Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration Verfassungsschutzbericht 2022 Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 4 Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, nach zwei schwierigen Jahren konnten in 2022 die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie endlich zurückgefahren werden. Auch das Protestgeschehen gegen die staatlichen Schutzmaßnahmen, das auch Extremisten immer wieder für ihre Zwecke zu nutzen versuchten, ging zurück. Leider billigt uns der andauernde russische Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht die erforderliche Atempause zu: In diesem Konflikt setzt Russland auch die Energieversorgung gegen die westlichen Staaten ein. Die Unsicherheit über die Entwicklungen in der Ukraine, die Angst vor einer Ausweitung des Krieges und handfeste Existenzängste aufgrund der für jeden Einzelnen spürbaren Inflation haben das Potenzial, die Belastbarkeit unserer Demokratie erneut auf die Probe zu stellen. Extremisten wittern auch in dieser Situation eine Gelegenheit, um Misstrauen gegen politisch Verantwortliche und unsere Demokratie zu säen. Sie setzen darauf, das Vertrauen der Bevölkerung in die Funktionsfähigkeit des politischen Systems und die Problemlösungskompetenz der demokratischen Parteien zu erschüttern. Leider zeigt sich beispielsweise in einer Anfang 2023 veröffentlichten Forsa-Umfrage, dass dies bei einem Teil der Bevölkerung wohl auch verfängt. Extremisten hetzen vor allem in den sozialen Medien unentwegt gegen ein "Unrechtssystem" oder "abgehobene Eliten", denen die Alltagssorgen der Bevölkerung gleichgültig seien. Wohin diese Hetze im Extremfall führen kann, zeigt die Festnahme einer Gruppe von "Reichsbürgern" im Dezember, die nicht weniger als einen Staatsstreich geplant hatten. So illusorisch das Erreichen dieses Zieles auch gewesen sein mag: Wer hier verharmlosend von einem "Rentnertrupp" spricht, will vergessen machen, dass die Gruppe über militärisches Know-how und Waffen verfügte und bereit war, diese ohne Rücksicht auf Menschenleben einzusetzen. 5 Demokratie lebt vom Austausch auch kontroverser Meinungen im Ringen um die beste Lösung. Ein konstruktiver Meinungsaustausch setzt die Bereitschaft voraus, der Realität ins Auge zu blicken und gesellschaftliche Fehlentwicklungen ohne ideologische Scheuklappen offen zu benennen. Nur wer die Fakten klar aufzeigt, signalisiert der Bevölkerung, dass er ihre Sorgen kennt, ernst nimmt und bereit ist, bestehende Probleme zu lösen. Mit den Grundregeln der demokratischen Meinungsund Willensbildung sind auch alle Versuche unvereinbar, Entscheidungsträger durch Ultimaten unter Druck zu setzen oder demokratisch nicht legitimierte Entscheidungsgremien einzuführen. Natürlich ist nicht jeder, der die Grenzen der Versammlungsfreiheit missachtet und zu Verkehrsblockaden greift, deshalb schon ein Verfassungsgegner. Dennoch offenbaren solche Forderungen und Verhaltensweisen eine bedenkliche Unkenntnis, wenn nicht sogar Geringschätzung demokratischer Spielregeln. Wir müssen darauf achten, dass daraus nicht eine Verachtung der freiheitlich demokratischen Grundordnung insgesamt erwächst. Joachim Herrmann Sandro Kirchner Staatsminister Staatssekretär 6 Liebe Bürgerinnen und Bürger, spätestens seit dem 24. Februar letzten Jahres ist uns der Wert von Freiheit, Sicherheit und Frieden wieder einmal mehr als deutlich bewusst geworden. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine stellt eine historische Zäsur dar, mit Auswirkungen auch auf unsere Gesellschaft. Neben Sorgen vor einer geografischen Ausweitung des Krieges stellten explodierende Energiepreise und eine allgemein hohe Inflation die Menschen in Deutschland vor große finanzielle Herausforderungen oder stürzten sie gar in existenzielle Not. Wie für Krisensituationen typisch, versuchten Extremisten in einer Zeit der Not und Sorge die vorliegende Krise in ihrem Sinne zu instrumentalisieren und durch das Besetzen anschlussfähiger Themen die Reichweite ihrer verfassungsfeindlichen Ideologie zu vergrößern. Zeitgleich rückte ein verfassungsschutzrelevantes Themenfeld in den Fokus, das nach Ende des Kalten Krieges insbesondere in der gesellschaftlichen und politischen Wahrnehmung zunehmend in den Hintergrund gerückt war: Spionage und unzulässige Einflussnahmeaktivitäten ausländischer Akteure auf deutschem Boden sowie gegen deutsche Ziele und Interessen - sowohl in der Realwelt als auch im Cyberraum. Deutschland im Allgemeinen und besonders der Freistaat Bayern waren auch in den Jahren zuvor beliebtes Ziel der Spionageaktivitäten ausländischer Nachrichtendienste. Als starker Wirtschafts-, Technologieund Wissenschaftsstandort ist Bayern prädestiniert für Versuche externer staatlicher Akteure, mittels Spionage an modernes Know-How zu gelangen. Neben dem klassischen Weg der nachrichtendienstlichen Rekrutierung von Informantinnen und Informanten, setzen Staaten wie die Russische Föderation, die Volksrepublik China oder die Islamische Republik Iran in zunehmendem Maße auf Cyberangriffe. Seit einigen Jahren setzt die Russische Föderation darüber hinaus auch in Deutschland vermehrt auf Desinformationskampagnen mit dem Ziel, einerseits das russische Regime und seine Politik in ein gutes Licht zu rücken und andererseits Zweifel am Funktionieren der deutschen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu säen und damit einen Keil in die deutsche Gesellschaft zu treiben. Seit der russischen Invasion in der Ukraine haben russische Desinformationskampagnen merklich zugenommen. Hiermit versucht das russische Regime unter anderem, seinen rechtswidrigen Angriffskrieg als vermeintliche Selbstverteidigungshandlung zu rechtfertigen. So soll 7 die Bevölkerung in Deutschland gegen die Unterstützung der angegriffenen Ukraine aufgebracht werden und schlussendlich innergesellschaftlicher Druck auf politische Entscheidungsträger erwachsen. Doch auch darüber hinaus ist es nun in besonderem Maße Ziel russischer Desinformationskampagnen, den sozialen und politischen Zusammenhalt in Deutschland zu schwächen. Die Bundesrepublik unterstützt als maßgeblicher Akteur in EU und NATO die Ukraine angesichts der russischen Aggression politisch, aber auch durch die Lieferung von Ausrüstung, Waffen und die Ausbildung ukrainischer Soldaten. Folglich ist Deutschland auch unter dem Gesichtspunkt politischer Spionage im besonderen Fokus russischen Aufklärungsinteresses. Im Russland-Ukraine-Krieg und dem hierauf gerichteten politischen und öffentlichen Fokus sehen auch andere ausländische Nachrichtendienste eine Chance, vermeintlich unentdeckt ihre Spionagetätigkeiten auszuweiten. Hierbei agieren sie nicht immer nur gegen deutsche Ziele. In zunehmendem Maße richtet sich die Agitation ausländischer Nachrichtendienste auch gegen sich in Deutschland aufhaltende ausländische Oppositionelle. Die Zerstörung der Erdgaspipelines North Stream 1 und 2 macht überdies deutlich, dass ausländische Akteure bereit sind, im großen Stil Sabotageaktionen gegen deutsche und europäische Interessen zu verüben. Das Jahr 2022 hat gezeigt, dass Deutschland und seine Partnerländer Ziel zunehmender und in Teilen eskalierender ausländischer nachrichtendienstlicher Tätigkeit sind. Entsprechend verstärkt auch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz kontinuierlich seine Aktivitäten im Bereich der Spionageabwehr und trägt somit im engen Schulterschluss mit dem federführend zuständigen Bundesamt für Verfassungsschutz und den übrigen Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder dazu bei, technisches und wissenschaftliches Know-How, den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserem Land und wesentliche Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland zu schützen und zu wahren. München, im April 2023 Dr. Burkhard Körner Präsident des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz 8 9 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Inhalt Informationen zum Verfassungsschutz 18 1. Der Verfassungsschutz als Frühwarnsystem 19 2. Gesetzlicher Auftrag 19 3. Informationsbeschaffung 24 4. Kontrolle des Verfassungsschutzes 25 5. Zusammenarbeit mit der Polizei 26 6. Information und Prävention 26 6.1 Phänomenübergreifende Information und Prävention 26 6.2 Phänomenspezifische Prävention 29 6.2.1 Prävention gegen Islamismus und Salafismus 29 6.2.2 Prävention gegen Rechtsextremismus 32 6.2.3 Prävention gegen Reichsbürger und Selbstverwalter 34 6.2.4 Prävention gegen Linksextremismus 35 6.2.5 Prävention gegen die Scientology-Organisation 35 6.2.6 Wirtschaftsschutz und Cyber-Allianz-Zentrum 36 Krisenthemen und Extremismus 38 1. Allgemeine Entwicklung 40 2. Coronaund Post-Corona-Agitation 41 2.1 Rechtsextremismus 41 2.2 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates sowie Reichsbürgerund Selbstverwalterszene 43 2.3 Linksextremismus 44 2.4 Islamismus und auslandsbezogener Extremismus 45 3. Reaktionen bayerischer extremistischer Akteure auf die russische Invasion in der Ukraine 46 3.1 Rechtsextremismus 46 3.2 Reichsbürger und Selbstverwalter 51 3.3 Linksextremismus 52 3.4 Islamismus 55 3.5 Auslandsbezogener Extremismus 59 10 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 4. Energiekrise, Ressourcenknappheit, Lebensmittelversorgung und Inflation 60 4.1 Rechtsextremismus, Reichsbürger und Selbstverwalter, Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates 60 4.2 Linksextremismus 63 4.3 Islamismus 64 5. Nachrichtendienstliche Spionage-, Sabotageund Desinformationsaktivitäten 65 Islamismus 68 1. Personenpotenzial in Bayern 71 2. Allgemeines 71 2.1. Strömungen im Islamismus 71 2.2 Antisemitismus im Islamismus 74 3. Strukturen 76 3.1 Legalistischer Islamismus 76 3.1.1 Die Muslimbruderschaft (MB) und ihr Einfluss in Deutschland 78 3.1.2 Milli Görüs-Bewegung 85 3.1.3 Furkan-Gemeinschaft 88 3.1.4 Hizb ut-Tahrir (HuT) 90 3.1.5 Tablighi Jama'at (TJ) 92 3.1.6 Schiitischer Islamismus 94 3.2 Salafismus 95 3.2.1 Ursprung 95 3.2.2 Ideologie 96 3.2.3 Personenpotenzial 98 3.2.4 Reisebewegungen sowie Rückkehrerinnen und Rückkehrer 100 3.2.5 Rekrutierung und Propaganda 103 3.2.6 Salafistische Bestrebungen im Strafvollzug 112 3.2.7 Anschlagsgeschehen und Täterprofile 114 3.2.8 Exekutivmaßnahmen 117 3.2.9 Islamischer Staat, "al-Qaida" und andere terroristische Strukturen 120 3.3 Sonstiger islamistischer Terrorismus 128 3.3.1 HAMAS (Islamische Widerstandsbewegung) 128 3.3.2 Hizb Allah (Partei Gottes) 129 4. Sonstige verbotene Organisationen 130 4.1 Hilafet Devleti (Kalifatsstaat) 130 11 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auslandsbezogener Extremismus 132 1. Personenpotenzial in Bayern 134 2. Allgemeines 134 2.1 Strömungen des auslandsbezogenen Extremismus 134 2.2 Konfliktund Gewaltpotenzial 138 2.3 Antisemitismus 140 2.3.1 Antisemitismus und Antizionismus der PKK-Szene 141 2.3.2 Antisemitismus im türkischen Rechtsextremismus 141 2.3.3 Antisemitismus im türkischen Linksextremismus 142 3. Strukturen 143 3.1 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) 143 3.2 Türkischer Rechtsextremismus 146 3.2.1 Organisierte Ülkücü-Szene 147 3.2.2 Freie türkisch-rechtsextremistische Szene 151 3.3 Türkischer Linksextremismus 152 3.3.1 DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) 152 3.3.2 Türkische Kommunistische Partei/MarxistenLeninisten (TKP/ML) 153 Rechtsextremismus 156 1. Personenpotenzial in Bayern 159 1.1 Personenpotenzial 160 1.2 Lagebild "Rechtsextremisten, 'Reichsbürger' und 'Selbstverwalter' in Sicherheitsbehörden" 161 2. Gewaltpotenzial 163 2.1 Gewaltorientierte rechtsextremistische Szene in Bayern 168 2.2 Gewalt gegen Flüchtlinge 170 2.3 Rechtsextremistisch motivierte Strafund Gewalttaten 171 3. Rechtsextremistische Themenfelder und Aktionsformen 173 3.1 Rechtsextremistische Themenfelder 173 3.2 Rechtsextremistische Aktionsformen 186 3.2.1 Freizeitaktivitäten zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls und zur Nachwuchsgewinnung 186 3.2.2 Kampfsportaktivitäten und Waffenaffinität 187 3.2.3 Internationale Kontakte bayerischer Rechtsextremisten 188 4. Internet, Musik, Verlage und Vertriebsstrukturen 190 4.1 Rechtsextremisten im Internet 190 4.2 Rechtsextremistische Musik 195 4.3 Rechtsextremistische Vertriebsstrukturen 198 4.4 Rechtsextremistisches Verlagswesen 199 12 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 5. Immobiliensuche und -erwerb 201 6. Rechtsextremistische Parteien und parteinahe Strukturen 203 6.1 Junge Alternative für Deutschland Bayern (JA Bayern) 203 6.2 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 205 6.3 Partei Der Dritte Weg (III. Weg) 211 6.4 Neue Stärke Partei (NSP) 218 7. Parteiunabhängige rechtsextremistische Organisationen 220 7.1 Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) 220 7.1.1 Symbolik und Ideologie 222 7.1.2 Strukturen und Aktivitäten in Bayern 224 7.2 Sonstige rechtsextremistische Organisationen 225 8. Neonazismus und Kameradschaften 226 9. Rechtsextremistische Jugendszenen und Subkulturen 227 Reichsbürger und Selbstverwalter 234 1. Personenpotenzial 237 2. Gewaltpotenzial 240 3. Ideologie 242 4. Typische Aktivitäten 244 4.1 Auftreten gegenüber Justiz und Verwaltung 244 4.2 Beantragung von Staatsangehörigkeitsausweisen und Nutzung eigener Dokumente 246 4.3 Online-Aktivitäten 247 4.4 Überregionale und internationale Kontakte 249 5. Aktuelle Aktivitäten in Bayern 250 6. Reichsbürgergruppierungen in Bayern 253 6.1 Vaterländischer Hilfsdienst (VHD) 253 6.2 Verfassunggebende Versammlung (VV) 254 6.3 Königreich Deutschland (KRD) 255 6.4 Staatenlos.info - Comedian e. V. 256 6.5 Geeinte deutsche Völker und Stämme (GdVuSt) 256 6.6 Volksstaat Bayern (vormals: Bundesstaat Bayern) 257 13 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates 260 1. Entwicklung nach Abflauen der Pandemie 262 2. Personenpotenzial 263 3. Gewaltbereitschaft 263 4. Bedeutung von Verschwörungstheorien 264 Verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit 266 1. Michael Stürzenberger und Umfeld 269 Linksextremismus 274 1. Personenpotenzial in Bayern 277 2. Militanzund Gewaltpotenzial 277 2.1 Neue Ziele und Entgrenzung Iinksextremistischer Gewalt 281 2.2 Aktivitäten in Zusammenhang mit dem G7-Gipfel 281 2.3 Strafund Gewalttaten 285 3. Einflussnahme auf bürgerliche Kampagnen 286 4. Ideologische Wurzeln des Linksextremismus 288 5. Linksextremistische Themenfelder 294 6. Internet und Medien 301 6.1 Linksextremistische Agitation im Internet 301 6.2 Linksextremistische Szenepublikationen 303 7. Linksextremistische Parteien und Vereinigungen 304 7.1 Offen extremistische Strukturen in der Partei DIE LINKE 304 7.1.1 Linksjugend ['solid] Landesverband Bayern 304 7.1.2 DIE LINKE. Sozialistisch-demokratischer Studierendenverband (DIE LINKE.SDS) - Landesverband Bayern 304 7.2 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und Umfeld 305 7.2.1 DKP 305 7.2.2 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) 307 7.3 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) 308 7.4 Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD (AB) 311 7.5 Freie Deutsche Jugend (FDJ) 312 7.6 Rote Hilfe e. V. (RH) 313 14 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 8. Autonome, Postautonome und Anarchisten 315 8.1 Beschreibung/Hintergrund 315 8.2 Gruppierungen 318 8.2.1 Autonome Gruppierungen 318 8.2.2 Postautonome Gruppierungen 323 8.2.3 Anarchistische Gruppen 328 Scientology-Organisation (SO) 330 1. Personenpotenzial 333 2. Aktionen und Aktivitäten 334 2.1 Scientology und die Corona-Pandemie 334 2.2 Aktivitäten der "Ehrenamtlichen Geistlichen" 335 2.3 Offensive Öffentlichkeitsarbeit der Tarnorganisation "Der Weg zum Glücklichsein" 337 2.4 Nutzung eines Nachrichtenportals durch die Scientology-Organisation 340 3. Organisationsstruktur 341 3.1 Finanzierung der Scientology-Organisation 343 3.2 Unterorganisationen der Scientology-Organisation 344 3.3 Formen der Kontaktaufnahme 349 4. Aussteigerinnen und Aussteiger 350 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, Cyber-Allianz-Zentrum (CAZ) 352 1. Spionageaktivitäten ausländischer Nachrichtendienste 355 1.1 Russische Föderation 358 1.2 Volksrepublik China 362 1.3 Sonstige nachrichtendienstliche Aktivitäten 365 2. Wirtschaftsschutz 368 3. Cyber-Allianz-Zentrum Bayern (CAZ) 369 4. Cyberabwehr Bayern 374 5. Proliferation 376 15 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Organisierte Kriminalität (OK) 380 1. OMCGs und rockerähnliche Gruppierungen 383 1.1 Allgemeines 383 1.2 OMCGs in Bayern 385 1.3 Rockerähnliche Gruppierungen in Bayern 386 1.4 Auswirkungen des Kuttenverbots 388 1.5 Gefährdungslage Bund/Bayern 389 1.6 Phänomenübergreifende Aspekte 391 1.6.1 Verbindungen von Rockern in die rechtsextremistische Szene 391 1.6.2 Rocker und Waffenerlaubnisse 391 2. Russisch-eurasische OK (REOK) 392 3. Italienische OK 393 4. Nigerianische OK 396 Im Blickpunkt: Extremismus im Wandel 398 Anhang 402 Personenpotenzial und Gewalttaten 402 Stichwortregister 403 Extremistische Organisationen und Gruppierungen 410 Bildnachweis 418 Impressum 423 16 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 17 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Verfassungsschutz in Bayern Informationen zum Verfassungsschutz " Der Verfassungsschutz als Frühwarnsystem " Gesetzlicher Auftrag " Informationsbeschaffung " Kontrolle des Verfassungsschutzes " Zusammenarbeit mit der Polizei " Information und Prävention 18 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 1. DER VERFASSUNGSSCHUTZ ALS FRÜHWARNSYSTEM Die Bundesrepublik Deutschland ist nach ihrer Verfassung eine wertgebundene, wachsame und wehrhafte Demokratie. Der Staat kann gegen Bestrebungen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen, die in der Verfassung vorgesehenen Abwehrmittel einsetzen, z. B. ein Parteioder Vereinsverbot. Das setzt aber voraus, dass er solche Bestrebungen oder Aktivitäten, die als extremistisch oder als verfassungsfeindlich bezeichnet werden, rechtzeitig erkennen kann. Hier setzt die Aufgabe des Verfassungsschutzes als Frühwarnsystem zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sowie zum Schutz des Bestandes und der Sicherheit von Bund und Ländern ein. 2. GESETZLICHER AUFTRAG Die Aufgaben und Befugnisse des Verfassungsschutzes sind gesetzlich genau festgelegt. Ein Ermessensspielraum bei der Entscheidung, welche Bestrebungen zu beobachten sind, besteht nicht. Das Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) regelt die von Bund und Ländern im Rahmen des Verfassungsschutzes gemeinsam zu erfüllenden Aufgaben und ist zugleich Rechtsgrundlage für die Arbeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Daneben gibt es in allen Ländern eigene Verfassungsschutzgesetze. In Bayern regelt das Bayerische Verfassungsschutzgesetz (BayVSG) die Aufgaben und Befugnisse des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz, das seinen Sitz in München hat und dem Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration unmittelbar nachgeordnet ist. Das Gesetz war im 19 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Verfassungsschutz in Bayern Jahr 2022 Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung, in deren Rahmen das Bundesverfassungsgericht mehrere Vorschriften für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt hat (Urteil vom 26.04.2022, Az. 1 BvR 1619/17). Dies betrifft insbesondere die Vorschriften zur Wohnraumüberwachung und zum Einsatz verdeckter Mitarbeiter sowie von Vertrauensleuten, aber auch die Vorschriften zur Datenübermittlung. Das Gericht hat dem Gesetzgeber eine Nachbesserungsfrist bis zum Ablauf des 31. Juli 2023 eingeräumt, innerhalb derer die für verfassungswidrig erklärten Vorschriften mit einschränkenden Maßgaben fortgelten. Foto: Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz in München Für das Landesamt wurden im Haushaltsplan 2022 insgesamt rund 575 Stellen für Beamte und Tarifbeschäftigte im öffentlichen Dienst ausgewiesen. Das Haushaltsvolumen 2022 betrug rund 43,6 Millionen Euro. BeobachtungsDer Verfassungsschutz sammelt Informationen über sicherheitsauftrag gefährdende und verfassungsfeindliche Bestrebungen im Inland und wertet diese aus. Diesem originären Beobachtungsauftrag unterliegen im Wesentlichen - Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind, - sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht (Sabotage und Spionage), - Bestrebungen, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, - Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker, gerichtet sind, - Bestrebungen und Tätigkeiten der Organisierten Kriminalität. 20 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Als "Bestrebung" ist eine politisch bestimmte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweise definiert, die darauf gerichtet ist, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes beziehungsweise Verfassungsgrundsätze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen. Solche Bestrebungen können von Gruppierungen oder Einzelpersonen ausgehen. Arbeitsschwerpunkt des Verfassungsschutzes ist die Beobachtung von extremistischen Personenzusammenschlüssen (Organisationen), d. h. in erster Linie die Analyse ihrer Ziele, Aktivitäten, ihrer Stärke, ihres Aufbaus und ihrer finanziellen Verhältnisse. Aber auch die Beobachtung von extremistischen Einzelpersonen ist zulässig. Extremistische oder sicherheitsgefährdende Bestrebungen werden in Bayern derzeit in folgenden Phänomenbereichen beobachtet: - Islamismus - Auslandsbezogener Extremismus - Rechtsextremismus - Reichsbürger und Selbstverwalter - Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates - Verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit - Linksextremismus - Scientology-Organisation Der Beobachtungsauftrag des Verfassungsschutzes umfasst auch extremistische Aktivitäten im Internet, z. B. in Blogs und Foren. Dabei ist aber eine "automatische" Zurechnung von anonymen Beiträgen in Blogs oder Foren zulasten der Verantwortlichen rechtlich nicht zulässig. Erst wenn eine politisch motivierte, gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Zielrichtung zurechenbar festzustellen ist, ist der Beobachtungsauftrag des Verfassungsschutzes eröffnet. Nach einer Grundsatzentscheidung des BundesverfassungsgeBeobachtung von richts aus dem Jahr 2013 zu den Voraussetzungen und Grenzen Abgeordneten der Beobachtung von Abgeordneten durch den Verfassungsschutz ist die Beobachtung von Parlamentsabgeordneten durch die Verfassungsschutzbehörden wegen des darin liegenden Eingriffs in das freie Mandat der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) nur unter engen rechtlichen Voraussetzungen zulässig. An die Prüfung der Verhältnismäßigkeit ist dabei mit Blick auf die Bedeutung, die das Grundgesetz dem freien Mandat zuerkennt, ein strenger Maßstab anzulegen. Ein die Beobachtung 21 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Verfassungsschutz in Bayern rechtfertigendes, überwiegendes Interesse am Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung liegt nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts insbesondere dann vor, wenn Abgeordnete ihr Mandat zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbrauchen oder diese aktiv und aggressiv bekämpfen. Organisierte In Bayern ist die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität (OK) Kriminalität seit 1994 nicht nur Aufgabe der Polizei, sondern - zum Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung - auch des Verfassungsschutzes. Der Bayerische Verfassungsschutz klärt da auf, wo Polizei oder Staatsanwaltschaft rechtlich noch nicht tätig werden können, und liefert so einen wertvollen Beitrag zur Bekämpfung krimineller Strukturen. Die Strukturaufklärung ist dabei nicht auf die Bearbeitung einzelner Delikte ausgerichtet, sondern analysiert die kriminellen Strukturen in einem ganzheitlichen Zusammenhang. Personen, die der OK angehören beziehungsweise sich in deren Umfeld aufhalten, agieren sehr konspirativ. Die Aufklärung dieser Strukturen setzt eine systematische und vor allem langfristig angelegte Beobachtung voraus, die auch den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel erfordert. Liegen dem Verfassungsschutz konkrete Anhaltspunkte für kriminelle Strukturen und Straftaten vor, werden diese zur weiteren Bearbeitung an Polizei und Staatsanwaltschaft abgegeben. Spionageabwehr Eine weitere Aufgabe des Verfassungsschutzes ist die Spionageabwehr, d. h. die Abwehr der Spionageaktivitäten von Nachrichtendiensten fremder Staaten gegen Deutschland. Wesentliche Angriffsziele sind die Bereiche Politik, Militärtechnologie und Wirtschaft. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet die Aktivitäten ausländischer Nachrichtendienste, sammelt Informationen und wertet sie aus, um z. B. deutsche Unternehmen zu schützen. Das seit Juli 2013 bestehende Cyber-Allianz-Zentrum Bayern im Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz unterstützt Unternehmen, Betreiber kritischer Infrastrukturen sowie Wissenschaftsbeziehungsweise Forschungseinrichtungen bei der Prävention und Abwehr gezielter Cyberangriffe. MitwirkungsDaneben hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz aufgaben und eine Reihe von Mitwirkungsaufgaben, bei denen es als FachGeheimschutz berater bei Sachentscheidungen einer anderen Behörde hinzugezogen wird. Dabei fließen die bereits vorhandenen oder aus 22 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Anlass des Mitwirkungsersuchens gewonnenen Erkenntnisse in den Entscheidungsprozess einer anderen Behörde mit ein. Zu den Mitwirkungsaufgaben gehören der Geheimund Sabotageschutz. Der Geheimschutz umfasst die Maßnahmen, die verhindern sollen, dass Unbefugte von im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Informationen und Unterlagen - sogenannte "Verschlusssachen" - Kenntnis erhalten. Verschlusssachen gibt es in Behörden, aber auch in privatwirtschaftlichen Unternehmen, die im Auftrag des Staates tätig werden. Der materielle Geheimschutz befasst sich mit den organisatorischen und technischen Voraussetzungen, die geschaffen werden müssen, um Verschlusssachen vor unbefugtem Zugriff zu schützen. Der personelle Geheimschutz beinhaltet die Sicherheitsüberprüfung von Personen, die mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betraut werden sollen. Die Sicherheitsüberprüfung nach dem Bayerischen Sicherheitsüberprüfungsgesetz (BaySÜG) soll gewährleisten, dass nur zuverlässige Personen eingesetzt werden, bei denen keine Umstände vorliegen, die ein Sicherheitsrisiko darstellen. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz bringt außerdem seine Erkenntnisse im Rahmen weiterer Beteiligungsaufgaben ein, insbesondere bei einbürgerungsund aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen. Es ist an der behördenübergreifenden Arbeitsgruppe "BIRGiT" (Beschleunigte Identifizierung und Rückführung von Gefährdern aus dem Bereich des islamistischen Terrorismus/Extremismus) beteiligt. Zudem hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz die Aufgabe, im Einzelfall amtliche Auskünfte im Rahmen der Verfassungstreueüberprüfung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst zu erteilen. Ergänzend dazu erfolgen vor Neueinstellungen in den Polizeivollzugsdienst sowie bei der Berufung von Personen in ein Richterverhältnis jeweils Regelanfragen. Außerdem übermittelt das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz relevante Erkenntnisse im Rahmen von Zuverlässigkeitsüberprüfungen z. B. nach dem Luftsicherheitsgesetz und dem Atomgesetz. 23 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Verfassungsschutz in Bayern Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz ist auch Ansprechpartner für die Waffenbehörden: Nach dem zum 20. Februar 2020 in Kraft getretenen Dritten Waffenrechtsänderungsgesetz genügt bereits die bloße Mitgliedschaft in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung, um die waffenrechtliche Unzuverlässigkeit zu vermuten. Bislang waren hier konkrete Unterstützungsleistungen nachzuweisen. Zudem sind die Waffenbehörden nun verpflichtet, auch im Rahmen der waffenrechtlichen Zuverlässigkeitsprüfung eine Auskunft des Verfassungsschutzes einzuholen (Regelanfrage). Die Verfassungsschutzbehörden haben unaufgefordert nachzuberichten, wenn ihnen zu einem späteren Zeitpunkt relevante Erkenntnisse vorliegen (Nachberichtspflicht). Die Regelanfrage ist auch vor Erteilung eines Jagdscheins und im Rahmen sprengstoffrechtlicher Erlaubnisverfahren durchzuführen. 3. INFORMATIONSBESCHAFFUNG Zur Erfüllung seines gesetzlichen Auftrags darf das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz Informationen sammeln und auswerten sowie die für die Fachaufgabenerfüllung erforderlichen Speicherungen vornehmen. Diese Informationen werden zum weit überwiegenden Teil aus offenen Quellen gewonnen (z. B. aus dem Internet, aus Zeitungen, Zeitschriften, Flugblättern, Programmen, Broschüren sowie bei öffentlichen Veranstaltungen extremistischer Organisationen). Einen Teil der Informationen erhält der Verfassungsschutz durch Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel. Dazu gehören insbesondere: - der Einsatz von Vertrauensleuten (Personen, die der Verfassungsschutzbehörde selbst nicht angehören, aber aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dem jeweiligen Beobachtungsobjekt "Szeneerkenntnisse" gegen Bezahlung liefern), - das Beobachten verdächtiger Personen (Observation) sowie - verdeckte Bildund Tonaufzeichnungen. Eingriffe in das Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis (Überwachung des Postund Telekommunikationsverkehrs) sind besonders strengen rechtsstaatlichen Anforderungen unterworfen. 24 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die Voraussetzungen, unter denen vom Inhalt einer Telekommunikation Kenntnis genommen werden darf, sind in einem eigenen Bundesgesetz geregelt, das nach dem Grundrecht des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses "Artikel 10-Gesetz" (G 10) genannt wird. Ein Verfahren mit mehreren voneinander unabhängigen Kontrollinstanzen stellt sicher, dass in dieses Grundrecht nur eingegriffen wird, wenn die im Gesetz genannten besonderen Gründe vorliegen. Ähnliches gilt für die Auskunftsverpflichtungen von Postund Telekommunikationsdienstleistern sowie für die Verwendung technischer Mittel zur Identifizierung von bisher unbekannten Mobilfunkanschlüssen. Besonders strenge rechtsstaatliche Sicherungen gelten auch für den Einsatz von technischen Mitteln in Wohnund Geschäftsräumen sowie für den verdeckten Zugriff auf informationstechnische Systeme. Solche Maßnahmen dürfen nur auf richterliche Anordnung vorgenommen werden. 4. KONTROLLE DES VERFASSUNGSSCHUTZES Die Tätigkeit des bayerischen Verfassungsschutzes unterliegt einer vielfältigen Kontrolle. Dazu gehört die allgemeine parlamentarische Kontrolle, die durch die Berichtspflicht des verantwortlichen Ministers gegenüber dem Landtag im Rahmen von Anfragen von Abgeordneten, Petitionen usw. ausgeübt wird. Eine besondere Kommission des Bayerischen Landtags, das Parlamentarische Kontrollgremium, überwacht die Arbeit des Verfassungsschutzes. Die G 10-Kommission überprüft u. a. die Maßnahmen zur Überwachung des Postund Telekommunikationsverkehrs sowie die Zulässigkeit und Notwendigkeit der Auskunftsverpflichtungen von Postund Telekommunikationsdienstleistern, Luftfahrtunternehmen oder Kreditinstituten. Die Verwaltungskontrolle obliegt dem Innenminister im Rahmen der Dienstund Fachaufsicht, ferner dem Bayerischen Landesbeauftragten für den Datenschutz und dem Bayerischen Obersten Rechnungshof. Diese Kontrollen werden ergänzt durch die Möglichkeit, gegen belastende Maßnahmen die Verwaltungsgerichte anzurufen. Schließlich findet über die Medienberichterstattung auch eine Kontrolle durch die Öffentlichkeit statt. 25 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Verfassungsschutz in Bayern 5. ZUSAMMENARBEIT MIT DER POLIZEI Beim Schutz von Staat und Verfassung arbeiten Polizei und Verfassungsschutz eng zusammen. Dabei sind die Polizeiund Verfassungsschutzbehörden jedoch voneinander getrennt, Verfassungsschutzbehörden dürfen keiner polizeilichen Dienststelle angegliedert werden (organisatorische Trennung). Aufgabe der Polizei sind die Abwehr von Gefahren sowie die Aufklärung von Straftaten. Sie verfügt über Eingriffsrechte und Zwangsbefugnisse (z. B. Festnahmen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen usw.) und muss eingreifen, sobald sie Hinweise auf Straftaten erhält. Der Verfassungsschutz ist dagegen für die Vorfeldaufklärung zuständig und hat keine Zwangsbefugnisse und kein Weisungsrecht gegenüber der Polizei (befugnisrechtliche Trennung). Hat der Verfassungsschutz ausreichend Erkenntnisse, die ein sicherheitsrechtliches Eingreifen erforderlich machen, unterrichtet er die zuständige Sicherheitsbehörde. Diese entscheidet dann selbstständig, ob und welche Maßnahmen zu treffen sind. Begrenzt wird dieser Informationsaustausch jedoch durch das sogenannte "informationelle Trennungsprinzip". Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes dürfen aufgrund der verschiedenen Aufgaben von Polizei und Verfassungsschutzbehörden und deren unterschiedlichen Befugnissen, Informationen durch den Verfassungsschutz an die Polizei nur in bedeutsamen Fällen übermittelt werden. Daher enthält das BayVSG genau wie das BVerfSchG sehr ausdifferenzierte Regelungen für die Informationsübermittlung an die Polizei. 6. INFORMATION UND PRÄVENTION 6.1 Phänomenübergreifende Information und Prävention Der Verfassungsschutz hat den gesetzlichen Auftrag, Regierung und Parlament sowie die Öffentlichkeit über Aktivitäten und Ziele verfassungsfeindlicher Organisationen zu informieren. Zu diesem Zweck veröffentlicht das Bayerische Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz die jährlich erscheinenden Verfassungsschutzberichte. Eingang in den Verfassungsschutzbericht finden Bestrebungen, bei denen hinreichend gewichtige Anhaltspunkte für Extremismus vorliegen. 26 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz informiert und sensibilisiert auf seiner Webseite, in Veranstaltungen und eigenen Publikationen. Zudem trägt es mit unterschiedlichen Informationsfilmen im Internet, abrufbar unter www.verfassungsschutz.bayern.de, dem geänderten Mediennutzungsverhalten Rechnung. Im Zentrum dieser Präventionsmaßnahmen steht die Filmreihe "10 Tipps wie du dich nicht verarschen lässt", die in sechs Kurzfilmen über die folgenden Phänomenbereiche und angrenzenden Themenbereiche informiert: - Rechtsextremismus - Linksextremismus - Salafismus - Scientology - Verhalten in sozialen Medien - Hater, Hetzer und Extremisten Die einzelnen Teile der Filmreihe geben Nutzerinnen und Nutzern jeweils 10 Tipps an die Hand, wie sie durch umsichtiges Verhalten vermeiden können, selbst in die Fänge von Extremisten zu geraten. Die Filme sind über den YouTube-Kanal der Bayerischen Staatsregierung abrufbar. Im Rahmen seiner Öffentlichkeitsarbeit klärt das Bayerische Fachvorträge für Landesamt für Verfassungsschutz zudem durch zielgruppenMultiplikatoren orientierte Fachvorträge über aktuelle extremistische Entwicklungen auf. Diese Fachvorträge richten sich vor allem an Multiplikatoren (Schulen, Universitäten, Bildungsakademien, Träger politischer Bildungsund Jugendarbeit, Kommunen, demokratische Bürgerinitiativen, politische Parteien). Der Verfassungsschutz leistet einen wichtigen Beitrag zur geistig-politischen Auseinandersetzung mit dem Extremismus und dient der Sicherung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz intensiviert stetig seine Beteiligung an Ausbildungsund Fortbildungsmaßnahmen anderer Behörden, z. B. der Bayerischen Polizei, Ausländerbehörden und Bildungseinrichtungen im Sinne der Extremismusprävention im öffentlichen Dienst. Im Jahr 2009 wurde die organisatorisch beim Bayerischen BIGE Landesamt für Verfassungsschutz angesiedelte "Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus" (BIGE) als zentrale Informationsund Beratungsstelle der Staatsregierung zur Bekämpfung des politischen Extremismus eingerichtet. Das Aufgabenfeld der BIGE umfasst den Rechtsund Linksextremismus, die verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit, die 27 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Verfassungsschutz in Bayern verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates sowie die Reichsbürger und Selbstverwalter. Die BIGE soll in diesen Phänomenbereichen nicht nur die Bekämpfung des Extremismus unterstützen, sondern auch die Zusammenarbeit von staatlichen Stellen, Kommunen, Schulen und gesellschaftlichen Einrichtungen stärken. Die BIGE betreibt im Rahmen einer breit angelegten Öffentlichkeitsarbeit zusammen mit dem Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus das Internetportal "Gemeinsam gegen Extremismus" (www.bige.bayern.de). Das Internetportal stellt detailliertes Fachwissen zu den genannten Phänomenbereichen zur Verfügung, informiert mit aktuellen Nachrichten und regionalen Lagebildern über die extremistischen Szenen und hält Beratungssowie Hilfsangebote für betroffene Bürgerinnen und Bürger, Kommunen, Unternehmen, Vereine und Schulen bereit. Insbesondere für Kommunen bietet die BIGE umfangreiche Beratungsleistungen an. Wesentliche Beratungsfelder sind die Unterbindung des Immobilienankaufs für rechtsextremistische Aktivitäten, die Verhinderung von rechtsextremistischen Veranstaltungen wie Konzerten sowie die lokale Agitation von Extremisten. Fallbezogen arbeitet die BIGE auch mit zivilgesellschaftlichen Initiativen wie der "Landeskoordinierungsstelle Demokratie leben! Bayern gegen Rechtsextremismus" und mit der Projektstelle gegen Rechtsextremismus des "Bayerischen Bündnisses für Toleranz - Demokratie und Menschenwürde schützen" zusammen. Bei Aktivitäten von extremistischen Organisationen im Umfeld von Schulen und bei Problemstellungen mit extremistischem Bezug im Schulalltag steht die BIGE in Zusammenarbeit mit den Regionalbeauftragten für Demokratie und Toleranz der Schulfamilie mit einem umfassenden Maßnahmenkonzept zur Seite. Die BIGE beteiligt sich ferner an Ausund Fortbildungsmaßnahmen anderer Behörden. Im Jahr 2022 wurde ein Großteil der Beamtenanwärterinnen und -anwärter der 2. und 3. Qualifikationsebene bei der Polizei, der Allgemeinen Inneren Verwaltung, sowie der Finanzund Justizverwaltung in Bayern durch die BIGE über die aktuellen Phänomene des politischen Extremismus aufgeklärt und über verschiedene Präventionsmöglichkeiten informiert. Das bereits seit 2001 beim Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz bestehende "Bayerische Aussteigerprogramm" wurde mit Gründung der BIGE dort integriert. Hier werden Einzelpersonen durch speziell ausgebildete Berater in ihrem Ausstiegsbeziehungsweise Deradikalisierungsprozess und damit ihrer Distanzierung von der extremistischen Szene begleitet. 28 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Dabei wird auch proaktiv auf Personen zugegangen, die erstmals oder wiederholt in extremistischen Zusammenhängen auffällig geworden sind. Die Zusammenarbeit mit der Bayerischen Polizei in diesem Bereich wurde weiter intensiviert, um den aktuellen Herausforderungen Rechnung zu tragen. Für das Aussteigerund Deradikalisierungsprogramm im Bereich des Islamismus zeichnet das Bayerische Landeskriminalamt verantwortlich. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz und die BIGE sind wie folgt erreichbar: Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz Postfach 450145, 80901 München Telefon: 089/31201 0 (rund um die Uhr) Telefax: 089/31201 380 E-Mail: poststelle@lfv.bayern.de www.verfassungsschutz.bayern.de Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus (BIGE) Knorrstraße 139, 80937 München Bürgertelefon: 089/2192 2192 Aussteigertelefon: 089/2192 2767 E-Mail: gegen-extremismus@stmi.bayern.de www.bige.bayern.de 6.2 Phänomenspezifische Prävention 6.2.1 Prävention gegen Islamismus und Salafismus Im Rahmen der Präventionsund Öffentlichkeitsarbeit zum PhäPräventionsstelle nomenbereich Islamismus wurde die im Jahr 2015 eingerichtete Salafismus/IslamisPräventionsstelle Salafismus 2021 in Präventionsstelle Islamismus mus umbenannt und um Themenschwerpunkte erweitert. Sie bietet in Form von Präsenzund Onlineinformationsveranstaltungen 29 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Verfassungsschutz in Bayern vielfältige Sensibilisierungs-, Beratungsund Fortbildungsformate zu den Themen Salafismus, Antisemitismus im Islamismus, Legalistischer Islamismus, Schiitischer Islamismus sowie zum Phänomenbereich des auslandsbezogenen Extremismus an. Die Präventionsstelle steht an den Standorten München und Nürnberg für Anfragen aus ganz Bayern zur Verfügung und betreibt u. a. ein Hinweistelefon für Verdachtsfälle und Islamismusprävention. Um Radikalisierungsund Rekrutierungsmechanismen erkennen zu können, qualifiziert die Präventionsstelle Beschäftigte in der Schulund Jugendarbeit, der Verwaltung, der Polizei, des Justizund Maßregelvollzugs und der Bewährungshilfe sowie der Hochschulen. Das Angebot richtet sich auch an Hauptund Ehrenamtliche in der Flüchtlingsarbeit, Sicherheitspersonal von größeren Unternehmen und Wirtschaftsverbänden sowie an Personen, die im sozialen und familiären Umfeld mit den betreffenden Themen in Berührung kommen. Die Präventionsstelle Islamismus unterstützt und berät zudem Landratsämter, Gemeinden und kommunale Einrichtungen, wenn diese vor Ort Anhaltspunkte für entsprechende extremistische Bestrebungen feststellen. In den Vorträgen und Workshops werden Hintergründe sowie aktuelle Entwicklungen in den Bereichen Islamismus und auslandsbezogener Extremismus vermittelt sowie beispielsweise der Unterschied zwischen dem Islam als Religion und dem Islamismus als extremistischer Ideologie veranschaulicht. In Gesprächen vor Ort werden Handlungsoptionen aufgezeigt und gemeinsam ein mögliches Vorgehen erörtert. Eine Übersicht über die angebotenen Vorträge und Workshops ist im Internet unter www.verfassungsschutz.bayern.de/praevention_islamismus abrufbar. Mit dem Flyer "Was tun gegen Islamismus?" informiert die Präventionsstelle Islamismus über ihre vielfältigen Sensibilisierungs-, Beratungsund Fortbildungsformate. Im Bereich der Islamismusprävention kooperiert das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz im Rahmen des 2015 unter Federführung des Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration und in Zusammenarbeit mit dem Staatsministerium der Justiz, dem Staatsministerium für Unterricht und Kultus und dem Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales gegrünNetzwerk für Prävendeten "Bayerischen Netzwerk für Prävention und Deradikalisietion und Deradikarung gegen Salafismus" mit verschiedensten staatlichen Stellen lisierung gegen in den Bereichen der Bildungsarbeit, der Integrationsund SozialSalafismus politik sowie der Jugendarbeit und des Strafvollzuges. 30 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Der ganzheitliche Ansatz des Netzwerkes, an dem auch zivilgesellschaftliche Träger beteiligt sind, deckt die beiden Säulen Prävention und Deradikalisierung systematisch ab. Die Maßnahmen und Strukturen in beiden Bereichen werden stets an aktuelle Entwicklungen sowie neue Zielgruppen und Schwerpunkte angepasst. Das Netzwerk unterhält ein eigenes Internetportal mit Informationen zur Salafismusprävention in Bayern. Interessierte und Betroffene finden unter www.antworten-auf-salafismus.de Antworten auf Fragen zum Thema Salafismus sowie vielfältige Beratungs-, Unterstützungsund Förderangebote. Die Internetplattform wurde 2019 komplett überarbeitet und in 2020 um neue, jugendaffine und interaktive Inhalte erweitert. Die vom Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Sport Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration und Integration in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz herausgegebene Broschüre Salafismus Prävention durch Information "Salafismus - Prävention durch Information" enthält neben Fragen und Antworten Informationen zum Salafismus auch Informationen über BeraTaghut tungsstellen und Ansprechpartner im Bereich der Prävention und Deradikalisierung, an die sich Betroffene wenden können. Die Broschüre ist im Internet unter www.stmi.bayern.de. abrufbar Schahid ?Tauhid Salaf ?? Kuffar Shirk ? ? e 21 ag 20 ufl und kann auch über das Broschürenportal Bayern unter www. a eu N bestellen.bayern.de angefordert werden. Seit April 2018 steht eine weitere Informationsbroschüre mit dem Titel "Islamismus erkennen" zur Verfügung. In der vom Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz herausgegebenen Broschüre liegt der Schwerpunkt der Darstellung auf Logos, Bildern und Symbolfiguren, die eine hohe Wirkkraft auf Anhänger islamistischer Gruppierungen entfalten. Zweck der Broschüre ist es, eine wichtige Grundkompetenz zum möglichst frühzeitigen Erkennen von Radikalisierungsprozessen und extremistischen Gefahren zu vermitteln. Die Broschüre ist im Internet abrufbar unter www.verfassungsschutz.bayern.de. Mit dem Informationsfilm "Lass dich nicht verarschen - diesmal von Salafisten" aus seiner o.g. Filmreihe wirkt das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz den aus salafistischer Propaganda erwachsenden Gefahren für den Einzelnen entgegen. 31 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Verfassungsschutz in Bayern Im Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz gibt es zudem ein Hinweistelefon für Verdachtsfälle und Islamismusprävention. Hinweistelefon für Verdachtsfälle und Islamismusprävention Telefon: 089/31201 480 E-Mail: islamismuspraevention@lfv.bayern.de 6.2.2 Prävention gegen Rechtsextremismus Die BIGE ist ein wichtiger Bestandteil des "Bayerischen Handlungskonzepts gegen Rechtsextremismus", das seit seiner Einführung 2009 kontinuierlich fortentwickelt wird und eine Vielzahl von Maßnahmen gegen Rechtsextremismus vorsieht. Das "Bayerische Handlungskonzept gegen Rechtsextremismus" stellt die staatlichen Strukturen, Vorgehensweisen und Maßnahmen in Bayern, die konzeptionell eingebettet sind in die 3 Säulen Vorbeugen - Unterstützen - Eingreifen, umfassend dar. Neben den verschiedenen Erscheinungsformen des Rechtsextremismus werden die staatlichen Akteure und Anlaufstellen vorgestellt sowie die ressortübergreifende Zusammenarbeit und Vernetzung mit zivilgesellschaftlichen Akteuren aufgezeigt. Das Handlungskonzept wurde im Rahmen der interministeriellen Zusammenarbeit zwischen dem federführenden Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration, dem Staatsministerium der Justiz, dem Staatsministerium für Unterricht und Kultus, dem Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst und dem Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales fortgeschrieben und Ende 2022 neu aufgelegt. Dabei wurden auch neue Entwicklungen im Bereich des Rechtsextremismus (z. B. die Beteiligung von Rechtsextremisten an aktuellen Protestbewegungen, Verschwörungstheorien im Rechtsextremismus), neue Präventionsangebote sowie das Hinzutreten weiterer Akteure, wie etwa des Beauftragten der Bayerischen Justiz zur Bekämpfung von Hate Speech sowie des zentralen Antisemitismusbeauftragten der Bayerischen Justiz mit einbezogen. Für die breite Öffentlichkeit wurde begleitend eine kurze Broschüre erstellt. Handlungskonzept und Begleitbroschüre sind für alle Bürgerinnen und Bürger über die Internetpräsenzen der beteiligten Ministerien und staatlichen Akteure abrufbar und können auch in gedruckter Form über das Broschürenportal Bayern unter www.bestellen.bayern.de angefordert werden. 32 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die BIGE informiert zudem umfassend über rechtsextremistische Bands, Liedermacher, Stilrichtungen und Verbreitungsstrategien. Insbesondere Schülerinnen und Schülersollen dazu befähigt werden, rechtsextremistische Textinhalte leichter zu erkennen und deren möglicherweise strafrechtliche oder jugendgefährdende Relevanz feststellen zu können. Mit dem "HandIungsIeitfaden zum Umgang mit Rechts(rock)-Konzerten und vergleichbaren Veranstaltungen" unterstützt die Staatsregierung u.a. Gemeinden, die mit solchen Veranstaltungen effektiv und sachgerecht umgehen müssen und vielfach nur eine sehr kurze Vorbereitungszeit für die Prüfung von Untersagungsgründen, Anordnungen oder Auflagen zur Verfügung haben. Ergänzend zum Leitfaden berät die BIGE Kommunen im konkreten Einzelfall. Ziel ist es, bereits im Vorfeld derartige Veranstaltungen möglichst zu verhindern und eine Etablierung oder Verfestigung einer rechtsextremistischen Szene vor Ort zu unterbinden. Das strikte Vorgehen der bayerischen Sicherheitsbehörden führte bereits wiederholt dazu, dass Musikveranstaltungen nicht stattfanden beziehungsweise in benachbarten Regionen außerhalb Bayerns durchgeführt wurden. Seit Einrichtung der BIGE 2009 wurden etliche Kommunen in Bayern im Hinblick auf Kauf, Pacht, Anmietung oder sonstige längerfristige Nutzung von Immobilien durch die rechtsextremistische Szene beraten. In mehreren Fällen konnte bereits ein Kauf von Gasthöfen durch Szeneangehörige mit Unterstützung der BIGE verhindert werden. Ferner unterstützt die Bayerische Staatsregierung mit dem "Handlungsleitfaden für Städte und Gemeinden zum Umgang mit rechtsextremistisch genutzten Immobilien" jene Kommunen, die mit entsprechenden Problemstellungen konfrontiert werden. Die zusammen mit dem Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration am 1. Juli 2020 neu aufgelegte Broschüre "Nein zu Nazis und Co." informiert über rechtsextremistische Agitation unter Jugendlichen und Heranwachsenden und klärt über neue Erscheinungsformen sowie Ziele, Taktiken und Strategien der Rechtsextremisten auf. Neben der sicherheitsbehördlichen Beobachtung und Auswertung verfassungsfeindlicher Aktivitäten im Internet ist das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz auch im Bereich der Aufklärung und Sensibilisierung bezüglich extremistischer Gefahren im Netz aktiv. 33 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Verfassungsschutz in Bayern Im Juni 2020 erschien im Rahmen der o.g. Filmreihe "10 Tipps, wie du dich nicht verarschen lässt - diesmal von Rechtsextremisten". 6.2.3 Prävention gegen Reichsbürger und Selbstverwalter Mit dem Flyer "Reichsbürger und Selbstverwalter: Harmlose Spinner oder gefährliche Extremisten" stellt das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz weitergehende Informationen über die Ziele und Agitationsformen von Reichsbürgern und Selbstverwaltern zur Verfügung. Der Flyer klärt darüber auf, welche Argumente Szeneangehörige nutzen und in welchen Bereichen sie aktiv sind. Zugleich wird aufgezeigt, wie man sich in unerwünschten Konfrontationssituationen souverän verhalten kann, um sich vor Vereinnahmungsversuchen zu schützen. Die BIGE informiert auf ihrer Webseite www.bige.bayern.de zu Hintergründen und aktuellen Aktivitäten von Reichsbürgern und Selbstverwaltern. Darüber hinaus ist sie mit Messeständen, Vorträgen, Workshops und Veranstaltungen zu diesem Phänomenbereich aktiv. Sie bietet zudem Beratung und Unterstützung im Umgang mit diesem Personenkreis an. Weiterführende Informationen zur Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter www.verfassungsschutz.bayern.de www.bige.bayern.de Flyer: "Reichsbürger" und "Selbstverwalter": harmlose Spinner oder gefährliche Extremisten? Die Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus (BIGE) bietet auch Fortbildungsveranstaltungen zur Reichsbürgerszene für Mitarbeiter von Kommunen, staatlichen Behörden und Justiz an: Telefon: 089 / 2192 2192 E-Mail: gegen-extremismus@stmi.bayern.de 34 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 6.2.4 Prävention gegen Linksextremismus Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz klärt mit einem Informationsfilm und einem Flyer über die Ziele und Vorgehensweisen der autonomen linksextremistischen Szene auf und sensibilisiert damit insbesondere junge Menschen für deren Anwerbestrategien. Mit dem Informationsfilm "Lass dich nicht verarschen - diesmal von autonomen Linksextremisten" aus der eingangs genannten Filmreihe vermittelt das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz eine differenzierte Sichtweise auf die gewaltbereite autonome Szene und gibt Nutzerinnen und Nutzern 10 Tipps an die Hand, wie sie Anwerbestrategien der linksextremistischen Szene erkennen und sich vor einer Vereinnahmung schützen können. Der Film kann auf dem YouTube-Kanal der Bayerischen Staatsregierung unter www.youtube.com/user/bayern abgerufen werden. Mit dem Flyer "Autonome - Linksextremistische Gewalttäter oder selbsternannte Freiheitskämpfer" stellt das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz weitergehende Informationen über die Gewaltbereitschaft der linksautonomen Szene zur Verfügung. Der Flyer klärt darüber auf, in welchen Bereichen Autonome aktiv sind, wie sie ihren Nachwuchs rekrutieren und welche Hinweise es für eine beginnende Radikalisierung gibt. Er ist über das Publikationsportal der Bayerischen Staatsregierung unter www.bestellen.bayern.de abrufund bestellbar. 6.2.5 Prävention gegen die Scientology-Organisation Mit der in 2020 neu aufgelegten Broschüre "Das System Scientology" klärt das Bayerische Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration über die Ideologie und die Ziele der "Scientology-Organisation" (SO) sowie deren Strategien zur Gewinnung neuer Mitglieder auf. Die Broschüre bietet zudem Hilfestellung und nennt Anlaufstellen für Ausstiegswillige, Betroffene und deren Angehörige. Seit mehr als 20 Jahren wird die Broschüre erfolgreich in der Präventionsarbeit eingesetzt und zählt zu den gefragtesten Publikationen des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz. 35 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Verfassungsschutz in Bayern Zeitgleich mit der Neuauflage der Broschüre veröffentlichte das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz einen Kurzfilm, mit dem vor allem junge Menschen über die Manipulationsmethoden der SO informiert werden sollen. Der vom Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz produzierte Kurzfilm ist der fünfte Teil der oben genannten Filmreihe "10 Tipps wie du dich nicht verarschen lässt". Weitergehende Informationen zur SO, ein Glossar zum scientologischen Sprachgebrauch sowie die Adressen von Beratungsstellen finden sich auf den Internetseiten des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz sowie des Bayerischen Staatsministeriums des Innern, für Sport und Integration. Opfer und Aussteiger der "Scientology-Organisation" (SO) sowie Angehörige von SO-Mitgliedern können sich an ein vertrauliches Telefon des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz wenden. Vertrauliches Telefon Telefon: 089/31201 296 6.2.6 Wirtschaftsschutz und Cyber-Allianz-Zentrum Im Rahmen seiner Wirtschaftsschutztätigkeit stellt das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz Unternehmen und Forschungseinrichtungen zielgerichtete Präventionsangebote zur Spionageabwehr zur Verfügung. Einen Schwerpunkt bildet auch hier die Abwehr elektronischer Angriffe, die seit Juli 2013 vom Cyber-Allianz-Zentrum Bayern (CAZ) wahrgenommen wird. Wirtschaftsschutz und Cyber-Allianz-Zentrum Bayern Telefon: 089/31201 222 E-Mail: wirtschaftsschutz@lfv.bayern.de www.wirtschaftsschutz.info Telefon: 089/31201 222 E-Mail: caz@lfv.bayern.de www. verfassungsschutz.bayern.de 36 Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 37 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Krisenthemen und Extremismus Krisenthemen und Extremismus " " Extremisten begreifen Krisensituationen als Chance zur Beseitigung des politischen Systems " "Heißer Herbst" und Bildung einer "Querfront" zwischen den Extremismen bleiben aus 38 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Es ist seit jeher eine Strategie von Extremisten, virulente gesellschaftspolitische Debatten aufzugreifen und mit ihren eigenen Kernthemen zu verknüpfen. Ziel dieser Propaganda ist es, die eigene Reichweite zu erhöhen und auch in nicht extremistischen Milieus Gehör zu finden. Mit der Propaganda sollen Misstrauen gegenüber dem Staat gesät und bereits vorhandene Ängste und Ressentiments weiter befeuert werden, um letztlich die extremistische Anhängerschaft zu erweitern und für verfassungsfeindliche Ziele zu mobilisieren. Auch ausländische Akteure haben in krisenhaften Zeiten ein Interesse daran, durch gezielte Desinformation das gesellschaftliche Klima zu beeinflussen oder durch Spionageund Sabotageaktionen demokratische Strukturen zu schwächen. 39 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Krisenthemen und Extremismus 1. ALLGEMEINE ENTWICKLUNG Sowohl die Nachwirkungen der Corona-Pandemie, als auch die russische Invasion in der Ukraine und deren Folgen, wie z. B. Inflation, Ressourcenund Energieknappheit, haben zu einer spürbaren Verunsicherung in allen Bereichen des politischen, wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens geführt. Ausnutzung von Extremisten sowie ausländische Akteure reagierten schnell auf Existenzängsten diese krisenhafte Gemengelage, indem sie krisenbedingte Existenzängste, z. B. vor einem (Atom-) Krieg oder dem wirtschaftlichen Absturz aufgriffen. Ziel vieler extremistischer Akteure war es dabei, die Rückkehr zum politischen und gesellschaftlichen "Normalzustand" zu verhindern und unter Ausnutzung der Krisen eine gesellschaftliche Spaltung, einen "Systemsturz" oder bürgerkriegsähnliche Zustände herbeizuführen. Dementsprechend wurden staatliche Gegenmaßnahmen als unzureichend beziehungsweise als absichtlich ungeeignet diskreditiert und die eigene extremistische Ideologie als unumgänglicher Ausweg aus den Krisen angepriesen. Die jeweiligen Argumentationsund Erklärungsmuster wurden dabei flexibel dem jeweiligen Wunschszenario angepasst, wobei es innerhalb der Phänomenbereiche mitunter auch zu gegensätzlichen Positionen und Zerwürfnissen kam. Die Instrumentalisierung des krisenhaften Weltgeschehens und Einflussnahmeversuche von Extremisten konnten dabei sowohl in der Realwelt, z. B. durch die Teilnahme an Protestveranstaltungen, als auch durch Agitation im virtuellen Raum, festgestellt werden. Vor allem im virtuellen Raum und spezifisch in den sozialen Medien und Messenger-Diensten bezogen - mit Ausnahme der linksextremistischen Szene - extremistische Akteure aller Phänomenbereiche mittels Texten, Videos und Memes Position zur Corona-Pandemie und zum Russland-Ukraine-Krieg. Ungeachtet der jeweiligen Parteinahme wurde die Krisenlage in den Postings dabei durchaus als Chance für die Umsetzung der eigenen extremistischen Zielsetzung skizziert. Die Krisen wurden - häufig unterfüttert durch verschiedenste Verschwörungstheorien - wiederholt als vermeintlicher Beleg für die Dysfunktionalität der Demokratie oder des demokratischen Rechtsstaates herangezogen, der durch einen politischen und gesellschaftlichen Wandel im Sinne der jeweiligen extremistischen Ideologie überwunden werden könne. 40 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Letztendlich gelang es weder extremistischen noch auslänHybrider Prostestdischen Akteuren trotz dieses von ihnen betriebenen hybriden aktivismus Protestaktivismus, sich die Verunsicherung der Bevölkerung als Plattform für Mobilisierung und Rekrutierung zu Nutze zu machen, noch kam es zu der Bildung einer "Querfront" zwischen den extremistischen Szenen. 2. CORONAUND POST-CORONA-AGITATION 2.1 Rechtsextremismus Bei Veranstaltungen der Corona-Protestszene bzw. bei sogenannten "Spaziergängen" stand weiterhin überwiegend die staatliche Corona-Politik im Vordergrund. Nach dem Angriff auf die Ukraine fand eine zunehmende Themenverschiebung bzw. Themenüberschneidung hin zum Russland-Ukraine-Krieg und dem daraus resultierenden Anstieg der Energieund Lebenshaltungskosten statt. Angesichts der erwarteten Verschärfung der Corona-Schutzmaßnahmen infolge eines Anstiegs der CoronaInzidenz im Herbst und Winter, gingen rechtsextremistische Szeneakteure insbesondere im virtuellen Raum von einem erneuten Aufflammen des Demonstrationsgeschehens aus. Da eine solche Verschärfung der pandemischen Lage jedoch letztendlich ausblieb und auch das Protestgeschehen nicht wieder an Dynamik gewann, fanden zum Ende des Jahres lediglich vereinzelt Veranstaltungen gegen die verbliebenen Corona-Schutzmaßnahmen statt, an denen rechtsextremistische Akteure teilnahmen. Der "III. Weg" veröffentlichte zu Jahresbeginn auf seiner Internetseite eine bundesweite Zusammenfassung von Corona-Protestveranstaltungen. Dabei wies die Partei darauf hin, selbst nicht als Organisator der jeweiligen Versammlungen bzw. "Spaziergänge" zu fungieren, sich aber "bundesweit an den (Montags-) Protesten" beteiligen zu wollen. Unter dem Slogan "Das System ist gefährlicher als Corona" berichtete der "III. Weg" auf seinem Internetauftritt fortlaufend über seine Agitation gegen die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen. Mit ihrer Berichterstattung wollte die Partei das angebliche Scheitern des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland aufzeigen. In der Folge beteiligten sich auch in Bayern Aktivisten der Partei einzeln oder in Kleingruppen an zahlreichen realweltlichen 41 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Krisenthemen und Extremismus Protestveranstaltungen, häufig auch ohne dabei als Mitglieder des "III. Weg" in Erscheinung zu treten. Über diese Teilnahmen wurde jeweils kurz auf den öffentlichen Telegram-Kanälen der jeweiligen Parteigliederungen berichtet. Überdies verteilten Mitglieder des "III. Weg" themenbezogene Flugblätter, die sich gegen die Corona-Politik richteten. In Franken zeigten einzelne bayerische und außerbayerische NPD-Mitglieder auf nichtextremistischen Kundgebungen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen Transparente, die auf den ersten Blick keine Bezüge zur NPD erkennen ließen. Der Zusammenhang erschloss sich jedoch aus der vorausgehenden Öffentlichkeitsarbeit der NPD und aus ihren Beiträgen in den sozialen Medien. Der NPD-Bundesverband hatte beispielsweise bereits am 22. Dezember 2021 auf "neues Kampagnenmaterial" der NPD-Parteizeitung "Deutsche Stimme" (DS) gegen die Impfpflicht von Kindern hingewiesen. Am 6. Januar beteiligten sich dann Personen mit einem Transparent der besagten DS-Kampagne mit der Aufschrift "Finger weg von unseren Kindern, Nein zur Impfpflicht" an einer Kundgebung von Corona-Maßnahmengegnern in Bamberg. Sämtliche Hinweise auf die DS waren durch angebrachtes Klebeband auf dem Transparent unkenntlich gemacht worden. Informationen aus den sozialen Medien lassen vermuten, dass die Unkenntlichmachung jedoch erst im Verlauf der Kundgebung erfolgte. Bei einer sich fortbewegenden Kundgebung von Corona-Maßnahmengegnern am 22. Januar in Ansbach trugen Teilnehmer ein Transparent mit der Aufschrift "Deutschland gegen den Corona-Wahnsinn". Auch dieses Transparent lässt sich zwar äußerlich und inhaltlich nicht unmittelbar der NPD zuordnen, ist aber Bestandteil der bundesweiten NPD-Kampagne "Deutschland gegen den Corona-Wahnsinn, Zwangsmaßnahmen beenden - Normalität herstellen". Die Nutzung derartiger Banner konnte auch bei anderen Gruppierungen festgestellt werden. Im Telegram-Kanal der dem subkulturellen Rechtsextremismus zuzurechnenden Gruppierung "Kollektiv Zukunft schaffen - Heimat schützen" (KZSHS) erschienen Fotos zu einer Versammlung von Corona-Maßnahmengegnern am 22. Januar in Haßfurt und am 26. Januar in Ebern. KZSHS-Angehörige zeigten dort Transparente mit der Aufschrift "Deutschland gegen den Corona-Wahnsinn" und "Finger weg von unseren Kindern, Nein zur Impfpflicht". 42 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auch Akteure der rechtsextremistischen "Identitären Bewegung" (IB) nahmen 2022 bei Aktionen Bezug auf die Corona-Pandemie und die staatlichen Schutzmaßnahmen. Am 24. Januar entrollten etwa 20 Aktivisten der der IB zuzurechnenden "Isar-Legion" am Münchener Friedensengel ein Banner mit der Aufschrift "Remigration statt Repression - Sichere Grenzen statt Corona-Tyrannei" und zündeten Rauchfeuer. Im Anschluss postete die Gruppierung die Aktion auf dem gruppeneigenen Instagram-Account. Mit der Forderung nach einer "Remigration" griff die "Isar-Legion" im Rahmen der Aktion eine zentrale Argumentationsstrategie der IB auf, die sich durch ein moderates Vokabular von rechtsextremistischen Klischees abzugrenzen versucht. Dabei verknüpft die Gruppierung ihre Forderung mit der staatlichen Corona-Politik und verunglimpft diese als "Tyrannei". 2.2 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates sowie Reichsbürgerund Selbstverwalterszene Aus dem Phänomenbereich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates und der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene ließen sich bei den Protesten in Bayern seit dem Frühjahr 2022 nur noch vereinzelt Aktivitäten feststellen. Mitunter fallen aber Personen, die sich in ihrem Aktivismus Angriff auf Journalist gegen die Corona-Politik radikalisiert haben und bereits verfassungsschutzrelevant in Erscheinung getreten sind, auch nach der Hochphase der Corona-Proteste noch durch Gewaltanwendung auf. Während einer Pressekonferenz des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege am 23. August, bei der für die Corona-Kommunikationsstrategie "Na Sicher" geworben wurde, bedrängte ein Rechtsextremist und Reichsbürger zunächst Medienvertreterinnen und Medienvertreter sowie andere Personen und bezeichnete sie als "Volksverräter" und "Impfterroristen". Die Polizei erteilte dem Störer einen Platzverweis. Kurz nach Beendigung der Veranstaltung suchte der Beschuldigte die Örtlichkeit erneut auf und griff einen Journalisten des Bayerischen Rundfunks an. Dabei äußerte er die Drohung: "Ich bringe Euch alle um." 43 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Krisenthemen und Extremismus Festnahmen Die Rolle von Verschwörungstheorien als Radikalisierungstreiwegen Bildung ber zeigt sich über sämtliche Phänomenbereichsgrenzen hineiner terroristischen weg auch bei Bestrebungen der mutmaßlichen Mitglieder und Vereinigung Unterstützer einer terroristischen Vereinigung, gegen die am 7. Dezember im Rahmen einer bundesweiten Razzia auch in Bayern mehrere Festnahmen erfolgten. Die Exekutivmaßnahmen richteten sich gegen einen Personenzusammenschluss, der überwiegend der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene zuzurechnen ist, aber auch Bezüge in die Phänomenbereiche Rechtsextremismus und verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates aufweist. Im Glauben an Verschwörungsnarrative der Reichsbürgersowie der "QAnon"-Ideologie sollen Mitglieder der Gruppierung seit Ende November 2021 eine gewaltsame Beseitigung des demokratischen Rechtsstaats in Deutschland geplant haben. Zur Erreichung des von der Gruppierung angestrebten "Systemwechsels" sollte durch einen "militärischen Arm" der Vereinigung die geplante Machtübernahme mit Waffengewalt umgesetzt werden. Bei ihren Rekrutierungsbemühungen konzentrierte sich die Vereinigung auch auf Angehörige der Bundeswehr und der Polizei. Durch die enge und umfangreiche Zusammenarbeit unterschiedlicher Sicherheitsbehörden, auch des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz, konnten die Planungen der Gruppierung frühzeitig aufgeklärt und ein Verfahren nach SS 129a StGB eingeleitet werden. 2.3 Linksextremismus Die linksextremistische Szene hat die Existenz der pandemischen Lage grundsätzlich nicht in Frage gestellt, jedoch die Berechtigung und Zielrichtung der staatlichen Maßnahmen szeneintern immer wieder diskutiert. Die Teilnahme von Szeneangehörigen an Protesten gegen die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen blieb jedoch auf wenige Ausnahmen beschränkt. Überwiegend nahm die linksextremistische Szene Maßnahmengegner und deren Protestaktivitäten als "rechts" und somit als "Feinde" wahr, die bekämpft werden müssen. Ab Januar 2021 nahm eine sich selbst als "Freie Linke" (FL) bezeichnende Gruppierung an Demonstrationen gegen die staatlichen Maßnahmen teil. Bereits von Beginn an vermuteten Angehörige der linksextremistischen Szene hinter der FL eine "False-Flag-Operation" (deutsch: Täuschungsmanöver) aus dem aus ihrer Sicht rechtsextremistisch geprägten Spektrum der Corona-Leugner. Nach Ansicht der Szene sollte unter dem 44 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Deckmantel der angeblich linksextremistischen FL der Aufbau einer "Querfront" zwischen Rechtsund Linksextremisten vorangetrieben werden. Da der Kampf gegen "Rechts" bzw. den politischen Gegner den ideologischen Konsens innerhalb der ansonsten sehr heterogen strukturierten linksextremistischen Szene darstellt, widerspricht eine solche "Querfront" fundamental den ideologischen Überzeugungen der allermeisten Linksextremisten. Die Szene distanzierte sich daher zunehmend deutlicher von der FL und in linksextremistischen Veröffentlichungen wurde die FL als Instrument der rechtsextremistischen Szene bezeichnet. Bei den Protesten gegen die Münchener Sicherheitskonferenz 2022 wurden die wenigen Teilnehmer der FL von den anderen linksextremistischen Akteuren an den Rand gedrängt. Bei den verschiedenen Friedensdemonstrationen im Kontext des Russland-Ukraine-Krieges distanzierte sich die linksextremistische Szene ebenfalls stets von der FL und grenzte sich dabei auch räumlich von ihr ab. 2.4 Islamismus und auslandsbezogener Extremismus Realweltliche Protestaktionen gegen die Corona-Politik der Bundesregierung spielten in den Phänomenbereichen Islamismus und auslandsbezogener Extremismus keine nennenswerte Rolle. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema fand allenfalls im digitalen Raum statt. Die überwiegende Mehrheit der islamistischen Szeneakteure bewertet eine Corona-Impfung als "halal" (deutsch: erlaubt). Auch in Medienberichten aufkommende Gerüchte, hier vor allem in Großbritannien, wonach in den Corona-Impfstoffen auch Inhaltsstoffe vom Schwein enthalten sein sollen, konnten sich innerhalb der Szene nicht verfestigen. Im Zusammenhang mit staatlichen Unterstützungsund Subventionsleistungen kam es in Einzelfällen zu mutmaßlichem Betrug durch Angehörige der salafistischen Szene in Deutschland. So wurden zum Beispiel im April und Mai 2020 sowie im November 2022 Durchsuchungsbeschlüsse wegen des Verdachtes auf Subventionsbetrug vollstreckt. Der lokale Schwerpunkt lag bei sämtlichen Maßnahmen in Berlin. Die Durchsuchungen im November betrafen auch Objekte in Bayern. Inwiefern die erlangten Finanzmittel der persönlichen Bereicherung dienten oder auch zur Finanzierung extremistischer oder terroristischer Bestrebungen eingesetzt werden sollten, ist noch nicht abschließend geklärt. 45 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Krisenthemen und Extremismus 3. REAKTIONEN BAYERISCHER EXTREMISTISCHER AKTEURE AUF DIE RUSSISCHE INVASION IN DER UKRAINE 3.1 Rechtsextremismus In weiten Teilen der rechtsextremistischen Szene genießt Wladimir Putin als Gegenspieler des liberalen, demokratischen und freiheitlichen Westens bereits seit langem großes Ansehen. Kernpunkt dieser Überzeugung ist das Narrativ, wonach "westliche Propaganda" und vor allem die USA an den Spannungen zwischen den beiden Staaten und dem nun ausgebrochenen Krieg schuld seien. Zu den Unterstützern Putins zählen beispielsweise Akteure des klassischen Rechtsextremismus, weite Teile der NPD-Anhängerschaft und die Mehrheit der sogenannten "Neuen Rechten". Am entsprechend positiven Russlandbild dieser Akteure hat auch der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen die Ukraine nichts geändert. So heißt es in einer offiziellen Erklärung der NPD vom 24. Februar Die Kriegshetze der NATO hat es nun geschafft, dass die Brudervölker Russen und Ukrainer auf einander schießen[.] In diesem Kontext forderte die Partei [...] den sofortigen Abzug amerikanischer Solda ten aus Europa und die Einstellung aller Kampf handlungen. Pro-russische PosiDer stellvertretende NPD-Bundesvorsitzende Udo Voigt bekuntionierung der NPD dete in einem Artikel vom 26. Februar mit dem Titel "Brücken bauen, statt Brücken einreißen" zwar Bedauern angesichts der Gewalt in der Ukraine, stellt jedoch Russland als wichtigen Partner Deutschlands und Europas dar. "Der Westen", also die USA und deren europäische Verbündete, seien dagegen eine Gefahr für die Freiheit Europas. Ziel müsse es daher sein, Brücken zu Russland für die Zeit nach dem aktuellen Krieg zu errichten. Die NPD nutzt die durch den Russland-Ukraine-Krieg angespannte internationale Lage als Anlass und Projektionsfläche, um ihre anti-westlichen, anti-liberalen und nationalistischen geopolitischen Konzeptionen darzustellen. Kritik an Russland wird, zumindest von offiziellen Parteivertretern, meist nur angedeutet. 46 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 In weitgehender Beibehaltung der Argumentationsmuster aus der Zeit vor Kriegsausbruch sieht die NPD die Hauptverantwortung für den Krieg beim "dekadenten Westen" und dessen Führungsmacht USA. Die "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) gibt in einem Identitäre Bewegung Blogbeitrag vom 5. März an, im Russland-Ukraine-Krieg für keine positioniert sich Seite Partei ergreifen zu wollen. Zu "verworren und vielschichneutral tig" seien die Motive und Interessenlagen in diesem Konflikt. Eine Verurteilung des russischen Angriffskrieges wird abgelehnt. Jedoch begrüßt die IBD in diesem Zusammenhang das angebliche Ende eines "unipolaren Zeitalters der US-Hegemonie" und die Etablierung einer "Gegenerzählung zum liberalen Westimperium". Für die IBD steht außerdem fest: Die größte Bedrohung für die Stabilität und Exis tenz der europäischen Völker ist vom Mittelmeer aus kommend und heißt "Die Migrationswaffe". Martin Sellner führte zu Beginn des Russland-Ukraine-Krieges auf Telegram mehrere Umfragen unter seinen Abonnenten durch, um deren Einstellung zum Konflikt zu erheben. Dabei zeichnete sich eine klare Unterstützung mit bis zu 75 Prozent für die Positionen Russlands ab. Dies dürfte sich in erster Linie aus der Ablehnung der liberalen politischen Systeme und Gesellschaften in den sogenannten "westlichen Staaten" erklären, als deren wichtigster Gegenspieler auf internationaler Ebene Putin in rechtsextremistischen Kreisen glorifiziert wird. Eine signifikante Änderung des IB-Standpunktes zum Russland-Ukraine-Krieg konnte im weiteren Kriegsverlauf bislang nicht festgestellt werden. Das rechtsextremistische "Compact-Magazin" bezieht in seiner Berichterstattung klar eine pro-russische Position. In Ausgabe 3/2022 bewertet der Chefredakteur Jürgen Elsässer in einem kurzen Beitrag mit dem Titel "Warum Krieg gegen Russland?" die Eskalation als einen "False-Flag"-Konflikt, der gezielt durch die USA und die NATO herbeigeführt worden sei. Der russische Staatspräsident Putin sei demnach gezwungen gewesen, auf die NATO-Osterweiterung und einen möglichen NATO-Beitritt der Ukraine zu reagieren. Auch in späteren Ausgaben vertritt das Magazin eine klar pro-russische Linie. Die Ausgabe 4/2022 trug den Titel "Raus aus der NATO! Für einen Friedensvertrag mit Russland". Als Schuldige für den Ukraine-Krieg werden wiederum die USA und die NATO ausgemacht. Während die USA vom Krieg angeblich wirtschaftlich und politisch profitierten, würde Deutschland wirtschaftlich geschwächt und laufe zudem Gefahr, 47 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Krisenthemen und Extremismus Kriegsschauplatz zu werden. Die Ukraine sei von Russland angegriffen worden, weil sie "sich der NATO als Angriffsplattform gegen das Brudervolk zur Verfügung gestellt hatte". Nach Ausbruch des Krieges veröffentlichte das "CompactMagazin" eine Sonderausgabe zum Russland-Ukraine-Krieg mit dem Titel "Feindbild Russland - Die NATO marschiert". Russland wird darin als "natürlicher" Partner Deutschlands dargestellt, während die "angloamerikanische Politik" seit über 100 Jahren versuche, "die Herausbildung einer Achse mit den Ankerpunkten Berlin und Moskau zu verhindern". In Ausgabe 8/2022 wird der amtierende Bundeswirtschaftsminister als "williger Vollstrecker" bezeichnet. Dabei wird ihm unterstellt, im Zuge des Russland-Ukraine-Krieges angeblich einen Plan der "US-Besatzer von 1944/45" zu verfolgen, um Deutschland zu deindustrialisieren und zu verarmen. "Ami-go home"Die Berichterstattung des "Compact-Magazins" lässt eine tiefKampagne sitzende Ablehnung des liberalen Politik-, Wirtschaftsund Gesellschaftsverständnisses der westlichen Welt erkennen. Unter dem Slogan "Ami go home" startete das "Compact-Magazin" eine Kampagne zur Mobilisierung von Protesten. In Leipzig fand am 26. November unter demselben Motto eine maßgeblich durch das "Compact-Magazin" beworbene Demonstration statt. Derartige Versammlungen unter Beteiligung des "CompactMagazins" konnten 2022 in Bayern jedoch nicht festgestellt werden. 48 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Im Gegensatz zu anderen rechtsextremistischen GruppierunPro-ukrainische gen ergreift die neonazistische Kleinstpartei "Der Dritte Weg" Positionierung des (III. Weg) im Russland-Ukraine-Krieg deutlich Partei für die "III. Weg" Ukraine. So berichtete der "III. Weg" bereits zu Beginn des Krieges auf seiner Webseite in einer Art Nachrichtenticker täglich über die Kampfhandlungen in der Ukraine und über pro-ukrainische Unterstützungsaktionen ausländischer und deutscher Aktivisten aus dem rechtsextremistischen Spektrum und aus der Hooligan-Szene. Im Verlauf 2022 ist die Frequenz der Aktualisierungen des Nachrichtentickers jedoch deutlich zurückgegangen und schließlich zum Erliegen gekommen. Der "III. Weg" begründete in einem Artikel auf seiner Webseite vom 25. Februar seine Haltung zum Russland-Ukraine-Krieg aus seiner völkischen Ideologie heraus. Dabei sieht die Partei die Schuld am Kriegsausbruch sowohl bei Russland als auch beim "Westen", insbesondere den USA. Im Kern sei das ukrainische Volk allerdings nicht nur Objekt der Großmächte, "sondern auch ein selbständiger Akteur, der für seine Unabhängigkeit und Souveränität kämpft". Russland unter Putin sei dagegen ein [...] brutalkapitalistisches System, dessen Oligar chen sich maßlos bereichern, während große Teile des Volkes in Armut leben. Die russische "nationale Opposition" werde unterdrückt und verfolgt, gleichzeitig nehme die "Überfremdung des weißen Teils des Vielvölkerstaates" und die "Verherrlichung der Sowjetunion" immer mehr zu: Bei aller berechtigter Kritik am Westen und sei ner Expansion, gegen die wir uns so deutlich wie kaum ein anderer politischer Akteur stellen, darf nicht vergessen werden, dass wir nicht nur einen geopolitischen Konflikt haben, sondern in diesem Moment eine europäische Nation gegen einen imperialen Vielvölkerstaat um ihre Unabhängigkeit und völkischkulturelle Identität kämpft. 49 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Krisenthemen und Extremismus Doch prangert der "III. Weg" in seinen Online-Beiträgen nicht nur die neoimperialistische Politik Russlands an, vielmehr betreibt er auch selbst massiv revisionistische Geschichtsklitterung, indem er die Verteidigung der Ukraine mit dem angeblichen "Präventivangriff" NaziDeutschlands auf die Sowjetunion gleichsetzt. Der "III. Weg" verknüpft seine Berichterstattung zum Ukraine-Krieg und dessen Folgen überdies mit klassischen rechtsextremistischen Themen wie Asylmissbrauch, Antiziganismus, Ausländerkriminalität und Antisemitismus. So hatte die Partei bereits zu Beginn des Krieges gegen die Aufnahme von aus der Ukraine geAntiziganistische flohenen afrikanischen und asiatischen Migranten, darunter auch und antisemitische Flüchtlingen aus anderen Krisengebieten, mit kaum verschleiHetze erter rassistischer Intention agitiert. Am 13. April berichtete der "III. Weg" unter der Überschrift "Asylflut in München: Zigeuner statt Ukrainerinnen" unter Verwendung antiziganistischer Stereotype, dass "Zigeuner" bzw. "Rotationseuropäer" die Situation nutzen würden, um als Kriegsflüchtlinge und Asylsuchende nach Deutschland einzureisen: Weitere Beiträge bedienen antisemitische Stereotype. Im Artikel "Russischer Außenminister Lawrow sorgt mit Behauptung über 'jüdische Nazis' für Empörung in Israel" wird zwar die antisemitische Aussage des russischen Außenministers Lawrow, Hitler habe auch jüdische Wurzeln gehabt, als Verschwörungstheorie vehement zurückgewiesen, doch nutzt der "III. Weg" selbst die Gelegenheit, um antisemitische Stereotype wie die von Juden als "Profiteuren" an Kriegen zu verbreiten. Nach einer zu Kriegsbeginn intensiven Berichterstattung nahm die Zahl der dazu veröffentlichten Beiträge im Verlauf des Jahres 2022 deutlich ab. Die neonazistische Neue Stärke Partei (NSP), die sich wie der "III. Weg" als "nationalrevolutionäre" Kraft versteht, ergreift ebenfalls deutlich Partei für die Ukraine. So postete die Partei am 24. Februar auf Facebook ein Bild mit der Aufschrift "Solidarität mit der Ukraine - Gemeinsam gegen Kommunismus" und führte dazu aus: 50 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Wir stehen nicht hinter Kommunisten und genau so wenig zur kapitalistisch geprägten NATO. Wir, die Neue Stärke Partei, drücken unsere Solidari tät mit dem ukrainischen Volk selbst aus. Es geht um unsere weiße Rasse, um unseren Kontinent und den Ukrainern wird der Krieg um ihr Volk und ihre Souveränität soeben aufgezwungen! Wie der "III. Weg" stellt auch die NSP den Kampf der Ukraine gegen Russland in eine Linie mit dem Krieg Nazi-Deutschlands gegen die Sowjetunion unter Stalin. Gleichzeitig stilisiert die Partei diesen Kampf zu einem angeblichen "Überlebenskampf der weißen Rasse", was deutlich die völkisch-rassistische und neonazistische Ausrichtung der NSP zeigt. 3.2 Reichsbürger und Selbstverwalter Auch in der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter sind überwiegend starke Sympathien für Russland und Putin feststellbar. Szeneakteure arbeiten gezielt daran, das Kriegsgeschehen mit den eigenen bzw. bereits bestehenden Narrativen zu verbinden. So versuchte insbesondere der als Reichsbürger und antisemitischer Verschwörungstheoretiker bekannte Wjatscheslaw Seewald im Rahmen von Veranstaltungen zum RusslandUkraine-Krieg seine von ihm entwickelte extremistische und pro-russische Verschwörungstheorie "Gerussia" zu verbreiten, die eine abgewandelte Variante bzw. Vermischung der beiden Verschwörungstheorien der "jüdischen Weltverschwörung" und des "Bevölkerungsaustauschs" darstellt. Die angeblich bevorstehende Vernichtung des deutschen Volkes könne, so die These Seewalds, nur durch eine Verbrüderung der beiden Staaten Russland und Deutschland abgewendet werden. Aufgrund des Krieges und der aktuellen politischen Situation versucht Seewald, sich unter Berufung auf seine Biographie als angeblichen Russland-Experten darzustellen. So veranstaltete er im Frühjahr 2022 zwei pro-russische Vortragsveranstaltungen im Landkreis Miesbach, bei denen er sich zum russischen Angriff auf die Ukraine positionierte. Bei seinen Vorträgen propagierte Seewald unter dem Motto "Schlachtfeld Ukraine - Krieg zwischen West und Ost" den Krieg in der Ukraine aus Sicht der Russischen Föderation. 51 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Krisenthemen und Extremismus Überdies äußert sich Seewald regelmäßig im Internet zum Russland-Ukraine-Krieg. Auf seinem Telegram-Kanal mit derzeit ca. 8.000 Abonnenten veröffentlicht Seewald in regelmäßigen Abständen entsprechende Beiträge, die den Angriffskrieg gegen die Ukraine verharmlosen und somit eine Form der prorussischen Kriegspropaganda darstellen. 3.3 Linksextremismus Innerhalb der linksextremistischen Szene dominiert die Kritik an der russischen Invasion, die als Bruch des Völkerrechtes verstanden wird. Große Teile der linksextremistischen Anhängerschaft fordern einen sofortigen Waffenstillstand und lehnen gleichsam die militärische Unterstützung der Ukraine sowie das Sondervermögen für die deutsche Bundeswehr ab. Unterschiedliche Bereits vor dem russischen Überfall auf die Ukraine äußerten Positionierung im Linksextremisten offen Kritik an Russland: So könne Russland Ukraine-Konflikt als kapitalistische Großmacht "für uns als Linke niemals Bezugspunkt der Solidarität sein". Weiter heißt es: Der Kern des Problems ist letztlich nicht die Aggression der NATO, sondern der Imperialis mus, der Kriege notwendig macht. Am Tag der russischen Invasion veröffentlichte die postautonome Gruppierung "Interventionistische Linke" (IL) auf ihrer Webseite ein Statement, in dem sie einerseits von einem russischen "Angriffskrieg" spricht, der "niemals gerechtfertigt" sei. Die IL 52 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 sieht jedoch auch eine Verantwortlichkeit für den Krieg bei der Bundesrepublik Deutschland und ihren Bündnispartnern, etwa durch eine angeblich geplante Osterweiterung der NATO. Nach dem 24. Februar solidarisierten sich weitere zahlreiche Akteure der linksextremistischen Szene mit der Ukraine und dem ukrainischen Volk, das sie als Opfer eines als imperialistisch wahrgenommenen Angriffskrieges Russlands betrachten. Doch auch der Europäischen Union, der NATO bzw. den USA wird eine Mitverantwortung für den Krieg zugeschrieben. Das Narrativ der NATO-Osterweiterung als geopolitische Ursache für den russischen Überfall wird von vielen linksextremistischen Organisationen gepflegt. Demgegenüber sprechen sich orthodoxe kommunistische Parteien wie die DKP infolge ihrer "antiimperialistischen" Ausrichtung deutlich gegen Pazifismus und Antimilitarismus aus. Im Kommunismus ist die militärische Gewaltanwendung ein politisches Mittel zur Herbeiführung des "Sieges des Sozialismus". Über die "Legitimität" von Krieg entscheidet aus "antiimperialistischer" Sicht lediglich die Frage, ob dieser den Sozialismus fördert. Daher vertrat das orthodoxe kommunistische Spektrum gegenüber dem russischen Staat, als Nachfolger der kommunistischen Sowjetunion, bis in die jüngste Vergangenheit eine weitgehend unkritische bis positive Haltung. So rief beispielsweise die DKP am Vormittag des 26. Februar im Rahmen einer Demonstration in München zur Solidarität mit Putin auf und positionierte sich gegen den vermeintlichen "Imperialismus" der NATO. Der russische Angriff wird seitens der Partei als Verteidigungshandlung gegen eine angebliche, von der NATO und dem Westen gesteuerte ukrainische Aggression gerechtfertigt. Die autonome linksextremistische Szene diskutiert die Situation in der Ukraine zwar kritisch, sieht sie aber vorrangig als Chance, um mit gesellschaftlich anschlussfähigen Positionen neue Anhänger und Sympathien zu gewinnen sowie zivilgesellschaftliche Diskussionen im Sinne der eigenen, linksextremistischen Ideologie zu beeinflussen. Dementsprechend wird der RusslandUkraine-Krieg in linksextremistische Erklärungsmuster eingepflegt und als eine Auseinandersetzung zweier imperialistischer und neokolonialistischer Blöcke bewertet. In den Wochen nach Kriegsbeginn positionierten sich große Teile Kampagne gegen der linksextremistischen Szene zudem gegen die von der BunBundeswehr und desregierung angekündigte Aufrüstung der Bundeswehr und Rüstungsindustrie 53 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Krisenthemen und Extremismus die Waffenlieferungen an die Ukraine. Unter dem Schlagwort "Antimilitarismus" lehnt insbesondere das autonome und anarchistische Spektrum Militär und Krieg als "kapitalistische Instrumente" in Gänze ab. Der "Antimilitarismus" der autonomen und anarchistischen Szene richtet sich im Wesentlichen gegen die Bundeswehr und die in der Bundesrepublik stationierten NATOStreitkräfte. Am 3. April veröffentlichten Szeneangehörige auf de.indymedia. org einen Beitrag zum Thema "Rüstungsindustrie angreifen! Vorstellung einer Informationsplattform". In dem Artikel wird unter dem bekannten linksextremistischen Motto "Der Krieg beginnt hier!" auf die Internetplattform ruestungsindustrie.noblogs.org hingewiesen. Ziel der Seite sei es "Informationen über die Rüstungsunternehmen, ihre Finanziers, Zulieferer, Lobby und Co. zu veröffentlichen" und Personen, die Sabotageaktionen an Rüstungsunternehmen planen, mit nützlichen Informationen zu versorgen. In der Folge kam es bundesweit zu Angriffen auf Rüstungsfirmen und ihre Zulieferer. Im Mai wurde überdies ein Funkmast der Deutschen Bahn AG angegriffen. Im zugehörigen Bekennerschreiben heißt es, das Unternehmen sei "Teil der Kriegslogistik in Europa". Im Juni wurden einem Bekennerscheiben auf de.indymedia.org zufolge in München bereits linksextremistisch motivierte Anschläge auf Unternehmen der Rüstungsbranche verübt. Hier ist mit weiteren Aktionen zu rechnen, die sich aber nach gegenwärtigem Stand auf Sachbeschädigungen konzentrieren dürften. Ebenso sind Aktionen gegen Einrichtungen der Bundeswehr und der in Bayern stationierten NATO-Streitkräfte nicht ausgeschlossen. In der Gesamtschau verliefen die Proteste der linksextremistischen Szene im Kontext des Russland-Ukraine-Krieges bislang ohne größere Störungen und Straftaten, jedoch sind linksextremistische Aktionen und Ausschreitungen künftig nicht auszuschließen. Insbesondere die Einrichtung der Webseite ruestungsindustrie.noblogs.org, die zur Sammlung von Daten zu deutschen Rüstungsunternehmen aufruft, lässt auch eine quantitative und qualitative Zunahme der Proteste gegen Rüstungsunternehmen und ihre Zulieferfirmen erwarten. 54 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 3.4 Islamismus Den unterschiedlichen Reaktionen der deutschsprachigen und auch in Bayern zu verortenden islamistischen Szene ist keine klare Parteinahme für einen der Konfliktbeteiligten zu entnehmen. Antiukrainische Äußerungen, u. a. auf Basis antisemitischer Positionierungen gegenüber dem ukrainischen Präsidenten, sind dabei genauso feststellbar wie antirussische Stimmen, die sich beispielsweise auf das als islamfeindlich kritisierte Vorgehen Russlands, etwa im syrischen Bürgerkrieg, beziehen. Die Mehrzahl der Szeneangehörigen begrüßt aber den grundsätzlichen Umstand, dass sich im vorliegenden Konflikt "ungläubige" Kriegsparteien gegenüberstehen und gegenseitig bekämpfen. Öffentliche Aufrufe zur Ausreise in die Ukraine und zur Teilnahme an Kampfhandlungen sind nur vereinzelt festzustellen. Konkrete Handlungsaufrufe beschränken sich auf einzelne User in Sozialen Medien sowie internationale ISund al-Qaida-nahe Propagandastellen, die Jihadisten dazu auffordern, die Situation in der Ukraine gezielt für die Vorbereitung terroristischer Anschläge zu nutzen oder durch die Begehung von Einzeltäterangriffen in Westund Osteuropa den "Kreuzzüglerstaaten" Schaden zuzufügen. Ergänzend rufen islamistische Organisationen und Akteure dazu auf, Vorurteile gegenüber ukrainischen Geflüchteten zu verbreiten, um das soziale Miteinander zu schädigen. Mit den unterschiedlichen Strategien und Vorwürfen soll der "ungläubige" Westen letztlich nachhaltig destabilisiert und damit die Expansion des "wahren Islam" ermöglicht werden. In sozialen Netzwerken und Messenger-Diensten zogen AngeVorwurf der Doppelhörige der islamistischen und salafistischen Szene immer wieder moral auch den Vergleich zum syrischen Bürgerkrieg. Sie warfen "dem Westen" vor, seinerzeit keine Forderungen an den russischen Präsidenten Wladimir Putin zum Rückzug seiner Truppen gestellt zu haben, als diese die Streitkräfte des syrischen Machthabers Bashar al-Assad militärisch unterstützten. Der Grund wird darin gesehen, dass den "Ungläubigen" das Leid und "Blut" von muslimischen Menschen egal sei. Die deutschsprachige Islamisten-Szene konzentriert sich unter Verweis auf die Flüchtlingsbewegung aus Syrien im Jahr 2015 zudem auf den Vorwurf einer angeblichen Doppelmoral, Heuchelei und "rassistischen" Islamfeindlichkeit "des Westens" hinsichtlich des Umgangs mit Flüchtlingen. 55 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Krisenthemen und Extremismus Das deutsche jihadistische Szeneorgan "inews" behauptete etwa auf Instagram, unter den ukrainischen Geflüchteten befänden sich "[viele] extreme Rassisten". Online kursierende, nicht verifizierbare Videos und Berichte, wonach nicht-weiße Personen an der Ausreise aus der Ukraine gehindert würden, wurden als Belege für eine vorgeblich islamfeindliche "Zwei-KlassenFlucht" herangezogen. Die der islamistischen "Hizb ut-Tahrir" (HuT) nahestehende Online-Initiative "Realität Islam" (RI) erklärte ebenfalls, dass sich in der aktuellen Situation erneut zeige, wie "europäische Staatsführer auf Muslime herabblicken und wie tief der toxische Rassismus in ihnen verankert" sei. Die salafistische Online-Szene reagierte zudem auf die vom russischen Präsidenten Putin verhängte Teilmobilmachung im September und die damit verbundene Einberufung von Reservisten aus der muslimisch geprägten russischen Teilrepublik Dagestan. Ihrer Ansicht nach habe es sich um eine systematische Einberufung von Muslimen gehandelt. Die Glaubensbrüder, so ihre Vermutung, würden gezielt als "Kanonenfutter" in einem Krieg zwischen "Ungläubigen" eingesetzt. 56 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auch die ebenfalls der islamistischen HuT nahestehende Online-Initiative "Generation Islam" (GI) thematisierte die Mobilmachung muslimischer Minderheiten. Sie kritisierte, dass der russische Staat die muslimischen Werte nicht respektiere. GI berichtete von einem Vorfall, bei dem ein russischer Kommandeur seine zwangseingezogene Einheit diffamiert und erklärt haben soll, beim Krieg gegen die Ukraine handle es sich um einen "heiligen Krieg" und Allah sei ein "Feigling", wenn er die Teilnahme am Krieg nicht gestatte. In der darauffolgenden Auseinandersetzung zwischen dem Kommandeur und seiner Einheit seien 30 Soldaten getötet worden. Vor diesem Hintergrund projiziert GI die Situation der Muslime in den russischen Teilrepubliken auf die muslimische Gemeinschaft weltweit und interpretiert den Vorfall als offene Beleidung gegenüber allen Gläubigen. Dabei dient die Instrumentalisierung dieser Ereignisse vorrangig der Polarisierung sowie der Selbstdarstellung von GI als Sprachrohr der "Unterdrückten". Der Russland-Ukraine-Krieg wird von islamistischen und salafistischen Stimmen immer wieder als Folge eines übersteigerten Nationalbewusstseins bzw. eines westlichen Nationalismus beschrieben. Diesem wird im propagandistischen Umkehrschluss die "Umma" (deutsch: "Gemeinschaft aller Musliminnen und Muslime") als vorgeblicher Lösungsund Heilsweg gegenübergestellt. Die Unterstützung der russischen Armee durch die teils streng muslimisch bis islamistisch geprägten Kampfverbände des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow wird vor diesem Hintergrund, mit Verweis auf die militärische Unterstützung Putins für den syrischen Machthaber Assad, größtenteils kritisch und vereinzelt als Verrat an der muslimischen Gemeinschaft gewertet. 57 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Krisenthemen und Extremismus Bernhard Falk, vormals Linksextremist und heute Hauptakteur der salafistischen Gefangenenbetreuung in Deutschland, positioniert sich dezidiert pro-russisch. Nach seiner Darstellung hätten die selbsterklärten Volksrepubliken Luhansk und Donezk um die militärische Hilfe Russlands gebeten, "um die andauernde Aggression der von der NATO hochgerüsteten westlichen Kräfte abzuwehren". Am 2. März bezeichnete er den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auf Twitter als ">Präsident< der NATO-EU-Marionettenregierung [...]; jüdischer Herkunft und enger Verbündeter der Zionisten !!!" Falk bedient weiterhin das Narrativ einer von der NATO hochgerüsteten, durch US-Marionetten gesteuerten Ukraine, gegen die sich Russland verteidigen müsse. Auch sei die russische Armee weiter auf dem Vormarsch, die Erfolge der Ukraine seien lediglich Ausfluss einer anti-russischen Medienkampagne. Putin-kritische Stimmen konnten hingegen in Form von Instagramund Telegram-Beiträgen mit historischen Verweisen auf die islamfeindliche Politik zu Zeiten der Sowjet-Herrschaft festgestellt werden. Dezidiert antirussisch äußerten sich auch Protagonisten aus dem Kreis der jihadistischen Terrororganisation "Hai'at Tahrir al-Sham" (HTS). Ende Oktober wurde bekannt, dass der ehemalige Anführer der tschetschenisch dominierten JihadistenMiliz "Ajnad al-Qauqaz" (auch: "Ajnad Kavkaz") mit etwa 25 Kämpfern in der Ukraine angekommen war, um sich dort am Kampf gegen Russland zu beteiligen. Der "Ajnad al-Qauqaz" geht es bei der Teilnahme an den Kampfhandlungen auf Seiten der Ukraine vermutlich vor allem um Vergeltung für die Tschetschenienkriege. Tschetschenische Freiwillige kämpfen seit Kriegsbeginn in verschiedenen Verbänden der regulären ukrainischen Streitkräfte. 58 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 3.5 Auslandsbezogener Extremismus Im auslandsbezogenen Extremismus sind nur wenige und vergleichsweise verhaltene Reaktionen auf das Kriegsgeschehen festzustellen. Wichtigstes Thema bildet der grundsätzliche Vorwurf einer militärisch forcierten Imperialismus-Politik, der sich sowohl gegen Russland als auch gegen westliche Staaten und die NATO richtet. Thematisch dominiert die (auch im Islamismus vorherrschende) Kritik an einer angeblichen Ungleichbehandlung von Flüchtlingen aus der Ukraine im Vergleich zu solchen aus anderen Kriegsund Krisenregionen, geknüpft an den Vorwurf einer "NATO-Doppelmoral". Ebenso wird in den Äußerungen türkischer Linksextremisten und der Anhängerschaft der PKK der humanitäre Aspekt und die Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung in den Fokus genommen. Zu den in pro-kurdischen extremistischen Kreisen beobachteten Reaktionen gehören diverse Veranstaltungshinweise und Solidaritätsbekundungen gegenüber dem ukrainischen Volk sowie die Beteiligung des PPK-nahen "Medya Volkshauses e. V." am "antimilitaristischen Block" der diesjährigen Demonstration zum "Revolutionären 1. Mai" in Nürnberg ("Gegen Putins Krieg in der Ukraine! Gegen Erdogans Krieg in Kurdistan!"). Auch auf Seiten des türkischen Linksextremismus überwiegt u. a. in Bayern die Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung. Gleichsam werden rege Diskussionen über die kritische Rolle Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, der NATO und der USA als "Kriegstreiber" und ein vermeintliches Fehlverhalten der Ukraine geführt, im Zuge derer teils Verständnis für das Vorgehen Russlands geäußert wird. Ähnlich heterogen gestalten sich die Reaktionen türkischer Rechtsextremisten, wobei unter Ülkücü-Anhängern der diplomatische Bedeutungszuwachs Erdogans als Vermittler zwischen den beiden Kriegspartien mit deutlicher Genugtuung aufgenommen wird. 59 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Krisenthemen und Extremismus 4. ENERGIEKRISE, RESSOURCENKNAPPHEIT, LEBENSMITTELVERSORGUNG UND INFLATION 4.1 Rechtsextremismus, Reichsbürger und Selbstverwalter, Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates Sowohl im Bereich Rechtsextremismus als auch in der Szene der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates wurde vor allem für den Herbst und Winter zu Demonstrationen, u. a. gegen die neuerlichen Preissteigerungen aufgrund des Russland-Ukraine-Krieges, aber auch gegen die teilweise noch immer geltenden Corona-Schutzmaßnahmen aufgerufen. Jedoch konnten in diesem Zeitraum nur vereinzelt Rechtsextremisten und Personen aus dem Bereich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates sowie der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene bei Demonstrationsveranstaltungen zu den Themen Inflation und Energiesicherheit festgestellt werden. VerschwörungstheoIn der Agitation werden die gestiegene Inflation und die Unsirie "Great Reset" cherheit in der Energieversorgung in verschwörungstheoretischer Weise als Teile eines angeblichen Plans politischer Eliten dargestellt. Als Aufhänger dient hierzu häufig die Verschwörungstheorie des "Great Reset". Dabei handelt es sich ursprünglich um eine Initiative des Weltwirtschaftsforums aus dem Jahr 2020, welche die Herausforderungen der Pandemie als potenziellen Impulsgeber für eine nachhaltigere Neugestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft und den Abbau globaler Ungleichheit betrachtet. In verschwörungstheoretischen Darstellungen wird diese Initiative als "globalistisches" Projekt bezeichnet, das darauf abziele, durch die Erzeugung multipler Krisen die Menschen zu enteignen, die Souveränität der Nationalstaaten abzuschaffen und eine übermächtige Weltregierung - teilweise auch unter Bezugnahme auf eine jüdische "Finanzelite" - zu errichten. Die dem subkulturellen Rechtsextremismus zuzurechnende bayerische Gruppierung "Kollektiv Zukunft Schaffen - Heimat Schützen" (KZSHS) veröffentlichte in diesem Zusammenhang bereits am 25. Mai einen Beitrag auf Telegram, in dem wie folgt ausgeführt wird: 60 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Blickt man nun auf die großen Krisen, so muss man leider feststellen, dass alle bewusst insze niert und gesteuert sind, inklusive des Ukrai neRussland Krieg [sic!]. Darunter leiden werden wieder ausschließlich wir einfache [sic!] Men schen. Man wird durch diese Krisen weltweit ohne Rücksicht auf Menschenleben die Völker weiter knechten und entrechten und notfalls auch vor einem dritten Weltkrieg nicht haltma chen, wenn es ihrer Agenda dient. [...] Jeder nor mal denkende Mensch muss hier ganz klar den perversen Plan erkennen. Rechtsextremistische Akteure befeuern zudem VerteilungsBefeuerung von ängste, indem sie die durch den Russland-Ukraine-Krieg gestieVerteilungsängsten genen Lebenshaltungsund Wohnnebenkosten als Folge der Migration darstellen und Massenabschiebungen als Sparmaßnahme fordern. Ein Beispiel hierfür ist eine in der Nacht vom 1. August in München durchgeführte Aktion der "Isar Legion", einer Ortsgruppe der "Identitären Bewegung" (IB). Aktivisten bestiegen das Baugerüst eines Neubauprojektes im Münchener Werksviertel, entrollten ein Banner mit der Aufschrift "Abschieben schafft Wohnraum" und entzündeten Bengalfackeln. Im Nachgang berichtete die "Isar Legion" auf ihrem gleichnamigen Instagram-Kanal über die Aktion. Inhaltlich bezieht sich der Beitrag auf die aktuell hohen Lebenshaltungskosten und konstruiert einen Zusammenhang zwischen dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum in München und dem Zuzug von Asylsuchenden. Ebenfalls im August startete die Partei "Der Dritte Weg" (III. Weg) die Kampagne "Die wahre Krise ist das System". Die Kampagne thematisiert die herrschende Inflation, insbesondere die steigenden Lebensmittelund Energiepreise, für die jedoch nicht der Russland-Ukraine-Krieg, sondern das liberale kapitalistische Wirtschaftssystem verantwortlich gemacht wird. Auf ihrer Webseite veröffentlichte die Partei hierzu ein wirtschaftliches "Sofortprogramm des Deutschen Sozialismus", welches auf den ideologischen Grundsätzen der Partei basiert. Am 20. September fand in Schwandorf eine Kundgebung unter dem Motto "Nicht frieren für unsinnige Politik, sofortige Friedensverhandlungen mit Russland; Energieund Gaskrise sofort 61 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Krisenthemen und Extremismus beenden, Inflation beenden, stabile Währung schaffen, Preisexplosion stoppen, Aufhebung jeglicher Impfpflicht; Schluss mit allen Corona-Maßnahmen" statt. Unter den rund 500 Teilnehmern konnten auch mehrere Personen der rechtsextremistischen Kameradschaft "Bollwerk Oberpfalz" festgestellt werden, die zum Teil durch szenetypische Kleidung, u. a. mit der Aufschrift "Bollwerk", auffielen. Darüber hinaus nahm der rechtsextremistische Internetaktivist und stellvertretende NPD-Landesvorsitzende Patrick Schröder an der Veranstaltung teil. Auch mehrere Mitglieder der NPD beteiligten sich an Demonstrationen zu den Themen Inflation und Energiesicherheit. Bei einer Veranstaltung in Ansbach am 26. November, an der auch der bayerische Landesvorsitzende der Partei teilnahm, wurde der Demonstrationszug von mehreren der NPD zuzuordnenden Bannern angeführt. Da die Parteilogos zuvor entfernt wurden, war der Bezug zur Partei jedoch nicht auf den ersten Blick erkennbar. Das mitgeführte Transparent mit der Aufschrift "Kriegstreiber stoppen" war bereits am 28. August 2021 bei einer NPD-Protestaktion in Ansbach gezeigt worden, damals allerdings mit dem Symbol der NPD. Wie bereits bei Veranstaltungen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen im vergangenen Winter versuchen rechtsextremistische Szeneangehörige mittels der Teilnahme an bürgerlichen Demonstrationsveranstaltungen auch weiterhin, eine breitere Anschlussfähigkeit zu den übrigen Demonstrationsteilnehmern herzustellen. Insbesondere im virtuellen Raum äußern Rechtsextremisten die Hoffnung auf heftige Proteste. Dabei gehen sie davon aus, dass die Themen Inflation und Energiesicherheit insgesamt ein hohes Mobilisierungspotenzial und Anknüpfungspunkte für rechtsextremistische Agitation bieten. Ein Beispiel hierfür stellt ein am 25. Juli vom bayerischen Rechtsextremisten Patrick Schröder auf seinem YouTube-Kanal "FSN - The Revolution" veröffentlichtes Video mit dem Titel "FSN Politik-Spezial CIII - Juli 2022 (Inflation/Energiekrise/Demo-Winter, "Layla", Ukraine uvm.)" dar. In dem rund einstündigen Beitrag wird eine derzeit vorherrschende Krisenlage, bestehend aus dem Inflationsanstieg, der Energieund Gaskrise sowie der Corona-Pandemie, ausgemacht und gemutmaßt, dass sich aus dieser Gemengelage im Herbst die "größte Demolage aller Zeiten" ergeben könne. 62 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 In der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter beschränken sich Reaktionen und Aktivitäten in Bezug auf die Auswirkungen des Russland-Ukraine-Krieges in Bayern auf Einzelpersonen. Aktionen, die bundesweit agierenden Reichsbürger-Gruppierungen zurechenbar sind, konnten in Bayern zu diesem Themenkomplex in 2022 nicht festgestellt werden. Auf einem von einem Reichsbürger betriebenen Telegram-Kanal wird in einer Sprachnachricht vom 30. August u. a. die aktuelle Energiekrise thematisiert. Dabei beschreibt der Kanalbetreiber eingangs, dass die deutschen Politikerinnen und Politiker nicht vom Volk gewählt seien. Stattdessen seien diese bewusst ausgewählt worden, um angeblich bereits lange geplante Vorhaben umzusetzen. Diese Vorhaben sollen dazu beitragen, dass "alles" zerstört werde. Konkret heißt es hierzu: Es wird richtig rappeln im Karton. Es wird eine Energieknappheit kommen." [...] Jetzt sehen wir die Vollendung des Plans. 4.2 Linksextremismus Vor allem seit September ist zu beobachten, dass die linksextremistische Szene versucht, sich die starken Preissteigerungen und den damit verbundenen Unmut der Bevölkerung für ihre Agitation zunutze zu machen. Dennoch blieb ein auch von Linksextremisten angekündigter "Heißer Herbst" aus. Trotz zahlreicher Protestaufrufe ist es der Szene nicht gelungen, das erhoffte Protestpotenzial außerhalb der eigenen Szene zu mobilisieren. So beteiligten sich am 3. Oktober an einer Demonstration der autonomen Gruppierung "Organisierte Autonomie" (OA) in Nürnberg, die unter dem Motto "Preise runter! - Einkommen rauf!" stattfand, lediglich 20 Szeneangehörige. Auch die linksextremistischen Teilnehmerzahlen bei Protestveranstaltungen nichtextremistischer Akteure blieben in Bayern hinter den Erwartungen der Szene zurück. Bei den bisherigen Veranstaltungen gelang es der Szene nicht, die Veranstaltungen deutlich sichtbar zu beeinflussen oder innerhalb der Proteste Anschluss an zivilgesellschaftliche Akteure herzustellen. Bei einer Verschärfung der wirtschaftlichen Situation ist nicht auszuschließen, dass die linksextremistischen Proteste im Jahr 2023 an Zulauf gewinnen. 63 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Krisenthemen und Extremismus 4.3 Islamismus Mögliche Stromausfälle und gestiegene Lebenshaltungskosten wurden innerhalb der islamistischen Szene in Deutschland im Berichtszeitraum zwar thematisiert, nahmen aber nur eine untergeordnete Rolle ein. Der aus Nordrhein-Westfahlen stammende salafistische Prediger Abdelilah Belatouani alias Abu Rumaisa veröffentlichte auf Instagram diverse Stories und behauptet u. a., dass bei einem "Blackout" Sicherheitskräfte nur noch "die Eliten" schützen würden. In der darauffolgenden Anarchie wären die Muslime die ersten Opfer, sollten sie bis dahin nicht bereits ausgewandert sein oder sich selbst um ihre Sicherheit gekümmert haben. Dies knüpft inhaltlich an das klassisch-islamistische Opfernarrativ einer islamfeindlichen deutschen Mehrheitsgesellschaft an, das sich auch in den Aussagen von "Generation Islam" und "Realität Islam" im Zusammenhang mit dem Russland-Ukraine-Krieg niederschlägt. 64 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 5. NACHRICHTENDIENSTLICHE SPIONAGE-, SABOTAGEUND DESINFORMATIONSAKTIVITÄTEN Mit Beginn des russischen Invasionskrieges und spätestens mit Inkrafttreten der westlichen Sanktionen gegen Russland wurde auch eine Zunahme von Aktivitäten russischer Nachrichtendienste und pro-russischer (Cyber-) Akteure befürchtet. Als Reaktion auf die Ausweisung von 40 russischen Diplomaten aus Deutschland Anfang April 2022 ist davon auszugehen, dass die Russischen Nachrichtendienste im Ausland künftig weniger über Legalresidenturen, sondern eher vermehrt über andere Kanäle agieren, wie z. B. Reisende oder Illegale, die schwieriger zu identifizieren sind. Drohnenüberflüge in Zusammenhang mit militärischen Einrichtungen in Deutschland offenbarten bislang keine hinreichenden Verdachtsmomente für eine staatliche oder nachrichtendienstliche Steuerung. Im Cyberraum positionieren sich derzeit zahlreiche nicht staatlich Pro-russischer und gesteuerte Gruppierungen, deren Angriffe unter der Überschrift pro-ukrainischer "Hacktivismus" zusammengefasst werden, entsprechend ihrer "Hacktivismus" ideologischen Verortung entweder pro-russisch oder pro-ukrainisch. Nennenswerte Auswirkungen oder gar Schäden haben die zurückliegenden Angriffe dieser Akteure, auch wenn sie beim anvisierten Ziel ankamen, bislang nicht verursacht. Russland bewertet die "Hacktivisten-Angriffe" auf russische Infrastruktur und Unternehmen mit russischen Bezügen als vom Westen orchestriert. Die fortwährenden Aktionen von pro-russischen Gruppierungen wie zum Beispiel Killnet, die zuletzt verstärkt die Webseiten deutscher Behörden angegriffen haben, bleiben insgesamt ohne nennenswerte Auswirkungen. Die technischen Möglichkeiten von Killnet werden von deutschen Sicherheitsbehörden als niedrig eingeschätzt, gängige Abwehrmaßnahmen schützen bislang zuverlässig vor den Angriffen. Insgesamt hat sich die Bedrohungslage durch Cyberangriffe seit Verschärfte BedroAusbruch des Russland-Ukraine-Krieges dennoch verschärft. hungslage Vor allem deutsche Betreiber Kritischer Infrastruktur (KRITIS) laufen Gefahr, sowohl Opfer sogenannter "Kollateralschäden" der Kriegsparteien als auch Opfer gezielter Angriffe staatlicher und/oder sympathisierender nichtstaatlicher Akteure zu werden. 65 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Krisenthemen und Extremismus In diesem Zusammenhang stellen sich Cyberangriffe gegen KRITIS-Einrichtungen bislang als Ansammlung kleinerer und unzusammenhängender Vorfälle dar, die ohne nennenswerte Auswirkungen blieben. Gezielte Angriffe ausländischer Nachrichtendienste gegen bayerische KRITIS-Einrichtungen hat das Cyber-Allianz-Zentrum Bayern (CAZ) im Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz bisher nicht beobachtet. Russische Pro-Russland-Propaganda verbreitete die früher in Landshut "Warfluencerin" wohnhafte Russin und "Warfluencerin" Yulia P. über ihren TeleYulia P. gram-Kanal "Deutschland in der Ich-Perspektive" (90.000 Follower, russisch: "Germanija ot pervogo lica"). In ihren Videos verfolgt und beschimpft P. u. a. ukrainische Passantinnen, fordert in Deutschland lebende Russinen und Russen gezielt zur Energieverschwendung für russische Profite auf und feiert Aufnahmen russischer Raketenangriffe auf die Ukraine. Auch Propaganda-Auftritte im russischen Fernsehen absolvierte P. bereits. So trat sie beispielsweise per Videoschalte im russischen (Staats-)Fernsehen "Perwy Kanal" in der Sendung "Anti-Fake" ("Gegen Falschinformation") auf. In dem mehrminütigen Video-Interview, das sehr wahrscheinlich in ihrer Wohnung in Landshut aufgezeichnet wurde, trägt P. einen pinkfarbenen Wintermantel mit Kapuze. Auf Nachfrage des Moderators erklärt sie der russischen TV-Öffentlichkeit wahrheitswidrig, sie müsse in Deutschland frieren, da der Heizungsboiler noch nicht warmgelaufen sei, und niemand könne in Deutschland derzeit die Heizung den ganzen Tag laufen lassen. Bei den Studiogästen und dem russischen Moderator sorgte die Erklärung für schadenfrohe Gesichter. Die Staatsanwaltschaft Landshut ermittelt wegen Billigung von Straftaten gegen P. Bereits im Oktober führte das Polizeipräsidium Niederbayern eine Durchsuchung in ihren Wohnräumen durch. P. wird vorgeworfen, den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zu befürworten und zu verherrlichen. 66 Krisenthemen und Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 In den sozialen Medien kursierten kurze Zeit später Falschmeldungen, wonach P. Ende November aus Deutschland ausgewiesen worden sei. Diese Falschmeldungen wurden vermutlich bewusst von pro-russischen Akteuren gestreut, um ein Opfernarrativ zu inszenieren. Auch die bekannte Pro-Putin-Propagandistin Alina Lipp (Telegramkanal: Neues aus Russland, 182.000 Follower) griff dieses Opfernarrativ in ihren Telegram-Posts auf und trivialisierte dabei gezielt die Aktionen der P. ("Russische Bloggerin, [...] die Kalinka tanzte"). Die zielgerichtete Inszenierung und Streuung solcher Falschmeldungen und der damit verbundene Versuch der Einflussnahme auf die Meinungsbildung der Öffentlichkeit belegt einmal mehr, dass Kriegsführung nicht mehr allein militärische Bereiche umfasst, sondern auch über niedrigschwellige, zivile Strukturen erfolgt. Yulia P. hat Deutschland mittlerweile freiwillig verlassen. Medienberichten zufolge hetzt sie seither von Moskau aus gegen Deutschland. Am 20. Januar wurde P. vor dem Amtsgericht Landshut in Abwesenheit in insgesamt 11 Fällen zu einer Geldstrafe von insgesamt 11.400 Euro sowie einer Haftstrafe von 10 Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt. 67 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus Islamismus " "TikTokisierung" islamistischer Propaganda " Salafistische Netzwerke diffamieren staatliche Präventionsarbeit " IS verlagert seinen Schwerpunkt auf den afrikanischen Kontinent 68 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Der Islam als Religion und seine Ausübung werden nicht vom Verfassungsschutz beobachtet. Dem gesetzlichen Beobachtungsauftrag unterliegen jedoch islamisch-extremistische (Kurzform: islamistische), d. h. religiös-politisch motivierte Organisationen und Einzelpersonen mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen. Islamismus ist ein Überbegriff für eine Vielzahl von unterschiedlichen (Teil-)Strömungen, wie beispielsweise den Salafismus. Als Gemeinsamkeit dieser Strömungen lassen sich folgende Kernelemente des Islamismus herausstellen: - Der Islam ist nicht allein Glaube und Ethik, sondern begründet eine alles umfassende Lebensform, die auf Koran und Sunna (Überlieferung der Reden und Taten des Propheten) basiert. - Die Muslime bilden eine religiöse und politische Einheit (panislamische Zielsetzung). - Die Scharia (hier als islamisches Gesetz definiert) stellt ein politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip dar. - Koran und Sunna haben "Verfassungsrang" und verbindliche Vorbildfunktion für politisches Handeln und einen zukünftigen "islamischen Staat". 69 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus Diese Zielsetzungen widersprechen den im Grundgesetz garantierten Freiheitsund Menschenrechten und sind daher extremistisch. Islamistische Bestrebungen sind darüber hinaus verfassungsund integrationsfeindlich. Dem terroristischen Spektrum zugehörige Personen stellen überdies unverändert eine große Gefahr für die Innere Sicherheit Deutschlands dar. Sie verfolgen das Ziel, weltweit eine totalitäre islamistische Gesellschaftsordnung zu errichten. Dabei berufen sie sich auf die vermeintliche Pflicht der muslimischen Weltgemeinschaft, sich gegen westliche, d. h. "ungläubige" Einflüsse zu "verteidigen", und rufen zur Teilnahme am gewalttätigen Jihad auf. 70 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 1. PERSONENPOTENZIAL IN BAYERN Islamistischen Vereinigungen werden in Bayern seit mehreren Jahren rund 4.200 Personen zugerechnet. Zu den mitgliederstärksten Gruppierungen beziehungsweise Strömungen zählt nach wie vor, neben der "Milli Görüs-Bewegung" (etwa 2.900 Personen), der Salafismus. Nach einem kontinuierlichen Anstieg ab 2013 von 550 auf 770 Personen zum Jahresende 2019 sank das salafistische Personenpotenzial in Bayern seitdem auf 690 zum Jahresende 2022. Von diesen 690 Personen waren circa 18 Prozent dem gewaltorientierten Spektrum zuzuordnen. 2. ALLGEMEINES 2.1 Strömungen im Islamismus Bei islamistischen Bestrebungen in Deutschland gilt es, grundsätzlich zwischen den verschiedenen Strömungen und deren Einstellung zur Gewalt zu unterscheiden: - Legalistischer Islamismus: Ihm zuzurechnende Organisationen wie die "Muslimbruderschaft" (MB) mit ihren verschiedenen Abspaltungen versuchen, innerhalb der bestehenden Rechtsordnung ihre langfristigen Ziele und gesellschaftspolitischen Vorstellungen durch strategische Einflussnahme auf das politische System, Verbände und Parteien sowie auf die muslimische Gemeinschaft in Deutschland umzusetzen. - Salafismus: Diese aus dem Wahhabismus des 18. Jahrhunderts hervorgegangene Strömung beruft sich als gleichsam fundamentalistische islamistische Ideologie und moderne extremistische Gegenkultur auf einen vermeintlich unverfälschten "Ur-Islam" des 7. Jahrhunderts. - Schiitischer Islamismus: Dieser ist eng mit der Iranischen Revolution von 1978/79 verknüpft und heute insbesondere in Iran, Libanon und Irak verbreitet. Schiitisch-islamistische Organisationen wie die libanesische "Hizb Allah" treten in ihren Heimatstaaten militant in Erscheinung und nutzen Deutschland zugleich als Rückzugsraum sowie für Spendensammlungen und Mitgliederwerbung. Die Strömungen des legalistischen Islamismus interpretieren Legalistischer die religiösen Normen des Islam politisch und legen sie so aus, Islamismus dass ein konfliktfreies Zusammenleben mit Andersdenkenden unmöglich erscheint. Sie bestehen auf einer strengen Lesart des Korans, der unabhängig von Zeit und Ort für alle Menschen gültig sei und dessen Inhalte und Weisungen, die im islamischen Recht 71 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus ihren Niederschlag gefunden haben, nicht relativiert werden könnten. Unter Nutzung der von der deutschen Rechtsordnung garantierten Freiräume verfolgen sie eine Strategie der nicht gewaltorientierten Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft, um langfristig eine Umformung zu einem Staat nach islamischen Regeln zu erreichen. Sie stehen damit allerdings in offenem Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung, deren Werte sie in zentralen Punkten ablehnen. Angehörige des legalistisch-islamistischen Spektrums verwahren sich strikt gegen die Abdrängung des Religiösen ins Private. Nach dem Bekenntnis "Der Islam ist Religion und Staat" (arabisch: "din wa daula") müssen die Normen der Scharia in allen Lebensbereichen und auf allen Ebenen durchgesetzt werden. Der legalistische Islamismus bedient und reaktiviert ein in den Ursprüngen des Islam begründetes Überlegenheitsgefühl der muslimischen Gemeinschaft als Inhaber und Wahrer der "letzten und erhabensten Religion". Salafismus Der Salafismus ist die in den letzten Jahren am schnellsten gewachsene islamistische Strömung in Deutschland. Als fundamentalistische Form des islamistischen Extremismus lässt sich der Salafismus in eine politische und in eine gewaltbereite jihadistische Strömung unterteilen, die sich lediglich hinsichtlich der Methodik zur Umsetzung ihrer Ziele unterscheidet: Während der politische Salafismus auf die Ausübung direkter Gewalt zum Erreichen seiner Ziele verzichtet, befürwortet der jihadistische Salafismus eine unmittelbare und sofortige Gewaltanwendung. Dem gewaltorientierten beziehungsweise jihadistischen Salafismus sind beispielsweise internationale Terrororganisationen wie "al-Qaida" (AQ) oder der "Islamische Staat" (IS) zuzuordnen. In Deutschland ist seit einigen Jahren zu beobachten, dass die Grenzen zwischen legalistischem Islamismus und politischem Salafismus zunehmend verschwimmen. Dabei beeinflussen sich die beiden Strömungen gegenseitig. Eine klare Zuordnung zu den einzelnen islamistischen Strömungen kann somit nicht immer eindeutig getroffen werden. Bundesweit ist eine weitverzweigte, heterogene Infrastruktur des Salafismus festzustellen. Durch die Vermittlung extremistischer Grundhaltungen und Konzepte bereitet weiterhin 72 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 insbesondere die salafistische Ideologie den Nährboden für weitere Radikalisierungsprozesse, die zu terroristischen Handlungen führen können. Auch die Grenzen zwischen politischem Salafismus und dem jihadistischen Salafismus sind fließend. Die Durchlässigkeit zwischen den Teilströmungen wird durch die hierarchiearmen Strukturen salafistischer Netzwerke begünstigt. Salafistische Propagandaaktivitäten im öffentlichen Raum finden bundesweit nur noch in Einzelfällen statt. Verstärkt durch die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden temporären Schließungen der Moscheeräume, haben sich salafistische Missionierungsbemühungen auch 2022 immer weiter in den nicht öffentlichen und den virtuellen Raum verlagert. Auch Aufrufe zu Spendensammlungen werden fast ausschließlich über das Internet und über Instant-Messaging-Dienste verbreitet. Im schiitischen Islamismus ist die Errichtung einer Theokratie Schiitischer Islamisund die "Herrschaft der Rechtsgelehrten" (arabisch: "wilayat mus al-faqih"/persisch: "velayat-e faqih") von zentraler Bedeutung. Diese Zielsetzung geht wesentlich auf den Führer der Iranischen Revolution Ajatollah Khomeini (1902-1989) zurück und ist seit 1979 Staatsdoktrin und Verfassungsgrundsatz der Islamischen Republik Iran. Dementsprechend kommt im schiitischen Islamismus dem Klerus eine mächtige politische und soziale Rolle zu. Seine Ideen verband Khomeini mit antikolonialistischen, antiimperialistischen und klassenkämpferischen Elementen und forderte so zur Revolution, zur Einheit des Islam und zur Durchsetzung von Körperstrafen auf. Alle wichtigen Fragen der Menschheit seien bereits in Koran und Sunna geregelt, so sein Fazit. Vom internationalen islamistischen Terrorismus geht weiterhin Islamistischer Terroeine der größten Gefahren für die Staatengemeinschaft aus. Er rismus stellt auch für die Innere Sicherheit Deutschlands - trotz zahlreicher Fahndungserfolge - eine der größten Bedrohungen dar. Der internationale islamistische Terrorismus tritt inzwischen sehr vielfältig in Erscheinung: Netzwerke wurden ebenso festgestellt wie autark operierende Kleinstgruppen bis hin zu Einzeltätern. Die Aktivitäten islamistischer Terrorstrukturen in Deutschland reichen von der Nutzung Deutschlands als Rückzugsund Ruheraum über die Rekrutierung, Radikalisierung und Indoktrinierung neuer Anhängerinnen und Anhänger bis hin zur Planung und Durchführung terroristischer Anschläge. 73 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus 2.2 Antisemitismus im Islamismus Antisemitismus ist im Nahen und Mittleren Osten größtenteils ein Phänomen der jüngeren Geschichte. Zwar fanden über die Jahrhunderte seitens verschiedener Akteure punktuell Judenverfolgungen statt. Flächendeckende, tief verwurzelte Judenfeindlichkeit, wie sie in Europa vorherrschte, existierte jedoch lange Zeit nicht. Heutzutage ist Antisemitismus in Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit über verschiedene politische und religiöse Spektren hinweg verbreitet. Überdies ist der Antisemitismus mit den zugehörigen Verschwörungstheorien ein zentrales Wesensmerkmal islamistischer Ideologien. Hierbei wird weniger auf klassisch islamische Literatur als vielmehr auf rassistische Schriften aus Europa und Nordamerika Bezug genommen, die bruchstückhaft mit aus dem Kontext gerissenen, jüdische Gruppen auf der Arabischen Halbinsel des 7. Jahrhunderts betreffenden Koranversen und Überlieferungen (arabisch: "Hadithe") angereichert werden. Eine zentrale Rolle kommt hierbei der erstmals 1903 in Russland erschienenen antisemitischen Propagandaschrift "Protokolle der Weisen von Zion" zu, die 1926 erstmalig ins Arabische übersetzt wurde. Auch rassistische Literatur, wie "Der internationale Jude" des US-amerikanischen Antisemiten Henry Ford oder Hitlers "Mein Kampf" ist in islamistischen Kreisen weit verbreitet. Im Zuge des Nahostkonfliktes entstand in der arabischen Welt ein auf den Staat Israel bezogener Antisemitismus, bei dem klassisch antisemitische und antizionistische, d. h. den israelischen Staat ablehnende Positionen miteinander verschmelzen. Dies stellt im Islamismus einen wichtigen Teil der Propaganda dar. Antisemitische Eine wesentliche Grundlage für den Antisemitismus im IslaSchriften mismus bildet die Schrift "Unser Kampf mit den Juden" (1950) des ägyptischen Islamisten Sayyid Qutb (1906-1966), der eine vermeintliche "antagonistische jüdische Macht" und eine dem Judentum seit der Zeit Muhammads "immanente Feindschaft gegen den Islam" am Werk sieht. Der einflussreiche Theoretiker der MB beschreibt Juden als bösartig und macht sie verantwortlich für den von ihm diagnostizierten Verfall von Religion, Moral und Anstand in den mehrheitlich muslimischen Staaten. Qutbs Schriften sind dabei ein Versuch der Verknüpfung des europäischen Antisemitismus mit islamischen Quellen. 74 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die zur Ideologie der MB gehörende Terrororganisation "Islamische Widerstandsbewegung" (HAMAS) beruft sich in ihrer Gründungscharta aus dem Jahr 1988 auf die "Protokolle der Weisen von Zion" zur Legitimation ihres Antisemitismus. Demnach stünden Juden hinter der Französischen Revolution oder dem Kommunismus, hätten den 1. Weltkrieg hervorgerufen, um das osmanische Kalifat auszulöschen, und den 2. Weltkrieg ausgelöst, um dann den Staat Israel gründen zu können. All dies solle dem Zweck gedient haben, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Die Aktivisten der "HAMAS" rekurrieren wiederholt auf den Mythos einer vermeintlichen jüdischen Verschwörung zur Errichtung eines "Groß-Israel" vom Nil bis zum Euphrat und darüber hinaus. In den genannten Aspekten zeigt sich eine Kontinuität des durch die "Protokolle der Weisen von Zion" geprägten europäischen Antisemitismus, der mit religiösen Versatzstücken versehen sowie mit Koranzitaten und Prophetenüberlieferungen legitimiert werden soll. Insbesondere im jihadistischen Salafismus werden regelmäßig Verschwörungsantisemitische Stereotype aufgegriffen. Sowohl in der von jihatheorien distischen Gruppierungen 1998 veröffentlichten Deklaration "Internationale islamische Front für den Jihad gegen Juden und Kreuzfahrer", als auch in Verlautbarungen Usama bin Ladins ("Brief an Amerika" oder "An die Völker Europas") bis hin zu einer Videobotschaft von AQ zum zehnten Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 werden Politik, Wirtschaft und Medienwelt als jüdisch kontrolliert und die Menschheit (und gezielt die muslimische Weltgemeinschaft) als jüdisch unterdrückt bezeichnet. Gruppierungen wie AQ und dem "Islamischen Staat" (IS) dient die Kennzeichnung der USA beziehungsweise "des Westens" als "jüdisch-kapitalistisch" und "jüdisch dominiert" als Handlungslegitimation und Anknüpfungspunkt für die Rekrutierung neuer Mitglieder. Somit haben antisemitische Verschwörungstheorien im Islamismus inzwischen einen konstitutiven Charakter. Auch im schiitischen Islamismus des iranischen Regimes oder bei der libanesischen Terrororganisation "Hizb Allah" lassen sich antisemitische Verschwörungstheorien finden. Als beispielsweise ab März 2011 im Rahmen des sogenannten "Arabischen Frühlings" Teile der syrischen Bevölkerung gegen das Assad-Regime demonstrierten, wurde insbesondere auch von der libanesischen "Hizb Allah" das Narrativ einer "amerikanisch-zionistisch-wahhabitischen Verschwörung" verbreitet. 2013 rechtfertigte die Miliz hiermit ihren Einmarsch in Syrien an der Seite 75 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus des syrischen Präsidenten Assad. Ebenso ist spezifisch im schiitischen Islamismus auch die Behauptung weitverbreitet, wonach hinter der Revolution in Syrien, AQ und dem IS eigentlich eine Verschwörung aus Israel, den USA und Saudi-Arabien stünde, um den Widerstand gegen Israel zu schwächen. In Deutschland und Bayern sind diverse islamistische Organisationen aktiv, die auch ein antisemitisches Weltbild vertreten. Hierzu gehören die MB, die "Milli Görüs-Bewegung", salafistische Zusammenschlüsse, aber auch nicht an Organisationen gebundene Personen mit entsprechender ideologischer Prägung. In Deutschland verbotene Fernsehsender, wie der der "Hizb Allah" nahestehende Sender "al-Manar", verbreiten antisemitische Propaganda per Onlinelivestream und können somit auch hierzulande konsumiert werden. Auswirkungen des Das Mobilisierungspotenzial antisemitischer Ressentiments Nahostkonfliktes wurde deutlich, als der israelisch-palästinensische Konflikt im Mai 2021 abermals eskalierte. So wurden auf "pro-palästinensischen" Demonstrationen mitunter antisemitische Parolen gerufen sowie Menschen jüdischen Glaubens zu Stellvertretern israelischer Politik gemacht und teils tätlich angegriffen. Bei derartigen Äußerungen handelt es sich nicht immer um solche mit einem Bezug zum islamistischen Antisemitismus. Auch die Bezeichnung "muslimischer Antisemitismus" ist hier irreführend, da ebenso unreligiöse bis antireligiöse nationalistische oder linksextremistische Weltanschauungen antisemitischer Prägung zum Tragen kommen können. Nichtsdestotrotz sind Antisemitismus und die dazu gehörenden Verschwörungstheorien Kernbestandteil jeder islamistischen Ideologie, ob nun im legalistischen Islamismus, dem Salafismus, dem Jihadismus oder bei schiitisch-islamistischen Strömungen. 3. STRUKTUREN 3.1 Legalistischer Islamismus Nicht gewaltorientierte, sogenannte legalistische islamistische Gruppen verfolgen ihre extremistischen Ziele mit politischen Mitteln innerhalb der bestehenden Rechtsordnung. Eine unmittelbare Gefährdung im Hinblick auf terroristische Anschläge in Deutschland geht von solchen Gruppierungen nicht aus. Personen des legalistisch-islamistischen Spektrums bestehen auf 76 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 einer strengen Lesart und extremistischen Interpretation des Korans, der nach ihrer Auffassung unabhängig von Zeit und Ort für alle Menschen gültig sei. Eine nicht relativierbare, moralische und rechtliche Richtschnur sind für sie die Weisungen, die im islamischen Recht, so etwa in der Scharia, enthalten sind. Durch Lobbyarbeit versuchen sie, Einfluss auf Entscheidungsprozesse in Politik und Gesellschaft zu nehmen. Dabei verfolgen sie eine Doppelstrategie: Während sie sich nach außen offen, tolerant und dialogbereit geben, bestehen innerhalb dieser Organisationen antidemokratische und totalitäre Tendenzen. Ziel des legalistischen Islamismus ist es, zunächst Teilbereiche Beeinflussungsder Gesellschaft zu manipulieren und im Sinne der eigenen strategie Weltanschauung zu ideologisieren. Langfristig wird die Umformung des demokratischen Rechtsstaates in einen islamistischen Staat angestrebt. Um ihre Ziele zu erreichen, betreiben legalistisch-islamistische Personen Kulturvereine, Sportgruppen und Moscheen, die einerseits der Werbung von Mitgliedern, andererseits der Verbreitung der Ideologie dienen. Über ihre Dachverbände versuchen sie, sich gleichsam dem Staat als Ansprechpartner in muslimischen Fragen und als Sprachrohr "der muslimischen Gemeinschaft" anzubieten. Ein Großteil der ideologischen Grundsätze legalistischer islamistischer Organisationen ist unvereinbar mit den im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerten Prinzipien der Demokratie, des Rechtsstaates und einer auf der Menschenwürde basierenden politischen Ordnung, beispielsweise der Gleichberechtigung der Religionen und Geschlechter, dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung sowie der Volkssouveränität. Eine zunehmende Tendenz der Entgrenzung der Bereiche Entgrenzung zwides legalistischen Islamismus und des politischen Salafismus schen Legalismus zeichnet sich ab. Hierbei ist keine einseitige Beeinflussung zu und Salafismus beobachten, vielmehr kann von einer wechselseitigen Diffusion gesprochen werden. Personen aus der legalistisch-islamistischen Szene haben teilweise erkannt, dass die Übernahme der medienund jugendaffinen Öffentlichkeitsarbeit salafistischer Prediger und Gruppierungen ein unerlässlicher Baustein zur Erschließung eines erweiterten und generationenübergreifenden Personenkreises ist. Sie distanzieren sich damit jedoch nicht von ihrem klassischen Betätigungsfeld der Moschee, sondern setzen zusätzlich auf eine moderne Jugendarbeit und Nachwuchsförderung sowie die Etablierung vermeintlich unabhängiger Online-Initiativen in den einschlägigen sozialen Netzwerken. Auch bei der Themenwahl orientieren sie sich verstärkt am klassisch-salafistischen Narrativ der muslimischen Opferrolle und 77 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus einer scheinbaren Islamfeindlichkeit der deutschen Mehrheitsgesellschaft und Medien. So werden etwa die Kopftuch-Debatte sowie ganz allgemein eine vorgebliche "Verschwörung des Westens" gegen den Islam thematisiert. Online-Beiträge, in denen eine kritische Berichterstattung zum Themenfeld (legalistischer) Islamismus und Salafismus stattfindet, werden beständig als "Hetze" diffamiert sowie der liberale Diskurs um das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und Personen aus der LGBTQIA+Community offen abgelehnt. Anhängerinnen und Anhänger beider Strömungen teilen, verbreiten und kommentieren solche Beiträge in ihren Communities und tragen damit zur vermehrten Sichtbarkeit und medialen Reichweite islamistischer und salafistischer Propaganda bei. Dieser ideologische Schulterschluss zwischen legalistischem Islamismus und politischem Salafismus zeigt sich ebenso in überschneidenden antisemitischen und stark israelfeindlichen Haltungen. Organisationen im legalistischen Islamismus sind die in Deutschland existierenden Strukturen der MB, die türkisch geprägte "Milli Görüs-Bewegung", die "Furkan-Gemeinschaft", die "Hizb ut-Tahrir" (HuT), die "Tablighi Jama'at" (TJ) sowie schiitisch-islamistische Gruppierungen. 3.1.1 Die Muslimbruderschaft (MB) und ihr Einfluss in Deutschland Personenpotenzial Deutschland: ca. 1.450 1 Bayern: ca. 140 Gründung 1928 in Ägypten 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 Vertretung in Deutschland: Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG), ehemals: Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD) Gründung 1960 Präsident Khallad Swaid (seit 2017) Sitz Köln/Berlin Die 1928 von Hassan al-Banna in Ägypten gegründete MB ist die einflussreichste und älteste Bewegung des zeitgenössischen Islamismus, deren politischer Charakter sich von Anfang an aus dem Selbstverständnis als antikoloniale und 78 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 nationalrevolutionäre Missionierungsbewegung ergibt. Die MB orientiert sich an den Ideen der u. a. durch Jamal ad-Din al-Afghani, Muhammad Abduh und Rashid Rida beeinflussten ägyptischen "Salafiyya-Bewegung" (nicht zu verwechseln mit der wahhabitisch geprägten "Salafiyya", die die Grundlage des heutigen Salafismus darstellt). Die MB vertritt eine Vorstellung von "Nation", die über nationalstaatliche Konzepte weit hinausreicht. Der panislamische Ansatz der MB sieht eine Vereinigung der "Umma" (deutsch: "Gemeinschaft aller Musliminnen und Muslime") unter der Führung eines Kalifen vor, also letztendlich ein globales Kalifat. Die ägyptische Mutterorganisation der Muslimbruderschaft Auf der Basis der durch Hassan al-Banna formulierten Organisationsund Missionierungskonzepte konnte sich die MB in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch den Aufbau eines Netzwerkes von karitativen Einrichtungen und Bildungsinstitutionen zu einer populären Massenbewegung entwickeln. Wegen zunehmender Konkurrenz zu staatlichen Institutionen und wachsender Militanz der MB wurde die Organisation in den 1950er und 1960er Jahren unter dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser verboten. Während der Regierungszeit Anwar al-Sadats (1970-1981) wurde die MB mit dem Ziel der Zurückdrängung sozialistischer Einflüsse gefördert, so dass sie sich in der Ära Präsident Hosni Mubaraks ab Mitte der 1980er Jahre durch die Teilnahme an Parlamentswahlen auch in der politischen Landschaft etablieren konnte. Diese Entwicklung der MB im Bereich der politischen Partizipation erreichte ihren Höhepunkt 2011 mit der Gründung der "Freedom and Justice Party" (FJP, arabisch: "hizb al-hurriya wal-'adala") und der Regierung ihres Präsidentschaftskandidaten Muhammad Mursi von 2012 bis 2013. Bestrebungen der MB, ihre Ideologie im Bereich des Shura-Rates und der verfassungsgebenden Versammlung zu etablieren und durchzusetzen, eine islamistische Klientelpolitik sowie Proteste der ägyptischen Öffentlichkeit führten 2013 zu einem Militärputsch. Es folgten Inhaftierungen, Hinrichtungen und Exilierungen von "Muslimbrüdern" sowie die Zerschlagung des institutionellen Netzwerkes der MB und ihre Einstufung als Terrororganisation in Ägypten. Seitdem ist die ägyptische Mutterorganisation durch konspirative Untergrundaktivitäten in Ägypten und durch Exilstrukturen geprägt. 79 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus Vor dem Hintergrund der auf den Sturz Mursis im Jahr 2013 folgenden Auseinandersetzungen auf dem Rabia-al-Adawiya-Platz (Kairo) zwischen MB-Sympathisantinnen und -Sympathisanten einerseits und dem Militär andererseits, etablierte sich das Symbol der schwarzen Hand mit 4 ausgestreckten Fingern und eingeklapptem Daumen, genannt "Rabia" (deutsch: "Vierte"), als Sympathiebekundung für die MB. Ideologie Unabhängig von verschiedenen Entwicklungsphasen lassen sich ideologische Konstanten der MB identifizieren, die den Kern ihrer Unvereinbarkeit mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bilden. Zuvorderst steht die Vorstellung vom Islam als umfassendes System, welches vor allem über Bildungsarbeit, vom Individuum über die Familie bis zur Gesellschaft, etabliert werden soll. Der ursprünglich als Präsidentschaftskandidat der FJP vorgesehene Khairat al-Shater verdeutlichte 2011 die gesellschaftspolitischen Ziele der MB: Die Mission ist klar: Erneuerung des Islam in sei ner allumfassenden Konzeption, Unterwerfung der Menschen unter Gott, Institutionalisierung von Gottes Religion, Islamisierung des Lebens, Ermächtigung von Gottes Religion und Etablie rung der Wiedergeburt der Umma auf der Basis des Islam. Untrennbarkeit von Das Konzept beinhaltet die Untrennbarkeit von Politik und ReliPolitik und Religion gion sowie die Forderung nach der Anwendung der Scharia als oberstes gesellschaftliches und politisches Ordnungsprinzip. Fragen politischer Herrschaft werden von der MB in der Regel in Referenz auf die Scharia beantwortet. Die Entwicklung der ägyptischen Mutterorganisation bis 2013 macht deutlich, dass die MB über die in der ägyptischen Verfassung verankerten "Prinzipien der Scharia" hinausgehend auch die Anwendung der traditionellen Gesetze anstrebt, zu denen u. a. Körperstrafen gehören. Innerem und äußerem demokratischen Reformdruck geschuldet, erfolgten immer wieder unterschiedliche Darstellungen zu dieser Thematik in der Öffentlichkeit und gegenüber der Basis sowie rhetorische Anpassungen im Diskurs der MB. Der frühere Slogan "tatbiq al-shari'a" (deutsch: "Anwendung der Scharia") wurde, unter Beibehaltung der inhaltlichen Übereinstimmung, durch die Zielsetzung eines "zivilen Staates mit islamischem Referenzrahmen" ersetzt. 80 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Im Ergebnis ist ein taktisches Verhältnis der MB zu Begriffen wie Taktisches Verhältnis Demokratie und Pluralismus feststellbar. Einerseits unterstützt zur Demokratie die MB mit ihrem Verständnis vom zivilen Staat den Pluralismus sowie bürgerliche und politische Freiheiten, die vor allem vor dem Hintergrund autoritärer Regime durchaus im Interesse der MB sind. Andererseits zielt der Zusatz des islamischen Referenzrahmens darauf ab, die Ausrichtung von Staat und Gesellschaft an den Bestimmungen der Scharia zu erzwingen, illiberale religiöse Konzepte durchzusetzen und Einschränkungen von bürgerlichen sowie politischen Freiheiten zu begründen. Die MB versteht unter Demokratie ausschließlich die prozeduralen Aspekte, wie regelmäßige Machtrotation, lehnt aber den Gehalt des Konzeptes im Sinne einer liberalen Demokratie ab. Die MB nimmt für sich in Anspruch, einen "Islam der Mäßigung" Islam der Mäßigung beziehungsweise einen "Islam der Mitte" zu vertreten. Wichund "wasatiyyatigste Referenzquelle der MB ist das "wasatiyya-Konzept" des Konzept" im September verstorbenen Yusuf al-Qaradawi, der als einer der wichtigsten Ideologen der MB gilt und bis 2019 Vorsitzender des "European Councils for Fatwa and Research" war. Die Rhetorik der MB suggeriert, mit dem Begriff der "wasatiyya" (deutsch: "Mittelposition", "Mäßigung") eine Position zu vertreten, die Extremismus ablehnt. Al-Qaradawis Verständnis von "Mitte" basiert allerdings auf einer extremistischen Islaminterpretation, die mit einem Wahrheitsund Überlegenheitsanspruch sowie der Forderung nach uneingeschränkter Gültigkeit und Umsetzung in der Gegenwart einhergeht. Al-Qaradawi betonte, dass er die absolut gesetzten Vorschriften der Scharia keinesfalls im Sinne europäischer Vorstellungen zu liberalisieren gedenke. Das Postulat des Islam als allumfassendes System wurde von ihm vehement vertreten. Die Untrennbarkeit von religiöser und politischer Sphäre ist Grundlage seines "wasatiyya-Konzeptes" und als solche nicht verhandelbar. Sein Islamverständnis ist somit islamistisch und zielt auf die Anwendung der Scharia in allen Bereichen des staatlichen und öffentlichen Lebens ab. Die Rolle des Islam in Staat und Politik im Sinne säkularer Konzepte einschränken zu wollen, bezeichnete al-Qaradawi demgegenüber als "extrem", "extremistisch" beziehungsweise als "extremistische Positionen". Das Verhältnis der MB zu Fragen der Gewaltanwendung ist weiterhin davon geprägt, dass sie sich bis heute nicht eindeutig von den militanten Konzepten des Muslimbruders und ideologischen Vordenkers des Jihadismus, Sayyid Qutb, distanziert. Offiziell hat die MB, mit Ausnahme ihres Ablegers, der "HAMAS", zwar seit 81 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus einigen Jahrzehnten der Gewalt abgeschworen, die Haltung der Führungsebene der MB seit dem Sturz Muhammad Mursis zeigt sich in dieser Frage jedoch ambivalent bis hin zu al-Qaradawis Auffassung, wonach der militärische Jihad auch in aktuellen Konflikten legitim sei. Die MB bekämpft von ihrer islamistischen Auslegung abweichende, vor allem liberale Islaminterpretationen, macht ihr Staatsbürgerkonzept am islamischen Glauben fest und lässt in ihrem Konzept politischer Herrschaft nur islamkonforme Parteien zu. Zudem weicht sie nicht von der Scharia als Grundlage politischer Herrschaft ab und bekennt sich nicht zu persönlichen Freiheitsrechten und der Akzeptanz gleicher Rechte für alle Staatsbürger. Entsprechend sind die gesellschaftlichen und politischen Zielsetzungen der MB als islamistisch zu werten. Strategischer Ansatz Nach außen gibt sich die MB offen, tolerant und dialogbereit und strebt eine Zusammenarbeit mit politischen Institutionen und Entscheidungsträgern an, um so Einfluss im öffentlichen Leben zu erlangen. Ihr Ziel bleibt aber die Errichtung einer auf der Scharia basierenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung. Das zu Zeiten des Verbotes der Organisation in Ägypten etablierte "Usra-System" (deutsch: "Familie") dient auch in Europa Bildungszwecken und der Verbreitung der MB-Ideologie. Angelehnt an das "Usra-System" verfügen auch auf europäischer und deutscher Ebene der MB zuzurechnende Verbände, Moscheen und Vereine, teilweise finanziert durch intransparente Zuwendungen aus dem Ausland, nur über wenige Schnittstellen. Sie bestreiten jegliche Nähe zur MB und sind bestrebt, sich als unabhängig und als Repräsentanten islamischer Pluralität darzustellen. Gemäß der legalistischen Strategie bewegt sich die MB innerhalb der hiesigen Rechtsordnung und nutzt deren Freiräume, insbesondere die Religionsfreiheit, um - unter strikter Vermeidung extremistischer Äußerungen - ihre extremistische Islaminterpretation als vorgeblichen "Islam der Mäßigung" zu etablieren. Hierzu sucht sie gezielt den Kontakt zu öffentlichen Institutionen und Entscheidungspersonen, um sich als Interessenvertretung "der muslimischen Gemeinschaft" und Ansprechpartner in Sachen Islam anzubieten und politische Anerkennung zu erzielen. Langfristig soll über die erlangte Deutungshoheit die gesellschaftliche Grundlage für die Errichtung einer politischen Ordnung nach den Vorstellungen der MB geschaffen werden. 82 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Organisatorische Strukturen Die MB hat den Charakter einer Bewegung beziehungsweise eines internationalen Netzwerkes. In zahlreichen Staaten existieren Vereinigungen, die sich ideologisch an der MB-Mutterorganisation in Ägypten orientieren, z. B. die "al-Nahda" in Tunesien. Offiziell haben sich die meisten Zweige der MB von Gewalt abgewandt. Die "HAMAS" als palästinensische Repräsentanz der MB nutzt jedoch weiterhin militärische Mittel im Kampf gegen Israel. Auch europaweit ist die MB mit verschiedenen Organisationen vertreten. Die wichtigsten sind: - "Council of European Muslims" (CEM) Das CEM (1989 als "Föderation der Islamischen Organisationen in Europa" (FIOE) gegründet) mit Sitz in Brüssel fungiert als Dachverband MB-naher Organisationen in Europa. Im Februar 2018 wurde Samir Falah, bis 2017 Vorsitzender der "Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD, jetzt DMG), zum Präsidenten der FIOE bzw. des CEM gewählt. - "European Council for Fatwa and Research" (ECFR) Das 1997 gegründete ECFR mit Sitz in Dublin (Irland) erlässt islamische Rechtsgutachten mit dem Ziel, sich als maßgebliche religiöse Instanz für die muslimische Community in Europa zu etablieren. Ihr ehemaliger Vorsitzender Yusuf al-Qaradawi war als geistiger Führer der MB bekannt. Die MB tritt in Deutschland zwar nicht offen in Erscheinung, wird jedoch durch die "Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V." (DMG), ehemals "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD), vertreten. Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG), ehemals: Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD) Die DMG mit Sitz in Berlin wurde Anfang der 1960er Jahre zunächst als "Islamische Gemeinschaft Süddeutschland" gegründet. Sie firmierte ab 1982 unter dem Namen "Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V." (IGD) und wurde 2018 in DMG umbenannt. Seit 2017 wird die Organisation von Khallad Swaid geführt. Die DMG ist die wichtigste und zentrale Organisation von Anhängerinnen und Anhängern der MB in Deutschland. 83 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus Darüber hinaus existieren bei der DMG Verbindungen zu anderen MB-nahen Einrichtungen. Nennenswert hierbei sind u. a.: - "Rat der Imame und Gelehrten in Deutschland e.V." (RIGD) Der RIGD mit Sitz in Frankfurt am Main wurde auf Initiative der IGD gegründet und erhebt den Anspruch, als wissenschaftliche Autorität in Fragen des Islam für die muslimische Community in Deutschland zu fungieren. Organisatorisch und ideologisch steht er der DMG und dem "European Council for Fatwa and Research" (ECFR) nahe. - "Europäisches Institut für Humanwissenschaften" (EIHW) Mit dem in Frankfurt am Main ansässigen EIHW soll eine Alternative zum staatlich geförderten Vorhaben angeboten werden, Imame an deutschen Universitäten auszubilden. Das Institut vermittelt Studienabschlüsse in Arabisch als Fremdsprache und Islamwissenschaft. Unterstützt wird das EIHW vom RIGD. Die Bestrebungen der DMG richten sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland. Ihre Klage gegen die Nennung im Verfassungsschutzbericht des Bundes nahm die DMG im August 2021 zurück. DMG-nahe StrukIn Bayern werden das "Islamische Zentrum München" (IZM) turen in Bayern und die "Islamische Gemeinde Nürnberg" (IGN), ehemals "Islamisches Zentrum Nürnberg", der DMG zugerechnet. Sowohl das IZM als auch die IGN haben Verbindungen zur DMG beziehungsweise zu MB-nahen Organisationen und Personen. Am 17. Dezember 2020 hat das Verwaltungsgericht München eine 2018 von der IGN erhobene Klage gegen ihre Nennung im Bayerischen Verfassungsschutzbericht abgewiesen. Mit der Ablehnung des Antrages auf Zulassung der Berufung durch den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof am 30. Juni 2021 wurde das Urteil rechtskräftig. In einer Predigt auf der Facebook-Seite des IZM vom 30. September wird des verstorbenen Yusuf al-Qaradawi gedacht. Der Redner stellt dabei besonders dessen extremistische Islaminterpretation des "wasatiyya-Konzepts" in den Mittelpunkt des Gedenkens. Die Propagierung dieses Konzepts im Sinne eines Orientierungsrahmens ist als extremistisch zu bewerten. Weiter fordert der Redner dazu auf, die von al-Qaradawi gegründeten und der Muslimbruderschaft zuzurechnenden Institutionen ECFR und "International Union of Muslim Scholars" (IUMS) als Referenz zu betrachten und in al-Qaradawis Sinne weiterzuführen. 84 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Am Ende der Predigt stand die Empfehlung des als extremistisch bewerteten al-Qaradawi-Buches "Erlaubtes und Verbotenes im Islam". 3.1.2 Milli Görüs-Bewegung Personenpotenzial Bayern: ca. 2.900 Gründer Dr. Necmettin Erbakan Entstehung ca. 1970 in der Türkei Ideologischer Bezug Muslimbruderschaft Sprachrohr der Milli Gazete (Nationale Zeitung) Milli-Görüs-Bewegung Die islamistische "Milli Görüs-Bewegung" gründet sich auf der Ideologie des am 27. Februar 2011 verstorbenen türkischen Politikers Necmettin Erbakan. Ziel der Bewegung ist es, zunächst die laizistische Staatsordnung, d. h. die Trennung von Religion und Staat, in der Türkei durch eine islamistische Staatsund Gesellschaftsordnung mit dem Koran und der uneingeschränkten Gültigkeit der Scharia als Grundlagen des Staates und des gesellschaftlichen Zusammenlebens abzulösen. Ihr erklärtes Fernziel ist darüber hinaus die weltweite Einführung einer islamistischen Staatsund Gesellschaftsordnung nach dem historischen Vorbild des Osmanischen Reiches unter der Führung der heutigen Türkei. Die Bestrebungen der "Milli Görüs-Bewegung" richten sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Die "Milli Görüs-Bewegung" wurde Ende der 1960er Jahre von "Adil Düzen/Batil Necmettin Erbakan gegründet. Zentrale Bedeutung in Erbakans Düzen"-Konzept politischem Denken haben die von ihm geprägten Schlüsselbegriffe "Milli Görüs" (deutsch: "nationale Sicht") und "Adil Düzen" (deutsch: "gerechte Ordnung"). Nach der von Erbakan entwickelten Ideologie ist die Welt zweigeteilt. Er unterscheidet zwischen der auf dem Wort Gottes basierenden religiös-islamischen "gerechten Ordnung" und der "westlichen Ordnung", geprägt von Morallosigkeit, Gewalt und Unterdrückung ("Batil Düzen", deutsch: "nichtige Ordnung"). Es gelte, die "westliche Ordnung" durch eine "gerechte Ordnung" zu ersetzen, wofür die Ausrichtung an islamischen Grundsätzen statt an von Menschen geschaffenen, und damit "willkürlichen" Regeln, erforderlich sei. 85 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus Auch andere von Menschen erdachte Gesellschafts-, Staatsund Wirtschaftssysteme wie der Kommunismus, Imperialismus oder Kapitalismus zählen zu den klassischen Feindbildern der Gefolgschaft Erbakans. Zudem negiert seine islamistische Ideologie das Existenzrecht des Staates Israel, dessen Regierung und Bevölkerung meist abwertend mit dem Wort "Zionisten" umschrieben werden. Antisemitische Insgesamt ist das "Adil Düzen"-Konzept mit den Grundprinzipien Tendenzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar, da die Einführung einer islamistischen Gesellschaftsordnung den Grundsatz der Gewaltenteilung, das Rechtsstaatsprinzip, die Unabhängigkeit der Justiz und das Demokratieprinzip beseitigen würde. Die Ausrichtung der "Milli Görüs-Bewegung" auf eine sultanähnliche türkische Führerfigur weist nationalistisch-totalitäre Merkmale sowie Züge einer Monarchie auf und steht damit im Widerspruch zum republikanischen Strukturprinzip Deutschlands sowie der hier gelebten demokratischen Ordnung. Zudem ist die antisemitische oder zumindest stark antizionistische Ideologie der "Milli Görüs-Bewegung" unvereinbar mit der Religionsfreiheit, dem Gleichbehandlungsgrundsatz sowie den im Grundgesetz verankerten Menschenrechten, und richtet sich außerdem gegen die Völkerverständigung. Der "Milli Görüs-Bewegung" sind insbesondere die "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs" (IGMG), die "Saadet Partisi" (SP, deutsch: "Glückseligkeitspartei") als politische Vertreterin der Bewegung, die "Ismael Aga Gemeinschaft" (IAC), die "ErbakanStiftung", die türkische Tageszeitung "Milli Gazete" und der türkische Fernsehsender "TV5" zuzurechnen. Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) In Deutschland wird die "Milli Görüs-Bewegung" durch die IGMG repräsentiert. Die Zentrale der IGMG hat ihren Sitz in Köln und ist untergliedert in mehrere nachgeordnete "Gebiete". Innerhalb der "Gebiete" ist eine Vielzahl von "Ortsvereinen" organisiert. In Bayern werden der IGMG derzeit 45 Vereine zugerechnet. Die Regionalverbände befinden sich in Nürnberg und München. Anzeichen für einen Loslösungsprozess der IGMG von der "Milli Görüs-Bewegung" konnten in Bayern nur in wenigen Einzelfällen bestätigt werden. Eine Orientierung der IGMG an der islamistischen "Milli Görüs"-Ideologie ist daher bis auf wenige Ausnahmen in Bayern weiterhin feststellbar. Gedenkveranstaltungen und Grabbesuche, auch von Delegationen aus Bayern, verdeutlichen weiterhin Erbakans Bedeutung für die IGMG. 86 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Saadet Partisi (SP) In der Türkei ist die Unterstützerszene der islamistischen "MilliGörüs-Bewegung" seit 2001 politisch in der SP organisiert. Die Vorgängerparteien "Milli Nizam Partisi" (MNP, deutsch: "Nationale Ordnungspartei"), "Milli Selamet Partisi" (MSP, deutsch: "Nationale Heilspartei"), "Refah Partisi" (RP, deutsch: "Wohlfahrtspartei") und "Fazilet Partisi" (FP, deutsch: "Tugendpartei") wurden allesamt aufgrund "anti-laizistischer Aktivitäten" verboten, nachdem ihnen vorgeworfen worden war, die Trennung von Staat und Religion in der Türkei beseitigen zu wollen. Seit den Parlamentswahlen 2018 ist die SP durch eine Bündnisliste mit 2 Abgeordneten im türkischen Parlament vertreten. Die seit 2013 bestehende Deutschlandvertretung der SP verfügt auch in Bayern über Strukturen, wie z. B. den Regionalverband Südbayern mit Sitz in München. Auch diese Strukturen sind fest in der Ideologie der "Milli Görüs-Bewegung" verhaftet. Im März organisierte die bayerische SP beispielsweise erneut eine Präsenzveranstaltung zum Gedenken Erbakans. Ismael Aga Gemeinschaft (IAC) Die IAC ist Teil der weitverzweigten mystischen Bruderschaft der "Naqshbandiya" (benannt nach dem im 14. Jahrhundert verstorbenen Bahauddin Naqshband), der auch Necmettin Erbakan, der verstorbene Führer der "Milli Görüs-Bewegung" angehörte. Die IAC gilt als einer der radikaleren Zweige der Bruderschaft. In Deutschland wird die IAC durch den Prediger Nusret Cayir geprägt, der die Einführung der Scharia in Deutschland fordert und die Gleichstellung von Frauen vehement ablehnt. Von der Türkei aus hält Cayir über regelmäßige Videobotschaften im Internet den Kontakt zu seiner Gefolgschaft aufrecht und verbreitet dadurch seine demokratiefeindliche, gegen den Rechtsstaat, den Gleichbehandlungsgrundsatz und die Volkssouveränität gerichtete Ideologie auch in Deutschland. Auch 2022 fanden regelmäßige Onlinepredigten Cayirs statt. Im Rahmen dieser Video-Ansprachen propagierte Cayir weiterhin islamistische und antisemitische Inhalte. So äußerte er erneut, dass Demokratie etwas für die Ungläubigen sei und bezeichnete "die Juden" als die größten Feinde. Darüber hinaus forderte er ebenso die Zerstörung Israels, Amerikas und Russlands. 87 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus 3.1.3 Furkan-Gemeinschaft Personenpotenzial Deutschland: ca. 400 1 Bayern: ca. 30 Vorsitzender Alparslan Kuytul Gründung 1994 in der Türkei Publikation Furkan Nesli Dergisi 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 Die islamistische Ideologie der "Furkan-Gemeinschaft" zielt darauf ab, weltweit eine "Vorreiter-Generation" zu schaffen, die nach dem Vorbild des Propheten Muhammad und seiner Gefährten zu einer "islamischen Zivilisation" zurückkehren will. Dabei wird Gott das alleinige Herrschaftsrecht zugesprochen. Die Forderungen der "Furkan-Gemeinschaft" beinhalten die grundsätzliche Ersetzung der Demokratie durch eine islamische Gesetzgebung, die Teilnahme an Wahlen gilt hiernach als verboten. Dieses Islamverständnis ist unvereinbar mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, insbesondere mit der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung. Ideologische Nähe Die "Furkan-Gemeinschaft" weist eine ideologische Nähe zum zur "MuslimbruderGedankengut der MB auf. In einer Publikation bezeichnet die schaft" Organisation Hassan al-Banna, den Gründer der MB, als "hochgeehrten Lehrer". Den institutionellen Grundstein der "Furkan-Gemeinschaft" bildet die "Furkan Stiftung für Bildung und Dienst" (türkisch: "Furkan Egitim ve Hizmet Vakfi"), die 1994 in der türkischen Stadt Adana von Alparslan Kuytul gegründet wurde. Die Stiftung und ihre zahlreichen Ortsvereine engagieren sich vorrangig in der muslimischen Bildungsund Missionierungsarbeit mittels Konferenzen, Kundgebungen und Jugendprogrammen, mit denen sie in der Türkei mehrere zehntausend Personen erreichen. Ergänzt werden diese Aktivitäten durch eine starke Präsenz in den sozialen Netzwerken und auf YouTube, beispielsweise mit den Kanälen "Furkan Haber" und "Furkan TV" oder dem deutschsprachigen YouTube-Kanal "Furkan Bewegung". Über die Veranstaltungen und Medienplattformen der "FurkanGemeinschaft" werden auch Predigten und Vorträge von Kuytul (teils mit deutschen Untertiteln) verbreitet, der als Anführer der Gemeinschaft bis heute eine starke Vorbildund Autoritätsfunktion bei seiner Gefolgschaft genießt. In der Vergangenheit trat Kuytul vereinzelt auch in Deutschland auf. 88 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 In der Türkei bestehen seit mehreren Jahren politische AuseinInhaftierung des andersetzungen zwischen der türkischen Regierung und der Gründers "Furkan-Gemeinschaft". In Konsequenz werden weiterhin Kundgebungen und Konferenzen verboten und gewaltsam von der Polizei aufgelöst. Ebenso werden die "Furkan Stiftung für Bildung und Dienst" und die zugehörigen Ortsvereine immer wieder mit Betätigungsverboten belegt. Seit Januar 2018 befindet sich Kuytul aufgrund des Vorwurfes der Terrorunterstützung, -propaganda und -finanzierung immer wieder in Haft, zuletzt seit Mai. Aktivitäten der deutschen "Furkan-Gemeinschaft" sind vorranFurkan in Bayern gig im Internet festzustellen und werden für das gesamte Bundesgebiet zunehmend zentral gebündelt. Im September 2021 wurden in diesem Rahmen auch die einzelnen Internetpräsenzen beziehungsweise Kanäle der "Furkan-Gemeinschaft München" aufgegeben und in das bundesweite Format "Furkan-Bewegung" überführt. In einem Podcast vom März 2021 mit dem Titel "Wer ist die Eigene PodcastFurkan Gemeinschaft" findet sich eine politische Auslegung des Serie "tauhid" (deutsch: Ein(s)heit und Einzigartigkeit Gottes) wie sie auch von Salafisten vertreten wird. Insbesondere die Aspekte des "tauhid", wonach das gesamte Universum von Gott geschaffen und Gott daher allein gesetzgebend und anbetungswürdig sei, führen die Sprecher des Podcasts als Begründung für eine, ihrer Meinung nach, Unvereinbarkeit von Islam und Demokratie nach "westlichem" Modell an. Das Konzept des "tauhid" widerspreche dem Prinzip der Volkssouveränität und einer Legislative, die auf einer anderen als der Autorität Gottes beruhe. Weiter fordern die Sprecher die uneingeschränkte Gültigkeit des Koran und der darin offenbarten Geund Verbote Gottes, die nicht verändert oder modernisiert werden dürften. Auch die "ahkam" (deutsch: traditionelle Gesetze, zu denen auch Körperstrafen gehören) sollen uneingeschränkt gelten. Die Podcast-Sprecher berufen sich mehrfach auf den Muslimbruder und wichtigsten Vordenker des Islamismus Sayyid Qutb. Dieser forderte in seinen Büchern und Predigten die strikte Ablehnung einer Reformation des islamischen Rechts und gleichsam auch die Ablehnung einer Gesellschaft, die sich nicht ausschließlich dem Gesetz Gottes unterwerfen wolle. Die Zurückweisung der liberalen Demokratie als unislamisch wird an verschiedenen Stellen der fünf Podcastfolgen (Stand: 31.12.2022) wiederholt. Konsequenzen dieser Haltung finden sich beispielsweise in Podcast #4, wonach die gleichgeschlechtliche Ehe als verboten gelte und daher abzulehnen sei. Der Maßstab, nach dem in allen 89 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus Bereichen des Lebens geurteilt werden solle, seien allein Gott, der Koran und die Sunna. In Podcast #5 findet sich das langfristige Ziel der Einsetzung der Scharia mit der Aussage, dass die Scharia nicht sofort eingesetzt werden solle, da der Staat dies nicht zulasse. 3.1.4 Hizb ut-Tahrir (HuT) Personenpotenzial Deutschland: ca. 7001 Bayern: Einzelpersonen Gründung 1953 in Jerusalem Betätigungsverbot Verbotsverfügung des Bundesministers des Innern vom 10. Januar 2003 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 Die HuT (deutsch: "Partei der Befreiung") wurde 1953 von Taqiaddin al-Nabhani (1909-1977) in Jerusalem gegründet. Sein im selben Jahr veröffentlichtes Hauptwerk "Die Lebensordnung des Islam" (arabisch: "nizam al-Islam") bildet bis heute die ideologische Grundlage der Organisation. Demnach regelt der Islam abschließend und unumstößlich alle gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Belange, einschließlich die des alltäglichen Lebens. Das Ziel der panislamisch ausgerichteten HuT ist die Vereinigung der muslimischen Gemeinschaft (arabisch: "Umma") in einem weltweiten Kalifat mit einer Rechtsordnung auf Basis der Scharia. Islam und Demokratie sind für die HuT nicht miteinander vereinbar. Säkulare Staatsordnungen sind aus ihrer Sicht abzulehnen und zu bekämpfen, die Wiedererrichtung des Kalifats ist unbedingtes Ziel. Zu diesem Zweck bemüht sich die Organisation insbesondere um die Rekrutierung angehender Akademikerinnen und Akademiker, die perspektivisch in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen platziert werden sollen. Zu einem späteren Zeitpunkt soll es deren Aufgabe sein, politische Macht zu übernehmen, um das Kalifat einzuführen. Die meist jungen Sympathisantinnen und Sympathisanten der HuT werden dazu regelmäßig durch Schulungen in die Lehren des Gründers al-Nabhani eingeführt. Die HuT ist in Deutschland seit 2003 vereinsrechtlich verboten. "Realität Islam" Aktuell treten vor allem in den sozialen Netzwerken Gruppierun"Generation Islam" gen auf, die eine ideologische Nähe zur HuT aufweisen. Dazu "Muslim Interaktiv" zählen die Initiativen "Realität Islam" (RI), "Generation Islam" (GI) sowie "Muslim Interaktiv". In den Veröffentlichungen der 90 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Gruppierungen, die häufig tagesaktuelle Themen aus Politik und Gesellschaft aufgreifen, wird die muslimische Bevölkerung zum Opfer politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse in Deutschland stilisiert. Die Bewahrung einer "wahren" islamischen Identität sei nur durch Abgrenzung von der westlichen Gesellschaft möglich. Maßgeblich seien die Vorgaben der Scharia. Beispielhaft für die spalterische Polemik ist ein Video von GI mit Diffamierung staatdem Titel "Generation Islam extremistisch? Bilal widerlegt bpb" licher Präventionsvom 17. Juli zu nennen, in dem die staatliche Extremismuspräarbeit vention und staatliche Akteure als solche diskreditiert werden. In einem Beitrag von RI vom 25. August mit dem Titel "Die Wahrheit hinter der 'Präventionsarbeit' - Suhaib Hoffmann" wird behauptet, dass der größte Teil der in Deutschland tätigen Präventionsträger staatlich und mit dem Ziel einer "islamfeindlichen Assimilationspolitik" gefördert werde. Ziel sei es, die muslimische Gemeinschaft in Deutschland von einem alle Lebensbereiche umfassenden Islamverständnis abzubringen. Aufgrund der enthaltenen Demokratiefeindlichkeit wird der Beitrag als extremistisch bewertet. Die 3 Initiativen bedienen regelmäßig das muslimische OpferOpfernarrativ narrativ, wonach praktizierende Muslime in Deutschland systematisch kriminalisiert würden. Dabei werden auch Informationen der deutschen Sicherheitsbehörden und Präventionsstellen über 91 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus Anzeichen für extremistische Haltungen als politisches Instrument zur Erzeugung einer islamfeindlichen Stimmung verunglimpft. Aufgrund dieser vermeintlich islamfeindlichen Haltung von Politik und Gesellschaft solle sich die muslimische Gemeinschaft, deren Alleinvertretung extremistische Akteure gerne für sich reklamieren, aktiv von der deutschen Mehrheitsgesellschaft und deren liberaler "Wertediktatur" abgrenzen. 3.1.5 Tablighi Jama'at (TJ) Personenpotenzial Deutschland: ca. 550 1 Bayern: ca. 160 Gründung 1926 bei Delhi (Indien) 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 Die TJ (deutsch etwa: "Missionsgemeinschaft") ist eine 1926 in Britisch-Indien gegründete Missionierungsbewegung, die heute weltweit aktiv ist. Seit ihren Ursprüngen ist sie eng mit der islamischen Hochschule von Deoband in Indien verbunden. Diese steht für eine streng konservative, von vermeintlich fremden Einflüssen befreite Islamauffassung und hat teilweise auch sunnitisch-islamistische Gruppen wie die "Taleban" beeinflusst. Die TJ verbreitet ein rigoroses Islamverständnis mit dem langfristigen Ziel, islamistische Gesellschaftssysteme zu etablieren. Ausund AbgrenDie TJ propagiert neben der Ablehnung säkularer Prinzipien auch zungstendenzen die Abgrenzung gegenüber Nichtmuslimen. Dies birgt ein hohes Potenzial für die Bildung abgeschotteter Parallelgesellschaften und begünstigt eine islamistische Radikalisierung. Auch wenn die TJ selbst keine terroristische Organisation ist, weist sie eine gemeinsame ideologische Basis mit solchen Gruppierungen auf. Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, dass die Strukturen der Bewegung von terroristischen Netzwerken genutzt werden und sich einzelne TJ-Angehörige terroristischen Organisationen anschließen. Genaue Zahlen zur weltweiten Anhängerschaft der TJ sind nicht bekannt, liegen aber vermutlich im mittleren zweistelligen Millionenbereich. Die TJ ist sowohl in Deutschland als auch global als Netzwerk strukturiert, dessen Anhängerschaft über informelle Kontakte miteinander in Verbindung steht. Sichere Aussagen zur aktuellen Situation der auf dem indischen Subkontinent 92 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 zu verortenden TJ-Führung sind schwierig, da sich diese bereits seit mehreren Jahren in einer Phase organisatorischer und ideologischer Konflikte befindet. Die hierdurch einsetzenden Spaltungstendenzen der TJ in 2 Lager haben auch Auswirkungen auf die Strukturen in Europa, so z. B. in Großbritannien, wo es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen beider Lager kam. Charakteristisch für die TJ sind mehrtägige bis mehrwöchige missionarische Reisetätigkeiten in Gruppen (arabisch: "jama'at") im Inund Ausland mit dem Ziel, neue Anhängerinnen und Anhänger zu rekrutieren. Hierbei werden teilweise auch Moscheen aufgesucht, die keinen unmittelbaren Bezug zur TJ haben. Die Aktivitäten, z. B. in Form von Islamunterricht oder Predigten, richten sich in erster Linie an muslimische Bevölkerungsteile, die nach Auffassung der TJ-Anhängerschaft nicht islamkonform leben; die Bekehrung von Nichtmuslimen erfolgt nachrangig. Das Erscheinungsbild vieler TJ-Angehöriger ist häufig ein traditionell-islamischer Bekleidungsstil sowie bei Männern lange Kinnund Backenbärte. Da dieser Stil in ähnlicher Form u. a. auch bei salafistischen Personen verbreitet ist, sind optische Verwechslungen der beiden Strömungen möglich. Die TJ ruft ihre Gefolgschaft in Deutschland weiterhin dazu TJ-Moscheen in auf, Missionierungsarbeit in der muslimischen Community zu Bayern leisten. Dabei können auch Reisebewegungen entsprechender Gruppen nach beziehungsweise innerhalb Bayerns festgestellt werden. In Bayern sind 2 Moscheevereine den TJ-Strukturen zuzurechnen: Die "Islamische Gemeinde Hof e. V." und der "Kulturverein für deutschsprachige Muslime e. V." in München. Letzterer wurde im Oktober 2021 geschlossen und im April an einem neuen Standort wiedereröffnet. Neben ihren Missionierungsreisen veranstaltet die TJ auch größere Treffen ihrer Anhängerschaft auf regionaler und überregionaler bzw. internationaler Ebene. Mit dem überwiegenden Wegfall der Corona-Beschränkungsmaßnahmen konnten im Berichtszeitraum auch wieder verstärkt Reisetätigkeiten und Treffen der TJ festgestellt werden. 93 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus 3.1.6 Schiitischer Islamismus Personenpotenzial Bayern1 ca. 40 Ideologischer Bezug Iranisches Regime 1 Bundesverfassungsschutzbericht 2021: keine gesicherten Zahlen Die Ursprünge des zeitgenössischen schiitischen Islamismus sind in der sogenannten "Islamischen Revolution" 1978/79 in Iran zu finden. Das dabei von Ajatollah Ruhollah Khomeini eingeführte Herrschaftssystem "velayat-e faqih" (deutsch: "Herrschaft" bzw. "Statthalterschaft der Rechtsgelehrten") sieht den Export der Islamischen Revolution und die Unterstützung schiitischer Bevölkerungsteile, vor allem im Nahen und Mittleren Osten, vor. Dies wird als Befreiungskampf gedeutet und metaphorisch mit historischen Stationen der Konfession der "Shi'a" (deutsch: "Schiiten") ideologisch überhöht. Im Zuge der Iranischen Revolution wurde mit den sogenannten "Revolutionsgarden" (persisch: "Pasdaran") eine Teilstreitkraft des iranischen Militärs gegründet, die direkt dem geistlichen Oberhaupt des Iran unterstellt ist und seitdem immer wieder maßgeblich am Aufbau Iran-naher Milizen beteiligt war. So bauten Revolutionsgardisten beispielsweise während der israelischen Besetzung des Libanon Anfang der 1980er Jahre die "Hizb Allah" (deutsch: "Partei Gottes") auf, die neben ihren militärischen Aktivitäten seit 1993 auch als politische Partei innerhalb Libanons großen Einfluss ausübt. Die karitativen und sozialen Einrichtungen der "Hizb Allah", wie Schulen, Krankenund Waisenhäuser, die vor allem mit finanzieller Hilfe Irans betrieben werden, stehen in Konkurrenz zu den staatlichen Einrichtungen Libanons. Innerhalb der schiitischen Gemeinschaften in Deutschland dient das 1962 gegründete "Islamische Zentrum Hamburg" (IZH) als Multiplikator schiitisch-islamistischen Gedankengutes im Sinne des Revolutionsexportes. Neben der iranischen Botschaft ist das IZH die wichtigste offizielle Vertretung Irans in Deutschland und gleichzeitig eines seiner bedeutendsten Propagandazentren in Europa. Die enge Anbindung des IZH an die Führung Irans zeigt IZH in Hamburg sich u. a. darin, dass der Leiter des IZH ein ausgewiesener islamischer Rechtsgelehrter sein muss, der vom iranischen Außenministerium bestimmt wird und als Vertreter des iranischen "Revolutionsführers" in Zentraleuropa gilt. Iran versucht auf diesem Weg, Schiiten aller Nationalitäten an sich zu binden und 94 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 die gesellschaftlichen, politischen und religiösen Grundwerte der Iranischen Revolution in Europa zu verbreiten. Wie bereits im Wintersemester 2020/2021 bot das IZH an seiner "Islamischen Akademie Deutschland" (IAD) (persisch: "Hawzah") auch für das Wintersemester 2021/2022 ein einjähriges, kostenfreies Kurzstudium der Islamischen Theologie für Heranwachsende bis zum Alter von 25 Jahren an. Nachdem das IZH im Januar aus dem Vorstand der "Schura - Rat der islamischen Gemeinschaften in Hamburg e. V." (vertritt in Hamburg etwa 40 Moscheegemeinden und weitere islamische Einrichtungen und ist Partner eines sogenannten Staatsvertrages mit der Stadt Hamburg) ausgeschieden ist, stellte die Stadt Hamburg im Oktober die Fortsetzung des Vertrages unter den Vorbehalt des gänzlichen Austretens des IZH aus der "Schura". Der Austritt des IZH erfolgte kurz darauf. Im Oktober wurde die Ausweisungsverfügung gegen den stellvertretenden Leiter des IZH, Seyed Soleiman Mousavifar, aufgrund von Verbindungen zur in Deutschland mit einem Betätigungsverbot belegten Terrororganisation "Hizb Allah" sowie zu zugehörigen Unterstützungsvereinen rechtskräftig. In Bayern wird die "Islamische Vereinigung Bayern" (IVB) mit Sitz in München dem IZH als Außenstelle zugerechnet. Zwischen IZH und IVB bestehen enge Verflechtungen. In den letzten Jahren konnten, u. a. zu bestimmten hohen religiösen Anlässen wie z. B. während des Fastenmonats Ramadan, vereinzelt Imame festgestellt werden, die in unregelmäßigen Abständen vom IZH in die IVB entsandt werden. In der Satzung der IVB ist ebenso festgelegt, dass das Vereinsvermögen im Falle einer Auflösung des Vereins an das IZH fallen soll. 3.2 Salafismus 3.2.1 Ursprung Der Salafismus geht auf Muhammad Ibn Abdalwahhab zurück, der Ende des 18. Jahrhunderts auf der arabischen Halbinsel eine Reinigung des Islam von, aus seiner Sicht, unerlaubten Neuerungen und vermeintlichem Irrglauben forderte. Vorbildfunktion in Bezug auf den "wahren Islam" böten einzig die sogenannten 95 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus "frommen Altvorderen" (arabisch: "al-salaf al-salih"), d. h. die ersten 3 Generationen des frühen Islam (7. Jahrhundert). Die sich aus dem Gedankengut von Ibn Abdalwahhab konstituierende Ideologie, der sogenannte "Wahhabismus", gilt als maßgebliche Quelle des heutigen Salafismus. 3.2.2 Ideologie "tauhid" und "bid'a" Heutige Angehörige des Salafismus richten ihren Glauben, ihre religiöse Praxis und ihre Lebensführung ausschließlich an den Prinzipien des Korans und dem vom Propheten Muhammad und den frommen Altvorderen gesetzten Vorbild aus. Jegliches Abweichen von dieser Norm, die in ihren Augen als ursprünglicher und reiner Islam gilt, lehnen sie als unerlaubte Verfälschung des Islam beziehungsweise als "Neuerung" (arabisch: "bid'a") ab. Ablehnung der Zentraler salafistischer Glaubensinhalt ist die Ein(s)heit und EinDemokratie zigartigkeit Gottes (arabisch: "tauhid"). Dies beinhaltet auch, dass Gott der einzig legitime Souverän und Gesetzgeber ist. Die Scharia ist für Angehörige des Salafismus als "Gesetz Gottes" letztgültiger Maßstab. Der Salafismus lehnt weltliche Gesetze und die Werte westlicher Gesellschaftsund Herrschaftssysteme daher als unislamisch und unterlegen kategorisch ab. Er orientiert sich kompromisslos an der islamischen Frühzeit vor circa 1.400 Jahren und befürwortet frühislamische Herrschaftsund Gesellschaftsformen. Dies führt zur Ablehnung der als wesensfremd empfundenen demokratischen Mehrheitsgesellschaft und ihrer Werte. Vor allem die von salafistischen Akteuren in Deutschland propagierte Einheit von Religion und Staat und der ebenfalls erhobene absolute Geltungsanspruch der islamischen Rechtsordnung machen deutlich, dass salafistische Auffassungen Geltung für sämtliche Lebensbereiche beanspruchen. HöherwertigkeitsAls Höherwertigkeitsideologie richtet sich der Salafismus zwar ideologie auch gegen nicht-islamische, z. B. jüdische und christliche Glaubensvorstellungen; besonders in der Kritik stehen jedoch andere islamische Glaubensauffassungen - insbesondere das schiitische und das mystische Islamverständnis. Salafisten diffamieren die Anhängerschaft dieser Glaubensformen als Ungläubige, "Verweigerer der wahren Lehre" (arabisch: "rawafid") oder werfen ihnen Götzendienst (arabisch: "shirk") vor. Am Dialog mit Andersgläubigen sind sie nur insoweit interessiert, wie er ihrer Missionierungsarbeit (arabisch: "da'wa") dienlich ist. 96 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die ideologischen Grundsätze des Salafismus sind letztlich unvereinbar mit den im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerten Prinzipien, insbesondere denen der Demokratie, des Rechtsstaates und einer auf der Menschenwürde basierenden politischen Ordnung. Die Ideologie des Salafismus lässt sich in eine politische und eine jihadistische Strömung unterteilen, wobei die Übergänge fließend sind. Sie unterscheiden sich vor allem in der Wahl der Mittel, mit denen ihre Ziele realisiert werden sollen. Jihadistische wie auch politische Angehörige des Salafismus stützen sich jedoch auf dieselben ideologischen Autoritäten und Vordenker und verfolgen die gleichen Ziele. Der politische Salafismus verzichtet zwar auf die Ausübung Politischer direkter Gewalt zur Erreichung seiner Ziele. Er bietet aber imSalafismus mer wieder den ideologischen Nährboden für terroristische Aktionen. So waren fast alle bisher in Deutschland identifizierten islamistischen terroristischen Netzwerkstrukturen und Einzelpersonen salafistisch geprägt beziehungsweise haben sich in salafistischen Milieus entwickelt. Der jihadistische Salafismus befürwortet eine unmittelbare und Jihadistischer sofortige Gewaltanwendung. Dabei wird auch der bewaffnete Salafismus Kampf gegen Regierungen in Staaten mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit, denen vorgeworfen wird, vom Islam abgefallen und Handlanger des verhassten "Westens" zu sein, propagiert. Derzeit ist nur ein kleiner Prozentsatz des salafistischen Personenpotenzials dem jihadistischen Salafismus zuzurechnen, die überwiegende Mehrheit ist dem politischen Salafismus zugehörig. Jihadistische Salafisten kämpfen derzeit vor allem in Syrien und Irak. Daneben entfalten aber auch die sogenannten "Jihadregionen" in Mali, Somalia, Jemen, Libyen, Afghanistan und Pakistan nach wie vor eine Anziehungskraft auf jihadistisch orientierte Personen. In Syrien etablierten sich mit dem Ausbrechen des Bürgerkrieges 2011 neben der säkular orientierten Opposition auch islamistische Gruppierungen, die den Jihad propagieren und hierfür auch ausländische Kämpfer, zum Teil auch Kämpferinnen, rekrutieren. In den vergangenen Jahren haben sich dabei Zehntausende dieser sogenannten "foreign fighters" jihadistischen Gruppierungen in Syrien und Irak angeschlossen. Neben dem IS ist die ehemals im AQ-Netzwerk zu verortende "Hai'at Tahrir al-Sham" (HTS), vormals "Jabhat al-Nusra" (JaN) beziehungsweise "Jabhat Fath al-Sham" (JFS), die bedeutendste jihadistische 97 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus Gruppierung in der Region. HTS profitiert vor allem von ihrer seit 2017 bestehenden Kooperation mit der Türkei in der syrischen Provinz Idlib. Ebenso hat die territoriale Niederlage des IS der HTS in die Hände gespielt. Seit 2018 formierte sich in Syrien die Gruppierung "Tanzim Hurras al-Din" (THD), die als syrischer Ableger der "Kern-alQaida" gilt und sukzessive an Bedeutung gewonnen hat. Transformation Initiiert durch seine militärischen Niederlagen der vergangenen des IS Jahre, die mit Gebietsverlusten einhergingen, hat der IS eine Transformation durchlaufen: Er formierte sich im Untergrund neu und fokussierte sich vermehrt auf seine selbst ausgerufenen Provinzen (arabisch: "wilayat") jenseits des einstigen Kerngebietes. Seither sind die Ausreisen von Jihadistinnen und Jihadisten aus Deutschland nach Syrien signifikant zurückgegangen. Weiterhin rufen jihadistische Gruppierungen dazu auf, den Jihad auch in westliche Staaten zu tragen. Genannt sind hier meist die USA und ihre Verbündeten. Auch zu Anschlägen in Deutschland wurde in den vergangenen Jahren wiederholt aufgerufen. 3.2.3 Personenpotenzial Anhänger/Besucher Deutschland: ca. 11.900 1 Bayern: ca. 690 Entstehung erste Strukturen in Bayern Mitte der 1990er Jahre 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 Bundesweit ist eine weitverzweigte, heterogene "Infrastruktur" des Salafismus festzustellen. Die salafistische Szene ist allerdings meist nur lose organisiert und weist eine hohe Dynamik auf. Feste, überregionale Organisationsstrukturen sind nur selten vorhanden. Es gibt jedoch viele örtliche salafistische Vereine, die häufig gleichzeitig als Träger salafistisch geprägter Moscheen fungieren. Daneben gibt es lose Personennetzwerke oder autonom agierende Einzelpersonen, die salafistische Aktivitäten entfalten. Personenpotenzial Die Anhängerzahlen des salafistischen Spektrums bewegen im Bund und in sich auf hohem Niveau. In Bayern liegt das Potenzial bei 690 PerBayern sonen (2021: 690). Davon waren circa 18 Prozent dem gewaltorientierten Spektrum zuzurechnen. Bei circa 12 Prozent der 690 Personen handelt es sich um Konvertitinnen und Konvertiten. Rund 8 Prozent des Personenpotenzials sind weiblich. 98 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Salafistische Familien und Minderjährige Die salafistische Ideologie kann sich auch innerhalb familiärer Strukturen verbreiten. Dabei besteht die Gefahr, dass die salafistische, gewaltorientierte Ideologie der Eltern oder eines Elternteils negative Auswirkung auf die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder hat. Diese sind dabei als schutzbedürftige Opfer der geschlossenen Weltund Werteordnung ihrer Eltern anzusehen. Auch für junge Erwachsene auf Identitätssuche erscheint der Salafismus attraktiv, da er ihnen eine vermeintlich klare Orientierung und Struktur (auch im Alltag) bietet. Der Komplexität und Unübersichtlichkeit der modernen Welt setzt er ein konsequentes "Schwarz-Weiß-Denken" gegenüber. Von individuellen Entscheidungen und persönlicher Verantwortung wird der junge Mensch durch eine Vielzahl von eindeutigen Geboten und Verboten entbunden. Vielen orientierungslosen jungen Anhängerinnen und Anhängern stiftet der Salafismus eine neue und grenzüberschreitende Identität. Die Jugendlichen fühlen sich dadurch anerkannt und als fester Bestandteil einer weltweiten Solidargemeinschaft wahrgenommen. Frauen Obgleich die öffentliche Darstellung und Wahrnehmung im Salafismus häufig auf stereotype Männerbilder reduziert wird, sind in den letzten Jahren vermehrt auch Frauen in diesem Phänomenbereich aktiv. Sowohl in der realen als auch in der virtuellen Welt haben sich salafistische Frauennetzwerke gebildet. Durch die ortsunabhängige Nutzung von sozialen Netzwerken und Messenger-Diensten über Staatsund Ländergrenzen hinweg sind diese Netzwerke häufig nicht auf Deutschland oder auf ein einzelnes Bundesland einzugrenzen. Neben Alltagsthemen, wie z. B. Kindererziehung und Kleidung, spielen in Frauennetzwerken häufig auch Glaubensfragen, Spendensammlungen, Gefangenenhilfe und eine mögliche Heiratsvermittlung eine große Rolle. In Einzelfällen wurde festgestellt, dass junge Frauen allein über Messenger-Gruppen und -Kanäle salafistisch indoktriniert wurden und Kontakte in die Szene erlangten. 99 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus Auch in der realweltlichen gewaltorientierten Szene sind Frauen aktiv. Insbesondere innerhalb terroristischer Gruppen spielen sie neben der ihnen dort zugesprochenen Funktion als Ehefrau und Mutter eine aktive Rolle bei Missionierungsarbeiten, Rekrutierungen, logistischer Unterstützung, Spendensammlungen und bisweilen selbst bei Kampfhandlungen oder Attentaten. 3.2.4 Reisebewegungen sowie Rückkehrerinnen und Rückkehrer Die Dynamik der Ausreisen aus Deutschland in Richtung Syrien und Irak hat weiter deutlich abgenommen. Die Utopie des "Kalifats" hat mit den territorialen und personellen Verlusten des IS ihre Anziehungskraft nahezu vollständig verloren. Bis Ende 2022 lagen Erkenntnisse zu mehr als 1.150 Personen aus Deutschland vor, die aus islamistischer Motivation in Richtung Syrien und Irak gereist sind. Unverändert werden einzelne Ausreisesachverhalte teilweise erst nachträglich bekannt. Neue Ausreisen Richtung Syrien und Irak werden aktuell nur noch sehr vereinzelt registriert. Etwa 1 Viertel der gereisten Personen ist weiblich. Deutschland Ausreisen aus Deutschland bis Ende 2022 mehr als 1.150 Verstorben ca. 280 Aktuell noch im Ausland ca. 400 Rückkehrerinnen und Rückkehrer ca. 460 Rückkehrerinnen und Rückkehrer mit ca. 150 Kampferfahrung/Kampfausbildung Ermittlungsverfahren zu Rückkehrerinnen 304 und Rückkehrern Im Ausland in Gefangenschaft ca. 82 Bayern Personen mit Ausreisebezug aus Bayern 122 davon tatsächlich ausgereist 79 Verstorben 20 Rückkehrerinnen und Rückkehrer 35 In Bayern aufhältig 22 Im Ausland in Gefangenschaft 3 100 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Derzeit gehen die Sicherheitsbehörden davon aus, dass bei knapp 10 Prozent der 22 zurückgekehrten und in Bayern aufhältigen Personen weiterhin von einer intensiven jihadistischen Bindung ausgegangen werden muss. Etwa 30 Prozent dieser Rückkehrerinnen und Rückkehrer gehört nach wie vor dem salafistischen Spektrum an, jedoch ohne aktuelle Gewaltorientierung. Bei knapp 2 Drittel der Rückkehrerinnen und Rückkehrer liegen keine Anhaltspunkte vor, dass sie weiterhin über Kontakte in die salafistische Szene verfügen. Gegen die in Bayern aufhältigen Personen - darunter die genannten Rückkehrerinnen und Rückkehrer nach Bayern - werden in enger Kooperation mit den zuständigen Sicherheitsbehörden die für den jeweiligen Einzelfall erforderlichen und individuell abgestimmten Maßnahmen durchgeführt, sowohl unter Beachtung präventivpolizeilicher und repressiver Aspekte als auch unter Ausschöpfung der im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten bestehenden verwaltungsund ausländerrechtlichen Maßgaben. Am 30. März sowie am 5. Oktober fanden Rückholaktionen Staatliche Rückholstatt, in deren Rahmen insgesamt 14 Frauen, 34 Kinder und aktionen 1 junger erwachsener Mann nach Deutschland zurückgeführt wurden. Bei einer der am 30. März zurückgeholten Personen handelt es sich um eine Frau aus Bayern mit ihren 2 Kindern. Seit 2019 wurden in 6 Rückholaktionen insgesamt 27 Frauen, 80 Kinder und 1 Heranwachsender nach Deutschland zurückgeführt. Im September erzielten Angehörige von französischen ISAnhängerinnen erstmals einen Teilerfolg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Sie hatten gegen den Staat Frankreich geklagt, da dieser den Forderungen nach einer Rückholung ihrer Töchter und Enkelkinder nicht nachgekommen war. Der EGMR urteilte, dass Frankreich zwar nicht verpflichtet sei, IS-Ausgereiste zurückzuholen, Behörden und Gerichte müssten jedoch die Anträge genauer prüfen. Das Urteil könnte auch Auswirkungen auf den Umgang mit IS-Rückkehrerinnen und -Rückkehrern in anderen Ländern haben. So könnten Angehörige in Zukunft staatliche Hilfe bei Rückführungen beantragen und im Falle einer Nichtrückführung mindestens eine nachvollziehbare Begründung von Seiten des Staates verlangen. In der Vergangenheit hatten sich einige europäische Staaten geweigert, ihre Staatsbürger zurückzuholen. 101 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus Gefahr durch Rückkehrerinnen und Rückkehrer Fortbestehende Rückkehrerinnen und Rückkehrer aus den ehemals vom jihadistische IS kontrollierten Gebieten und Personen, die ein terroristiOrientierung sches Ausbildungslager absolviert, beziehungsweise aktiv an paramilitärischen Kampfhandlungen teilgenommen haben, können ein erhebliches Sicherheitsrisiko darstellen. Die islamistischen Terroranschläge in Paris (2015) und in Brüssel (2016) wurden durch aus Syrien zurückgekehrte Personen verübt, was deren Bereitschaft und Fähigkeit unterstreicht, entsprechende Attentate durchzuführen. Die Sicherheitsbehörden legen deshalb ein besonderes Augenmerk auf diesen Personenkreis. Aus bisher erhobenen Daten ergeben sich jedoch unterschiedliche Motivlagen sowohl für die Auswie auch Rückreise, weshalb sich keine Pauschalurteile über Rückkehrerinnen und Rückkehrer ableiten lassen. Welche Gefahr von diesen Personen ausgeht, muss daher jeweils im Einzelfall bewertet werden. Auflösung der Im Zusammenhang mit der im Oktober 2019 gestarteten türkiFlüchtlingslager schen Offensive in Nordsyrien hat ein Großteil der kurdischen in Nordsyrien Sicherheitskräfte die Kontrolle über die Flüchtlingslager in der dortigen Sicherheitszone aufgegeben. In der Folge konnten Hunderte inhaftierte IS-Angehörige, zumeist Frauen und Kinder, aus den Lagern fliehen. Seitdem kommt es weiterhin zu vereinzelten Ausbrüchen aus Gefangenenlagern, auch von Personen aus Deutschland. Eine unkontrollierte Rückkehr von IS-Kämpfern, ihren Frauen sowie weiteren Angehörigen nach Europa und Deutschland gilt es zu verhindern. Bei Personen, die nach Deutschland zurückkehren, greift das gesamte sicherheitsbehördliche Instrumentarium. Rückkehrende Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit, die an der Außengrenze festgestellt werden, werden - soweit rechtlich möglich - zurückgewiesen. Eine verstärkte Ankunft rückkehrender Personen ist jedoch weiterhin nicht feststellbar. Es ist nicht auszuschließen, dass Personen mit jihadistischem Hintergrund aus Krisenregionen wie beispielsweise Syrien, Irak oder Afghanistan gezielt in westliche Staaten entsendet werden, um dort Anschläge zu begehen. Ebenso können junge Männer, und in Einzelfällen auch Frauen, die bereits für den IS oder andere islamistische Gruppen gekämpft haben und in Eigeninitiative nach Europa gelangt sind, ein Sicherheitsrisiko darstellen, wenn sie aufgrund von Frustration und Perspektivlosigkeit erneut empfänglich für Jihad-Propaganda werden. 102 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Bayern verfügt mit dem 2009 erarbeiteten "Gemeinsamen HandHandlungskonzept lungskonzept des Bayerischen Landeskriminalamts, des Bayerizur Verhinderung schen Landesamts für Verfassungsschutz und des Operativen von Ausreisen und Staatsschutzes der Bayerischen Polizei im Zusammenhang mit Wiedereinreisen Reisebewegungen von Islamisten in terroristische Ausbildungslager oder zur Teilnahme am bewaffneten Jihad" über ein Maßnahmenpaket zur Verhinderung jihadistisch-salafistisch motivierter Ausreisen in Krisengebiete. Das Handlungskonzept wird aktuell überarbeitet. Schwerpunkt des Handlungskonzeptes ist ein möglichst frühzeitiger, umfassender und kontinuierlicher Informationsaustausch aller Sicherheitsbehörden. Ziel ist einerseits die Verhinderung von Ausreisen. Andererseits werden bei ausländischen Staatsangehörigen aufenthaltsbeendende Maßnahmen durch die Arbeitsgruppe BIRGiT ("Beschleunigte Identifizierung und Rückführung von Gefährdern aus dem Bereich des islamistischen Extremismus/Terrorismus") geprüft, wenn z. B. der Anwerbung weiterer Personen für salafistische Zielsetzungen hierdurch entgegengewirkt werden kann. Soweit Personen mit ausländischer Nationalität bereits aus Deutschland in Kampfgebiete ausgereist sind, werden alle aufenthaltsrechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft, um die Wiedereinreise nach Deutschland zu verhindern. 3.2.5 Rekrutierung und Propaganda Staatliche Maßnahmen, wie z. B. Vereinsverbote, Ermittlungs"Home-Da'wa" und Strafverfahren gegen jihadistische Protagonisten sowie konsequente Abschiebungen, führten zu einer Verhaltensänderung der salafistischen Szene und zum Rückzug aus der Öffentlichkeit ins Private. Szeneangehörige agieren seither vermehrt in geschlossenen Gruppen der Sozialen Medien und vernetzen sich durch klandestine Treffen, beispielsweise in Wohnungen ("Home-Da'wa", deutsch: Missionierung im privaten Raum). Auch die wiederkehrenden Aufrufe zu öffentlichen Missionierungsaktivitäten des bundesweit bekannten Salafistenpredigers Pierre Vogel an die salafistische Szene konnten diese Entwicklung bisher nicht aufhalten. Um dem Fokus der Sicherheitsbehörden möglichst zu entgehen, Modernisierung haben einige salafistische Organisationen ihre Außenwirkung zuder Inhalte und des dem angepasst: Weg vom traditionellen szenetypischen ÄußeErscheinungsbildes ren hin zu einem modernen Auftreten, welches eine Zuordnung zum salafistischen Spektrum nicht auf den ersten Blick möglich 103 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus macht. Anstelle der bisherigen Kampagnen werden inzwischen neue Formate propagiert, die in der Regel einen höheren "intellektuellen" Anspruch haben. Dabei werden berufliche und wirtschaftliche Kompetenzen mit ideologischen Zielen verbunden. Als Beispiele können dabei die "Muslim Business Academy" beziehungsweise "Islamictutors" genannt werden, die (Online-) Seminare anbieten, im Rahmen derer sie ihre Ideologie verbreiten. Ergänzt werden die Aktivitäten um Kooperationen mit Personen und Organisationen des nicht-salafistisch islamistischen sowie des nicht-extremistisch muslimischen Milieus. Es ist davon auszugehen, dass damit salafistische Strukturen fest in der muslimischen Community und in der Zivilgesellschaft etabliert werden sollen. Seit dem territorialen Niedergang des IS in Syrien und Irak beschleunigt sich der strategische Wandel, da die Anziehungskraft von weiten Teilen des Salafismus an den Erfolg der terroristischen Organisation geknüpft war. Verbreitung der Dennoch gelingt es salafistischen Akteuren weiterhin, neue virIdeologie via Internet tuelle Aktionsformen und Angebote in Deutschland zu etablieren. Wurden anfangs salafistische Islam-Infostände in Fußgängerzonen und Großveranstaltungen auf öffentlichen Plätzen bis hin zu mehrtägigen Islamseminaren durchgeführt, gefilmt und als Videos ins Internet gestellt, so finden sich inzwischen vermehrt Kurse und Vorträge, die live über diverse Medienkanäle verfolgt werden können. Diese digitale und damit zeitgemäße Verbreitung der salafistischen Ideologie übt eine beträchtliche Anziehungskraft vor allem auf junge, emotional und sozial noch nicht gefestigte Persönlichkeiten aus. Junge Menschen bilden grundsätzlich die Hauptzielgruppe salafistischer Internetpropaganda und Rekrutierungsaktivitäten. Virtuelle SpendenAuch Spendengelder werden mittlerweile fast ausschließlich sammlungen über Aufrufe im Internet oder über Online-Angebote gesammelt. Zur Anregung der Spendenbereitschaft wird die Übergabe von Spenden vor Ort per Video dokumentiert und auf verschiedenen Internetkanälen neben den Spendenaufrufen veröffentlicht. "Ansaar International e. V.", die seit Mai 2021 verbotene und bis dahin bundesweit aktive Hilfsorganisation mit salafistischen Bezügen, zeigte sich in dieser Hinsicht sehr innovativ: Mit diversen Shops und Aktionen, wie z. B. der bundesweit verbreiteten Abholung von Bargeldspenden per Spendentaxi, sammelte sie sowohl über das Internet als auch in der Realwelt Spenden ein. Darüber hinaus verabredeten sich Frauen vereinzelt an öffentlichen Orten, um dort Spenden zu sammeln. 104 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 In Bayern sind weiterhin vereinzelte "Da'wa"-Aktivitäten einer sich in Netzwerken organisierenden Anhängerschaft der salafistischen Ideologie zu beobachten. Sie finden jedoch nur noch selten im öffentlichen Raum statt. Dabei ist auch die Zahl der IslamInfostände in Bayern in den letzten Jahren stark zurückgegangen. Einzig in Nürnberg konnten im Berichtszeitraum IslamInfostände festgestellt werden. Die Aufrufe von Pierre Vogel zur verstärkten "Da'wa"-Arbeit in der Öffentlichkeit werden von der bayerischen Szene zwar wahrgenommen, eine Umsetzung wurde jedoch nicht festgestellt. Zudem betreibt der 2015 in Passau gegründete salafistische Verein "Bayerische Islamische Gemeinschaft (BIG) e. V." verschiedene Literaturund Spendenprojekte, bei denen weitreichende Bezüge in die Szene deutschlandweit und darüber hinaus erkennbar sind. Am 16. Juli fanden in Nürnberg Vortragsveranstaltungen und "Dawah Training" Workshops der österreichischen salafistischen Organisation IMAN statt. Dieses sogenannte "Dawah Training" wurde über soziale Netzwerke und einschlägige Messenger-Dienste beworben. IMAN ist Teil des britischen Missionierungsnetzwerks "The Islamic Education and Research Academy" (iERA), das weltweit salafistische Missionierungsarbeit betreibt und beispielhaft für die zunehmende Professionalisierung und Modernisierung des öffentlichen Auftretens junger Salafistinnen und Salafisten steht. Nach eigenen Angaben von IMAN nahmen rund 100 Personen an den angebotenen Kursen teil. Salafistische Prediger spielen in der Szene und im Kontext der Salafistische PrePropaganda und Rekrutierung weiterhin eine wichtige Rolle. diger Während sie allerdings in der Vergangenheit bei öffentlichen Kundgebungen mehrere Hundert, zumeist junge Menschen anzogen, finden solche großen, öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen seit Ende 2016 nicht mehr statt. Grund hierfür dürfte die intensivierte Beobachtung durch die Sicherheitsbehörden sein. Im Nachgang von Tumulten bei einer Kundgebung der "Bürgerbewegung Pax Europa e. V." (BPE) in Gladbeck (NordrheinWestfalen) hatte der Salafist Pierre Vogel seit 21. August via Instagram zu (Gegen-)Kundgebungen, u. a. gegen den Protagonisten der verfassungsschutzrelevanten Islamfeindlichkeit, Michael Stürzenberger, aufgerufen. 105 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus Am 10. September trat in München bei einer Kundgebung der BPE der der salafistischen Szene in Bayern zuzuordnende Anas U. medienwirksam als Gegendemonstrant zum Hauptredner Stürzenberger auf. Die Aufzeichnung dieses Streitgesprächs schnitt Anas U. in zahlreiche Kurzvideos, die auch mit Unterstützung von Pierre Vogel reichweitenstark im Internet verbreitet wurden und beispielsweise bei TikTok teils über 3,5 Millionen Zugriffe verzeichnen. Anas U. war bis Juli als Referent für die österreichische salafistische Organisation IMAN und deren 2021 ins Leben gerufene Missionierungs-Projekt "Betreuung Neuer Muslime" (BNM) im Münchener Raum aktiv. Entgegen der nur wenigen öffentlichen Auftritte nimmt die Internetpräsenz der salafistischen Prediger weiterhin zu. Neben Vorträgen und Stellungnahmen zu verschiedenen Themen bieten sie inzwischen auch Onlinekurse und Liveevents über eigene Internetauftritte und die Sozialen Medien an, wodurch allein in Deutschland Tausende vorrangig junge Menschen erreicht werden. Angepasst an die Bedürfnisse und Interessen ihrer Zielgruppen sprechen Szeneakteure wie der in Bayern geborene salafistische Prediger Ibrahim El Azzazi oder die salafistische "Deutschsprachige Muslimische Gemeinschaft e. V." (DMG e. V. Braunschweig) über Themen wie Freundschaft, Sexualität oder die Rolle der Frau. Sie verbinden dabei mittels nahbarer Jugendsprache salafistische Ideologieelemente mit Ratschlägen von alltagspraktischer Relevanz. Bundesweit aktive salafistische Prediger betätigen sich überdies oft mehrmals im Jahr als Reiseleiter bei Pilgerreisen nach Medina beziehungsweise El Azzazi Mekka. Die Prediger übernehmen dabei eine ideologische Betreuung und nutzen die Reisen zur Erweiterung ihres Rezipientenkreises, u. a. durch begleitende Vorträge und persönliche Gespräche mit den Mitreisenden. Informationen zu salafistischen Predigern, die für die bayerische Szene relevant sind, finden sich in der vom Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz herausgegebenen Broschüre "Islamismus erkennen". 106 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Salafistische und salafistisch beeinflusste Moscheen in Bayern Obwohl sich die Missionierungsarbeit im salafistischen Spektrum zunehmend auf den nichtöffentlichen Raum verlagert, dienen Moscheen nach wie vor als Plattform für salafistische Vortragsveranstaltungen sowie als Treffund Kontaktpunkte für Teile des salafistischen Personenpotenzials. Die Freitagspredigten und Vorträge in salafistischen Moscheen sind inhaltlich meist strafrechtlich nicht relevant, auch weil die Prediger eine Beobachtung durch die Sicherheitsbehörden fürchten. Konsequenterweise formulieren sie ihre öffentlichen Äußerungen sehr vorsichtig, um z. B. Anzeigen oder Vereinsverbote zu vermeiden. Dennoch werden unter dem Deckmantel der Meinungsund Religionsfreiheit subtil und suggestiv antidemokratische, desintegrative, antisemitische, antifeministische und homophobe Botschaften verbreitet und damit Radikalisierungsprozesse sowie die Entstehung von Parallelgesellschaften begünstigt. Salafistisch geprägte Moscheen in Bayern sind die im Regierungsbezirk Schwaben verortete "Salahuddin Moschee" des Vereins "Islamischer Verein Augsburg e. V." in Augsburg sowie die Moschee des Vereins "Islamisch albanisches Zentrum Ulm e. V." mit Sitz in Neu-Ulm. In München sind die "El-Salam"-Moschee des Vereins "Islamische Federation München El-Salam Moschee e. V.", die "Taufiq"Moschee des Vereins "Somalische Gemeinde München e. V." und die "Imam Malik Moschee" des Vereins "Marokko Haus für Kultur und Bildung e. V." zu nennen. Entsprechende Moscheen im Regierungsbezirk Oberpfalz sind die Moschee des Vereins "Islamisches Zentrum Weiden e. V.", die "As-Salam"-Moschee des Vereins "Islamisches Zentrum Schwandorf e. V." in Schwandorf und die "Al-Hikmah"-Moschee des Vereins "InternationalerKulturverein e. V." in Regensburg. Im Regierungsbezirk Niederbayern sind die Moschee des Vereins "Vereinigung Passauer Muslime e. V." (ehemals "Islamisches Zentrum Passau e. V.") mit Sitz in Passau und die "AlRahman"Moschee des Vereins "Basma für Kultur, Religion und Barrierefreiheit Passau e. V." salafistisch geprägt. Im Regierungsbezirk Mittelfranken ist die Moschee des "Muslimischen Interaktionsvereins Nürnberg e. V." dem Salafismus zuzuordnen. 107 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus Internet Angehörige der salafistischen Szene nutzen das Internet als Propaganda-, Kommunikations-, Mobilisierungsund Steuerungsmedium. Onlinepropaganda und deren digitale Weiterverbreitung stellen zudem wichtige Faktoren für die Fremdund Selbstradikalisierung von Personen sowie die Rekrutierung neuer Anhängerinnen und Anhänger im jihadistisch-salafistischen Milieu dar. Hauptzielgruppe Zahlreiche Webseiten sowie eine Vielzahl von Einzelpersonen Jugend und Gruppierungen sorgen weiterhin für eine weltweite Verbreitung und Sichtbarkeit der islamistischen und salafistischen Ideologie im virtuellen Raum. Die Hauptzielgruppe religiös begründeter extremistischer Onlinepropaganda und Rekrutierungsaktivitäten bilden junge Menschen im Alter von 14 bis 29 Jahren. Salafistische Einzelpersonen und -Initiativen sprechen diese im Internet gezielt in sozialen Netzwerken und auf Messenger-Diensten an. Sie orientieren sich dort weiterhin an der Alltagswelt sowie den medialen Rezeptionsgewohnheiten junger Leute und verwenden Themen, Begriffe und Symbole, die gerade auch Heranwachsende kennen und ansprechen. Neue populäre Online-Plattformen, App-Funktionen und Trends im digitalen Mediengebrauch werden von den Szeneangehörigen konsequent aufgegriffen und für propagandistische Zwecke sowie zur Indoktrination von Szeneeinsteigerinnen und -einsteigern eingesetzt. "Memefizierung" Vielfache Anwendung finden sogenannte Memes, in Bildern der Propaganda oder Videos eingebettete prägnante Texte. Anhängerinnen und Anhänger der salafistischen Ideologie verwenden diese schnell und einfach erstellbaren Text-Bild-Collagen strategisch als Kommunikationsmittel, um extremistisches Gedankengut subtil und zielgruppengerecht in Umlauf zu bringen. Memes, egal ob in öffentlichen sozialen Netzwerkprofilen oder privaten Messengergruppen geteilt, haben das Potenzial, politisch-religiöse Botschaften visuell eingängig zu vermitteln und plakativ zu überhöhen. Thematisch wird dabei auf lebensnahe Inhalte wie z. B. Fragen zu muslimischer Identität oder Zugehörigkeit sowie auf Diskriminierungserfahrungen zurückgegriffen. Die zugehörigen Hintergrundbilder verstärken häufig geschickt die salafistischen Textbotschaften und transportieren das salafistische Narrativ von vermeintlichen gesellschaftlichen Missständen und einer sozialen Benachteiligung von Menschen muslimischen Glaubens in Deutschland sowie weltweit. Da hierbei auch popkulturelle Motive aus dem Bereich der Filmund Gaming-Kultur adaptiert werden, sind salafistisch aufgeladene Memes meist nur schwer auf den ersten Blick als solche zu erkennen. 108 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Ein neues Phänomen stellt, u. a. auch in Bayern, die Erstellung und der Konsum von Memes aus der Online-Subkultur der Image Boards wie 4chan durch Heranwachsende im salafistischen und jihadistisch-salafistischen Milieu dar. In den vorgeblich humoristischen Text-Bild-Collagen werden andersdenkende und liberale Muslime, kurdische, jüdische und christliche sowie feministisch eingestellte Personen, Angehörige der LGBTQIA+-Community sowie die liberale westliche Gesellschaft im Allgemeinen verhöhnt bzw. verächtlich gemacht. Die Beiträge werden dabei teils eigenhändig erstellt und global mit Gleichgesinnten über etablierte soziale Netzwerke, Messenger-Dienste und Message Boards sowie die in der Gaming-Szene beliebte Chat-Plattform Discord geteilt bzw. bezogen. Die teilweise Vermischung von zentralen Themen und Motiven der gewaltorientierten islamistischen Szene mit den bildbasierten Kommunikationsformen und Meme-Vorlagen von 4chan kann u. a. als "Memefizierung" der Propagandanarrative von jihadistisch-salafistischen Terrorgruppierungen wie dem IS und AQ, aber auch der "HAMAS" sowie der "Taleban", beschrieben werden. Das besonders bei jungen Menschen beliebte soziale Netz"Tiktokisierung" werk Instagram wird weiterhin umfassend zur Verbreitung von Propagandainhalten sowie zur Ideologievermittlung und Szenevernetzung genutzt. Eine vermehrte Einbindung in die OnlineAktivitäten islamistischer und salafistischer Akteure, Gruppierungen und Netzwerke erfuhr im Berichtszeitraum zudem der bei jüngeren Menschen populäre Kurzvideodienst TikTok. Die Ideologievermittlung erfolgt in den TikTok-Videobeiträgen, u. a. des Salafisten-Predigers El Azzazi, des Online-Da'wa-Projektes "IslamContent5778" oder der "DMG Braunschweig e. V.", zielgruppengerecht und im verkürzten Frage-Antwort-Schema. Die Kurzvideos mit einer Länge von teils nur einigen Sekunden sind so konzipiert, dass sie aufgrund der Themenwahl bei der jungen Zielgruppe Interesse wecken und einen niedrigschwelligen Einstieg in salafistische Denkweisen anbieten. Die zeitliche und in109 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus haltliche Verkürzung der Themen und Erklärungen hat potenziell zur Folge, dass zentrale Glaubensaspekte nur noch oberflächlich und in Schlagworten vermittelt, konkurrierende bzw. abweichende Sichtweisen verschwiegen und salafistische Feindbilder durch die Schaffung von "Inselwissen" einfacher transportiert werden. Das zentrale Betätigungsfeld der jihadistisch-salafistischen Onlineszene sowie die wichtigste Verbreitungsplattform sowohl für offizielle Propagandastellen der etablierten jihadistischen Terrororganisationen als auch für die inoffizielle Propaganda ihrer Unterstützerszenen ist aber weiterhin der für seine starke Verschlüsselung bekannte Messenger-Dienst Telegram. Er hat die sozialen Netzwerke Facebook und Twitter sowie die Videoplattform YouTube in ihrer vormaligen Bedeutung und Funktion für die jihadistische Internetszene abgelöst. Extremistische und gewaltbefürwortende Inhalte können via Telegram in verschlüsselter Einzelkommunikation, in öffentlichen oder geschlossenen Gruppenchats sowie über eigene Telegram-Kanäle kostenlos und weitgehend anonym weiterverbreitet werden. U. a. in IS-nahen Telegram-Kanälen werden hierbei neben verfassungsfeindlichen Ideologieelementen auch Aufrufe zu Einzeltäteranschlägen und beispielsweise Baupläne zur Herstellung von Sprengsätzen geteilt. Zudem setzt die jihadistisch-salafistische Unterstützerszene derzeit wieder verstärkt auf das klassische Medium der Webseite als Verbreitungsmethode, die über neue, stark verschlüsselte Open-Source-Chat-Plattformen wie "Rocket.Chat" beworben und verlinkt werden. Die im Internet verbreitete Propaganda und die daraus entstehenden virtuellen Netzwerke tragen entscheidend dazu bei, dass sich Jihad-Unterstützerinnen und -Unterstützer weiterhin als Teil einer eingeschworenen, opferbereiten und vermeintlich elitären Bewegung begreifen. In letzter Konsequenz können solche Personen auch als Einzeltäterinnen und Einzeltäter beziehungsweise "Homegrown"-Terroristen ohne unmittelbare oder notwendige Einbindung in eine terroristische Gruppierung in Erscheinung treten. Die Strategie des inspirierten Einzeltäteranschlages und Aufrufe dazu stellen dabei unverändert einen festen Bestandteil der jihadistischen Onlinepropaganda dar, für die nach einem starken Rückgang in den vergangenen Jahren zuletzt wieder eine Zunahme an medialer Vielfalt, in Qualität und Quantität zu verzeichnen ist. 110 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Erstmalig gelang es auch dem IS wieder, deutschsprachige Propagandaprodukte auf muttersprachlichem Niveau hervorzubringen. Verantwortlich hierfür zeichnete sich u. a. der im Juni in Rheinland-Pfalz festgenommene Aleem N., der beschuldigt wird, von Deutschland aus umfangreiche Propagandatätigkeiten für die Terrororganisation ausgeübt zu haben. Seine Aufgabe bestand laut Anklage der Generalbundesanwaltschaft darin, offizielle Texte, Videos oder Audiobotschaften des IS aus dem Arabischen ins Deutsche zu übersetzen und auf verschiedenen Kanälen des Messenger-Dienstes Telegram im deutschsprachigen Raum zu verbreiten. Der IS betrachtet derartige Tätigkeiten als gleichwertig mit der unmittelbaren Beteiligung am gewaltsamen Jihad. Gezielt für digitale Verbreitungswege konzipiert sind überdies jihadistische Online-Magazine wie "The Voice of Hind" (pro-IS), "Voice of Khurasan" (IS-Ableger "Islamischer Staat Provinz Khorasan", kurz ISPK) und das am 11. September 2019 erstmalig in englischer Sprache erschienene "One Ummah" (AQ). In ihnen werden - neben Koraninterpretationen jihadistischer Lesart - der bewaffnete Jihad verherrlicht und verschiedene Typen von Einzeltäteranschlägen beworben. Der in den Textbeiträgen und Bildmotiven der Magazine skizzierte "Jihadi-Lifestyle" suggeriert dabei die Aussicht auf heroische Männlichkeit, Zugehörigkeitsgefühl, Abenteuer, Selbstbewusstsein und bevorstehenden Ruhm. Insbesondere die Onlinepropaganda von AQnahestehenden Gruppierungen und der AQ-Unterstützerszene hat zuletzt eine neue Qualität erreicht und spricht verstärkt wieder ein globales, d. h. unter anderem in Deutschland lebendes Publikum an. Neben einer neuen Ausgabe des bereits 2021 veröffentlichten jihadistischen Online-Magazins "Wolves of Manhattan" erschien im Februar die erste Ausgabe von "O Mujahideen in the West". Bis September sind sechs Online-Hefte mit Bombenbauanleitungen und Anschlagsaufrufen, u. a. vor dem Hintergrund des Russland-Ukraine-Krieges und den durch diesen hervorgerufenen innenund außenpolitischen Spannungen in Europa als vermeintlich günstige Gelegenheit für neue islamistische Terrorakte, in englischer Sprache erschienen. 111 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus Neben kurzen theologischen Ausführungen zur "Hijra" (deutsch: "Auswanderung") und dem bewaffneten Jihad als vorgebliche Pflicht eines jeden Muslims, bieten die bisherigen Ausgaben des Magazins im inhaltlichen Schwerpunkt Anleitungen zum Bau von Unkonventionellen Sprengund Brandvorrichtungen (USBV) sowie zur Durchführung von Anschlägen, die sich insbesondere an die Leserschaft in Europa und den USA richten. Als in Formdesign und Inhalt professionell aufgemachte OnlineMagazine sind "Wolves of Manhattan" und "O Mujahideen in the West", aber auch die Magazine anderer jihadistischer Organisationen oder deren Unterstützerkreis grundsätzlich dazu geeignet, auf in Deutschland lebende Jihad-Unterstützerinnen und -Unterstützter bzw. potentielle Einzeltäterinnen und Einzeltäter motivierend einzuwirken. Ihre Veröffentlichungen unterstreichen, dass Anhängerinnen und Anhänger der jihadistisch-salafistischen Ideologie weiterhin bestrebt sind, radikalisierte Einzelpersonen oder eigenständig handelnde Kleinstgruppen für sogenannte "Lone Wolf"-Angriffe zu rekrutieren. 3.2.6 Salafistische Bestrebungen im Strafvollzug Beispiele islamistischer Attentäter der Vergangenheit (wie Anis Amri, der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz 2016) zeigen, dass eine gewaltbereite oder kriminelle Vergangenheit eine zumindest begünstigende Voraussetzung für die Begehung terroristischer Anschläge darstellen kann. Vor diesem Hintergrund kommt Haftanstalten als potenziellen Radikalisierungsund Rekrutierungsorten eine wichtige Bedeutung für die frühzeitige Erkennung und Beobachtung salafistischer Tendenzen zu. Inhaftierte in Bayern Ende 2022 befanden sich in bayerischen Justizvollzugsanstalten etwa 21 Inhaftierte, bei denen Bezüge zur salafistischen Ideologie und teilweise auch zum islamistischen Terrorismus erkennbar waren. Bei einem Teil dieser Gefangenen handelt es sich um Personen, die den Sicherheitsbehörden schon vor ihrer Inhaftierung als dem salafistischen Spektrum zugehörig bekannt waren, bei anderen wurden Bezüge zum Salafismus erst während des Haftaufenthaltes ersichtlich. Darüber hinaus befinden sich 50 weitere Personen in Haft, bei denen zumindest der Verdacht besteht, dass sie vor ihrer Inhaftierung eine islamistische Ideologisierung durchlaufen haben. Die Justizvollzugsanstalten stehen zunehmend vor der Herausforderung, mit Missionierungsaktivitäten und Radikalisierungsprozessen konfrontiert zu werden, und unternehmen umfangreiche 112 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Anstrengungen, diesen wirksam zu begegnen. Es besteht insbesondere die Gefahr, dass bisher nicht ideologisierte Inhaftierte durch die "Da'wa"-Arbeit salafistischer Mithäftlinge an die Ideologie herangeführt werden und sich bereits radikalisierte Häftlinge zu Gruppen zusammenschließen. In Bayern ist die Zentrale Koordinierungsstelle für Maßnahmen Zentrale Koordigegen Extremismus (ZKE) zuständig für die Einleitung von Maßnierungsstelle für nahmen der Extremismusbekämpfung innerhalb des JustizvollMaßnahmen gegen zugs. Durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Polizei, Justiz Extremismus und Verfassungsschutz wird der Ausbreitung und Verfestigung des Salafismus in Haftanstalten entgegengewirkt und das bayerische Justizvollzugspersonal dabei unterstützt, Fälle von salafistischer Ideologisierung und Radikalisierung frühzeitig zu erkennen und zu verhindern. Gefangenenhilfe Innerhalb der salafistischen Szene stellen Solidarisierungsbekundungen mit inhaftierten "Glaubensgeschwistern" einen wichtigen Baustein dar, um das Gemeinschaftsgefühl zu festigen. Hierbei wird der Rechtsstaat als ungerechtes System dargestellt und so das westliche Staatsund Gesellschaftsprinzip diffamiert. Ziel der salafistischen Gefangenenhilfe ist es, Resozialisierungsprozesse zu verhindern, inhaftierte Szeneangehörige weiterhin an die salafistische Ideologie zu binden und sie dazu zu motivieren, Mithäftlinge an den Salafismus heranzuführen. Vor allem über das Internet wird auch zu (finanziellen) HilfeleisSolidaritätsaktionen tungen für inhaftierte Gleichgesinnte aufgerufen. Zudem finden Solidaritätsaktionen im Rahmen von Gerichtsverfahren statt, die ebenso die Präsenz von Szeneangehörigen bei Gerichtsverhandlungen beinhalten können. Auch Gerichtsprozesse in Bayern stellen für Akteure der salafistischen Gefangenenhilfe wiederholt eine Plattform dar. So berichtet z. B. der in der salafistischen Gefangenenhilfe aktive Bernhard Falk regelmäßig über den Verlauf von Prozessen. Bei Falk handelt es sich um einen zum Islam konvertierten ehemaligen Linksextremisten und verurteilten Linksterroristen, der seit Jahren Kontakt zu inhaftierten Salafistinnen und Salafisten sucht, mit dem Ziel, diese auch über ihre Haftzeit hinaus an die Szene zu binden. Falk beabsichtigt, die inhaftierten Personen gegen Deradikalisierungsmaßnahmen zu "immunisieren". Außerdem ist bekannt, dass in Einzelfällen an in Bayern Inhaftierte muslimischen Glaubens Briefe von Initiativen salafistischer Gefangenenhilfe verschickt wurden. 113 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus 3.2.7 Anschlagsgeschehen und Täterprofile Anschlagsgeschehen Europa liegt weiterhin im Zielspektrum des islamistischen Terrorismus. Verdeutlicht wird die anhaltend hohe Bedrohungslage durch Attentate der vergangenen Jahre in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Norwegen. Anschläge in Europa Am 25. Juni verübte ein 42-jähriger norwegischer Staatsbürger iranischer Herkunft einen Anschlag in der norwegischen Hauptstadt Oslo. Der Anschlag richtete sich primär gegen die LGBTQIA+-Szene. Vor Norwegens größtem LGBTQIA+-Club schoss der Täter um kurz nach 1 Uhr morgens in die Menschenmenge. 2 Menschen starben bei dem Attentat, 21 weitere wurden verletzt. Der Täter war den norwegischen Sicherheitsbehörden aufgrund seiner islamistischen Radikalisierung bereits bekannt. Am 8. September griff ein 30-jähriger afghanischer Staatsbürger im Bereich des Ansbacher Bahnhofs 2 Passanten mit einem Messer an und verletzte diese. Als er auf die zum Tatort gerufenen Polizeieinsatzkräfte ebenfalls mit dem Messer losging, wurde er durch 3 Schüsse aus den Dienstwaffen tödlich verletzt. Obwohl der 30-Jährige laut Zeugenaussagen während der Tat mehrfach "Allahu akbar" gerufen haben soll, konnte zunächst kein islamistischer Hintergrund festgestellt werden. Da dies jedoch nicht ausgeschlossen werden kann, hat die Generalstaatsanwaltschaft München im Dezember die Ermittlungen übernommen, um eine mögliche extremistische Motivation für die Tat zu untersuchen. Am 10. November ereignete sich in Brüssel ein tödlicher Messerangriff auf einen Polizisten, bei dem ein weiterer verletzt wurde. Der 23-jährige Tatverdächtige war in Belgien bereits als islamistischer gewaltbereiter Gefährder registriert. Am Morgen vor der Tat suchte der in Brüssel geborene Verdächtige eine Polizeiwache auf und stieß gegen die dortigen Beamten Drohungen aus. Zudem bat er um psychologische Hilfe, woraufhin er in die psychiatrische Abteilung eines nahegelegenen Krankenhauses gebracht wurde, die er jedoch kurz darauf verließ. Die zuständige Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen wegen Mordes und versuchten Mordes mit terroristischem Hintergrund eingeleitet. Strafverfahren geAm 29. Juni wurde in Paris das Urteil im Prozess zu den islagen Attentäter von mistischen Anschlägen vom 13. November 2015 verkündet, Paris und Brüssel denen 130 Menschen zum Opfer fielen. Die Haftstrafen für 19 der 20 Angeklagten reichen von 2 Jahren bis zu lebenslänglich 114 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 für den Hauptangeklagten Salah Abdeslam, der wegen Mordes und versuchten Mordes verurteilt wurde. Der Mehrzahl der Beschuldigten wurde Beihilfe im Zusammenhang mit Terrorismus vorgeworfen. Abdeslam gilt als einzig überlebender Attentäter des für die Anschläge verantwortlichen jihadistischen Netzwerks. Nach den Anschlägen in Paris soll er nach Belgien geflohen sein, wo er im März 2016 im Brüsseler Viertel Molenbeek festgenommen wurde. Aufgrund seiner mutmaßlichen Beteiligung an einer Brüsseler Terrorzelle und den Terroranschlägen vom März 2016 steht Salah Abdeslam seit Anfang Dezember auch in Belgien vor Gericht. Das Urteil soll voraussichtlich im Sommer 2023 fallen. 3 Selbstmordattentäter des IS töteten am Flughafen in Brüssel sowie in einer Metrostation im EU-Viertel 32 Menschen, Hunderte wurden schwer verletzt. Die Attentäter und Hintermänner gehörten zur gleichen IS-Zelle wie die Attentäter von Paris. Im Unterschied zu komplexen Anschlägen mit hohem logis"Low-Profile"tischen und planerischem Aufwand, wie in Paris und Brüssel, Angriffe zeichnen sich die Anschläge der letzten Jahre durch einen einfachen und leicht umsetzbaren Modus Operandi aus. Häufig werden dabei leicht zu beschaffende Tatwaffen wie Messer verwendet. Die Anschlagsorte sind eher zufällig und weniger symbolträchtig, die Opfer dementsprechend unspezifisch bis zufällig der jeweiligen Situation geschuldet. Die Täter sind häufig Einzelpersonen ohne organisatorische Anbindung an eine Terrorgruppierung. Die Zerstörungskraft dieser "Low-Profile"-Attentate ist damit zwar kleiner, ihre psychologische Wirkung jedoch ähnlich groß. Ziel ist es, ein gesellschaftliches Klima der Angst und Unsicherheit zu erzeugen. Viral verbreitete Handyvideos vom Anschlagsgeschehen leisten dazu einen Beitrag. Weltweit ereigneten sich auch im Berichtszeitrum zahlreiche Attentate, die vor allem dem IS sowie "Hai'at Tahrir al-Sham" (HTS), aber auch anderen Gruppen wie den "Taleban", "Boko Haram" und "al-Shabab" zugerechnet werden können oder von diesen zu Propagandazwecken für sich reklamiert wurden. Seitens des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz erfolgt die Bearbeitung von Terrorismussachverhalten und entsprechenden Hinweisen im engen Austausch mit anderen Sicherheitsbehörden beziehungsweise bundesweit im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) sowie mit europäischen und internationalen Partnern. 115 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus Täterprofile Radikalisierungsprozesse sind in hohem Maße von komplexen individuellen Faktoren abhängig, was die Erstellung eindeutiger Täterund Prognoseraster erschwert. Es ist eine wichtige Aufgabe der Sicherheitsbehörden, Tätermerkmale zu analysieren und potenzielle Attentäterinnen und Attentäter frühzeitig zu identifizieren. Einzelattentäter, die spontan, unvermittelt und ohne vorherige Einbindung in jihadistische Netzwerke Anschläge begehen, stellen Sicherheitsund Ermittlungsbehörden vor große Herausforderungen. Teilweise handelt es sich dabei auch um labile Persönlichkeiten, die sich fast ausschließlich im Internet radikalisieren. Täter mit psychischen Auffälligkeiten und unklarer Motivlage In den letzten Jahren ist eine Zunahme psychischer Probleme bei auffällig oder straffällig gewordenen Einzeltätern im islamistischen Phänomenbereich feststellbar. Die genaue Korrelation von psychischen Erkrankungen und der Begehung islamistisch bzw. extremistisch motivierter Gewalttaten bei einzelagierenden Täterinnen und Tätern ist bisher unklar, wissenschaftliche Studien legen jedoch eine Verbindung nahe. Bestimmte psychische Erkrankungen können sich, besonders in Kombination mit gesteigertem Alkoholund/oder Drogenkonsum, enthemmend auf das Gewaltverhalten auswirken. Im konkreten Fall eines Attentats lässt sich oft nur nach umfassenden Ermittlungen und Untersuchungen einschätzen, ob aus einer islamistischen Motivation heraus, aufgrund einer psychischen Krankheit oder aus einer Kombination beider Faktoren gehandelt wurde. Psychisch auffällige Die Unschärfe zwischen islamistisch motiviertem Handeln und Täter in Bayern psychischen Störungen lässt sich an 2 Messerangriffen im Jahr 2021 in Bayern verdeutlichen: So wurde bei Abdirahman J., der in Würzburg im Juni 2021 3 Frauen erstach, zunächst eine islamistisch motivierte Tat vermutet, 2 Gutachter stellten später jedoch eine paranoide Schizophrenie fest. Vor Prozessbeginn wurde J. als nicht schuldfähig erklärt, eine islamistische Motivation konnte nicht festgestellt werden. Bei dem von Abdalrahman A. im November 2021 in einem ICE zwischen Regensburg und Nürnberg verübten Messerangriff wurde nach der Festnahme im Rahmen der psychiatrischen Erstbegutachtung eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert. 116 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Mehrere im Anschluss erstellte Gutachten konnten das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung jedoch nicht bestätigen. Zudem wiesen zahlreiche jihadistische Propagandamaterialien auf eine islamistische Motivation für die verübte Tat hin. Das Oberlandesgericht München entschied, dass der Angeklagte den Messerangriff aufgrund seiner islamistischen Radikalisierung verübt und die psychische Erkrankung lediglich simuliert habe, und verurteilte A. im Dezember zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren. Die Zunahme von Einzelattentaten korreliert mit einer islamistischen Internetpropaganda, die in den letzten Jahren gezielt zur Verübung von Einzelattentaten aufruft, sich dabei jedoch nur in sehr wenigen Ausnahmefällen explizit an psychisch Kranke richtet. Bei allen in Bayern verübten Anschlägen kam dem Internet für Tatplanung, Durchführung oder Radikalisierung eine nicht unerhebliche Rolle zu. Die meisten Taten werden im Vorfeld aber auch von realweltlichen Aktivitäten begleitet. 3.2.8 Exekutivmaßnahmen Vereinsrechtliche Verbotsund Ermittlungsverfahren Vereinsverbote sind ein wichtiges Instrument der wehrhaften Demokratie in Deutschland. Ein Verein ist nach Art. 9 Abs. 2 Grundgesetz verboten, wenn der Zweck der Tätigkeit des Vereins den Strafgesetzen zuwiderläuft, sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet. Das Bundesministerium des Innern (BMI) hat am 5. Mai 2021 die Verbot von Ansaar salafistische Vereinigung "Ansaar International e. V." einschließInternational e. V lich ihrer 8 Teilorganisationen "WorldWide Resistance - Help e. V." (WWR), "Aktion Ansar Deutschland e. V.", "Somalisches Komitee Information und Beratung in Darmstadt und Umgebung e. V." (SKIB), "Frauenrechte ANS.Justice e. V.", "Änis Ben-Hatira Help e. V."/"Änis Ben-Hatira Foundation", "Ummashop", "Helpstore Secondhand UG" sowie "Better World Appeal e. V." verboten und aufgelöst. Das Verbot schließt alle Internetpräsenzen, Kennzeichen, Schriften etc. der betreffenden Vereinigungen mit ein. Zudem wurde das Vereinsvermögen beschlagnahmt und zugunsten des Bundes eingezogen. Das Verbot wurde in insgesamt 10 Bundesländern, darunter auch in Bayern, mit Durchsuchungsund Beschlagnahmungsmaßnahmen vollzogen. 117 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus Ausländerrechtliche Maßnahmen Unter Anwendung ausländerrechtlicher Vorschriften besteht die Möglichkeit der Überwachung ausreisepflichtiger ausländischer Staatsangehöriger aus Gründen der Inneren Sicherheit beziehungsweise der Abschiebung aus der Bundesrepublik Deutschland nach den SSSS 56 ff. AufenthG. So wurde beispielsweise im Januar Yazid B. wegen des Aufenthalts ohne Aufenthaltserlaubnis nach Algerien zurückgeführt und mit einer 3-jährigen Wiedereinreisesperre belegt. Zuvor wurden bei der Auswertung seiner beschlagnahmten Mobiltelefone jihadistische Inhalte mit Bezügen zum IS festgestellt. Des Weiteren zeigte ein Messenger-Chat aus dem Jahr 2021, dass B. beabsichtigte, in Richtung eines "Jihad-Landes" auszureisen. Zuletzt lagen auch Erkenntnisse zu einem virtuellen Kontakt des B. zu einem irakischen IS-Anhänger vor, der als Betreiber diverser Profile in sozialen Netzwerken Einzelpersonen in der Herstellung von Sprengstoffen anleitete. Aufgrund der Online-Kontakte in die jihadistisch-salafistische Szene musste davon ausgegangen werden, dass B. in die Begehung von Gewalttaten verwickelt sein könnte. Der Fall verdeutlicht, dass Einzelpersonen durch die ortsungebundene Online-Kommunikation mit ausländischen IS-Unterstützern ideologisch beeinflusst werden können und aus dem virtuellen Raum dementsprechend konkrete Gefährdungslagen entstehen können. Ermittlungsund Strafverfahren Neben Vereinsverboten besteht die Möglichkeit, auch gegen Einzelpersonen, beispielsweise aufgrund des Verdachtes der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Straftat gemäß SS 89a StGB oder bezüglich der Bildung einer terroristischen Vereinigung nach SS 129a StGB, zu ermitteln und diese anzuklagen. Am 26. September 2017 begann vor dem OLG Celle der Prozess gegen den jihadistischen Prediger Ahmad Abdulaziz Abdullah - alias Abu Walaa - sowie 4 weitere Mitangeklagte. Alle Angeklagten wurden am 8. November 2016 wegen des Verdachts auf Unterstützung des IS beziehungsweise der Werbung um Mitglieder oder Unterstützer für das Terrornetzwerk festgenommen. Die Anklage gegen Abu Walaa lautete auf Unterstützung der Terrororganisation IS sowie Aufruf zum Mord. Im Februar wurde er zu einer Haftstrafe von 10 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig. 118 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Am 1. Juni verurteilte das Jugendschöffengericht Weiden i. d. Strafverfahren in Oberpfalz den in Bayern als Gefährder eingestuften Eldar R. Bayern wegen der Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat gemäß SS 91 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr, ausgesetzt zu 3 Jahren Bewährung. Weiterhin muss er 100 Sozialstunden leisten und wurde dazu verpflichtet, bis 2024 an einer Deradikalisierungsmaßnahme teilzunehmen. Der zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung volljährige R. hatte im Jahr 2020 über Telegram eine Bombenbauanleitung aus einem offiziellen IS-Propagandavideo an einen Freund weitergegeben. Am 23. Dezember sprach der Strafsenat des Oberlandesgerichts München das Urteil gegen Abdalrahman A., der am 6. November 2021 in einem ICE zwischen Regensburg und Nürnberg 3 Menschen bei einem mutmaßlich islamistisch motivierten Messerangriff schwer verletzte. Während die Verteidigung auf einen Freispruch wegen Schuldunfähigkeit aufgrund einer erstgutachtlich diagnostizierten paranoiden Schizophrenie plädierte, forderte die Bundesanwaltschaft eine lebenslängliche Haftstrafe. Der Strafsenat verurteilte A. der Anklage folgend u. a. wegen des 3-fachen versuchten Mordes und der gefährlichen Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 14 Jahren. Ebenso bestätigten die Richter die jihadistisch-islamistische Motivation des Angeklagten für die Tat. Die von A. gemachten Angaben hinsichtlich einer vorliegenden psychischen Erkrankung konnten unter Hinzuziehung von 3 psychiatrischen Sachverständigen nicht bestätigt werden. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. 119 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus 3.2.9 Islamischer Staat, "al-Qaida" und andere terroristische Strukturen 3.2.9.1 Der Islamische Staat (IS) Entstehung und Die jihadistisch-salafistische Organisation des IS hat ihre Wurzeln Entwicklung in der 1999 gegründeten Gruppierung "Jama'at al-Tauhid walJihad" (JTJ), die sich unter der Führung des Terroristen Abu Musab al-Zarqawi formierte. Nach dem Sturz des Regimes um den irakischen Machthaber Saddam Hussein durch die USA und ihre Verbündeten im Jahr 2003 kam es zum Aufstand verschiedener sunnitischer Gruppen gegen die Besatzer, darunter auch durch die Gruppe von al-Zarqawi. 2004 schloss sich diese dem Netzwerk von AQ an und benannte sich in "al-Qaida im Zweistromland" (AQiZ) um. Der Iraker Abu Bakr al-Baghdadi übernahm 2010 bis zu seinem Tod 2019 die Führung der Organisation, löste sie von AQ ab und gab ihr 2013 den neuen Namen "Islamischer Staat im Irak und der Levante" (ISIL). Aufgrund von militärischen und territorialen Erfolgen sowie steigender Anhängerinnenund Anhängerzahlen rief al-Baghdadi im Jahr 2014 das Kalifat aus und benannte die Organisation in "Islamischer Staat" um. Al-Baghdadi kam 2019 bei einem Einsatz des US-Militärs im Nordwesten Syriens zu Tode. Sein Nachfolger, Abu Ibrahim al-Hashimi al-Qurashi, wurde bei einem US-Einsatz im Februar getötet. Am 10. März erfolgte die Ernennung des IS-Anführers Abu Hasan al-Hashimi al-Qurashi, der am 15. Oktober bei Gefechten zwischen dem IS und der Freien Syrischen Armee in Syrien getötet wurde. Ende November wurde der neue Kalif, Abu Hussain al-Hussaini al-Qurashi, bekannt gegeben. Der Sprecher des IS, Abu Omar al-Muhajir, kündigte bereits im April eine "Kampagne der Rache" für die Tötung der vorherigen IS-Führungspersonen an und forderte die IS-Anhängerschaft dazu auf, die günstige Gelegenheit des Ukraine-Russland-Krieges zu nutzen, um eine neue Anschlagswelle in Gang zu bringen. Noch im selben Monat verübte der IS mehr als 40 Anschläge in zahlreichen Ländern, schwerpunktmäßig in Westafrika und Irak. Mit der territorialen Niederlage des IS in Irak und Syrien ab Frühjahr 2019 veränderte sich die frühere Strategie von der Festigung und aggressiven Expansion des territorialen Kalifats hin zu einer strategischen Symbiose aus Terrorismus und Guerillataktik auf lokaler Ebene, mittels derer der IS aus dem Untergrund heraus agieren kann. Hierdurch konnte der IS seine Fähigkeit zur 120 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Vollendung von Anschlägen weiter auf hohem Niveau halten, wie z. B. Anschläge in der irakischen Hauptstadt Bagdad sowie in Afghanistan belegen. Zugleich beschleunigte der IS seine Dezentralisierung durch die Etablierung neuer Provinzen jenseits seines Kerngebietes, um sich weiterhin als global operierende Organisation darzustellen und zudem transnationale Bewegungsräume und den Rückgriff auf neue Unterstützerkreise zu ermöglichen. IS-Splittergruppen sind u. a. in Libyen, auf dem Sinai, in Pakistan, Provinzen des IS Afghanistan, Indien und Zentralafrika aktiv und haben dort zum Teil Provinzen ausgerufen. Im März 2015 schloss sich ein Teil der terroristischen Organisation "Boko Haram" aus Nigeria dem IS an, im gleichen Jahr verkündete der IS zudem die Gründung der "Provinz Kaukasus". Spätestens seit April 2019 ist ebenso die Existenz der "Provinz Türkei" bekannt. Der Schwerpunkt des IS bzw. seiner Provinzen hat sich dabei zuIS-Schwerpunkt in nehmend auf den afrikanischen Kontinent (beispielsweise Mali, Afrika Mosambik, Niger und die Zentralafrikanische Republik) verlegt, wo damit einhergehend auch eine erhöhte terroristische Aktivität zu verzeichnen ist. Weltweit sind fast die Hälfte aller Todesfälle infolge terroristischer Anschläge in Afrika südlich der Sahara verursacht worden, an denen der IS den überragenden Anteil aufweist. Im August gelang dem IS mittels Drohnenraketen und Artillerie ein koordinierter Angriff auf Soldaten der Militärjunta in Mali. Die zahlreichen Ableger und Provinzen des IS in Afrika ermöglichten letztlich, den territorialen Verlust in Irak und Syrien zu kompensieren, neue Anhängerinnen und Anhänger zu rekrutieren und eine neue terroristische Infrastruktur zu schaffen. Von dieser Entwicklung profitiert der IS mittlerweile weltweit. Im Januar stürmten IS-Kämpfer das von Kräften der "Syrian Democratic Forces" (SDF) kontrollierte Ghuwairan-Gefängnis im nordsyrischen al-Hasaka. Dabei befreiten sie zahlreiche inhaftierte IS-Anhänger. Der IS nutzte diesen Erfolg vor allem propagandistisch. Die IS-Propaganda findet aktuell über eine Reihe von Onlineplattformen Verbreitung, die sowohl als offizielle als auch als inoffizielle Sprachrohre dienen. Insbesondere die Online-Dienste Telegram und Instagram haben sich zur Verbreitung jihadistischer Propaganda und zur Szenevernetzung etabliert und an Bedeutung gewonnen. Mit dem offiziellen IS-Nachrichtenkanal "Amaq News Agency" wird weiterhin jihadistische Propaganda über die sozialen Netzwerke verbreitet. Insgesamt strahlt die Propagandaarbeit des IS ein neues Sendungsbewusstsein aus, womit 121 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus weltweit potenzielle Sympathisantinnen und Sympathisanten erreicht werden. Insbesondere sollen Einzeltäter mobilisiert und dazu motiviert werden, öffentlichkeitswirksame Anschläge zu verüben. Guerillakrieg gegen Nach der Machtübernahme der "Taleban" in Afghanistan Mitte die "Taleban" August 2021 konnten zahlreiche inhaftierte Mitglieder des ISAblegers in Afghanistan, "Islamischer Staat Provinz Khorasan" (ISPK), aus den zuvor von der gestürzten Regierung betriebenen Gefängnissen entkommen. Seither versucht der ISPK, wieder verstärkt in Afghanistan Fuß zu fassen und verübte dort zahlreiche Anschläge, sowohl auf die "Taleban" als auch auf Angehörige der schiitischen Hazara-Minderheit. Der ISPK, der in der Vergangenheit bereits zeitweise kleinere Territorien in der ostafghanischen Provinz Nangarhar kontrollierte, fordert die Herrschaft der "Taleban" direkt heraus. Seit August intensiviert der ISPK seinen Guerillakrieg gegen die "Taleban". Letztere versuchen indes, mit Nachdruck gegen die jihadistische Gruppierung vorzugehen. So berichtet "Human Rights Watch", im Zeitraum von Oktober 2021 bis April 2022 mehr als 100 Leichen in Nangarhar in einem Kanal gefunden zu haben. Laut Bericht führen die "Taleban" willkürliche Durchsuchungen von Wohnhäusern durch, in welchen sie Unterstützer oder ISPK-Kämpfer vermuten. Dabei konzentrieren sich die Operationen der "Taleban" gegen den ISPK vor allem auf außergerichtliche Verhaftungen und Hinrichtungen. Der ISPK ist gegenwärtig der stärkste Ableger des IS weltweit. Seit dem 12. September 2014 ist die Betätigung innerhalb der Vereinigung IS sowie die öffentliche Verwendung und Verbreitung von dessen Schriften und Symbolen in Deutschland verboten. 3.2.9.2 Das "al-Qaida"-Netzwerk (AQ) Im Unterschied zu regional-terroristischen Akteuren verfolgt das jihadistische Netzwerk AQ die transnationale Zielsetzung, langfristig ein weltweites Kalifat zu errichten. AQ und ihre regionalen Ableger sind für eine Vielzahl von terroristischen Anschlägen weltweit verantwortlich - z. B. für die Anschläge am 11. September 2001 in den USA. Entstehung und Entwicklungstendenzen Die Entstehung des AQ-Netzwerks ist eng mit dem von 1979 bis 1989 andauernden bewaffneten Konflikt um das sowjetisch besetzte Afghanistan verbunden. In dem nach dem Sieg über die sowjetischen Truppen entstandenen Machtvakuum gelang 122 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 es dem Jihad-Ideologen Abdullah Azzam und dem späteren AQ-Chef Usama bin Ladin, den Grundstein für das terroristische Netzwerk zu legen. Mit der Machtübernahme der "Taleban" begannen bin Ladin und Aiman al-Zawahiri ab 1996 - und unter dem Schutz des "Taleban"-Führers Mullah Omar - die Organisation auszubauen. Bis 2001 diente Afghanistan der AQ als Rückzugsort zur ideologischen Schulung und kämpferischen Ausbildung der Rekruten. Dabei vollzog AQ einen Strategiewechsel vom erklärten Krieg gegen den nahen Feind (Staaten im Nahen und Mittleren Osten) hin zum fernen Feind (USA und der Westen im Allgemeinen). Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 formierte sich AQ unter dem verstärkten Verfolgungsdruck neu, hin zu einem flexiblen Netzwerk. Die neu entstanden regionalen Ableger, wie "al-Qaida in Irak" (AQI), "al-Qaida im islamischen Maghreb" (AQIM), "al-Qaida auf der arabischen Halbinsel" (AQAH) und "al-Qaida im indischen Subkontinent" (AQIS), erweckten den Anschein eines weltweit aktiven Netzwerks. Die "Kern-AQ" unter der Führung al-Zawahiris fungierte als ideologische Inspiration für Einzelpersonen und jihadistische Gruppierungen weltweit, wie z. B. in Somalia, Syrien, Irak und Mali. Durch die Tötung mehrerer Führungspersonen der "Kern-AQ", darunter bin Ladin (2011) und al-Zawahiri (2022), wurde die Kernorganisation stark geschwächt. Aufgrund ihrer dezentralen Organisation büßten die regionalen Ableger dabei jedoch kaum an Bedeutung ein. Dennoch können AQ bisher keine Anschläge in vergleichbaren Dimensionen wie 2001 zugerechnet werden. Infolge der neuerlichen Machtübernahme der "Taleban" in Afghanistan im August 2021 gestanden diese, trotz des mit den USA 2020 geschlossenen "Doha-Abkommens", der AQ weiterhin das Gastrecht zu. Dies zeigte sich u. a. bei der Tötung al-Zawahiris im Juli mittels einer Drohne in einem Kabuler Wohnhaus, das mit dem Innenminister der "Taleban" Siradschuddin Haqqani in Verbindung gebracht wird. Zudem sprechen die Glückwünsche AQs an die "Taleban" anlässlich der erneuten Machtübernahme für eine Interessenkonvergenz und für eine mutmaßliche Nutzung Afghanistans als Rückzugsraum durch AQ. Die Ideologie des AQ-Netzwerkes Die von bin Ladin und Azzam etablierte salafistische Ideologie des AQ-Netzwerkes ist geprägt von den Schriften Abdullah Azzams und Sayyed Qutbs und deren Rechtfertigung des bewaffneten Jihads und des "Für-ungläubig-Erklärens" (arabisch: 123 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus "takfir"). Demnach gibt es nur den einen Islam in seiner durch bin Ladin, al-Zawahiri und Azzam geprägten Orientierung an den frommen Altvorderen (arabisch: "al-salaf al-salih") der islamischen Frühzeit. Dem steht die "Zeit des Unglaubens und der Unwissenheit" (arabisch: "jahiliyya") um den durch den Propheten Muhammad vermittelten "rechten Weg" gegenüber. Folgerichtig war es ein zentrales Anliegen bin Ladins, den Islam von allen "unislamischen Übergriffen" wie Sozialismus und Demokratie freizuhalten. Die Stationierung US-amerikanischer Truppen in islamischen Staaten war aus seiner Sicht nicht hinzunehmen. Aktuelle Entwicklungen AQ ist in den letzten Jahren zunehmend zu einem symbolischen Markenzeichen und zu einer Inspirationsquelle für jihadistische Personen geworden, die der Vorgehensweise des IS entweder ablehnend gegenüberstehen oder die Schwächung des IS zum Anlass nehmen, AQ zu folgen. Seine mehr als 30-jährige Entwicklung bietet für ehemalige Anhängerinnen und Anhänger des IS aus deren Sicht den Vorteil, die transnational-terroristische Infrastruktur AQs zu nutzen, die insbesondere jihadistische Ausbildungslager sowie grenzüberschreitende Kontaktverhältnisse umfasst. In 2022 veröffentlichte AQ die 5. Ausgabe ihres englischsprachigen Onlinemagazins "One Ummah", das dazu dient, weltweit neue Jihadisten für die terroristische Organisation zu mobilisieren, jedoch ohne erkennbare Mobilisierungseffekte. Daneben publizierten in 2022 auch mehrere AQ-nahe Medienstellen bzw. Gruppierungen neue Propaganda-Magazine. "Tanzim Mit der Tötung von al-Zawahiri durch eine US-Drohnenrakete am Hurras al-Din" 31. Juli in Kabul hat die "Kern-AQ" ihren langjährigen Anführer und einen für die ideologische Entwicklung der Organisation entscheidenden Vordenker verloren. Zudem kann der "Kern-AQ" in Europa seit vielen Jahren kein terroristischer Anschlag mehr zugerechnet werden, sie fungiert überwiegend als Inspirationsquelle für ihre Ableger. Zu diesen neueren Ablegern zählt die Organisation "Tanzim Hurras al-Din" (THD), die im Februar 2018 als Dachverband verschiedener jihadistischer Gruppen in Syrien gegründet wurde und sich die Errichtung eines islamischen Kalifats in Syrien zum Ziel gesetzt hat. In ihrer Gründungserklärung kündigte THD ein kompromissloses Vorgehen gegen die AssadRegierung an und rief die weltweite muslimische Gemeinschaft dazu auf, die muslimische Bevölkerung in Syrien zu "schützen". 124 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Zugleich fordert sie die Einheit aller jihadistischen Gruppen im Kampf gegen die "Feinde des Islam", beispielsweise die AssadRegierung in Syrien. 3.2.9.3 Hai'at Tahrir al-Sham (HTS) Von "al-Qaida in Irak" (AQI) wurden ab 2011 Kämpfer nach Syrien geschickt, um im Rahmen des dortigen Bürgerkrieges einen Ableger der jihadistischen Organisation zu gründen. Im Januar 2012 trat dieser dann erstmals mit einer Videobotschaft als "Jabhat al-Nusra li-Ahl al-Sham" (JaN, kurz auch "Jabhat al-Nusra") in Erscheinung und avancierte in der Folgezeit zu einem einflussreichen Akteur auf Seiten der syrischen Rebellengruppen. Ab 2013 spaltete sich eine Zelle von "Kern-AQ" um Muhsin al-Fadhli ab und bildete als "Khorasan"Khorasan-Gruppe" Gruppe" insbesondere aus Europa stammende Kämpfer u. a. für die Begehung von Anschlägen in ihren Herkunftsstaaten aus. Nach ihrer Umbenennung in "Jabhat Fath al-Sham" (JFS) im Juli 2016 schloss sie sich im Januar 2017 mit mehreren regimefeindlichen, jihadistischen und islamistischen Gruppen in Syrien zur Gruppe "Hai'at Tahrir al-Sham" zusammen. Diese Fusion erfolgte ohne Zustimmung der "Kern-AQ". HTS inszeniert sich als lokal verwurzelte Organisation, die Konflikt mit für die "syrische Revolution" kämpft und dadurch versucht, "al-Qaida" Unterstützung innerhalb der syrischen Bevölkerung zu generieren. Auf strategischer Ebene verfolgt HTS gegenwärtig einen auf Syrien fokussierten Ansatz zum Ausbau des eigenen Einflussgebietes. Dieser strategische Ansatz führte zu einer Intensivierung des Konfliktes mit der "Kern-AQ" sowie zu einem offenen Bruch mit Kadern, die sich der "Kern-AQ" verpflichtet fühlen. Der HTS-Führung unter Abu Muhammad al-Jaulani wird, auch seitens des IS, vorgeworfen, zugunsten einer nationalistischen Agenda ihre jihadistisch-salafistische Ideologie verwässert zu haben. Auch wird HTS dafür kritisiert, in den von ihr kontrollierten Gebieten auf die Durchsetzung der Scharia zu verzichten. Am 31. Mai 2018 stufte das US-Außenministerium HTS als ausländische terroristische Organisation sowie als global ausgerichtete Zweigorganisation der "Kern-AQ" ein. Ebenfalls im Mai 2018 stufte das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) die HTS als formal eigenständige terroristische Vereinigung ein, was eine Strafverfolgung nach SS 129a und SS 129b StGB ermöglicht. 125 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus Ungeachtet ihres Konfliktes mit der "Kern-AQ" gelang es HTS, nicht zuletzt aufgrund des starken Fokus der internationalen Gemeinschaft auf den Kampf gegen den IS, zu einer der größten und einflussreichsten bewaffneten Gruppen in Syrien aufzusteigen. Aufgrund militärischen Drucks der von russischen und iranischen Truppen unterstützten syrischen Streitkräfte sah sich die jihadistische Miliz ab 2018 jedoch gezwungen, zuvor kontrollierte Gebiete aufzugeben und ihre Kräfte im Norden und Nordwesten Syriens zusammenzuziehen. Dort versucht HTS, durch die von ihr installierte sogenannte "Heilsregierung" (arabisch: "hukumat al-Inqad") einen Mikrostaat zu errichten und diesen als Alternative zur "Syrischen Nationalkoalition" zu etablieren, die insbesondere in den türkisch besetzten Gebieten agiert. HTS ist darum bemüht, jihadistische Konkurrenz von AQ oder dem IS vor Ort zu bekämpfen und kleinzuhalten. HTS setzt nach außen auf eine PR-Strategie einer scheinbaren "Mäßigung", um internationale Legitimität zu erlangen und sich als die "Vertretung der syrischen Revolution" präsentieren zu können. HTS betont dabei, dass von ihr für den Westen keine Gefahr z. B. durch Anschläge ausgehe. Im Lichte dieser PRKampagne muss auch ein Interview des HTS-Führers Abu Muhammad al-Jaulani mit dem US-amerikanischen Journalisten Martin Smith für "PBS Frontline" im Februar 2021 gesehen werden. Im Juni 2021 stellte HTS der jihadistischen Gruppierung "Junud al-Sham" ein Ultimatum, sich der HTS anzuschließen oder die Region Idlib zu verlassen. "Junud al-Sham" beugte sich der HTS und übergab die bisher von ihr besetzten Gebiete an HTS. Für "Junud al-Sham" hatten auch Personen mit Bayernbezug gekämpft. Im Oktober reisten tschetschenische Jihadisten der Gruppierung "Ajnad al-Qauqaz" (auch "Ajnad Kavkaz") in die Ukraine, um dort an der Seite der ukrainischen Armee gegen russische Invasionstruppen zu kämpfen. Obwohl "Ajnad al-Qauqaz" offiziell loyal zur HTS war, gab es Spannungen zwischen den beiden Gruppierungen, da HTS andere Gruppen nur am Rande duldet. Jihadisten, die sich in der Region Idlib aufhalten und nicht der HTS fügen wollen, könnten sich demnach anderen Kriegsschauplätzen zuwenden. 126 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 3.2.9.4 Taleban Die "Taleban"-Bewegung entstand 1994 und regierte zwischen 1996 und 2001 einen Großteil des afghanischen Staates. Die Ideologie der "Taleban" setzt sich aus unterschiedlichen Versatzstücken zusammen und ist nicht den klassischen islamistischen Ideologien der "Muslimbruderschaft" oder des Salafismus zuzuordnen. Das innerhalb der "Taleban" agierende "Haqqani-Netzwerk" hält Kontakte zu enge Beziehungen zur jihadistisch-salafistischen AQ, die in der AQ Vergangenheit wiederum Ausbildungslager in Afghanistan unterhielt. Auch Usama bin Ladin genoss dort Gastrecht, was nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 letztlich zum Sturz des "Taleban-Regimes" im Rahmen einer US-geführten Militärkampagne führte. Auch während der Jahre des anschließenden NATO-Einsatzes konnten die "Taleban" nie gänzlich aus Afghanistan vertrieben werden und kontrollierten insbesondere in den letzten Jahren des internationalen Militäreinsatzes wieder vermehrt einzelne Territorien. Noch unter der Trump-Administration verständigten sich die USA und die "Taleban" auf einen Abzug US-amerikanischer Truppen aus Afghanistan. Im Gegenzug verpflichteten sich die "Taleban", auf afghanischem Boden keine Anschlagsplanungen gegen westliche Ziele zuzulassen sowie den afghanischen Ableger des IS (ISPK) zu bekämpfen. Nach dem Abzug der US-amerikanischen und der übrigen internationalen Truppen ab Mitte August 2021 nahmen die "Taleban" die afghanische Hauptstadt Kabul ein; die ehemalige Regierung floh größtenteils außer Landes. Bereits kurze Zeit später konnten die "Taleban" alle verbleibenden Provinzen Afghanistans unter ihre Kontrolle bringen. Seit dem endgültigen Abzug der internationalen Truppen am 31. August 2021 bemühen sich die "Taleban" um den Aufbau eines "Islamischen Emirates Afghanistan" und um eine schrittweise Durchsetzung ihrer Ideologie. So wurde im Dezember 2022 etwa ein Studierverbot für Frauen an afghanischen Universitäten und Hochschulen ausgesprochen, welches die "Taleban" mit dem eigenen SchariaVerständnis zu rechtfertigen versuchten. 127 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus 3.3 Sonstiger islamistischer Terrorismus 3.3.1 HAMAS (Islamische Widerstandsbewegung) Mitglieder Deutschland: ca. 4501 Bayern: Einzelpersonen Gründung 1988 Ideologischer Bezug Muslimbruderschaft 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 EU-Terrorliste Nach Beginn der sogenannten "Ersten Intifada" ("Aufstand der Palästinenser") im Dezember 1987 schlossen sich Anfang 1988 die palästinensischen Anhängerinnen und Anhänger der "Muslimbruderschaft" unter Führung von Ahmad Yasin zur "HAMAS" zusammen und nahmen den bewaffneten Kampf gegen Israel auf. Die "HAMAS" übt seit der gewaltsamen Machtübernahme 2007 die alleinige Kontrolle über den Gaza-Streifen aus. Sie verneint das Existenzrecht Israels und will auf dem gesamten Gebiet Palästinas einen "islamischen Staat" errichten. Sie lehnt deshalb auch den israelisch-palästinensischen Friedensprozess ab. Die "HAMAS" ist für eine Vielzahl terroristischer Aktionen verantwortlich, darunter zahlreiche Selbstmordattentate. Sie steht auf der EU-Liste terroristischer Organisationen. Vor diesem Hintergrund wurde im Juni auch die Verbreitung von Propagandamitteln der gelisteten Organisationen nach SS 86 StGB unter Strafe gestellt. Von der in Deutschland lebenden "HAMAS"-Anhängerschaft gehen Bestrebungen aus, die auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden und gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind. Deutschland wird von der "HAMAS" zur Sammlung von Spenden und zur Verbreitung ihrer Propaganda genutzt. Es ist immer wieder festzustellen, dass sich Eskalationen im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern auch auf das Demonstrationsgeschehen in Deutschland auswirken. Auch in den sozialen Netzwerken in Deutschland werden diese Auseinandersetzungen äußerst emotional kommentiert. 128 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 3.3.2 Hizb Allah (Partei Gottes) Personenpotenzial Deutschland: ca. 1.2501 Bayern: Einzelpersonen Gründung 1982 im Libanon Publikation al-Intiqad (Die Kritik) Fernsehsender al-Manar (Der Leuchtturm), Sitz in Beirut Ideologischer Bezug Schiitischer Islamismus 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 Das langfristige Ziel der "Hizb Allah" (deutsch: "Partei Gottes") ist die Zerstörung des Staates Israel und die "Herrschaft des Islam" über Jerusalem. Seit Jahren ist die "Hizb Allah" für Terroranschläge in Israel verantwortlich. In Deutschland hat sie bislang keine gewaltsamen Aktionen durchgeführt, nutzt aber das Bundesgebiet als Ruheund Rückzugsraum. Die Bestrebungen der "Hizb Allah" gefährden damit auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland und richten sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Aus diesem Grund wurde die "Hizb Allah" mit Wirkung zum 30. April 2020 vom Bundesministerium des Innern mit einem Betätigungsverbot belegt. Die "Hizb Allah" (auch: "Hisbollah" oder "Hizbollah") ist eine auf Initiative Irans gegründete schiitische Partei, die seit 1992 im libanesischen Parlament vertreten ist. Sie wird von Iran finanziell, materiell und ideologisch unterstützt. Sie ist einerseits eine politische Partei, die vor allem aufgrund ihres sozialen Engagements auf die Unterstützung ärmerer Bevölkerungsschichten zählen kann, andererseits verfügt sie über militärische Einheiten, die insbesondere im Süden Libanons unabhängig von der Staatsgewalt agieren. Der Aufforderung zur Entwaffnung dieser Miliz gemäß der UN-Sicherheitsratsresolution 1559 aus dem Jahr 2004 kam der politische Flügel der "Hizb Allah" bislang nicht nach. Im Mai 2008 hat das libanesische Kabinett der "Hizb Allah" offiziell "das Recht zum Widerstand gegen Israel" zugestanden. Die schiitische Miliz kann daher ungehindert den Ausbau der Verteidigungsanlagen nördlich der UN-Pufferzone zur Grenze Israels vorantreiben. Seit Beendigung des Libanonkrieges im Sommer 2006 wird sowohl von israelischer Seite als auch von der "Hizb Allah" selbst über eine erhebliche Aufrüstung der Miliz berichtet. 129 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamismus Die "Hizb Allah" verbreitet ihre antisemitische Propaganda u. a. über den libanesischen TV-Sender "al-Manar", der seinen Sitz in Beirut hat, aber auch in Deutschland zu empfangen ist. Da die Tätigkeit des Senders gegen deutsche Strafgesetze verstößt und sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet, wurde der Sender im Oktober 2008 vom Bundesministerium des Innern als verfassungsfeindliche Organisation verboten. Ansprachen und Fernsehinterviews des "Hizb Allah"-Generalsekretärs Hassan Sayyed Nasrallah werden in Deutschland hauptsächlich über die sozialen Medien verbreitet. 4. SONSTIGE VERBOTENE ORGANISATIONEN 4.1 Hilafet Devleti (Kalifatsstaat) Personenpotenzial Deutschland: ca. 700 1 Bayern: ca. 30 früherer Vorsitzender Metin Kaplan Gründung 1984 Sitz Köln Ideologischer Bezug Milli-Görüs-Bewegung Publizistisches Sprachrohr Muhacirun ("Auswanderer") 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 Die Vereinigung "Hilafet Devleti" (deutsch: "Kalifatsstaat") wurde 2001 vom Bundesminister des Innern in Deutschland nach dem Vereinsgesetz verboten. Am 22. Oktober 2013 verbot das Bayerische Staatsministerium des Innern den 2009 gegründeten Verein "Kulturund Bildungszentrum Ingolstadt e. V." als Ersatzorganisation des "Kalifatsstaates". Mit Urteil vom 27. Januar 2016 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof eine gegen das Verbot erhobene Klage des Vereins abgewiesen. Das Urteil ist rechtskräftig. 130 Islamismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Der "Kalifatsstaat" war eine am Führerprinzip orientierte, streng hierarchisch gegliederte Organisation, deren Ziel die Weltherrschaft des Islam unter dem Kalifat ihres Anführers Cemaleddin Kaplan und später seines Sohnes Metin Kaplan war. Der "Kalifatsstaat" richtete sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung sowie den Gedanken der Völkerverständigung und gefährdete die Innere Sicherheit Deutschlands. Das Verbotsverfahren und die staatlichen Exekutivmaßnahmen haben die Organisationsstruktur geschwächt. Gleichwohl gibt es in Deutschland noch immer Anhängerinnen und Anhänger, die das Gedankengut des "Kalifatsstaates" weiterhin verbreiten. Zudem ist die offizielle Internetseite des "Kalifatsstaates", die über einen Server in den Niederlanden betrieben wird, auch in Deutschland abrufbar. Die 1984 in Köln gegründete Organisation "Kalifatsstaat" (ehemals "Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e. V.") verstand sich als Wiederbelebung des durch Mustafa Kemal Atatürk 1924 in der Türkei abgeschafften Kalifats. Der frühere Vorsitzende des "Kalifatsstaates", Metin Kaplan, der wegen Mordaufrufes eine 4-jährige Gefängnisstrafe in Deutschland verbüßt hatte, wurde 2004 in die Türkei abgeschoben und dort ebenfalls zu einer Haftstrafe verurteilt. Seit seiner Haftentlassung im November 2016 lebt Kaplan in Istanbul und hält den Kontakt zu seiner Gefolgschaft durch die Veröffentlichung von Freitagsgebeten über Onlineplattformen aufrecht. In Bayern liegen Erkenntnisse über Strukturen und propagandistische Aktivitäten im Sinne der "Kalifatsstaat-Ideologie" von Anhängerinnen und Anhängern Kaplans vor. Am 28. Juni fanden bundesweit staatliche Exekutivmaßnahmen gegen Mitglieder und Unterstützer des "Kalifatsstaates" statt. Hiervon waren auch verantwortliche Personen in Bayern betroffen. 131 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auslandsbezogener Extremismus Auslandsbezogener Extremismus " Zunahme von Veranstaltungen der türkischrechtsextremistischen Szene " Hohe Präsenz der türkisch-linksextremistischen Szene und mehrere Festnahmen bei Demonstrationen gegen den G7-Gipfel 132 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Nichtislamistische extremistische Gruppierungen, die ihren Ursprung im Ausland haben, sind auch in Deutschland aktiv, um die politischen Verhältnisse in ihren Heimatstaaten antidemokratisch zu verändern, in Deutschland lebende Personen mit Migrationshintergrund für ihre Zwecke zu beeinflussen oder für ihre Ideologie zu gewinnen. Sie wollen z. B. eigene Staaten gründen, kommunistische Systeme errichten oder verfolgen eine rechtsextremistische Agenda. Die Umsetzung der ideologischen Ziele wird hierbei von Deutschland aus betrieben. Ihre Bestrebungen richten sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung und gefährden die Innere Sicherheit, die öffentliche Ordnung sowie die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland. Unter ihrer Gefolgschaft finden sich neben Ausländerinnen und Ausländern auch deutsche Staatsangehörige mit Migrationshintergrund sowie deutsche Extremistinnen und Extremisten. 133 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auslandsbezogener Extremismus 1. PERSONENPOTENZIAL IN BAYERN Im Jahr 2022 waren dem Spektrum des auslandsbezogenen Extremismus (ohne Islamismus) etwa 3.190 Personen (2021: 3.390) zuzurechnen: 2020 2021 2022 PKK 1.900 1.900 1.700 Rechtsextremistische 1.300 1.300 1.300 Organisationen Linksextremistische 190 190 190 Organisationen gesamt 3.390 3.390 3.190 Die Zahlenangaben sind geschätzt und gerundet. 2. ALLGEMEINES Organisationen, die dem auslandsbezogenen Extremismus zuzurechnen sind, verfolgen grundsätzlich eine Doppelstrategie. Während sie in ihren Ursprungsstaaten ihre Gefolgschaft für den - in Teilen bewaffneten - Kampf mobilisieren beziehungsweise bis hin zur Gewaltanwendung radikalisieren, nutzen sie Deutschland und Europa primär als Rückzugs-, Finanzierungsund Rekrutierungsraum. Sie wollen hier Gefolgsleute werben, Spenden und Mitgliedsbeiträge generieren und nicht zuletzt Einfluss auf den politischen Diskurs gewinnen. Ihre Strategien und Aktivitäten in Deutschland zielen daher besonders darauf ab, Akzeptanz und Anschlussfähigkeit in der Mehrheitsgesellschaft zu erlangen. 2.1 Strömungen des auslandsbezogenen Extremismus Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Die PKK verfolgt das Ziel der Gründung eines kurdischen Staates. Für die Organisation und ihr Anhängerschaft stellen Europa und Deutschland Rückzugsräume dar. Sogenannte "Kader" der Partei treiben bei hier lebenden Sympathisanten "Spendengelder" ein, um den umfangreichen Propagandaapparat in Europa und den Unterhalt der Organisation zu finanzieren. Neben dem finanziellen Beitrag zur Unterstützung der 134 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Organisation und ihrer Ziele erwartet die PKK von ihrer Anhängerschaft zudem, den politischen und militärischen Kampf der Bewegung für die "Freiheit Kurdistans" mitzutragen. Zentrale Forderung der Propaganda in Deutschland ist die Aufhebung des im November 1993 erlassenen Betätigungsverbotes für die PKK: Im Juli 1993 verübten militante PKK-Angehörige nahezu zeitgleich in verschiedenen Städten Deutschlands rund 60 Überfälle und Brandanschläge auf türkische diplomatische Vertretungen sowie Banken, Reisebüros, Gaststätten und Vereinslokale. Bei den Anschlägen wurde ein türkischer Staatsbürger getötet und mehrere Personen verletzt. Seit spätestens Ende der 1990er Jahre ist die PKK zunehmend darum bemüht, sich vom negativen Image einer Terrororganisation zu befreien. Sie will in Deutschland und Europa nach außen hin jede Assoziation mit den Themen "Kampf" und "Gewalt" vermeiden und ihren Bestrebungen ein demokratisches Antlitz verleihen. Türkischer Rechtsextremismus Die als "Graue Wölfe" bekannte türkisch-rechtsextremistische "Ülkücü"-Bewegung verfolgt in der Türkei und in Deutschland eine Doppelstrategie. So zielt ihre legalistische Agenda in der Türkei darauf ab, in Gestalt der "Milliyetci Hareket Partisi" (MHP, deutsch: "Partei der Nationalistischen Bewegung"), die im Wahlbündnis mit der Regierungspartei "Adalet ve Kalkinma Partisi" (AKP, deutsch: "Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung") steht, Wählerstimmen und einen möglichst großen Einfluss auf staatliche Strukturen zu gewinnen. In Deutschland versuchen die Angehörigen der türkischrechtsextremistischen Szene hingegen, sich vor allem im Rahmen ihrer offiziellen Vereinsund Verbandsaktivitäten als rechtsund verfassungsloyale Kulturinitiatorinnen und -initiatoren zu präsentieren, um hier - möglichst 135 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auslandsbezogener Extremismus abseits einer kritischen Öffentlichkeit - Indoktrinationsund Rekrutierungsarbeit innerhalb türkischsprachiger Gesellschaftsteile betreiben zu können. Die "Ülkücü"-Bewegung hat es in einem über Jahrzehnte währenden Wandlungsund Ausdifferenzierungsprozess geschafft, ihre im Kern stets auf rassistischen Überlegenheitsidealen fußende Ideologie immer breitenwirksamer zu propagieren. Heute umfasst die ideelle und organisatorische Anschlussfähigkeit der ihr zugeschriebenen Organisationen und Gruppierungen ein breites Spektrum innerhalb der türkischen Gesellschaft beziehungsweise innerhalb der türkischstämmigen Bevölkerung in Europa und Deutschland. Diese reicht von nationalistisch eingestellten Türkinnen und Türken über säkular orientierte Anhänger des Kemalismus bis hin zu islamistisch geprägten Milieus. Gewaltund WaffenGerade im Hinblick auf die innerhalb der "Ülkücü"-Bewegung affinität vorherrschende Gewaltund Waffenaffinität sind insbesondere die europäischen Ableger der Bewegung darum bemüht, ihre Anhängerschaft zu einem gemäßigten Auftreten in der Öffentlichkeit anzuhalten. Gleichzeitig werden innerhalb der Organisationen und im Rahmen entsprechender Veranstaltungen die gewaltinhärenten Aspekte der "Ülkücü"-Bewegung und ihrer Geschichte regelmäßig gewürdigt und zelebriert. Insbesondere in der unorganisierten türkisch-rechtsextremistischen Szene ist darüber hinaus eine hohe Affinität zu Schusswaffen zu beobachten. In einer Vielzahl von Social-Media-Beiträgen einzelner Szeneangehöriger werden Schusswaffen - oft mit Symbolen der "Ülkücü"-Bewegung versehen - dargestellt und stoßen auf positive Resonanz bei anderen Szeneangehörigen. Türkischer Linksextremismus Die türkische linksextremistische Szene und ihr Unterstützerkreis in Deutschland stellen sich als in der Türkei zu Unrecht verfolgte "Regimegegner" dar und versuchen, ihr Image in Deutschland aufzubessern. Wenngleich sie häufig - auch offen - die terroristischen Aktionen ihrer Organisationen in der Türkei befürworten, versuchen sie Einfluss auf den öffentlichen Diskurs in Deutschland auszuüben. Insbesondere durch die Zusammenarbeit mit der deutschen linksextremistischen Szene soll der politische Anschluss bis hinein ins bürgerliche Spektrum erreicht werden. 136 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Ein wichtiges Ziel der türkisch-linksextremistischen Szene und ihrer Propaganda ist es, einer strafrechtlichen Verfolgung und öffentlichen Stigmatisierung ihrer Anhängerschaft entgegenzuwirken. Hierfür inszenieren sie sich mitunter als Opfer der deutschen Justiz, die sie in öffentlichen Beiträgen wahlweise als "Handlangerin des türkischen Regimes" oder Repräsentantin eines "kapitalistischen Unterdrückungsregimes" diffamieren. Sonstiger auslandsbezogener Extremismus Im Bereich des auslandsbezogenen Extremismus finden sich nicht nur Gruppierungen mit Bezug zur Türkei, sondern auch Organisationen, die systemverändernde oder separatistische Bestrebungen in ihren Heimatländern in anderen Teilen der Welt verfolgen. Im Fokus stehen dabei insbesondere säkulare extremistische palästinensische Gruppierungen, wie zum Beispiel die "Volksfront zur Befreiung Palästinas" (PFLP), deren Ziel die Gründung eines palästinensischen Staates in den Grenzen des historischen Palästina vor Gründung des modernen Staates Israel ist. In Deutschland konzentrieren sich diese Gruppierungen in der Regel auf Propagandaarbeit, z.B. mittels Veranstaltungen. Die Intensität und Emotionalität des Demonstrationsgeschehens in Deutschland wird hierbei maßgeblich von der Lage im Nahen Osten bestimmt. Auch Aktivitäten und Handlungen in Deutschland im Zusammenhang mit der Unterstützung des russischen Angriffskrieges in der Ukraine können in das Spektrum des auslandsbezogenen Extremismus fallen. 137 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auslandsbezogener Extremismus 2.2 Konfliktund Gewaltpotenzial Die Aktivitäten auslandsbezogener extremistischer Organisationen in Deutschland werden im Wesentlichen von politischen Ereignissen und Entwicklungen in den jeweiligen Herkunftsstaaten beeinflusst. So können aktuelle Konflikte im Ausland unmittelbar zu gewaltsamen Aktivitäten in Deutschland führen. Die Eskalation des Kurdenkonfliktes in der Türkei seit 2015 sowie die Ereignisse in der Folge des gescheiterten Militärputsches vom 15. Juli 2016 wirken sich nach wie vor erkennbar auf türkische und kurdische extremistische Organisationen in Deutschland aus. Vor allem zwischen Vertretern des PKK-Lagers und der türkisch-rechtsextremistischen Szene kam es in den vergangenen Jahren immer wieder auch zu Übergriffen und teils gewalttätigen Konfrontationen. Militäroffensiven Mitte April startete unter der Bezeichnung "Operation Kral"Kralle-Schloss" und le-Schloss" eine weitere Militäroperation gegen Stellungen der "Kralle-Schwert" Guerillaeinheiten der PKK im Nordirak. Bereits im April 2021 wurde unter der Bezeichnung "Operation Krallenblitz" eine ähnliche Militäroffensive durchgeführt. Mit dem Bekanntwerden der Offensive und infolge entsprechender Aufrufe fanden in zahlreichen deutschen Städten Demonstrationen unter Beteiligung von PKK-Anhängern statt, bei denen gegen das militärische Vorgehen der Türkei im Nordirak protestiert wurde. In Bayern kam es nur zu vereinzelten Protestaktionen. Als Reaktion auf den Bombenanschlag in Istanbul am 13. November 2022, den die Türkei der syrischen YPG/PKK anlastet, führte die türkische Armee unter der Bezeichnung "Operation Kralle-Schwert" Luftangriffe in Nordsyrien und Nordirak durch. Deutschlandweit war daraufhin ein erhöhtes Demonstrationsgeschehen festzustellen. In Bayern fanden Protestaktionen u.a. in den Städten München, Nürnberg und Ingolstadt statt, an denen neben bürgerlichen Initiativen ebenso PKK-Anhänger sowie deutsche und türkische Linksextremisten teilnahmen. Steigende Faktoren wie der Grad der Polarisierung der politischen Debatte Polarisierung und in der Türkei sowie das militärische und außenpolitische Wirken Gewaltpotenzial der Türkei in internationalen Konfliktregionen sorgen nicht nur unter PKK-Anhängerinnen und -Anhängern für ein gesteigertes Gewaltpotenzial. Zunehmend zeichnet sich auch innerhalb 138 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 der türkisch-rechtsextremistischen Szene in Deutschland und Bayern ein gewisses Aggressionspotenzial ab. In der Vergangenheit kam es im Rahmen prokurdischer Demonstrationen wiederholt zu Provokationen und gewalttätigen Übergriffen von "Ülkücü"-Angehörigen. Auch die anhaltende Feindbildrhetorik türkischer RegierungsFeindbildrhetorik verantwortlicher sowie in regierungsnahen Medien gegenüber Personen und Gruppierungen, die in tatsächlicher oder mutmaßlicher Opposition zur gegenwärtigen Regierung stehen, können grundsätzlich einen gewaltfördernden Effekt auf die hiesige "Ülkücü"-Bewegung haben. Insbesondere der unorganisierten "Ülkücü"-Szene zuzurechnende Personen beteiligen sich in unterschiedlicher Form an digitalen Agitationskampagnen gegen vermeintliche Feinde der aktuellen türkischen Staatsführung im Inund Ausland. Der Mord an der HDP-Aktivistin Deniz Poyraz belegt, dass vor dem Hintergrund der anhaltend zugespitzten politischen Debatte in der Türkei Gewaltdelikte durch Angehörige der türkischen rechtsextremistischen Szene nicht auszuschließen sind. Am 17. Juni 2021 stürmte der bewaffnete Rechtsextremist Onur Gencer die Parteizentrale der prokurdischen Partei HDP in der türkischen Stadt Izmir und erschoss die dort anwesende Poyraz. Motiv des Täters war Hass auf vermeintliche PKK-Aktivistinnen und -Aktivisten. Gencer gab bei den Vernehmungen nach der Tat u. a. an, er habe seit seiner "Kindheit davon geträumt", PKK-Angehörige zu töten. Zudem habe er die Tat "spontan" begangen. Einige türkische Medien verwiesen - bezugnehmend auf öffentlich gewordene Social-MediaBeiträge des Täters, in denen dieser u. a. den Wolfsgruß zeigte - auf dessen ideologische Nähe zur "Ülkücü"Bewegung. Der Angeklagte, der sich vor Gericht nicht von seiner rassistischen Ideologie distanziert hatte, wurde türkischen Medienberichten zufolge im Dezember 2022 zu 9 Jahren Haft verurteilt. Im Kontext der anstehenden Parlamentsund Präsidentschaftswahl in der Türkei im Juni 2023 ist nicht auszuschließen, dass sich die Konfliktlage weiter verschärft. 139 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auslandsbezogener Extremismus 2.3 Antisemitismus Im Kontext des auslandsbezogenen Extremismus erscheint Antisemitismus in unterschiedlicher Gestalt. Während er sich etwa im türkischen Rechtsextremismus teils unverhohlen rassistisch manifestiert, spielt er im Bereich der PKK und des türkischen Linksextremismus zwar ideologisch eine untergeordnete Rolle, ist jedoch immer wieder in Form antisemitisch konnotierter Kapitalismusund Israelkritik zumindest unterschwellig präsent. Grundsätzlich sind die meisten Akteure aller Strömungen des auslandsbezogenen Extremismus bestrebt, offen antisemitische Äußerungen zu vermeiden, um ihr vorrangiges Ziel nicht zu gefährden, sich in Deutschland als seriöse, gemäßigte Ansprechpartner für Politik, Behörden und Sozialverbände zu positionieren. Trotzdem sind immer wieder antisemitische Ausführungen und Parolen festzustellen. Israelkritik als Vor allem der Israel-Palästina-Konflikt im Nahen Osten stellt eine Tarnung zentrale Bezugsgröße für die antijüdische Agitation der verschiedenen Akteure des auslandsbezogenen Extremismus dar. Hier setzt insbesondere auch der antizionistische Antisemitismus an - eine Form des Antisemitismus, die über einzelne Szenegrenzen hinausreicht und vorgibt, "nur" das Handeln des Staates Israel zu kritisieren, tatsächlich aber das Existenzrecht Israels ablehnt. Antizionisten diffamieren den jüdischen Staat und seine Siedlungspolitik, indem sie ihm einen "Vernichtungskrieg" und eine Politik der "Ausrottung" vorwerfen. Die Feindschaft gegen den Staat Israel wird hierbei mit klassischen Stereotypen der Judenfeindlichkeit verbunden. Typische Aktionsformen sind hier z.B. israelkritische Boykottaufrufe. Im Zusammenhang mit dem "Nakba-Tag" (arabisch: "Unglück" oder "Katastrophe") im Frühjahr wurde bei Veranstaltungen in München und Nürnberg zum Thema "Menschenrechte im Nahen Osten" der Slogan "From the river to the sea, Palestine will be free" verwendet. Diese Formulierung kann, abhängig von Kontext und Verwendungsintention, als antisemitisch gewertet werden. Akteure wie die "Palästinensische Befreiungsorganisation" (PLO), die "Volksfront zur Befreiung Palästinas" (PFLP) oder auch die islamistische HAMAS benutzten bzw. benutzen den Slogan im Sinne der Verneinung des Existenzrechts Israels. 140 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Als geografische Chiffre eines Palästina vom Jordan zum Mittelmeer legt der Slogan zumindest eine antisemitische Verwendung nahe. Der "Nakba-Tag" findet am 15. Mai, dem Tag nach der israelischen Staatsgründung statt. Als "Nakba" wird hierbei die Flucht und Vertreibung von Palästinensern aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina bezeichnet. 2.3.1 Antisemitismus und Antizionismus der PKK-Szene Auch die Ideologie und Propaganda der PKK weist antisemitische bzw. antizionistische Anknüpfungspunkte auf. Die PKK setzt ihren Kampf dabei regelmäßig mit der Situation des palästinensischen Volkes gleich und sieht sich selbst als dessen Verbündete im Kampf gegen den "Imperialismus" Israels. Gleichwohl ist die PKK darauf bedacht, über ihre deutschsprachigen Kanäle und Medien nicht offen antisemitisch zu agitieren. Klar antisemitische Positionen werden vornehmlich in organisationsinternen Publikationen und Debatten verlautbart. In der Februarausgabe (2021) der Parteizeitung "Serxwebun" (deutsch: "Unabhängigkeit") erschien z. B. ein Beitrag unter der Überschrift "Der Sieg von Gare", in dem ein "internationales Komplott" beschworen wird, hinter dem die "geistige und finanzielle Kraft Israels" stecke. In der gleichen Ausgabe findet sich zudem ein Auszug aus einem Buch Abdullah Öcalans, in dem dieser u. a. ausführt, dass der Anteil des jüdischen Kapitals und der jüdischen Ideologen am deutschen Faschismus nicht vernachlässigt werden dürfe. In Deutschland bestünde zwischen dem Judentum und dem Faschismus eine "dialektische Verbindung", so Öcalan in seinem Buch. 2.3.2 Antisemitismus im türkischen Rechtsextremismus Antisemitismus ist kennzeichnend für die türkische rechtsextreÜberhöhung des mistische "Ülkücü"-Bewegung. Die nationalistische und rassisTürkentums tische Ideologie der "Grauen Wölfe" basiert auf einer Überhöhung der Türkei und des Türkentums bei gleichzeitiger Abwertung von Menschen jüdischen Glaubens oder anderer Ethnien und Religionen wie z. B. Armeniern und Kurden. Nihal Atsiz, ein bis heute innerhalb der Szene verehrter "Ülkücü"-Vordenker und Autor rassistischer und antisemitischer Schriften, schrieb bereits 1934 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift "Orhun", deren Titel auf eine alttürkische Runen-Schrift verweist: 141 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auslandsbezogener Extremismus Die als "Jude" bezeichnete Kreatur wird von nie mandem auf dieser Welt gemocht, außer von den Juden selbst und von den Charakterlosen. [...] Das Türkentum ist ein Privileg, das nicht jedem Menschen, schon gar nicht Menschen wie den Juden, zuteil wird. Wenngleich der organisierte Teil der Bewegung in Deutschland einen derart offenen Antisemitismus zu vermeiden versucht, äußern sich vor allem jugendliche Gefolgsleute der Bewegung insbesondere im Internet offen und unverhohlen antisemitisch. Im Rahmen der antisemitischen Propaganda im türkischen Rechtsextremismus werden Menschen jüdischen Glaubens pauschal als Staat und Gesellschaft kontrollierende, obskure Machthaber im Hintergrund dargestellt, die sowohl Medien manipulieren, als auch innermuslimische Konflikte sowie Krisen und Konflikte in der Türkei schüren. In sozialen Netzwerken, aber auch auf Demonstrationen, trifft man zudem auf Angehörige der türkisch-rechtsextremistischen Szene, die israelkritische Themen als Anlass für ihre Agitation aufgreifen und sich hierbei typischer Motive der islamistischen Israelund Judenfeindlichkeit bedienen. 2.3.3 Antisemitismus im türkischen Linksextremismus Antizionismus Wie im deutschen Linksextremismus existiert auch im türkiAntiimperialismus schen Linksextremismus kein rassistisch motivierter AntiseAntikapitalismus mitismus. Dennoch sind auch in Teilen des türkisch-linksextremistischen Spektrums unter den Stichworten "Antizionismus", "Antiimperialismus" sowie "Antikapitalismus" im Kern antisemitische Ressentiments vorhanden, die vorrangig in Stellungnahmen zum ungelösten Nahostkonflikt in Erscheinung treten. Auch Angehörige der türkisch-linksextremistischen Szene sehen Israel als imperialistische Besatzungsmacht, die Krieg gegen das palästinensische Volk führe und ein Vorposten der USA sei. Die Übergänge zum Antisemitismus sind in der Argumentation teilweise fließend. 142 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 3. STRUKTUREN 3.1 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Anhänger Deutschland: 14.500 1 Bayern: ca. 1.700 Leitung Abdullah Öcalan Gründung 1978 in der Türkei Publikation Serxwebun (Unabhängigkeit), Yeni Özgür Politika (Neue Freie Politik) 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 Die PKK ist in Deutschland seit dem 26. November 1993 verboten. Seit dem 2. Mai 2002 wird sie in der Liste terroristischer Organisationen der EU geführt. Das deutsche Verbot umfasst die späteren Umbenennungen in "Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans" (KADEK), "Volkskongress Kurdistans" (KONGRA GEL), "Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan" (KKK) und "Vereinigte Gemeinschaften Kurdistans" (KCK). Mit Schreiben vom 2. März 2019 verfügte das BundesministeVerbot der rium des Innern eine Ausweitung der Verbotsverfügung gegen Öcalan-Fahne die PKK und ihre Kennzeichen. Seitdem ist es in Deutschland auch verboten, die Fahne mit dem Abbild Abdullah Öcalans auf gelbem oder gelb-grünem Hintergrund zu zeigen. Die PKK wurde 1978 von Abdullah Öcalan in Ostanatolien als marxistisch-leninistisch orientierte Organisation gegründet. Sie sollte durch einen Guerillakrieg eine Revolution mit dem Ziel eines unabhängigen kurdischen Staates herbeiführen. Über 2 Jahrzehnte lang führte die PKK innerhalb und außerhalb der Türkei terroristische Anschläge durch. Nach der Festnahme des PKK-Führers Abdullah Öcalan im Jahr 1999 kam es zu einem taktisch bedingten Kurswechsel. Zumindest im Ausland wurde auf die Durchführung planmäßiger Gewaltaktionen verzichtet. Das ursprüngliche Ziel der Errichtung eines unabhängigen kurdischen Staates wurde zugunsten eines staatenübergreifenden kurdischen Autonomie-Modells, das bestehende staatliche Grenzen anerkennt, aufgegeben. 143 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auslandsbezogener Extremismus Regionale Strukturen Bei der PKK und ihren deutschen Ablegern handelt es sich um in Bayern: "Eyalets" eine Kaderorganisation mit einem weitverzweigten Funktionärswesen und strikten Befehlsstrukturen. Die PKK hat sich 2016 in Deutschland regional umstrukturiert. Unter Beibehaltung der 31 Gebiete wurden die ehemals 4 Sektoren nun in 9 Regionen ("Eyalets") aufgeteilt. In Bayern existieren die Gebiete Südbayern und Nordbayern. An der Spitze dieser hierarchischen Struktur stehen Funktionäre, die in der Regel durch die europäische Leitungsebene der Organisation eingesetzt werden. Die Zuweisung auf die einzelnen Funktionen erfolgt zumeist nur für einen begrenzten Zeitraum. Die hauptamtlichen Kader der PKK sind ideologisch geschult und leben äußerst konspirativ an häufig wechselnden Orten. Die PKK-Anhängerschaft organisiert sich in Deutschland und Bayern auch unter dem Deckmantel legaler Vereinsund Verbandsstrukturen. Die Organisationen, die diesen Strukturen zuzurechnen sind, stellen sich in der Regel nach außen als reine Kulturvereine dar. Ein Nachweis, dass ihre Betätigung unmittelbar der PKK zuzurechnen ist, lässt sich meist nur im Einzelfall führen. Insgesamt kann jedoch angenommen werden, dass der illegal tätige Funktionärsapparat der PKK die Agenda dieser legalistischen Strukturen in Deutschland und Europa maßgeblich beeinflusst und steuert. Die jeweiligen Vereine und Verbände haben vor diesem Hintergrund vor allem die Aufgabe, die Ziele und Politik der PKK zu verbreiten und zu fördern und dienen des Weiteren als regionale Anlaufstellen für PKK-Aktivistinnen und -Aktivisten. Der Dachverband dieser PKK-nahen Strukturen in Deutschland erfuhr im Mai 2019 eine Umstrukturierung. Die zuvor unter der Bezeichnung NAV-DEM ("Dachverband Demokratisches Kurdisches Gesellschaftszentrum Deutschlands e. V.") auftretende Dachorganisation wurde umbenannt und firmiert seither unter der Bezeichnung KON-MED ("Konföderation der Gemeinschaften Kurdistans in Deutschland e.V."). Organisatorisch unterscheidet sich die KON-MED vom Vorgänger NAV-DEM u. a. darin, dass sie nun über regionale Untergruppierungen verfügt, die sogenannten "Föderationen". Zuständig für Bayern und Baden-Württemberg ist demnach die "Föderation der Völker Kurdistans" (FED-GEL). KON-MED in Bayern In Bayern existieren zurzeit 3 Vereine, die der KON-MED angehören: "Medya Volkshaus e. V." in Nürnberg, "Kurdisches Gesellschaftszentrum München e. V." und "Demokratisches Kurdisches Gesellschaftszentrum Aschaffenburg e. V." 144 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Alle 3 Vereine initiieren regelmäßig Versammlungen zur PKKThematik, wie beispielsweise zur Aufhebung des PKK-Verbotes. Auch Fahrten zu überregionalen Veranstaltungen mit PKKBezug werden organisiert. Die PKK zeigt ein ambivalentes Verhältnis zur Gewalt. Einem militärischen Auftreten im türkisch-irakischen beziehungsweise türkisch-syrischen Grenzgebiet steht ein grundsätzlich friedliches Verhältnis zur Gewalt Vorgehen in Deutschland und Europa gegenüber. Dieses Vorgehen wird auch aktuell von der Zielsetzung geleitet, sich europäische Staaten als Ruheund Rückzugsräume zu bewahren. Die PKK ist nach wie vor in der Lage und bereit, zumindest punktuell Gewalt auch in Deutschland einzusetzen beziehungsweise Gewalttaten ihrer jugendlichen Gefolgschaft zu dulden. Als wesentliche Propagandaplattformen dienen in Deutschland neben im Ausland ansässigen Fernsehsendern regelmäßig erscheinende Zeitungen wie die Tageszeitung "Yeni Özgür Politika" (deutsch: "Neue Freie Politik"), in denen fortlaufend Stellungnahmen von führenden PKK-Funktionären veröffentlicht werden. Auch soziale Netzwerke werden intensiv zur Verbreitung von Propaganda und zur Mobilisierung für Veranstaltungen und Kundgebungen genutzt. Für das Aktivitätsund Aggressionsniveau der PKK in Deutschland ist die innenpolitische Lage in der Türkei ein entscheidender Faktor. Die PKK-nahe Szene reagiert mitunter äußerst rasch und unmittelbar auf Ereignisse und Konflikte in der Türkei und der umliegenden Region. Dadurch will die Szene in Deutschland Einfluss auf die türkische Innenpolitik und die auswärtigen Beziehungen der Türkei ausüben, den türkisch-kurdischen Konflikt zugleich aber auch auf die Tagesordnung deutscher und internationaler Politik bringen. Am 7. Mai 2021 wurde der PKK-Gebietsleiter Bayern festgeHaftstrafe gegen nommen. Im Prozess gegen ihn vor dem Oberlandesgericht Gebietsleiter Bayern München wurde der Angeklagte im November 2022 zu 3 Jahren Haft verurteilt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass er sich seit Juni 2020 als Leiter eines PKK-Gebietes betätigt hatte und aktives Mitglied in einer als terroristische Vereinigung im Ausland eingestuften Organisation ist. Während des Prozesses kam es zu mehreren Kundgebungen des PKK-Umfelds vor dem Gerichtsgebäude, bei welchen die Freiheit aller kurdischen politischen Gefangenen gefordert wurde. Das PKK-nahe Nachrichtenportal ANF veröffentlichte diverse Artikel über einzelne Prozesstage. 145 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auslandsbezogener Extremismus Die örtlichen Leitungskader der PKK in Europa unterliegen einem regelmäßigen Rotationsverfahren. Ziel ist es dabei vor allem, Beobachtungsund Verfolgungsmaßnahmen durch staatliche Stellen zu erschweren. Zusammenarbeit mit der linksextremistischen Szene Zwischen der PKK und deutschen linksextremistischen Gruppierungen kam es in den vergangenen Jahren immer wieder zu einer themenbezogenen Kooperation und gegenseitigen Unterstützung. Eine Zusammenarbeit erfolgt vorwiegend dann, wenn sich die vom linksextremistischen Spektrum besetzten Aktionsfelder wie z. B. Antiimperialismus oder Antimilitarismus und das von der PKK besetzte Themenpotenzial überschneiden. Die türkischen Militäroffensiven in Rojava seit 2016 lösten ein Zusammenrücken beider Lager aus. Bei der hauptsächlich von Kurden bevölkerten Region Rojava handelt es sich um ein Autonomiegebiet in Nordund Ostsyrien. Angesichts der Luftangriffe der Türkei in Nordsyrien und Nordirak im November solidarisierte sich die deutsche linksextremistische Szene mit der PKK und protestierte in Teilen gegen die Luftangriffe. Die "Interventionistische Linke in Nürnberg" veröffentlichte in sozialen Netzwerken das Plakat "Biji Berxwedana Kurdistan!" (deutsch: "Es lebe der Widerstand in Kurdistan!"). Sie setzt sich auch für die Aufhebung des PKK-Verbotes ein. 3.2 Türkischer Rechtsextremismus Mitglieder Deutschland: 11.000 1 Bayern: 1.300 Publikation Türk Federasyon Bülteni und Alperen/Alperen-Genclik 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 Der türkische Rechtsextremismus umfasst ein breites Spektrum ultranationalistischen und rassistischen Gedankenguts. Eine herausragende Rolle nimmt hierbei die "Ülkücü"-Bewegung ("Idealisten"-Bewegung) ein, deren Ursprünge bereits auf die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zurückgehen. Das Symbol der Bewegung ist der "Graue Wolf", der gemäß 146 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 unterschiedlichen Legenden als Schutztier aller Turkvölker gilt. Darauf aufbauend wird die Gefolgschaft der Bewegung auch als "Graue Wölfe" bezeichnet, Erkennungszeichen der Szene ist ein mit 5 Fingern stilisierter Wolfskopf, auch "Wolfsgruß" genannt. Die rechtsextremistische Ideologie der "Grauen Wölfe" basiert auf einer Überhöhung der Türkei und des Türkentums bei gleichzeitiger rassistischer Abwertung beispielsweise von armenischen, kurdischen und jüdischen Menschen. Die Ideologie der "Ülkücü"-Bewegung ist maßgeblich beeinflusst durch die Ideen der Turkistenbeziehungsweise Turanistenbewegung, die im Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts entstanden ist. Diese hatte die Gründung eines Großtürkenreichs ("Turan") zum Ziel, welches - je nach Auslegung - ein Gebiet vom Pazifik bis nach Europa umfassen sollte. Während der übersteigerte Nationalismus und die Vorstellung Nationalistische eines ethnisch kohärenten, nur von Turkvölkern bewohnten türKomponenten kischen Großreiches durchgängige Motive der "Ülkücü"-Ideologie darstellen, ist die türkisch-islamische Komponente innerhalb der diversen Strömungen der Bewegung unterschiedlich ausgeprägt. Im Laufe der Zeit haben islamische und teilweise auch islamistische Elemente innerhalb der "Ülkücü"-Bewegung an Bedeutung zugenommen. Vor allem das seit den 1970er Jahren propagierte Konzept der "Türkisch-Islamischen Synthese" ist heute fester Bestandteil des türkischen Nationalismus. Hiernach werden Islam und Türkentum als unabdingbare Einheit dargestellt, religiöse und nationalistische Motive in teils stark verklärender Weise miteinander verwoben und auf das historische Osmanische Reich als Idealvorstellung projiziert. 3.2.1 Organisierte Ülkücü-Szene Der Großteil der "Ülkücü"-Bewegung in Deutschland und Bayern ist in großen Dachverbänden organisiert. Die zahlenmäßig stärkste Gefolgschaft weisen dabei die sogenannten "Kulturund Idealisten-Vereine" der "Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e. V." (ADÜTDF, Kulturund türkisch: "Almanya Demokratik Ülkücü Türk Dernekleri Idealistenvereine der Federasyonu") aus. Die ADÜTDF wurde 1978 in Frankfurt am ADÜTDF Main durch den Zusammenschluss von zahlreichen türkischen Vereinen gegründet. Sie gilt seit ihrer Gründung als Auslandsorganisation der "Partei der Nationalistischen Bewegung" (MHP), des politischen Arms der "Ülkücü"-Bewegung in der Türkei. 147 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auslandsbezogener Extremismus "Ülkücü"-Vereine sind in Bayern vor allem mit kulturellen, religiösen und sportlichen Veranstaltungen aktiv. Insbesondere Musikund Konzertveranstaltungen erweisen sich dabei oft als Formate mit hoher Anziehungskraft - Besucherzahlen im hohen dreistelligen Bereich und Anreisen aus dem gesamten Bundesgebiet sind hier keine Seltenheit. Die im Rahmen derartiger Konzertveranstaltungen durch Szenesänger und -gruppen dargebotenen Lieder entsprechen stilistisch meist volkstümlicher türkischer Musik. Inhaltlich sind die Liedbeiträge durch pathetische, patriotische und auf Heimatgefühle rekurrierende Motive geprägt. Nationalistische und rechtsextremistische Botschaften werden teils offen, teils aber auch in subtiler Form über die Musik transportiert. Ziel der "Ülkücü"-Vereine ist es, mit derartigen Events, die überwiegend in einem dezidiert familienaffinen Umfeld stattfinden, das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Szene zu stärken, potenzielle Gefolgsleute, insbesondere Kinder und Jugendliche, möglichst früh an die "Ülkücü"-Ideologie heranzuführen und nicht zuletzt auch Einnahmen für die beteiligten Organisationen zu generieren. Wiederaufnahme Aufgrund der Lockerungen der Hygienevorschriften zur Codes Vereinlebens rona-Pandemie konnte das Vereinsleben innerhalb der organisierten "Ülkücü"-Szene in Bayern wieder überwiegend in der Realwelt stattfinden, so wurden beispielsweise Sommerfeste in München ausgerichtet, an denen auch der derzeitige ADÜTDF-Bundesvorsitzende teilgenommen hat. "Ülkücü"-Verbote Nachdem bereits im Februar 2019 die österreichische Regierung im Rahmen einer Verordnung die Verwendung von Symbolik der "Ülkücü"-Bewegung (u. a. auch das Zeigen des Wolfsgrußes) unter Strafe gestellt hatte, beschloss das französische Kabinett im November 2020 ein generelles Verbot der Aktivitäten der "Grauen Wölfe". Unmittelbar danach hatte der Deutsche Bundestag in einem fraktionsübergreifenden Antrag die damalige 148 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Bundesregierung dazu aufgefordert, ein Verbot von Strukturen der "Ülkücü"-Bewegung auch in Deutschland zu prüfen. Derzeit liegt diesbezüglich noch keine Entscheidung vor. Im Mai 2021 forderte zudem das Europäische Parlament die Organe der EU und die EU-Mitgliedsstaaten dazu auf, die Möglichkeit auszuloten, die "Grauen Wölfe" auf der EU-Terrorliste zu erfassen. Schließlich gab im September 2021 das US-Repräsentantenhaus im Verfahren um das US-Genehmigungsgesetz zur nationalen Verteidigung einem Antrag statt, wonach die US-Regierung dazu verpflichtet werden soll, zu prüfen, ob die "Grauen Wölfe" auch in den USA als "ausländische terroristische Organisation" einzustufen seien. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen agieren die Verantwortlichen der organisierten "Ülkücü"-Szene in Deutschland und in Bayern hinsichtlich der Durchführung öffentlichkeitswirksamer Veranstaltungen und insbesondere der offenen Zurschaustellung "Ülkücü"-relevanter Symbolik weiterhin zurückhaltend. Inhaltliche oder symbolische Bezugnahmen zur "Ülkücü"-Ideologie werden größtenteils vermieden. Die unterschiedlichen öffentlichen Reaktionen von "Ülkücü"Reaktionen der Führungspersonen aus Deutschland und aus der Türkei bezügBewegung auf lich der Verbotsdebatten belegen, dass die "Ülkücü"-Bewegung Verbotsdebatten nach wie vor eine hybride Kommunikationsund Beeinflussungsstrategie verfolgt. Je nach anvisiertem Adressatenkreis erfolgt entweder die Anwendung einer taktisch gemäßigten Rhetorik (nicht-türkische beziehungsweise kritische Öffentlichkeit) oder einer eindeutig aufwiegelnden Agitation (türkischer beziehungsweise rechtsextremistisch eingestellter Rezipientenkreis): So bezeichnete der Vorsitzende der ADÜTDF, Sentürk Dogruyol, etwa noch im November 2020 in öffentlichen Stellungnahmen zur deutschen Verbotsdebatte die ADÜTDF als Organisation, die "die Interessen Deutschlands immer als ihre eigenen betrachtet" habe und "alle Arten von Aktivitäten und Diskursen, die den sozialen Frieden gefährden könnten" sowie "provokative Interaktionen im Internet" stets vermieden hätte. Im Gegensatz zur offiziellen Leitlinie der ADÜTDF waren 2022 vereinzelt aber auch Sachverhalte festzustellen, die weiterhin die extremistischen Leitideale der ADÜTDF und ihrer Mitgliedsvereine offenbaren. Am 25. Juni wurde beispielsweise ein Foto, das Dogruyol in den Räumlichkeiten des "Türkisch-Islamischen Kulturvereins Augsburg e. V." vor dem türkischen Schriftzug "Rehber Kur'an, Hedef Turan" zeigt, auf der Facebook-Seite des Vereins veröffentlicht. Der Ausspruch "Rehber Kur'an, 149 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auslandsbezogener Extremismus Hedef Turan" lässt sich sinngemäß mit "Wegweiser Koran, Ziel Turan" ins Deutsche übersetzen und gilt als politischer Slogan innerhalb der "Ülkücü"-Bewegung bzw. des türkischen Rechtsextremismus. Er zielt auf die Zusammenführung aller Turkvölker (die in Teilen der Szene als genuin muslimisch erachtet werden) in der ethnisch homogenen Staatsfiktion Turan ab, die sich - je nach Definition - von Osteuropa bis nach China ziehen soll. Nach dieser Weltvorstellung würden andere Ethnien innerhalb des Turan nicht akzeptiert und folglich ausgeschlossen werden. Die öffentliche Sichtbarkeit des Leitsatzes ist als indirektes Bekenntnis sowohl des Augsburger Mitgliedsvereins als auch des zugehörigen Dachverbands ADÜTDF zum türkischen Rechtsextremismus und zum ethnisch homogenen Staatsgebilde Turan zu werten. Diese Positionierung richtet sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung. 150 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 3.2.2 Freie türkisch-rechtsextremistische Szene Ein nicht unerheblicher Teil der türkisch-rechtsextremistischen Szene ist vereinsmäßig ungebunden und agitiert verstärkt über soziale Netzwerke. Dabei kommt es mitunter nur noch zu vagen Bezugnahmen auf konkrete Elemente der "Ülkücü"-Ideologie. Dennoch beinhalten die Beiträge in den sozialen Medien erkennbar Elemente einer spezifisch türkisch-rechtsextremistischen Weltanschauung und lassen eine verfassungsschutzrelevante Agenda erkennen. Merkmale hierfür sind: - die einseitige und überhöhte Darstellung des türkischen Staates und des türkischen Regierungshandelns bei gleichzeitiger Diffamierung deutscher Politikerinnen und Politiker sowie von Institutionen, - die Verächtlichmachung und Stilisierung türkeikritischer Personen aus den Bereichen Politik, Medien und Kultur zu Feindbildern, - die Verbreitung von Verschwörungstheorien sowie die Anwendung mitunter gewaltimplizierender Hassrede und Wort-Bild-Darstellungen. Deutsche Politikerinnen und Politiker werden zudem häufig der "Terrorismusunterstützung" (im Hinblick auf die PKK) sowie einer angeblichen "Hetze" oder "Feindlichkeit" gegenüber türkischen beziehungsweise türkischstämmigen Menschen muslimischen Glaubens bezichtigt. In der Gesamtschau lässt sich oft die Absicht erkennen, staatliche Strukturen und politisch Verantwortliche in Deutschland zu delegitimieren, eine größtmögliche Spaltung innerhalb der deutschen Gesellschaft herbeizuführen sowie digitale Angstund Drohkulissen gegenüber Kritikern des türkischen Regierungshandelns zu schaffen. In letzter Konsequenz können sich diese rechtsextremistischen Agitationsund Verunglimpfungskampagnen auch gewaltinspirierend auf einzelne Szeneangehörige auswirken und in realweltliche Gewalttaten münden. 151 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auslandsbezogener Extremismus 3.3 Türkischer Linksextremismus 3.3.1 DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) Anhänger Deutschland: 650 1 Bayern: ca. 80 Gründung 1994 Publikation Yürüyüs (Marsch) 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 Die DHKP-C ist in Deutschland seit 1998 verboten. Unter das Verbot fällt auch die Verbreitung der Publikation "Yürüyüs" (deutsch: "Marsch"). Auslöser des Verbots der DHKP-C war eine Serie militanter Aktionen von DHKP-C-Aktivisten Mitte der 1990er Jahre u. a. gegen hiesige türkische Einrichtungen. Seit 2002 wird die DHKP-C zudem auf der EU-Terrorliste geführt. Die DHKP-C wurde 1994 als Abspaltung der bereits am 9. Februar 1983 aufgrund terroristischer Aktivitäten durch den Bundesminister des Innern verbotenen Gruppierung "Devrimci-Sol" gegründet. Die DHKP-C versteht sich, wie die Ursprungsorganisation, als eine an den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus ausgerichtete revolutionäre Volksbewegung. Sie zählt zu den militantesten türkischen Extremistengruppen, die mithilfe einer bewaffneten Revolution auf die Zerschlagung des türkischen Staates zielen. Ziele ihrer Agitation sind die NATO, die USA sowie die Türkei und ihre Gesellschaftsordnung. Die DHKP-C richtet sich damit gegen den Gedanken der Völkerverständigung und gefährdet die Innere Sicherheit und die öffentliche Ordnung sowie sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland. Anschläge in der Nachdem der DHKP-C-Gründer Karatas am 12. Februar 1999 in Türkei einem Strafverfahren gegen einen früheren Deutschlandverantwortlichen der DHKP-C eine "Gewaltverzichtserklärung" abgegeben hatte, wurden die Gewaltaktionen auf deutschem Boden nicht weiter fortgesetzt. Am bewaffneten Kampf in der Türkei wurde jedoch festgehalten. Vor allem seit Juni 2012 war in der Türkei eine neue Anschlagsoffensive der DHKP-C zu verzeichnen. Am 1. Februar 2013 führte ein DHKP-C-Aktivist in Ankara einen Selbstmordanschlag im Eingangsbereich des US-amerikanischen Botschaftsgeländes durch. Bei der Sprengstoffexplosion kamen 1 Wachmann und der Attentäter ums Leben, weitere Personen wurden verletzt. Der Attentäter selbst hatte sich zuvor mehrere Jahre in Deutschland aufgehalten. Im Jahr 2015 wurden 152 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 mehrere bewaffnete Angriffe auf Polizeikräfte, Polizeidienststellen, türkische Regierungsgebäude und das US-amerikanische Generalkonsulat in Istanbul verübt. Dabei kam es am 31. März 2015 u.a. zu einer Geiselnahme im Justizgebäude in Istanbul, in deren Rahmen die Geisel und die beiden Attentäter ums Leben kamen. Im Rahmen des G7Gipfels in Elmau im Juni trat die DHKP-C nicht gesondert durch eigene Aktivitäten in Erscheinung. Die Teilnahme einzelner Aktivistinnen und Aktivisten der Szene ging, wie üblich bei gleichgearteten Veranstaltungen, weitgehend im Volumen anderer linksextremistischer deutscher und türkischer Gruppierungen auf. 3.3.2 Türkische Kommunistische Partei/MarxistenLeninisten (TKP/ML) Anhänger Deutschland: 800 1 Bayern: ca. 80 Gründung 1994 in der Türkei Publikation Partizan (Partisan) 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 Die "Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) vertritt die Ideologie des Marxismus-Leninismus, ergänzt um die Ideen Mao Tse-tungs. Sie befürwortet den bewaffneten Kampf und propagiert den Bürgerkrieg als Mittel zur Erreichung ihres Ziels, der Errichtung eines kommunistischen Regimes in der Türkei. Sie unterhält in der Türkei die bewaffneten Teilorganisationen "Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee" (TIKKO) sowie die "Volksbefreiungsarmee" (HKO). Diese Gruppierungen verüben in der Türkei Anschläge, die sich in erster Linie gegen polizeiliche und militärische Einrichtungen wenden. Im Verlauf bewaffneter Auseinandersetzungen ums Leben gekommene TKP/ML-Aktivisten werden als "Märtyrer" verehrt. Die TKP/ML wurde in den 1970er Jahren von Ibrahim Kaypakkaya in der Türkei gegründet und durchlief seither zahlreiche Spaltungen und Umbenennungen, jeweils unter Beibehaltung der marxistisch-leninistischen und gewaltorientierten Ausrichtung. In Deutschland ist die Anhängerschaft der TKP/ML seit Sommer 1997 in den beiden Basisorganisationen "Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e. V." (ATIF), gegründet 1976, und 153 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auslandsbezogener Extremismus in der Ende 1986 gebildeten "Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa" (ATIK) organisiert. Beide Vereinigungen präsentieren sich als Massenorganisationen und tarnen ihre Verbindungen zur TKP/ML. Sie beschränken sich in Deutschland auf Propagandaaktivitäten und auf die Beschaffung finanzieller Mittel. Interne Streitigkeiten führten zu einer Spaltung der TKP/ML, aus der in den Jahren 2019/2020 zwei eigenständige Organisationen mit nahezu gleichen Bezeichnungen hervorgingen: Die "Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten" (TKP/ML) und die neue "Türkische Kommunistische Partei-Marxisten-Leninisten" (TKP-ML). Beide Organisationen sind unverändert fest im ideologischen Fundament Kaypakkayas verankert. Verurteilung von Am 28. Juli 2020 hatte das Oberlandesgericht München nach TKP/ML-Mitgliedern über 4 Jahren Verhandlungsdauer 10 Funktionäre der TKP/ML wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland und in einem Fall wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland gemäß SS 129 a und SS 129 b StGB zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig. 154 Auslandsbezogener Extremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Im Zuge der Proteste gegen den G7-Gipfel auf Schloss Elmau am 25. Juni in München und am 26. Juni in Garmisch-Patenkirchen wurden bei Ausschreitungen mehrere Demonstranten, auch aus der TKP/ML-Szene, wegen tätlichen Angriffen auf Vollstreckungsbeamte und gefährlicher Körperverletzung festgenommen. Szene-Verantwortliche hatten als Reaktion auf die Festnahmen in München u.a. in Social Media dazu aufgerufen, bei der Demonstration in Garmisch-Partenkirchen "Stärke" zu zeigen und die Festnahmen zu "vergelten". Militante Aktionen oder Straftaten konnten von Seiten der Anhänger der TKP/ML bei der Demonstration aber nicht festgestellt werden. Im Vorfeld der beiden Demonstrationen wurden zahlreiche szeneinterne Online-Mobilisierungsaufrufe zur Protestbeteiligung festgestellt. Besonders aktiv und präsent vertreten waren bei beiden Demonstrationen die Teil-Organisationen "Yeni Demokrat Genclik" (YDG, "Neue Demokratische Jugend") sowie die "Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa" (ATIK) und "Partizan Almanya", die zahlreiche türkisch-linksextremistische Fahnen und Transparente zeigten. 155 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Rechtsextremismus " Der III. Weg eröffnet Parteibüro in Schweinfurt " Jugendorganisation des III. Weg gründet in Franken ihren ersten Stützpunkt in Bayern " Identitäre Bewegung tritt infolge eines Strategiewechsels unter neuen Namen und Organisationsformen auf 156 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus hat viele verschiedene Ausprägungen: Parteien kämpfen um Einfluss in Parlamenten, Publizisten versuchen rassistisches und nationalistisches Gedankengut intellektuell zu verpacken, rechtsextremistische Antisemiten diffamieren Menschen jüdischen Glaubens als Urheber aller Probleme oder Krisen und Neonazis bekennen sich offen zum Nationalsozialismus. Während die einen teilweise aggressiv und kämpferisch auftreten, versuchen andere durch die Gründung von Tarnorganisationen und die Verwendung von Chiffren und Codes ihre wahren Absichten zu verschleiern. Kennzeichnend für alle rechtsextremistischen Strömungen ist jedoch eine Ideologie der Ungleichheit der Menschen. Der Rechtsextremismus geht davon aus, dass die Zugehörigkeit zu einer "Ethnie", "Nation" oder "Rasse" den Wert eines Menschen und auch seine Rechte bestimmt. Das rechtsextremistische Gesellschaftsideal ist eine ethnisch-kulturell oder ethnisch-biologistisch begründete homogene "Volksgemeinschaft". Diese Konzeption steht im fundamentalen Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes. Die Gleichheit der 157 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Menschen vor dem Gesetz, das Demokratieprinzip, Meinungsund Glaubensfreiheit und andere fundamentale Grundrechte werden von Rechtsextremisten mal mehr, mal weniger offen abgelehnt. In der Folge prägen Rassismus, Antisemitismus, Geschichtsrevisionismus und Demokratiefeindlichkeit die rechtsextremistische Agitation. Rassistisch begründet ist auch der vor allem von der "Neuen Rechten" propagierte "Ethnopluralismus". Dieser gibt vor, die Identität des eigenen Volkes durch die räumliche und kulturelle Trennung unterschiedlicher "Ethnien" schützen zu wollen. 158 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 1. PERSONENPOTENZIAL IN BAYERN 2020 2021 2022 Parteien JA 120 100 70 Der Flügel1 130 - - NPD 480 480 450 Der Dritte Weg 160 160 150 Neue Stärke Partei 10 Sonstiges rechtsextremistisches Personen10 - 5 potenzial in Parteien2 Parteiunabhängige bzw. parteiungebundene 560 570 555 Strukturen3 Weitgehend unstrukturiertes rechts1.400 1.460 1.410 extremistisches Personenpotenzial4 Summe 2.860 2.770 2.650 Mehrfachzählungen5 90 70 60 Gesamtzahl 2.770 2.700 2.590 Neonazis von der Gesamtzahl 700 730 690 Gewaltorientierte Personen von der 1.035 1.075 1.070 Gesamtzahl6 Die Zahlen sind geschätzt und gerundet. 1 Formell aufgelöst in 2020 2 Darin enthalten Mitglieder der in 2022 inaktiven Partei "Die Rechte"/Landesverband Bayern; Beobachtung der Partei "Deutsche Konservative"/Landesverband Bayern in 2022 eingestellt 3 Dazu zählen Personen in rechtsextremistischen Zusammenschlüssen und Vereinen, beispielsweise in subkulturell geprägten Gruppen oder in neonazistischen Kameradschaften; als Kategorie neu eingeführt im Jahr 2017. 4 Dazu zählen Angehörige der rechtsextremistischen Szene, die keiner Partei oder Organisation (mehr) zugeordnet werden können, beispielsweise rechtsextremistische Internetaktivisten oder rechtsextremistische Strafund Gewalttäter; als Kategorie neu eingeführt im Jahr 2017. 5 Mehrfachzählungen werden vom Gesamtpotenzial abgezogen. 6 Dazu zählen gewalttätig, gewaltbereit, Gewalt unterstützend und Gewalt befürwortend. 159 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus 1.1 Personenpotenzial Personenpotenzial in Das rechtsextremistische Personenpotenzial in Bayern belief Bayern sich Ende 2022 auf insgesamt 2.590 Personen (2021: 2.700). Darunter waren rund 690 Neonazis (2021: 730). Das Kategoriensystem zur Erfassung des rechtsextremistischen Personenpotenzials wurde im Jahr 2017 überarbeitet. Unterschieden werden die 3 Kategorien: - Parteien - parteiunabhängige beziehungsweise parteiungebundene Strukturen - weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial In 2022 wurden in Bayern insgesamt 680 Mitglieder und Sympathisanten rechtsextremistischer Parteien und parteinaher Gruppen erfasst. Die Kategorie der parteiunabhängigen beziehungsweise parteiungebundenen Strukturen umfasst Personen in rechtsextremistischen Zusammenschlüssen und Vereinen, beispielsweise in subkulturell geprägten Gruppen oder in neonazistischen Kameradschaften. In 2022 zählten hierzu insgesamt rund 560 Personen. Leichter Rückgang Dem weitgehend unstrukturierten rechtsextremistischen Persobei unstrukturiertem nenpotenzial werden Szeneangehörige zugeordnet, die keiner Personenpotenzial Partei oder Organisation (mehr) zugerechnet werden können. Hierzu zählen beispielsweise Personen, die rechtsextremistische Strafund Gewalttaten begangen haben oder rechtsextremistische Aktivitäten im Internet verfolgen sowie subkulturell geprägte Einzelpersonen. Diesem Personenpotenzial werden in Bayern etwa 1.410 Personen (2021: 1.460) zugerechnet. Dabei geht insbesondere das im Internet aktive unstrukturierte Personenpotenzial weit über das bekannte parteiund organisationsgebundene rechtsextremistische Spektrum hinaus und ist zahlenmäßigen Schwankungen unterworfen. Das Internet wird von rechtsextremistischen Einzelpersonen dazu genutzt, manipulative und extremistische Inhalte zu verbreiten. Sie wollen ein Klima von Misstrauen und Hass gegenüber Flüchtlingen und Andersdenkenden, aber auch gegenüber etablierten Medien, staatlichen Einrichtungen und dem demokratischen Prozess schaffen. 160 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Soziale Medien bieten diesen Einzelpersonen niedrigschwellige Möglichkeiten, in virtuellen Räumen verfassungsfeindliche Propaganda zu betreiben, sich zu vernetzen und Aktionen zu planen, die im äußersten Fall zur Begehung von schweren Straftaten in der Realwelt, wie Angriffen gegen Repräsentanten des Staates und der Politik, führen können. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz hat im Gegensatz zu anderen Verfassungsschutzämtern die Befugnis, Einzelpersonen unter den gleichen Voraussetzungen wie Organisationen zu beobachten. 1.2 Lagebild "Rechtsextremisten, 'Reichsbürger' und 'Selbstverwalter' in Sicherheitsbehörden" Am 13. Mai stellte die Bundesministerin des Innern und für Heimat gemeinsam mit dem Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz das 2. bundesweite Lagebild "Rechtsextremisten, 'Reichsbürger' und 'Selbstverwalter' in Sicherheitsbehörden" für den Erhebungszeitraum 1. Juli 2018 bis 30. Juni 2021 der Öffentlichkeit vor. Nach dem 1. in 2020 veröffentlichten Lagebild zu "Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden" wurde der Umfang der Erhebung im 2. Lagebild auf den Phänomenbereich Reichsbürger und Selbstverwalter ausgeweitet. Besonders im Fokus stehen Verstöße gegen die Treuepflicht gegenüber der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, gegen die Pflicht zur politischen Mäßigung und gegen die allgemeine Wohlverhaltenspflicht sowie vergleichbare Pflichtverletzungen im Dienstbeziehungsweise Arbeitsverhältnis. Im Rahmen dieses 2. Lagebildes wurden in Bayern 43 Verdachtsfälle (bei rund 44.600 Beschäftigten in bayerischen Sicherheitsbehörden) erhoben, bei denen disziplinarrechtliche oder arbeitsrechtliche Maßnahmen bereits eingeleitet wurden und der Verdacht auf rechtsextremistische Verhaltensweisen besteht. Von den damit verbundenen Disziplinarund arbeitsrechtlichen Verfahren wurden bis zum Stichtag 18 Verfahren eingestellt oder beendet. Dabei kam es zu folgenden disziplinarischen und arbeitsrechtlichen Maßnahmen: Verweis, Geldbuße, Kürzung der Dienstbezüge, Entlassung und Abmahnung. 161 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Derzeit wird das 3. Lagebild mit Stichtag zum 31. Dezember 2022 erstellt und um den Phänomenbereich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates erweitert. Im Rahmen der Erhebung für das 3. Lagebild, das nahtlos an das 2. Lagebild anknüpft, sind weitere Verdachtsfälle bei der bayerischen Polizei bekannt geworden. Die dazu laufenden Ermittlungen dauern an. Grundlage der Beschäftigung im öffentlichen Dienst ist ein klares Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung, deren Werte auf allen Ebenen von der Einstellung bis zum Ruhestand u. a. im Rahmen von Fortbildungen vermittelt werden müssen und im Dienstbetrieb gelebt werden. Hinsichtlich der Bearbeitung von Verdachtsfällen mit Bezügen zum Rechtsextremismus beziehungsweise der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene im öffentlichen Dienst wurde in bayerischen Sicherheitsbehörden ein umfangreiches Maßnahmenpaket geschnürt. Dies enthält zum einen die Präventionsarbeit mit Fokus auf Aufklärung und Vorbeugung, zum anderen umfasst es aber auch die Detektion über Informationsgewinnung und Früherkennung von Radikalisierungsverläufen. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz wirkt dabei auf unterschiedlichen Ebenen an der Umsetzung dieser Maßnahmen zur Erkennung extremistischer Verhaltensweisen und Handlungen mit und stimmt diese mit den beteiligten Behörden ab. FortbildungsangeSowohl Angehörige der Bayerischen Informationsstelle gegen bote von BIGE und Extremismus (BIGE) als auch Expertinnen und Experten des BayLfV Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz sind in die Ausund Fortbildung bayerischer Polizeikräfte eingebunden. Im Rahmen von Vorträgen informieren sie über Erscheinungsformen des Rechtsextremismus beziehungsweise der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene, über Aufgaben und Rechtsgrundlagen des Verfassungsschutzes, über die Grundsätze der wehrhaften Demokratie sowie über Einzelthemen (z. B. zur "Neuen Rechten", Verschwörungstheorien im rechtsextremistischen Kontext etc.). Regelanfrage Seit dem Frühjahr 2021 erfolgt bei sämtlichen Bewerberinnen und Bewerbern für die Fachlaufbahn Polizei und Verfassungsschutz mit deren Einverständnis eine Regelanfrage beim Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz. Bestehen aufgrund bekannt gewordener Tatsachen nicht auflösbare Zweifel daran, dass Bewerberinnen oder Bewerber jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten, dürfen die betreffenden Personen nicht in den Polizeidienst eingestellt werden. 162 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 2. GEWALTPOTENZIAL Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, verbunden mit Hass und Gewaltkult Ablehnung von Demokratie und pluralistischer Gesellschaft, bilden den Nährboden für rechtsextremistische Gewalttaten. Die Abwertung und die Entmenschlichung von Menschen und Menschengruppen fördern ein Sinken der Hemmschwelle zur Gewaltanwendung. Der in Teilen der Szene gepflegte Gewaltkult, der mit der Verherrlichung von "kriegerisch-soldatischer Tugend" einhergeht, wirkt sich ebenfalls begünstigend auf Gewaltbefürwortung und -anwendung aus. Seit 2018 wurden bundesweit verschiedene Drohmails an PresUrteil gegen NSU seorgane, Behörden, Organisationen und Personen des öffent2.0 Verfasser lichen Lebens versandt, die u. a. mit "National-Sozialistische Offensive", "Wehrmacht", "NSU 2.0", "Elysium", "Staatsstreichorchester" und "Atomwaffen Division Deutschland" unterzeichnet waren. Betroffen davon waren u. a. Ankerzentren in Bayern, islamische Zentren, Moscheen, Parteizentralen sowie Presseund Medienagenturen. Im Prozess um die "NSU 2.0"-Drohschreiben verurteilte das Landgericht Frankfurt am Main am 17. November einen 54-Jährigen zu 5 Jahren und 10 Monaten. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Im Zusammenhang mit den Drohmails des "Staatsstreichorchesters" wurden im April die Ermittlungen gegen den Verdächtigen eingestellt. Auch in anderen Fällen führten Ermittlungen bereits zu Verurteilungen oder zur Anklage. Ende Januar 2021 fiel im Prozess wegen der Tötung des Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke im Juni 2019 das Urteil: Das OLG Frankfurt/Main verurteilte den Hauptangeklagten wegen Mordes zu lebenslanger Haft. Dabei legte es ihm eine von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit getragene völkischnationalistische Grundhaltung zur Last. Das Urteil ist mit der Abweisung der Revision durch den Bundesgerichtshof (BGH) seit 25. August rechtskräftig. Am 13. April 2021 begann der Prozess gegen die mutmaßlichen Prozess gegen Mitglieder einer als "Gruppe S." bezeichneten rechtsterroris"Gruppe S." tischen Vereinigung vor dem OLG Stuttgart. Den 12 Beschuldigten wird vorgeworfen, Anschläge auf Politikerinnen und Politiker, Asylbewerber und Personen muslimischen Glaubens geplant zu haben, um so "bürgerkriegsähnliche Zustände" in Deutschland zu initiieren und die bestehende Gesellschaftsordnung ins Wanken zu bringen. 163 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Verurteilung einer Das OLG München verurteilte am 30. Juli 2021 eine bayerische bayerischen RechtsRechtsextremistin u. a. wegen der Vorbereitung einer schweren extremistin staatsgefährdenden Gewalttat gemäß SS 89a StGB sowie wegen Bedrohung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Jahren und ordnete die Führungsaufsicht an. Der Senat sah es als erwiesen an, dass die Verurteilte einen Brandanschlag auf politische Amtsträger und Muslime geplant hatte, um ein Klima der Angst zu schaffen. Bis zu ihrer Festnahme im September 2021 hatte sie Todesdrohungen und scharfe Munition an Lokalpolitiker und eine türkisch-islamische Gemeinde in Mittelfranken verschickt. Im Zuge der Festnahme stellte die Polizei Materialien im Pkw der Frau fest, die zum Bau einer unkonventionellen Sprengund Brandvorrichtung hätten verwendet werden können. Im April wurde die Revision durch den Bundesgerichtshof verworfen. Das Urteil ist somit rechtskräftig. Ermittlungen gegen Die Bundesanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen die "Verein"Vereinte Patrioten" ten Patrioten" übernommen, denen vorgeworfen wird, eine terroristische Vereinigung gegründet zu haben. Die Gruppe besteht aus 5 Hauptbeschuldigten, darunter auch 1 Angeklagter aus Bayern. Er soll neben Sprengstoffanschlägen auch die Entführung des Bundesgesundheitsministers geplant haben. Ziel der Gruppe sei es laut Bundesanwaltschaft gewesen, bürgerkriegsähnliche Zustände in Deutschland auszulösen und somit einen Sturz der parlamentarischen Demokratie zu befördern. Vorausgegangen waren Ermittlungen der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz, in deren Rahmen auch 3 Objekte in Bruckberg im Landkreis Landshut, in München und in Pottenstein im Landkreis Bayreuth durchsucht wurden. Radikalisierung im Netz Rechtsextremistische Organisationen und Einzelpersonen setzen für ihre Propaganda digitale Medien und Formate als festen Bestandteil ihrer Kommunikationsstrategien ein. Das Internet ermöglicht ihnen den erleichterten Zugang zu einem heterogenen Empfängerkreis, der über die engere extremistische Anhängerszene hinausreicht. Vor allem im Bereich des sogenannten "Dark Social" - also dem Bereich nicht öffentlich einsehbarer Kommunikation innerhalb von Chat-, Mailund Social-Media-Anwendungen - tragen sie zur Entstehung digitaler Resonanzräume bei. Die dort geführten Debatten und verbreiteten Äußerungen überschreiten die Schwelle zur Strafbarkeit mitunter deutlich. So umfassen die Beiträge im "Dark Social" beispielsweise Drohungen, Nötigungen, Verunglimpfungen, extremistische Inhalte sowie unverhohlene Aufrufe 164 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 zu Strafund Gewalttaten. Diese von Gewalt und Hass geprägte Sprachund Kommunikationsumgebung ist grundsätzlich dazu geeignet, ein Klima zu schaffen, das den Abbau von Hemmschwellen zur Gewaltanwendung begünstigt. Die Schnelligkeit der Radikalisierungsprozesse und Enthemmungsdynamiken stellt die Sicherheitsbehörden vor besondere Herausforderungen, sowohl bei der Identifizierung der häufig nur anonym aktiven Personen als auch bei der Prognostizierung einer möglichen gewalttätigen Entwicklung. Vor allem realweltlich zurückgezogen lebende und unauffällige Einzelpersonen, die zugleich unter dem Druck der Gruppendynamik virtueller Gruppen stehen und auch handeln, bleiben eine zentrale Herausforderung für die Sicherheitsbehörden. Der Attentäter von Halle a. d. Saale (Sachsen-Anhalt), der am 9. Oktober 2019 bei einem Anschlag auf eine Synagoge 2 Unbeteiligte tötete, wurde Ende Dezember 2020 vom OLG Naumburg wegen zweifachen Mordes und versuchten Mordes in zahlreichen Fällen rechtskräftig zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Der Anschlag auf die Synagoge belegt exemplarisch, dass auch bislang nicht in der rechtsextremistischen Szene in Erscheinung getretene Personen Radikalisierungsprozesse durchlaufen können, die bis hin zur Begehung schwerer Gewalttaten führen. Das Internet spielt bei solchen Radikalisierungsprozessen, die von einer realweltlichen rechtsextremistischen Szene losgelöst sind, eine zentrale Rolle. Frauenhass in der Incel-Subkultur Rechtsextremistische Versatzstücke finden sich auch in der subkulturellen "Incel"-Szene. Der englische Begriff "InceI" (Kofferwort aus "involuntary" und "celibacy", deutsch: "unfreiwilliges Zölibat") ist die Selbstbezeichnung einer überwiegend aus weißen heterosexuellen Männern bestehenden Internetsubkultur, die eigenen Angaben zufolge unter einer "vom System" oktroyierten sexuellen Enthaltsamkeit leiden. Bei "Incels" handelt es sich u. a. um anonym auftretende Personen, die häufig realweltlich zurückgezogen leben. Die Szene ist geprägt durch Hass auf Frauen (die abwertend als Mixtur aus Frauen"Femoids" bezeichnet werden), Gewaltfantasien gegenüber hass, Sexismus, Frauen, Selbstmitleid sowie sexistische und rassistische EinstelAntisemitismus und lungen. Angehörige der "Incel"-Szene sind der Ansicht, Männer Rassismus hätten ein "naturgegebenes Recht auf Sex" mit Frauen, das es einzufordern gelte. 165 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus MinderwertigkeitsDas Selbstbild der Mitglieder innerhalb dieser Subkultur ist prikomplexe mär von starken Minderwertigkeitskomplexen geprägt. Diese resultieren insbesondere aus der Unfähigkeit dieser Männer, Beziehungen zu Frauen aufzubauen. Für ihre Situation machen "Incels" vor allem Frauen, aber auch Politik und Gesellschaft verantwortlich. Als Ursache für ihre unfreiwillige Enthaltsamkeit erachten die "InceI"-Anhänger vor allem den Feminismus, der Frauen eine freie Partnerwahl und selbstbestimmte Lebensgestaltung ermögliche. In diesem Zusammenhang beziehen sich "Incels" häufig auch auf antisemitische oder rassistische Ideologeme. So werfen sie Frauen u. a. vor, sich bei ihrer Partnerwahl überwiegend auf die äußere Erscheinung und den sozialen Status eines Mannes zu fokussieren. Da sie sich durch diese angebliche "Selektion" um ihre Rechte betrogen wähnen, sprechen "Incels" Frauen das Recht ab, ihre Sexualpartner frei zu wählen. Stattdessen plädieren sie für eine staatlich geregelte Zuteilung von Frauen, die sie als biologisch gesteuerte Objekte betrachten. Auch der szeneinterne Umgang in "Incel"-Foren ist von Gewaltdarstellungen und Hassfantasien geprägt. So werden Frauen in herabwürdigender und entmenschlichender Weise dargestellt und verächtlich gemacht. Aber auch untereinander praktizieren "Incels" eine wechselseitige Selbstabwertung, welche sich zumeist in zynischer Weise auf das Aussehen beziehungsweise den jeweiligen Phänotyp bezieht. Gewaltfantasien All diese szeneinternen Abwertungsdynamiken machen "Inmit rechtsextremiscels" auch empfänglich für rechtsextremistische Ideologien tischen Bezügen - insbesondere solche, die Gewalt als Mittel zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse propagieren. Für Teile der Subkultur hat die rechtsextremistische Verschwörungstheorie des "Bevölkerungsaustauschs" eine gesteigerte Relevanz, denn aus ihrer Sicht liegt in der Migration gutaussehender Männer eine Ursache dafür, selbst keine Frau zu finden. Besonderes Feindbild sind daher attraktive interethnische Paare, vor allem dann, wenn die Frau der "eigenen" Kategorie (in der Regel "weiß") zugeordnet wird. Bei der "Incel"-Szene handelt es sich in ihrer Gesamtheit nicht um ein Beobachtungsobjekt des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz. Beobachtet werden aber Einzelpersonen, die sich im Zusammenhang mit der "Incel"-Ideologie verfassungsschutzrelevant betätigen. Das ist dann der Fall, wenn die Frauenfeindlichkeit mit rechtsextremistischen Ideologieelementen verknüpft wird, durch Frauenfeindlichkeit die Würde der Frau 166 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 infrage gestellt wird oder Frauen entmenschlicht werden. Die "Incel"-Bewegung ist in Bayern bisher als virtuelles Phänomen durch Einzelpersonen in Erscheinung getreten. Daher ist es, wie bei den meisten virtuellen Aktivitäten, schwer nachvollziehbar, inwiefern die Aktivitäten tatsächlich auch von Bayern ausgehen. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz geht davon Radikalisierungsaus, dass die "Incel"-Ideologie die Psyche von Personen destabeschleuniger bilisieren und Gewaltbereitschaft begünstigen kann, da sie die Radikalisierung von Einzelpersonen verstärkt beziehungsweise beschleunigt und bei Gewalttaten handlungsleitend sein kann. Zudem stellt die "Incel"-Bewegung einen Angriff auf die Menschenwürde sowie den Gleichbehandlungsgrundsatz dar. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz misst der Zurechenbarkeit von Angehörigen der rechtsextremistischen Szene zur "Incel"-Bewegung oder auch nur Bezügen zu dieser eine hohe Bedeutung bei. Bezüge beziehungsweise die Zugehörigkeit zur "Incel"-Bewegung werden bei der Gesamtbewertung von Extremisten berücksichtigt. Attentäter-Fanszene Besonderes Augenmerk gilt seit Jahren Personen und GruppieHohe Gewaltaffinität rungen, die mit Amokläufern und Attentätern sympathisieren und sich virtuell vernetzen, um ihre gewalttätigen Vorbilder zu ehren sowie teils rassistisch geprägte Gewaltfantasien miteinander zu teilen. Es handelt sich um eine digitale Subkultur, die Amoktäter sowie ideologisch unterschiedlich motivierte Attentäter als "Heilige" ("Saints") verehrt. Die Attentäter-Fanszene weist eine hohe Gewaltaffinität auf, eine kohärente Ideologie oder konkrete Organisationsstrukturen sind jedoch nicht festzustellen. Eine Anbindung an realweltliche rechtsextremistische Strukturen existiert in der Regel nicht. Überschneidungen sind zwischen Anhängern der "Attentäter-Fanszene" mit der "Incel"-Szene, der "Siege"-Subkultur (deutsch: Belagerung) und gewaltbereiten Neonazis festzustellen. Auffallend ist die in diesen Szenen häufig vorhandene, insbesondere von Jugendlichen gehegte, Faszination für die Ideen aus dem Buch "Siege" und die daraus entstandene Subkultur. Dabei handelt es sich um Texte des US-amerikanischen Neonazis James Mason, die zum "Rassenkrieg" anleiten wollen. Während sich rechtsextremistische Szenen in der Regel um die Rekrutierung von Nachwuchs bemühen müssen, nähern sich potenzielle Interessenten der Attentäter-Fanszene vorwiegend aus eigener Initiative. Dabei handelt es sich häufig um Personen, 167 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus die teilweise sozial isoliert und in der Regel im hohen Maße technikaffin sind. Die Szene tritt überwiegend auf unkonventionellen und im Ausland ansässigen Plattformen sowie verschlüsselten Kommunikationsdiensten in Erscheinung und ist daher nur schwer lokalisierbar. Auffallend ist zudem das jugendliche Durchschnittsalter der Szene-Angehörigen, die teilweise noch nicht einmal strafmündig sind. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz steht im engen Austausch mit den Verfassungsschutzbehörden der Länder und des Bundes sowie mit den zuständigen Strafverfolgungsbehörden, um im Internet frühzeitig an der Aufklärung gewaltorientierter extremistischer Bestrebungen mitzuwirken, die in diesen Fällen insbesondere von Einzeltätern ausgehen können. 2.1 Gewaltorientierte rechtsextremistische Szene in Bayern Die Mehrzahl der rechtsextremistischen Gewalttaten wird spontan verübt. Häufig erfolgen solche Taten aus einer Situation heraus, in der Angehörige der rechtsextremistischen Szene - einzeln oder in kleinen Gruppen - auf Personen treffen, die den typischen rechtsextremistischen Feindbildern entsprechen. Allerdings gibt es auch immer wieder Zusammenschlüsse von Personen, die auf eine geplante Begehung von Gewalttaten abzielen. DurchsuchungsIm Fokus der deutschen Verfassungsschutzbehörden stand maßnahmen gegen auch die Organisation "Combat 18" (C18), ein sich über mehrere "Combat 18" europäische Staaten erstreckendes Netzwerk gewaltbereiter neonazistischer Gruppierungen und Einzelpersonen. C18 pflegte enge Verbindungen zu der in Deutschland seit dem Jahr 2000 verbotenen, im Inund Ausland agierenden neonazistischen Skinheadorganisation "Blood & Honour" (B&H) und galt als deren gewaltbereiter, bewaffneter Arm. Der damalige Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat hat "Combat 18 Deutschland" (C18 Deutschland) 2020 auf Grundlage des Vereinsgesetzes bestandskräftig verboten und aufgelöst, 168 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 das Vereinsvermögen wurde eingezogen. "C18 Deutschland" richtete sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung wie auch gegen den Gedanken der Völkerverständigung und lief nach Zweck und Tätigkeit den Strafgesetzen zuwider. Es ist seither verboten, Kennzeichen von "C18 Deutschland" öffentlich zu verwenden und Ersatzorganisationen zu bilden oder fortzuführen. Im April wurden im Rahmen einer bundesweiten Razzia gegen mehrere rechtsextremistische Gruppierungen auch Wohnungen von Personen außerhalb Bayerns durchsucht, die C18 zugerechnet wurden. Ihnen wird vorgeworfen, C18 in Deutschland weiter fortgeführt zu haben. Das Ermittlungsverfahren ist noch nicht abgeschlossen. Auch gegen deutsche Ableger von B&H gingen die SicherheitsExekutivmaßbehörden vor, u. a. mit Durchsuchungsmaßnahmen im Jahr 2018. nahmen gegen Das Landgericht München verurteilte am 3. August 9 Männer "Blood & Honour" zu Geldstrafen und Haftstrafen auf Bewährung, u. a. wegen Verstoß gegen das Vereinigungsverbot, Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Volksverhetzung. Im August wurden die Urteile gegen 8 der 9 Verurteilten rechtskräftig. Neben Sektionen in Bayern, Baden-Württemberg, Thüringen und Mitteldeutschland hatten die Angeklagten eine engmaschige B&H-Vertriebsstruktur für Szenezubehör und Rechtsrockmusik aufgebaut. Dabei wurden vor allem Musik-CDs mit verbotenem Rechtsrockliedgut und Merchandisingartikel mit verbotenen rechtsextremistischen Symbolen nach Deutschland eingeführt und hier vertrieben. Den Sicherheitsbehörden gelang somit ein Schlag gegen die bundesweite rechtsextremistische Musikszene. Die strafrechtlichen Exekutivmaßnahmen der Polizeibehörden basieren maßgeblich auf dem Erkenntnisaufkommen aus einer mehrmonatigen operativen Maßnahme des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz. 169 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus 2.2 Gewalt gegen Flüchtlinge Die aggressive Hetze gegen Flüchtlinge, die rechtsextremistische Parteien wie die NPD und "Der Dritte Weg" (III. Weg) sowie andere rechtsextremistische Organisationen insbesondere über das Internet verbreiten, setzte sich auch in 2022 fort. Insgesamt waren 6 extremistische Übergriffe auf Liegenschaften zur Unterbringung von Flüchtlingen zu verzeichnen, darunter 2 Propagandadelikte, 2 Sachbeschädigungen und 2 Volksverhetzungen. 4 dieser 6 Straftaten waren rechtsextremistisch motiviert. Die den Sicherheitsbehörden der Bundesländer vorliegenden Erkenntnisse ergaben bislang keine Anhaltspunkte für eine zentrale Steuerung von Gewalttaten oder eine regionale oder überregionale Koordinierung von Straftaten durch rechtsextremistische Gruppierungen oder Einzelpersonen. Es zeigt sich, dass Straftaten nicht allein von gewaltorientierten Szeneangehörigen begangen wurden, sondern auch von Personen, die bislang nicht in rechtsextremistischen Strukturen aktiv waren. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass rechtsextremistische und fremdenfeindliche Propaganda und Agitation in nicht extremistische Milieus hineinwirken kann. Bei der Mehrzahl der Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte handelte es sich um Sachbeschädigungen. Am 16. Oktober 2021 kam es in Simbach am Inn zu Brandlegungen an einer Flüchtlingsunterkunft. Dabei wurde an mehreren Stellen - auch vor beiden Notausgängen - Feuer gelegt. Verletzt wurde in der Tatnacht niemand. Noch im Dezember 2021 wurde ein 42-jähriger Tatverdächtiger aus Pilsting festgenommen. Knapp ein Jahr nach der Tat wurde er durch das Landgericht Landshut zu 5 Jahren und 6 Monaten Haft verurteilt, u. a. wegen versuchten Mordes in 56 Fällen. 170 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 2.3 Rechtsextremistisch motivierte Strafund Gewalttaten Straftaten mit extremistischem Hintergrund aus dem Bereich "Politisch motivierte Kriminalität - rechts" 2020 2021 2022 Politisch motivierte Gewaltdelikte Tötungsdelikte (auch Versuch) 0 1 1 Körperverletzungen 71 45 20 Brandund Sprengstoffdelikte 3 0 1 Landfriedensbruch 0 0 0 Raub 1 1 0 0 Widerstandsdelikte1 5 4 1 Erpressung 1 2 0 Sonstige Gewalttaten 0 1 2 0 Gesamt 81 53 23 Kriminelle Vereinigung/Terrorismus 3 4 2 Sonstige Straftaten Sachbeschädigungen 67 38 17 Propagandadelikte 1.414 978 505 Nötigung/Bedrohung 56 30 9 Volksverhetzung 597 528 190 Sonstige Straftaten 237 119 41 Gesamt 2.371 1.693 762 Straftaten insgesamt 2.455 1.750 787 1 Bis 2019 unter Sonstige Gewalttaten erfasst, separate Ausweisung seit 2020 2 Ein gefährlicher Eingriff in den Bahn-, Schiffs-, Luftund Straßenverkehr 171 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Gewalttaten 2022 wurden in Bayern 23 rechtsextremistisch motivierte Gewaltdelikte registriert (2021: 53). Dabei handelt es sich überwiegend um Körperverletzungsdelikte (20). Von den 23 Gewalttaten waren 18 (2021: 42) fremdenfeindlich motiviert. Bei einem der Gewaltdelikte lag eine antisemitische Motivation zugrunde (2021: 2). Insgesamt konnten 17 Gewalttaten aufgeklärt werden, dabei wurden insgesamt 17 männliche Tatverdächtige ermittelt. Sonstige Straftaten In Bayern wurden 2022 insgesamt 762 (2021: 1.693) sonstige rechtsextremistische Straftaten (ohne Gewalttaten) sowie 2 Delikte der Bildung einer kriminellen Vereinigung/des Terrorismus gezählt. Davon waren 246 fremdenfeindlich (2021: 670) und 141 antisemitisch motiviert (2021: 380). In den meisten Fällen handelte es sich um Propagandadelikte (2022: 505; 2021: 978), aber auch um Volksverhetzung (2022: 190; 2021: 528) und Sachbeschädigungen (2022: 17; 2021: 38). Volksverhetzungsdelikte richteten sich insbesondere gegen Migranten, vermeintlich "ausländisch" aussehende Bürger sowie gegen Menschen jüdischen Glaubens. Häufig sind diese Straftaten auch mit einem gewalttätigen Vorgehen der Täter verbunden. Propagandadelikte machen nach wie vor den Großteil rechtsextremistischer Straftaten aus. In einigen Fällen wurden beispielsweise Hakenkreuze auf Wände und Fahrzeuge gesprüht oder geritzt und Parolen wie "Heil Hitler" und "Sieg Heil" gerufen. Zu den Propagandadelikten zählen auch neonazistische Grafiken, Filme und Lieder, die zu Propagandazwecken über Messenger Dienste oder soziale Medien verbreitet werden. 172 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 3. RECHTSEXTREMISTISCHE THEMENFELDER UND AKTIONSFORMEN 3.1 Rechtsextremistische Themenfelder Rechtsextremismus tritt in verschiedenen Ausprägungen natioKlassische Themen nalistischer, rassistischer und antisemitischer Ideologieelemente sowie mit unterschiedlichen, sich daraus herleitenden Zielsetzungen auf. Dabei herrscht die Auffassung vor, die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder Rasse entscheide über den Wert eines Menschen. Dieses rechtsextremistische Werteverständnis steht in einem fundamentalen Widerspruch zum Grundgesetz, das die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt. Angehörige der rechtsextremistischen Szene versuchen, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft unter Herausstellung angeblich positiver Leistungen zu rechtfertigen, Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime zu diffamieren und die Verbrechen des Dritten Reiches zu verschweigen, zu verharmlosen oder sogar zu leugnen (Geschichtsrevisionismus). Zusätzlich verunglimpfen sie den demokratischen Verfassungsstaat und seine Repräsentanten, indem sie beispielsweise Deutschland als Marionettenstaat ausländischer, insbesondere US-amerikanischer, Interessen darstellen. Deutsche Politikerinnen und Politiker diffamieren sie dabei regelmäßig als korrupte Handlanger ausländischer Interessen. Die eigene Organisation und ihre Vertreter werden als die alleinigen Garanten für die Wahrung der Interessen des deutschen Volkes inszeniert. Demgegenüber diskreditieren sie ihre politischen Gegner als Verräter, die mit krimineller Energie systematisch den Interessen der Bevölkerung schaden würden. Angehörige der rechtsextremistischen Szene lehnen die Kernbereiche der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ab. Hinzu kommt die pauschale Überhöhung der Interessen der "Volksgemeinschaft" zu Lasten der Interessen und Rechte des Individuums, die zu einer Aushöhlung der Grundrechte führt (völkischer Kollektivismus). Diese Merkmale sind nicht gleichmäßig bei allen Angehörigen der rechtsextremistischen Szene zu beobachten. Manchmal sind nur Teilaspekte bestimmend; auch die Intensität und die Strategie des Kampfes gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung sind unterschiedlich. 173 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Neue Themenfelder Agitationsfelder rechtsextremistischer Propaganda sind außerdem sozial-, wirtschaftsund umweltpolitische Themen. So wird z. B. Umweltschutz als "Heimatschutz" interpretiert und in den Kontext der völkischen Bewegung gestellt. Demzufolge ist der Schutz des eigenen Volkes untrennbar mit dem Schutz der Umwelt verbunden. Durch Verknüpfung sozialer Problemfelder mit rechtsextremistischen Theorieelementen wollen Angehörige der rechtsextremistischen Szene aus den Sorgen der Bevölkerung Kapital schlagen. Teile des rechtsextremistischen Spektrums propagieren einen "volksbezogenen Sozialismus" mit dem Ziel, in sozialistisch orientierte Wählerschichten einzudringen. Antisemitismus Basierend auf der Arbeitsdefinition der "International Holocaust Remembrance Alliance" (IHRA) orientiert sich die bayerische Staatsregierung an folgender Begriffsbestimmung: Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrneh mung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeins titutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein. Rassistischer Antisemitismus spielt als Ideologieelement im RechtsextreAntisemitismus mismus eine zentrale Rolle. Dabei kann er in unterschiedlichen Formen zum Ausdruck kommen. Werden Menschen jüdischen Glaubens angeblich genetisch bedingte, "unabänderliche" - meist negative - Eigenschaften zugeschrieben, wird von rassistischem Antisemitismus gesprochen. Während dieser vor allem in neonazistischen Kreisen noch immer propagiert wird, hat seine Bedeutung als Agitationsmuster im Rechtsextremismus insgesamt abgenommen. Sozialer und Der soziale und politische Antisemitismus hat dagegen an Bepolitischer Antideutung gewonnen. Diese Form des Antisemitismus kommt in semitismus verschwörungstheoretischen Agitationsmustern zum Ausdruck, die Medien und Politik in den Fängen konspirativer "jüdischer Banker" sehen oder von einer im Geheimen agierenden "jüdischen Weltregierung" ausgehen. Dabei werden "die Juden" als einflussreiche und im Hintergrund agierende Gruppe dargestellt, die Regierungen, Medien und die Finanzindustrie kontrolliere. 174 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Durch die künstliche Überhöhung des vermeintlichen Einflusses jüdischer Gruppen und Einzelpersonen wird pauschal "den Juden" in verhetzender Weise die Verursachung komplexer gesellschaftlicher und politischer Probleme zugeschrieben. Durch diese Strategie versuchen Angehörige der rechtsextremistischen Szene, antisemitische Propaganda in einer Form zu nutzen, die ihnen für breitere Gesellschaftsgruppen anschlussfähig erscheint. So zählt bei der extremistischen "Neuen Rechten" offener AnAntisemitische tisemitismus nicht zu den ideologischen Grundmerkmalen. AlAnklänge bei lerdings finden sich bei einzelnen Akteuren Anhaltspunkte, die "Neuer Rechte" auf einen - vorwiegend durch Verschwörungstheorien begründeten - Antisemitismus hindeuten. Dies wird besonders bei der Verschwörungstheorie des "Great Reset" (deutsch: "Der große Neustart" oder "Der große Umbruch") deutlich. Demnach sei die Corona-Pandemie von "Globalisten", "den Eliten" oder "der Hochfinanz" geplant und inszeniert worden, um eine globale Umstrukturierung unter Vernichtung nationaler Völker und Regierungen umzusetzen, an deren Stelle eine totalitäre "Neue Weltordnung" implementiert werden solle. Diese in unterschiedlichen Varianten vorgebrachte Verschwörungstheorie ist mittlerweile ein zentrales Ideologem u. a. der "Identitären Bewegung Deutschland" (IBD), des "COMPACT-Magazins" und des Vereins "Ein Prozent". Innerhalb des gewaltorientierten Rechtsextremismus ist Antisemitismus, insbesondere in Gestalt antisemitischer Verschwörungstheorien, ein prägendes Element der Ideologie. Exemplarisch hierfür steht die in 2020 durch das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat verbotene neonazistische und gewaltorientierte Gruppe "Wolfsbrigade 44" (vormals "Sturmbrigade 44"). Angehörige dieser Gruppierung bezeichnen die Bundesrepublik Deutschland in ihren Statuten als "Judenrepublik" und identifizieren sich ausdrücklich mit Adolf Hitler und seinen Zielen. Auch für die neonazistische Kleinstpartei "III. Weg" bildet ein eindeutiger Antisemitismus ein prägendes Ideologiemerkmal, das sich in sämtlichen Themenbereichen, die der "III. Weg" in seiner Agitation aufgreift, niederschlägt. Anlässlich des Russland-Ukraine-Kriegs bedient sich der "III. Weg" immer wieder antisemitischer Stereotype. In dem auf der Partei-Webseite veröffentlichten Artikel "Russischer Außenminister Lawrow sorgt mit Behauptung über 'jüdische Nazis' für Empörung in Israel" wird zwar die antisemitische Aussage des russischen Außenministers Lawrow, Hitler habe auch jüdische Wurzeln gehabt, als 175 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Verschwörungstheorie vehement zurückgewiesen und als Propaganda zur Diffamierung der ukrainischen Regierung bewertet, jedoch nutzt der "III. Weg" im Gegenzug dies ebenso als Gelegenheit, um selbst antisemitische Stereotype zu verbreiten. So behauptet die Partei etwa, dass eine "jüdische Lobby" einen angeblich weltweiten Einfluss ausübe oder dass Juden an Kriegen und am Leid anderer Völker profitieren würden. Sekundärer AntiDie Leugnung des Holocausts wie auch die Unterstellung, die semitismus und Auseinandersetzung mit und die Erinnerung an den MassenAntizionismus mord an Menschen jüdischen Glaubens sei nur eine Strategie zur Schwächung der nationalen Identität, stellen eine weitere, als sekundärer Antisemitismus bezeichnete Form von Judenfeindlichkeit dar. Darüber hinaus kann Antisemitismus im Gewand des Antizionismus auftreten. Dabei nutzen Angehörige der rechtsextremistischen Szene die im politischen und gesellschaftlichen Alltag geäußerte Kritik an der Politik Israels, um die Existenzberechtigung des Staates Israel infrage zu stellen. Antijüdische Antisemitismus kann demnach unterschiedliche Ausprägungen Metaphern und annehmen und beschränkt sich nicht auf offenen Hass und GeBildsprache walt gegen Juden. Angehörige der rechtsextremistischen Szene sprechen beispielsweise häufig zwar nicht direkt von "den Juden", sondern nutzen Chiffren und Metaphern, um den antisemitischen Kern ihrer Propaganda zu verschleiern. Beispiele hierfür sind Verweise auf die "amerikanische Ostküste", eine "zionistische Lobby" oder eine "Hochfinanz", die als Verantwortliche für geheime Machenschaften genannt werden. So wird dem US-amerikanisch-ungarischen Milliardär jüdischen Glaubens George Soros, der zivilgesellschaftliche Akteure in mehreren Staaten fördert, in antisemitischen Verschwörungstheorien unterstellt, als Kopf einer "jüdischen Finanzelite" u. a. gezielt die Masseneinwanderung nach Europa zu befördern. Auch werden im konkreten Kontext negativ besetzte Bilder, die Juden als "Marionettenspieler" oder "Spinnen" zeigen, für antisemitische Agitation eingesetzt. Diese bereits aus dem Nationalsozialismus bekannte Bildsprache soll die angebliche Verschwörung von Menschen jüdischen Glaubens zum Erreichen der Weltherrschaft verdeutlichen. Die alte Verschwörungstheorie einer "jüdischen Weltherrschaft" wird dabei immer weitergesponnen, sowie regelmäßig erneuert und um zeitgenössische und regionale Elemente ergänzt. So wurde sie in den 1950er Jahren unter der Bezeichnung "New World Order" (deutsch: "Neue Weltordnung") durch US-amerikanische Rechtsextremisten wieder in Umlauf gebracht. Auch während der Corona-Pandemie wurden bereits bekannte Unterstellungen wieder sichtbar. So wurde 176 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 u. a. behauptet, dass "die Juden" an der Verbreitung sämtlicher Krankheiten Schuld seien und die zugehörigen Impfstoffe mit böswilligen Absichten entwickelt hätten. Im Rahmen der Proteste gegen die pandemiebedingten Beschränkungsmaßnahmen kam es in sozialen Medien und auf Versammlungen immer wieder zu Vergleichen zwischen den Corona-Impfungen und Menschenversuchen oder sogar dem Holocaust. Bei Protesten waren wiederholt auch verfremdete "Judensterne" zu sehen, wie sie jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger unter der NS-Diktatur ab 1941 tragen mussten. Derartige Anspielungen und Bezugnahmen sollen die angebliche Opferposition der Nichtgeimpften beziehungsweise der Impfgegner aufwerten und verdeutlichen. Zugleich können sie auch eine Verharmlosung des Holocaust darstellen. Agitation gegen Asylsuchende Das rassistische Weltbild der rechtsextremistischen Szene und ihr Nationalismus machen Asylsuchende zu einem klassischen Feindbild. Vor dem Hintergrund der gestiegenen Zahl von Asylanträgen hatte die Agitation gegen Asylsuchende ab Sommer 2015 an Schärfe zugenommen. So fanden insbesondere Flugblattverteilungen zu diesem Thema statt. Mit dem zwischenzeitlichen Rückgang der Einreisen ab 2016 stagnierten auch die diesbezüglichen Aktivitäten der rechtsextremistischen Szene in Bayern. Mit dem erneuten Anstieg der Asylbewerberzahlen in 2022 rückte dieses Themenfeld verstärkt in die rechtsextremistische Agitation. In sozialen Netzwerken wird asylfeindliche und rassistische Hetze auch von Personen verbreitet, die nicht in rechtsextremistischen Strukturen organisiert sind. Thematischer Ausgangspunkt der meisten rechtsextremistischen Beiträge zum Thema Asyl sind dabei Straftaten, die tatsächlich oder mutmaßlich durch Asylsuchende begangen wurden. Die Beiträge, Kommentare und Diskussionen, die sich hierbei entspinnen, werden häufig aggressiv geführt und sind geprägt durch sogenannte "Hass-Postings", bewusst verbreitete Falschmeldungen und -darstellungen sowie Protestund Gewaltaufrufe. In diesem Zusammenhang werden auch der deutsche Staat und seine Exekutivorgane diffamiert. Dabei wird versucht, das Bild eines permanent versagenden Rechtsstaates zu vermitteln. Der "III. Weg" führte im Anschluss an Straftaten, die angeblich von Asylsuchenden, Flüchtlingen oder ganz allgemein von Personen mit Migrationshintergrund begangen worden sein sollen, 177 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Flugblattverteilungen durch, u. a. am Ansbacher Bahnhof nach einem mutmaßlich islamistisch motivierten Messerangriff am 9. September sowie in München am Jahrestag des OEZ-Attentats am 22. Juli. Auf ihren Social-Media-Kanälen berichtete die Partei über ihre Aktionen, so etwa im Nachgang zu einer Messerattacke eines Syrers in einem Supermarkt in Bad Kötzting am 25. Mai. Ziel des "III. Weg" ist es, Asylsuchende, Flüchtlinge und ganz allgemein Personen mit Migrationshintergrund als notorisch kriminell und als Gefahr für die deutsche Bevölkerung darzustellen. Dadurch soll Unterstützung für die Forderung der Partei nach einer Ausweisung "krimineller Ausländer" generiert werden. Hintergrund dürfte aber weniger die vorgebliche Sorge um die Sicherheit deutscher Staatsbürger sein. Vielmehr scheint es dem "III. Weg" um den Erhalt der auf biologistischen Grundannahmen beruhenden Vorstellungen einer homogenen "Volksgemeinschaft" zu gehen. Auch die Identitäre Bewegung (IB) versucht Asylsuchende und Migranten als Gefahr zu beschreiben. Nach der Messerattacke in Ansbach zeigten IB-Aktivisten im September von einem Parkhaus nahe des Ansbacher Bahnhofes aus ein Banner mit der Aufschrift "...und täglich grüßt der Einzelfall!" und der Abbildung eines Murmeltiers mit einem blutigen Messer im Maul. Zusätzlich warf die Gruppierung Flugblätter hinab und skandierte wiederholt die Forderung nach der Schließung der Grenzen. Am 7. Dezember forderte eine Regionalgruppe der IB mit einer Banneraktion in Illerkirchberg (Baden-Württemberg) unter Beteiligung eines bayerischen Aktivisten den "Stopp des Bevölkerungsaustausches". Bei einer anderen Aktion der IB in München Anfang August wurde ein Mangel an Wohnraum in der Metropole auf die "extrem gestiegene Nachfrage durch Asylbewerber" zurückgeführt. "Volkstod"-Narrativ Rechtsextremistische Hetze und Agitation gegen Flüchtlinge sind häufig eng mit der Vorstellung des "Volkstodes" verbunden. Dabei wird angenommen, dass das deutsche Volk aufgrund von niedrigen Geburtenzahlen und stetiger Zuwanderung "volksfremder" Migranten aussterben werde. Diese Entwicklung werde von den demokratischen Politikern gewollt und forciert. 178 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Nach Auffassung der bayerischen NPD endet "Multikultur" in Mord und Totschlag, weil hier Völkerschaften auf einem Flecken Erde zusammenkommen, die nicht zusammengehören und nicht zusam mengehören wollen. [...] Nur ethnisch weitest gehend einheitliche Gemeinschaften mit relativ geringem Ausländeranteil erweisen sich als krisensicher und belastungsfähig". Einen multi kulturellen Gesellschaftsentwurf lehnt die baye rische NPD ab, "weil er den Untergang unseres Volkes besiegelt. Die rechtsextremistische Szene greift die "Volkstod"-These regelmäßig im Rahmen von Aktionen und Kampagnen auf. Eine weitere Parole, die die rechtsextremistische Anti-Flüchtlingsagitation ebenfalls prägt, ist die des "Großen Austausches". Dieses dem "Volkstod" nahestehende Konzept geht zurück auf den französischen Schriftsteller Renaud Camus, der den Begriff mit seinem Buch "Revolte gegen den Großen Austausch" prägte. Auch die IB Deutschland benutzt ihn für ihre Kampagnen. Die Grundannahmen des "Großen Austausches" sind denen des "Volkstodes" ähnlich: Die "ethnokulturelle" Identität der europäischen Völker sei durch eine Masseneinwanderung kulturfremder Einwanderer bedroht. Diese Bedrohung werde ferner durch die schwachen Geburtenjahrgänge der "ethnokulturellen" Europäer verstärkt. Ein maßgeblicher Indikator dieses "Großen Austausches" sei die, durch die Identitären ebenfalls bekämpfte, angebliche "Islamisierung Europas". Diese Entwicklung wird nach Meinung der IBD durch die sogenannten "Multikultis", also die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Eliten, gesteuert. Deren Ziel sei es, die angestammten Völker und Kulturen Europas soweit zu ersetzen, dass am Ende eine steuerund austauschbare "Konsumentenmasse" entstehe. Sowohl der "Volkstod"-Gedanke als auch die Annahmen über "Großer Austausch" den "Großen Austausch" decken sich in weiten Teilen mit der und "Umvolkung" ebenfalls im Rahmen extremistischer Anti-Flüchtlingsagitation häufig artikulierten Losung der "Umvolkung". Der Begriff "Umvolkung" entstammt ursprünglich dem nationalsozialistischen Sprachgebrauch und steht für das Programm, das auf "Germanisierungsmaßnahmen" und die räumliche Trennung von ethnischen Gruppen beziehungsweise deren Auslöschung abzielte. Er wird von Angehörigen der rechtsextremistischen Szene benutzt, um gegen die behauptete Verdrängung von "Deutschen" durch "Nicht-Deutsche" in Deutschland zu agitieren. 179 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Islamfeindlichkeit Rechtsextremistische Islamfeindlichkeit ist eine moderne Form der Fremdenfeindlichkeit. Angehörige der rechtsextremistischen Szene verknüpfen dabei häufig auch die Agitation gegen Asylsuchende mit der Agitation gegen den Islam. Die Ablehnung von Menschen muslimischen Glaubens basiert auf dem rassistischen "Volksgemeinschafts"-Gedanken: Demzufolge gehören Muslime einer "raumfremden" Religion an und werden als "undeutsch" abgelehnt. Angehörige der rechtsextremistischen Szene beteiligen sich beispielsweise an Diskussionen um den Bau von Moscheen, versuchen dort, das Wort zu ergreifen und die Veranstaltungen als Plattform für ihre Agitation zu nutzen. Muslime werden dabei pauschal als Bedrohung der Inneren Sicherheit dargestellt. Die "Identitäre Bewegung Deutschland" (IBD) beschwört in ihrer politischen Agitation die Gefahr einer "Islamisierung Europas", die die Folge von Migrationsbewegungen aus muslimisch geprägten Staaten sei und die "ethnokulturelle Identität" der europäischen Völker bedrohe. Die IBD bemüht in diesem Zusammenhang immer wieder historische Ereignisse und stellt vermeintliche historische Verbindungen her. Wiederkehrende Motive sind dabei u. a. die Kämpfe des christlichen Europa gegen das Osmanische Reich in den sogenannten "Türkenkriegen" des 16. und 17. Jahrhunderts sowie die "Reconquista", also die Rückeroberung der Iberischen Halbinsel von den maurischen Herrschern in der Zeit zwischen dem 8. und 15. Jahrhundert. Antiziganismus Der Antiziganismus, also die Agitation beziehungsweise Feindschaft gegen Sinti und Roma, ist ein fester Bestandteil rechtsextremistischer und rassistischer Ideologie. Diese Feindschaft äußert sich in der rechtsextremistischen Szene in Bayern in der Regel nur anlassbezogen und führt dabei auch zu konkreten Aktionen. Sie spielt im Verhältnis zur sonstigen verfassungsfeindlichen Agitation jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Am 13. April berichtete der "III. Weg" unter der Überschrift "Asylflut in München: Zigeuner statt Ukrainerinnen" unter Verwendung antiziganistischer Stereotype, dass "Zigeuner" beziehungsweise "Rotationseuropäer" die Situation nutzen würden, um als Kriegsflüchtlinge und Asylsuchende nach Deutschland einzureisen. Dies führe in den Asylunterkünften, etwa in den Münchner Messehallen im Stadtteil Riem, wo ein Großteil der 2.000 untergebrachten Flüchtlinge "Zigeuner" sei, zu katastrophalen Zuständen. So würden dort zahlreiche Diebstähle verübt und chaotische Zustände herrschen. Währenddessen seien in 180 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 einer anderen Einrichtung sogar Fälle von Krätze aufgetreten. Insgesamt sei dem "III. Weg" zufolge ein Anstieg der Kriminalität infolge des Zuzugs zu erwarten. Orientierung an Ideologie, Sprache und Aktionsformen des Nationalsozialismus Neonazistische Akteure versuchen, in ihrer Ideologie, ihren AkEinbringung natiotionsformen und in der von ihnen verwendeten Sprache an ihre nalsozialistischer historischen Vorbilder aus der Zeit des Nationalsozialismus anSprachelemente in zuknüpfen. Ideologische und symbolische Bezugnahmen zum Diskurs Nationalsozialismus können dabei von strafrechtlicher Relevanz sein. Oft umgehen Neonazis aber eindeutig verbotene NS-Assoziationen beziehungsweise loten die Grenzen des Erlaubten aus, indem sie die Bezugnahmen auf die NS-Zeit möglichst indirekt halten und sich auf die Verwendung von nicht verbotenen Motiven beschränken. Mit dieser Strategie zielen Neonazis u. a. darauf ab, Ideologieund Sprachelemente aus der NS-Zeit in den allgemeinen Sprachgebrauch und die öffentliche Debatte einfließen zu lassen. Besonders deutlich ist dies bei der neonazistischen Partei 10-Punkte"III. Weg". Sie hat ihre politischen Zielsetzungen in einem Programm des 10-Punkte-Programm niedergelegt, das eindeutige Parallelen "III. Weg" zum 25-Punkte-Programm der NSDAP aufweist. Beide ProgramKonzept des "Deutme propagieren eine auf gemeinsamer Abstammung basierende schen Sozialismus" Volksgemeinschaft und enthalten u. a. gebietsrevisionistische Forderungen, die auf die Vereinigung aller "Volksdeutschen" in einem Staat abzielen. Noch auffälliger werden die Parallelen zum NSDAP-Programm am Thesenpapier des "III. Weg" zum "Deutschen Sozialismus". In diesem werden viele arbeits-, wirtschaftsund sozialpolitische Punkte des NSDAP-Programms aufgegriffen und an die heutige Zeit angepasst. Der einzelne Mensch wird nur als Teil des Volkskörpers gesehen, in den er sich einzufügen hat. Das Konzept des "Deutschen Sozialismus" spielt eine zentrale Rolle in der Agitation des "III. Weg". Neonazistische Gruppen und zum Teil auch Akteure aus dem Erinnerungskultur subkulturellen Rechtsextremismus pflegen eine Erinnerungsund "Heldenkultur, die sich stark an Personen und Ereignissen aus der NSgedenken" Zeit orientiert. Geburts-, Todesbeziehungsweise Jahrestage von wichtigen Personen der NS-Zeit wie Adolf Hitler, Rudolf Heß oder Horst Wessel werden beispielsweise vom Kollektiv "Zukunft Schaffen - Heimat Schützen" (KZSHS) begangen. Bei rechtsextremistischen "Heldengedenk"-Aktionen wird in der Regel ausschließlich der gefallenen deutschen Soldaten in den beiden Weltkriegen gedacht, die als Helden für Volk und Vaterland dargestellt werden. Dabei werden die Angehörigen 181 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus der Waffen-SS ausdrücklich mit einbezogen. Das "Heldengedenken" selbst geht ebenfalls auf den Nationalsozialismus zurück. Die Nationalsozialisten interpretierten dabei den zuvor in der Weimarer Republik praktizierten Volkstrauertag um, der ursprünglich den Gefallenen des Ersten Weltkrieges gewidmet war, und stellten die Heldenverehrung anstelle des Totengedenkens in den Mittelpunkt. Unter dem Motto "8. Mai - Wir feiern nicht!" fanden am 8. Mai bundesweit kleinere Gedenkveranstaltungen von Rechtsextremisten anlässlich des Kriegsendes am 8. Mai 1945 statt. Dabei stand - wie jedes Jahr - das Gedenken an die Vertriebenen und durch die Alliierten nach Kriegsende Getöteten im Mittelpunkt. So avancierte der 8. Mai bereits vor Jahrzehnten zu einem zentralen Aktionstag der rechtsextremistischen Szene. Der "III. Weg" schreibt hierzu auf seiner Internetseite: Für Deutschland ist der 8. Mai 1945 alles andere als ein Tag der Befreiung. Deutschland verlor am 8. Mai seine Souveränität als Staat und wurde seiner freien Entscheidungsgewalt beraubt. Seit diesem Tag wird in Deutschland keine Politik mehr für Deutsche betrieben. Es wurde ein Bü ßerkult erschaffen, wonach sich jeder Deutsche seiner Geschichte schämen soll. Die Förderung der Familie, welche die Keimzelle eines gesun den Volkes ist, wurde fast gänzlich eingestellt. Es herrscht anstelle der Gemeinschaft der Individu alismus, der die eigene Karriere als Ziel setzt. Die Kinderlosigkeit als Folge führt, wenn sie nicht aufgehalten wird, unwiderruflich zum Volkstod. Auch in Bayern fanden entsprechende Gedenkveranstaltungen des "III. Weg" statt. So wurden u. a. in München, Murnau, Nürnberg, im Landkreis Passau und in Taufkirchen sowie an verschiedenen Orten in den Regierungsbezirken Oberfranken, Unterfranken und Schwaben Aktionen durchgeführt und auch Plakate aufgehängt. Am 12. November fand der sogenannte "Trauermarsch" zum traditionellen "Heldengedenken" des "III. Weg" in Wunsiedel statt. Zu der Veranstaltung unter dem Motto "Tot sind nur jene, die vergessen werden!" trafen sich rund 120 Angehörige der rechtsextremistischen Szene. 182 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Homophobie und LGBTQIA+-Feindlichkeit In der rechtsextremistischen Szene lässt sich regelmäßig Homophobie und allgemein eine grundsätzliche Feindlichkeit gegenüber der LGBTQIA+-Community (LGBTQIA+: englisches Kürzel für "Lesbian", "Gay", "Bisexual", "Transgender", "Queer", "Inter"und "Asexuell" sowie weitere Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen) feststellen. Meist liegt dieser Ablehnung die im Rechtsextremismus weit verbreitete Normierung eines heteronormativen, traditionellen Familienund Paarbildes zugrunde. Eine Abweichung von diesem angeblichen Idealbild wird im Rechtsextremismus oftmals strikt abgelehnt. Im rechtsextremistischen Parteienspektrum ist Homophobie und LGBTQIA+-Feindlichkeit als Teilaspekt der "Volkstod-" beziehungsweise "Umvolkungs-These" zu verstehen. In seinem 10-Punkte-Parteiprogramm fordert der "III. Weg" daher die "konsequente Förderung kinderreicher Familien zur Abwendung des Volkstodes". Die Partei agiert in diesem Sinne auch gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, weil diese laut "III. Weg" die "volkliche Existenz der Auflösung" zuführe: Innerhalb von Ehe und Familie wird das Staats volk und damit Basis und Zukunft des Staates reproduziert, werden Sitte und Brauchtum ge pflegt und vererbt. [...] Wer die heterosexuelle Ehe ihrer besonderen Stellung beraubt, greift die Familie an, greift die elementaren Grundlagen von Volk und Staat an. Auch die NPD wendet sich gegen die LGBTQIA+-Bewegung. In der Broschüre "Familien stärken, den Sozialstaat erhalten!" suggeriert die Partei eine vermeintliche "Lobbypolitik zugunsten von sexuellen Randgruppen": Nicht der normalen Familie gilt das Interesse der Politik, sondern Schwulen, Lesben und Transse xuellen. [...] Schluss mit der Propaganda für Ho mosexuelle und andere sexuelle Randgruppen - kein Adoptionsrecht für Homosexuelle. 183 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Im Zusammenhang mit dem laut NPD-Kreisverband Nürnberg-Fürth "unsäglichen Christopher Street Day" (CSD) - dem Festund Demonstrationstag der LGBTQIA+-Gemeinschaft - berichtete der Kreisverband am 24. Juli auf Facebook über eine Flugblattblattverteilung unter dem Motto "Pro Mann & Frau" im Nürnberger Stadtteil Hasenbuck: Bei dieser Gelegenheit verteilen wir gleich mal unseren Standpunkt zu dieser Gehirnwäsche. Wir dulden es nicht, dass schon in den Schu len unseren Kindern eingetrichtert wird, dass es nicht nur Mann und Frau, sondern auch weitere Geschlechter gäbe. Ebenso halten wir es für ein Verbrechen, dass heranwachsenden Kinder, die ihre Sexualität noch entdecken müssen, ein gebläut wird, die Homosexualität sei das nor malste von der Welt. (Fehler aus dem Original übernommen) Aktivisten des "III. Weg" und "Kollektiv Zukunft schaffen Heimat schützen" führten am 21. November in Ebern eine Kundgebung unter dem Motto "Schützt unsere Kinder vor LGBTIQ+ und Homopropaganda/Widerstand gegen Gender Manipulation(sic!) im Agenda 2030-Programm" durch. Zum Programm der Veranstaltung gab der Anmelder an, über "artgerechte Aufzucht und Erziehung unseres Nachwuchses" aufklären zu wollen. Redebeiträge, die eine Diffamierung der Homosexualität enthielten, wurden der zuständigen Staatsanwaltschaft zur Prüfung vorgelegt. Eine weitere Veranstaltung zur Thematik fand am 12. Dezember erneut in Ebern statt. Dabei trat neben einem Aktivisten des "III. Weg" auch ein Mitglied von KZSHS als Redner auf. Homophobie und LGBTQIA+-Feindlichkeit ist auch bei rechtsextremistischen Akteuren der "Neuen Rechten" zu finden, die mit Ressentiments zu diesem Thema zu mobilisieren versuchen. So nutzte etwa die "Identitäre Bewegung" (IB) die öffentliche Aufmerksamkeit im Rahmen des CSD für zwei Banneraktionen. Am 16. Juli ließ eine IB-Gruppe in München während des Demonstrationszuges ein Banner mit der Aufschrift "Es gibt nur zwei Geschlechter" und "Keine Brücke dem Wahnsinn" von der Reichenbachbrücke. Am 27. August forderte eine IB-Gruppe in der Oberpfalz mit einer weiteren Banneraktion auf einer Brücke in der Amberger Altstadt eine "Fetischfreie Altstadt". Unter dem Vorwand des Kinderschutzes agitiert auch das rechtsextremistische "COMPACT-Magazin" gegen eine angebliche "Ideologie der Familienzersetzung", die sich "perfide und hinterhältig" in die Gesellschaft schleiche. 184 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Fußballund Hooliganszene Aufgrund der allgemein hohen gesellschaftlichen Relevanz stellt auch der bayerische Fußball einen potenziellen Anknüpfungspunkt für die rechtsextremistische Szene dar. Die Publikation "Fußball & Nationalismus" des "III. Weg", die Ende August auf szenetypischen Vertriebsseiten erschien, zeigt deutlich, dass Rechtsextremisten gewöhnliche Fanszenen als Aktionsund Rekrutierungsfeld ansehen. Das Buch ist der 5. Band einer eigenen Schriftenreihe und soll "aktiven Nationalrevolutionären" das Potenzial der Fußballfanszene verdeutlichen und sie zu neuen Kampagnen motivieren. Der Vorschlag, mit Kampagnen für Aufmerksamkeit zu sorgen, ist bereits durch öffentliche Aktionen des "III. Weg" umgesetzt worden, u. a. im Jahr 2021 gegen den Verein "Türkgücü München", der zur Saison 2020/2021 in die 3. Liga und damit in den Profifußball aufgestiegen war. Damals schrieb die Partei, dass der Verein als "Immigrantenverein" "in Deutschland allgemein und erst Recht in München nicht willkommen" sei. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz verfolgt aufmerksam potenziell bestehende Verbindungen und Überschneidungen zwischen der rechtsextremistischen Szene und Fanszenen des Fußballs. Dabei stehen Überschneidungen und Wechselbezüge zwischen der rechtsextremistischen Szene und dem gewaltbereiten Teil der Fußballfanszene besonders im Fokus. Weder die Fußballfanszene, noch die Ultraund Hooliganszene in Bayern als solche sind jedoch Beobachtungsobjekte des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz. 185 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus 3.2 Rechtsextremistische Aktionsformen 3.2.1 Freizeitaktivitäten zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls und zur Nachwuchsgewinnung Gemeinsame Freizeitaktivitäten erfüllen innerhalb der rechtsextremistischen Szene mehrere Funktionen: Sie stärken die Gruppenidentität und sollen neue Aktivistinnen und Aktivisten anziehen. Neben dem Besuch von rechtsextremistischen Konzerten spielen dabei auch gemeinsame sportliche Aktivitäten, Wanderungen und Reisen sowie Aktivitäten im Umweltschutz, beispielsweise Aufräumaktionen im Frühjahr unter dem Motto "Umweltschutz ist Heimatschutz", eine zunehmend wichtige Rolle. Oft richten sich die Freizeitund Festveranstaltungen ausdrücklich auch an die Ehepartner und Kinder der Szenemitglieder. Durch vorgeblich familienfreundliche Aktivitätsangebote versuchen rechtsextremistische Gruppen das Gemeinschaftsund Zugehörigkeitsgefühl ihrer Mitglieder zu stärken und gleichzeitig deren Familienangehörige frühzeitig an die Szene zu binden und zu indoktrinieren. Vorchristliche Stützpunkte des neonazistischen "III. Weg" berichteten regel"Erinnerungskultur" mäßig über parteiinterne "Gemeinschaftsaktivitäten" wie Feiern und Wanderungen. Die Feiern der rechtsextremistischen Szene stehen oftmals in Verbindung mit vermeintlich vorchristlich germanischen Festen. So veranstaltete der "III. Weg"-Stützpunkt München/Oberbayern zum Frühlingsbeginn eine "Ostara"-Feier. Der Begriff "Ostara" ist angelehnt an die wissenschaftlich nicht belegte Bezeichnung einer germanischen Gottheit und eine angeblich nach dieser benannten keltischen Frühlingstradition. Ebenso beging der "III. Weg" zur Wintersonnenwende das Julfest. Der "III. Weg" versucht mit derartigen Unternehmungen, eine selbst definierte vorchristliche Erinnerungskultur zu pflegen. Die hierbei vermittelten historischen Motive sind größtenteils mystisch verklärt und durch eine Überhöhung des Germanentums geprägt. Ebenso begehen Angehörige der rechtsextremistischen Szene alljährliche Sommersonnwendfeiern. Im historischen Nationalsozialismus wurden die angeblich altgermanischen Sonnenwendfeiern (in Abgrenzung zum christianisierten Johannisfeuer) "wiederbelebt" und als offizielle Feiertage in die Symbolik von "Volk, Blut und Boden" integriert, insbesondere durch die SS. In dieser Tradition führen Angehörige der rechtsextremistischen Szene die Winterund Sonnwendfeiern als szeneverbindende kulturelle Veranstaltungen durch. 186 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die "Junge Alternative Bayern" (JA Bayern) veranstaltete im September die dritten "Jugend-Aktionstage" in der Region Berchtesgaden sowie diverse Wanderungen, wie etwa im März zum Schloss Neuschwanstein. Darüber hinaus fand im April ein Hallenfußballturnier in Nürnberg statt. Zudem veranstaltete die JA im Dezember in München eine Weihnachtsfeier. Die dem subkulturellen Rechtsextremismus zuzurechnende Gruppierung KZSHS führte im Juni, August, Oktober und November gemeinsame Wanderungen durch. 3.2.2 Kampfsportaktivitäten und Waffenaffinität Kampfsport ist ein wichtiges Element der rechtsextremistischen Lebenswelt. Rechtsextremistische Kampfsportveranstaltungen verfügen ähnlich wie Konzerte über einen erheblichen Eventcharakter. Dabei instrumentalisieren Angehörige der rechtsextremistischen Szene den Kampfsport, um über die "klassische" rechtsextremistische Klientel hinaus auch Kontakte zu bislang nicht szenenahen, kampfsportbegeisterten Personen herzustellen und diese an die Ideologie heranzuführen. Vor diesem Hintergrund hat das Thema Kampfsport in der rechtsextremistischen Szene in Bayern in den letzten Jahren merklich an Bedeutung gewonnen. Mit dem Kampfsport werden szenetypische Ideale wie Wehrhaftigkeit zur Schau gestellt und reproduziert. Darüber hinaus dienen Kampfsporttrainings dazu, sich entsprechende Fähigkeiten anzueignen, um diese im Ernstfall auch anwenden zu können. In der Regel folgt das Training zwar zumindest nach außen hin einer betont defensiven Ausrichtung, die vorgeblich der Selbstverteidigung in einer allgemein als bedrohlich dargestellten gesellschaftlichen und politischen Lage dienen soll. 187 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Jedoch stellen derartige Aktivitäten mitunter auch darauf ab, eine Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt zu signalisieren. Sie tragen zudem dazu bei, Personen auf gewalttätige Auseinandersetzungen vorzubereiten. Auch die szeneinterne positive Rezeption von in der Vergangenheit stattgefundenen rechtsextremistischen Kampfsportveranstaltungen belegt die Relevanz des Themas. Aktivitäten im Bereich Kampfsport sowie eine allgemeine Beschäftigung mit der Thematik können insbesondere im subkulturellen und neonazistischen Teil der rechtsextremistischen Szene festgestellt werden. Die dem subkulturellen Rechtsextremismus zuzurechnende Gruppierung KZSHS warnte am 19. Juli gar davor, dass "organisierte Banden bereits in Grundschulen ihre Mitschüler und Lehrer tyrannisieren". Eltern sollten deshalb bereits Kinder zu Selbstverteidigung und Kampfsport motivieren. Auch bei rechtsextremistischen Akteuren der "Neuen Rechten" wird Kampfsport als Teil einer rechtsextremistischen Lebenswelt inszeniert. Zudem stellt sich auch die "Identitäre Bewegung" (IB) bei Aktivistentreffen häufig als kampfsportaffin dar und veröffentlicht Aufnahmen von dabei durchgeführten Boxtrainings. Waffenaffinität Auf der in Teilen der rechtsextremistischen Szene verbreiteten Waffenaffinität liegt ein besonderes Augenmerk der bayerischen Sicherheitsbehörden. In den vergangenen Jahren wurden immer wieder Fälle bekannt, in denen Angehörige der bayerischen rechtsextremistischen Szene in die Tschechische Republik fuhren, um dort Schießstände, Gotchaoder Paintballveranstaltungen zu besuchen. So suchten bayerische Szeneangehörige den Schießstand JIMI in der Region Cheb/Eger auf, um dort mit scharfen Waffen zu schießen. Gerade an ausländischen Schießständen können rechtsextremistische Szeneangehörige oftmals zu geringen Kosten und trotz etwaig bestehender Waffenbesitzverbote Schießtrainings durchführen. Dort ist es mitunter auch möglich, in Deutschland verbotene kampfmäßige Trainings zu veranstalten und Waffen zu nutzen, die in Deutschland dem Kriegswaffenkontrollgesetz unterliegen. 3.2.3 Internationale Kontakte bayerischer Rechtsextremisten Zwischen bayerischen und ausländischen Angehörigen der rechtsextremistischen Szene bestehen zahlreiche Kontakte. Verbindungsleute in den Gruppierungen garantieren die gegenseitige 188 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Mobilisierung für internationale Szeneveranstaltungen wie Konzerte, Feiern und Großdemonstrationen. Dabei kommt es in der Regel zu einer vorübergehenden transnationalen Zusammenarbeit, in Einzelfällen auch zu dauerhaften Kooperationen. Die vielfältigen internationalen Kontakte bayerischer Szeneangehöriger wirken - angesichts der szeneintern betriebenen Überhöhung der eigenen Nation - auf den ersten Blick verwunderlich. Hiermit ist jedoch nicht automatisch die pauschale Ablehnung einer Zusammenarbeit mit gleichgesinnten ausländischen Akteuren verbunden. Dort, wo es ideologische Anknüpfungspunkte gibt, findet Zusammenarbeit statt: Ideologisch verbindende Elemente sind beispielsweise der Kampf für einen sozialen Nationalismus nach dem Vorbild des NS-Regimes, der Hass gegen Flüchtlinge und die Ablehnung der Europäischen Union. Verbindungen bestehen von Seiten des "III. Weg" zu der itaVerbindungen zu lienischen neofaschistischen Bewegung "CasaPound". Anfang "CasaPound" und August besuchte eine Abordnung der "CasaPound" Mitglieder "Castell Aurora" des "III. Weg" in Bayern. Aktivisten der "III. Weg"-Stützpunkte München/Oberbayern und Nürnberg-Fürth führten Berichten auf der Webseite der Partei zufolge am 15. und 16. August jeweils Stadtführungen in München und Nürnberg durch. Ein Vertreter des "Castell Aurora", das sich selbst als das "Patriotische Zentrum Oberösterreich[s]" bezeichnet, stellte das Projekt während der Jugendaktionstage der "Jungen Alternative Bayern" (JA) vom 16. bis 18. September im Berchtesgadener Land vor. Auf Telegram bedankte sich das "Castell Aurora" bei der JA für die Einladung und hofft auf Nachahmer ihres Projektes. Zudem bestehen Verbindungen zwischen "Castell Aurora" und einem "Identitären Strukturprojekt" mit Sitz in Mecklenburg-Vorpommern, das der "Identitären Bewegung" zuzuordnen ist. Darüber hinaus gibt es insbesondere in der rechtsextremistischen Musikszene vielfältige Verbindungen ins Ausland. So war beispielsweise für das italienische Rechtsrockfestival "Ritorno a Camelot" Anfang September auch ein Auftritt der bayerischen rechtsextremistischen Band "Burning Hate" angekündigt, der allerdings aufgrund einer Ausreiseuntersagung gegen die Bandmitglieder nicht stattfinden konnte. Jedoch trat der rechtsextremistische Internetaktivist und stellvertretende NPD-Landesvorsitzende Patrick Schröder im Rahmen der Veranstaltung als Redner auf. 189 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus 4. INTERNET, MUSIK, VERLAGE UND VERTRIEBSSTRUKTUREN 4.1 Rechtsextremisten im Internet Rechtsextremistische Gruppierungen und Akteure nutzen in hohem Maße die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation. Zu ihren Zielen gehört es dabei, Angehörige der Szene und Sympathisanten aufzuwiegeln und mit ihren Inhalten möglichst hohe Reichweiten zu erzielen, um Einfluss auf den öffentlichen Diskurs zu nehmen. Sie nutzen klassische Internetseiten, Onlineblogs, Messenger-Dienste (z. B. Whatsapp und Threema) und soziale Netzwerke (z. B. Facebook, Twitter und Instagram) und verbreiten dort in Form von Postings und Kommentaren ihre verfassungsfeindlichen Botschaften und Parolen. Sie bedienen aber auch Formate, die ein jüngeres Publikum ansprechen sollen. So setzen Angehörige der rechtsextremistischen Szene verstärkt auch auf Podcasts und Videoplattformen wie YouTube oder BitChute. Daneben nutzen sie auch aus der Gaming-Szene bekannte Kooperationsund Streamingplattformen wie Discord, Steam oder Twitch. Sie machen sich dabei auch die Funktionsweise sozialer Medien zunutze, durch die "Filterblasen" entstehen können, in denen Internetuser in ihrer Meinung bestätigt werden. Dies kann dazu beitragen, dass eine fortschreitende Radikalisierung entsteht. Gerade bei emotionalen Diskussionen werden in den sozialen Medien, Foren oder Blogs neben strafrechtlich relevanten Äußerungen auch verfassungsschutzrechtlich relevante rechtsextremistische Äußerungen durch Einzelpersonen getätigt. Auf den Profilen rechtsextremistischer Einzelpersonen finden sich Verschwörungstheorien, Verherrlichung des Nationalsozialismus und rassistische Äußerungen. RechtsextremisAuf eigenen Webseiten bieten Rechtsextremisten auch zahlreitische Streamingche "klassische" Streaming-Angebote wie Internetsendungen angebote; "FSN -The oder -radios an. Patrick Schröder ist als NPD-Funktionär in der Revolution" Oberpfalz bekannt geworden und seit 6. Juni stellvertretender bayerischer NPD-Landesvorsitzender. Er betreibt seit mehreren Jahren das Internet-TV-Format "FSN-The Revolution" (bis 2018 "FSN-TV"). Dort werden neben Interviews mit Protagonisten aus der rechtsextremistischen Szene in moderierten Beiträgen auch Aktionshinweise, Konzertund Demonstrationstermine sowie Informationen über aktuelle und politische Ereignisse innerhalb des rechtsextremistischen Spektrums verbreitet. Am 10. September nahm Schröder in Eisenach am 1. Netzwerktag des "Deutsche Stimme"-Verlages, der der NPD zuzurechnen ist, 190 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 teil und stellte dort nach eigenen Angaben "FSN-The Revolution" vor. Zweck des Netzwerktages war es laut NPD-Parteivorsitzenden Frank Franz, eine Netzwerkplattform zu bilden, die es patrioti schen, nationalistischen und heimattreuen Grup pierungen, Organisationen und Einzelaktivisten ermöglicht, sich auszutauschen und miteinander ins Gespräch zu kommen. Schröder ist zudem auch im rechtsextremistischen Vertriebund Versandhandel als Geschäftsführer der Unternehmen "Ansgar Aryan", "Antagonist", "Patriotic Store" und "FSN-Shop" aktiv. Im Juli 2019 gehörte er zu den Organisatoren der rechtsextremistischen Musikveranstaltung "Tage der nationalen Bewegung" in Themar (Thüringen). Unter der Bezeichnung "Revolution auf Sendung" betreibt der neonazistische "III. Weg" ebenfalls ein Internetradioformat. Die Sendungen werden unregelmäßig auf der Webseite der Partei eingestellt und beinhalten Interviews, Musikbeiträge und Nachrichten der Partei. Bei den Interviewpartnern handelt es sich um rechtsextremistische Aktivisten. Vor dem Hintergrund staatlicher und regulatorischer Maßnahmen Abwanderung zu gegen ihr Wirken im Internet suchen Angehörige der rechtsex"Telegram" und tremistischen Szene stets auch nach alternativen Plattformlö"vk.com" sungen und neuen Onlineformaten, um ihre Propaganda und ihre extremistischen Botschaften möglichst effektiv zu streuen. Nachdem einige Plattformanbieter wie Facebook und Twitter Sperrungen von rechtsextremistischen Nutzern und Gruppierungen vorgenommen haben, ist eine Abwanderung zu alternativen Plattformen wie vk.com, GETTR oder Telegram festzustellen. Als Alternative zu YouTube nutzen Szeneangehörige insbesondere für Livestreams auch DLive und BitChute. Vor allem der Messenger-Dienst Telegram gewann innerhalb der rechtsextremistischen Szene im Zuge der Corona-Pandemie in besonderem Maße an Bedeutung. Der Austausch auf Telegram wird seitens des Messenger-Dienstes aktuell kaum kontrolliert. Daher kann auf Telegram verfassungsfeindliche Agitation verbreitet werden, ohne dass dies zu einer Sperrung oder Löschung von Accounts führt. Die geringe Regulierung auf Telegram hat in hohem Maße zur Etablierung des Messenger-Dienstes als zentrale Ausweichplattform der rechtsextremistischen Szene beigetragen. 191 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Dies zeigt sich insbesondere an der Strategie der "Identitären Bewegung", die im Sommer 2020 infolge von Sperrungen auf anderen Plattformen eine Zusammenstellung sämtlicher Telegram-Kanäle ihrer Untergruppierungen veröffentlichte, um Sympathisanten und Interessierten den Zugang zur Plattform zu erleichtern. Auch das "COMPACT-Magazin" betrachtet Telegram als das "Darknet des kleinen Mannes" und sieht die App als wichtige Möglichkeit, einer vermeintlichen Zensur auf Mainstreamplattformen zu entgehen. Die Kommunikation auf Telegram verläuft über Kanäle, Gruppen und Chats. Während in Kanälen ein oder mehrere Akteure Nachrichten, Videos und Sprachnachrichten mit einer Vielzahl von Adressaten teilen können, ist in Gruppen zumindest in Teilen eine gleichberechtigte Diskussion zwischen den Gruppenmitgliedern zu verschiedenen Themen oder mit unterschiedlichem regionalem Schwerpunkt möglich. Telegram-Gruppen gründen sich rasch und weisen in Einzelfällen auch ein dynamisches Wachstum auf. Entstehung von Die Gruppen-Kommunikation auf Plattformen wie Telegram Filterblasen ist durch eine vergleichsweise große Nutzerzahl, die sich im 3- bis 4-stelligen Bereich bewegt, eine hohe Fluktuationsrate von Usern binnen kurzer Zeitspannen und eine im Vergleich zur Gesamtnutzerzahl verhältnismäßig geringe Anzahl an tatsächlich aktiven Usern gekennzeichnet. Diese wenigen, sich aktiv an der Kommunikation beteiligenden User sind wiederum für den Großteil der geteilten Inhalte verantwortlich. So werden in einer durch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz exemplarisch untersuchten Gruppe sowohl verschwörungstheoretische und reichsbürgertypische als auch antisemitische Themenfelder mit Text-, Bildund Tondokumenten aufgegriffen. Die Themen verschieben sich im Zeitverlauf und passen sich oftmals dem Tagesgeschehen an. Viele User sind in mehreren ähnlich gelagerten Gruppen mit extremistischen Bezügen vor allem als passive Mitleser beteiligt. Ein geringerer Teil der User fungiert als Bindeglied zwischen unterschiedlichen Gruppen und trägt aktiv zu deren Vernetzung bei. Oftmals werden von bestimmten Multiplikatoren identische oder ähnliche Inhalte über mehrere Gruppen mit extremistischen Bezügen geteilt. Dies soll eine größere Reichweite erzeugen. Einzelne, sehr aktive User sind somit für einen erheblichen Umfang an Meldungen verantwortlich. Die 192 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Inhalte konzentrieren sich dabei meist auf die gleichen Themenfelder, sowohl innerhalb einer Telegram-Gruppe als auch gruppenübergreifend. Auf diese Weise entstehen Filterblasen, die dazu beitragen können, dass User einseitiger Kommunikation ausgesetzt werden, was im Einzelfall Radikalisierungsverläufe begünstigen kann. Neben sozialen Netzwerken spielen für Angehörige der rechtsNutzung von extremistischen Szene auch "Imageboards" (z. B. 8kun und Imageboards kohlchan) eine wichtige Rolle. Diese Plattformen sind nicht als extremistisch zu bewerten, werden aber von einzelnen Nutzern beziehungsweise Nutzergruppen für extremistische Zwecke herangezogen. Dabei ist zu beobachten, dass häufig Formate gewählt werden, die nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne erfordern. So werden Botschaften u. a. in Form von Memes verbreitet. Szeneangehörige nutzen diese Darstellungsform insbesondere dazu, verfassungsfeindliche Inhalte in einen verharmlosenden und vermeintlich humoristischen Kontext zu stellen, um so die Akzeptanz solcher Aussagen zu erhöhen und die Grenze des "Sagbaren" zu erweitern. Besonders verbreitet sind z. B. ein Comic-Frosch mit dem Namen Pepe sowie das Meme "The happy Merchant" (deutsch: "Der glückliche Händler"), einer Darstellung eines sich die Hände reibenden Menschen mit Kippa, Bart und langer Nase, die auf stereotyp-diffamierende Art einen Juden zeigen soll. Über Darstellungen dieser Figuren werden häufig extremistische Inhalte auf eine vermeintlich lustige Art verbreitet, um insbesondere junge Internetuser anzusprechen. Der Einsatz digitaler Medienformate und Verbreitungstechniken dient auch zu Vernetzungszwecken, zum internen Austausch sowie zur Absprache von Aktionen. Gerade hier versuchen sich Angehörige der rechtsextremistischen Szene durch den Einsatz von Diensten und Kommunikationskanälen mit hohen Verschlüsselungsund Anonymisierungsstandards der Beobachtung durch Öffentlichkeit und Sicherheitsbehörden zu entziehen. In sozialen Netzwerken gründen sie geschlossene Foren und Chatrooms zur szeneinternen Kommunikation. Dies ermöglicht etwa die Weitergabe strafrechtlich relevanter Inhalte. Messenger-Dienste spielen zudem eine wichtige Rolle bei der Organisation von Aktionen, Veranstaltungen und Konzerten. 193 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Exekutivmaßnahmen Aufgrund der Corona-Pandemie war eine verstärkte Nutzung des Internets durch die rechtsextremistische Szene feststellen. Dabei verbreiten Szenemitglieder u.a. Verschwörungstheorien zum Ursprung des neuartigen Corona-Virus oder hetzen gegen Asylsuchende, welche sie für die Verbreitung des Virus verantwortlich machen. Insbesondere über den Messenger-Dienst Telegram verbreiten Angehörige der rechtsextremistischen Szene unter Bezugnahme auf die Corona-Pandemie verfassungsfeindliche Inhalte und Hass-Postings. Hass-Postings Unter Hass-Postings versteht man verschiedene Formen menschenverachtender oder beleidigender Äußerungen im Internet, die sich meist mit großer Aggressivität gegen Einzelpersonen oder bestimmte Menschengruppen und deren Weltanschauungen, Werte oder Herkunft richten. Politisch motivierten Hass-Postings werden solche Straftaten zugerechnet, die in Würdigung der Umstände der Tat oder der Einstellung der Täter Anhaltspunkte dafür geben, dass diese wegen einer zugeschriebenen oder tatsächlichen politischen Haltung, Einstellung und/oder Engagements, Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit, Weltanschauung, sozialen Status, einer physischen und/oder psychischen Behinderung oder Beeinträchtigung, sexuellen Orientierung und/oder sexuellen Identität oder des äußeren Erscheinungsbildes kausal gegen eine oder mehrere Person(en), Gruppe(n) oder Institution(en) gerichtet sind. Um den regulatorischen Druck auf die Betreiber von Plattformen und Netzdiensten zu erhöhen und diese zu einem konsequenteren Vorgehen gegen strafbare und extremistische Inhalte auf ihren Seiten zu bewegen, verabschiedete der Bundestag am 30. Juni 2017 das "Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken" (Netzwerkdurchsetzungsgesetz - NetzDG). Es verpflichtet die Betreiber sozialer Netzwerke unter Androhung von Bußgeldern zur Löschung derartiger Inhalte. Die Umsetzung des NetzDG hatte unmittelbare Auswirkung auf die Onlineaktivitäten rechtsextremistischer Gruppen in Bayern und führte u. a. zu Sperrungen von entsprechenden Profilen und Kanälen. Am 6. Mai 2021 verabschiedete der Bundestag eine Novellierung des NetzDG. Ziel der Gesetzesänderung ist es, die Bekämpfung strafbarer Hassrede auf den Plattformen sozialer Netzwerke weiter zu verbessern und transparenter zu machen. 194 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Nachdem das 2020 veröffentlichte Computerspiel "Heimat Defender: Rebellion" durch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPJM) 2021 indiziert wurde, kündigte der Herausgeber und rechtsextremistische Verein "Ein Prozent e. V." einen Nachfolger an. Die Fortsetzung "The Great Rebellion" wurde für Ende 2022 angekündigt, wird jedoch erst 2023 erfolgen. Mit diesem und weiteren Spielen wolle man dem Verein zufolge "zu einem neuen Bewußtsein innerhalb der Gamingszene beitragen". Nach der Indizierung des ersten Spiels hatte "Ein Prozent e. V." gefordert, zukünftige Indizierungen durch das Nutzen von Servern außerhalb Deutschlands zu umgehen, weshalb der Entwickler in Österreich ansässig ist. 4.2 Rechtsextremistische Musik Rechtsextremistische Musik ist ein wesentliches Eintrittstor in die rechtsextremistische Szene. So nutzen Szeneangehörige Musik, um Jugendliche mit rechtsextremistischem Gedankengut in Kontakt zu bringen. Oft wird verkürzt von "Rechtsrock" gesprochen, obwohl das Angebot an rechtsextremistischer Musik längst zahlreiche unterschiedliche Stile und Zielrichtungen umfasst, die von Skinheadmusik und Balladen über Vikingrock, Black Metal, Hatecore und Neofolk bis hin zu Rap und Techno reichen. Die Texte enthalten nationalistisches, fremdenfeindliches, antisemitisches und antidemokratisches Gedankengut. Rechtsextremistische Musikveranstaltungen (Konzerte und Liederabende) im Inund Ausland ermöglichen es Szeneangehörigen zudem, neue Kontakte aufzubauen und sich szeneintern zu vernetzen. Daneben gibt es Auftritte rechtsextremistischer Musikerinnen und Musiker bei Veranstaltungen, bei denen der Versammlungscharakter gegenüber der Musikdarbietung überwiegt. Teilweise werden diese auch konspirativ vorbereitet beziehungsweise als private Veranstaltungen durchgeführt. Mit Vortrefforten, einer Mobilisierung über Messenger-Dienste beziehungsweise Mund-zu-Mund-Propaganda oder der Deklarierung eines Konzertes als private Geburtstagsfeier soll ein Einschreiten der Sicherheitsbehörden verhindert werden. Diese 195 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus konspirativen Vorbereitungsmaßnahmen üben einen zusätzlichen Reiz aus. Die Veranstalter - es handelt sich dabei meistens um langjährige Szeneangehörige - erlangen bei der erfolgreichen Durchführung eines Konzertes innerhalb der Szene viel Anerkennung. Rechtsextremistische Konzertund Musikveranstaltungen in Bayern Im Hinblick auf rechtsextremistische Musikund Konzertveranstaltungen ist im Bundesgebiet ein allgemeiner Trend zur Verbindung politischer Rednerveranstaltungen mit Musikveranstaltungen festzustellen. In Bayern überwiegt hingegen die Zahl der Musikveranstaltungen, die in kleinem Kreis und privaten Rahmen oft konspirativ durchgeführt werden. In Bayern fanden im April und Juni Konzerte in Memmingen statt, die von der Skinheadkameradschaft "Voice of Anger" organisiert wurden. Rechtsextremistische Bands in Bayern Bandname Herkunft Aktiv seit Letzte Veröffentlichung Antikonform Raum Allgäu 2022 CD "Eine Frage der Ehre" (2022) Burning Oberfranken 2005 - 2010 CD "Your Time Is Running Hate Gründung mit eheOut" (2010), Beteiligung maligen Mitgliedern der am Sampler "Punikoff Skinhead-Bands "Aryan Vol. 1" (2017) Rebels" und "Division "Warmachine" (2019) 28", Neugründung 2017 Eskalation Ober2010 CD "Kein Schritt zurück" franken/ (2015), Beteiligung am UnterSampler "Hessen Skins" franken (2017), "S.F.F.S" (2019), Album "M-E-K" (2020) zusammen mit MPU, Beteiligung am Sampler "A Tribute to Faustrecht" (2021) Kodex Frei Raum 2010 CD "Das Pack" (2016), Kempten Beteiligung an der Compilation "10. Tag der deutschen Zukunft" (2018) 196 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Bandname Herkunft Aktiv seit Letzte Veröffentlichung MPU Raum Hof 2005 CD "German Skinhead Anthems" (2017), Beteiligung am Sampler "Hessen Skins" (2017), Album "M-E-K" (2020) zusammen mit Eskalation Prolligans Raum Allgäu 2004 CD "Nahrung für den Geist" (2017), Compilation "Skinhead durch und durch" (2017), CD "Auf dem Abstellgleis" (2021) SchandRaum 2016 Veröffentlichungen bisher diktat Dillingen nur auf Youtube-Channel a. d. Donau "Schanddiktat" Siegesfahne Raum 1998 CD "Vorwärts, KameBerchtesraden!" (2008) gaden SpreeRaum 1994 - 2009; erneute CD "Spreegeschwader - geschwader Bayreuth Aktivität im Jahr 2016, Akustik Rac'n'Roll" (2021) wieder aktiv seit 2021 Sturmtrupp Neuburg 2008 (Neugründung CD "Unter feindlicher a. d. Donau nach Auflösung 2002) Attacke" (2011) TreueRaum Hof 2015 "Blutgeeint" (2021) schwur Urweisse Raum 2019 "Urweisse Musik" (2019), München Beteiligung am Sampler "A Tribute to Faustrecht" (2021) White Rebel Raum Hof 2007 CD "The Boys are back in Boys/White Town" (2012), Beteiligung Rebel Voice am Sampler "Back to the Basement" (2016), "Ohne Strom gegen den Strom" (2019) Rechtsextremistische Bands nutzen Konzerte als Möglichkeit, ihren Bekanntheitsgrad zu steigern und für Tonträger und Merchandising-Artikel zu werben. Mit der Gage für einen Konzertauftritt können die meisten Bands ihre Selbstkosten allerdings nur teilweise decken. Wesentlich einträglicher sind der Verkauf und Vertrieb von Tonträgern über Versandhandel, Verkaufsstände oder auf rechtsextremistischen Veranstaltungen. Darüber hinaus bieten einschlägige Internetseiten weitere Möglichkeiten, rechtsextremistische Musikclips und -alben verfügbar und damit einem breiten Publikum zugänglich zu machen. 197 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus 4.3 Rechtsextremistische Vertriebsstrukturen Rechtsextremistische Vertriebe und Versandhandel kommerzialisieren die subkulturell geprägte rechtsextremistische Szene. Das Sortiment ist gezielt auf die Bedürfnisse der Anhänger einzelner Szenestilrichtungen wie der Skinhead-, der NS-Hatecoreoder der NS-Black-Metal-Subkultur ausgerichtet. Bei der Produktion und Vervielfältigung von Tonträgern spielen insbesondere die größeren Vertriebe eine wichtige Rolle. Neben Musik umfasst deren Angebotspalette auch Bekleidung, Fahnen, Flugblätter, Plakate und szenetypische Devotionalien wie Bücher und Aufkleber sowie zunehmend auch Accessoires für den Alltag wie Sonnenbrillen oder Gürteltaschen. Szeneläden stellen mittlerweile die Ausnahme dar. Nahezu alle Händler bieten ihre Waren auf zum Teil professionell gestalteten Verkaufsplattformen im Internet an. Die Betreiber rechtsextremistischer Vertriebsstrukturen verfolgen insbesondere wirtschaftliche Interessen, manche unterstützen mit ihren Einnahmen auch die rechtsextremistische Szene. Vertriebe und Versandhandel Name Sitz/Landkreis Ansgar Aryan Mantel/Neustadt a. d. Waldnaab Antagonist Mantel/Neustadt a. d. Waldnaab DIM Records Coburg FSN-Shop Mantel/Neustadt a. d. Waldnaab Nordic Pride Murnau/Garmisch-Partenkirchen Oldschool Records Wolfertschwenden/Unterallgäu Patriotic Store Mantel/Neustadt a. d. Waldnaab Wikingerversand Geiselhöring/Straubing-Bogen 198 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 4.4 Rechtsextremistisches Verlagswesen Rechtsextremistische Verlage, Printund Internetmedien streben die Etablierung einer rechtsextremistischen Gegenkultur an. Daher verbreiten sie revisionistische, antisemitische, antidemokratische sowie fremdenfeindliche Vorstellungen und wollen so rechtsextremistische Überzeugungen in der Leserschaft initiieren oder festigen. Dabei soll das Vertrauen in die demokratische Ordnung untergraben werden, um letztendlich ein undemokratisches, autoritäres politisches System in Deutschland populär zu machen. Der Verfassungsschutz beobachtet den Kreis der regelmäßig puBeobachtung von blizierenden Personen des Internetblogs "Politically Incorrect/ "Politically Incorrect/ PI-News" ("PI-News"). "PI-News" ist ein seit November 2004 PI-News" bestehender reichweitenstarker Internetblog, auf dem auch islamfeindliche und rechtsextremistische Agitation verbreitet wird. In Zusammenhang mit dem Protagonisten der verfassungsschutzrelevanten islamfeindlichen Szene, Michael Stürzenberger, wird "PI-News" seit dem Jahr 2014 regelmäßig im bayerischen Verfassungsschutzbericht erwähnt. Auf "PI-News" wurden in 2022 zahlreiche fremdenund islamfeindliche Beiträge festgestellt. Ideologisch prägend für den Internetblog ist die Erzählung von einer angeblichen "Umvolkung" und "Islamisierung" Deutschlands. Seit dem Jahreswechsel 2020 beobachtet der Verfassungs"COMPACTschutz die "COMPACT-Magazin GmbH" ("COMPACT"). Magazin" und Diese betreibt den YouTube-Kanal "COMPACT-TV", gibt das "COMPACT-TV" "COMPACT-Magazin" und verschiedene Sonderformate wie "COMPACT-Edition" und "COMPACT-Aktuell" heraus und führt jährlich sogenannte "COMPACT-Konferenzen" durch. Über die im Jahr 2010 erstmalig erschienene Monatszeitschrift "COMPACT-Magazin" werden nicht nur verschwörungstheoretische Inhalte, sondern regelmäßig auch islamfeindliche und fremdenfeindliche Motive verbreitet, die gegen die Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes gerichtet sind. "COMPACT" kann als ein bedeutendes Sprachrohr im RechtsexBayerische Autoren tremismus gesehen werden, welches mit zahlreichen Beobachbei "COMPACT" tungsobjekten der Verfassungsschutzbehörden eng vernetzt ist und diesen eine Plattform bietet. Unter den Autoren für "COMPACT" befand sich bis mindestens Anfang 2022 auch ein bayerischer Rechtsextremist. In dem werktags veröffentlichten Streamingformat "COMPACT. Der Tag", welches aktuelle Sachverhalte aufgreift, werden in unregelmäßigen Abständen auch Meinungsbeiträge von Martin Sellner, dem führenden Aktivisten der "Identitären Bewegung" im deutschsprachigen Raum, veröffentlicht. 199 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Pro-russische Während das Magazin ein breites Themenspektrum bedient, entAgitation fielen die Schwerpunkte in 2022 vor allem auf den Russland-Ukraine-Krieg und die Inflation. "COMPACT" sieht dabei nicht Russland, sondern die NATO als "Aggressor" und verbreitet (pro)russische Narrative. In seiner Novemberausgabe behauptet "COMPACT", die USA und weitere "Feinde" würden seit 1914 Krieg gegen Deutschland führen und seien verantwortlich für die Auswirkungen des Russland-Ukraine-Krieges. Überdies warb "COMPACT" u. a. mit einer eigenen Webseite für eine "Großdemo" vor dem US-Konsulat; das erste Grußwort der Webseite lieferte der Rechtsextremist Björn Höcke. Mit seiner thematischen Schwerpunktsetzung versucht "COMPACT" nicht nur rechtsextremistische Zielgruppen umfänglich zu bedienen, sondern auch nicht extremistische Personenkreise, die empfänglich für etwaige, mitunter antiamerikanische Verschwörungstheorien sind, zu erreichen. Das Medienunternehmen mit Sitz in Brandenburg führte 2022 zivilrechtliche Auseinandersetzungen u. a. wegen Urheberrechtsverletzungen, in deren Folge mehrere Ausgaben nicht mehr verkauft werden durften. Eigenangaben zufolge betrug der Schaden für "COMPACT" alleine nach dem Prozess gegen eine deutsche Produktionsfirma mindestens 60.000 Euro. Außerdem wurde der Vertrieb der 1. Auflage der Autobiografie des rechtsextremistischen Chefredakteurs nach einem Rechtsstreit mit einem anderen deutschen Verlag ebenfalls verboten. Beobachtung des Im Jahr 2020 wurde die Beobachtung des in Schnellroda (Sach"Institutes für sen-Anhalt) ansässigen "Institutes für Staatspolitik" (IfS) durch Staatspolitik" den Verfassungsschutz bekanntgegeben. Das Institut verfolgt die Strategie der sogenannten "Metapolitik". Dahinter verbirgt sich der Versuch, den öffentlichen Diskurs zu prägen und Deutungshoheit zu erlangen. Auf diese Weise versucht das Institut auf den vorpolitischen Raum einzuwirken und seine ideologischen Ziele durchzusetzen. Damit trägt das IfS zu einer gesamtgesellschaftlichen Spaltung bei und begünstigt Radikalisierungstendenzen bis hin zur Legitimierung von Gewalt. Dazu unterhält es enge Kontakte zu rechtsextremistischen Gruppierungen und zur IB-Führungsperson Martin Sellner. Überdies veranstaltet das Institut regelmäßig "Winterund Sommerakademien", um den Nachwuchs der "Neuen Rechten" ideologisch zu formen und die Vernetzung zu fördern. Beobachtung des Seit 2021 wird auch der "Verlag Antaios" vom Verfassungsschutz "Antaois"-Verlages beobachtet. In vom "Verlag Antaios" verbreiteten Publikationen wird u. a. das Ideologiekonzept des "Ethnopluralismus" propagiert, dessen Idealvorstellung einer staatlichen beziehungsweise gesellschaftlichen Ordnung in einem ethnisch und kulturell homogenen 200 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Staat besteht. Zwischen dem IfS und dem "Verlag Antaios" bestehen enge personelle und organisatorische Verflechtungen. In Beiträgen der IfS-Zeitschrift "Sezession", die über den "Verlag Antaios" angeboten wird, schreibt Martin Sellner als Stamm-Autor gelegentlich zur Lage und Weiterentwicklung der "Neuen Rechten". Am 21. Februar veröffentlichte er einen Artikel zur Lage der IB, die er als erfolgreiches "Reformprojekt" der Szene und als eine "handlungsfähige, anschlußfähige Avantgarde" beschreibt. Um trotz Rückschlägen weiter zu bestehen, werde sich die IB strukturell und taktisch anpassen. Der Verlag "Anton A. Schmid" mit Sitz in Durach im Landkreis Beobachtung Verlag Oberallgäu vertreibt neben religiöser und verschwörungstheore"Anton A. Schmid" tischer Literatur auch Werke mit antisemitischen, geschichtsrevisionistischen und rechtsextremistischen Inhalten. Verbreitung finden die Schriften auch über einen Onlineversand. Durch die Publikation der Bücher "Die Protokolle der Weisen von Zion - erfüllt" (Band I, Teil 1 und Teil 2) verbreitet der Verlag nachweislich falsche Behauptungen über eine angebliche jüdische Weltverschwörung, die in dieser Form auch vom NS-Regime propagiert wurden. Im ebenfalls durch den Verlag vertriebenen Buch "Hitler beging keinen Selbstmord" wird außerdem unterstellt, dass jüdischstämmige amerikanische Familien die Machtergreifung Hitlers aktiv herbeigeführt hätten. Dabei werden auch im Rechtsextremismus häufig genutzte antisemitische Codes und Narrative reproduziert. Die Familie Rothschild wird für die Machtergreifung der Nationalsozialisten verantwortlich gemacht, um eine geschichtsrevisionistische Sichtweise auf das NS-Regime und den Zweiten Weltkrieg zu konstruieren, wonach Deutschland als Opfer einer von Juden vorangetriebenen Verschwörung anzusehen sei. 5. IMMOBILIENSUCHE UND -ERWERB Rechtsextremistisch genutzte Immobilien sind solche, die von Angehörigen der rechtsextremistischen Szene politisch zielund zweckgerichtet sowie wiederkehrend genutzt werden. Erfasst werden dabei Immobilien, bei denen Angehörige der rechtsextremistischen Szene über eine uneingeschränkte grundsätzliche Zugriffsmöglichkeit verfügen, etwa in Form von Eigentum, Miete, Pacht oder durch ein Kennund Vertrauensverhältnis zu Objektverantwortlichen. Davon abzugrenzen sind Objekte, die von Szenemitgliedern nahezu ausschließlich zu Wohnzwecken genutzt werden. Angehörige der rechtsextremistischen Szene nutzen Immobilien, um regionale Strukturen und Anlaufstellen 201 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus zu schaffen. Sie suchen in Ballungsräumen ebenso wie im ländlichen Raum stets nach Räumlichkeiten für Feiern, Konzerte, Schulungen, Parteiveranstaltungen oder interne Treffen. Für kleinere Treffen nutzen Szeneangehörige häufig auch ihre privaten Wohnobjekte. In der breiten Öffentlichkeit erfahren Angehörige der rechtsextremistischen Szene keine Akzeptanz, und mögliche Vermieter lehnen eine Vermietung an rechtsextremistische Gruppierungen zumeist ab. Die rechtsextremistische Szene hat deshalb regelmäßig erhebliche Schwierigkeiten, dauerhaft Immobilien für ihre Aktivitäten zu finden, die über eine bloße Wohnnutzung hinausgehen. Insbesondere die langfristige Anmietung einer Gaststätte durch Szenemitglieder stellt in Bayern die Ausnahme dar. Verschiedene rechtsextremistische Gruppierungen halten zwar wiederholt interne Treffen oder kleinere Feiern in Gaststätten ab. Die Räumlichkeiten werden aber nur in Ausnahmefällen explizit für rechtsextremistische Szenetreffen angemietet. Vielmehr geben sich Szeneangehörige dort meist als "normale" Gäste aus. Wenn Personen aus der rechtsextremistischen Szene eine ernsthafte Kaufabsicht haben, setzen sie meist harmlos erscheinende "Strohmänner" ein, um den rechtsextremistischen Hintergrund des Erwerbs zu verschleiern. Immobilien in Bayern Derzeit werden in Bayern 18 Objekte als rechtsextremistisch genutzte Immobilien eingestuft, u. a. in Feilitzsch, Geiselhöring, Gilching, Mantel, Memmingen, München, Murnau und Wolfertschwenden. Eröffnung Parteibüro Die neonazistische Kleinstpartei "III. Weg" verfügt seit Mitte des III. Wegs 2022 über eine Immobilie im Schweinfurter Ortsteil Oberndorf. Am 29. Oktober fand dort die öffentlichkeitswirksame Eröffnung eines Parteibüros mit bis zu 30 lokalen und überregionalen Parteiaktivistinnen und Parteiaktivisten statt, darunter auch der Bundesvorsitzende Matthias Fischer und die bayerische Landesvorsitzende Jasmine Eisenhardt. Neben Büros in Plauen (Sachsen), Ohrdruf (Thüringen) und Hilchenbach (NordrheinWestfalen), gegen das die Gemeinde gegenwärtig juristisch vorgeht, ist das Parteibüro in Schweinfurt nunmehr die 4. offizielle Anlaufstelle der rechtsextremistischen Partei. Die Bürgerbüros des "III. Weg" werden als Treffund Versammlungsorte für Rechtsextremisten genutzt und dienen auch als Anlaufstellen für vorgeblich wohltätige Aktionen. So unterhält der "III. Weg" in seinen Parteibüros meist auch eine "Kleiderkammer". Diese Angebote unter dem Motto "Hilfe für Deutsche" schließen aber explizit Personen mit Migrationshintergrund aus und belegen in 202 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Verbindung mit dem Leitsatz "Erst unser Volk, dann all die anderen" die fremdenfeindliche Ausrichtung der Partei. Daneben werden auch "Tier-Tafeln" angeboten. 6. RECHTSEXTREMISTISCHE PARTEIEN UND PARTEINAHE STRUKTUREN 6.1 Junge Alternative für Deutschland Bayern (JA Bayern) Deutschland Bayern Anhänger 1.6001 ca. 70 Gründung 15. Juni 2013 26. Oktober 2013 Sitz Berlin Nürnberg 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 Die JA ist gemäß SS 17a der Bundessatzung der "Alternative für Deutschland" (AfD) die offizielle Jugendorganisation der Partei. Die JA wurde im Juni 2013 gegründet und ist als eigenständiger Verein mit Sitz in Berlin konstituiert. Zum Charakter der JA heißt es in SS 17a Abs. 2 Satz 1 der Bundessatzung der AfD: Die JA dient als Innovationsmotor der AfD und hat das Ziel, das Gedankengut der Partei in ihrem Wirkungskreis zu verbreiten sowie die besonde ren Anliegen der Jugend innerhalb der AfD zu vertreten. Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) erklärte am 15. Januar 2019 die JA zum Verdachtsfall, da hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte für eine extremistische Bestrebung vorliegen. Die programmatischen Aussagen der JA enthielten eine aggressive Rhetorik, in der eine migrationsund insbesondere islamfeindliche Haltung offen zu Tage trete. Die JA vertrete einen ethnisch homogenen Volksbegriff und mache jene, die dieser ethnisch geschlossenen Gemeinschaft nicht angehören, in eindeutiger Weise verächtlich. So bezeichne die JA die Migrationspolitik der Bundesregierung als "wahnsinniges Bevölkerungsexperiment", für das das "Volk [...] mit seinem Blut" bezahle und das dazu führe, dass das deutsche Volk "abgeschafft" werde. 203 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Rechtsmittel Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg bestätigte in erfolglos einer Entscheidung vom 19. Juni 2020 diese Einschätzung des BfV. Die JA hatte gegen ihre Nennung im Bundesverfassungsschutzbericht 2019 Klage eingereicht. Nach Auffassung des Gerichtes folge das zentrale politische Programm der JA dem Idealbild des "autochthonen Deutschen". Deutsche Staatsangehörige würden nach ihrer ethnischen Herkunft in Bürger erster und zweiter Klasse unterteilt. Diese diskriminierende Ausgrenzung verletze die Menschenwürde. Zudem spreche die JA durch ihre kontinuierliche Agitation gegen Asylbewerber und Migranten diesen ihre Menschenwürde ab. Bestimmte Bevölkerungsgruppen würden bewusst ausgegrenzt und Muslimen der Schutz der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit nicht zugebilligt. Unter Verwendung rechtextremistischer Kampfbegriffe - etwa der "UmvoIkung" - werde der "Austausch des deutschen Volkes" behauptet. Aus den vom BfV genannten Gründen wird die JA durch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz ebenfalls beobachtet. Das Verwaltungsgericht Köln hat in einem noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Verwaltungsstreitverfahren der AfD gegen das BfV in der Entscheidung vom 8. März die Zulässigkeit der Beobachtung der JA durch das BfV und die Berichterstattung durch das BfV bestätigt. Die AfD hat gegen die Entscheidung des VG Köln Berufung eingelegt, über die bislang nicht entschieden worden ist. Strukturen und Der bayerische Landesverband der JA (JA Bayern) existiert Aktivitäten in Bayern bereits seit September 2013. Die "JA Bayern" weist keine flächendeckenden bayerischen Strukturen auf. Es bestehen einzelne Kreisund Bezirksverbände. Realweltliche Veranstaltungen der "JA Bayern" fanden im Berichtszeitraum insbesondere im Rahmen der Freizeitgestaltung statt. Einem Posting auf Instagram zufolge besuchten Anfang November 1 bayerischer JA-Funktionär und zugleich Mitglied des JA-Bundesvorstandes mit 2 Aktivistinnen der Identitären Bewegung (IB) den Bayerischen Landtag. Beim JA-Bundeskongress am 15./16. Oktober in Apolda (Thüringen) hatte Björn Höcke geäußert, die JA solle mehr IB wagen. 204 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die "JA Bayern" veranstaltete am 6. August einen DiskussionsDiskussionsabend abend mit dem Titel "Partei, Vorfeld & Parlament". Im Fokus der "Partei, Vorfeld & Veranstaltung standen die Bedeutung des politischen Vorfeldes Parlament" für den Erfolg einer Partei und erfolgreiche Zukunftsstrategien. Den Teilnehmerkreis beschrieb die "JA Bayern" am 7. August als "Vertreter aus allen Wirkbereichen der politischen Rechten". Den JA-Angaben zufolge wurden während der Veranstaltung die aktuelle Lage analysiert, Strategien für die Zukunft erarbeitet und untereinander neue Kontakte und Kooperationen geknüpft. Unter den Referenten befand sich auch ein Autor des vom BfV als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuften "Verlag Antaios". Er ist zudem Redaktionsmitarbeiter der Zeitschrift "Sezession" des als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuften "Verein für Staatspolitik e. V.". In einem im "Verlag Antaios" im Berichtsjahr veröffentlichten Buch wirbt der Autor für eine "Mosaik-Rechte", die sich als Kooperation zwischen der AfD und in ihrem gesellschaftspolitischen Umfeld angesiedelten Vorfeldorganisationen versteht. Das Buch sowie die "Mosaik-Rechte" waren Gegenstand des Diskussionsabends. Unter "Mosaik-Rechten" ist aus Sicht des Verfassungsschutzes eine arbeitsteilige Aufgliederung und Entgrenzung im rechtsextremistischen neu-rechten Spektrum zu verstehen, wobei die Entgrenzung der einst klaren Trennlinien zwischen demokratischen, radikalen und extremistischen Positionen verwischt. 6.2 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Deutschland Bayern Mitglieder und Förder3.1501 450 mitglieder Vorsitzender Frank Franz Rainer Hatz Gründung 1964 1965 Sitz Berlin Bamberg Publikationen Deutsche Stimme - 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 205 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Die NPD will die bestehende Ordnung durch eine "Volksgemeinschaft" ersetzen, denn aus Sicht der NPD stellt einzig eine ethnisch homogene "Volksgemeinschaft" eine natürliche, dem wahren Wesen des Menschen entsprechende und damit annehmbare staatliche und gesellschaftliche Ordnung dar. Die Partei strebt damit einen Gegenentwurf zur parlamentarischen Demokratie in Deutschland an. Die von der NPD vertretenen völkischen Grundideen bringen im Zusammenhang mit den verschiedensten politischen Themen oft ausländerfeindliche, antisemitische, rassistische - und in Bezug auf den historischen Nationalsozialismus verharmlosende und zustimmende - Positionen zum Ausdruck. Ihr angestrebtes Ziel der "Systemüberwindung" und ihre Grundaussagen stehen inhaltlich im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes. Parteiprogramm der Das im Juni 2010 verabschiedete Parteiprogramm der NPD ist NPD von einem ausgeprägten Nationalismus getragen und schreibt den Gedanken der "Volksgemeinschaft" in einer völkisch-koIlektivistischen Auslegung fest. So heißt es im Parteiprogramm: Die Würde des Menschen als soziales Wesen verwirklicht sich vor allen in der Volksgemein schaft. Erst die Volksgemeinschaft garantiert die persönliche Freiheit, diese endet dort, wo die Gemeinschaft Schaden nimmt. Volksherrschaft setzt die Volksgemeinschaft voraus. Der Staat nimmt dabei die Gesamtver antwortung für das Volksganze wahr und steht daher über Gruppeninteressen. Rassistischer, Für die NPD resultiert die Würde des Einzelnen nicht aus dem nationalistischer und freien Willen des lndividuums. Ihr zufolge ist der Wert eines homophober Ansatz Menschen von der biologisch-genetischen Teilhabe an der "Volksgemeinschaft" abhängig. Da nur Deutsche völkischer Abstammung Teil der "VoIksgemeinschaft" sein können, ist eine rassistisch und nationalistisch geprägte Fremdenfeindlichkeit elementarer Bestandteil der Parteiideologie vom "lebensrichtigen Menschenbild", das sich insbesondere gegen "Fremdbestimmung" und "Überfremdung" wendet. Hierzu schreibt die NPD in ihrem Parteiprogramm: 206 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Ein grundlegender politischer Wandel muss die sowohl kostspielige als auch menschenfeind liche Integrationspolitik beenden und auf die Erhaltung der deutschen Volkssubstanz abzielen. Integration ist gleichbedeutend mit Völkermord. Weiter heißt es: Die NPD lehnt die gemeinsame Unterrichtung deutscher und ausländischer Schüler ab, weil Ausländerkinder mit ihren meist nur mangelhaf ten Deutschkenntnissen das Unterrichtsniveau absenken [...]. Die NPD verfolgt nicht nur erkennbare rechtsextremistische Ziele. Sie versucht auch, über bürgerliche Themen ihre rechtsextremistischen Anschauungen zu verbreiten. So befasst sie sich unter dem Motto "Sozial geht nur national" verstärkt mit sozialpolitischen Themen. Damit will sich die NPD als soziale Protestpartei darstellen und innerhalb der Bevölkerung Ängste vor sozialen Reformen, Arbeitslosigkeit und einer "muItikulturelIen Gesellschaft" schüren. Im Januar wurde im Internet das Rundschreiben "Chefsache: Parteiinterner Stürmische Zeiten" bekannt, in dem der BundesparteivorsitRichtungsstreit zende Frank Franz für den bevorstehenden Bundesparteitag der NPD wirbt. Im Rahmen des Bundesparteitages müsse, so Franz, "die Richtung für die kommenden Jahre" beschlossen werden. Franz zufolge arbeite innerhalb der NPD eine "kleine Gruppe von Sektierern und Störenfrieden", die "innerparteilich satzungswidrige Parallelstrukturen" aufbaue und "parteischädigend und zersetzend" handele. Direkt vor dem NPD-Bundesparteitag veröffentlichten die Bundes-NPD sowie die ihr zuzuordnende Zeitschrift "Deutsche Stimme" im Internet und in den sozialen Medien Strategieund Diskussionsbeiträge, die hinsichtlich der für die NPD desaströsen Wahlergebnisse eine Neuausrichtung der Partei propagierten: 207 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Das muss ganz illusionsfrei zu der Einschätzung führen, dass die NPD als Wahlpartei fürs Erste gestorben ist. Das kann aber den Weg für eine strategische Neuausrichtung als völkische Gras wurzelbewegung im ländlichen Raum freima chen. Trotz Wahlniederlagen hat die NPD neben gewissen wirtschaftlichen Ressourcen etwas von unschätzbarem Wert vorzuweisen: poli tisch erfahrene und entschlossene Mitstreiter. Sie und ihr Umfeld können zur Keimzelle einer neuen LandvolkBewegung werden, die im von der herrschenden Politik vergessenen ländlichen Raum die Lebenswelt prägt. In Mitteldeutsch land gibt es diesen Ansatz schon seit Jahren, den es unter Bündelung aller personellen, finan ziellen und propagandistischen Mittel aufs ganze Land auszuweiten gilt. Bei den Vorstandswahlen auf dem 38. Bundesparteitag in Altenstadt (Hessen) am 14. Mai bestätigten die Delegierten Franz in seiner Position als Parteivorsitzenden. Mit dem wiedergewählten Beisitzer Axel Michaelis ist nun auch der bayerische Landesverband im NPD-Bundesvorstand vertreten. Geplante Franz befasste sich in seiner Parteitagsrede mit den SchwierigRegionalisierung keiten der Parteiarbeit in den vergangenen "Corona-Jahren". Er der Aktivitäten räumte ein, dass vor allem die Bundestagswahl gezeigt habe, dass die NPD als Wahlpartei bei überregionalen Wahlen aktuell keine Chancen auf positive Ergebnisse habe. Man wolle sich fortan verstärkt als Netzwerker, Dienstleister, punktueller Bündnispartner, regionaler Motor und Unterstützer von Bürgerprotesten und regierungskritischen Initiativen engagieren. Außerdem werde man sich auf die Teilnahme an Kommunalwahlen konzentrieren. Hierfür seien jedoch eine stärkere Regionalisierung der Parteiaktivitäten und eine Neuausrichtung der NPD als "Antiparteien-Partei" erforderlich. Den thematischen Schwerpunkt bildeten die Beratungen zur Neuausrichtung und Umbenennung der Partei in "Die Heimat". Am 21. April, wenige Tage vor dem Bundesparteitag, forderte auch die NPD-Jugendorganisation "Junge Nationalisten" (JN) einen neuen Parteinamen und drohte kurzzeitig offen mit einer Abspaltung von der Partei, falls der bisherige Name nicht zeitnah abgelegt werde. Der bayerische NPD-Landesverband schrieb am 27. April auf Telegram: "Parteireform & Namensdebatte: Wer sich nicht entwickelt, wird abgewickelt." 208 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Bei der Abstimmung über die neue Parteisatzung und die damit Umbenennung angestrebte Namensänderung wurde mit 100 Stimmen der 154 gescheitert Delegierten das vorgegebene 2/3-Quorum um 3 Stimmen verfehlt. Unmittelbar nach der Entscheidung erklärte der damalige bayerische NPD-Landesvorsitzende Sascha Roßmüller auf Telegram, nicht erneut für den NPD-Parteivorstand zu kandidieren und auch beim bayerischen NPD-Landesparteitag nicht mehr für eine Vorstandsposition antreten zu wollen. Franz schrieb am 15. Mai auf Facebook: "Zwar ist die Umbenennung wegen 3 Stimmen an einer überwiegend destruktiven Minderheit vorerst gescheitert. Aber der Wille der Mehrheit und das Mandat sind da. Wir bauen jetzt um." Beim Landesparteitag der bayerischen NPD am 6. Juni wurNeuer Landesvorde der Vorsitzende des NPD-Kreisverbandes Nürnberg-Fürth, sitzender Bayern Rainer Hatz, zum neuen Landesvorsitzenden gewählt. Nach Aussage eines gewählten Landesvorstandsmitgliedes würden sämtliche Mitlieder des bayerischen NPD-Landesvorstandes die Namensänderung der Partei befürworten. Mit Ausnahme des NPD-Kreisverbandes München stünden auch sämtliche bayerische NPD-Kreisverbände hinter den vom NPD-Bundesvorstand anvisierten Veränderungen. Auf dem Parteitag des NPD-Bezirksverbandes Mittelfranken am 24. Juli wurde thematisiert, dass man künftig auf den positiv besetzten "Begriff HEIMAT" setzen werde, um "auf der Straße aktiver sein zu können". In Zusammenhang mit der Umbenennungsdebatte konnten in Bayern Social-Media-Präsenzen festgestellt werden, die allesamt den Bezeichnungszusatz "Heimat" aufweisen und einem kohärenten Design folgen. Auch das Facebook-Profil des NPD-Landesverbandes Bayern verwies z. B. am 11. September auf das seit 3. September bestehende Facebook-Profil "Heimat Bayern". Am selben Tag bewarb das Facebook-Profil des NPD-Kreisverbandes Nürnberg-Fürth das seit 31. August bestehende Facebook-Profil "Heimat Franken". Derartige "Heimat Bayern"und "Heimat Franken"-Profile konnten auch auf Instagram und Telegram festgestellt werden. Unter dem Namen "Heimat!" führte die NPD am 19. Oktober und am 21. Oktober vor den Parteibüros von Bündnis 90/Die Grünen in Ansbach beziehungsweise in Nürnberg jeweils eine Aktion unter dem Titel "Grün muss weg" durch. An einer Kundgebung zu den Themen Russland, Sanktionen, Energieversorgung, Inflation und Coronamaßnahmen nahmen am 26. November in Ansbach auch NPD-Aktivisten mit Transparenten mit der Aufschrift "Heimat!" teil. 209 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Ausschluss von der Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 17. Januar Parteienfinanzierung 2017 die verfassungsfeindliche Ausrichtung der NPD bestätigt. Ein Verbot der Partei lehnte das Gericht jedoch ab, weil die Bedeutung der Partei für eine Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu gering sei. Am 20. Juli 2019 beantragten Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung beim Bundesverfassungsgericht den Ausschluss der NPD von der staatlichen Parteienfinanzierung. Die Antragsschrift führt Belege auf, wonach die NPD weiterhin planvoll das Ziel verfolgt, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen. Strukturen im Bund Die NPD gliedert sich bundesweit in 16 Landesverbände, die und in Bayern wiederum in Bezirksund Kreisverbände unterteilt sind. Der bayerische Landesverband besteht eigenen Angaben zufolge aus Bezirksverbänden in den bayerischen Regierungsbezirken sowie Kreisverbänden. Während einige wenige bayerische NPD-Gliederungen durch einzelne Aktivitäten auffallen, können bei anderen, zumindest nach außen, keinerlei Aktivitäten festgestellt werden. Zum Jahresbeginn nahmen in Ansbach und Bamberg einige NPD-Aktivisten aus Bayern und anderen Bundesländern an Kundgebungen gegen die Corona-Politik teil. Die von den Aktivisten mitgeführten Transparente vermittelten keinen unmittelbaren Bezug zur NPD. Parteiangaben zufolge hätten sich zum Jahresbeginn NPD-Aktivisten auch an Kundgebungen gegen die Corona-Politik im Raum Neu-Ulm beteiligt. Im zeitlichen Zusammenhang mit dem Russland-Ukraine-Krieg kündigte der NPD-Kreisverband Nürnberg an, Flugblätter mit dem Titel "Ami Go Home!" zu verteilen. Anlässlich des Christopher Street Days verteilten Aktivisten des NPD-Kreisverbandes Nürnberg-Fürth in Nürnberg Flugblätter mit dem Titel "Pro Mann & Frau". Bei der NPD-Frauenorganisation "Ring Nationaler Frauen" und der Jugendorganisation "Junge Nationalisten" waren in Bayern im Berichtszeitraum keine Aktivitäten zu verzeichnen. Die der NPD zugerechneten kommunalen Tarnlisten "Bürgerinitiative A e. V." (BIA-Nürnberg) und die "Bürgerinitiative Ausländerstopp München" (BIA-München) entfalteten im Berichtszeitraum ebenfalls keine Aktivitäten. 210 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 6.3 Partei Der Dritte Weg (III. Weg) Deutschland Bayern Mitglieder und 6501 150 Sympathisanten Vorsitzender Matthias Fischer Jasmine Eisenhardt Gründung 2013 20142 Sitz Weidenthal/ - Rheinland-Pfalz 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 2 Stützpunkte bestehen seit 2014. Der "III. Weg" vertritt einen stark neonazistisch geprägten Rechtsextremismus. Zahlreiche Mitglieder, Fördermitglieder und mit der Partei Sympathisierende stammen aus dem Umfeld des 2014 verbotenen neonazistischen Netzwerkes "Freies Netz Süd" (FNS). Die ideologischen Ziele der Partei ergeben sich aus ihrer Satzung "Nationale Revolusowie aus einem "Zehn-Punkte-Programm", das auf Elemente tion" und "Deutdes 25-Punkte-Programms der NSDAP zurückgreift. Beide Proscher Sozialismus" gramme basieren auf einem biologistischen Volksbegriff. Die NSDAP hatte festgeschrieben, dass nur der ein "Volksgenosse" sein könne, der "deutschen Blutes" sei. Der "III. Weg" fordert analog hierzu die "Erhaltung und Entwicklung der biologischen Substanz des Volkes" sowie die "Beibehaltung der nationalen Identität des deutschen Volkes", die es vor Überfremdung zu schützen gelte. Oberstes Parteiziel ist die "nationale Revolution", an deren Ende die Schaffung eines "Deutschen Sozialismus" stehen soll. In der Grundsatzschrift der Partei "Der Nationalrevolutionär" von 2019 heißt es hierzu: Die nationale Revolution richtet sich gegen den ausbeuterischen Kapitalismus ebenso wie ge gen den volkszerstörenden Liberalismus. An ihrem Ende steht der Deutsche Sozialismus als gerechte soziale und völkische Ordnung. 211 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Die Partei vertritt ein geschichtsrevisionistisches Weltbild. Sie fordert in ihrem Programm die Wiederherstellung "Gesamtdeutschlands in seinen völkerrechtlichen Grenzen". In diesem Zusammenhang spricht der "III. Weg" auch von einer "friedlichen Vereinigung des deutschen Volkskörpers im Rahmen der ethnischen Selbstbestimmung und [der] Schaffung eines souveränen deutschen Volksstaates", was als Vereinigung aller deutschsprachigen Gebiete in einem Staat zu interpretieren ist. Antisemitismus und Auch antisemitische Feindbilder und Narrative prägen die IdeoAntizionismus logie: In Artikeln auf seiner Webseite nimmt der "III. Weg" den israelisch-palästinensischen Konflikt zum Anlass für antizionistische Propaganda. Die israelischen Streitkräfte wie auch die israelische Regierung werden als "Mörder und Terrorbomber" verunglimpft, der Staat Israel als "widernatürliches RaubstaatGebilde" bezeichnet. Weiter spricht der "III. Weg" vom "zionistischen Geschwür", dem "zionistischen Terror-Regime" und einem "teuflische[n] Völkermordsystem". Er ruft zudem dazu auf, keine israelischen beziehungsweise in Israel produzierten Produkte zu kaufen. Der vom "III. Weg" betriebene Antisemitismus zeigt sich jedoch nicht allein in seiner antizionistischen Propaganda. In Artikeln auf der Parteiwebseite werden willkürlich antisemitische Stereotype eingeflochten und beliebig oft wiederholt. So ist beispielsweise häufig von mächtigen, im Hintergrund agierenden jüdischen Eliten die Rede, unabhängig davon, ob die Artikel von Fußball, Klimaschutz oder einem anderen Thema handeln. Die Partei verfolgt ein Drei-Säulen-Konzept: - "den politischen Kampf", - "den kulturellen Kampf" und - "den Kampf um die Gemeinschaft". Der "III. Weg" sieht sich nach diesem Drei-Säulen-Konzept nicht bloß als Wahlpartei, sondern als "nationale Bewegung", die insbesondere auch auf der Straße ihre politischen Ansichten vertritt, sich kulturell betätigt und den Gemeinschaftsgeist über die reine Parteiarbeit hinaus durch Sportund Freizeitangebote vertiefen will. 212 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Strukturen Bis 2019 gliederte sich die Partei in die Gebietsverbände Süd, Gründung des Mitte und West. Am 28. September 2019 beschloss der Landesverbandes "III. Weg" auf seinem Bundesparteitag eine Änderung seiner Bayern Satzung. Diese zielte auf eine Umstrukturierung der Gebietsverbände in Landesverbände ab. Grund hierfür war die Nichtzulassung des "III. Weg" zur sächsischen Landtagswahl 2019 durch den Landeswahlausschuss aus formalen Gründen. Die Gründung des Landesverbandes Bayern, der den bisherigen Gebietsverband Süd ersetzte, erfolgte am 25. Juli 2020. Erste Landesvorsitzende wurde Jasmine Eisenhardt. Sie wurde auf dem Landesparteitag am 27. August in ihrem Amt bestätigt. Kreisverbände sind die kleinsten selbstständigen Einheiten der Partei. Die Satzung ermöglicht es, in Gebieten, in denen keine Untergliederungen bestehen, sogenannte "Stützpunkte" einzurichten. Zum Jahresende 2022 sind auf der Parteiwebseite 22 Stützpunkte genannt, davon 5 in Bayern. Die bayerischen Stützpunkte entsprechen weitgehend den geografischen Schwerpunkten der verbotenen Vereinigung FNS. In Bayern bestehen folgende Stützpunkte: Stützpunkt Oberfranken Stützpunkt 01.02.2015 Mainfranken Coburg 13.09.2014 Bamberg Bayreuth Würzburg Nürnberg Stützpunkt Nürnberg/Fürth 29.03.2014 Regensburg Stützpunkt Ostbayern Ingolstadt 21.06.2014 Passau Landshut Neu-Ulm Augsburg Stützpunkt München/ München Oberbayern 23.03.2014 Traunstein Kempten 213 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Aktionen Zu Beginn des Jahres setzte der "III. Weg" seine Agitation im Rahmen der Proteste gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie fort. Aktivisten der Partei nahmen einzeln oder in Kleingruppen an zahlreichen Protestveranstaltungen in Bayern teil, -häufig auch ohne dabei als Mitglieder des "III. Weg" in Erscheinung zu treten. Über diese Beteiligungen wurde dann jeweils kurz auf den öffentlichen TelegramKanälen der jeweiligen Parteigliederungen berichtet. Des Weiteren verteilten Mitglieder der Partei themenbezogene Flugblätter, die sich gegen die Corona-Politik richteten. Die Agitation zielte sowohl auf die Delegitimierung des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland als auch auf die Steigerung des eigenen Mitgliederund Unterstützerpotenzials ab. Der "III. Weg" schaffte es in Bayern aber zu keinem Zeitpunkt, einen bestimmenden Einfluss auf das Protestgeschehen auszuüben. Solidarität mit der Die Aktivitäten im Bereich der Corona-Proteste nahmen parallel Ukraine zur Beruhigung der pandemischen Lage im Frühjahr und insbesondere mit Beginn des Russland-Ukraine-Krieges deutlich ab. Zeitgleich gewann das russisch-ukrainische Kriegsgeschehen in der Agitation des "III. Weg" zunehmend an Bedeutung. Neben der Berichterstattung über den eigentlichen Kriegsverlauf begann der "III. Weg" bald damit, in seiner Berichterstattung die Auswirkungen und Folgen des Russland-Ukraine-Kriegs mit klassischen rechtsextremistischen Themen wie Antiziganismus, Antisemitismus, Ausländerkriminalität und Asylmissbrauch zu verknüpfen. In Bayern fanden in Ingolstadt und in München 2 kleinere Solidaritätsaktionen des "III. Weg" für die Ukraine statt. Zudem besuchten Aktivisten des "III. Weg" am 2. März eine pro-ukrainische Demonstration unterschiedlichster gesellschaftlicher Kräfte auf dem Königsplatz in München. Im August startete die Partei die Kampagne "Die wahre Krise ist das System", welche das liberal-kapitalistische Wirtschaftssystem und das freiheitliche demokratische politische System für die gegenwärtig andauernde krisenhafte Situation verantwortlich macht. In der Folge kam es in Bayern zu mehreren Flyerverteilungen, so in Lindau am Bodensee, Schweinfurt, Waldkirchen (Niederbayern) und Zapfendorf (Oberfranken). Nach gegenwärtigem Stand gelingt es dem "III. Weg" auch mit dieser Kampagne nicht, Anschluss an breitere Bevölkerungsschichten zu finden. 214 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Am 3. Dezember gründete sich im Bürgerund Parteibüro des Stützpunkt der "III. Weg" in Schweinfurt der "Stützpunkt Franken" der "NatiJugendorganisation onalrevolutionären Jugend" (NRJ). Bei der NRJ handelt es sich gegründet um die Parteijugend des "III. Weg". Der Stützpunkt soll nach Parteiangaben die Regierungsbezirke Unterfranken, Mittelfranken und Oberfranken umfassen und stellt die erste Struktur der Jugendorganisation in Bayern beziehungsweise Süddeutschland dar. Offenkundiges Ziel der NRJ ist es, jugendliche Interessenten für die Partei zu gewinnen und frühzeitig an deren Strukturen heranzuführen. Revisionistisches Gedankengut bzw. eine Bezugnahme auf die "Licht für Dresden" Zeit des historischen Nationalsozialismus und dessen Erinneund "Heldengerungskultur sind für den "III. Weg" prägend. Unter dem Motto denken" "Ein Licht für Dresden" gedenkt der "III. Weg" jährlich jeweils am ersten Samstag nach dem 13. Februar in deutschen Städten, die im Zweiten Weltkrieg stark zerbombt wurden, der Opfer der Luftangriffe auf Dresden im Februar 1945. Die Veranstaltungen dienen dazu, die Zahl der im Zweiten Weltkrieg geschädigten Deutschen hervorzuheben und somit die Ermordung von 6 Millionen Juden während des Nationalsozialismus zu relativieren. Ziel ist es letztlich, die Geschichte des Nationalsozialismus umzudeuten. Aktivisten der Stützpunkte Mainfranken, Mittelfranken und München/Oberbayern nahmen auch in diesem Jahr an dem traditionellen "Fackelmarsch" des "III. Weg" im Vorfeld der Gedenkveranstaltung in Dresden teil. In Cham und Passau führten Aktivisten des Stützpunktes Ostbayern kleinere Gedenkaktionen durch. Am Wochenende des 19. und 20. März fanden Aktionen zum traditionellen "Heldengedenken" in einem Ehrenhain in Oberfranken, am Ehrenmal der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck, im Ehrenhain in Cham sowie an einer Kriegsgräberstätte in Hofkirchen und einem Kriegerdenkmal in Vorderhainberg (Niederbayern) statt. Das "Heldengedenken" im März geht auf den Nationalsozialismus zurück. Dabei interpretierten die Nationalsozialisten den zuvor in der Weimarer Republik begangenen Volkstrauertag, der ursprünglich den Gefallenen des Ersten Weltkrieges gewidmet war, um, und stellten stattdessen die Heldenverehrung in den Mittelpunkt des Gedenkens. Beim "Heldengedenken" des "III. Weg" wird in der Regel ausschließlich der gefallenen deutschen Soldaten der beiden Weltkriege gedacht. Dabei werden auch Angehörige der Waffen-SS ausdrücklich miteinbezogen. 215 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Am 25. April nahmen Mitglieder des "III. Weg" in Parteikleidung an dem jährlich stattfindenden Gedenken an den in rechtsextremistischen Kreisen als Märtyrer verehrten Reinhold Elstner teil. Der frühere Wehrmachtsangehörige war im April 1995 verstorben, wenige Tage, nachdem er sich auf den Stufen der Münchner Feldherrenhalle selbst angezündet hatte. Die Selbstverbrennung war politisch motiviert. In seinem Abschiedsbrief stellte Elstner seinen Freitod in einen Zusammenhang mit der von ihm strikt abgelehnten Münchner Wehrmachtsaustellung, die über die Kriegsverbrechen der Wehrmacht informierte. Kundgebungen zum Am 1. Mai veranstaltete der "III. Weg" unter der Losung "Ein 1. und 8. Mai Volk Will Zukunft! Heimat bewahren! Überfremdung stoppen! Kapitalismus zerschlagen!" eine Kundgebung zum in rechtsextremistischen Kreisen sogenannten "Arbeiterkampftag" in Zwickau mit etwa 250 Teilnehmern, darunter auch einzelne Personen aus Bayern. Parteiangaben zufolge prangerten Redner den "ausbeuterischen Kapitalismus" an und "während des kämpferischen Demonstrationszuges wurde lautstark die Alternative zum herrschenden System eingefordert: Der Deutsche Sozialismus!". Die rechtsextremistischen Kundgebungen zum 1. Mai waren die ersten Mai-Kundgebungen seit Aufhebung der 2jährigen pandemiebedingten versammlungsrechtlichen Beschränkungen. Als letzte vergleichbare Teilnehmerzahlen bei 1. Mai-Kundgebungen des "III. Weg" kann auf die Veranstaltungen in Plauen im Jahr 2019 mit etwa 600 Personen und in Chemnitz im Jahr 2018 mit etwa 650 Personen Bezug genommen werden. Vor diesem Hintergrund konnte die Partei in 2022 nicht einmal die Hälfte ihrer vorherigen Teilnehmerpotenziale ausschöpfen. Aktivitäten zum Unter dem Motto "8. Mai - Wir feiern nicht!" fanden bundesweit "Tag der Befreiung" kleinere Gedenkveranstaltungen anlässlich des Kriegsendes am 8. Mai 1945 statt. Dabei stand - wie jedes Jahr - das Gedenken an die Vertriebenen und durch die Alliierten nach Kriegsende Getöteten im Mittelpunkt. So avancierte der 8. Mai bereits vor Jahrzehnten zu einem zentralen Aktionstag der rechtsextremistischen Szene. Der "III. Weg" will mit dem Gedenktag, der in den letzten Jahren stets unter dem Motto "Verzicht ist Verrat" stand, vor allem an die ehemaligen deutschen Ostgebiete erinnern, die nach Darstellung der Partei "noch immer völkerrechtswidrig besetzt" seien. Die Partei wolle sich dafür einsetzen, dass sich die deutschen Teilstaaten innerhalb und außerhalb der derzeitigen deutschen Grenzen friedlich zu einem "Gesamtdeutschland" zusammenschließen. Diese Forderung belegt die stark (gebiets-) revisionistische Ausrichtung der Partei. 216 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Für Deutschland ist der 8. Mai 1945 alles andere als ein Tag der Befreiung. Deutschland verlor am 8. Mai seine Souveränität als Staat und wurde seiner freien Entscheidungsgewalt beraubt. Seit diesem Tag wird in Deutschland keine Politik mehr für Deutsche betrieben. Es wurde ein Bü ßerkult erschaffen, wonach sich jeder Deutsche seiner Geschichte schämen soll. Die Förderung der Familie, welche die Keimzelle eines gesun den Volkes ist, wurde fast gänzlich eingestellt. Es herrscht anstelle der Gemeinschaft der Individu alismus, der die eigene Karriere als Ziel setzt. Die Kinderlosigkeit als Folge führt, wenn sie nicht aufgehalten wird, unwiderruflich zum Volkstod. In Bayern fanden entsprechende Gedenkveranstaltungen und Aktionen des "III. Weg" in München, Taufkirchen, Murnau, Nürnberg, im Landkreis Passau, sowie an verschiedenen Orten in den Regierungsbezirken Oberfranken, Unterfranken und Schwaben statt. Am 11. September führten Aktivisten des "III. Weg" mehrere Aktionen mit Bezug zu infolge des Zweiten Weltkriegs heimatvertriebenen Deutschen durch. Anlässlich einer Veranstaltung am Vertriebenendenkmal auf dem Friedhof Untermenzing kam die revisionistische Ausrichtung der Partei klar zum Ausdruck: Ebenso war es jedoch auch Ziel der Aktion, klar zustellen, dass die deutsche Wiedervereinigung solange unvollendet ist, bis auch die ostdeut schen Gebiete wieder unter deutscher Verwal tung stehen. Die Partei 'Der III. Weg' bekennt sich in ihrem Parteiprogramm klar zu Deutsch lands historischen Grenzen. Deutschland ist grö ßer als die BRD! Der staatliche Volkstrauertag im November dient dem Andenken "Heldengedenken" an alle Opfer von Kriegen und Gewaltherrschaft. Rechtsextrein Wunsiedel misten nehmen den Volkstrauertag jedoch zum Anlass, um ausschließlich der deutschen Gefallenen und Kriegsopfer aus beiden Weltkriegen zu gedenken. Auch der Volkstrauertag wird so zu einem verklärenden "Heldengedenken" uminterpretiert, bei 217 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus dem die Angehörigen der Waffen-SS ausdrücklich miteinbezogen werden. Entsprechend trafen sich Mitglieder und Sympathisanten der Partei am 12. November in Wunsiedel zum jährlichen Heldengedenken des "III. Weg" unter dem Motto "Tot sind nur jene, die vergessen werden". An der Veranstaltung nahmen in der Spitze etwa 120 Personen aus der rechtsextremistischen Szene teil, was einen deutlichen Rückgang gegenüber den Vorjahren darstellt. Zu den Rednern der Auftaktund Abschlusskundgebung zählte u. a. der Bundesvorsitzende des "III. Weg", Matthias Fischer. Das jährliche Heldengedenken in Wunsiedel stellt für den "III. Weg" eine der wichtigsten Veranstaltungen im Jahr dar und ist aufgrund der regelmäßigen Durchführung als fest etablierter Termin der rechtsextremistischen Szene anzusehen. Im Zusammenhang mit dem Volkstrauertag führten Aktivisten des "III. Weg" auch am 13. November an mehreren Orten in Bayern kleinere Gedenkaktionen durch. Im Berichtszeitraum zeigte sich, dass der "III. Weg" zunehmend Probleme damit zu haben scheint, seine Mitglieder für größere öffentlichkeitswirksame Parteiveranstaltungen zu mobilisieren. 6.4 Neue Stärke Partei (NSP) Deutschland Bayern Mitglieder und - 10 Sympathisanten Vorsitzender Sara Storch - Gründung 2021 - Sitz Erfurt/Thüringen - Im November 2021 gründete sich in Magdeburg (SachsenAnhalt) die neonazistische NSP, die aus dem Verein "Neue Stärke Erfurt e. V." hervorging. Die NSP gliedert sich in einen Bundesverband mit Sitz in Erfurt (Thüringen) und nachgeordnete Abteilungen in verschiedenen Bundesländern. 218 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die NSP bezeichnet sich als "deutsch und aktivistisch" und ist eigenen Angaben zufolge "aus einer Strategie von freien Aktivisten heraus geboren". Sie zeichnet das Bild einer angeblichen Bedrohung durch "Überfremdung" und durch eine vermeintliche "kommunistische[n] Umerziehung" der "deutschen Volksseele" und wähnt "das deutsche Volk und Deutschland in einer sehr heiklen Phase seiner Existenz". Nach Einschätzung der Partei existieren "konstruktive Organisationen und Parteien", die ihre "Ansichten teilen". Allerdings fehle ein "Zusammenhalt der Organisationen". Mit ihrem auf der Parteiwebseite veröffentlichten GrundsatzproNeonazistische Ziele gramm propagiert die NSP eindeutig rechtsextremistische und und Narrative neonazistische Ziele und Narrative. So fordert die NSP eine "völkische Gemeinschaft", die allein "deutschen Volksangehörigen" Grundrechte zubilligt und eine auf die "deutsche Familie" ausgerichtete Politik: Die deutschen Familien müssen wieder zusam menwachsen und sich als Teil einer Sippe und Ahnenkette begreifen, hierzu wird den Kindern in den Bildungseinrichtungen das traditionelle Werte und Familienbild vermittelt. [...] Das Nationalgefühl werden wir durch völkisch traditionelle Veranstaltungen stärken. Mit ihren Plänen zur Etablierung extralegaler Strukturen zur anAushöhlung des geblich notwendigen Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung Gewaltmonopols der öffentlichen Sicherheit und Ordnung stellt sich die NSP auch deutlich gegen den Rechtsstaat und das staatliche Gewaltmonopol: Wir installieren in jeder deutschen Stadt und Re gion eine Gemeinschaft der Tat, bestehend aus Jung und Alt. Diese Gemeinschaft macht es sich zur Aufgabe, die eigene Heimat zurückzuerobern und damit korrupter Verwaltung und dem an tideutschen Zeitgeist ein Ende zu bereiten. Sie setzt sich gegen jede Form von Ausländerkrimi nalität und gegen alle kommunistischen Umtrie be durch. 219 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Am 2. Februar berichtete die NSP in den sozialen Medien über den Aufbau einer Abteilung in Niederbayern und warb um weitere Mitglieder mit dem Ziel, ihre bundesweit entstehenden Strukturen zu erweitern. Im Februar und März wurden im Raum Kelheim mehrere Flugblattverteilungen der NSP bekannt. Anfang Oktober besuchten nach eigenen Angaben NSP-Aktivisten die Befreiungshalle in Kelheim und die Walhalla im Landkreis Regensburg. Am 1. Mai führte die NSP in Erfurt eine Veranstaltung zum sogenannten "Arbeiterkampftag" durch, an dem etwa 140 Personen teilnahmen, darunter auch einzelne aus Bayern. Einer der Redner war ein Vertreter der Gruppierung KZSHS. Im Vorfeld hatte die Partei eigenen Angaben zufolge in München mit Flugblättern und Aufklebern für die Teilnahme an der Veranstaltung geworben. Am 8. Mai, dem Tag des Kriegsendes im Jahr 1945, gedachte die NSP unter dem Motto "Wir vergessen Euch nicht! Der 8. Mai ist kein 'Tag der Befreiung'!" an mehreren Orten im Bundesgebiet der von ihr als "Freiheitskämpfe[r]" bezeichneten Soldaten des NS-Regimes. In München stellten nach Angaben der NSP Parteimitglieder ein Grablicht an einer Soldatengedenkstätte auf. Im Stadtteil München-Neuperlach verteilten Aktivisten am 11. Juli NSP-Flugblätter und zeigten sich auf einer Straßenbrücke mit einem Banner der Partei. 7. PARTEIUNABHÄNGIGE RECHTSEXTREMISTISCHE ORGANISATIONEN 7.1 Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) Metapolitik Die ursprünglich aus Frankreich stammende und inzwischen europaweit agierende "Identitäre Bewegung" (IB) ist ein rechtsextremistischer Personenzusammenschluss, der eine mitunter subtile, auf den gesamtgesellschaftlichen Diskurs abzielende Beeinflussungsstrategie verfolgt. Die IB bezieht sich konzeptionell unmittelbar auf das Ideenarsenal der "Neuen Rechten" und entlehnt ihr strategisches Leitmotiv, die "Metapolitik", den Thesen des neurechten Vordenkers Alain de Benoist. Dies geht u. a. aus Unterlagen hervor, die im Rahmen der identitären Sommeruniversität im August 2015 in Frankreich an die teilnehmenden IB-Aktivisten verteilt wurden. Dort heißt es: 220 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die IB ist eine metapolitische Kraft, die versucht, Ideen, Parolen und Bilder in das metapolitische Feld zu führen. Mit Aktionen schaffen wir einen medialen Hype und eine Viralität, die unsere Pa rolen und Bilder so schnell und breit wie möglich streuen. [...] Unsere politische Kommunikation muss die Massen erreichen und gut zugänglich sein. Kennzeichnend für den Aktionismus der IB sind öffentliche Provokative Störund Transparentaktionen, die sie im Rahmen von SociSocial-Mediaal-Media-Kampagnen inszenieren und verbreiten. Sie orientieKampagnen ren sich konsequent an digitalen Trends, um dem Medienkonsumverhalten junger Zielgruppen gerecht zu werden. Seit ihrem erstmaligen Auftritt auf Facebook im Oktober 2012 war es dem deutschen Ableger der Bewegung, der "Identitären Bewegung Deutschland" (IBD), auf diese Weise gelungen, einen beachtlichen Bekanntheitsgrad zu erlangen. Dieser reicht weit über rechtsextremistische Kreise hinaus und ruft mitunter auch eine massenmediale Berichterstattung hervor. Infolge von diversen Sperrund Löschmaßnahmen großer Plattformbetreiber wie Facebook oder Twitter hat sich die Agitation der IB im Internet auf verschiedene neue Kanäle der einzelnen IB-Ableger und deren Führungskader verlagert. Die IB nutzt diese Kanäle als Propagandaplattform, um rechtsextremistische Textbeiträge, Videos und Fotos zu posten. Die Verlagerung und Neuaufstellung der Internetaktivitäten führten jedoch zu Einbußen in der Reichweite. Bereits 2018 hatte Facebook Kanäle der IB gelöscht. Die IBD versucht, ihre auf ethnisch, völkisch-abstammungsEigene Sprache der mäßigen Kriterien fußenden einwanderungskritischen und Identitären islamfeindlichen Positionen unter Anwendung einer politisch möglichst unverfänglichen Sprache zu vermitteln. Ihr Ziel ist es, negative Assoziationen und gesellschaftliche Abwehrreflexe gegenüber rechtsextremistischen Ideen und Parolen zu überwinden. Durch neue Begriffsund Theoriekonstrukte sollen diskursive Hintertüren geöffnet, Sagbarkeitsfelder erweitert und somit eine neue Akzeptanz gegenüber extremistischen Werten und Vorstellungen geschaffen werden. Statt dumpfen Parolen wie "Ausländer raus" fordert die IB daher "Remigration" und "klare Umkehrungsmaßnahmen der Migrationsströme". Statt "Deutschland den Deutschen" zu skandieren, skizziert sie das Ideal einer Staatsund Gesellschaftsordnung unter der Prämisse der ethnischen und kulturellen Homogenität. Anstelle des neonazistisch konnotierten Konzeptes des "Volkstodes" beschwört 221 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus sie die Gefahren des "Großen Austauschs". Vorwürfen, sie würde Rassismus, völkisches und antidemokratisches Gedankengut predigen, widerspricht die IB scharf und begegnet diesen mit euphemistischen Formeln wie "Ethnopluralismus" oder dem Kampf für eine "echte, direkte Demokratie". Verbotsverfahren Zwei wesentliche Rückschläge für die IB in Europa waren zuletzt in Frankreich und das Verbot der Gruppierung in Frankreich und das Verbot des für Österreich die IB charakteristischen "Lambda-Symbols" in Österreich. In Frankreich wurde die IB u. a. wegen ihres dortigen Milizen-Charakters verboten. Österreich verbot mit einer Novelle des "Symbole-Gesetzes" das "Lambda-Symbol" als Erkennungszeichen der IB. Die "IB Österreich" selbst ist als Organisation - anders als die "Generation Identitaire" in Frankreich - weiterhin nicht verboten. Klage gescheitert Eine Klage der IBD gegen ihre Nennung im Verfassungsschutzbericht des Bundes wurde seitens des Verwaltungsgerichtes Berlin am 12. November 2020 abgewiesen. Die daraufhin von der IBD beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg beantragte Zulassung der Berufung wurde ebenfalls abgelehnt. Der Beschluss vom 23. Juni 2021 ist unanfechtbar. Das Verwaltungsgericht Köln (VG Köln) hat am 13. Oktober die Klage der IB auf Unterlassung der zukünftigen Beobachtung durch das Bundesamt für Verfassungsschutz als unbegründet abgewiesen. Das Urteil ist nach Rücknahme des zunächst eingelegten Antrags auf Zulassung der Berufung rechtskräftig. Das Gericht sah hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine verfassungsfeindliche Bestrebung, denn der Verein verfolge den Ausschluss ethnisch Fremder. Darüber hinaus wurde die ausländerfeindliche Agitation der IB hervorgehoben, die sich mit migrationsund islamfeindlichen Aussagen wie "Bevölkerungsaustausch stoppen" und "Reconquista" gegen das Diskriminierungsverbot und die Menschenwürde richtet. Die IB kündigte kurz nach dem Urteil bereits an, sich auf die nächste Instanz vorzubereiten. 7.1.1 Symbolik und Ideologie Erkennungszeichen der IBD war bislang das Lambda, der 11. Buchstabe des griechischen Alphabets, in einem Kreis. Das Symbol war im antiken Griechenland das Erkennungsmerkmal der Spartaner, die im 5. Jahrhundert vor Christus gegen die Invasion eines übermächtigen persischen Heeres kämpften. 222 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 In Reaktion auf die Verbote in Frankreich und Österreich verStrategiewechsel schleiert die IBD zunehmend ihre Aktionen, indem sie verstärkt auf lokal verortete Ortsgruppen und Gruppennamen setzt und insbesondere auf die Verwendung des "Lambda-Symbols" als Erkennungszeichen bewusst verzichtet. IBD-Angehörige nutzen hierzu auch Internetpräsenzen, bei denen auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist, dass diese der IBD zuzurechnen sind. Diese Vorgehensweise birgt mitunter die Gefahr, dass User die rechtsextremistische Ideologie der IBD, die hinter entsprechend inszenierten Aktionen steht, nicht erkennen. Ideologisch sieht sich die IBD selbst in der Tradition der "kon"Ethnopluralismus" servativen Revolution", einer antidemokratischen, antiliberalen und "Remigration" und antiegalitären Strömung der Weimarer Zeit. Im Zentrum ihrer Propaganda stehen die ideologischen Konzepte "Ethnopluralismus" und "Großer Austausch". Diese gehen von einer vorgeblich vorherrschenden "ethnokulturellen Identität" der europäischen Völker aus, die durch eine Masseneinwanderung kulturfremder Personen bedroht sei. Diese Bedrohung werde ferner durch die schwachen Geburtenjahrgänge der "ethnokulturellen" Europäer verstärkt. Ein maßgeblicher Indikator dieses "Großen Austauschs" sei eine angebliche, durch die Identitären ebenfalls bekämpfte, "Islamisierung Europas". Diese Entwicklung wird nach der Meinung der IB durch die "Multikultis", also die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen "Eliten", gesteuert. Deren Ziel sei es, die angestammten Völker und Kulturen Europas soweit zu ersetzen, dass am Ende eine steuerund austauschbare "Konsumentenmasse" entstehe. Die IBD propagiert in diesem Zusammenhang die räumliche und kulturelle Trennung unterschiedlicher Ethnien ("Ethnopluralismus") und die "Remigration". Dahinter verbirgt sich die Forderung, Menschen aus Deutschland und Europa auszuweisen, die den "ethnokulturellen" Kriterien der IBD nicht entsprechen. Die identitäre Ideologie weist trotz rhetorischer Abgrenzungsversuche Parallelen zu anderen rechtsextremistischen Ideen und Konzepten auf. Das ethnopluralistische Postulat von der räumlichen und geopolitischen Trennung von Menschen nach ethnischen Kriterien findet sich in ähnlicher Form in der "Blut und Boden"-Ideologie des Nationalsozialismus wieder. Der Begriff der "Rasse" wird im identitären Kontext durch eine angebliche "ethnokulturelle Identität" ersetzt. Die Theorie des "Großen Austauschs" deckt sich zudem weitgehend mit den Aussagen rechtsextremistischer "Volkstod"-Parolen. Dabei wird behauptet, dass im Rahmen eines verschwörerischen Eliteprojektes das deutsche Volk durch zugewanderte "volksfremde" Migranten verdrängt und aussterben werde. 223 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus 7.1.2 Strukturen und Aktivitäten in Bayern Die IBD gliederte sich in Bayern nicht nach Regierungsbezirken, sondern nach vermeintlichen "Volksgrenzen". Die Gliederung in die 3 Gruppierungen "Identitäre Bewegung Bayern" (IB Bayern), "Identitäre Bewegung Schwaben" (IB Schwaben) und "Identitäre Bewegung Franken" (IB Franken) scheint in Bayern mittlerweile überholt, auch wenn einzelne Online-Profile weiterbestehen. Stattdessen löst sich die hierarchische Struktur der IB in Bayern infolge des Strategiewechsels zunehmend zugunsten augenscheinlich autonomer Regionalund Ortsgruppen auf. Diese Kleingruppen sollen die IB langfristig flexibler machen und vor staatlichen Maßnahmen, aber auch vor sogenannten "Outing Aktionen", insbesondere durch den politischen Gegner, schützen. Nach einem Rückgang in den letzten beiden Jahren nahm die Zahl öffentlicher Aktionen in Bayern in 2022 wieder zu. Gleichzeitig bleibt das Aktivitätsniveau der IB nach wie vor eher niedrig. Die festgestellten Aktionen folgen dem beschriebenen Strategiewechsel, was sich insbesondere am Beispiel der Münchner Ortsgruppen "Isar Legion" und "Lederhosen Revolte" zeigt. Am 24. Januar entrollten etwa 20 Aktivisten der "Isar Legion" am Münchner Friedensengel ein Banner mit der Aufschrift "Remigration statt Repression - Sichere Grenzen statt Corona-Tyrannei" und zündeten Rauchfeuer. Im Anschluss postete die Gruppierung die Aktion auf dem gruppeneigenen Instagram-Account. Zusätzlich wurde das dort veröffentlichte Bildund Videomaterial über zahlreiche weitere Internetauftritte mit Bezug zur IB weiterverbreitet, z. B. über die von Sellner beworbene Webseite "Aktionsmelder". Daneben führte auch die "Lederhosen Revolte" zwei Banneraktionen in München durch. Um mehr Aufmerksamkeit zu erlangen, fanden diese während des Christopher Street Days (CSD) sowie während des Oktoberfestes statt. 224 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auch im Norden Bayerns wurde die IB wieder aktiv. Im September führte sie nahe des Ansbacher Hauptbahnhofes eine Banneraktion auf dem Dach eines Parkhauses durch. Dabei hielten vier vermummte Aktivisten ein Banner mit der Aufschrift "... und täglich grüßt der EINZELFALL" und der Abbildung eines Murmeltiers mit einem blutigen Messer im Maul über die Brüstung des Parkhausdaches und warfen Flyer hinab. Im Nachgang wurde die Aktion mit einem Foto und einem entsprechenden Textbeitrag auf dem Instagram-Kanal "bollwerk.franken" veröffentlicht. Die Aktion nimmt Bezug auf die Tat eines afghanischen Asylbewerbers, der am 9. September am Ansbacher Hauptbahnhof mehrere Passanten mit einem Messer attackiert hatte. In diesem Zusammenhang kritisierte die Gruppierung auch die öffentliche Berichterstattung über die Tat und forderte in einem für die IB typischen Duktus "Festung Europa - macht die Grenzen dicht!". In der Oberpfalz wird die Gruppierung "Oberpfalz Revolte" der IB zugerechnet. Auch hier führten Aktivisten eine Banneraktion am Rande des dortigen CSD durch und nahmen an mehreren Protestveranstaltungen teil. 7.2 Sonstige rechtsextremistische Organisationen Aktivitas der Burschenschaft Danubia München Die "Burschenschaft Danubia" hat ihren Sitz in München. In der etwa 10 Personen umfassenden Aktivitas (= studierende Mitglieder) der Burschenschaft engagieren sich weiterhin einzelne Personen, die Beziehungen zur rechtsextremistischen Szene 225 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus unterhalten oder in der Vergangenheit unterhalten haben. Ein Mitglied der Aktivitas der Burschenschaft Danubia wirkte als Aktivist bei einer Aktion der "Identitären Bewegung" am 29. August in Lubmin (Mecklenburg-Vorpommern) mit. Dort forderte die rechtsextremistische Gruppierung die sofortige Öffnung der Gaspipeline Nord Stream 2, welche dort endet. Bei Veranstaltungen der Aktivitas traten seit Jahren auch Referenten aus dem rechtsextremistischen Bereich auf. Nachdem sich die Aktivität 2021 - vermutlich auch wegen der Einschränkungen aufgrund der Corona-Schutzmaßnahmen - hauptsächlich auf die Veröffentlichung und Weiterleitung von Beiträgen im Internet beschränkte, fanden 2022 im Haus der Burschenschaft wieder Veranstaltungen und Vorträge statt, die auch von Rechtsextremisten besucht wurden. 8. NEONAZISMUS UND KAMERADSCHAFTEN Der Neonazismus ist eine besonders menschenverachtende Erscheinungsform des Rechtsextremismus. Er umfasst alle Aktivitäten und Bestrebungen, die sich offen zur Ideologie des Nationalsozialismus bekennen. Ziel der Neonazis ist die Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und die Errichtung eines vom Führerprinzip bestimmten autoritären beziehungsweise totalitären Staates. Neonazis betreiben revisionistische Vergangenheitsverfälschung, indem sie die Geschichtsschreibung über die Zeit des Dritten Reiches ändern wollen und die Gewaltherrschaft des nationalsozialistischen Regimes rechtfertigen oder verharmlosen. "Moderne" Neonazis thematisieren aktuelle sozialoder gesellschaftspolitische Fragen und liefern vermeintlich einfache Antworten. Bei Demonstrationen greifen sie tagespolitische Themen auf und fordern beispielsweise die "Todesstrafe für Kindermörder" oder "Arbeitsplätze zuerst für Deutsche". Ihre Thesen stützen Neonazis auf rassistische und antisemitische Argumentationsmuster. Rückläufige TendenIn Bayern entfalten vor allem der III. Weg sowie auch einzelne zen bei KameradKameradschaften neonazistische Aktivitäten. Die Organisationsschaften form der neonazistischen Kameradschaft ist aber insgesamt rückläufig. So schließen sich Neonazis überwiegend in informellen Gruppen zusammen, die weitgehend ohne feste Strukturen auskommen, oder sie agieren als Einzelpersonen. Vernetzung und Kontaktpflege erfolgen über das Internet und soziale Netzwerke. In Bayern werden rund 730 Personen dem Neonazismus zugeordnet. 226 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die neonazistische Kameradschaft "Freie Kräfte Berchtesgadener Land" hat ihren Aktionsraum vornehmlich in Berchtesgaden, Bad Reichenhall und Freilassing. Sie unterhält Kontakte zu den rechtsextremistischen Parteien "III. Weg" und NPD. Bei der "Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V." (AG-GGG) handelt es sich um eine bundesweit aktive neonazistische, neu-heidnische und religiös-völkische Organisation. Sie bildet eine wichtige Schnittstelle für die gesamtdeutsche Neonaziszene. Die Ideologie der Organisation - von den Mitgliedern "Artglaube" genannt - geht von der Überlegenheit einer nordisch-germanischen "Menschenart" aus. Neben dieser rassistischen Grundannahme umfasst die Ideologie auch völkische, sozialdarwinistische und antisemitische Elemente. Zudem ist eine Orientierung am Weltbild des historischen Nationalsozialismus feststellbar. Die Gruppierung veranstaltet in erster Linie interne germanisch-neuheidnische Feiern sowie Gemeinschaftstage, um ihre Ideologie innerhalb ihrer Anhängerschaft zu verbreiten und zu festigen. Die Organisation gibt vierteljährlich die Mitgliederzeitschrift "Nordische Zeitung" heraus. Der Schwerpunkt der Gruppierung liegt in Ostdeutschland. In der Vergangenheit waren einzelne Aktivitäten in Bayern feststellbar. Ihre "nordisch-germanische" Weltanschauung stellt die AG-GGG seit 2016 auch über einen eigenen Telegram-Kanal dar. Dort verbreitete die AGGGG am 28. September eine antisemitische Karikatur aus dem 19. Jahrhundert und beschrieb Juden als "Söhne des Teufels". 9. RECHTSEXTREMISTISCHE JUGENDSZENEN UND SUBKULTUREN Um junge Menschen zu gewinnen, hat sich die rechtsextremistische Szene in Mode und Ideologie geöffnet. Die einst szenetypischen Glatzen und Springerstiefel der Skinheads sind weitestgehend verschwunden. Piercings, längere Haare, Basecaps oder bestimmte Kleidermarken und sogar Stilelemente aus dem "linken" und linksextremistischen Spektrum wurden übernommen. Eine rechtsextremistische Gesinnung ist somit äußerlich nur noch schwer zu erkennen. Auf diese Weise sollen Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner, Polizeikontrollen oder Probleme mit Eltern, Freunden, in der Schule oder im Beruf vermieden werden. In vielen rechtsextremistischen Subkulturen gibt es in der Regel weder feste Organisationsstrukturen noch formelle Mitgliedschaften. 227 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Die rechtsextremistische Szene versucht zudem, ihre Feindbilder und Ideologien in Jugendszenen einfließen zu lassen, um weitere Mitglieder zu gewinnen und jugendrelevante Trends und Stile mitzuprägen. Von Black Metal und Hatecore bis hin zu Rap, Vaporwave und anderen sind sämtliche jugendkulturelle Stilspektren von Vereinnahmungsversuchen durch die rechtsextremistische Szene betroffen. Anlehnung an Erscheinungsbild und Strukturen der Rockerszene Teile der subkulturell geprägten rechtsextremistischen Szene nähern sich in ihrem Erscheinungsbild und ihren internen Strukturen vermehrt an die Rockerszene an. So wählen sie beispielsweise englischsprachige Gruppenbezeichnungen, tragen "Kutten" (Motorradjacken, auf deren Rückenteil das Gruppenlogo aufgenäht ist), pflegen rockerähnliche Aufnahmerituale für Neumitglieder und benennen interne Hierarchieebenen mit englischen Begriffen wie "President" oder "Secretary". Die mit Abstand mitgliederstärkste Skinheadgruppierung in Bayern, "Voice of Anger", weist ebenfalls in Teilen Ähnlichkeiten mit Rockergruppierungen auf. So orientiert sich beispielsweise eines ihrer Aufnahmeverfahren am sogenannten "Prospect"-Status der Rocker. Es ist aber weder eine strukturierte Zusammenarbeit noch eine ideologische Annäherung zwischen der rechtsextremistischen Szene und der "1-Prozenter"-Rockerszene in Bayern feststellbar. Weite Teile der rechtsextremistischen Szene lehnen Rockerclubs wegen ihrer teilweise hohen Anteile an Mitgliedern mit Migrationshintergrund ab. Es bestehen aber punktuell personelle Überschneidungen zwischen dem Rockermilieu und der rechtsextremistischen Szene, die zumeist auf geschäftliche Interessen oder persönliche Beziehungen zurückgehen. Hammerskins (HS) Die 1988 in den USA gegründeten HS propagieren ein rassistisches und zum Teil nationalsozialistisches Weltbild und sehen sich als Elite der rechtsextremistischen Skinheads. Weltweit in die Schlagzeilen gerieten die HS, als der 40-jährige Wade Michael Page am 5. August 2012 in Oak Creek (Wisconsin) in einem Sikh-Tempel 6 Menschen niederschoss und anschließend selbst von einem Polizisten getötet wurde. Page war Anhänger der US-amerikanischen "Hammerskin-Bewegung". Struktur und Aufnahmeverfahren der HS ähneln denen der "1-Prozenter"-Rockergruppierungen. 228 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die HS sind in vielen Staaten mit "Divisionen" vertreten. Europaweit bestehen als regionale Untergliederungen rund 25 "Chapter", deren Aktivitäten sich größtenteils auf die Organisation von rechtsextremistischen Konzerten und Veranstaltungen sowie die Selbstorganisation der "Hammerskin-Bewegung" beschränken. Der "Hammerskin-Division Deutschland" gehören mehrere "Chapter" an, darunter das "Chapter Bayern" und das "Chapter Franken". Diese beiden in Bayern angesiedelten "Chapter" verhalten sich bei ihren Aktivitäten weitestgehend konspirativ. In 2022 führten die beiden "Chapter" ausschließlich interne Veranstaltungen durch. Voice of Anger (VoA) VoA wurde im Jahr 2002 in Memmingen als Skinheadvereinigung von überwiegend jüngeren Skinheads gegründet. Sie ist subkulturell-neonazistisch orientiert. VoA gliedert sich in Bayern in die Sektionen Memmingen, Schwaben, Unterallgäu und "Nomads" und umfasst insgesamt etwa 60 Mitglieder und Sympathisanten. Mit der Sektion "Preussen" wurde mittlerweile auch ein Ableger außerhalb Bayerns gegründet, der in Hemer (Nordrhein-Westfalen) ein eigenes Clubhaus angemietet hat. Im März durchsuchte die Polizei mehrere Objekte von Mitgliedern der Kameradschaft in Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Dabei wurde neben einem gefälschten Impfpass auch ein verbotenes Messer sichergestellt. Im Zentrum ihrer Aktivitäten steht die Ausrichtung von internen Veranstaltungen zur Förderung des Zusammenhaltes. Zudem organisiert VoA die Teilnahme an Skinheadkonzerten. Eine der Führungsfiguren, Benjamin Einsiedler, vertreibt mit seinem Szeneversandhandel "Oldschool Records" Szeneartikel und Tonträger. Mitglieder von "Voice of Anger - Nomads" gründeten im Jahr 2010 die Skinheadband "Kodex Frei". VoA ist derzeit eine der wenigen noch überregional aktiven Skinheadkameradschaften. Entgegen der sonst rückläufigen Entwicklung der subkulturell geprägten Skinheadszene konnte VoA ihren Mitgliederbestand konstant halten und stellt somit die größte Skinheadgruppierung in Bayern dar. Potenzielle Mitglieder müssen zunächst ein abgestuftes Aufnahmeverfahren ähnlich dem einer Rockergruppierung durchlaufen. 229 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus In 2022 veranstaltete VoA wieder Konzerte und ließ in ihren eigenen Räumlichkeiten am 2. April und am 25. Juni rechtsextremistische Bands auftreten. Eine größere Veranstaltung fand am 1. Oktober in Memmingen statt. Bei den etwa 60 dort festgestellten Personen handelte es sich vermutlich um die Teilnehmer einer Jubiläumsfeier zum 20-jährigen Bestehen der Skinheadgruppe. Kollektiv Zukunft Schaffen - Heimat Schützen (KZSHS) KZSHS ist eine dem subkulturellen Rechtsextremismus zuzurechnende Gruppierung aus dem Raum Nordbayern mit ideologischer Nähe zum Neonazismus. Aktivitäten von KZSHS konnten sowohl realweltlich als auch virtuell erstmals in 2021 festgestellt werden. Über den Messenger-Dienst Telegram verbreitet KZSHS verfassungsfeindliche Agitation. In mehreren Beiträgen verherrlicht die Gruppierung die Zeit des Nationalsozialismus und Faschismus und gedenkt in diesem Zusammenhang Horst Wessel, Rudolf Heß, Benito Mussolini oder Adolf Hitler. Ferner verbreitete sie zahlreiche Beiträge anderer rechtsextremistischer Gruppierungen, wie der NPD und des "III. Weg". Mit ihrem Engagement unterstützt KZSHS nachdrücklich auch die von diesen Organisationen ausgehenden verfassungsfeindlichen Bestrebungen. KZSHS mobilisierte in der Vergangenheit regelmäßig für die Proteste gegen die Corona-Politik und nahm selbst an vielen Demonstrationen teil. Ziel der extremistischen Kleingruppe ist jedoch nicht der legitime Protest gegen politische Maßnahmen, vielmehr hofft die Gruppierung darauf, dass die angeblich "schlafenden Massen" die noch nicht "durch Corona erwacht" sind, sich dem Widerstand gegen das demokratische System anschließen. Bollwerk Oberpfalz (BWO) BWO ist eine seit dem Jahr 2016 bestehende Gruppierung. Sie wird als lose organisierte Gruppe mit einem Personenpotenzial von gut 10 Personen dem subkulturell geprägten Rechtsextremismus zugeordnet. Die Gruppierung bedient Versatzstücke einer rechtsextremistischen Ideologie, verfügt aber nicht über eine fundierte ideologische Überzeugung. Ihrer Selbstdarstellung zufolge liegt ihr Hauptzweck in der Durchführung szenetypischer Freizeitaktivitäten. Am 20. September nahmen mehrere BWO-Anhänger an einer Protestveranstaltung zu den Themen Energie, Inflation, Corona und Ukrainekrise in Schwandorf teil, bei der auch weitere Rechtsextremisten festgestellt werden konnten. 230 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Gruppierungen wie die BWO entwickeln eine hohe Mobilität, um rechtsextremistische Konzerte und Veranstaltungen zu besuchen. In den letzten Jahren trat die Gruppe kaum öffentlichkeitswirksam in Erscheinung und führte vor allem interne Versammlungen durch. Aktivisten von BWO beteiligten sich auch am Protestgeschehen gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen. Blood & Honour (B&H) Die neonazistische Skinheadbewegung B&H ist ein ursprünglich aus England stammendes, mittlerweile international agierendes, rechtsextremistisches Netzwerk. Seit ihrer Gründung Ende der 1980er Jahre verbreitet B&H nationalsozialistisches und rassistisches Gedankengut im Rahmen der Veranstaltung von Skinheadkonzerten und durch den Vertrieb von rechtsextremistischer Musik und Szenekleidung. Die Organisationsbezeichnung "Blood & Honour" ist der in die englische Sprache übersetzte Leitspruch "Blut und Ehre", der von der nationalsozialistischen Jugendorganisation "Hitlerjugend" verwendet wurde. In den 1990er Jahren stellte B&H die bedeutendste und aktivste internationale Organisation innerhalb der Skinheadszene dar. In Deutschland existierte ab 1994 eine eigene "Division". Sie war gegen Ende der 1990er Jahre einer der wichtigsten Veranstalter rechtsextremistischer Skinheadkonzerte, gab ein gleichnamiges Magazin heraus und betrieb zeitweilig ein eigenes Produktionslabel für rechtsextremistische Tonträger. Im Jahr 2000 bestand die Organisation bundesweit aus 15 regionalen Untergliederungen, sogenannte "Sektionen", und besaß eine Gesamtstärke von rund 200 Mitgliedern. In Bayern unterteilte sich die B&H-Bewegung in die "Sektionen" Franken und Bayern, die ihre jeweiligen Sitze in den Regionen Amberg und Bamberg hatten und zusammen etwa 20 Mitglieder umfassten. Im September 2000 verbot der Bundesminister des Innern B&H Verbot seit mitsamt ihrer Jugendorganisation "White Youth" nach dem September 2000 Vereinsgesetz, da die Gruppierung sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung richtete. Seit dem 16. Juni 2001 ist das Verbot bestandskräftig. In den Jahren nach dem Verbot wurden Nachfolgeaktivitäten früherer Mitglieder der Organisation durch konsequente Strafverfolgungsmaßnahmen unterbunden. Nach 2006 waren zunächst nur vereinzelt Verdachtsmomente bekannt geworden, die auf Nachfolgebestrebungen der Organisation im Bundesgebiet hindeuteten. 231 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Rechtsextremismus Das Landgericht München verurteilte am 3. August 9 Männer zu Geldstrafen und Haftstrafen auf Bewährung, u. a. wegen Verstoß gegen das Vereinigungsverbot, Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Volksverhetzung. Den Beschuldigten wurde vorgeworfen als Funktionäre und Mitglieder das verbotene Netzwerk "Blood & Honour Division Deutschland" (B&H Deutschland) fortgeführt zu haben. Im August wurden die Urteile gegen 8 der 9 Verurteilten rechtskräftig. 232 Rechtsextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 233 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Reichsbürger und Selbstverwalter Reichsbürger und Selbstverwalter " Personenpotenzial weiter auf 5.360 gestiegen " Rund 450 Szeneanhänger sind gewaltorientiert " Szeneakteure erzielen über Messenger-Dienste zum Teil große Reichweiten " Vermehrt "Alternative Schulprojekte" in der Reichsbürgerszene 234 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die Bezeichnung Reichsbürger umfasst Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus unterschiedlichen Motiven und mit verschiedenen Begründungen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ablehnen. Dabei berufen sie sich u. a. auf das historische Deutsche Reich, verschwörungstheoretische Argumentationsmuster, die sie auch mit tagesaktuellen Themen wie z. B. der Corona-Pandemie verknüpfen, oder ein selbst definiertes Naturrecht. Den Repräsentanten des Staates und dessen Institutionen sprechen sie die Legitimation ab und bestreiten die Gültigkeit der Rechtsordnung. Zur Verwirklichung ihrer Ziele treten sie zum Teil aggressiv gegenüber den Gerichten und Behörden der Bundesrepublik Deutschland auf. Selbstverwalter sind Einzelpersonen, die behaupten, sie könnten durch eine Erklärung aus der Bundesrepublik austreten und seien daher auch nicht mehr deren Gesetzen unterworfen. Die dafür genutzten Argumente sind im Wesentlichen deckungsgleich mit denen der Reichsbürger. 235 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Reichsbürger und Selbstverwalter Selbstverwalter definieren beispielsweise ihre Wohnung, ihr Haus oder ihr Grundstück als souveränes Staatsgebiet, auf dem ihre eigene "Staatsordnung" gelte. Ihr Grundstück markieren sie mitunter durch eine (Grenz-)Linie und erfinden eigene "Staatswappen". In Teilen sind Angehörige der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene auch dem Phänomenbereich Rechtsextremismus zuzurechnen, insbesondere dort, wo sich Versatzstücke antisemitischer und nationalsozialistischer Denkmuster wiederfinden. Die Reichsbürgerideologie ist insgesamt geeignet, Personen in ein geschlossenes verschwörungstheoretisches Weltbild zu verstricken, in dem Staatsverdrossenheit zu Staatshass werden kann. Dies kann zur Grundlage für Radikalisierungsprozesse bis hin zur Gewaltanwendung werden. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet die Reichsbürgerund Selbstverwalterszene in Bayern als sicherheitsgefährdende Bestrebung. 236 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 1. PERSONENPOTENZIAL Den Sicherheitsbehörden in Bayern ist es durch kontinuierliche Anstieg des Ermittlungsarbeit gelungen, Personenpotenzial, Strukturen und Personenpotenzials regionale Schwerpunkte weiter aufzuklären. Bis Ende 2022 (Stand: 31.12.2022) lagen zu rund 5.360 Personen belastbare Hinweise bezüglich ihrer Zugehörigkeit zur Reichsbürgerszene vor. Damit ist erneut ein deutlicher Anstieg gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen (2021: 4.605). Diese Entwicklung dürfte einerseits auf den Anstieg von reichsbürgertypischen Schreiben an öffentliche Verwaltungen im Zusammenhang mit Bußgeldverfahren zurückgehen und andererseits durch die Diskussionen über die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie begünstigt worden sein. Bis zu 470 Einzelpersonen gehören zum "harten Kern", der insbesondere durch zahllose Aktivitäten gegenüber staatlichen Institutionen seine Ideologie zum Ausdruck bringt. Dem gewaltorientierten Personenpotenzial innerhalb der Reichs450 Gewaltbürgerund Selbstverwalterszene in Bayern werden derzeit rund orientierte 450 Personen zugerechnet. Dazu zählen insbesondere Einzelpersonen, die beispielsweise über Erpressungen und gewaltbefürwortende Äußerungen auf sich aufmerksam gemacht haben. Das gewaltorientierte Personenpotenzial beinhaltet zugleich eine Schnittmenge zu den Einzelpersonen, die dem "harten Kern" angehören. Bei den meisten bislang identifizierten Angehörigen der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene ist weiterhin kein "Organisationsbezug" feststellbar. Die Maßnahmen der Sicherheitsbehörden und die Berichterstattung darüber, u. a. zu Waffenentzugsverfahren bei Reichsbürgern, entfalten auch präventive Wirkung. Sie führen der Szene mögliche Konsequenzen vor Augen, die sich aus einer verfassungsfeindlichen Haltung ergeben können. Zudem werden Straftaten, insbesondere Erpressungsund Nötigungsdelikte, konsequent verfolgt. Nachdem sich die Aktivitäten der bayerischen Reichsbürgerszene in 2020 und 2021 aufgrund der coronabedingten staatlichen Beschränkungsmaßnahmen überwiegend in den digitalen Raum verlagert hatten, nahmen in 2022 mit der Rücknahme der Maßnahmen auch realweltliche Veranstaltungen wieder zu. 237 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Reichsbürger und Selbstverwalter Zusammensetzung Die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter in Bayern ist der Szene im Wesentlichen männlich geprägt: Rund 3 Viertel der in Bayern als Angehörige der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene identifizierten Personen sind männlich. Die Altersstruktur innerhalb der Szene unterscheidet sich erheblich von der in anderen Phänomenbereichen. Während dort häufig jüngere Menschen stark vertreten sind, liegt der Schwerpunkt der Szene im Alterssegment der 40bis 69-Jährigen, wobei hier die Gruppe der Personen zwischen 50 und 59 Jahren dominiert. Personen bis 29 Jahre sind in der Szene hingegen nur unterdurchschnittlich repräsentiert. In Bayern sind Angehörige der Szene in den Regierungsbezirken Oberfranken, Unterfranken und Oberbayern überdurchschnittlich vertreten. Eine eindeutige Zuordnung von Angehörigen der Reichsbürgeroder Selbstverwalterszene zur rechtsextremistischen Szene ist bislang nur in wenigen Fällen belegbar. Schnittmengen zu Die Zahl der Reichsbürger in Bayern, die auch in rechtsextremisanderen Phänotischen Zusammenhängen bekannt geworden sind, beläuft sich menbereichen auf circa 130 Personen. Dabei handelt es sich vorwiegend um und bürgerlichem Einzelpersonen, die keinen konkreten Strukturen zugerechnet Spektrum werden können und die durch ihre Aktivitäten im virtuellen Raum Ideologieelemente aus beiden Phänomenbereichen vertreten. Insbesondere bei den Themen Antisemitismus und Gebietsrevisionismus gibt es Überschneidungen zwischen Personen aus der rechtsextremistischen Szene und Reichsbürgern. So nahmen wenige Einzelpersonen aus der Reichsbürgerszene auch an Stammtischen rechtsextremistischer Gruppierungen teil beziehungsweise beteiligten sich an rechtsextremistisch geprägten digitalen Austauschplattformen. Auch zum Phänomenbereich verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates besteht in Teilen eine inhaltliche Nähe. 238 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Eine strukturelle Zusammenarbeit mit Personen aus diesen Phänomenbereichen ist aber nicht erkennbar, auch wenn im Rahmen einzelner Veranstaltungen Mischszenen aufgetreten sind. So ließ sich beispielsweise bei Veranstaltungen gegen die staatlichen Beschränkungsmaßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie eine Mischklientel feststellen, zu der sowohl rechtsextremistische Aktivistinnen und Aktivisten als auch Personen des Phänomenbereiches verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates und Angehörige der Reichsbürgerszene zählten. Die Ablehnung des Staates und seiner Organe ist ideologischer Bestandteil nahezu aller extremistischen Phänomenbereiche. Vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, dass aus dieser Ablehnung häufig auch der Widerstand gegen erlassene Verordnungen erwachsen kann. Die fehlende Trennschärfe zwischen extremistischen und nicht-extremistischen Botschaften und Personen birgt im Zusammenhang mit Demonstrationsveranstaltungen gegen staatliche Beschränkungsmaßnahmen die Gefahr, dass sich weitere Personen aus dem bürgerlichen Spektrum extremistischen Forderungen und Agitationen anschließen. Begünstigt wird dies durch den in den sozialen Medien kolportierten Eindruck, die vertretenen Auffassungen seien bereits mehrheitsfähig. 239 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Reichsbürger und Selbstverwalter 2. GEWALTPOTENZIAL Straftaten mit extremistischem Hintergrund von Angehörigen der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene 2020 2021 2022 Politisch motivierte Gewaltdelikte Tötungsdelikte (auch Versuch) 0 0 0 Körperverletzungen 3 2 0 Brandund Sprengstoffdelikte 0 0 0 Landfriedensbruch 0 0 0 Raub 0 1 0 Erpressung 64 113 185 Widerstandsdelikte 5 5 12 Gef. Eingriff in Bahn-, Schiffsund Luftverkehr 0 1 0 Sonstige Gewalttaten 0 0 0 Gesamt 72 122 197 Kriminelle Vereinigung/Terrorismus 1 0 0 Sonstige Straftaten Sachbeschädigungen 6 3 6 Propagandadelikte 9 14 7 Volksverhetzung 9 9 15 Nötigung/Bedrohung 74 178 385 Sonstige Straftaten 72 99 89 Gesamt 170 303 502 Straftaten insgesamt 243 425 699 Straftaten von Angehörigen der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene werden seit dem Jahr 2017 gesondert erfasst. In 2022 wurden insgesamt 699 (Vorjahr: 425) extremistische Straftaten gezählt, darunter 197 Gewaltdelikte (Vorjahr: 122). Den Schwerpunkt bei den Gewaltdelikten bildeten mit 185 Taten erneut die Erpressungsdelikte (Vorjahr: 113). Die Zahl der Widerstandsdelikte stieg auf 12 Taten an (Vorjahr: 5) 240 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Mit 385 Taten stellten Nötigungsund Bedrohungsdelikte erneut den Schwerpunkt der sonstigen 502 Straftaten dar (Vorjahr: 178 und 303). Einzelne Personen sind u. a. wegen Verwendung verfassungsfeindlicher Symbole, Volksverhetzung sowie verfassungsfeindlicher Verunglimpfung von Staatsorganen aufgefallen. Reichsbürger bewegen sich in einem für sie geschlossenen Weltbild. Der Glaube daran, dass deutsche Gesetze für sie keine Gültigkeit hätten, führt dazu, dass staatliche Maßnahmen als unrechtmäßig empfunden werden. Dabei können insbesondere die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie verbreiteten Verschwörungstheorien den Nährboden für eine Radikalisierung von Einzelpersonen innerhalb der Reichsbürgerszene bereiten. Gewalttaten richten sich in aller Regel gegen staatliche Maßnahmen beziehungsweise gegen Vertreter des Staates. Solche Gewalttaten werden innerhalb der Szene in der Regel als Notwehr gegen den Staat gedeutet. Gewalttäter erfahren dementsprechend nach einschlägigen Vorfällen solidarisierenden Zuspruch. Bei Einzelpersonen, die ideologisch besonders gefestigt erscheinen, ist eine Häufung politisch motivierter Straftaten feststellbar, insbesondere Beleidigungsund Nötigungsdelikte, in Einzelfällen auch Erpressungsdelikte. Darüber hinaus wurden innerhalb der Szene vermehrt reichsbürgertypische Musterschreiben verbreitet, die häufig als Reaktion auf Bußgeldbescheide an öffentliche Stellen adressiert werden. Diese erfüllen u. a. aufgrund der enthaltenen Schadensersatzforderungen die Straftatbestände der Erpressung, Nötigung und Bedrohung. Am 12. April wollte eine uniformierte Polizeistreife der PolizeiWiderstandsinspektion Landshut einen PKW für eine Verkehrskontrolle anhandlungen halten. Der Fahrer des PKW, ein amtsbekannter Reichsbürger, ignorierte zunächst die polizeilichen Anhaltesignale und wies sich später lediglich mit einem für Reichsbürger typischen "Staatsbürgerschaftsausweis" aus. Eine gültige Fahrerlaubnis konnte er nicht vorweisen, da ihm diese bereits entzogen worden war. Der Fahrer weigerte sich auszusteigen, verbarrikadierte sich in seinem PKW und konnte nur unter Anwendung von Zwangsmitteln aus dem Fahrzeug geholt werden. Bei der anschließenden Durchsuchung des PKWs wurden zwei sprengfähige Übungsmunitionsstücke aufgefunden, mit deren Besitz der Fahrer gegen ein bereits bestehendes Waffenverbot verstieß. Bei einer am selben Tag von der Staatsanwaltschaft angeordneten Durchsuchung des Wohnanwesens in Essenbach konnten diverse Messer und Beile sichergestellt werden. Zudem wurden im Haus einige Fahnen, u. a. eine Reichskriegsflagge mit Hakenkreuz, gefunden. 241 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Reichsbürger und Selbstverwalter Entzug von WaffenUm das von Angehörigen der Reichsbürgerszene ausgehende erlaubnissen Gefahrenpotenzial zu minimieren, werden bei ihnen bestehende waffenrechtliche Erlaubnisse überprüft und, wo möglich, entzogen. Jede waffenrechtliche Erlaubnis setzt voraus, dass der Erlaubnisinhaber die erforderliche waffenrechtliche Zuverlässigkeit besitzt. Diese Zuverlässigkeit ist im Fall der Zugehörigkeit zur Reichsbürgerbewegung aber zu verneinen. Bis zum 31. 12.2022 haben die Sicherheitsbehörden in Bayern 443 Personen (Stand 31.12.2021: 397) innerhalb der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter identifiziert, die über eine oder mehrere waffenrechtliche Erlaubnisse verfügten. Gegen alle 443 Personen wurden bereits Widerrufsverfahren durch die Waffenbehörden eingeleitet, in 270 Fällen (Stand 31.12.2021: 240) erging ein Widerrufsbescheid. Insgesamt wurden durch Widerruf oder aufgrund eines vor Widerruf erklärten freiwilligen Verzichtes bislang 525 (Stand 31.12.2021: 460) waffenrechtliche Erlaubnisse entzogen. Dabei wurden 1.095 Waffen (Stand 31.12.2021: 888) bei der Waffenbehörde oder an Berechtigte abgegeben. 3. IDEOLOGIE Angehörige der Reichsbürgerszene berufen sich in unterschiedlichster Form auf den Fortbestand des Deutschen Reiches. Dabei wird z. B. auf den Rechtsstand von 1937, 1914 zwei Tage vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges oder auch 1871 Bezug genommen. Sie behaupten, Deutschland habe keine gültige Verfassung und sei damit als Staat nicht existent, oder das Grundgesetz habe mit der Wiedervereinigung 1990 seine Gültigkeit verloren. Daher fühlen sich Szeneangehörige auch nicht verpflichtet, den in der Bundesrepublik geltenden Gesetzen Folge zu leisten. Die jeweils vorgetragenen Argumente gegen die Existenz Deutschlands als Staat sind falsch. Das Bundesverfassungsgericht lässt in seiner gesamten Rechtsprechung keinen Zweifel daran, dass das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die gültige Verfassung des wiedervereinigten Deutschlands ist. Zu den vermeintlichen Argumenten der Reichsbürgerszene stellte das Amtsgericht Duisburg im Leitsatz einer Entscheidung bereits am 26. Januar 2006 zusammenfassend fest: 242 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Das Bonner Grundgesetz ist unverändert in Kraft. Eine deutsche Reichsverfassung, eine kommis sarische Reichsregierung oder ein kommissari sches Reichsgericht existiert ebenso wenig, wie die Erde eine Scheibe ist. Die Reichsbürgerszene eint zwar die grundsätzliche Ablehnung Zersplitterung der des bundesdeutschen Staatswesens, ideologisch und organisaSzene torisch ist die Bewegung jedoch sehr heterogen. In der Szene gibt es Personen, die Geschäftsinteressen verfolgen, Verschwörungstheorien anhängen, dem Rechtsextremismus zugeordnet werden oder esoterisch beziehungsweise querulatorisch orientiert sind. Insbesondere auf regionaler Ebene teilt sich die Szene in zahlreiche Kleinstgruppen, die untereinander konkurrieren, persönliche oder ideologische Konflikte austragen und sich gegenseitig die Legitimität absprechen. Das Entstehen einzelner mitgliederstarker Organisationen, die eine Führungsrolle einnehmen könnten, ist derzeit nicht abzusehen. Durch die Aufspaltung von Gruppierungen vervielfachen sich zudem die Möglichkeiten, einen der Fantasietitel und -posten zu erlangen, die Reichsbürgergruppierungen häufig vergeben. Mit diesen erfundenen Titeln, wie z. B. "Kommissarischer Reichsminister", befriedigen Angehörige der Reichsbürgerszene ihr persönliches Geltungsbedürfnis. Hinsichtlich der ideologischen Auseinandersetzung führt insbesondere die für die Reichsbürgerszene zentrale Fragestellung, ob Deutschland eine gültige Verfassung habe, regelmäßig zu internen Streitigkeiten. Teile der Szene vertreten den Standpunkt, dass das Grundgesetz nur für die "juristische Person" beziehungsweise das "Personal" der privatrechtlichen und unter alliierter Kontrolle stehenden Firma "BRD-GmbH" gelte, da es von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg verfasst worden sei. Andere Teile der Szene schließen eine Wirksamkeit des Grundgesetzes gänzlich aus und verweisen vielmehr auf die vermeintliche Fortgeltung früherer "Reichsverfassungen", beispielsweise von 1871 oder 1913. Angeblich impliziere bereits der Name "Grundgesetz", dass es sich dabei nicht um eine Verfassung handeln könne. Wiederum andere argumentieren, dass das Grundgesetz mit dem Beitritt der DDR außer Kraft getreten und die Verabschiedung einer neuen Verfassung bisher nicht erfolgt 243 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Reichsbürger und Selbstverwalter sei. Solche Überzeugungen sind auch unter Selbstverwaltern verbreitet, die ihre eigene Person als Staat mit Gesetzgebungskompetenz ansehen und sich eine eigene Verfassung für ihr "selbstverwaltetes" Territorium geben. 4. TYPISCHE AKTIVITÄTEN Angehörige der Reichsbürgerszene entfalten gegenüber staatlichen Institutionen eine Vielzahl von Aktivitäten, die zum Teil - wie das Erstellen von Fantasiedokumenten - Ausdruck ihrer Ideologie sind, aber auch auf die Lahmlegung der öffentlichen Verwaltung abzielen. In Einzelfällen kommt es auch zu Gewaltandrohung beziehungsweise -anwendung gegenüber staatlichen Repräsentanten. 4.1 Auftreten gegenüber Justiz und Verwaltung Regelmäßig überziehen Angehörige der Reichsbürgerszene Behörden und Gerichte mit querulatorischen Schreiben, in denen sie der öffentlichen Verwaltung und der Justiz ihre Autorität oder ihre Existenz absprechen. Zum Teil verfolgen sie damit das Ziel, sich rechtlichen Verpflichtungen, wie z. B. Forderungen des Staates aus Steuer-, Bußgeldoder Verwaltungsverfahren, zu entziehen. In umfangreichen Briefen werden z. B. Behörden und Gerichte belehrt und beleidigt oder haltlose Schadenersatzforderungen erhoben, um diese einzuschüchtern und Maßnahmen der Justiz oder der Polizei zu beeinflussen oder gar zu verhindern. In der gerichtlichen Auseinandersetzung ist der Aktivismus von Angehörigen der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene ambivalent: Einerseits schöpfen sie den Rechtsweg weitestgehend aus und überhäufen Gerichte mit Anträgen und Eingaben. Dabei lassen sie sich mitunter auch von selbsternannten Szeneanwälten, sogenannten "Recht-Konsulenten" (Schreibweise variiert), vertreten. Andererseits bleiben sie häufig Gerichtsterminen fern, wirken nicht am ordentlichen Verfahren mit und versuchen, Strafbefehle einfach ins Leere laufen zu lassen und nicht zu beachten. 244 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wurden vermehrt Schreiben festgestellt, in welchen mit szenetypischen Formulierungen die Unrechtmäßigkeit von Staat und Verwaltung behauptet und dabei auf das "S.H.A.E.F." Bezug genommen wird. Bei "S.H.A.E.F." handelt es sich um die Bezeichnung des Hauptquartiers der Alliierten Streitkräfte in Nordwestund Mitteleuropa während des Zweiten Weltkrieges. Nachdem die Bundesrepublik Deutschland aus Perspektive der Reichsbürgerszene nicht existiert, bewerten Teile der Szene das Besatzungsrecht als immer noch gültig. Sie beziehen sich in ihren Forderungen und Schreiben daher häufig auch auf das vermeintliche "S.H.A.E.F.-Gesetz", worunter in der Szene ein Besatzungsrecht verstanden wird. Am Abend des 5. Februar fand in den Räumlichkeiten einer Vortragskampagne Schule in Coburg - ohne Wissen der dortigen Schulleitung - zu S.H.A.E.F. eine Vortragsveranstaltung mit einem Reichsbürger aus BadenWürttemberg statt. Bei der Veranstaltung waren insgesamt 55 Personen anwesend, die überwiegend dem Phänomenbereich der Reichsbürger und Selbstverwalter zuzurechnen sind. Der Referent führte bereits seit Jahresbeginn im süddeutschen Raum mehrere Vorträge über die vermeintliche Gültigkeit der "S.H.A.E.F.-Gesetze" und die "allgemeine[n] Rechtslage in Deutschland" durch. Die Veranstaltungen wurden zuvor über einschlägige TelegramKanäle beworben, wobei die Austragungsorte, mutmaßlich um behördliches Einschreiten zu vermeiden, immer erst kurz vor Veranstaltungsbeginn bekannt gegeben wurden. Der Polizei in Coburg gelang es durch im Vorfeld angelegte Kontrollen, die Schule als Veranstaltungsort zu identifizieren. Den Zugang zum Schulgebäude hatte ein Angestellter der Schule ermöglicht, der ebenfalls Bezüge zur Reichsbürgerbewegung aufweist. Nachdem die Schulleitung Kenntnis von dem Sachverhalt erhalten hatte, stellte sie gegen sämtliche Teilnehmer der Veranstaltung Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs. Den Einsatzkräften der Polizei gelang es, die Identitäten aller 55 Personen festzustellen, die zum Teil auch aus Baden-Württemberg, Brandenburg, Hessen, Thüringen und Sachsen angereist waren. 245 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Reichsbürger und Selbstverwalter 4.2 Beantragung von Staatsangehörigkeitsausweisen und Nutzung eigener Dokumente Angehörige der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene bestreiten die rechtmäßige Existenz der Bundesrepublik Deutschland als Staat und bezeichnen diese häufig als "Firma BRD". Teile der Bewegung sind zudem der Auffassung, dass sie nicht die Staatsangehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland besitzen beziehungsweise aus dieser "austreten" können. Auf diese Weise wird neben der Vernichtung oder Rückgabe von Ausweisdokumenten auch die Erstellung und der Vertrieb von Fantasiedokumenten sowie die missbräuchliche Beantragung des Staatsangehörigkeitsausweises ("gelber Schein") gerechtfertigt. Ausgehend von der falschen Annahme, ohne Staatsangehörigkeitsausweis staatenlos zu sein, beantragen Szeneangehörige häufig einen Staatsangehörigkeitsausweis (sogenannter "gelber Schein") zur Bestätigung ihrer Reichsund Staatsangehörigkeit nach dem Staatsangehörigkeitsgesetz. Der Begriff "Personalausweis" ist für sie ein Beleg für die Staatenlosigkeit, da als "Personal" ausschließlich Angehörige einer Firma, hier der "Firma BRD", bezeichnet würden. Vom Staatsangehörigkeitsausweis erhofft sich dieser Personenkreis - rechtlich völlig unzutreffend - u. a. den "Ausstieg aus der Firma BRD". Der "gelbe Schein" wird zudem als Nachweis der "Rechtsstellung" als Staatsangehöriger des vorgeblich fortbestehenden "Deutschen Reichs" angesehen. Entsprechende Antragstellungen von Teilen der Bewegung waren zuletzt rückläufig. Dieser Rückgang ist mutmaßlich auf die erhöhten Antragshürden zurückzuführen, die inzwischen den Nachweis eines "berechtigten Interesses" vorsehen. Propagierung der Mitunter vertreten Angehörige der Reichsbürgerszene eine verStaatenlosigkeit meintlich "naturrechtliche" Auffassung und berufen sich auf ihre Eigenschaft als "Mensch", der - im Gegensatz zur "juristischen Person", die von der sogenannten "BRD-GmbH" beziehungsweise deren "Schein-Regierung" konstruiert werde - die Feststellung einer Staatsangehörigkeit nicht benötige. Daher stellt das Thema "Staatenlosigkeit" innerhalb der Szene einen zentralen Bezugspunkt dar. Die Ablehnung des deutschen Staates fußt dabei auf der irrigen Annahme, Mensch zu sein, stehe im Widerspruch zur Identität als vermeintliches "Personal" der 246 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 "Firma BRD". Wiederum andere suchen nach Alternativen für eine vermeintliche staatliche Beglaubigung der Staatsangehörigkeit, wie etwa die notarielle Beglaubigung von Dokumenten. Angehörige der Reichsbürgerszene benutzen zudem anstelle "Milieumanager" amtlicher Ausweise Fantasiepapiere wie "Heimatscheine", "Reichspersonenausweise" oder "Reichsführerscheine". Diese Fantasiepapiere sind rechtlich bedeutungslos und teilweise strafrechtlich relevant. Ihr Vertrieb stellt für Reichsbürgergruppierungen eine wichtige Einnahmequelle dar und wird meist durch "Milieumanager" organisiert. Über den Verkauf jener Fantasiedokumente und die Veranstaltung von Seminaren und Onlinekursen tragen diese maßgeblich zur Vernetzung der Szene bei, auch wenn sie selbst nicht immer von der Ideologie überzeugt sind. 4.3 Online-Aktivitäten Da die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter eine starke Heterogenität und häufiges Einzelgängertum aufweist, entstehen vergleichsweise selten stabile Strukturen. Virtuelle Stammtische und Seminare bieten für Szeneangehörige daher eine adäquate Form, um strukturarm und unverbindlich miteinander in Kontakt und Austausch zu treten. Durch die zeitweise geltenden staatlichen BeschränkungsmaßVirtuelle nahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie sahen sich AnStammtische gehörige der Szene gezwungen, noch stärker als bislang alternative Kommunikationsmittel und Plattformen, wie beispielsweise den Messenger-Dienst Telegram, zum Austausch einzusetzen. Bei den digitalen Zusammentreffen wird versucht, die Anwesenden von verschwörungstheoretischen Denkweisen sowie der vermeintlichen Illegitimität der Bundesrepublik Deutschland zu überzeugen. Ebenso finden Personen, die aus verschiedenen Gründen unzufrieden mit dem staatlichen Handeln sind, in der Reichsbürgerideologie vermeintlich einfache Erklärungsund Lösungsangebote für ihre Probleme. Beim digitalen Austausch haben sich zuletzt verhältnismäßig Reichweitenstarke reichweitenstarke Influencer mit teilweise bis zu 30.000 AbonInfluencer nenten herauskristallisiert. Über diese überregional aktiven Messenger-Kanäle gelingt es Szeneakteuren, ein relativ großes 247 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Reichsbürger und Selbstverwalter Publikum zu erreichen und die Reichsbürgerideologie weiterzuverbreiten. Diese Reichweitenerhöhung kann unter Umständen bei Einzelpersonen eine Radikalisierung begünstigen oder beschleunigen. Ermittlungsverfahren Gegen einen bekannten bayerischen Reichsbürger und Betreiber gegen Influencer eines reichweitenstarken Telegram-Kanals laufen aktuell mehrere Verfahren u. a. wegen Belohnung und Billigung von Straftaten (SS 140 StGB), Beleidigung (SS 185 StGB), Gefährdendes Verbreiten personenbezogener Daten (SS 126a StGB), Bedrohung (SS 241 Abs. 2-4 StGB) und Verleumdung (SS 187 StGB). Der Beschuldigte reagierte auf eine Vorladung der Polizei mit einem 32-minütigen Audiobeitrag auf seinem Telegram-Kanal, welcher über 28.000 Abonnenten hat. Hierin bezeichnete er den Unterzeichner der Vorladung u. a. als "Kriegsverbrecher", der von den "Militärs"und "von jedem Deutschen erschossen" werden dürfe. Der betroffene Polizeibeamte wurde explizit mit Vorund Nachnamen sowie Dienstgrad und Dienststelle genannt, zudem wurde die Vorladung mit abgelichtet. Seewald Akademie Ein weiteres Beispiel für die zwischenzeitliche Verlagerung der Reichsbürgerszene in den virtuellen Raum stellt der ehemals in Bayern aktive Reichsbürger Wjatscheslaw Seewald dar. Der bis zum April 2022 in Bayern wohnhafte Seewald verknüpft die verschiedenen Felder der Esoterik, des Rechtsextremismus und der Reichsbürger-Ideologie miteinander, um ein heterogenes Publikum anzusprechen. Er betrieb u. a. die nach ihm benannte "Seewald Akademie", die mit einstmals eigener Webseite kostenpflichtige Onlinevorträge in Form sogenannter "Web-Seminare" anbot. Die Webseite, auf der Seewalds Videovorträge mit u. a. antisemitischen und verschwörungstheoretischen Inhalt gekauft werden konnten, wurde mittlerweile vom Online-Host der Webseite aufgrund der enthaltenen politischen Äußerungen gelöscht. Kernbestandteil von Seewalds Web-Seminaren war die von ihm entwickelte Verschwörungstheorie "Gerussia", wobei es sich im Kern um eine abgewandelte Variante beziehungsweise Vermischung der beiden Verschwörungstheorien der "jüdischen Weltverschwörung" und des "Bevölkerungsaustausches" handelt. Die angeblich bevorstehende Vernichtung des deutschen Volkes könne, so die These Seewalds, nur durch eine Verbrüderung der beiden Staaten Russland und Deutschland abgewendet werden. 248 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auf seinem nach wie vor existenten und offen einsehbaren Telegram-Kanal mit derzeit circa 8.000 Abonnenten kündigte Seewald im Frühjahr 2022 an, nach Teneriffa auswandern zu wollen. Seinen regelmäßig veröffentlichten Beiträgen zufolge, hat er diese Pläne Anfang Mai in die Tat umgesetzt. Laut eigener Aussage bleibe sein politisches Engagement jedoch vom Wohnortswechsel unbeeinflusst und werde fortgesetzt. Anhand von Seewalds politischen Aktivitäten lässt sich erkennen, wie er versucht, Personen aus den unterschiedlichsten Spektren für sich zu gewinnen und sein extremistisches Gedankengut in unterschiedliche Milieus zu streuen. Seewalds Angebot ist für jedermann leicht zugänglich und kann sowohl für Rechtsextremisten und Reichsbürger als auch für Personen, die dem esoterischen Milieu angehören, ansprechend sein. Dadurch kann es auch zu einer rechtsextremistischen Beeinflussung eines eher esoterisch orientierten Milieus kommen. Seine politischen Agitationen sind hinsichtlich des Russland-Ukraine-Krieges konstant von einer pro-russischen Haltung geprägt. 4.4 Überregionale und internationale Kontakte Personen und Gruppierungen, deren Gedankengut dem der deutschen Reichsbürgerszene ähnelt, gibt es auch in Österreich und in der Schweiz. In Österreich werden diese Gruppierungen "Souveräne Bewegungen" genannt. Die Republik Österreich ist in ihren Augen ebenso wie die Bundesrepublik Deutschland lediglich eine GmbH und somit kein rechtmäßiges Staatsgebilde. Im deutschsprachigen Raum existiert somit grenzüberschreitend ein Personenkreis, den die pseudojuristische Basis seines Handelns eint und der sich insbesondere über das Internet rege austauscht. Plattformen wie der Messenger-Dienst Telegram ermöglichen der Reichsbürgerszene eine einfache überregionale und transnationale Vernetzung. Referentinnen und Referenten sowie "Milieumanager" der Reichsbürgerszene agieren, unabhängig von ihrem Wohnsitz, im gesamten deutschsprachigen Raum. Die Vernetzung stützt sich überwiegend auf persönliche Kennverhältnisse und/oder grenzüberschreitende räumliche Nähe. So trat 2022 ein bundesweit agierender Reichsbürger aus Schleswig-Holstein mit zwei Vortragsveranstaltungen im Raum Augsburg und Nürnberg in Erscheinung. Auch der im Zusammenhang mit den S.H.A.E.F.Gesetzen erwähnte Reichsbürger aus Baden-Württemberg (vgl. 249 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Reichsbürger und Selbstverwalter unter 4.1) trat zusammen mit einem weiteren Reichsbürger aus Nordrhein-Westfalen im Laufe des Jahres mehrfach in Bayern wie auch im gesamtdeutschen Raum mit Vorträgen in Erscheinung. Eine strukturierte Vernetzung der Gesamtszene ist derzeit jedoch nicht erkennbar und mit Blick auf die szeneinternen Konflikte auch wenig wahrscheinlich. 5. AKTUELLE AKTIVITÄTEN IN BAYERN Aktivitäten im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie Die wesentlichen Elemente der Reichsbürgerund Selbstverwalterideologie sind verschwörungstheoretischer Art. Die im Zuge der Corona-Pandemie zunehmende Verbreitung von Verschwörungstheorien bietet daher auch potenzielle Anknüpfungspunkte für Szeneangehörige. Durch die Corona-Pandemie sehen sich diese in ihren Vorstellungen vielfach bestätigt. Zugleich finden die von ihnen verbreiteten und geteilten Verschwörungstheorien eine größere Reichweite und sichtbare Zustimmung. VerschwörungstheoInnerhalb der Reichsbürgerszene werden zu den Ursachen, der rien und Glaube an Ausbreitung und den Folgewirkungen der Corona-Pandemie "geheime Mächte" unterschiedlichste Fake News und Verschwörungstheorien "Tag X"Szenarien verbreitet. Insbesondere wurde die Einschränkung bestimmter Grundrechte im Rahmen der "epidemiologischen Lage von nationaler Tragweite" durch die Bundesund Landesregierungen szeneintern als Zeichen für das Eintreten eines sogenannten "Tag X", dem Momentum einer fundamentalen Wende beziehungsweise eines Systemsturzes, bewertet. Angehörige der Szene werfen den handelnden Politikerinnen und Politikern vor, Bürgerund Freiheitsrechte ohne rechtliche Grundlage einschränken zu wollen. Ein kriegsähnlicher Zustand werde erzeugt, indem Angst und Schrecken verbreitet würden, um Recht und Gesetz außer Kraft zu setzen. Die Einschränkung der Bürgerrechte wird in diesem Zusammenhang als strategisches Element eines bestehenden Plans, initiiert von "geheimen Mächten", zur Entrechtung der Menschen in Deutschland gedeutet. Die wirtschaftliche Rezession in Folge der Pandemie wird als planmäßig vorgesehenes und notwendiges Element gewertet, damit die Mehrheit der Menschen in Deutschland eine Entmündigung billigend in Kauf nehme. Auch die US-amerikanische Verschwörungstheorie "QAnon" ("Q") verfängt in Teilen der Reichsbürgerszene und wird in verschiedenen Foren diskutiert. 250 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Dass die Corona-Pandemie dazu geeignet ist RadikalisierungsEingriff in den prozesse auch innerhalb der Reichsbürgerszene zu begünstigen, Bahnverkehr zeigt ein Ereignis vom 6. Januar 2021, als es an der Bahnstrecke Schweinfurt-Gemünden zu einem gefährlichen Eingriff in den Bahnverkehr kam. Die Täter sollen einem auf Telegram geteilten Aufruf Folge geleistet und auf den Bahngleisen insgesamt fünf Plakate unter anderem mit der Aufschrift "Achtung Gleisbruch" angebracht haben. Durch die "Störaktion", zu der Personen aus der Corona-Protestszene aufgerufen hatten, musste ein auf der Zugstrecke in Unterfranken verkehrender ICE schlussendlich zur Notbremsung übergehen. Das Amtsgericht Gemünden verurteilte Anfang Dezember die an der Tat beteiligten Angeklagten wegen fahrlässigen gefährlichen Eingriffs in den Schienenverkehr. Einer der Angeklagten, ein amtsbekannter Reichsbürger, war bereits seit 2020 mehrfach im Zusammenhang mit Veranstaltungen der Corona-Protestszene als Redner beziehungsweise Anmelder in Erscheinung getreten. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten verurteilt. Gegen seine Mitangeklagte verhängte das Gericht eine Freiheitsstrafe von 9 Monaten auf Bewährung. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Auch über die Themen Corona-Tests, Impfungen und ImpfnachImpfskepsis weise versuchen Szeneangehörige Schnittmengen mit milieufremden Impfskeptikern herzustellen. Aus ihrer Sicht würden der illegitime Staat und die illegale Verwaltung unzumutbare Hygienemaßnahmen verordnen und gesundheitsschädliche oder gar tödliche Impfungen empfehlen. Mit verschiedenen Maßnahmen, beispielsweise dem Verteilen von eigenen Informationen, versucht die Szene gegen dieses vermeintlich unrechtmäßige und gesundheitsschädliche Handeln des Staates zu mobilisieren. Im Zusammenhang mit dieser staatsablehnenden Grundhaltung und einer generellen Missbilligung der staatlichen Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung kam es auch zur Ausstellung von falschen Maskenattesten. Eine im Umfeld der Corona-Protestszene aktive bayerische Ärztin, die der Reichsbürgerszene angehört, stellte im Verlauf der Corona-Pandemie mehr als 300 falsche Maskenatteste aus. Das Amtsgericht GarmischPartenkirchen verurteilte die 70-Jährige am 3. August wegen des Ausstellens unrichtiger Gesundheitszeugnisse zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren ohne Bewährung sowie einer Geldstrafe in Höhe von 4.210 Euro und verhängte ein dreijähriges Berufsverbot. Das Urteil ist bislang noch nicht rechtskräftig. 251 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Reichsbürger und Selbstverwalter "Schulgründungen" in der Reichsbürgerszene Bereits vor der Pandemie hatten Personen aus der Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter damit begonnen, vereinzelt sogenannte "alternative Schulen" zu gründen, um jenseits staatlicher Vorgaben und offizieller Strukturen ihre Ideologie in die Beschulung von Kindern und Jugendlichen einfließen zu lassen und diese auch an deren Eltern heranzutragen. In Reaktion auf die pandemiebedingten Beschränkungsmaßnahmen im Schulbetrieb versuchten Gegnerinnen und Gegner der staatlichen Schutzmaßnahmen vermehrt, für ihre Kinder alternative Lernangebote in schulähnlichen Einrichtungen zu etablieren, in denen Maßnahmen, wie Maskenund Testpflicht, nicht umgesetzt werden. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz wurde Ende 2021 auf einen illegalen Schulbetrieb in Erlangen-Eltersdorf aufmerksam. Die Räumlichkeiten wurden am 20. Januar von Einsatzkräften der Polizei Erlangen in Zusammenarbeit mit den örtlich zuständigen Ordnungsbehörden durchsucht. Im Rahmen der Durchsuchung wurden 15 Kinder im schulpflichtigen Alter sowie 3 Betreuungspersonen angetroffen. Die Schulaufsichtsbehörde der Regierung von Mittelfranken stellte den illegalen Schulbetrieb mit sofortiger Wirkung ein. In Reaktion auf die behördlichen Maßnahmen veröffentlichten die Betreiberinnen der "alternativen Schule" mehrere Videos in den sozialen Medien, in denen sie die Durchsuchungsmaßnahme als "Geiselnahme mit Geiselhaft" bezeichnen und dem Staat im Allgemeinen jegliche Legitimation absprechen. Die Betreiberinnen waren dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz bereits als Anhängerinnen der Reichsbürgerund Selbstverwalterbewegung bekannt. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz prüft stetig, ob an der Gründung "alternativer Schulen" Reichsbürger und Selbstverwalter oder andere extremistische Akteure beteiligt sind beziehungsweise ob entsprechende Aktivitäten unter inhaltlichem Einfluss einer extremistischen Ideologie stehen. Zudem erfolgt eine regelmäßige Prüfung, ob die Erkenntnisse an für den Schuldienst zuständige Behörden weitergegeben werden können. In diesem Zusammenhang sind bereits behördliche Schließungen "alternativer Schulen" in Röllbach (Lkr. Aschaffenburg) sowie in Schechen (Lkr. Rosenheim) erfolgt. 252 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 6. REICHSBÜRGERGRUPPIERUNGEN IN BAYERN 6.1 Vaterländischer Hilfsdienst (VHD) Mitglieder ca. 60 in Bayern Gründung 2019 Aktionsraum Bundesgebiet Bei der Gruppierung "Vaterländischer Hilfsdienst" (VHD) handelt es sich um einen Personenzusammenschluss, der sich in der Tradition der gleichnamigen zivilen Ergänzung zur Wehrpflicht im Deutschen Reich aus dem Jahr 1916 verortet. Organisatorisch unterteilt sich der VHD in insgesamt 24 "Armeekorpsbezirke" und bezieht sich dabei auf die Grenzen des Deutschen Reiches. Wie alle Reichsbürgergruppierungen erkennt auch der VHD weder den Staat noch dessen Exekutivbefugnisse an. Eigenen Angaben zufolge dient der VHD der "Reorganisation des Vaterlandes" beziehungsweise "ausschließlich der Wiederherstellung der staatlichen Handlungsfähigkeit". Dabei geht es dem VHD auch darum, den Gebietszustand von 1914 und den Rechtsstand von 1918 wiederherzustellen. Hierfür benötige man "handlungsfähige staatliche Organe um den Kriegsund Belagerungszustand zu beenden". Der VHD sieht seine Aufgabe darin, "Deutsche mit einer Staatsangehörigkeit" in einem "Bundesstaat" zu "erfassen und [zu] sammeln" und sie dem "Deutschen Kaiser" zu unterstellen, wobei auch Abstammungsnachweise erbracht werden sollen. Angehörige des VHD veranstalteten 2022 mehrere realweltliche Treffen in Bayern, u. a. am Tegernsee sowie an der Befreiungshalle in Kelheim und der Walhalla in Donaustauf, über die sie auch auf ihrer Webseite berichteten. Die Treffen finden oftmals an beliebten Ausflugszielen statt und sind einem bestimmten Thema gewidmet. Hauptziel derartiger Veranstaltungen und sogenannter "Denkmalaktionen" wie beispielsweise im Juli am Bismarckturm in der Gemeinde Berg/ Starnberger See ist die auch bundeslandübergreifende Vernetzung der Anhängerschaft. 253 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Reichsbürger und Selbstverwalter Zu diesem Zweck zeigt sich die Gruppierung auch im Internet mit beträchtlicher Medienpräsenz. Neben einer eigenen Webseite und einem YouTube-Kanal existieren aktuell Profile auf einschlägigen sozialen Netzwerken, die u. a. der gegenseitigen Vernetzung dienen und ebenso für die Dokumentation der Treffen verwendet werden. Aufgrund der hohen Anzahl an realweltlichen Veranstaltungen und virtuellen Aktivitäten ist es der Gruppierung gelungen, die eigene Gruppenstruktur zu festigen und ihre Anhängerschaft weiter auszubauen. Inzwischen umfasst das Personenpotenzial in Bayern circa 60 Mitglieder. 6.2 Verfassunggebende Versammlung (VV) Mitglieder Einzelpersonen Gründung 2014 Aktionsraum Bundesgebiet Die Gruppierung lehnt die bestehenden Strukturen der Bundesrepublik Deutschland ab und bestreitet deren Existenzberechtigung. So heißt es z. B. auf der Webseite der Gruppierung: Durch die aktuelle Situation in Deutschland ist die gesamte Menschheit versklavt. 1990 wur den alle Menschen der Erde betrogen. Die Wie dervereinigung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik am 3. Oktober 1990, ist juristisch niemals er folgt. Die Bundesrepublik Deutschland heute, ist ein USamerikanisches Unternehmen, was ohne jeden Zweifel nachweisbar ist. [...] Es gibt keinen Staat Bundesrepublik Deutschland [...]. (Fehler aus dem Original übernommen) Die Anhänger der "Verfassunggebenden Versammlung" planen, an einem nicht näher bestimmten "Tag X" eine temporäre "Verfassunggebende Versammlung" einzuberufen und so die Verfassung und die Gesetze als Basis eines neuen, vermeintlich (wieder) handlungsfähigen Deutschlands zu schaffen. 254 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Der Webseite zufolge startete am 1. November ein neues Referendum zur Durchführung der "Verfassungsgebenden Versammlung Deutschland". Dabei werde das Ziel verfolgt, die innenund außenpolitischen Positionen Deutschlands zu erneuern. Entsprechende Infoblätter wurden auf der Webseite veröffentlicht. Überdies hat die Gruppierung einen eigenen Telegram-Kanal und eine Diskussionsplattform erstellt, um den gegenseitigen Austausch der Mitglieder und Interessierten zu ermöglichen. Bereits nach knapp einem Monat Laufzeit verkündete die Gruppierung auf ihrer Webseite die frühzeitige Beendigung des Referendums zum 31. März 2023. Grund dafür sei die anhaltend schlechte Beteiligung im Verhältnis zum erheblichen Aufwand für die Herstellung und Verteilung der Informationsmaterialien. 6.3 Königreich Deutschland (KRD) Mitglieder Einzelpersonen Gründung 2012 Aktionsraum Bundesgebiet Die Reichsbürgergruppierung "Königreich Deutschland" (KRD) mit Sitz in Sachsen-Anhalt ist in der Szene deutschlandweit aktiv, indem sie verschiedene Seminare anbietet und unterschiedliche Produkte bewirbt. Im Rahmen einer "Gemeinwohl-Messe" und bei "Unternehmerwochenenden" wurden in der Vergangenheit die angeblichen Vorzüge des "Wirtschaftssystems KRD" vorgestellt. Ferner wirbt die Gruppierung über eigene kostenpflichtige Seminare dafür, insbesondere für Selbstständige und Unternehmer einen "steuerfreien und von der BRD unabhängigen Rechtekreis des Gemeinwohlstaates" zur Verfügung zu stellen. Laut eigener Webseite befänden sich bundesweit mittlerweile knapp 500 Unternehmen, mitunter auch aus Bayern, im "Melderegister" der Gruppierung. Auch für sogenannte "Dorfprojekte" wird innerhalb der Szene und auf der eigenen bundesweiten Webseite der Gruppierung geworben. Im Namen des KRD werden "engagierte Menschen mit gemeinsamen Visionen, passende Standorte, sowie finanzielle Mittel" für die Durchführung der "Dorfprojekte" "im ersten Gemeinwohlstaat der Welt" gesucht. Auch in der bayerischen Reichsbürgerszene wurde diese Idee diskutiert, u. a. auf dem Telegram-Kanal des bayerischen Ablegers "KRD - Bayern". Aktivitäten die auf die Umsetzung der "Dorfprojekte" in Bayern hinweisen, konnten bislang nicht festgestellt werden. 255 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Reichsbürger und Selbstverwalter 6.4 Staatenlos.info - Comedian e. V. Mitglieder Einzelpersonen Gründung 2013 Aktionsraum Bundesgebiet "Staatenlos.info - Comedian e. V." geht davon aus, dass die deutsche Staatsangehörigkeit de facto "abgeschafft" sei und sich die Bundesrepublik Deutschland lediglich alter "faschistischer" Staatsstrukturen bediene. Der Verein fordert u. a. "die Befreiung von Deutschland und Europa aus der faschistischen Gesinnungsdiktatur" und stellt in diesem Zusammenhang eine Nähe zu Russland her, das offenbar als Verbündeter betrachtet wird. Nach seiner Auffassung ist das Kernproblem aller Deutschen, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht "entnazifiziert" worden und zudem von "doppelter Staatenlosigkeit" betroffen sei. Der Bundesrepublik Deutschland fehle die notwendige Rechtsgrundlage und es existiere somit auch keine "Unionsbürgerschaft", d. h. keine Mitgliedschaft in der Europäischen Union. In Bayern nahm das Aktivitätsniveau der Gruppierung im Berichtszeitraum erneut ab. Mit Ausnahme vereinzelter Flugblatteinwürfe konnten zuletzt keine realweltlichen Aktivitäten festgestellt werden. 6.5 Geeinte deutsche Völker und Stämme (GdVuSt) Mitglieder Einzelpersonen Gründung 2016 - Verbot 2020 Aktionsraum Bundesgebiet Die Gruppierung "Geeinte deutsche Völker und Stämme" (GdVuSt) wurde 2016 in Berlin gegründet und trat vorwiegend in Berlin sowie im norddeutschen Raum in Erscheinung. Ziel der GdVuSt war es, staatliche Hoheitsgebiete zu "reaktivieren" und sie dadurch unter ihre eigene Verwaltung zu bringen. Aus diesen einzelnen reaktivierten Gemeinden sollte sich dann - als übergeordnetes Ziel der Gruppierung - ein "Naturstaat" bilden. Bei früheren Aktionen versuchten Anhänger der GdVuSt beispielsweise, das Rathaus in Berlin-Zehlendorf zu "übernehmen". 256 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Am 19. März 2020 hat der Bundesminister des Innern, für Bau Verbot durch den und Heimat (BMI) den Verein "Geeinte deutsche Völker und Bundesminister des Stämme" nach Art. 9 Abs. 2 Grundgesetz in Verbindung mit Innern SS 3 Vereinsgesetz verboten. Gegen die seit Mai in Untersuchungshaft befindliche Leiterin der verbotenen Gruppierung begann im November der Prozess vor dem Landgericht Lüneburg wegen "Verstoßes gegen das Vereinigungsverbot in Tateinheit mit Verbreiten von Propagandamitteln verfassungswidriger Organisationen, Volksverhetzung und Missbrauchs von Berufsbezeichnungen". 6.6 Volksstaat Bayern (vormals: Bundesstaat Bayern) Mitglieder Einzelpersonen Gründung Dezember 2015 Aktionsraum Bayern und Teile von Rheinland-Pfalz Der "Volksstaat Bayern", bis 2018 "Bundesstaat Bayern", betrachtet sich als souveräner Gliedbeziehungsweise Bundesstaat im sogenannten "Staatenbund Deutsches Reich" mit Sitz in Fürstlich Drehna (Brandenburg), dem auch der "Freistaat Preußen", die "Republik Baden", der "Volksstaat Württemberg" (ehemals "Bundesstaat Württemberg") und der "Bundesstaat Sachsen" angehören. Seit 2017 wurden im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens der DurchsuchungsStaatsanwaltschaft München II wegen des dringenden Tatvermaßnahmen dachts der bandenund gewerbsmäßigen Urkundenfälschung sowie Amtsanmaßung mehrfach Durchsuchungsbeschlüsse bei Führungspersonen der Gruppierung vollzogen. Dabei konnten Reichsbürgerdokumente, die sogenannte "Staatskasse", Waffen und Munition, falsche Hauptuntersuchungs-Prüfplaketten und Ausweispapiere sichergestellt werden. Rund 30 Personen, welche diese Ausweise bezogen hatten, wurden bereits verurteilt. Das Hauptverfahren gegen Funktionäre der Gruppierung begann in 2021. In diesem Zusammenhang wurden auch 2 Personen aus Bayern, u. a. wegen Urkundenfälschung, jeweils zu einer Geldstrafe verurteilt. 257 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Reichsbürger und Selbstverwalter Weiterführende Informationen zur Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter Flyer: "Reichsbürger" und "Selbstverwalter": harmlose Spinner oder gefährliche Extremisten? www.verfassungsschutz.bayern.de www.bige.bayern.de Die Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus (BIGE) bietet auch Fortbildungsveranstaltungen zur Reichsbürgerszene für Mitarbeiter von Kommunen, staatlichen Behörden und Justiz an: Telefon: 089 / 2192 2192 E-Mail: gegen-extremismus@stmi.bayern.de 258 Reichsbürger und Selbstverwalter Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 259 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Delegitimierung Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates " Szeneprotagonisten nutzen den Krieg gegen die Ukraine und die Energiekrise für ihre staatsfeindliche Agitation " Verschwörungstheorien sind in der Szene weiterhin bedeutsam 260 Delegitimierung Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Bestrebungen, die basierend auf einem von Verschwörungstheorien geprägten Staatsund Elitenhass in demokratiefeindlicher Weise darauf abzielen, wesentliche Verfassungsgrundsätze außer Geltung zu setzen oder die Funktionsfähigkeit des Staates erheblich zu beeinträchtigen, ohne dabei die Wesensmerkmale extremistischer Bestrebungen eines anderen Phänomenbereichs, wie etwa Rechtsextremismus, aufzuweisen, werden dem Phänomenbereich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates zugerechnet. Hierzu zählen auch Bestrebungen, die sich durch eine agitatorische Verächtlichmachung des Staates gegen das Demokratieprinzip richten, die durch ihre Demokratiefeindlichkeit angetrieben zu extremistisch motivierten Strafund Gewalttaten aufrufen oder sich unter Verkennung der Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz zugrundeliegenden Voraussetzungen auf ein vermeintliches Widerstandsrecht berufen und sich dabei gegen das Rechtsstaatsprinzip stellen. 261 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Delegitimierung 1. ENTWICKLUNG NACH ABFLAUEN DER PANDEMIE Auch in Bayern haben sich Personen im Zuge ihrer Ablehnung der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der CoronaPandemie radikalisiert und sich in der Folge in einer dem Phänomenbereich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates zuzurechnenden Weise betätigt. Staatliche Schutzmaßnahmen wurden zunehmend in einem Duktus der Verrohung und Radikalisierung aufgegriffen, insbesondere auch in sozialen Medien und Messenger-Diensten. Dies zeigte sich nicht zuletzt in Form von im Internet geäußerten Morddrohungen und einer generell zunehmenden Gewaltbereitschaft gegen Personen aus Politik, Wissenschaft, Medizin, Behörden und Medien. Mit den Lockerungen der staatlichen Schutzmaßnahmen in der ersten Jahreshälfte nahm auch das Corona-Protestgeschehen stark ab. Mitglieder der Protestszene, die in ihrem Aktivismus gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen nachdrücklich verfassungsfeindliche Ziele verfolgt hatten, führten diese im Rahmen einer grundsätzlichen Delegitimierung staatlichen und demokratischen Handelns jedoch in den meisten Fällen fort - oftmals eingebettet in dem Glauben an diffuse Verschwörungstheorien. Aufgreifen neuer Aktivistinnen und Aktivisten, die dem Phänomenbereich der Themenfelder verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates zuzurechnen sind, versuchen neben der Corona-Thematik auch weitere Themenfelder zu besetzen. Dies zeigt sich insbesondere in Bezug auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die damit verbundenen aktuellen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen, wie die drastisch gestiegenen Energieund Gaspreise. 262 Delegitimierung Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 2. PERSONENPOTENZIAL Die Mehrzahl derjenigen, die dem Phänomenbereich der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates in Bayern zugerechnet werden, sind zum Großteil im Zuge ihrer Aktivitäten gegen die Corona-Schutzmaßnahmen bekannt geworden. Dabei handelt es sich um meist eigenständig und individuell handelnde Personen, die teilweise von einer festen Anhängerschaft unterstützt werden. Die Vernetzung einzelner Aktivistinnen und Aktivisten geht jedoch nicht über gemeinsame Auftritte oder Teilnahmen an Veranstaltungen hinaus. Dementsprechend lassen sich derzeit keine festen Strukturen in Bayern ausmachen. Feststellbar sind Vernetzungsbestrebungen vor allem im virtuellen Raum, dort überwiegend auf Kommunikationsplattformen wie Telegram. Das Personenpotenzial im Phänomenbereich verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates liegt derzeit im mittleren zweistelligen Bereich. 3. GEWALTBEREITSCHAFT Bei Teilen des beobachteten Personenkreises war eine zunehmende Gewaltbereitschaft vorwiegend im Zusammenhang mit Protestveranstaltungen oder im virtuellen Raum zu verzeichnen. Insbesondere im digitalen Raum lassen sich neben strafrechtlich relevanter Formen agitatorischer Verächtlichmachung des Staates auch Bedrohungen gegen Repräsentanten in ihrer Eigenschaft als Funktionsträger des Staates ausmachen. So enthalten beispielsweise Kommentare in offen zugänglichen MessengerKanälen neben Drohungen auch konkrete Aufforderungen, Personen des politischen und öffentlichen Lebens aufzusuchen und für ihr Verhalten in der Corona-Pandemie zur Rechenschaft zu ziehen. Überdies kam es zu Aufrufen, gewaltsam gegen Polizeibeamte vorzugehen, die an der Durchsetzung der staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen beteiligt sind oder ihren Dienst bei Veranstaltungen der Corona-Protestszene ausüben. In zahlreichen Fällen wurde auch konkret öffentlich dazu aufgerufen, Straftaten zu begehen. Diese verbalisierten Drohungen führten auch zu entsprechenden realen Straftaten wie "Bedrohung" (SS 241 StGB), "tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte" (SS 114 StGB) und "gefährliche Körperverletzung" (SS 224 StGB). 263 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Delegitimierung 4. BEDEUTUNG VON VERSCHWÖRUNGSTHEORIEN Verschwörungstheorien spielen bei Personen, die dem Phänomenbereich zugerechnet werden, in der Regel eine bedeutsame Rolle. Die Motivation für ihre verfassungsschutzrelevanten Bestrebungen beziehen diese Personen aus verschiedenen Verschwörungstheorien, in deren Zentrum oftmals eine vermeintlich im Verborgenen agierende Elite steht. Verschwörungstheorien können in diesem Zusammenhang auch Radikalisierungsprozesse begünstigen. Darüber hinaus ermöglichen sie den oftmals digital stattfindenden Austausch mit weiteren Verschwörungsgläubigen außerhalb der eigenen Szene. "Great Reset" So gibt es Personen, die nachdrücklich und ernsthaft, beispielsweise vor dem Hintergrund der Verschwörungstheorie "Great Reset", zu gewalttätigem Widerstand gegen den aus ihrer Sicht illegitimen Staat aufrufen. Der "Great Reset" (deutsch: "Der große Neustart" oder "Der große Umbruch") ist ursprünglich eine Initiative des Weltwirtschaftsforums aus dem Jahr 2020, welche die Herausforderungen der Corona-Pandemie als potenziellen Impulsgeber für eine nachhaltigere Neugestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft und den Abbau globaler Ungleichheit betrachtet. Unter Bezugnahme auf diese Initiative verbreiten Akteure der verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates die Verschwörungstheorie, wonach die Corona-Pandemie, genauso wie der Krieg in der Ukraine und die gestiegenen Energieund Lebenshaltungskosten, Teil eines groß angelegten Plans seien, traditionelle gesellschaftliche Strukturen und die Wirtschaft zu zerstören, um eine sogenannte "Weltregierung" zu errichten. "QAnon" Auch "QAnon" ("Q") stellt ein prominentes Beispiel für eine Antisemitische Verschwörungstheorie dar, die über das Internet weltweit und Anklänge szeneübergreifend Verbreitung gefunden hat. Dieser Verschwörungstheorie zufolge würden Kinder entführt und in unterirdischen Lagern gefoltert und ermordet, um ein Lebenselixier aus ihnen zu gewinnen, das sogenannte "Adrenochrom". Die Anhängerschaft der Verschwörungstheorie "Q" diskreditiert u. a. ihnen unliebsame politische Entscheidungsträger als Marionetten einer angeblich weltweit operierenden Schattenregierung oder eines sogenannten "Deep State". Sie nehmen dabei Bezug auf antisemitische Verschwörungsmotive wie die behauptete "Weltverschwörung" einer jüdischen Finanzelite und greifen die ebenfalls antijüdische Ritualmordlegende auf. 264 Delegitimierung Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Unter dem Stichwort "Deep State" wird dabei der Staat als unter Kontrolle eines Geflechtes aus korrupten und weltweit agierenden politischen Eliten stehend dargestellt, die konspirativ gegen die eigene Bevölkerung arbeiten. Demokratischen Institutionen wird so jegliche Legitimität abgesprochen, gewählte politische Entscheidungsträger werden entweder als Teil dieser Elite oder als willfährige Marionetten diffamiert. Wenngleich "QAnon" selbst zuletzt, insbesondere aufgrund der Inaktivität des vermeintlichen Whistleblowers "Q", an Bedeutung verloren hat, werden die beiden Verschwörungstheorien "Great Reset" und "QAnon" auch über Szenegrenzen hinaus von Verschwörungsgläubigen teils miteinander verknüpft. Dabei wird der im "Great Reset" vermeintlich groß angelegte Plan zur Zerstörung traditioneller gesellschaftlicher Strukturen und der Wirtschaft mit den "Deep-State"-Elementen der Verschwörungstheorie "QAnon" verbunden. Im Irrglauben an derartige Verschwörungstheorien rufen Angehörige des Phänomenbereichs mitunter zum gewaltsamen Widerstand gegen einen aus ihrer Sicht illegitimen Staat auf. 265 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit Verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit " Stürzenberger nutzt Gedenken an das OlympiaAttentat von 1972 zur Agitation gegen Muslime " Abwehrkampf der Ukraine wird zum Vorbild eines "Freiheitskampfes gegen den Islam" stilisiert 266 Verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Islamfeindliche Agitation ist nicht auf den Bereich des Rechtsextremismus beschränkt. Auch jenseits der rechtsextremistischen, vornehmlich auf Rassismus begründeten Islamfeindlichkeit gibt es Bestrebungen, die Menschen muslimischen Glaubens die im Grundgesetz verankerte Religionsfreiheit nicht zugestehen wollen. Sie setzen den Islam als Weltreligion gleich mit Islamismus und islamistischem Terrorismus und stellen die Religion des Islam als faschistische Ideologie dar, von der eine erhebliche Gefahr für unsere Gesellschaft ausgehe. Bei der verfassungsschutzrelevanten Islamfeindlichkeit fehlen die für den Rechtsextremismus typischen Ideologieelemente wie autoritäres Staatsverständnis, Antisemitismus, Rassismus oder die Ideologie der Volksgemeinschaft. 267 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit Extremistische Bestrebungen im Zusammenhang mit islamfeindlichen Äußerungen richten sich gegen die im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte der Menschenwürde (Art. 1 GG), des Diskriminierungsverbots (Art. 3 GG) und der Religionsfreiheit (Art. 4 GG). Verhaltensweisen sind dann als extremistisch zu bewerten, wenn sie zielund zweckgerichtet die Geltung der genannten Prinzipien für Muslime sowie den Islam und seine Glaubensgemeinschaften außer Kraft setzen beziehungsweise beseitigen wollen. Kritik, die im Rahmen einer geistig-politischen Auseinandersetzung auf Gefahren eines politischen Islam für unsere Grundwerte hinweist, unterliegt hingegen nicht dem Beobachtungsauftrag des Verfassungsschutzes. Das Internet wird zur verfassungsschutzrelevanten islamfeindlichen Agitation intensiv genutzt, um islamfeindliche Inhalte zu verbreiten. Dabei können insbesondere anonyme oder pseudonymisierte Beiträge auf Webseiten und Weblogs nicht automatisch auch den jeweiligen Betreibern zugerechnet werden. Ausschlaggebend für die Bewertung ist dabei, ob und inwieweit die Verantwortlichen solcher Internetpräsenzen selbst extremistische Ziele verfolgen. Auf nicht zurechenbare Einzeläußerungen (z. B. Kommentare in Blogs und Foren) allein lässt sich eine Bewertung als extremistisch nicht stützen. Auch die Nutzung sozialer Netzwerke und die Verbreitung von Videomaterial über Plattformen wie YouTube spielen eine wichtige Rolle. 268 Verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 1. MICHAEL STÜRZENBERGER UND UMFELD In Bayern werden der Verfassungsschutzrelevanten IslamfeindBPE Bayern lichkeit Michael Stürzenberger und der bayerische Landesverband der bundesweiten Bürgerbewegung PAX EUROPA e. V. (BPE) zugeordnet. Der Bundesverband der BPE steht nicht unter Beobachtung des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz. Bei Kundgebungen, die in Ingolstadt, München, Nürnberg, Schweinfurt und Würzburg unter der Bezeichnung des BPEBundesverbandes angemeldet waren, übernahm jedoch Stürzenberger, vereinzelt auch die bayerische BPE-Landesvorsitzende, die Versammlungsleitung. Stürzenberger trat bei den Kundgebungen als Hauptredner auf. Zu Jahresbeginn hatte Stürzenberger auf "PI-News" eine intensive öffentliche Aufklärungskampagne der BPE über den "Politischen Islam" angekündigt. Startschuss einer Veranstaltungsreihe in mehreren Bundesländern war am 16. April eine BPE-Kundgebung in München. Es liegen tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor, dass StürzenAktivitäten auf berger sowie der bayerische BPE-Landesverband verfassungsPI-News schutzrelevante islamfeindliche Bestrebungen verfolgen, die auf eine Abschaffung der Religionsfreiheit für Muslime gerichtet sind. Stürzenberger verbreitet seine Thesen auf BPE-Veranstaltungen sowie im Internet und ist als Autor auf der reichweitenstarken Website "PI-News" aktiv. Die Abkürzung PI steht für "Politically Incorrect". Diese Tätigkeiten bieten ihm die Möglichkeit, ein breites Publikum mit seiner islamfeindlichen Agitation zu erreichen. Der Verfassungsschutz bewertet den hinter "PINews" stehenden Personenzusammenschluss als extremistische Bestrebung im Phänomenbereich Rechtsextremismus. Über die Erstellung von YouTube-Videos erreicht Stürzenberger eine hohe Zahl an Interessenten. Im Jahr 2022 stellte er auf YouTube insgesamt mehr als 99 Videos online. Diese wurden über 723.000 mal aufgerufen. In der Agitation Stürzenbergers stechen islamfeindliche Äußerungen hervor, aus denen sich eine grundsätzliche Ablehnung der islamischen Religion ergibt. In seinen Verlautbarungen differenziert Stürzenberger nicht zwischen dem Islam als Religion und Islamismus als extremistischer Bestrebung. Vielmehr assoziiert Stürzenberger unterschiedslos unter dem Stichwort "Politischer Islam" den Islam generell mit Terrorismus. 269 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit "Politischer Islam" Stürzenberger ordnet nahezu sämtliche Menschen muslimischen Glaubens dem "Politischen Islam" zu. Lediglich Muslime, die den Koran überhaupt nicht gelesen haben oder Inhalte des Korans ablehnen, nimmt er hiervon aus. Demnach wären als Bestandteil des "Politischen Islam" auch bloße kultische Handlungen einschließlich der Beachtung und Ausübung religiöser Gebote und Gebräuche wie Gottesdienst, das Gebet oder das Fasten abzulehnen und zu verbieten. Überdies finden sich Forderungen Stürzenbergers, die die Menschenwürde verletzen und geeignet sind, Muslime als "Menschen zweiter Klasse" zu behandeln und auszugrenzen. So verlangte er in einem Beitrag auf "PI-News" vom 31. Januar: Jeder Moslem, der aus Afghanistan als ver meintlicher "Flüchtling" zu uns nach Deutsch land kommt, müsste zunächst genau auf seine Einstellung zum Islam überprüft werden. Eine am 28. Januar auf "PI-News" getätigte Aussage Stürzenbergers, die Justiz müsse in Entscheidungen auch die Komponente des "Politischen Islam" einbeziehen, verletzt zudem das Rechtsstaatsprinzip. Stürzenberger suggeriert, Justizbehörden hätten bei der Beurteilung der Schuldfähigkeit von Straftätern eine etwaige islamische Religionszugehörigkeit zu Lasten des Verdächtigen einzubeziehen. VerschwörungsBei Stürzenbergers Äußerungen zum "Politischen Islam" theoretische wird außerdem der verschwörungstheoretische Ansatz einer Komponenten vermeintlich im Geheimen agierenden muslimischen Macht erkennbar. Seinem "PI-News"-Beitrag vom 3. Mai mit dem Titel: "Keine Stimme dem Politischen Islam - BPE-Flyer für Landtagswahlen" zufolge arbeiten "Anhänger" des "Politischen Islam" auf sämtlichen Ebenen in Gesellschaft und Politik daran [...], ihrer auf weltliche Machtüber nahme angelegten Ideologie zur Verbreitung und zunehmenden Einflussnahme zu verhelfen. Letztendlich mit dem Ziel Deutschland in ein isla misches Land zu verwandeln, in dem die Scharia herrscht. 270 Verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 beziehungsweise: Ebenso arbeiten viele äußerlich vermeintlich gut integrierte, aber innerlich radikale Moslems möglichst unauffällig in berühmtberüchtigter Salamitaktik daran, das totalitäre Glaubens, Rechts und Politiksystem des Politischen Islams auf der Grundlage der Scharia in Deutschland Stück für Stück durchzusetzen. Stürzenberger schrieb ferner am 17. Mai auf "PI-News": Der Islam ist ein totales und totalitäres System. Er ist nicht nur Religion, sondern auch Politik. Er ist eine Politreligion mit Überlegenheits und Herrschaftsanspruch. Allah ist der oberste Gesetzgeber, und seine Gesetze sind im Koran und damit in der Scharia enthalten. Und im Koran ruft Allah einerseits zu Toleranz und Frieden auf, andererseits verspricht er den jenigen, die mit Gewalt gegen die Ungläubigen kämpfen, das Paradies. Darauf stützt sich der islamische Terrorismus. In einem Redebeitrag während einer Kundgebung am 10. September in München deutete Stürzenberger auch den terroristischen Anschlag während der Olympischen Spiele am 5. September 1972 in den ersten Anschlag des "Politischen Islam" um. Aus einem am 22. Oktober auf YouTube veröffentlichten VerForderung nach Veranstaltungsvideo ergibt sich seine Auffassung, der "Politische bot des "Politischen Islam ist all das, was im Gesamtkonstrukt Islam orientiert ist". Islam" Überdies benennt er die "größte gesellschaftliche Aufgabe des 21. Jahrhunderts" im Verbot des "Politischen Islam", um "ihn aus dem Leben hier in Europa rauszubringen". Stürzenberger forderte dieses Verbot des "Politischen Islam" auch bei einer BPE-Kundgebung am 2. Juli in Nürnberg. 271 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit Instrumentalisierung Im Russland-Ukraine-Krieg positionierte sich Stürzenberger des Ukrainekrieges deutlich russlandkritisch. Vor dem Hintergrund des ukrainischen Abwehrkampfes gegen die russischen Streitkräfte warnte er in einem Facebook-Beitrag vom 10. März vor einem aus seiner Sicht drohenden Freiheitskampf der Deutschen im eigenen Land - in diesem Fall gegen eine angebliche muslimische "Übermacht": Diesen Freiheitskampf werden wir in einigen Jahrzehnten möglicherweise auch führen müs sen, wenn es gleiche AnnektionsAnsprüche von einer anderen Seite gibt, die dann einen beträchtlichen Bestandteil an der Gesellschaft in unserem Land haben wird. Durch diese Parallele zum ukrainischen Freiheitskampf versucht er seinen eigenen islamfeindlichen Bestrebungen Legitimität zu verschaffen. Die Reaktionen in den Kommentaren zu Stürzenbergers Beitrag waren tief gespalten. Während ihm ein Teil der Leserschaft zustimmt, lehnten andere seine Positionen vehement ab. 272 Verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 273 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus Linksextremismus " Mobilisierung gegen den G7-Gipfel in Elmau bleibt hinter den Ankündigungen deutlich zurück " Szene distanziert sich überwiegend vom russischen Angriff auf die Ukraine - Verantwortung für Eskalation wird auch der NATO und westlichen Staaten zugeschoben " Versuche der Einflussnahme auf Klimaschutzbewegungen bislang erfolglos 274 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Ziel der linksextremistischen Szene ist es, die durch das Grundgesetz vorgegebene Staatsund Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen und - je nach ideologisch-politischer Orientierung - durch eine sozialistische, kommunistische oder eine "herrschaftsfreie" Gesellschaft zu ersetzen. Die linksextremistischen Vorstellungen richten sich insbesondere gegen durch das Grundgesetz garantierte Grundrechte, die parlamentarische Demokratie, die Gewaltenteilung, die Volkssouveränität, das Rechtsstaatsprinzip und den Pluralismus. Die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland wird als "kapitalistisches System" und als Wurzel des Faschismus diffamiert und soll abgeschafft werden. In der linksextremistischen Szene bilden Autonome den weitaus größten Teil des gewaltbereiten Personenpotenzials. Autonome haben zwar keine einheitliche Ideologie, Ziel aller Autonomen ist es aber, den Staat und seine Einrichtungen zu zerschlagen. Neben Sachbeschädigungen wenden Autonome auch Gewalt gegen Personen - vor allem gegen tatsächliche oder vermeintliche Angehörige der rechtsextremistischen Szene und Polizeikräfte - an, um ihre Vorstellungen durchzusetzen. 275 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus Die Szene besetzt dabei auch Themen, die an sich nicht extremistisch sind. Ihr Ziel ist es dabei aber in erster Linie, ihre linksextremistischen politischen Positionen zu verbreiten. Hierzu werden vor allem aktuelle, gesellschaftlich relevante Themen wie Klimaund Umweltschutz oder Migration aufgegriffen. So werden seit Beginn des Russland-Ukraine-Krieges die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen auf Deutschland thematisiert und der Kontakt zu bürgerlich-demokratischen Organisationen gesucht, um die Akzeptanz der eigenen antidemokratischen Standpunkte zu erhöhen. 276 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 1. PERSONENPOTENZIAL IN BAYERN 2020 2021 2022 Parteien und Vereinigungen Partei DIE LINKE. 850 850 850 offen extremistische Strukturen DKP 290 280 270 MLPD (mit REBELL) 120 120 140 SDAJ 110 110 110 Rote Hilfe 700 900 1.100 Sonstige Gruppierungen 1,2 530 1.090 360 Autonome /Anarchisten 2 720 730 8102 Summe 4.010 4.080 3.640 Mehrfachzählungen 3 410 380 440 Gesamtzahl 3.600 3.700 3.200 Gewaltorientierte Personen 800 830 880 von der Gesamtzahl4 Die Zahlenangaben sind geschätzt und gerundet. 1 Exklusive VVN-BdA (Einstellung der Beobachtung) 2 Ab 2022 Zuordnung Anarchisten geändert 3 Die Mehrfachmitgliedschaften im Bereich der Parteien und sonstigen Zusammenschlüsse werden vom Gesamtpotenzial abgezogen. 4 Dazu zählen gewalttätige, gewaltbereite, Gewalt unterstützende und Gewalt befürwortende Personen. 2. MILITANZUND GEWALTPOTENZIAL Innerhalb der linksextremistischen Szene ist der größte Gewalt als Teil des gewaltbereiten Personenpotenzials autonomen "Lifestyle" Gruppierungen zuzurechnen. Sie sind für die meisten linksextremistisch motivierten Gewalttaten verantwortlich, die vor allem bei Demonstrationen gegen den politischen Gegner verübt werden. Ziel dieser überwiegend jungen Akteure ist es, den Staat und seine Einrichtungen - auch mit Gewalt - zu zerschlagen und eine "herrschaftsfreie" Gesellschaft zu errichten. Mit diffusen anarchistischen, kommunistischen und sozialrevolutionären Ideologiefragmenten schaffen sich Autonome einen vermeintlichen Legitimationsrahmen für ihre Militanz. Gewalttaten werden als notwendiges Mittel dargestellt, um 277 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus sich gegen die angebliche "strukturelle Gewalt" des politischen Systems zu wehren. Viele Autonome erleben die Ausübung von Massenmilitanz als sinnstiftende Erfahrung. Gewalt wird zum Ausdruck eines Lebensgefühls. Formen und Ausmaß der Gewaltanwendung sind regelmäßig Gegenstand von Diskussionen in der autonomen Szene. Seit Längerem ist zudem auch in der anarchistischen Szene eine zunehmende Radikalisierung und Hinwendung zur Gewalt feststellbar, die sich besonders gegen die öffentliche Infrastruktur richtet. Initialisierende Eine Möglichkeit, auf Demonstrationen Gewalt auszuüben, ist Gewalt/ der sogenannte "Schwarze Block", bei dem sich militante, zum Schwarzer Block Schutz vor polizeilicher Identifizierung häufig einheitlich schwarz gekleidete Personen oder Gruppierungen geplant zur situativen Anwendung von Gewalt zusammenschließen. Autonome nutzen aber ebenso Demonstrationen anderer - nichtextremistischer - Akteure, um der Veranstaltung eine militante und aggressive Atmosphäre aufzuzwingen und hinter der Deckung friedlicher Demonstrierender Gewalttaten zu begehen sowie andere dazu aufzustacheln (initialisierende Gewalt). Konspirativ geplante Neben der situationsabhängigen Massenmilitanz verüben Straftaten Angehörige der linksextremistischen Szene immer häufiger konspirativ geplante Straftaten wie Brandanschläge, zu denen im Nachgang auf einschlägigen Internetportalen oftmals anonyme Selbstbezichtigungsschreiben veröffentlicht werden. Ziel solcher Anschläge sind vor allem Unternehmen der Rüstungsindustrie und die Deutsche Bahn, die im Rahmen von "Anti-Militarismus"Kampagnen im Fokus der gewaltbereiten linksextremistischen Szene stehen. Angehörige der linksextremistischen Szene sprechen Andersdenkenden die ihnen in gleichem Maße zustehenden Grundrechte, wie zum Beispiel die Meinungsoder Versammlungsfreiheit, ab. Als Konsequenz akzeptieren sie nicht, dass die Polizei auch bei Demonstrationen von politisch Andersdenkenden, insbesondere des rechten bis rechtsextremistischen Spektrums, zur Gewährleistung des grundgesetzlich geschützten Versammlungsrechtes eingesetzt werden muss. Den Ablauf ihrer Aktionen machen linksextremistische Aktivistinnen und Aktivisten vor allem von ihrem Kräfteverhältnis gegenüber der Polizei abhängig. 278 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Aktivitäten gegen staatliche Repräsentanten und Unternehmen Das Aggressionspotenzial der autonomen Szene ist seit Jahren Konfrontative Gewalt hoch. Autonome Linksextremisten suchen vor allem bei Demonstrationen, aber auch bei anderen Anlässen gewaltsame Auseinandersetzungen (konfrontative Gewalt). Sie richten ihre Gewalttaten hauptsächlich gegen Personen, die tatsächlich oder vermeintlich der rechtsextremistischen Szene zuzurechnen sind sowie gegen Angehörige der Polizei, aber auch gegen Unternehmen, die sie als "Profiteure des Systems" begreifen. Angehörige der linksextremistischen Szene betrachten Polizeikräfte generell als Repräsentanten eines staatlichen "Repressionsorgans". Sie versuchen zunehmend, die gesellschaftliche Akzeptanz der Polizei als staatliche Institution sowie der einzelnen Polizeikräfte, insbesondere bei der Ausübung polizeilicher Befugnisse, zu untergraben. Jegliche polizeilichen Kontrollen dienen ihnen als Vorwand, ihre "Freiräume" auch gewaltsam zu verteidigen. Die Hemmschwelle, auch schwere Straftaten zu begehen, ist Sinkende deutlich gesunken. Zudem werden linksextremistische Straftaten Hemmschwelle auch gewalttätiger und persönlicher: Sie richten sich vermehrt gezielt gegen Personen, die von der Szene aufgrund ihrer politischen Ausrichtung oder auch ihres Berufs als "Feind" identifiziert werden. Im Gegensatz zu früher findet szeneintern nahezu keine Diskussion mehr über die Vermittelbarkeit von Gewalttaten statt: Dies deutet auf eine größere Gewaltakzeptanz innerhalb der linksextremistischen Szene insgesamt hin und birgt die Gefahr, dass bislang gewahrte Grenzen überschritten werden. Dies zeigt sich vor allem in der zunehmenden Verrohung der Sprache. Linksextremistische Gruppierungen nutzen bei der Benennung vermeintlicher "Feinde" häufig eine abwertende und entmenschlichende Diktion: Sie bezeichnen z. B. Polizeikräfte als "Bullen" beziehungsweise "Bullenschweine" und verbreiten Parolen wie "ACAB - All Cops Are Bastards" oder "ACAT - All Cops Are Targets". Bereits im Jahr 1970 wurden Polizisten von der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof als "Bullen" und "Schweine" verunglimpft. Diese Bezeichnung hat sich im Szenejargon etabliert. Die verbale Radikalisierung der linksextremistischen Szene ist Verbale seit Längerem zu beobachten. Dabei spielen auch SzenepublikaRadikalisierung tionen eine erhebliche Rolle. Linksextremistische Publikationen wie der "Zündlappen", der Online-Nachfolger der zwischenzeitlich eingestellten anarchistischen Zeitung "ZündIumpen" aus München, rufen immer wieder zur Begehung von Straftaten 279 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus auf. Dabei nehmen sie die Schädigung von Leib und Leben anderer Menschen nicht nur billigend in Kauf, sondern begrüßen diese ausdrücklich. Auch Beiträge auf dem linksextremistischen Internetportal "de.indymedia.org" relativieren linksextremistische Gewalt beziehungsweise fordern diese ein. "Direkte Aktion" Auch 2022 setzte sich in der Landeshauptstadt München eine linksextremistisch motivierte Straftatenserie fort. Anders als in den Vorjahren erfolgen Tatbekennungen aber nur noch selten. Damit können Straftaten, wie z. B. die Brandstiftung an acht Dienstfahrzeugen der Bundespolizei in der Nacht auf den 22. Juni in München oder der ebenfalls in München verübte Brandanschlag auf Baufahrzeuge und Glasfaserkabel am 25. Juli, nicht eindeutig als linksextremistisch motiviert eingestuft werden. Zielauswahl und Vorgehensweise lassen bei diesen Straftaten jedoch auf einen linksextremistischen Hintergrund schließen. Möglicherweise erachtet die Szene die Bekennung zu einer von ihr verübten Tat als nicht mehr zwingend notwendig, wenn die Tat durch Zielauswahl und Begehungsweise bereits für sich spricht ("Direkte Aktion"). Straftaten gegen Insbesondere die Diskussion über steigende Mieten und Gentrifizierung Umstrukturierungsprozesse in Großstädten nutzen vor allem autonome Teile der linksextremistischen Szene als Vorwand, um unter dem Stichwort "Antigentrifizierung" Straftaten zu verüben. Unternehmen der Bauund Immobilienbranche werden von der linksextremistischen Szene als "Profiteure" der Gentrifizierung angesehen und deshalb attackiert. 280 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 2.1 Neue Ziele und Entgrenzung Iinksextremistischer Gewalt Linksextremistische Agitation und Übergriffe richten sich vermehrt auch gegen Einzelpersonen, die z. B. aufgrund von Äußerungen, Berufszugehörigkeit oder der Teilnahme an einer Veranstaltung gezielt angegriffen werden. Auch Presseangehörige stehen im Fokus Iinksextremistischer Gewalttäter, ebenso wie Personen, die sich von der Szene losgesagt haben. Am 8. September 2021 begann am Oberlandesgericht in Prozess gegen Dresden der Prozess gegen 4 mutmaßliche Mitglieder eines Lina E. linksextremen Netzwerks, darunter die in Haft sitzende Studentin Lina E. Ende Juni sagte einer der Angeklagten als Kronzeuge aus. Dieser war zuvor wegen des Vorwurfs, sexuelle Übergriffe begangen zu haben, im Frühjahr geoutet und aus der linksextremistischen Szene ausgeschlossen worden. In Folge seiner Aussagen kam es zu mehreren Durchsuchungen in der linksextremistischen Szene. Die linksextremistische Szene in Nürnberg reagierte auf den Bedrohung des Prozess mit Graffiti, die u. a. "Freiheit für Lina E." reklamieren. Kronzeugen Ein entsprechendes Video wurde im Internet veröffentlicht. Eines der Graffiti fordert zudem "9mm für 31er". Die 9 Millimeter beziehen sich auf den Durchmesser von Patronen. Bei der Bezeichnung "31er" handelt es sich vermutlich um eine Anspielung auf Paragraf 31 des Betäubungsmittelgesetzes. Dieser ermöglicht für Tatbeteiligte eine Strafmilderung, wenn diese eine Aussage machen. In der Szene wird "31er" häufig als Synonym für "Verräter" verwendet. Die Forderung "9mm für 31er"kann somit als Morddrohung gegen den Kronzeugen verstanden werden. 2.2 Aktivitäten in Zusammenhang mit dem G7-Gipfel Vom 26. bis 28. Juni fand das Gipfeltreffen der G7-Staaten, wie bereits im Jahr 2015, auf Schloss Elmau im Landkreis Garmisch-Partenkirchen statt. Wie in 2015 koordinierte die Aktionsplattform "Stop G7 Elmau" als zentraler Akteur die Vernetzung der Proteste. An der Aktionsplattform beteiligten sich neben zahlreichen demokratischen Organisationen auch linksextremistische Akteure, 281 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus darunter auch gewaltorientierte. So bot die linksextremistische "Rote Hilfe e. V." (RH) für den Zeitraum der Proteste einen "Ermittlungsausschuss" an und schulte im Vorfeld potenziell gewaltbereite Protestteilnehmerinnen und -teilnehmer in ihrem Auftreten gegenüber der Polizei. Aufgabe der Ermittlungsausschüsse war es, im Fall einer Verhaftung bereits vor Ort den Betroffenen Rechtsbeistand zu leisten mit dem Ziel, jegliche Kooperation mit der Polizei zu verweigern. Auch die Aktionsplattform veröffentlichte auf ihrer Webseite entsprechende Informationen der RH. Mobilisierung im Vorfeld des Gipfels Im Vorfeld der Proteste führte "Stop G7 Elmau" vom 6. bis 27. Juni eine bundesweite Mobilisierungstour unter dem Motto "Für das Leben... Statt G7 - 2022" in 16 deutschen Städten durch. Die linksextremistische Szene versuchte zudem, mit eigenen Aktionen für die Proteste zu mobilisieren: So befestigten Szeneangehörige am Morgen des 6. Juni ein circa 12 x 6 Meter großes Banner mit der Aufschrift: "Klima retten - Imperialismus Bekämpfen - G7 stoppen" an einem Baukran im Münchener Stadtteil Neuperlach. Mit einem gleichnamigen Flyer rief die linksextremistische "Perspektive Kommunismus" (PK) zur Teilnahme an den Protesten gegen den G7-Gipfel auf. Brandstiftung an Unmittelbar vor Beginn des G7-Gipfels wurden in der Nacht Polizei-KfZ vom 21. auf den 22. Juni in München 8 vor einem Hotel abgestellte Einsatzfahrzeuge der Bundespolizei durch Brandstiftung beschädigt beziehungsweise zerstört. Der hierdurch entstandene Sachschaden liegt im sechsstelligen Bereich. In Presseberichten distanzierte sich ein Vertreter der Aktionsplattform "Stop G7 Elmau" von der Aktion. Die anarchistische Webseite "Zündlappen" berichtete am 28. Juni über den Brandanschlag und kritisierte die Aktionsplattform für ihre Distanzierung. 282 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auf "de.indymedia.org" wurde am Abend des 23. Juni ein Beitrag mit dem Titel "G7 in Bayern - Darf's ein bisschen Militanz sein?" veröffentlicht. Darin forderten die Autoren unverhohlen zu Gewalt bei den Protesten gegen den G7-Gipfel auf und stellten den G20-Gipfel 2017 in Hamburg als Vorbild heraus. Der Beitrag endet mit dem Aufruf: Bringt Eure Ideen am Samstag konstruktiv ein und lasst uns der Weißwurst-Idylle zeigen, dass jeder G7-Gipfel in Zukunft ein Desaster werden wird. Fight G 7 -- Egal wo, egal wann, und egal wieviele Bullen das System aufbietet. (Fehler aus dem Original übernommen) Im Zusammenhang mit Farbbeutelwürfen auf das Gebäude eines Versicherungsunternehmens in München in der Nacht vom 25. auf den 26. Juni wurde auf dem linksextremistischen Internetportal "de.indymedia.org" ein Selbstbezichtigungsschreiben veröffentlicht. Das Schreiben endet mit den Worten: Obwohl die Bullen auch München für das Wochenende zur Festung gemacht haben, wollten wir es uns nicht nehmen lassen, das deutsche Kapital hinter der G7 mitten in München anzugreifen. Fight G7 in jedem Land! Protestgeschehen während des Gipfels Neben einer zivilgesellschaftlich organisierten Demonstration am 25. Juni in München sowie einer weiteren am Folgetag in Garmisch-Partenkirchen sah die Protestchoreografie auch ein 283 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus Camp in Garmisch-Partenkirchen und einen Sternmarsch zum Abschluss der Proteste vor. Für den Zeitraum vom 26. bis 28. Juni wurden 2 Dauerkundgebungen gegen den G7-Gipfel in Garmisch-Partenkirchen und Mittenwald angemeldet. Erstmals wurden dabei am 28. Juni etwa 50 Aktivistinnen und Aktivisten von der Polizei in den äußeren Sicherheitsbereich eskortiert, um in Sichtweite von Schloss Elmau zu protestieren. An der für den 25. Juni von nichtextremistischen zivilgesellschaftlichen Gruppen ohne die Beteiligung der Aktionsplattform "Stop G7 Elmau" organisierten Großdemonstration in München nahmen statt der erwarteten 20.000 in der Spitze nur 4.000 Personen teil. Während der Demonstration bildeten circa 300 Personen einen "Antikapitalistischen Block", der im Demonstrationszug deutlich Präsenz zeigte. Als gegen Ende der Versammlung 1 Person verhaftet wurde, kam es auf der Münchener Theresienwiese seitens des "Schwarzen Blocks" zu Ausschreitungen und Angriffen auf Polizeibeamte. Insgesamt verlief die Demonstration jedoch friedlich. Abschließend bedankte sich der Moderator der Abschlusskundgebung explizit beim "Antikapitalistischen Block" für die Teilnahme an der Demonstration. Ferner forderte er dazu auf, sich mit den Aktivistinnen und Aktivisten zu solidarisieren und diese gegenüber der Polizei abzuschirmen. Am 26. Juni veranstaltete die Aktionsplattform "Stop G7 Elmau" ihre Großdemonstration in Garmisch-Partenkirchen mit circa 900 Personen, von denen sich etwa 250 zu einem "Schwarzen Block" zusammenschlossen. Außerdem bildete sich ein augenscheinlich "kommunistischer" Block, in dem zahlreiche rote Fahnen einschlägiger linksextremistischer Organisationen und Parteien wie zum Beispiel der "Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands" und deren Jugendorganisation "REBELL", der "Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend" und der "Deutschen Kommunistischen Partei" gezeigt wurden. Die Demonstration verlief ohne Zwischenfälle. In den frühen Morgenstunden des 28. Juni demonstrierten Angehörige einer international agierenden Klimaschutzbewegung vor der Münchener Niederlassung eines US-amerikanischen Investmentunternehmens. Sie entrollten am Dach des Gebäudes ein Banner, das sich gegen den G7-Gipfel richtete und zündeten einen Rauchkörper. An diesem Punkt schritt die Polizei ein und hielt 1 Person kurzzeitig zur Identitätsfeststellung fest. An der Demonstration nahmen auch Angehörige des linksextremistischen Spektrums und 1 Sprecherin der Aktionsplattform "Stop G7-Elmau" teil. 284 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 2.3 Strafund Gewalttaten Straftaten mit extremistischem Hintergrund aus dem Bereich "Politisch motivierte Kriminalität - links" 2020 2021 2022 Politisch motivierte Gewaltdelikte Tötungsdelikte (auch Versuch) 0 0 1 Körperverletzung 13 13 21 Brandund Sprengstoffdelikte 12 13 6 Landfriedensbruch 3 0 1 Raub 1 1 1 Widerstandsdelikte 1 9 10 Gef. Eingriff in Bahn-, Schiffs32 10 2 und Luftverkehr Sonstige Gewalttaten 0 1 0 Gesamt 62 47 42 Vorbereitung einer schweren staats- 0 1 0 gefährdenden Gewalttat/Terrorismus Sonstige Straftaten Sachbeschädigungen 479 326 267 Propagandadelikte1 26 14 5 Nötigung/Bedrohung 11 5 9 Sonstige Straftaten 127 2 78 2 413 Gesamt 643 423 322 Straftaten insgesamt 705 471 364 1 Bis 2018 unter "sonstige Straftaten" erfasst, separate Ausweisung seit 2019 2 Darunter 1 Volksverhetzungsdelikt 3 Darunter 3 Volksverhetzungsdelikte und 2 Delikte der Bildung krimineller Vereinigungen. Die Gesamtzahl linksextremistischer Straftaten in Bayern ist in 2022 deutlich gesunken. Während im Jahr 2021 noch insgesamt 471 Straftaten zu verzeichnen waren, wurden 2022 insgesamt 364 Straftaten gezählt. Nach wie vor stellen Sachbeschädigungen mit 267 Delikten den Großteil der Straftaten dar. 285 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus Auch die Zahl der linksextremistischen Gewalttaten in Bayern ging 2022 auf nunmehr 42 Delikte weiter zurück (2021: 47 Delikte). Allerdings war auch 1 versuchtes Tötungsdelikt zu verzeichnen. Die Zahl der Brandund Sprengstoffdelikte war mit 6 Delikten im Vergleich zum Vorjahr (2021: 13) rückläufig. Wie in 2021 wurde die Mehrzahl dieser Delikte (4) im Großraum München begangen, es handelte sich in 3 Fällen um direkte bzw. mittelbare Angriffe auf die Infrastruktur. In einem Fall wurden mehrere Einsatzfahrzeuge in Brand gesetzt. Rückläufig waren auch die gefährlichen Eingriffe in den Bahn-, Schiffs-, Luftund Straßenverkehr mit nunmehr 2 Delikten (2021: 10). 3. EINFLUSSNAHME AUF BÜRGERLICHE KAMPAGNEN Die linksextremistische Szene beteiligt sich seit jeher auch an nichtextremistischen Veranstaltungen oder Initiativen. Diese Taktik ermöglicht es, den eigenen Protest auf eine größere Bühne zu tragen und mehr Menschen über die eigene Kernklientel hinaus zu erreichen. Szeneangehörige versuchen, Einfluss auf Veranstaltungen oder Initiativen auszuüben, indem sie ihre verfassungsfeindlichen Ideologien und Ziele in den Protest mit einfließen lassen. Letztendlich sollen ihre extremistischen Überzeugungen und Ziele in der Bevölkerung politisch anschlussfähig werden. Gleichzeitig werben sie dabei um neue Mitglieder. Politisch interessierte Menschen werden eingeladen, an eigenen Veranstaltungen oder Treffen teilzunehmen, und so an die linksextremistische Szene herangeführt. Von besonderem Interesse sind dabei Themen, die in der Gesellschaft virulent sind, eine Vielzahl von Menschen betreffen und gleichzeitig Ansatzpunkte für das "Andocken" ihrer linksextremistischen Forderungen eröffnen. Engagement im Seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass sich einige linksexKlimaschutz tremistische Gruppen verstärkt im Bereich Klimaund Umweltschutz engagieren. In ihrer Rhetorik verbinden sie den Protest gegen den Klimawandel regelmäßig mit dem "Kampf" gegen vermeintlich "herrschende Klassen" oder gegen die "Umweltpolitik der herrschenden Klassen". Den Klimaprotest verklären sie ebenfalls im kämpferisch aggressiven Duktus zu einem "Klimakampf" und fordern einen "Systemwandel statt Klimawandel". Damit wird deutlich, dass für die linksextremistische Szene der Einsatz für Klimaschutz untrennbar mit der Bekämpfung des freiheitlich-demokratischen Staates verbunden ist. 286 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die Szene bezeichnet die Protestformen zivilgesellschaftlicher Klimaschutzgruppen als politisch wirkungslos und fordert diese stattdessen zum Einsatz von Gewalt als legitimes Mittel im politischen Kampf auf. Dies entspricht der linksextremistischen Ideologie, die das Gewaltmonopol des demokratischen Rechtsstaates auf eine Ebene mit dem eines autokratischen Unrechtsstaates stellt. Bei der linksextremistisch beeinflussten Klimaschutzkampagne "Ende Gelände" und "Ende Gelände" nehmen Szeneangehörige eine tragende Rolle "Interventionistische ein. "Ende Gelände" trat erstmals 2014 im Rahmen der Proteste Linke" gegen den Braunkohleabbau in Erscheinung. Die Kampagne setzt sich aus verschiedenen Organisationen des demokratischen sowie des linksextremistischen Spektrums zusammen. Ein maßgeblicher extremistischer Akteur des Bündnisses ist die Gruppierung "Interventionistische Linke" (IL). Sie übernimmt innerhalb der Kampagne eine strategisch führende Position und fungiert als koordinierendes sowie aktionsinitiierendes Bindeglied zwischen demokratischen und linksextremistischen Organisationen. Die IL sieht den Kapitalismus und den dahinterstehenden Staat als Ursache des Klimawandels. Sie propagiert, dass es sich hierbei um eine systembedingte Krise handle und eine Lösung innerhalb des Systems nicht möglich sei. Deshalb richtet sich ihr "Kampf für Klimaschutz" vor allem auch gegen Unternehmen, den Staat und das politische System an sich. Auch auf die überwiegend von Schülerinnen und Schülern demoBeeinflussungskratisch getragene Umweltund Klimabewegung "Fridays for versuche bei Future" (FFF) versuchen Angehörige der linksextremistischen "Fridays for Future" Szene Einfluss zu nehmen. So zeigen einige Gruppierungen des linksextremistischen Spektrums bei verschiedenen Veranstaltungen u. a. mit Transparenten oder Infoständen Präsenz. Die linksextremistische Szene hat schnell das Mobilisierungspotenzial der "Fridays for Future"-Bewegung oder der Bewegung "Letzte Generation" (LG; vormals "Aufstand der letzten Generation") erkannt. Sie nutzt die Sorgen der überwiegend jugendlichen Angehörigen der Klimaschutzbewegung vor den Folgen des Klimawandels als "Türöffner", um gegen das "kapitalistische System" als vermeintliche Ursache des Klimawandels zu hetzen. Mit Slogans wie "Capitalism will never be green" oder "Klima retten, Kapitalismus entsorgen" wollen sie die Bewegung politisieren und ihre eigene antikapitalistische und antistaatliche Ideologie einfließen lassen. Diese Bemühungen blieben jedoch bislang erfolglos. Weder die LG noch FFF sind Beobachtungsobjekte des Verfassungsschutzes. 287 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus Situation in Bayern In Bayern unterhält die Klimakampagne "Ende Gelände" Ortsgruppen in Augsburg, Bamberg, Erlangen, München, Nürnberg, Passau, Regensburg und Würzburg. Diese organisieren lokale Informationsveranstaltungen und Aktionstrainings für bundesweit beworbene Kampagnen, z. B. gegen den Braunkohletagebau oder den Bau von LNG-Terminals. Auch die bayerische linksextremistische Szene erkennt in der Klimabewegung ein immenses Potenzial. Außer bei einzelnen eigenen Aktionen ist es ihr jedoch nicht gelungen, dieses Themenfeld für sich zu nutzen. An den aktuellen Aktionen von Klimaschützern, wie z. B. dem Ankleben ("gluing") auf Straßen oder dem Anketten an Pipelines, sind nur vereinzelt Linksextremisten beteiligt. Ein steuernder oder gar prägender Einfluss der linksextremistischen Szene konnte bisher nicht festgestellt werden. 4. IDEOLOGISCHE WURZELN DES LINKSEXTREMISMUS Ideologisch greifen die zwei Hauptströmungen des Linksextremismus, der Kommunismus und der Anarchismus, im Wesentlichen auf den französischen Ökonomen und Soziologen PierreJoseph Proudhon (1809-1865) zurück. Proudhon stellte im Kontext der Ausbeutung der Arbeiterschaft während der industriellen Revolution 1840 in seinem gleichnamigen Werk die Frage: "Was ist Eigentum?" Seine Antwort auf diese Frage ist noch heute weltbekannt: "Eigentum ist Diebstahl." Proudhons Ziel war eine herrschaftsfreie, dezentral organisierte Gesellschaft, in der jeder nur das besitzt, was er durch eigene oder kollektive Arbeit hergestellt oder durch Tausch erworben hat. Die Lehren von Karl Marx und Michail Bakunin, den Vordenkern des Marxismus beziehungsweise des Anarchismus, wurden maßgeblich durch die Ideen Proudhons beeinflusst. Marxismus Die Lehren von Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) sind die ideologische Grundlage für das Denken und Handeln weiter Teile des linksextremistischen Spektrums. Das gesamte politische, geistige und kulturelle Leben einer Gesellschaft wird demnach durch die ökonomischen Strukturen, insbesondere die Produktionsweise, bestimmt. Die marxistische Lehre ist sowohl wissenschaftliche Theorie als auch praktisch-politische Handlungsanleitung für die Revolution. 288 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Ihr zufolge vollzieht sich die Menschheitsgeschichte in gesetzmäßigen Entwicklungsstufen. Dem Endziel der geschichtlichen Entwicklung, der im Kommunismus realisierten klassenlosen Gesellschaft, geht die revolutionäre Überwindung des kapitalistischen Systems voraus. Im Kapitalismus stehen sich die ausbeutende Klasse der bürgerlichen Kapitalisten - die Eigentümer an den Produktionsmitteln - und die ausgebeutete Klasse der Arbeiterschaft - die sogenannten "Proletarier" - gegenüber. Der durch die Arbeiterschaft erzeugte Mehrwert eines erstellten Produktes geht als "Profit" nach der marxistischen Lehre in das Eigentum der Kapitalisten über und führt so zu Lohndruck, Verarmung und schließlich Verelendung des Proletariats. Die Folgen sind Klassenkämpfe, die in eine Revolution und schließlich in die Diktatur des Proletariats münden, mit dem Endziel einer kommunistischen Gesellschaft. Das Menschenbild des Marxismus ist ein grundsätzlich anderes als das des Grundgesetzes. Im Mittelpunkt steht nicht das Individuum mit seinen garantierten Rechten, sondern die Arbeiterklasse. Nach dieser Sichtweise ist es zulässig, Grundund Menschenrechte zugunsten des sozialistischen Kollektivs und einer kommunistischen Zielsetzung zu relativieren oder gar außer Kraft zu setzen. Marxismus-Leninismus Der Marxismus-Leninismus war die offizielle Weltanschauung der früheren Sowjetunion. Er basiert auf den Lehren von Marx und Engels (Marxismus), die von Wladimir I. Lenin (1870-1924) zur Staatsdoktrin der Sowjetunion und für den von ihm propagierten internationalen Klassenkampf weiterentwickelt wurden. Auch nach marxistisch-leninistischer Auffassung muss der Kapitalismus bekämpft werden. Das höchste Stadium des Kapitalismus sah Lenin im "Imperialismus". Demnach trachte der Kapitalismus in ausbeuterischer Weise danach, seinen Machtund Einflussbereich auf andere Staaten auszudehnen, was zwangsläufig zu Kriegen führe. Dem Kapitalismus müsse also eine neue Gesellschaft folgen: der Sozialismus. Den Sozialismus betrachtete Lenin wiederum als Vorstufe des Kommunismus. Mit dem Marxismus-Leninismus gehe zwangsläufig eine revolutionäre Umwälzung einher. Allerdings verfügt die Arbeiterklasse Lenin zufolge nicht über das notwendige politisch-revolutionäre Bewusstsein, um diese Zusammenhänge zu erkennen. Dieses müsse durch eine Kaderpartei aus Berufsrevolutionären (Avantgardeanspruch der kommunistischen Partei) vermittelt werden. 289 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus In dieser Elitenpartei sind gemäß dem Grundsatz des "demokratischen Zentralismus" keine abweichenden Meinungen zu Parteibeschlüssen durch Fraktionen oder innerparteiliche Strömungen erlaubt. Vor allem für marxistisch-leninistische Kaderparteien wie die "Deutsche Kommunistische Partei" (DKP) spielt der MarxismusLeninismus nach wie vor eine große Rolle. Stalinismus Stalinismus ist Josef W. Stalins (1878-1953) theoretische Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus zum diktatorischbürokratischen Herrschaftssystem der Sowjetunion. Entgegen der marxistischen Annahme, dass zum Sieg des Proletariats über das Bürgertum ("Bourgeoisie") eine gemeinsame Revolution der "Proletarier aller Länder" notwendig sei, ging Stalin davon aus, dass der Sozialismus unter der Führung der Sowjetunion vorbildhaft zuerst dort realisiert werden müsse. Mit dem von Stalin betriebenen Aufund Umbau der Sowjetunion zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung wurden u. a. die "stalinistischen Säuberungen" legitimiert, denen Millionen Menschen zum Opfer fielen. In Deutschland berufen sich die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) und der "Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD" (AB) u. a. auf die Ideen Stalins. Trotzkismus Das auf Leo Trotzki (1879-1940) zurückgehende Modell des Sozialismus ist keine in sich geschlossene, eigenständige Lehre, sondern eine Abwandlung des Marxismus-Leninismus. Sie entstand vor allem aus der Opposition von Trotzki zu Stalin. Wesentliche Elemente sind die Theorie der "permanenten Revolution", der Glaube an die Weltrevolution (im Unterschied zu Stalins "Sozialismus in einem Land"), das Ziel der Errichtung einer "Diktatur des Proletariats" in Form einer Rätedemokratie und das Festhalten am "proletarischen Internationalismus". Die charakteristische Vorgehensweise trotzkistischer Vereinigungen ist der Entrismus. Dahinter steht die Strategie, gezielt in andere Organisationen einzudringen und Einfluss auf deren politische Entscheidungen zu nehmen. So wird ihre eigene Ideologie über die unterwanderte Organisation verbreitet. 290 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Maoismus Unter der Führung von Mao Tse-tung (1893-1976) wurde in China nach dem kommunistischen Sieg 1949 der MarxismusLeninismus in einer von Sowjetrussland abweichenden Weise interpretiert und als kommunistische Ideologie weiterentwickelt. Der Maoismus sieht in China die ländliche Bevölkerung und nicht die städtische Arbeiterschaft als Träger des politischen Umsturzes. Die Weltrevolution sollte in einem Staat der Dritten Welt durch einen Guerillakrieg bäuerlicher Partisanen ausgelöst werden. In einer Serie politischer Kampagnen ("Kulturrevolution") versuchte Mao Tse-tung, die chinesische Gesellschaft zu den revolutionären Zielen der Partei zu erziehen. Der ideologische Terror und die damit verbundenen "Säuberungsaktionen" forderten Millionen Tote. Die Ideen Maos waren Vorbild für große Teile der 1968erBewegung, vor allem der in Westeuropa entstandenen "Neuen Linken" (sogenannte "K-Gruppen"). Heute bekennt sich lediglich die "Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands" (MLPD) öffentlich zu Mao Tse-tung. Anarchismus In Teilen der linksextremistischen Szene erfährt vor allem der Anarchismus aktuell eine Renaissance. Zum Anarchismus werden Ordnungsvorstellungen und Bestrebungen gerechnet, die auf die Abschaffung jeglicher Herrschaft von "Menschen über Menschen" abzielen. Das Feindbild aller, im Detail unterschiedlich ausgerichteter, anarchistischer Strömungen ist der Staat. Er gilt im anarchistischen Verständnis als repressive Zwangsinstanz, die zugunsten einer herrschaftsfreien Gesellschaft aufgelöst und zerschlagen werden müsse. Einer der bekanntesten Vordenker des Anarchismus ist Michail Kollektivistischer Alexandrowitsch Bakunin (1814-1876), ein russischer RevoluAnarchismus tionär und Anarchist, der in Westeuropa lebte und von dort aus weltweit wirkte. Bakunin strebte nach einer herrschaftsfreien, dezentral organisierten Gesellschaft. Er gilt als der wichtigste Vertreter eines kollektivistischen Anarchismus. Freie Individuen, die die Freiheit des Einzelnen achten, sollten sich demnach in einem Kollektiv zu einer sozial gleichen Gesellschaft zusammenfinden. Zur Umsetzung seiner Ideale setzte Bakunin auf gewaltsame Revolutionen. Aus den Ideen Bakunins entwickelte sich Ende des 19. Jahrhundert der sogenannte "Anarcho-Syndikalismus", ein System, in dem Gewerkschaften die Arbeiterschaft unabhängig von Staat oder Industriellen dezentral verwalten. 291 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die bundesweit aktive "FAU", die "Freie Arbeiterinnenund Arbeiter-Union". Mit Beginn des Ersten Weltkrieges, der kommunistischen Revolution in Russland, dem Aufstieg des Faschismus in Italien sowie während des Zweiten Weltkrieges verlor der Anarchismus zunehmend an Bedeutung. Als historisch prägend gilt jedoch der "kurze Sommer der Anarchie", als im Spanischen Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 anarchistische Vorstellungen teilweise und regional für kurze Zeit verwirklicht werden konnten. Einen zwischenzeitlichen Aufschwung erlebte der Anarchismus im Rahmen der "68er"-Studentenbewegung, die sich in ihrer Forderung nach totaler Freiheit auch auf anarchistische Ideen berief. Individualistischer Eine weitere Strömung des Anarchismus stellt der individualisAnarchismus tische Anarchismus dar, welcher aktuell in Teilen der linksextremistischen Szene an Zuspruch zu gewinnen scheint. Hier steht der einzelne Mensch mit seiner absoluten Freiheit, "zu tun und zu lassen, was er möchte", im Zentrum des politischen Denkens. Individueller Egoismus wird dabei offensiv bejaht, auch wenn dieser zu Lasten anderer geht. Als bedeutendster Vordenker gilt im deutschsprachigen Raum Johan Caspar Schmidt (1809 bis 1856), der vor allem unter dem Pseudonym "Max Stirner" publizierte. Der individualistische Anarchismus steht sozialistischen wie kommunistischen Lehren beziehungsweise Gesellschaftsentwürfen rivalisierend bis feindselig gegenüber. Aus anarchistischer Perspektive bringen diese Ansätze lediglich sozialistische Staatsgebilde hervor, die, ebenso wie der bürgerliche Staat, die Freiheit des Einzelnen ungerechtfertigter Weise einschränkten. Verhältnis zur Gewalt Die Haltung von Anarchisten zur Gewalt ist ambivalent. Je nach Aufständischer Vordenker lassen sich unterschiedliche Ausrichtungen feststelAnarchismus/ len. Heute werden Anarchisten vor allem mit Attentaten im Insurrektionalismus 19. Jahrhundert auf Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Verbindung gebracht. Vertreter eines heutigen "aufständischen Anarchismus" ("Insurrektionalismus", von lateinisch "sich gegen etwas erheben") betrachten sich selbst als revolutionärkämpferische Avantgarde. "Aufständischer Anarchismus" umfasst eine gegen den Staat gerichtete Aktionsform, deren Strategie auf dem Prinzip des permanenten Angriffes sowie der Befeuerung von Klassenkonflikten basiert. Hier steht zudem der einzelne Mensch mit seinem Willen und seiner Handlungsfreiheit im Zentrum des politischen 292 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Denkens. Individueller Egoismus wird dabei positiv bewertet, auch wenn sich hieraus Nachteile und Einschränkungen für andere ergeben können. "Aufständische Anarchisten" sind daher auch bereit, Straftaten zu begehen und Gewalt anzuwenden. Eine weitere Strömung des Anarchismus ist der sogenannte Grüner "grüne Anarchismus" oder auch "Anarcho-Primitivismus", der Anarchismus/ insbesondere im Kontext der Klimaschutzdebatte innerhalb der Anarcholinksextremistischen Szene zunehmend an Zuspruch erfährt. So Primitivismus veröffentlichte die anarchistische Internetplattform "Maschinenstürmer Distro" im Februar die Essaysammlung "Wildpunk - Schwarz gegen Zivilisation", die dezidiert fortschrittsund technologiefeindliche Essays mit deutlich antizivilisatorischen und anarcho-primitivistischen Vorstellungen enthielt. Der "Anarcho-Primitivismus" Zerstörung der basiert auf der Annahme, Zivilisation dass sämtliche gesellschaftliche Zusammenhänge unweigerlich zur Bildung von Hierarchien führen. Hieraus ergebe sich ein untrennbarer Zusammenhang zwischen Zivilisation und Herrschaft, sodass eine herrschaftsfreie Gesellschaft allein durch die Zerstörung der Zivilisation erreicht werden könne. Insbesondere der technische Fortschritt wirke sich negativ auf die Menschheit aus, da dieser angeblich Entfremdungstendenzen "befeuere". Anarcho-primitivistische Strömungen fordern daher die Abkehr vom technologischen Fortschritt und propagieren eine Rückbesinnung auf das "einfache Leben", um sämtlichen Herrschaftsstrukturen die Machtbasis zu entziehen. Aus dieser Motivation heraus erfolgte Anfang August ein Anschlag auf ein Forschungsinstitut in Martinsried bei München, ein entsprechendes Selbstbezichtigungsschreiben wurde auf dem linksextremistischen Internetportal "de.indymedia.org" veröffentlicht. 293 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus 5. LINKSEXTREMISTISCHE THEMENFELDER Um ihre politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen durchzusetzen, engagieren sich Angehörige der linksextremistischen Szene in verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Themenfeldern. Typische linksextremistische Aktionsfelder sind: - Antikapitalismus, - Antiimperialismus, - Antirepression, - Antifaschismus und Antirassismus, - Antigentrifizierung, - Antimilitarismus, - Antiglobalisierung, - Klimakrise. Die Themenfelder sind eng miteinander verbunden. Zentraler Punkt linksextremistischer Agitation ist der Antikapitalismus. Von ihm lässt sich auf die Mehrzahl der anderen Themenfelder schließen, so z. B. auf die Gentrifizierung, die nach Ansicht der linksextremistischen Szene allein aus kapitalistischen Beweggründen hervorgerufen werde. Auch Imperialismus, Militarismus oder Globalisierung hätten, linksextremistischen Argumentationen folgend, ihren Ursprung im Profitund Expansionsdrang des Kapitalismus. Aktionen der linksextremistischen Szene, mit denen der Staat, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder der politische Gegner bekämpft werden sollen, finden situationsangepasst statt. Die einzelnen Themen dienen mitunter auch der Legitimation von Gewalttaten. Antikapitalismus Linksextremistischer Antikapitalismus will im Gegensatz zur Kapitalismuskritik nicht nur Defizite am Wirtschaftssystem benennen und Reformvorschläge entwickeln, sondern mit dem Wirtschaftssystem auch Staat und Gesellschaft vollständig umwälzen. "Kapitalismus" und "kapitalistische Systeme" sind nach linksextremistischer Auffassung die wesentlichen Ursachen für Faschismus, Rechtsextremismus, Imperialismus, Umweltzerstörung und Krieg. Für Linksextremisten stellt "Kapitalismus" somit nicht nur eine bloße Wirtschaftsordnung dar, vielmehr wird er gleichgesetzt mit der Gesamtheit staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen in einer parlamentarischen Demokratie. 294 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Ob anarchistisch oder kommunistisch: Linksextremistischer Antikapitalismus hat aufgrund dieser Grundannahmen immer die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie als sogenannte "bürgerliche Herrschaftsform" zum Ziel. Antikapitalismus ist fundamental für linksextremistische Agitation. Der Kapitalismus wird in der Szene als Kernproblem angesehen. Folglich finden sich antikapitalistische Argumente auch in anderen, szenetypischen Themenfeldern. So stellt der Antikapitalismus beispielsweise auch einen zentralen Ausgangspunkt für technologieund fortschrittsfeindliche sowie anarchistischantizivilisatorische Ideologiestränge dar. Antiimperialismus Die linksextremistische Szene unterstellt dem kapitalistischen System, "imperialistisch" zu sein und profitmaximierend zu handeln. Staaten und deren Armeen unterstützten dieses, um "schwächere" Staaten und Völker zu unterdrücken und auszubeuten. Der kapitalistische "Imperialismus" gilt in der Szene als Hauptursache für bewaffnete Konflikte. Daher steht linksextremistischer Antiimperialismus auch immer in einem antikapitalistischen Kontext. So bewertet die linksextremistische Szene den RusslandUkraine-Krieg als logische Konsequenz einer Zuspitzung der imperialistischen Widersprüche zwischen den NATO-Staaten und Russland. Teile der linksextremistischen Szene vertreten die Auffassung, die NATO trage durch ihre Osterweiterung die Verantwortung für den Krieg, da sie Russland - im Sinne der imperialistischen Staatenkonkurrenz - zum Einmarsch in die Ukraine genötigt habe. Beim G 7-Gipfel wurde den teilnehmenden Staaten Imperialismus gegenüber dem globalen Süden vorgeworfen. Aus ihrem antiimperialistischen Weltbild entwickelt sich bei Linksextremistischer Angehörigen der linksextremistischen Szene häufig auch ein Antizionismus Antizionismus - die Ablehnung des Staates Israel und dessen Innenund Außenpolitik. Israel stellt in diesem Zusammenhang für einige Szeneangehörige eine Art "Brückenkopf" der USA im Nahen Osten dar, um den Kapitalismus immer weiter auszudehnen. Zudem verurteilen Teile der linksextremistischen Szene den Umgang Israels mit den Palästinensern: Israel wird dabei vorgeworfen, sich im Rahmen des Nahost-Konflikts vom Opfer des Nationalsozialismus zum Täter gewandelt zu haben (sogenannte Täter-Opfer-Umkehr). In ihrer Kritik solidarisieren sich viele Angehörige der linksextremistischen Szene mit den Palästinensern und rufen zum "Kampf" gegen Israel und die USA auf. 295 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus Im Raum Augsburg stellte die Polizei im Zeitraum vom November 2020 bis Ende 2021 mehrere antisemitische und antizionistische Graffiti ("Israel stell dich!", "Zionisten ins Gulag") fest. Ende Juli erfolgte die Verhaftung eines mutmaßlichen Täters, seine Wohnung wurde durchsucht. Der Polizei war er auf Demonstrationen im linksextremistischen Kontext zu "Pro Palästina - Contra Zionismus" aufgefallen. Im August solidarisierte sich das linksextremistische "Offene Antifa Treffen Augsburg" (OATA) mit dem Beschuldigten und relativierte die Vorwürfe. Das OATA betrachtet den mutmaßlichen Täter als ein Opfer "kapitalistischer Klassenjustiz". Antirepression Mit dem Begriff der "Repression" versuchen Autonome, jegliche Form rechtsstaatlichen Handelns, wie z. B. die Durchsetzung geltender Gesetze, zu diskreditieren. Dies gilt insbesondere für die staatliche Überwachung und Strafverfolgung linksextremistischer Aktionen. So lehnen Autonome polizeiliche Maßnahmen gegen gewalttätige Personen aus dem linksextremistischen Spektrum ab und versuchen, mit Solidaritätskampagnen eine breite Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu beeinflussen und das Vertrauen in den Rechtsstaat zu untergraben. Gleichzeitig mobilisieren sie auf diese Weise die linksextremistische Szene und rechtfertigen ihr militantes Vorgehen. Antifaschismus und Antirassismus Ablehnung der Die linksextremistische Szene nutzt den breiten gesellschaftparlamentarischen lichen Konsens gegen den Rechtsextremismus für ihre politischen Demokratie Ziele, die weit über die Bekämpfung des Rechtsextremismus hinausreichen. Antifaschismus im linksextremistischen Sinn beinhaltet auch die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie. Ursprünglich bezog sich der Begriff "Antifaschismus" auf die inneritalienische Opposition gegen die Herrschaft Mussolinis. Die Wurzeln des deutschen Antifaschismus liegen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Neben dem bürgerlich-liberal geprägten Antifaschismus, der für die Erhaltung beziehungsweise Wiederherstellung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eintrat, entwickelte sich ein kommunistisch orientierter, als linksextremistisch einzustufender Antifaschismus. Der linksextremistische Antifaschismus wertet alle nicht marxistischen Systeme als potenziell faschistisch ab oder betrachtet sie als eine Vorstufe zum Faschismus. Dementsprechend wird die bürgerliche Gesellschaftsordnung, die auf Kapitalismus, Parlamentarismus und Rechtsstaatsprinzipien aufbaut, als die eigentliche Ursache 296 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 von Faschismus, Rassismus und Rechtsextremismus diffamiert. Der Antirassismus, der insbesondere im Zusammenhang mit der Asylthematik einen linksextremistischen Agitationsschwerpunkt bildet, steht im unmittelbaren Zusammenhang mit den Themenfeldern Antifaschismus und Antikapitalismus. Der Linksextremismus begreift marktwirtschaftlich verfasste Staaten als Systeme, die zwangsläufig Rassismus hervorrufen und legitimieren. Gewaltorientierte linksextremistische Autonome nutzen den Antifaschismus seit Jahren zur Mobilisierung. Sie ziehen den Antifaschismus zudem zur Legitimierung ihrer militanten Aktionen gegen Staat und Polizei heran und behaupten, dass diese Strukturen insbesondere Personen aus dem rechtsextremistischen Spektrum schützten. Dabei suchen Autonome auch den Schulterschluss mit demokratischen Bündnissen und Initiativen. Linksextremistische Parteien und Organisationen streben durch eine gezielte Einflussnahme die Übernahme von Leitungsund Steuerungsfunktionen in antifaschistischen Initiativen an. Insbesondere aus der kommunistischen Bewegung entstandene Organisationen nutzen den Kampf des kommunistischen Widerstands gegen Hitler und dessen Verfolgung zur Zeit des deutschen Nationalsozialismus, um ihren Führungsanspruch im antifaschistischen Spektrum zu legitimieren. Antifaschismus ist nicht generell linksextremistisch. Es kommt vielmehr darauf an, wie der "Faschismus"-Begriff ausgelegt wird und welche Forderungen sich aus dem hieraus resultierenden Selbstverständnis als "antifaschistisch" ergeben. Die zentrale Frage dabei lautet: Richtet sich die Ablehnung nur gegen Rechtsextremismus oder richtet sie sich gegen die Normen und Regeln eines demokratischen Verfassungsstaates? Linksextremistische Antifaschisten diffamieren jegliches Handeln staatlicher Organe - unabhängig von ihrem Anlass, ihrer gesetzlichen Legitimation und ihren rechtsstaatlichen Abläufen - als Ausdruck eines mehr oder minder offen zur Schau getragenen, "strukturellen" Rassismus. Antigentrifizierung Mit dem Thema "Antigentrifizierung" versuchen Angehörige der linksextremistischen Szene, ihre eigenen Interessen in eine aktuelle stadtund gesellschaftspolitische Diskussion einzubetten und damit für größere Bevölkerungskreise politisch anschlussfähig zu werden. Der Begriff "Gentrifizierung" bezeichnet soziale Umstrukturierungsprozesse in Stadtteilen, die zu 297 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus steigenden Mieten und somit auch zu einer Verdrängung der angestammten Bevölkerung führen. Insbesondere in Großstädten ist dieses Thema in den letzten Jahren zunehmend virulent. Es bilden sich Initiativen, die in aller Regel von demokratischen Kräften getragen werden. Angehörige der linksextremistischen Szene versuchen, sich diesen Initiativen anzuschließen beziehungsweise im gleichen Themenfeld eigene Aktionsformen anzubieten. Ziel ist, sich als sozialpolitische Akteure zu profilieren und somit an gesamtgesellschaftlicher Akzeptanz zu gewinnen. Gewaltbereite Szeneangehörige setzen im Zusammenhang mit dem Themenfeld Antigentrifizierung auch auf gewalttätige Aktionen: Insbesondere in der Immobilienbranche tätige Personen werden von ihnen als Mitverantwortliche für die "Gentrifizierung" und damit als Feindbild wahrgenommen. Büros und Fuhrparks von Immobilienfirmen sind immer wieder Ziel militanter Attacken aus der linksextremistischen Szene. Antimilitarismus Seit dem Beginn des Russland-Ukraine-Krieges hat das Schlagwort "Antimilitarismus" in der linksextremistischen Szene stark an Bedeutung gewonnen. Insbesondere Rüstungsunternehmen, die Bundeswehr sowie politische Parteien und Entscheidungsträger rücken derzeit verstärkt in den Fokus gewaltorientierter Linksextremisten. Vor dem Hintergrund der spürbaren Verunsicherung der Bevölkerung aufgrund einer militärischen Konfrontation in Europa bemüht sich die Szene verstärkt, Antimilitarismus als Schwerpunktthema öffentlichkeitswirksam zu besetzen und mit ihren eigenen extremistischen Forderungen aufzuladen. Der Militarismustheorie von Karl Liebknecht zufolge dient das Militär dazu, kapitalistische Expansionsbestrebungen gegenüber anderen Staaten durchzusetzen und im eigenen Land den Kapitalismus und dessen "Ausbeutungsstrukturen" zu stabilisieren. Dieses Gedankengut lebt in der linksextremistischen Szene weiter. Szeneangehörige sind daher immer wieder auch in pazifistischen Initiativen und Bündnissen aktiv, um dort ihre Ideologie zu verbreiten. Im Gegensatz zum zivilgesellschaftlichen Pazifismus geht es im linksextremistischen Antimilitarismus nicht nur um die Abschaffung des Militärs, sondern darüber hinaus um die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie. Münchner Wie auch bereits in den vergangenen Jahren demonstrierten Teile Sicherheitskonferenz der linksextremistischen Szene Mitte Februar - noch vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine - gegen die 58. Münchner Sicherheitskonferenz. Auf ihren Plakaten und Transparenten forderten sie z. B. "Abrüsten statt Aufrüsten" und "Friedenspolitik 298 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 statt Kriegshysterie". In ihren Redebeiträgen riefen die Protestierenden dazu auf, den "Kriegskurs der Nato-Staaten" zu stoppen. Eine von Russland thematisierte, angeblich bevorstehende NATO-Osterweiterung sowie Waffenlieferungen an die Ukraine lehnten die Demonstrierenden ab. Am 24. Februar erfolgte der russische Angriff auf die Ukraine. Nach Beginn des russischen Angriffs solidarisierte sich der Solidarisierung mit größte Teil der linksextremistischen Szene mit der Ukraine und Ukraine dem ukrainischen Volk, das als Opfer eines russischen "imperialistischen" Angriffskrieges betrachtet wird. Doch auch der EU, den USA beziehungsweise der NATO wird häufig eine (Mit-) Verantwortung für den Krieg zugeschrieben. Das Narrativ, die NATO-Osterweiterung sei die geopolitische Ursache für den russischen Überfall, wird auch von vielen linksextremistischen Organisationen verbreitet, z. B. von der Nürnberger Gruppierung "Organisierte Autonomie" oder dem "Antifaschistischen Aufbau München". Antiglobalisierung Angehörige der linksextremistischen Szene lehnen grundsätzlich Nationalstaaten und deren Grenzen ab. Sie kritisieren aber auch die Globalisierung, da diese ihrer Ansicht nach einen rein wirtschaftlichen Prozess darstelle, der von den "starken" Industrienationen vorangetrieben werde, um die "schwachen" Schwellenund Entwicklungsländer weiter ausbeuten zu können. Dementsprechend wurde der linksextremistische Protest gegen den G7-Gipfel in Elmau immer wieder zum Protest gegen "die imperialistische Ausbeutung lateinamerikanischer und afrikanischer Staaten durch die G7 und gegen ihre Rolle als globaler Motor kapitalistischer Klimazerstörung" stilisiert. 299 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus Klimakrise Die linksextremistische Szene beteiligt sich seit jeher auch an nichtextremistischen Veranstaltungen oder Initiativen. Diese Taktik ermöglicht es der linksextremistischen Szene, den eigenen Protest auf eine größere Bühne zu tragen und mehr Menschen über ihre eigene Kernklientel hinaus zu erreichen und für ihre extremistischen Botschaften empfänglicher zu machen. Ein maßgeblicher linksextremistischer Akteur in diesem Bereich ist die "Interventionistische Linke" (IL). Die IL nimmt innerhalb der linksextremistisch beeinflussten Kampagne "Ende Gelände" eine strategisch führende Rolle ein und fungiert als koordinierendes sowie aktionsinitiierendes Bindeglied zwischen demokratischen und linksextremistischen Organisationen. Ende Gelände verDie Kampagne "Ende Gelände" veranstaltete vom 9. bis 15. Auanstaltet "System gust ein "Klimagerechtigkeitscamp" in Hamburg, das als "System Change Camp" Change Camp" beworben wurde. Dabei fanden sogenannte "Massenaktionen zivilen Ungehorsams" statt. Die Teilnehmer des Klimacamps setzten sich überwiegend aus verschiedenen klimaaktivistischen Bündnissen zusammen, an denen sich mitunter auch linksextremistische Gruppierungen beteiligen. Innerhalb des Camps wurden zahlreiche Workshops angeboten, u. a. zu den Themen "Dekolonisation" und "sichere Häfen", die auf einen Einfluss der IL schließen lassen. Der Camp-Name "System Change Camp" verdeutlicht, dass es den Veranstaltern nicht nur um legitimen Klimaprotest, sondern ebenso um eine Überwindung des bestehenden politischen Systems geht. 300 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Für das Camp wurde auch innerhalb der linksextremistischen Szene in Bayern mobilisiert. In Regensburg fand ein Aktionstraining statt. Entgegen der erwarteten 4.000-6.000 Personen nahmen in der Spitze nur circa 2.300 Personen am "System Change Camp" teil, davon 60-70 Personen aus Bayern. Aktuell engagieren sich auch einige lokale linksextremistische Gruppen in Bayern verstärkt im Bereich Klimaund Umweltschutz. In Nürnberg betrifft dies vor allem die "Organisierte Autonomie" (OA). In München versuchen diverse Gruppierungen der autonomen "Antifaschistischen Linken München", z. B. das "Antikapitalistische Klimatreffen München", sich aktiv in die Proteste für den Klimaschutz einzubringen. In ihrer Rhetorik verbinden sie den Protest gegen den Klimawandel regelmäßig mit dem "Kampf" gegen die vermeintlich "herrschende Klasse". Den Klimaprotest verklären sie dabei im kämpferisch aggressiven Duktus zu einem "Klimakampf" und fordern einen "Systemwandel statt Klimawandel". Damit wird deutlich, dass für Linksextremisten der Einsatz für den Klimaschutz untrennbar mit der Bekämpfung des freiheitlich-demokratischen Staates verbunden ist. 6. INTERNET UND MEDIEN 6.1 Linksextremistische Agitation im Internet Angehörige der linksextremistischen Szene nutzen zur Kampagnenarbeit und zur Vernetzung soziale Medien wie Facebook, Instagram oder Twitter, in denen sie zentrale Themen in offenen und geschlossenen Foren oder Blogs diskutieren. Nach dem Verbot der linksextremistischen InternetplattVerbot von form "linksunten.indymedia" im Jahr 2017 trat das Portal "linksunten. "de.indymedia.org" dessen Nachfolge an und hat sich inzwiindymedia" schen als Leitmedium der Szene etabliert. Die linksextremistische Szene unterhält mittlerweile mehrere Spiegelseiten dieses Portals, um bei einem erneuten Verbot kommunikationsfähig zu bleiben. Lokale linksextremistische Szenen, wie z. B. in Nürnberg, nutzen seit Jahren zudem Portale, die im örtlichen Kontext informationsbestimmend und meinungsführend sind. So unterhält die Ende 2021 gegründete linksextremistische "Antifaschistische Aktion Süd" mit dem seit Juni eingerichteten Portal "antifa-info.net" 301 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus ein eigenes Internetportalportal, welches über Aktivitäten der Mitgliedorganisationen in Süddeutschland berichtet. Inwieweit das Portal innerhalb der linksextremistischen Szene an Relevanz gewinnt, bleibt abzuwarten. Der Einsatz von Verschlüsselungs-Software erschwert grundsätzlich die Identifizierung der Urheber von Internetbeiträgen. Viele Internetseiten werden zudem auf anonymen ausländischen Servern betrieben. Da diese nur schwer zu identifizieren sind und nicht dem deutschen Recht unterliegen, können Straftaten nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen verfolgt werden. Um die Urheber zu ermitteln, sind deutsche Behörden auf die Zusammenarbeit mit den zuständigen ausländischen Stellen angewiesen. Bedingt durch die Einschränkungen der CoronaPandemie haben das Internet und Soziale Medien für die linksextremistische Szene weiter an Bedeutung gewonnen. Zu Werbezwecken werden auch Mobilisierungsvideos ("Mobivideos" oder "Mobis"), meist kurze Clips, erstellt, die Szeneangehörige bei erfolgreichen Aktionen, auf Demonstrationen oder beim Anbringen von Graffiti zeigen. Die Videos sind mit szenetypischer Musik unterlegt. Sie werden auf Videoplattformen wie YouTube oder Vimeo veröffentlicht und bei Veranstaltungsaufrufen verlinkt. Das Format soll vor allem junge Menschen ansprechen, politisieren und zum Mitmachen animieren. Über das Internet führen linksextremistische Gruppierungen auch sogenannte "Outings" tatsächlicher oder vermeintlicher rechtsextremistischer Personen durch. Sie machen dazu teilweise umfangreiche Recherchen mit Bildmaterial und persönlichen Daten der Öffentlichkeit zugänglich. Im Vorfeld der Bundestagswahl 2021 waren besonders Parteimitglieder der "Alternative für Deutschland" (AfD) von derartigen Übergriffen betroffen. Die Partei ist im Rahmen des "antifaschistischen Kampfes" regelmäßiges Angriffsziel linksextremistischer Agitation. Vor allem Messenger-Dienste wie WhatsApp oder Telegram ermöglichen es, innerhalb der linksextremistischen Szene schnellstmöglich zu informieren, zu mobilisieren und Aktionen zu koordinieren. So halten Szeneangehörige auf Demonstrationen mit Handys untereinander Kontakt und werden teils durch eigens eingesetzte "Moderatoren" gesteuert. Über animierte Landkartendienste bleibt die eigene Demonstrationsroute, die des politischen Gegners sowie ggf. auch die polizeiliche Taktik zur Bewältigung des Demonstrationsgeschehens abrufbar. Ebenso werden die Standorte von Unternehmen veröffentlicht, die als "Profiteure des Systems" gelten. 302 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 6.2 Linksextremistische Szenepublikationen Die linksextremistische Szene informiert und kommuniziert inzwischen verstärkt mittels sozialer Netzwerke beziehungsweise entsprechenden Internetportalen. Druckwerke und Periodika sind nur noch von nachgelagerter Bedeutung. Linksextremistische Zeitungen finden in Online-Formaten, die auf eigenen Internetseiten erscheinen, eine weitaus größere Verbreitung als zuvor die Printausgaben. Diese Entwicklung wurde durch die Corona-Pandemie noch verstärkt. In gedruckter Form erscheinen linksextremistische Zeitungen fast nur noch im Rahmen von Propaganda-Aktionen. Für den szeneinternen Informationsfluss sind Druckformate nahezu bedeutungslos geworden, zumal die eher junge linksextremistische Klientel meist über Smartphones kommuniziert. Allerdings bestehen die Webseiten linksextremistischer Kampagnen, Gruppen und Organisationen häufig nur für einen kurzen Zeitraum. Die über mehrere Jahre in München verlegte anarchistische Wochenzeitung "Zündlumpen" wurde im September 2021 eingestellt. Bereits in den Monaten zuvor war die Zeitung nur noch digital verfügbar. Seit Januar 2022 ist ersatzweise die anarchistische Zeitung "Zündlappen" als Nachfolgepublikation auf einer eigenen Webseite online abrufbar. Der Internetauftritt weist in Design, Aufbau, Diktion und Inhalt direkte Bezüge zur Vorgängerpublikation "Zündlumpen" auf. Auch die zuvor im "Zündlumpen" gezeigte Militanz setzt sich in den bisher erschienenen Ausgaben des "Zündlappens" fort. Obwohl die Autoren des "Zündlappens" zu Beginn eine Printauflage ankündigten, ist die Publikation bisher nur in digitaler Form vorhanden. Ihre mediale Wirkung in der linksextremistischen Szene ist bisher jedoch nicht mit der des Zündlumpens vergleichbar. Der Wechsel von Printhin zu Online-Medien hat in der linksextremistischen Szene eine Vielzahl von Akteuren und Kampagnen hervorgebracht, die jedoch selten in der Lage sind, ihre Zielgruppe dauerhaft an sich zu binden. Letztendlich scheint das professionelle Auftreten, wie es im Internet vor allen von den Redaktionen klassischer linksextremistischer Zeitungen geleistet wird, den kampagnengestützten Aktivismus einzelner Gruppen zu überlagern. Es ist daher zu erwarten, dass sich linksextremistische Printmedien zukünftig auf Internetauftritte beschränken werden, während zugleich eine Vielzahl von kurzlebigen linksextremistischen Kampagnen in den sozialen Netzwerken versuchen werden, Aufmerksamkeit zu erregen. 303 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus 7. LINKSEXTREMISTISCHE PARTEIEN UND VEREINIGUNGEN 7.1 Offen extremistische Strukturen in der Partei DIE LINKE Innerhalb der Partei "DIE LINKE." gibt es mehrere offen extremistische Strukturen, die auf eine Überwindung der freiheitlichen Staatsund Gesellschaftsordnung abzielen. Sie stellen teilweise die parlamentarische Demokratie infrage, sprechen der rechtsstaatlichen Ordnung die Legitimation ab oder unterhalten Kontakte zu gewaltorientierten Autonomen. Diese offen extremistischen Untergliederungen versuchen, auf die Partei "DIE LINKE." Einfluss zu nehmen. In Bayern sind folgende Strukturen präsent und aktiv: 7.1.1 Linksjugend ['solid] Landesverband Bayern Die Mitglieder der 1999 gegründeten "Linksjugend ['solid]" bezeichnen sich in ihrem Programm selbst als "SozialistInnen, KommunistInnen, AnarchistInnen". Sie beziehen sich darin "positiv auf die emanzipatorischen Traditionen des Kommunismus". Das Programm sieht die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln vor und befürwortet jegliche Projekte jenseits des Kapitalismus. Die "Linksjugend ['solid]" ist überregional aktiv und verfügt über mehrere Ortsgruppen in ganz Bayern, die sich an Aktionen zu verschiedenen Themen beteiligen. Bedingt durch die CoronaPandemie kam es zu einem Rückgang der öffentlich wahrnehmbaren Proteste. Am 28. Januar führte die "Linksjugend ['solid]" Erlangen eine Kundgebung zum Thema "Gegen den Radikalenerlass damals wie heute" durch, an der circa 100 Personen teilnahmen, darunter auch Angehörige der "Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend" (SDAJ) Nürnberg. 7.1.2 DIE LINKE. Sozialistisch-demokratischer Studierendenverband (DIE LINKE.SDS) - Landesverband Bayern Der 2007 gegründete Studierendenverband "DIE LINKE.SDS" ist laut Statut eine "Arbeitsgemeinschaft mit Sonderstatus der 'Linksjugend ['solid]' mit eigener Mitgliedschaft und Organisation". "DIE LINKE.SDS" orientiert sich ideologisch an der Lehre von 304 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Marx und plädiert in ihrem Selbstverständnis für Außerparlamentarismus, Systemüberwindung und die Zusammenarbeit mit anderen Linksextremisten. Der Landesverband Bayern von "DIE LINKE.SDS" wurde am 30. Januar 2010 in Regensburg gegründet und verfügt über Ortsgruppen in Augsburg, Bamberg, Bayreuth, Coburg, Eichstätt, Erlangen-Nürnberg, München und Würzburg. In Bayreuth fanden sowohl am 18. Dezember 2021 als auch am 26. März sogenannte "Knastkundgebungen" wegen eines dort inhaftierten Nürnberger Linksextremisten statt. An den Solidaritätsdemonstrationen beteiligte sich "DIE LINKE.SDS" Bayreuth und trat u. a. neben der "Rote Hilfe Nürnberg/Fürth/Erlangen" und der "Organisierten Autonomie" aus Nürnberg mit einem Redebeitrag in Erscheinung. Am 15. Juli veranstaltete "DIE LINKE.SDS" Bayreuth eine Kundgebung "Bayreuth gegen rechte Gewalt!", auf der "rechte Umtriebe auf Querdenkerdemos, faschistische Schmierereien und Angriffe auf Personen" thematisiert wurden. Darüber hinaus initiierte sie am 25. Juli zusammen mit der örtlichen Antifa die Demonstration "Der Trip der Walküren". Die Protestaktion richtete sich gegen die zeitgleich stattfindenden Bayreuther Festspiele. Auf den verschiedenen Zwischenkundgebungen traten Referenten von "DIE LINKE.SDS" Bayreuth, "Linksjugend ['solid]" Fürth sowie den Nürnberger "Prolos" auf. 7.2 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und Umfeld 7.2.1 DKP Deutschland Bayern Mitglieder 2.850 1 270 Vorsitzende/r Patrik Köbele - Gründung 1968 - Sitz Essen Nürnberg und München Publikationen Unsere Zeit (UZ) Auf Draht Marxistische Blätter 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 305 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus Die DKP ist eine kommunistische Partei, die sich in einer Linie mit der 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD) sieht. Sie bekennt sich zum Marxismus-Leninismus und hat laut Parteiprogramm die Einführung des "Sozialismus/Kommunismus" zum Ziel. Die bundesweit organisierte Partei war bis 1989/1990 von der "Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" (SED) abhängig. Dem Bundesverband sind Bezirksorganisationen nachgeordnet, die weiter in Kreisund Grundorganisationen oder auch Betriebsgruppen untergliedert sind. In Bayern existieren zwei Bezirksorganisationen (Nordund Südbayern). Legitimierung des Die DKP fordert den Austritt aus der NATO und lehnt das russischen AngriffsSanierungsprogramm der Bundesregierung für die Bundeswehr krieges ab. Diese Punkte bekräftigte der Parteivorsitzende Patrik Köbele auf dem 24. Parteitag der DKP am 22. Mai in einer OnlineKonferenz. Dabei stellte sich die DKP klar auf die Seite Russlands und legitimierte den Angriff Russlands auf die Ukraine wie folgt: Das Ziel der früheren Einkreisungspolitik der NATO gegenüber Russland liegt aus meiner Sicht heute deutlicher auf dem Tisch. Und die NATO sieht im Krieg offensichtlich die Chance es schneller zu erreichen. Das Ziel ist und war es wohl bereits vor dem russischen Angriff Russland zu einem Vasallenstaat, zu einer Halb kolonie zu machen und damit den Weg Richtung China frei zu machen und die VR China gleich zeitig zu isolieren. Am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine veranstalteten die DKP München, DKP Bayern und die SDAJ einen Video-Livestream mit dem Titel "Was ist los in der Ostukraine" für die Tageszeitung "jungeWelt", an dem sich auch der Parteivorsitzende Köbele beteiligte. Am 29. März brachten Unbekannte Schriften der DKP an Fahrzeugen im Münchner Osten an. Die Pkws befanden sich in der Nähe eines bekannten Münchner Konzerns für Sicherheitstechnik und Rüstungsgüter. Bei den verteilten DKP-Publikationen handelte es sich neben einer "Friedens-Info - Zur Lage in der Ukraine", auch um die Zeitung der Münchner Ortsgruppe "Auf Draht". Beide Schriften stellen sich in dem aktuellen Krieg auf die Seite Russlands und rechtfertigen ihn als Verteidigungshandlung gegen eine angebliche ukrainische Aggression. Hierzu heißt es in einer weiteren "Friedens-Info - Nein zum Krieg!": 306 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die NATOOsterweiterung hat Russland zuneh mend bedroht und immer weiter in die Ecke getrieben. Diplomatie wurde verweigert... Wir bleiben dabei: der Aggressor ist die NATO. Sie muss gestoppt werden. Unser Hauptfeind ist der deutsche Imperialismus, er will den Sprung zur Großmacht vollenden. 7.2.2 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) Deutschland Bayern Mitglieder 6701 110 Vorsitzende/r Andrea Hornung Tom Talsky Gründung 1968 1999 Sitz Essen München, Nürnberg und Würzburg Publikationen POSITION - 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 Die SDAJ ist ihrer Selbstdarstellung zufolge eine "bundesweite Organisation von Jugendlichen, die sich mit den Zuständen in Schulen, Betrieben, in dieser Republik und der 'Neuen Weltordnung' nicht abfinden" will. Im Zukunftspapier der marxistischleninistisch ausgerichteten Organisation heißt es: Alle unsere Forderungen richten sich gegen die Herrschenden in dieser Gesellschaft, gegen die Kapitalisten. Verwirklichen können wir sie nur in einer Gesellschaft ohne Kapitalisten - im Sozia lismus. Die SDAJ, vormals Jugendorganisation der DKP, ist nun eine eigenständige Organisation. Sie pflegt aber weiterhin enge Kontakte zur DKP. Gewalt in der politischen Auseinandersetzung schließt die SDAJ nicht aus. Das wird in ihrer ideologischen "Grundlagenschule" deutlich, die die SDAJ im Internet verbreitet: 307 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus Als Faustregel kann gelten, dass die legalen Kampfformen voll ausgenutzt werden sollten, gleichzeitig aber auch die Vorbereitung auf die Anwendung illegaler Kampfformen stattfinden sollte. Verschiedene Ortsgruppen der SDAJ beteiligten sich anlässlich der Proteste gegen den G7-Gipfel sowohl an der im Vorfeld durchgeführten Großdemonstration am 25. Juni in München als auch am 26. Juni am Protestgeschehen in Garmisch-Partenkirchen. Dort erklärte die SDAJ: Es geht also nicht darum, hierherzukommen und die Menschen um ihre Solidarität zu bitten, sondern sie aufzufordern ihre Arbeit zu machen. Unsere Arbeit, ist der Kampf gegen den deutschen Imperialismus. In Bayern existieren Ortsgruppen der SDAJ in Augsburg, Bamberg, München, Neumarkt, Nürnberg und Würzburg. 7.3 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) Deutschland Bayern Mitglieder 2.800 1 120 Vorsitzende/r Gabi Fechtner Emil Bauer (Sprecher) Gründung 1982 2008 Sitz Gelsenkirchen Nürnberg Publikationen Rote Fahne (Zentralorgan); REVOLUTIONÄRER WEG (Theorieorgan); REBELL (Jugendmagazin); Galileo - streitbare Wissenschaft (Zeitung der MLPD-Hochschulgruppen) 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 308 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die zentralistisch geführte MLPD ist eine kommunistische Kaderpartei, die Sozialismus im Sinne des Stalinismus und des Maoismus anstrebt. Ihr grundlegendes Ziel ist der revolutionäre Sturz der Diktatur des Mono polkapitals und die Errichtung der Diktatur des Proletariats für den Aufbau des Sozialismus als Übergangsstadium zur klassenlosen kommunis tischen Gesellschaft. In einem Interview mit der Tageszeitung DIE WELT erklärte die MLPD-Vorsitzende Gabi Fechtner: Die Monopole werden nach allen geschicht lichen Erfahrungen versuchen, ihre Macht mit brutaler Gewalt aufrechtzuerhalten. Deshalb muss sich die Arbeiterklasse unter Führung ihrer Partei gegebenenfalls zum bewaffneten Aufstand erheben. Die MLPD verurteilte als einzige linksextremistische Organisation bereits am 24. Februar den russischen Überfall auf die Ukraine und rief bundesweit zu Protesten auf. Anlässlich ihres 40-jährigen Bestehens beantwortete die Vorsitzende der MLPD, Gabi Fechtner, in einem Interview die Frage, ob es nicht Wichtigeres gäbe, als 40 Jahre MLPD zu feiern, wie folgt: Im Gegenteil, das passt sogar wunderbar in die Landschaft. Die Massen kommen angesichts der Phase der beschleunigten Destabilisierung des imperialistischen Weltsystems zunehmend in Widerspruch dazu. Denn wenn es seine Politik so weitertreibt, führt das in einen Dritten Welt krieg. Aber es gibt auch eine andere Option! Sie bedeutet, gerade jetzt den Weg der internatio nalen sozialistischen Revolution zu stärken. Diesen Weg repräsentiert unter den deutschen Parteien nur die MLPD! 309 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus Mit dem "Frauenverband Courage e. V." sowie mit Freizeitangeboten ihrer Jugendorganisation "REBELL" und ihrer Kinderorganisation "ROTFÜCHSE" versucht die MLPD, Frauen, Jugendliche und Kinder an sich zu binden. In Truckenthal (Thüringen) veranstalteten "REBELL" und die Kinderorganisation "ROTFÜCHSE" ihr "Sommercamp", für das auch in Bayern geworben wurde. In den Sommercamps wird das Freizeiterlebnis junger Menschen mit politisch-ideologischer Unterweisung und einem antidemokratischen, revolutionär-kommunistischen Politikverständnis verknüpft. Dies steht in direktem Gegensatz zum demokratischen Erziehungsideal, der Erziehung zu freier Willensbildung und selbstbestimmtem Leben. In diesem Jahr wurde dort eine Veranstaltung zur neuen MLPD-Broschüre mit dem Titel "Der Ukrainekrieg und die offene Krise des imperialistischen Weltsystems" durchgeführt, um den jungen Menschen die Ideologie der MLPD nahezubringen. An den Demonstrationen gegen den G7-Gipfel in Elmau nahm auch die MLPD Bayern teil. In einem eigens für dieses Ereignis herausgegebenen Flugblatt der MLPD Bayern heißt es u. a.: Die kapitalismusgemachten Probleme können nicht durch Opportunismus, nicht durch Peti tionen und BittStellungen gelöst werden. Das ist ein Holzweg! Sie können nur durch eine inter nationale Revolution mit dem Ziel der vereinigten sozialistischen Staaten der Welt gelöst werden! Die Zeit ist reif, den Kampf um die Zukunft der Menschheit im echten Sozialismus aufzuneh men. Bauen wir eine internationale antiimperia listische und antifaschistische Einheitsfront auf! (Fehler aus dem Original übernommen) Im linksextremistischen Spektrum ist die MLPD aufgrund ihres dogmatischen Kommunismusverständnisses weitgehend isoliert und agitiert daher vor allem im Rahmen eines "Internationalistischen Bündnisses", zu dessen Unterstützerkreis auch Sympathisanten der Terrororganisation "Volksfront zur Befreiung Palästinas" (PFLP) gehören. Solidarität mit Die Solidarität der MLPD mit terroristischen Organisationen Terrororganisation zeigt, dass ihre Aufrufe zur Revolution nicht bloße ideologische Floskeln sind. Personen, die Gewalt für die Durchsetzung des Sozialismus anwenden und dafür inhaftiert werden, werden in der Partei als Vorbilder angesehen. 310 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 7.4 Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD (AB) Bayern Mitglieder 80 Gründung 1973 Sitz München Der aus "Arbeiter-Basisgruppen" in München hervorgegangene AB ist eine revolutionär-marxistische Organisation, die die Gründung einer "revolutionären Partei in der Tradition der verbotenen KPD" anstrebt. Sie beruft sich auf den MarxismusLeninismus und die Ideen von Stalin und Mao Tse-tung. Ziel des AB ist die Beseitigung der "herrschenden Ausbeuterklasse" und die Errichtung einer "Diktatur des Proletariats". Über Informationsveranstaltungen und Kundgebungen in unmittelbarer Nähe zu Industriebetrieben versucht die Organisation, mit der Arbeiterschaft in Kontakt zu kommen. So demonstrierten Angehörige des AB insbesondere vor Fertigungsstätten von Automobilkonzernen. In Ingolstadt, München, Nürnberg und Regensburg fällt der AB in der Öffentlichkeit gelegentlich durch seine Demonstrationen mit historischen Fahrzeugen auf. Charakteristisch für den AB ist seine an Stilelemente der Arbeiterbewegung der späten 1920er Jahre anknüpfende, antiquiert wirkende Agitationsund Propagandatätigkeit mit Schalmeienkapellen, kabarettistischen Aktionen und Brecht-Theater. Zudem wird die bayerische Räterepublik glorifiziert. Der AB veröffentlichte im Juli ein Flugblatt mit dem Titel "Kampf der Inflation! Auf die Straße Gegen Regierung der Milliardäre". Darin wird die Abschaffung der Mehrwertsteuer, ein staatlicher Festpreis für Gas und Strom sowie eine Absenkung der Mieten gefordert. Ideologisch werden Kapitalismus und Imperialismus für den Russland-Ukraine-Krieg und seine Folgen verantwortlich gemacht. Aktivistinnen und Aktivisten beteiligten sich bereits am 5. März an einer Demonstration unter dem Motto "Krieg in der Ukraine" in Nürnberg. 311 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus 7.5 Freie Deutsche Jugend (FDJ) Bayern Gründung 1994 Sitz Ingolstadt, München, Nürnberg und Regensburg Bei der FDJ handelt es sich um eine bundesweite Organisation des orthodoxen Kommunismus, deren Mitglieder sich zum Marxismus-Leninismus in seiner Reinform bekennen und sich dabei ganz bewusst in die Tradition der DDR, des Stalinismus und der Sowjetunion stellen. 1951 wurde die "FDJ in Westdeutschland" vom Bundesverwaltungsgericht verboten. Dieses Verbot galt jedoch nicht für die FDJ in der DDR. Die heutige FDJ sieht sich in der Tradition der "Ostdeutschen"-FDJ und versucht so, das Verbot aus dem Jahr 1951 zu umgehen. In "größeren westdeutschen Städten" sollen laut FDJ seit 1994 eigene Ortsgruppen existieren. In Bayern sind Ortsgruppen der FDJ in Ingolstadt, München, Nürnberg und Regensburg bekannt. Ausgehend von diesem orthodox-kommunistischen Personenkreis sind auch vermehrt Aktivitäten in Bayern feststellbar. Insbesondere die Regensburger Ortsgruppe der FDJ ist innerund außerhalb Bayerns aktiv. Dies dürfte vor allem damit in Zusammenhang stehen, dass der Pressesprecher der FDJ aus Regensburg stammt. In der Regensburger Ortsgruppe der FDJ bestehen personelle und ideologische Überschneidungen zum "Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD". 312 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 7.6 Rote Hilfe e. V. (RH) Deutschland Bayern Mitglieder 11.000 1 1.100 Sitz Göttingen verschiedene (Bundesgeschäftsstelle) Ortsgruppen, u. a. Nürnberg und München Publikationen DIE ROTE HILFE, - vierteljährlich 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 2021 feierte der "Rote Hilfe e. V." (RH) sein 100-jähriges Bestehen. Eigenen Angaben zufolge geht die RH auf die im Jahr 1921 gegründeten "Rote-Hilfe-Komitees" zurück. Diese wurden nach dem Scheitern des kommunistisch initiierten Mitteldeutschen Aufstandes, auch als "Märzaktion" bekannt, von der "Kommunistischen Partei Deutschlands" (KPD) gegründet. Aus den "Rote-Hilfe-Komitees" wurde im Jahr 1924 die "Rote Hilfe Deutschlands" (RHD) gegründet, welche 1933 verboten wurde. In Folge der "68er-Bewegung" bildeten sich lokal neue Rote-Hilfe-Gruppen, welche sich 1975 erneut zur "Roten Hilfe Deutschlands" zusammenschlossen. Im Jahr 1986 benannte sich die RHD in die heutige RH um. Die RH weist seit mehreren Jahren bundesweit einen deutlichen Mitgliederzuwachs Mitgliederzuwachs auf. Der Arbeitsschwerpunkt der RH ist die finanzielle und politische Unterstützung von linksextremistischen Strafund Gewalttätern, mit deren ideologischer Zielsetzung sie sich identifiziert. Diese Unterstützung wird beispielsweise bei anfallenden Anwaltsund Prozesskosten sowie bei Geldstrafen und Geldbußen gewährt. Dabei geht es der RH nicht um eine Resozialisierung von Straftätern, sondern um die Unterstützung gewaltbereiter Szeneangehöriger in deren Kampf gegen das politische System. Auf Großveranstaltungen ist die RH mit "Ermittlungsausschüssen" (EA) präsent. Diese EA stellen Rechtsbeistände, die im Falle einer Verhaftung von Szeneangehörigen bereits vor Ort Unterstützung leisten. Erkennt die RH eine Person als "Unterstützungsfall" an, so beteiligt sie sich an Prozessund Anwaltskosten mit einem Regelsatz von 50 Prozent, der nach Einzelfallprüfung auch höher ausfallen kann. Zahlungen und sonstige Unterstützungsmaßnahmen sind in der 313 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus Regel daran gebunden, dass die Beschuldigten konsequent die Aussage vor Behörden verweigern und sich auch nicht von der politischen Dimension der ihnen zur Last gelegten Straftaten distanzieren. Geständigen Szeneangehörigen droht die RH mit dem Entzug der Unterstützung. Dies belegt, dass das vorrangige Ziel der RH nicht die Hilfe für inhaftierte Szeneangehörige ist, sondern die Abschottung der linksextremistischen Szene vor den Ermittlungen der Sicherheitsbehörden. Schweigegebot Innerhalb der linksextremistischen autonomen Szene wird für dieses Schweigegebot unter dem Motto "Anna und Arthur halten's Maul" geworben. Die fiktiven Personen Anna und Arthur stehen dabei stellvertretend für alle linksextremistischen Akteure. Die RH finanziert sich überwiegend aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden. Durch ihre zahlreichen Mitglieder verfügt die RH über ausreichende finanzielle Mittel, um Unterstützung bei Strafverfahren zu leisten. Eine Mitgliedschaft in der RH funktioniert für Aktive der linksextremistischen Szene wie eine Art Versicherung. Auch vormals aktive Szeneangehörige, die aus beruflichen oder persönlichen Gründen nicht mehr straffällig werden wollen, können der RH beitreten oder spenden, um den "Kampf" zu unterstützen. Am 19. März, einen Tag nach dem "Tag der politischen Gefangenen", thematisierten die bayerischen Ortsgruppen der RH in München, Nürnberg und Regensburg die inhaftierten "Antifaschisten" rund um die mutmaßliche Linksextremistin Lina E. Sie steht im Verdacht, Anführerin einer kriminellen AntifaVereinigung aus Leipzig zu sein. Ihr und 10 weiteren Mitgliedern der Gruppe werden diverse Straftaten vorgeworfen. Die Gruppe soll u. a. für mehrere Angriffe auf mutmaßliche Rechtsextremisten verantwortlich sein, bei denen insgesamt 12 Personen zum Teil schwer verletzt wurden. Die RH brachte die von ihr vertretene Delegitimierung von Staat und Polizei auch im Zusammenhang mit dem G7-Gipfel in Elmau zum Ausdruck. So behauptete ein Sprecher eines RH-Ermittlungsausschusses, Innenministerium und Polizei hätten sich "souverän über Recht und Gesetz" hinweggesetzt. In Bayern rief die RH unter der Überschrift "Unsere Solidarität gegen eure Repression" beziehungsweise "Freiheit für Jan" mehrfach zu Solidaritätsbekundungen für einen in Bayreuth inhaftierten Linksextremisten auf, so z. B. am 26. Februar in Bayreuth. Zudem beteiligte sich die RH am 19. März in Nürnberg an einer Veranstaltung mit dem Titel "Tag der politischen Gefangenen" und feierte dort auch am 24. September den 50. Jahrestag der Bundes-RH. 314 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die rechtswidrige Blockade eines Braunkohlekraftwerkes am 19. September in Brandenburg, an der zahlreiche Demonstranten festgenommen oder in Gewahrsam genommen wurden, bezeichnete die RH als eine "notwendige Aktion". Die RH ist regelmäßig bei Veranstaltungen mit linksextremistischer Beteiligung präsent. 8. AUTONOME, POSTAUTONOME UND ANARCHISTEN 8.1 Beschreibung/Hintergrund Gemeinsames Merkmal von Autonomen, Postautonomen und Anarchisten ist die Ablehnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung bei gleichzeitiger Legitimierung von Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung. Autonome Autonome sind überwiegend junge, gewaltorientierte Angehörige 810 Autonome in der linksextremistischen Szene. Sie bilden den weitaus größBayern ten Teil des gewaltorientierten linksextremistischen Personenpotenzials. Zur autonomen Szene zählen bundesweit rund 8.000 Personen (Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021), in Bayern etwa 810. Da Autonome feste Strukturen ablehnen, ist eine klare Zuordnung von Einzelpersonen zur autonomen Szene nicht immer möglich. Autonome Gruppen agieren bevorzugt in losen und unverbindlichen Zusammenschlüssen. Sie verfügen häufig über einen kleinen Mitgliederstamm, darüber hinaus hängt die Zahl der zugehörigen Personen stark von aktuellen Themenund Aktionsfeldern ab. So ist es möglich, dass bei Veranstaltungen und Aktionen die Teilnehmerzahl das Mitgliederpotenzial der initiierenden Gruppe übersteigt. Autonome haben kein einheitliches ideologisches Konzept, sie folgen vielmehr anarchistischen und anarcho-kommunistischen Vorstellungen. Einig sind sich alle Autonomen in dem Ziel, den Staat und seine Einrichtungen - auch mit Gewalt - zu zerschlagen und eine "herrschaftsfreie Gesellschaft" zu errichten. Sie rechtfertigen Gewalt als erforderliches Mittel gegen die "strukturelle Gewalt" eines "Systems von Zwang, Ausbeutung und Unterdrückung". Gewalttätige Handlungen verstehen sie als Akt individueller Selbstbefreiung von den Herrschaftsstrukturen. Dazu gehören Brandstiftungen, Sabotage, Hausbesetzungen und militante Aktionen bei Demonstrationen. Autonome versuchen, auch demokratische Protestbewegungen für ihren Kampf gegen den Staat zu mobilisieren. 315 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus Postautonome In der autonomen Szene wird seit Längerem eine Organisationsund Militanzdebatte geführt. Seit Beginn der 1990er Jahre wuchs die interne Kritik, die autonome Bewegung sei zu unorganisiert, um nachhaltig politische Veränderungen bewirken zu können. Im Zentrum der Debatte steht dabei die Frage, wie eine breitere gesellschaftliche Akzeptanz für die eigenen autonomen Positionen erreicht werden kann. "Interventionistische Infolgedessen sind mehrere sogenannte "postautonome" GrupLinke" (IL) pierungen und Netzwerke entstanden, die die gesellschaftliche Isolation der Autonomen durchbrechen wollen. In der Szene besonders prägend wirkt die "Interventionistische Linke" (IL). Sie war erstmals im Jahr 1999 bei den Protesten gegen die EU-Ratstagung und den Weltwirtschaftsgipfel in Köln aktiv und gründete sich 2005 als informelles bundesweit agierendes Netzwerk. Sie verfolgt den strategischen Ansatz einer spektrenübergreifenden Mobilisierung unter ihrer Führung. Dabei versucht sie, alle linksextremistischen Strömungen - bis hin zu militanten Autonomen - zu integrieren. Postautonome versuchen, ein Scharnier zwischen gewaltbereiten Szeneangehörigen und gemäßigten Kräften - zuletzt auch verstärkt im Umfeld zivilgesellschaftlicher Initiativen - zu bilden. Die Vorsilbe "Post" steht für die Infragestellung einiger grundlegender Merkmale, aber nicht für einen vollständigen Bruch mit dem gewaltorientierten autonomen Politikansatz. "Ziviler Um zwischen linksextremistischen und demokratischen AkteuUngehorsam" ren zu vermitteln, bedienen sich die Postautonomen u. a. des Begriffes des "zivilen Ungehorsams". Der Begriff bezeichnet ein strategisches Protestkonzept, das einen moralisch oder politisch begründeten, bewussten Verstoß gegen staatliche Regulierungsmaßnahmen, z. B. Gesetze, umfasst. Aktionsbeziehungsweise Protestformen des zivilen Ungehorsams, wie Sitzblockaden, Streiks oder Protestcamps, verlaufen in der Regel gewaltfrei. Der Begriff "ziviler Ungehorsam" wird in seiner linkextremistischen Auslegung inzwischen mitunter auch von bürgerlichen Klimaschutzinitiativen übernommen und genutzt. Vordergründig beteiligen sich Postautonome nicht an gewalttätigen Ausschreitungen, allerdings distanzieren sie sich auch nicht eindeutig vom Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele. Vereinbarungen über die zulässigen Formen des Protestes 316 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 sind dabei oft reine Formelkompromisse, die der Auslegung breiten Raum lassen. Gewalttätige Eskalationen sind Teil der eigenen Planung und werden mit kalkuliertem Risiko bewusst eingesetzt. Postautonome engagieren sich z. B. in Mieterund Stadtteilinitiativen, in der Flüchtlingshilfe, in Klimaschutzinitiativen sowie in der Antiglobalisierungsbewegung. Zuletzt waren Aktivitäten solcher Gruppierungen auch verstärkt im Umfeld zivilgesellschaftlicher Umweltinitiativen feststellbar. Innerhalb dieser breit angelegten Bündnisse versuchen die Postautonomen, ihren ideologischen Schwerpunkt "Antikapitalismus" mit anderen Themen zu verbinden und ihre verfassungsfeindlichen Ziele in bürgerliche Initiativen und damit in die Mitte der Gesellschaft zu transportieren. Langfristig soll die linksextremistische Ideologie so in einem demokratischen Protestmilieu verankert werden und dort Radikalisierungsprozesse in Gang setzen. Aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung des Themas Klimawandel ist hier weiteres Engagement der linksextremistischen Szene zu erwarten. Da der Klimawandel insbesondere junge Menschen bewegt, konkurrieren in diesem Bereich linksextremistische Gruppierungen mit entsprechenden aktionsorientierten zivilgesellschaftlichen Klimaschutzgruppen um diese Zielgruppe. Bisher gelang es ihnen aber nicht, dort einen prägenden beziehungsweise steuernden Einfluss auszuüben. Anarchisten Anarchismus ist eine Sammelbezeichnung für politische Auffassungen und Bestrebungen, die auf die Abschaffung jeglicher Herrschaft von Menschen über Menschen abzielen. Allen anarchistischen Strömungen ist die Forderung gemein, den Staat als Herrschaftsinstitution abzuschaffen - und zwar unabhängig von einer demokratischen oder diktatorischen Ausrichtung. Häufig schließt eine solche Auffassung einen grundsätzlichen "Antiinstitutionalismus" ein. Der Anarchismus begreift Bürokratien, Kirchen, Parteien, Parlamente und Vereine als Einrichtungen, die einem freiwilligen Zusammenschluss von emanzipierten und mündigen Menschen entgegenstehen. Dem Anarchismus zugehörige Personen lehnen Hierarchien und Unterordnung grundsätzlich ab. Deshalb weisen sie in der Regel einen nur geringen Organisationsgrad auf und bilden lediglich lose strukturierte Gruppierungen. 317 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus "Direkte Aktion" Anarchisten bevorzugen stattdessen spontane Aktionen von Akzeptanz von kleineren Gruppen oder Einzelpersonen. Zu diesen zählt auch Gewalt die "Direkte Aktion". Hierunter sind Aktionen zu verstehen, die für sich selbst sprechen und somit eine unmittelbare Wirkung entfalten. Dabei kann es sich um Sachbeschädigungen oder das Besetzen von leerstehenden Gebäuden handeln. Aber auch gewalttätige Aktionen, wie die Zerstörung von Straßenbeleuchtung, Brandstiftung an Fahrzeugen oder Funkmasten, sowie Sabotageaktionen auf Infrastruktureinrichtungen wie Stromverteilerkästen zählen hierzu. Gewalt als Mittel der Revolution ist auch im Anarchismus ein viel diskutiertes Thema. Sie wird jedoch von der Mehrzahl der Aktivisten als legitimes Mittel akzeptiert. Wie eine Gesellschaft "nach" der Revolution aussehen kann, ist auch in der anarchistischen Szene umstritten. Der anarchistische Idealzustand, eine Gesellschaft auf Basis von Selbstverwaltung und freien Übereinkünften, führt in letzter Konsequenz jedoch unweigerlich in ein System von Gewaltund Willkürherrschaft, in dem der Starke sich gegen den Schwachen durchsetzt und sich schlussendlich über diesen erhebt. Anarchistische Ideen sind in der deutschen Gesellschaft nur schwer zu vermitteln. Um im politischen Diskurs wahrgenommen zu werden, haben sich Anarchisten europaweit gesellschaftspolitisch umstrittenen Themenfeldern zugewandt. Anschläge auf So wird z. B. das Unbehagen vieler Menschen in Bezug auf den Mobilfunkmasten Ausbau der 5G-Infrastruktur instrumentalisiert, um Anschläge auf Mobilfunkmasten in ganz Europa und auch Bayern zu rechtfertigen. Anarchisten sehen in der neuen Technologie primär ein weiteres Mittel, mit dem die "Herrschenden" die Menschen überwachen und unterdrücken können. 8.2 Gruppierungen 8.2.1 Autonome Gruppierungen Organisierte Autonomie (OA) Bayern Gründung ca. 1993 Sitz Nürnberg Publikationen barricada - zeitung für autonome politik und kultur 318 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die OA ist ein Zusammenschluss von Autonomen, der sich als offenes Projekt versteht. Dabei spiegelt der Name den Widerspruch zwischen jeglicher Ablehnung von Strukturen einerseits und dem erforderlichen Mindestmaß an Organisation zur Zielerreichung andererseits wider. In ihrer Selbstdarstellung tritt die OA für eine kommunistische Gesellschaftsordnung ein, die im kontinuierlichen Kampf gegen die herrschende Ordnung erreicht werden soll. Ziel der OA ist es demzufolge, den "Klassenkampf von unten" zu organisieren. Das von der OA verfolgte linksextremistische Antifaschismusverständnis wird in einer von ihr herausgegebenen Broschüre deutlich: Faschismus ist kein geschichtlicher Betriebsun fall, sondern ein gern genutztes Mittel der herr schenden, kapitalistischen Klasse zur Aufrechter haltung ihres menschenverachtenden Systems. Die OA nutzt Treffund Veranstaltungsörtlichkeiten im Nürnberger Stadtteil Gostenhof. Zu diesen gehört das "Selbstverwaltete Kommunikationszentrum Nürnberg e. V.", das Anlaufstelle für viele linksextremistische Gruppierungen ist. Gentrifizierung, steigende Mietpreise und Energiekosten sowie der Russland-Ukraine-Krieg bildeten 2022 zentrale Themenfelder der Organisation. Bereits am 5. März beteiligte sich die OA an der Versammlung "Krieg in der Ukraine", in der sie ihre Ideologie zum Ausdruck brachte. So zeigten Aktivisten u. a. ein Transparent mit der Aufschrift "Krieg dem imperialistischen Krieg! Für die soziale Revolution!". Unter dem Slogan "N-Ergie und Co zur Kasse bitten!" kritisierten sie am 27. April die Preispolitik eines städtischen Energieversorgers und übergaben einer Stadträtin einen entsprechenden Forderungskatalog. Am 24. September protestierte die Gruppierung auf der Versammlung "Ihre Kriege nicht auf unserem Deckel! Keinen Cent mehr für Brot, Öl und Bier!" gegen hohe Mietund Lebensmittelpreise. Am 1. Oktober beteiligten sie sich an einer Demonstration gegen steigende Heizkosten. Die OA zählt regelmäßig zu den Hauptverantwortlichen der Demonstration "Revolutionärer 1. Mai" in Nürnberg, an der sich nahezu sämtliche linksextremistische Organisationen beteiligen. Am 18. April war die OA auch im sogenannten "Antikapitalistischen Block" der Ostermarsch-Veranstaltung vertreten, am 25. Juni nahm sie an den Protesten gegen den G7-Gipfel in München teil. 319 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus Revolutionär Organisierte Jugendaktion (ROJA) Bayern Gründung 2009 Sitz Nürnberg Die ROJA ist eine autonome Jugendorganisation in Nürnberg und eng mit der OA verbunden. In ihrem Selbstverständnis beruft sie sich auf den Marxismus und fordert neben einem konsequenten Antikapitalismus auch Klassenkampf und Revolution: Bewusst sind wir auch der Tatsache, dass die ses menschenverachtende System, in dem eine kleine Minderheit sich an dem Elend aller an derer bereichert, nicht ohne den Klassenkampf aller Ausgebeuteten und Unterdrückten - und nicht ihrer StellvertreterInnen - gegen die Aus beuterInnen und UnterdrückerInnen abgeschafft werden kann. (Fehler aus dem Original übernommen) Unter dem Motto "Krieg, Krise, Kapitalismus - Wir widersetzen uns[.] Kommt in den antikapitalistischen Block!" rief die ROJA am 24. Januar zur Teilnahme an der Demonstration gegen die Münchner Sicherheitskonferenz auf. Sie beteiligte sich sowohl an der Ostermarsch-Demonstration am 18. April als auch an der traditionellen Demonstration "Revolutionärer 1. Mai" in Nürnberg. Prolos Bayern Gründung 1980 Sitz Nürnberg Die "Prolos" sind eine autonome Gruppierung in Nürnberg. In ihrem Programm verortet sich die Gruppierung im Marxismus und lehnt den demokratisch verfassten Staat ab: 320 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Mit diesem Programm wollen wir erklären [...] warum wir der Ansicht sind, dass wir eine freie kommunistische Gesellschaft brauchen, in der die Produktionsmittel vergesellschaftet sind und die politische Planung von Produktion, Repro duktion, Leben, Gesellschaft, Kultur und Wissen schaft in der Hand aller im Sinne basisdemokra tischer Räte und Kommunen organisiert wird. Wir [...] hoffen, dass euch die [...] Texte anregen [...], den Kampf gegen das kapitalistische Sys tem aufzunehmen. (Fehler aus dem Original übernommen) Die Gruppierung setzte sich 2022 insbesondere mit den Ursachen des Russland-Ukraine-Krieges auseinander, pflegte Kontakte zu inländischen wie ausländischen Linksextremisten und befasste sich auch mit der Ideologie totalitärer Staaten und linksradikaler ausländischen Gruppierungen. So nahm sie bereits am 5. März an einer Veranstaltung mit dem Titel "Krieg in der Ukraine" teil und beteiligte sich an der traditionellen "Revolutionärer 1. Mai"-Demonstration. Im Rahmen einer Vortragsveranstaltung berichteten Aktivisten der linksgerichteten kolumbianischen Gruppierung "RASH Bogota" ("Red and Anarchist Skinheads") am 20. Mai über ihren antifaschistischen Kampf im Heimatland. Am 24. Juni befassten sich die "Prolos" mit den Schriften des nordkoreanischen Diktators Kim Il-Sung und stellten Nordkorea als Opfer einer ihrer Ansicht nach imperialistischen, mörderischen USA dar. Am 22. Juli engagierten sich Angehörige der "Prolos" bei Protestveranstaltungen gegen die Rüstungsfirma Diehl mit dem Titel "Diehl entwaffnen - Kein Ehrenbürgertitel für Holocaustprofiteure" und "Gegen Krieg und Hochrüstung - Friedensverhandlungen statt Waffen". Dabei entrollten Linksextremisten zwei Transparente von je 30 Meter Länge. 321 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus Sozialrevolutionäre Aktion (SRA) Bayern Gründung 2017 Sitz Regensburg In Regensburg gründete sich 2017 die autonome Gruppe SRA. Bei der SRA sind hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung zu erkennen: Die Gruppierung lehnt das Staatsprinzip mit seinen konstituierenden Merkmalen Staatsgebiet, Staatsgewalt und Staatsvolk in seiner Gesamtheit sowie die parlamentarisch-repräsentative Demokratie, die Volkssouveränität, das (Mehr-)Parteienprinzip und das Rechtsstaatsprinzip ab. In ihrem Selbstverständnis bekennt sich die SRA zudem zum Kommunismus: Wir stehen in der Tradition der kämpfenden Arbei terInnenklasse weltweit. Folgerichtig stehen wir deshalb für einen proletarischen Internatio nalismus ein. [...] Wir lehnen das kapitalistische Weltwirtschaftssystem in all seinen Ausprägun gen entschieden ab. Wir sehen in diesem die Ursächlichkeit der derzeitigen Unterdrückung, Vertreibung, Entfremdung, Ausbeutung, Ver elendung, Endmündigung sowie den weltweiten Dauerkriegszustand. [...] Dies gilt es zu erkennen und zu überwinden. (Fehler aus dem Original übernommen) Die SRA lehnt sämtliche Strukturen und Herrschaftsformen ab und vertritt somit anarchistisches Gedankengut: [R]adikales Denken heißt, den Ursachen auf den Grund zu gehen, deshalb lehnen wir vertikale und hierarchische Strukturen ab. Sie befürwortet eine Überwindung der bestehenden Gesellschaftsverhältnisse durch Revolution. Um ihre Ziele zu erreichen, distanziert sich die Gruppe nicht von der Anwendung von Gewalt. 322 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Am 31. Dezember 2021 behinderten SRA-Aktivisten in Regensburg einen Autokorso von Gegnern der staatlichen CoronaMaßnahmen durch eine Sitzblockade. Die Polizei löste zur Gewährleistung des Versammlungsrechts die Sitzblockade auf. Darüber hinaus schloss sich die SRA unter dem Motto "Internationale Solidarität gegen die globale Ausbeutung und Zerstörung unserer Lebensgrundlagen durch den Kapitalismus!" zusammen mit anderen linksextremistischen Gruppierungen, u. a. dem "Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD", der SDAJ, der DKP, der alljährlichen "1.Mai-Kundgebung" des DGB an. An der traditionellen Demonstration beteiligten sich in der Spitze circa 370 Personen. Autonome Szene Rosenheim In Rosenheim und Umgebung ist eine linksextremistische, autonome Szene entstanden, die u. a. unter der Bezeichnung "Offenes antifaschistisches Plenum Rosenheim" (OAPR) auftritt. Mit dem "Z - linkes Zentrum in Selbstverwaltung" verfügt die Szene über einen Treffpunkt, an dem sie regelmäßig Veranstaltungen durchführen kann. Das OAPR verhielt sich in der Vergangenheit gegenüber der Aufrufe zur Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) besonders aggressiv. Gewaltanwendung In sozialen Netzwerken rief das OAPR offen zur Gewalt gegen AfD-Politiker auf. Am 23. April fand in Rosenheim das "Europäische Kommunalpolitische Forum" der AfD statt. Bei der Gegenveranstaltung unter dem Motto "Gegen die Festung Europa und deren Nazis! Gegen Rassismus, Antifeminismus, Antisemitismus und die AfD! Für eine solidarische Gesellschaft" wurden Rauchtöpfe gezündet. In den sozialen Medien wurde hierüber u. a. auch durch das OAPR selbst berichtet. Auf Social-Media-Kanälen von OAPR sind Bezüge zur linksextremistischen Szene in München ersichtlich. 8.2.2 Postautonome Gruppierungen Interventionistische Linke (IL) Bayern Gründung ca. 2005 Sitz Aschaffenburg, Nürnberg 323 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus Die IL wurde 2005 als bundesweites Netzwerk mit dem Ziel einer verbindlichen Organisierung gegründet. Mit der Veröffentlichung des "Zwischenstandpapiers" im Oktober 2014 wurde die IL zu einer bundesweiten Organisation umgeformt. Ideologisch orientiert sich die IL am Marxismus/Kommunismus. Sie versteht das bestehende Gesellschaftssystem als eine Zwei-KlassenGesellschaft, in der die herrschende Klasse (Kapitalisten) die Arbeiterklasse (Proletariat) ausbeutet und unterdrückt. Ziel der IL ist die Abschaffung der bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnung und die Installation einer klassenlosen Gesellschaft. Dabei fokussiert sie sich nicht ausschließlich auf regionale Protestaktionen, sondern wirkt auch an der Vorbereitung überregionaler Aktionen mit. Unterstützung von Die IL arbeitet bundesweit in bürgerlichen Kampagnen und "Ende Gelände" Bündnissen mit und versucht, dort sukzessive linksextremistische Themen und Ansichten zu etablieren. Dabei fungiert sie als "Scharnier" zwischen gewaltbereiten und nicht gewaltbereiten linksextremistischen Akteuren sowie nicht extremistischen Kampagnen und Bündnissen. So ist die IL beispielsweise maßgeblich in viele Aktivitäten der bundesweiten Kampagne "Ende Gelände" involviert: Als Interventionistische Linke sind wir von Anfang an bei Ende Gelände dabei [...]. Kampagne "RheinDer Russland-Ukraine-Krieg bot der IL im besonderen Maße metall entwaffnen" Gelegenheit, ihre Ideologie, Ziele und Aktionen in das Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken. Mit der Kampagne "Rheinmetall entwaffnen" prangerte die Gruppierung das Regierungsprogramm "Sondervermögen Bundeswehr" an, machte Rüstungsbetriebe für weltweite Kriege verantwortlich und warf den beteiligten Staaten imperialistisches Machtstreben vor. So brachte die IL Nürnberg u. a. auf dem diesjährigen Ostermarsch ihren Protest zum Ausdruck und entrollte auf der "Revolutionärer 1. Mai"Demonstration gleichenorts ein Transparent mit der Aufschrift: "Aufrüstung stoppen! Gemeinsam für eine gerechte und befreite Gesellschaft". Auf ihrer Webseite heißt es: Deutsche Waffen, deutsches Geld, morden mit in aller Welt [...] Innerhalb des kapitalistischen Systems kann kein Frieden existieren (...) Gegen alle imperialistischen Kriege! 324 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Am bundesweiten Aktionstag "Rheinmetall entwaffnen!" am 10. Mai in Nürnberg nahmen auch Aktivisten der IL teil. Bei der Veranstaltung wurden Rüstungsunternehmen in Nürnberg besonders scharf kritisiert. Nach entsprechender Mobilisierung durch die IL beteiligten sich zudem auch Nürnberger Linksextremisten vom 30. August bis 4. September an den Aktionentagen unter dem Motto "Rheinmetall entwaffnen" in Kassel. Die IL verfügt in Bayern über Ortsgruppen in Aschaffenburg und Nürnberg. Antikapitalistische Linke München (AL-M) Bayern Gründung 2011 Sitz München Die AL-M ist eine revolutionär-kommunistisch ausgerichtete postautonome Gruppierung und folgt marxistisch-leninistischen und trotzkistischen Ideologieelementen. Gemäß ihrer Selbstdarstellung ist ihr Ziel die Beseitigung des demokratischen Verfassungsstaates und die Errichtung eines kommunistischen Systems: Notwendig ist: die Revolution. [...] Die revolu tionäre Theorie, um die Welt zu begreifen und sie zu verändern, ist der Marxismus. Die einzige Alternative zum heutigen Kapitalismus ist eine andere Gesellschaft: Der Kommunismus - dafür kämpfen wir. Zur Durchsetzung ihrer Forderungen rief die AL-M unverhohlen auch dazu auf, Gesetze zu brechen und Gewalt anzuwenden: Wir rufen auf zum Aufbau wirksamer Selbstver teidigung gegen faschistische Gewalt, rassis tische Angriffe, Hasspropaganda, Abschiebe maschinerie und Grenzregime - Mit allen Mitteln, die dazu notwendig sind: legal und illegal, fried lich und militant. 325 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus Die AL-M ist ein Bindeglied zwischen dem traditionell kommunistisch ausgerichteten Spektrum des Linksextremismus und der autonomen Szene. So unterhält die Gruppe Kontakte zu autonomen Gruppen wie "AntifaNT" oder "Organisierte Autonomie", aber auch zu linksextremistischen Parteien und Organisationen wie der "Roten Hilfe e. V." oder der "SDAJ München". Die AL-M war maßgeblich an der Organisation der Proteste gegen den G7-Gipfel beteiligt. So rief sie zur Bildung eines "antikapitalistischen Blocks" auf und veröffentlichte unter dem Titel "Fight G7 - Den Imperialismus treffen wir hier!" einen mehrseitigen Protest-Aufruf. Bereits seit einigen Jahren ist die AL-M in das Bündnis "Perspektive Kommunismus" (PK) eingebunden. Diesem 2014 gegründeten, überregionalen Bündnis gehören weitere Gruppierungen aus Baden-Württemberg und Hamburg an. PK zielt darauf ab, sich zu einer "bundesweiten, aktionsorientierten und revolutionären, kommunistischen Organisation" zu entwickeln. Das Bündnis ruft offen zur Militanz und Gewalt auf. "Antifaschistischer Darüber hinaus ist die AL-M an Aktionsgruppen wie dem "AntiStammtisch faschistischen Stammtisch München" (ASM), dem "Offenen München" Antikapitalistischen Klimatreffen München" oder der Initiative "Offenes Antikapita"Zukunft erkämpfen" in maßgeblicher Weise beteiligt. Der ASM listisches Klimaist der autonomen Antifa zuzurechnen und bezeichnet sich selbst treffen München" als "offenes Treffen, zu dem alle eingeladen sind, die sich antifaschistisch engagieren wollen". Das "Offene Antikapitalistische Klimatreffen München" ist ein lockerer Zusammenschluss mit den Themenschwerpunkten "Klimawandel" und "Kapitalismus". Ziel ist ein Umbruch des herrschenden Wirtschaftssystems: Das Klimatreffen strebt eine "Demokratisierung" der Wirtschaft hin zu einem sozialistischen System an. Neben dem Kernthema "Klimagerechtigkeit" ist das Klimatreffen auch in anderen Themenbereichen, wie z. B. Antimilitarismus, Antikapitalismus und Antifaschismus, aktiv. AL-M, ASM, "Zukunft erkämpfen" und das "Offene Antikapitalistische Klimatreffen München" nutzen den linksextremistischen Szenetreff "Barrio Olga Benario" in München zur Planung und Vorbereitung von Aktionen sowie für ihre regelmäßigen Treffen. "Antifaschistische Aus Aktivsten dieser verschiedenen Antifa-Gruppen im "Barrio Aktion Süd" Olga Benario" bildete sich der "Antifaschistische Aufbau München" der sich Ende 2021 mit 7 weiteren gewaltorientierten linksextremistischen Gruppierungen aus Baden-Württemberg 326 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 und Rheinland-Pfalz zur "Antifaschistischen Aktion Süd" (Afa Süd) zusammenschloss. Dieses gewaltbereite Bündnis arbeitet an einer stärkeren Vernetzung linksextremistischer Akteure in Süddeutschland, um eine verbesserte überregionale Organisation der Szene zu erreichen. Der Gründungserklärung zufolge, soll der neue Zusammenschluss die Kräfte bündeln und Faschisten "sowie die allgemeine gesellschaftliche Rechtsentwicklung konsequent und nachhaltig bekämpfen". Durch das Bündnis sollen Handlungsspielräume erweitert und Einflussmöglichkeiten ausgebaut werden. Ziel dieser überregionalen Organisierung ist es, die existierenden Kräfte zu bündeln, um auf diese Weise die Schlagkraft im gewaltsam geführten Kampf gegen "Faschisten" effektiv zu steigern. Langfristig strebt die Afa Süd eine bundesweite Struktur an. Der aktuelle Zusammenschluss wird als erster Schritt in diese Richtung angesehen. Im Juni schuf die Afa Süd mit "antifa-info.net" ein weiteres Internetportal, das mit seiner bundesweiten Ausrichtung auch über Süddeutschland hinaus Szeneangehörige ansprechen soll und für Veranstaltungen und Aktionen mobilisiert. So können sowohl die Mitgliedsorganisationen beziehungsweise Ortsgruppen der Afa Süd als auch andere Antifa-Organisationen das Portal nutzen, um über ihre Szeneaktivitäten zu informieren. Antifa-NT Bayern Gründung bekannt seit 2006 Sitz München Die Gruppe "Antifa-NT" vertritt einen postautonomen Antifaschismus, der darauf abzielt, die bestehende Gesellschaftsordnung durch eine klassenlose Gesellschaft zu ersetzen. Sie pflegt bundesweite Kontakte zu anderen autonomen und postautonomen Gruppierungen und trat im Herbst 2015 dem linksextremistischen "[...] umsGanze!"-Bündnis bei, in dem sich gewaltorientierte linksextremistische Gruppen aus Deutschland und Österreich organisieren. "Antifa-NT" nutzt die Räumlichkeiten des "Kafe Marat" in München, das Teil eines selbstverwalteten Kulturzentrums ist. Das "Kafe Marat" dient Angehörigen der linksextremistischen Szene, insbesondere Autonomen, als Treffpunkt, logistisches Zentrum 327 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Linksextremismus und Informationsbörse. Daneben nutzen auch andere nicht extremistische kulturelle und gesellschaftliche Gruppen das "Kafe Marat" für Treffen und Veranstaltungen. "Antifa-NT" beteiligt sich an der bundesweiten Protestmitmachkampagne "Nationalismus ist keine Alternative" (NIKA). NIKA ist eine linksextremistische Kampagne, die sich gegen einen vermeintlichen Rechtsruck in der Gesellschaft richtet. Die Kampagne soll dazu beitragen, die linksextremistische Szene stärker zu vernetzen und zu organisieren. "Antifa-NT" beteiligt sich auch immer wieder an breiten gesellschaftlichen Bündnissen. Gerade bürgerliche Themen und Versammlungen werden von "Antifa-NT" aufgegriffen und genutzt, um für ihre extremistischen Positionen zu werben. 8.2.3 Anarchistische Gruppen Anarchistische Gruppe München (Bibliothek Frevel) Bayern Gründung 2016 Sitz München In München besteht eine Gruppe anarchistischer Personen, die durch publizistische Aktivitäten und das Betreiben einer Bibliothek die anarchistische Ideologie verbreiten wollten. Sie eröffneten im Sommer 2016 in München die "Anarchistische Bibliothek Frevel". Die Bezeichnung Frevel geht vermutlich auf den anarchistischen Autor Walther Borgius (1870-1932) zurück, der in seinem Werk: "Die Schule - ein Frevel" die Schule als Herrschaftsmittel zur Züchtung gehorsamer Untertanen darstellt. Die Bibliothek will den "Zugang zu den Gedanken und Kämpfen anderer Revoltierender" ermöglichen. Die anarchistische Gruppe billigte Strafund Gewalttaten als Mittel zur Zerstörung der bestehenden Ordnung. So lag in ihrer Bibliothek die "Anarchistische Straßenzeitung Fernweh" aus, die linksextremistische Straftaten positiv bewertet. Die im Mai 2020 erschienene 33. Ausgabe war die bislang letzte. 328 Linksextremismus Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auf ihrer Webseite gab die Bibliothek für den 19. November die Schließung ihrer Räumlichkeiten bekannt. Dies steht mutmaßlich im Zusammenhang mit Durchsuchungsmaßnahmen im April gegen Personen aus dem Umfeld der Bibliothek wegen des Verdachtes der Gründung einer kriminellen Vereinigung. Die Personen sind der Beteiligung an der Herausgabe der linksextremistischen Publikation "Zündlumpen" verdächtig. In dieser wurde wiederholt zu Angriffen auf Polizeibeamte oder zu Brandanschlägen auf Infrastruktureinrichtungen aufgefordert. Die Polizei stellte in diesem Zusammenhang umfangreiches Beweismaterial wie Druckmaschinen, Computer und Speichermedien sicher. Bundesweit solidarisierten sich mehrere linkextremistische Gruppierungen mit den von den Maßnahmen betroffenen Personen. Im Internet wurden Solidaritätsbekundungen aus Berlin, Hamburg und Leipzig veröffentlicht. Auch der Münchner Szenetreffpunkt "Barrio Olga Benario" äußerte sich zu den Durchsuchungsmaßnahmen: Wir erklären uns solidarisch mit den Betroffenen und dem Frevel: Lassen wir uns nicht vereinzeln: Gemeinsam gegen ihre Repression und für linke (Frei)Räume! 329 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Scientology-Organisation Scientology-Organisation (SO) " Tarnorganisation "Der Weg zum Glücklichsein" verteilt speziell auf Kinder zugeschnittene Broschüre " Vermehrte Versuche der Kontaktanbahnung zu Justizvollzugsanstalten " Nachhilfeinstitute entfernen Hinweise auf SOMethodiken von ihren Webseiten 330 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die "Scientology-Organisation" (SO) ist eine international agierende Organisation, die auf finanzielles Gewinnstreben ausgerichtet ist und ein weltweites, unumschränktes Herrschaftssystem nach eigenen Vorstellungen errichten möchte. An die Stelle des Demokratieprinzips und der Grundrechte soll ein auf Psychotechnologien und bedingungsloser Unterordnung der Individuen beruhendes totalitäres Herrschaftssystem unter scientologischer Führung treten. Die SO ist somit nicht nur eine Gefahr für Einzelne, die in die Fänge und den Einflussbereich der Organisation zu geraten drohen. Sie stellt vielmehr auch das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland und die staatliche Garantie der Grundrechte in Frage. Schon in seinem Grundlagenwerk "Dianetik" aus dem Jahr 1950 wies der Gründer der SO, Lafayette Ron Hubbard, auf die politische Relevanz seiner Lehre hin. Nach seinen bis heute unveränderten und für alle Scientologen verbindlichen Vorstellungen soll eine ausschließlich nach scientologischen Richtlinien funktionierende Welt geschaffen werden. Mit drastischen psychound sozialtechnischen Instrumenten will die Organisation nicht nur den einzelnen Menschen steuern, sondern durch 331 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Scientology-Organisation Einflussnahme auf Staat, Politik und Wirtschaft in die Gesellschaft eindringen, um sie den scientologischen Zielen zu unterwerfen. Programmatik und Aktivitäten der SO sind mit den Grundprinzipien unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar. Die "Scientology-Organisation" - will ein scientologisches Rechtssystem etablieren, in dem es keine Menschenund Grundrechte gibt, - missachtet die Menschenwürde (Art. 1 GG) und den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 GG), da sie nur Scientologen Rechte zugesteht, - missachtet das Grundrecht der freien Meinungsäußerung (Art. 5 GG), da sie Kritik mit allen - auch illegalen - Mitteln unterdrücken will, - baut auf ein totalitäres Herrschaftssystem, das Gewalt und Willkürherrschaft einschließt. Das Oberverwaltungsgericht Münster hat mit Urteil vom 12. Februar 2008 festgestellt, dass - tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die SO Bestrebungen verfolgt, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind, - zahlreiche Hinweise ergeben, dass die SO eine Gesellschaftsordnung anstrebt, in der zentrale Verfassungswerte außer Kraft gesetzt oder eingeschränkt werden, - der Verfassungsschutz die Organisation daher - auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln - beobachten darf. 332 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 1. PERSONENPOTENZIAL Deutschland Bayern Mitglieder 3.5001 ca. 1.300 Vorsitzende/r Helmut Blöbaum Nina Malessa Gründung München 1970 Nürnberg 1982 ("Scientology Kirche ("Scientology Kirche Deutschland e. V.") Bayern e. V.") Sitz München München (in Deutschland unselbstständige Teilorganisationen) Publikationen u. a. Freedom; Impact; Ursprung; Source; Scientology Network TV und Streamingdienst 1 Quelle: Bundesverfassungsschutzbericht 2021 Die Mitgliederzahl der SO in Bayern beläuft sich auf circa 1.300 Personen, die sich auf sämtliche Altersgruppen verteilen. Neben langjährigen Scientologen gehören hierzu junge Erwachsene, die in ihren Familien mit der Ideologie der SO aufgewachsen sind, weiterhin der Organisation treu bleiben und diese bewerben, sowie neu rekrutierte Mitglieder. Konsequente staatliche Aufklärungsarbeit, Prävention und kritische mediale Berichterstattung haben die Strukturen der SO, ihre Methoden und ihre verfassungsfeindlichen Ziele der Öffentlichkeit dargelegt. Die gewonnene Transparenz, beispielsweise über ihre Manipulationsstrategien, und die damit verbundene negative gesellschaftliche Wahrnehmung der SO haben es ihr zeitweise erschwert, neue Mitglieder zu gewinnen. Mit Hilfe von Tarnund Nebenorganisationen, sogenannter "Verbreitungskampagnen", wie z. B. der "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e. V." (KVPM), der Organisation "Sag NEIN zu Drogen - Sag JA zum Leben", den sogenannten "Ehrenamtlichen Geistlichen" (englisch: Volunteer Ministers) oder der Organisation "Der Weg zum Glücklichsein", versucht die SO, sich als attraktive, humanitäre und sozial verantwortliche Organisation darzustellen. Interessenten werden über diese Kampagnen an die SO herangeführt und als neue Mitglieder rekrutiert. Die rasante Verbreitung von Verschwörungstheorien (u. a. im Zuge der Corona-Pandemie) hat gezeigt, dass sich viele Menschen angesichts komplexer Ereignisse nach einfachen Erklärungen und Orientierungsangeboten sehnen. Auch mit Blick auf die SO scheint sich diese Tendenz zu bestätigen. 333 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Scientology-Organisation Während des Berichtszeitraums war zu beobachten, dass sich Menschen verstärkt für die Botschaften der SO beziehungsweise ihrer Nebenorganisationen interessieren. Im September 2020 feierte die SO ihr 50-jähriges Bestehen in Bayern. Die "Org München" wird als sogenannte Mutterorganisation angesehen, aus welcher weitere "Orgs" und Missionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz hervorgegangen sind. 2. AKTIONEN UND AKTIVITÄTEN 2.1 Scientology und die Corona-Pandemie Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen des sozialen und wirtschaftlichen Lebens stellten auch die SO vor große Probleme. Die Rekrutierungsstrategien der SO sind auf den unmittelbaren zwischenmenschlichen Kontakt hin ausgerichtet. Die Kontroll-, Manipulationsund Psychotechniken, die sie gegen Rekruten und Mitglieder einsetzt, entfalten ihre größte Wirkung in dafür vorgesehenen direkten Interviewund Verhörsituationen. Für die SO ist es daher essenziell, dass ihre Mitglieder regelmäßig ihre Einrichtungen aufsuchen. Nur so ist gewährleistet, dass die SO die größtmögliche Kontrolle über diese ausüben kann. Insbesondere die im Rahmen der CoronaPandemie erfolgte Schließung ihrer Einrichtungen dürfte die Rekrutierungsbemühungen und Kontrollmaßnahmen der SO erschwert haben. Verstärkte AnwerDie SO und ihre Tarnund Nebenorganisationen reagierten daher bung im Internet umgehend auf diese Einschränkungen und verlagerten einen Teil ihrer Aktivitäten ins Internet. Der massive Druck auf Mitglieder und Organisationseinheiten, steigende Absatzund Erlösstatistiken abzuliefern, konnte so aufrechterhalten und in Teilen intensiviert werden. Durch die Verlagerung von Aktivitäten in den virtuellen Raum gelingt es der SO, mit vergleichsweise geringem Aufwand ein deutlich breiteres Publikum anzusprechen. Zudem scheint das Onlineangebot eine niedrigere Hürde für Personen darzustellen, sich erstmals mit SO-Inhalten auseinanderzusetzen. Nach der Wiedereröffnung der SO-Einrichtungen blieben die Internetaktivitäten der Organisation bestehen, da sich diese für die SO offenbar als vorteilhaft erwiesen haben. 334 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 2.2 Aktivitäten der "Ehrenamtlichen Geistlichen" Die SO unterhält mit den sogenannten "Ehrenamtlichen Geistlichen" (englisch: Volunteer Ministers) eine nach eigenen Angaben internationale Hilfsorganisation. Nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine nutzten die "Ehrenamtlichen Geistlichen" den Konflikt, um sich als Hilfsorganisation zu präsentieren. Presseberichten zufolge Instrumentalisierung sollen "Ehrenamtliche Geistliche" aus Ungarn im ungarischdes Angriffs auf die ukrainischen Grenzgebiet Bücher verteilt und sogenannte Ukraine "Assists" (deutsch: Beistände) gegeben haben. Bei "Assists" handelt es sich um Techniken, die das "geistige Wesen" bei der vermeintlichen Überwindung körperlicher Schmerzen oder seelischer Traumata unterstützen sollen. Darüber hinaus führte die SO im März europaweit ein den Menschen in der Ukraine gewidmetes "Multi Lingual Prayer for Total Freedom" (deutsch: Mehrsprachiges Gebet für umfassende Freiheit) durch. Dabei wurde mitunter aus Hubbards "Dianetik: Leitfaden für den menschlichen Verstand" zitiert. Scientology-Vertreter aus ganz Europa sprachen darüber hinaus in ihrer jeweiligen Landessprache ein weiteres "Gebet". Aus Deutschland war ein Mitglied des Celebrity Centres München an der Aktion beteiligt. Auch nach der Flutkatastrophe Mitte Juli 2021 in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Bayern sollen Teams der "Ehrenamtlichen Geistlichen" aus München, Düsseldorf und Hamburg aktiv gewesen sein und bei der Beseitigung der Schäden geholfen haben. In SO-eigenen Medien und Pressemitteilungen wurden nach der Flutkatastrophe Berichte und Bilder von angeblichen Hilfseinsätzen der "Ehrenamtlichen Geistlichen" veröffentlicht. Inwieweit die "Ehrenamtlichen Geistlichen" damit tatsächlich zu einer Verbesserung der Situation in den von der Flut betroffenen Gebieten beigetragen haben, scheint zweitrangig. Die Berichterstattung und Selbstprofilierung als internationale Hilfsorganisation sowie die Herstellung von Kontakten und das Verbreiten der SO-Technologie stehen bei der SO stets klar im Vordergrund. Die "Ehrenamtlichen Geistlichen" hatten bereits im Zuge der Corona-Pandemie ihr Aktionslevel deutlich erhöht. Sie nutzten dabei den mit der Pandemie verbundenen Bedeutungszuwachs des Themas Gesundheit, um durch die Lancierung der vorgeblichen Gesundheitskampagne "Stay well" (deutsch: Bleib gesund) potenzielle neue Mitglieder anzusprechen und sich als soziale Organisation mit Beratungskompetenzen darzustellen. 335 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Scientology-Organisation Die "Ehrenamtlichen Geistlichen" sind an ihrer Uniformierung mit gelben Shirts und Jacken sowie der Dominanz der Farbe Gelb bei der Gestaltung ihrer Informationsstände erkennbar. Vortäuschen eines Nach Angaben der SO ist es die Aufgabe eines "Ehrenamtlichen religiösen Kontextes Geistlichen", seinen "Mitmenschen auf ehrenamtlicher Basis zu helfen, indem er Sinn, Wahrheit und spirituelle Werte in deren Leben wiederherstellt". Bei den "Ehrenamtlichen Geistlichen" handelt es sich in der Regel um speziell ausgebildete Mitarbeiter der SO, die mit dem gezielten Einsatz scientologischer Manipulationstechniken vertraut sind. Die SO verwendet die Bezeichnung "Geistliche" bewusst, um Außenstehende in die Irre zu führen und einen religiösen Kontext zu suggerieren. In Deutschland sind religiöse Bezeichnungen wie "Kirche" und "Geistliche" rechtlich nicht geschützt. Lediglich die Zuerkennung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts bleibt den etablierten kirchlichen Institutionen vorbehalten. Darüber hinaus existiert kein Anerkennungsverfahren, mit dem der Status als Religionsgemeinschaft förmlich bestätigt werden würde. Jede Gruppe kann sich also - unabhängig von ihrer tatsächlichen Zielsetzung - offiziell als Religionsgemeinschaft bezeichnen. Das Programm der "Ehrenamtlichen Geistlichen" wurde bereits Anfang der 1970er Jahre ins Leben gerufen. Jedoch erst nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA, als nach SO-Angaben ebenfalls "Ehrenamtliche Geistliche" im Hilfseinsatz waren, hat die SO die Werbewirksamkeit der offenkundigen Beteiligung an Hilfsaktionen erkannt und damit begonnen, das Programm entsprechend zu vermarkten. Die SO macht sich insbesondere im Fall von Katastrophen die psychische Ausnahmesituation der Betroffenen zunutze, versucht professionelle psychologische und psychiatrische Hilfe und Beratung zu verdrängen und die Opfer scientologischen Techniken zu unterziehen. Inwieweit die Organisation tatsächlich praktische Hilfe leistet, kann nicht beurteilt werden. Ziel der SO bei allen öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten ihrer Teilund Tarnorganisationen ist es stets, sich als global vernetzten Akteur und Ansprechpartner zu präsentieren, um neue Mitglieder zu rekrutieren und Spenden zu sammeln. Themen, die einen breiten gesellschaftlichen Konsens bieten, stehen daher besonders im Fokus. 336 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 2.3 Offensive Öffentlichkeitsarbeit der Tarnorganisation "Der Weg zum Glücklichsein" Die SO-Tarnorganisation "Der Weg zum Glücklichsein" ("The Way to Happiness Foundation") betreibt seit Mitte 2016 in Bayern kontinuierlich eine offensive Öffentlichkeitsarbeit. Ziel ist es, eine möglichst große Anzahl an Exemplaren der Broschüre "Der Weg zum Glücklichsein" zu verteilen. Die Publikation wirkt auf den ersten Blick unverfänglich und weist in Aufmachung und Inhalt zunächst keinen expliziten Scientology-Bezug auf. Lediglich im Impressum ist der SO-Gründer Hubbard erwähnt. Somit besteht die Gefahr, dass durch die Verwendung des Materials auch die Verbreitung der SO-Ideologie unwissentlich unterstützt wird. Die Broschüre vermittelt eher triviale Vorschläge und Anleitungen zum "Glücklichsein", die scientologische Ideologie ist enthalten, aber nur schwer zu erkennen. Allein die Münchener Gruppe der SO-Tarnorganisation soll seit dem Jahr 2016 inzwischen weit mehr als 600.000 Exemplare der gleichnamigen Broschüre verteilt haben. Der Schwerpunkt der Aktionen liegt in München und im Münchener Umland. Die SO versucht, mit der Broschüre Menschen auf vermeintlich problematische Erscheinungen oder Stimmungslagen in ihrem Leben aufmerksam zu machen und Interesse daran zu wecken, etwas zu ändern oder sich Hilfe zu suchen. Ziel ist es, die Adressaten zur Kontaktaufnahme mit der Tarnund Nebenorganisation zu bewegen. Sobald die Kontaktdaten vorliegen, können diese genutzt werden, um die Personen mittelfristig an die SO heranzuführen. "Der Weg zum Glücklichsein" hat 2022 damit begonnen, eine speziell auf Kinder zugeschnittene Broschüre mit dem Titel "Wie man gute Entscheidungen trifft" zu verteilen. Das Heft lehnt sich an die seit den 1980er Jahren verbreitete Broschüre "Der Weg zum Glücklichsein" an. Die dort enthaltenen 21 Regeln werden in der neuen Broschüre kindgerecht aufbereitet. Eine Altersempfehlung fehlt. Die Scientology Organisation betrachtet Kinder als Erwachsene in kleinen Körpern. So heißt es beispielsweise in der Scientology-Publikation "Kinder-Dianetik - Dianetik-Prozessing für Kinder": Broschüre für Kinder 337 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Scientology-Organisation Ein Kind ist ein Mann oder eine Frau, der oder die noch nicht zu voller Größe herangewachsen ist. Jedes Gesetz, das für das Verhalten von Männern und Frauen gilt, gilt auch für Kinder. Vor diesem Hintergrund ist die SO bestrebt, durch verschiedene Projekte Einfluss auf die Entwicklung von Kindern zu nehmen. Sie setzt dabei bewusst auf Tarnorganisationen, um auch Personen erreichen zu können, die ihr zunächst ablehnend gegenüberstehen. Inhaltlich behandelt die Broschüre unter anderem Themen, die insbesondere für kleinere Kinder nicht geeignet sind. Dazu gehört der Konsum von Drogen, die Unterstützung von Regierungen oder Erläuterungen zum Unterschied zwischen "Morden" und "Töten". Auch unter der Überschrift "Halte Dich an die Wahrheit" finden sich Textteile, die als nicht kindgerecht bezeichnet werden können: Nicht alles, was du hörst oder liest, ist wahr. Manchmal sagt oder schreibt jemand etwas, das nicht wahr ist, und versucht dir einzureden, dass er die Wahrheit sagt. Manchmal ist es schwierig herauszufinden, was wahr ist und was falsch ist. Eines aber ist ganz sicher: Es ist nur wahr, was für dich wahr ist. Niemand kann dich dazu zwingen, etwas zu glauben, was du nicht glauben willst, oder etwas zur Wahrheit zu machen, was du nicht glaubst. Denke selbst nach und entscheide dann, was du für die Wahrheit hältst. Wenn etwas für dich nicht wahr ist, dann ist es nicht wahr. [...] Der Weg zum Glücklichsein ist ein Weg der Wahrheit. SO-spezifischer Die scientologische Interpretation des Wahrheitsbegriffes ist ein Wahrheitsbegriff wichtiger Baustein ihrer ideologischen Indoktrination. Ein durch scientologische Verfahren manipulierter Mensch sieht nur das als wahr an, was die Organisation vorgibt. 338 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auf der Rückseite des Heftes wird betont, dass die Verbreitung der Broschüre "durch Behörden und deren Beschäftigte" zulässig sei, da dies weder eine Verbindung zu einer religiösen Vereinigung noch die Förderung einer solchen impliziere. Der Inhalt sei "religiös-weltanschaulich neutral" und ziele auf die Förderung des Gemeinwohls ab. Diese Formulierung soll die Verbindung zur SO, die sich selbst als religiöse beziehungsweise weltanschauliche Vereinigung versteht, verschleiern und animiert Adressaten in Behörden zur Weitergabe der Broschüre an Kinderund Jugendeinrichtungen. Auch wenn von der Lektüre der Broschüre noch keine direkte Gefahr für Kinder ausgeht, stellt die Nähe zur SO beziehungsweise die Anwendung scientologischer Verfahren an Kindern und Jugendlichen eine grundsätzliche Gefährdung des Kindeswohls und der gesunden geistigen Entwicklung von Heranwachsenden dar. Die Gleichsetzung von Kindern und Erwachsenen kann zu einer körperlichen wie geistigen Überforderung von Kindern führen. Zudem sind Störungen im Sozialverhalten sowie Beeinträchtigungen bei der Entwicklung einer eigenen Identität und Urteilsfähigkeit möglich. Dies gilt insbesondere für die oben dargestellte Aufforderung, nur das als Wahrheit zu akzeptieren, was nach eigener Auffassung "wahr" ist. "Der Weg zum Glücklichsein" ist auch der Urheber des KinderKinderpodcast podcasts "Tierische Abenteuer von Amanda's Bauernhof". In die"Amanda's Bauernsem Podcast wird ebenfalls versucht, Kindern spielerisch ideolohof" gische SO-Grundsätze zu vermitteln. 339 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Scientology-Organisation In kleinen Episoden erklärt der Podcast die Regeln der Broschüre "Wie man gute Entscheidungen trifft", u. a. mit Tiergeschichten zu Themen wie Lügen, Drogenkonsum und Diebstahl. Neben der direkten Ansprache von Kindern versuchte die SOTarnorganisation 2022 in mehreren Bundesländern, so auch in Bayern, direkten Kontakt zu Justizvollzugsanstalten herzustellen. Sie bot den Justizvollzugsveranstaltungen ihre Erwachsenenbroschüre "Der Weg zum Glücklichsein" als Lektüre für die Insassen an. Auf diese Weise möchte die Organisation eigenen Angaben zufolge "Straffälligen" helfen, "wieder auf den richtigen Weg zurückzufinden". Tatsächliches Ziel der Aktion ist es, Personen in schwierigen Lebenslagen wie z. B. Strafgefangene an die Ideologie der SO heranzuführen. 2.4 Nutzung eines Nachrichtenportals durch die Scientology-Organisation Die SO nutzt nach wie vor auch die Onlinedienste eines unabhängigen Nachrichtenportals als Plattform, um ihre Ideologie zu verbreiten. Gegen Gebühr kann die Organisation so ihre Pressemitteilungen über ein internationales News-Netzwerk, darunter namhafte internationale Agenturen, weltweit in Umlauf bringen. Auf diese Weise gelingt es der SO, sich selbst und die Aktivitäten ihrer Nebenorganisationen einem Empfängerkreis zu präsentieren, der ihr bislang nicht offenstand. Dabei wurden wiederholt Mitteilungen auf Wirtschaftsbeziehungsweise Börsenportalen festgestellt. Dahinter steht vermutlich das Kalkül, finanzstarke und erfolgsorientierte Personen für die SO und ihre vermeintlich sozialen Kampagnen zu interessieren. So wurden beispielsweise der Einsatz der "Ehrenamtlichen Geistlichen" in den Flutgebieten thematisiert, die Erfolge ihrer vorgeblichen Hilfsprogramme wie "Sag NEIN zu Drogen, sag JA zum Leben", "Criminon" und "Der Weg zum Glücklichsein" dargestellt sowie die behauptete Diskriminierung von Scientologen in Deutschland aufgrund ihrer "Religionszugehörigkeit" angeprangert. 340 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Neben der Präsentation eigener Kampagnen nutzt die SO das Portal auch, um einzelne ideologische Aspekte zu erläutern. So wurde in einem Artikel anlässlich des "Jahrestages der Dianetik" das scientologische Grundlagenbuch "Dianetik: Der Leitfaden für den menschlichen Verstand" vorgestellt und das Verfahren der Dianetik an "Erfolgsbeispielen" erklärt. Eine Überprüfung des Inhaltes beziehungsweise des Wahrheitsgehaltes der verbreiteten Informationen findet in diesem Nachrichtenportal nicht statt. Das Nachrichtenportal zählt sich mit - nach eigenen Angaben - über 100.000 Abonnenten zu den führenden Nachrichtenagenturen Europas. 3. ORGANISATIONSSTRUKTUR Die SO ist wie ein internationaler Wirtschaftskonzern organisiert und strukturiert. Alle Einrichtungen unterliegen trotz scheinbarer Selbstständigkeit der strikten Befehlsund Disziplinargewalt des "Religious Technology Center" (RTC) in Los Angeles (USA), geführt von David Miscavige, dem Nachfolger des SO-Gründers Hubbard. Der "Church-Bereich" ist neben den Tarnorganisationen WISE und ABLE eine der wichtigsten organisatorischen Säulen der SO. Er gliedert sich in die Einheiten "Kirchen" (Orgs), "Missionen" und "Celebrity Centres". 341 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Scientology-Organisation Dachverband in Deutschland ist die "Scientology Kirche Deutschland e. V." (SKD), in Bayern existiert parallel dazu die "Scientology Kirche Bayern e. V." (SKB). Sowohl die SKD als auch die SKB haben ihren Sitz in München. "Org"-Einheiten sind insbesondere für den Verkauf und die Durchführung der weiterführenden Scientology-typischen Dienstleistungen zuständig. Hierzu gehören u. a. Dianetik-Kurse, "Auditings" und "Rundowns" sowie verschiedene interne Ausund Fortbildungen für Mitglieder. Kampagne "Ideales Im Rahmen ihrer "Ideale-Org"-Kampagne will die SO weltweit Deutschland" in Städten, die sie zur Erreichung ihrer Ziele als politisch und wirtschaftlich bedeutsam einschätzt, große und repräsentative Niederlassungen ("Ideale Orgs") aufbauen beziehungsweise bereits bestehende Einrichtungen vergrößern. Diese "Idealen Orgs" sollen politischen Einfluss nehmen (u. a. durch Standorte in Regierungs-/Parlamentsnähe) und auch den Erfolg der SO demonstrieren. Die Eröffnung einer "Idealen Org" ist an bestimmte, von Hubbard festgelegte Kriterien hinsichtlich Größe, Mitarbeiterzahl und Ausstattung gebunden. In einer "Idealen Org" sollen sämtliche Dienstleistungen der SO unter einem Dach angeboten werden können. Der Aufbau einer "Idealen Org" wird allein aus Spenden finanziert. Ideale Orgs in In Deutschland existieren bislang 3 "Ideale Orgs": 2007 wurde Deutschland in Berlin eine "Ideale Org" eröffnet und im Januar 2012 eine weitere in Hamburg. Am 9. September 2018 folgte die Eröffnung einer dritten deutschen "Idealen Org" in Stuttgart. Strategisches Ziel der SO ist ein "Ideales Deutschland", in dem alle bestehenden Einrichtungen dem Prädikat "ideal" entsprechen. Daher muss mit der Eröffnung weiterer "Idealer Orgs" gerechnet werden. In München sind Bemühungen erkennbar, die Voraussetzungen für die Etablierung einer "Idealen Org" zu schaffen. Die "Missionen" sind vor allem als Vorfeldorganisationen tätig und stehen in der SO-Hierarchie unterhalb der "Org-Einheiten". Ihre hauptamtlichen Angehörigen sowie nicht-hauptamtliche "Feldmitarbeiter" (englisch: Field Staff Members) werben mit Einstiegsangeboten wie Büchern, Infomaterialien und Einstiegskursen um potenzielle Mitglieder. Bereits seit 1980 gibt es in München ein "Celebrity Centre" (CC), das für Prominente vorgesehen ist. Grundsätzlich sollen die CC Politiker, Führungskräfte aus der Wirtschaft, Medienleute, Kunstschaffende und andere Prominente für SO gewinnen, 342 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 um sie für Propagandazwecke nutzen zu können. Das räumlich von der "Org München" getrennte "CC München" ist hinsichtlich seines Stellenwertes für die Propagandaaktivitäten der SO nicht mit den CC in den USA vergleichbar. Typisch für das Innenleben von SO-Organisationen ist die stänPermanente dige Veröffentlichung interner Leistungsstatistiken und RangLeistungskontrolle listen. Diese weisen sowohl Umsatzund Absatzbilanzen einzelner Organisationseinheiten als auch kleinste Aktivitäten, wie z. B. Flyerverteilungen und Anwerbegespräche einzelner Mitglieder, aus. Durch die permanente Leistungsdokumentation soll ein Quotendruck zur Steigerung von Umsatzzahlen, Mitgliederanwerbungen und Spendenerlösen erzeugt sowie ein Konkurrenzverhältnis zwischen den einzelnen Organisationsteilen und den Mitgliedern geschaffen werden. Im Zuge der Corona-Pandemie hat die SO mit sogenannten Etablierung von "Heimkursen" eine weitere Möglichkeit geschaffen, Mitglieder Heimkursen an sich zu binden, neuen Mitgliedern den Einstieg zu erleichtern und zusätzliche Statistiken zu erheben. Ferner ist die statistische Dauererfassung auch ein Mittel der Mitgliederkontrolle und bildet die vermeintlich objektive Grundlage für das rigide Belohnungsund Bestrafungssystem der SO. Dabei sind beispielsweise Scientologen, die keine zufriedenstellenden Erlöszahlen für die SO liefern, eher Bestrafungsmaßnahmen ausgesetzt als Mitglieder, die gute Gewinne erzielen. Zu diesen Bestrafungsmaßnahmen zählen z. B. diverse Disziplinarbeziehungsweise Erziehungsmaßnahmen, Degradierungen, die Aberkennung von Zertifikaten, die Erklärung zur "unterdrückerischen Person" sowie die Verstoßung aus der Organisation. Die Kosten für Heimkurse unterscheiden sich nicht von den regulären Kursen vor Ort. 3.1 Finanzierung der Scientology-Organisation Die SO finanziert sich insbesondere durch die Durchführung von kostenpflichtigen Kursen und den Vertrieb von Kursmaterialien. Wer sich der SO anschließt, muss einen genau vorgezeichneten Trainingsweg beschreiten, um zum scientologischen Übermenschen, dem "Operierenden Thetan" (OT), zu werden. Vom ersten bis zum letzten Kurs ist mit Kosten in Höhe von mehreren Hunderttausend Euro zu rechnen. Hinzu kommt der steigende Druck auf die Mitglieder, Spenden zu leisten. Je nach finanzieller Leistungsfähigkeit variiert die Höhe der Einzelspenden zwischen einigen Hundert bis zu mehreren Hunderttausend Euro. Teil der Kurse ist das "Auditing", eine Psychotechnik, bei dem die 343 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Scientology-Organisation Mitglieder der SO sämtliche Informationen bis hin zu intimsten Details über ihr Leben preisgeben müssen. Dies macht sie für die SO zum gläsernen Menschen, letztendlich kompromittierund erpressbar und erhöht somit den Spendendruck zusätzlich. Weiterhin versucht die SO, die für die Schaffung einer "Idealen Org" in München notwendigen finanziellen Mittel zu akquirieren, und fordert die Mitglieder deshalb auch vermehrt zu zusätzlichen Spenden auf. Eine besondere Bedeutung bei der Finanzierung der SO kommt der Organisation "International Association of Scientologists" (IAS) zu. Diese Organisation führt regelmäßig Veranstaltungen zum Sammeln von Spenden durch. Mit diesen Spenden werden SO-Einrichtungen und Kampagnen finanziert. Großspender werden geehrt und in SO-eigenen Medien veröffentlicht. Dabei geht es um Summen von bis zu zweistelligen Millionenbeträgen. 3.2 Unterorganisationen der ScientologyOrganisation Neben dem "Church"-Bereich sind die Unterorganisationen "World Institute of Scientology Enterprises" (WISE) und "Association for Better Living and Education" (ABLE) die wichtigsten organisatorischen Säulen der SO. WISE WISE ist ein franchiseähnlicher Zusammenschluss von Unternehmen, die durch Lizenzverträge an die SO gebunden sind und nach deren Methoden arbeiten. WISE hat zum Ziel, die Wirtschaft zu unterwandern und Gewinne durch den Verkauf von SO-Management-Techniken an Unternehmen zu erwirtschaften. WISE-Unternehmen sind in allen Branchen zu finden, wobei vor allem Unternehmensund Personalberatung, Coachingangebote und die Immobilienbranche im Fokus der Organisation stehen. Die SO verfügt zudem über Managementakademien und ein eigenes wirtschaftsorientiertes Kursprogramm mit Seminaren zu Themen wie Motivation, Effizienz, Organisation, Kommunikation und Management nach Statistiken. ABLE Mit Hilfe von ABLE versucht die SO, sich auch als soziale Organisation darzustellen. Unter dem Dach von ABLE agieren u. a. die angebliche Hilfsorganisation für Drogenabhängige "NARCONON" sowie mit "Criminon" ein "Rehabilitierungsprogramm für 344 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Strafgefangene" (beide in Deutschland nicht aktiv), die Kampagne "Sag NEIN zu Drogen - Sag JA zum Leben", die Organisation "Der Weg zum Glücklichsein", die "Ehrenamtlichen Geistlichen" und das Ausbildungsprogramm "Applied Scholastics", das im Bereich der Kinderund Erwachsenenbildung aktiv ist. Auch die "Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e. V." (KVPM) ist Teil von ABLE. Die KVPM diffamiert mit pauschaler und tendenziöser Kritik die medizinische Psychiatrie und reklamiert für sich, den einzig wahren Weg zur Heilung psychischer Krankheiten zu kennen. KVPM-Initiativen wie "Jugend für Menschenrechte" oder "Gemeinsam für Menschenrechte" sollen junge Menschen für die Themen der SO begeistern. Der Status der KVPM als Teilorganisation der SO wird bei Veranstaltungen nicht offengelegt. Interessierte werden somit gezielt über die eigentliche Zielsetzung und ideologische Ausrichtung getäuscht. Die KVPM arbeitet anlassbezogen auch mit Verbänden außerhalb Deutschlands zusammen. Die KVPM führt jährlich im Januar, so auch 2022, in München eine Mahnwache mit dem Titel "Zum Gedenken an die Opfer des Holocaust" durch. Im Allgemeinen treten SO-Einrichtungen überwiegend offen auf und versuchen nicht, ihre Verbindung zur Organisation zu verschleiern. Daneben bedient sich die SO allerdings auch verschiedener Nebenund Tarnorganisationen, die auf den ersten Blick keinen Zusammenhang mit der SO erkennen lassen. Unter dem Deckmantel dieser Organisationen versucht die SO, sich in unterschiedliche gesellschaftliche und politische Themen einzubringen, um die scientologische Ideologie in die Gesellschaft zu tragen. Diese Themen zeichnen sich meist durch zwei Aspekte aus: Es gibt einen relativ breiten gesellschaftlichen Konsens, in den sich die SO einordnet, z. B. den Kampf gegen Drogenmissbrauch. Die SO versucht auf diese Weise, an Menschen heranzukommen, die Hilfe brauchen, sich in einer Lebenskrise befinden und damit leichter beeinflussbar sind, z. B. Drogenabhängige, psychisch Kranke, straffällig gewordene Personen oder Schülerinnen und Schüler mit schlechten Schulleistungen. So bieten beispielsweise von Scientologen betriebene Nachhilfeinstitute zum Teil verdeckt, zum Teil aber auch offen scientologisch geprägte Kurse für Kinder und Erwachsene an. Insbesondere Kinder werden somit schon früh unterschwellig und spielerisch in scientologische Denkweisen eingeführt. 345 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Scientology-Organisation Scientologische In Bayern arbeitet beispielsweise die "Nachhilfeund SprachenNachhilfeinstitute schule Grübl und Kroggel" in Zirndorf mit der SO-Technik "Applied Scholastics". Auf den Internetseiten dieses Institutes wird als Urheber der Lernmethode der SO-Gründer Hubbard zwar erwähnt, allerdings wird behauptet, dass "Applied Scholastics" weder Teil einer Scientology-Kirche sei noch finanzielle Verbindungen mit einer solchen unterhalte. Dadurch werden Interessenten bewusst getäuscht. "Applied Scholastics" ist eine eingetragene Marke, deren Rechte dem "Religious Technology Center" der SO gehören. Somit ist "Applied Scholastics" zwar nicht Teil einer Scientology-Kirche, aber sehr wohl Teil der SO. Offenbar als Reaktion auf die Nennung in den Verfassungsschutzberichten wurden mittlerweile die Hinweise auf "Applied Scholastics", Hubbard und die SO von den Internetseiten der "Lernakademie" in München Milbertshofen entfernt. Auch das "Lernstudio Konrad" in Laufen hat nach der Nennung im Bayerischen Verfassungsschutzbericht 2021 sämtliche Erläuterungen zu "Applied Scholastics" von seiner Webseite entfernt. Lediglich das Symbol mit der Unterschrift "Applied Scholastics" ist dort noch zu finden. Daher ist davon auszugehen, dass diese Lernmethode nach wie vor Anwendung findet. Die SO setzt somit bewusst auf Tarnorganisationen, um auch Personen erreichen zu können, die ihr zunächst ablehnend gegenüberstehen. Ziel der SO ist es, dauerhafte Kontakte zu Menschen aufzubauen, die zu einem späteren Zeitpunkt in die Hauptorganisation und das damit verbundene kostspielige Kurssystem eingegliedert werden können. Da Informationsstände von Teilbeziehungsweise Tarnorganisationen nicht immer klar der SO zuzuordnen sind, besteht hier grundsätzlich die Gefahr, dass die Bevölkerung diese Veranstaltungen nicht als Aktivitäten der SO erkennt und unwissentlich auf Kontaktangebote der SO eingeht. Geheimdienst OSA der SO Innerhalb des streng hierarchischen Aufbaus der SO gibt es zahlreiche Überwachungseinrichtungen und einen eigenen Geheimdienst, das "Office of Special Affairs" (OSA). Dieser soll Informationen über alle Personen sammeln und auswerten, die der SO kritisch oder ablehnend gegenüberstehen (z. B. Behördenangehörige), und als Druckmittel verwenden. Zu seinen Methoden gehören Verfolgung, Belästigung und Schikane der vermeintlichen Feinde der SO, um diese zu zermürben, sowie Verleumdungskampagnen zum Zweck der öffentlichen Dis346 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 kreditierung. Die OSA-Einheit für Deutschland ("Department of Special Affairs - DSA") ist bei der "Scientology Kirche Deutschland e. V." mit Sitz in München angesiedelt. Hubbard sah in der OSA hauptsächlich das Ziel, [...] Behörden und [...] Denkmodelle oder Gesellschaften in einen Zustand völliger Überein stimmung mit den Zielen der SO zu bringen. [...] Dies geschieht durch die hochrangige Fähigkeit zur Steuerung und - falls sie nicht gegeben ist - durch die weiter unten angesiedelte Fähigkeit zur Überwältigung. (HubbardAnweisung vom 15. August 1960) Auch Öffentlichkeitsarbeit gehört zu den Aufgaben des OSA. Im scientologischen Sinne bedeutet dies, innerhalb der Gesellschaft eine positive Haltung gegenüber der SO und eine negative Einstellung gegenüber ihren Kritikern zu schaffen. Tarnorganisationen der Scientology-Organisation 347 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Scientology-Organisation Logo Bezeichnung World Institute of Scientology Enterprises (WISE) Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e. V. (KVPM) Association for Better Living and Education (ABLE) Jugend für Menschenrechte e. V. Applied Scholastics Sag NEIN zu Drogen - Sag JA zum Leben e. V. Der Weg zum Glücklichsein NARCONON CRIMINON Ehrenamtliche Geistliche (Volunteer Ministers) 348 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 3.3 Formen der Kontaktaufnahme Die SO-Einrichtungen versuchen, auf verschiedenen Wegen einen ersten Kontakt herzustellen: - Veranstaltungen und Infostände in den Innenstädten - Ansprechen auf der Straße mit dem Angebot, einen Persönlichkeitstest zu machen - Zusenden von Werbematerial - Angebote an Unternehmen zu Betriebsführungstechniken und Kursen zur Persönlichkeitsveränderung - Angebote auf dem Nachhilfemarkt - Kontaktaufnahmen in sozialen Netzwerken wie Facebook, YouTube und Instagram Mit jugendaffinen Profilen in sozialen Netzwerken und VideoScientology in den clips versuchen die SO und ihre Tarnorganisationen, insbesonsozialen Medien dere junge Leute zu erreichen. Die SO thematisiert dazu die für diese Altersgruppe typischen Sorgen und Probleme. Dabei profitiert sie u. a. von jungen Mitgliedern, die in SO-geprägten Elternhäusern aufgewachsen sind. Diese jungen Menschen, für die die SO selbstverständlicher Bestandteil ihres Lebens ist, vermitteln ein Bild der SO, das jung, modern und somit zielgruppenaffin wirkt und geeignet ist, andere junge Menschen zumindest für die Organisation zu interessieren. Jugendliche sollen sich in ihrer Lebenswelt abgeholt fühlen und den Eindruck gewinnen, die SO verstehe ihre Probleme besser als andere. Das Ziel ist letztlich, Jugendliche und junge Erwachsene für die Organisation und ihre Tarnorganisationen dauerhaft als Mitglieder zu werben. Seit Juni 2018 betreibt die Organisation einen eigenen TV-Sender als Streamingangebot. "Scientology TV" ermöglicht es der SO, ihre eigenen Ansichten und vermeintlichen "Wahrheiten" zu verbreiten, ohne sich kritischen Fragen stellen zu müssen. Verschiedene Formate geben Einblicke in das Leben als Scientologinnen und Scientologen, die verschiedenen übergeordneten Einrichtungen der Organisation sowie in die Biografie Hubbards. Im Zuge der Corona-Pandemie und der damit einhergehenden Schließung der SO-Einrichtungen hat auch "Scientology TV" einen neuen Stellenwert erreicht. In verschiedenen Formaten wurde versucht, die Verbundenheit der Mitglieder mit der Organisation zu stärken. So präsentieren beispielsweise Scientologen aus der ganzen Welt in kleinen Videos, wie sie die "ScientologyPrinzipien" im Alltag anwenden. 349 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Scientology-Organisation Die Organisation hält aber auch an den oben genannten klassischen Methoden der Kontaktaufnahme fest. 4. AUSSTEIGERINNEN UND AUSSTEIGER In der Vergangenheit haben mehrere hochrangige beziehungsweise prominente SO-Mitglieder aus unterschiedlichen Motiven die SO verlassen. Zudem erschienen international mehrere Veröffentlichungen ehemaliger Scientologinnen und Scientologen über ihre Erfahrungen in der SO. Auch in Fernsehsendungen und Podcasts berichten zum Teil hochrangige ehemalige SO-Mitglieder über ihre Zeit in der Organisation und ihren Ausstieg, verbunden mit einer Warnung vor der Organisation. Personen, die sich in der Öffentlichkeit aktiv gegen die SO wenden, werden von ihr als "unterdrückerisch", "antisozial" oder "geisteskrank" diffamiert und müssen mit Verfolgung, Bedrohung und Erpressung rechnen. Dabei macht die SO auch nicht vor Angehörigen und dem persönlichen Umfeld der Betroffenen Halt. Im deutschsprachigen Raum wurden beispielsweise Facebook-Seiten mit gezielten Diffamierungen SO-kritischer Personen bekannt. Aussteigern und Betroffenen stehen bundesweit zahlreiche Institutionen und private Initiativen zur Verfügung, die Ratsuchenden eine erste pädagogisch-psychologische Beratung, Unterstützung und Krisenhilfe anbieten. 350 Scientology-Organisation Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Vertrauliches Telefon Für Opfer und Aussteiger der SO sowie für Angehörige von SO-Mitgliedern unterhält das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz ein vertrauliches Telefon; dort können Hinweise zur SO gegeben werden: Telefon: 089/31201 296 Weitere Informationen und Beratungsstellen: Broschüre: "Das System Scientology" www.stmi.bayern.de www.verfassungsschutz.bayern.de 351 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, Cyber-Allianz-Zentrum (CAZ) " Eröffnung des Cyber-Lage-Zentrums in den Räumen des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz am 9. November 352 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Nachrichtendienste vieler Staaten haben die Aufgabe, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Militär anderer Staaten auszuforschen. Ihr Ziel ist es, entweder die Erkenntnisse selbst zu nutzen oder Möglichkeiten zu schaffen, andere Staaten zu sabotieren. Im Rahmen gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichteter staatlicher Spionagetätigkeiten werden im Inund Ausland deutsche Interessen ausgespäht. Auch elektronische Angriffe auf die Kommunikation von Behörden, Hochschulen und Wirtschaftsunternehmen sowie der Kritischen Infrastruktur gehören zunehmend zum Repertoire zahlreicher ausländischer Nachrichtendienste. Politische und militärische Spionage ist häufig auf die Außen-, Europaund Bündnispolitik sowie die Wirtschaftsund Energiepolitik der Bundesrepublik ausgerichtet. Wie intensiv ein Staat Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage betreibt, hängt von seiner eigenen wirtschaftlichen Lage ab. Wirtschaftlich weniger entwickelte Staaten kundschaften in erster Linie Produkte und Fertigungsprozesse aus und wollen so mit möglichst geringem Aufwand an benötigtes Know-how gelangen. Wirtschaftlich hochentwickelte Staaten, die selbst über Hochtechnologie verfügen, versuchen darüber hinaus, an strategische Informationen zu gelangen, um die eigene Wirtschaft im globalen Wettbewerb besserstellen zu können. 353 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Wirtschaftsspionage verursacht in Deutschland jährlich Schäden in Milliardenhöhe und gefährdet unzählige Arbeitsplätze. Gerade bayerische Firmen und Hochschuleinrichtungen stehen wegen ihrer Innovationskraft in nahezu allen Branchen und Forschungsbereichen im Blickfeld ausländischer Nachrichtendienste. Besonders gefährdet sind kleine und mittelständische Firmen, die Spitzentechnologie entwickeln oder produzieren, da sich diese oft noch nicht ausreichend vor Spionageangriffen schützen. Es ist daher unverzichtbar, präventiv Abwehrmechanismen zu implementieren. Im Rahmen seiner Wirtschaftsschutztätigkeit stellt das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz Unternehmen daher zielgerichtete Präventionsangebote zur Spionageabwehr zur Verfügung. Einen Schwerpunkt bildet auch hier die Abwehr elektronischer Angriffe, die seit Juli 2013 vom CyberAllianz-Zentrum Bayern (CAZ) wahrgenommen wird. Neben dem Betreiben von Spionageaktivitäten bemühen sich einige Staaten, in den Besitz von Technologien für atomare, biologische oder chemische Massenvernichtungswaffen mit den erforderlichen Trägersystemen zu gelangen (Proliferation). Einige Staaten versuchen zudem, die öffentliche Meinungsbildung in ihrem Sinne zu steuern. Desinformation und Propagandakampagnen bieten diesen Staaten zahlreiche Möglichkeiten, auf ihre Darstellung in Deutschland Einfluss zu nehmen. Besonders intensiv werden hier soziale Netzwerke, diskussionsorientierte Internetseiten und aus dem Ausland gesteuerte und finanzierte Think Tanks genutzt. 354 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 1. SPIONAGEAKTIVITÄTEN AUSLÄNDISCHER NACHRICHTENDIENSTE Ausländische Nachrichtendienste arbeiten regelmäßig getarnt in Legalresidenturen Deutschland. Ausgangspunkt für ihre Spionageaktivitäten sind häufig sogenannte "Legalresidenturen", die in den offiziellen (z. B. Botschaften oder Generalkonsulate) oder halboffiziellen (z. B. Presseagenturen) Vertretungen ausländischer Staaten in Deutschland untergebracht sind. Dort tarnen ausländische Nachrichtendienste ihre Mitarbeiter, die mit verschiedenen Methoden Informationen selbst beschaffen oder nachrichtendienstliche Operationen aus den Heimatstaaten unterstützen. Zu den Aufgaben von Angehörigen ausländischer Nachrichtendienste gehört es auch, Internetanalysen durchzuführen und Veranstaltungen zu besuchen, um zielgerichtet nachrichtendienstlich relevante Kontakte zu knüpfen. Gegenstand der Spionageaktivitäten können z. B. auch in Deutschland lebende Oppositionelle oder die gezielte Desinformation der deutschen Öffentlichkeit sein. Spionage gegen die Interessen Deutschlands wird nach wie vor sowohl mit menschlichen Quellen als auch mit technischen Mitteln durchgeführt. Beides geschieht wahlweise offen oder konspirativ. Die Tarnung als Medienschaffende, Wirtschaftsoder Handelsattaches bietet vielfältige Möglichkeiten, an Informationen zu gelangen, z. B. auf Messen oder Tagungen. Sogenannte "Illegale", langfristig im Zielland eingesetzte Nachrichtendienstangehörige, werden mit einer Tarnidentität ausgestattet. Die Enttarnung dieser "Illegalen" durch die Spionageabwehr gelingt meist nur mit großem operativem Aufwand. Ein etwaiger Diplomatenstatus schützt Nachrichtendienstangehörige bei Enttarnung vor Strafverfolgung und lässt nur ihre Ausweisung zu. Besonders im Fokus nachrichtendienstlicher Aktivitäten stehen Zielpersonen Zielpersonen aus Parteien, politischen Institutionen, Behörden, Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Die meist arglosen Personen werden oftmals durch geschickte Gesprächsführung Opfer von Ausspähungsaktivitäten. Nicht selten können getarnte Nachrichtendienstangehörige bereits auf diesem Weg sensible Informationen gewinnen. 355 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn spielen für Anwerbeversuche ausländischer Nachrichtendienste eine große Rolle. Diese können unmittelbar aus den jeweiligen Heimatstaaten initiiert und gesteuert werden. Getarnt als Arbeitskräfte aus den Bereichen Wissenschaft, Jobvermittlung oder Headhunting versuchen Angehörige ausländischer Nachrichtendienste, auch über das Internet Kontakte zu für sie interessanten Personen herzustellen. Kontaktanbahnung Erfolgt dann beispielsweise ein reizvolles Jobangebot mit anschließender Einladung in den jeweiligen Staat, sind Betroffene der Gefahr der nachrichtendienstlichen Anbahnung ausgesetzt. Auch Angehörige diplomatischer Vertretungen, Behörden und Firmen sowie Studenten, die sich längerfristig im Ausland aufhalten oder auf Reisen befinden, können ins Visier ausländischer Nachrichtendienste geraten. Der Heimvorteil bietet Nachrichtendiensten ein breites Spektrum von Überwachungsund Kontrollmöglichkeiten, um Zielpersonen bei passender Gelegenheit anzusprechen. So werden u. a. kompromittierende Situationen geschaffen oder als Druckmittel verwendet. Möglich ist auch eine Anwerbung auf vorgeblich freundschaftlicher Basis. Verurteilung wegen Am 13. April verurteilte der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts Spionage München einen russischen Staatsangehörigen wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr, ausgesetzt zur Bewährung. Der wissenschaftliche Mitarbeiter hatte Informationen zu Forschungsprojekten aus dem Bereich der Luftund Raumfahrttechnologie für einen russischen Auslandsnachrichtendienst beschafft. Spionageaktivitäten erfolgen in zunehmendem Maße auch mit technischen Mitteln. Das Abhören von inländischer Kommunikation kann dabei über Server oder Internetknoten im Ausland erfolgen. Auch hierfür können Legalresidenturen genutzt werden. Fernmeldeaufklärungsmaßnahmen gegen deutsche Interessen werden von diplomatischen Vertretungen in deren Nahbereich durchgeführt. Betroffen sind hier insbesondere Gespräche mit Mobiltelefonen, WLANoder Bluetooth-Verbindungen sowie Laptops oder Tablets. 356 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die Zielobjekte und -methoden variieren stark: Sie reichen von der Methoden Sabotage Kritischer Infrastruktur über das Ausspähen, Kopieren oder Verändern von Daten, der Übernahme einer fremden elektronischen Identität und dem Missbrauch oder der Sabotage fremder IT-Strukturen bis hin zur Übernahme von Produktionsund Steuereinrichtungen. Angriffe erfolgen beispielsweise von außen durch Computernetzwerke oder manipulierte Hardware wie USB-Sticks. Auch in Deutschland stehen insbesondere Politik und Verwaltung im Fokus nachrichtendienstlich gesteuerter Cyberangriffe. Dabei sind vor allem die Bereiche Außenund Sicherheitspolitik, Finanzen sowie Militär und Rüstung für die Angreifer von zentralem Interesse. Hier ist ein strategisches Vorgehen festzustellen, das sich bei besonderen Anlässen regelmäßig intensiviert. Hochrangige Verantwortliche beziehungsweise deren unmittelbares Umfeld sollen beispielsweise im Vorfeld von Gipfeltreffen durch authentisch gestaltete E-Mails verleitet werden, den mit einer Schadsoftware versehenen Anhang zu öffnen und so eine Infektion der Systeme auszulösen. Ziel dieser Angriffe ist es, frühzeitig die geplante strategische Vorgehensweise in den Gipfeltreffen auszuspähen, entsprechend darauf zu reagieren und eine bessere Verhandlungsposition zu erreichen. Cyberangriffe stellen auch in den Bereichen Wirtschaft und Forschung aus Sicht ausländischer Nachrichtendienste ein geeignetes Spionagemittel dar. Einzelne Nachrichtendienste verfügen über eine gesetzliche Grundlage und somit den staatlichen Auftrag, die eigene Volkswirtschaft mit nachrichtendienstlichen Mitteln zu stärken. Die damit in Deutschland verursachten volkswirtschaftlichen Schäden sind bedeutend: Schätzungen zufolge führt der illegale Abfluss geistigen Eigentums jährlich zu einem Schaden von mehreren Milliarden Euro. Insbesondere Unternehmen aus den Bereichen Rüstung, Luftund Raumfahrt, die Automobilindustrie sowie Forschungsinstitute sind betroffen. Werden Cyberattacken bekannt, erschwert die Anonymität des Internets die Identifizierung und Verfolgung der Verantwortlichen. Durch forensische Analysen lassen sich jedoch immer wieder wichtige Hinweise auf die Herkunft und die Verursacher dieser Attacken gewinnen. Weisen die Cyberangriffe einen nachrichtendienstlichen Hintergrund auf, sind die Verfassungsschutzbehörden zuständig. 357 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ 1.1 Russische Föderation Aufgabe russischer Nachrichtendienste ist es, neben den politischen auch die wirtschaftlichen Interessen Russlands weltweit voranzutreiben. Die russische Wirtschaft profitiert in erheblichem Maß davon, dass alle russischen Nachrichtendienste gesetzlich dazu verpflichtet sind, Wirtschaftsspionage zu betreiben. Die Gesamtzahl der Angehörigen aller russischen Nachrichtendienste bewegt sich Schätzungen zufolge in einem mittleren 6-stelligen Bereich. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat konkrete Auswirkungen auf künftige Aktivitäten russischer Nachrichtendienste in Deutschland. Dabei ist mit einem deutlichen Anstieg und einer Anpassung der nachrichtendienstlichen Vorgehensweise zu rechnen. Ausweisung russiAls Reaktion auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine scher Diplomaten wies Deutschland am 4. April 40 russische Diplomaten aus. Insgesamt sollen mehr als 400 Angehörige von russischen diplomatischen Vertretungen, vor allem aus der Europäischen Union, ausgewiesen worden sein. Russland reagierte im Gegenzug ebenfalls mit der Ausweisung von Diplomaten. Die Aufklärung von Aktivitäten russischer Nachrichtendienste wurde durch die Ausweisungen zunächst erschwert. Es ist damit zu rechnen, dass diese im Ausland künftig weniger über Legalresidenturen, sondern verstärkt über andere Kanäle agieren, die schwieriger zu identifizieren sind, wie zum Beispiel als Reisende getarnte Agenten. Russland setzt vor allem 3 Nachrichtendienste ein: - Ziviler Auslandsnachrichtendienst (SWR), - Inlandsnachrichtendienst (FSB), - Militärischer Auslandsnachrichtendienst (GRU). 358 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Ziviler Auslandsnachrichtendienst (SWR) Der SWR ist zuständig für Spionage in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie. Darüber hinaus forscht er Ziele und Arbeitsmethoden westlicher Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden aus und bedient sich dazu auch der elektronischen Fernmeldeaufklärung. Zur Informationsbeschaffung setzt der SWR sogenannte "Illegale" ein, d. h. Nachrichtendienstangehörige, die unter Verwendung von Tarnidentitäten langfristig in die Zielstaaten eingeschleust werden und dort möglichst unauffällig am sozialen Leben teilnehmen. Inlandsnachrichtendienst (FSB) Hauptaufgaben des FSB sind die zivile und militärische Spionageabwehr. Hierzu verfügt der FSB über umfangreiche Befugnisse. Auch ausländische Staatsangehörige können in das Blickfeld des FSB geraten und gezielt überwacht werden, wenn sie in Russland Internet oder Telefon nutzen. Der FSB hat Zugriff auf den Datenverkehr, der über russische Provider abgewickelt wird. Zudem verfügt der FSB über den Zugang zu Datenbanken russischer Telefongesellschaften. Gebäude des FSB 359 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Militärischer Auslandsnachrichtendienst (GRU) Der GRU hat die Aufgabe, das gesamte sicherheitspolitische und militärische Spektrum aufzuklären. Dazu spioniert er Bundeswehr, NATO und andere westliche Verteidigungsstrukturen genauso wie militärisch nutzbare Technologien aus. Gebäude des GRU Jenseits seiner Spionageinteressen ist Russland bestrebt, die politische und öffentliche Meinung in Deutschland zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Bei deutschen Kontakten vertreten Angehörige der russischen Dienste offensiv Positionen des Kremls, werben um Verständnis für die russische Politik und versuchen, ihr Gegenüber als Multiplikator zur Verbreitung russlandfreundlicher Sichtweisen und Narrative zu gewinnen. Propaganda und Wie bereits in den vergangenen Jahren verbreiten zahlreiche perDesinfomation sonelle wie auch institutionelle Akteure der Russischen Föderation nach wie vor auf vielfältigen Wegen prorussische Propaganda und Desinformation. Wichtige Werkzeuge sind dabei - oft unter Nutzung von Social Bots und Fake-Profilen - soziale Netzwerke, staatlich geförderte und private Institute (z. B. Think Tanks), einzelne eigenständig agierende einflussreiche Einzelpersonen und Organisationen sowie russische Staatsmedien. Desinformationen werden sowohl über klassische Medien (Radio, TV, Presse und entsprechende Webseiten) als auch über damit verbundene Kanäle in den sozialen Medien wie Twitter, Facebook, Telegram und YouTube verbreitet. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass derartige "Meinungsäußerungen" durch staatliche russische Stellen initiiert werden. Zusätzlich haben Einzelpersonen für die Verbreitung russischer Propaganda und Desinformation über soziale Medien an Bedeutung gewonnen. Die Grenzen zwischen staatlichen, staatlich gesteuerten und persönlich motivierten Desinformationskampagnen verschwimmen dabei zunehmend. 360 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die Bundesregierung und das Bundesministerium des Innern Kampagne gegen und für Heimat haben im Juli eine gemeinsame Kampagne Desinformation gegen Desinformation im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gestartet. Dabei wurde die für die Öffentlichkeit konzipierte Handreichung "Gemeinsam gegen Desinformation" erarbeitet, die auch auf Englisch, Russisch und Ukrainisch verfügbar ist. Die BroGemeinsam gegen Desinformation schüre soll dazu beitragen, die Bevölkerung über rusDesinformation im Kontext des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine sische Desinformation im Zusammenhang mit dem Was bedeutet "Desinformation"? Was bedeutet Desinformation im Kontext des russischen Angriffskrieges? völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands aufzuDesinformation ist falsche oder irreführende Information, die gezielt verbreitet wird. Davon zu unterscheiden sind falsche oder irreführenDie russische Regierung nutzt schon seit Jahren u. a. ihre staatlichen Medien sowie vermeintlich klären. Weitere Informationen und Links hierzu sind de Informationen, die irrtümlich bzw. ohne Täuneutrale, aber von Russland gesteuerte oder fischungsabsicht entstehen und verbreitet werden. nanzierte Kanäle, um Desinformation und Propaganda zu verbreiten, auch in Deutschland. Desinformation wird von nicht-staatlichen AkSeit Anfang März 2022 sind EU-Sanktionsmaßauf der Webseite des Bundesministeriums des Innern teuren aus dem Inund Ausland sowie von ausländischen staatlichen Akteuren aus unterschiedlichen Motivationen heraus eingesetzt. Die nahmen gegen mehrere russische Sender in Kraft getreten, die unter direkter oder indirekter Kontrolle der russischen Regierung wesentlich und für Heimat (www.bmi.bund.de) abrufbar. Absender von Desinformation setzen darauf, die dazu beigetragen haben, die militärische AgEmpfänger zu täuschen und dazu zu verleiten, gression gegen die Ukraine propagandistisch falsche und irreführende Informationen weiterzu unterstützen. Die russische Regierung nutzt zuverbreiten. Wird Desinformation von einem nun verstärkt soziale Medien, um Desinformafremden Staat verbreitet, um dadurch illegitim tion und Propaganda zu verbreiten. Einfluss auf einen anderen Staat auszuüben, handelt es sich um eine hybride Bedrohung. Im Fokus stehen hierbei zum einen BemühunAuch das russische Medienangebot in Deutschland gen der russischen Regierung, den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen. Zum anderen versucht der Kreml gezielt, Reaktionen der Staatengemeinschaft auf wird durch den russischen Staat gefördert und ausgeden Krieg sowie die öffentliche Unterstützung der Ukraine zu erschweren oder ganz zu verhinBeabsichtigt wird die Verunsicherung der dern. baut. Staatliche Unternehmen werden als unabhängige Öffentlichkeit, Beeinflussung der öffentlichen Meinungsbildung, Verschleierung Was macht die Bundesregierung zur und Ablenkung von eigenen Aktivitäten, Bekämpfung von Desinformation? Emotionalisierung von kontroversen DeMedien getarnt, um die Zugehörigkeit zum russischen batten und Verstärkung gesellschaftlicher Das Auswärtige Amt (AA), das Bundespresseamt Spannungen sowie das Schüren von Miss(BPA) sowie das Bundesministerium des Innern trauen in staatliche Institutionen und Reund für Heimat (BMI) und seine nachgeordneten Staat zu verschleiern und die Öffentlichkeit auf subgierungshandeln. Behörden beobachten den Informationsraum hinsichtlich dort kursierender falscher oder irretile Weise zu beeinflussen. Die wichtigsten Akteure sind dabei der Internet-Sender "RT Deutsch" (RT DE) "RussiaToday" sowie die Nachrichtenagentur "Sputnik", die in der deutschspraund "Sputnik" chigen Ausgabe seit 2020 unter der Bezeichnung SNA ("Sputnik News Agency") firmiert. Als Reaktion auf die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine beschloss der EU-Rat am 2. März weitreichende Sanktionen gegen die Sendetätigkeiten der russischen Staatsmedien RT DE und SNA. Diese wichen daraufhin auf alternative Kanäle aus und sind über Satellit und diverse Internetkanäle weiterhin abrufbar. Innerhalb Russlands richten die Nachrichtendienste ihren Blick Gefährdungen in überwiegend auf ausländische Personen, die sich beruflich oder Russland privat für längere Zeit dort aufhalten. Dazu zählen insbesondere Angehörige diplomatischer Vertretungen, Behörden und Unternehmen sowie wissenschaftliches Personal und Studenten. Persönliche Daten in Visaanträgen, Grenzkontrollen sowie die Telefonund Internetüberwachung bieten den Diensten im eigenen Land zahlreiche Möglichkeiten, geeignete Zielpersonen für eine Ansprache zu ermitteln. Sofern die gewonnenen Informationen die Zielpersonen kompromittieren können, gehen die Dienste auch offensiv vor. Das am 15. Dezember 2021 ergangene Urteil im Prozess um Gefährdungen den sogenannten "Berliner Tiergartenmord" verdeutlicht, dass außerhalb Russlands auch in Deutschland Oppositionelle und Regimekritiker durch die Aktivitäten russischer Nachrichtendienst gefährdet sind. Das 361 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Kammergericht Berlin sah es in diesem Fall als erwiesen an, dass der Täter das Opfer tschetschenischer Abstammung im Auftrag staatlicher russischer Stellen getötet hatte. 1.2 Volksrepublik China Die "Kommunistische Partei Chinas" (KPCh) setzt zur Stabilisierung ihres Machtanspruchs gezielt den umfangreichen staatlichen Sicherheitsapparat ein. Die Nachrichtendienste sollen einen Beitrag für den Erhalt der sozialen Stabilität leisten und gleichzeitig wirtschaftliche Interessen fördern. China setzt vor allen Dingen folgende 4 Nachrichtendienste ein: - Ministerium für Staatssicherheit (MSS), - Ministerium für öffentliche Sicherheit (MPS), - Militärischer Nachrichtendienst (MID), - Technischer militärischer Nachrichtendienst (NSD). Ministerium für Staatssicherheit (MSS) Das chinesische MSS gilt als weltweit größter ziviler Nachrichtendienst und betreibt sowohl Abwehrals auch Spionageaktivitäten im Inund Ausland. In Fragen der nationalen Sicherheit nimmt das MSS eine zentrale Rolle ein. Es ist für die Bekämpfung von Gefahren für die öffentliche Ordnung zuständig und diesbezüglich mit Polizeibefugnissen ausgestattet. In Deutschland bemüht es sich nachhaltig um Informationen aus den Bereichen Politik und Wirtschaft und späht oppositionelle chinesische Gruppierungen aus. Ministerium für öffentliche Sicherheit (MPS) Das MPS ist für die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zuständig und kann hierzu auf die Ordnungsund Kriminalpolizei zurückgreifen. Ferner verfügt das Ministerium über nachrichtendienstliche Spezialeinheiten mit einem ähnlichen Aufgabenspektrum wie das des MSS. Es sammelt auch im Ausland Informationen über Bevölkerungsgruppen, die aus Sicht der KPCh als staatsgefährdend eingestuft sind. Überdies kontrolliert und zensiert das MPS die Inlandsmedien und den chinesischen Internetverkehr. 362 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Militärischer Nachrichtendienst (MID) Die chinesischen Nachrichtendienste unterstützen das langfristig angelegte Programm Chinas zur Steigerung der militärischen Leistungsfähigkeit der Volksbefreiungsarmee. Der MID ist weltweit auch offensiv tätig. Er entsendet Militärattaches und unterhält Verbindungen zu ausländischen Streitkräften. Der MID ist für die Beschaffung von Informationen zuständig, die die äußere Sicherheit Chinas betreffen. Dazu zählen u. a. Struktur, Stärke und Ausrüstung fremder Streitkräfte. Spionageziele sind zudem Politik, Wissenschaft und Technik anderer Staaten. Im Zuge der Militärreform ist der MID verpflichtet worden, sich auf militärisch-strategische Aufklärungsziele zu konzentrieren. Technischer militärischer Nachrichtendienst (NSD) Der NSD ist der Teilstreitkraft "Strategic Support Force" (SSF) der Volksbefreiungsarmee unterstellt. Er betreibt weltweite Fernmeldeaufklärung und Cyberspionage. Darüber hinaus ist der Nachrichtendienst für Telekommunikationsüberwachung, ITSicherheit und Cyberabwehr im Militärbereich zuständig. Zur Beschaffung von Spitzentechnologie aus dem Westen setzt China auf groß angelegte Spionage in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie. Chinesische Nachrichtendienste versuchen, am Hochtechnologiestandort Bayern entsprechendes Know-how insbesondere aus den Bereichen erneuerbare Energien, Elektromobilität, Umwelttechnik sowie Informationsund Militärtechnologie zu beschaffen. Hierfür nutzen sie in erster Linie Kontakte zu Angehörigen von Behörden und Unternehmen sowie zu in der Forschung Tätigen, um an sensible Informationen zu gelangen. Neben Nachrichtendienstangehörigen in den Legalresidenturen Informationssetzt China zur Informationsbeschaffung auch in Deutschland beschaffung lebende chinesische Staatsangehörige ein, die sich hier als Ingenieurinnen und Ingenieure oder zu Forschungs-, Praktikumssowie Studienzwecken aufhalten. Für die Anwerbung und Abschöpfung nutzt China Kontakte von Visumsantragstellern zu Botschaften und Konsulaten oder deren Aufenthalt im Heimatland, beispielsweise zu Verwandtschaftsbesuchen. Außerdem werden deutsche Geschäftsreisende in China intensiv überwacht, insbesondere bei der Nutzung von Telefon und Internet. Durch diese Arbeit gewinnen die Nachrichtendienste Erkenntnisse, die sie als Druckmittel einsetzen können, um westliche Geschäftsreisende zur Zusammenarbeit zu bewegen. 363 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Rekrutierung in Rekrutierungsversuche lassen sich auch in sozialen Netzwersozialen Medien ken wie Facebook, LinkedIn und Xing feststellen. Betroffen sind hiervon bislang deutsche Staatsangehörige, die aus Sicht der chinesischen Nachrichtendienste interessante Tätigkeiten ausüben, z. B. in den Bereichen Außenund Sicherheitspolitik. Mittels Fake-Profilen tarnen sich Angehörige chinesischer Nachrichtendienste als wissenschaftliches Personal, als Angehörige von Think Tanks oder chinesischer Behörden. Manchmal treten sie auch als Headhunter oder Manager einer Consultingfirma auf. In der Kommunikation geben sie vor, sich für das jeweilige Arbeitsgebiet zu interessieren, und zeigen Interesse am Austausch von Informationen. Die weitere nachrichtendienstliche Anbahnung wird dann bei Reisen nach China durchgeführt. Im Vorfeld erfolgt eine geschickt gestaltete Einladung, die unverfänglich, aber sehr attraktiv erscheint. Vor Ort gibt sich der Kontakt schrittweise als Nachrichtendienstangehöriger zu erkennen. Der Verfassungsschutz führt daher im Rahmen seiner Präventionsarbeit Sensibilisierungsgespräche, z. B. in den Bereichen Wirtschaft und Staatsverwaltung sowie an Hochschulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen. Ausforschung von Ein weiterer Schwerpunkt chinesischer Nachrichtendienste Oppositionellen ist die nachdrückliche Bekämpfung oppositioneller Kräfte, von denen die Regierung eine Gefährdung der staatlichen Ordnung befürchtet. Die innere Einheit des Staates und seine territoriale Integrität sieht die Staatsführung insbesondere durch die sogenannten "Fünf Gifte" bedroht. Zu diesen zählen die Angehörigen der Meditationsbewegung "Falun Gong", der Demokratiebewegung, die Befürworter einer Eigenstaatlichkeit Taiwans sowie die nach Unabhängigkeit strebenden Volksgruppen der Tibeter und Uiguren. In München ist mit dem "World Uyghur Congress" die bedeutendste Organisation der Uiguren im Ausland ansässig. Die Ausforschung und Unterwanderung der genannten oppositionellen Gruppierungen und Einzelpersonen ist daher eine der wichtigsten Aufgaben chinesischer Nachrichtendienste im Ausland. Übersee-PolizeiAls ein mögliches Kontrollund Repressionsinstrument des stationen Staatsund Parteiapparats der KPCh rückten ab Oktober die sogenannten "Übersee-Polizeistationen" in den Fokus der deutschen Medienberichterstattung. Demnach soll der chinesische Staat zwei dieser Einrichtungen in Deutschland installiert haben. Die Einrichtung dieser extraterritorialen "Polizeistützpunkte" würde China die Möglichkeit zur ideologischen Kontrolle und emotionalen Anbindung der chinesischen Diaspora bieten, dienten aber auch als Repressionsinstrument gegen oppositionelle Kräfte. 364 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 1.3 Sonstige nachrichtendienstliche Aktivitäten Türkei Der türkische Inund Auslandsnachrichtendienst "Milli Istihbarat Teskilati" ("Nationaler Nachrichtendienst", MIT) hat in der türkischen Sicherheitsarchitektur eine zentrale und tragende Rolle inne. Er dient der türkischen Regierung unter Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zur Durchsetzung der Regierungspolitik, Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit und nicht zuletzt zur Informationsbeschaffung. Gebäude des MIT Der Dienst ist in den letzten Jahren mit umfangreichen Befugnissen ausgestattet worden, darunter auch Exekutivbefugnisse. Aufklärungsschwerpunkt des MIT im Ausland sind vor allem solche Organisationen, welche die Türkei als extremistisch oder terroristisch einstuft. Darüber hinaus besteht ein erhebliches Aufklärungsinteresse an Vereinigungen und Einzelpersonen, die in tatsächlicher oder mutmaßlicher Opposition zur gegenwärtigen türkischen Regierung stehen. Auch weiterhin stellen die Aufklärung der Bewegung des PKK und Gülenislamischen Predigers Fethullah Gülen, die von der türkischen Bewegung im Fokus Regierung für den gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 verantwortlich gemacht wird, und die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) die wichtigsten Arbeitsschwerpunkte des MIT dar. In den zurückliegenden Jahren verbrachte der türkische Geheimdienst wiederholt mutmaßliche Angehörige der "Gülen-Bewegung" zwangsweise aus dem Ausland in die Türkei. 2021 wurde u. a. der Neffe von Fethullah Gülen aus Kenia in die Türkei verschleppt. In 2022 berichteten Medien von einem türkischen Whistleblower, der aus der Ukraine in die Türkei zurückgebracht wurde. Die Rückführungen wurden zumeist in Kooperation mit 365 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ den zuständigen staatlichen Stellen des jeweiligen Gaststaates durchgeführt. Darüber hinaus richten sich die Aufklärungsaktivitäten des MIT auch auf die Bereiche Politik, Wirtschaft, Militär sowie Wissenschaft und Hochtechnologie. Aktivitäten der UID Der größte staatsbeziehungsweise regierungsnahe Interessenverband ist die "Union Internationaler Demokraten" (UID). Der Dachverband mit Sitz in Köln wurde 2004 als "Union Europäisch-Türkischer Demokraten" (UETD) gegründet und tritt als Lobbyorganisation der türkischen Regerungspartei AKP (türkisch: "Adalet ve Kalkinma Partisi") auf. Mittlerweile verfügt die im Jahr 2018 in UID umbenannte Organisation bundesweit über 15 Regionalverbände, die sich wiederum in eine Vielzahl von Ortsvereinen mit Mitgliederstatus untergliedern. In Bayern sind die Regionalverbände Nordund Südbayern aktiv. Die UID stellt ihre Verbindungen zur Türkei durch vermehrt stattfindende Treffen mit AKP-Funktionären und türkischen Regierungsmitgliedern zur Schau. Islamische Republik Iran Das Ministry of Intelligence of the Islamic Republic of Iran (MOIS) ist als ziviler Inund Auslandsnachrichtendienst der wichtigste Nachrichtendienst des Iran und stellt ein zentrales Instrument der politischen Führung zur Sicherung des eigenen Machtanspruchs dar. Der Leiter des Nachrichtendienstes gehört mit Ministerrang dem iranischen Kabinett an. Dies unterstreicht die herausragende Bedeutung des MOIS. Bekannt sind neben dem MOIS auch die Revolutionary Guards Intelligence Organization (RGIO), der Auslandsaufklärungsund Inlandsabwehrdienst der Iranischen Revolutionsgarde, und die Security and Intelligence Organization of the Army. Eine Spezialeinheit der Iranischen Revolutionsgarde bilden die auch in Deutschland aktiven Quds-Brigaden, die für militärische Operationen im Ausland zuständig sind. Ihre umfangreichen Ausspähungsaktivitäten richten sich insbesondere gegen (pro-) israelische beziehungsweise (pro-)jüdische Ziele. Deutschland steht unverändert im Fokus der iranischen nachrichtendienstlichen Aufklärungsaktivitäten. Hierzu zählen Informationen aus der Außenund Sicherheitspolitik sowie der Wirtschaft und Wissenschaft. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Beobachtung und Bekämpfung oppositioneller Gruppierungen im Inund Ausland. 366 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Am 16. September kam im Iran die 22-jährige kurdischstämmige Demonstrationen Iranerin Mahsa Amini nach ihrer Festnahme und Misshandlunim Iran gen durch die iranische Sittenpolizei ums Leben. Seitdem kommt es landesweit zu Protesten gegen die iranische Regierung. Diese kündigte ein hartes Durchgreifen gegen die Proteste an. Nach Verlautbarungen der iranischen Justiz erfolgten ab 8. Dezember die ersten Hinrichtungen von Demonstranten. Diese sollen an regierungskritischen Protesten beteiligt gewesen und hierbei gewalttätig gegen Sicherheitskräfte vorgegangen sein. Auch in Deutschland kommt es zu Solidaritätsdemonstrationen. Es ist nicht auszuschließen, dass auch hierzulande öffentlich auftretende Kritikerinnen und Kritiker des iranischen Regimes ins Visier iranischer Nachrichtendienste geraten. Einschüsse an Synagoge in Essen Am 17. November kam es in Nordrhein-Westfalen zu mehAngriffe auf jüdische reren Angriffen auf jüdische Einrichtungen. So wurden in Einrichtungen Essen mehrere Einschussstellen im Eingangsbereich des Rabbinerhauses der alten Synagoge festgestellt. In Dortmund kam es in einem Fall zu einer Anstiftung zu einem Brandanschlag auf eine jüdische Einrichtung. Der Anstifter soll den sogenannten Al-Quds-Brigaden angehören. 367 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ 2. WIRTSCHAFTSSCHUTZ Spionage verursacht in Deutschland jährlich Schäden in Milliardenhöhe und kostet Arbeitsplätze und wertvollen Knowhow-Vorsprung. Unternehmen, insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU), sind sich dieser Gefahr und der damit verbundenen für sie negativen Auswirkungen oft nicht im Detail bewusst. Prävention und Information können hier Abhilfe schaffen. Im Rahmen der seit 2010 zwischen dem Bayerischen Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration und dem Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie bestehenden "Initiative Wirtschaftsschutz" bietet das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz kostenfreie Informationen und Serviceleistungen für Unternehmen und Hochschulen an. Anforderungsorientierte Beratungsleistungen und Fachvorträge bilden die Basis dieser Sensibilisierungsund Präventionsarbeit und gewährleisten den Aufbau und die Pflege vertrauensvoller Sicherheitspartnerschaften. Präventionsangebote Das Infoportal www.wirtschaftsschutz.info, ist ein vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) gemeinsam mit Bundeskriminalamt (BKA), Bundesnachrichtendienst (BND) und dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) betriebenes Angebot, das allgemeine und aktuelle Informationen zum Thema Wirtschaftsund Wissenschaftsschutz zur Verfügung stellt. Nutzer können dort Meldungen abrufen oder nach einer einmaligen Registrierung Zugriff auf weiterführende Hintergrundinformationen erlangen. Nach einer pandemiebedingten Veranstaltungspause nahmen das Cyber-Allianz-Zentrum (CAZ), der Wirtschaftsschutz sowie der Geheimschutz in der Wirtschaft des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz in 2022 wieder an der ITSicherheitsmesse it-sa in Nürnberg teil. An dem behördenübergreifenden Gemeinschaftsstand der Initiative "Cybersicherheit in Bayern" beteiligten sich neben dem Landesamt für Verfassungsschutz auch das Bayerische Landeskriminalamt (BLKA) mit der Zentralen Ansprechstelle Cybercrime (ZAC), der Landesbeauftragte für Datenschutzaufsicht (LDA) und erstmalig auch die IT-Bewerberkoordination der Bayerischen Polizei. Die Initiative richtet sich an Zielgruppen aus dem Wirtschaftssektor und möchte insbesondere auch kleine und mittlere Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Betreiber Kritischer Infrastrukturen erreichen. 368 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Im Zusammenhang mit dem Russland-Ukraine-Krieg ist die Vorgehensweise deutscher Unternehmen, die Geschäftskontakte in Russland unterhalten oder dort mit eigenen Produktionsstätten vertreten sind, für den Wirtschaftsschutz von besonderem Interesse. Nach Informationen deutscher Sicherheitsbehörden hatten bereits kurz nach Kriegsbeginn ca. 200 westliche Unternehmen ihre Aktivitäten in Russland eingestellt, darunter auch Unternehmen aus Bayern. Ferner haben staatliche russische Stellen in Einzelfällen mit der Enteignung ausländischer Firmen gedroht oder bereits mit entsprechenden Vorbereitungen begonnen, vorgeblich, um eine Insolvenz betroffener Firmen in Russland zu verhindern und Arbeitsplätze zu retten. Unternehmen, die im Zusammenhang mit Aufträgen des BunGeheimschutz in des oder eines Landes Umgang mit geheimhaltungsbedürftigen der Wirtschaft Informationen (Verschlusssachen) haben, unterliegen der sogenannten Geheimschutzbetreuung. Diese stellt den einheitlichen Schutz von Verschlusssachen auch in Wirtschaftsunternehmen sicher. Ansprechpartner für alle geheimschutzbetreuten Unternehmen, die ihren Sitz in Bayern haben, ist das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz. Ziel der Geheimschutzbetreuung ist es, nicht nur nachrichtendienstliche Angriffe zu erkennen und abzuwehren, sondern diesen durch gezielte Maßnahmen präventiv entgegenzuwirken. Die Kontakte zu geheimschutzbetreuten Unternehmen bilden ein wertvolles Netzwerk für die präventive Spionageabwehr. In mehreren Fällen ist es bereits gelungen, durch Hinweise geheimschutzbetreuter Unternehmen auch Muster von Cyberangriffen zu erkennen. Dadurch konnten andere potenziell betroffene Unternehmen frühzeitig informiert werden. 3. CYBER-ALLIANZ-ZENTRUM BAYERN (CAZ) Die Gefährdung von Wirtschaft und Wissenschaft durch Wirtschaftsspionage - auch mittels elektronisch gesteuerter Angriffe - gewinnt in Zeiten einer voranschreitenden Digitalisierung an Konstanz, Intensität, Vielfalt und Komplexität. Insbesondere Cyberangriffe stellen für fremde Nachrichtendienste ein effektives Mittel dar, um Informationen auf digitalem Weg zu beschaffen, politisch Einfluss zu nehmen oder Sabotage zu betreiben. Vor allem Staaten wie Russland, China und Iran nutzen den Cyberraum, um sich einen wirtschaftlichen Vorteil zu verschaffen oder den Technologievorsprung anderer Nationen aufzuholen. 369 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Cyberspionage und Elektronische Angriffe umfassen gezielte Maßnahmen mit und Cybersabotage gegen IT-Infrastrukturen zur Informationsbeschaffung (Cyberspionage) oder zur Schädigung des Angriffsziels (Cybersabotage). Den Angriffen geht häufig ein sogenanntes "Social Engineering" unter Ausnutzung medialer Kommunikationswege (z. B. Telefon, E-Mail, soziale Netzwerke) voraus. Dabei versuchen die angreifenden Stellen, das Vertrauen ihrer Opfer zu erlangen, um herauszufinden, ob die betreffende Person Zugang zu wertigen Informationen hat. Ist das der Fall, wird der Kontakt intensiviert sowie eine Vertrauensbeziehung hergestellt und vertieft, um an die begehrten Informationen zu gelangen. Insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU) verfügen häufig über essenzielles Know-how, dessen Innovationspotenzial es in besonderer Weise zu schützen gilt. Der gesetzliche Auftrag des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz umfasst neben der Aufklärung von Spionageund Sabotageaktivitäten fremder Staaten, die sich gegen deutsche Unternehmen und Forschungseinrichtungen richten, auch die Information potenziell betroffener Institutionen. Die hierbei gewonnenen Erkenntnisse und Analysen tragen zu einer besseren Erfassung der Bedrohungslage bei, wovon auch andere Unternehmen und Forschungseinrichtungen profitieren können. Das Cyber-Allianz-Zentrum (CAZ) im Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz konzentriert sich seit Beginn des Russland-Ukraine-Krieges auf die Unterrichtung bayerischer Unternehmen, Forschungseinrichtungen und Betreiber Kritischer Infrastrukturen (KRITIS), die im Fokus möglicher russischer und belarussischer Cyberangriffe stehen. Angriffe nichtDie von deutschen und internationalen Sicherheitsbehörden erstaatlicher Akteure warteten, staatlich gesteuerten Angriffswellen aus Russland blieben bislang aus. Dennoch besteht Einigkeit darüber, dass die abstrakte Bedrohungslage als kritisch zu bewerten ist. So steigt beispielsweise die Anzahl der Angriffe sogenannter "Hacktivisten", also nicht staatlicher Cybergruppierungen, die sich entweder pro-russisch oder pro-ukrainisch positionieren und der Gegenseite meist geringe Schäden zufügen. Seit Ausbruch des Russland-Ukraine-Krieges hat das CAZ in Zusammenarbeit mit dem BfV und anderen deutschen Sicherheitsbehörden wiederholt und zeitnah Warnmeldungen an relevante Akteure aus Wirtschaft und Forschung versendet und mit den geteilten Informationen einen wesentlichen Beitrag für die Sicherheit bayerischer Firmen und Universitäten geleistet. Die 370 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Warnmeldungen enthalten die bei der Prüfung durch die Sicherheitsbehörden festgestellten "Indicators of Compromise" (IoC). Dabei handelt es sich um technische Merkmale wie IP-Adressen und Domains, die bei der Detektion von Cyberangriffen helfen. Diese pflegen Unternehmen in ihre Netzwerksicherung ein, um Angriffe der betreffenden Adressen und Absender von vornherein auszuschließen bzw. bereits erfolgte Angriffe zeitnah zu entdecken. Cyberangriffe sind inzwischen ein bewährtes Instrument der Spionage, mit dem die Wirtschaft ebenso wie Regierungen und deren Ministerien sowie Abgeordnete und deren Umfeld angegriffen werden. In diesem Zusammenhang hat das Bayerische Landesamt für Russische Verfassungsschutz 2022 Fälle verfolgt, in denen ein mutmaßlich Phishing-Angriffe russischer Cyberakteur Phishingangriffe gegen politisch und gesellschaftlich relevante Personen und Gruppen in Deutschland verübte. Diese Attacken werden mittels gefälschter E-Mails durchgeführt und sollen den Empfänger dazu veranlassen, seine Zugangsdaten für E-Mailund Social Media-Konten preiszugeben. Die dabei gewonnenen persönlichen und dienstlichen Informationen können für Desinformation und Propaganda missbraucht werden. Zudem besteht die Gefahr, dass Nachrichtenportale im Internet oder reichweitenstarke Social Media-Konten, etwa von Journalistinnen und Journalisten, kompromittiert und für die Verbreitung von Falschmeldungen instrumentalisiert werden ("Hack and Publish"-Operationen). Die Verfassungsschutzbehörden haben derartige Aktivitäten zum Anlass genommen, politische Entscheidungsträger und Parteien erneut für das damit verbundene Gefahrenpotenzial zu sensibilisieren. Zu den weiteren Tätigkeitsschwerpunkten des CAZ gehörte Angriffskampagne 2022 auch die Aufklärung der Angriffs-Kampagne "Asylum "Asylum Ambuscade". Dahinter steht ein mutmaßlich russischer CyberAmbuscade" akteur, dessen Aktivitäten sich gegen staatliche Stellen richten, die u. a. mit der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine befasst sind. Die Täterinfrastruktur liegt nach Kenntnisstand des CAZ international verteilt in Europa und den USA. Infiziert wurden auch die IT-Systeme diplomatischer Vertretungen in Asien, Australien, Europa sowie Nordamerika. In Zusammenarbeit mit dem BfV konnte das CAZ betroffene staatliche Institutionen vor einer möglichen Kompromittierung warnen. Hierdurch konnte auch der mögliche Abfluss vertraulicher Informationen verhindert werden. 371 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Der Wirtschaftsstandort Bayern ist Sitz einer großen Zahl an Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Für fremde Nachrichtendienste ist Spitzentechnologie ein besonders attraktives Ziel, um Informationen zu gewinnen - auch im Cyberraum. Das CAZ im Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz ist seit 2013 ein vertrauensvoller und kompetenter Ansprechpartner für Unternehmen, Betreiber Kritischer Infrastrukturen (KRITIS) sowie Wissenschaftsbeziehungsweise Forschungseinrichtungen. Durch den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zu zahlreichen Unternehmen und Einrichtungen konnte erreicht werden, dass sich Unternehmen bereits im Vorfeld präventiv an das CAZ wenden, sich aber auch im Nachgang zu Angriffen beraten lassen. Cyber-AllianzCyberangriffe auf die Wirtschaft oder staatliche Stellen werden Zentrum im Cyber-Allianz-Zentrum zunächst einer forensisch-technischen Analyse und Bewertung unterzogen. Die Ergebnisse dieser Analyse werden zudem aus nachrichtendienstlicher Sicht bewertet, um sie am Ende des Analyseprozesses der Wirtschaft in Form von anonymisierten, detailliert aufbereiteten Warnmeldungen zur Verfügung zu stellen. Indem sie laufend über aktuelle Angriffsmuster informiert werden, sind auch andere potenziell betroffene Unternehmen in der Lage, ihre Sicherheitsmechanismen anzupassen und sich somit frühzeitig zu schützen. Cyberspionage stellt auch künftig eine wachsende Herausforderung dar. Dabei scheinen Kreativität und Innovation der Angreifer beinahe grenzenlos. Diese Angriffe dauern regelmäßig über mehrere Monate, manchmal sogar Jahre an. Da die Erstinfektion und der damit installierte Zugang zum Rechnernetzwerk meist lange unentdeckt bleiben, können die angreifenden Stellen jederzeit lageorientiert agieren. Das Handeln dieser Akteure basiert nicht selten auf der Unterstützung von Staaten und deren Nachrichtendiensten und verfolgt das Ziel, Daten zu stehlen, Abläufe zu sabotieren oder Infrastrukturen anzugreifen und/oder nachhaltig zu stören. Die Vielzahl der Angreifergruppen, die sogenannte APT-Angriffe ("Advanced Persistent Threats") - eine besonders komplexe und hartnäckige Angriffsmethode - einsetzen, und die damit einhergehende Heterogenität der Cyberbedrohungen sind bemerkenswert. 372 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Ausländische Nachrichtendienste und Akteure, die im Auftrag anderer Staaten tätig sind, passen ihre Instrumente und Methoden kontinuierlich an aktuelle technische und gesellschaftliche Entwicklungen an. Dabei sind bereits lang bekannte Angreifergruppen nach wie vor aktiv. Sie versuchen verstärkt, Schwachstellen, beispielsweise im Bereich der pandemiebedingten Homeoffice-Arbeit, auszunutzen. Zunehmend werden dabei Werkzeuge und Angriffsmethoden eingesetzt, die aus der Cyberkriminalität bekannt sind. Das CAZ arbeitet zur Erfüllung seiner Aufgaben eng mit Organisationen auf Bundesund Landesebene zusammen. Neben dem BfV und dem BSI existieren auch auf Landesebene wichtige Partner. Zudem gehört das CAZ seit seiner Gründung als "Institution im besonderen staatlichen Interesse" der "Nationalen Allianz für Cyber-Sicherheit" an und ist damit Bestandteil der deutschen Sicherheitsarchitektur. Auf Landesebene ist das CAZ ein wichtiger Baustein der "Initiative Cybersicherheit", die im Jahr 2013 im Rahmen der Bayerischen Cybersicherheitsstrategie ins Leben gerufen wurde. Zudem engagiert sich das CAZ in der seit 2020 bestehenden Cyberabwehr Bayern, die einen regelmäßigen Austausch mit anderen bayerischen Behörden zum Thema Cybersicherheit vorsieht. Wirtschaftsschutz und Cyber-Allianz-Zentrum Bayern Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz Knorrstraße 139, 80937 München E-Mail: wirtschaftsschutz@lfv.bayern.de www.wirtschaftsschutz.info Telefon: 089/31201 222 E-Mail: caz@lfv.bayern.de www.verfassungsschutz.bayern.de Telefon: 089/31201 222 373 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ 4. CYBERABWEHR BAYERN Fälle von Cybercrime, Cyberspionage, vielfältige Arten der Verletzung des Schutzes personenbezogener Daten und gezielte oder zufällig auftretende Angriffe auf die staatliche Infrastruktur sind Teil der vielfältigen Bedrohungspotenziale aus dem Cyberraum. Betrug, Erpressung (Ransomware) oder Diebstahl personenbezogener Daten sind Phänomene, denen Unternehmen, aber auch Privatpersonen, Forschungseinrichtungen sowie staatliche Institutionen ausgesetzt sind. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden und überregionalen Bedrohungslage aus dem Cyberraum hat die Bayerische Staatsregierung zu Beginn des Jahres 2020 die Cyberabwehr Bayern (CAB) ins Leben gerufen. Informationsund Dabei handelt es sich um eine behördeninterne InformationsKooperationsund Kooperationsplattform für alle mit Cybersicherheitsaufplattform gaben betrauten bayerischen Behörden. Zu diesen zählen: - das Cyber-Allianz-Centrum (CAZ) im Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz - die Zentrale Ansprechstelle Cybercrime (ZAC) im Bayerischen Landeskriminalamt - die Zentralstelle Cybercrime Bayern (ZCB) bei der Generalstaatsanwaltschaft Bamberg - das Landesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (LSI) - das Landesamt für Datenschutzaufsicht (LDA) sowie - der Landesbeauftragte für den Datenschutz (LfD) Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beheimatet das Cyber-Lagezentrum der CAB. Auf der Basis einer gemeinsamen Kooperationsvereinbarung organisiert und koordiniert das Cyber-Lagezentrum den Informationsaustausch, der zwischen den beteiligten Behörden und Einrichtungen im Rahmen der CAB stattfindet. 374 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Die offizielle Eröffnung der neuen Räumlichkeiten des CyberLagezentrums erfolgte am 9. November im Rahmen einer Pressekonferenz durch den Bayerischen Staatsminister des Innern, für Sport und Integration, den Staatsminister der Finanzen und für Heimat und den Staatsminister der Justiz. Das Gremium der CAB hält regelmäßige gemeinsame Lagebesprechungen ab, um aktuelle cybersicherheitsrelevante Ereignisse zu analysieren, aus der jeweils behördenspezifischen Perspektive zu bewerten und gemeinsam Maßnahmen abzustimmen. Hierdurch werden Kompetenzen gebündelt, Ressourcen effizienter eingesetzt und Reaktionszeiten - insbesondere in Krisenlagen - verkürzt sowie ein breiterer Überblick über die aktuelle Cyberlage ermöglicht. Seit Anfang 2020 hat das Gremium in mehr als 150 Lageund Sonderbesprechungen zu circa 330 cyberrelevanten Sachverhalten beraten. 375 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Neben den zuvor genannten Schwerpunktthemen wurden in 2022 zudem vielfältige Informationen über Cybersicherheitsvorfälle aufbereitet, die den beteiligten Behörden und Einrichtungen in eigener Zuständigkeit bekannt wurden. Insbesondere bei Fallkonstellationen, in denen gemeinsame Zuständigkeiten bestehen, ermöglicht die Kooperation in der CAB einen gewinnbringenden und zielführenden Austausch sowohl für die Betroffenen als auch für die beteiligten Behörden. Ständiger Vertreter Auf Grundlage einer Kooperationsvereinbarung der im Bayerns im Nationalen Cyber-Abwehrzentrum (NCAZ) vertretenen Behörden Cyber-AZ und den an der CAB beteiligten Behörden und Einrichtungen hat Bayern einen CAB-Repräsentanten als ständigen Vertreter in das NCAZ entsandt. Die dort gewonnenen Erkenntnisse vervollständigen das bayerische Cyber-Sicherheitslagebild und bieten die Möglichkeit, neue Cyberphänomene und daraus resultierende Gefahrenpotenziale frühzeitig zu erkennen und (präventive) Maßnahmen einzuleiten. Durch die Anbindung der CAB an das NCAZ wird die Scharnierfunktion zwischen Bund und Freistaat Bayern vollumfänglich erfüllt. 5. PROLIFERATION Die Bundesrepublik Deutschland hat sich international verpflichtet, gegen Proliferation vorzugehen. Hierunter versteht man die unerlaubte Weiterverbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen, der zu deren Herstellung benötigten Produkte sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen einschließlich des dafür erforderlichen Knowhows. Die Ausfuhr von Waffen oder militärisch verwendbaren Komponenten muss daher in jedem Einzelfall vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrollen genehmigt werden. Verstöße sind im Inland im Außenwirtschaftsgesetz und im Kriegswaffenkontrollgesetz sanktioniert. Trotz aller bisherigen internationalen Anstrengungen zur Bekämpfung der Proliferation kommt es immer wieder zu Verstößen. Die Herstellung von Massenvernichtungswaffen und deren Verbreitung stellen eine ernsthafte Bedrohung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit dar. Es ist zu befürchten, dass proliferationsrelevante Staaten Massenvernichtungswaffen im Fall eines bewaffneten Konfliktes einsetzen oder dies zumindest zur Durchsetzung politischer Ziele androhen. 376 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Auch russische Nachrichtendienste sind in die Beschaffung Proliferationsbemüsogenannter Güter mit doppeltem Verwendungszweck (Dualhungen russischer Use-Güter), die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden Nachrichtendienste können, involviert. Im Fokus der Beschaffungsbestrebungen stehen dabei Güter aus Deutschland und anderen westlichen Staaten zur Herstellung strategischer Waffensysteme, wie Kernwaffen oder Interkontinentalraketen. Seit Juli 2014 sind als Reaktion auf die Invasion der Krim sowohl der Verkauf als auch die Ausfuhr derartiger Güter in die Russische Föderation verboten, wenn die betreffenden Güter ganz oder teilweise für militärische Zwecke oder für einen militärischen Endnutzer bestimmt sind oder bestimmt sein können. Organisiert werden die russischen Beschaffungsbestrebungen mittels weltweit agierender Scheinund Tarnfirmen. Getarnt als zivile Businessunternehmen versuchen derartige Beschaffungsnetzwerke täglich neue Kontakte zu knüpfen und Lieferketten aufzubauen, um den tatsächlichen Verwendungszweck sensitiver Technologien aus Deutschland zu verschleiern. Russische Nachrichtendienste agieren dabei aus regionalen Beschaffungszentren heraus und binden Scheinfirmen und Mittelsmänner im westlichen Ausland in die Beschaffungsvorgänge ein. Auf diese Weise werden Unternehmen bei möglichen Geschäftsanbahnungen getäuscht und die Exportkontrolle durch falsche Angaben zum Endverwender oder Endverwendungszweck gezielt umgangen. Die strenge Gesetzgebung und die wirksamen Exportkontrollen in Deutschland erschweren die unerlaubte Beschaffung einschlägiger Güter massiv. Trotz der EU-Sanktionen gegen Russland gelingt es jedoch insbesondere russischen militärstrategischen Einrichtungen, weiterhin illegal Waren aus der EU auszuführen. Dabei setzen sie nicht nur auf Umgehungslieferungen, sondern verschleiern mittels unvollständiger oder mutmaßlich falscher Angaben des Endverwendungszweckes die tatsächliche Bestimmung der Ware, um Ausfuhrverbote zu umgehen. Am 30. August durchsuchten Zollbeamte u. a. die Geschäftsräume einer in Niedersachsen ansässigen Firma wegen des Verdachts auf Verstoß gegen das Außenwirtschaftsgesetz. Den Exekutivmaßnahmen liegt ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Stade zugrunde. Die Firmenverantwortlichen stehen im Verdacht, in mehr als 30 Fällen giftige Substanzen und speziellen Laborbedarf nach Russland ausgeführt zu haben, darunter auch Chemikalien für die Herstellung von chemischen und biologischen Kampfstoffen. 377 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Die Beschaffungsstrukturen anderer proliferationsrelevanter Risikostaaten wie China, Iran, Nordkorea, Pakistan und Syrien handeln in gleicher Weise und setzen ihre konspirativen Beschaffungsaktivitäten in hohem Maße fort. Zielobjekte Bayern zählt europaweit zu den führenden HochtechnologieHochtechnologie standorten. Die Beschaffungsbemühungen der proliferationsund Mittelstand relevanten Staaten richten sich insbesondere auf mittelständische Unternehmen und Universitäten. Um Proliferation zu verhindern, arbeitet das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz daher eng mit Wirtschaft und Wissenschaft zusammen. Es informiert in Vorträgen und Sensibilisierungsgesprächen proliferationsgefährdete Unternehmen über die Gefahren einer möglichen Weitergabe von kritischen Technologien und unterstützt sie bei Verdachtsfällen mit individuellen Maßnahmen. Dadurch konnten bereits verschiedene Beschaffungsbemühungen unterbunden werden. Der Verfassungsschutz registriert immer wieder Fälle, in denen proliferationsrelevante Staaten eine internationale Zusammenarbeit im Bereich von Wissenschaft und Forschung zu missbrauchen versuchen, um sich proliferationsrelevantes Know-how zu verschaffen. Dabei stehen vor allem Universitäten, Hochschulen, wissenschaftliche Institute, Forschungsgesellschaften sowie Forschungsabteilungen und Schulungsbereiche der Industrie im Fokus. Um für das Thema Proliferation zu sensibilisieren, stellen die Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern die Broschüre "Proliferation - Wir haben Verantwortung" zur Verfügung, die sich insbesondere an Unternehmen richtet, die proliferationsrelevante Produkte herstellen. 378 Spionageabwehr, Wirtschaftsschutz, CAZ Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 379 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Organisierte Kriminalität Organisierte Kriminalität (OK) " Bundesministerium des Innern und für Heimat verbietet rockerähnliche Gruppierung "United Tribuns" " Klage des "Blood Red Section MC" gegen Bayerischen Verfassungsschutzbericht bleibt erfolglos 380 Organisierte Kriminalität Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Organisierte Kriminalität (OK) liegt vor, wenn mehrere Personen planmäßig erhebliche Straftaten begehen, um Gewinne zu erzielen oder Macht zu erlangen. Dazu wenden sie mitunter auch Gewalt an, nutzen geschäftsähnliche Strukturen oder versuchen, Politik, Verwaltung, Justiz, Medien oder Wirtschaft zu manipulieren (Art. 4 Abs. 2 Bayerisches Verfassungsschutzgesetz). OK verursacht allein in Deutschland seit Jahren Schäden in Milliardenhöhe. Die Drahtzieher der OK bedrohen die Grundlagen unserer Gesellschaft, indem sie die Macht einer kriminellen Organisation mit Gewalt, Geld und massiver Einflussnahme durchsetzen wollen. In Bayern ist der Verfassungsschutz seit 1994 auch für die Beobachtung der OK zuständig, um deren Aktivitäten bereits in einem früheren Stadium aufzuklären, als dies Polizei und Staatsanwaltschaft möglich ist. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz schließt somit eine wichtige Lücke im Kampf gegen die OK. Personen, die der OK angehören oder sich in deren Umfeld bewegen, verhalten sich meist unauffällig und konspirativ. Die Aufklärung dieser Strukturen setzt daher eine systematische und langfristig angelegte Beobachtung voraus. Um bereits im 381 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Organisierte Kriminalität Vorfeld von Straftaten an das entscheidende "Insiderwissen" zu gelangen, können bei Bedarf auch nachrichtendienstliche Mittel eingesetzt werden. Strukturermittlungen schaffen Grundlagen für polizeiliche Verfahren und können laufende Ermittlungen unterstützen. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz arbeitet eng mit den OK-Dienststellen der Polizei zusammen und kooperiert aufgrund der international vernetzten OK-Strukturen mit Sicherheitsbehörden über Landesund Staatsgrenzen hinweg. Innerhalb einer Arbeitsgruppe europäischer Inlandsnachrichtendienste hat Bayern für Deutschland die ständige Koordinierungsfunktion inne und ist zentraler Ansprechpartner für ausländische Nachrichtendienste. 382 Organisierte Kriminalität Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 1. OMCGS UND ROCKERÄHNLICHE GRUPPIERUNGEN Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beobachOMCGs tet die kriminellen Aktivitäten von Rockerund rockerähnlichen Gruppierungen. Einzelne Mitglieder solcher Gruppierungen begehen Straftaten, deren Tatmotiv häufig im direkten Zusammenhang mit der Zugehörigkeit und der Solidarität zur jeweiligen Gruppierung steht. Zu den typischen OK-Deliktsfeldern, auf denen diese Gruppierungen aktiv sind, gehören u. a. Rauschgifthandel sowie Rotlichtund Gewaltkriminalität. 1.1 Allgemeines Mit der von den US-amerikanischen Strafverfolgungsbehörden eingeführten Bezeichnung "Outlaw Motorcycle Gang" (OMCG) werden weltweit die polizeilich bedeutsamen Rockergruppierungen von der breiten Masse der Motorradclubs (MCs) abgegrenzt. Letztere können zwar im Einzelfall auch kriminelle Aktivitäten entfalten, betrachten dies aber nicht als Hauptmotivation ihrer Existenz. Neben der Betätigung auf verschiedenen Feldern der OK stellen gemeinsame Motorradausfahrten, sogenannte "Rides", nach wie vor einen wichtigen Bestandteil des Clublebens in OMCGs dar. Die "Rides" finden auch im Zusammenhang mit den jährlichen nationalen und internationalen Treffen der Clubs statt. Diese als "Runs" bezeichneten Treffen dienen nicht nur der (internationalen) Vernetzung der Clubs, sondern werden vor allem auch für die Planung künftiger Aktivitäten und für die Abstimmung von Clubregelungen genutzt. Aktuell werden deutschlandweit in erster Linie "Hells Angels MC", "Bandidos MC", "Outlaws MC", "Gremium MC", "Mongols MC" und "Rock Machine MC" den OMCGs zugeordnet. In Bayern tritt zudem der "Trust MC" auf. 383 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Organisierte Kriminalität Rockerähnliche In den zurückliegenden Jahren drängten bundesweit rockerähnGruppierungen lich organisierte Gruppierungen wie die mit Verfügung des Bundesministeriums des Inneren und für Heimat vom 14. September verbotenen "United Tribuns" (UT) in die Betätigungsfelder der etablierten Clubs. Diese ähneln den klassischen Rockergruppierungen in ihrem martialischen Auftreten, ihrer strengen Hierarchie und ihrem abgeschotteten Gruppenverhalten. Motorräder spielen für sie zumeist jedoch keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Auffällig sind bei diesen Gruppen die starken Schwankungen bei den Mitgliederzahlen. Gründungen und Schließungen von Ortsgruppen sind in diesem Bereich ein häufig zu beobachtendes Phänomen. Das instabile Mitgliederpotenzial ist ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zu den etablierten Clubs. "1-Prozenter" Die OMCGs bezeichnen sich selbst als "1-Prozenter". Darunter versteht man Biker (Motorradfahrer), die sich selbst als "Outlaws" (Gesetzlose) sehen und das bestehende Rechtssystem ablehnen. "Colour" Das von den jeweiligen Gruppierungen getragene Rückenabzeichen wird "Colour" genannt und gliedert sich in drei Elemente. Über dem Clublogo oder "Center-Patch", das mittig angebracht ist, befindet sich der sogenannte "Top Rocker", der Name der Gruppierung. Der sogenannte "Bottom Rocker", der Ort oder die Region, wo die Gruppierung zu finden ist, befindet sich am unteren Ende. "Chapter/Charter" Die jeweiligen Ortsgruppen werden von OMCGs und rockerähnlichen Gruppierungen in der Regel als "Chapter" bezeichnet, nur die "Hells Angels" sprechen von "Chartern". "Prospect" Bei einem Prospect-Chapter beziehungsweise Charter handelt es sich um ein Chapter/Charter, das z. B. durch Neugründung oder Zusammenschlüsse zunächst für einen individuell festgesetzten Zeitraum einen Anwärterstatus innehat. Innerhalb dieser Frist muss sich das Chapter/Charter bewähren, um anschließend den Status der Vollmitgliedschaft zu erlangen. Auch Einzelpersonen bei den OMCGs im Status eines Prospects können erst nach einer individuell festgelegten Bewährungszeit Vollmitglieder werden. 384 Organisierte Kriminalität Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 "Supporter" Bei Supporter-Clubs handelt es sich in der Regel um Vereine, die eine international bekannte Rockergruppierung unterstützen. Sie verfügen über eigene Organisationsstrukturen und bekunden ihre Nähe durch das Tragen von Farben, Emblemen und Symbolen, die sich an denen der OMCG orientieren. Derzeit werden circa 1.200 Personen in Bayern der polizeilich reLeicht rückläufiges levanten Rockerszene zugerechnet (2021: 1.400 Personen). Personenpotenzial 1.2 OMCGs in Bayern Hells Angels MC In Bayern gibt es derzeit 9 "Hells Angels"-Charter. Neben 3 Chartern im Großraum München bestehen Niederlassungen in Hof, Nürnberg, Lindau, im Raum Mühldorf, im Raum Chiemsee sowie im Raum Passau. Als Unterstützergruppierungen ("Supporter") des "Hells Angels MC" sind in Bayern der "Red Devils MC" (Ansbach und im Raum Traunstein), der "Blood Red Section MC" (Coburg, Lichtenfels und Hof) und im Raum Lindau die Gruppierungen "Backyard Bloods" und "Red Vikings Lindau" aktiv. Die letztgenannte Gruppierung findet seit Juli 2020 Erwähnung in den sozialen Medien. Der "Hells Angels MC Hof City" kann auf die Unterstützung von nunmehr vier Chartern des "Blood Red Section MC" zurückgreifen, davon allein 3 im Großraum Hof und eines in Sachsen. Mit rechtskräftigem Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 27. September wurde die Klage des "Blood Red Section MC" gegen dessen Nennung in mehreren Verfassungsschutzberichten abgewiesen. Bandidos MC Der "Bandidos MC" verfügt in Bayern über 14 Chapter (Allersberg, Augsburg, Bad Königshofen, Bamberg, Bogen, Deggendorf, Freising, Ingolstadt, Miltenberg, München, Passau, Starnberg, Wörth a. d. Donau und Würzburg). Die Chapter haben in der Regel eigene Supporter-Gruppierungen, die sich in rascher Folge neu bilden beziehungsweise wieder auflösen können. Zu 385 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Organisierte Kriminalität diesen zählen die "Mexican Rebels", der "Gringos MC" und der "Black River MC". Im Sommer 2020 kam es aufgrund clubinterner Unstimmigkeiten zu einem "Patchover" (Clubwechsel) von mehreren Chaptern des "Outlaws MC" zum "Bandidos MC". In Bayern entstanden daraufhin aus den ehemaligen Chaptern des "Outlaws MC" Miltenberg-Riverside, Obernburg und Augsburg die neuen "Bandidos MC" Full-Chapter Miltenberg, Riverside South und Augsburg. Gremium MC In Bayern gibt es derzeit 8 Chapter des "Gremium MC" mit diversen Supporter-Gruppierungen. Chapter bestehen in Amberg, Ansbach, München, Regensburg, Schweinfurt und Straubing. Zudem existieren in Franken die Chapter "Gremium MC Nomads" und "Gremium MC Franconia". Die Sektion Deutschland des "Gremium MC" gründete sich 1972 in Mannheim und ist bundesweit die älteste und größte OMCG. Auch weltweit zählt der "Gremium MC" zu den größten OMCGs. Oftmals werden für den "Gremium MC" auch der Begriff "Black Seven" und die Zahl "7" verwendet, da das Wort "Gremium" aus 7 Buchstaben besteht und das "G" der siebte Buchstabe im Alphabet ist. 1.3 Rockerähnliche Gruppierungen in Bayern In der Vergangenheit waren in Bayern mit den "United Tribuns", den "Osmanen Germania" und den "Black Jackets" 3 rockerähnliche Gruppierungen vertreten. Nach dem Verbot der "United Tribuns" konnten in Bayern im Berichtszeitraum keine verfassungsschutzrelevanten rockerähnlichen Gruppierungen mehr festgestellt werden. United Tribuns Am 14. September erließ das Bundesministerium des Inneren und für Heimat ein bundesweites Verbot der rockerähnlichen Gruppierung "United Tribuns". Grundlage des Verbotes war die Verantwortlichkeit der Gruppierung für eine Vielzahl von Straftaten, darunter Sexualstraftaten, Menschenhandel und versuchte Tötungsdelikte. Diese Straftaten wurden häufig im Zusammenhang mit gewalttätigen Auseinandersetzungen innerhalb der Rockerszene, etwa infolge von Rivalitäten mit dem "Hells Angels MC", begangen. Verbot der "United Im Rahmen des Verbotsvollzugs durchsuchte die Polizei in Tribuns" Bayern, Baden-Württemberg, Hamburg, Hessen, MecklenburgVorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Schleswig386 Organisierte Kriminalität Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Holstein und Thüringen Wohnungen und Vereinsheime. Der Auflösung der Gesamtverein, der bundesweit 13 Chapter umfasste und aus United Tribuns ca. 100 Mitgliedern bestand, wurde mit der Verbotsverfügung aufgelöst und das Vereinsvermögen beschlagnahmt. In Bayern existierten bis zum Verbot 4 Chapter der "United Tribuns" (Augsburg, Ingolstadt, München und Nürnberg). Die "United Tribuns" wurden 2004 von einem ehemaligen bosnischen Boxer im baden-württembergischen Villingen-Schwenningen gegründet. Die Mitglieder bewegten sich sowohl in der Securityund Türsteherszene als auch im Rotlichtmilieu. Die "United Tribuns" stiegen im Laufe der Zeit zu einer der bedeutendsten rockerähnlichen Gruppierung auf. Im November 2020 wurde gegen den Präsidenten des "United Strafverfahren Tribuns MC" in Augsburg ein Ermittlungsverfahren wegen illegalem Handel mit Schusswaffen eingeleitet. Im darauffolgenden Prozess vor dem Amtsgericht Augsburg konnte der Waffenhandel nicht nachgewiesen werden, das Verfahren wurde eingestellt. Für den unerlaubten Waffenbesitz wurde der Präsident des Chapters im August zu einer Haftstrafe von 7 Monaten auf Bewährung verurteilt. Ab Mitte Januar 2022 wurde vor dem Landgericht Nürnberg-Fürth gegen 6 Angeklagte wegen des Handels mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verhandelt. Bei 3 der Angeklagten aus Nürnberg handelte es sich um Angehörige der "United Tribuns". Die Angeklagten, die sich im Sommer 2020 zu einer gemeinsam agierenden Bande zusammengeschlossen hatten, sollen Methamphetamin im Wert von über einer Million Euro umgesetzt haben. Im Rahmen polizeilicher Durchsuchungsmaßnahmen wurden bei den Beteiligten nicht nur Bargeld und Drogen, sondern auch verbotene Waffen wie ein Springmesser und ein Schlagring sowie mehr als 8.000 Stück Munition aufgefunden. Am 16. März verurteilte das Landgericht Nürnberg-Fürth die 3 angeklagten Mitglieder zu Freiheitsstrafen von 9 Jahren und 2 Monaten, 9 Jahren und 4 Monaten sowie 9 Jahren und 10 Monaten. Ein Angeklagter aus Regensburg wurde zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 6 Monaten und wegen vorausgegangener Straftaten zu weiteren 4 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Ein weiterer Angeklagter wurde zu 5 Jahren und 6 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Lediglich ein Helfer eines Regensburger Angeklagten erhielt eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Da aus Straftaten kein Gewinn resultieren soll, ordnete das Gericht zudem einen Wertersatz von einer knappen Million Euro an. 387 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Organisierte Kriminalität 1.4 Auswirkungen des Kuttenverbots Mit Wirkung vom 16. März 2017 ist eine Änderung des Vereinsgesetzes in Kraft getreten, die auch gewichtige Effekte auf die Bekämpfung der Rockerkriminalität hat. Die Neuregelung bewirkt in der Praxis, dass bundesweit die Abzeichen von Rockergruppierungen bereits dann nicht mehr in der Öffentlichkeit gezeigt werden dürfen, wenn eine lokale Ortsgruppe ("Chapter" oder "Charter") dieser Gruppierung nach dem Vereinsgesetz verboten wurde. Jegliche öffentliche Verwendung dieser charakteristischen, wiederzuerkennenden Abzeichen verbotener Rockergruppierungen ist strafbar. Die Formulierung "jegliche Verwendung" umfasst dabei auch die Nutzung einzelner verbotener Abzeichen, z. B. auf der "Kutte". In der Szene wird damit eine Weste bezeichnet, auf deren Vorderund/oder Rückseite die jeweiligen Erkennungszeichen der Gruppierung zur Schau gestellt werden. Solche Erkennungszeichen finden sich aber auch beispielsweise auf T-Shirts oder in Form von Tätowierungen sowie in jeglicher Anbringungsart auf Aufklebern, Motorrädern, Gebrauchsgegenständen, Grabsteinen, Internetseiten oder Clubhäusern. Auch diese sind vom Verbot erfasst. Die Größe der Abbildung ist dabei unerheblich. Die gesetzliche Verschärfung hat auch wirtschaftliche Folgen für die Clubs, da sie öffentliche Symbole, beispielsweise an Häuserfassaden, abnehmen und den Verkauf von Kleidungsstücken mit den Symbolen einstellen müssen. VerfassungsGegen die Novellierung des Vereinsgesetzes reichten Vertreter beschwerde des "Gremium MC", des "Hells Angels MC" und des "Bandigescheitert dos MC" Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe ein. Mit Beschluss vom 9. Juli 2020 entschied das BVerfG, dass das Kennzeichenverbot in der vorliegenden Fallkonstellation mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Das BVerfG hat mit diesem Beschluss den Willen des Gesetzgebers bekräftigt, Kennzeichen krimineller Rockergruppierungen effektiv aus der Öffentlichkeit zu verbannen. 388 Organisierte Kriminalität Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 1.5 Gefährdungslage Bund/Bayern Öffentlichkeitswirksame Auseinandersetzungen zwischen den OMCGs wurden in der Vergangenheit überwiegend vor dem Hintergrund selbst erhobener Machtbeziehungsweise Gebietsansprüche sowie interner Streitigkeiten ausgetragen. Dabei kamen auch Waffen und sonstige gefährliche Gegenstände zum Einsatz. Generell ist die Lage in Bayern derzeit eher ruhig. Dies ist auch Lage in Bayern auf die Einschränkungen im Zusammenhang mit der CoronaPandemie zurückzuführen. Bundesweit waren jedoch vereinzelt öffentlichkeitswirksame, regional beschränkte Gewalttaten zu verzeichnen, die in Bayern bis dato keine erkennbaren Auswirkungen hatten. So konnten auch in infolge des Todes von Ralph Hubert "Sonny" Barger, einem prominenten Mitglied des "Hells Angels MC", der am 29. Juni krankheitsbedingt verstarb, keine sicherheitsrelevanten Vorkommnisse festgestellt werden. Unter der Führung von Barger schlossen sich im Jahr 1957 im kalifornischen Oakland mehrere Clubs unter dem Label des "Hells Angels MC" zusammen. Aufgrund von Gewaltdelikten, Drogenhandel und unerlaubtem Waffenbesitz geriet er wiederholt in Konflikt mit dem Gesetz und wurde 1973 schließlich zu einer Haftstrafe von 10 Jahren verurteilt. Am 9. März wurde der ehemalige Präsident des zwischenzeitlich aufgelösten Charters des "Hells Angels MC" in Rosenheim vom Landgericht Frankfurt wegen Zuhälterei und schwerer Zwangsprostitution zu einer Freiheitsstrafe von 10 Jahren und 2 Monaten verurteilt. Der Angeklagte hatte 3 Frauen im Alter zwischen 17 und 36 Jahren in verschiedenen Wohnungen und Hotels in Frankfurt und Bayern untergebracht, die dort der Prostitution nachgehen mussten. Auf Widerworte soll der Angeklagte mit Schlägen reagiert haben. Mit dem verhängten Strafmaß entsprach das Gericht der Forderung der Staatsanwaltschaft. Darüber hinaus zog das Gericht einen Betrag von 200.000 EUR ein, die der Angeklagte seinen Opfern aus ihrer Tätigkeit als Zwangsprostituierte abgenommen hatte. Der Angeklagte legte zwischenzeitlich Revision ein. 389 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Organisierte Kriminalität AuseinandersetAm 4. Mai kam es in Duisburg auf offener Straße zu einer gezungen außerhalb walttätigen Auseinandersetzung zwischen zwei Gruppen von Bayerns ungefähr 100 Personen. Ein Teil der Beteiligten bestand aus Angehörigen des "Hells Angels MC", Personen des gegnerischen Lagers waren überwiegend zwei arabisch-türkischen Großfamilien zuzuordnen. Im Verlauf der Auseinandersetzung kam es zu mehreren Schussabgaben aus mindestens 2 Schusswaffen, bei denen 4 Personen verletzt wurden. Unbeteiligte sollen bei der Schießerei nicht zu Schaden gekommen sein. Vor dem Hintergrund des seit mehreren Jahren schwelenden Konflikts um die territoriale Vorherrschaft in der Schweizer Rockerszene kam es am 22. Mai in einer Bar in Genf zu einem Schusswechsel zwischen Mitgliedern der "Hells Angels" und der "Bandidos". In dem Lokal hielten sich zur Tatzeit Angehörige des "Bandidos MC Genf" als Gäste auf, als mehrere Angehörige der "Hells Angels" eintrafen. Sofort kam es zu einem Schusswechsel, bei dem jedoch niemand verletzt wurde. Die Bar war zum Tatzeitpunkt gut besucht. Die an der Auseinandersetzung beteiligten Personen verließen den Tatort vor Eintreffen der alarmierten Polizei. Die Genfer Strafverfolgungsbehörden haben Ermittlungen wegen des Verdachtes auf versuchte vorsätzliche Tötung aufgenommen. Am 30. Mai kam es in Bern vor dem Gerichtsgebäude im Zusammenhang mit dem Prozessbeginn gegen 22 Mitglieder des "Bandidos MC", des "Hells Angels MC" und des "Broncos MC", u.a. wegen versuchter Tötung und versuchter schwerer Körperverletzung, zu gewalttätigen Ausschreitungen. Rund 180 Angehörige der "Hells Angels" sowie etwa 100 Angehörige des "Bandidos MC" begingen wechselseitig zahlreiche Körperverletzungsdelikte. Seit Juli 2021 ist der "Bandidos MC" mit den Chaptern Thun und Sion und seit Juli mit dem Chapter Genf in der Schweiz präsent. Dies stellt insbesondere für den "Hells Angels MC", der dort seit mehreren Jahrzehnten etabliert und aktuell mit 11 Chartern vertreten ist, eine Provokation dar. So sind bereits zahlreiche strafrechtlich relevante Vorfälle wie gegenseitige Angriffe, schwere Körperverletzungen, versuchte Tötungen, Sachbeschädigungen und Brandstiftungen diesem Konflikt zuzurechnen. Trotz geographischer Nähe zur Schweiz, konnten unmittelbare Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen "Hells Angels MC" und "Bandidos MC" in Bayern bislang nicht festgestellt werden. 390 Organisierte Kriminalität Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 1.6 Phänomenübergreifende Aspekte 1.6.1 Verbindungen von Rockern in die rechtsextremistische Szene Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet mögliche Verbindungen zwischen Rockern und Rechtsextremisten. Es bestehen punktuell personelle Überschneidungen zwischen dem Rockermilieu und der rechtsextremistischen Szene, die zumeist auf geschäftliche Interessen oder persönliche Beziehungen zurückgehen. In der Vergangenheit handelte es sich dabei auch um Personen, die Führungspositionen in rechtsextremistischen Parteien und Gruppierungen innehatten beziehungsweise im rechtsextremistischen Versandhandel tätig waren. Der ehemalige NPD-Funktionär Sascha Roßmüller bekleidet aktuell die Funktion des "El Secretario" in der "Federation South Central" des "Bandidos MC". Zudem ist der NPD-Funktionär Alfred Steinleitner aus Niederbayern neben seiner Parteizugehörigkeit auch Vizepräsident beim "Gringos MC Wörth", einem Supporter-Club des "Bandidos MC". Auch konnten in Bayern bei mehreren Personen innerhalb der Rockerszene Tätowierungen festgestellt werden, die eindeutig rechtsextremistische Bezüge aufweisen. 1.6.2 Rocker und Waffenerlaubnisse Personen aus der Rockerszene und der rechtsextremistischen Szene zu identifizieren, die Sicherheitsunternehmen betreiben oder in diesem Bereich arbeiten, ist ein weiteres wichtiges Ziel des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz. Die konsequente Prüfung der gesetzlichen Vorgaben zur waffenrechtlichen Zuverlässigkeitsprüfung durch Polizei und weitere Sicherheitsbehörden führt dazu, dass sich die Anzahl legaler Waffenbesitze solcher Unternehmen und deren Mitarbeiter reduziert. In den letzten Jahren gab es mehrere Gerichtsurteile, bei denen Mitgliedern von OMCGs die waffenrechtliche Zuverlässigkeit aufgrund ihrer Mitgliedschaft abgesprochen wurde. 391 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Organisierte Kriminalität 2. RUSSISCH-EURASISCHE OK (REOK) Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion hat sich eine Vielzahl ethnisch geprägter krimineller Gruppierungen etabliert. Sie sind international vernetzt und begehen vor allem Straftaten in den Bereichen Eigentumskriminalität, Rauschgiftund Waffenhandel, Schmuggel, Schutzgelderpressung sowie Geldwäsche. "Diebe im Gesetz" Eine besondere Bedeutung innerhalb dieser kriminellen Gruppierungen kommt den weltweit agierenden "Dieben im Gesetz" zu, die sich als Führungspersonen der Russisch-Eurasischen OK durchgesetzt haben. Der Begriff "Dieb im Gesetz" stammt aus den 1920er Jahren, als sich in sowjetischen Gefängnissen und Lagern, den sogenannten "Gulags", die Anführer der kriminellen Strafgefangenen gegen die Anführer der politischen Häftlinge durchsetzten und so die Oberhand gewannen. Diese kriminellen Anführer nannten sich fortan "Diebe im Gesetz" und stellten mit den "Diebesgesetzen" einen eigenen Verhaltenskodex auf. Dieser sieht vor, dass Konflikte durch eigene Autoritätspersonen - notfalls auch mit Gewalt - geregelt werden und keine Zusammenarbeit mit der Polizei und Justiz stattfindet. Mit einer Gemeinschaftskasse ("Obchak") werden vor allem strafrechtlich verfolgte oder inhaftierte Gruppenmitglieder sowie ihre Angehörigen unterstützt. Erhöhter In den letzten Jahren wurden in mehreren postsowjetischen Verfolgungsdruck Staaten (u. a. in Russland und der Ukraine) die Strafgesetzbücher in Russland und der im Bereich Russisch-Eurasische OK aktualisiert und verschärft. Ukraine So sind bereits die Bildung und Führung einer kriminellen Vereinigung, die Mitgliedschaft in einer solchen, der Status als kriminelle Führungsfigur innerhalb der REOK sowie die Teilnahme an Treffen von kriminellen Anführern ("S'chodka") strafbar. In der Folge wurden auch Sanktionen gegen diverse russischsprachige, aber auch internationale "Diebe im Gesetz" verhängt, weshalb diese oftmals ihre Herkunftsländer verlassen und sich im (europäischen) Ausland niedergelassen haben. Aktuell gilt die Türkei, neben Griechenland, als Hauptrückzugsort. Die "Diebe im Gesetz" halten ihre Aktivitäten auf niedrigem Niveau, um Rückschlüsse auf ihre Zugehörigkeit zur OK zu vermeiden. Ebenso wird die "Krönung" neuer "Diebe im Gesetz" weiterhin ausgesetzt. Aufgrund der genannten Entwicklungen muss weiterhin damit gerechnet werden, dass Mitglieder der REOK auch Deutschland und Bayern verstärkt als Rückzugsund Operationsgebiet 392 Organisierte Kriminalität Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 nutzen werden. Bereits in den letzten Jahren konnten in Bayern wiederholt Aufenthalte von "Dieben im Gesetz" festgestellt werden, zum Teil auch zum Zweck medizinischer Behandlungen. 3. ITALIENISCHE OK Die vier einflussreichsten kriminellen Gruppierungen in Italien sind: - "'Ndrangheta" in Kalabrien - "Camorra" in Kampanien - "Cosa Nostra" auf Sizilien - "Sacra Corona Unita" in Apulien Diese Mafiasyndikate sind zwar nach wie vor mit ihren jeweiligen süditalienischen Herkunftsregionen verbunden, operieren bei ihren kriminellen Aktivitäten jedoch international. So sind auch in Deutschland und Bayern immer wieder Besuche von Autoritäten aus Italien festzustellen, die den Aufbau der Clans und den reibungslosen Ablauf in Deutschland kontrollieren. Der geschätzte weltweite Jahresumsatz der 4 Syndikate liegt im dreistelligen Milliarden-Euro-Bereich. Die Deliktsfelder der Gruppierungen liegen überwiegend im Zentrale Deliktsinternationalen Drogenund Waffenhandel, in der Geldwäsche, felder der Schutzgelderpressung und der Geldfälschung sowie der illegalen Müllentsorgung. In einigen europäischen Staaten bestehen Bestrebungen, das staatliche und ökonomische System zu durchdringen. Die weltweite Corona-Pandemie wirkt sich auch nachhaltig auf Aktivitäten während die Mafia-Organisationen aus. Der Halbjahresbericht 2021 der der Pandemie staatlichen italienischen Behörde "Direzione Investigativa Antimafia" (kurz: DIA) betont einmal mehr, dass es zu den Stärken der "'Ndrangheta" aber auch der anderen Vereinigungen gehört, aus Krisenzeiten nachhaltigen Profit zu schlagen. Neben der gezielten Abschöpfung von Fördergeldern versprechen sie notleidenden Bevölkerungsteilen und Unternehmen schnelle und unbürokratische "Hilfen". Die so entstehenden Abhängigkeitsverhältnisse können die Organisationen zukünftig im Sinne ihrer Interessen und auf vielfältige Weise instrumentalisieren, wie etwa bei der Unterstützung zur Durchführung von Geldwäsche, bei Drogengeschäften oder der Manipulation von Wahlen. 393 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Organisierte Kriminalität Personenpotenzial Im Rahmen der globalen Ausbreitung sind viele italienische Bayern Familienclans seit etlichen Jahren auch in Deutschland sesshaft. In Bayern können derzeit mehr als 180 Personen den 4 großen italienischen Mafia-Syndikaten zugeordnet werden. Bayern wird nach wie vor als Investitions-, aber auch als Rückzugsraum genutzt. 'Ndrangheta Die "'Ndrangheta" ist eine traditionelle kriminelle Vereinigung, die in Kalabrien beheimatet ist. Das Syndikat ist hierarchisch aufgebaut. Ihre rund 10.000 Mitglieder verteilen sich auf etwa 150 Clans. In mehr als 30 Staaten sind diese mit regionalen Strukturen, sogenannten "locali", vertreten. Ihre strengen Regeln und ihr Treueschwur lassen wenig Raum für Kronzeugen, die gegen die Organisation aussagen wollen. Um ihre wirtschaftliche und gesellschaftliche Machtposition weiter auszubauen, werden international sukzessive weitere Vertretungen an neuen Standorten gegründet. Die geltenden Regeln und Riten der kalabrischen Heimat der "'Ndrangheta" werden in diesen "locali" gleichermaßen angewandt und weitergelebt. In Deutschland bietet vor allem die Gastronomie zahlreiche Möglichkeiten, einer legalen Tätigkeit nachzugehen. Diese sorgt für gesellschaftliche Integration, bildet eine Fassade sowie eine Basis für Flüchtige. Die "'Ndrangheta" betreibt Restaurants nicht allein zur Geldwäsche, sondern auch als Ausgangspunkt für ihre Drogengeschäfte. Die große, von dieser kriminellen Organisation ausgehende Gefahr besteht in ihrem familiengeprägten Aufbau, der schleichenden Unterwanderung von Wirtschaft und Politik, der Etablierung von Abhängigkeitsstrukturen durch wirtschaftliche Investitionen in Unternehmen sowie dem nahezu unbegrenzten Zugang zu Finanzmitteln. Bayernweit können derzeit mehr als 80 Mitglieder der "'Ndrangheta" zugeordnet werden. Nach langjährigen Ermittlungen konnten am 5. Dezember 2018 in 4 europäischen Staaten insgesamt 84 Personen festgenommen und mehrere Tonnen Kokain sichergestellt werden. Gegen 14 Beschuldigte, die zumindest teilweise der "'Ndrangheta" zuzuordnen sind, hat im Oktober 2020 der Prozess am Duisburger Landgericht begonnen. Einigen dieser Personen wird die Bildung einer kriminellen Vereinigung und bandenmäßiger Drogenhandel vorgeworfen. Ein Urteil ist noch nicht ergangen. 394 Organisierte Kriminalität Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Bei einer Großrazzia verhafteten die italienischen Behörden im Festnahmen und Dezember 2019 Mitglieder und Unterstützer der "'Ndrangheta" Prozesse aus der Provinz Vibo Valentia. Im Januar begann der Prozess gegen die 334 Beschuldigten. Den Angeklagten werden u. a. Mord, Erpressung, Raub und Drogenhandel sowie die Mitgliedschaft in einer kriminellen mafiaähnlichen Vereinigung vorgeworfen. Aus Sicherheitsgründen wurde für den Prozess eigens ein bunkerähnlicher Gerichtssaal errichtet. Als Ergebnis langjähriger gemeinsamer Ermittlungen unter Federführung deutscher und italienischer Behörden fanden am 5. Mai 2021 europaweit Durchsuchungen und Festnahmen im Umfeld eines kalabrischen Clans statt. Den mehr als 80 Beschuldigten werden großangelegter Drogenhandel und Steuerhinterziehung vorgeworfen. Schwerpunkt des deutschen Ablegers seien Geldwäsche und Umsatzsteuerbetrug gewesen. Nachdem die Staatsanwaltschaft Turin im Mai 2022 gegen 40 Personen Anklage erhoben hatte, ergingen im Oktober die ersten 18 Urteile mit Gefängnisstrafen zwischen 6 Monaten und 20 Jahren. Eine weitere großangelegte Aktion der Exekutivbehörden fand am 20. Oktober 2021 statt. Zeitgleich durchsuchten Ermittler Objekte in Bayern, Bulgarien und Italien. Der Gruppierung wird Steuerhinterziehung im zweistelligen Millionenbereich vorgeworfen. Neben 11 Festnahmen stellten die Einsatzkräfte u. a. 42, teils sehr hochwertige, Fahrzeuge namhafter Hersteller sicher. Camorra Mit dem Begriff "Camorra" bezeichnet man die italienischen kriminellen Organisationen in der Region Kampanien, in der Provinz und in der Stadt Neapel. Diese Region ist seit Jahrzehnten in 12 Zonen eingeteilt, die von mehreren Clans beherrscht werden. Die Camorra ist weniger ein hierarchisches Gebilde, als ein loser Verbund autonomer Clans, die keiner einheitlichen Führung folgen. Cosa Nostra Die "Cosa Nostra" ist eine kriminelle Organisation, die von Sizilien aus operiert. Wenngleich ihr innerer Aufbau und ihre Struktur nicht abschließend aufgeklärt sind, dürfte sich die "Cosa Nostra" jedoch aus autarken Clans zusammensetzen, die keiner einheitlichen Führungsfigur unterliegen. Die gezielte Einflussnahme auf wirtschaftliche und politische Aktivitäten sowie das Bestreben, die Gesamtkontrolle über ihr Territorium zu erlangen, bleiben jedoch bestehen. 395 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Organisierte Kriminalität Sacra Corona Unita Die in Apulien agierende "Sacra Corona Unita" etablierte sich erst in den 1980er Jahren, in Reaktion auf die aus den Nachbarregionen ausgeübten Einflüsse der anderen 3 Syndikate "'Ndrangheta", "Camorra" und "Cosa Nostra". Auch die "Sacra Corona Unita" besteht aus zahlreichen kriminellen Einzelgruppen ohne einheitliche Führung. 4. NIGERIANISCHE OK In Nigeria sind in den letzten Jahrzehnten aus einigen universitären Bruderschaften, den "Confraternities", kriminelle OK-Gruppierungen entstanden. Diese hatten sich ursprünglich im Zuge der nigerianischen Unabhängigkeitsbestrebungen in den 1960er und 1970er Jahren gegründet und setzten sich ein für die Forderung nach Unabhängigkeit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Beeinflusst durch traditionelle Ahnenund Geheimkulte sowie politische und wirtschaftliche Instabilität entwickelten sich einige Bruderschaften zu mafiaähnlichen Vereinigungen. Diese Gruppierungen bedienen sich klassischer hierarchischer OK-Strukturen, sind paramilitärisch aufgestellt und stehen untereinander grundsätzlich in einem Konkurrenzverhältnis, das insbesondere in Nigeria durch gewalttätige Auseinandersetzungen geprägt ist. Ihre Betätigungsfelder liegen sowohl in ihrem Heimatstaat als auch im internationalen Ausland insbesondere in den Bereichen Rauschgiftkriminalität, Internetbetrug, Geldwäsche, Menschenhandel und Schleusung. In Europa bildet Italien hierbei den geografischen Schwerpunkt. Mittlerweile kann eine Ausweitung und Verlagerung bestehender krimineller Strukturen von nigerianischen mafiaähnlichen Organisationen von Italien aus auch nach Deutschland und insbesondere nach Bayern festgestellt werden. In Bayern sind Mitglieder folgender "Confraternities" aktiv: - "Supreme Eiye Confraternity" (SEC) - "Black Axe Confraternity" - "Supreme Vikings Confraternity" (SVC)/"De Norsemen KClub International" (DNKI) - "M.A.P.H.I.T.E./Green Circuit Association International" (GCAI) 396 Organisierte Kriminalität Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Jede "Confraternity" hat eine nationale (Deutschlandführung) sowie mehrere untergeordnete regionale Organisationseinheiten. Letztere orientieren sich i.d.R. an Bundesländern bzw. an Einzugsgebieten größerer Städte. Es liegen Hinweise auf regionale Organisationseinheiten aller genannten "Confraternities" in Bayern vor. Von den italienischen Sicherheitsbehörden wird die nigerianische OK, wozu insbesondere auch die Gruppierungen der in Bayern aktiven Mitglieder gehören, mittlerweile als mafiaähnlich eingestuft. In Italien kam es in den letzten Jahren vermehrt zu großangelegten Festnahmeaktionen und Verurteilungen von nigerianischen "Confraternity"-Mitgliedern. 397 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Im Blickpunkt Im Blickpunkt: Extremismus im Wandel Eine Kernaufgabe des Verfassungsschutzes ist die Beobachtung verfassungsfeindlicher, extremistischer und sicherheitsgefährdender Bestrebungen. Dabei kategorisiert der Verfassungsschutz verfassungsfeindliche Bestrebungen unter Berücksichtigung ideologischer Gemeinsamkeiten und Trennlinien in Phänomenbereiche. Zu den seit Längerem unter Beobachtung stehenden Phänomenbereichen zählen Rechtsextremismus, Linksextremismus, Islamismus und auslandsbezogener Extremismus. Aus dem gesetzlichen Auftrag des Verfassungsschutzes ergeben sich aber keine Vorgaben oder Einschränkungen hinsichtlich der konkreten ideologischen Ausrichtung zu beobachtender Bestrebungen. Maßgeblich ist ausschließlich, dass der gesetzliche Beobachtungsauftrag eröffnet ist. Dies erlaubt es den Verfassungsschutzbehörden, flexibel auf neue Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung zu reagieren - und dafür ggfs. auch neue Phänomenbereiche einzurichten. So wurden die Phänomenbereiche der Verfassungsschutzrelevanten Islamfeindlichkeit (Beobachtungsaufnahme ab 2012) sowie der Reichsbürger und Selbstverwalter (Beobachtungsaufnahme ab 2016) als Konsequenz neuer extremistischer beziehungsweise sicherheitsgefährdender Dynamiken eingerichtet. Mit Beginn der Corona-Pandemie versuchten verschiedene Akteure, das Protestgeschehen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen zu instrumentalisieren, um eine verfassungsschutzrelevante Agenda zu verfolgen. Da diese Akteure ideologisch keinem der bestehenden Phänomenbereiche zugeordnet werden konnten, richtete der Verfassungsschutz 2021 den Phänomenbereich der Verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates ein. 398 Im Blickpunkt Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Neben der Entstehung neuer verfassungsschutzrelevanter Bestrebungen, nimmt auch innerhalb der einzelnen Phänomenbereiche die Heterogenität zu. Es treten vermehrt auch Personen und Personenzusammenschlüsse auf, die Ideologieelemente verschiedener Strömungen aufweisen. Begünstigt wird diese Entwicklung durch die sozialen Medien, in denen eine Vielzahl an extremistischen oder verschwörungstheoretischen Versatzstücken verfügbar ist, die sich beliebig - und jeweils zur eigenen Lebenssituation passend - kombinieren lassen. Insbesondere die Corona-Pandemie wirkte gemeinsam mit der gestiegenen Relevanz des virtuellen Raums für extremistische Agitation auch als Katalysator im Zusammenhang mit zwei weiteren, vielfach verwobenen Entwicklungen: Zum einen treten vermehrt Personen auf, die sich ein individuelles Weltbild aus Verschwörungstheorien und unterschiedlichen extremistischen Ideologiebausteinen erschaffen haben (Stichwort: "Self-madeExtremismus"). Zum anderen bilden sich lose verbundene und sich dynamisch verändernde Zufallsgemeinschaften über Online-Plattformen, die Extremisten und Nicht-Extremisten (zumindest temporär) vereinen. Das zentrale Ziel dieser lose vernetzten extremistischen Milieus ist dabei überwiegend rein destruktiv: Die Agitation richtet sich gegen den demokratischen Prozess und demokratische Entscheidungsträger, eine gemeinsame Vision einer alternativen politischen und gesellschaftlichen Ordnung fehlt jedoch oftmals. Thematische Schnittmengen zwischen den extremistischen Ideologiefragmenten, aber auch vielgestaltige und teils antisemitisch gefärbte Verschwörungstheorien verstärken das Zusammengehörigkeitsgefühl. Dieser ideologische Minimalkonsens begünstigt lose und schnelllebige Strukturen, was auf eine Vielzahl von Menschen attraktiv wirken kann. 399 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Im Blickpunkt Prominentes Beispiel für eine solche, auch real-weltlich agierende, staatsund demokratiefeindliche Struktur ist die mutmaßlich terroristische Vereinigung, gegen die am 7. Dezember eine großangelegte bundesweite Razzia durchgeführt wurde. Innerhalb der Gruppe waren nicht nur Personen der Reichsbürgerund Selbstverwalterszene, sondern auch Rechtsextremisten und Anhänger der verfassungsfeindlichen Delegitimierung des Staates vertreten. Ungeachtet der unterschiedlichen Ideologiezugehörigkeiten soll das gemeinsame Ziel der Gruppe die Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gewesen sein. Ähnliche ideologisch inkohärente Konstellationen sind regelmäßig auch in sozialen Netzwerken und in MessengerChatgruppen feststellbar. Ein weiteres Beispiel sind anlassbezogene Kooperationen zwischen deutschen Linksextremisten einerseits und türkischen Linksextremisten und der PKK-Anhängerschaft aus dem Phänomenbereich des auslandsbezogenen Extremismus andererseits. Dieses Milieu agiert auf Basis gemeinsamer Feindbilder und Solidaritätsaktionen ungeachtet der ideologischen Differenzen gemeinschaftlich, beispielsweise in Form von gemeinsamen Demonstrationen in Reaktion auf türkische Militäreinsätze in kurdisch besiedelten Regionen. Auch Aktivitäten gegen rechtsextremistische Akteure werden unter dem Stichwort "Antifaschismus" oft gemeinsam oder zumindest in Kooperation durchgeführt. Der Zusammenhalt in diesem phänomenbereichsübergreifenden Agitationsfeld ist vor allem auf den gemeinsamen politischen Gegner, insbesondere aus dem rechten bis rechtsextremistischen Spektrum zurückzuführen. Auch subtil transportierte islamistische Ideologiefragmente innerhalb sozialer Netzwerke erschweren eine eindeutige Verortung zu einem bestimmten Phänomenbereich. So tauschen sich in Kommentarsektionen etwa legalistische Islamisten ohne Gewaltaffinität mit gewaltbereiten Jihadisten über ihre Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates und der freiheitlichen Werteordnung aus. Eine ideologische Grundüberzeugung wird hier zwar geteilt, die zu ergreifenden Mittel - etwa zur Erreichung eines Scharia-Staates in Deutschland als auch dessen Ausgestaltung - divergieren jedoch deutlich. 400 Im Blickpunkt Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Zuletzt ist auch nicht auszuschließen, dass sich unter Rückgriff auf zu bewältigende Krisen, allen voran die Corona-Pandemie und der Russland-Ukraine-Krieg, weitere solcher phänomenbereichsübergreifenden Strukturen etablieren, die im Grunde zwar einer ideologischen Vereinbarkeit entbehren, aber auf Basis einender Kritik am staatlichen Handeln einen gemeinsamen Nenner finden und extremistische Aktivitäten entfalten. Die dargestellten Entwicklungen, insbesondere die rasche Fluktuation sowohl der agierenden Personen als auch der vertretenen Ideologien und angestrebten Ziele innerhalb der verschiedenen Milieus stellt den Verfassungsschutz bei der Erfüllung seines Beobachtungsauftrags vor wachsende Herausforderungen. Da sich diese Strukturen weiterhin vorrangig im Internet beziehungsweise über Messenger-Dienste bilden und ausbreiten, hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz insbesondere die operative Internetbearbeitung weiter verstärkt. Im Zentrum der Auswertung steht dabei das Ziel, anonym agierende Nutzer zu identifizieren und die Verbindungen zwischen den verschiedenen Nutzern zu verfolgen, um so extremistische Bestrebungen im Internet auch über Phänomenbereiche hinweg aufdecken zu können. Der permanente Ausbau sowohl der technischen Ressourcen als auch der Befähigung und Digitalkompetenz der Mitarbeiter des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz dient der professionellen, zeitnahen und effektiven Früherkennung extremistischer Dynamiken. Diese intensive Internetbearbeitung durch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz ermöglicht es auch, die beschriebenen neuartigen Entwicklungen effektiv aufzuklären - und leistet damit einen wichtigen Beitrag zum Schutz der demokratischen Verfassung und der Menschenrechte. 401 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Anhang Anhang PERSONENPOTENZIAL UND GEWALTTATEN Anzahl der Extremisten in Bayern 7.000 6.000 5.000 5.360 4.200 4.000 3.200 3.190 3.000 2.590 1 Der Rückgang 2014/2015 ist vor allem auf die Reformbemühungen 2.000 innerhalb der IGMG zurückzuführen. 2 Für das Jahr 2013 wurden erstmals 1.300 nur die offen extremistischen 1.000 Strukturen der Partei "DIE LINKE." ausgewiesen. 100 3 Aufnahme der Beobachtung im 100 0 Jahr 2013 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022 4 Aufnahme der Beobachtung im Jahr 2016 und fortschreitende Aufhellung des Personenpotenzials Islamisten1 Scientology-Organisation 5 Ab dem Jahr 2019 werden Sonstige ausländische Extremisten5 Verfassungsschutzrelevante Islamfeinde3 Separatisten nicht mehr gesondert Rechtsextremisten Reichsbürger/Selbstverwalter4 aufgeführt. Linksextremisten2 Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates Entwicklung extremistisch motivierter Gewalttaten in Bayern 200 197 150 122 100 89 81 75 72 63 61 62 53 46 47 47 50 42 23 11 13 12 3 6 6 4 3 6 0 0 2018 2019 2020 2021 2022 Rechtsextremismus Linksextremismus Ausländische Ideologie Religiöse Ideologie Reichsbürger 402 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 STICHWORTREGISTER A Antimilitarismus 53-54, 146, Adil Düzen 294, 298, 326 ("Gerechte Ordnung") 85-86 Antirassismus 294, 296-297 Advanced Persistent Threat 372 Antirepression 294, 296 Aktion, direkte 280, 318 Antisemitismus 30, 50, 74-76, Aktionsmelder (IB-Webseite ) 224 140-142, 158, 165, 174-176, Al-Intiqad ("Die Kritik"), 212, 214, 238, 267, 323 (Publikation) 129 Antiziganismus 50, 180, 214 Al-Manar Artikel 10-Gesetz 25 ("Der Leuchtturm") 76, 129-130 Assists ("Beistände") 335 Alperen/Alperen-Genclik Attentäter-Fanszene 167 (Publikation) 146 Auditing 342-343 Al-salaf al-salih ("Die frommen Avantgardeanspruch Altvorderen") 96, 124 (Kommunismus) 289 Anarchismus 288, 291-293, 317-318 Anarchisten 277, 292-293, B 315, 317-318 Bakunin, Anarchistische Zeitung und Michail Alexandrowitsch 288, 291 anarchistisches Organ 279,303 Bandidos MC 383, 385-386, Anarcho-Primitivismus 293 388,390-391 Anarcho-Syndikalismus 291 Batil Düzen ("Nichtige Odnung") 85 Antifaschismus 294, 296-297, Bayerische Informationsstelle gegen 326-327, 400 Extremismus (BIGE) 27-29, 32-34, Antigentrifizierung 280, 294, 297-298 162, 258 Antiglobalisierung 294, 299 Bayerisches Aussteigerprogramm 28 Antiimperialismus 142, 146, 294-295 Bayerisches Handlungskonzept Antiinstitutionalismus 317 gegen Rechtsextremismus 32 403 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Anhang Bayerisches Netzwerk für Prävention D und Deradikalisierung Da'wa ("Missionierung") 96 gegen Salafismus 30 Dianetik 331, 335, 337, 341-342 Bayerisches Dieb im Gesetz 392 Sicherheitsüberprüfungsgesetz 23 Diktatur des Bayerisches Proletariats 289-290, 309, 311 Verfassungsschutzgesetz 19, 381 Beobachtungsauftrag des E Verfassungsschutzes 20-21, 69, Engels, Friedrich 288-289 268, 398, 401 Entrismus 290 BIRGiT, Arbeitsgruppe 23, 103 Ethnopluralismus 158, 200, 223 Backyard Bloods 385 Bevölkerungsaustausch 51, 166, 178, F 222, 248 Flüchtlinge 50, 55, 59, 160, 170, Blood Red Section MC 385 177-178, 180, 189 Bollwerk Franken (Tarngruppe IB) 225 Flutkatastrophe 335 Brandanschlag 135, 164, 278, 280, FSN - The Revolution 62, 190-191 282, 329, 367 Fünf Gifte 364 Bundesamt für Sicherheit in der Furkan Nesli Dergisi (Publikation) 88 Informationstechnik (BSI) 368, 373 Bürgerinitiativen, rechtsextre- G mistische 210 G7-Gipfel 153, 155, 281-284, 299, 308, 310, 314, 319, 326 C G 10-Kommission 25 Camorra 393, 395-396 Gefangenenhilfe 99, 113 Chapter/Charter 229, 384-390 Gefährder 23, 103, 114, 119 Colour 384 Geheimund Sabotageschutz 23 Corona 40-45, 60, 62, 73, 93, 148, Geheimschutzbetreuung 369 175-177, 191, 194, 208-210, Gelber Schein 246 214, 224, 226, 230-231, 235, Geschichtsrevisionismus 158, 173 237, 239, 241, 245, 247, 250-252, Graue Wölfe 135, 141, 147-149 262-264, 302-304, 323, 333-335, Great Reset 60, 175, 264-265 343, 349, 389, 393, 398-399, 401 Gremium MC 383, 386, 388 Cosa Nostra 393, 395-396 Gringos MC 386, 391 Cyberabwehr Bayern 373-374 Cyberangriffe 7, 22, 65-66, 357, 369-372 Cyber-Allianz-Zentrum Bayern 22, 36, 66, 354, 368-374 404 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 H K Heldengedenken 181-182, 215, Kalifat 75, 79, 90, 100, 217-218 120, 122, 124, 131 Hells Angels MC 383-386, 388-390 Kapitalismus 86, 140, 211, 216, Herrschaftsfreie Gesellschaft 275, 287, 289, 294-296, 298, 304, 277, 288, 291, 293, 315 310-311, 320, 323, 325-326 Home Da'wa 103 Kameradschaften 159-160, 226 Homegrown-Terroristen 110 Kampfsport 187-188 Homophobie 183-184 Klassenlose Gesellschaft Hubbard, L. Ron 331, 335, 337, 289, 324, 327 341-342, 346-347, 349 Klima-/Umweltbewegung 284, 286-288, 293, 301, 316-317 I Kommunismus 50, 53, 75, 86, 282, Ideale-Org-Kampagne 342, 344 75, 86, 282, 288-289, Imperialismus 52-53, 59, 86, 141, 304, 306, 312, 322, 324-326 282, 289, 294-295, Kommunistische Partei Chinas 307-308, 311, 326 (KPCh) 362, 364 Incel-Subkultur 165-167 Kommunistische Partei Initialisierende Gewalt 278 Deutschlands (KPD) 306, 311-313 Initiative Wirtschaftsschutz 368 Konfrontative Gewalt 279 Inlandsnachrichtendienst FSB Konvertiten 98 (Russland) 358-359 Kulturrevolution 291 Intifada 128 Kutte 228, 388 Insurrektionalismus 292 Isar-Legion (Tarngruppe IB) 43 L Islam-Infostände 104-105 Landesamt für Sicherheit in Islamfeindlichkeit 21, 27, 55, 78, 105, der Informationstechnik (LSI) 374 180, 267-272, 398 Landeskoordinierungsstelle Bayern Islamismus, legalistischer 30, 71-72, gegen Rechtsextremismus 28 76-78, 400 Lederhosen-Revolte Islamseminare 104 (Tarngruppe IB) 224 Italienische Organisierte Legalresidentur 65, 355-356, Kriminalität 393-396 358, 363 Lenin, Wladimir I. 289 J Low-Profile-Anschläge 115 Jahiliyya ("Unglaube und Unwissenheit") 124 Jihad 70, 75, 82, 97-98, 102-103, 110-112, 118, 120, 123 405 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Anhang M N Mafia 393-397 Nachhilfeinstitute 345-346 Maoismus 291, 309 Nachrichtendienstliche Marx, Karl 288-289, 304-305 Mittel 22, 24, 332, 357, 382 Marxismus 152-154, 288-289, Nakba-Tag 140-141 320, 324-325 Nationale Allianz für Marxismus-Leninismus 153-154, Cyber-Sicherheit 373 289-291, 306, 311-312 Nationalsozialismus 157, 176, Massenvernichtungswaffen 354, 376 181-182, 186, 190, 206, Mexican Rebels 386 215, 223, 226-227, 230, 295-297 Milieumanager 247, 249 'Ndrangheta 393-396 Milli Istihbarat Teskilati MIT 365 Neonazismus 226, 230 Milli Gazete (Nationale Zeitung), Nigerianische Organisierte (Publikation) 85-86 Kriminalität 396-397 Militärischer Auslandsnachrichtendienst GRU (Russland) 358, 360 O Militärischer Nachrichtendienst Obchak 392 MID (China) 362-363 Oberpfalz-Revolte Ministerium für öffentliche (Tarngruppe IB) 225 Sicherheit MPS (China) 362 Offen extremistische Strukturen 304 Ministerium für Staatssicherheit Office of Special Affairs MSS (China) 362 (OSA) 346-347 Ministry of Intelligence of the Operierender Thetan 343 Islamic Republic of Iran MOIS 366 Organisierte Kriminalität 22, 380-397 Missionen (Scientology-Organisation) OSA - 334, 341-342 Office of Special Affairs 346-347 Mobivideos Osmanen Germania 386 (Mobilisierungsvideos) 302 Outlaw Motorcycle Gang Mongols MC 383 (OMCG) 383-384 Mosaik-Rechte 205 Outlaws MC 383, 386 Muhacirun (Auswanderer), (Publikation) 130 P Münchner Parlamentarisches Sicherheitskonferenz 45, 298, 320 Kontrollgremium 25 Musikveranstaltung 33, 191, Partizan (Publikation) 153 (Rechtsextremismus) 195-196 Postautonome 52, 315-317, 323, 325, 327 Proliferation 354, 376-378 406 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Q Skinheadbands 196, 229 QAnon ("Q") 44, 250, 264-265 Skinheads 168, 195-198, 227-229, 231, 321 R Social Bots 360 Rätedemokratie 290 Social Engineering 370 Recht(s)konsulent 244 Souveräne Bewegung 249 Red Devils MC 385 Sozialismus 53, 124, 174, Religious Technology Center 289-290, 306-307, 309-310 (RTC) 341, 346 Spendensammlungen 71, 73, Remigration 43, 221, 223-224 99-100, 104 Revolutionary Guards Intelligence Spionageabwehr 8, 22, 36, 352-378 Organization RGIO (Iran) 366 Stalin, Josef W. 51, 290, 311 Revolution auf Sendung Stalinismus 290, 309, 312 (Radio des "III. Weg") 191 Stay Well Rock Machine MC 383 (Gesundheitskampagne) 335 Rückkehrer 100-102 Strukturelle Gewalt 278, 315 Rundowns 342 Sunna 69, 73, 90 Supporter 385-386, 391 S Sacra Corona Unita 393, 396 T Salafismus 27, 29-31, 69, 71-73, 76, Täter-Opfer-Umkehr 295 78-79, 95-99, 104, 107, 112-113, 127 Takfir 124 Salafismus, jihadistischer 72-73, Tarnorganisationen 75, 97 (Rechtsextremismus) 157 Salafismus, politischer 72-73, Tarnorganisationen 77-78, 97 (Scientology) 336-338, 340-341, Scharia 69, 72, 77, 80-82, 85, 87, 345-347, 349 90-91, 96, 125, 127, 270-271, 400 Tauhid 89, 96-97 Schiitischer Islamismus 30, 71, 73, Technischer militärischer Nachrichten75-76, 94, 129 dienst NSD (China) 362-363 S'chodka 392 Telegram 42, 47, 52, 58, 60, Schwarzer Block 278, 284 63, 66-67, 110-111, 119, Schulgründungen (Reichsbürger) 252 121, 189, 191-194, 208-209, Security and Intelligence 214, 227, 230, 245, 247-249, Organization of the Army (Iran) 366 251, 255, 263, 302, 360 Serxwebun ("Unabhängigkeit"), Terrorismus, islamistischer 23, 73, (Publikation) 141, 143 103, 112, 114, 128, 267 Sicherheitsüberprüfung 23 Trotzki, Leo 290 407 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Anhang Trotzkismus 290, 325 W Trust MC 383 Wahhabismus 71, 96 Tse-tung, Mao 153, 291, 311 Wilayat al-faqih (Herrschaft der Türk Federasyon Bülteni Rechtsgelehrten) 73 (Publikation) 146 Wirtschaftsschutz 36, 352-378 TV5 (Türkischer Fernsehsender) 86 Wolfsgruß 139, 147-148 Turan (Großtürkenreich) 147, 149-150 World Uyghur Congress (WUC) 364 U Umvolkung 179, 183, 199 Y United Tribuns 384, 386-387 Yeni Özgür Politika ("Neue Freie Politik"), (Publikation) 143, 145 V Yürüyüs ("Marsch"), (Publikation) 152 Verfassungsfeindliche Bestrebung 20, 69, 222, 230, 398 Z Verfassungstreueüberprüfung 23 Ziviler Auslandsnachrichtendienst Verschlusssachen 23, 369 SWR (Russland) 358-359 Verschwörungstheorie 32, 40, 44, 50-51, 60, 74-76, 151, 162, 166, 175-176, 190, 194, 200, 241, 243, 248, 250, 261-262, 264-265, 333, 399 Vertrauensleute 20, 24 Volksgemeinschaft 157, 173, 178, 180-181, 206, 267 Vorfeldaufklärung 26 408 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 409 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Anhang EXTREMISTISCHE ORGANISATIONEN UND GRUPPIERUNGEN In dieser Übersicht sind die im vorliegenden Verfassungsschutzbericht genannten Organisationen und Gruppierungen aufgeführt, bei denen die vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte in ihrer Gesamtschau zu der Bewertung geführt haben, dass die Organisation/Gruppierung verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, es sich mithin um eine verfassungsfeindliche Organisation/ Gruppierung handelt. Organisationen/Gruppierungen aus den Phänomenbereichen "Organisierte Kriminalität" und "Spionageabwehr" wurden nicht aufgenommen. Aus dem Bereich "Scientology" erfolgte keine Aufnahme der internationalen Organisationsteile. ISLAMISMUS/ISLAMISTISCHER TERRORISMUS Al-Hikmah-Moschee (Regensburg) 107 al-Nahda 83 al-Qaida 55, 72, 98, 120, 122-123, 125 al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAH) 123 al-Qaida auf dem indischen Subkontinent (AQIS) 123 al-Qaida in Irak (AQI) 123 al-Qaida im islamischen Maghreb (AQIM) 123 Al-Rahman-Moschee (Passau) 107 al-Shabab 115 Ansaar International e. V. (vormals Ansaar Düsseldorf e. V.) 104, 117 As-Salam-Moschee (Schwandorf) 107 Basma für Kultur, Religion und Barrierefreiheit Passau e. V. 107 Bayerische Islamische Gemeinschaft (BIG) e. V. 105 Boko Haram 115, 121 Council of European Muslims (CEM) (vormals Föderation der Islamischen Organisationen in Europa (FIOE)) 83 Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG) (vormals Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V. (IGD)) 78, 83 European Council for Fatwa and Research (ECFR) 83-84 Europäisches Institut für Humanwissenschaften (EIHW) 84 Erbakan-Stiftung (Milli -Görüs-Bewegung) 86 Freedom and Justice Party (FJP) 79 Furkan-Gemeinschaft (vormals Furkan Stiftung für Bildung und Dienst) 78, 88-89 410 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Generation Islam (GI) 57, 64, 90-91 HAMAS (Islamische Widerstandsbewegung) 75, 81, 83, 109, 128, 140 Hai'at Tahrir al-Sham (HTS) (vormals Jabhat al-Nusra (JaN) bzw. Jabhat Fath al-Sham (JFS)) 58, 97, 115, 125 Hilafet Devleti (Kalifatsstaat) 130-131 Hizb Allah (Hizbollah/Hisbollah) 71, 75-76, 94-95, 129-130 Hizb ut-Tahrir (HuT) 56, 78, 90 Imam Malik Moschee (München) 107 IMAN 105-106 Internationaler Kulturverein e. V. 107 Islamictutors 104 Islamisch albanisches Zentrum Ulm e. V. 107 Islamische Akademie Deutschland (IAD) 95 Islamische Federation München El-Salam-Moschee e. V. 107 Islamische Gemeinde Hof e. V. (IGH) 93 Islamische Gemeinde Nürnberg e. V. (IGN) (vormals Islamisches Zentrum Nürnberg) 84 Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e. V. (IGMG) (Milli -Görüs-Bewegung) 85-87, 130 Islamische Vereinigung in Bayern e. V. (IVB) 95 Islamischer Staat (IS) 75, 120, 128 Islamischer Staat Provinz Khorasan (ISPK) 111, 122 Islamischer Verein Augsburg e. V. (IVA) 107 Islamisches Zentrum Hamburg (IZH) 94 Islamisches Zentrum München e. V. (IZM) 84 Islamisches Zentrum Schwandorf e. V. 107 Islamisches Zentrum Weiden e. V. 107 Ismael Aga Gemeinschaft (IAC) (Milli -Görüs-Bewegung) 86-87 Khorasan-Gruppe 125 Kulturund Bildungszentrum Ingolstadt e. V. 130 Kulturverein für deutschsprachige Muslime e. V. 93 Marokko Haus für Kultur und Bildung e. V. 107 Milli-Görüs-Bewegung (Sammelbeobachtungsobjekt) 71, 76, 78, 85-87, 130 Muslimbruderschaft (MB) 71, 78-79, 84-85, 88, 127-128 Muslim Business Academy 104 Muslim Interaktiv 90 Muslimischer Interaktionsverein Nürnberg e.V. 107 Rat der Imame und Gelehrten in Deutschland e. V. (RIGD) 84 Realität Islam (RI) 56, 64, 90 411 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Anhang Saadet Partisi (SP) (Milli -Görüs-Bewegung) 86 Salahuddin Moschee Augsburg 107 Somalische Gemeinde München e. V. 107 Taleban 92, 109, 115, 122-123, 127 Tablighi Jama'at (TJ) 78, 92 Tanzim Hurras al-Din (THD) 98, 124 Taufiq-Moschee (München) 107 The Islamic Education and Research Acadamy (iERA) 105 Vereinigung Passauer Muslime e. V. (vormals Islamisches Zentrum Passau e. V.) 107 WorldWide Resistance - Help e. V. (WWR) 117 AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) bzw. Volkskongress Kurdistan (KONGRA GEL), ehemals Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistan (KADEK), Gemeinschaft der Kommunen in Kurdistan (KKK), Vereinigte Gemeinschaften Kurdistans (KCK) 134, 143, 365 Demokratisches Kurdisches Gesellschaftszentrum Aschaffenburg e. V. 144 Föderation der Arbeiter aus der Türkei e. V. (ATIF) 153 Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Deutschland e. V. (ADÜTDF) 147-150 Freie türkisch-rechtsextremistische Szene 151 Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK) 155 Konföderation der Gesellschaften Kurdistans in Deutschland e.V. (KON-MED) (vormals Dachverband Demokratisches Kurdisches Gesellschaftszentrum Deutschland e. V. (NAV-DEM)) 144 Kurdisches Gesellschaftszentrum München 144 Medya Volkshaus e. V. (Nürnberg) 59, 144 Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) 152-153 Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) 153-155 Türkische Kommunistische Partei-Marxisten-Leninisten (TKP-ML) 154 Ülkücü-Bewegung 135-136, 139, 141, 146-151 Volksbefreiungsarmee (HKO) 153 Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) 137, 140, 310 412 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 RECHTSEXTREMISMUS Aktivitas der Burschenschaft Danubia München 225-226 Ansgar Aryan 191, 198 Antagonist 191, 198 Antikonform 196 Artgemeinschaft - Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung e. V. (AG-GGG) 227 Blood & Honour 168, 231-232 Bollwerk Oberpfalz (BWO) 62, 230 Bürgerinitiative A (BIA) e. V. (BIA-Nürnberg) 210 Bürgerinitiative Ausländerstopp München (BIA-München) 210 Burning Hate 189, 196 Combat 18 (C18) 168-169 Compact Magazin GmbH 47-48, 175, 184, 192, 199-200 Der Dritte Weg (III. Weg) 41-42, 49-51, 61, 159, 170, 175-178, 180-186, 189, 191, 202, 211-218, 226-227, 230 DIE RECHTE 159 DIM Records 198 Ein Prozent e. V. 175, 195 Eskalation 196-197 Freie Kräfte Berchtesgadener Land 227 Freies Netz Süd (FNS) 211, 213 FSN-Shop 191, 198 Hammerskins 228-229 Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) 47, 175, 180, 220-221 Institut für Staatspolitik /Verein für Staatspolitik e.V. 200, 205 Junge Alternative für Deutschland (JA) 203 Junge Nationalisten (JN) 208, 210 Kodex Frei 196, 229 Kollektiv Zukunft Schaffen - Heimat Schützen (KZSHS) 42, 60, 181, 184, 230 MPU 196-197 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 42, 46-47, 62, 159, 170, 179, 183-184, 189-191, 205-210, 227, 230, 391 Neue Stärke Partei (NSP) 50-51, 159, 218 413 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Anhang Nordic Pride 198 Oldschool Records 198, 229 Patriotic Store 191, 198 Politically Incorrect (PI-News) (s. auch verfassungsschutzrelevante Islamfeindlichkeit) 199, 269-271 Prolligans 197 Ring Nationaler Frauen (RNF) 210 Schanddiktat 197 Siegesfahne 197 Spreegeschwader 197 Sturmtrupp 197 Treueschwur 197 Urweisse 197 Verein für Staatspolitik e.V./ Institut für Staatspolitik 200, 205 Verlag Antaios 200-201, 205 Voice of Anger 196, 228-229 White Rebel Boys 197 White Youth 231 Wikingerversand 198 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES Einzelpersonen REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER Bundesstaat Sachsen 257 Freistaat Preußen 257 Geeinte deutsche Völker und Stämme (GdVuSt) 256-257 Königreich Deutschland 255 Staatenbund Deutsches Reich 257 Staatenlos.info 256 Seewald Akademie 248-249 Vaterländischer Hilfsdienst (VHD) 253 Verfassunggebende Versammlung 254 Volksstaat Bayern (vormals Bundesstaat Bayern) 257 Volksstaat Württemberg (vormals Bundesstaat Württemberg) 257 414 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE ISLAMFEINDLICHKEIT Bürgerbewegung PAX EUROPA e. V. - Landesverband Bayern (BPE Bayern) 105-106, 269-271 Politically Incorrect (PI-News) (s. auch Rechtsextremismus) 199, 269-271 LINKSEXTREMISMUS Anarchistische Gruppe München (Bibliothek Frevel) 328-329 antifa-info.net (Internetportal) 301-302, 327 Antifa-NT 327-328 Antifaschistische Aktion Süd (Afa Süd ) 301, 326-327 Antifaschistische Linke München 301 Antifaschistischer Aufbau München 299, 326 Antifaschistischer Stammtisch München 326 Antikapitalistische Linke München (AL-M) 325-326 Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD (AB) 290, 311-312, 323 de.indymedia.org 54, 280, 283, 293, 301 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 53, 277, 290, 305-307, 323 DIE LINKE. Sozialistisch-demokratischer Studierendenverband (DIE LINKE.SDS) 304-305 Ende Gelände (linksextremistisch beeinflusst u. a. durch die Interventionistische Linke) 287-288, 300, 324 Frauenverband Courage e. V. 310 Freie Arbeiterinnenund Arbeiter - Union (FAU) 292 Freie Deutsche Jugend (FDJ) 312 Interventionistische Linke (IL) Aschaffenburg/ /Nürnberg 323-324 Jugendverband REBELL 284, 310 Kinderorganisation ROTFÜCHSE 310 Linksjugend ['solid] 304-305 Linksunten.indymedia. 301 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) 277, 290-291, 308-310 Maschinenstürmer Distro (Internetplattform) 293 Nationalismus ist keine Alternative (NIKA) 328 Offenes Antifa Treffen Augsburg (OATA) 296 Offenes antifaschistisches Plenum Rosenheim (OAPR) 323 Offen antikapitalistisches Klimatreffen München (Teil der Antikapitalistischen Linken München/AL-M) 301, 326 415 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Anhang Organisierte Autonomie (OA) Nürnberg 63, 299, 301, 305, 318-319 Perspektive Kommunismus (PK) 282, 326 Prolos 305, 320-321 Revolutionär Organisierte Jugendaktion (ROJA) Nürnberg 320 Rote Hilfe e. V. (RH) 277, 282, 305, 313 Sozialrevolutionäre Aktion (SRA) 322-323 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) 277, 284, 304, 306-308, 323, 326 ...ums Ganze! (Bündnis) 327 Zündlappen (Publikation) 279, 282, 303 Zündlumpen (Publikation) 303, 329 Zukunft erkämpfen 326 SCIENTOLOGY-ORGANISATION Applied Scholastics 345-346, 348 Association for Better Living and Education (ABLE) 344-345, 348 Celebrity Centre München e. V. 335, 341-342 Criminon 340, 344, 348 Department of Special Affairs (DSA) 347 Der Weg zum Glücklichsein (The Way to Happiness Foundation) 333, 337-340, 345, 348 Die Lernakademie (München-Milbertshofen) 346 Ehrenamtliche Geistliche (Volunteer Ministers) 333, 335-336, 340, 345, 348 Gemeinsam für Menschenrechte 345 International Association of Scientologists (IAS) 344 Jugend für Menschenrechte e. V. 345, 348 Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte in Deutschland e. V. (KVPM) 333, 345, 348 Lernstudio Konrad (Laufen) 346 Nachhilfeund Sprachenschule Grübl und Kroggel (Zirndorf) 346 Narconon 344, 348 Sag NEIN zu Drogen - Sag JA zum Leben 333, 340, 345, 348 Scientology Kirche Bayern e. V. (SKB) 333, 342 Scientology Kirche Deutschland e. V. (SKD) 333, 342, 347 World Institute of Scientology Enterprises (WISE) 341, 344, 348 416 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 417 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Anhang BILDNACHWEIS VORWORTE Seite 5 Beide Bilder: Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration Seite 7 Bild: BayLfV ALLGEMEINER TEIL Seite 20 Bild: BayLfV Seite 30 Broschüre: BayLfV Seite 31 oben Broschüre: Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration Seite 31 Mitte Broschüre: Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration Seite 31 unten Broschüre: BayLfV Seite 32 Broschüre: Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration Seite 33 Broschüre: Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration Seite 34 Broschüre: BayLfV Seite 35 oben Beide Bilder: BayLfV Seite 35 Mitte Broschüre: BayLfV Seite 35 unten Broschüre: Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration Seite 36 Beide Bilder: BayLfV 418 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 KRISTENTHEMEN UND EXTREMISMUS Seite 50 Screenshot: https://t.me/s/DerDritteWeg Seite 52 Bild: BayLfV Seite 56 Screenshot: BayLfV Seite 57 oben Screenshot: BayLfV Seite 57 Mitte Screenshot: https://twitter.com/FalkBernhard/ status/1499046137076109313 Seite 58 oben Screenshot: BayLfV Seite 58 unten Screenshot BayLfV Seite 61 https://der-dritte-weg.info/wp-content/uploads/2022/08/ aaa_krise_system_2.webp Seite 64 Screenshots: BayLfV Seite 66 Screenshots: BayLfV Seite 67 Screenshots: BayLfV ISLAMISMUS Seite 81 Bild: picture-alliance/ dpa | Youssef_Badawi Seite 85 Bild: wikipedia.org mit CC BY-SA 3.0 lizensiert Seite 91 Beide Bilder: BayLfV Seite 97 Broschüre: Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration Seite 99 Beide Bilder: BayLfV Seite 105 Bild: BayLfV Seite 106 Mitte Screenshot: BayLfV Seite 106 unten Broschüre: BayLfV Seite 109 Beide Bilder: BayLfV Seite 110 Bild: BayLfV Seite 111 Beide Bilder: BayLfV Seite 119 Bild: BayLfV 419 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Anhang AUSLANDSBEZOGENER EXTREMISMUS Seite 135 Bild: picture alliance/dpa | Paul Zinken Seite 137 Beide Bilder: BayLfV Seite 139 Bild: BayLfV Seite 146 Bild: BayLfV Seite 148 Bild: BayLfV Seite 150 Beide Bilder: BayLfV Seite 154 Bild: BayLfV RECHTSEXTREMISMUS Seite 178 Bilder Instagram, Profil "lederhosen_revolte", gesichert am 18.07.2022 Seite 185 oben Bild: BayLfV Seite 185 unten Bild: Website Materialvertrieb des "III. Weg" unter www.materialvertrieb.de, abgerufen 19.10.2022 Seite 187 Bild: t.me/kzshs, Beitrag vom 28. Mai, zuletzt abgerufen 26.10.2022 Seite 195 Bild: https://odysee.com/@Kvltgames:c/TGRAnnouncement:5 abgerufen am 17.01.2023 Seite 209 Beide Bilder: BayLfV Seite 224 Screenshot: https://aktionsmelder.de/2022/01/25/muenchensicheregrenzen-statt-corona-tyrannei Seite 225 Bild: BayLfV REICHSBÜRGER UND SELBSTVERWALTER Seite 245 Bild: BayLfV Seite 252 Bild: BayLfV Seite 253 Bild: BayLfV Seite 254 Bild: BayLfV Seite 258 Broschüre: BayLfV 420 Anhang Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 VERFASSUNGSSCHUTZRELEVANTE DELEGITIMIERUNG DES STAATES Seite 262 Screenshot: BayLfV LINKSEXTREMISMUS Seite 280 Bild: picture alliance/dpa | Peter Kneffel Seite 282 Bild: https://de.indymedia.org/node/196846 Seite 283 Bild: picture alliance/dpa | Peter Kneffel Seite 293 Bild: BayLfV Seite 299 Bild: picture alliance/dpa | Felix Hörhager Seite 300 Bild: picture alliance Seite 312 Bild: picture alliance/Geisler-Fotopress | Dwi Anoraganingrum/Geisler-Fotop SCIENTOLOGY-ORGANISATION Seite 340 Screenshot: https://open.spotify.com/show/2Cyp2r5uMNEA4fxcCEkYiW Seite 341 Bild: https://www.scientology-fso.org/inside-our-church SPIONAGEABWEHR/CAZ Seite 359 Bild: picture alliance/dpa/TASS | Sergei Karpukhin Seite 360 Bild: picture alliance/REUTERS | STRINGER Seite 361 https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/ veroeffentlichungen /2022/one-pager-desinformation.pdf?__ blob=publicationFile&v=4 Seite 364 Broschüre: BayLfV Seite 365 Bild: picture alliance/AA | Aytac Unal Seite 367 Bild: picture alliance/dpa/ANC-NEWS | Justin Brosch Seite 375 Broschüre: BayLfV Seite 378 Broschüre: Verfassungsschutzverbund ORGANISIERTE KRIMINALITÄT Seite 390 Bild: picture alliance/KEYSTONE | STRINGER 421 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 422 Verfassungsschutzbericht Bayern 2022 Impressum Herausgeber: Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Sport und Integration Odeonsplatz 3, 80539 München www.innenministerium.bayern.de Redaktion: Abteilung Verfassungsschutz, Cybersicherheit in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz Gestaltung: IKW team GmbH, München Stand: April 2023 Druck: StMI (Pressefassung); gedruckt auf umweltzertifiziertem Papier Hinweis Diese Druckschrift wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der Bayerischen Staatsregierung herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlwerbern oder Wahlhelfern im Zeitraum von fünf Monaten vor einer Wahl zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt für Landtags-, Bundestags-, Kommunalund Europawahlen. Missbräuchlich ist während dieser Zeit insbesondere die Verteilung auf Wahlveranstaltungen, an Informationsständen der Parteien sowie das Einlegen, Aufdrucken und Aufkleben parteipolitischer Informationen oder Werbemittel. Untersagt ist gleichfalls die Weitergabe an Dritte zum Zwecke der Wahlwerbung. Auch ohne zeitlichen Bezug zu einer bevorstehenden Wahl darf die Druckschrift nicht in einer Weise verwendet werden, die als Parteinahme der Staatsregierung zugunsten einzelner politischer Gruppen verstanden werden könnte. Den Parteien ist es gestattet, die Druckschrift zur Unterrichtung ihrer eigenen Mitglieder zu verwenden. Wollen Sie mehr über die Arbeit der Bayerischen Staatsregierung erfahren? BAYERN | DIREKT ist Ihr direkter Draht zur Bayerischen Staatsregierung. 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