädigungen (2023: 25, 2022: 17). Volksverhetzungsdelikte richteten sich insbesondere gegen Migranten, vermeintlich "ausländisch" aussehende Bürger sowie gegen Menschen jüdischen Glaubens. Häufig sind diese Straftaten auch mit einem gewalttätigen Vorgehen der Täter verbunden. 3. STAATLICHE MASSNAHMEN 3.1 Lagebild "Rechtsextremisten, 'Reichsbürger' und 'Selbstverwalter', Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates in Sicherheitsbehörden" Die Bundesministerin des Innern und für Heimat hat für das 2. Quartal 2024 die Vorstellung des 3. bundesweiten Lagebildes "Rechtsextremisten, 'Reichsbürger' und 'Selbstverwalter', Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates in Sicherheitsbehörden" für den Erhebungszeitraum 1. Juli 2021 bis 31. Dezember 2022 angekündigt. Nach dem im Mai 2022 veröffentlichten 2. Lagebild zu "Rechtsextremisten, 'Reichsbürgern' und 'Selbstverwaltern' in Sicherheitsbehörden" wurde die Erhebung im 3. Lagebild auf den Phänomenbereich Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates ausgeweitet. Besonders im Fokus stehen Verstöße gegen die Treuepflicht gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, gegen die Pflicht zur politischen Mäßigung und gegen die allgemeine Wohlverhaltenspflicht sowie vergleichbare Pflichtverletzungen im Dienstbzw. Arbeitsverhältnis. Im Rahmen dieses 3. Lagebildes wurden in Bayern 31 Verdachtsfälle (bei rund 45.000 Beschäftigten in bayerischen Sicherheitsbehörden) erhoben, bei denen disziplinarrechtliche oder arbeitsrechtliche Maßnahmen bereits eingeleitet wurden und der Verdacht auf rechtsextremistische Verhaltensweisen besteht. 148 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Von den damit verbundenen Disziplinarund arbeitsrechtlichen Verfahren wurden bis zum Stichtag 7 Verfahren eingestellt oder beendet. Dabei kam es zu folgenden disziplinarischen und arbeitsrechtlichen Maßnahmen: Verweis, Geldbuße und Abmahnung. 3.2 Prävention Grundlage der Beschäftigung im öffentlichen Dienst ist ein klares Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung, deren Werte auf allen Ebenen von der Einstellung bis zum Ruhestand, u. a. im Rahmen von Fortbildungen, vermittelt werden und im Dienstbetrieb gelebt werden müssen. Hinsichtlich der Bearbeitung von Verdachtsfällen mit Bezügen zum Rechtsextremismus, der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene und zur verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates im öffentlichen Dienst wurde in bayerischen Sicherheitsbehörden ein umfangreiches Maßnahmenpaket geschnürt. Dies enthält zum einen die Präventionsarbeit mit Fokus auf Aufklärung und Vorbeugung, zum anderen umfasst es die Detektion über Informationsgewinnung und Früherkennung von Radikalisierungsverläufen. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz wirkt auf unterschiedlichen Ebenen an den Maßnahmen zur Erkennung extremistischer Verhaltensweisen mit und stimmt diese mit den beteiligten Behörden ab. Sowohl Angehörige der Bayerischen Informationsstelle geFortbildungsangegen Extremismus (BIGE) als auch Expertinnen und Experten bote von BIGE und des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz sind in BayLfV die Ausund Fortbildung bayerischer Polizeikräfte eingebunden. Im Rahmen von Vorträgen informieren sie über Erscheinungsformen des Rechtsextremismus, der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene, der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates, über Aufgaben und Rechtsgrundlagen des Verfassungsschutzes, über die Grundsätze der wehrhaften Demokratie sowie über Einzelthemen (z. B. zur "Neuen Rechten" oder Verschwörungstheorien im rechtsextremistischen Kontext). Seit dem Frühjahr 2021 erfolgt bei sämtlichen Bewerberinnen und Regelanfrage Bewerbern für die Fachlaufbahn Polizei und Verfassungsschutz mit deren Einverständnis eine Regelanfrage beim Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz. Bestehen aufgrund bekannt gewordener Tatsachen nicht auflösbare Zweifel daran, dass Bewerberinnen oder Bewerber jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten, dürfen die betreffenden Personen nicht in den Polizeidienst eingestellt werden. 149 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus 3.3 Bekämpfung von Hass-Postings Während der Corona-Pandemie war eine verstärkte Nutzung des Internets durch die rechtsextremistische Szene festzustellen. Insbesondere über den Messengerdienst Telegram verbreiteten Szenemitglieder verfassungsfeindliche Inhalte und HassPostings, u. a. Verschwörungstheorien zum Ursprung des neuartigen Corona-Virus oder Hetze gegen Asylsuchende, welche sie für die Verbreitung des Virus verantwortlich machten. Unter Hass-Postings versteht man verschiedene Formen menschenverachtender oder beleidigender Äußerungen im Internet, die sich mit großer Aggressivität gegen Einzelpersonen oder bestimmte Menschengruppen und deren Weltanschauungen, Werte oder Herkunft richten und z. T. Straftatbestände erfüllen. Politisch motiviert sind solche Straftaten, wenn in Würdigung der Umstände der Tat oder der Einstellung der Täter Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass sich diese wegen tatsächlich vorhandenen oder auch nur zugeschriebenen Merkmalen (wie z. B. Religion, sexuelle Orientierung oder Nationalität) kausal gegen eine oder mehrere Personen, Gruppen oder Institutionen richten. Um den regulatorischen Druck auf die Betreiber von Plattformen und Netzdiensten zu erhöhen und diese zu einem konsequenteren Vorgehen gegen strafbare und extremistische Inhalte auf ihren Seiten zu bewegen, verabschiedete der Bundestag am 30. Juni 2017 das "Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken" (Netzwerkdurchsetzungsgesetz - NetzDG). Es verpflichtet die Betreiber sozialer Netzwerke unter Androhung von Bußgeldern zur Löschung derartiger Inhalte. Die Umsetzung des NetzDG hatte unmittelbare Auswirkung auf die Onlineaktivitäten rechtsextremistischer Gruppen in Bayern und führte u. a. zu Sperrungen von entsprechenden Profilen und Kanälen. Am 6. Mai 2021 verabschiedete der Bundestag eine Novellierung des NetzDG. Ziel der Gesetzesänderung ist es, die Bekämpfung strafbarer Hassrede auf den Plattformen sozialer Netzwerke weiter zu verbessern und transparenter zu machen. 3.4 Vereinsverbote Verbot der Mit Wirkung vom 19. September hat das Bundesministerium "Hammerskins des Innern und für Heimat (BMI) die rechtsextremistische VerDeutschland" einigung "Hammerskins Deutschland" verboten. Das Verbot schließt die einzelnen regionalen Chapter sowie die Teilorganisation "Crew 38" mit ein. Grundlage für das Verbot ist die Ausrichtung der Gruppierung gegen die verfassungsmäßige Ordnung 150 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 und gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Zudem verstoßen Zweck und Tätigkeit des Vereins gegen die Strafgesetze, insbesondere durch Begehung bzw. fortwährende Ermöglichung von Straftaten wie Volksverhetzung (SS 130 StGB) oder das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (SS 86a StGB) bei den von den "Hammerskins Deutschland" organisierten rechtsextremistischen Konzerten. Am 19. September erfolgten in 10 Bundesländern bei insgesamt 28 Personen Hausdurchsuchungen mit dem Ziel der Sicherstellung von Vereinsvermögen und weiterer Beweise für die Verbotswürdigkeit der "Hammerskins Deutschland". Davon fanden 3 Durchsuchungen in Bayern statt. Die 1988 in den USA gegründeten "Hammerskins" propagieren ein rassistisches und z. T. nationalsozialistisches Weltbild und sehen sich als Elite der rechtsextremistischen Skinheads. Weltweit in die Schlagzeilen gerieten die "Hammerskins", als der 40-jährige Wade Michael Page am 5. August 2012 in Oak Creek (Wisconsin) in einem Sikh-Tempel 6 Menschen niederschoss und anschließend selbst von einem Polizisten getötet wurde. Page war Anhänger der US-amerikanischen "HammerskinBewegung". Die "Hammerskins" sind in vielen Staaten mit "Divisionen" vertreten. Europaweit bestehen als regionale Untergliederungen rund 25 "Chapter", deren Aktivitäten sich größtenteils auf die Organisation von rechtsextremistischen Konzerten und Veranstaltungen sowie die Selbstorganisation der "Hammerskin-Bewegung" beschränken. Der "HammerskinDivision Deutschland" gehörten in Bayern das "Chapter Bayern" und das "Chapter Franken" an. Mit Wirkung vom 27. September verbot das BundesminisVerbot der terium des Innern und für Heimat den rechtsextremistischen "Artgemeinschaft Verein "Die Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Ge- - Germanische Glaumeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V." (AG-GGG) bens-Gemeinschaft und sämtliche Teilorganisationen. Der Verein richtet sich gegen wesensgemäßer die verfassungsmäßige Ordnung und - insbesondere aufgrund Lebensgestaltung antisemitischer Inhalte - auch gegen den Gedanken der Völkere.V." verständigung. In Bayern fanden Durchsuchungen bei 8 Mitgliedern an insgesamt 5 Wohnobjekten in Oberbayern, Mittelfranken und Unterfranken statt. In 11 weiteren Bundesländern erfolgten ebenfalls Durchsuchungen. Maßgeblich hierfür waren insbesondere Erkenntnisse des Bundesamtes für Verfassungsschutz sowie der Verfassungsschutzbehörden der Länder. 151 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Bei der AG-GGG handelt es sich um eine bundesweit aktive neonazistische, neuheidnische und religiös-völkische Organisation. Sie bildet eine wichtige Schnittstelle für die gesamtdeutsche Neonaziszene. Die Ideologie der Organisation - von den Mitgliedern "Artglaube" genannt - geht von der Überlegenheit einer nordisch-germanischen "Menschenart" aus. Neben dieser rassistischen Grundannahme umfasst die Ideologie auch völkische, sozialdarwinistische und antisemitische Elemente. Zudem ist eine Orientierung am Weltbild des historischen Nationalsozialismus feststellbar. Die Gruppierung veranstaltet in erster Linie interne germanisch-neuheidnische Feiern sowie Gemeinschaftstage, um ihre Ideologie innerhalb ihrer Anhängerschaft zu verbreiten und zu festigen. Durch die Vereinsverbote ist jede Fortführung der Vereinsaktivität untersagt. Es ist auch verboten, Kennzeichen der Vereine einschließlich ihrer Teilorganisationen für die Dauer der Vollziehbarkeit des Verbotes öffentlich, in einer Versammlung oder in Schriften, Ton und Bildträgern, Abbildungen oder Darstellungen, die verbreitet werden oder zur Verbreitung bestimmt sind, zu verwenden. Die Verbote sind noch nicht rechtskräftig. 3.5 Waffenentzug Im Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Dezember 2023 haben die Waffenbehörden gegen 28 Personen aus dem Phänomenbereich "Rechtsextremismus" Verfahren zum Widerruf der waffenrechtlichen Erlaubnisse eingeleitet. In 15 Fällen wurde ein Widerrufsbescheid erlassen, in 11 Fällen wurden die waffenrechtlichen Erlaubnisse vor Erlass eines förmlichen Bescheids freiwillig zurückgegeben. Zum 31.12.2023 waren 8 eingeleitete Verfahren noch nicht abgeschlossen. Insgesamt wurden 33 waffenrechtliche Erlaubnisse widerrufen oder freiwillig zurückgegeben, hierbei waren 31 Waffen betroffen, die an Berechtigte abgegeben oder von den Waffenbehörden sichergestellt wurden. Zusätzlich haben die Waffenbehörden gegen insgesamt 16 Personen ein Waffenbesitzverbot ausgesprochen; bei 6 dieser Personen gleichzeitig mit dem Widerruf der waffenrechtlichen Erlaubnisse, bei den übrigen 10 Personen ohne vorherigen Besitz waffenrechtlicher Erlaubnisse. 152 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 4. RECHTSEXTREMISTISCHE THEMENFELDER UND AKTIONSFORMEN Im Rechtsextremismus treten die nationalistischen, rassistischen, fremdenfeindlichen, antisemitischen und geschichtsrevisionistischen Ideologieelemente in unterschiedlichen Ausprägungen auf. Dabei herrscht die Auffassung vor, die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder Rasse entscheide über den Wert eines Menschen. Dieses rechtsextremistische Werteverständnis steht in einem fundamentalen Widerspruch zum Grundgesetz, das die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt. Angehörige der rechtsextremistischen Szene versuchen, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft unter Herausstellung angeblich positiver Leistungen zu rechtfertigen, Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime zu diffamieren und die Verbrechen des Dritten Reiches zu verschweigen, zu verharmlosen oder sogar zu leugnen (Geschichtsrevisionismus). Zusätzlich verunglimpfen sie den demokratischen Verfassungsstaat und seine Repräsentanten, indem sie beispielsweise Deutschland als Marionettenstaat ausländischer, insbesondere US-amerikanischer, Interessen darstellen. Deutsche Politikerinnen und Politiker diffamieren sie dabei regelmäßig als korrupte Handlanger ausländischer Interessen. Die eigene Organisation und ihre Vertreter werden als die alleinigen Garanten für die Wahrung der Interessen des deutschen Volkes inszeniert. Demgegenüber diskreditieren sie ihre politischen Gegner als Verräter, die mit krimineller Energie systematisch den Interessen der Bevölkerung schaden würden. Hinzu kommt die pauschale Überhöhung der Interessen der "Volksgemeinschaft" zu Lasten der Interessen und Rechte des Individuums, die zu einer Aushöhlung der Grundrechte führt (völkischer Kollektivismus). Diese Vorstellungen und Ziele stehen im Widerspruch zu den Wertvorstellungen des Grundgesetzes und den Kernelementen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. 4.1 Rechtsextremistische Themenfelder Antisemitismus Basierend auf der Arbeitsdefinition der "International Holocaust Remembrance Alliance" (IHRA) orientiert sich die bayerische Staatsregierung an folgender Begriffsbestimmung: 153 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein. Rassistischer Antisemitismus spielt als Ideologieelement im Rechtsextremismus Antisemitismus eine zentrale Rolle. Dabei kann er in unterschiedlichen Formen zum Ausdruck kommen. Werden Menschen jüdischen Glaubens angeblich genetisch bedingte, "unabänderliche" - meist negative - Eigenschaften zugeschrieben, wird von rassistischem Antisemitismus gesprochen. Während dieser vor allem in neonazistischen Kreisen noch immer propagiert wird, hat seine Bedeutung als Agitationsmuster im Rechtsextremismus insgesamt abgenommen. Sozialer und Der soziale und politische Antisemitismus hat dagegen an politischer AntiRelevanz gewonnen. Diese Form des Antisemitismus kommt semitismus in verschwörungstheoretischen Agitationsmustern zum Ausdruck, die Medien und Politik in den Fängen konspirativer "jüdischer Banker" wähnen oder von einer im Geheimen agierenden "jüdischen Weltregierung" ausgehen. Dabei werden "die Juden" als einflussreiche und im Hintergrund agierende Gruppe dargestellt, die Regierungen, Medien und die Finanzindustrie kontrolliere. Menschen jüdischen Glaubens werden pauschal für komplexe gesellschaftliche und politische Probleme verantwortlich gemacht, indem ihr angeblicher Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen künstlich überhöht wird. So versuchen Angehörige der rechtsextremistischen Szene mittels antisemitischer Propaganda für breitere Gesellschaftsgruppen anschlussfähig zu werden. Antisemitische Bei der extremistischen "Neuen Rechten" zählt offener AntiAnklänge bei semitismus zwar nicht zu den ideologischen Grundmerkmalen. "Neuer Rechte" Allerdings finden sich bei einzelnen Akteuren Anhaltspunkte, die auf einen - vorwiegend durch Verschwörungstheorien begründeten - Antisemitismus hindeuten. Dies wird besonders bei der Verschwörungstheorie des "Great Reset" (deutsch: "Der große Neustart" oder "Der große Umbruch") deutlich. Demnach sei die Corona-Pandemie von "Globalisten", "den Eliten" oder "der Hochfinanz" geplant und inszeniert worden, um eine globale Umstrukturierung unter Vernichtung nationaler Völker 154 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 und Regierungen umzusetzen. Stattdessen solle eine totalitäre "Neue Weltordnung" implementiert werden. Diese in unterschiedlichen Varianten vorgebrachte Verschwörungstheorie ist mittlerweile ein zentrales Ideologem rechtsextremistischer Akteure, u. a. der "Identitären Bewegung Deutschland" (IBD), des "COMPACT-Magazins" und des Vereines "Ein Prozent e. V.". Innerhalb des gewaltorientierten Rechtsextremismus ist Antisemitismus, insbesondere antisemitische Verschwörungstheorien, ein prägendes Element. Das zeigt sich exemplarisch bei der in 2020 durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat verbotenen neonazistischen und gewaltorientierten Gruppe "Wolfsbrigade 44" (vormals "Sturmbrigade 44"). Angehörige dieser Gruppierung bezeichnen die Bundesrepublik Deutschland als "Judenrepublik" und identifizieren sich mit Adolf Hitler und seinen Zielen. Auch für die neonazistische Kleinstpartei "Der Dritte Weg" Antizionismus (III. Weg) bildet ein expliziter Antisemitismus ein prägendes Ideologiemerkmal, das sich in ihrer Agitation niederschlägt. Die Leugnung des Holocausts, wie auch die Behauptung, die Erinnerung an den Massenmord an Menschen jüdischen Glaubens sei nur eine Strategie zur Schwächung der nationalen Identität, stellen eine weitere, als sekundärer Antisemitismus bezeichnete Form von Judenfeindlichkeit dar. Darüber hinaus kann Antisemitismus im Gewand des Antizionismus auftreten. Dabei nutzen Extremisten die im politischen und gesellschaftlichen Alltag geäußerte Kritik an der Politik Israels, um die Existenzberechtigung des Staates Israel infrage zu stellen. Antisemitismus kann demnach unterschiedliche AusprägunAntijüdische gen annehmen und beschränkt sich nicht auf offenen Hass und Metaphern und Gewalt gegen Juden. Angehörige der rechtsextremistischen Bildsprache Szene sprechen beispielsweise häufig zwar nicht direkt von "den Juden", sondern nutzen Chiffren und Metaphern, um den antisemitischen Kern ihrer Propaganda zu verschleiern. Beispiele hierfür sind Verweise auf die "amerikanische Ostküste", eine "zionistische Lobby" oder eine "Hochfinanz", die als Verantwortliche für geheime Machenschaften genannt werden. So wird dem US-amerikanisch-ungarischen Milliardär jüdischen Glaubens George Soros in antisemitischen Verschwörungstheorien unterstellt, als Kopf einer "jüdischen Finanzelite" u. a. gezielt die Masseneinwanderung nach Europa zu befördern. Auch werden negativ besetzte Bilder, die Juden als "Marionettenspieler" oder "Spinnen" zeigen, für antisemitische Agitation eingesetzt. Diese bereits im Nationalsozialismus verwendete Bildsprache soll die angebliche Verschwörung von Menschen jüdischen 155 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Glaubens zum Erreichen der Weltherrschaft verdeutlichen. Die alte Verschwörungstheorie einer "jüdischen Weltherrschaft" wird dabei immer weitergesponnen, regelmäßig erneuert und um zeitgenössische und regionale Elemente ergänzt. Während der Corona-Pandemie wurden bereits bekannte Unterstellungen wieder aufgegriffen und u. a. behauptet, dass "die Juden" an der Verbreitung sämtlicher Krankheiten Schuld seien und die zugehörigen Impfstoffe mit böswilligen Absichten entwickelt hätten. Im Rahmen der Proteste gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie kam es in sozialen Medien und auf Versammlungen immer wieder zu Vergleichen zwischen den Corona-Impfungen und Menschenversuchen im III. Reich oder sogar dem Holocaust. Bei Protesten waren wiederholt verfremdete "Judensterne" zu sehen, wie sie jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger unter der NS-Diktatur ab 1941 tragen mussten. Derartige Bezugnahmen auf die Judenverfolgung im NS-Regime sollen die angebliche Opferposition der Nichtgeimpften bzw. der Impfgegner zeigen und können zugleich eine Verharmlosung des Holocaust darstellen. Reaktion auf NahostDer am 7. Oktober durch den Überfall der islamistischen Terkonflikt rororganisation "HAMAS" ausgelöste Einmarsch israelischer Streitkräfte in den Gazastreifen bietet dem Antisemitismus eine neue Projektionsfläche. Die rechtsextremistische Szene nimmt bei diesem Thema fast geschlossen eine israelfeindliche Position ein. Teilweise wird der aktuelle Nahostkonflikt mit der rechtsextremistischen Verschwörungstheorie des "Großen Austausches" verbunden. Im Kontext des israelischen Militäreinsatzes gegen die "HAMAS" wird dieses Narrativ antisemitisch aufgeladen und den "Juden" sowohl die Schuld am Krieg, als auch an den angeblich hieraus resultierenden Migrationsbewegungen zugeschrieben. Agitation und Gewalt gegen Asylsuchende Das rassistische Weltbild der rechtsextremistischen Szene und ihr Nationalismus machen Asylsuchende zu einem klassischen Feindbild. Vor dem Hintergrund der gestiegenen Zahl von Asylanträgen hatte die Agitation gegen Asylsuchende ab Sommer 2015 an Schärfe zugenommen. Damals fanden insbesondere Flugblattverteilungen zu diesem Thema statt. Mit dem Rückgang der Einreisen ab 2016 stagnierten die diesbezüglichen Aktivitäten der rechtsextremistischen Szene in Bayern zunächst. Seit Ende 2022 nimmt der Themenkomplex "Asyl und Migration" in der Agitation wieder größeren Raum ein. In diesem Zusammenhang kam es auch in Bayern zu rechtsextremistisch motivierten Straftaten gegen Asylunterkünfte. Insgesamt waren 17 156 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 extremistische Übergriffe auf Liegenschaften zur Unterbringung von Flüchtlingen zu verzeichnen (2022: 6), darunter 3 Propagandadelikte, 6 Sachbeschädigungen und 2 Volksverhetzungen. Alle 17 Straftaten waren rechtsextremistisch motiviert. Anfang Januar wurde ein Plakat des "III. Weg" mit dem Slogan "Kriminelle Ausländer raus!" an einer bezugsfertigen Asylbewerberunterkunft in Scheßlitz (Lkr. Bamberg) angebracht. Anschließend führte ab Mitte Januar ein damaliger Funktionär des "III. Weg" jeweils freitags in Breitengüßbach (Lkr. Bamberg) und samstags in Scheßlitz mehrere Kundgebungen gegen die Unterbringung von Flüchtlingen durch. Am 18. Januar schürte der "III. Weg" auf seiner Parteiwebseite in einem Artikel mit dem Titel "Widerstand gegen Asylforderer in Scheßlitz" Angst vor Migranten und diffamierte Asylbewerber in einer menschenverachtenden Art und Weise. Zur Mutmaßung, ein "südländisch" aussehender Täter habe ein Tötungsdelikt in Lichtenfels begangen, schrieb der "III. Weg"-Stützpunkt Oberfranken auf Telegram in rassistischer Weise: Sollte sich der afrikanische Mann als Täter herausstellen, zeigen sich einmal mehr die fatalen Konsequenzen der nichtweißen Masseneinwanderung auf. Es sind schon lange keine "Einzelfälle" mehr. Daher werdet aktiv, denn nur wir können dafür sorgen, dass man wieder in Frieden in diesem Land leben kann! In Marklkofen (Lkr. Dingolfing-Landau) fanden 2 versuchte BrandDrohungen und anschläge auf ein als Flüchtlingsunterkunft vorgesehenes Zelt Brandanschläge statt. Zunächst wurde in der Nacht vom 31. Januar mittels eines Brandbeschleunigers vergeblich versucht, das Zelt in Brand zu setzen. In der darauffolgenden Nacht erfolgte an selber Stelle ein erneuter Brandstiftungsversuch, der ebenfalls fehlschlug. Ein Tatverdächtiger konnte bereits ermittelt werden. Vereinzelt kam es bei lokalen Bürgerversammlungen anlässlich der Unterbringung von Flüchtlingen zu strafrechtlich relevanten Äußerungen. So wurden bei einer Bürgerversammlung im Landkreis Bamberg am 26. Januar während einer zunächst öffentlichen Gemeinderatssitzung teils wütende Proteste bis hin zu Drohungen gegen eine geplante Asylunterkunft geäußert. Wenige Stunden vor der Gemeinderatssitzung hatte der "III. Weg" mit einem Flyer in den sozialen Medien für die Teilnahme an der abendlichen Sitzung mobilisiert. 157 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Unter dem Motto "Schütze deine Heimat, werde Grenzgänger - Kein zweites 2015" führten Aktivisten des "III. Weg" im Bundesgebiet zum Jahresende Flugblattverteilungen und sog. "Streifen" an deutschen Außengrenzen durch. In Bayern fand laut einem Bericht des "III. Weg" vom 18. November eine "Streife" an der Grenze zur Tschechischen Republik statt. In Fürstenfeldbruck wurden im November "III. Weg"-Flugblätter mit der Aufschrift "Schütze deine Heimat" verteilt. Die rechtsextremistische "Identitäre Bewegung" (IB) versucht Asylsuchende und Migranten pauschal als Gefahr für die lokale Bevölkerung dazustellen. Am 9. Februar führte sie eine Propagandaaktion vor einer Asylunterkunft in Peutenhausen (Lkr. Neuburg-Schrobenhausen) durch. Dabei stoppten 6 Aktivisten den Durchgangsverkehr vor der Einrichtung und entrollten auf der Fahrbahn ein großflächiges Banner mit der Aufschrift "GEFÄHRDERSTANDORT". Das Transparent wurde durch 2 aufgestellte Rauchtöpfe flankiert, aus denen roter Rauch aufstieg. Noch vor dem Eintreffen der Polizei entfernten sich die Aktivisten von der Örtlichkeit. Im Rahmen der polizeilichen Sofortfahndung wurde ein Transporter angehalten, in dem sich 3 Tatverdächtige befanden, unter ihnen eine Führungsperson der bayerischen IB. Die erste Berichterstattung über die Aktion erfolgte auf dem Instagram-Kanal "wackre_schwaben", welcher einer Regionalgruppe der IB in Schwaben zugerechnet wird. Später folgten weitere Szeneveröffentlichungen im Internet. Der "III. Weg" hatte bereits kurz zuvor in Peutenhausen eine Flugblattverteilung zum Thema "ASYLFLUT STOPPEN" durchgeführt, über die er auf seiner Parteiwebseite berichtete. Anlass für die Aktionen in Peutenhausen waren eine Einbruchserie, 158 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 mutmaßlich begangen durch einen dort untergebrachten Flüchtling, und ein Übergriff auf 2 ältere Damen im Dezember 2022, der ebenfalls mutmaßlich von 2 Asylbewerbern ausging. Am 17. Mai führte die der IB zuzurechnende Regionalgruppe "Lederhosen Revolte" außerdem eine Protestaktion im Alten Botanischen Garten in München durch, mit der Flüchtlingen pauschal kriminelle Neigungen zugeschrieben werden sollten. Hierzu entrollten die Aktivisten ein Banner mit der Aufschrift "MÜNCHEN VERTEIDIGEN - VERGEWALTIGER ABSCHIEBEN" und entzündeten Pyrotechnik. An der Aktion beteiligten sich rund 10 Personen, darunter auch mindestens 3 Mitglieder der Aktivitas der Münchner "Burschenschaft Danubia". Bei der Durchführung der Aktion trugen sämtliche Aktivisten der Münchner Regionalgruppe erstmals einheitliche Schlauchschals mit einem markanten Wappen, das den bayerischen Löwen zeigt. Im Nachgang veröffentlichte der Instagram-Kanal "lederhosen_ revolte" mehrere Bilder sowie ein Video zur Aktion. Eine ähnliche Aktion fand am 14. Oktober auf der Adenauerbrücke in Neu-Ulm statt. Hier entrollten Aktivisten der IB ein ca. 20 mal 4 Meter großes Banner und entzündeten Rauchtöpfe. Auf dem Banner waren neben dem Schriftzug "Grenzen sichern - Leben retten #Remigration" 6 Namen mit Kreuz und Altersangabe aufgebracht. Bei den Namen handelt es sich um Opfer von Tötungsdelikten, bei denen die Täter einen Migrationshintergrund haben. Sowohl der "III. Weg" als auch die IB versuchen systematisch, eine Ablehnung gegenüber Flüchtlingen sowie deren Unterbringung anzufachen. Dabei werden oftmals tatsächliche oder angebliche Straftaten von Flüchtlingen oder Personen mit Migrationshintergrund im Rahmen der Agitation aufgegriffen. 159 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Zudem beteiligten sich Rechtsextremisten an nichtextremistischen Protesten gegen geplante Unterkünfte für Asylbewerber. Bei einer Demonstration gegen die geplante Unterbringung von Asylbewerbern am 9. Dezember in Holzheim (Lkr. Dillingen) nahmen Personen teil, die der IB und der Jugendorganisation der Partei "Alternative für Deutschland" "Junge Alternative" (JA) zugerechnet werden. Die JA Nordschwaben stellte am folgenden Tag auf Telegram ein Bild ein, auf dem Aktivisten und ein auf der Veranstaltung mitgeführtes Banner mit der Aufschrift "Für Holzheim gegen das Asylheim" zu sehen sind. Ferner bewarben die JA Nordschwaben und Akteure der IB eine weitere Demonstration in Holzheim am 16. Dezember. Über derartige Demonstrationsteilnahmen versuchen Extremisten, sich als Teil eines demokratischen Protestgeschehens zu inszenieren. "Volkstod", "Großer Im Rahmen von Aktionen und Kampagnen greift die Austausch" und rechtsextremistische Szene neben der "Volkstod"-These auch "Umvolkung" die Verschwörungstheorie des "Großen Austausches" auf. Dieses dem "Volkstod" nahestehende Konzept geht zurück auf den französischen Schriftsteller Renaud Camus, der den Begriff mit seinem Buch "Revolte gegen den Großen Austausch" prägte. Auch die "IB Deutschland" (IBD) benutzt ihn für ihre Kampagnen. Die "ethnokulturelle" Identität der europäischen Völker sei demnach durch eine Masseneinwanderung kulturfremder Einwanderer bedroht. Diese Bedrohung werde ferner durch die schwachen Geburtenjahrgänge der "ethnokulturellen" Europäer verstärkt. Ein maßgeblicher Faktor dieses "Großen Austausches" sei die angebliche "Islamisierung Europas". Diese Entwicklung wird nach Meinung der IBD durch die sog. "Multikultis", also die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Eliten, gesteuert mit dem Ziel, die angestammten Völker und Kulturen Europas soweit zu ersetzen, dass am Ende eine steuerund austauschbare "Konsumentenmasse" entstehe. Sowohl der "Volkstod"-Gedanke als auch die Verschwörungstheorie des "Großen Austausches" decken sich in weiten Teilen mit der häufig artikulierten Losung der "Umvolkung". Der Begriff "Umvolkung" entstammt ursprünglich dem nationalsozialistischen Sprachgebrauch und steht für das Programm, das auf "Germanisierungsmaßnahmen" und die räumliche Trennung von ethnischen Gruppen bzw. deren Auslöschung abzielte. Er wird von Angehörigen der rechtsextremistischen Szene benutzt, um gegen die behauptete Verdrängung von "Deutschen" durch "Nicht-Deutsche" in Deutschland zu agitieren. 160 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 In sozialen Netzwerken wird asylfeindliche und rassistische Hetze auch von Personen verbreitet, die nicht in rechtsextremistischen Strukturen organisiert sind. Thematischer Ausgangspunkt der meisten rechtsextremistischen Beiträge zum Thema Asyl sind dabei Straftaten, die tatsächlich oder mutmaßlich durch Asylsuchende begangen wurden. Die Beiträge, Kommentare und Diskussionen, die sich hierbei entspinnen, werden häufig aggressiv geführt und sind geprägt durch sog. "Hass-Postings", bewusst verbreitete Falschmeldungen sowie Protestund Gewaltaufrufe. In diesem Zusammenhang werden auch der deutsche Staat und seine Exekutivorgane diffamiert. Dabei wird versucht, das Bild eines permanent versagenden Rechtsstaates zu vermitteln. Die den Sicherheitsbehörden der Bundesländer vorliegenden Erkenntnisse ergaben bislang keine Anhaltspunkte für eine zentrale Steuerung von Gewalttaten oder eine regionale oder überregionale Koordinierung von Straftaten durch rechtsextremistische Gruppierungen oder Einzelpersonen. Es zeigt sich, dass Straftaten nicht allein von gewaltorientierten Szeneangehörigen begangen wurden, sondern auch von Personen, die bislang nicht in rechtsextremistischen Strukturen aktiv waren. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass rechtsextremistische und fremdenfeindliche Agitation in nichtextremistische Milieus hineinwirken kann. Bei der Mehrzahl der Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte handelte es sich um Sachbeschädigungen. Islamfeindlichkeit Rechtsextremistische Islamfeindlichkeit ist eine moderne Form der Fremdenfeindlichkeit. Angehörige der rechtsextremistischen Szene verknüpfen dabei häufig auch die Agitation gegen Asylsuchende mit der Agitation gegen den Islam. Die Ablehnung von Menschen muslimischen Glaubens basiert auf dem rassistischen "Volksgemeinschafts"-Gedanken: Demzufolge gehören Muslime einer "raumfremden" Religion an und werden als "undeutsch" abgelehnt. Angehörige der rechtsextremistischen Szene beteiligen sich beispielsweise an Diskussionen um den Bau von Moscheen, versuchen dort, das Wort zu ergreifen und die Veranstaltungen als Plattform für ihre Agitation zu nutzen. Muslime werden dabei pauschal als Bedrohung der Inneren Sicherheit dargestellt. Die "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) beschwört in ihrer politischen Agitation die Gefahr einer "Islamisierung Europas", die die Folge von Migrationsbewegungen aus muslimisch geprägten Staaten sei und die "ethnokulturelle Identität" der europäischen Völker bedrohe. 161 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus "PI-News" Auf dem rechtextremistischen Internetblog "Politically Incorrect/PI_News" (PI-News) werden Menschen muslimischen Glaubens wegen ihrer Religionszugehörigkeit pauschalisierend herabgesetzt und generell als gewalttätig dargestellt. In einem "PI-News"-Beitrag vom 1. November wird in Bezug auf Muslime von "Millionen importierter Barbaren" gesprochen. Zudem wird behauptet, dass aufgrund der sich angeblich vollziehenden "Umvolkung" in Deutschland die Gefahr gewalttätiger Übergriffe und Tötungen von Ungläubigen durch Muslime bestehe. "Vergewaltigung, Mord und Totschlag" seien diesen aufgrund ihrer "historischen Erfahrung" als "zielführende Methoden" zur Herstellung einer "Dominanz der eigenen Ethnie" bekannt. Durch das "in islamreligiösem Zusammenhang praktizierte Durchschneiden der Kehle" würde das Töten durch "unsere türkischen Nachbarn" an Schafen eingeübt. Orientierung am Nationalsozialismus Nationalsozialistische Neonazistische Akteure versuchen an ihre historischen VorbilSprachelemente der aus der Zeit des Nationalsozialismus anzuknüpfen. Ideologische und symbolische Bezugnahmen zum Nationalsozialismus können dabei von strafrechtlicher Relevanz sein. Oft umgehen Neonazis aber eindeutig verbotene NS-Assoziationen bzw. loten die Grenzen des Erlaubten aus, indem sie die Bezugnahmen auf die NS-Zeit möglichst indirekt halten und sich auf die Verwendung von nicht verbotenen Motiven beschränken. Mit dieser Strategie zielen Neonazis u. a. darauf ab, Ideologieund Sprachelemente aus der NS-Zeit in den allgemeinen Sprachgebrauch und die öffentliche Debatte einfließen zu lassen. 10-PunkteBesonders deutlich ist dies bei der neonazistischen Partei Programm des "III. Weg". Sie hat ihre politischen Zielsetzungen in einem 10-Punk"III. Weg" te-Programm niedergelegt, das eindeutige Parallelen zum Konzept des "Deut25-Punkte-Programm der NSDAP aufweist. Beide Programme schen Sozialismus" propagieren eine auf gemeinsamer Abstammung basierende Volksgemeinschaft und enthalten u. a. gebietsrevisionistische Forderungen, die auf die Vereinigung aller "Volksdeutschen" in einem Staat abzielen. Noch auffälliger werden die Parallelen zum NSDAP-Programm am Thesenpapier des "III. Weg" zum "Deutschen Sozialismus". In diesem werden viele arbeits-, wirtschaftsund sozialpolitische Punkte des NSDAP-Programmes aufgegriffen und an die heutige Zeit angepasst. Der einzelne Mensch wird nur als Teil des Volkskörpers gesehen, in den er sich einzufügen hat. Das Konzept des "Deutschen Sozialismus" spielt eine zentrale Rolle in der Agitation des "III. Weg". 162 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Neonazistische Gruppen und z. T. auch Akteure aus dem subErinnerungskultur kulturellen Rechtsextremismus pflegen eine Erinnerungskultur, und "Heldendie sich stark an Personen und Ereignissen aus der NS-Zeit gedenken" orientiert. So werden Geburts-, Todesbzw. Jahrestage von wichtigen Personen der NS-Zeit begangen, wie die von Adolf Hitler, Rudolf Heß oder Horst Wessel. Bei rechtsextremistischen "Heldengedenk"-Aktionen wird ausschließlich der gefallenen deutschen Soldaten in den beiden Weltkriegen gedacht, die als Helden für Volk und Vaterland dargestellt werden. Dabei werden die Angehörigen der Waffen-SS ausdrücklich mit einbezogen. Das "Heldengedenken" selbst geht ebenfalls auf den Nationalsozialismus zurück. Die Nationalsozialisten interpretierten dabei den zuvor in der Weimarer Republik praktizierten Volkstrauertag um, der ursprünglich den Gefallenen des Ersten Weltkrieges gewidmet war, und stellten die Heldenverehrung anstelle des Totengedenkens in den Mittelpunkt. Am 26. Mai veranstaltete der "III. Weg" ein Aktionswochenende zum Gedenken an den 100. Todestag von Albert Leo Schlageter, den die Partei als "Märtyrer für Deutschland" bezeichnet. In Bayern erinnerte der "III. Weg"-Stützpunkt Ostbayern in der Nähe von Passau an "eine[n] der ersten Blutzeugen der Bewegung" und stellte nach eigenen Angaben eine selbst gefertigte Gedenktafel auf. Weiteren parteieigenen Informationen zufolge gedachten Parteiangehörige in Bayern auch in der Fränkischen Schweiz und in Oberfranken des Todestages Schlageters. Die zwischenzeitlich in "Die Heimat" umbenannte rechtsextremistische NPD thematisierte am 26. Mai den Todestag Schlageters in 2 Facebook-Beiträgen, in denen er als "Freiheitskämpfer - damals wie heute" bzw. "deutsche[r] Widerstandsund Freiheitskämpfer" bezeichnet wird. Der damals noch unter dem Namen NPD geführte Kreisverband Nürnberg veröffentlichte ein Gedicht zu Ehren Schlageters auf Telegram. Queer-Feindlichkeit In der rechtsextremistischen Szene lässt sich regelmäßig Homophobie und allgemein eine grundsätzliche Feindlichkeit gegenüber der LGBTQIA+-Community (LGBTQIA+: englisches Kürzel für "Lesbian", "Gay", "Bisexual", "Transgender", "Queer", "Inter"und "Asexuell" sowie weitere Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen) feststellen. Meist liegt dieser strikten Ablehnung die im Rechtsextremismus weit verbreitete Idealisierung eines traditionellen Familienund Paarbildes zugrunde. Im rechtsextremistischen Parteienspektrum ist Homophobie und LGBTQIA+-Feindlichkeit als Teilaspekt der "Volkstod-" bzw. "Umvolkungs-These" zu verstehen. In seinem 163 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus 10-Punkte-Parteiprogramm fordert die neonazistische Kleinstpartei "Der Dritte Weg" ("III. Weg") daher die "konsequente Förderung kinderreicher Familien zur Abwendung des Volkstodes". Die Partei agiert in diesem Sinne auch gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, weil diese laut "III. Weg" die "volkliche Existenz der Auflösung" zuführe: Innerhalb von Ehe und Familie wird das Staatsvolk und damit Basis und Zukunft des Staates reproduziert, werden Sitte und Brauchtum gepflegt und vererbt. [...] Wer die heterosexuelle Ehe ihrer besonderen Stellung beraubt, greift die Familie an, greift die elementaren Grundlagen von Volk und Staat an. Am 13. Juni veranstaltete der AfD-Kreisverband München-Ost als Reaktion auf eine Drag-Queen-Lesung in der Münchner Stadtbibliothek Bogenhausen eine Kundgebung unter dem Motto "Hände weg von unseren Kindern! Verbot von Genderpropaganda und anderen Perversionen!" Am Rande der Veranstaltung versuchten 7 Angehörige der IB sich Zutritt zum Veranstaltungsbereich der Lesung zu verschaffen und ein Banner zu entrollen. Die Störaktion wurde durch die Polizei verhindert und eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch gestellt. Im Nachgang der Veranstaltung berichtete die IB-Gruppierung "lederhosen_revolte" in einem auf ihrem Instagram-Kanal veröffentlichten Video über ihre Beteiligung an der AfD-Veranstaltung und drohte dabei mit weiteren Aktionen gegen die LGBTQIA+-Community. 164 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Im Juni agitierten zahlreiche rechtsextremistische Szeneakteure Kampagne in den sozialen Medien gegen den sog. "Pride Month" der "Stolzmonat" LGBTQIA+-Community. Während Angehörige und Unterstützer der queeren Community ihre Profilbilder in den sozialen Netzwerken als Zeichen ihrer Solidarität mit Regenbogenflaggen hinterlegten, riefen Rechtsextremisten dazu auf, stattdessen eine abgewandelte Deutschland-Flagge als Profilbild zu nutzen. Vorgeblich ging es der rechtsextremistischen Szene darum, mit der Aktion ihren Nationalstolz öffentlichkeitswirksam zum Ausdruck zu bringen. Tatsächlich ist die Aktion jedoch als Ausfluss einer metapolitischen Social-Media-Strategie zu werten. Diese zielt darauf ab, ein Gegennarrativ zum "Pride Month" zu etablieren, um queere Menschen und ihre Anliegen zu verhöhnen und sich selbst als Alternative mit den vermeintlich wichtigeren Themen in Szene zu setzen. Dabei versuchen Rechtsextremisten, den Begriff "Nationalstolz" als konsensfähige Alternative zu einer "verkommenen Moderne" in Stellung zu bringen und behaupten, sich auf diese Weise gegen eine angeblich übermächtige "LGBTQIA+-Lobby" zur Wehr zu setzen. Im Rahmen der "Stolzmonat"-Kampagne wurden kettenbriefartig Aktionsaufrufe geteilt. Rechtsextremistische Akteure verbreiteten eigene realweltliche Aktionen und riefen zur Nachahmung auf. In Bayern fand am 19. Juni vor dem Münchner Rathaus eine entsprechende Aktion statt, bei der 3 Aktivisten der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) und ihrer Jugendorganisation "Junge Alternative" (JA) ein Banner mit der Aufschrift "Stolz statt Pride" sowie dem Logo der JA präsentierten. Wenige Tage 165 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus später beteiligten sich Aktivisten der "Identitären Bewegung" (IB) mit einer eigenen Aktion vor der Walhalla in Donaustauf (Lkr. Regensburg) an der "Stolzmonat"-Kampagne. Am 23. Juni wiederholte die JA die Banneraktion vor der BavariaStatue auf der Theresienwiese in München mit etwa 10 Personen. Ein entsprechender Beitrag wurde am 24. Juni auf dem Telegram-Kanal der "JA Bayern" veröffentlicht. Der Beitrag enthält ein Bild der Aktion, auf dem die Gesichter der meisten Teilnehmer durch die in der rechtsextremistischen Szene beliebte Meme-Figur "Pepe the Frog" überdeckt wurden. Es konnten bisher 2 Personen identifiziert werden, bei denen es sich um Funktionäre der JA bzw. der AfD handelt. Neben Akteuren aus dem Bereich der extremistischen "Neuen Rechten" bewarben auch Personen aus dem klassischen Rechtsextremismus die Kampagne. So wurde u. a. auf dem Telegram-Kanal von "FSN-The Revolution", der dem Rechtsextremisten Patrick Schröder zuzurechnen ist, ein entsprechendes Profilbild eingestellt. Der bayerische Ableger der zwischenzeitlich in "Die Heimat" umbenannten NPD bewarb die Kampagne, auf dem Account "HEIMAT.Untermain". Auch wenn die Resonanz innerhalb der Online-Community zumeist überschaubar bleibt, haben sich solche Kampagnen als rechtsextremistische Agitationsform in weiten Teilen der Szene etabliert. Insgesamt ist die Diffamierung von LGBTQIA+-Personen auch ein propagandistisches Mittel, um gegen die moderne pluralistische Gesellschaft zu agitieren. Der implizierte Versuch, LGBTQIA+-Personen pauschal mit Pädophilie und Sexualstraftaten in Verbindung zu bringen, kann Übergriffe und Gewalttaten gegen LGBTQIA+-Personen und Menschen, die sich öffentlich mit diesen solidarisieren, fördern. Frauenhass in der Incel-Subkultur Rechtsextremistische Versatzstücke finden sich auch in der subkulturellen "Incel"-Szene. Der englische Begriff "InceI" (Kofferwort aus "involuntary" und "celibacy", deutsch: "unfreiwilliges Zölibat") ist die Selbstbezeichnung einer überwiegend aus weißen heterosexuellen Männern bestehenden Internetsubkultur, die eigenen Angaben zufolge unter einer "vom System" aufgezwungenen sexuellen Enthaltsamkeit leiden. Bei "Incels" handelt es sich u. a. um anonym auftretende Personen, die häufig realweltlich zurückgezogen leben. 166 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Die Szene ist geprägt durch Hass auf Frauen (die abwertend als Mixtur aus Frauen"Femoids" bezeichnet werden), Gewaltfantasien gegenüber hass, Sexismus, Frauen, Selbstmitleid sowie sexistische und rassistische EinstelAntisemitismus und lungen. Angehörige der "Incel"-Szene sind der Ansicht, Männer Rassismus hätten ein "naturgegebenes Recht auf Sex" mit Frauen, das es einzufordern gelte. Das Selbstbild der Mitglieder innerhalb dieser Subkultur ist Minderwertigkeitsprimär von starken Minderwertigkeitskomplexen geprägt. Diese komplexe resultieren insbesondere aus der Unfähigkeit dieser Männer, Beziehungen zu Frauen aufzubauen. Für ihre Situation machen "Incels" vor allem Frauen, aber auch Politik und Gesellschaft verantwortlich. Als Ursache für ihre unfreiwillige Enthaltsamkeit erachten die "InceI"-Anhänger vor allem den Feminismus, der Frauen eine freie Partnerwahl und selbstbestimmte Lebensgestaltung ermögliche. In diesem Zusammenhang beziehen sich "Incels" häufig auch auf antisemitische oder rassistische Ideologeme. So werfen sie Frauen u. a. vor, sich bei ihrer Partnerwahl überwiegend auf die äußere Erscheinung und den sozialen Status eines Mannes zu fokussieren. Da sie sich durch diese angebliche "Selektion" um ihre Rechte betrogen wähnen, sprechen "Incels" Frauen das Recht ab, ihre Sexualpartner frei zu wählen. Stattdessen plädieren sie für eine staatlich geregelte Zuteilung von Frauen, die sie als biologisch gesteuerte Objekte betrachten. Auch der szeneinterne Umgang in "Incel"-Foren ist von Gewaltdarstellungen und Hassfantasien geprägt. So werden Frauen in herabwürdigender und entmenschlichender Weise dargestellt und verächtlich gemacht. Aber auch untereinander praktizieren "Incels" eine wechselseitige Selbstabwertung, welche sich zumeist in zynischer Weise auf das Aussehen bzw. den jeweiligen Phänotyp bezieht. All diese szeneinternen Abwertungsdynamiken machen "Incels" Gewaltfantasien mit auch empfänglich für rechtsextremistische Ideologien - insbesonrechtsextremistidere solche, die Gewalt als Mittel zur Veränderung gesellschaftschen Bezügen licher Verhältnisse propagieren. Für Teile der Subkultur hat die rechtsextremistische Verschwörungstheorie des "Bevölkerungsaustauschs" eine gesteigerte Relevanz, denn aus ihrer Sicht liegt in der Migration gutaussehender Männer eine Ursache dafür, selbst keine Frau zu finden. Besonderes Feindbild sind daher attraktive interethnische Paare, vor allem dann, wenn die Frau der "eigenen" Kategorie (in der Regel "weiß") zugeordnet wird. 167 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Bei der "Incel"-Szene handelt es sich in ihrer Gesamtheit nicht um ein Beobachtungsobjekt des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz. Beobachtet werden aber Einzelpersonen, die sich im Zusammenhang mit der "Incel"-Ideologie verfassungsschutzrelevant betätigen. Das ist dann der Fall, wenn die Frauenfeindlichkeit mit rechtsextremistischen Ideologieelementen verknüpft wird, die Würde der Frau infrage gestellt wird oder Frauen entmenschlicht werden. Die "Incel"-Bewegung ist in Bayern bisher als virtuelles Phänomen durch Einzelpersonen in Erscheinung getreten. Daher ist es, wie bei den meisten virtuellen Aktivitäten, schwer nachvollziehbar, inwiefern die Aktivitäten tatsächlich auch von Bayern ausgehen. RadikalisierungsDas Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz geht davon faktor aus, dass die "Incel"-Ideologie die Psyche von Personen destabilisieren, eine Radikalisierung verstärken und Gewaltbereitschaft begünstigen kann. Zudem stellt die "Incel"-Bewegung einen Angriff auf die Menschenwürde sowie den Gleichbehandlungsgrundsatz dar. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz misst der Zurechenbarkeit von Angehörigen der rechtsextremistischen Szene zur "Incel"-Bewegung oder auch nur Bezügen zu dieser eine hohe Bedeutung bei und berücksichtigt diese bei der Gesamtbewertung von Extremisten. Fußballund Hooliganszene Aufgrund der allgemein hohen gesellschaftlichen Relevanz stellt auch der bayerische Fußball einen potenziellen Anknüpfungspunkt für die rechtsextremistische Szene dar. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz verfolgt aufmerksam potenziell bestehende Verbindungen und Überschneidungen zwischen der rechtsextremistischen Szene und Fanszenen des Fußballs. Dabei stehen Überschneidungen und Wechselbezüge zwischen der rechtsextremistischen Szene und dem gewaltbereiten Teil der Fußballfanszene besonders im Fokus. Weder die Fußballfanszene, noch die Ultraund Hooliganszene in Bayern als solche sind jedoch Beobachtungsobjekte des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz. Antiziganismus Der Antiziganismus, also die Agitation bzw. Feindschaft gegen Sinti und Roma, ist ein fester Bestandteil rechtsextremistischer und rassistischer Ideologie. Diese Feindschaft äußert sich in der rechtsextremistischen Szene in Bayern in der Regel nur anlassbezogen und führt dabei auch zu konkreten Aktionen. Sie spielt im Verhältnis zur sonstigen verfassungsfeindlichen Agitation jedoch nur eine untergeordnete Rolle. 168 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Am 6. April informierte der Stützpunkt München/Oberbayern der rechtsextremistischen Kleinstpartei "Der Dritte Weg" ("III. Weg") auf der Parteiwebseite unter der Überschrift "Zigeuner-Clan in Olching: Asylflut stoppen!" über eine Flugblattverteilung. Unter Verwendung antiziganistischer Stereotype wurde behauptet, dass "Zigeunerclans" nicht bloß betteln, sondern auch Diebstähle begehen würden. 4.2 Rechtsextremistische Aktionsformen 4.2.1 Kampfsportaktivitäten und Waffenaffinität Kampfsport ist ein wichtiges Element der rechtsextremistischen Lebenswelt. Rechtsextremistische Kampfsportveranstaltungen verfügen ähnlich wie Konzerte über einen erheblichen Eventcharakter. Dabei wird der Kampfsport instrumentalisiert, um über die "klassische" rechtsextremistische Klientel hinaus auch Kontakte zu bislang nicht szenenahen, kampfsportbegeisterten Personen herzustellen und diese an die Ideologie heranzuführen. Das Thema Kampfsport hat in der rechtsextremistischen Szene in Bayern und bundesweit in den letzten Jahren merklich an Bedeutung gewonnen. Mit dem Kampfsport werden szenetypische Ideale wie Wehrhaftigkeit zur Schau gestellt. Darüber hinaus dienen Kampfsporttrainings dazu, sich entsprechende Fähigkeiten anzueignen, um diese im Ernstfall auch anwenden zu können. In der Regel folgt das Training zwar zumindest nach außen hin einer betont defensiven Ausrichtung, die vorgeblich der Selbstverteidigung in einer allgemein als bedrohlich dargestellten gesellschaftlichen und politischen Lage dienen soll. Solche Trainings tragen jedoch auch dazu bei, Personen auf gewalttätige Auseinandersetzungen vorzubereiten und eine Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt zu signalisieren. Auch die szeneinterne positive Rezeption von in der Vergangenheit stattgefundenen rechtsextremistischen Kampfsportveranstaltungen belegt die Relevanz des Themas. Aktivitäten im Bereich Kampfsport sowie eine allgemeine Beschäftigung mit der Thematik können insbesondere im subkulturellen und neonazistischen Teil der rechtsextremistischen Szene festgestellt werden. Die dem subkulturellen Rechtsextremismus zuzurechnende Gruppierung "Kollektiv Zukunft 169 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Schaffen - Heimat Schützen" (KZSHS) warnte am 19. Juli 2022 davor, dass "organisierte Banden bereits in Grundschulen ihre Mitschüler und Lehrer tyrannisieren". Eltern sollten deshalb bereits Kinder zu Selbstverteidigung und Kampfsport motivieren. Auch bei Akteuren der "Neuen Rechten" wird Kampfsport als Teil einer rechtsextremistischen Lebenswelt inszeniert. Die "Identitäre Bewegung" (IB) stellt sich bei Aktivistentreffen häufig als kampfsportaffin dar und veröffentlicht Aufnahmen von Boxtrainings. Am 6. Mai wurde in Ungarn die rechtsextremistische Kampfsportveranstaltung "European Fight Night" (EFN) durchgeführt. Zu der Veranstaltung, die auch durch das deutsche Kampfsportlabel "Kampf der Nibelungen" mitorganisiert wurde, reisten auch Personen aus Bayern an. Waffenaffinität Ein besonderes Augenmerk der bayerischen Sicherheitsbehörden liegt auf der in Teilen der rechtsextremistischen Szene verbreiteten Waffenaffinität. Neben dem Erwerb von erlaubnisfreien Waffen wie z. B. Messern, Armbrüsten oder Pfeffersprays wurden in den vergangenen Jahren immer wieder Fälle bekannt, in denen Angehörige der bayerischen rechtsextremistischen Szene in die Tschechische Republik fuhren, um dort Schießstände, wie z. B. den Schießstand JIMI in der Region Cheb/Eger, Gotchaoder Paintballveranstaltungen zu besuchen. Gerade an ausländischen Schießständen können rechtsextremistische Szeneangehörige oftmals zu geringen Kosten und trotz etwaig bestehender Waffenbesitzverbote Schießtrainings mit scharfen Waffen durchführen. Dort ist es mitunter auch möglich, in Deutschland verbotene kampfmäßige Trainings zu veranstalten und Waffen zu nutzen, die in Deutschland dem Kriegswaffenkontrollgesetz unterliegen. 4.2.2 Internationale Kontakte bayerischer Rechtsextremisten Zwischen bayerischen und ausländischen Angehörigen der rechtsextremistischen Szene bestehen zahlreiche Kontakte. Verbindungsleute in den Gruppierungen garantieren die gegenseitige Mobilisierung für internationale Szeneveranstaltungen wie Konzerte, Feiern und Großdemonstrationen. Dabei kommt es in der Regel zu einer vorübergehenden transnationalen Zusammenarbeit, in Einzelfällen auch zu dauerhaften Kooperationen. 170 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Die internationalen Kontakte bayerischer Szeneangehöriger wirken - angesichts der szeneintern betriebenen Überhöhung der eigenen Nation - auf den ersten Blick verwunderlich. Hiermit ist jedoch nicht automatisch die pauschale Ablehnung einer Zusammenarbeit mit gleichgesinnten ausländischen Akteuren verbunden. Dort, wo es ideologische Anknüpfungspunkte gibt, findet Zusammenarbeit statt: Ideologisch verbindende Elemente sind beispielsweise der Kampf für einen sozialen Nationalismus nach dem Vorbild des NS-Regimes, der Hass auf Flüchtlinge und die Ablehnung der Europäischen Union. Am 11. und 12. Februar fand im Raum Budapest (Ungarn) die Ver"Tag der Ehre" in anstaltung "Ausbruch 60" statt. Mit dieser Veranstaltung wollen Ungarn ungarische Rechtsextremisten anlässlich des sog. "Tages der Ehre" gemeinsam mit zahlreichen internationalen Teilnehmern der "Schlacht um Budapest" im Zweiten Weltkrieg gedenken. Unter den Teilnehmern befinden sich regelmäßig auch deutsche Angehörige der neonazistischen und subkulturellen rechtsextremistischen Szene. Höhepunkt ist ein Marsch von bis zu 60 Kilometern, der an den Ausbruch von ungarischen und deutschen Soldaten aus dem von der Roten Armee belagerten Budapest erinnern soll. Aus Bayern nahm am diesjährigen "Ausbruch 60" eine Person teil, die sich am 15. und 16. Oktober 2022 auch unter den bayerischen Teilnehmern des Bundeskongresses der "Jungen Alternative" (JA) - der Jugendorganisation der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) - in Apolda (Thüringen) befand. Die neonazistische Kleinstpartei "Der Dritte Weg" ("III. Weg") berichtete am 30. Juni über eine Reise von Mitgliedern seiner Jugendorganisation "Nationalrevolutionäre Jugend" (NRJ) nach Spanien. Es fanden ein Kulturund Freizeitprogramm sowie Treffen mit jungen spanischen Nationalisten statt: Mit unseren spanischen Freunden stehen wir hier gemeinsam in einem von Freiheitsliebe geprägten Abwehrkampf gegen die Völkerfeinde dieser Zeit. Am 29. Juli fand in Wien (Österreich) eine sog. "Remigrationsdemo" der rechtsextremistischen "Identitären Bewegung" (IB) statt. Diese stellte die erste Veranstaltung dieser Art nach dem Ende der Corona-Pandemie dar. Insgesamt beteiligten sich etwa 500 Personen aus mehreren europäischen Staaten an der Veranstaltung. Darunter konnten auch ca. 10 Mitglieder der IB aus Bayern festgestellt werden, die teilweise hinter einem Banner in der vordersten Reihe marschierten. 171 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus 4.2.3 Freizeitaktivitäten zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls und zur Nachwuchsgewinnung Gemeinsame Freizeitaktivitäten erfüllen innerhalb der rechtsextremistischen Szene mehrere Funktionen: Sie stärken die Gruppenidentität und sollen neue Aktivistinnen und Aktivisten anziehen. Neben dem Besuch von rechtsextremistischen Konzerten spielen dabei auch gemeinsame sportliche Aktivitäten, Wanderungen und Reisen sowie Aktivitäten im Umweltschutz - beispielsweise Aufräumaktionen im Frühjahr unter dem Motto "Umweltschutz ist Heimatschutz" - eine Rolle. Oft richten sich die Freizeitund Festveranstaltungen ausdrücklich auch an die Ehepartner und Kinder der Szenemitglieder. Durch vorgeblich familienfreundliche Aktivitätsangebote versuchen rechtsextremistische Gruppen das Gemeinschaftsund Zugehörigkeitsgefühl ihrer Mitglieder zu stärken und gleichzeitig deren Familienangehörige frühzeitig an die Szene zu binden und zu indoktrinieren. Die dem subkulturellen Rechtsextremismus zuzurechnende Gruppierung "Kollektiv Zukunft schaffen - Heimat schützen" (KZSHS) führte am 26. März eine "offene Wanderung" im Raum Oberfranken durch. Die Veranstaltung wurde im Vorfeld öffentlich auf Telegram beworben und diente damit offenkundig auch dem Ziel, mit neuen potenziellen Mitgliedern in Kontakt zu treten. 5. INTERNET Rechtsextremistische Gruppierungen und Akteure nutzen in hohem Maße die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation. Zu ihren Zielen gehört es dabei, Szeneangehörige und Sympathisanten aufzuwiegeln und mit ihren Inhalten möglichst hohe Reichweiten über das eigene Milieu hinaus zu erzielen, um Einfluss auf den öffentlichen Diskurs zu nehmen. Zudem sind Rechtsextremisten bestrebt, sich im Internet miteinander zu vernetzen. Dies trifft nicht nur auf Akteure zu, die auch in der Realwelt Szenekontakte pflegen. Während dabei in der Vergangenheit der Einstieg in die rechtsextremistische Szene häufig über Musik, Konzertbesuche und kameradschaftliche Strukturen erfolgte, sind mittlerweile vermehrt Personen festzustellen, deren Radikalisierung und Vernetzung mit anderen Rechtsextremisten ausschließlich online stattfindet. 172 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 5.1 Nutzung unterschiedlicher Plattformen und Formate Rechtsextremisten nutzen im Internet neben klassischen Internetseiten und Onlineblogs auch zahlreiche bekannte Messengerdienste (z. B. WhatsApp und Threema), Videoplattformen (z. B. YouTube) und soziale Netzwerke (z. B. Facebook, Twitter, Instagram und TikTok). Verschiedene staatliche und regulatorische Maßnahmen richten sich gegen das Wirken von Extremisten im Internet. So verpflichtet beispielsweise das am 30. Juni 2017 verabschiedete "Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken" (Netzwerkdurchsetzungsgesetz - NetzDG) die Betreiber sozialer Netzwerke unter Androhung von Bußgeldern zur Löschung strafbarer und extremistischer Inhalte. Vor diesem Hintergrund suchen Angehörige der rechtsextremisAbwanderung zu tischen Szene stets nach alternativen Plattformlösungen und "Telegram" und neuen Onlineformaten, um strafrechtlichen Konsequenzen und "vk.com" der Löschung oder Sperrung eigener Auftritte durch die Plattformbetreiber zu entgehen sowie ihre extremistischen Botschaften effektiv zu streuen. Hierzu werden alternative Angebote wie vk.com, GETTR und Telegram, für Livestreams auch DLive und BitChute als Ersatzoder Ausweichplattformen genutzt. Vor allem der Messengerdienst Telegram gewann innerhalb der rechtsextremistischen Szene im Zuge der Corona-Pandemie an Bedeutung. Der Austausch auf Telegram wird seitens des Messengerdienstes weiterhin kaum kontrolliert, so dass verfassungsfeindliche Agitation in der Regel nicht zu einer Sperrung oder Löschung von Accounts führt. Die geringe Regulierung auf Telegram hat entscheidend zur Etablierung des Messengerdienstes als zentrale Ausweichplattform der rechtsextremistischen Szene beigetragen. Neben sozialen Netzwerken spielen auch "Imageboards" (z. B. Nutzung von 8kun) eine wichtige Rolle. Diese Plattformen sind grundsätzlich Imageboards nicht als extremistisch zu bewerten, werden aber von einzelnen Nutzern bzw. Nutzergruppen für extremistische Zwecke herangezogen. So werden Botschaften u. a. in Form von Memes verbreitet. Diese Darstellungsform eignet sich gut dazu, verfassungsfeindliche Inhalte in einen verharmlosenden und vermeintlich humoristischen Kontext zu stellen, um die Akzeptanz solcher Aussagen zu erhöhen und die Grenze des "Sagbaren" zu erweitern. 173 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Auch aus der Gaming-Szene bekannte Kooperationsund Streamingplattformen wie Discord, Steam oder Twitch spielen eine Rolle. Mittels eigens entwickelter Szene-Spiele werden rechtsextremistische Botschaften verbreitet . Bereits im Jahr 2020 erschien das Computerspiel "Heimat Defender: Rebellion", das durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPJIVI) 2021 indiziert wurde. Für Ende 2022 hatten der Herausgeber und der rechtsextremistische Verein "Ein Prozent e. V." einen Nachfolger angekündigt. Die Fortsetzung "The Great Rebellion", welche "zu einem neuen Bewußtsein innerhalb der Gamingszene beitragen" soll, ist trotz fortgesetzter Ankündigungen in 2023 nicht erschienen. Darüber hinaus bieten Rechtsextremisten auf eigenen Webseiten auch Internetsendungen oder -radios an. Unter der Bezeichnung "Revolution auf Sendung" betreibt die neonazistische Kleinstpartei "Der Dritte Weg" ("III. Weg") ein eigenes Internetradioformat. Die Sendungen werden unregelmäßig auf der Parteiwebseite eingestellt und beinhalten Interviews, Musikbeiträge und Nachrichten der Partei. Bei den Interviewpartnern handelt es sich um rechtsextremistische Aktivisten. RechtsextremisAuch der stellvertretende bayerische Landesvorsitzende tische Streamingder zwischenzeitlich in "Die Heimat" umbenannten rechtsangebote; "FSN -The extremistischen Partei NPD und bekannte Rechtsextremist Revolution" Patrick Schröder betreibt seit mehreren Jahren das Internet-TVFormat "FSN-The Revolution" (bis 2018 "FSN-TV") sowie weitere, mitunter vergleichsweise reichweitenstarke Internetauftritte. Dort werden neben Interviews mit Protagonisten aus der rechtsextremistischen Szene in moderierten Beiträgen auch Aktionshinweise, Konzertund Demonstrationstermine sowie Informationen über aktuelle und politische Ereignisse innerhalb des rechtsextremistischen Spektrums verbreitet. Zudem nutzt Schröder das Internet auch als Werbeund Vertriebsplattform für Szeneprodukte wie Musik und Bekleidung. 5.2 Vernetzungsaktivitäten und Radikalisierung im Netz Der Einsatz digitaler Medienformate dient neben der Verbreitung rechtsextremistischer Propaganda auch der Vernetzung, dem szeneinternen Austausch sowie der Vorbereitung von Aktionen. Angehörige der rechtsextremistischen Szene versuchen durch 174 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 den Einsatz von Messengerdiensten und Kommunikationskanälen mit hohen Verschlüsselungsund Anonymisierungsstandards sich der Beobachtung durch Öffentlichkeit und Sicherheitsbehörden zu entziehen. In sozialen Netzwerken gründen sie nach dem in offenen Gruppen erfolgtem Erstkontakt oft geschlossene Foren und Chatrooms zur szeneinternen Kommunikation. Dies ermöglicht etwa die heimliche Weitergabe strafrechtlich relevanter Inhalte. Messengerdienste spielen zudem eine wichtige Rolle bei der Organisation von Aktionen, Veranstaltungen und Konzerten. Z. T. wird dort auch eine realweltliche Vernetzung in Form gemeinsamer Treffen angestrebt. Dabei ist der Kommunikation zu entnehmen, dass einzelne Nutzer von einer Beobachtung durch den Verfassungsschutz ausgehen und daher gesteigerten Aufwand bei der Verschleierung ihrer Identität betreiben. Bei nicht öffentlich einsehbarer Kommunikation innerhalb von Chat-, Mailund Social-Media-Anwendungen - auch "Dark Social" genannt - überschreiten Äußerungen oftmals die Schwelle zur Strafbarkeit. So umfassen die Beiträge im "Dark Social" beispielsweise Drohungen, Nötigungen, Verunglimpfungen, extremistische Inhalte sowie unverhohlene Aufrufe zu Strafund Gewalttaten. Aufgrund zahlreicher, den Nationalsozialismus verherrlichender und gewaltbefürwortender Beiträge weisen viele dieser Gruppen in ideologischer Hinsicht deutliche Bezüge zum Neonazismus auf. Rechtsextremistische Chatgruppen sind von Gewalt und Hass geprägt und schaffen so ein Klima, das den Abbau von Hemmschwellen zur Gewaltanwendung begünstigt. Die Schnelligkeit der Radikalisierungsprozesse und Enthemmungsdynamiken im Internet stellt die Sicherheitsbehörden vor besondere Herausforderungen, hinsichtlich der Identifizierung der häufig nur anonym aktiven Personen sowie der Prognostizierung einer gewalttätigen Entwicklung. Dies gilt insbesondere für zurückgezogen lebende und unauffällige Einzelpersonen, die unter dem Druck der Gruppendynamik virtueller Gruppen stehen. Auch bislang nicht in der rechtsextremistischen Szene in Erscheinung getretene Personen können Radikalisierungsprozesse durchlaufen, die zur Begehung schwerer Gewalttaten führen. Bei dieser Form der Radikalisierung, die weitestgehend losgelöst von realweltlichen rechtsextremistischen Szeneaktivitäten stattfindet, spielt das Internet eine zentrale Rolle. 175 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Attentäter-Fanszene Gewaltaffinität Mit Blick auf das Radikalisierungspotenzial im Netz gilt Personen und Gruppierungen, die mit Amokläufern und Attentätern sympathisieren, seit Jahren ein besonderes Augenmerk. Anhänger der "Attentäter-Fanszene" vernetzen sich virtuell, um ihre gewalttätigen Vorbilder zu ehren sowie teils rassistisch geprägte Gewaltfantasien miteinander zu teilen. Dabei handelt es sich um eine digitale Subkultur, die Amoktäter sowie ideologisch unterschiedlich motivierte Attentäter als "Heilige" ("Saints") verehrt. Die "Attentäter-Fanszene" weist eine hohe Gewaltaffinität auf, eine kohärente Ideologie oder konkrete Organisationsstrukturen sind bislang jedoch nicht festzustellen. Eine Anbindung an realweltliche rechtsextremistische Strukturen existiert in der Regel nicht. Allerdings sind Überschneidungen zwischen Anhängern der "Attentäter-Fanszene" mit der "Incel"Szene, der "Siege"-Subkultur (deutsch: Belagerung) und gewaltbereiten Neonazis festzustellen. Auffallend ist die in diesen Szenen häufig vorhandene, insbesondere von Jugendlichen gehegte, Faszination für die Ideen aus dem Buch "Siege" und die daraus entstandene Subkultur. Dabei handelt es sich um Texte des US-amerikanischen Neonazis James Mason, die zum "Rassenkrieg" anleiten wollen. Während sich rechtsextremistische Gruppierungen in der Regel um die Rekrutierung von Nachwuchs bemühen müssen, nähern sich potenzielle Interessenten der Attentäter-Fanszene vorwiegend aus eigener Initiative. Dabei handelt es sich häufig um Personen, die teilweise sozial isoliert und in der Regel technikaffin sind. Die Szene tritt überwiegend auf unkonventionellen und im Ausland ansässigen Plattformen sowie verschlüsselten Kommunikationsdiensten in Erscheinung und ist daher nur schwer lokalisierbar. Auffallend ist zudem das jugendliche Durchschnittsalter der Szeneangehörigen, die teilweise noch nicht einmal strafmündig sind. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz steht im Rahmen der zulässigen Übermittlungsregelungen im Austausch mit den Verfassungsschutzbehörden der Länder und des Bundes sowie mit den zuständigen Strafverfolgungsbehörden, um im Internet frühzeitig an der Aufklärung gewaltorientierter extremistischer Bestrebungen mitzuwirken, die in diesen Fällen meist von Einzeltätern ausgehen. 176 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 6. MUSIK, MEDIEN UND VERTRIEBE 6.1 Rechtsextremistische Musik Rechtsextremistische Musik ist ein wesentliches Eintrittstor in die rechtsextremistische Szene. So nutzen Szeneangehörige Musik, um Jugendliche mit rechtsextremistischem Gedankengut in Kontakt zu bringen. Oft wird verkürzt von "Rechtsrock" gesprochen, obwohl das Angebot an rechtsextremistischer Musik längst zahlreiche unterschiedliche Stile und Zielrichtungen umfasst, die von Skinheadmusik und Balladen über Vikingrock, Black Metal, Hatecore und Neofolk bis hin zu Hip Hop und Techno reichen. Die Texte enthalten nationalistisches, fremdenfeindliches, antisemitisches und antidemokratisches Gedankengut. Rechtsextremistische Musikveranstaltungen (Konzerte und Liederabende) im Inund Ausland ermöglichen es Szeneangehörigen zudem, neue Kontakte aufzubauen und sich szeneintern zu vernetzen. Daneben gibt es Auftritte rechtsextremistischer Musikerinnen und Musiker bei Veranstaltungen, bei denen der Versammlungscharakter gegenüber der Musikdarbietung überwiegt. Teilweise werden diese auch konspirativ vorbereitet bzw. als private Veranstaltungen durchgeführt. Mit Vortrefforten, einer Mobilisierung über Messengerdienste bzw. Mund-zu-MundPropaganda oder der Deklarierung eines Konzertes als private Geburtstagsfeier soll ein Einschreiten der Sicherheitsbehörden verhindert werden. Die Veranstalter - es handelt sich dabei meistens um langjährige Szeneangehörige - erlangen bei der erfolgreichen Durchführung eines Konzertes innerhalb der Szene viel Anerkennung. Rechtsextremistische Konzertund Musikveranstaltungen in Bayern Im Bundesgebiet fanden seit 2019 keine Musikgroßveranstaltungen mehr statt. Als allgemeiner Trend lassen sich kleinere Veranstaltungen und Musikveranstaltungen im europäischen Ausland feststellen. Auch in Bayern überwiegt die Zahl der Musikveranstaltungen, die in kleinem Kreis und privaten Rahmen oft konspirativ durchgeführt werden. Im März organisierte die Partei "Der Dritte Weg" eine interne Veranstaltung, bei der Live-Musik gespielt wurde. Eine weitere Musikveranstaltung soll im Juli in Südbayern stattgefunden haben. Darüber hinaus sind Auftritte rechtsextremistischer Bands und Liedermacher bei Musikveranstaltungen in anderen Bundesländern bekannt geworden. 177 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Rechtsextremistische Bands in Bayern Bandname Herkunft Aktiv seit Letzte Veröffentlichung Antikonform Raum Allgäu 2022 "Eine Frage der Ehre" (2022) Burning Oberfranken 2005 - 2010 "Your Time Is Running Hate Gründung mit ehemaOut" (2010), Beteiligung ligen Mitgliedern der am Sampler "Punikoff Skinhead-Bands "Aryan Vol.1" (2017) Rebels" und "Division "Warmachine" (2019) 28", Neugründung 2017 Eskalation Oberfranken/ 2010 "Kein Schritt zurück" Unterfranken (2015), Beteiligung am Sampler "Hessen Skins" (2017), "S.F.F.S" (2019), Album "M-E-K" (2020) zusammen mit MPU, Beteiligung am Sampler "A Tribute to Faustrecht" (2021) Kodex Frei Raum Kemp2010 "Das Pack" (2016), ten Beteiligung an der Compilation "10. Tag der deutschen Zukunft" (2018) MPU Raum Hof 2005 "German Skinhead Anthems" (2017), Beteiligung am Sampler "Hessen Skins" (2017), Album "M-E-K" (2020) zusammen mit Eskalation Prolligans Raum Allgäu 2004 "Nahrung für den Geist" (2017), Compilation "Skinhead durch und durch" (2017), CD "Auf dem Abstellgleis" (2021) SchandRaum 2016 Veröffentlichungen diktat Dillingen bisher nur auf YouTubea. d. Donau Channel "Schanddiktat" Siegesfahne Raum 1998 "Vorwärts, Kameraden!" Berchtes(2008) gaden SpreegeRaum 1994-2009; erneute "Spreegeschwader schwader Bayreuth Aktivität im Jahr 2016, - Akustik Rac'n'Roll" wieder aktiv seit 2021 (2021) Urweisse Raum 2019 "Urweisse Musik" München (2019), Beteiligung am Sampler "A Tribute to Faustrecht" (2021) 178 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Bandname Herkunft Aktiv seit Letzte Veröffentlichung White Rebel Raum Hof 2007 "The Boys are back Boys/White in Town" (2012), Rebel Voice Beteiligung am Sampler "Back to the Basement" (2016), "Ohne Strom gegen den Strom" (2019) Rechtsextremistische Bands nutzen Konzerte als Möglichkeit, ihren Bekanntheitsgrad zu steigern und für Tonträger und Merchandising-Artikel zu werben. Mit der Gage für einen Konzertauftritt können die meisten Bands ihre Selbstkosten allerdings nur teilweise decken. Wesentlich einträglicher sind der Verkauf und Vertrieb von Tonträgern über Versandhandel, Verkaufsstände oder auf rechtsextremistischen Veranstaltungen. Darüber hinaus bieten einschlägige Internetseiten weitere Möglichkeiten, rechtsextremistische Musikclips und -alben verfügbar und damit einem breiten Publikum zugänglich zu machen. 6.2 Rechtsextremistische Medien Rechtsextremistische Medien streben die Etablierung einer rechtsextremistischen Gegenkultur an. Daher verbreiten sie revisionistische, antisemitische, antidemokratische sowie fremdenfeindliche Vorstellungen und wollen so rechtsextremistische Überzeugungen in der Leserschaft initiieren oder festigen. Dabei soll das Vertrauen in die demokratische Ordnung untergraben werden, um letztendlich ein undemokratisches, autoritäres politisches System in Deutschland populär zu machen. Der Verfassungsschutz beobachtet den Kreis der regelmäßig Beobachtung von publizierenden Personen des Internetblogs "Politically Incorrect/ "Politically Incorrect/ PI-News" ("PI-News"). "PI-News" ist ein seit November 2004 PI-News" bestehender reichweitenstarker Internetblog, auf dem auch islamfeindliche und rechtsextremistische Agitation verbreitet wird. Auf "PI-News" wurden in 2023 zahlreiche fremdenund islamfeindliche Beiträge festgestellt. Ideologisch prägend für den Internetblog ist die Erzählung von einer angeblichen "Umvolkung" und "Islamisierung" Deutschlands. Auch die "COMPACT-Magazin GmbH" ("COMPACT") wird vom "COMPACTVerfassungsschutz beobachtet. Diese betreibt den YoutubeMagazin" und Kanal "COMPACT-TV", gibt das "COMPACT-Magazin" und "COMPACT-TV" verschiedene Sonderformate wie "COMPACT-Edition" und 179 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus "COMPACT-Aktuell" heraus und führt jährlich sog. "COMPACTKonferenzen" durch. Über die im Jahr 2010 erstmalig erschienene Monatszeitschrift "COMPACT-Magazin" werden nicht nur verschwörungstheoretische Inhalte, sondern regelmäßig auch islamfeindliche und fremdenfeindliche Motive verbreitet, die gegen die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes gerichtet sind. Artikel von Sellner zu "COMPACT" ist ein bedeutendes Sprachrohr im Rechtsex"Remigration" tremismus, welches mit zahlreichen Beobachtungsobjekten der Verfassungsschutzbehörden eng vernetzt ist und diesen eine Plattform bietet. Beispielsweise veröffentlicht das COMPACTMagazin regelmäßig Beiträge von Martin Sellner, dem führenden Aktivisten der "Identitären Bewegung" im deutschsprachigen Raum. In der August-Ausgabe des Magazins warb er ausführlich für sein Buch "Regime Change von rechts" und rief im Sinne der Strategie einer "Reconquista" (deutsch: Rückeroberung) erneut zur Gründung "alternative[r] Bewegungen, Hausprojekte, Bands, Lesekreise, Gewerkschaften und Kulturvereine" auf. Gewalttäter jedoch seien "die nützlichen Idioten des Systems". Bei einer Veranstaltung des AfD-Kreisverbandes München-Ost am 18. Februar in München gegen die 59. Münchner Sicherheitskonferenz trat der Chefredakteur des "COMPACT-Magazins" als Redner auf. In seiner aufwiegelnden Rede forderte dieser u. a., dass "das Volk der Regierung den Krieg erklären" solle. Beobachtung des Das in Schnellroda (Sachsen-Anhalt) ansässige "Institut für "Institutes für Staatspolitik" (IfS) verfolgt die Strategie der sog. "Metapolitik". Staatspolitik" Dahinter verbirgt sich der Versuch, den öffentlichen Diskurs zu prägen und Deutungshoheit zu erlangen. Auf diese Weise versucht das Institut auf den vorpolitischen Raum einzuwirken und seine ideologischen Ziele durchzusetzen. Damit trägt das IfS zu einer gesamtgesellschaftlichen Spaltung bei und begünstigt Radikalisierungstendenzen bis hin zur Legitimierung von Gewalt. Dazu unterhält es enge Kontakte zu rechtsextremistischen Gruppierungen und zu Martin Sellner. Überdies veranstaltet das Institut regelmäßig "Winterund Sommerakademien", um den Nachwuchs der "Neuen Rechten" ideologisch zu formen und die Vernetzung zu fördern. Beobachtung des Auch der "Verlag Antaios" wird vom Verfassungsschutz "Antaois"-Verlages beobachtet. In vom "Verlag Antaios" verbreiteten Publikationen wird u. a. das Ideologiekonzept des "Ethnopluralismus" propagiert, dessen Idealvorstellung einer staatlichen bzw. gesellschaftlichen Ordnung in einem ethnisch und kulturell homogenen Staat besteht. Zwischen dem IfS und dem "Verlag Antaios" bestehen enge personelle und organisatorische Verflechtungen. 180 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Der Verlag "Anton A. Schmid" mit Sitz in Durach im Landkreis Beobachtung des Oberallgäu vertreibt neben religiöser und verschwörungstheoVerlages "Anton A. retischer Literatur auch Werke mit antisemitischen, geschichtsSchmid" revisionistischen und rechtsextremistischen Inhalten. So wird im durch den Verlag vertriebenen Buch "Hitler beging keinen Selbstmord" in antisemitischer Weise unterstellt, dass jüdischstämmige amerikanische Familien die Machtergreifung Hitlers aktiv herbeigeführt hätten. 6.3 Rechtsextremistische Vertriebe Rechtsextremistische Vertriebe und Versandhandel kommerzialisieren die subkulturell geprägte rechtsextremistische Szene. Das Sortiment ist gezielt auf die Bedürfnisse der Anhänger einzelner Szenestilrichtungen wie der Skinhead-, der NS-Hatecoreoder der NS-Black-Metal-Subkultur ausgerichtet. Bei der Produktion und Vervielfältigung von Tonträgern spielen insbesondere die größeren Vertriebe eine wichtige Rolle. Neben Musik umfasst deren Angebotspalette auch Bekleidung, Fahnen, Flugblätter, Plakate und szenetypische Devotionalien wie Bücher und Aufkleber sowie zunehmend auch Accessoires für den Alltag wie Sonnenbrillen oder Gürteltaschen. Nahezu alle Händler bieten ihre Waren auf z. T. professionell gestalteten Verkaufsplattformen im Internet an. Die Betreiber rechtsextremistischer Vertriebsstrukturen verfolgen insbesondere wirtschaftliche Interessen, sind der Szene jedoch auch in ideologischer Hinsicht zuzurechnen. Vertriebe und Versandhandel Name Sitz/Landkreis Ansgar Aryan Mantel/Neustadt a. d. Waldnaab DIM Records Coburg FSN-Shop Mantel/Neustadt a. d. Waldnaab Oldschool Records Wolfertschwenden/Unterallgäu Patriotic Store Mantel/Neustadt a. d. Waldnaab Wikingerversand Geiselhöring/Straubing-Bogen White Rex Store Mantel/Neustadt a. d. Waldnaab 181 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus 7. IMMOBILIENSUCHE UND -ERWERB Rechtsextremistisch genutzte Immobilien sind solche, die von Angehörigen der rechtsextremistischen Szene politisch zielund zweckgerichtet sowie wiederkehrend genutzt werden. Erfasst werden dabei Immobilien, bei denen Rechtsextremisten über eine uneingeschränkte grundsätzliche Zugriffsmöglichkeit verfügen, etwa in Form von Eigentum, Miete, Pacht oder durch ein Kennund Vertrauensverhältnis zu Objektverantwortlichen. Davon abzugrenzen sind Objekte, die von Szenemitgliedern nahezu ausschließlich zu Wohnzwecken genutzt werden. Angehörige der rechtsextremistischen Szene nutzen Immobilien, um regionale Strukturen und Anlaufstellen zu schaffen. Sie suchen in Ballungsräumen ebenso wie im ländlichen Raum nach Räumlichkeiten für Feiern, Konzerte, Schulungen, Parteiveranstaltungen oder interne Treffen. Für kleinere Treffen nutzen Szeneangehörige häufig auch ihre privaten Wohnobjekte. In der breiten Öffentlichkeit erfahren Szeneangehörige keine Akzeptanz, und mögliche Vermieter lehnen eine Vermietung an rechtsextremistische Gruppierungen zumeist ab. Die rechtsextremistische Szene hat deshalb regelmäßig erhebliche Schwierigkeiten, dauerhaft Immobilien für ihre Aktivitäten zu finden, die über eine bloße Wohnnutzung hinausgehen. Insbesondere die langfristige Anmietung einer Gaststätte durch Szenemitglieder stellt in Bayern die Ausnahme dar. Verschiedene rechtsextremistische Gruppierungen halten zwar wiederholt interne Treffen oder kleinere Feiern in Gaststätten ab. Die Räumlichkeiten werden aber nur in Ausnahmefällen explizit für rechtsextremistische Szenetreffen angemietet. Vielmehr geben sich Szeneangehörige dort als "normale" Gäste aus. Wenn Personen aus der rechtsextremistischen Szene eine ernsthafte Kaufabsicht haben, setzen sie oft harmlos erscheinende "Strohmänner" ein, um den rechtsextremistischen Hintergrund des Erwerbs zu verschleiern. Immobilien in Bayern Derzeit werden in Bayern 19 Objekte als rechtsextremistisch genutzte Immobilien eingestuft, u. a. in Feilitzsch, Geiselhöring, Gilching, Mantel, Memmingen, München, Oberprex, Schweinfurt und Wolfertschwenden. Parteibüro des Die neonazistische Kleinstpartei "Der Dritte Weg" (III. Weg) III. Wegs verfügt seit Mitte 2022 über eine Immobilie im Schweinfurter Ortsteil Oberndorf. Das Bürgerund Parteibüro in Schweinfurt ist die 4. offizielle Anlaufstelle der Partei im Bundesgebiet und wird als Treffund Versammlungsort für Rechtsextremisten genutzt. 182 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Ende November veröffentlichte die Partei auf ihrer Internetseite einen Beitrag mit dem Titel "Der III. Weg zurück in Oberprex 47" (Gemeinde Regnitzlosau/Landkreis Hof) . Dem Bericht zufolge trafen sich Parteiaktivisten in der Liegenschaft zu einem "Arbeitseinsatz", hissten eine Parteifahne des "III. Weg" und zeigten ein Transparent mit der Aufschrift "Deutsche Jugend voran!" 8. RECHTSEXTREMISTISCHE PARTEIEN UND PARTEINAHE STRUKTUREN 8.1 Die Heimat (vormals Nationaldemokratische Partei Deutschlands, NPD) Deutschland Bayern Mitglieder und Förder3.000 1 430 mitglieder Vorsitzender Frank Franz Rainer Hatz Gründung 1964 (als NPD) 1965 (als NPD) Sitz Berlin Nürnberg Publikation Deutsche Stimme - 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 Die zwischenzeitlich in "Die Heimat" umbenannte NPD will die bestehende Ordnung durch eine ethnisch homogene "Volksgemeinschaft" ersetzen. Aus Sicht der Partei stellt eine "Volksgemeinschaft" die einzig natürliche und damit annehmbare staatliche und gesellschaftliche Ordnung dar, weil angeblich nur sie dem wahren Wesen des Menschen entspricht. Die Partei strebt damit einen Gegenentwurf zur parlamentarischen Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland an. Die von der Partei vertretenen völkischen Grundideen bringen im Zusammenhang mit den verschiedensten politischen Themen oft ausländerfeindliche, antisemitische, rassistische - und in Bezug auf den historischen Nationalsozialismus verharmlosende und zustimmende - Positionen zum Ausdruck. Ihr angestrebtes Ziel der "Systemüberwindung" und ihre Grundaussagen stehen inhaltlich im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Das im Juni 2010 verabschiedete Parteiprogramm ist von einem Parteiprogramm ausgeprägten Nationalismus getragen und schreibt den Gedanken der "Volksgemeinschaft" in einer völkisch-koIlektivistischen Auslegung fest. So schreibt die Partei: 183 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Die Würde des Menschen als soziales Wesen verwirklicht sich vor allen in der Volksgemeinschaft. Erst die Volksgemeinschaft garantiert die persönliche Freiheit, diese endet dort, wo die Gemeinschaft Schaden nimmt. An anderer Stelle heißt es: Volksherrschaft setzt die Volksgemeinschaft voraus. Der Staat nimmt dabei die Gesamtverantwortung für das Volksganze wahr und steht daher über Gruppeninteressen. Rassistischer, Für die Partei resultiert die Würde des Einzelnen nicht aus nationalistischer und dem freien Willen des lndividuums. Ihr zufolge ist der Wert eihomophober Ansatz nes Menschen von der biologisch-genetischen Teilhabe an der "Volksgemeinschaft" abhängig. Da nur Deutsche völkischer Abstammung Teil der "VoIksgemeinschaft" sein können, ist eine rassistisch und nationalistisch geprägte Fremdenfeindlichkeit elementarer Bestandteil der Parteiideologie vom "lebensrichtigen Menschenbild", das sich insbesondere gegen "Fremdbestimmung" und "Überfremdung" richtet. Hierzu schreibt die Partei in ihrem Programm: Ein grundlegender politischer Wandel muss die sowohl kostspielige als auch menschenfeindliche Integrationspolitik beenden und auf die Erhaltung der deutschen Volkssubstanz abzielen. Integration ist gleichbedeutend mit Völkermord. Weiter heißt es: Die NPD lehnt die gemeinsame Unterrichtung deutscher und ausländischer Schüler ab, weil Ausländerkinder mit ihren meist nur mangelhaften Deutschkenntnissen das Unterrichtsniveau absenken [...]. 184 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 17. Januar Ausschluss von 2017 die verfassungsfeindliche Ausrichtung der zwischenzeitlich Parteienfinanzierung in "Die Heimat" umbenannten NPD bestätigt. Ein Verbot lehnte das Gericht jedoch ab, da die Bedeutung der Partei für eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu gering sei (Potenzialität). Am 20. Juli 2019 beantragten Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung beim Bundesverfassungsgericht den Ausschluss der Partei von der staatlichen Parteienfinanzierung. Über den Antrag entschied das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 23. Januar 2024. Die Partei "Die Heimat" wird für die Dauer von 6 Jahren von der staatlichen Parteienfinanzierung ausgeschlossen. Sie missachtet die freiheitliche demokratische Grundordnung: Nach ihren Zielen sowie dem Verhalten ihrer Mitglieder ist sie auf deren Beseitigung ausgerichtet und zielt auf eine Ersetzung der bestehenden Verfassungsordnung durch einen an der ethnischen Volksgemeinschaft ausgerichteten autoritären Staat. Die Ausrichtung der Partei "Die Heimat" auf eine Beseitigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wird laut Bundesverfassungsgericht durch ihre Organisationsstruktur, ihre regelmäßige Teilnahme an Wahlen, durch Aktivitäten und eine Vernetzung mit rechtsextremistischen Akteuren belegt. Bereits 2022 warb der Bundesparteivorsitzende Frank Franz Umbenennung in angesichts desaströser Wahlergebnisse für eine Neuausrichtung "Die Heimat" der Partei. Der Parteiname NPD galt nach eigener Einschätzung als "verbrannt". Beim Bundesparteitag am 14. und 15. Mai 2022 scheiterte die Parteiumbenennung in "Die Heimat" jedoch noch an der benötigten 2/3-Mehrheit der Delegierten. Am 3. Juni 2023 hielt die Partei in Riesa (Sachsen) einen weiteren Bundesparteitag ab. Zweck des Bundesparteitages war die Abstimmung über die neue strategische Ausrichtung der Partei, wobei die Umbenennung in "Die Heimat" im Zentrum stand. Hierbei konnte sich die Parteiführung um Franz durchsetzen und erreichte mit einer Zustimmung von 77 Prozent die für die Umbenennung erforderliche Mehrheit der Delegierten. In einer Pressemitteilung äußerte sich "Die Heimat" am 3. Juni zur Umbenennung und zu ihrer künftigen Strategie wie folgt: 185 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Es wird immer klarer, dass wir die letzte Generation von Deutschen sind, die das Ruder noch herumreißen kann, wenn es um den Erhalt unserer Heimat geht. Kommende Generationen werden, wenn es so weiter geht [sic!], als ethnische Minderheit in der Heimat ihrer Väter leben müssen. Dies vor Augen war für die Delegierten klar, dass wir keine Zeit für Parteioder Gruppenegoismen haben. Es braucht jetzt starke patriotische Netzwerke, wirksame Bündnisse auf der Straße, in den Parlamenten und im vorpolitischen Raum. Unsere vorrangige Aufgabe wird es künftig sein, als Anti-Parteien-Bewegung und patriotischer Dienstleister am Aufbau dieses Netzwerks mitzuwirken [.] Die Heimat soll eine Sammlungsbewegung für alle schaffen, die ihre Heimat behalten wollen, die nicht nur meckern, sondern aktiv werden wollen. Die Proteste der letzten Jahre, ob gegen die Asylwelle, gegen die Corona-Maßnahmen oder gegen die politisch hausgemachte Energiekrise, haben gezeigt, dass der Widerstand wächst. Dieser Widerstand muss vernetzt werden. An diesem Netzwerk für die Heimat wollen wir mitwirken. Parteiangaben zufolge beteiligten sich an der Veranstaltung auch ein ehemaliger Vorsitzender des Landesverbandes MecklenburgVorpommern der Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) sowie ein Gründungsmitglied der AfD, das am Folgetag der Partei "Die Heimat" beitrat. Beide Personen hielten Grußworte. Am 4. Juni beschloss der Bundesparteitag, bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2024 anzutreten und erstellte hierfür eine Kandidatenliste. Als Spitzenkandidat der Partei "Die Heimat" setzte sich ein früherer NPD-Europaabgeordneter durch. Aus Bayern wurden 2 Kandidaten nominiert, darunter ein früherer bayerischer NPD-Landesvorsitzender. Der Bundesparteivorsitzende schrieb in der Juli-Ausgabe 2023 des parteiinternen Mitteilungsblattes "Deutsche Nachrichten, Nachrichten von der Heimat!", dass 186 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 unser politisches und weltanschauliches Fundament unangetastet [bleibt], in dem wir auch weiterhin unverrückbar für nationale Souveränität, nationale Identität und nationale Solidarität einstehen. [...] Wir sind Deutsche und wir wollen, dass Deutschland auch in Zukunft die Heimat des deutschen Volkes bleibt. [...] Der Rechtskörper ist und bleibt derselbe, wie wir uns auch inhaltlich nicht verändern oder gar aufweichen werden. Die programmatischen Grundlagen der Partei "Die Heimat" beinhalten das NPD-Parteiprogramm "Arbeit - Familie - Vaterland", das der damalige NPD-Bundesparteitag bereits im Juni 2010 in Bamberg beschlossen hatte. Die Landesverbände der Partei "Die Heimat" wurden zudem dazu aufgefordert, ihre bisherigen NPD-Landessatzungen bis spätestens 31. Dezember 2023 an die am 3. Juni beschlossenen Satzung der Partei anzupassen. Als eine der Partei zugehörige Vereinigung nennt die Satzung die "Jungen Nationalisten" (JN). Die JN waren bislang als Jugendorganisation der NPD bekannt. Allerdings schwelen die parteiinternen Querelen weiter. Am 21. Spaltungstendenzen Juni erschien auf der Internetseite des Hamburger Landesverbandes eine Mitteilung mit dem Titel "Hamburger NPD scheidet aus 'Heimat' aus!" Dem Beitrag zufolge gehören der Hamburger NPD-Landesverband und die ihm nachgeordneten Hamburger Verbände nicht mehr der Partei "Die Heimat" an. Zudem soll aus einer bundesweiten parteiinternen Mitgliederumfrage hervorgehen, dass sich angeblich 95 Prozent der Befragten gegen eine Überführung ihrer NPD-Verbände in "Die Heimat" ausgesprochen hätten. Am 26. November fand in Niedersachsen ein sog. "Parteitag" abtrünniger Personen statt. Situation in Bayern In Bayern besteht ein "Die Heimat"-Landesverband mit dem Vorsitzenden Rainer Hatz, 2 stellvertretenden Landesvorsitzenden, 1 Schatzmeister und 5 Beisitzern. Die personelle Zusammensetzung des bayerischen "Die Heimat"-Landesvorstandes ist weitgehend mit dem damaligen bayerischen NPD-Landesvorstand identisch. 187 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Bereits auf dem Parteitag des damaligen NPD-Bezirksverbandes Mittelfranken am 24. Juli 2022 war thematisiert worden, dass man künftig auf den positiv besetzten Begriff "Heimat" setzen werde, um "auf der Straße aktiver sein zu können". Öffentlich wahrnehmbare Aktivitäten von "Die Heimat" in Bayern beschränken sich gegenwärtig auch auf Mittelund Unterfranken. Es bestehen Facebook-Profile der Partei "Die Heimat" für Bayern sowie für Ansbach und die Regionen Franken und Untermain. Im Übrigen ist "Die Heimat Bayern" auf Telegram aktiv und informiert dort auch über Kundgebungen Dritter. Am 21. Januar fand in Ansbach eine sich fortbewegende Kundgebung zu den Themen "Frieden, Freiheit und Russland-Sanktionen" statt. Unter den Teilnehmern befanden sich auch der bayerische NPD-Landesvorsitzende und bis zu 7 weitere Personen, die bereits 2 Transparente mit dem neuen Parteilabel "Heimat!" zeigten. Im Juni und Juli beteiligten sich "Die Heimat"-Mitglieder mit Transparenten an 3 Kundgebungen in Ansbach. In Aschaffenburg nahmen "Die Heimat"-Mitglieder aus Bayern und Hessen am 29. Mai und am 20. August an Kundgebungen einer Bürgerinitiative teil und zeigten dort Transparente mit der Aufschrift "Weg mit der Regierung!" sowie "Volksfeinde anklagen - Politikerhaftung umsetzen" und dem "DS"-Symbol der Zeitschrift "Deutsche Stimme". An einer Kundgebung am 3. Oktober beteiligten sich erneut die "Die Heimat"-Aktivisten, darunter ein stellvertretender Bundesvorsitzender. Am 12. September gab "Die Heimat Bayern" den Start einer Flugblattkampagne unter dem Motto "Deutschland braucht deutsche Kinder, keine FLÜCHTLINGE" in Nürnberg bekannt. 8.2 Partei Der Dritte Weg (III. Weg) Deutschland Bayern Mitglieder und 7001 155 Sympathisanten Vorsitzende/r Matthias Fischer Jasmine Eisenhardt Gründung 2013 20142 Sitz Weidenthal/ - Rheinland-Pfalz 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 2 Stützpunkte bestehen seit 2014. 188 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Der "III. Weg" vertritt einen stark neonazistisch geprägten Rechtsextremismus. Die ideologischen Ziele der Partei ergeben sich aus ihrer Satzung "Nationale Revolusowie aus einem "Zehn-Punkte-Programm", das auf Elemente tion" und "Deutdes 25-Punkte-Programmes der NSDAP zurückgreift. Beide scher Sozialismus" Programme basieren auf einem biologistischen Volksbegriff. Die NSDAP hatte festgeschrieben, dass nur der ein "Volksgenosse" sein könne, der "deutschen Blutes" sei. Der "III. Weg" fordert analog hierzu die "Erhaltung und Entwicklung der biologischen Substanz des Volkes" sowie die "Beibehaltung der nationalen Identität des deutschen Volkes", die es vor Überfremdung zu schützen gelte. Oberstes Parteiziel ist die "nationale Revolution", an deren Ende die Schaffung eines "Deutschen Sozialismus" stehen soll. In der Grundsatzschrift der Partei "Der Nationalrevolutionär" von 2019 heißt es hierzu: Die nationale Revolution richtet sich gegen den ausbeuterischen Kapitalismus ebenso wie gegen den volkszerstörenden Liberalismus. An ihrem Ende steht der Deutsche Sozialismus als gerechte soziale und völkische Ordnung. Die Partei vertritt ein geschichtsrevisionistisches Weltbild. Sie fordert in ihrem Programm die Wiederherstellung "Gesamtdeutschlands in seinen völkerrechtlichen Grenzen". In diesem Zusammenhang spricht der "III. Weg" auch von einer "friedlichen Vereinigung des deutschen Volkskörpers im Rahmen der ethnischen Selbstbestimmung und [der] Schaffung eines souveränen deutschen Volksstaates", was als Vereinigung aller deutschsprachigen Gebiete in einem Staat zu interpretieren ist. Auch antisemitische Feindbilder und Narrative prägen die IdeoloPropaganda gegen gie: In Artikeln auf seiner Webseite nimmt der "III. Weg" den Israel im Nahostisraelisch-palästinensischen Konflikt zum Anlass für antizioniskonflikt tische Propaganda. Als Reaktion auf den Überfall der islamistischen Terrororganisation HAMAS vom 7. Oktober verunglimpft der "III. Weg" die israelischen Streitkräfte wie auch die israelische Regierung als "Mörder und Terrorbomber", und bezeichnet den Staat Israel als "widernatürliches Raubstaat-Gebilde". So schrieb der "III. Weg" am 11. Oktober: 189 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Unter dem Namen Operation 'Al-Aqsa-Flut' haben palästinensische Kämpfer einen massiven Gegenangriff auf das zionistische Gebilde Israel gestartet. Proklamierter Hintergrund des Angriffs sind anhaltende jüdische Provokationen gegen autochthone Araber. Tatsächlich dürfte jedoch die kontinuierliche Verschlechterung der Lage der Palästinenser Ursache der Operation sein. Erste Reaktionen lassen Schlimmes befürchten. Westliche Staaten haben Israel gewissermaßen einen Freibrief erteilt. Die Partei 'Der III. Weg' lehnt jede Solidarität mit dem imperialistischen Terrorstaat Israel entschieden ab. Außerdem spricht der Artikel von einem Angriff der HAMAS und ihrer Verbündeten auf "zionistisch besetztes Gebiet", das Existenzrecht Israels wird somit faktisch verneint. Der "III. Weg" ruft zudem dazu auf, keine israelischen bzw. in Israel produzierten Produkte zu kaufen. Der vom "III. Weg" betriebene Antisemitismus zeigt sich jedoch nicht allein in seiner antizionistischen Propaganda. In Artikeln auf der Parteiwebseite werden regelmäßig antisemitische Stereotype eingeflochten und wiederholt. So ist beispielsweise häufig von mächtigen, im Hintergrund agierenden jüdischen Eliten die Rede. Die Partei verfolgt ein Drei-Säulen-Konzept: - "den politischen Kampf", - "den kulturellen Kampf" und - "den Kampf um die Gemeinschaft". Jugendorganisation Der "III. Weg" sieht sich nach diesem Drei-Säulen-Konzept nicht "National Revolubloß als Wahlpartei, sondern als "nationale Bewegung", die instionäre Jugend" besondere auch auf der Straße ihre politischen Ansichten vertritt, sich kulturell betätigt und den Gemeinschaftsgeist über die reine Parteiarbeit hinaus durch Sportund Freizeitangebote vertiefen will. Die Jugendorganisation "National Revolutionäre Jugend" (NRJ) des "III. Weg" betreibt die Nachwuchsarbeit der Partei. Mit einem speziell auf die Interessen junger Menschen zugeschnittenen Programm sollen interessierte Jugendliche möglichst früh in die Parteiarbeit eingebunden und ideologisch indoktriniert werden. Die Spannweite der Veranstaltungen reicht dabei von Wanderungen über sog. "Waldund Wiesentage", Ausflüge und sportliche Aktivitäten bis hin zu Selbstverteidigungskursen, Nachhilfeunterricht, Schulungsveranstaltungen und Flugblattverteilungen. 190 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Anders als in den Vorjahren verzichtete der "III. Weg" in 2023 auf eine zentrale und bundesweite Kundgebung zum 1. Mai. Stattdessen führte die Partei dezentrale Veranstaltungen in ihren 4 Bürgerund Parteibüros in Plauen (Sachsen), Ohrdruf (Thüringen), Hilchenbach (Nordrhein-Westfalen) und Schweinfurt durch. Ein wesentlicher Grund für die geänderte Vorgehensweise liegt mutmaßlich in dem seit langem rückläufigen Mobilisierungspotenzial der Partei, das insbesondere bei großen und zentralen Kundgebungen deutlich sichtbar wurde. So kamen zum letztmaligen "Heldengedenken" am 12. November 2022 in Wunsiedel lediglich 120 Personen zusammen. Zudem bieten dezentrale Veranstaltungen dem "III. Weg" die Möglichkeit, eine breitere Öffentlichkeit für die jeweiligen Bürgerund Parteibüros und seine "Arbeit vor Ort" zu erzeugen, u. a. um das demokratische und bürgerliche Spektrum zu erreichen. Diese Strategie der Bürgernähe beschrieb der "III. Weg" am 8. Mai auf seiner Internetseite: In all den Jahren hat sich aber unsere Organisationsstruktur geändert, mittlerweile betreiben immer mehr Stützpunkte unserer nationalrevolutionären Partei interne und öffentliche Räumlichkeiten sowie Bürgerund Parteibüros, in denen ganzjährig zahlreiche soziale Projekte umgesetzt werden. [...] Freiräume zu schaffen ist ein Grundstein nationalrevolutionären Strukturaufbaus und so sind die Bürgerund Parteibüros in Plauen, Hilchenbach, Ohrdruf und hier in Schweinfurt nicht nur einfach Büros, sondern diese Freiräume sind geradezu Leuchttürme unserer Bewegung. [...] Wir können hier unsere Zusammenkünfte so gestalten, um Teile des kommenden Deutschlands nach unserer Vorstellung bereits im Hier und Jetzt Wirklichkeit werden zu lassen. Am 2. September führte die Partei im Zeichen ihres 10-jährigen Bestehens in Hilchenbach ihren 7. Gesamtparteitag durch. Aus dem Rechenschaftsbericht des wiedergewählten Parteivorsitzenden Matthias Fischer ging hervor, dass in der Partei mehrere Arbeitsgruppen (AG) bestehen, die mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen an den Standorten der Bürgerund Parteibüros aktiv sind. So beschäftigt sich beispielsweise die AG "Feder & Schwert" mit Buchveröffentlichungen, während sich die AG "Körper & Geist" u. a. mit Boxtraining oder "Katastrophenschutz" auseinandersetzt. Fischer zufolge verzeichne die Jugendorganisation NRJ einen stetigen Zuwachs. Dem Gesamtparteitag folgte die Veranstaltung "Tag der Heimattreue". 191 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Auf der Parteiwebseite heißt es hierzu: Den Anwesenden bot sich ein Bild, welches die Maßstäbe neu definieren sollte. Weg vom altbekannten und in seiner Wirkung geschwächten Demonstrationsgeschehen präsentierte sich die nationalrevolutionäre Alternative professionell in all ihren Facetten. Als Redner trat u. a. der Parteivorsitzende Fischer auf. Ein besonderes Augenmerk legte Fischer "auf den Wert der Jugend, die unabdingbar für den Fortbestand und die Zukunft unseres Volkes ist". Strukturen Am 25. Juli 2020 gründete der "III. Weg" als Nachfolge für den bisherigen Gebietsverband Süd in Bayern einen entsprechenden Landesverband. Kreisverbände stellen in der Organisationsstruktur der Partei die kleinsten selbstständigen Einheiten dar. Die Satzung der Partei ermöglicht es, in Gebieten, in denen keine Untergliederungen bestehen, sog. "Stützpunkte" einzurichten. Zum Jahresende 2023 sind auf der Parteiwebseite 24 Stützpunkte genannt. In Bayern befinden sich die 5 Parteistützpunkte "Mainfranken", "Oberfranken", "Nürnberg/Fürth", "Ostbayern" und "München/Oberbayern". Aktivitäten "BürgersprechDer "III. Weg" nutzt seit Mitte 2022 in Schweinfurt-Oberndorf stunde" und "Tag eine angemietete Immobilie als Bürgerund Parteibüro für verder offenen Tür" im schiedene Aktivitäten. So bewarb die Partei auf ihrer InternetParteibüro seite eine für den 21. Januar im Schweinfurter Stadtzentrum angemeldete Kundgebung und verwies dabei auch auf das Bürgerund Parteibüro, das vor Ort u. a. eine wöchentliche Bürgersprechstunde anbietet. Unter dem Motto "Die wahre Krise ist das System!" führte der "III. Weg" am 1. Mai seinen diesjährigen "Arbeiterkampftag" in Bayern als "Tag der offenen Tür" mit Bürgerfest im Schweinfurter Bürgerund Parteibüro durch. Dabei sollten sich Besucherinnen und Besucher ein Bild von der Parteiarbeit machen können. Der "III. Weg" wies bei dieser Gelegenheit u. a. auf seine "Tiertafel" und seine kostenlose Kleiderausgabe für Deutsche hin. Insgesamt beteiligten sich etwa 40 Parteiangehörige sowie Parteifunktionäre mit Reden an der Aktion. Thematische Schwerpunkte der Reden waren Kritik am "System BRD", die Darstellung der "nationalrevolutionären" Grundsätze der Partei sowie die dem "III. Weg" zufolge verfehlte Asylund Migrationspolitik der Bundesrepublik 192 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Deutschland. Obwohl die Veranstaltung im Vorfeld sowohl auf der Parteiwebseite als auch mit Flugblättern und Straßenplakaten in der Region Schweinfurt beworben wurde, fand sie in der Bevölkerung keine Beachtung. Am 17. Juni führte der "III. Weg" im Bürgerund Parteibüro eine Vortragsveranstaltung mit dem Titel "Damals wie heute: Besatzer raus!" durch. Am 3. Dezember 2022 wurde im Bürgerund Parteibüro in "Jugendtag in Schweinfurt der "NRJ-Stützpunkt Franken" (NRJ-Franken) geFranken" gründet. Im März fand Parteiangaben zufolge ein "Jugendtag in Franken" statt. Zu diesem "Treffen mit der körperlichen Leistungsgrenze" waren NRJ-Angehörige und Ältere aufgerufen. Dabei sollte eine 7 Kilometer lange Laufstrecke im "Feldanzug" und mit 20 Kilogramm Marschgepäck innerhalb einer vorgegebenen Zeit bewältigt werden. Am 12. März führte der Stützpunkt Ostbayern ein "traditionelles "Heldengedenken" Heldengedenken" durch. Dabei versammelten sich am Abend Aktivisten in Deggendorf, um dort am von ihnen so genannten "Heldenhain" der deutschen Opfer beider Weltkriege unter dem Motto "Tot sind nur jene, die vergessen werden" zu gedenken. Etwa zeitgleich führte der "III. Weg" weitere Gedenkaktionen in Bayern durch. So stellten Aktivisten in Freyung an einem örtlichen Kriegerdenkmal Kerzen auf. An einem Kriegerdenkmal im Münchner Stadtteil Perlach wurden Fackeln entzündet und eine kurze Rede gehalten. Unter den Slogans "Die wahre Krise ist das System!" bzw. "Deutsches Volk erwache!" führte der "III. Weg" am 15. April in Peutenhausen (Lkr. Neuburg-Schrobenhausen) und am 22. April in Deggendorf jeweils einen Infostand mit Kundgebung durch. In Peutenhausen nahmen ca. 10 bis 15 Personen teil, wovon die Mehrheit dem "III. Weg" selbst zuzurechnen war. So versuchte neben der IBD auch der "III. Weg" von Protesten rund um die dortige Asylunterkunft zu profitieren. Der Infostand am 22. April in Deggendorf schloss sich thematisch nahtlos an die Veranstaltung in Peutenhausen an und diente der Partei eigenen Angaben zufolge als Gelegenheit, Bürgern die Positionen des "III. Weg" näher zu bringen. So stand auch an diesem Tag die nach Ansicht des "III. Weg" verfehlte Asylpolitik der Bundesrepublik im Fokus der Veranstaltung. Einschließlich der Parteiaktivisten beteiligten sich bis zu 8 Personen an der Aktion. Während der Veranstaltung zum 1. Mai am Bürgerund Parteibüro in Schweinfurt agitierte der "III. Weg" gegen die Aufnahme von Asylbewerbern. 193 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Im Juni veranstaltete die NRJ einen weiteren Jugendtag unter dem Motto "Klagt nicht, kämpft!" Mitglieder und Interessenten der NRJ-Franken trafen sich zu Sportaktivitäten, zu einer "argumentativen Auseinandersetzung mit unserer nationalrevolutionären Weltanschauung" und zum Üben des freien Sprechens vor Publikum. Am 10. Juni berichtete die Partei über eine Flugblattverteilung durch Aktivisten der NRJ-Franken in Würzburg und am 19. Juli über die Verteilung von Flugblättern mit dem Titel "Jugend voran!" durch Aktivisten der NRJ-Franken in Schweinfurt. 8.3 Junge Alternative für Deutschland Bayern (JA Bayern) Deutschland Bayern Anhänger 2.000 1 ca. 350 Gründung 15. Juni 2013 26. Oktober 2013 Sitz Berlin Greding 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 Die JA ist gemäß SS 17a der Bundessatzung der "Alternative für Deutschland" (AfD) die offizielle Jugendorganisation der Partei. Die JA wurde im Juni 2013 gegründet und ist als eigenständiger Verein mit Sitz in Berlin konstituiert. Zum Charakter der JA heißt es in SS 17a Abs. 2 Satz 1 der Bundessatzung der AfD: Die JA dient als Innovationsmotor der AfD und hat das Ziel, das Gedankengut der Partei in ihrem Wirkungskreis zu verbreiten sowie die besonderen Anliegen der Jugend innerhalb der AfD zu vertreten. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) erklärte am 15. Januar 2019 die JA zum Verdachtsfall, da hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte für eine extremistische Bestrebung vorliegen. Die programmatischen Aussagen der JA enthielten eine aggressive Rhetorik, in der eine migrationsund insbesondere islamfeindliche Haltung offen zu Tage trete. Die JA vertrete einen ethnisch homogenen Volksbegriff und mache jene, die dieser ethnisch geschlossenen Gemeinschaft nicht angehören, in eindeutiger Weise verächtlich. So bezeichne die JA die 194 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Migrationspolitik der Bundesregierung als "wahnsinniges Bevölkerungsexperiment", für das das "Volk [...] mit seinem Blut" bezahle und das dazu führe, dass das deutsche Volk "abgeschafft" werde. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg bestätigte in Rechtsmittel einer Entscheidung vom 19. Juni 2020 diese Einschätzung des erfolglos BfV. Die JA hatte gegen ihre Nennung im Bundesverfassungsschutzbericht 2019 Klage eingereicht. Nach Auffassung des Gerichtes folge das zentrale politische Programm der JA dem Idealbild des "autochthonen Deutschen". Deutsche Staatsangehörige würden nach ihrer ethnischen Herkunft in Bürger erster und zweiter Klasse unterteilt. Diese diskriminierende Ausgrenzung verletze die Menschenwürde. Zudem spreche die JA durch ihre kontinuierliche Agitation gegen Asylbewerber und Migranten diesen ihre Menschenwürde ab. Bestimmte Bevölkerungsgruppen würden bewusst ausgegrenzt und Muslimen der Schutz der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit nicht zugebilligt. Unter Verwendung rechtextremistischer Kampfbegriffe - etwa der "UmvoIkung" - werde der "Austausch des deutschen Volkes" behauptet. Aus den vom BfV genannten und vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg bestätigten Gründen wird die JA durch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz ebenfalls beobachtet. Mit Beschluss vom 5. Februar 2024 lehnte das Verwaltungsgericht Köln (VG Köln) Anträge der AfD und der JA auf eine einstweilige Anordnung gegen die Hochstufung der JA als gesichert rechtsextremistische Bestrebung durch das BfV ab. Die AfD hat gegen die Entscheidung des VG Köln Berufung eingelegt, über die bislang nicht entschieden worden ist. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) lehnte in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Beobachtung der AfD als Gesamtpartei durch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz mit rechtskräftigem Beschluss vom 14. September die Anträge des bayerischen AfD-Landesverbandes auf Einstellung der Beobachtung ab. Konkrete und hinreichend verdichtete Anknüpfungspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen der Gesamtpartei der AfD ergeben sich laut BayVGH auch daraus, dass die JA als Jugendorganisation der AfD ein verfassungsfeindliches ethnokulturelles bzw. ethnobiologisches Volksverständnis vertritt. Der bayerische Landesverband der JA ("JA Bayern") existiert Strukturen und bereits seit September 2013. Die "JA Bayern" weist keine Aktivitäten in Bayern flächendeckenden bayerischen Strukturen auf. 195 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Am 14. und 15. Januar wählte der Landeskongress der "JA Bayern" einen neuen Landesvorstand. Der neue bayerische JA-Landesvorsitzende ist auch Beisitzer im bayerischen AfD-Landesvorstand. Einzelne dem bayerischen JA-Landesvorstand angehörende Personen sind im Zusammenhang mit Bezügen zur rechtsextremistischen "Identitären Bewegung" (IB) bekannt geworden. Beteiligung an Während der sog. "Stolzmonat"-Kampagne zeigten am "Stolzmonat"19. Juni vor dem Münchner Rathaus 3 Aktivisten der AfD Kampagne und "JA Bayern" ein Banner mit der Aufschrift "Stolz statt Pride" sowie dem Logo der JA. Am 23. Juni wiederholte die "JA Bayern" die Banneraktion vor der Bavaria-Statue auf der Theresienwiese in München mit etwa 10 Personen. Die Inszenierung der Aktion auf der Theresienwiese mit Rauchtöpfen und die dadurch erzeugte Ästhetik erinnerte stark an ähnliche Aktionen der IB. Am 2. Juni veranstaltete die "JA Schwaben" eine Banneraktion unter dem Motto "Sichere Grenzen - sicherer Schulweg" vor dem Landgericht in Ulm. Die dort verwendete grafische Darstellung einer Festung auf dem JA-Banner wurde zuvor bereits von der IB genutzt. Anlass der Aktion war der erste Verhandlungstag in einem Prozess um einen tödlichen Messerangriff in lllerkirchberg (Baden-Württemberg) im Dezember 2022. Ziel der JA war es, auf die "fehlgeleitete Migrationspolitik und auf die verheerende Willkommenskultur aufmerksam" zu machen. Die Zusammensetzung des neuen bayerischen JA-Landesvorstandes wie auch die Aktionen der "JA Bayern" zeigen eine Entwicklung, die mit dem 11. Bundeskongress der JA am 15. und 16. Oktober 2022 in Apolda (Thüringen) begonnen hat. Dort zeichnete sich eine engere und offenere Zusammenarbeit zwischen JA und IB ab. Björn Höcke hatte auf dem JA-Bundeskongress geäußert, die JA solle mehr IB wagen. 9. BEOBACHTUNG DER AFD Beobachtung der AfD durch das BfV Seit 25. Februar 2021 stuft das BfV die Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) als Verdachtsfall im Phänomenbereich Rechtsextremismus ein. Bei der AfD, in ihrem Grundsatzprogramm und bei ihren Vertretern kommt nach den Erkenntnissen des BfV vielfach ein ethnisch-kulturelles Volksverständnis zum Ausdruck. Darüber hinaus werden ausländerund muslimfeindliche aber 196 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 auch antisemitische Positionen vertreten. Das BfV stellt auch Diffamierungen und Verunglimpfungen politischer Gegner und des Staates sowie als Ziel eine generelle Herabwürdigung und Verächtlichmachung des politischen Systems fest. Die AfD erhob Rechtsmittel gegen die Beobachtung durch das BfV. Das Verwaltungsgericht Köln (VG Köln) bestätigte im Urteil vom 8. März 2022 die Einstufung der AfD als Verdachtsfall. In die Bewertung durch das BfV flossen auch Erkenntnisse zum zwischenzeitlich formal aufgelösten "Flügel", dessen Protagonisten teils weiter maßgeblichen Einfluss innerhalb der AfD ausüben, Erkenntnisse zur AfD-Jugendorganisation "Junge Alternative" und einen ethnisch verstandenen Volksbegriff ein. Die AfD hat gegen das Urteil des VG Köln vor dem Oberverwaltungsgericht Münster Berufung eingelegt. Beobachtung der AfD durch das BayLfV Der Beobachtung der AfD als Gesamtpartei durch das BayLfV liegen - neben eigenen Erkenntnissen - die dem BfV und die im Verfassungsschutzverbund vorliegenden bundesweiten Erkenntnisse über die AfD zugrunde. Der bayerische AfD-Landesverband muss sich verfassungsfeindliche Äußerungen von Repräsentanten des Bundesverbandes sowie anderer Landesverbände der AfD zurechnen lassen. Bei den Landesverbänden handelt es sich um organisatorische Einheiten einer auf Bundesebene tätigen Partei mit demselben ideologischen Hintergrund. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sich der bayerische Landesverband der AfD von einzelnen Äußerungen der AfD auf Bundesebene oder anderer AfD-Landesverbände distanziert hätte. Im Gegenteil wurde z.B. der Landesund Fraktionsvorsitzende des Landesverbandes Thüringen, Björn Höcke, bereits mehrfach als Redner zu Veranstaltungen nach Bayern eingeladen. Dies zeigt, dass der bayerische Landesverband keine Distanzierung von dessen Äußerungen erkennen lässt. Die Beobachtung durch das BayLfV dient der Aufklärung, inwieweit sich tatsächliche Anhaltspunkte dafür verfestigen, dass die AfD als Gesamtpartei Bestrebungen verfolgt, die den Kernbestand des Grundgesetzes zu beeinträchtigen oder zu beseitigen versuchen. Die innere Zerrissenheit der AfD als Gesamtpartei, Flügelkämpfe bzw. eine Annäherung an extremistische Gruppierungen machen eine Beobachtung der AfD als Gesamtpartei durch den Verfassungsschutz erforderlich. Dabei ist zu untersuchen, inwieweit die verfassungsfeindlichen Bestrebungen einzelner Gruppierungen für die künftige Entwicklung der AfD als Gesamtpartei von Bedeutung sein können und inwieweit Extremisten innerhalb der AfD eine steuernde Wirkung entfalten. Dementsprechend dient der Beobachtungsauftrag des BayLfV 197 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus vorrangig der Klärung, ob die AfD als Gesamtpartei aktuell von einer verfassungsfeindlichen Grundtendenz beherrscht wird. Die Beobachtung erfolgt aus Verhältnismäßigkeitsgründen in erster Linie sachund themenbezogen und erstreckt sich deshalb bislang nur auf einzelne Funktionäre und Mitglieder des AfD-Landesverbandes Bayern (mit seinen nach Angabe des AfD-Landesschatzmeisters im Jahr 2023 etwa 5.000 Mitgliedern), zu denen zurechenbare verfassungsschutzrelevante Erkenntnisse vorliegen. Eine belastbare Angabe des extremistischen Personenpotentials ist vor diesem Hintergrund nicht möglich. Eilantrag erfolglos Gegen die Beobachtung durch das BayLfV legte der bayerische AfD-Landesverband Rechtsmittel ein. Mit Beschluss vom 17. April 2023 lehnte das Verwaltungsgericht München (VG München) im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vom bayerischen AfD-Landesverband gestellte Anträge ab. Laut VG München seien Äußerungen von Parteimitgliedern darauf gerichtet, die Menschenwürde von Musliminnen und Muslimen und das Demokratieprinzip außer Geltung zu setzen. Sie zeigten ferner eine fortgesetzte Agitation gegen die Institutionen und Repräsentanten des Staates sowie gegen die demokratischen Parteien. Auch wenn die Äußerungen nur von einem Teil der Mitglieder stammten und möglicherweise nicht die Meinung der gesamten Partei abbildeten, seien sie dem VG München zufolge jedenfalls Ausdruck eines parteiinternen Richtungsstreites. Dieser bilde die Grundlage für die Beobachtung durch den Verfassungsschutz, um festzustellen, in welche Richtung sich die Partei weiterentwickle. Danach dürfe das BayLfV den bayerischen AfD-Landesverband vorläufig, das heißt bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren, beobachten und die Öffentlichkeit hierüber informieren. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) lehnte mit rechtskräftigem Beschluss vom 14. September 2023 die Beschwerde des bayerischen AfD-Landesverbandes gegen den Beschluss des VG München vom 17. April im Wesentlichen ab. Nach der Bewertung des BayVHG bestünden Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen, da Personen des zwischenzeitlich formal aufgelösten "Flügels" in der AfD verblieben seien und weiterhin Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung der Gesamtpartei nähmen. Ferner existierten "Umsturzphantasien" auf verschiedenen Parteiebenen innerhalb der AfD als Gesamtpartei. Aus dem Beschluss des BayVGH ergibt sich außerdem, dass ein ausschließlich aus ethnischen bzw. ethnokulturellen Kategorien gebildeter ("völkischer") Volksbegriff dem des Grundgesetzes und der Menschenwürdegarantie widerspricht. Diese 198 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 umfasst die prinzipielle Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz gem. Art 3 Abs. 1 GG. Ein rechtlich abgewerteter Status aller, die der so verstandenen Volksgemeinschaft abstammungsmäßig nicht angehören, ist mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Über das Hauptsacheverfahren des bayerischen AfD-Landesverbandes wurde bislang nicht entschieden. Staatsund Demokratiefeindlichkeit Tatsächliche Anhaltspunkte für Verhaltensweisen der AfD, die darauf gerichtet sind, das Demokratieprinzip und das davon mitumfasste Mehrparteiensystem außer Geltung zu setzen, ergeben sich aus der Agitation gegen Institutionen und Repräsentanten des Staates sowie gegen die demokratischen Parteien. Dabei gehen Anzahl und Intensität der Beschimpfungen, Verdächtigungen und Verleumdungen über eine bloße Kritik hinaus. Konkrete und hinreichend verdichtete Anknüpfungspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen sind in ablehnenden Aussagen gegenüber der Demokratie und dem Rechtsstaat sowie in "Umsturzphantasien" auf verschiedenen Parteiebenen innerhalb der AfD zu sehen. Das Grundsatzprogramm der AfD zeigt, dass es Ziel der Partei Grundsatzprogramm ist, Misstrauen gegenüber der Funktionsfähigkeit der Demoder AfD kratie zu säen. Die AfD behauptet in diesem Programm, das "vordringliche Interesse" von Berufspolitikern beschränke sich auf "Macht", "Status" sowie materielles "Wohlergehen". Dabei betont sie: Heimlicher Souverän ist eine kleine, machtvolle politische Führungsgruppe innerhalb der Parteien. Sie hat die Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte zu verantworten. Es hat sich eine politische Klasse von Berufspolitikern herausgebildet, deren vordringliches Interesse ihrer Macht, ihrem Status und ihrem materiellen Wohlergehen gilt. Es handelt sich um ein politisches Kartell, das die Schalthebel der staatlichen Macht, soweit diese nicht an die EU übertragen worden ist, die gesamte politische Bildung und große Teile der Versorgung der Bevölkerung mit politischen Informationen in Händen hat. 199 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Das AfD-Grundsatzprogramm schließt mit den Worten: Nur das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland kann diesen illegitimen Zustand beenden. Damit versucht die AfD zu unterstellen, dass in der Bundesrepublik Deutschland eine "illegitime" Situation bestünde. Die gewählten staatlichen Repräsentanten würden nicht im Sinne der Wählerinnen und Wähler, sondern ausschließlich eigennützig handeln. Der in diesem Zusammenhang von der Partei häufig genutzte Begriff des "Kartells" suggeriert zudem, dass es sich um ein abgeschottetes System geheimer Absprachen handele, auf das von außen kein Einfluss genommen werden könne. So wie die AfD - abweichend vom wissenschaftlichen Sprachgebrauch - den Begriff verwendet, werden wesentliche Bestandteile der verfassungsmäßigen Ordnung angegriffen: Den etablierten Parteien wird unterstellt, in verschwörerischer Weise Deutschland zersetzen und zerstören zu wollen. Anhaltspunkte für die Feststellung einer "illegitimen Situation" durch die AfD ergeben sich auch aus dem Programm des bayerischen AfD-Landesverbandes zur Landtagswahl 2023. Dieses kritisiert u. a. die angebliche Abgehobenheit einer politischen Klasse, die sich dem eigenen Volk nicht mehr verpflichtet fühlt und es nur noch als Verfügungsmasse für ihre sozialistischen Experimente sieht. Am 17. Juni veranstaltete der bayerische AfD-Landesverband gemeinsam mit dem thüringischen AfD-Landesverband anlässlich des Volksbzw. Arbeiteraufstandes am 17. Juni 1953 in der damaligen DDR eine Kundgebung unter dem Motto "Wir sind ein Volk" in Mödlareuth (Thüringen). Als Anmelder und Moderator der Veranstaltung fungierte ein Mitglied des bayerischen AfD-Landesverbandes und AfD-Kreisvorsitzender in Oberfranken. Als Hauptredner trat der Vorsitzende des AfD-Landesverbandes Thüringen Björn Höcke auf. Höckes Ansicht zufolge, befände sich Deutschland gegenwärtig auf dem Weg in eine totalitäre Diktatur und sei ein "Gesinnungsstaat". Die politischen Parteien verglich er mit den Blockparteien der DDR. Diese würden von "Globalisten" gelenkt und seien nur darauf bedacht, "ihre eigenen Pfründe" zu sichern. In einem Flyer eines Münchner AfD-Kreisverbandes zum bayerischen Landtagswahlkampf 2023 wurde mitgeteilt, weiter gegen die "verbrecherische Politik" kämpfen zu wollen. 200 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Ethnischer Volksbegriff Verfassungsschutzrechtlich relevant ist ein Volksbegriff, der von einer ethnisch homogenen Gemeinschaft ausgeht. Dadurch wird all jenen, die nicht dem jeweils ethnisch definierten Volk angehören, nur ein rechtlich abgewerteter Status zuerkannt. Ihnen werden somit der sich aus der in Art. 1 GG garantierten Menschenwürde ergebende Achtungsanspruch abgesprochen und die in Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 GG geschützte elementare Rechtsgleichheit verweigert. Im Hinblick auf einen ethnischen Volksbegriff stellt "Umvolkung" eine zentrale Begrifflichkeit dar. Die Aussage im Grundsatzprogramm der AfD, dass die Geburtenrate unter Migranten mit mehr als 1,8 Kindern deutlich höher liegt als unter deutschstämmigen Frauen, verstärkt den ethnisch-kulturellen Wandel der Bevölkerungsstruktur, ist als tatsächlicher Anhaltspunkt für ein ethnisch-biologisches Volksverständnis zu bewerten. Ferner schrieb die Partei in der "Erklärung zum deutschen Staatsvolk und zur deutschen Identität" vom 18. Januar 2021: Im Sinne unseres politischen Ziels, dem deutschen Staatsvolk auch eine deutsche kulturelle Identität über den Wandel der Zeit zu erhalten, wollen wir die aktuelle Massenzuwanderung, die auf einem Missbrauch der Asylgesetzgebung beruht, beenden. Der Vorsitzende des AfD-Landesverbandes Thüringen, Björn Höcke, sagte bei einer Wahlkampfveranstaltung des AfD-Kreisverbandes Weilheim-Schongau am 29. September in Peißenberg, Die Masseneinwanderung zerstört die Identität des bayerischen und des deutschen Volkes, sie soll unsere Kultur zerstören diese Masseneinwanderung, davon bin ich überzeugt. [...] Unsere kulturelle Identität wird uns genommen, unsere staatliche Identität wird uns genommen. 201 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus In einem Flyer zum bayerischen Landtagswahlkampf 2023 schrieb ein Münchner AfD-Kreisverband: Unsere Heimat steht unter ständigem Beschuss der etablierten Politiker in Bund und Land. Umvolkung, [...] und laufende Angriffe auf unsere Freiheit sollen unsere Identität nachhaltig zerstören. Migrationsund Islamfeindlichkeit Mitglieder bzw. Untergliederungen der AfD schüren Angst und Hass gegen Menschen muslimischen Glaubens. Dabei setzen sie den Islam mit Islamismus gleich und sprechen dem Islam zugleich ab, eine Religion im Sinne des Grundgesetzes zu sein. Die Menschenwürde von Musliminnen und Muslimen wird verletzt, indem diese wegen ihrer Religionszugehörigkeit systematisch, anhaltend und pauschalisierend auf polemische Art und Weise herabgesetzt, ausgegrenzt und als kriminelle, nicht integrierbare Menschen 2. Klasse dargestellt werden. So verlinkte der AfD-Kreisverband Würzburg am 28. Januar über sein Facebook-Profil auf einen Artikel des rechtsextremistischen Internetblogs "Politically Incorrect/PI-News" ("PI-News") vom 27. Januar. "PI-News" berichtete über 2 von Migranten verübte Gewalttaten mit Todesfolge in Deutschland und Spanien. Der AfD-Kreisverband Würzburg zitierte in seinem Post "PI-News" wie folgt: Die Mörder vereint ein ähnliches Täterprofil: Beide Verbrecher sind Muslime und vorbestraft. In dem besagten "PI-News"-Beitrag heißt es weiter: Wer Anreize für das Anwachsen türkisch-, arabischund afrikanisch-muslimischer Parallelgesellschaften setzt, gefährdet das Leben einer unkalkulierbaren Zahl nicht-muslimischer Europäer. Beobachtung von Der Verfassungsschutz beobachtet den Kreis der regelmäßig pu"PI-News" blizierenden Personen des Internetblogs "PI-News". Dieser ist ein seit November 2004 bestehender reichweitenstarker Internetblog, auf dem auch islamfeindliche und rechtsextremistische 202 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Agitation verbreitet wird. Ideologisch prägend für den Internetblog ist die Erzählung von einer angeblichen "Umvolkung" und "Islamisierung" Deutschlands. Auch das Programm des bayerischen AfD-Landesverbandes zur Landtagswahl 2023 beinhaltet Anhaltspunkte für das Schüren von Ängsten vor Migration. Unter dem Programmpunkt "Kulturfremde Masseneinwanderung" bezeichnet es die AfD als "unerlässlich", die "Werteordnung vor weiter fortschreitender Islamisierung" zu schützen. Derartige Äußerungen sind geeignet, den Islam und Menschen muslimischen Glaubens pauschal zu diffamieren. Gleichermaßen gegen die Menschenwürde gerichtet sind Äußerungen, die dazu geeignet sind, allgemein Sozialneid zu schüren, Abwehr und Unbehagen hervorzurufen sowie eine ablehnende, wenn nicht gar feindliche Haltung gegenüber Migrantinnen und Migranten zu begründen oder zu festigen. Das Programm des bayerischen AfD-Landesverbandes zur Landtagswahl 2023 formuliert: Deutsche Staatsbürger dürfen beim Zugang zu Wohnraum nicht länger benachteiligt werden. Sie sind es hauptsächlich, die jeden Tag arbeiten und mit ihren Leistungen unser Land tragen. Queerfeindlichkeit Am 13. Juni veranstaltete der AfD-Kreisverband München-Ost als Reaktion auf eine Drag-Queen-Lesung in der Münchner Stadtbibliothek Bogenhausen eine Kundgebung unter dem Motto "Hände weg von unseren Kindern! Verbot von Genderpropaganda und anderen Perversionen!" Bereits im Vorfeld der Kundgebung hatte der AfD-Kreisverband mit einem Plakat mit der Aufschrift "Hände weg von unseren Kindern! Genderpropaganda verbieten!" für die Teilnahme an der Versammlung geworben. Angehörige der queeren Community werden mit dieser Bildsprache als potenzielle Pädophile verunglimpft. Insgesamt nahmen ca. 100 Personen an der AfD-Versammlung teil. Während der Versammlung traten 10 Personen mit Redebeiträgen auf, darunter mehrere Mitglieder der AfD. In den Redebeiträgen wurde schwerpunktmäßig eine Rückkehr zum traditionellen Familienbild, die Beendigung der "Gender-Debatte" sowie das Verbot einer angeblichen "Homopropaganda" gefordert. 203 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Die in den Reden enthaltenen Diffamierungen und die pauschale Verächtlichmachung von Transpersonen als "Freaks", "Perverse" und "Pädophile" gehen weit über eine bloße Kritik an individuellen Lebensmodellen hinaus. Zusammen mit der Bekundung, dass diese Personen unter der AfD "Konsequenzen" tragen würden, richten sich die getätigten Äußerungen gegen die Menschenwürde der Betroffenen. Am Rande der Veranstaltung versuchten zudem 7 Angehörige der IB sich Zutritt zum Veranstaltungsbereich der Lesung zu verschaffen und ein Banner zu entrollen. Im Nachgang der Veranstaltung berichtete die IB-Gruppierung "lederhosen_revolte" in einem auf ihrem Instagram-Kanal veröffentlichten Video über ihre Beteiligung an der AfD-Veranstaltung und drohte dabei mit weiteren Aktionen gegen die LGBTQIA+-Community. Bezüge zu rechtsextremistischen Akteuren Am 18. Februar veranstaltete der AfD-Kreisverband München-Ost anlässlich der 59. Münchner Sicherheitskonferenz eine Kundgebung unter dem Motto "Kriegstreiber stoppen! Keine Sanktionen - Keine Waffenexporte". Unter den etwa 250 Teilnehmern befanden sich auch einzelne Rechtsextremisten. Als Redner trat neben bayerischen AfD-Funktionären auch der Chefredakteur des rechtsextremistischen "COMPACT-Magazins", Jürgen Elsässer, auf. Die "COMPACT-Magazin GmbH" ("COMPACT") wird seit dem Jahreswechsel 2020 im Phänomenbereich Rechtsextremismus vom Verfassungsschutz beobachtet. Über die im Jahr 2010 erstmalig erschienene Monatszeitschrift "COMPACT-Magazin" werden nicht nur verschwörungstheoretische Inhalte, sondern regelmäßig auch islamfeindliche und fremdenfeindliche Motive verbreitet, die gegen die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes gerichtet sind. "COMPACT" kann als ein bedeutendes Sprachrohr im Rechtsextremismus gesehen werden, welches mit zahlreichen Beobachtungsobjekten der Verfassungsschutzbehörden eng vernetzt ist und diesen eine Plattform bietet. Mit seiner thematischen Schwerpunktsetzung versucht "COMPACT" nicht nur rechtsextremistische Zielgruppen zu bedienen, sondern auch nicht extremistische Personenkreise zu erreichen. Elsässer sagte während der AfD-Veranstaltung, Deutschland werde "vor die Hunde gehen, wenn wir die Kriegstreiber und Volksverräter da Oben nicht zum Teufel jagen". Ihm zufolge müsse "das Volk der Regierung den Krieg erklären", wenn diese "Russland den Krieg erklär[en]" sollte. Zudem warb Elsässer unter dem Stichwort "Querfront" für eine verstärkte Vernetzung 204 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 innerhalb des Spektrums der extremistischen "Neuen Rechten", unter Einbezug von Björn Höcke und der Führungsfigur der "Identitären Bewegung" (IB) im deutschsprachigen Raum, Martin Sellner, sowie mit Gruppierungen der politischen Linken. In diesem Kontext führte er aus: Und in diesem Frühjahr wächst der Widerstand neu zusammen. Wir haben fünf Kräfte im Widerstand, die jetzt zusammenkommen. Da sind einerseits die guten Patrioten rund um die AfD, das ist andererseits zum zweiten der Corona-Widerstand, die überall noch ihre Leute haben, die Corona-Rebellen, das sind zum dritten die anständigen Linken, die [e]s so auch gibt, [...] das sind zum vierten die alternativen Medien mit dem Flaggschiff Compact und das ist [sic!] zum fünften die Freie Deutsche Jugend, Junge Alternative und Identitäre Bewegung. Einen Finger kann man brechen, aber fünf Finger sind eine Faust! Diese Vernetzung korrespondiert mit einer Aktion einzelner Konzept der IB-Aktivisten, die gemeinsam mit Mitgliedern der Aktivitas der "Mosaik-Rechten" Münchner "Burschenschaft Danubia" während der AfD-Kundgebung am 18. Februar ein Banner mit der Aufschrift "GLOBALISTEN GRENZEN ZEIGEN - AUTARKIE - SOUVERÄNITÄT - REMIGRATION" zeigten. In der Gesamtschau kann diese Kundgebung als ein Versuch gewertet werden, das innerhalb der rechtsextremistischen Szene entwickelte Konzept der sogenannten "Mosaik-Rechten" umzusetzen. Szeneintern meint der Begriff der "Mosaik-Rechten" die Kooperation zwischen der AfD und den in ihrem gesellschaftspolitischen Umfeld angesiedelten Vorfeldorganisationen. Aus Sicht des Verfassungsschutzes ist unter "Mosaik-Rechten" eine arbeitsteilige Aufgliederung im extremistischen neu-rechten Spektrum zu verstehen, wobei die einst klaren Trennlinien zwischen demokratischen, radikalen und extremistischen Positionen verwischt werden. Am 15. April veranstaltete der bayerische AfD-Landesverband in Nürnberg eine Kundgebung, an der erneut einzelne IB-Aktivisten bzw. einzelne Mitglieder der Aktivitas der "Burschenschaft Danubia" teilnahmen. Diese Aktion auf einer bayerischen AfD-Veranstaltung kann als weiterer Anhaltspunkt für die Öffnung der AfD in Bayern gegenüber rechtsextremistischen Organisationen gewertet werden. 205 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus 10. PARTEIUNABHÄNGIGE RECHTSEXTREMISTISCHE ORGANISATIONEN 10.1 Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) Die ursprünglich aus Frankreich stammende und inzwischen europaweit agierende "Identitäre Bewegung" (IB) ist ein rechtsextremistischer Personenzusammenschluss, der eine mitunter subtile, auf den gesamtgesellschaftlichen Diskurs abzielende Beeinflussungsstrategie verfolgt. Sie versucht durch das Besetzen, Prägen und Umdeuten von Begriffen Diskursräume zu verändern, Sagbarkeitsfelder zu erweitern sowie die Akzeptanz für extremistische Vorstellungen in der Gesellschaft zu erhöhen. Identitäre Leitstrategie ist die "Reconquista", an deren Ende die Idee der "Rückeroberung" Europas, in Form von ethnisch und kulturell homogenen Staaten steht. Provokative Kennzeichnend für den Aktionismus der IB sind öffentliche Social-MediaStörund Transparentaktionen, die sie im Rahmen von SocialKampagnen Media-Kampagnen inszeniert und verbreitet. Sie orientieren sich konsequent an digitalen Trends, um dem Medienkonsumverhalten junger Zielgruppen gerecht zu werden. Dabei lassen nicht alle Auftritte auf sozialen Medien einen direkten Bezug zur Gruppierung erkennen. Verbotsverfahren Die wesentlichen Rückschläge für die IB in Europa waren zum in Frankreich und einen, dass die Gruppierung in Frankreich u. a. wegen ihres Österreich dortigen Milizen-Charakters verboten wurde. Zum anderen hat Österreich im Rahmen einer Novelle des "Symbole-Gesetzes" das "Lambda-Symbol" als Erkennungszeichen der IB verboten. Die "IB Österreich" selbst ist als Organisation - anders als die "Generation Identitaire" in Frankreich - weiterhin nicht verboten. Ideologie "Ethnopluralismus" Ideologisch wähnt sich die "Identitäre Bewegung Deutschund "Remigration" land"(IBD) in der Tradition der "konservativen Revolution", einer antidemokratischen, antiliberalen und antiegalitären Strömung der Weimarer Zeit. Im Zentrum ihrer Propaganda steht das Konzept des "Ethnopluralismus". Über den Begriff verbreitet die IB die Zielvorstellung eines ethnisch und kulturell homogenen Staates. Die Einwanderung "kulturfremder" Personen nach Deutschland stellt demnach eine Bedrohung der als unbedingt erhaltenswürdig dargestellten "ethnokulturellen Identität" der europäischen Völker dar. Dabei propagiert die IB einen in der Sache völkisch-abstammungsmäßigen Volksbegriff, der Minderheiten einen geringeren Wert zuschreibt und sich gegen die im Grundgesetz enthaltene prinzipielle Gleichheit der Menschen richtet. 206 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Die Verschwörungstheorie des "Großen Austausches" wird dabei zur Verbreitung der Ansicht genutzt, politische Eliten würden die Masseneinwanderung absichtlich forcieren, um die angestammten Völker und Kulturen Europas zu ersetzen. Darauf aufbauend wird eine "Remigration" von Personen gefordert, die den ethnokulturellen Kriterien der IB nicht entsprechen. Die identitäre Ideologie weist trotz rhetorischer AbgrenzungsEigene Sprache der versuche Parallelen zu anderen rechtsextremistischen Ideen Identitären und Konzepten auf. Das ethnopluralistische Postulat von der räumlichen und geopolitischen Trennung von Menschen nach ethnischen Kriterien findet sich in ähnlicher Form in der "Blut und Boden"-Ideologie des Nationalsozialismus wieder. Der Begriff der "Rasse" wird im identitären Kontext durch eine angebliche "ethnokulturelle Identität" ersetzt. Die Theorie des "Großen Austausches" deckt sich zudem weitgehend mit den Aussagen rechtsextremistischer "Volkstod"-Parolen. Dabei wird behauptet, dass im Rahmen eines verschwörerischen Eliteprojektes das deutsche Volk durch zugewanderte "volksfremde" Migranten verdrängt würde und aussterben werde. Strukturen in Bayern Die hierarchische Struktur der IB in Bayern, die sich zunächst Autonom handelnde nach vermeintlichen "Volksgrenzen" gliederte, wurde mittlerOrtsund Regionalweile zugunsten autonomer Ortsbzw. Regionalgruppen aufgegruppen löst. Hintergrund dieser Entwicklung ist eine Mitte 2021 initiierte Neuausrichtung der IB. Der Aufbau voneinander augenscheinlich unabhängiger Kleingruppen dient dazu, die IB langfristig flexibler zu gestalten, sowie vor staatlichen Maßnahmen, aber auch vor Repression und "Outings" politischer Gegner zu schützen. Aus diesen Gründen verwenden die einzelnen Ortsbzw. Regionalgruppen auch keine bekannte IB-Symbolik mehr, wie beispielsweise das gelbe Lambda auf schwarzem Grund. Stattdessen nutzen die einzelnen Gruppierungen nun Namen mit einem lokalen bzw. regionalen Bezug und vernetzen sich miteinander im virtuellen Raum. In Bayern existieren folgende der IB zurechenbare Gruppierungen: "Reconquista21" (vormals "Wackre Schwaben"), "Lederhosen Revolte", "Isar Legion", "Oberpfalz Revolte", "Bollwerk Franken" und "Festung Ulm". Vom 31. März bis 2. April fand das Aktivistenwochenende der zwischenzeitlich umbenannten Regionalgruppe "Wackre Schwaben" unter dem Motto "Identität und Weltanschauung" statt. An der Veranstaltung beteiligten sich ca. 30, auf Bildern größtenteils vermummte, Aktivisten. 207 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Öffentlichkeitswirksame Aktionen in Bayern Seit Jahresbeginn konzentrieren sich die Aktionen der IB in Bayern vor allem auf den Themenkomplex "Asyl und Migration", der auch in der öffentlichen Debatte stark an Relevanz gewonnen hat. Antiasyl-Agitation Am 9. Februar führte die IB eine Propagandaaktion vor einer Asylunterkunft in Peutenhausen (Lkr. Neuburg-Schrobenhausen) durch. Dabei stoppten 6 Aktivisten den Durchgangsverkehr vor der Einrichtung und entrollten auf der Fahrbahn ein großflächiges Banner mit der Aufschrift "GEFÄHRDERSTANDORT". Das Transparent wurde durch 2 aufgestellte Rauchtöpfe flankiert, aus denen roter Rauch aufstieg. Noch vor dem Eintreffen der Polizei entfernten sich die Aktivisten von der Örtlichkeit. Im Rahmen der polizeilichen Sofortfahndung wurde ein Transporter angehalten, in dem sich 3 Tatverdächtige befanden, unter ihnen eine Führungsperson der bayerischen IB. Die erste Berichterstattung über die Aktion erfolgte auf dem Instagram-Kanal "wackre_ schwaben" (mittlerweile "reconquista_21"). Für Aktivisten, die von polizeilichen Durchsuchungsmaßnahmen im Zusammenhang mit der Banneraktion vom 9. Februar betroffen waren, wurde über den IB-Onlineshop "Phalanx Europa" eine "Solikampagne" initiiert. Der Erlös aus dem Verkauf von Kleidung und Aufklebern soll den Betroffenen in Hinblick auf mögliche Prozesskosten zu Gute kommen. Am 17. Mai führte die der IB zuzurechnende Regionalgruppe "Lederhosen Revolte" eine Protestaktion im Alten Botanischen Garten in München durch, mit der Flüchtlingen pauschal kriminelle Neigungen zugeschrieben werden sollten. Hierzu entrollten die Aktivisten ein Banner mit der Aufschrift "MÜNCHEN VERTEIDIGEN - VERGEWALTIGER ABSCHIEBEN" und entzündeten Pyrotechnik. An der Aktion beteiligten sich rund 10 Personen. Bei der Durchführung der Aktion trugen sämtliche Aktivisten der Münchner Regionalgruppe erstmals einheitliche Schlauchschals mit einem markanten Wappen, das den bayerischen Löwen zeigt. Im Nachgang veröffentlichte der Instagram-Kanal "lederhosen_revolte" mehrere Bilder sowie ein Video zur Aktion. Im Rahmen einer Drag-Queen-Lesung für Kinder in der Münchner Stadtbibliothek Bogenhausen am 13. Juni versuchten zudem 7 Angehörige der IB sich Zutritt zum Veranstaltungsbereich der Lesung zu verschaffen und ein Banner zu entrollen. Die Störaktion wurde durch die Polizei verhindert und eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch gestellt. Im Nachgang der Veranstaltung berichtete die IB-Gruppierung "Lederhosen Revolte" in 208 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 einem auf ihrem Instagram-Kanal veröffentlichten Video über ihre Beteiligung an der AfD-Veranstaltung und drohte dabei mit weiteren Aktionen gegen die LGBTQIA+-Community. Am 29. Juli fand in Wien eine sog. "Remigrationsdemo" der IB "Remigrationsdemo" statt. Sie stellt die erste Veranstaltung dieser Art nach dem Ende in Wien der Corona-Pandemie dar, bei der sich ca. 500 Teilnehmer aus mehreren europäischen Staaten einfanden. Darunter konnten auch ca. 10 Mitglieder der IB aus Bayern festgestellt werden, die teilweise hinter einem Banner in der vordersten Reihe marschierten. Am 10. August führte die IB eine Banneraktion vor dem Amtsgericht in Regensburg durch. Die Aktivisten der IB entrollten ein Banner mit der Aufschrift "FREIHEIT FÜR VERGEWALTIGER? MOHAMMAD M. ABSCHIEBEN!" und warfen Flugblätter in die Höhe. Darüber hinaus wurde Pyrotechnik in Form von 2 blauen Rauchtöpfen entzündet. An der Aktion beteiligten sich mindestens 5 vermummte Personen. Im Nachgang veröffentlichte der Instagram-Kanal der identitären Regionalgruppe "Lederhosen Revolte" eine Videosequenz zu der Banneraktion. Im Vorfeld hatte eine von diesem Gericht verhängte Bewährungsstrafe gegen Mohammad M., der 2015 nach Deutschland eingereist war, zu einer breiten öffentlichen Berichterstattung geführt. Der geständige Täter war wegen mehrerer Sexualdelikte gegen 5 junge Frauen angeklagt und wurde - nachdem er bereits seit Januar 2023 in Untersuchungshaft saß - nach Jugendstrafrecht zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Die IB-Regionalgruppierung "Reconquista 21" veranstaltete am Vernetzungstreffen 11. November ein Vernetzungstreffen in einem Lokal in Dasing. in Dasing Martin Sellner, der führende Aktivist der IB im deutschsprachigen Raum, trat bei der Veranstaltung als Redner vor dem Banner der Gruppierung auf. Neben Akteuren der IB waren auch Politiker der AfD anwesend. 10.2 Extremistische Bestrebungen innerhalb bayerischer Burschenschaften Aktivitas der Burschenschaft Danubia München Die "Burschenschaft Danubia" hat ihren Sitz in München. In der etwa 15 Personen umfassenden Aktivitas (= studierende Mitglieder) der Burschenschaft engagieren sich Rechtsextremisten, die auch zu anderen Gruppierungen der Szene enge Kontakte unterhalten. Bei Veranstaltungen der Aktivitas traten seit Jahren auch Referenten aus dem rechtsextremistischen Bereich auf. 209 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus Nachdem sich die Aktivitäten 2021 - vermutlich auch wegen der Einschränkungen aufgrund der Corona-Schutzmaßnahmen - hauptsächlich auf die Veröffentlichung und Weiterleitung von Beiträgen im Internet beschränkten, fanden seitdem im Haus der Burschenschaft wieder Veranstaltungen und Vorträge statt, die auch von Rechtsextremisten besucht wurden. Am 17. Mai beteiligten sich mindestens 3 Mitglieder der Aktivitas der Münchner "Burschenschaft Danubia" an einer Aktion der rechtsextremistischen IB im Alten Botanischen Garten, bei der ein Banner mit der Aufschrift "MÜNCHEN VERTEIDIGEN - VERGEWALTIGER ABSCHIEBEN" entrollt wurde. Aktivitas der Burschenschaft Teutonia Prag zu Würzburg Die "Burschenschaft Teutonia Prag zu Würzburg" ist eine pflichtschlagende Studentenverbindung mit Sitz in Würzburg. Die Aktivitas der Burschenschaft wird als rechtsextremistische Bestrebung bewertet. Die Aktivitas verbreitete im Hause der Burschenschaft rechtsextremistische Agitation durch das Abspielen rechtsextremistischer Musik. So wurde u. a. das indizierte Lied "Wacht an der Spree" der rechtsextremistischen Gruppe "Landser" laut abgespielt. Die Aktivitas nutzte außerdem die Räumlichkeiten der Burschenschaft dazu, Propagandamaterial der rechtsextremistischen "Identitären Bewegung" (IB) zu lagern, was als Unterstützung der rechtsextremistischen Bestrebungen der IB zu werten ist. Personelle ÜberIhre rechtsextremistische Ausrichtung zeigt sich ferner anhand schneidungen zur JA zahlreicher in den Gemeinschaftsräumen der Burschenschaft angebrachter Aufkleber mit Bezug zu rechtsextremistischen Gruppierungen wie der Partei "Der Dritte Weg" ("III. Weg") oder der IB. Darüber hinaus konnten mehrere NS-Devotionalien sowie in den Gemeinschaftsräumen angebrachte Aufkleber mit rechtsextremistischer Agitation festgestellt werden, die insbesondere auf die Aufhebung oder Außerkraftsetzung der Menschenwürde von Personen mit Migrationshintergrund und des Rechtsstaatsprinzips abzielen. Zudem bestehen starke personelle Überschneidungen zwischen Mitgliedern der Aktivitas der "Burschenschaft Teutonia Prag zu Würzburg" und der "Jungen Alternative" (JA). 210 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 11. NEONAZISMUS UND KAMERADSCHAFTEN Der Neonazismus ist eine besonders menschenverachtende Neonazistische Ziele Erscheinungsform des Rechtsextremismus. Er umfasst alle und Narrative Aktivitäten und Bestrebungen, die sich offen zur Ideologie des Nationalsozialismus bekennen. Ziel der Neonazis ist die Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und die Errichtung eines vom Führerprinzip bestimmten autoritären bzw. totalitären Staates. Neonazis betreiben revisionistische Vergangenheitsverfälschung, indem sie die Geschichtsschreibung über die Zeit des Dritten Reiches ändern wollen und die Gewaltherrschaft des nationalsozialistischen Regimes rechtfertigen oder verharmlosen. "Moderne" Neonazis thematisieren aktuelle sozialoder gesellschaftspolitische Fragen und liefern vermeintlich einfache Antworten. Bei Demonstrationen greifen sie tagespolitische Themen auf und fordern beispielsweise die "Todesstrafe für Kindermörder" oder "Arbeitsplätze zuerst für Deutsche". Ihre Thesen stützen Neonazis auf rassistische und antisemitische Argumentationsmuster. In Bayern entfalten vor allem die rechtsextremistische KleinstRückläufige Tendenpartei "Der Dritte Weg" ("III. Weg") sowie einzelne Kameradzen bei Kameradschaften neonazistische Aktivitäten. Die Organisationsform der schaften neonazistischen Kameradschaft ist aber insgesamt rückläufig. So schließen sich Neonazis überwiegend in informellen Gruppen zusammen, die weitgehend ohne feste Strukturen auskommen, oder sie agieren als Einzelpersonen. Vernetzung und Kontaktpflege erfolgen über das Internet und soziale Netzwerke. In Bayern werden rund 710 Personen dem Neonazismus zugeordnet. Die rechtsextremistische Gruppierung "Freiheitlich-Sozial-Nationale Aktionsgruppe" (FSNAG), die sich auch als "Freundeskreis" bezeichnet, verbreitet in zahlreichen Beiträgen in den sozialen Medien eine offen neonazistische Ideologie und glorifiziert dabei den historischen Nationalsozialismus. Die Gruppierung gibt u. a. an, für den "Nationalen Sozialismus" einzutreten und sieht die "FreiheitlichZeit für einen Systemsturz gekommen. Neben der vorwiegend Sozial-Nationale über den virtuellen Raum betriebenen Vernetzung und Agitation Aktionsgruppe" organisiert die Gruppierung auch realweltliche Veranstaltungen in Bayern. 211 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus 12. RECHTSEXTREMISTISCHE SUBKULTUREN Um junge Menschen zu gewinnen, hat sich die rechtsextremistische Szene in Mode und Ideologie geöffnet. Die einst szenetypischen Glatzen und Springerstiefel der Skinheads sind weitestgehend verschwunden. Piercings, längere Haare, Basecaps oder bestimmte Kleidermarken und sogar Stilelemente aus dem "linken" und linksextremistischen Spektrum wurden übernommen. Eine rechtsextremistische Gesinnung ist somit äußerlich oftmals nur noch schwer zu erkennen. Die rechtsextremistische Szene versucht zudem, ihre Feindbilder und Ideologien in Jugendszenen einfließen zu lassen, um weitere Mitglieder zu gewinnen und jugendrelevante Trends und Stile mitzuprägen. Von Black Metal und Hatecore bis hin zu Hip-Hop, Vaporwave und anderen sind sämtliche jugendkulturelle Stilspektren von Vereinnahmungsversuchen durch die rechtsextremistische Szene betroffen. Anlehnung an Erscheinungsbild und Strukturen der Rockerszene Teile der subkulturell geprägten rechtsextremistischen Szene orientieren sich in ihrem Erscheinungsbild und ihren internen Strukturen an der Rockerszene. So wählen sie beispielsweise englischsprachige Gruppenbezeichnungen, tragen "Kutten" (Motorradjacken, auf deren Rückenteil das Gruppenlogo aufgenäht ist), pflegen rockerähnliche Aufnahmerituale für Neumitglieder und benennen interne Hierarchieebenen mit englischen Begriffen wie "President" oder "Secretary". Die mit Abstand mitgliederstärkste Skinheadgruppierung in Bayern, "Voice of Anger", weist ebenfalls in Teilen Ähnlichkeiten mit Rockergruppierungen auf. So orientiert sich beispielsweise eines ihrer Aufnahmeverfahren am sog. "Prospect"-Status der Rocker. Es ist aber weder eine strukturierte Zusammenarbeit noch eine ideologische Annäherung zwischen der rechtsextremistischen Szene und der "1-Prozenter"-Rockerszene in Bayern feststellbar. Weite Teile der rechtsextremistischen Szene lehnen Rockerclubs wegen ihrer teilweise hohen Anteile an Mitgliedern mit Migrationshintergrund ab. Es bestehen aber punktuell personelle Überschneidungen zwischen dem Rockermilieu und der rechtsextremistischen Szene, die zumeist auf geschäftliche Interessen oder persönliche Beziehungen zurückgehen. 212 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Voice of Anger (VoA) VoA wurde im Jahr 2002 in Memmingen als Skinheadvereinigung von überwiegend jüngeren Skinheads gegründet. Sie ist subkulturell-neonazistisch orientiert. VoA gliedert sich in Bayern in die Sektionen Memmingen, Schwaben, Unterallgäu und "Nomads" Duchsuchungen und umfasst insgesamt etwa 60 Mitglieder und Sympathisanten. in 3 Ländern Mit der Sektion "Preussen" wurde mittlerweile auch ein Ableger außerhalb Bayerns gegründet, der in Hemer (Nordrhein-Westfalen) ein eigenes Clubhaus angemietet hat. Im März durchsuchte die Polizei mehrere Objekte von Mitgliedern der Kameradschaft in Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Dabei wurde neben einem gefälschten Impfpass auch ein verbotenes Messer sichergestellt. Im Zentrum ihrer Aktivitäten steht die Ausrichtung von internen Veranstaltungen zur Förderung des Zusammenhaltes. Zudem organisiert VoA die Teilnahme an Skinheadkonzerten. Eine der Führungsfiguren, Benjamin Einsiedler, vertreibt mit seinem Szeneversandhandel "Oldschool Records" Szeneartikel und Tonträger. Mitglieder von "Voice of Anger - Nomads" gründeten im Jahr 2010 die Skinheadband "Kodex Frei". VoA ist derzeit eine der wenigen noch überregional aktiven Skinheadkameradschaften. Entgegen der sonst rückläufigen Entwicklung der subkulturell geprägten Skinheadszene konnte VoA ihren Mitgliederbestand konstant halten und stellt somit die größte Skinheadgruppierung in Bayern dar. Potenzielle Mitglieder müssen zunächst ein abgestuftes Aufnahmeverfahren ähnlich dem einer Rockergruppierung durchlaufen. In 2022 veranstaltete VoA wieder Konzerte und ließ in ihren eigenen Räumlichkeiten am 2. April und am 25. Juni rechtsextremistische Bands auftreten. Eine größere Veranstaltung fand am 1. Oktober in Memmingen statt. Bei den etwa 60 dort festgestellten Personen handelte es sich vermutlich um die Teilnehmer einer Jubiläumsfeier zum 20-jährigen Bestehen der Skinheadgruppe. Kollektiv Zukunft Schaffen - Heimat Schützen (KZSHS) KZSHS ist eine dem subkulturellen Rechtsextremismus zuzurechnende Gruppierung aus dem Raum Nordbayern mit ideologischer Nähe zum Neonazismus. Aktivitäten von KZSHS konnten sowohl realweltlich als auch virtuell erstmals in 2021 festgestellt werden. Über den Messengerdienst Telegram verbreitet KZSHS verfassungsfeindliche Agitation. In mehreren Beiträgen verherrlicht die Gruppierung die Zeit des Nationalsozialismus. Ferner verbreitete 213 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Rechtsextremismus sie zahlreiche antisemitische Beiträge. So bezeichnet KZSHS in einem Telegram-Beitrag vom 18. Juli das "zionistische System" als Ursache für Migration und Gewalt durch Migranten in Deutschland. In einem Beitrag vom 10. Juli wird Juden außerdem unterstellt, einen "Genozid an den weißen Völkern" durchzuführen und über Impfstoffe einen Anstieg an Totgeburten in Deutschland herbeigeführt zu haben. Zudem verbreitet KZSHS zahlreiche Beiträge der rechtsextremistischen Kleinstpartei "Der Dritte Weg" ("III. Weg") und anderen rechtsextremistischen Gruppierungen. KZSHS unterstützt damit nachdrücklich auch die von diesen Organisationen ausgehenden verfassungsfeindlichen Bestrebungen. KZSHS mobilisierte in der Vergangenheit regelmäßig für die Proteste gegen die Corona-Politik und nahm selbst an vielen Demonstrationen teil. In 2023 beteiligte sich die Gruppierung an Protesten gegen die Unterbringung von Flüchtlingen im Raum Oberfranken und bewarb diese im Vorfeld auf Telegram. Am 13. Januar trat ein KZSHS-Aktivist auf einer Veranstaltung, die von einem damaligen oberfränkischen Funktionär des "III. Weg" durchgeführt wurde, als Redner auf. Bollwerk Oberpfalz (BWO) BWO ist eine seit dem Jahr 2016 bestehende Gruppierung. Sie wird als lose organisierte Gruppe mit einem Personenpotenzial von gut 10 Personen dem subkulturell geprägten Rechtsextremismus zugeordnet. Die Gruppierung bedient Versatzstücke einer rechtsextremistischen Ideologie, verfügt aber nicht über eine fundierte ideologische Überzeugung. Ihrer Selbstdarstellung zufolge liegt ihr Hauptzweck in der Durchführung szenetypischer Freizeitaktivitäten. Im Jahr 2022 nahmen mehrere BWO-Anhänger an einer Protestveranstaltung zu den Themen Energie, Inflation, Corona und Ukrainekrise in Schwandorf teil, bei der auch weitere Rechtsextremisten festgestellt werden konnten. Blood & Honour (B&H) Die neonazistische Skinheadbewegung B&H ist ein ursprünglich aus England stammendes, mittlerweile international agierendes, rechtsextremistisches Netzwerk. Seit ihrer Gründung Ende der 1980er Jahre verbreitet B&H nationalsozialistisches und rassistisches Gedankengut im Rahmen der Veranstaltung von Skinheadkonzerten und durch den Vertrieb von rechtsextremistischer Musik und Szenekleidung. Die Organisationsbezeichnung "Blood & Honour" ist der in die englische Sprache übersetzte Leitspruch "Blut und Ehre", der von der nationalsozialistischen Jugendorganisation "Hitlerjugend" verwendet wurde. 214 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 In den 1990er Jahren stellte B&H die bedeutendste und aktivste internationale Organisation innerhalb der Skinheadszene dar. In Deutschland existierte ab 1994 eine eigene "Division". Sie war gegen Ende der 1990er Jahre einer der wichtigsten Veranstalter rechtsextremistischer Skinheadkonzerte, gab ein gleichnamiges Magazin heraus und betrieb zeitweilig ein eigenes Produktionslabel für rechtsextremistische Tonträger. Im Jahr 2000 bestand die Organisation bundesweit aus 15 regionalen Untergliederungen, sog. "Sektionen", und besaß eine Gesamtstärke von rund 200 Mitgliedern. In Bayern unterteilte sich die B&H-Bewegung in die "Sektionen" Franken und Bayern, die ihre jeweiligen Sitze in den Regionen Amberg und Bamberg hatten und zusammen etwa 20 Mitglieder umfassten. Im September 2000 verbot der Bundesminister des Innern B&H Verbot seit mitsamt ihrer Jugendorganisation "White Youth" nach dem VerSeptember 2000 einsgesetz, da die Gruppierung sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung richtete. Seit dem 16. Juni 2001 ist das Verbot bestandskräftig. In den Jahren nach dem Verbot wurden Nachfolgeaktivitäten früherer Mitglieder der Organisation durch konsequente Strafverfolgungsmaßnahmen unterbunden. Nach 2006 waren zunächst nur vereinzelt Verdachtsmomente bekannt geworden, die auf Nachfolgebestrebungen der Organisation im Bundesgebiet hindeuteten. Das Landgericht München verurteilte am 3. August 2022 9 Männer zu Geldstrafen und Haftstrafen auf Bewährung, u. a. wegen Verstoß gegen das Vereinigungsverbot, Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Volksverhetzung. Den Beschuldigten wurde vorgeworfen, als Funktionäre und Mitglieder das verbotene Netzwerk "Blood & Honour Division Deutschland" (B&H Deutschland) fortgeführt zu haben. Im August wurden die Urteile gegen 8 der 9 Verurteilten rechtskräftig. 215 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Reichsbürger und Selbstverwalter Reichsbürger und Selbstverwalter Die Bezeichnung Reichsbürger umfasst Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit verschiedenen Begründungen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen. Dabei berufen sie sich u. a. auf das historische Deutsche Reich, verschwörungstheoretische Argumentationsmuster, die sie auch mit tagesaktuellen Themen wie z. B. der Corona-Pandemie verknüpfen, oder ein selbst definiertes Naturrecht. Den Repräsentanten des Staates und dessen Institutionen sprechen sie die Legitimation ab und bestreiten die Gültigkeit der Rechtsordnung. Zur Verwirklichung ihrer Ziele treten sie zum Teil aggressiv gegenüber den Gerichten und Behörden der Bundesrepublik Deutschland auf. Selbstverwalter sind Einzelpersonen, die behaupten, sie könnten durch eine Erklärung aus der Bundesrepublik austreten und seien daher auch nicht mehr deren Gesetzen unterworfen. Die dafür genutzten Argumente sind im Wesentlichen deckungsgleich mit denen der Reichsbürger. Selbstverwalter definieren beispielsweise ihre Wohnung, ihr Haus oder ihr Grundstück als souveränes Staatsgebiet, auf dem ihre eigene "Staatsordnung" gelte. Ihr Grundstück markieren sie mitunter durch eine (Grenz-)Linie und erfinden eigene "Staatswappen". 216 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 In Teilen sind Angehörige der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene auch dem Phänomenbereich Rechtsextremismus zuzurechnen, insbesondere dort, wo sich Versatzstücke antisemitischer und nationalsozialistischer Denkmuster wiederfinden. Die Reichsbürgerideologie ist insgesamt geeignet, Personen in ein geschlossenes verschwörungstheoretisches Weltbild zu verstricken, in dem Staatsverdrossenheit zu Staatshass werden kann. Dies kann zur Grundlage für Radikalisierungsprozesse bis hin zur Gewaltanwendung werden. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet die Reichsbürgerund Selbstverwalterszene in Bayern als sicherheitsgefährdende Bestrebung. 217 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Reichsbürger und Selbstverwalter 1. PERSONENPOTENZIAL Den Sicherheitsbehörden in Bayern ist es durch kontinuierliche Ermittlungsarbeit gelungen, Personenpotenzial, Strukturen und regionale Schwerpunkte weiter aufzuklären. Bis Ende 2023 lagen zu 5.406 Personen belastbare Hinweise bezüglich ihrer Zugehörigkeit zur Reichsbürgerund Selbstverwalterszene vor. Damit ist erneut ein leichter Anstieg gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen (2022: 5.360). Bis zu 530 Einzelpersonen gehören zum "harten Kern", der insbesondere durch zahllose Aktivitäten gegenüber staatlichen Institutionen seine Ideologie zum Ausdruck bringt. Dem gewaltorientierten Personenpotenzial innerhalb der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene in Bayern werden derzeit rund 500 Personen zugerechnet. Dazu zählen insbesondere Einzelpersonen, die beispielsweise über Erpressungen und gewaltbefürwortende Äußerungen auf sich aufmerksam gemacht haben. Das gewaltorientierte Personenpotenzial beinhaltet zugleich eine Schnittmenge zu den Einzelpersonen, die dem "harten Kern" angehören. Bei den meisten bislang identifizierten Angehörigen der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene ist weiterhin kein "Organisationsbezug" feststellbar. Die Maßnahmen der Sicherheitsbehörden und die Berichterstattung darüber, u. a. zu Waffenentzugsverfahren bei Reichsbürgern, entfalten auch präventive Wirkung. Sie führen der Szene mögliche Konsequenzen vor Augen, die sich aus einer verfassungsfeindlichen Haltung ergeben können. Zudem werden Straftaten, insbesondere Erpressungsund Nötigungsdelikte, konsequent verfolgt. Nachdem sich die Aktivitäten der bayerischen Reichsbürgerund Selbstverwalterszene in 2020 und 2021 aufgrund der coronabedingten staatlichen Beschränkungsmaßnahmen überwiegend in den digitalen Raum verlagert hatten, steigt seit 2022 mit der Rücknahme der Maßnahmen auch die Zahl der realweltlichen Veranstaltungen wieder an. Im Jahr 2023 konzentrierten sich die Aktivitäten der Szene wieder vermehrt auf die Durchführung von 218 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Seminarund Vortragsveranstaltungen sowie auf gemeinschaftliche Aktivitäten mit dem Ziel, die eigene Ideologie zu verbreiten und die Vernetzung innerhalb der Szene voranzutreiben. Die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter in Bayern ist stark männlich geprägt: Rund 2 Drittel der in Bayern als Angehörige der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene identifizierten Personen sind männlich. Die Altersstruktur innerhalb der Szene unterscheidet sich erheblich von der in anderen Phänomenbereichen. Während dort häufig jüngere Menschen stark vertreten sind, liegt der Schwerpunkt der Szene im Alterssegment der 40bis 69-Jährigen, wobei hier die Gruppe der Personen zwischen 50 und 59 Jahren dominiert. Personen unter 29 Jahre sind in der Szene hingegen nur unterdurchschnittlich repräsentiert. In Bayern sind Angehörige der Szene in den Regierungsbezirken Unterfranken, Mittelfranken und Oberbayern überdurchschnittlich vertreten. Eine eindeutige Zuordnung von Angehörigen der Reichsbürgeroder Selbstverwalterszene zur rechtsextremistischen Szene ist bislang nur in wenigen Fällen belegbar. Die Zahl der Reichsbürger in Bayern, die auch in rechtsextreSchnittmengen zu mistischen Zusammenhängen bekannt geworden sind, beläuft anderen Phänosich auf ca. 140 Personen. Dabei handelt es sich vorwiegend menbereichen um Einzelpersonen, die keinen konkreten Strukturen zugerechund bürgerlichem net werden können und Ideologieelemente aus beiden PhänoSpektrum menbereichen vertreten. Insbesondere bei den Themen Antisemitismus und Gebietsrevisionismus gibt es Überschneidungen zwischen Personen aus der rechtsextremistischen Szene und Reichsbürgern. Auch zum Phänomenbereich verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates besteht in Teilen eine inhaltliche Nähe. Eine strukturelle Zusammenarbeit mit Personen aus diesen Phänomenbereichen ist aber weiterhin nicht erkennbar. Die Ablehnung des Staates und seiner Organe ist ideologischer Bestandteil nahezu aller extremistischen Phänomenbereiche. 219 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Reichsbürger und Selbstverwalter 2. GEWALTPOTENZIAL UND STRAFTATEN Straftaten mit extremistischem Hintergrund von Angehörigen der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene 2021 2022 2023 Politisch motivierte Gewaltdelikte Tötungsdelikte (auch Versuch) 0 0 0 Körperverletzungen 2 0 6 Brandund Sprengstoffdelikte 0 0 0 Landfriedensbruch 0 0 0 Raub 1 0 0 Erpressung 113 185 59 Widerstandsdelikte 5 12 7 Gefährlicher Eingriff in Bahn-, Schiffsund 1 0 0 Luftverkehr Sonstige Gewalttaten 0 0 1 Gesamt 122 197 73 Kriminelle Vereinigung/ 0 0 0 Terrorismus Sonstige Straftaten Sachbeschädigungen 3 6 1 Propagandadelikte 14 7 4 Volksverhetzung 9 15 12 Nötigung/Bedrohung 178 385 146 Sonstige Straftaten 99 89 70 Gesamt 303 502 233 Straftaten insgesamt 425 699 306 Straftaten von Angehörigen der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene werden seit dem Jahr 2017 gesondert erfasst. In 2023 wurden insgesamt 306 (Vorjahr: 699) extremistische Straftaten gezählt, darunter 73 Gewaltdelikte (Vorjahr: 197). Den Schwerpunkt bei den Gewaltdelikten bildeten mit 59 Taten erneut die Erpressungsdelikte (Vorjahr: 185). Die Zahl der Widerstandsdelikte sank auf 7 Taten. 220 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Mit 146 Taten stellten Nötigungsund Bedrohungsdelikte erneut den Schwerpunkt der sonstigen 233 Straftaten dar (Vorjahr: 385). Einzelne Personen sind u. a. wegen Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole, Volksverhetzung sowie verfassungsfeindlicher Verunglimpfung von Staatsorganen aufgefallen. Reichsbürger bewegen sich in einem für sie geschlossenen Weltbild. Der Glaube daran, dass deutsche Gesetze für sie keine Gültigkeit hätten, führt dazu, dass staatliche Maßnahmen als unrechtmäßig empfunden werden. Dabei können insbesondere die im Internet und dort speziell auf alternativen Medienplattformen verbreiteten Verschwörungstheorien den Nährboden für eine Radikalisierung von Einzelpersonen innerhalb der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene bereiten. Gewalttaten richten sich in aller Regel gegen staatliche Maßnahmen bzw. gegen Vertreter des Staates. Solche Gewalttaten werden innerhalb der Szene in der Regel als Notwehr gegen den Staat gedeutet. Gewalttäter erfahren dementsprechend nach einschlägigen Vorfällen solidarisierenden Zuspruch. Bei Einzelpersonen, die ideologisch besonders gefestigt erscheinen, ist eine Häufung politisch motivierter Straftaten feststellbar, insbesondere Beleidigungsund Nötigungsdelikte, in Einzelfällen auch Erpressungsdelikte. Darüber hinaus werden innerhalb der Szene regelmäßig reichsbürgertypische Musterschreiben verbreitet, die häufig als Reaktion auf Bußgeldbescheide an öffentliche Stellen adressiert werden. Diese erfüllen oftmals aufgrund der enthaltenen Schadensersatzforderungen die Straftatbestände der Erpressung, Nötigung und Bedrohung. Die Angehörigen der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene Waffenaffinität der sind sehr waffenaffin. Sie besitzen zum einen häufig erlaubnisSzene freie Waffen, die sie zur vermeintlichen Selbstverteidigung und zur Durchsetzung ihrer Ziele einsetzen könnten. Zum anderen werden oft nicht nur legale, (noch) im Besitz befindliche Waffen festgestellt, sondern auch illegale Waffen bis hin zu ganzen Waffenarsenalen. So wurden bei einer Durchsuchung am 2. März in München u. a. 3 funktionsfähige Handgranaten, 1 scharfe halbautomatische Pistole, diverse Messer und Schlagstöcke, 1 Armbrust sowie mehrere tausend Schuss scharfe Munition sichergestellt. Anlass der Durchsuchung waren laufende Ermittlungen gegen einen Reichsbürger, nachdem dieser im Internet den Mord an 2 Polizeibeamten in Kusel (Rheinland-Pfalz) im Jahr 2022 gutgeheißen hatte. 221 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Reichsbürger und Selbstverwalter Daher ist es erforderlich, den Waffenbesitz innerhalb der Szene weiterhin konsequent aufzudecken und zu unterbinden, aber auch den Besitz erlaubnisfreier Waffen im Blick zu behalten. Zur Eindämmung des Gefährdungspotenzials durch den Waffenbesitz von Reichsbürgern werden regelmäßig und systematisch waffenrechtliche Erlaubnisse überprüft und, wo möglich, entzogen. Jede waffenrechtliche Erlaubnis setzt eine waffenrechtliche Zuverlässigkeit voraus. Diese ist bei Angehörigen der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene aber regelmäßig zu verneinen, da die Nichtanerkennung des Staates und seiner Gesetze ein Kernbestandteil der Ideologie ist. DurchsuchungsSo kam es am 6. Oktober auf Antrag des Kreisverwaltungsrefemaßnahmen rates München zum Vollzug zweier Durchsuchungsbeschlüsse gegen ein Ehepaar, mit dem Ziel deren Schusswaffen und die diesbezüglichen Dokumente einzuziehen. Die Waffenbehörde hatte dem in München wohnhaften Ehepaar die Waffen und waffenrechtlichen Erlaubnisse aufgrund von Zweifeln an ihrer waffenrechtlichen Zuverlässigkeit per rechtskräftigem waffenrechtlichen Bescheid entzogen. Die Eheleute, welche beide der Reichsbürgerszene zuzurechnen sind, hatten sich jedoch geweigert, die Waffen abzugeben. Im Rahmen der Durchsuchung konnten die Kräfte des Polizeipräsidiums München in insgesamt 11 Tresoren sämtliche in Rede stehende Waffen sicherstellen. Des Weiteren vollzog ein anwesender Gerichtsvollzieher Maßnahmen zur Eintreibung ausstehender Geldbeträge. Ermittlungen gegen Die Waffenund Gewaltaffinität der Szene zeigten 2022 die Gruppierung um XIII. Ermittlungen gegen die Gruppierung um Heinrich XIII. Prinz Prinz Reuß Reuß. Zu dieser gehörten neben Rechtsextremisten und Reichsbürgern auch Personen, die dem Phänomenbereich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates zuzurechnen sind. Den Mitgliedern der Gruppierung wird die Bildung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen: Sie sollen geplant haben, die bestehende staatliche Ordnung in Deutschland überwinden und durch eine eigene, bereits in Grundzügen ausgearbeitete Staatsform ersetzen zu wollen. Dass Angehörige dieser Gruppierung entschlossen waren, ihre Pläne notfalls auch mit Waffengewalt durchzusetzen, zeigte sich bei einer weiteren im Rahmen des Ermittlungsverfahrens erfolgten Durchsuchungsmaßnahme am 22. März in Reutlingen (Baden-Württemberg), bei der ein Reichsbürger mit einer großkalibrigen Schusswaffe das Feuer auf die Polizeikräfte eröffnete und einen Beamten am Arm verletzte. Anfang Dezember erhob die Bundesanwaltschaft Anklage gegen 26 mutmaßliche Mitglieder und eine mutmaßliche Unterstützerin der Gruppierung. 222 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Ob die Anklagen zugelassen werden und das Hauptverfahren eröffnet wird, entscheiden die Oberlandesgerichte Frankfurt am Main, München und Stuttgart. Im Jahr 2023 haben die Sicherheitsbehörden in Bayern 29 Entzug von WaffenPersonen (2022: 35) innerhalb der Szene der Reichsbürger erlaubnissen und Selbstverwalter identifiziert, die über eine oder mehrere waffenrechtliche Erlaubnisse verfügten. Gegen alle 29 Personen wurden bereits Widerrufsverfahren durch die Waffenbehörden eingeleitet. Die Waffenbehörden erließen in 30 Fällen (2022: 30) einen Widerrufsbescheid. Durch Widerruf oder aufgrund eines vor Widerruf erklärten freiwilligen Verzichtes wurden 2023 insgesamt 63 (2022: 65) waffenrechtliche Erlaubnisse entzogen. Dabei wurden 93 Waffen (2022: 207) bei der Waffenbehörde oder an Berechtigte abgegeben. 3. IDEOLOGIE Angehörige der Reichsbürgerszene berufen sich in unterschiedlichster Form auf den Fortbestand des Deutschen Reiches. Dabei wird z. B. auf den Rechtsstand von 1937, 1914 2 Tage vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges oder auch 1871 Bezug genommen. Sie behaupten, Deutschland habe keine gültige Verfassung und sei damit als Staat nicht existent, oder das Grundgesetz habe mit der Wiedervereinigung 1990 seine Gültigkeit verloren. Daher fühlen sich Szeneangehörige auch nicht verpflichtet, den in der Bundesrepublik geltenden Gesetzen Folge zu leisten. Die jeweils vorgetragenen Argumente gegen die Existenz Deutschlands als Staat sind falsch. Das Bundesverfassungsgericht lässt in seiner gesamten Rechtsprechung keinen Zweifel daran, dass das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die gültige Verfassung des wiedervereinigten Deutschlands ist. Zu den vermeintlichen Argumenten der Reichsbürgerszene stellte das Amtsgericht Duisburg im Leitsatz einer Entscheidung bereits am 26. Januar 2006 zusammenfassend fest: Das Bonner Grundgesetz ist unverändert in Kraft. Eine deutsche Reichsverfassung, eine kommissarische Reichsregierung oder ein kommissarisches Reichsgericht existiert ebenso wenig, wie die Erde eine Scheibe ist. 223 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Reichsbürger und Selbstverwalter Zersplitterung der Die Reichsbürgerszene eint zwar die grundsätzliche Ablehnung Szene des bundesdeutschen Staatswesens, ideologisch und organisatorisch ist die Bewegung jedoch sehr heterogen. In der Szene gibt es Personen, die Geschäftsinteressen verfolgen, Verschwörungstheorien anhängen, dem Rechtsextremismus zugeordnet werden oder esoterisch bzw. querulatorisch orientiert sind. Insbesondere auf regionaler Ebene teilt sich die Szene in zahlreiche Kleinstgruppen, die untereinander konkurrieren, persönliche oder ideologische Konflikte austragen und sich gegenseitig die Legitimität absprechen. Das Entstehen einzelner mitgliederstarker Organisationen, die eine Führungsrolle einnehmen könnten, ist derzeit nicht abzusehen. Durch die Aufspaltung von Gruppierungen vervielfachen sich zudem die Möglichkeiten, einen der Fantasietitel und -posten zu erlangen, die Reichsbürgergruppierungen häufig vergeben. Mit diesen erfundenen Titeln, wie z. B. "Kommissarischer Reichsminister", befriedigen Angehörige der Reichsbürgerszene ihr persönliches Geltungsbedürfnis. Hinsichtlich der ideologischen Auseinandersetzung führt insbesondere die für die Reichsbürgerszene zentrale Fragestellung, ob Deutschland eine gültige Verfassung habe, regelmäßig zu internen Streitigkeiten. Teile der Szene vertreten den Standpunkt, dass das Grundgesetz nur für die "juristische Person" bzw. das "Personal" der privatrechtlichen und unter alliierter Kontrolle stehenden Firma "BRD-GmbH" gelte, da es von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg verfasst worden sei. Andere Teile der Szene schließen eine Wirksamkeit des Grundgesetzes gänzlich aus und verweisen vielmehr auf die vermeintliche Fortgeltung früherer "Reichsverfassungen", beispielsweise von 1871 oder 1913. Angeblich impliziere bereits der Name "Grundgesetz", dass es sich dabei nicht um eine Verfassung handeln könne. Wiederum andere argumentieren, dass das Grundgesetz mit dem Beitritt der DDR außer Kraft getreten und die Verabschiedung einer neuen Verfassung bisher nicht erfolgt sei. Solche Überzeugungen sind auch unter Selbstverwaltern verbreitet, die ihre eigene Person als Staat mit Gesetzgebungskompetenz ansehen und sich eine eigene Verfassung für ihr "selbstverwaltetes" Territorium geben. 224 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 4. TYPISCHE AKTIVITÄTEN Angehörige der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene entfalten gegenüber staatlichen Institutionen eine Vielzahl von Aktivitäten, die zum Teil - wie das Erstellen von Fantasiedokumenten - Ausdruck ihrer Ideologie sind, aber auch auf das Lahmlegen der öffentlichen Verwaltung abzielen. In Einzelfällen kommt es auch zu Gewaltandrohung bzw. -anwendung gegenüber staatlichen Repräsentanten. 4.1 Auftreten gegenüber Justiz und Verwaltung Regelmäßig überziehen Angehörige der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene Behörden und Gerichte mit querulatorischen Schreiben, in denen sie der öffentlichen Verwaltung und der Justiz ihre Autorität oder ihre Existenz absprechen. Zum Teil verfolgen sie damit das Ziel, sich rechtlichen Verpflichtungen, wie z. B. Forderungen des Staates aus Steuer-, Bußgeldoder Verwaltungsverfahren, zu entziehen. In umfangreichen Briefen werden z. B. Behörden und Gerichte belehrt und beleidigt oder haltlose Schadenersatzforderungen erhoben, um diese einzuschüchtern und Maßnahmen der Justiz oder der Polizei zu beeinflussen oder gar zu verhindern. In der gerichtlichen Auseinandersetzung ist der Aktivismus von Angehörigen der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene ambivalent: Einerseits schöpfen sie den Rechtsweg weitestgehend aus und überhäufen Gerichte mit Anträgen und Eingaben. Dabei lassen sie sich mitunter auch von selbsternannten Szeneanwälten, sogenannten "Recht-Konsulenten" (Schreibweise variiert), vertreten. Andererseits bleiben sie häufig Gerichtsterminen fern, wirken nicht am ordentlichen Verfahren mit und versuchen, Strafbefehle einfach ins Leere laufen zu lassen und nicht zu beachten. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wurden vermehrt Schreiben festgestellt, in welchen mit szenetypischen Formulierungen die Unrechtmäßigkeit von Staat und Verwaltung behauptet und dabei auf das "S.H.A.E.F." Bezug genommen wird. Bei "S.H.A.E.F." handelt es sich um die Bezeichnung des Hauptquartiers der Alliierten Streitkräfte in 225 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Reichsbürger und Selbstverwalter Nordwestund Mitteleuropa während des Zweiten Weltkrieges. Nachdem die Bundesrepublik Deutschland aus Perspektive der Reichsbürgerszene nicht existiert, bewerten Teile der Szene das Besatzungsrecht als immer noch gültig. Sie beziehen sich in ihren Forderungen und Schreiben daher häufig auch auf das vermeintliche "S.H.A.E.F.-Gesetz", worunter in der Szene ein Besatzungsrecht verstanden wird. Mit dem Rückgang der Beschränkungsmaßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie ging auch der Versand von Schreiben mit "S.H.A.E.F."-Bezug zurück. Darüber hinaus wurde bekannt, dass der niedersächsische Reichsbürger und selbsternannte "Befehlshaber" der alliierten "S.H.A.E.F.-Besatzungstruppen", der deutschlandweit mit seinen öffentlichen "Todesurteilen" Aufmerksamkeit generierte, Mitte März verstarb. Aufgrund fehlender Schuldfähigkeit wurde der Reichsbürger strafrechtlich nicht belangt. Mit dem Ableben des sogenannten "Befehlshabers" reduzierte sich der in Bayern festzustellende Versand von Schreiben mit "S.H.A.E.F."-Bezug nochmals merklich. 4.2 Beantragung von Staatsangehörigkeitsausweisen und Nutzung eigener Dokumente Angehörige der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene bestreiten die rechtmäßige Existenz der Bundesrepublik Deutschland als Staat und bezeichnen diese häufig als "Firma BRD". Teile der Bewegung sind zudem der Auffassung, dass sie nicht die Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland besitzen bzw. aus dieser "austreten" können. Auf diese Weise wird neben der Vernichtung oder Rückgabe von Ausweisdokumenten auch die Erstellung und der Vertrieb von Fantasiedokumenten sowie die missbräuchliche Beantragung des Staatsangehörigkeitsausweises (sogenannter "gelber Schein") gerechtfertigt. Ausgehend von der falschen Annahme, ohne Staatsangehörigkeitsausweis staatenlos zu sein, beantragen Szeneangehörige häufig einen Staatsangehörigkeitsausweis zur Bestätigung ihrer Reichsund Staatsangehörigkeit nach dem Staatsangehörigkeitsgesetz. Der Begriff "Personalausweis" ist für sie ein Beleg für die Staatenlosigkeit, da als "Personal" ausschließlich Angehörige einer Firma, hier der "Firma BRD", bezeichnet würden. Vom Staatsangehörigkeitsausweis erhofft sich dieser Personenkreis - rechtlich völlig unzutreffend - u. a. den "Ausstieg aus der Firma BRD". Der "gelbe Schein" wird zudem als Nachweis der "Rechtsstellung" als Staatsangehöriger des vorgeblich fortbestehenden "Deutschen Reichs" angesehen. 226 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Entsprechende Antragstellungen von Teilen der Bewegung waren, wie schon 2022, rückläufig. Dieser Rückgang ist mutmaßlich auf die erhöhten Antragshürden zurückzuführen, die inzwischen den Nachweis eines "berechtigten Interesses" vorsehen. Mitunter vertreten Angehörige der Reichsbürgerszene eine Propagierung der vermeintlich "naturrechtliche" Auffassung und berufen sich Staatenlosigkeit auf ihre Eigenschaft als "Mensch", der - im Gegensatz zur "juristischen Person", die von der sogenannten "BRD-GmbH" bzw. deren "Schein-Regierung" konstruiert werde - die Feststellung einer Staatsangehörigkeit nicht benötige. Daher stellt das Thema "Staatenlosigkeit" innerhalb der Szene einen zentralen Bezugspunkt dar. Die Ablehnung des deutschen Staates fußt dabei auf der irrigen Annahme, Mensch zu sein, stehe im Widerspruch zur Identität als vermeintliches "Personal" der "Firma BRD". Wiederum andere suchen nach Alternativen für eine vermeintliche staatliche Beglaubigung der Staatsangehörigkeit, wie etwa die notarielle Beglaubigung von Dokumenten. Angehörige der Reichsbürgerszene benutzen zudem an"Milieumanager" stelle amtlicher Ausweise Fantasiepapiere wie "Heimatscheine", "Reichspersonenausweise" oder "Reichsführerscheine". Diese Fantasiepapiere sind rechtlich bedeutungslos und teilweise strafrechtlich relevant. Ihr Vertrieb stellt für Reichsbürgergruppierungen eine wichtige Einnahmequelle dar und wird meist durch "Milieumanager" organisiert. Über den Verkauf jener Fantasiedokumente und die Veranstaltung von Seminaren und Onlinekursen tragen diese maßgeblich zur Vernetzung sowie Finanzierung der Szene bei, auch wenn sie selbst nicht immer von der Ideologie überzeugt sind. 4.3 Seminare, Vorträge und Veranstaltungen In 2023 nahmen die während der Pandemie rückläufigen realweltlichen Veranstaltungen der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene in Bayern wieder zu. Analog zur Kommunikation im virtuellen Raum bieten Seminare und Vortragsveranstaltungen, aber auch andere Vernetzungstreffen wie Stammtische Szeneangehörigen eine willkommene Gelegenheit, um strukturarm und unverbindlich miteinander in Kontakt und in den szeneinternen Austausch zu treten. Aufgrund der zumeist überregionalen (Online-)Propaganda für Vortragsveranstaltungen von Reichsbürgergruppierungen konnten bei Veranstaltungen in Bayern auch Personen aus anderen Bundesländern festgestellt werden. Einzelne Szeneangehörige sowie bundesweit aktive 227 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Reichsbürger und Selbstverwalter Reichsbürgergruppierungen nutzten ihre gute Vernetzung und Reichweitenstärke im Internet, um Vortragsveranstaltungen, Seminare und andere Vernetzungstreffen zu organisieren. So kündigte u.a. ein bundesweit agierender Reichsbürger aus Schleswig-Holstein seine Vortragsveranstaltung in Landsberg am Lech, die Teil einer bundesweiten Veranstaltungsreihe war, auf dem eigenen, offen einsehbaren Telegram-Kanal mit über 40.000 Abonnenten an. Auch die bundesweit aktiven Reichsbürgergruppierungen "Königreich Deutschland" und "Indigenes Volk Germaniten" organisierten vermehrt Vortragsveranstaltungen und Seminare in Bayern, die sie im Internet und über Messengerdienste bewarben. Ziel solcher Veranstaltungen ist es, die Ideologie der Reichsbürger und Selbstverwalter einem breiten Publikum bekannt zu machen, neue Mitglieder zu gewinnen und dabei auch Personen zu erreichen, die bislang noch nicht mit der Reichsbürgerideologie in Kontakt gekommen sind. Die dabei erzeugten Bilder, die im Nachgang derartiger Veranstaltungen in den sozialen Medien veröffentlicht werden, sollen den Eindruck erwecken, dass die Reichsbürger-Bewegung "gesellschaftsfähig" sei und interessierte Personen zur Kontaktaufnahme bewegen. Dass auch monetäre Gründe eine große Rolle spielen zeigt die Tatsache, dass die Teilnahme an diesen Veranstaltungen in den meisten Fällen mit einer Anmeldegebühr verbunden ist und die Referenten auch regelmäßig um Spendenbeiträge bitten. 4.4 Onlineaktivitäten Angehörige der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene nutzen das Internet, um sich mit ihresgleichen auszutauschen und um mit Personen in Kontakt zu treten, die bisher noch keine Berührungspunkte mit der Reichsbürgerideologie hatten. Online werden Gleichgesinnte gesucht und stetig neue Verbindungen geschlossen, die sich z. B. im Fall von Meinungsverschiedenheiten genauso schnell wieder lösen können. Virtuelle Aufgrund der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Stammtische Corona-Pandemie war die Reichsbürgerund Selbstverwalterszene in den Jahren 2020 bis 2022 dazu gezwungen, alternative Kommunikationswege im digitalen Raum zu etablieren. Messengerdienste wie Telegram sind mittlerweile in Bezug auf die dort festzustellenden Vernetzungsund Mobilisierungsaktivitäten von herausragender Bedeutung. So profitieren Szeneangehörige insbesondere in Bezug auf die Organisation 228 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 von realweltlichen Seminaren, Stammtischen und Vortragsveranstaltungen vom einfachen Zugang zu Gruppen und Kanälen sowie von einer damit einhergehenden Reichweitensteigerung. Relevante Informationen, Vordrucke und Anträge an Behörden können über das Internet innerhalb kürzester Zeit einem interessierten Personenkreis zur Verfügung gestellt werden. Bundesweit aktive Reichsbürgergruppierungen wie das "Königreich Deutschland" (KRD) versuchen außerdem, über weitere Online-Angebote wie Podcasts, YouTube-Videos oder sogar eigene Videoplattformen ein größeres Publikum anzusprechen und ihre Ideologie zu verbreiten. Zudem veranstaltete das KRD Anfang Februar auch ein Webinar zum Thema "Strukturen zum Systemausstieg". Die Online-Veranstaltung, an der Interessierte über die Kommunikationsplattform Zoom teilnehmen konnten, wurde zuvor auf den offiziellen Telegram-Kanälen der Gruppierung beworben, um ein möglichst großes Publikum zu erreichen. Auch reichweitenstarke Einzelpersonen wie Ralph T. Niemeyer Reichweitenstarke nutzten im Berichtszeitraum das Internet, um ihre Ideologie Influencer einem größeren Adressatenkreis zugänglich zu machen. Niemeyer bezeichnet sich selbst als Vorsitzenden einer selbsternannten "Deutschen Exilregierung" und vertritt stark pro-russische Standpunkte. Dabei behauptet er u. a., bereits seit Beginn des Russland-Ukraine-Krieges mit hochrangigen Politikern und Unternehmen aus Russland, wie etwa Gazprom, über die deutsche Energieversorgung zu verhandeln. Auf seinen Internetpräsenzen mit mehreren tausend Abonnenten publiziert Niemeyer regelmäßig Beiträge, die ideologisch der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene zuzurechnen sind. Bereits 2022 veröffentlichte er Videobeiträge, in denen er die "BRD-Verwaltung" eigenmächtig "suspendiert". Er berichtet dort u. a., auf Aufforderung Russlands werde eine "Deutsche Exilregierung" auf der Grundlage der sogenannten "S.H.A.E.F.-Gesetze" eingesetzt. In anderen von ihm veröffentlichten Videobeiträgen thematisiert er die angeblich fehlende Souveränität Deutschlands, die er auf reichsbürgertypische Weise mit irrigen Argumenten zu belegen versucht. Auch Beiträge auf seinem offenen Telegram-Kanal suggerieren den falschen Eindruck, Niemeyer verhandle für die Bundesrepublik Deutschland mit internationalen Vertretern von Wirtschaft und Politik und pflege diplomatische Beziehungen. Neben seinen Online-Aktivitäten trat Niemeyer bundesweit als Redner auf Kundgebungen mit Bezug zum Russland-Ukraine-Krieg in 229 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Reichsbürger und Selbstverwalter Erscheinung und war bereits mehrfach als Gesprächspartner im russischen Staatsfernsehen zu sehen. Wenngleich Niemeyer sich nicht als autorisierter Politiker der Bundesregierung in Szene setzt, ist davon auszugehen, dass an seinen Gastauftritten im Fernsehen beiderseitiges Interesse besteht: Während Niemeyer versucht, dadurch seine Popularität in der Szene auszubauen, kann ein Interesse Russlands unterstellt werden, den Eindruck zu vermitteln, dass russische Positionen - insbesondere hinsichtlich des Angriffskriegs gegen die Ukraine - auch von deutschen Politikern vertreten werden. 4.5 Überregionale und internationale Kontakte Personen und Gruppierungen, deren Gedankengut dem der deutschen Reichsbürgerund Selbstverwalterszene ähnelt, gibt es auch in Österreich und in der Schweiz. In Österreich werden diese Gruppierungen "Souveräne Bewegungen" genannt. Die Republik Österreich ist in ihren Augen ebenso wie die Bundesrepublik Deutschland lediglich eine GmbH und somit kein rechtmäßiges Staatsgebilde. Im deutschsprachigen Raum existiert somit grenzüberschreitend ein Personenkreis, den die pseudojuristische Basis seines Handelns eint und der sich insbesondere über das Internet rege austauscht. Plattformen wie der Messengerdienst Telegram ermöglichen der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene eine einfache überregionale und transnationale Vernetzung. Referentinnen und Referenten sowie "Milieumanager" der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene agieren, unabhängig von ihrem Wohnsitz, im gesamten deutschsprachigen Raum. Die Vernetzung stützt sich dabei nicht mehr allein auf persönliche Kennverhältnisse und/oder grenzüberschreitende räumliche Nähe. Auch die durch das Internet gewonnene Reichweitenerhöhung sowie die Möglichkeit, ohne größeren logistischen Aufwand beispielsweise Veranstaltungen aus der Ferne zu organisieren, fördern den Austausch innerhalb der Szene auch über Staatsgrenzen hinweg. Auf diese Weise führten auch bundesweit aktive Reichsbürgergruppierungen Veranstaltungen in mehreren Bundesländern durch, für die sie zuvor auf ihren reichweitenstarken Messenger-Kanälen geworben hatten. Zukunftskongresse Die zuletzt in Bayern mehrfach festgestellte Beteiligung eines überregionalen Publikums bei Seminaren und Vortragsveranstaltungen zeigt, dass es der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter gelingt, zumindest temporär und zweckgebunden eine 230 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 überregionale Vernetzung zu organisieren. So kamen beispielsweise bei einer Veranstaltung vom 2. bis 4. Juni in Leinefelde/ Worbis (Thüringen) unter dem Motto "2. Zukunftskongress Deutschland" rund 200 Personen aus dem gesamten Bundesgebiet zusammen, darunter auch bayerische Szeneangehörige sowie Personen aus der rechtsextremistischen Szene. Der Veranstaltungsbeschreibung zufolge sollte sich der "Zukunftskongress" mit der Ausgestaltung Deutschlands im Kontext einer "gültigen Verfassung von 1871" befassen. Als Fortführung der Veranstaltungsreihe fand ein sogenannter "3. Zukunftskongress Deutschland" vom 17. bis 19. November 2023 im bayerischen Wemding statt. Zur Organisation der Veranstaltung wurde zuvor ein eigener Telegram-Kanal erstellt, der u. a. die Informationssteuerung an potenzielle Interessenten und Teilnehmer regeln sollte. Auf dem Kanal stellten sich vom 5. bis 10. Oktober auch bundesweit aktive Personen aus der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene als Redner vor. Diese hielten im Rahmen der dreitägigen Veranstaltung mehrere Vorträge mit Bezug zur Reichsbürgerideologie. Themen waren u. a. "die Staatsund völkerrechtliche Situation Deutschlands", "Unrecht seit 100 Jahren erkennen und verstehen", oder "Der Ewige Bund der 25+1 Bundesstaaten". Während des Seminarwochenendes vollstreckte die Polizei einen ausstehenden Haftbefehl gegen einen Kongress-Teilnehmer. Die Vollstreckung eines offenen Haftbefehles gegen einen weiteren Teilnehmer wurde gegen die Zahlung einer noch ausstehenden Geldbuße abgewendet. Der Polizeimaßnahmen vorangegangen war ein tätlicher Angriff eines Teilnehmers auf einen Journalisten im Außenbereich der Veranstaltungsörtlichkeit. Trotz des festzustellenden Anklanges von überregionalen Szeneveranstaltungen ist eine strukturierte Vernetzung der Gesamtszene derzeit nicht erkennbar und mit Blick auf die szeneinternen Konflikte auch wenig wahrscheinlich. 5. AKTUELLE AKTIVITÄTEN IN BAYERN Tagespolitische Ereignisse und Entwicklungen wie die CoronaPandemie, der Russland-Ukraine-Krieg, sowie der erneut eskalierte Nahostkonflikt werden auch innerhalb der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene aufgegriffen, diskutiert und häufig mit verschwörungstheoretischen Narrativen versehen. So wurden szeneintern beispielsweise zu den Ursachen, zur Ausbreitung und den Folgewirkungen der Corona-Pandemie unterschiedlichste Fake News und Verschwörungstheorien 231 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Reichsbürger und Selbstverwalter verbreitet. Szeneangehörige behaupteten dabei u. a., dass während der Corona-Pandemie ein auf Angst und Schrecken basierender kriegsähnlicher Zustand erzeugt wurde, um Recht und Gesetz außer Kraft zu setzen. Die zeitweise Einschränkung der Bürgerrechte wurde in diesem Zusammenhang als strategisches Element eines bestehenden Plans "geheimer Mächte" gedeutet, um eine angebliche Entrechtung der Menschen in Deutschland voranzutreiben. Die wirtschaftliche Rezession in Folge der Pandemie wird als planmäßig eingesetztes Element gewertet, damit die Mehrheit der Menschen in Deutschland eine Entmündigung billigend in Kauf nehme. Gleichermaßen wird der Russland-Ukraine-Krieg von Teilen der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene für ideologische Zwecke instrumentalisiert. Sowohl Einzelpersonen als auch Organisationen verfügen über eine ausgeprägte Affinität zur Russischen Föderation und nehmen daher, mitunter auch öffentlichkeitswirksam, eine meist deutlich pro-russische Position ein. Szeneakteure arbeiten insbesondere im virtuellen Raum gezielt daran, das Kriegsgeschehen mit den eigenen bestehenden Narrativen zu verbinden. Relevante realweltliche Aktivitäten in Form von Versammlungsteilnahmen gingen in diesem Kontext in Bayern insbesondere von bekannten Einzelpersonen aus. Nahostkonflikt beförIm Zusammenhang mit dem am 7. Oktober erfolgten Angriff dert Antisemitismus der islamistischen Hamas auf Israel beteiligten sich Teile der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene in sehr heterogenen Beiträgen an der Diskussion über die Ereignisse im Nahen Osten. Zwar ist das Thema für die Szene insgesamt von nachrangiger Bedeutung, dennoch sind im virtuellen Raum auch Debatten festzustellen, die häufig verschwörungstheoretische Narrative mit antisemitischen Elementen enthalten und Jüdinnen und Juden deutlich als Feindbild markieren. So veröffentlichte der Reichsbürger Ralph T. Niemeyer auf seinem Telegram-Kanal mehrere Beiträge mit Bezug zum Nahostkonflikt. In den Beiträgen wird u. a. behauptet, Israel würde von der Ukraine mit Waffen beliefert und die Hamas sei "vom Mossad als Spaltorganisation gegen die linksgerichtete PLO gegründet" worden. In der Gesamtschau wird deutlich, dass Niemeyer die Berichterstattung über den Nahostkonflikt instrumentalisiert, um sein Russland idealisierendes Weltbild zu wahren. 232 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Es ist davon auszugehen, dass sich abhängig von der Entwicklung der tagespolitischen Ereignisse auch Angehörige der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene an zukünftigen Protestveranstaltungen und Demonstrationen beteiligen werden, um ihre Ideologie zu verbreiten und interessierte Personen anzusprechen Aufbau von Parallelstrukturen Vor dem Hintergrund der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie hat das vielfach in der Szene propagierte Thema "Ausstieg aus den staatlichen Strukturen" zusätzlich an Bedeutung gewonnen. Dies belegen insbesondere die vielfältigen Aktivitäten bundesweit agierender Reichsbürgergruppierungen sowie die wachsende Zahl an Vortragsund Seminarveranstaltungen rund um den Themenkomplex "Systemausstieg". In den Vorträgen und Seminaren geht es um reichsbürgertypische Problemstellungen, z. B. die Frage, welche Möglichkeiten bestehen, die eigenen Kinder dem staatlichen Schulsystem zu entziehen, das Eigentum vor der Bundesrepublik Deutschland zu schützen oder ein steuerfreies Unternehmen zu gründen. In diesem Zusammenhang versendeten Angehörige der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene in Bayern beispielsweise sogenannte "Bildungsbestätigungen" an staatliche Behörden. In diesen Schreiben legen sie mit pseudojuristischen Erklärungen dar, weshalb die betroffenen Kinder ihrer Ansicht nach nicht am staatlichen Schulunterricht teilnehmen müssen. Bereits in der Vergangenheit hatten Szeneangehörige damit begonnen, vereinzelt sog. "alternative Schulen" zu gründen. Ziel dieser "alternativen Schulen" war es, die Reichsbürgerideologie in die Beschulung von Kindern und Jugendlichen einfließen zu lassen und auch an deren Eltern heranzutragen. Im Kontext der Corona-Schutzmaßnahmen im Schulbetrieb versuchten Szeneangehörige dann vermehrt, für ihre Kinder alternative Lernangebote in schulähnlichen Einrichtungen zu etablieren, um dem staatlichen Schulsystem zu entkommen. 233 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Reichsbürger und Selbstverwalter Auch die bundesweit aktive Reichsbürgergruppierung "Königreich Deutschland" (KRD) bewarb im Jahresverlauf auf ihren öffentlich einsehbaren Internetpräsenzen mehrere in Bayern stattfindende Vortragsveranstaltungen zum Thema "Systemausstieg". Die zumeist zweitägigen Veranstaltungen können von Interessierten gegen Zahlung eines Teilnahmebeitrages besucht werden und gelten als "Voraussetzung für die Erlangung der Staatsangehörigkeit im Königreich Deutschland" sowie für die Teilnahme an weiteren "Zusatzmodulen" wie beispielsweise den "Betriebsgründungsseminaren" der Gruppierung. KRD-Angehörige organisierten u. a. in Bayern mehrere Vortragsveranstaltungen zum Thema "Gemeinwohlwirtschaft KRD". Darüber hinaus bewarb das KRD Anfang Februar bundesweit über seinen offiziellen TelegramKanal ein eigenes "KRD-Webinar" zum Thema "Strukturen zum Systemausstieg", das auf der Kommunikationsplattform Zoom bzw. auf YouTube übertragen werden sollte. 6. REICHSBÜRGERGRUPPIERUNGEN IN BAYERN 6.1 Vaterländischer Hilfsdienst (VHD) Mitglieder ca. 80 in Bayern Gründung 2019 Aktionsraum Bundesgebiet Bei der Gruppierung "Vaterländischer Hilfsdienst" (VHD) handelt es sich um einen Personenzusammenschluss, der sich in der Tradition der gleichnamigen zivilen Ergänzung zur Wehrpflicht im Deutschen Reich aus dem Jahr 1916 verortet. Organisatorisch unterteilt sich der VHD in insgesamt 24 "Armeekorpsbezirke" und bezieht sich dabei auf die Grenzen des Deutschen Reiches. Wie alle Reichsbürgergruppierungen erkennt auch der VHD weder den Staat noch dessen Exekutivbefugnisse an. Eigenen Angaben zufolge dient der VHD der "Reorganisation des Vaterlandes" bzw. "ausschließlich der Wiederherstellung der staatlichen Handlungsfähigkeit". Dabei geht es dem VHD auch darum, den Gebietszustand von 1914 und den Rechtsstand von 1918 234 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 wiederherzustellen. Hierfür benötige man "handlungsfähige staatliche Organe um den Kriegsund Belagerungszustand zu beenden". Der VHD sieht seine Aufgabe darin, "Deutsche mit einer Staatsangehörigkeit" in einem "Bundesstaat" zu "erfassen und [zu] sammeln" und sie dem "Deutschen Kaiser" zu unterstellen, wobei auch Abstammungsnachweise erbracht werden sollen. Angehörige des VHD veranstalteten 2023 mehrere realweltliche Treffen in Bayern, u. a. in den Landkreisen Landshut, München und Weilheim-Schongau, über die sie auch auf ihrer Webseite berichteten. Dort finden sich ferner Angaben zu sogenannten "Bismarckfeuern" welche am 1. April an verschiedenen Bismarcktürmen im ganzen Bundesgebiet, u. a. an der Bismarcksäule in Lappersdorf entfacht wurden. Mit dieser Aktion wollte die Gruppierung Otto von Bismarck als einen der ihrer Ansicht nach bedeutendsten deutschen Staatsmänner gedenken. Bereits im Januar hatte die Gruppierung im Raum Augsburg eine ähnlich gelagerte "Fanale-Aktion" zu Ehren von Friedrich I. in Preußen durchgeführt. Die VHD-Treffen finden oftmals an beliebten Ausflugszielen statt und sind einem bestimmten Thema gewidmet. Ein zentrales Ziel derartiger Veranstaltungen und sogenannter "Denkmalaktionen" ist die Vernetzung der Anhängerschaft. Zu diesem Zweck zeigt sich die Gruppierung auch im Internet mit beträchtlicher Medienpräsenz. Neben einer eigenen Webseite und einem YouTube-Kanal existieren aktuell Profile auf einschlägigen sozialen Netzwerken, die u. a. der gegenseitigen Vernetzung dienen und für die Dokumentation der Treffen verwendet werden. 235 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Reichsbürger und Selbstverwalter Aufgrund der hohen Anzahl an realweltlichen Veranstaltungen und virtuellen Aktivitäten ist es der Gruppierung gelungen, die eigene Gruppenstruktur zu festigen und ihre Anhängerschaft weiter auszubauen. Inzwischen umfasst das Personenpotenzial in Bayern ca. 80 Mitglieder. 6.2 Königreich Deutschland (KRD) Mitglieder ca. 60 in Bayern Gründung 2012 Aktionsraum Bundesgebiet Die Reichsbürgergruppierung "Königreich Deutschland" (KRD) mit Sitz in Lutherstadt Wittenberg (Sachsen-Anhalt) ist in der Szene deutschlandweit aktiv, sie bietet verschiedene Seminare an und bewirbt unterschiedliche Produkte. Im Rahmen einer sogenannten "Gemeinwohl-Messe" und bei "Unternehmerwochenenden" wurden in der Vergangenheit die angeblichen Vorzüge des von der Gruppierung ersonnenen "Wirtschaftssystems KRD" vorgestellt. Ferner wirbt die Gruppierung in eigenen kostenpflichtigen Seminaren insbesondere für Selbstständige und Unternehmer dafür, einen "steuerfreien und von der BRD unabhängigen Rechtekreis des Gemeinwohlstaates" zur Verfügung zu stellen. "Geringere Sozialabgaben" sowie ein angebliches "autarkes und geschlossenes zinsfreies Geldsystem" sollen Selbstständige motivieren, sich dem KRD anzuschließen. Der KRD-Webseite zufolge befinden sich bundesweit mittlerweile über 600 Unternehmen, auch aus Bayern, im "Melderegister" der Gruppierung. Seit Ende 2022 konnten auch in Bayern vermehrt realweltliche Aktivitäten der Gruppierung festgestellt werden. Neben sogenannten "LEUCHT-TURM-Seminaren" zu den Themen "Systemausstieg, Betriebsgründung und Staatsangehörigkeit" fanden auch andere sogenannte "LEUCHT-TURM"-Aktivitäten wie z. B. gemeinsame Wanderungen statt. Das KRD nutzt derartige Veranstaltungen zur besseren Vernetzung untereinander und versucht, auf diese Weise neue Mitglieder und damit auch neue Spender zu gewinnen. Bei "LEUCHT-TURM" handelt es sich um eine Art PRAgentur des KRD, welche den weiteren Ausbau der Strukturen des selbsternannten Königreiches verfolgt. Auf ihrer Webseite erklärt die Gruppierung ihre "Vision" u. a. wie folgt: 236 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 LEUCHT-TURM ist der Ansprechpartner für Königreich Deutschland Interessierte, unternehmerische Gewissensfolger und Investoren - einfach für alle Menschen die aktiv, 'offline' TUN und die vielen Ideen, Theorien und Gedanken auf der grobstofflichen physischen Ebene nun Realität werden lassen. Gemeinsam erschaffen wir in klarer und inspirierender Art mit allen loyalen Weggefährten echte, wahrhaftige regionale Gemeinwohlstrukturen. Auf der Webseite werden, parallel zum eigenen TelegramKanal, auch "Seminare" im gesamten deutschsprachigen Raum beworben. Zudem betreibt das KRD einen eigenen Podcast mit dem Titel "Ich bin in bester Verfassung". Innerhalb der Szene und auf der eigenen Webseite wirbt das KRD auch für sogenannte "Dorfprojekte". Für die Durchführung dieser Projekte "im ersten Gemeinwohlstaat der Welt" sucht das KRD "engagierte Menschen mit gemeinsamen Visionen, passende Standorte sowie finanzielle Mittel". Auch in der bayerischen Reichsbürgerund Selbstverwalterszene wurde diese Idee diskutiert, u. a. auf dem Telegram-Kanal des bayerischen Ablegers "KRD - Bayern". Aktivitäten, die auf die Umsetzung der "Dorfprojekte" in Bayern hinweisen, konnten bislang nicht festgestellt werden. 6.3 Indigenes Volk Germaniten (IVG) Mitglieder ca. 50 in Bayern Gründung 2010 Aktionsraum Bundesgebiet Beim "Indigenen Volk Germaniten" (IVG) handelt es sich um eine bundesweit aktive, gut vernetzte Reichsbürgergruppierung, die sich regionalspezifisch in sogenannte "Missionen" unterteilt. Nach eigener Darstellung handelt es sich beim IVG um eine Weltanschauungsgemeinschaft und ein eigenständiges Volk. Angehörige der Organisation vertreten die Auffassung, sie seien Eingeborene des Volkes der "Germaniten" und müssten sich deswegen nicht der deutschen Gesetzgebung und deren Organen unterwerfen. 237 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Reichsbürger und Selbstverwalter Die Mitglieder berufen sich auf unterschiedlichste, zwar im Kontext der Menschenrechte stehende, jedoch letztlich willkürlich zusammengestellte Rechtsgrundlagen. Dabei behaupten sie u.a., dass ihnen als Angehörige eines nativen Volkes Sonderrechte zustünden. Angehörige der IVG treten mit einer großen Bandbreite für die Reichsbürgerund Selbstverwalterszene typischer Agitationsformen in Erscheinung. Neben dem Versand von sogenannten "Akzeptanzschreiben" und der Auseinandersetzung mit öffentlichen Behörden konnten auch die Organisation und Durchführung von Vortragsveranstaltungen sowie Vernetzungstreffen von IVG-Angehörigen festgestellt werden. Zu diesem Anlass reiste im Frühjahr 2023 eine Angehörige der Gruppierung aus SchleswigHolstein durch das Bundesgebiet und hielt auch in Bayern Vorträge zum IVG. Seit seiner Gründung im Jahr 2010 ist es dem IVG gelungen, die eigenen Aktivitäten sowie die Mitgliederstärke kontinuierlich auszubauen. 6.4 Geeinte deutsche Völker und Stämme (GdVuSt) Mitglieder Einzelpersonen in Bayern Gründung 2016 - Verbot 2020 Aktionsraum Bundesgebiet Die Gruppierung "Geeinte deutsche Völker und Stämme" (GdVuSt) wurde 2016 in Berlin gegründet und trat vorwiegend in Berlin sowie im norddeutschen Raum in Erscheinung. Ziel der GdVuSt war es, staatliche Hoheitsgebiete zu "reaktivieren" und sie dadurch unter ihre eigene Verwaltung zu bringen. Aus diesen einzelnen reaktivierten Gemeinden sollte sich dann - als übergeordnetes Ziel der Gruppierung - ein "Naturstaat" bilden. Bei früheren Aktionen versuchten Anhänger der GdVuSt beispielsweise, das Rathaus in Berlin-Zehlendorf zu "übernehmen". Verbot durch den Am 19. März 2020 hat der Bundesminister des Innern, für Bau Bundesminister des und Heimat (BMI) den Verein "Geeinte deutsche Völker und Innern Stämme" nach Art. 9 Abs. 2 GG in Verbindung mit SS 3 Vereinsgesetz verboten. 238 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Gegen die seit Mai 2022 in Untersuchungshaft befindliche Leiterin der verbotenen Gruppierung begann im November 2022 der Prozess vor dem Landgericht Lüneburg wegen "Verstoßes gegen das Vereinigungsverbot in Tateinheit mit Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen, Volksverhetzung und Missbrauchs von Berufsbezeichnungen". Am 22. November 2022 verurteilte das Landgericht Lüneburg die Beschuldigte gemäß SS 85 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. 239 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Delegitimierung Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates Bestrebungen, die basierend auf einem von Verschwörungstheorien geprägten Staatsund Elitenhass in demokratiefeindlicher Weise darauf abzielen, wesentliche Verfassungsgrundsätze außer Geltung zu setzen oder die Funktionsfähigkeit des Staates erheblich zu beeinträchtigen, ohne dabei die Wesensmerkmale extremistischer Bestrebungen eines anderen Phänomenbereichs, wie etwa Rechtsextremismus, aufzuweisen, werden dem Phänomenbereich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates zugerechnet. Hierzu zählen auch Bestrebungen, die sich durch eine agitatorische Verächtlichmachung des Staates gegen das Demokratieprinzip richten, die zu extremistisch motivierten Strafund Gewalttaten aufrufen oder sich unter Verkennung der Art. 20 Abs. 4 GG zugrundeliegenden Voraussetzungen auf ein vermeintliches Widerstandsrecht berufen und sich dabei gegen das Rechtsstaatsprinzip stellen. 240 Delegitimierung Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 1. AKTUELLE ENTWICKLUNGEN Bereits mit dem Abklingen der Beschränkungsmaßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie wurde deutlich, dass das Aktivitätsniveau im Phänomenbereich verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates keiner linearen Entwicklung folgt, sondern dynamisch auf tagesund weltpolitische Ereignisse reagiert. In Abhängigkeit von gesellschaftlichen Entwicklungen und Faktoren wie z. B. Unzufriedenheit mit der Regierung oder durch verschiedene Krisen ausgelöste Angst und Unsicherheit zeigten sich 2023 Personen, die dem Phänomenbereich zugerechnet werden, in sehr unterschiedlichem Maße aktiv. Beeinflusst wurde das Aktivitätsniveau des Personenpotenzials auch durch die schwankende Veranstaltungsfrequenz der Protestszene. Bereits die Agitation in Zusammenhang mit dem RusslandAufgreifen aktueller Ukraine-Krieg im Jahr 2022 zeigte, dass sich Szeneangehörige Themen nicht nur auf ein Thema beschränken. Angesichts des infolge des Krieges drohenden Notstandes in der Energieversorgung, der steigenden Inflation und von Versorgungsengpässen war auch in Bayern ein Anstieg der Aktivitäten zu verzeichnen. Die Szene versuchte, sowohl im virtuellen Raum als auch auf öffentlichen Protestveranstaltungen, diese neuen Themenfelder zu besetzen und die damit verbundenen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen in ihre Agitation einzubinden. Im Mittelpunkt dieser Narrative steht zumeist das angebliche Versagen der Regierung und die systematische Verächtlichmachung des Staates und seiner Repräsentanten. Politische Entscheidungen, aber auch die Berichterstattung etablierter Medien, werden dabei instrumentalisiert, um den Staat und seine Vertreter zu verunglimpfen und letztlich zu delegitimieren. 241 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Delegitimierung 2. PERSONENPOTENZIAL Die Mehrzahl derjenigen, die dem Phänomenbereich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates in Bayern zugerechnet werden, wurde im Zuge von Aktivitäten gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie bekannt. Dabei handelt es sich um meist eigenständig und individuell handelnde Personen, die teilweise von einer festen Anhängerschaft unterstützt werden. Die Vernetzung einzelner Szeneangehörigen geht jedoch nicht über gemeinsame Auftritte oder Teilnahmen an Veranstaltungen hinaus. Auch wenn sich derzeit keine festen Strukturen in Bayern ausmachen lassen, sind Vernetzungsbestrebungen vor allem im virtuellen Raum, z. B. auf Kommunikationsplattformen wie Telegram, festzustellen. Über den bei Szeneangehörigen häufig anzutreffenden Rekurs auf Verschwörungstheorien entsteht ferner eine Anschlussfähigkeit an weitere verfassungsschutzrelevante Phänomenbereiche wie Rechtsextremismus oder die Reichsbürgerund Selbstverwalterszene. Derartige Berührungspunkte ergeben sich u. a. durch antisemitische Narrative, die in vielen extremistischen Verschwörungstheorien enthalten sind. Das Personenpotenzial im Phänomenbereich verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates liegt in Bayern derzeit bei ca. 60 Personen. 242 Delegitimierung Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 3. AKTIVITÄTEN IM NETZ Mit dem Rückgang der realweltlichen Veranstaltungen und Aktivitäten der in ihrer Gesamtheit nicht extremistischen CoronaProtestszene verlagerte sich die Agitation der Delegitimiererszene 2023 zunehmend in den virtuellen Raum. Dieser wurde mit seinen Echokammern und der Möglichkeit sich zu vernetzen für Viele zu einem Rückzugsort. Innerhalb der zumeist themenoder anlassgebundenen Kanäle und Gruppen treffen Angehörige des Phänomenbereiches auch auf Personen, die zuvor noch nicht mit verfassungsschutzrelevanten Bestrebungen in Kontakt gekommen sind. So werden Hass, Hetze und Gewaltfantasien innerhalb der sozialen Medien verbreitet und können somit bei den jeweiligen Chatteilnehmern ein Klima der Unzufriedenheit und Angst erzeugen. Nicht selten kommt es dabei, angeheizt durch unmoderierte Chatverläufe, zu Radikalisierungsverläufen. 4. AGITATION GEGEN REPRÄSENTANTEN DES STAATES Trotz der weitgehend dynamischen Anpassung der Szene an tagespolitische Entwicklungen zählt die Ablehnung staatlicher Institutionen und ihrer Repräsentanten nach wie vor zu den diskursbestimmenden Themen. Als verbindendes Element kann hinsichtlich der ideologischen Ausrichtung der Szene oftmals ein kategorisches Freund-Feind-Denken beobachtet werden. Insbesondere im Internet lassen sich neben verschiedenen Formen der agitatorischen Verächtlichmachung des Staates auch Bedrohungen gegen Funktionsträger des Staates feststellen. Personen, die in ihrem Aktivismus gegen die staatlichen CoronaGlaube an VerSchutzmaßnahmen nachdrücklich verfassungsfeindliche Ziele schwörungstheorien verfolgt haben, führten diesen Aktivismus in den meisten Fällen auch im Jahr 2023 fort. Angetrieben durch den Glauben an diffuse Verschwörungstheorien versuchen sie auch in ihrem Umfeld einen Vertrauensverlust in den demokratischen Verfassungsstaat und dessen Repräsentanten herbeizuführen. 243 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Delegitimierung Die Frontstellung der Szene gegenüber der Regierung zeigt sich u. a. in Äußerungen, die die Bundesrepublik Deutschland mit einer Diktatur oder einem faschistischen Unrechtsregime gleichsetzen oder die Mitglieder der Regierung als Marionetten einer angeblich weltweit operierenden Schattenregierung darstellen. Szeneangehörige nehmen dabei oftmals Bezug auf antisemitische Verschwörungsmotive wie die behauptete "Weltverschwörung" einer jüdischen Finanzelite. Unter dem verschwörungstheoretischen Stichwort "Deep State" wird behauptet, dass der Staat unter der Kontrolle eines Geflechtes aus korrupten und weltweit agierenden politischen Eliten stehe, die konspirativ gegen die eigene Bevölkerung arbeiten. Drohungen gegen Insbesondere in Bezug auf politische Entscheidungen im Politiker Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wird innerhalb der Szene häufig gefordert, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und mit individuellen Strafen zu belegen. Teils richten sich die Aussagen von Szeneangehörigen auch gegen die körperliche Unversehrtheit von Politikerinnen und Politikern. So enthalten beispielsweise Kommentare in offen zugänglichen Messengerkanälen neben Drohungen auch konkrete Aufforderungen, Personen des politischen und öffentlichen Lebens aufzusuchen und für ihr Handeln während der Corona-Pandemie zur Rechenschaft zu ziehen. In zahlreichen Fällen wurde auch öffentlich konkret dazu aufgerufen, Straftaten zu begehen. Dadurch soll eine Anschlussfähigkeit an andere extremistische Szenen erzeugt werden, insbesondere zu den Phänomenbereichen Rechtsextremismus sowie Reichsbürger und Selbstverwalter. Dass Vernetzungsabsichten bei Szeneangehörigen bestehen und Zusammenschlüsse anlassbezogen phänomenbereichsübergreifend erfolgen, zeigten u. a. die Ermittlungen des Bundeskriminalamtes im Zusammenhang mit der mutmaßlich terroristischen Vereinigung um Heinrich XIII. Prinz Reuß. Die Gruppierung setzte sich neben Rechtsextremisten und Reichsbürgern auch aus Personen zusammen, die dem Phänomenbereich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates zuzurechnen sind. Die Strafverfolgungsbehörden werfen der Gruppierung vor, die Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland angestrebt zu haben. 244 Delegitimierung Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 245 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus Linksextremismus Ziel der linksextremistischen Szene ist es, die durch das Grundgesetz vorgegebene Staatsund Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen und - je nach ideologisch-politischer Orientierung - durch eine sozialistische, kommunistische oder eine "herrschaftsfreie" Gesellschaft zu ersetzen. Die linksextremistischen Vorstellungen richten sich insbesondere gegen durch das Grundgesetz garantierte Grundrechte, die parlamentarische Demokratie, die Gewaltenteilung, die Volkssouveränität, das Rechtsstaatsprinzip und den Pluralismus. Die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland wird als "kapitalistisches System" und als Wurzel des Faschismus diffamiert und soll abgeschafft werden. Ideologisch lässt sich die linksextremistische Szene in Bayern grob in die beiden Grundströmungen Marxismus (bzw. Marxismus-Leninismus, Trotzkismus, Stalinismus, Maoismus) und Anarchismus einteilen. Die Übergänge zwischen diesen unterschiedlichen Ausrichtungen sind teilweise fließend, führen aber szeneintern auch zu teils heftigen Konflikten und Spaltungen. Nähere Informationen zu diesen unterschiedlichen ideologischen Strömungen des 246 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus finden sich auf der Webseite des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz (https://www.lfv.bayern.de/linksextremismus/ definition/ideologie//index.html). In der linksextremistischen Szene bilden Autonome den weitaus größten Teil des gewaltbereiten Personenpotenzials. Autonome haben zwar keine einheitliche Ideologie, Ziel aller Autonomen ist es aber, den Staat und seine Einrichtungen zu zerschlagen. Neben Sachbeschädigungen wenden Autonome auch Gewalt gegen Personen - vor allem gegen tatsächliche oder vermeintliche Angehörige der rechtsextremistischen Szene und Polizeikräfte - an, um ihre Vorstellungen durchzusetzen. Die Szene besetzt dabei auch Themen, die an sich nicht extremistisch sind. Ihr Ziel ist es dabei aber in erster Linie, ihre linksextremistischen politischen Positionen zu verbreiten. Hierzu werden vor allem aktuelle, gesellschaftlich relevante Themen wie Klimaund Umweltschutz oder Migration aufgegriffen. So werden seit Beginn des Russland-UkraineKrieges dessen politische und gesellschaftliche Auswirkungen auf Deutschland thematisiert und der Kontakt zu bürgerlich-demokratischen Organisationen gesucht, um die Akzeptanz der eigenen antidemokratischen Standpunkte zu erhöhen. 247 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus 1. PERSONENPOTENZIAL IN BAYERN 2021 2022 2023 Parteien und Vereinigungen Partei DIE LINKE. 850 850 800 offen extremistische Strukturen DKP 280 270 250 MLPD (mit REBELL) 120 140 120 SDAJ 110 110 110 Rote Hilfe 900 1.100 1.150 Sonstige 1.090 360 360 Gruppierungen1,2 Autonome/Anarchisten2 720 8102 8002 Summe 4.080 3.640 3.590 Mehrfachzählungen 3 380 440 330 Gesamtzahl 3.700 3.200 3.260 Gewaltorientierte Personen 830 880 840 von der Gesamtzahl4 Die Zahlenangaben sind geschätzt und gerundet. 1 Beobachtung VVN-BdA eingestellt 2 Ab 2022 Anarchisten separat ausgewiesen 3 Die Mehrfachmitgliedschaften im Bereich der Parteien und sonstigen Zusammenschlüsse werden vom Gesamtpotenzial abgezogen. 4 Dazu zählen gewalttätige, gewaltbereite, Gewalt unterstützende und Gewalt befürwortende Personen. 2. MILITANZUND GEWALTPOTENZIAL Gewalt als Innerhalb der linksextremistischen Szene ist der größte Teil "Lifestyle" des gewaltbereiten Personenpotenzials autonomen Gruppierungen zuzurechnen. Sie sind für die meisten linksextremistisch motivierten Gewalttaten verantwortlich, die vor allem bei Demonstrationen gegen den politischen Gegner verübt werden. Ziel dieser überwiegend jungen Akteure ist es, den Staat und seine Einrichtungen - auch mit Gewalt - zu zerschlagen und eine "herrschaftsfreie" Gesellschaft zu errichten. Mit diffusen anarchistischen, kommunistischen und sozialrevolutionären Ideologiefragmenten schaffen sich Autonome einen vermeintlichen Legitimationsrahmen für ihre Militanz. Gewalttaten werden 248 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 als notwendiges Mittel dargestellt, um sich gegen die angebliche "strukturelle Gewalt" des politischen Systems zu wehren. Viele Autonome erleben die Ausübung von Massenmilitanz als sinnstiftende Erfahrung. Gewalt wird zum Ausdruck eines Lebensgefühls. Formen und Ausmaß der Gewaltanwendung sind regelmäßig Gegenstand von Diskussionen in der autonomen Szene. Seit Längerem ist zudem auch in der anarchistischen Szene eine zunehmende Radikalisierung und Hinwendung zur Gewalt feststellbar, die sich insbesondere gegen die öffentliche Infrastruktur richtet. So verüben Angehörige der linksextremistischen Szene immer Konspirativ geplante häufiger konspirativ geplante Straftaten wie Brandanschläge, zu Straftaten denen im Nachgang auf einschlägigen Internetportalen anonyme Selbstbezichtigungsschreiben veröffentlicht werden. Anschlagsziele sind vor allem Unternehmen der Rüstungsindustrie und die Deutsche Bahn, die im Rahmen linksextremistischer "Anti-Militarismus"-Kampagnen im Fokus gewaltbereiter Szeneakteure stehen. Eine Möglichkeit, auf Demonstrationen Gewalt auszuüben, ist Initialisierende der sog. "Schwarze Block", bei dem sich militante, zum Schutz Gewalt/ vor polizeilicher Identifizierung häufig einheitlich schwarz geSchwarzer Block kleidete Personen oder Gruppierungen geplant zur situativen Anwendung von Gewalt zusammenschließen. Autonome nutzen aber ebenso Demonstrationen anderer - nichtextremistischer - Akteure, um der Veranstaltung eine militante und aggressive Atmosphäre aufzuzwingen und hinter der Deckung friedlicher Demonstranten Gewalttaten zu begehen sowie andere dazu aufzustacheln (initialisierende Gewalt). Angehörige der linksextremistischen Szene sprechen Andersdenkenden die ihnen in gleichem Maße zustehenden Grundrechte ab, zum Beispiel die Meinungsoder Versammlungsfreiheit. Als Konsequenz akzeptieren sie nicht, dass die Polizei auch bei Demonstrationen von politisch Andersdenkenden zur Gewährleistung des grundgesetzlich geschützten Versammlungsrechtes eingesetzt werden muss. So wird der Polizei insbesondere bei Veranstaltungen des rechten bis rechtsextremistischen Spektrums unterstellt, mit dessen Zielsetzungen zu sympathisieren. Den Ablauf ihrer Aktionen machen linksextremistische Aktivistinnen und Aktivisten vor allem von ihrem Kräfteverhältnis gegenüber der Polizei abhängig. Während es in der Vergangenheit der Szene häufig gelang, Mobilisierungsanlässlich von Großveranstaltungen wie z. B. des G20-Gipfels fähigkeit sinkt 2017 in Hamburg ein erhebliches Personenpotenzial für diese 249 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus Massenmilitanz zu generieren, ist der Trend in den letzten 2 Jahren in Bayern deutlich rückläufig. Im Vorfeld solcher Veranstaltungen mobilisiert die Szene zwar vor allem in den sozialen Medien, die tatsächliche Umsetzung bleibt aber - wie zuletzt die Internationale Automobil-Ausstellung IAA Mobility (IAA) in München belegt - hinter den Ankündigungen und Erwartungen der Szene weit zurück. Statt der - in der Öffentlichkeit auch nurmehr schwer vermittelbaren Massenmilitanz - verschiebt sich die Gewaltbereitschaft mehr ins Persönliche. Aktivitäten gegen staatliche Repräsentanten und Unternehmen Konfrontative Gewalt Das Aggressionspotenzial der autonomen Szene ist seit Jahren hoch. Autonome Linksextremisten suchen vor allem bei Demonstrationen, aber auch bei anderen Anlässen gewaltsame Auseinandersetzungen (konfrontative Gewalt). Sie richten ihre Gewalttaten hauptsächlich gegen Personen, die tatsächlich oder vermeintlich der rechtsextremistischen Szene zuzurechnen sind sowie gegen Angehörige der Polizei, aber auch gegen Unternehmen, die sie als "Profiteure des Systems" begreifen. Angehörige der linksextremistischen Szene betrachten Polizeikräfte generell als Repräsentanten eines staatlichen "Repressionsorgans". Sie versuchen zunehmend, die gesellschaftliche Akzeptanz der Polizei als staatliche Institution sowie der einzelnen Polizeikräfte, insbesondere bei der Ausübung polizeilicher Befugnisse, zu untergraben. Jegliche polizeilichen Kontrollen dienen ihnen als Vorwand, ihre "Freiräume" auch gewaltsam zu verteidigen. Sinkende Die Hemmschwelle, auch schwere Straftaten zu begehen, ist Hemmschwelle deutlich gesunken. Zudem werden linksextremistische Straftaten auch gewalttätiger und persönlicher: Sie richten sich vermehrt gezielt gegen Personen, die von der Szene aufgrund ihrer politischen Ausrichtung oder auch ihres Berufes als "Feind" identifiziert werden. Im Gegensatz zu früher findet szeneintern nahezu keine Diskussion mehr über die Vermittelbarkeit von Gewalttaten statt: Dies deutet auf eine größere Gewaltakzeptanz innerhalb der linksextremistischen Szene insgesamt hin und birgt die Gefahr, dass bislang gewahrte Grenzen überschritten werden. 250 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Dies zeigt sich vor allem in der zunehmenden Verrohung der Sprache. Linksextremistische Gruppierungen nutzen bei der Benennung vermeintlicher "Feinde" häufig eine abwertende und entmenschlichende Diktion: Sie bezeichnen z.B. Polizeikräfte als "Bullen" bzw. "Bullenschweine" und verbreiten Parolen wie "ACAB - All Cops Are Bastards" oder "ACAT - All Cops Are Targets". Bereits im Jahr 1970 wurden Polizisten von der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof als "Bullen" und "Schweine" verunglimpft. Diese Bezeichnung hat sich im Szenejargon etabliert. Auch 2023 kam es im Raum München zu einer Reihe von Sach"Direkte Aktion" beschädigungen, die in ihrer Zielauswahl und ihrer Vorgehensweise Parallelen zu den linksextremistisch motivierten Straftaten der letzten Jahre aufweisen: So wurden u. a. Baumaschinen und Kabelschächte in Brand gesetzt. Mittlerweile erfolgen Tatbekennungen aber nur noch selten. Möglicherweise erachtet die Szene dies nicht mehr zwingend als notwendig, wenn die Tat durch Zielauswahl und Begehungsweise bereits für sich spricht. In der Szene hat sich für diese Vorgehensweise der Begriff der "direkten Aktion" etabliert. Taten, die sich in ihrem vermeintlichen Begründungszusammenhang auf gesellschaftliche Anliegen wie den Klimaschutz beziehen, verdecken dabei oftmals die ihnen zugrundeliegende linksextremistische Zielsetzung der Täter. So lassen sich beispielsweise Brandanschläge auf Kabelschächte der Deutschen Bahn schwerlich mit den gleichzeitig laufendenden Protesten gegen die IAA verbinden. 251 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus 2.1 Neue Ziele und Entgrenzung Iinksextremistischer Gewalt Linksextremistische Agitation und Übergriffe richten sich vermehrt auch gegen Einzelpersonen, die z. B. aufgrund von Äußerungen, Berufszugehörigkeit oder der Teilnahme an einer Veranstaltung gezielt angegriffen werden. Auch Presseangehörige stehen im Fokus Iinksextremistischer Gewalttäter, ebenso wie Personen, die sich von der Szene losgesagt haben. Urteil gegen Lina E. Am 31. Mai verurteilte das Oberlandesgericht (OLG) Dresden im sog. "Antifa-Ost-Verfahren" die Hauptangeklagte Lina E. und 3 mitangeklagte Männer u. a. wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung bzw. deren Unterstützung zu mehrjährigen Haftstrafen. Lina E. wurde zu 5 Jahren und 3 Monaten Haft verurteilt. Die 3 Mitangeklagten erhielten Freiheitsstrafen zwischen 2 Jahren und 5 Monaten und 3 Jahren und 3 Monaten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, da Revision eingelegt wurde. Seit Prozessbeginn im September 2021 bekundeten weite Teile der linksextremistischen Szene ihre Solidarität mit den Beschuldigten. So verfolgten etwa Personen aus dem Unterstützerumfeld das Prozessgeschehen und die Urteilsverkündung als Zuschauer auch direkt vor Ort. Die Szene in Bayern solidarisierte sich ebenfalls mit den Angeklagten, z. B. in Form von Graffitis mit dem Slogan "Freiheit für Lina E.", entsprechenden Aufrufen in den sozialen Netzwerken oder Drohungen gegen den ehemals szeneangehörigen Kronzeugen. Unabhängig vom Verfahrensausgang kündigten bundesweit zahlreiche Szeneakteure insbesondere für den sog. "Tag X", den ersten Samstag nach der Urteilsverkündung, gewaltsame Proteste in Leipzig und andernorts an. In unzähligen Online-Posts riefen Szeneakteure dazu auf, realweltlich entsprechende Aktionen zu starten. Dabei hieß es u. a.: Für jede/n Genoss*in und Gefährt*in und für jeweils jedes Jahr Knast, gibt es ab sofort 1 Million Sachschaden bundesweit! 252 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Die Versammlungsbehörde verbot am 1. Juni aufgrund des zu erwartenden unfriedlichen Verlaufes die für den 3. Juni angekündigte Leipziger Großdemonstration zum "Tag X". Teile der Szene schlossen sich spontan einer aus dem bürgerlichen Spektrum angemeldeten Veranstaltung unter dem Motto "Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig" an. An der Veranstaltung beteiligten sich insgesamt 2.000 Personen, darunter etwa 500 gewaltbereite Linksextremisten. Damit erreichten weder die zivilgesellschaftlichen Gruppen noch das linksextremistische Spektrum die erhoffte Teilnehmerstärke. Dennoch kam es u. a. in Leipzig zu Ausschreitungen und szenetypischen Straftaten. In der Gesamtschau gelang es der Szene jedoch nicht, die zuvor angekündigte Massenmilitanz zu entfachen. Vielmehr zeigte sich die Szene enttäuscht über den unerwartet milden Verlauf der "Tag X"-Proteste. Ziel der "Antifa Ost" war es, Personen, die von ihr als rechtsexAngriff auf Passanten tremistisch eingestuft wurden, anzugreifen, zu verletzen und einin Budapest zuschüchtern. Dieses Vorgehen führte zu teilweise erheblichen Verletzungen bei den Opfern. Ein Teil der Gruppenmitglieder ist mittlerweile untergetaucht. Es ist davon auszugehen, dass diese Personen auch im Untergrund weiterhin Straftaten begehen. Im Februar sollen mutmaßliche Mitglieder der "Antifa Ost" in Budapest mehrere Personen, die sie für Rechtsextremisten hielten, mit Hämmern und Totschlägern angegriffen haben. Hintergrund des Angriffes war der sog. "Tag der Ehre", bei dem Angehörige der rechtsextremistischen Szene aus ganz Europa zusammenkommen, um an den Ausbruchsversuch von Verbänden der Wehrmacht und der Waffen-SS aus dem belagerten Budapest zu erinnern. Als Reaktion auf die staatlichen Strafverfolgungsmaßnahmen in Ungarn und Deutschland gründete sich in der linksextremistischen Szene das "Budapest Antifascist Solidarity Commitee" (BASC). Das Bündnis verfolgt das Ziel, die aus Sicht der Szene zu Unrecht verfolgten Aktivisten zu unterstützen. Seiner Webseite zufolge ist das Bündnis auch eine Reaktion auf einen behaupteten Rechtsruck der Gesellschaft, die staatlichen Repressionen gegen vermeintliche "Antifaschisten" und die mediale Berichterstattung gegen Personen aus dem linken Spektrum. Die deutschen Behörden suchen derzeit mit Hilfe einer ÖffentFahndung nach fühlichkeitsfahndung nach dem untergetauchten Linksextremisten rendem Aktivisten Johann Guntermann. Diesem wird die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zur Last gelegt. Im Rahmen der Fahndung wurden 10.000 Euro Belohnung für Hinweise zu seinem 253 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus Aufenthaltsort, seinen Kontakten oder für sachdienliches Bildund Videomaterial ausgesetzt. Die Öffentlichkeitsfahndung erfolgt u. a. mittels Fahndungsplakaten an öffentlichen Plätzen. Das linksextremistische Onlineportal antifa-info.net, das sich als zentrale Plattform der antifaschistischen Bewegung in Süddeutschland versteht, verurteilte die Fahndung in einem Beitrag vom 28. September als "Hetzjagd". 2.2 Aktivitäten in Zusammenhang mit der IAA 2023 Vom 5. bis 10. September fand die Internationale Automobil-Ausstellung IAA Mobility (IAA) zum zweiten Mal auf dem Messegelände München Riem und den sog. "Open Spaces" in der Münchner Innenstadt statt. Mit den "Open Spaces" wurden erneut frei zugängliche Veranstaltungsorte geschaffen, an denen während der IAA Präsentationen, Dialogforen und Konzerte angeboten wurden. Sowohl die Entscheidung für die Durchführung der diesjährigen IAA vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krisen (u. a. Klimakrise und Russland-Ukraine-Krieg), als auch das geplante Veranstaltungskonzept stießen bei Umweltverbänden, Klimaschutzinitiativen sowie in Teilen der linksextremistischen Szene auf scharfe Kritik. Bereits 2021 war die IAA Gegenstand von Protesten, die vor allem aus den Reihen der nichtextremistischen Klimaschutzbewegung getragen wurden. An diesen Protesten beteiligten sich damals auch zahlreiche Linksextremisten. Zum Auftakt der Proteste gegen die IAA errichteten Aktivistinnen und Aktivisten ein sog. "Mobilitätswende-Camp" im Luitpoldpark im Münchner Stadtteil Schwabing. Im Organisationsteam für das Camp waren sowohl linksextremistische bzw. linksextremistisch beeinflusste als auch nichtextremistische Organisationen und Bündnisse vertreten. Allerdings wurden die Organisation des Camps und die Besetzung leitender Funktionen dabei von Angehörigen einer linksextremistischen Gruppierung übernommen. Aktionstrainings im Die Organisatoren bemühten sich dabei darum, das Camp vor "Mobiltätswendeallem für die Protestteilnehmer aus der nichtextremistischen Camp" Klimaschutzbewegung attraktiv zu gestalten und Übernachtungsmöglichkeiten sowie Rückzugsräume für IAA-Gegner zu schaffen. Zudem diente das Camp als zentraler Treff-, Planungsund Sammelpunkt der Proteste, von dem aus auch 254 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 linksextremistische Aktivitäten im Münchner Stadtgebiet gestartet wurden. Im Camp fanden neben Workshops und Vorträgen zudem sog. "Aktionstrainings" statt, im Rahmen derer verschiedene Strategien im Umgang mit der Polizei vermittelt wurden. Das im Vorfeld für das Camp angemeldete Protestpotenzial von 1.500 Personen wurde nicht erreicht, die tatsächliche Besucherzahl belief sich auf knapp 1.200. Für die etwa 800 bis 900 Aktivisten, die im Camp übernachteten, musste die Camp-Fläche zweimal erweitert werden. Die Proteste gegen die IAA wurden im Wesentlichen von aktionsorientierten nichtextremistischen Klimaaktivisten geprägt. Diese distanzierten sich jedoch, insbesondere hinsichtlich der Nutzung der Infrastruktur des Mobilitätswendecamps, nicht von extremistischen Gruppen. Allerdings blieb die linksextremistische Szene bei den von ihr initiierten Protestaktionen weitestgehend unter sich. Am 8. September kam es vor dem Werk der BMW Group in Dingolfing zu Protesten, an denen sich etwa 150 Personen beteiligten, darunter auch Angehörige der linksextremistischen Szene. Vor Ort wurden einschlägige Banner gezeigt, u. a. mit den Aufschriften "Die Erde brennt. Wann brennt BMW?", "Neokoloniale Lieferketten stoppen. Klimagerechtigkeit erkämpfen!" und "Klima vor Profit! Systemwandel statt Klimawandel!". Dabei gelang es jedoch den Angehörigen des linksextremistisch beeinflussten Bündnisses "Sand im Getriebe" (SiG) nicht, die Veranstaltung in ihrem Sinne zu prägen. Die linksextremistischen Protestaktionen am 9. September wurden maßgeblich von den Bündnissen "No Future for IAA" (No Future) und "Smash IAA" getragen. So führte "No Future" in der Bavariastraße in der Münchner Innenstadt eine symbolische Hausbesetzung durch, um auf diese Weise die städtische Wohnungspolitik zu kritisieren. Die Polizei räumte einen Teil der Sitzblockaden und unterzog einige der beteiligten Personen einer erkennungsdienstlichen Behandlung. Nahe einer Münchner Niederlassung der Mercedes-Benz Group AG an der Donnersbergerbrücke demonstrierte "Smash IAA" etwa zeitgleich gegen den Konzern und seine Verbindungen zur Rüstungsindustrie. Zu Beginn der Aktion kam es zu Rangeleien zwischen Protestierenden und der Polizei. 255 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus Den Höhepunkt der IAA-Proteste stellte die Großdemonstration am 10. September in der Münchner Innenstadt dar. An der Veranstaltung unter dem Motto "IAA-Mobilitätswende: Für wen wird Politik gemacht?" beteiligten sich in der Spitze etwa 2.500 Personen. Dabei trat eine bekannte Linksextremistin als Anmelderin in Erscheinung. Im Vorfeld wurde die Demonstration unter dem Hashtag "#blockIAA Demo" bundesweit vor allem in den sozialen Medien beworben. Der Demonstrationszug startete am Mobilitätswende-Camp im Luitpoldpark mit rund 800 Teilnehmern. Der autonome Block, darunter "No Future" und SiG, bestand aus etwa 350 Personen, die mit weißen Maleranzügen, FFP2-Masken und Hauben auftraten und zusätzlich Regenschirme zur Deckung nutzten. Im Laufe der Veranstaltung stoppte die Polizei den Demonstrationszug mehrmals, da Seitentransparente verknotet und Rauchtöpfe gezündet wurden. Kurz vor Veranstaltungsende schlossen sich die rund 380 Teilnehmer des zeitgleichen Fahrradkorsos des Bunds Naturschutz der Abschlusskundgebung der Großdemonstration an. Die Demonstration endete ohne weitere Vorkommnisse mit einer Abschlusskundgebung auf dem Karolinenplatz. Mobilisierungsziele Aus linksextremistischer Perspektive dürfte der Verlauf der Pronicht erreicht teste gegen die IAA amibivalent bewertet werden. So zeichnete sich bereits im Vorfeld der IAA-Proteste, trotz der bundesweiten Online-Kampagnen der linksextremistischen Szene, bereits früh ein verhältnismäßig geringer Mobilisierungserfolg ab. Sowohl die zahlreichen bundesweiten Mobilisierungsveranstaltungen als auch die in sämtlichen sozialen Netzwerken verbreiteten Anreise-Appelle blieben meist ohne erkennbare Resonanz. Auch die Ausstrahlungskraft linksextremistischer Protestaktionen blieb hinsichtlich der Hoffnung der Szene, auch bürgerlich orientiertes Protestpotenzial anzuziehen, hinter den Erwartungen zurück. So blieb der Unterstützerkreis der linksextremistischen Kleingruppenaktionen am 8. und 9. September zahlenmäßig überschaubar und weitestgehend auf Szeneangehörige beschränkt. Sowohl bei der symbolischen Hausbesetzung in der Münchner Bavariastraße als auch bei den begleitenden Sitzblockaden waren lediglich "No Future"-Banner feststellbar. Ebenso waren bei der Protestaktion vor der Mercedes-Benz Group AG-Niederlassung nur Angehörige von "Smash IAA" vertreten. Auch bei der Großdemonstration am 10. September, blieben die ca. 350 Teilnehmer aus dem autonomen Spektrum in ihren 2 Blöcken unter sich. 256 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Dennoch ist es der linksextremistischen Szene unter dem Deckmantel des "Klimaschutzes" gelungen, ungeachtet ihrer kommunistischen und demokratiefeindlichen Agitation, ein hohes Maß an unkritischer medialer Präsenz zu erzeugen. 2.3 Strafund Gewalttaten Straftaten mit extremistischem Hintergrund aus dem Bereich "Politisch motivierte Kriminalität - links" 2021 2022 2023 Politisch motivierte Gewaltdelikte Tötungsdelikte (auch Versuch) 0 1 0 Körperverletzung 13 21 18 Brandund Sprengstoffdelikte 13 6 21 Landfriedensbruch 0 1 0 Raub 1 1 1 Widerstandsdelikte 9 10 8 Gef. Eingriff in Bahn-, Schiffs10 2 1 und Luftverkehr Sonstige Gewalttaten 1 0 0 Gesamt 47 42 49 Vorbereitung einer schweren staats- 1 0 1 gefährdenden Gewalttat/Terrorismus Sonstige Straftaten Sachbeschädigungen 326 267 249 Propagandadelikte 14 5 5 Nötigung/Bedrohung 5 9 5 Sonstige Straftaten 78 1 412 693 Gesamt 423 322 328 Straftaten insgesamt 471 364 378 1 Darunter 1 Volksverhetzungsdelikt 2 Darunter 3 Volksverhetzungsdelikte und 2 Delikte der Bildung krimineller Vereinigungen 3 Darunter 2 Volksverhetzungsdelikte 257 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus Die Gesamtzahl linksextremistischer Straftaten in Bayern ist in 2023 gestiegen. Während im Jahr 2022 insgesamt 364 Straftaten zu verzeichnen waren, wurden 2023 insgesamt 378 Straftaten gezählt. Nach wie vor stellen Sachbeschädigungen mit 249 Delikten den Großteil der Straftaten dar. Auch die Zahl der linksextremistischen Gewalttaten in Bayern stieg 2023 auf 49 Delikte an. Die Zahl der Brandund Sprengstoffdelikte stieg mit 21 Delikten im Vergleich zum Vorjahr (2022: 6) stark an. Wie in 2022 wurde die Mehrzahl dieser Delikte (19) im Großraum München begangen, es handelte sich in 11 Fällen um Angriffe auf die Infrastruktur. 3. EINFLUSSNAHME AUF BÜRGERLICHE KAMPAGNEN Die linksextremistische Szene beteiligt sich seit jeher auch an nichtextremistischen Veranstaltungen und Initiativen. Diese Taktik ermöglicht es, den eigenen Protest auf eine größere Bühne zu tragen und mehr Menschen über die eigene Kernklientel hinaus zu erreichen. Szeneangehörige versuchen, Einfluss auf Veranstaltungen oder Initiativen auszuüben, indem sie ihre verfassungsfeindlichen Ideologien und Ziele in den Protest mit einfließen lassen. Letztendlich sollen ihre extremistischen Überzeugungen und Ziele in der Bevölkerung politisch anschlussfähig werden. Gleichzeitig werben sie dabei um neue Mitglieder. Politisch interessierte Menschen werden eingeladen, an eigenen Veranstaltungen oder Treffen teilzunehmen, und so an die linksextremistische Szene herangeführt. Von besonderem Interesse sind dabei Themen, die in der Gesellschaft virulent sind, eine Vielzahl von Menschen betreffen und gleichzeitig Ansatzpunkte für das "Andocken" ihrer linksextremistischen Forderungen eröffnen. Engagement im Seit einigen Jahren engagieren sich linksextremistische Gruppen Klimaschutz verstärkt im Bereich Klimaund Umweltschutz. In ihrer Rhetorik verbinden sie den Protest gegen den Klimawandel regelmäßig mit dem "Kampf" gegen vermeintlich "herrschende Klassen" oder gegen die "Umweltpolitik der herrschenden Klassen". Den Klimaprotest verklären sie ebenfalls im kämpferisch aggressiven Duktus zu einem "Klimakampf" und fordern einen "Systemwandel statt Klimawandel". Damit wird deutlich, dass für die linksextremistische Szene der Einsatz für Klimaschutz untrennbar mit der Bekämpfung des freiheitlichdemokratischen Staates verbunden ist. 258 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Die Szene bezeichnet die Protestformen zivilgesellschaftlicher Klimaschutzgruppen als politisch wirkungslos und fordert diese stattdessen zum Einsatz von Gewalt als aus ihrer Sicht legitimes Mittel im politischen Kampf auf. Dies entspricht der linksextremistischen Ideologie, die das Gewaltmonopol des demokratischen Rechtsstaates auf eine Ebene mit dem eines autokratischen Unrechtsstaates stellt. Bei der linksextremistischen Klimaschutzkampagne "Ende "Ende Gelände" und Gelände" nehmen Szeneangehörige eine tragende Rolle ein. "Interventionistische "Ende Gelände" trat erstmals 2014 im Rahmen der Proteste Linke" gegen den Braunkohleabbau in Erscheinung. Die Kampagne setzt sich aus verschiedenen Organisationen des demokratischen sowie des linksextremistischen Spektrums zusammen. Ein maßgeblicher extremistischer Akteur des Bündnisses ist die Gruppierung "Interventionistische Linke" (IL). Sie übernimmt innerhalb der Kampagne eine strategisch führende Position und fungiert als koordinierendes sowie aktionsinitiierendes Bindeglied zwischen demokratischen und linksextremistischen Organisationen. Die IL sieht den Kapitalismus und den dahinterstehenden Staat als Ursache des Klimawandels. Sie propagiert, dass es sich hierbei um eine systembedingte Krise handle und eine Lösung innerhalb des Systems nicht möglich sei. Deshalb richtet sich ihr "Kampf für Klimaschutz" vor allem auch gegen Unternehmen, den Staat und das politische System an sich. Auch auf die überwiegend demokratisch getragene Umweltund Klimabewegung versuchen Angehörige der linksextremistischen Szene Einfluss zu nehmen. So zeigen einige Gruppierungen des linksextremistischen Spektrums bei verschiedenen Veranstaltungen u. a. mit Transparenten oder Infoständen Präsenz. Die linksextremistische Szene hat z. B. schnell das MobilisieBeeinflussungsrungspotenzial der "Fridays-for-Future"-Bewegung erkannt. versuche bei Sie nutzt die Sorgen der überwiegend jugendlichen Angehöri"Fridays for Future" gen der Klimaschutzbewegung vor den Folgen des Klimawandels als "Türöffner", um gegen das "kapitalistische System" als vermeintliche Ursache des Klimawandels zu hetzen. Mit Slogans wie "System change, not climate change" wollen sie die Bewegung politisieren und ihre eigene antikapitalistische und antistaatliche Ideologie einfließen lassen. Diese Bemühungen blieben jedoch bislang erfolglos. Ein steuernder oder gar prägender Einfluss der linksextremistischen Szene konnte bisher nicht festgestellt werden. 259 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus Situation in Bayern In Bayern unterhält die Klimakampagne "Ende Gelände" Ortsgruppen in Augsburg, Bamberg, Erlangen, München, Nürnberg, Passau, Regensburg und Würzburg. Diese organisieren lokale Informationsveranstaltungen und Aktionstrainings für bundesweit beworbene Kampagnen, z. B. gegen den Braunkohletagebau oder den Bau von LNG-Terminals. 4. LINKSEXTREMISTISCHE THEMENFELDER Um ihre politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen durchzusetzen, engagieren sich Angehörige der linksextremistischen Szene in verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Themenfeldern. Antikapitalismus Zentraler Ansatzpunkt linksextremistischer Agitation ist der Antikapitalismus, der auch auf die anderen Themenfelder ausstrahlt. Linksextremistischer Antikapitalismus will im Gegensatz zur Kapitalismuskritik nicht nur Defizite am Wirtschaftssystem benennen und Reformvorschläge entwickeln, sondern mit dem Wirtschaftssystem auch Staat und Gesellschaft vollständig umwälzen. "Kapitalismus" und "kapitalistische Systeme" sind nach linksextremistischer Auffassung die wesentlichen Ursachen für Faschismus, Rechtsextremismus, Imperialismus, Umweltzerstörung und Krieg. Für Linksextremisten stellt "Kapitalismus" somit nicht nur eine bloße Wirtschaftsordnung dar, vielmehr wird er gleichgesetzt mit der Gesamtheit staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen in einer parlamentarischen Demokratie. Ob anarchistisch oder kommunistisch: Linksextremistischer Antikapitalismus hat aufgrund dieser Grundannahmen immer die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie als sog. "bürgerliche Herrschaftsform" zum Ziel. Antikapitalismus ist fundamental für linksextremistische Agitation. Der Kapitalismus wird in der Szene als Kernproblem angesehen. Folglich finden sich antikapitalistische Argumente auch in anderen, szenetypischen Themenfeldern. So stellt der Antikapitalismus beispielsweise auch einen zentralen Ausgangspunkt für technologieund fortschrittsfeindliche sowie anarchistisch-antizivilisatorische Ideologiestränge dar. Nach linksextremistischer Argumentation haben Imperialismus, Militarismus und Globalisierung ihren Ursprung im Profitund Expansionsdrang des Kapitalismus. 260 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Aktionen der linksextremistischen Szene, mit denen der Staat, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder der politische Gegner bekämpft werden sollen, finden situationsangepasst statt. Die einzelnen Themen dienen mitunter auch der Legitimation von Gewalttaten. Antiimperialismus Die linksextremistische Szene unterstellt dem kapitalistischen System, "imperialistisch" zu sein und profitmaximierend zu handeln. Staaten und deren Armeen unterstützten dieses, um "schwächere" Staaten und Völker zu unterdrücken und auszubeuten. Der kapitalistische "Imperialismus" gilt in der Szene als Hauptursache für bewaffnete Konflikte. Daher steht linksextremistischer Antiimperialismus auch immer in einem antikapitalistischen Kontext. So bewertet die linksextremistische Szene den RusslandUkraine-Krieg als logische Konsequenz einer Zuspitzung der imperialistischen Widersprüche zwischen den NATO-Staaten und Russland. Teile der linksextremistischen Szene vertreten die Auffassung, die NATO trage durch ihre Osterweiterung die Verantwortung für den Krieg, da sie Russland - im Sinne der imperialistischen Staatenkonkurrenz - zum Einmarsch in die Ukraine genötigt habe. Aus ihrem antiimperialistischen Weltbild entwickelt sich bei Linksextremistischer Angehörigen der linksextremistischen Szene häufig auch ein Antizionismus Antizionismus - die Ablehnung des Staates Israel und dessen Innenund Außenpolitik. Israel stellt in diesem Zusammenhang für einige Szeneangehörige eine Art "Brückenkopf" der USA im Nahen Osten dar, um den Kapitalismus immer weiter auszudehnen. Zudem verurteilen Teile der linksextremistischen Szene den Umgang Israels mit den Palästinensern: Israel wird dabei vorgeworfen, sich im Rahmen des Nahost-Konflikts vom Opfer des Nationalsozialismus zum Täter gewandelt zu haben (sog. Täter-Opfer-Umkehr). In ihrer Kritik solidarisieren sich viele Angehörige der linksextremistischen Szene mit den Palästinensern und rufen zum "Kampf" gegen Israel und die USA auf. Die linksextremistische Szene reagierte auf den Überfall der Gespaltene islamistischen Terrororganisation "HAMAS" auf israelisches Reaktionen auf Staatsgebiet am 7. Oktober und die darauffolgende militärische HAMAS Angriff Auseinandersetzung gespalten. So solidarisierten sich einige linksextremistische Gruppierungen öffentlich mit Israel und riefen zur Teilnahme an entsprechenden Veranstaltungen auf. 261 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus Verharmlosung der Demgegenüber stellten andere Teile der Szene den Terror der Massaker an Juden "HAMAS", der eine große Zahl ziviler Opfer forderte, als legitime Verteidigung gegen israelische Aggression dar. Dabei verbreiteten sie das Narrativ, dass Israel als faschistischer Apartheitsstaat für die Eskalation verantwortlich sei. Die Palästinenser hingegen würden sich lediglich gegen diese Unterdrückung wehren. Die menschenverachtenden Massaker an der Zivilbevölkerung werden dabei als israelische "Kriegspropaganda" oder unvermeidbarer Kollateralschaden des palästinensischen Befreiungskampfes gegen den "Aggressor" Israel verunglimpft. Dies gilt insbesondere für die besonders grausamen Vergewaltigungen und Morde an jüdischen Frauen und (Klein)kindern. Diese Haltung steht in einem deutlichen Gegensatz zu dem sonst in der Szene aus jeglichem, weitaus geringerem Anlass heraus plakativ vertretenen Feminismus. Das Narrativ eines gerechtfertigten Befreiungskampfes der Palästinenser wird auch mit Verschwörungstheorien unterfüttert. So schrieb die linksextremistische "Perspektive Kommunismus" in einem Post auf der Plattform X (vormals Twitter): Und bevor hier Missverständnisse entstehen: Die Verantwortung für die Massaker, für den Krieg und die Gewalt und für jedes Kriegsverbrechen hat Israel und vor allem seine faschistoide Regierung. Dieser Krieg ist erzeugt und von den Herrschenden in Israel am Ende auch gewollt. Für Linksextremisten stellt die Reaktion Israels auf dem Terrorangriff der "HAMAS" am 7. Oktober das typische Handeln eines imperialistischen Staates dar. Die Kritik der Linksextremisten an Israel beruht nicht auf klassischen antisemitischen Überzeugungen, sondern in einer grundlegenden Ablehnung des Zionismus als angeblich jüdische Spielart des Imperialismus. Die Solidarität mit dem "unterdrückten palästinensischen Volk" klammert dabei häufig die "HAMAS" aus. Dass es sich bei der "HAMAS" um eine Terrororganisation handelt, die auf der islamistischen Ideologie der Muslimbrüder beruht, wird von einigen Akteuren, wie z. B. der DKP bewusst nicht zur Kenntnis genommen. Antirepression Mit dem Begriff der "Repression" versuchen Autonome, jegliche Form rechtsstaatlichen Handelns, wie z. B. die Durchsetzung geltender Gesetze, zu diskreditieren. Dies gilt insbesondere für 262 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 die staatliche Überwachung und Strafverfolgung linksextremistischer Aktionen. So lehnen Autonome polizeiliche Maßnahmen gegen gewalttätige Personen aus dem linksextremistischen Spektrum ab und versuchen, mit Solidaritätskampagnen eine breite Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu beeinflussen und das Vertrauen in den Rechtsstaat zu untergraben. Gleichzeitig mobilisieren sie auf diese Weise die linksextremistische Szene und rechtfertigen ihr militantes Vorgehen. Antifaschismus und Antirassismus Die linksextremistische Szene nutzt den breiten gesellschaftlichen Ablehnung der Konsens gegen den Rechtsextremismus für ihre politischen Ziele, parlamentarischen die weit über die Bekämpfung des Rechtsextremismus hinausDemokratie reichen. Antifaschismus im linksextremistischen Sinn beinhaltet auch die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie. Ursprünglich bezog sich der Begriff "Antifaschismus" auf die inneritalienische Opposition gegen die Herrschaft Mussolinis. Die Wurzeln des deutschen Antifaschismus liegen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Neben dem bürgerlichliberal geprägten Antifaschismus, der für die Erhaltung bzw. Wiederherstellung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eintrat, entwickelte sich ein kommunistisch orientierter, als linksextremistisch einzustufender Antifaschismus. Der linksextremistische Antifaschismus wertet alle nicht marxistischen Systeme als potenziell faschistisch ab oder betrachtet sie als eine Vorstufe zum Faschismus. Dementsprechend wird die bürgerliche Gesellschaftsordnung, die auf Kapitalismus, Parlamentarismus und Rechtsstaatsprinzipien aufbaut, als die eigentliche Ursache von Faschismus, Rassismus und Rechtsextremismus diffamiert. Der Antirassismus, der insbesondere im Zusammenhang mit der Asylthematik einen linksextremistischen Agitationsschwerpunkt bildet, steht im unmittelbaren Zusammenhang mit den Themenfeldern Antifaschismus und Antikapitalismus. Der Linksextremismus begreift marktwirtschaftlich verfasste Staaten als Systeme, die zwangsläufig Rassismus hervorrufen und legitimieren. Unter dem Deckmantel der Solidarität versuchen LinksextremisKontaktversuche zu ten auch das Protestpotenzial der queeren Community für sich queerer Community zu erschließen und für ihre Kämpfe, wahlweise gegen Rechtsextremisten oder gegen den ihrer Ansicht nach unterdrückerischen Staat, in Stellung zu bringen. Als beispielsweise der AfD-Kreisverband München-Ost am 13. Juni zu einer Kundgebung gegen eine Drag-Queen-Lesung aufrief, unterstützten auch zahlreiche Linksextremisten den Protest gegen die AfD-Veranstaltung. 263 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus Gewaltorientierte linksextremistische Autonome nutzen den Antifaschismus seit Jahren zur Mobilisierung. Sie ziehen den Antifaschismus zudem zur Legitimierung ihrer militanten Aktionen gegen Staat und Polizei heran und behaupten, dass diese Strukturen insbesondere Personen aus dem rechtsextremistischen Spektrum schützten. Dabei suchen Autonome auch den Schulterschluss mit demokratischen Bündnissen und Initiativen. Linksextremistische Parteien und Organisationen streben durch eine gezielte Einflussnahme die Übernahme von Leitungsund Steuerungsfunktionen in antifaschistischen Initiativen an. Antifaschismus ist nicht generell linksextremistisch. Es kommt vielmehr darauf an, wie der "Faschismus"-Begriff ausgelegt wird und welche Forderungen sich aus dem hieraus resultierenden Selbstverständnis als "antifaschistisch" ergeben. Die zentrale Frage dabei lautet: Richtet sich die Ablehnung nur gegen Rechtsextremismus oder richtet sie sich gegen die Normen und Regeln eines demokratischen Verfassungsstaates? Linksextremistische Antifaschisten diffamieren jegliches Handeln staatlicher Organe - unabhängig von ihrem Anlass, ihrer gesetzlichen Legitimation und ihren rechtsstaatlichen Abläufen - als Ausdruck eines mehr oder minder offen zur Schau getragenen, "strukturellen" Rassismus. Antigentrifizierung Mit dem Thema "Antigentrifizierung" versuchen Angehörige der linksextremistischen Szene, ihre eigenen Interessen in eine aktuelle stadtund gesellschaftspolitische Diskussion einzubetten und damit für größere Bevölkerungskreise politisch anschlussfähig zu werden. Der Begriff "Gentrifizierung" bezeichnet sozioökonomische Umstrukturierungsprozesse in Stadtteilen, die zu steigenden Mieten und somit auch zu einer Verdrängung der angestammten Bevölkerung führen. Insbesondere in Großstädten ist dieses Thema in den letzten Jahren zunehmend virulent. Es bilden sich Initiativen, die in aller Regel von demokratischen Kräften getragen werden. Angehörige der linksextremistischen Szene versuchen, sich diesen Initiativen anzuschließen bzw. im gleichen Themenfeld eigene Aktionsformen anzubieten. Ihr Ziel ist es, sich als sozialpolitische Akteure zu profilieren und somit an gesamtgesellschaftlicher Akzeptanz zu gewinnen. Gewaltbereite Szeneangehörige setzen im Zusammenhang mit dem Themenfeld Antigentrifizierung auch auf gewalttätige Aktionen: Insbesondere in der Immobilienbranche tätige Personen werden von ihnen als Mitverantwortliche für die "Gentrifizierung" und damit als Feindbild wahrgenommen. Büros und 264 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Fuhrparks von Immobilienfirmen sind immer wieder Ziel militanter Attacken aus der linksextremistischen Szene. Im Rahmen der Proteste gegen die IAA 2023 in München besetzten mehrere Linksextremisten symbolisch ein leerstehendes Gebäude in der Innenstadt, um die Gentrifizierung zu kritisieren. Bereits bei den Anti-IAA-Protesten im Jahr 2021 war es zu einer kurzfristigen Hausbesetzung in München gekommen. Antimilitarismus Seit dem Beginn des Russland-Ukraine-Krieges hat das Schlagwort "Antimilitarismus" in der linksextremistischen Szene stark an Bedeutung gewonnen. Insbesondere Rüstungsunternehmen, die Bundeswehr sowie politische Parteien und Entscheidungsträger rücken derzeit verstärkt in den Fokus gewaltorientierter Linksextremisten. Vor dem Hintergrund der spürbaren Verunsicherung der Bevölkerung aufgrund einer militärischen Konfrontation in Europa bemüht sich die Szene verstärkt, Antimilitarismus als Schwerpunktthema öffentlichkeitswirksam zu besetzen und mit ihren eigenen extremistischen Forderungen aufzuladen. Der Militarismustheorie von Karl Liebknecht zufolge dient das Militär dazu, kapitalistische Expansionsbestrebungen gegenüber anderen Staaten durchzusetzen und im eigenen Land den Kapitalismus und dessen "Ausbeutungsstrukturen" zu stabilisieren. Dieses Gedankengut lebt in der linksextremistischen Szene weiter. Szeneangehörige sind daher immer wieder auch in pazifistischen Initiativen und Bündnissen aktiv, um dort ihre Ideologie zu verbreiten. Im Gegensatz zum zivilgesellschaftlichen Pazifismus geht es im linksextremistischen Antimilitarismus nicht nur um die Abschaffung des Militärs, sondern darüber hinaus um die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie. Wie auch bereits in den vergangenen Jahren demonstrierten Münchner Teile der linksextremistischen Szene Mitte Februar gegen die Sicherheitskonferenz 59. Münchner Sicherheitskonferenz. Auf ihren Plakaten und Transparenten forderten sie z. B. "Abrüsten statt Aufrüsten" und "Friedenspolitik statt Kriegshysterie". In ihren Redebeiträgen riefen die Protestierenden dazu auf, den "Kriegskurs der NATO-Staaten" zu stoppen. Eine von Russland thematisierte, angeblich bevorstehende NATO-Osterweiterung sowie Waffenlieferungen an die Ukraine lehnten die Demonstrierenden ab. 265 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus Neben großen Demonstrationen setzt die Szene u. a. in diesem Themenfeld auf "Adbusting". "Adbusting" ist eine Aktionsform, bei der bereits bestehende Werbung, z. B. von der Bundeswehr, im öffentlichen Raum verfremdet, überklebt oder auf andere Weise umgestaltet wird, um für die eigenen Positionen zu werben. Solidarisierung mit Nach Beginn des russischen Angriffes solidarisierte sich der Ukraine größte Teil der linksextremistischen Szene mit der Ukraine und dem ukrainischen Volk, das als Opfer eines russischen "imperialistischen" Angriffskrieges betrachtet wird. Doch auch der EU, den USA bzw. der NATO wird häufig eine (Mit-)Verantwortung für den Krieg zugeschrieben. Das Narrativ, die NATO-Osterweiterung sei die geopolitische Ursache für den russischen Überfall, wird auch von vielen linksextremistischen Organisationen verbreitet, z. B. von der Nürnberger Gruppierung "Organisierte Autonomie" oder dem "Antifaschistischen Aufbau München". Antiglobalisierung Angehörige der linksextremistischen Szene lehnen grundsätzlich Nationalstaaten und deren Grenzen ab. Sie kritisieren aber auch die Globalisierung, da diese ihrer Ansicht nach einen rein wirtschaftlichen Prozess darstelle, der von den "starken" Industrienationen vorangetrieben werde, um die "schwachen" Schwellenund Entwicklungsländer weiter ausbeuten zu können. Klimakrise Die linksextremistische Szene beteiligt sich seit jeher auch an nichtextremistischen Veranstaltungen und Initiativen. Diese Taktik ermöglicht es der linksextremistischen Szene, den eigenen Protest auf eine größere Bühne zu tragen und mehr Menschen 266 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 über ihre eigene Kernklientel hinaus zu erreichen und für ihre extremistischen Botschaften empfänglicher zu machen. Allerdings stellen zivilgesellschaftliche Akteure im Themenfeld "Klimaschutz" oftmals eine nichtextremistische Alternative dar. Da diese derzeit eine deutlich größere Medienpräsenz genießen, konkurriert die linksextremistische Szene mit ihnen um Aufmerksamkeit und Deutungshoheit. Dabei kritisieren Linksextremisten häufig, dass die vermeintlich falschen ideologischen Positionen der nichtextremistischen Gruppierungen dem ihrer Ansicht nach notwendigen Systemwechsel entgegenstehen. Die Bereitschaft der Klimaaktivisten, sich strafrechtlich zu verantworten und bei ihren Aktionen überwiegend auf Gewalt zu verzichten, stößt in der Szene einerseits auf Unverständnis. Andererseits werden Verurteilungen von Klimaaktivisten als Beleg für die angebliche "Repression" berechtigter Anliegen durch den Staat genutzt. Ein maßgeblicher linksextremistischer Akteur im Bereich Klima"Ende Gelände" schutz ist das Bündnis "Ende Gelände" (EG), das mit mehreren Ortsgruppen in Bayern vertreten ist. EG nimmt eine strategisch führende Rolle ein und fungiert als koordinierendes sowie aktionsinitiierendes Bindeglied zwischen demokratischen und linksextremistischen Organisationen. Aktuell engagieren sich auch einige lokale linksextremistische Gruppen in Bayern verstärkt im Bereich Klimaund Umweltschutz. In ihrer Rhetorik verbinden linksextremistische Akteure den Protest gegen den Klimawandel regelmäßig mit dem "Kampf" gegen die vermeintlich "herrschende Klasse". Den Klimaprotest verklären sie dabei im kämpferisch aggressiven Duktus zu einem "Klimakampf" und fordern einen "Systemwandel statt Klimawandel". Damit wird deutlich, dass für Linksextremisten der Einsatz für den Klimaschutz untrennbar mit der Bekämpfung des freiheitlich-demokratischen Staates verbunden ist. In Nürnberg ist vor allem die "Organisierte Autonomie" (OA) aktiv. In München versuchen diverse Gruppierungen im Umfeld der autonomen "Antifaschistischen Linken München", z. B. das "Antikapitalistische Klimatreffen München", sich aktiv in die Proteste für den Klimaschutz einzubringen. Auch in Augsburg hat sich ein "antikapitalistisches Klimatreffen" gegründet. Die Gruppierung beteiligte sich etwa am 15. September an einer Demonstration für Klimaschutz und zeigte dabei Transparente mit der die Forderung "System change not climate change". Aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung des Themas Klimawandel ist weiteres Engagement der linksextremistischen Szene zu erwarten. Da der Klimawandel insbesondere 267 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus junge Menschen bewegt, konkurrieren in diesem Bereich linksextremistische Gruppierungen mit aktionsorientierten zivilgesellschaftlichen Klimaschutzgruppen um diese Zielgruppe. Bisher gelang es ihnen aber nicht, dort einen prägenden bzw. steuernden Einfluss auszuüben. 5. INTERNET UND MEDIEN Angehörige der linksextremistischen Szene nutzen zur Kampagnenarbeit und zur Vernetzung soziale Medien wie Facebook, Instagram oder Twitter, in denen sie zentrale Themen in offenen und geschlossenen Foren oder Blogs diskutieren. Lokale linksextremistische Szenen, wie z. B. in Nürnberg, nutzen seit Jahren zudem Portale, die im örtlichen Kontext informationsbestimmend und meinungsführend sind. So unterhält die Ende 2021 gegründete linksextremistische "Antifaschistische Aktion Süd" mit dem seit Juni eingerichteten Portal "antifa-info.net" ein eigenes Internetportal, welches über Aktivitäten der Mitgliedsorganisationen in Süddeutschland berichtet. Die abwertenden Berichte auf dem Portal über die Öffentlichkeitsfahndung nach Mitgliedern der "Antifa Ost" zeigen, dass Teile der Szene das Themenfeld "Antifaschismus" instrumentalisieren, um gegen den Rechtsstaat und das Gewaltmonopol des Staates zu agitieren. So wird dort die Notwendigkeit eines gewaltsamen Vorgehens gegen tatsächliche und vermeintliche Rechtsextremisten propagiert und dem Staat zugleich Untätigkeit bzw. eine Kooperation mit Rechtsextremisten unterstellt. Die linksextremistische Szene informiert und kommuniziert inzwischen verstärkt mittels sozialer Netzwerke bzw. entsprechenden Internetportalen. Druckwerke und Periodika sind nur noch von nachgelagerter Bedeutung. Linksextremistische Zeitungen finden in Onlineformaten, die auf eigenen Internetseiten erscheinen, eine weitaus größere Verbreitung als zuvor die Printausgaben. Diese Entwicklung wurde durch die CoronaPandemie noch verstärkt. In gedruckter Form erscheinen linksextremistische Zeitungen fast nur noch im Rahmen von Propaganda-Aktionen. Für den szeneinternen Informationsfluss sind Druckformate nahezu bedeutungslos geworden, zumal die eher junge linksextremistische Klientel meist über Smartphones kommuniziert. Allerdings bestehen die Webseiten linksextremistischer Kampagnen, Gruppen und Organisationen häufig nur für einen kurzen Zeitraum. 268 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Der Wechsel von Printhin zu Onlinemedien hat in der linksextremistischen Szene eine Vielzahl von Akteuren und Kampagnen hervorgebracht, die jedoch selten in der Lage sind, ihre Zielgruppe dauerhaft an sich zu binden. Letztendlich scheint das professionelle Auftreten, wie es im Internet vor allem von den Redaktionen klassischer linksextremistischer Zeitungen geleistet wird, den kampagnengestützten Aktivismus einzelner Gruppen zu überlagern. Es ist daher zu erwarten, dass sich linksextremistische Printmedien zukünftig auf Internetauftritte beschränken werden, während zugleich eine Vielzahl von kurzlebigen linksextremistischen Kampagnen in den sozialen Netzwerken versuchen werden, Aufmerksamkeit zu erregen. Ein Beispiel hierfür ist der Online-Blog "switchoff", der über linksextremistische Sachbeschädigungen und Brandlegungen in ganz Deutschland berichtet. Ziel des Blogs ist es, eine Plattform für Gleichgesinnte zu schaffen und linksextremistische Aktionen sichtbar zu machen. Der Blog soll letztlich dazu beitragen, "eine langfristige Aktionswelle in Richtung Revolte [zu] entfachen". Als geeignete Maßnahmen hierfür werden dabei "militantes Handeln und direkte Angriffe in allen möglichen Formen" genannt. 269 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus 6. LINKSEXTREMISTISCHE PARTEIEN UND VEREINIGUNGEN 6.1 Offen extremistische Strukturen in der Partei DIE LINKE Innerhalb der Partei "DIE LINKE." gibt es mehrere offen extremistische Strukturen, die auf eine Überwindung der freiheitlichen Staatsund Gesellschaftsordnung abzielen. Sie stellen teilweise die parlamentarische Demokratie infrage, sprechen der rechtsstaatlichen Ordnung die Legitimation ab oder unterhalten Kontakte zu gewaltorientierten Autonomen. Diese offen extremistischen Untergliederungen versuchen, auf die Partei "DIE LINKE." Einfluss zu nehmen. DIE LINKE. Sozialistisch-demokratischer Studierendenverband (DIE LINKE.SDS) - Landesverband Bayern Der 2007 gegründete Studierendenverband "DIE LINKE.SDS" ist laut Statut eine "Arbeitsgemeinschaft mit Sonderstatus der 'Linksjugend ['solid]' mit eigener Mitgliedschaft und Organisation". "DIE LINKE.SDS" orientiert sich ideologisch an der Lehre von Karl Marx und plädiert in ihrem Selbstverständnis für Außerparlamentarismus, Systemüberwindung und die Zusammenarbeit mit anderen Linksextremisten. Der Landesverband Bayern von "DIE LINKE.SDS" wurde am 30. Januar 2010 in Regensburg gegründet und verfügt über Ortsgruppen in Augsburg, Bamberg, Bayreuth, Coburg, Eichstätt, Erlangen-Nürnberg, München und Würzburg. 270 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 6.2 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und Umfeld 6.2.1 DKP Deutschland Bayern Mitglieder 2.8501 ca. 250 Vorsitzende/r Patrik Köbele - Gründung 1968 - Sitz Essen Nürnberg und München Publikationen Unsere Zeit (UZ) Auf Draht Marxistische Blätter 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 Die DKP ist eine kommunistische Partei, die sich in einer Linie mit der 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD) sieht. Sie bekennt sich zum Marxismus-Leninismus und hat laut Parteiprogramm die Einführung des "Sozialismus/Kommunismus" zum Ziel. Die bundesweit organisierte Partei war bis 1989/1990 von der "Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" (SED) abhängig. Dem Bundesverband sind Bezirksorganisationen nachgeordnet, die weiter in Kreisund Grundorganisationen oder auch Betriebsgruppen untergliedert sind. In Bayern existieren 2 Bezirksorganisationen (Nordund Südbayern). Die DKP fordert den Austritt aus der NATO und lehnt das Legitimierung des Sanierungsprogramm der Bundesregierung für die Bundeswehr russischen Angriffsab. Diese Punkte bekräftigte der Parteivorsitzende Patrik Köbele krieges 271 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus auf dem 24. Parteitag der DKP am 22. Mai 2022 in einer Onlinekonferenz. Dabei stellte sich die DKP klar auf die Seite Russlands und legitimierte dessen Angriff auf die Ukraine wie folgt: Das Ziel der früheren Einkreisungspolitik der NATO gegenüber Russland liegt aus meiner Sicht heute deutlicher auf dem Tisch. Und die NATO sieht im Krieg offensichtlich die Chance es schneller zu erreichen. Das Ziel ist und war es wohl bereits vor dem russischen Angriff Russland zu einem Vasallenstaat, zu einer Halbkolonie zu machen und damit den Weg Richtung China frei zu machen und die VR China gleichzeitig zu isolieren. Der NATO wird eine Mitverantwortung für die Eskalation angelastet: Die NATO-Osterweiterung hat Russland zunehmend bedroht und immer weiter in die Ecke getrieben. Diplomatie wurde verweigert [...] Wir bleiben dabei: Der Aggressor ist die NATO. Sie muss gestoppt werden. Unser Hauptfeind ist der deutsche Imperialismus, er will den Sprung zur Großmacht vollenden. 6.2.2 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) Deutschland Bayern Mitglieder 6701 ca. 110 Vorsitzende/r Andrea Hornung Tom Talsky Gründung 1968 1999 Sitz Essen München, Nürnberg und Würzburg Publikationen POSITION - 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 272 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Die SDAJ ist ihrer Selbstdarstellung zufolge eine "bundesweite Organisation von Jugendlichen, die sich mit den Zuständen in Schulen, Betrieben, in dieser Republik und der 'Neuen Weltordnung' nicht abfinden" will. Im Zukunftspapier der marxistischleninistisch ausgerichteten Organisation heißt es: Alle unsere Forderungen richten sich gegen die Herrschenden in dieser Gesellschaft, gegen die Kapitalisten. Verwirklichen können wir sie nur in einer Gesellschaft ohne Kapitalisten - im Sozialismus. Die SDAJ, vormals Jugendorganisation der DKP, ist nun eine eigenständige Organisation. Sie pflegt aber weiterhin enge Kontakte zur DKP. An den Protesten gegen die IAA vom 5. bis 10. September in München nahmen auch Aktivisten der SDAJ teil. Auf der Demonstration des Bündnisses gegen die IAA war die SDAJ mit Fahnen und einem eigenen Transparent präsent. Bereits im Vorfeld hatte die SDAJ München auf Facebook für die Demonstration mobilisiert. In Folge des Überfalls der islamistischen Terrororganisation Solidarität mit der "HAMAS" auf israelisches Staatsgebiet am 7. Oktober hatte die "HAMAS" SDAJ München zunächst geplant, sich mit einem Redebeitrag an einer pro-palästinensischen Demonstration am 13. Oktober in München zu beteiligen. Nach dem Verbot der Veranstaltung veröffentlichte die SDAJ München auf ihrem Facebook-Profil eine Videoaufnahme der Rede. Darin behauptet ein Sprecher, dass Israel letztlich für die Eskalation des Konfliktes verantwortlich sei. Die Angriffe der "HAMAS" seien lediglich die "unmittelbare" Folge der Unterdrückung durch Israel. Mit der Videobotschaft bedient die SDAJ auch ein aktuell häufig verbreitetes Narrativ, wonach der Widerstand gegen den angeblichen Apartheitsstaat Israel gerechtfertigt sei. Nach Ansicht des Sprechers provoziere Israel einen ständigen Kriegszustand, um seiner jüdischen Bevölkerung Sicherheit suggerieren zu können. Darüber hinaus wird die solidarische Haltung der Bundesregierung gegenüber Israel angeprangert und stattdessen die Unterstützung der Palästinenser verlangt. Die militärischen Reaktionen Israels auf den Anschlag der "HAMAS" werden hingegen verurteilt und ein sofortiger Waffenstillstand gefordert. In Bayern existieren Ortsgruppen der SDAJ in Augsburg, Bamberg, München, Neumarkt, Nürnberg und Würzburg. 273 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus 6.3 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) Deutschland Bayern Mitglieder 2.800 1 ca. 120 Vorsitzende/r Gabi Fechtner Emil Bauer (Sprecher) Gründung 1982 2008 Sitz Gelsenkirchen Nürnberg Publikationen Rote Fahne (Zentralorgan); REVOLUTIONÄRER WEG (Theorieorgan); REBELL (Jugendmagazin); Galileo - streitbare Wissenschaft (Zeitung der MLPD-Hochschulgruppen) 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 Die zentralistisch geführte MLPD ist eine kommunistische Kaderpartei, die Sozialismus im Sinne des Stalinismus und des Maoismus anstrebt. Ihr grundlegendes Ziel ist der revolutionäre Sturz der Diktatur des Monopolkapitals und die Errichtung der Diktatur des Proletariats für den Aufbau des Sozialismus als Übergangsstadium zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft. Die MLPD verurteilte als einzige linksextremistische Organisation bereits am 24. Februar 2022 den russischen Überfall auf die Ukraine und rief bundesweit zu Protesten auf. Anlässlich ihres 40-jährigen Bestehens 2022 beantwortete die Vorsitzende der MLPD, Gabi Fechtner, in einem Interview die Frage, ob es nicht Wichtigeres gäbe, als 40 Jahre MLPD zu feiern, wie folgt: 274 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Im Gegenteil, das passt sogar wunderbar in die Landschaft. Die Massen kommen angesichts der Phase der beschleunigten Destabilisierung des imperialistischen Weltsystems zunehmend in Widerspruch dazu. Denn wenn es seine Politik so weitertreibt, führt das in einen Dritten Weltkrieg. Aber es gibt auch eine andere Option! Sie bedeutet, gerade jetzt den Weg der internationalen sozialistischen Revolution zu stärken. Diesen Weg repräsentiert unter den deutschen Parteien nur die MLPD! Mit dem "Frauenverband Courage e. V." sowie mit Freizeitangeboten ihrer Jugendorganisation "REBELL" und ihrer Kinderorganisation "ROTFÜCHSE" versucht die MLPD, Frauen, Jugendliche und Kinder an sich zu binden. In Truckenthal (Thüringen) veranstalteten "REBELL" und die Kinderorganisation "ROTFÜCHSE" ihr "Sommercamp", für das auch in Bayern geworben wurde. Im linksextremistischen Spektrum ist die MLPD aufgrund ihres dogmatischen Kommunismusverständnisses weitgehend isoliert und agitiert daher vor allem im Rahmen eines "Internationalistischen Bündnisses", zu dessen Unterstützerkreis auch Sympathisanten der Terrororganisation "Volksfront zur Befreiung Palästinas" (PFLP) gehören. Nach dem Überfall der islamistischen Terrororganisation "HAMAS" auf israelisches Staatsgebiet am 7. Oktober positionierte sich die MLPD am 15. Oktober erneut auf Seiten der Palästinenser und warf Israel vor, einen menschenverachtenden Vernichtungsfeldzug gegen die palästinensische Zivilbevölkerung zu führen. Die Solidarität der MLPD mit terroristischen Organisationen Solidarität mit zeigt, dass ihre Aufrufe zur Revolution nicht bloße ideologische Terrororganisation Floskeln sind. Personen, die Gewalt für die Durchsetzung des Sozialismus anwenden und dafür inhaftiert werden, werden in der Partei als Vorbilder angesehen. 275 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus 6.4 Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD (AB) Bayern Mitglieder ca. 85 Gründung 1973 Sitz München Der aus sog. "Arbeiter-Basisgruppen" in München hervorgegangene AB ist eine revolutionär-marxistische Organisation, die die Gründung einer "revolutionären Partei in der Tradition der verbotenen KPD" anstrebt. Sie beruft sich auf den Marxismus-Leninismus und die Ideen von Stalin und Mao Tse-tung. Ziel des AB ist die Beseitigung der "herrschenden Ausbeuterklasse" und die Errichtung einer "Diktatur des Proletariats". Über Informationsveranstaltungen und Kundgebungen in unmittelbarer Nähe zu Industriebetrieben versucht die Organisation, mit der Arbeiterschaft in Kontakt zu kommen. So demonstrierten Angehörige des AB insbesondere vor Fertigungsstätten von Automobilkonzernen. In Ingolstadt, München, Nürnberg und Regensburg fällt der AB in der Öffentlichkeit gelegentlich durch seine Demonstrationen mit historischen Fahrzeugen auf. Charakteristisch für den AB ist seine an Stilelemente der Arbeiterbewegung der späten 1920er Jahre anknüpfende, antiquiert wirkende Agitationsund Propagandatätigkeit mit Schalmeienkapellen, kabarettistischen Aktionen und Brecht-Theater. Zudem wird die bayerische Räterepublik glorifiziert. Der AB veröffentlichte im Juli 2022 ein Flugblatt mit dem Titel "Kampf der Inflation! Auf die Straße Gegen Regierung der Milliardäre". Darin wird die Abschaffung der Mehrwertsteuer, ein staatlicher Festpreis für Gas und Strom sowie eine Absenkung der Mieten gefordert. Ideologisch werden Kapitalismus und Imperialismus für den Russland-Ukraine-Krieg und seine Folgen verantwortlich gemacht. Aktivistinnen und Aktivisten beteiligten sich bereits am 5. März 2022 an einer Demonstration unter dem Motto "Krieg in der Ukraine" in Nürnberg. 276 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Von Januar bis März 2023 veranstaltete die KPD AB gemeinsam mit der linksextremistischen Gruppierung "Freie Deutsche Jugend" (FDJ) deutschlandweite Aktionstage, u. a. in den bayerischen Städten Dingolfing, Ingolstadt, München, Nürnberg und Regensburg. Im November wurden diese Aktionstage wiederholt. 6.5 Freie Deutsche Jugend (FDJ) Bayern Gründung 1994 Sitz Ingolstadt, München, Nürnberg und Regensburg Bei der FDJ handelt es sich um eine bundesweite Organisation des orthodoxen Kommunismus, deren Mitglieder sich zum Marxismus-Leninismus in seiner Reinform bekennen und sich dabei ganz bewusst in die Tradition der DDR, des Stalinismus und der Sowjetunion stellen. 1951 wurde die "FDJ in Westdeutschland" vom Bundesverwaltungsgericht verboten. Dieses Verbot galt jedoch nicht für die FDJ in der DDR. Die heutige FDJ sieht sich in der Tradition der "Ostdeutschen"-FDJ und versucht so, das Verbot aus dem Jahr 1951 zu umgehen. In "größeren westdeutschen Städten" sollen laut FDJ seit 1994 eigene Ortsgruppen existieren. In Bayern sind Ortsgruppen der FDJ in Ingolstadt, München, Nürnberg und Regensburg bekannt. Ausgehend von diesem orthodox-kommunistischen Personenkreis sind auch vermehrt Aktivitäten in Bayern feststellbar. Insbesondere die Regensburger Ortsgruppe der FDJ ist innerund außerhalb Bayerns aktiv. Dies dürfte vor allem damit in Zusammenhang stehen, dass der Pressesprecher der FDJ aus Regensburg stammt. In der Regensburger Ortsgruppe der FDJ bestehen personelle und ideologische Überschneidungen zum "Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD". Die Nürnberger Ortsgruppe der FDJ hielt am 1. August anlässlich eines Verfahrens gegen die türkisch-linksextremistische "Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front" (DHKP-C) beim Oberlandesgericht Düsseldorf eine Solidaritätskundgebung vor dem Nürnberger Justizpalast ab. 277 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus 6.6 Rote Hilfe e. V. (RH) Deutschland Bayern Mitglieder 13.100 1 ca. 1.150 Sitz Göttingen verschiedene (Bundesgeschäftsstelle) Ortsgruppen u. a. Nürnberg und München Publikationen "DIE ROTE HILFE", - vierteljährlich 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 Der Arbeitsschwerpunkt der RH ist die finanzielle und politische Unterstützung von linksextremistischen Strafund Gewalttätern, mit deren ideologischer Zielsetzung sie sich identifiziert. Diese Unterstützung wird beispielsweise bei anfallenden Anwaltsund Prozesskosten sowie bei Geldstrafen und Geldbußen gewährt. Dabei geht es der RH nicht um eine Resozialisierung von Straftätern, sondern um die Unterstützung gewaltbereiter Szeneangehöriger in deren Kampf gegen das politische System. Auf Großveranstaltungen ist die RH mit "Ermittlungsausschüssen" (EA) präsent. Diese EA stellen Rechtsbeistände, die im Falle einer Verhaftung von Szeneangehörigen bereits vor Ort Unterstützung leisten. Erkennt die RH eine Person als "Unterstützungsfall" an, so beteiligt sie sich an Prozessund Anwaltskosten mit einem Regelsatz von 50 Prozent, der nach Einzelfallprüfung auch höher ausfallen kann. Zahlungen und sonstige Unterstützungsmaßnahmen sind in der Regel daran gebunden, dass die Beschuldigten konsequent die Aussage vor Behörden verweigern und sich auch nicht von der politischen Dimension der ihnen zur Last gelegten Straftaten distanzieren. Geständigen Szeneangehörigen droht die RH mit dem Entzug der Unterstützung. Dies belegt, dass das vorrangige Ziel der RH nicht die Hilfe für inhaftierte Szeneangehörige ist, sondern die Abschottung der linksextremistischen Szene vor den Ermittlungen der Sicherheitsbehörden. Schweigegebot Innerhalb der linksextremistischen autonomen Szene wird für dieses Schweigegebot unter dem Motto "Anna und Arthur halten's Maul" geworben. Die fiktiven Personen Anna und Arthur stehen dabei stellvertretend für alle linksextremistischen Akteure. 278 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Die RH finanziert sich überwiegend aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Durch ihre zahlreichen Mitglieder verfügt die RH über ausreichende finanzielle Mittel, um Unterstützung bei Strafverfahren zu leisten. Eine Mitgliedschaft in der RH funktioniert für Aktive der linksextremistischen Szene wie eine Art Versicherung. Auch vormals aktive Szeneangehörige, die aus beruflichen oder persönlichen Gründen nicht mehr straffällig werden wollen, können der RH beitreten oder spenden, um den "Kampf" zu unterstützen. Die RH weist seit mehreren Jahren bundesweit einen deutlichen Mitgliederzuwachs Mitgliederzuwachs auf. Am 18. März, dem "Tag der politischen Gefangenen", thematisierten die bayerischen Ortsgruppen der RH in München, Nürnberg und Regensburg erneut die inhaftierten "Antifaschisten" rund um die verurteilte Linksextremistin Lina E. Sie gilt als Anführerin einer kriminellen Antifa-Vereinigung aus Leipzig. Lina E. und 10 weitere Mitglieder der sog. "Antifa Ost" sollen für mehrere Angriffe auf mutmaßliche Rechtsextremisten verantwortlich sein, bei denen insgesamt 12 Personen zum Teil schwer verletzt wurden. Das Onlineportal antifa-info.net, das sich als zentrale Plattform Onlineportal der antifaschistischen Bewegung in Süddeutschland versteht, antifa-info.net veröffentlichte am 28. September einen Beitrag zur Öffentlichkeitsfahndung nach Johann Guntermann. Dieser gilt neben Lina E. als Führungsperson der "Antifa Ost". In dem Beitrag wird die Fahndung als Hetzjagd gebrandmarkt und verurteilt. Zudem wird eine Stellungnahme eines Mitgliedes des Bundesvorstandes der RH wiedergegeben, die die Angriffe der "Antifa Ost" als Notwehr gegen rechtsextremistischen Terror verherrlicht. Ziel der Fahndung sei es demnach, "Antifaschist*innen" zu "dämonisieren" und so den gesamten linksextremistischen antifaschistischen Kampf zu kriminalisieren. Daher müsse man sich mit den Betroffenen solidarisch zeigen und der Fahndung "öffentlich widersprechen". Aus dieser Stellungnahme lässt sich sowohl eine Ablehnung des Rechtsstaatsprinzips als auch des Gewaltmonopols des Staates ableiten. 279 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus 7. AUTONOME, POSTAUTONOME UND ANARCHISTEN 7.1 Beschreibung/Hintergrund Gemeinsames Merkmal von Autonomen, Postautonomen und Anarchisten ist die Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bei gleichzeitiger Legitimierung von Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung. Autonome 800 Autonome Autonome sind überwiegend junge, gewaltorientierte Angehörige in Bayern der linksextremistischen Szene. Sie bilden den weitaus größten Teil des gewaltorientierten linksextremistischen Personenpotenzials. Zur autonomen Szene zählen bundesweit rund 8.300 Personen (Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022), in Bayern etwa 800. Da Autonome feste Strukturen ablehnen, ist eine klare Zuordnung von Einzelpersonen zur autonomen Szene nicht immer möglich. Autonome Gruppen agieren bevorzugt in losen und unverbindlichen Zusammenschlüssen. Sie verfügen häufig über einen kleinen Mitgliederstamm, darüber hinaus hängt die Zahl der zugehörigen Personen stark von aktuellen Themenund Aktionsfeldern ab. So ist es möglich, dass bei Veranstaltungen und Aktionen die Teilnehmerzahl das Mitgliederpotenzial der initiierenden Gruppe übersteigt. Autonome haben kein einheitliches ideologisches Konzept, sie folgen vielmehr anarchistischen und anarcho-kommunistischen Vorstellungen. Einig sind sich alle Autonomen in dem Ziel, den Staat und seine Einrichtungen - auch mit Gewalt - zu zerschlagen und eine "herrschaftsfreie Gesellschaft" zu errichten. Sie rechtfertigen Gewalt als erforderliches Mittel gegen die "strukturelle Gewalt" eines "Systems von Zwang, Ausbeutung und Unterdrückung". Gewalttätige Handlungen verstehen sie als Akt individueller Selbstbefreiung von den Herrschaftsstrukturen. Dazu gehören Brandstiftungen, Sabotage, Hausbesetzungen und militante Aktionen bei Demonstrationen. Autonome versuchen, auch demokratische Protestbewegungen für ihren Kampf gegen den Staat zu mobilisieren. Postautonome In der autonomen Szene wird seit Längerem eine Organisationsund Militanzdebatte geführt. Seit Beginn der 1990er Jahre wuchs die interne Kritik, die autonome Bewegung sei zu unorganisiert, um nachhaltig politische Veränderungen bewirken zu 280 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 können. Im Zentrum der Debatte steht dabei die Frage, wie eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz für die eigenen autonomen Positionen erreicht werden kann. Infolgedessen sind mehrere sog. "postautonome" Gruppierun"Interventionistische gen und Netzwerke entstanden, die die gesellschaftliche IsolaLinke" (IL) tion der Autonomen durchbrechen wollen. In der Szene besonders prägend wirkt die "Interventionistische Linke" (IL). Sie war erstmals im Jahr 1999 bei den Protesten gegen die EU-Ratstagung und den Weltwirtschaftsgipfel in Köln aktiv und gründete sich 2005 als informelles bundesweit agierendes Netzwerk. Sie verfolgt den strategischen Ansatz einer spektrenübergreifenden Mobilisierung unter ihrer Führung. Dabei versucht sie, alle linksextremistischen Strömungen - bis hin zu militanten Autonomen - zu integrieren. Postautonome versuchen, ein Scharnier zwischen gewaltbereiten Szeneangehörigen und gemäßigten Kräften - zuletzt auch verstärkt im Umfeld zivilgesellschaftlicher Initiativen - zu bilden. Die Vorsilbe "Post" steht für die Infragestellung einiger grundlegender Merkmale, aber nicht für einen vollständigen Bruch mit dem gewaltorientierten autonomen Politikansatz. Um zwischen linksextremistischen und demokratischen Akteu"Ziviler ren zu vermitteln, bedienen sich die Postautonomen u. a. des Ungehorsam" Begriffes des "zivilen Ungehorsams". Der Begriff bezeichnet ein strategisches Protestkonzept, das einen moralisch oder politisch begründeten, bewussten Verstoß gegen staatliche Regulierungsmaßnahmen, z. B. Gesetze, umfasst. Aktionsbzw. Protestformen des zivilen Ungehorsams, wie Sitzblockaden, Streiks oder Protestcamps, verlaufen in der Regel gewaltfrei. Der Begriff "ziviler Ungehorsam" wird in seiner linksextremistischen Auslegung inzwischen mitunter auch von bürgerlichen Klimaschutzinitiativen übernommen und genutzt. Vordergründig beteiligen sich Postautonome nicht an gewalttätigen Ausschreitungen, allerdings distanzieren sie sich auch nicht eindeutig vom Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele. Vereinbarungen über die zulässigen Formen des Protestes sind dabei oft reine Formelkompromisse, die der Auslegung breiten Raum lassen. Gewalttätige Eskalationen sind Teil der eigenen Planung und werden mit kalkuliertem Risiko bewusst eingesetzt. Postautonome engagieren sich z. B. in Mieterund Stadtteilinitiativen, in der Flüchtlingshilfe, in Klimaschutzinitiativen sowie in der Antiglobalisierungsbewegung. Zuletzt waren Aktivitäten solcher 281 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus Gruppierungen auch verstärkt im Umfeld zivilgesellschaftlicher Umweltinitiativen feststellbar. Innerhalb dieser breit angelegten Bündnisse versuchen die Postautonomen, ihren ideologischen Schwerpunkt "Antikapitalismus" mit anderen Themen zu verbinden und ihre verfassungsfeindlichen Ziele in bürgerliche Initiativen und damit in die Mitte der Gesellschaft zu transportieren. Langfristig soll die linksextremistische Ideologie so in einem demokratischen Protestmilieu verankert werden und dort Radikalisierungsprozesse in Gang setzen. Anarchisten Anarchismus ist eine Sammelbezeichnung für politische Auffassungen und Bestrebungen, die auf die Abschaffung jeglicher Herrschaft von Menschen über Menschen abzielen. Allen anarchistischen Strömungen ist die Forderung gemein, den Staat als Herrschaftsinstitution abzuschaffen - und zwar unabhängig von einer demokratischen oder diktatorischen Ausrichtung. Häufig schließt eine solche Auffassung einen grundsätzlichen "Antiinstitutionalismus" ein. Der Anarchismus begreift Bürokratien, Kirchen, Parteien, Parlamente und Vereine als Einrichtungen, die einem freiwilligen Zusammenschluss von emanzipierten und mündigen Menschen entgegenstehen. Dem Anarchismus zugehörige Personen lehnen Hierarchien und Unterordnung grundsätzlich ab. Deshalb weisen sie in der Regel einen nur geringen Organisationsgrad auf und bilden lediglich lose strukturierte Gruppierungen. "Direkte Aktion" Anarchisten bevorzugen stattdessen spontane Aktionen von Akzeptanz von kleineren Gruppen oder Einzelpersonen. Zu diesen zählt auch Gewalt die "Direkte Aktion". Hierunter sind Aktionen zu verstehen, die für sich selbst sprechen und somit eine unmittelbare Wirkung entfalten. Dabei kann es sich um Sachbeschädigungen oder das Besetzen von leerstehenden Gebäuden handeln. Aber auch gewalttätige Aktionen, wie die Brandstiftung an Fahrzeugen sowie Sabotageaktionen auf Infrastruktureinrichtungen zählen hierzu. Gewalt als Mittel der Revolution ist auch im Anarchismus ein viel diskutiertes Thema. Sie wird jedoch von der Mehrzahl der Aktivisten als legitimes Mittel akzeptiert. Wie eine Gesellschaft "nach" der Revolution aussehen kann, ist auch in der anarchistischen Szene umstritten. Der anarchistische Idealzustand, eine Gesellschaft auf Basis von Selbstverwaltung und freien Übereinkünften, führt in letzter Konsequenz jedoch unweigerlich in ein System von Gewaltund Willkürherrschaft, in dem der Starke sich gegen den Schwachen durchsetzt und sich schlussendlich über diesen erhebt. 282 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Anarchistische Ideen sind in der deutschen Gesellschaft nur schwer zu vermitteln. Um im politischen Diskurs wahrgenommen zu werden, haben sich Anarchisten europaweit gesellschaftspolitisch umstrittenen Themenfeldern zugewandt, wie z. B. der Elektromobilität, ChatGPT oder dem Klimaschutz. 7.2 Autonome Szene in Bayern In modernen, individualisierten Gesellschaften verlieren traditionelle gesellschaftliche Orientierungspunkte an Relevanz. Die Frage nach der Verortung der eigenen Identität gewinnt an Bedeutung und ist - auch aufgrund der Informationsflut in den sozialen Medien - gleichzeitig immer schwerer zu beantworten. Mit welchen Gruppen sich Menschen identifizieren und für welche Themen sie sich engagieren, unterliegt einem sich stets beschleunigenden Wechsel. Die Corona-Krise hat diese Entwicklung zusätzlich verstärkt. Davon ist auch die linksextremistische Szene betroffen, die sich schon immer durch Unübersichtlichkeit und Fragmentierung ausgezeichnet hat. Da die autonome Szene vor allem aus Heranwachsenden und jungen Erwachsenen besteht, bei denen sich Orientierung und Lebensverhältnisse auch kurzfristig stark verändern können, etablieren sich szeneintern nur selten langfristig stabile Gruppenstrukturen. Der Fortbestand der wenigen etablierten Gruppierungen der Offene antifaautonomen Szene sowie deren Aktivitätsniveau hängt von Kernschistische Treffen gruppen oder Einzelpersonen ab. Zugleich erleichtern es die sozialen Medien, Menschen mit gesellschaftspolitischen Themen anzusprechen bzw. zu mobilisieren. Dabei setzt die Szene oft auf das Format der "Offenen Antifaschistischen Treffen" (OAT), die interessierten Personen einen niedrigschwelligen Erstkontakt ermöglichen sollen. Durch die OAT kann dann ein Zugang zu Gruppen mit entsprechenden Themenfeldern vermittelt werden, die mit den persönlichen Neigungen und Interessen korrespondieren. Die derzeit existierenden linksextremistischen Gruppen bilden daher zu einer Vielzahl von Themen (z. B. Antifaschismus, Klima, Feminismus, Flüchtlingshilfe) Untergruppierungen, die sich in den sozialen Medien präsentieren und für ihre jeweiligen Anliegen werben. Vordergründig handelt es sich dabei um unabhängig voneinander agierende Gruppen, die aber im Hintergrund von einem kleinen linksextremistischen Aktivistenstamm bzw. 283 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus entsprechenden Kerngruppen angeleitet werden. Aktuell zeichnet sich die linksextremistische autonome Szene durch folgende Aspekte aus: - unverbindliche Strukturen mit niedrigschwelligen Angeboten - geringer ideologischer Anspruch - Fokussierung auf spezifische Themenfelder - kurzfristige Bildung neuer Gruppen - kleinteilige Gruppen mit häufig wechselnden Personen - informelle Hierarchien gepaart mit der Möglichkeit für neue Interessierte, sich schnell einzubringen - Aktionsund Erlebnisorientierung - starke Präsenz in den sozialen Medien - Vernetzung mit anderen gleichgesinnten Gruppen 7.2.1 Autonome Zentren und Szenetreffs Durch diese Entwicklung haben autonome Szenetreffs, sog. "autonome Zentren", an Bedeutung gewonnen. Sie stellen Linksextremisten Räume zur Verfügung, um mit Gleichgesinnten zusammenzukommen und in den direkten Austausch mit interessierten Personen treten zu können. Demgegenüber können unerwünschte Personen bzw. Gruppierungen schnell ausgeschlossen werden. Diese Trefförtlichkeiten von Autonomen werden häufig auch von anderen, nichtextremistischen Gruppen genutzt (Mischnutzung). Augsburg Innerhalb der linkextremistischen Szene in Augsburg waren in den letzten Jahren zahlreiche Veränderungen zu verzeichnen. So lösten sich einige autonome Gruppierungen auf, während zugleich immer wieder neue Zusammenschlüsse und Initiativen entstanden. Zudem führten szeneinterne Spannungen dazu, dass sich zeitweise auch der Treffpunkt der autonomen Augsburger Szene verlagerte. Im Augsburger Stadtteil Oberhausen befindet sich das 2008 gegründete "Hans-Beimler-Zentrum". Die Räume werden sowohl von nichtextremistischen als auch von extremistischen Gruppen genutzt, u. a. von der linksextremistischen "Deutschen Kommunistischen Partei" (DKP). Bis Anfang Herbst 2023 traf sich dort auch das autonome "Offene Antifaschistische Treffen Augsburg" und das "Offene Antifaschistische Klimatreffen Augsburg". Beide Gruppen haben ihre Veranstaltungen jedoch in die Kneipe "Ganze Bäckerei" verlegt, wo auch die Augsburger Ortgruppe des "Rote Hilfe e. V." ihre Kontaktadresse hat. Um sich von anderen Gruppierungen abzusetzen, arbeiten sie daran, 284 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 unter dem Namen "Linkes Zentrum Lilly Prem" ein eigenes Zentrum aufzubauen, für das bereits eine eigene Webseite erstellt wurde. Die Namensähnlichkeit von Gruppierungen der autonomen Szene in München und Augsburg kann als Indiz für eine enge Verbundenheit untereinander verstanden werden, die sich auch auf die autonome Szene in Rosenheim erstrecken dürfte. München In München gibt es eine Vielzahl von Örtlichkeiten, an denen sich die autonome Szene trifft. Das "Kafe Marat" und das "Barrio Olga Benario" sind hierbei von besonderer Bedeutung. Das seit den 1990er Jahren bestehende "Kafe Marat" ist Teil eines selbstverwalteten Zentrums im Münchner Schlachthofviertel. Das Zentrum wird von einem Verein betrieben, während das "Kafe Marat" von mehreren Gruppen, darunter auch linksextremistische Gruppierungen, organisiert wird. Es wirbt mit günstigen Getränkepreisen, Vorträgen, Infoveranstaltungen und Konzerten. Die linksextremistische Szene Münchens führt im "Kafe Marat" regelmäßig Vorträge, Diskussionsrunden oder Mobilisierungsveranstaltungen durch, wie zum Beispiel anlässlich der Proteste gegen die IAA in München. Das "Kafe Marat" dient der Szene als Treffpunkt, logistisches Zentrum und Informationsbörse, die beispielsweise die gemeinsame Anreise zu Demonstrationen und Aktionen in ganz Deutschland koordiniert. Auch bietet der "Rote Hilfe e. V." dort Vorträge an. Die postautonome Gruppierung "Antifa-NT" nutzt das "Kafe Marat" als Treffpunkt. Die Gruppierung beteiligt sich regelmäßig an breiten gesellschaftlichen Bündnissen. Sie greift insbesondere bürgerliche Themen auf und nutzt zivilgesellschaftliche Versammlungen, um für ihre extremistischen Positionen zu werben. Zu anderen autonomen und postautonomen Gruppierungen pflegt "Antifa-NT" bundesweite Kontakte. So ist die Gruppe seit 2015 am linksextremistischen "[...] umsGanze!"-Bündnis beteiligt. In diesem Bündnis organisieren sich gewaltorientierte linksextremistische Gruppen aus Deutschland und Österreich. Zudem ist "Antifa-NT" an der bundesweiten Protestmitmachkampagne "Nationalismus ist keine Alternative" (NIKA) beteiligt. NIKA ist eine linksextremistische Kampagne, die sich gegen einen vermeintlichen Rechtsruck in der Gesellschaft richtet. Die Kampagne soll dazu beitragen, die linksextremistische Szene stärker zu vernetzen und besser zu organisieren. 285 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus Im Februar 2019 wurde von einem Trägerverein das "Barrio Olga Benario" in München-Giesing eröffnet. Der Name leitet sich von der in den 1920er Jahren in Berlin aktiven Kommunistin Olga Benario ab, die im April 1942 von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde. Mehrere linksextremistische wie auch linksextremistisch beeinflusste Gruppen nutzen das "Barrio Olga Benario" zur Planung und Vorbereitung von Aktionen sowie für ihre regelmäßigen Treffen, darunter die "Antikapitalistische Linke München" (AL-M), das "Offene antikapitalistische Klimatreffen München", das Bündnis "In Aktion gegen Krieg und Militarismus" (AKM) und der "Antifa-Stammtisch". Daneben finden im "Barrio Olga Benario" Vorträge, Diskussionsrunden, Filmvorführungen, Info-Abende, Mobilisierungsveranstaltungen und Workshops zu den klassischen linksextremistischen Themenfeldern (Antifaschismus, Antirassismus, Antirepression, Antikapitalismus, Antimilitarismus, Antigentrifizierung, Klimakampf) statt. Derartige Veranstaltungen werden überwiegend von den Gruppen im "Barrio Olga Benario" oder von linksextremistischen Gruppen wie der AL-M oder der "Internationalen Sozialistischen Organisation" organisiert. Seit März 2020 ist die linksextremistisch-initiierte Initiative "Zukunft erkämpfen" im "Barrio Olga Benario" beheimatet. Die Initiative ist Teil der bundesweiten Kampagne "#nichtaufunseremrücken", an der sich diverse linksextremistische Gruppierungen beteiligen, darunter auch die "Prolos", die "Sozialrevolutionäre Aktion" (SRA) und die AL-M aus Bayern. Aktivisten aus verschiedenen im "Barrio Olga Benario" aktiven Antifa-Gruppen gründeten den linksextremistischen "Antifaschistischen Aufbau München", der sich Ende 2021 mit 7 weiteren gewaltorientierten linksextremistischen Gruppierungen aus Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zur "Antifaschistische Aktion Süd" (AfA) zusammenschloss. Nürnberg Das "Selbstverwaltete Kommunikationszentrum Nürnberg e. V." (KOMM) im Nürnberger Stadtteil Gostenhof stellt in der Region die zentrale Trefförtlichkeit der linksextremistischen Szene dar. Über eine Vereinsstruktur wird dort die als "Laden" bezeichnete Szenekneipe "Schwarze Katze" betrieben. 286 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Dort treffen sich: - "Antifaschistisches Aktionsbündnis Nürnberg", - "Initiative solidarischer ArbeiterInnen", - "Organisierte Autonomie" (OA), - "Prolos" und - "Rote Hilfe e. V. - Ortsgruppe Nürnberg/Fürth/Erlangen". Neben einer Vielzahl von kleineren linksextremistischen Gruppierungen, die unregelmäßig in der "Schwarzen Katze" zusammenkommen und nur punktuell Aktionismus entfalten, nutzen auch nichtextremistische Gruppen das KOMM. Seit Herbst 2023 trifft sich auch die Gruppe "Revolutionäre Zukunft Nürnberg" (RZN), in der "Schwarzen Katze". Diese Gruppe versucht vor allem sehr junge Personen (u. a. Schüler, Auszubildende) anzusprechen. Ob es sich bei RZN um eine Nachfolgeorganisation der "Revolutionär Organisierten Jugendaktion" (ROJA), die seit 2022 nicht mehr in Erscheinung getreten ist, handelt, ist derzeit noch unklar. Zudem existieren in Nürnberg noch weitere linksextremistische Trefförtlichkeiten, die jedoch nur von einzelnen kleineren linksextremistischen Gruppierungen frequentiert werden bzw. nur geringe Außenwirkung entfalten. Ein solcher Szenetreff ist beispielsweise die "DESI" ("Desinfektionsanstalt"), ein selbstverwaltetes Stadtteilzentrum in Nürnberg-St. Johannis, in dem sich auch nichtextremistische Gruppierungen treffen. Die zentrale Veranstaltung der autonomen Szene in Nürnberg ist der, federführend von der OA organisierte "Revolutionäre 1. Mai", eine Demonstration mit anschließendem Straßenfest. Im Jahr 2023 bildeten der Russland-Ukraine-Krieg sowie die damit verbundenen antimilitaristischen Proteste gegen Rüstungsunternehmen die thematischen Schwerpunkte der Veranstaltung. Nach dem 1. Mai standen Proteste gegen die AfD im Rahmen des Landtagswahlkampfes in Bayern sowie Aktivitäten zugunsten der extremistischen "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) im Mittelpunkt. Ab Oktober nahm dann die Diskussion über die Konfrontation zwischen Israel und der islamistischen Terrororganisation "HAMAS" breiten Raum in der linksextremistischen Szene in Nürnberg ein. 287 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Linksextremismus Regensburg Das "Linke Zentrum" (LiZe) in Regensburg wird regelmäßig sowohl von extremistischen als auch nichtextremistischen Gruppierungen genutzt. So veranstaltet auch die linksextremistische "Antifaschistische Aktion Regenburg" (AFAR) dort u. a. offene Antifa-Treffen, Mobilisierungsveranstaltungen und Vorträge. Auch die "Anarchistische Gruppe Regensburg" trifft sich regelmäßig im LiZe und nutzt es für eigene Veranstaltungen. Rosenheim Die autonom-linksextremistische Szene in Rosenheim und Umgebung führt in der Szeneörtlichkeit "Z - linkes Zentrum in Selbstverwaltung" regelmäßig Veranstaltungen durch und tritt dabei unter der Bezeichnung "Offenes antifaschistisches Plenum Rosenheim" (OAPR) auf. Im Zentrum der OAPR-Aktivitäten steht die in den letzten Jahren zunehmend aggressive Agitation gegen die AfD. So rief das OAPR anlässlich der diesjährigen bayerischen Landtagswahl in den sozialen Netzwerken offen zur Gewalt gegen AfD-Politiker auf. Bei Demonstrationen des OAPR gegen die AfD wurden auch Polizeikräfte angriffen und verletzt. Die Social-Media-Kanäle des OAPR weisen u. a. Bezüge zur linksextremistischen Szene in München und Augsburg auf. 7.2.2 Vernetzungsbestrebungen Linksextremistische Gruppierungen mit gleichem Interessensspektrum vernetzen sich zunehmend auch überregional, wobei die Qualität der Kooperationsbemühungen stark variiert: Sie reicht von der öffentlichen Ankündigung der Zusammenarbeit - mitunter auch ohne erkennbare Folgen - bis hin zu gemeinsamen Aktionen und gegenseitiger Unterstützung: So initiieren und bewerben das im Februar 2022 geründete linksextremistische Kooperationsforum "Antifaschistische Aktion Süd" und das mit ihm verbundene linksextremistische Informationsportal "antifa-info.net" gemeinsam Aktionen in Süddeutschland, bei denen sich auch autonome Gruppen inund außerhalb Bayerns einbringen können. Anlässlich der Bayerischen Landtagswahl beteiligten sich zahlreiche autonome Gruppierungen an der Aktion "Antifaschistische Offensive Bayern" mit dem Ziel, gemeinsam den Wahlkampf der AfD zu stören. 288 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 289 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Scientology-Organisation Scientology-Organisation (SO) Die "Scientology-Organisation" (SO) ist eine international agierende Organisation, die auf finanzielles Gewinnstreben ausgerichtet ist und ein weltweites, unumschränktes Herrschaftssystem nach eigenen Vorstellungen errichten möchte. An die Stelle des Demokratieprinzips und der Grundrechte soll ein auf Psychotechnologien und bedingungsloser Unterordnung der Individuen beruhendes totalitäres Herrschaftssystem unter scientologischer Führung treten. Die SO ist somit nicht nur eine Gefahr für Einzelne, die in die Fänge und den Einflussbereich der Organisation zu geraten drohen. Sie stellt vielmehr auch das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland und die staatliche Garantie der Grundrechte in Frage. Schon in seinem Grundlagenwerk "Dianetik" aus dem Jahr 1950 wies der Gründer der SO, Lafayette Ron Hubbard, auf die politische Relevanz seiner Lehre hin. Nach seinen bis heute unveränderten und für alle Scientologen verbindlichen Vorstellungen soll eine ausschließlich nach scientologischen Richtlinien funktionierende Welt geschaffen werden. Mit drastischen psychound sozialtechnischen Instrumenten will die Organisation nicht nur den einzelnen Menschen steuern, sondern durch Einflussnahme auf Staat, Politik und Wirtschaft auch in die Gesellschaft eindringen, um sie den scientologischen Zielen zu unterwerfen. 290 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Programmatik und Aktivitäten der SO sind mit den Grundprinzipien unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar. Die "Scientology-Organisation" - will ein scientologisches Rechtssystem etablieren, in dem es keine Menschenund Grundrechte gibt, - missachtet die Menschenwürde (Art. 1 GG) und den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG), da sie nur Scientologen Rechte zugesteht, - missachtet das Grundrecht der freien Meinungsäußerung (Art. 5 GG), da sie Kritik mit allen - auch illegalen - Mitteln unterdrücken will, - baut auf ein totalitäres Herrschaftssystem, das Gewalt und Willkürherrschaft einschließt. Das Oberverwaltungsgericht Münster hat mit Urteil vom 12. Februar 2008 festgestellt, dass - tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die SO Bestrebungen verfolgt, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind, 291 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Scientology-Organisation - zahlreiche Hinweise ergeben, dass die SO eine Gesellschaftsordnung anstrebt, in der zentrale Verfassungswerte außer Kraft gesetzt oder eingeschränkt werden, - der Verfassungsschutz die Organisation daher - auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln - beobachten darf. 1. PERSONENPOTENZIAL Deutschland Bayern Mitglieder 3.6001 etwa 1.300 Vorsitzende/r Helmut Blöbaum Nina Malessa Gründung München 1970 Nürnberg 1982 ("Scientology Kirche ("Scientology Deutschland e. V.") Kirche Bayern e. V.") Sitz München München (in Deutschland unselbstständige Teilorganisationen) Publikationen u. a. Freedom; Impact; Ursprung; Source; Scientology Network TV und Streamingdienst 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2022 Die Mitgliederzahl der SO in Bayern beläuft sich auf ca. 1.300 Personen, die sich auf sämtliche Altersgruppen verteilen. Neben langjährigen Scientologen gehören hierzu auch junge Erwachsene, die in ihren Familien mit der Ideologie der SO aufgewachsen sind, weiterhin der Organisation treu bleiben und diese bewerben, sowie neu rekrutierte Mitglieder. Konsequente staatliche Aufklärungsarbeit, Prävention und kritische mediale Berichterstattung haben die Strukturen der SO, ihre Methoden und ihre verfassungsfeindlichen Ziele der Öffentlichkeit dargelegt. Die gewonnene Transparenz, beispielsweise über ihre Manipulationsstrategien, und die damit verbundene negative gesellschaftliche Wahrnehmung der SO haben es ihr zeitweise erschwert, neue Mitglieder zu gewinnen. Mit Hilfe von Tarnund Nebenorganisationen, sog. "Verbreitungskampagnen", wie z. B. der "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e. V." (KVPM), der Organisation "Sag NEIN zu Drogen - Sag JA zum Leben", den 292 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 sog. "Ehrenamtlichen Geistlichen" (englisch: "Volunteer Ministers") oder der Organisation "Der Weg zum Glücklichsein", versucht die SO, sich als attraktive, humanitäre und sozial verantwortliche Organisation darzustellen. Interessenten werden über diese Kampagnen an die SO herangeführt und als neue Mitglieder rekrutiert. Die rasante Verbreitung von Verschwörungstheorien (u. a. im Zuge der Corona-Pandemie) hat gezeigt, dass viele Menschen angesichts komplexer Ereignisse nach einfachen Erklärungen und Orientierungsangeboten suchen. Auch die SO versucht diese Menschen anzusprechen und schrittweise an ihre Ideologie heranzuführen. 2. AKTIONEN UND AKTIVITÄTEN 2.1 Aktivitäten der "Ehrenamtlichen Geistlichen" Die SO unterhält mit den sog. "Ehrenamtlichen Geistlichen" eine nach eigenen Angaben internationale Hilfsorganisation. Die "Ehrenamtlichen Geistlichen" haben seit der CoronaPandemie ihr Aktionslevel deutlich erhöht. Sie nutzen dabei Hoher Aktionslevel den mit der Pandemie verbundenen Bedeutungszuwachs des Themas Gesundheit, um durch die Lancierung der vorgeblichen Gesundheitskampagne "Stay well" (deutsch: "Bleib gesund") potenzielle neue Mitglieder anzusprechen und sich als soziale Organisation mit Beratungskompetenzen darzustellen. Die entsprechenden Materialien werden nach wie vor online zum Lesen oder als Download angeboten. Auch im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine Instrumentalisierung versuchten sich die "Ehrenamtlichen Geistlichen" als Hilfsvon Kriegen und organisation zu präsentieren. Katastrophen Die verheerenden Erdbeben in Syrien und in der Türkei im Februar nahmen die "Ehrenamtlichen Geistlichen" ebenfalls zum Anlass, sich als angebliche Hilfsorganisation zu profilieren und unter den unzähligen betroffenen Menschen vor Ort neue Mitglieder für die SO zu rekrutieren. Presseberichten zufolge verteilten die "Ehrenamtlichen Geistlichen" in den Katastrophengebieten nicht nur scientologische Bücher, sondern boten auch sog. "Assists" (deutsch: "Beistände") an. Bei "Assists" handelt es sich um scientologische Techniken, die das "geistige Wesen" bei der vermeintlichen Überwindung körperlicher Schmerzen oder seelischer Traumata unterstützen sollen. Es gibt 293 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Scientology-Organisation verschiedene Arten von Beiständen. Bei den sog. "BerührungsBeiständen" sollen durch das Auflegen eines Fingers auf bestimmte Bereiche im Umfeld einer Verletzung Kommunikationswellen durch den Körper wieder in Gang gesetzt werden, die durch das Trauma dieser Verletzung gestoppt worden sein sollen. Scientology geht davon aus, dass jede einzelne körperliche Erkrankung von einem Versäumnis des "geistigen Wesens" herrührt, mit dem erkrankten Bereich des Körpers zu kommunizieren. Die "Ehrenamtlichen Geistlichen" sind an ihrer Uniformierung mit gelben Shirts und Jacken sowie der Dominanz der Farbe Gelb bei der Gestaltung ihrer Informationsstände erkennbar. Vortäuschen eines Nach Angaben der SO ist es die Aufgabe eines "Ehrenamtlichen religiösen Kontextes Geistlichen", seinen "Mitmenschen auf ehrenamtlicher Basis zu helfen, indem er Sinn, Wahrheit und spirituelle Werte in deren Leben wiederherstellt". Bei den "Ehrenamtlichen Geistlichen" handelt es sich in der Regel um speziell ausgebildete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der SO, die mit dem gezielten Einsatz scientologischer Manipulationstechniken vertraut sind. Die SO verwendet die Bezeichnung "Geistliche" bewusst, um Außenstehende in die Irre zu führen und einen religiösen Kontext zu suggerieren. In Deutschland sind religiöse Bezeichnungen wie "Kirche" und "Geistliche" rechtlich nicht geschützt. Lediglich die Zuerkennung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts bleibt den etablierten kirchlichen Institutionen vorbehalten. Darüber hinaus existiert kein Anerkennungsverfahren, mit dem der Status als Religionsgemeinschaft förmlich bestätigt werden würde. Jede Gruppe kann sich also - unabhängig von ihrer tatsächlichen Zielsetzung - offiziell als Religionsgemeinschaft bezeichnen. Das Programm der "Ehrenamtlichen Geistlichen" wurde bereits Anfang der 1970er Jahre ins Leben gerufen. Jedoch erst nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA, als nach SO-Angaben ebenfalls "Ehrenamtliche Geistliche" im Hilfseinsatz waren, hat die SO die Werbewirksamkeit der offenkundigen Beteiligung an Hilfsaktionen erkannt und damit begonnen, das Programm entsprechend zu vermarkten. Die SO macht sich insbesondere im Fall von Katastrophen die psychische Ausnahmesituation der Betroffenen zunutze, versucht professionelle psychologische und psychiatrische Hilfe und Beratung zu verdrängen und die Opfer scientologischen Techniken zu unterziehen. Inwieweit die Organisation tatsächlich praktische Hilfe leistet, kann nicht beurteilt werden. 294 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Ziel der SO bei allen öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten ihrer Teilund Tarnorganisationen ist es, sich als global vernetzten Akteur und Ansprechpartner zu präsentieren, um neue Mitglieder zu rekrutieren und Spenden zu sammeln. Themen, die einen breiten gesellschaftlichen Konsens bieten, stehen daher besonders im Fokus. 2.2 Offensive Öffentlichkeitsarbeit der Tarnorganisation "Der Weg zum Glücklichsein" Die SO-Tarnorganisation "Der Weg zum Glücklichsein" (englisch: "The Way to Happiness Foundation") betreibt seit Mitte 2016 in Bayern kontinuierlich eine offensive Öffentlichkeitsarbeit. Ziel ist es, eine möglichst große Anzahl an Exemplaren der Broschüre "Der Weg zum Glücklichsein" zu verteilen. Die bereits seit den 1980er Jahren existierende Publikation wirkt auf den ersten Blick unverfänglich und weist in Aufmachung und Inhalt zunächst keinen expliziten Scientology-Bezug auf. Lediglich im Impressum ist der SO-Gründer Hubbard erwähnt. Somit besteht die Gefahr, dass durch die Verwendung des Materials auch die Verbreitung der SO-Ideologie unwissentlich unterstützt wird. Die Broschüre vermittelt eher triviale Vorschläge und Anleitungen zum vermeintlichen "Glücklichsein", die scientologische Ideologie ist enthalten, aber nur schwer zu erkennen. Allein die Münchener Gruppe der SO-Tarnorganisation soll seit dem Jahr 2016 inzwischen weit mehr als 600.000 Exemplare der gleichnamigen Broschüre verteilt haben. Der Schwerpunkt der Aktionen liegt in München und im Münchener Umland. Die SO versucht, mit der Broschüre Menschen auf vermeintlich problematische Erscheinungen oder Stimmungslagen in ihrem Leben aufmerksam zu machen und Interesse daran zu wecken, etwas zu ändern oder sich Hilfe zu suchen. Ziel ist es, die Adressaten zur Kontaktaufnahme mit der Tarnund Nebenorganisation zu bewegen. Sobald die Kontaktdaten vorliegen, können diese genutzt werden, um die Personen mittelfristig an die SO heranzuführen. 295 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Scientology-Organisation "Der Weg zum Glücklichsein" hat 2022 damit begonnen, eine speziell auf Kinder zugeschnittene Broschüre mit dem Titel "Wie man gute Entscheidungen trifft" zu verteilen. Das Heft lehnt sich an die Broschüre "Der Weg zum Glücklichsein" an. Die dort enthaltenen 21 Regeln werden in der neuen Broschüre kindgerecht aufbereitet. Eine Altersempfehlung fehlt. Die Scientology Organisation betrachtet Kinder als Erwachsene in kleinen Körpern. So heißt es beispielsweise in der ScientologyBroschüre für Kinder Publikation "Kinder-Dianetik - Dianetik-Prozessing für Kinder": Ein Kind ist ein Mann oder eine Frau, der oder die noch nicht zu voller Größe herangewachsen ist. Jedes Gesetz, das für das Verhalten von Männern und Frauen gilt, gilt auch für Kinder. Vor diesem Hintergrund ist die SO bestrebt, durch verschiedene Projekte Einfluss auf die Entwicklung von Kindern zu nehmen. Sie setzt dabei bewusst auf Tarnorganisationen, um auch Personen erreichen zu können, die ihr zunächst ablehnend gegenüberstehen. Inhaltlich behandelt die Broschüre u. a. Themen, die insbesondere für kleinere Kinder nicht geeignet sind. Dazu gehört der Konsum von Drogen, die Unterstützung von Regierungen oder Erläuterungen zum Unterschied zwischen "Morden" und "Töten". Auch unter der Überschrift "Halte Dich an die Wahrheit" finden sich Textteile, die als nicht kindgerecht bezeichnet werden können: Nicht alles, was du hörst oder liest, ist wahr. Manchmal sagt oder schreibt jemand etwas, das nicht wahr ist, und versucht dir einzureden, dass er die Wahrheit sagt. Manchmal ist es schwierig herauszufinden, was wahr ist und was falsch ist. Eines aber ist ganz sicher: Es ist nur wahr, was für dich wahr ist. Niemand kann dich dazu zwingen, etwas zu glauben, was du nicht glauben willst, oder etwas zur Wahrheit zu machen, was du nicht glaubst. Denke selbst nach und entscheide dann, was du für die Wahrheit hältst. Wenn etwas für dich nicht wahr ist, dann ist es nicht wahr. [...] Der Weg zum Glücklichsein ist ein Weg der Wahrheit. 296 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Die scientologische Interpretation des Wahrheitsbegriffes ist ein SO-spezifischer wichtiger Baustein ihrer ideologischen Indoktrination. Ein durch Wahrheitsbegriff scientologische Verfahren manipulierter Mensch sieht nur das als wahr an, was die Organisation vorgibt. Auf der Rückseite des Heftes wird betont, dass die Verbreitung der Broschüre "durch Behörden und deren Beschäftigte" zulässig sei, da dies weder eine Verbindung zu einer religiösen Vereinigung noch die Förderung einer solchen impliziere. Der Inhalt sei "religiös-weltanschaulich neutral" und ziele auf die Förderung des Gemeinwohls ab. Diese Formulierung soll die Verbindung zur SO, die sich selbst als religiöse bzw weltanschauliche Vereinigung versteht, verschleiern und Adressaten in Behörden zur Weitergabe der Broschüre an Kinderund Jugendeinrichtungen animieren. Auch wenn allein von der Lektüre der Broschüre noch keine direkte Gefahr für Kinder ausgeht, stellt die Nähe zur SO bzw. die Anwendung scientologischer Verfahren an Kindern und Jugendlichen eine grundsätzliche Gefährdung des Kindeswohls und der gesunden geistigen Entwicklung von Heranwachsenden dar. Die Gleichsetzung von Kindern und Erwachsenen kann zu einer körperlichen wie geistigen Überforderung von Kindern führen. Zudem sind Störungen im Sozialverhalten sowie Beeinträchtigungen bei der Entwicklung einer eigenen Identität und Urteilsfähigkeit möglich. Dies gilt insbesondere für die oben dargestellte Aufforderung, nur das als Wahrheit zu akzeptieren, was nach eigener Auffassung "wahr" ist. 297 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Scientology-Organisation Kinderpodcast "Der Weg zum Glücklichsein" ist auch Urheber des Kinder"Amanda's Bauernpodcasts "Tierische Abenteuer von Amanda's Bauernhof". In hof" diesem Podcast mit bisher 25 Folgen wird ebenfalls versucht, Kindern spielerisch ideologische SO-Grundsätze zu vermitteln. In den Episoden erklärt der Podcast die Regeln der Broschüre "Wie man gute Entscheidungen trifft", u. a. mit Tiergeschichten zu Themen wie Lügen, Drogenkonsum und Diebstahl. 2.3 Nutzung eines Nachrichtenportals durch die Scientology-Organisation Die SO nutzt nach wie vor auch die Onlinedienste eines unabhängigen Nachrichtenportals als Plattform, um ihre Ideologie zu verbreiten. Gegen Gebühr kann die Organisation so ihre Pressemitteilungen über ein internationales News-Netzwerk, darunter auch namhafte internationale Agenturen, weltweit in Umlauf bringen. Auf diese Weise gelingt es der SO, sich selbst und die Aktivitäten ihrer Nebenorganisationen einem Empfängerkreis zu präsentieren, der ihr bislang nicht offenstand. Dabei wurden wiederholt auch Mitteilungen auf Wirtschaftsbzw. Börsenportalen festgestellt. Dahinter steht vermutlich das Kalkül, finanzstarke und erfolgsorientierte Personen für die SO und ihre vermeintlich sozialen Kampagnen zu interessieren. So wurden beispielsweise die angeblichen Einsätze der "Ehrenamtlichen Geistlichen" im Erdbebengebiet in Syrien und in der Türkei thematisiert, die Erfolge ihrer vorgeblichen Hilfsprogramme wie "Sag NEIN zu Drogen, sag JA zum Leben", "Criminon" und "Der Weg zum Glücklichsein" dargestellt sowie die behauptete Diskriminierung von Scientologen in Deutschland aufgrund ihrer "Religionszugehörigkeit" angeprangert. Neben der Präsentation eigener Kampagnen nutzt die SO das Portal auch, um einzelne ideologische Aspekte zu erläutern. So wurde auch 2023 in einem Artikel anlässlich des "Jahrestages der Dianetik" das scientologische Grundlagenbuch "Dianetik: Der Leitfaden für den menschlichen Verstand" vorgestellt und das Verfahren der Dianetik an "Erfolgsbeispielen" erklärt. 298 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Eine Überprüfung des Inhaltes bzw. des Wahrheitsgehaltes der verbreiteten Informationen findet in diesem Nachrichtenportal nicht statt. Das Nachrichtenportal zählt sich mit - nach eigenen Angaben - über 100.000 Abonnenten zu den führenden Nachrichtenagenturen Europas. 3. ORGANISATIONSSTRUKTUR Die SO ist wie ein internationaler Wirtschaftskonzern organisiert und strukturiert. Alle Einrichtungen unterliegen trotz scheinbarer Selbstständigkeit der strikten Befehlsund Disziplinargewalt des "Religious Technology Center" (RTC) in Los Angeles (USA), geführt von David Miscavige, dem Nachfolger des SO-Gründers Hubbard. Aufgrund mehrerer gegen ihn angestrengter Verfahren in den USA war der Aufenthaltsort Miscaviges 2023 zeitweise unbekannt. Der "Church-Bereich" ist neben den Tarnorganisationen WISE und ABLE eine der wichtigsten organisatorischen Säulen der SO. Er gliedert sich in die Einheiten "Kirchen" (Orgs), "Missionen" und "Celebrity Centres". Dachverband in Deutschland ist die "Scientology Kirche Deutschland e. V." (SKD), in Bayern existiert parallel dazu die "Scientology Kirche Bayern e. V." (SKB). Sowohl die SKD als auch die SKB haben ihren Sitz in München. 299 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Scientology-Organisation "Org"-Einheiten sind insbesondere für den Verkauf und die Durchführung der weiterführenden Scientology-typischen Dienstleistungen zuständig. Hierzu gehören u. a. DianetikKurse, "Auditings" und "Rundowns" sowie verschiedene interne Ausund Fortbildungen für Mitglieder. Kampagne "Ideales Im Rahmen ihrer "Ideale-Org"-Kampagne will die SO weltDeutschland" weit in Städten, die sie zur Erreichung ihrer Ziele als politisch und wirtschaftlich bedeutsam einschätzt, große und repräsentative Niederlassungen ("Ideale Orgs") aufbauen bzw. bereits bestehende Einrichtungen zu einer "Idealen Org" vergrößern. Diese "Idealen Orgs" sollen politischen Einfluss nehmen (u. a. durch Standorte in Regierungs-/Parlamentsnähe) und auch den Erfolg der SO demonstrieren. Die Eröffnung einer "Idealen Org" ist an bestimmte, von Hubbard festgelegte Kriterien hinsichtlich Größe, Mitarbeiterzahl und Ausstattung gebunden. In einer "Idealen Org" sollen sämtliche Dienstleistungen der SO unter einem Dach angeboten werden können. Der Aufbau einer "Idealen Org" wird allein aus Spenden finanziert. Ideale Orgs in In Deutschland existieren bislang 3 "Ideale Orgs": 2007 wurde Deutschland in Berlin eine "Ideale Org" eröffnet und im Januar 2012 eine weitere in Hamburg. Im September 2018 folgte die Eröffnung einer dritten deutschen "Idealen Org" in Stuttgart. Strategisches Ziel der SO ist ein "Ideales Deutschland", in dem alle bestehenden Einrichtungen dem Prädikat "ideal" entsprechen. Daher muss mit der Eröffnung weiterer "Idealer Orgs" gerechnet werden. In München sind Bemühungen erkennbar, die Voraussetzungen für die Etablierung einer "Idealen Org" zu schaffen. Die "Missionen" sind vor allem als Vorfeldorganisationen tätig und stehen in der SO-Hierarchie unterhalb der "Org-Einheiten". Ihre hauptamtlichen Angehörigen sowie nicht-hauptamtliche "Feldmitarbeiter" (englisch: "Field Staff Members") werben mit Einstiegsangeboten wie Büchern, Infomaterialien und Kursen um potenzielle Mitglieder. Umzug des Celebrity Bereits seit 1980 gibt es in München ein "Celebrity Centre" Center in die "Org (CC), das für Prominente vorgesehen ist. Das ehemals räumMünchen" lich von der "Org München" getrennte "CC München" wurde 2023 in das Gebäude der "Org München" integriert. Dieser Umzug kann als weiterer Schritt zur Schaffung einer "Idealen Org" in München gewertet werden. Grundsätzlich sollen die CC Politiker, Führungskräfte aus der Wirtschaft, Medienleute, 300 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Kunstschaffende und andere Prominente für die SO gewinnen, um sie für Propagandazwecke nutzen zu können. Das "CC München" ist hinsichtlich seines Stellenwertes für die Propagandaaktivitäten der SO nicht mit den CC in den USA vergleichbar. Typisch für das Innenleben von SO-Organisationen ist die ständige Permanente Veröffentlichung interner Leistungsstatistiken und Ranglisten. Leistungskontrolle Diese weisen detailliert sowohl Umsatzund Absatzbilanzen einzelner Organisationseinheiten als auch kleinste Aktivitäten, wie z. B. Flyerverteilungen und Anwerbegespräche einzelner Mitglieder, aus. Durch die permanente Leistungsdokumentation soll ein Quotendruck zur Steigerung von Umsatzzahlen, Mitgliederanwerbungen und Spendenerlösen erzeugt sowie ein Konkurrenzverhältnis zwischen den einzelnen Organisationsteilen und den Mitgliedern geschaffen werden. Im Zuge der Corona-Pandemie hat die SO mit sog. "HeimEtablierung von kursen" eine weitere Möglichkeit geschaffen, Mitglieder an sich "Heimkursen" zu binden, neuen Mitgliedern den Einstieg zu erleichtern und die Statistik zu verbessern. Diese Kurs-Angebote bestehen nach wie vor. Ferner ist die statistische Dauererfassung auch ein Mittel der Mitgliederkontrolle und bildet die vermeintlich objektive Grundlage für das rigide Belohnungsund Bestrafungssystem der SO. Dabei sind beispielsweise Scientologen, die keine zufriedenstellenden Erlöszahlen für die SO liefern, eher Bestrafungsmaßnahmen ausgesetzt als Mitglieder, die gute Gewinne erzielen. Zu diesen Bestrafungsmaßnahmen zählen z. B. diverse Disziplinarbzw. Erziehungsmaßnahmen, Degradierungen, die Aberkennung von Zertifikaten, die Erklärung zur "unterdrückerischen Person" sowie die Verstoßung aus der Organisation. Die Kosten für "Heimkurse" unterscheiden sich nicht von den regulären Kursen vor Ort. 3.1 Finanzierung der Scientology-Organisation Die SO finanziert sich insbesondere durch die Durchführung von kostenpflichtigen Kursen und den Vertrieb von Kursmaterialien. Wer sich der SO anschließt, muss einen genau vorgezeichneten Trainingsweg beschreiten, um zum scientologischen Übermenschen, dem "Operierenden Thetan" (OT), zu werden. Vom ersten bis zum letzten Kurs ist mit Kosten in Höhe von mehreren Hunderttausend Euro zu rechnen. Hinzu kommt der stetig steigende Druck auf die Mitglieder, Spenden zu leisten. Je nach 301 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Scientology-Organisation finanzieller Leistungsfähigkeit variiert die Höhe der Einzelspenden zwischen einigen Hundert bis zu mehreren Hunderttausend Euro. Ein Teil der Kurse ist das "Auditing", eine Psychotechnik, bei dem die Mitglieder der SO sämtliche Informationen bis hin zu intimsten Details über ihr Leben preisgeben müssen. Dies macht sie für die SO zum gläsernen Menschen, letztendlich kompromittierund erpressbar und erhöht somit den Spendendruck zusätzlich. Weiterhin versucht die SO, die notwendigen finanziellen Mittel für die Schaffung von "Idealen Orgs", beispielsweise auch für eine "Ideale Org" in München, über zusätzliche Spenden der SO-Mitglieder zu akquirieren. Eine besondere Bedeutung bei der Finanzierung der SO kommt der Organisation "International Association of Scientologists" (IAS) zu. Diese Organisation führt regelmäßig Veranstaltungen zum Sammeln von Spenden durch. Mit diesen Spenden werden SO-Einrichtungen und Kampagnen finanziert. Großspender werden geehrt und lobend in SO-eigenen Medien erwähnt. Dabei geht es um Summen von bis zu zweistelligen Millionenbeträgen. 3.2 Unterorganisationen der Scientology-Organisation Neben dem "Church-Bereich" sind die Unterorganisationen "World Institute of Scientology Enterprises" (WISE) und "Association for Better Living and Education" (ABLE) die wichtigsten organisatorischen Säulen der SO. WISE WISE ist ein franchiseähnlicher Zusammenschluss von Unternehmen, die durch Lizenzverträge an die SO gebunden sind und nach deren Methoden arbeiten. WISE hat zum Ziel, die Wirt"Org-Board" in schaft zu unterwandern und Gewinne durch den Verkauf von WISE Unternehmen SO-Management-Techniken an Unternehmen zu erwirtschaften. WISE-Unternehmen sind in allen Branchen zu finden, wobei vor allem Unternehmensund Personalberatung, Coachingangebote und die Immobilienbranche im Fokus der Organisation stehen. WISE-Unternehmen weisen eine ähnliche hierarchische Struktur wie die SO-Einheit der "Orgs" auf. Auch die von Hubbard geforderte Organisierungstafel, das sog. "Org Board", findet in den WISE-Unternehmen Anwendung. Dieses schreibt exakt den internen Aufbau der Unternehmensorganisation vor und beinhaltet die gleichen Kontroll-, Überwachungsund Statistikmechanismen wie die Orgs der Organisation. 302 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Die SO verfügt zudem über Managementakademien und ein eigenes wirtschaftsorientiertes Kursprogramm mit Seminaren zu Themen wie Motivation, Effizienz, Organisation, Kommunikation und Management nach Statistiken. ABLE Mit Hilfe von ABLE versucht die SO, sich auch als soziale Organisation darzustellen. Unter dem Dach von ABLE agieren u. a. die angebliche Hilfsorganisation für Drogenabhängige "NARCONON" sowie mit "Criminon" ein "Rehabilitierungsprogramm für Strafgefangene" (beide in Deutschland nicht aktiv), die Kampagne "Sag NEIN zu Drogen - Sag JA zum Leben", die Organisation "Der Weg zum Glücklichsein", die "Ehrenamtlichen Geistlichen" und das Ausbildungsprogramm "Applied Scholastics", das im Bereich der Kinderund Erwachsenenbildung aktiv ist. Auch die "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e. V." (KVPM) ist Teil von ABLE. Die KVPM diffamiert mit pauschaler und tendenziöser Kritik die medizinische Psychiatrie und reklamiert für sich, den einzig wahren Weg zur Heilung psychischer Krankheiten zu kennen. KVPM-Initiativen wie "Jugend für Menschenrechte" oder "Gemeinsam für Menschenrechte" sollen junge Menschen für die Themen der SO begeistern. Der Status der KVPM als Teilorganisation der SO wird bei Veranstaltungen nicht offengelegt. Interessierte werden somit gezielt über die eigentliche Zielsetzung und ideologische Ausrichtung getäuscht. Die KVPM arbeitet anlassbezogen auch mit Verbänden außerhalb Deutschlands zusammen. Die KVPM führt jährlich im Januar, so auch 2023, in München eine Mahnwache mit dem Titel "Zum Gedenken an die Opfer des Holocaust" durch. Darüber hinaus fanden im Juni und September öffentliche Veranstaltungen der KVPM in München zum Thema "Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie" statt. Im Allgemeinen treten SO-Einrichtungen überwiegend offen auf und versuchen nicht, ihre Verbindung zur Organisation zu verschleiern. Daneben bedient sich die SO allerdings auch verschiedener Nebenund Tarnorganisationen, die auf den ersten Blick keinen Zusammenhang mit der SO erkennen lassen. Unter dem Deckmantel dieser Organisationen versucht die SO, sich in unterschiedliche gesellschaftliche und politische Themen einzubringen, um die scientologische Ideologie in die Gesellschaft zu tragen. 303 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Scientology-Organisation Diese gesellschaftlichen und politischen Themen, z. B. der Kampf gegen Drogenmissbrauch, zeichnen sich meist durch ihre Konsensfähigkeit aus. Die SO macht sich dies zu Nutze, indem sie sich als unverfänglicher Partner dieses Konsenses darstellt. Gleichzeitig versucht sie, auf diese Weise an Menschen heranzukommen, die Hilfe brauchen, sich in einer Lebenskrise befinden und damit leichter beeinflussbar sind, z. B. Drogenabhängige, psychisch Kranke, straffällig gewordene Personen oder Schülerinnen und Schüler mit schlechten Schulleistungen. So bieten beispielsweise von Scientologen betriebene Nachhilfeinstitute z. T. verdeckt, z. T. aber auch offen, scientologisch geprägte Kurse für Kinder und Erwachsene an. Insbesondere Kinder werden somit schon früh unterschwellig und spielerisch in scientologische Denkweisen eingeführt. Scientologische In Bayern arbeitet beispielsweise die "Nachhilfeund SprachenNachhilfeinstitute schule Grübl und Kroggel" in Zirndorf mit der SO-Technik "Applied Scholastics". Auf den Internetseiten dieses Institutes wird als Urheber dieser Lernmethode der SO-Gründer Hubbard zwar erwähnt, allerdings wird behauptet, dass "Applied Scholastics" weder Teil einer Scientology-Kirche sei noch finanzielle Verbindungen mit einer solchen unterhalte. Dadurch werden Interessenten bewusst getäuscht. "Applied Scholastics" ist eine eingetragene Marke, deren Rechte dem "Religious Technology Center" der SO gehören. Somit ist "Applied Scholastics" zwar nicht Teil einer Scientology-Kirche, aber sehr wohl Teil der SO. Offenbar als Reaktion auf die Nennung in den Verfassungsschutzberichten wurden mittlerweile die Hinweise auf "Applied Scholastics", Hubbard und die SO von den Internetseiten der "Lernakademie" in München Milbertshofen entfernt. Auch das "Lernstudio Konrad" in Laufen hat nach der Nennung im Bayerischen Verfassungsschutzbericht 2021 sämtliche Erläuterungen zu "Applied Scholastics" von seiner Webseite gelöscht. Lediglich das Symbol mit der Unterschrift "Applied Scholastics" ist dort noch zu finden. Daher ist davon auszugehen, dass diese Lernmethode nach wie vor Anwendung findet. Das "Lernstudio Konrad" sendete zudem im Mai Infomaterial an eine örtliche Grundschule, in dem für die Einrichtung geworben wurde. Die SO setzt somit bewusst auf Tarnorganisationen, um auch Personen erreichen zu können, die ihr zunächst ablehnend gegenüberstehen. Ziel der SO ist es, dauerhafte Kontakte zu 304 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Menschen aufzubauen, die zu einem späteren Zeitpunkt in die Hauptorganisation und das damit verbundene kostspielige Kurssystem eingegliedert werden können. Da Informationsstände von Teilbzw. Tarnorganisationen nicht immer klar der SO zuzuordnen sind, besteht hier grundsätzlich die Gefahr, dass die Bevölkerung diese Veranstaltungen nicht als Aktivitäten der SO erkennt und unwissentlich auf Kontaktangebote der SO eingeht. OSA Innerhalb des streng hierarchischen Aufbaus der SO gibt es zahlGeheimdienst reiche Überwachungseinrichtungen und einen eigenen Geheimder SO dienst, das "Office of Special Affairs" (OSA). Dieser soll Informationen über alle Personen sammeln und auswerten, die der SO kritisch oder ablehnend gegenüberstehen (z. B. Behördenangehörige), und als Druckmittel verwenden. Zu den OSA-Methoden gehören Verfolgung, Belästigung und Schikane vermeintlicher Feinde der SO, um diese zu zermürben, sowie Verleumdungskampagnen zum Zweck der öffentlichen Diskreditierung. In einer Führungsdirektive heißt es: Wir selbst müssen auf der Grundlage totaler Zermürbung des Feindes kämpfen. Gehen Sie niemals vernünftig mit ihm um. Gehen Sie ohne Vorbehalt vor und löschen Sie ihn aus. (OSA International Executive Directive 508 R. Confidential Department of Special Affairs Investigation Officer Full Hat Checksheet, 1966, S. 15) Auch Öffentlichkeitsarbeit gehört zu den Aufgaben des OSA. Im scientologischen Sinne bedeutet dies, innerhalb der Gesellschaft eine positive Haltung gegenüber der SO und eine negative Einstellung gegenüber Kritikern zu schaffen. Die OSA-Einheit für Deutschland ("Department of Special Affairs - DSA") ist bei der "Scientology Kirche Deutschland e. V." mit Sitz in München angesiedelt. 305 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Scientology-Organisation Tarnorganisationen der Scientology-Organisation Logo Bezeichnung World Institute of Scientology Enterprises (WISE) Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e. V. (KVPM) Association for Better Living and Education (ABLE) Jugend für Menschenrechte e. V. Applied Scholastics Sag NEIN zu Drogen - Sag JA zum Leben e. V. Der Weg zum Glücklichsein NARCONON CRIMINON Ehrenamtliche Geistliche (Volunteer Ministers) 306 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 3.3 Formen der Kontaktaufnahme Die SO-Einrichtungen versuchen, auf verschiedenen Wegen einen ersten Kontakt herzustellen: - Veranstaltungen und Infostände in den Innenstädten - Ansprechen auf der Straße mit dem Angebot, einen "Persönlichkeitstest" zu machen - Zusenden von Werbematerial - Angebote an Unternehmen zu Betriebsführungstechniken und Kursen zur Persönlichkeitsveränderung - Angebote auf dem Nachhilfemarkt - Kontaktaufnahmen in sozialen Netzwerken wie Facebook, Youtube und Instagram Mit jugendaffinen Profilen in sozialen Netzwerken und Videoclips Scientology in den versuchen die SO und ihre Tarnorganisationen, insbesondere sozialen Medien junge Leute zu erreichen. Die SO thematisiert dazu die für diese Altersgruppe typischen Sorgen und Probleme. Dabei profitiert sie u. a. von jungen Mitgliedern, die in SO-geprägten Elternhäusern aufgewachsen sind. Diese jungen Menschen, für die die SO selbstverständlicher Lebensbestandteil ist, vermitteln ein Bild 307 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Scientology-Organisation der SO nach außen, das jung, modern und somit zielgruppenaffin wirkt und geeignet ist, andere junge Menschen zumindest für die Organisation zu interessieren. Jugendliche sollen sich in ihrer Lebenswelt abgeholt fühlen und den Eindruck gewinnen, die SO verstehe ihre Probleme besser als andere. Das Ziel ist letztlich, Jugendliche und junge Erwachsene für die Organisation und ihre Tarnorganisationen dauerhaft als Mitglieder zu werben. Seit Juni 2018 betreibt die SO erfolgreich einen eigenen TVSender als Streamingangebot. "Scientology TV" ermöglicht es der SO, ihre Ansichten und vermeintlichen "Wahrheiten" zu verbreiten, ohne sich kritischen Fragen stellen zu müssen. Verschiedene Formate geben Einblicke in das Leben als Mitglied der SO, in die verschiedenen übergeordneten Einrichtungen der Organisation sowie in die Biografie Hubbards. Seit der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden zeitweisen Schließung der SO-Einrichtungen hat auch "Scientology TV" einen neuen Stellenwert erreicht. In verschiedenen Formaten wurde versucht, die Verbundenheit der Mitglieder mit der Organisation zu stärken. So präsentieren beispielsweise Scientologinnen und Scientologen aus der ganzen Welt in kleinen Videos, wie sie die "Scientology-Prinzipien" im Alltag anwenden. Die Organisation hält aber auch an den oben genannten klassischen und realweltlichen Methoden der Kontaktaufnahme fest. 4. AUSSTEIGERINNEN UND AUSSTEIGER In der Vergangenheit haben mehrere hochrangige bzw. prominente SO-Mitglieder aus unterschiedlichen Motiven die SO verlassen. Zudem erschienen international mehrere Veröffentlichungen ehemaliger Scientologinnen und Scientologen über ihre Erfahrungen in der SO. Auch in Fernsehsendungen und Podcasts berichten z. T. hochrangige ehemalige SO-Mitglieder über ihre Zeit in der Organisation und ihren Ausstieg, verbunden mit einer Warnung vor der Organisation. Personen, die sich in der Öffentlichkeit aktiv gegen die SO wenden, werden von ihr als "unterdrückerisch", "antisozial" oder "geisteskrank" diffamiert und müssen mit Verfolgung, Bedrohung und Erpressung rechnen. Dabei macht die SO auch nicht vor Angehörigen und dem persönlichen Umfeld der Betroffenen Halt. 308 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Im deutschsprachigen Raum wurden beispielsweise Facebook-Seiten mit gezielten Diffamierungen SO-kritischer Personen bekannt. Aussteigern und Betroffenen stehen bundesweit zahlreiche Institutionen und private Initiativen zur Verfügung, die Ratsuchenden eine erste pädagogisch-psychologische Beratung, Unterstützung und Krisenhilfe anbieten. 2023 wurde ein bekannter Schauspieler in den USA als "antisoziale Persönlichkeit" ("suppressive person") aus der SO ausgeschlossen. Ursache dafür war nicht dessen Verurteilung wegen Vergewaltigung, sondern die Tatsache, dass sein Verhalten den spirituellen Fortschritt seiner Mitmenschen behindere und er damit gegen die "ethischen Standards" der SO verstoßen habe. Ein weiterer Grund für die Trennung von diesem prominenten Scientologen dürfte der Versuch sein, negative Folgen für das Image der SO abzuwenden. 309 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, Cyber-Allianz-Zentrum (CAZ) Die zunehmend komplexeren Spionageund illegitimen Einflussnahmeaktivitäten ausländischer Nachrichtendienste stellen eine ernste Bedrohung Deutschlands sowie deutscher Interessen dar. Neben menschlichen Quellen werden hierbei auch technische Mittel sowie Cyberangriffe auf digitale Infrastrukturen von Wirtschaftsunternehmen, Behörden, Hochschulen sowie von Kritischen Infrastrukturen eingesetzt. Auf diese Weise können fremde Staaten die nationale Souveränität sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt beeinträchtigen und erhebliche wirtschaftliche Schäden verursachen. Politische und militärische Spionage ist häufig auf die Außen-, Europaund Bündnispolitik sowie die Wirtschaftsund Energiepolitik der Bundesrepublik ausgerichtet. Wie intensiv ein Staat Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage betreibt, hängt von seiner eigenen wirtschaftlichen Lage ab. Wirtschaftlich weniger entwickelte Staaten kundschaften in erster Linie Produkte und Fertigungsprozesse aus und wollen so mit möglichst geringem Aufwand an benötigtes Know-how gelangen. Wirtschaftlich hochentwickelte Staaten, die selbst über Hochtechnologie verfügen, versuchen darüber hinaus, an strategische Informationen zu gelangen, um die eigene Wirtschaft im globalen Wettbewerb besserstellen zu können. 310 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Wirtschaftsspionage verursacht in Deutschland jährlich Schäden in Milliardenhöhe und gefährdet unzählige Arbeitsplätze. Gerade bayerische Firmen und Hochschuleinrichtungen stehen wegen ihrer Innovationskraft in nahezu allen Branchen und Forschungsbereichen im Blickfeld ausländischer Nachrichtendienste. Besonders gefährdet sind kleine und mittelständische Firmen, die Spitzentechnologie entwickeln oder produzieren, da sich diese oft noch nicht ausreichend vor Spionageangriffen schützen. Es ist daher unverzichtbar, präventiv Abwehrmechanismen zu implementieren. Im Rahmen seiner Wirtschaftsschutztätigkeit stellt das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz Unternehmen und Forschungseinrichtungen daher zielgerichtete Präventionsangebote zur Spionageabwehr zur Verfügung. Einen Schwerpunkt bildet auch hier die Aufklärung von nachrichtendienstlich gesteuerten Cyberangriffen , die seit Juli 2013 vom Cyber-Allianz-Zentrum Bayern (CAZ) wahrgenommen wird. Darüber hinaus ist die Cyberabwehr Bayern (CAB), eine seit 2020 bestehende Informationsund Kooperationsplattform für alle mit Cybersicherheitsaufgaben betrauten bayerischen Behörden und Einrichtungen, im Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz angesiedelt. 311 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Neben dem Betreiben von Spionageaktivitäten bemühen sich einige Staaten, in den Besitz von Technologien für atomare, biologische oder chemische Massenvernichtungswaffen mit den erforderlichen Trägersystemen zu gelangen (Proliferation). Einige Staaten versuchen zudem, Einfluss auf politische Prozesse und die öffentliche Meinungsbildung zu nehmen. Mittels Desinformation und Propagandakampagnen versuchen diese Staaten u. a. politische Diskurse in ihrem Sinne zu steuern und demokratische Institutionen zu delegitimieren. Intensiv werden hierzu soziale Netzwerke, diskussionsorientierte Internetseiten und aus dem Ausland gesteuerte und finanzierte Think Tanks genutzt. 1. SPIONAGEAKTIVITÄTEN AUSLÄNDISCHER NACHRICHTENDIENSTE Nachrichtendienste vieler Staaten haben die Aufgabe, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Militär anderer Staaten auszuforschen. Ihr Ziel ist es, entweder die Erkenntnisse selbst zu nutzen oder Möglichkeiten zu schaffen, andere Staaten zu sabotieren. Legalresidenturen Ausländische Nachrichtendienste arbeiten regelmäßig getarnt in Deutschland. Ausgangspunkt für ihre Spionageaktivitäten sind häufig sog. "Legalresidenturen", die in den offiziellen (z. B. Botschaften oder Generalkonsulaten) oder halboffiziellen (z. B. Presseagenturen) Vertretungen ausländischer Staaten in Deutschland untergebracht sind. Dort tarnen ausländische Nachrichtendienste ihre Mitarbeiter, die mit verschiedenen Methoden Informationen selbst beschaffen oder nachrichtendienstliche Operationen aus den Heimatstaaten unterstützen. Zu den Aufgaben von Angehörigen ausländischer Nachrichtendienste gehört es auch, Internetanalysen durchzuführen und Veranstaltungen zu besuchen, um zielgerichtet nachrichtendienstlich relevante Kontakte zu knüpfen. Gegenstand der Spionageaktivitäten können z. B. auch in Deutschland lebende Oppositionelle oder die gezielte Desinformation der deutschen Öffentlichkeit sein. 312 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Spionage gegen die Interessen Deutschlands wird nach wie vor sowohl mit menschlichen Quellen als auch mit technischen Mitteln durchgeführt. Beides geschieht wahlweise offen oder konspirativ. Ein etwaiger Diplomatenstatus schützt Nachrichtendienstangehörige bei Enttarnung vor Strafverfolgung und lässt nur ihre Ausweisung zu. Die Tarnung als Medienschaffende, Wirtschaftsoder Handelsattaches bietet vielfältige Möglichkeiten, an Informationen zu gelangen, z. B. auf Messen oder Tagungen. Sog. "Illegale", langfristig im Zielstaat eingesetzte Nachrichtendienstangehörige, werden mit einer Tarnidentität ausgestattet. Die Enttarnung dieser "Illegalen" durch die Spionageabwehr gelingt meist nur mit großem operativem Aufwand. Besonders im Fokus nachrichtendienstlicher Aktivitäten stehen Zielpersonen Zielpersonen aus Parteien, politischen Institutionen, Behörden, Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Die meist arglosen Personen werden oftmals durch geschickte Gesprächsführung Opfer von Ausspähungsaktivitäten. Nicht selten können getarnte Nachrichtendienstangehörige bereits auf diesem Weg sensible Informationen gewinnen. Soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn spielen für Anwerbeversuche ausländischer Nachrichtendienste eine große Rolle. Entsprechende Ansprachen können unmittelbar aus den jeweiligen Heimatstaaten initiiert und gesteuert werden. Getarnt als Arbeitskräfte aus den Bereichen Wissenschaft, Jobvermittlung oder Headhunting versuchen Angehörige ausländischer Nachrichtendienste, auch über das Internet Kontakte zu für sie interessanten Personen herzustellen. Erfolgt dann beispielsweise ein reizvolles Jobangebot mit anKontaktanbahnung schließender Einladung in den jeweiligen Staat, sind Betroffene der Gefahr der nachrichtendienstlichen Anbahnung ausgesetzt. Auch Angehörige diplomatischer Vertretungen, Behörden und Firmen sowie Studenten, die sich längerfristig im Ausland aufhalten oder auf Reisen befinden, können ins Visier ausländischer Nachrichtendienste geraten. Der Heimvorteil bietet Nachrichtendiensten ein breites Spektrum von Überwachungsund Kontrollmöglichkeiten, um Zielpersonen bei passender Gelegenheit anzusprechen. So werden u. a. kompromittierende Situationen geschaffen oder als Druckmittel verwendet. Möglich ist auch eine Anwerbung auf vorgeblich freundschaftlicher Basis. 313 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Spionageaktivitäten erfolgen in zunehmendem Maße auch mit technischen Mitteln. Das Abhören von inländischer Kommunikation kann dabei über Server oder Internetknoten im Ausland erfolgen. Auch hierfür können Legalresidenturen genutzt werden. Fernmeldeaufklärungsmaßnahmen gegen deutsche Interessen werden von diplomatischen Vertretungen in deren Nahbereich durchgeführt. Betroffen sind hier insbesondere Gespräche mit Mobiltelefonen, WLANoder Bluetooth-Verbindungen sowie Laptops oder Tablets. Methoden Die Methoden variieren stark: Sie reichen von der Sabotage Kritischer Infrastruktur (KRITIS) über das Ausspähen, Kopieren oder Verändern von Daten, der Übernahme einer fremden elektronischen Identität und dem Missbrauch oder der Sabotage fremder IT-Strukturen bis hin zur Übernahme von Produktionsund Steuereinrichtungen. Angriffe erfolgen beispielsweise von außen durch Computernetzwerke oder manipulierte Hardware wie USB-Sticks. Zielobjekte Dabei sind vor allem die Bereiche Außenund Sicherheitspolitik, Finanzen sowie Militär und Rüstung für die Angreifer von zentralem Interesse. Hier ist ein strategisches Vorgehen festzustellen, das sich bei besonderen Anlässen regelmäßig intensiviert. Hochrangige Verantwortliche bzw. deren unmittelbares Umfeld sollen beispielsweise im Vorfeld von Gipfeltreffen durch authentisch gestaltete E-Mails verleitet werden, den mit einer Schadsoftware versehenen Anhang zu öffnen und so eine Infektion der Systeme auszulösen. Ziel dieser Angriffe ist es, frühzeitig die geplante strategische Vorgehensweise in den Gipfeltreffen auszuspähen, entsprechend darauf zu reagieren und eine bessere Verhandlungsposition zu erreichen. Cyberangriffe stellen darüber hinaus in den Bereichen Wirtschaft und Forschung aus Sicht ausländischer Nachrichtendienste ein geeignetes Spionagemittel dar. Insbesondere Unternehmen aus den Bereichen Rüstung, Luftund Raumfahrt, die Automobilindustrie sowie Forschungsinstitute stehen dabei im Fokus. Einzelne Nachrichtendienste verfügen über eine gesetzliche Grundlage und somit den staatlichen Auftrag, die eigene Volkswirtschaft mit nachrichtendienstlichen Mitteln zu stärken. Die damit in Deutschland verursachten volkswirtschaftlichen Schäden sind bedeutend: Schätzungen zufolge führt der illegale Abfluss geistigen Eigentums jährlich zu einem Schaden von mehreren Milliarden Euro. 314 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Werden Cyberattacken bekannt, erschwert die Anonymität des Internets die Identifizierung und Verfolgung der Verantwortlichen. Durch forensische Analysen lassen sich jedoch immer wieder wichtige Hinweise auf die Herkunft und die Verursacher dieser Attacken gewinnen. Weisen die Cyberangriffe einen nachrichtendienstlichen Hintergrund auf, sind die Verfassungsschutzbehörden zuständig. Universitäten und Forschungseinrichtungen in Bayern gehören zu den Zielbereichen ausländischer Nachrichtendienste. Diese nutzen verschiedene Wege, um an Know-how und Informationen zu gelangen. Es ist davon auszugehen, dass in diesem Zusammenhang gezielt auch Gaststudenten und -forscher instrumentalisiert werden, um an Forschungsergebnisse zu gelangen. Auch Forschungskooperationen und fremdfinanzierte Projekte können von ausländischen Akteuren dazu missbraucht werden, an relevantes Wissen zu gelangen. Forschungsergebnisse können im Heimatstaat für wirtschaftliche und militärische Zwecke genutzt werden. 1.1 Russische Föderation Aufgabe russischer Nachrichtendienste ist es, neben den politischen auch die wirtschaftlichen Interessen Russlands weltweit voranzutreiben. Die russische Wirtschaft profitiert in erheblichem Maß davon, dass alle russischen Nachrichtendienste gesetzlich dazu verpflichtet sind, Wirtschaftsspionage zu betreiben. Die Gesamtzahl der Angehörigen aller russischen Nachrichtendienste bewegt sich Schätzungen zufolge in einem mittleren 6-stelligen Bereich. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat konkrete AusMilitärspionage in wirkungen auf künftige Aktivitäten russischer Nachrichtendienste Bayern in Deutschland. Dabei ist mit einem deutlichen Anstieg und einer Anpassung der nachrichtendienstlichen Vorgehensweise zu rechnen. Dies betrifft insbesondere auch den deutschen Verteidigungssektor. Angesichts der andauernden Unterstützung und insbesondere der Waffenlieferungen von deutscher Seite an die Ukraine hat sich das Interesse russischer Nachrichtendienste an sicherheitsund verteidigungspolitischen Informationen sowie an rüstungsrelevanten Technologien nochmals intensiviert. Es existieren bayernbezogene Hinweise auf unmittelbar kriegsrelevante russische Spionageoperationen im Zusammenhang mit Militäreinrichtungen, in welchen ukrainische Soldaten im Rahmen der westlichen Unterstützung für die Ukraine ausgebildet werden. 315 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Ausweisung russiAls Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine scher Diplomaten wies Deutschland am 4. April 2022 40 russische Diplomaten aus, bei denen es sich um Nachrichtendienstangehörige gehandelt hat. Insgesamt sollen mehr als 400 Angehörige von russischen diplomatischen Vertretungen, vor allem aus der Europäischen Union, ausgewiesen worden sein. Russland reagierte im Gegenzug ebenfalls mit der Ausweisung von Diplomaten. Schließung von Im Mai gab die russische Regierung bekannt, die Zahl der BeGeneralkonsulaten diensteten in deutschen Einrichtungen in Russland auf insgesamt 350 zu begrenzen. Daraufhin beschloss die Bundesregierung, ihre diplomatische und konsularische Präsenz in Russland auf die Botschaft in Moskau und das Generalkonsulat in Sankt Petersburg zu beschränken und die Generalkonsulate in 3 weiteren Städten zu schließen. Im Gegenzug forderte die Bundesregierung die russische Seite dazu auf, sich ebenfalls auf eine Botschaft und ein Generalkonsulat in Deutschland zu beschränken und 4 seiner Generalkonsulate bis Ende des Jahres zu schließen. Von den Schließungen auf russischer Seite ist u. a. das Generalkonsulat in München betroffen. Angesichts der westlichen Sanktionen, insbesondere der Maßnahmen gegen die russischen Legalresidenturen, ist damit zu rechnen, dass russische Nachrichtendienste hinsichtlich der Informationsbeschaffung mittelund langfristig auf andere Vorgehensweisen ausweichen. Dazu können u. a. der Einsatz reisender Führungsoffiziere, sog. Illegale - also mit falscher Identität eingeschleuste Personen, die für Nachrichtendienste aktiv sind, gehören. Russland setzt vor allem 3 Nachrichtendienste ein: - Ziviler Auslandsnachrichtendienst (SWR) - Inlandsnachrichtendienst (FSB) - Militärischer Auslandsnachrichtendienst (GRU) Ziviler Auslandsnachrichtendienst (SWR) Der SWR ist zuständig für Spionage in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie. Darüber hinaus forscht er Ziele und Arbeitsmethoden westlicher Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden aus und bedient sich dazu auch der elektronischen Fernmeldeaufklärung. Zur Informationsbeschaffung setzt der SWR sog. "Illegale" ein. 316 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Inlandsnachrichtendienst (FSB) Hauptaufgaben des FSB sind die zivile und militärische Spionageabwehr. Hierzu verfügt der FSB über umfangreiche Befugnisse. Auch ausländische Staatsangehörige können in das Blickfeld des FSB geraten und gezielt überwacht werden, wenn sie in Russland Internet oder Telefon nutzen bzw. über russische Kommunikationsund Datennetze interagieren. Der FSB hat Zugriff auf den Datenverkehr, der über russische Provider abgewickelt wird und verfügt auch über den Zugang zu Datenbanken russischer Telefongesellschaften. Gebäude des FSB Militärischer Auslandsnachrichtendienst (GRU) Der GRU hat die Aufgabe, das gesamte sicherheitspolitische und militärische Spektrum aufzuklären. Dazu spioniert er Bundeswehr, NATO und andere westliche Verteidigungsstrukturen genauso wie militärisch nutzbare Technologien aus. Gebäude des GRU 317 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Jenseits seiner Spionageinteressen ist Russland bestrebt, die politische und öffentliche Meinung in Deutschland zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Bei deutschen Kontakten vertreten Angehörige der russischen Dienste offensiv Positionen des Kremls, werben um Verständnis für die russische Politik und versuchen, ihr Gegenüber als Multiplikator zur Verbreitung russlandfreundlicher Sichtweisen und Narrative zu gewinnen. Propaganda und Wie bereits in den vergangenen Jahren verbreiten zahlreiche perDesinfomation sonelle wie auch institutionelle Akteure der Russischen Föderation nach wie vor auf vielfältigen Wegen prorussische Propaganda und Desinformation. Wichtige Werkzeuge sind dabei - oft unter Nutzung von Social Bots und Fake-Profilen - soziale Netzwerke, staatlich geförderte und private Institute (z. B. Think Tanks), einzelne eigenständig agierende einflussreiche Einzelpersonen und Organisationen sowie russische Staatsmedien. Desinformationen werden sowohl über klassische Medien (Radio, TV, Presse und entsprechende Webseiten) als auch über damit verbundene Kanäle in den sozialen Medien wie Twitter, Facebook, Telegram und Youtube verbreitet. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass derartige "Meinungsäußerungen" durch staatliche russische Stellen initiiert werden. Zusätzlich haben Einzelpersonen für die Verbreitung russischer Propaganda und Desinformation über soziale Medien an Bedeutung gewonnen. Die Grenzen zwischen staatlichen, staatlich gesteuerten und persönlich motivierten Desinformationskampagnen verschwimmen dabei zunehmend. Initiative gegen Das Bundesministerium des Innern und für Heimat hat verschieDesinformation dene Initiativen zur Aufklärung gegen Desinformation gestartet. Dabei wurde u. a. die für die Öffentlichkeit konzipierte Handreichung "Gemeinsam gegen Desinformation" erarbeitet, die auch auf Englisch, Russisch und Ukrainisch verfügbar ist. Die Handreichung soll dazu beitragen, Gemeinsam gegen Desinformation die Bevölkerung über russische Desinformation im Zusammenhang mit dem völkerrechtswidrigen Desinformation im Kontext des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Was bedeutet "Desinformation"? Angriffskrieg Russlands aufzuklären. Weitere InforWas bedeutet Desinformation im Kontext des russischen Angriffskrieges? mationen und Links hierzu sind auf der Webseite des Desinformation ist falsche oder irreführende Information, die gezielt verbreitet wird. Davon Die russische Regierung nutzt schon seit Jahren zu unterscheiden sind falsche oder irreführenu. a. ihre staatlichen Medien sowie vermeintlich de Informationen, die irrtümlich bzw. ohne Täuneutrale, aber von Russland gesteuerte oder fiBundesministeriums des Innern und für Heimat schungsabsicht entstehen und verbreitet werden. Desinformation wird von nicht-staatlichen Aknanzierte Kanäle, um Desinformation und Propaganda zu verbreiten, auch in Deutschland. Seit Anfang März 2022 sind EU-Sanktionsmaß(www.bmi.bund.de) abrufbar. teuren aus dem Inund Ausland sowie von ausnahmen gegen mehrere russische Sender in ländischen staatlichen Akteuren aus unterKraft getreten, die unter direkter oder indirekter schiedlichen Motivationen heraus eingesetzt. Die Kontrolle der russischen Regierung wesentlich Absender von Desinformation setzen darauf, die dazu beigetragen haben, die militärische AgEmpfänger zu täuschen und dazu zu verleiten, gression gegen die Ukraine propagandistisch falsche und irreführende Informationen weiterzu unterstützen. Die russische Regierung nutzt zuverbreiten. Wird Desinformation von einem nun verstärkt soziale Medien, um DesinformaAuch das russische Medienangebot in Deutschfremden Staat verbreitet, um dadurch illegitim tion und Propaganda zu verbreiten. Einfluss auf einen anderen Staat auszuüben, handelt es sich um eine hybride Bedrohung. Im Fokus stehen hierbei zum einen Bemühungen der russischen Regierung, den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Zum anderen versucht der Kreml gezielt, Reaktionen der Staatengemeinschaft auf land wird durch den russischen Staat gefördert und ausgebaut. Staatliche Unternehmen werden als den Krieg sowie die öffentliche Unterstützung der Ukraine zu erschweren oder ganz zu verhinBeabsichtigt wird die Verunsicherung der dern. Öffentlichkeit, Beeinflussung der öffentlichen Meinungsbildung, Verschleierung und Ablenkung von eigenen Aktivitäten, Emotionalisierung von kontroversen DeWas macht die Bundesregierung zur Bekämpfung von Desinformation? unabhängige Medien getarnt, um die Zugehörigkeit zum russischen Staat zu verschleiern und die batten und Verstärkung gesellschaftlicher Das Auswärtige Amt (AA), das Bundespresseamt Spannungen sowie das Schüren von Miss(BPA) sowie das Bundesministerium des Innern trauen in staatliche Institutionen und Reund für Heimat (BMI) und seine nachgeordneten gierungshandeln. Behörden beobachten den Informationsraum Öffentlichkeit auf subtile Weise zu beeinflussen. hinsichtlich dort kursierender falscher oder irre318 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Die wichtigsten Akteure sind dabei der Internet-Sender "RT "RT Deutsch" Deutsch" (RT DE) sowie die Nachrichtenagentur "Sputnik", und "Sputnik" die in der deutschsprachigen Ausgabe seit 2020 unter der Bezeichnung SNA ("Sputnik News Agency") firmiert. Als Reaktion auf die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine beschloss der Rat der Europäischen Union am 2. März 2022 weitreichende Sanktionen gegen die Sendetätigkeiten der russischen Staatsmedien RT DE und SNA. Diese wichen daraufhin auf alternative Kanäle aus und sind über Satellit und diverse Internetkanäle weiterhin abrufbar. Innerhalb Russlands richten die Nachrichtendienste ihren Blick Gefährdungen überwiegend auf ausländische Personen, die sich beruflich oder in Russland privat für längere Zeit dort aufhalten. Dazu zählen insbesondere Angehörige diplomatischer Vertretungen, Behörden und Unternehmen sowie wissenschaftliches Personal und Studenten. Persönliche Daten in Visaanträgen, Grenzkontrollen sowie die Telefonund Internetüberwachung bieten den Diensten im eigenen Land zahlreiche Möglichkeiten, geeignete Zielpersonen für eine Ansprache zu ermitteln. Sofern die gewonnenen Informationen die Zielpersonen kompromittieren können, gehen die Dienste auch offensiv vor. Das am 15. Dezember 2021 ergangene Urteil im Prozess um den sog. "Berliner Tiergartenmord" verdeutlicht, dass auch in Deutschland Oppositionelle und Regimekritiker durch die Aktivitäten russischer Nachrichtendienste gefährdet sind. Das Kammergericht Berlin sah es in diesem Fall als erwiesen an, dass der Täter das Opfer tschetschenischer Abstammung im Auftrag staatlicher russischer Stellen getötet hatte. 1.2 Volksrepublik China Die "Kommunistische Partei Chinas" (KPCh) setzt zur Stabilisierung ihres Machtanspruches gezielt den umfangreichen staatlichen Sicherheitsapparat ein. Die Nachrichtendienste sollen einen Beitrag für den Erhalt der sozialen Stabilität leisten und gleichzeitig wirtschaftliche Interessen fördern. China setzt vor allem folgende 4 Nachrichtendienste ein: - Ministerium für Staatssicherheit (MSS) - Ministerium für öffentliche Sicherheit (MPS) - Militärischer Nachrichtendienst (MID) - Technischer militärischer Nachrichtendienst (NSD) 319 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Ministerium für Staatssicherheit (MSS) Das chinesische MSS gilt als weltweit größter ziviler Nachrichtendienst und betreibt sowohl Abwehrals auch Spionageaktivitäten im Inund Ausland. In Fragen der nationalen Sicherheit nimmt das MSS eine zentrale Rolle ein. Es ist für die Bekämpfung von Gefahren für die öffentliche Ordnung zuständig und diesbezüglich mit Polizeibefugnissen ausgestattet. In Deutschland bemüht es sich nachhaltig um Informationen aus den Bereichen Politik und Wirtschaft und späht oppositionelle chinesische Gruppierungen aus. Ministerium für öffentliche Sicherheit (MPS) Das MPS ist für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zuständig und kann hierzu auf die Ordnungsund Kriminalpolizei zurückgreifen. Ferner verfügt das Ministerium über nachrichtendienstliche Spezialeinheiten mit einem ähnlichen Aufgabenspektrum wie das des MSS. Es sammelt auch im Ausland Informationen über Bevölkerungsgruppen, die aus Sicht der KPCh als staatsgefährdend eingestuft sind. Überdies kontrolliert und zensiert das MPS die Inlandsmedien und den chinesischen Internetverkehr. Militärischer Nachrichtendienst (MID) Die chinesischen Nachrichtendienste unterstützen das langfristig angelegte Programm Chinas zur Steigerung der militärischen Leistungsfähigkeit der Volksbefreiungsarmee. Der MID ist weltweit auch offensiv tätig. Er entsendet Militärattaches und unterhält Verbindungen zu ausländischen Streitkräften. Der MID ist für die Beschaffung von Informationen zuständig, die die äußere Sicherheit Chinas betreffen. Dazu zählen u. a. Struktur, Stärke und Ausrüstung fremder Streitkräfte. Spionageziele sind zudem Politik, Wissenschaft und Technik anderer Staaten. Im Zuge der Militärreform ist der MID verpflichtet worden, sich auf militärisch-strategische Aufklärungsziele zu konzentrieren. Technischer militärischer Nachrichtendienst (NSD) Der NSD ist der Teilstreitkraft "Strategic Support Force" (SSF) der Volksbefreiungsarmee unterstellt. Er betreibt weltweite Fernmeldeaufklärung und Cyberspionage. Darüber hinaus ist der Nachrichtendienst für Telekommunikationsüberwachung, IT-Sicherheit und Cyberabwehr im Militärbereich zuständig. Zur Beschaffung von Spitzentechnologie aus dem Westen setzt China auf groß angelegte Spionage in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie. Chinesische Nachrichtendienste versuchen, am Hochtechnologiestandort Bayern entsprechendes Know-how insbesondere aus den Bereichen erneuerbare 320 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Energien, Elektromobilität, Umwelttechnik sowie Informationsund Militärtechnologie zu beschaffen. Hierfür nutzen sie in erster Linie Kontakte zu Angehörigen von Behörden und Unternehmen sowie zu in der Forschung Tätigen, um an sensible Informationen zu gelangen. Neben Nachrichtendienstangehörigen in den Legalresidenturen Informationssetzt China zur Informationsbeschaffung auch in Deutschland beschaffung lebende chinesische Staatsangehörige ein, die sich hier als Ingenieurinnen und Ingenieure oder zu Forschungs-, Praktikumssowie Studienzwecken aufhalten. Für die Anwerbung und Abschöpfung nutzt China Kontakte von Visumsantragstellern zu Botschaften und Konsulaten oder deren Aufenthalt im Heimatland, beispielsweise zu Verwandtschaftsbesuchen. Außerdem werden deutsche Geschäftsreisende in China intensiv überwacht, insbesondere bei der Nutzung von Telefon und Internet. Durch diese Arbeit gewinnen die Nachrichtendienste Erkenntnisse, die sie als Druckmittel einsetzen können, um westliche Geschäftsreisende zur Zusammenarbeit zu bewegen. Rekrutierungsversuche lassen sich auch in sozialen Netzwerken Rekrutierung in wie Facebook, LinkedIn und Xing feststellen. Betroffen sind sozialen Medien hiervon bislang deutsche Staatsangehörige, die aus Sicht der chinesischen Nachrichtendienste interessante Tätigkeiten ausüben, z. B. in den Bereichen Außenund Sicherheitspolitik. Mittels Fake-Profilen tarnen sich Angehörige chinesischer Nachrichtendienste als wissenschaftliches Personal, als Angehörige von Think Tanks oder chinesischer Behörden. Manchmal treten sie auch als Headhunter oder Manager einer Consultingfirma auf. In der Kommunikation geben sie vor, sich für das jeweilige Arbeitsgebiet zu interessieren, und zeigen Interesse am Austausch von Informationen. Die weitere nachrichtendienstliche Anbahnung wird dann bei Reisen nach China durchgeführt. Im Vorfeld erfolgt eine geschickt gestaltete Einladung, die unverfänglich, aber sehr attraktiv erscheint. Vor Ort gibt sich der Kontakt schrittweise als Nachrichtendienstangehöriger zu erkennen. Ein weiterer Schwerpunkt chinesischer Nachrichtendienste ist die Ausforschung von nachdrückliche Bekämpfung oppositioneller Kräfte, von denen die Oppositionellen Regierung eine Gefährdung der staatlichen Ordnung befürchtet. Die innere Einheit des Staates und seine territoriale Integrität sieht die Staatsführung insbesondere durch die sog. "Fünf Gifte" bedroht. Zu diesen zählen die Angehörigen der Meditationsbewegung "Falun Gong", der Demokratiebewegung, die Befürworter einer Eigenstaatlichkeit Taiwans sowie die nach Unabhängigkeit strebenden Volksgruppen der Tibeter und Uiguren. In München 321 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ ist mit dem "World Uyghur Congress" die bedeutendste Organisation der Uiguren im Ausland ansässig. Die Ausforschung und Unterwanderung der genannten oppositionellen Gruppierungen und Einzelpersonen ist daher eine der wichtigsten Aufgaben chinesischer Nachrichtendienste im Ausland. Übersee-PolizeiDer engen Anbindung der in Deutschland lebenden ethnischen stationen Chinesinnen und Chinesen dienen auch die sog. Übersee-Polizei"China Scholarship stationen (ÜPS). Dabei handelt es sich nicht um offizielle diploCouncil" matische Einrichtungen, sondern um informelle Übersee-Dependancen lokaler chinesischer Polizeieinheiten aus typischen Auswandererregionen Chinas. Diese werden nicht von chinesischen Polizeibeamten, sondern von verdienten, linientreuen Auslandschinesen - z. T. mit deutscher Staatsangehörigkeit - geleitet. Es handelt sich dabei um illegitime Parallelstrukturen, die China zur Ausspähung und Beeinflussung der chinesischen Diaspora in Deutschland nutzen könnte. Die Wissenschaftsund Forschungslandschaft in Bayern stellt wegen ihrer Offenheit und Reputation ein attraktives Ziel für Bestrebungen der chinesischen Staatsführung dar, ausgewählte Leistungsträger aus Wissenschaft und Forschung zum Zweck des Wissensund Technologietransfers einzusetzen. Es ist davon auszugehen, dass in diesem Zusammenhang das Stipendienvergabesystem des "China Scholarship Council" (CSC) eine wichtige Rolle spielt. Der CSC ist eine dem chinesischen Bildungsministerium nachgeordnete Einheit und organisiert im offiziellen Auftrag den internationalen akademischen Austausch Chinas. Die CSC-Stipendienbedingungen bieten der chinesischen Regierung weitgehende Kontrollund Einflussmöglichkeiten gegenüber den Stipendiaten. Diese Möglichkeiten können u. a. dahingehend eingesetzt werden, um im Ausland erworbenes Know-how aus relevanten Forschungsbereichen nach China zu transferieren und dort in relevanten Bereichen nutzbar zu machen. 1.3 Sonstige nachrichtendienstliche Aktivitäten Türkei Der türkische Inund Auslandsnachrichtendienst "Milli Istihbarat Teskilati" ("Nationaler Nachrichtendienst", MIT) hat in der türkischen Sicherheitsarchitektur eine zentrale und tragende Rolle inne. Er dient der türkischen Regierung unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zur Durchsetzung der Regierungspolitik, Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und nicht zuletzt zur Informationsbeschaffung. 322 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Gebäude des MIT Der Dienst ist in den letzten Jahren mit umfangreichen Befugnissen ausgestattet worden, darunter auch Exekutivbefugnisse. Aufklärungsschwerpunkt des MIT im Ausland sind vor allem solche Organisationen, welche die Türkei als extremistisch oder terroristisch einstuft. Darüber hinaus besteht ein erhebliches Aufklärungsinteresse an Vereinigungen und Einzelpersonen, die in tatsächlicher oder mutmaßlicher Opposition zur gegenwärtigen türkischen Regierung stehen. Auch weiterhin stellen die Aufklärung der Bewegung des PKK und "Gülenislamischen Predigers Fethullah Gülen, die von der türkischen Bewegung" im Regierung für den gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 verFokus antwortlich gemacht wird, und die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) die wichtigsten Arbeitsschwerpunkte des MIT dar. In den zurückliegenden Jahren verbrachte der türkische Geheimdienst wiederholt mutmaßliche Angehörige der "Gülen-Bewegung" zwangsweise aus dem Ausland in die Türkei. 2021 wurde u. a. der Neffe von Fethullah Gülen aus Kenia in die Türkei verschleppt. In 2022 berichteten Medien von einem türkischen Whistleblower, der aus der Ukraine in die Türkei zurückgebracht wurde. Die Rückführungen wurden zumeist in Kooperation mit den zuständigen staatlichen Stellen des jeweiligen Gaststaates durchgeführt. Darüber hinaus richten sich die Aufklärungsaktivitäten des MIT auch auf die Bereiche Politik, Wirtschaft, Militär sowie Wissenschaft und Hochtechnologie. Flankiert werden die Aktivitäten des türkischen NachrichtenAktivitäten der UID dienstes durch die Einflussnahmeaktivitäten regierungsnaher Organisationen. Diese werben u. a. in Deutschland für die gegenwärtige türkische Politik und nehmen Einfluss auf hiesige türkischstämmige Communities. Ihre Aktivitäten können sich 323 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ aber auch auf den politischen Willensbildungsund Entscheidungsfindungsprozess innerhalb der deutschen Gesellschaft insgesamt auswirken. Derartige Aktivitäten wurden im Vorfeld der türkischen Parlamentsund Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2023 nochmals intensiviert. Eine wichtige Rolle spielte dabei die "Union Internationaler Demokraten" (UID), welche deutschlandweit 15 Regionalverbände unterhält. Die beiden bayerischen Regionalverbände "UID Südbayern" und "UID Nordbayern" sind wiederum in eine Vielzahl von Ortsvereinen untergliedert. Islamische Republik Iran Das Ministry of Intelligence of the Islamic Republic of Iran (MOIS) ist als ziviler Inund Auslandsnachrichtendienst der wichtigste Nachrichtendienst Irans und stellt ein zentrales Instrument der politischen Führung zur Sicherung des eigenen Machtanspruchs dar. Der Leiter des Nachrichtendienstes gehört mit Ministerrang dem iranischen Kabinett an. Dies unterstreicht die herausragende Bedeutung des MOIS. Bekannt sind neben dem MOIS auch die Revolutionary Guards Intelligence Organization (RGIO), der Auslandsaufklärungsund Inlandsabwehrdienst der Iranischen Revolutionsgarde, und die Security and Intelligence Organization of the Army. Eine Spezialeinheit der Iranischen Revolutionsgarde bilden die auch in Deutschland aktiven Quds-Brigaden, die für militärische Operationen im Ausland zuständig sind. Ihre umfangreichen Ausspähungsaktivitäten richten sich insbesondere gegen (pro-) israelische bzw. (pro-)jüdische Ziele. Die Bekämpfung oppositioneller Gruppierungen und Einzelpersonen im Inund Ausland stellt den Schwerpunkt iranischer nachrichtendienstlicher Aktivitäten dar. Die Bereitschaft Irans, die Gegner des Regimes konsequent und mit allen Mitteln zu bekämpfen, zeigt sich auch am gewalttätigen Vorgehen der iranischen Machthaber im Zusammenhang mit den dort seit September 2022 stattfindenden Protesten gegen die Staatsführung. Es ist grundsätzlich davon auszugehen, dass iranische Oppositionelle in Deutschland und Bayern, aber auch (pro-)israelische bzw. (pro-)jüdische Ziele, weiterhin im Visier iranischer Nachrichtendienste bleiben werden. Das Gefährdungspotenzial ist in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren angestiegen. Insbesondere exponierte Einzelpersonen und Gruppierungen unterliegen grundsätzlich einer höheren Gefährdung. Es ist davon auszugehen, dass iranische Nachrichtendienste die dortigen Interessen auch weiterhin mit allen Mitteln - auch durch Gewalttaten und sogar Tötungen - verfolgen werden. 324 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 2. WIRTSCHAFTSSCHUTZ Die bayerische Wirtschaft investiert große Summen in Forschung und Entwicklung und schafft so die Grundlagen für Innovation und Know-how. Als Wirtschaftsund Wissenschaftsstandort ist Bayern aufgrund dieser Innovationsleistung sowie als Standort zahlreicher Technologieunternehmen für fremde Nachrichtendienste attraktiv. Neben den diesbezüglichen Sicherheitsrisiken gefährden auch die innenund außenpolitischen Auswirkungen globaler Krisen und Konflikte die Sicherheit von Unternehmen und Forschungseinrichtungen gleichermaßen. Geopolitische Interessen senken die Hemmschwelle für Wirtschaftsspionage und Sabotage. Die Wahrscheinlichkeit, dass Lieferketten gestört werden oder die Reputation durch gezielte Akte von Desinformation geschädigt wird, steigt. Moderne Informationsund Kommunikationstechnologien Digitale und analoge haben die strategische Vorgehensweise ausländischer NachAngriffsvektoren richtendienste verändert. Cyber-Angriffe auf Computersysteme und Netzwerke von Regierungsstellen, Unternehmen und Forschungseinrichtungen zählen mittlerweile zu den etablierten Mitteln der Spionage und Sabotage. Hierbei ist eine zunehmende Vermischung analoger und digitaler Angriffsvektoren festzustellen. Ferner bedienen sich ausländische Nachrichtendienste vermehrt der Methodik von Cyberkriminellen, was die Erkennung und Zurechenbarkeit von Cyberangriffen staatlicher Akteure erschwert. Der Wirtschaftsschutz Bayern berät Unternehmen und Forschungseinrichtungen und leistet Hilfe zur Selbsthilfe. Spionage verursacht in Deutschland jährlich Schäden in Milliardenhöhe und kostet Arbeitsplätze und wertvollen Knowhow-Vorsprung. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU), sind sich dieser Gefahr und der damit verbundenen für sie negativen Auswirkungen oft nicht im Detail bewusst. Prävention und Information können hier Abhilfe schaffen. Im Rahmen der seit 2010 zwischen dem Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration und dem Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie bestehenden "Initiative Wirtschaftsschutz" bietet das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz kostenfreie Informationen und Serviceleistungen für Unternehmen und Hochschulen an. Anforderungsorientierte Beratungsleistungen und Fachvorträge bilden die Basis dieser Sensibilisierungsund Präventionsarbeit und gewährleisten den Aufbau und die Pflege vertrauensvoller Sicherheitspartnerschaften. 325 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Präventionsangebote Das Infoportal www.wirtschaftsschutz.info, ist ein vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) gemeinsam mit Bundeskriminalamt (BKA), Bundesnachrichtendienst (BND) und dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) betriebenes Angebot, das allgemeine und aktuelle Informationen zum Thema Wirtschaftsund Wissenschaftsschutz zur Verfügung stellt. Nutzer können dort Meldungen abrufen oder nach einer einmaligen Registrierung Zugriff auf weiterführende Hintergrundinformationen erlangen. Wie bereits im vergangenen Jahr nahmen das Cyber-Allianz-Zentrum (CAZ), der Wirtschaftsschutz sowie der Geheimschutz in der Wirtschaft des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz in 2023 wieder an der IT-Sicherheitsmesse it-sa in Nürnberg teil. An dem behördenübergreifenden Gemeinschaftsstand der Initiative "Cybersicherheit in Bayern" beteiligten sich neben dem Landesamt für Verfassungsschutz auch das Bayerische Landeskriminalamt (BLKA) mit der Zentralen Ansprechstelle Cybercrime (ZAC), der Landesbeauftragte für Datenschutzaufsicht (LDA) und die IT-Bewerberkoordination der Bayerischen Polizei. Die Initiative richtet sich an Zielgruppen aus dem Wirtschaftssektor und möchte insbesondere auch KMU, Forschungseinrichtungen und Betreiber Kritischer Infrastrukturen (KRITIS) erreichen. Geheimschutz in Unternehmen, die im Zusammenhang mit Aufträgen des Bunder Wirtschaft des oder eines Landes Umgang mit geheimhaltungsbedürftigen Informationen (Verschlusssachen) haben, unterliegen der sog. 326 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Geheimschutzbetreuung. Diese stellt den einheitlichen Schutz von Verschlusssachen auch in Wirtschaftsunternehmen sicher. Ansprechpartner für alle geheimschutzbetreuten Unternehmen, die ihren Sitz in Bayern haben, ist das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz. Ziel der Geheimschutzbetreuung ist es, nicht nur nachrichtendienstliche Angriffe zu erkennen und abzuwehren, sondern diesen durch gezielte Maßnahmen präventiv entgegenzuwirken. Die Kontakte zu geheimschutzbetreuten Unternehmen bilden ein wertvolles Netzwerk für die präventive Spionageabwehr. In mehreren Fällen ist es bereits gelungen, durch Hinweise geheimschutzbetreuter Unternehmen auch Muster von Cyberangriffen zu erkennen. Dadurch konnten andere potenziell betroffene Unternehmen frühzeitig informiert werden. 3. CYBER-ALLIANZ-ZENTRUM BAYERN (CAZ) Die Gefährdung von Wirtschaft und Wissenschaft durch Wirtschaftsspionage - auch mittels elektronisch gesteuerter Angriffe - gewinnt in Zeiten einer voranschreitenden Digitalisierung an Konstanz, Intensität, Vielfalt und Komplexität. Insbesondere Cyberangriffe stellen für fremde Nachrichtendienste ein effektives Mittel dar, um Informationen auf digitalem Weg zu beschaffen, politisch Einfluss zu nehmen oder Sabotage zu betreiben. Vor allem Staaten wie Russland, China und Iran nutzen den Cyberraum, um sich einen wirtschaftlichen Vorteil zu verschaffen oder den Technologievorsprung anderer Nationen aufzuholen. Cyberangriffe umfassen gezielte Maßnahmen mit und gegen Cyberspionage und IT-Infrastrukturen zur Informationsbeschaffung (Cyberspionage) Cybersabotage oder zur Schädigung des Angriffszieles (Cybersabotage). Cyberspionage kann in Gestalt eines sog. "Prepositioning" (deutsch: "Vorbereiten/Bereitstellen") eingesetzt werden. Dabei versuchen die Angreifer, mithilfe von komplexen und langfristig angelegten Strategien dauerhaften Zugang zu IT-Systemen zu erlangen. Diese Vorgehensweise zielt darauf ab, unentdeckt zu agieren, Spuren zu verwischen und weitere Hintertüren in den Systemen zu erschließen. Auf diese Weise stellen Angreifer sicher, dass sie auch nach Bekanntwerden einer Schwachstelle weiterhin auf die betroffenen Systeme zugreifen können. Den Angriffen geht häufig ein sog. "Social Engineering" unter Ausnutzung medialer Kommunikationswege (z. B. Telefon, E-Mail, soziale Netzwerke) voraus. Dabei versuchen die angreifenden Stellen, das Vertrauen ihrer Opfer zu erlangen, um herauszufinden, ob die betreffende Person Zugang zu wertigen 327 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Informationen hat. Ist das der Fall, wird der Kontakt intensiviert sowie eine Vertrauensbeziehung hergestellt und vertieft, um an die begehrten Informationen zu gelangen. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU) verfügen häufig über essenzielles Know-how, dessen Innovationspotenzial es in besonderer Weise zu schützen gilt. Der gesetzliche Auftrag des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz umfasst neben der Aufklärung von Spionageund Sabotageaktivitäten fremder Staaten, die sich gegen deutsche Unternehmen und Forschungseinrichtungen richten, auch die Information potenziell betroffener Institutionen. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse und Analysen tragen zu einer besseren Erfassung der Bedrohungslage bei, wovon auch andere Unternehmen und Forschungseinrichtungen profitieren können. Das Cyber-Allianz-Zentrum Bayern im Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz konzentriert sich seit Beginn des Russland-Ukraine-Krieges auf die Unterrichtung bayerischer Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Betreiber von KRITIS, die im Fokus möglicher russischer Cyberangriffe stehen. Bislang blieben die von deutschen und internationalen Sicherheitsbehörden erwarteten, staatlich gesteuerten Angriffswellen aus Russland aus. Aktivitäten von Ungeachtet dessen steigt die Anzahl der Angriffe sog. "Hack"Hacktivisten" tivisten", also nicht staatlicher Cybergruppierungen, die sich entweder pro-russisch oder pro-ukrainisch positionieren und der Gegenseite meist geringe Schäden zufügen. Im Berichtszeitraum wurden wiederholt Aktionen prorussischer "Hacktivisten", u. a. von der Gruppierung "Killnet", festgestellt, die sich gegen westliche Staaten richten. Bislang ist eine feste Zuordnung dieser Aktivitäten zu einem russischen Nachrichtendienst jedoch nicht gelungen. Allerdings scheinen sämtliche der erkannten Aktivitäten mit der aktuellen Berichterstattung russischer Medien und dem Verlauf des Kriegsgeschehens in Zusammenhang zu stehen. Es ist davon auszugehen, dass die Angriffe als propagandistisches Mittel genutzt werden, um die vermeintliche Schwäche westlicher Ziele und zugleich russische Stärke zu demonstrieren. Durch die Auswahl medienwirksamer Ziele erlangt "Killnet" in Russland eine breite Aufmerksamkeit und besitzt, insbesondere unter Jugendlichen, einen gewissen Kultstatus. Die Angriffe hatten bislang entgegen den russischen Darstellungen keine nennenswerten Auswirkungen. 328 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Darüber hinaus hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz erneut Fälle verfolgt, in denen die russische Cybergruppierung "Ghostwriter" Desinformationsund Einflussnahmeaktivitäten mit Cyberangriffen kombinierte. Betroffen waren erneut E-Mailkonten von Personen im politischen Raum. "Ghostwriter" versucht auf diese Weise Passwörter zu erbeuten, um damit Zugang zu persönlichen Informationen in Mailpostfächern und in den sozialen Medien zu erlangen und diese für Desinformation und Propaganda zu missbrauchen. Betroffene Personen in Bayern wurden vom Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz informiert und sensibilisiert. Der Wirtschaftsstandort Bayern ist Sitz einer großen Zahl an Cyber-AllianzUnternehmen und Forschungseinrichtungen. Für fremde NachZentrum richtendienste ist Spitzentechnologie ein besonders attraktives Ziel, um Informationen zu gewinnen - auch im Cyberraum. Das CAZ im Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz ist seit 2013 ein vertrauensvoller und kompetenter Ansprechpartner für Unternehmen, KRITIS-Betreiber sowie Wissenschaftsbzw. Forschungseinrichtungen. Durch den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zu zahlreichen Unternehmen und Einrichtungen konnte erreicht werden, dass sich Unternehmen bereits im Vorfeld präventiv an das CAZ wenden, sich aber auch im Nachgang zu Angriffen beraten lassen. Cyberangriffe auf die Wirtschaft oder staatliche Stellen werden im CAZ zunächst einer forensisch-technischen Analyse und Bewertung unterzogen. Die Ergebnisse dieser Analyse werden zudem aus nachrichtendienstlicher Sicht bewertet, um sie am Ende des Analyseprozesses der Wirtschaft in Form von anonymisierten, detailliert aufbereiteten Warnmeldungen zur Verfügung zu stellen. Indem sie laufend über aktuelle Angriffsmuster informiert werden, sind auch andere potenziell betroffene Unternehmen in der Lage, ihre Sicherheitsmechanismen anzupassen und sich somit frühzeitig zu schützen. Die Vielzahl der Angreifergruppen, die sog. APT-Angriffe ("Advanced Persistent Threats") - eine besonders komplexe und hartnäckige Angriffsmethode - einsetzen, und die damit einhergehende Heterogenität der Cyberbedrohungen sind bemerkenswert. Ausländische Nachrichtendienste und Akteure, die im Auftrag anderer Staaten tätig sind, passen ihre Instrumente und Methoden kontinuierlich an aktuelle technische und gesellschaftliche 329 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Entwicklungen an. Dabei sind bereits lang bekannte Angreifergruppen nach wie vor aktiv. Sie versuchen verstärkt, Schwachstellen, beispielsweise im Bereich der Homeoffice-Arbeit, auszunutzen. Das CAZ arbeitet zur Erfüllung seiner Aufgaben eng mit Organisationen auf Bundesund Landesebene zusammen. Neben dem BfV und dem BSI existieren auch auf Landesebene wichtige Partner. Zudem gehört das CAZ seit seiner Gründung als "Institution im besonderen staatlichen Interesse" der "Nationalen Allianz für Cyber-Sicherheit" an und ist damit Bestandteil der deutschen Sicherheitsarchitektur. Auf Landesebene ist das CAZ ein wichtiger Baustein der "Initiative Cybersicherheit", die im Jahr 2013 im Rahmen der Bayerischen Cybersicherheitsstrategie ins Leben gerufen wurde. Zudem engagiert sich das CAZ in der seit 2020 bestehenden Cyberabwehr Bayern, die einen regelmäßigen Austausch mit anderen bayerischen Behörden zum Thema Cybersicherheit vorsieht. 4. CYBERABWEHR BAYERN (CAB) Fälle von Cybercrime, Cyberspionage, vielfältige Arten der Verletzung des Schutzes personenbezogener Daten und gezielte oder zufällig auftretende Angriffe auf die staatliche Infrastruktur sind Teil der vielfältigen Bedrohungspotenziale aus dem Cyberraum. Betrug, Erpressung (Ransomware) oder Diebstahl personenbezogener Daten sind Phänomene, denen Unternehmen, aber auch Privatpersonen, Forschungseinrichtungen sowie staatliche Institutionen ausgesetzt sind. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden und überregionalen Bedrohungslage aus dem Cyberraum hat die Bayerische Staatsregierung zu Beginn des Jahres 2020 die Cyberabwehr Bayern (CAB) ins Leben gerufen. Informationsund Hierbei handelt es sich um eine behördeninterne InformationsKooperationsund Kooperationsplattform für alle mit Cybersicherheitsaufplattform gaben betrauten bayerischen Behörden. Zu diesen zählen: - das Cyber-Allianz-Centrum (CAZ) im Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz - die Zentrale Ansprechstelle Cybercrime (ZAC) im Bayerischen Landeskriminalamt 330 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 - die Zentralstelle Cybercrime Bayern (ZCB) bei der Generalstaatsanwaltschaft Bamberg - das Landesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (LSI) - das Landesamt für Datenschutzaufsicht (LDA) sowie - der Landesbeauftragte für den Datenschutz (LfD) Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beheimatet das Cyber-Lagezentrum der CAB. Auf der Basis einer gemeinsamen Kooperationsvereinbarung organisiert und koordiniert das Cyber-Lagezentrum den Informationsaustausch, der zwischen den beteiligten Behörden und Einrichtungen im Rahmen der CAB stattfindet. Das Gremium der CAB hält regelmäßige gemeinsame Lagebesprechungen ab, um aktuelle cybersicherheitsrelevante Ereignisse zu analysieren, aus der jeweils behördenspezifischen Perspektive zu bewerten und gemeinsam Maßnahmen abzustimmen. Hierdurch werden Kompetenzen gebündelt, Ressourcen effizienter eingesetzt und Reaktionszeiten - insbesondere 331 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ in Krisenlagen - verkürzt sowie ein breiterer Überblick über die aktuelle Cyberlage ermöglicht. Seit Anfang 2020 hat sich das Gremium in mehr als 200 Lageund Sonderbesprechungen zu ca. 400 cyberrelevanten Sachverhalten beraten. Neben den zuvor genannten Schwerpunktthemen wurden in 2023 zudem vielfältige Informationen über Cybersicherheitsvorfälle aufbereitet, die den beteiligten Behörden und Einrichtungen in eigener Zuständigkeit bekannt wurden. Insbesondere bei Fallkonstellationen, in denen gemeinsame Zuständigkeiten bestehen, ermöglicht die Kooperation in der CAB einen gewinnbringenden und zielführenden Austausch sowohl für die Betroffenen als auch für die beteiligten Behörden. KrisenmanagementIm September nahmen die CAB und ihr Verbindungsbeamter übung "LÜKEX im Nationalen Cyber-Abwehrzentrum (NCAZ) erfolgreich an der 2023" dreitägigen "Länderund Ressortübergreifenden Krisenmanagementübung LÜKEX 2023" teil. Kern der Übung war ein angenommener IT-Ausfall nach einem Cyberangriff und die notwendige Kompensierung der bestehenden Kommunikationskanäle innerhalb der bayerischen Staatsverwaltung. Ständiger Vertreter Auf Grundlage einer Kooperationsvereinbarung der im NCAZ Bayerns im vertretenen Behörden und den an der CAB beteiligten BehörNCAZ den und Einrichtungen hat Bayern einen CAB-Repräsentanten als ständigen Vertreter in das NCAZ des Bundes entsandt. Die dort gewonnenen Erkenntnisse vervollständigen das bayerische Cyber-Sicherheitslagebild und bieten die Möglichkeit, neue Cyberphänomene und daraus resultierende Gefahrenpotenziale frühzeitig zu erkennen und (präventive) Maßnahmen einzuleiten. Durch die Anbindung der CAB an das NCAZ wird die Scharnierfunktion zwischen Bund und Freistaat Bayern vollumfänglich erfüllt. 5. PROLIFERATION Die Bundesrepublik Deutschland hat sich international verpflichtet, gegen Proliferation vorzugehen. Hierunter versteht man die unerlaubte Weiterverbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen, der zu deren Herstellung benötigten Produkte sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen einschließlich des dafür erforderlichen Knowhows. Die Ausfuhr von Waffen oder militärisch verwendbaren Komponenten muss daher in jedem Einzelfall vom Bundesamt 332 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 für Wirtschaft und Ausfuhrkontrollen genehmigt werden. Verstöße sind im Inland im Außenwirtschaftsgesetz und im Kriegswaffenkontrollgesetz sanktioniert. Trotz aller bisherigen internationalen Anstrengungen zur Bekämpfung der Proliferation kommt es immer wieder zu Verstößen. Die Herstellung von Massenvernichtungswaffen und deren Verbreitung stellen eine ernsthafte Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit dar. Es ist zu befürchten, dass proliferationsrelevante Staaten Massenvernichtungswaffen im Fall eines bewaffneten Konfliktes einsetzen oder dies zumindest zur Durchsetzung politischer Ziele androhen. Auch russische Nachrichtendienste sind in die Beschaffung sog. Proliferationsbemüh"Güter mit doppeltem Verwendungszweck" ("Dual-Use-Güter"), ungen russischer die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können, Nachrichtendienste involviert. Im Fokus der Beschaffungsbestrebungen stehen dabei Güter aus Deutschland und anderen westlichen Staaten zur Herstellung strategischer Waffensysteme, wie Kernwaffen oder Interkontinentalraketen. Bereits ab Juli 2014 waren als Reaktion auf die Invasion der Krim sowohl der Verkauf als auch die Ausfuhr derartiger Güter in die Russische Föderation verboten, wenn die betreffenden Güter ganz oder teilweise für militärische Zwecke oder für einen militärischen Endnutzer bestimmt sein könnten. Infolge des russischen Angriffes auf die Ukraine hat die EU seit Ende Februar 2022 mehrere Sanktionspakete gegen Russland erlassen, die deutlich über die bisherigen Beschränkungen hinausgehen. Diese umfassen neben umfangreichen Finanzsanktionen auch ein Verbot der Lieferung sämtlicher Güter und Technologien, die zur militärischen und technologischen Stärkung Russlands oder zur Entwicklung des Verteidigungsund Sicherheitssektors beitragen könnten. Organisiert werden die russischen Beschaffungsbestrebungen mittels weltweit agierender Scheinund Tarnfirmen. Getarnt als zivile Businessunternehmen versuchen derartige Beschaffungsnetzwerke täglich neue Kontakte zu knüpfen und Lieferketten aufzubauen, um den tatsächlichen Verwendungszweck sensitiver Technologien aus Deutschland zu verschleiern. Russische Nachrichtendienste agieren dabei aus regionalen Beschaffungszentren heraus und binden Scheinfirmen und Mittelsmänner im westlichen Ausland in die Beschaffungsvorgänge ein. Auf diese Weise werden Unternehmen bei möglichen Geschäftsanbahnungen getäuscht und die Exportkontrolle durch falsche Angaben zum Endverwender oder Endverwendungszweck gezielt umgangen. 333 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Die strenge Gesetzgebung und die wirksamen Exportkontrollen in Deutschland erschweren die unerlaubte Beschaffung einschlägiger Güter massiv. Trotz der EU-Sanktionen gegen Russland gelingt es jedoch insbesondere russischen militärstrategischen Einrichtungen, weiterhin illegal Waren aus der EU auszuführen. Dabei setzen sie nicht nur auf Umgehungslieferungen, sondern verschleiern mittels unvollständiger oder mutmaßlich falscher Angaben des Endverwendungszweckes die tatsächliche Bestimmung der Ware, um Ausfuhrverbote zu umgehen. Zu den weiteren proliferationsrelevanten Risikostaaten zählen China, Iran, Nordkorea, Pakistan und Syrien. Zielobjekte Bayern zählt europaweit zu den führenden HochtechnoloHochtechnologie giestandorten. Die Beschaffungsbemühungen der proliferationsund Mittelstand relevanten Staaten richten sich insbesondere auf mittelständische Unternehmen und Universitäten. Um Proliferation zu verhindern, arbeitet das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz daher eng mit Wirtschaft und Wissenschaft zusammen. Es informiert in Vorträgen und Sensibilisierungsgesprächen proliferationsgefährdete Unternehmen über die Gefahren einer möglichen Weitergabe von kritischen Technologien und unterstützt sie bei Verdachtsfällen mit individuellen Maßnahmen. Dadurch konnten bereits verschiedene Beschaffungsbemühungen unterbunden werden. Der Verfassungsschutz registriert immer wieder Fälle, in denen proliferationsrelevante Staaten eine internationale Zusammenarbeit im Bereich von Wissenschaft und Forschung zu missbrauchen versuchen, um sich proliferationsrelevantes Know-how zu verschaffen. Dabei stehen vor allem Universitäten, Hochschulen, wissenschaftliche Institute, Forschungsgesellschaften sowie Forschungsabteilungen und Schulungsbereiche der Industrie im Fokus. Um für das Thema Proliferation zu sensibilisieren, stellen die Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern die Broschüre "Proliferation - Wir haben Verantwortung" zur Verfügung, die sich insbesondere an Unternehmen richtet, die proliferationsrelevante Produkte herstellen. 334 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 335 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Organisierte Kriminalität Organisierte Kriminalität (OK) Organisierte Kriminalität (OK) liegt vor, wenn mehrere Personen planmäßig erhebliche Straftaten begehen, um Gewinne zu erzielen oder Macht zu erlangen. Dazu wenden sie mitunter auch Gewalt an, nutzen geschäftsähnliche Strukturen oder versuchen, Politik, Verwaltung, Justiz, Medien oder Wirtschaft zu manipulieren (Art. 4 Abs. 4 Bayerisches Verfassungsschutzgesetz). OK verursacht allein in Deutschland seit Jahren Schäden in Milliardenhöhe. Die Drahtzieher der OK bedrohen die Grundlagen unserer Gesellschaft, indem sie die Interessen einer kriminellen Organisation mit Gewalt, Geld und massiver Einflussnahme durchsetzen wollen. In Bayern ist der Verfassungsschutz seit 1994 auch für die Beobachtung der OK zuständig, um deren Aktivitäten bereits in einem früheren Stadium aufzuklären, als dies Polizei und Staatsanwaltschaft möglich ist. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz schließt somit eine wichtige Lücke im Kampf gegen die OK. 336 Organisierte Kriminalität Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Personen, die der OK angehören oder sich in deren Umfeld bewegen, verhalten sich meist unauffällig und konspirativ. Die Aufklärung dieser Strukturen setzt daher eine systematische und langfristig angelegte Beobachtung voraus. Um bereits im Vorfeld von Straftaten an das entscheidende "Insider wissen" zu gelangen, können bei Bedarf auch nachrichtendienstliche Mittel eingesetzt werden. Strukturermittlungen schaffen Grundlagen für polizeiliche Verfahren und können laufende Ermittlungen unterstützen. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz arbeitet eng mit den OK-Dienststellen der Polizei zusammen und kooperiert aufgrund der international vernetzten OK-Strukturen mit Sicherheitsbehörden über Landesund Staatsgrenzen hinweg. Innerhalb einer Arbeitsgruppe europäischer Inlandsnachrichtendienste hat Bayern für Deutschland die ständige Koordinierungsfunktion inne und ist zentraler Ansprechpartner für ausländische Nachrichtendienste. 337 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Organisierte Kriminalität 1. OMCGS UND ROCKERÄHNLICHE GRUPPIERUNGEN OMCGs Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet die kriminellen Aktivitäten von Rockerund rockerähnlichen Gruppierungen. Einzelne Mitglieder solcher Gruppierungen begehen Straftaten, deren Tatmotiv häufig im direkten Zusammenhang mit der Zugehörigkeit und der Solidarität zur jeweiligen Gruppierung steht. Zu den typischen OK-Deliktsfeldern, auf denen diese Gruppierungen aktiv sind, gehören u. a. Rauschgifthandel sowie Rotlichtund Gewaltkriminalität. 1.1 Allgemeines Mit der von den US-amerikanischen Strafverfolgungsbehörden eingeführten Bezeichnung "Outlaw Motorcycle Gang" (OMCG) werden weltweit die polizeilich bedeutsamen Rockergruppierungen von der breiten Masse der Motorradclubs (MCs) abgegrenzt. Letztere können zwar im Einzelfall auch kriminelle Aktivitäten entfalten, betrachten dies aber nicht als ihr Hauptmotiv. Neben der Betätigung auf verschiedenen Feldern der OK stellen gemeinsame Motorradausfahrten, sog. "Rides", nach wie vor einen wichtigen Bestandteil des Clublebens in OMCGs dar. Die "Rides" finden auch im Zusammenhang mit den jährlichen nationalen und internationalen Treffen der Clubs statt. Diese als "Runs" bezeichneten Treffen dienen nicht nur der (internationalen) Vernetzung der Clubs, sondern werden vor allem auch für die Planung künftiger Aktivitäten und für die Abstimmung von Clubregelungen genutzt. Aktuell werden deutschlandweit in erster Linie "Hells Angels MC", "Bandidos MC", "Outlaws MC", "Gremium MC", "Mongols MC" und "Rock Machine MC" den OMCGs zugeordnet. In Bayern tritt zudem der "Trust MC" auf. Seit dem Verbot der "United Tribuns" (UT) durch Verfügung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) vom 14. September 2022 liegen keine Erkenntnisse mehr über Aktivitäten relevanter rockerähnlicher Gruppierungen in Bayern vor. 338 Organisierte Kriminalität Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Auffällig sind bei den rockerähnlichen Gruppen die starken Rockerähnliche Schwankungen bei den Mitgliederzahlen. Auch Gründungen Gruppierungen und Schließungen von Ortsgruppen sind in diesem Bereich ein häufig zu beobachtendes Phänomen. Das instabile Mitgliederpotenzial ist ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu den etablierten OMCG-Clubs. "1-Prozenter" Die OMCGs bezeichnen sich selbst als "1-Prozenter". Darunter versteht man Biker (Motorradfahrer), die sich selbst als "Outlaws" (Gesetzlose) sehen und das bestehende Rechtssystem ablehnen. "Colour" Das von den jeweiligen Gruppierungen getragene Rückenabzeichen wird "Colour" genannt und gliedert sich in 3 Elemente. Über dem Club-Logo oder "Center-Patch", das mittig angebracht ist, befindet sich der sog. "Top Rocker", der Name der Gruppierung. Der sog. "Bottom Rocker", der Ort oder die Region, wo die Gruppierung zu finden ist, befindet sich am unteren Ende. Mit Wirkung vom 16. März 2017 ist eine Änderung des Vereinsgesetzes in Kraft getreten, die auch gewichtige Effekte auf die Bekämpfung der Rockerkriminalität hat. Die Neuregelung bewirkt in der Praxis, dass bundesweit die Abzeichen von Rockergruppierungen bereits dann nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt werden dürfen, wenn eine lokale Ortsgruppe ("Chapter" oder "Charter") dieser Gruppierung nach dem Vereinsgesetz verboten wurde. Jegliche öffentliche Verwendung dieser charakteristischen, wiedererkennbaren Abzeichen verbotener Rockergruppierungen ist strafbar. Die Formulierung "jegliche Verwendung" umfasst dabei auch die Nutzung einzelner verbotener Abzeichen, z. B. auf der "Kutte". In der Szene wird damit eine Weste bezeichnet, auf deren Vorderund/oder Rückseite die jeweiligen Erkennungszeichen der Gruppierung zur Schau gestellt werden. "Chapter/Charter" Die jeweiligen Ortsgruppen werden von OMCGs und rockerähnlichen Gruppierungen in der Regel als "Chapter" bezeichnet, nur die "Hells Angels" sprechen von "Chartern". 339 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Organisierte Kriminalität "Prospect" Bei einem Prospect-Chapter bzw. Charter handelt es sich um ein Chapter/Charter, das z. B. durch Neugründung oder Zusammenschlüsse zunächst für einen individuell festgesetzten Zeitraum einen Anwärterstatus innehat. Innerhalb dieser Frist muss sich das Chapter/Charter bewähren, um anschließend den Status der Vollmitgliedschaft zu erlangen. Auch Einzelpersonen bei den OMCGs im Status eines Prospects können erst nach einer individuell festgelegten Bewährungszeit Vollmitglieder werden. "Supporter" Bei Supporter-Clubs handelt es sich in der Regel um Vereine, die eine international bekannte Rockergruppierung unterstützen. Sie verfügen über eigene Organisationsstrukturen und bekunden ihre Nähe durch das Tragen von Farben, Emblemen und Symbolen, die sich an denen der OMCG orientieren. Derzeit werden ca. 1.200 Personen in Bayern der polizeilich relevanten Rockerszene zugerechnet (2022: 1.200 Personen). 1.2 OMCGs in Bayern Hells Angels MC In Bayern gibt es derzeit 9 "Hells Angels"-Charter. Neben Niederlassungen in Hof, Lindau und Nürnberg existieren im Raum Chiemsee, im Raum Mühldorf und im Raum Passau weitere Charter. Im Großraum München befinden sich 3 weitere Charter. Als Unterstützergruppierungen ("Supporter") des "Hells Angels MC" sind in Bayern der "Red Devils MC" (Ansbach und im Raum Traunstein), der "Blood Red Section MC" (Coburg, Hof und Lichtenfels) und im Raum Lindau die Gruppierungen "Backyard Bloods" und "Red Vikings MC" aktiv. Die letztgenannte Gruppierung findet seit Juli 2020 Erwähnung in den sozialen Medien. 340 Organisierte Kriminalität Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Der "Hells Angels MC Hof City" kann auf die Unterstützung von nunmehr 4 Chartern des "Blood Red Section MC" zurückgreifen, davon allein 3 im Großraum Hof und eines in Sachsen. Bandidos MC Der "Bandidos MC" verfügt in Bayern über 14 Chapter (Allersberg, Augsburg, Bad Königshofen, Bamberg, Bogen, Deggendorf, Freising, Ingolstadt, Miltenberg, München, Passau, Starnberg, Wörth a. d. Donau und Würzburg). Die Chapter haben in der Regel eigene Supporter-Gruppierungen, die sich in rascher Folge neu bilden bzw. wieder auflösen können. Zu diesen zählen die "Mexican Rebels", der "Gringos MC" und der "Black River MC". Gremium MC In Bayern gibt es derzeit 8 Chapter des "Gremium MC" mit diversen Supporter-Gruppierungen. Chapter bestehen in Amberg, Ansbach, München, Regensburg, Schweinfurt und Straubing. Zudem existieren in Franken die Chapter "Gremium MC Nomads" und "Gremium MC Franconia". Die Sektion Deutschland des "Gremium MC" gründete sich 1972 in Mannheim und ist bundesweit die älteste und größte OMCG. Auch weltweit zählt der "Gremium MC" zu den größten OMCGs. Oftmals werden für den "Gremium MC" auch der Begriff "Black Seven" und die Zahl "7" verwendet, da das Wort "Gremium" aus 7 Buchstaben besteht und das "G" der siebte Buchstabe im Alphabet ist. 1.3 Gefährdungslage Bund/Bayern Öffentlichkeitswirksame Auseinandersetzungen zwischen den OMCGs wurden in der Vergangenheit überwiegend vor dem Hintergrund selbst erhobener Machtbzw. Gebietsansprüche sowie interner Streitigkeiten ausgetragen. Dabei kamen auch Waffen und sonstige gefährliche Gegenstände zum Einsatz. Generell ist die Lage in Bayern derzeit eher ruhig. BundesLage in Bayern weit waren jedoch vereinzelt öffentlichkeitswirksame, regional beschränkte Gewalttaten zu verzeichnen, die in Bayern bis dato keine erkennbaren Auswirkungen hatten. Am 9. März 2022 wurde der ehemalige Präsident des zwischenzeitlich aufgelösten Charters des "Hells Angels MC" in Rosenheim vom Landgericht Frankfurt a. M. wegen Zuhälterei und schwerer Zwangsprostitution zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren und 2 Monaten verurteilt. Der Angeklagte hatte 3 Frauen im Alter zwischen 17 und 36 Jahren in verschiedenen 341 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Organisierte Kriminalität Wohnungen und Hotels in Frankfurt a. M. und Bayern untergebracht, wo diese der Prostitution nachgehen mussten. Auf Widerworte soll der Angeklagte mit Schlägen reagiert haben. Mit dem verhängten Strafmaß entsprach das Gericht der Forderung der Staatsanwaltschaft. Darüber hinaus zog das Gericht einen Betrag von 200.000 Euro ein, die der Angeklagte seinen Opfern aus ihrer Tätigkeit als Zwangsprostituierte abgenommen hatte. Der Angeklagte legte zwischenzeitlich Revision ein, welche im Juli zugelassen wurde. AuseinandersetVor dem Hintergrund des seit mehreren Jahren schwelenden zungen außerhalb Konfliktes um die territoriale Vorherrschaft in der Schweizer Bayerns Rockerszene kommt es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern des "Hells Angels MC" und des "Bandidos MC". Seit Juli 2021 ist der "Bandidos MC" mit den Chaptern Thun und Sion und seit Juli 2022 mit dem Chapter Genf in der Schweiz präsent. In der ersten Hälfte des Jahres 2023 folgten mit Schaffhausen und Interlaken 2 weitere Chapter. Dies stellt insbesondere für den "Hells Angels MC", der dort seit mehreren Jahrzehnten etabliert und aktuell mit 11 Chartern vertreten ist, eine Provokation dar. So sind bereits zahlreiche strafrechtlich relevante Vorfälle wie gegenseitige Angriffe, schwere Körperverletzungen, versuchte Tötungen, Sachbeschädigungen und Brandstiftungen diesem Konflikt zuzurechnen. Trotz geographischer Nähe zur Schweiz konnten unmittelbare Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen "Hells Angels MC" und "Bandidos MC" in Bayern bislang nicht festgestellt werden. Verstoß gegen Ende 2022 nahm die Grenzpolizei in Bayern einen Angehörigen Kriegswaffendes "Bandidos MC" wegen des Verdachtes des Verstoßes gekontrollgesetz gen das Kriegswaffenkontrollgesetz fest. Bei seiner Einreise aus Österreich waren in dem von ihm geführten Fahrzeug u. a. Kriegswaffen und Munition gefunden worden. Die anschließenden Ermittlungen österreichischer Sicherheitsbehörden im Rahmen der AG "Corium" führten am 26. Juni zu umfangreichen Durchsuchungen und Festnahmen in Oberund Niederösterreich. Im Fokus standen dabei überwiegend Personen aus der rechtsextremistischen Szene in Österreich, die sich dem Motorradund Rockerclub "Bandidos MC" angeschlossen hatten. Im Rahmen der Durchsuchungen wurden ca. 70 Langwaffen (darunter etwa 25 Maschinenpistolen), ca. 100 Pistolen, ca. 400 Signalwaffen, Schalldämpfer, ca. 1.000 Waffenteile und Granatwerfer sowie mehr als 10.000 Schuss Munition aufgefunden. Daneben konnten auch 550 NS-Devotionalien wie Fahnen, Schriften und Medaillen, ca. 600.000 Euro Bargeld sowie Betäubungsmittel in nicht geringer Menge sichergestellt werden. 342 Organisierte Kriminalität Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Gegen 6 Personen wurde Untersuchungshaft angeordnet, darunter auch der mutmaßliche Waffenlieferant, eine Führungsperson der ehemaligen, in 2011 durch die österreichischen Behörden aufgelösten, rechtsextremistischen Gruppierung "Objekt 21". Weitere Beschuldigte sollen ebenfalls enge Verbindungen zu dieser verbotenen Gruppierung aufweisen und z. T. bereits nach dem österreichischen "Verbotsgesetz 1947" verurteilt worden sein. Am 15. Juli kam es im belgischen Antoing zu einer schweren Tödliche gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen mutmaßlichen Auseinandersetzung Mitgliedern des "Hells Angels MC" sowie des "Bandidos MC". in Belgien Während einer lokalen Festivität sollen Mitglieder des "Hells Angels MC", vermutlich aufgrund territorialer Rivalitäten, einen Angehörigen des "Bandidos MC" angegriffen und diesen u. a. mit einem Kraftfahrzeug überrollt haben, woraufhin er verstarb. Ein weiteres Mitglied des "Bandidos MC" wurde mit einem Hammer attackiert und musste ins Krankenhaus verbracht werden. Die Ermittlungen der belgischen Behörden, u. a. wegen Mordes, dauern an. Unmittelbare Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen "Hells Angels MC" und dem "Bandidos MC" in Bayern zeigten sich bislang nicht. Bereits am 7. Juli 2021 verbot das BMI den "Bandidos MotorVerbot der Fedecycle Club Federation West Central" ("Federation West Centration West Central ral") mitsamt seinen 38 benannten Mitglieds-Chaptern als gebietliche Teilorganisationen. Gegen die Verbotsverfügung hatten neben der Organisation selbst auch 157 weitere Beteiligte Klage erhoben. Am 19. September bestätigte das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig das Verbot als verhältnismäßig, da die Strafgesetzwidrigkeit die "Federation West Central" in ihrer Gesamtheit prägte. Laut der Urteilsbegründung bestand auch kein Anlass, diejenigen Mitglieds-Chapter von dem Verbot auszunehmen, aus denen heraus keine vereinsbezogenen Straftaten begangen worden sind, da diese sich nicht von den strafgesetzwidrigen Zwecken distanziert hätten. 343 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Organisierte Kriminalität Am 18. April 2021, 3 Monate vor dem Verbot, hatte die Mitgliederversammlung der "Federation West Central" die Auflösung der Organisation beschlossen. Ende Mai bzw. Anfang Juni 2021 gründeten sich mit der "Bandidos Motorcycle Club Federation Mid Region", der "Bandidos Motorcycle Club Federation North Region" und der "Bandidos Motorcycle Club Federation South Region" 3 neue Regionalgruppierungen, denen jeweils ein Drittel der Mitglieds-Chapter der "Federation West Central" zugeordnet wurde. Hinsichtlich dieser neuen Regionalgruppierungen stellte das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 19. September fest, dass es nicht um identitätswahrende Nachfolgeorganisationen der verbotenen "Federation West Central" handelt. Hierfür wäre eine offensichtliche Identität in gebietlicher, organisatorischer und personeller Hinsicht erforderlich, die jedoch nicht bestehe. Die 3 neugegründeten Organisationen sind daher nicht vom Vereinsverbot gegen die "Federation West Central" umfasst. 1.4 Phänomenübergreifende Aspekte Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet mögliche Verbindungen zwischen Rockern und Rechtsextremisten. Es bestehen punktuell personelle Überschneidungen zwischen dem Rockermilieu und der rechtsextremistischen Szene, die zumeist auf geschäftliche Interessen oder persönliche Beziehungen zurückgehen. In der Vergangenheit handelte es sich dabei auch um Personen, die Führungspositionen in rechtsextremistischen Parteien und Gruppierungen innehatten bzw. im rechtsextremistischen Versandhandel tätig waren. Auch konnten in Bayern bei mehreren Personen innerhalb der Rockerszene Tätowierungen festgestellt werden, die eindeutig rechtsextremistische Bezüge aufweisen. 344 Organisierte Kriminalität Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 2. RUSSISCH-EURASISCHE OK (REOK) Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion hat sich eine Vielzahl ethnisch geprägter krimineller Gruppierungen etabliert. Sie sind international vernetzt und begehen vor allem Straftaten in den Bereichen Eigentumskriminalität, Rauschgiftund Waffenhandel, Schmuggel, Schutzgelderpressung sowie Geldwäsche. Eine besondere Bedeutung innerhalb dieser kriminellen Grup"Diebe im Gesetz" pierungen kommt den weltweit agierenden "Dieben im Gesetz" zu, die sich als Führungspersonen der russisch-eurasischen OK durchgesetzt haben. Der Begriff "Dieb im Gesetz" stammt aus den 1920er Jahren, als sich in sowjetischen Gefängnissen und Lagern, den sog. "Gulags", die Anführer der kriminellen Strafgefangenen gegen die Anführer der politischen Häftlinge durchgesetzt hatten und so die Oberhand gewannen. Diese kriminellen Anführer nannten sich fortan "Diebe im Gesetz" und stellten mit den "Diebesgesetzen" einen eigenen Verhaltenskodex auf. Dieser sieht vor, dass Konflikte durch eigene Autoritätspersonen - notfalls auch mit Gewalt - geregelt werden und keine Zusammenarbeit mit Polizei und Justiz stattfindet. Mit einer Gemeinschaftskasse ("Obchak") werden vor allem strafrechtlich verfolgte oder inhaftierte Gruppenmitglieder sowie deren Angehörige unterstützt. Die "Diebe im Gesetz" halten ihre Aktivitäten auf niedrigem Niveau, um Rückschlüsse auf ihre Zugehörigkeit zur OK zu vermeiden. Ebenso wird die "Krönung" neuer "Diebe im Gesetz" weiterhin ausgesetzt. Aufgrund der Verschärfung der gegen die REOK gerichteten Erhöhter Strafgesetze in Russland und der Ukraine sowie angesichts der Verfolgungsdruck Kriegssituation in der Ukraine und der gegen Russland verhängin Russland und der ten Sanktionen, muss damit gerechnet werden, dass Mitglieder Ukraine der REOK auch Deutschland und Bayern als Rückzugsund Operationsgebiet nutzen. Bereits in den letzten Jahren konnten in Bayern wiederholt Aufenthalte von "Dieben im Gesetz" festgestellt werden. 345 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Organisierte Kriminalität 3. ITALIENISCHE OK Die 4 einflussreichsten kriminellen Gruppierungen in Italien sind: - "'Ndrangheta" in Kalabrien - "Camorra" in Kampanien - "Cosa Nostra" auf Sizilien - "Sacra Corona Unita" in Apulien Diese Mafiasyndikate sind zwar nach wie vor mit ihren jeweiligen süditalienischen Herkunftsregionen verbunden, operieren bei ihren kriminellen Aktivitäten jedoch international. So sind auch in Deutschland und Bayern immer wieder Besuche von Autoritäten aus Italien festzustellen, die den Aufbau der Clans und den reibungslosen Ablauf in Deutschland kontrollieren. Der geschätzte weltweite Jahresumsatz der 4 Syndikate liegt im dreistelligen Milliarden-Euro-Bereich. Zentrale DeliktsDie Deliktsfelder der Gruppierungen liegen überwiegend im felder internationalen Drogenund Waffenhandel, in der Geldwäsche, der Schutzgelderpressung und der Geldfälschung sowie der illegalen Müllentsorgung. In einigen europäischen Staaten bestehen Bestrebungen, das staatliche und ökonomische System zu durchdringen. Personenpotenzial Im Rahmen der globalen Ausbreitung sind viele italieniBayern sche Familienclans bzw. Banden seit etlichen Jahren auch in Deutschland sesshaft. In Bayern können mehr als 180 Personen den 4 großen italienischen Mafiasyndikaten zugeordnet werden. Bayern wird nach wie vor als Investitions-, aber auch als Rückzugsraum genutzt. Bei Maßnahmen der italienischen Strafverfolgungsbehörden gegen Aktivitäten der Mafia können regelmäßig auch Bezüge nach Deutschland respektive Bayern festgestellt werden. 'Ndrangheta Die "'Ndrangheta" ist eine traditionelle kriminelle und hierarchisch aufgebaute Vereinigung, die in Kalabrien beheimatet ist. Ihre rund 10.000 Mitglieder verteilen sich auf etwa 150 Clans. In mehr als 30 Staaten sind diese mit regionalen Strukturen, sog. "locali", vertreten. Die strengen Regeln und der Treueschwur der "'Ndrangheta" lassen wenig Raum für Kronzeugen, die gegen die Organisation aussagen wollen. 346 Organisierte Kriminalität Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Um ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Machtposition weiter auszubauen, gründet die "'Ndrangheta" international sukzessive weitere Vertretungen an neuen Standorten. Die geltenden Regeln und Riten der kalabrischen Heimat der "'Ndrangheta" werden in diesen "locali" gleichermaßen angewandt und weitergelebt. In Deutschland bietet vor allem die Gastronomie zahlreiche Möglichkeiten, einer legalen Tätigkeit nachzugehen. Diese sorgt für gesellschaftliche Integration, bildet eine Fassade sowie eine Basis für flüchtige Mitglieder. Die "'Ndrangheta" betreibt Restaurants nicht allein zur Geldwäsche, sondern auch als Ausgangspunkt für ihre Drogengeschäfte oder als logistische Basis. Die große, von dieser kriminellen Organisation ausgehende Gefahr besteht in ihrem familiengeprägten Aufbau, der schleichenden Unterwanderung von Wirtschaft und Politik, der Etablierung von Abhängigkeitsstrukturen durch wirtschaftliche Investitionen in Unternehmen sowie dem nahezu unbegrenzten Zugang zu Finanzmitteln. Bayernweit können der "'Ndrangheta" derzeit mehr als 85 Mitglieder zugeordnet werden. Unter dem Namen "Platinum-Dia" wurde in der jüngeren Operation Vergangenheit eine große, deutsch-italienische Anti-Mafia"Platinum-Dia" Operation gegen die "'Ndrangheta" geführt. Im Rahmen der Operation wurden nach jahrelangen Ermittlungen im Mai 2021 in Spanien, Rumänien, Italien und Deutschland großangelegte Durchsuchungsaktionen durchgeführt. Dabei konnten insgesamt 30 Beschuldigte verhaftet, mehr als 80 Objekte durchsucht und Wertsachen mit einem Gegenwert von rund 6 Millionen Euro beschlagnahmt werden. Regionaler Schwerpunkt der Razzia in Deutschland war die Bodenseeregion. Die Staatsanwaltschaften in Turin (Italien) und Konstanz (Baden-Württemberg) warfen den Beschuldigten u. a. vor, im Auftrag der "'Ndrangheta" mit großen Mengen Kokain gehandelt zu haben. Das Verfahren gegen den Hauptbeschuldigten aus BadenFestnahmen und Württemberg wurde in Italien geführt. Dieser wurde im DezemProzesse ber 2022 von einem Gericht in Turin wegen der Mitarbeit in der "'Ndrangheta", des Schmuggels von mehreren hundert Kilogramm Kokain nach Deutschland und des Umsatzsteuerbetrugs in Höhe von rund 2 Millionen Euro zu 20 Jahren Haft verurteilt. Gegen einen zweiten Beschuldigten aus Baden-Württemberg wurde das Verfahren beim Amtsgericht Konstanz geführt. Dieser wurde im November 2022 wegen Drogenhandels sowie Unterstützung der kriminellen Vereinigung "'Ndrangheta" zu 3 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt. Im Berufungsverfahren 347 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Organisierte Kriminalität wurde die Haftstrafe Anfang 2023 auf insgesamt 2 Jahre und 5 Monate reduziert. Mit dem Gerichtsurteil wurde erstmals in Deutschland ein Urteil nach SS 129 StGB wegen Unterstützung der "'Ndrangheta" gefällt. "Action-Day" gegen Am 3. Mai fand ein internationaler "Action-Day" gegen mut'Ndrangheta maßliche Mitglieder der "'Ndrangheta" statt, bei dem es auch in Bayern zu mehreren Festnahmen kam. Vorausgegangen waren langjährige Ermittlungen mehrerer westeuropäischer Polizeibehörden in Zusammenarbeit mit den EU-Behörden Eurojust und Europol. Gegen die Betroffenen wurde u. a. wegen des Handels mit Kokain im Tonnenbereich, Geldwäsche, unerlaubtem Waffenbesitz sowie Waffenhandel ermittelt. Nach knapp 3 Jahren endete am 20. November in Kalabrien einer der größten Mafia-Prozesse in Italien. Die Anklagepunkte gegen die mehr als 300 Mitglieder der "'Ndrangheta" lauteten von Mord und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung über Drogenhandel und Geldwäsche bis hin zur Korruption bei staatlichen Bauaufträgen. Es wurden zahlreiche Haftstrafen verhängt. Die höchsten Einzelstrafen erhielten 2 Führungspersonen der Organisation mit jeweils 30 Jahren. Der Prozess gegen den mutmaßlich obersten Clanführer der "'Ndrangheta" wird in einem separaten Verfahren verhandelt. Hier steht das Urteil noch aus. Camorra Mit dem Begriff "Camorra" bezeichnet man die italienischen kriminellen Organisationen in der Region Kampanien, in der Provinz und in der Stadt Neapel. Diese Region ist seit Jahrzehnten in 12 Zonen eingeteilt, die von mehreren Clans beherrscht werden. Die Camorra ist weniger ein hierarchisches Gebilde, als ein loser Verbund autonomer Clans, die keiner einheitlichen Führung folgen. Ein struktureller Aufbau der "Camorra" in Bayern oder davon ausgehende Aktivitäten sind gegenwärtig nicht feststellbar. Cosa Nostra Die "Cosa Nostra" ist eine kriminelle Organisation, die von Sizilien aus operiert. Wenngleich ihr innerer Aufbau und ihre Struktur nicht abschließend aufgeklärt sind, dürfte sich die "Cosa Nostra" jedoch aus autarken Clans zusammensetzen, die keiner 348 Organisierte Kriminalität Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 einheitlichen Führungsfigur unterliegen. Die gezielte Einflussnahme auf wirtschaftliche und politische Aktivitäten sowie das Bestreben, die Gesamtkontrolle über ihr Territorium zu erlangen, bleiben jedoch bestehen. In Bayern können einzelne Aktivitäten der "Cosa Nostra" zugerechnet werden. Sacra Corona Unita Die in Apulien agierende "Sacra Corona Unita" etablierte sich erst in den 1980er Jahren, in Reaktion auf die aus den Nachbarregionen ausgeübten Einflüsse der anderen 3 Syndikate "'Ndrangheta", "Camorra" und "Cosa Nostra". Auch die "Sacra Corona Unita" besteht aus zahlreichen kriminellen Einzelgruppen ohne einheitliche Führung. In Bayern leben Einzelpersonen der "Sacra Corona Unita". Eine Struktur ist nicht vorhanden. 4. NIGERIANISCHE OK In Nigeria sind in den letzten Jahrzehnten aus einigen universitären Bruderschaften, den "Confraternities", OK-Gruppierungen entstanden. Diese hatten sich ursprünglich im Zuge der nigerianischen Unabhängigkeitsbestrebungen in den 1960er und 1970er Jahren gegründet und setzten sich ein für die Forderung nach Unabhängigkeit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Beeinflusst durch traditionelle Ahnenund Geheimkulte sowie politische und wirtschaftliche Instabilität entwickelten sich einige Bruderschaften zu mafiaähnlichen Vereinigungen. Diese Gruppierungen bedienen sich klassischer hierarchischer OK-Strukturen, sind paramilitärisch aufgestellt und stehen untereinander grundsätzlich in einem Konkurrenzverhältnis, das insbesondere in Nigeria durch gewalttätige Auseinandersetzungen geprägt ist. Ihre Betätigungsfelder liegen sowohl in ihrem Heimatstaat als auch im internationalen Ausland insbesondere in den Bereichen Rauschgiftkriminalität, Internetbetrug, Geldwäsche, Menschenhandel und Schleusung. 349 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Organisierte Kriminalität In Europa bildet Italien hierbei den geografischen Schwerpunkt. Mittlerweile ist eine Ausweitung und Verlagerung bestehender krimineller Strukturen von nigerianischen mafiaähnlichen Organisationen von Italien aus auch nach Deutschland und insbesondere nach Bayern festzustellen. In Bayern sind hauptsächlich Mitglieder folgender "Confraternities" aktiv: - "Supreme Eiye Confraternity" (SEC) - "Black Axe Confraternity" - "Supreme Vikings Confraternity" (SVC)/"De Norsemen KClub International" (DNKI) - "M.A.P.H.I.T.E./Green Circuit Association International" (GCAI) Jede "Confraternity" hat eine nationale (Deutschlandführung) sowie mehrere untergeordnete regionale Organisationseinheiten. Letztere orientieren sich i.d.R. an Bundesländern bzw. an Einzugsgebieten größerer Städte. Es liegen Hinweise auf regionale Organisationseinheiten aller genannten "Confraternities" in Bayern vor. Von den italienischen Sicherheitsbehörden wird die nigerianische OK, wozu insbesondere auch die Gruppierungen der in Bayern aktiven Mitglieder gehören, mittlerweile als mafiaähnlich eingestuft. In Italien kam es in den letzten Jahren vermehrt zu großangelegten Festnahmeaktionen und Verurteilungen von nigerianischen "Confraternity"-Mitgliedern. 350 Organisierte Kriminalität Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 351 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Anhang Anhang PERSONENPOTENZIAL UND GEWALTTATEN Anzahl der Extremisten in Bayern 7.000 6.000 5.406 5.000 4.200 4.000 3.260 3.000 3.040 2.725 2.000 1.700 1.300 1.000 100 0 1 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 Islamisten* Sonstige ausländische Extremisten**** * Der Rückgang 2014/2015 ist vor allem auf die Reformbemühungen innerhalb der IGMG zurückzuführen. Rechtsextremisten ** Für das Jahr 2013 wurden erstmals nur die offen extremistischen Strukturen der Linksextremisten** Partei "DIE LINKE" ausgewiesen. Scientology-Organisation *** Aufnahme der Beobachtung im Jahr 2016 und fortschreitende Aufhellung des Personenpotentials. Reichsbürger/Selbstverwalter*** **** Ab dem Jahr 2019 werden Separatisten nicht mehr gesondert aufgeführt. Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates Entwicklung extremistisch motivierter Gewalttaten in Bayern 200 197 150 122 100 81 75 72 73 61 62 53 52 49 47 47 50 42 23 13 12 12 6 6 4 3 6 5 0 0 2019 2020 2021 2022 2023 Rechtsextremismus Linksextremismus Ausländische Ideologie Religiöse Ideologie Reichsbürger 352 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 STICHWORTREGISTER A Antirepression 262, 286 Adil Düzen Antisemitismus 29, 41, 43, 47-49, ("Gerechte Ordnung") 66-67 56-59, 124-127, 143, Advanced Persistent Threat 329 153-156, 190, 219, 232 Aktion, direkte 251, 282 Antiziganismus 168 Al-Intiqad ("Die Kritik"), Artikel 10-Gesetz 24 (Publikation) 111 Assists ("Beistände") 293 Al-Manar Attentäter-Fanszene 176 ("Der Leuchtturm") 59, 111-112 Auditing 300, 302 Alperen/Alperen-Genclik (Publikation) 133 B Al-salaf al-salih ("Die frommen Backyard Bloods 340 Altvorderen") 78, 104 Bandidos MC 338, 341-344 Alternative Schulen Batil Düzen (Reichsbürger) 233 ("Nichtige Ordnung") 66-67 Anarchismus 246, 282 Bayerische Informationsstelle gegen Anarchisten 248, 280, 282-283 Extremismus (BIGE) 27-29, Antifaschismus 263-264, 32-35, 149 268, 283, 286 Bayerisches Aussteigerprogramm 28 Antigentrifizierung 264, 286 Bayerisches Handlungskonzept gegen Antiglobalisierung 266, 281 Rechtsextremismus 31-32 Antiimperialismus 43, 118, Bayerisches Netzwerk für Prävention 127, 132, 261 und Deradikalisierung Antiinstitutionalismus 282 gegen Salafismus 30 Antimilitarismus 132, 265, 286 Bayerisches Antirassismus 263, 286 Sicherheitsüberprüfungsgesetz 22 353 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Anhang Bayerisches Verfassungs- F schutzgesetz 6, 18, 26, 336 Flüchtlinge 48, 145, 157, 159, Beobachtungsauftrag des 171, 188, 208, 214 Verfassungsschutzes 19-20, FSN - The Revolution 166, 174 52, 144, 197 Fünf Gifte 321 Bevölkerungsaustausch 167 Furkan Nesli Dergisi (Publikation) 69 BIRGiT, Arbeitsgruppe 22, 84 Black Axe Confraternity 350 G Blood Red Section MC 340-341 G10-Kommission 24 Brandanschlag 109, 119, Gefangenenhilfe 81, 91, 95 157, 249, 251 Gefährder 22, 84, 96 Bundesamt für Sicherheit in der Geheimund Sabotageschutz 22 Informationstechnik (BSI) 326 Geheimschutzbetreuung 327 Gelber Schein 226 C Geschichtsrevisionismus 143, 153 Camorra 346, 348-349 Graue Wölfe 119, 134-135 Chapter/Charter 150-151, 339-344 Great Reset 154 Colour 339 Gremium MC 338, 341 Confraternities 349-350 Gringos MC 341 Corona 55, 76, 150, 154, 156,171, 173, 186, 205, 209-210, 214, H 216, 218, 225-226, 228, 231-233, Heldengedenken 163, 191, 193 241-244, 268, 283, 293, 301, 308 Hells Angels MC 338-343 Cosa Nostra 346, 348-349 Herrschaftsfreie Gesellschaft 246, Cyberabwehr Bayern 37, 311, 330 248, 280 Cyberangriffe 22, 310-311, 314, Home-Da'wa 85 325, 327-329, 332 Homegrown-Terroristen 92 Cyber-Allianz-Zentrum Homophobie 163 Bayern 22, 26, 37, 311, 326-329 Hubbard, L. Ron 290, 295, 299-300, 302, 304, 308 D Da'wa I ("Missionierung") 79, 85, 89-91 Ideale-Org-Kampagne 300, 302 Dianetik 290, 296, 298, 300 Imperialismus 126, 260-262, Dieb im Gesetz 345 272, 276 Diktatur des Proletariats 274, 276 Incel-Subkultur 166-168, 176 Initialisierende Gewalt 249 E Initiative Wirtschaftsschutz 325 Ethnopluralismus 143, 180, 206 354 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Inlandsnachrichtendienst FSB M (Russland) 316-317 Mafia 346-348 Intifada 40, 110 Maoismus 246, 274 Islam-Infostände 85-86 M.A.P.H.I.T.E./Green Circuit Islamfeindlichkeit 20, 27, 61, Association International (GCAI) 350 161, 202 Marx, Karl 270 Islamismus, legalistischer 29, 44, Marxismus 246 54-55, 59-61 Marxismus-Leninismus 43, 138-139, Islamseminare 85 246, 271, 276-277 Italienische Organisierte Massenvernichtungswaffen 312, Kriminalität 346-348 332-333 Mexican Rebels 341 J Milieumanager 227, 230 Jihad 40, 53, 58, 64, 80, 84, Militärischer Auslandsnachrichten92-94, 103-104, 106-107 dienst GRU (Russland) 316-317 Militärischer Nachrichtendienst K MID (China) 319-320 Kalifat 57, 71-72, 82, Milli Gazete (Nationale Zeitung), 104-105, 107, 113-114 (Publikation) 66-67 Kameradschaften 145, 211, 213 Milli Istihbarat Teskilati MIT 322 Kampfsport 169-170 Ministerium für öffentliche Sicherheit Kapitalismus 124, 189, 259-261, MPS (China) 319-320 263, 265, 276 Ministerium für Staatssicherheit Kommunismus 57, 271, 277 MSS (China) 319-320 Kommunistische Partei Chinas Ministry of Intelligence of the Islamic (KPCh) 319-320 Republic of Iran MOIS 324 Kommunistische Partei Deutschlands Missionen (Scientology-Organisation) (KPD) 271, 276-277 299-300 Konfrontative Gewalt 250 Mongols MC 338 Konvertiten 81 Mosaik-Rechte 205 Kutte 212, 339 Muhacirun (Auswanderer), (Publikation) 113 L Münchner Sicherheitskonferenz Landesamt für Sicherheit in 138, 141, 180, 204, 265 der Informationstechnik (LSI) 331 Musikveranstaltung Landeskoordinierungsstelle Bayern (Rechtsextremismus) 33, 177 gegen Rechtsextremismus 28 Legalresidentur 312, 314, 316, 321 355 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Anhang N Religious Technology Center Nachhilfeinstitute 304 (RTC) 299, 304 Nachrichtendienstliche Remigration 49, 159, 171, 180, Mittel 21, 23, 292, 314, 337 205-207, 209 Nakba-Tag 125 Revolution auf Sendung Nationale Allianz für (Radio des "III. Weg") 174 Cybersicherheit 330 Revolutionary Guards Intelligence Nationalsozialismus 7, 142, 152, Organization RGIO (Iran) 324 155, 162-163, 175, 183, Rock Machine MC 338 207, 211, 213, 261, 263 Rückkehrer 82-84 'Ndrangheta 346-349 Rundowns 300 Neonazismus 175, 211, 213 Nigerianische Organisierte S Kriminalität 349-350 Sacra Corona Unita 346, 349 Salafismus 26, 29-31, 45, 52-55, O 61, 78-82, 89, 94-95 Obchak 345 Salafismus, jihadistischer 45, 55, Offen extremistische 58-59, 80, 104 Strukturen 248, 270 Salafismus, politischer 55, 59-61, Office of Special Affairs (OSA) 305 79-80 Operierender Thetan 301 Scharia 46, 52, 55, 60, Organisierte Kriminalität 20-21, 63-66, 68, 71-72, 78 336-350 Schiitischer Islamismus 29, 54, 56, OSA - Office of Special Affairs 305 58-59, 61, 76-77, 111 Outlaw Motorcycle Gang (OMCG) Schwarzer Block 249 338-339 Security and Intelligence Organization Outlaws MC 338 of the Army (Iran) 324 Serxwebun ("Unabhängigkeit"), P (Publikation) 126-127 Parlamentarisches Sicherheitsüberprüfung 22 Kontrollgremium 24 Skinheadbands 178, 213 Partizan (Publikation) 139 Skinheads 151, 177-178, Postautonome 280-282 181, 212-215 Proliferation 312, 332-334 Social Bots 318 Social Engineering 327 R Souveräne Bewegung 230 Recht(s)konsulent 225 Spendensammlungen 54, 56, 81, 86 Red Devils MC 340 356 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Spionageabwehr 21, 37, 310-334 United Tribuns 338 Stay Well (Gesundheitskampagne) 293 V Strukturelle Gewalt 249, 280 Verfassungsfeindliche Bestrebung Sunna 52, 56, 71 18-20, 26, 52, 195, 197-199, 214 Supporter 340-341 Verfassungstreueüberprüfung 23 Supreme Eiye Confraternity Verschlusssachen 22, 326-327 (SEC) 350 Verschwörungstheorie 2, 49, Supreme Vikings Confraternity" 57-59, 137, 149-150, 154-156, (SVC)/De Norsemen KClub 160, 167, 207, 221, 224, 231, International (DNKI) 350 240, 242-243, 262, 293 Vertrauensleute 19, 24 T Volksgemeinschaft 142, 153, Taleban 75, 106-108 161-162, 183-185, 199 Täter-Opfer-Umkehr 6 Vorfeldaufklärung 25 Takfir 104 Tarnorganisationen W (Rechtsextremismus) 142 Wahhabismus 54, 78 Tarnorganisationen Wilayat al-faqih (Herrschaft der (Scientology) 295-296, 299, Rechtsgelehrten) 56 303-308 Wirtschaftsschutz 37, 310-334 Tauhid 70, 72, 78, 97 Wolfsgruß 124, 134 Technischer militärischer NachrichtenWorld Uyghur Congress dienst NSD (China) 319-320 (WUC) 322 Terrorismus, islamistischer 22, 54, 56, 84, 94-95, 110 Y Trotzkismus 246 Yeni Özgür Politika ("Neue Freie Trust MC 338 Politik"), (Publikation) 127, 131 Türk Federasyon Bülteni Yürüyüs ("Marsch"), (Publikation) 133 (Publikation) 137-138 Turan (Großtürkenreich) 134 TV5 (Türkischer Fernsehsender) 67 Z Ziviler Auslandsnachrichtendienst U SWR (Russland) 316 Umvolkung 160, 162-163, 179, 201-203 357 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Anhang VERZEICHNIS DER GENANNTEN ORGANISATIONEN UND GRUPPIERUNGEN In dieser Übersicht sind die im vorliegenden Verfassungsschutzbericht in den jeweiligen Kapiteln genannten Organisationen und Gruppierungen aufgeführt, bei denen die vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte in ihrer Gesamtschau zu der Bewertung geführt haben, dass in der Organisation/Gruppierung verfassungsfeindliche Ziele verfolgt werden. Organisationen/Gruppierungen aus den Phänomenbereichen "Organisierte Kriminalität" und "Spionageabwehr" wurden nicht aufgenommen. Aus dem Bereich "Scientology" erfolgte keine Aufnahme der internationalen Organisationsteile. ISLAMISMUS/ISLAMISTISCHER TERRORISMUS Al-Hikmah-Moschee (Regensburg) 88 Al-Nahda 65 Al-Qaida (AQ) 45, 55, 80, 103-104, 106-108 Al-Qaida auf dem indischen Subkontinent (AQIS) 108 Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAH) 93, 108 Al-Qaida im islamischen Maghreb (AQIM) 108 Al-Qaida im Zweistromland (AQIZ) 104 Al-Qaida in Irak (AQI) 108-109 Al-Rahman-Moschee (Passau) 88 al-Shabab 80, 92, 99 Ansaar International e. V. (vormals Ansaar Düsseldorf e. V.) 101 As-Salam-Moschee (Schwandorf) 88 Basma für Kultur, Religion und Barrierefreiheit Passau e. V. 88 Bayerische Islamische Gemeinschaft (BIG) e. V. 86 Boko Haram 80, 105 Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG) (vormals Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD) 62, 65-66, 86-87, 91 Erbakan-Stiftung (Milli-Görüs-Bewegung) 67 Freedom and Justice Party (FJP) 62 Furkan Bewegung (vormals Furkan-Gemeinschaft bzw. Furkan Stiftung für Bildung und Dienst) 61, 69-70 Generation Islam (GI) 44, 59, 72 358 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Hai'at Tahrir al-Sham (HTS) (vormals Jabhat al-Nusra (JaN) bzw. Jabhat Fath al-Sham (JFS)) 102, 104, 109 HAMAS (Islamische Widerstandsbewegung) 6, 38, 40-49, 54, 57-59, 64-65, 73, 91, 93, 98, 110-111, 125, 156, 189-190, 232, 261-262, 273, 275, 287 Hilafet Devleti (Kalifatsstaat) 113-114 Hizb Allah (Hizbollah/Hisbollah) 54, 58-59, 77, 111-112 Hizb ut-Tahrir (HuT) 44-45, 59, 61, 71-74 Imam Malik Moschee (München) 88 IMAN 85-87 Internationaler Kulturverein e. V. 88 Islamisch albanisches Zentrum Ulm - Qendra islamike shqiptare Ulm e. V. 88 Islamische Federation München El-Salam-Moschee e. V. 88 Islamische Gemeinde Hof e. V. (IGH) 76 Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden in Deutschland e.V. (IGS) 77 Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) (Milli Görüs-Bewegung) 67-68 Islamische Vereinigung in Bayern (IVB) 77, 101 Islamischer Staat (IS) 45, 103-105 Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISPK) 80, 93, 106 Islamischer Verein Augsburg e. V. 88 Islamisches Buchund Kulturhaus e. V (Augsburg) 78 Islamisches Zentrum Hamburg (IZH) 77, 101 Islamisches Zentrum München e. V. (IZM) 66 Islamisches Zentrum Schwandorf (As-Salam Moschee) e. V. 88 Islamisches Zentrum Weiden e. V. 45, 88 Ismael Aga Gemeinschaft (IAC) (Milli Görüs-Bewegung) 67-68 Jama'at al-Tauhid wal-Jihad (JTJ) 104 Khorasan-Gruppe 109 Kulturund Bildungszentrum Ingolstadt 113 Kulturverein für deutschsprachige Muslime e. V. 76 Marokko Haus für Kultur und Bildung e. V. 88 Milli Görüs-Bewegung 53, 59, 61, 66-68, 113 Muslim Interaktiv (MI) 44, 59, 72-73 Muslimbruderschaft (MB) 54, 62, 66, 69, 110 Muslimischer Interaktionsverein Nürnberg e. V. 89 Realität Islam (RI) 44, 59, 72 Saadet Partisi (SP) (Milli Görüs-Bewegung) 67-68 359 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Anhang Salahuddin Moschee Augsburg 88 Somalische Gemeinde München e. V. 88 Tablighi Jama'at (TJ) 61, 75-76 Taufiq-Moschee (München) 88 The Islamic Education and Research Acadamy (iERA) 86 Vereinigung Passauer Muslime e. V. (vormals Islamisches Zentrum Passau e. V.) 88 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) bzw. Volkskongress Kurdistan (KONGRA GEL), ehemals Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistan (KADEK), Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan (KKK), Vereinigte Gemeinschaften Kurdistans (KCK) 117-119, 122-124, 126-133, 137, 287, 323 BDS-Bewegung (Boycott, Desinvestitionen und Sanktionen) 40-41 Demokratisches Kurdisches Gesellschaftszentrum Aschaffenburg e. V. 129 Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e. V. (ATIF) 140 Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e. V. (ADÜTDF) 135-136 Freie türkisch-rechtsextremistische Szene 136 Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK) 140 Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland e. V. (KON-MED) (vormals Dachverband Demokratisches Kurdisches Gesellschaftszentrum Deutschland e. V. (NAV-DEM)) 129, 133 Kurdisches Gesellschaftszentrum München 129, 133 Medya Volkshaus e. V. (Nürnberg) 129-130 Palästina spricht - München (PS MUC) 41-42 Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) 43, 137-139, 277 Samidoun 40, 43 Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) 139-140 Türkische Kommunistische Partei-Marxisten-Leninisten (TKP-ML) 140 Ülkücü-Bewegung 118-120, 123-124, 126, 133-136 Volksbefreiungsarmee (HKO) 140 Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) 40, 121, 125, 275 360 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 RECHTSEXTREMISMUS Aktivitas der Burschenschaft Danubia München 159, 205, 209-210 Aktivitas der Burschenschaft Teutonia Prag zu Würzburg 210 Alternative für Deutschland (AfD) 144, 160, 164-166, 171, 180, 186, 194-205, 209, 263, 287-288 Ansgar Aryan 181 Antikonform 178 Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V. (AG-GGG) 151-152 Blood & Honour 214 Bollwerk Oberpfalz (BWO) 214 Burning Hate 178 COMPACT-Magazin GmbH 155, 179-180, 204 Der Dritte Weg (III. Weg) 50, 144, 155, 157-159, 162-164, 169, 171, 174, 177, 182-183, 188-193, 210-211, 214 Die Heimat 48, 144, 163, 166, 174, 183-188 DIM Records 181 Ein Prozent e. V. 155, 174 Eskalation 178 Freiheitlich-Sozial-Nationale Aktionsgruppe (FSNAG) 211 FSN-Shop 181 Hammerskins 150-151 Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) 155, 161, 206-209 Institut für Staatspolitik 180 Junge Alternative für Deutschland (JA) 160, 165-166, 171, 197, 210 Junge Alternative für Deutschland Bayern (JA Bayern) 194-196 Junge Nationalisten (JN) 187 Kodex Frei 178, 213 Kollektiv Zukunft Schaffen - Heimat Schützen (KZSHS) 49, 169-170, 172, 213-214 MPU 178 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 48, 144, 163, 166, 174, 183-188 Oldschool Records 181, 213 Patriotic Store 181 Politically Incorrect (PI-News) 162, 179, 202 Prolligans 178 Schanddiktat 178 Siegesfahne 178 361 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Anhang Spreegeschwader 178 Urweisse 178 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates 20, 27, 148-149, 219, 222, 240-244 Verlag Antaios 180 Voice of Anger 212-213 White Rebel Boys 179 White Rex Store 181 White Youth 215 Wikingerversand 181 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES Einzelpersonen REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER Geeinte deutsche Völker und Stämme (GdVuSt) 238 Indigenes Volk Germaniten 228, 237 Königreich Deutschland 228-229, 234, 236-237 Vaterländischer Hilfsdienst (VHD) 234-235 LINKSEXTREMISMUS antifa-info.net (Internetportal) 254, 268, 279, 288 Antifa-NT 285 Antifa-Stammtisch 286 Antifaschistische Aktion Regensburg 288 Antifaschistische Aktion Süd 268, 286, 288 Antifaschistischer Aufbau München 266, 286 Antifaschistisches Aktionsbündnis Nürnberg 287 Antikapitalistische Linke München (AL-M) 286 Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD (AB) 277 Budapest Antifascist Solidarity Committee (BASC) 253 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 47, 248, 262, 271-273, 284 DIE LINKE. Sozialistisch-demokratischer Studierendenverband (DIE LINKE.SDS) 270 Ende Gelände 259-260, 267 Frauenverband Courage e. V. 275 Freie Deutsche Jugend (FDJ) 277 In Aktion gegen Krieg und Militarismus (AKM) 286 362 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Initiative solidarischer ArbeiterInnen 287 Internationale Sozialistische Organisation 286 Interventionistische Linke (IL) Aschaffenburg/Nürnberg 133, 259, 281 Jugendverband REBELL 274-275 Kinderorganisation ROTFÜCHSE 275 Klasse gegen Klasse 47 Linksjugend ['solid] 270 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) 248, 274-275 Nationalismus ist keine Alternative (NIKA) 285 Offenes Antifaschistisches Klimatreffen Augsburg 284 Offenes antifaschistisches Plenum Rosenheim (OAPRO) 288 Offenes Antifaschistisches Treffen Augsburg 284 Offenes antikapitalistisches Klimatreffen München (Teil der Antikapitalistischen Linken München/AL-M) 267, 286 Organisierte Autonomie (OA) Nürnberg 266-267, 287 Perspektive Kommunismus (PK) 262 Prolos 286-287 Revolutionär Organisierte Jugendaktion (ROJA) Nürnberg 287 Revolutionäre Internationale Organisation 47 Revolutionäre Zukunft Nürnberg (RZN) 287 Rote Hilfe e. V. (RH) 248, 278-279, 284-285, 287 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) 47, 248, 272-273 Sozialrevolutionäre Aktion (SRA) 286 Switchoff (Online-Blog) 269 ...ums Ganze! (Bündnis) 285 Waffen der Kritik 47 Zukunft erkämpfen 286 SCIENTOLOGY-ORGANISATION Applied Scholastics 303-304, 306 Association for Better Living and Education (ABLE) 299, 302-303, 306 Celebrity Centre München e. V. 300 Criminon 298, 303 Department of Special Affairs (DSA) 305 Der Weg zum Glücklichsein (The Way to Happiness Foundation) 293, 295-296, 298, 303, 306 Ehrenamtliche Geistliche (Volunteer Ministers) 293-294, 298, 303, 306 Gemeinsam für Menschenrechte 303 International Association of Scientologists (IAS) 302 363 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Anhang Jugend für Menschenrechte e. V. 303, 306 Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte in Deutschland e. V. (KVPM) 292, 303, 306 Lernakademie (Milbertshofen/München) 304 Lernstudio Konrad (Laufen) 304 Nachhilfeund Sprachenschule Grübl und Kroggel (Zirndorf) 304 NARCONON 303, 306 Sag NEIN zu Drogen - Sag JA zum Leben 292, 298, 303, 306 Scientology Kirche Bayern e. V. (SKB) 292, 299 Scientology Kirche Deutschland e. V. (SKD) 292, 299, 305 World Institute of Scientology Enterprises (WISE) 299, 302, 306 364 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 365 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Anhang BILDNACHWEIS VORWORTE Seite 5 Beide Bilder: Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration Seite 7 Bild: BayLfV ALLGEMEINER TEIL Seite 19 Bild: BayLfV Seite 26 Bild: BayLfV Seite 30 Mitte Broschüre: BayLfV Seite 30 unten Broschüre: Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration Seite 31 Mitte Broschüre: BayLfV Seite 32 Broschüre: Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration Seite 33 Broschüre: Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration Seite 34 Broschüre: BayLfV Seite 35 oben Beide Bilder: BayLfV Seite 35 Mitte Broschüre: BayLfV Seite 36 oben Beide Bilder: BayLfV Seite 36 unten Broschüre: Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration 366 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE REAKTIONEN AUF DEN NAHOSTKONFLIKT Seite 40 Screenshot: BayLfV Seite 41 Screenshot: Instagram Seite 42 Beide Screenshots: Instagram Seite 43 Screenshot: Instagram Seite 44 Screenshot: Instagram Seite 45 Mitte Screenshot: Instagram Seite 45 unten Screenshot BayLfV Seite 46 Screenshot: Telegram Seite 48 Screenshot: 4chan Seite 49 Screenshot: Twitter ISLAMISMUS Seite 59 Screenshot: Twitter Seite 67 Bild: wikipedia.org mit CC BY-SA 3.0 lizensiert Seite 73 Screenshots: Instagram Seite 74 Bild: picture alliance/dpa | Christoph Reichwein Seite 79 Broschüre: Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration Seite 81 Beide Screenshots: BayLfV Seite 87 oben Screenshot: Instagram Seite 87 Mitte Screenshot: Instagram Seite 87 unten Broschüre: BayLfV Seite 89 Mitte Screenshot: BayLfV Seite 90 Beide Screenshots: BayLfV Seite 91 Mitte Screenshot: Instagram Seite 92 Mitte Screenshot: BayLfV Seite 92 unten Screenshot: Al-Naba Seite 92 Mitte Screenshot: Voice of Khurasan Seite 93 unten Screenshot: BayLfV Seite 94 Screenshot: BayLfV 367 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Anhang AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS Seite 119 Beide Bilder: BayLfV Seite 121 Beide Bilder: BayLfV Seite 122 Screenshot: ANFNews Seite 125 Bild BayLfV Seite 132 Screenshot: ANFNews Seite 136 Screenshot: Facebook Seite 140 Screenshot: BayLfV Seite 141 Screenshot: BayLfV RECHTSEXTREMISMUS Seite 158 Screenshot: Telegram Seite 159 Screenshot: Instagram Seite 164 Screenshot: Instagram Seite 165 unten Screenshot: https://www.compact-online.de/mitmachenstolzmonat-statt-pride-month/ Seite 169 Screenshot: Telegram Seite 174 Screenshot: https://odysee.com/@Kvltgames:c/ TGRAnnouncement:5 abgerufen am 17.01.2023 Seite 196 Screenshot: Telegram Seite 203 Screenshot: Facebook REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER Seite 225 Screenshot: www.s-h-a-e-f.de Seite 233 Screenshot: www.stiftungfreiheitbrauchtmut.org Seite 235 Alle Bilder (Screenshots): https://www.hilfsdienst.net/ startseite.html 368 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES Seite 242 Screenshot: Telegram LINKSEXTREMISMUS Seite 251 Bild: picture alliance/dpa | Peter Kneffel Seite 255 Screenshot: Telegram Seite 266 Screenshot: Instagram Seite 269 Screenshot: https://switchoff.noblogs.org/ Seite 277 Screenshot: Facebook SCIENTOLOGY-ORGANISATION Seite 298 Screenshot: https://open.spotify.com/show/2Cyp2r5uMNEA4fxcCEkYiW Seite 299 Bild: https://www.scientology-fso.org/inside-our-church SPIONAGEABWEHR/CAZ Seite 317 Mitte Bild: picture alliance/dpa/TASS | Sergei Karpukhin Seite 317 unten Bild: IMAGO / / ITAR-TASS Seite 318 https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/ veroeffentlichungen /2022/one-pager-desinformation.pdf?__ blob=publicationFile&v=4 Seite 321 Broschüre: BayLfV Seite 323 Bild: picture alliance / AA | Aytac Unal Seite 326 Bild: BayLfV Seite 331 Broschüre: BayLfV Seite 334 Broschüre: Verfassungsschutzverbund ORGANISIERTE KRIMINALITÄT Seite 343 Beide Bilder: Bundeskriminalamt Österreich 369 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 370 Verfassungsschutzbericht Bayern 2023 Impressum Herausgeber: Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration Odeonsplatz 3, 80539 München www.innenministerium.bayern.de Redaktion: Abteilung Verfassungsschutz, Cybersicherheit in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz Gestaltung: IKW team GmbH, München Stand: April 2024 Druck: StMI (Pressefassung); gedruckt auf umweltzertifiziertem Papier Hinweis Diese Druckschrift wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der Bayerischen Staatsregierung herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlwerbern oder Wahlhelfern im Zeitraum von 5 Monaten vor einer Wahl zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für Landtags-, Bundestags-, Kommunalund Europawahlen. Missbräuchlich ist während dieser Zeit insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen, an Informationsständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken und Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist gleichfalls die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Auch ohne zeitlichen Bezug zu einer bevorstehenden Wahl darf die Druckschrift nicht in einer Weise verwendet werden, die als Parteinahme der Staatsregierung zugunsten einzelner politischer Gruppen verstanden werden könnte. Den Parteien ist es gestattet, die Druckschrift zur Unterrichtung ihrer eigenen Mitglieder zu verwenden. Wollen Sie mehr über die Arbeit der Bayerischen Staatsregierung erfahren? BAYERN | DIREKT ist Ihr direkter Draht zur Bayerischen Staatsregierung. 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