Verfassungsschutzbericht 2012 Zu=;e Liebe Bürgerinnen und Bürger, auch im Jahr 2012 war Rechtsextremismus und -terrorismus ein zentrales Thema des Verfassungsschutzes. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz unterstützt weiterhin intensiv die Arbeiten zur Aufklärung der NSU-Verbrechen und ihrer Hintergründe. Bislang konnten jedoch keine tatsächlichen konkreten Erkenntnisse gewonnen werden, dass das NSU-Trio zur Vorbereitung seiner Taten Helfer oder Mitwisser aus der rechtsextremistischen Szene in Bayern hatte. Wir halten daran fest, dass die Beobachtung von Rechtsextremismus eine der Schwerpunktaufgaben des Verfassungsschutzes ist und bleibt. Unvermindert können wir rechtsextremistische Hetze und Propaganda feststellen - oft auch verbrämt. Es zeichnet sich der Trend ab, dass Rechtsextremisten Bürgerinitiativen gründen, um auch außerhalb der NPD politisch Einfluss nehmen zu können. Insbesondere mit der Behandlung bürgernaher Themen und lokaler Probleme wollen sie "Volksnähe" zeigen. Ihre Lösungsvorschläge orientieren sich dann jedoch deutlich an der rechtsextremistischen Ideologie. Zudem sind sowohl die NPD als auch Neonazi-Kameradschaften ständig auf der Suche nach Räumlichkeiten für Feiern, Konzerte, Schulungen, Parteiveranstaltungen oder interne Treffen. Im Vorfeld der Landtagsund Bundestagswahlen 2013 sowie der Kommunalwahlen 2014 ist damit zu rechnen, dass Rechtsextremisten verstärkt versuchen, "Wahlkampfzentralen" zu schaffen und diese entsprechend öffentlichkeitswirksam zu nutzen. Unsere Wachsamkeit gilt auch unverändert den Gefahren, die von islamistischen Bestrebungen ausgehen. Besonders im Fokus stehen dabei Salafisten. Zwar ist bei uns nur ein kleiner Prozentsatz der Salafisten dem jihadistischen Salafismus zuzurechnen, die überwiegende Zahl der Anhänger spricht sich gegen Gewalt aus und gehört der Strömung des so genannten politischen Salafismus an. Gleichwohl bietet gerade auch dieser die Grundlage zur Radikalisierung und damit für gewaltsame bis hin zu terroristischen Aktionen. Im Fokus der Sicherheitsbehörden stehen daher verstärkt Ausreisebewegungen gewaltorientierter Salafisten; auch in Bayern sind 2012 erstmals Reiseabsichten bzw. tatsächliche Reisebewegungen bekannt geworden. 4 In der linksextremistischen Szene waren erneut ein hohes Aggressionspotenzial und eine hohe Gewaltbereitschaft festzustellen. Für das Jahr 2012 ist mit 99 linksextremistisch motivierten Gewalttaten fast eine Verdoppelung gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen. Der Anstieg ist vor allem auf mehrere Großveranstaltungen der linksextremistischen Szene zurückzuführen, die sich gegen Rechtsextremisten oder gegen den Staat als angebliches "Repressionsorgan" richteten. Zudem entstand bei einer Serie von Sachbeschädigungen im Mai und Juni in München ein Gesamtschaden von rund 100.000 Euro. Die Beobachtung der Partei DIE LINKE. und ihre Erwähnung in diesem Verfassungsschutzbericht ist nicht nur gerechtfertigt, sondern geboten. Insbesondere lässt das Parteiprogramm, das DIE LINKE. auf ihrem Parteitag im Jahr 2012 nochmals bekräftigt hat, mit seiner Forderung nach einem Systemwechsel die verfassungsfeindliche Ausrichtung der Gesamtpartei klar erkennen. Zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität liegt der Arbeitsschwerpunkt des Verfassungsschutzes bei der Beobachtung der Rockerszene. Strukturveränderungen innerhalb der Rockerszene könnten künftig dazu führen, dass das Konfliktpotenzial wächst und es auch in Bayern vermehrt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen wegen konkurrierender Gebietsansprüche kommt. Im Fokus stehen auch mögliche Verbindungen zwischen Rockern und Rechtsextremisten. Eine strukturierte Zusammenarbeit bzw. ideologische Annäherung konnte in Bayern jedoch bislang nicht festgestellt werden. Die Aufdeckung der NSU-Mordserie hat bundesweit zu einer grundsätzlichen Neubewertung der Bedrohungslage im Bereich Rechtsextremismus und zu einer Neuausrichtung des Verfassungsschutzes geführt. Die Innenminister von Bund und Ländern haben ein Maßnahmenbündel beschlossen, um die Arbeit des Verfassungsschutzes zu optimieren. Bereits im Jahr 2011 wurde das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus (GAR) eingerichtet; in diesem arbeiten insgesamt 39 Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder zusammen, darunter alle Landeskriminalämter und Landesämter für Verfassungsschutz. Es wurde zwischenzeitlich zu einem Gemeinsamen Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) weiterentwickelt. 5 Weitere Maßnahmen zur Optimierung des Verfassungsschutzes sind u.a. eine verstärkte Zusammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden der Länder mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz und ein verbesserter Informationsaustausch mit anderen Sicherheitsbehörden, insbesondere der Polizei. Im Staatsministerium des Innern wurde zum 1. August 2012 eine eigene Abteilung Verfassungsschutz etabliert, um die hohe Bedeutung des Verfassungsschutzes in unserer Sicherheitsarchitektur zu betonen. Durch eine noch stärker fallbezogene Bearbeitung beim Landesamt für Verfassungsschutz werden einzelne Neonazis mit besonderem Gewaltpotenzial noch intensiver überprüft und beobachtet als bisher. Hierzu wurde beim Landesamt für Verfassungsschutz im März 2012 eine eigene Organisationseinheit eingerichtet. Auch die präventive Arbeit der Bayerischen Informationsstelle gegen Extremismus (BIGE) wurde personell verstärkt. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz - aber auch der bayerischen Polizei - gilt unser besonderer Dank. Neben ihrem Engagement in der täglichen Sachbearbeitung beteiligen sie sich auch intensiv an der Aufarbeitung der NSU-Verbrechen. Ihr Ziel ist es auch, die richtigen Schlüsse aus den Diskussionen über die Arbeit der Sicherheitsbehörden zu ziehen und den Verfassungsschutz in der Mitte der Gesellschaft weiter zukunftsfähig zu machen. München, im April 2013 Joachim J chi Herrmann H Gerhard Eck Staatsminister Staatssekretär 6 Liebe Bürgerinnen und Bürger, das Grundgesetz bekennt sich aufgrund der leidvollen Erfahrungen am Ende der Weimarer Republik zu einer wehrhaften Demokratie. Das bedeutet, dass der Staat nicht erst dann reagiert, wenn Extremisten bereits gegen gesetzliche Bestimmungen verstoßen haben. Mit dem Verfassungsschutz als Frühwarnsystem kann der Staat viel eher reagieren. Unsere Aufgabe ist es, Personen oder Gruppen, die die Kernwerte unserer Verfassung ablehnen und bekämpfen, zu beobachten, die erlangten Erkenntnisse zu analysieren und hierüber Politik und Öffentlichkeit zu informieren. Wir haben dabei keine eigenen Befugnisse zur Strafverfolgung oder zu Exekutivmaßnahmen. Unsere Informationen leiten wir an die zuständigen Sicherheitsbehörden - z.B. Polizei-, Versammlungsund Ausländerbehörden - weiter, damit diese die erforderlichen Maßnahmen ergreifen können. Die Aufdeckung der menschenverachtenden Mordserie des NSU hat zu der Diskussion geführt, warum der Verfassungsschutz seiner Frühwarnfunktion nicht gerecht geworden ist. Anders als bei dem von der Gruppe um Martin Wiese geplanten Anschlag auf die Grundsteinlegung der Münchner Synagoge oder der Wehrsportgruppe Hoffmann haben wir in diesem Fall das Entstehen rechtsterroristischer Strukturen nicht erkannt und konnten nicht dazu beitragen, die Mordserie zu verhindern oder frühzeitig aufzudecken. Eine kritische Diskussion über die Ursachen und den hieraus erwachsenden Reformbedarf ist notwendig. Dies entspricht dem Selbstverständnis unserer Behörde. Auch die Öffentlichkeit erwartet zu Recht, dass wir uns dieser Diskussion vorbehaltlos stellen, an der Aufklärung möglicher Defizite mitwirken und die notwendigen Reformen im Bereich der Inlandsnachrichtendienste konstruktiv begleiten. Nur so wird es uns möglich sein, das erschütterte Vertrauen in unsere Leistungsfähigkeit zurückzugewinnen. Im Zentrum unserer Reformüberlegungen stehen drei Ziele: Transparenz unserer Arbeit, Optimierung der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden und Stärkung präventiver Ansätze. 7 Transparenz bedeutet für uns an erster Stelle, an der Aufklärung der NSU-Mordserie mitzuwirken und die Arbeit der Untersuchungsausschüsse sowie der von Bund und Ländern eingerichteten Kommissionen nach Kräften zu unterstützen. Wir stehen zudem einer Kontrolle unserer Tätigkeit durch das Parlament, insbesondere durch das Parlamentarische Kontrollgremium, immer offen gegenüber. Schon weil unsere Akzeptanz in der Öffentlichkeit für unsere Frühwarnfunktion unverzichtbar ist, bedarf es einer verstärkten Öffentlichkeitsarbeit, die die Arbeitsweise des Verfassungsschutzes transparent und nachvollziehbar darstellt. Wir setzen unseren Grundsatz "so viel Offenheit wie möglich und nur so viel Geheimhaltung wie nötig" konsequent um. Damit wollen wir jedem Eindruck, dass Geheimhaltungsvorschriften Selbstzweck sind, einer wirksamen parlamentarischen Kontrolle entgegengewirkt oder gar Fehler vertuscht werden sollen, begegnen. Großen Raum in unseren Reformbemühungen nimmt die Optimierung der Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden ein. Die Zusammenarbeit der Verfassungsschutzbehörden untereinander wie auch mit Polizei und Justiz wurde in den letzten Jahren - gerade vor dem Hintergrund terroristischer Bedrohungsszenarien aus dem islamistischen Bereich - weiterentwickelt. So konnten islamistisch motivierte Anschläge erfolgreich verhindert werden. Den eingeschlagenen Weg, unsere Erkenntnisse für die Arbeit der Sicherheitsbehörden noch stärker nutzbar zu machen, verfolgen wir konsequent weiter. Gemeinsame Terrorismusund Extremismusabwehrzentren aller Sicherheitsbehörden, das Teilen von wesentlichen Informationen in gemeinsamen Dateien zwischen Polizei und Verfassungsschutz sowie die Übermittlung von Informationen über drohende Gefährdungslagen an die Polizei unter Zurückstellung des Geheimhaltungsbedürfnisses sind hierfür wesentliche Bausteine. Bayern ist an einer Vielzahl von Projekten beteiligt, die den Informationsfluss zwischen Bund und Ländern bzw. zwischen Verfassungsschutzund Polizeibehörden weiter verbessern sollen. Die kritische Auseinandersetzung mit politischem Extremismus und die Aufklärung über seine Erscheinungsformen verhindert bereits das Entstehen eines entsprechenden Nährbodens. Hier setzt unsere Präventionsarbeit an, die wir künftig noch stärken 8 wollen. Die im Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz angesiedelte Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus (BIGE) bietet ein umfangreiches Aufklärungsund Präventionsangebot. Neben umfassenden Informationen auf ihren Internetportalen besteht ein Beratungsangebot für Kommunen, Schüler, Lehrer, Eltern und Mitarbeiter von Einrichtungen der Jugendund Bildungsarbeit sowie ein Aussteigerprogramm. Dabei will sich die BIGE nicht an die Stelle anderer gesellschaftlicher Gruppen, Initiativen oder Einrichtungen setzen, die Prävention anbieten, sondern vielmehr staatliche Aktivitäten und zivilgesellschaftliche Initiativen vernetzen. Nicht die Arbeit der Sicherheitsbehörden allein, sondern nur ein gesamtgesellschaftliches Engagement wird letzten Endes Extremismus den Boden entziehen können. Ich bin überzeugt, dass ein moderner und leistungsfähiger Verfassungsschutz, der sich der gesellschaftlichen und politischen Diskussion stellt, auch in Zukunft einen unverzichtbaren Eckpfeiler der deutschen Sicherheitsarchitektur darstellen wird. München, im April 2013 Dr. Burkhard Körner Präsident des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 9 Inhalt Islamismus 14 1. Personenpotenzial in Bayern 16 2. Islamismus in Deutschland 16 3. Internet, Musik und Islamseminare 21 3.1 Islamisten im Internet 21 3.2 Musik: Radikalisierung und Propaganda 22 3.3 Bundesweite Islamseminare 23 4. Strukturen 24 4.1 Legalistischer Islamismus 24 4.1.1 Milli-Görüs-Bewegung 24 4.1.2 Hilafet Devleti (Der Kalifatsstaat) 27 4.1.3 Tablighi Jamaat (TJ) 28 4.1.4 Islamische Vereinigung in Bayern e.V. (IVB) 30 4.1.5 Die Muslimbruderschaft (MB) und ihr Einfluss in Deutschland 32 4.1.5.1 Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) 35 4.1.5.2 Muslimische Jugend in Deutschland e.V. (MJD) 36 4.1.6 Türkische Hizbullah (TH) 38 4.2 Salafismus 39 4.2.1 Politischer Salafismus 41 4.2.2 Jihadistischer Salafismus 44 4.2.2.1 Das al-Qaida-Netzwerk 44 4.2.2.2 Islamistisch-kurdische Netzwerke 47 4.3 Sonstiger islamistischer Terrorismus 49 4.3.1 HAMAS (Islamische Widerstandsbewegung) 49 4.3.2 Hizb Allah (Partei Gottes) 50 10 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Inhalt Ausländerextremismus 52 1. Personenpotenzial in Bayern 54 2. Gewaltpotenzial 54 3. Strukturen 55 3.1 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) bzw. Volkskongress Kurdistans (KONGRA GEL), ehemals Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans (KADEK) 55 3.2 DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front)/Devrimci Sol (Revolutionäre Linke) 58 3.3 Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten - Partizan Flügel (TKP/ML - Partizan Flügel) 59 3.4 Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) 60 3.5 Türkisch-Nationalistische Ülkücü-Bewegung/ADÜTDF 61 3.6 Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) 62 Rechtsextremismus 64 1. Personenpotenzial in Bayern 66 2. Gewaltpotenzial 66 2.1 Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) 68 2.2 Rechtsextremistisch motivierte Strafund Gewalttaten 72 3. Rechtsextremistische Themenfelder 74 4. Rechtsextremistische Aktionsformen 75 4.1 Autonome Nationalisten 75 4.2 Die Unsterblichen 76 4.3 Rechtsextremistische Bürgerinitiativen 76 5. Internet und Musik 77 5.1 Rechtsextremisten im Internet 77 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Inhalt 11 5.2 Rechtsextremistische Musik 78 5.3 Rechtsextremistische Internet-Radios 80 6. Immobiliensuche und -erwerb 81 7. Rechtsextremistische Parteien, Vereinigungen und Verlage 82 7.1 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) 82 7.2 Partei Die Rechte 88 7.3 Bürgerinitiativen 89 7.4 Rechtsextremistische Verlage 91 7.5 Sonstige rechtsextremistische Organisationen 92 8. Neonazismus und Kameradschaften 94 8.1 Freies Netz Süd (FNS) 96 8.2 Sonstige neonazistische Gruppierungen 106 9. Rechtsextremistische Jugend-Szenen und Subkulturen 111 Linksextremismus 114 1. Personenpotenzial in Bayern 116 2. Gewaltpotenzial in Bayern 116 3. Ideologische Wurzeln des Linksextremismus 119 4. Linksextremistische Themenfelder 123 5. Internet und Musik 126 5.1 Linksextremisten im Internet 126 5.2 Linksextremistische Musik 127 6. Linksextremistische Parteien und Vereinigungen 128 6.1 Partei DIE LINKE. 128 6.2 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und Umfeld 134 6.2.1 DKP 134 12 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Inhalt 6.2.2 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) 136 6.2.3 Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) 137 6.3 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) 139 6.4 Münchner Bündnis gegen Krieg und Rassismus 140 6.5 Sonstige linksextremistische Organisationen 141 7. Autonome, Anarchisten und Antideutsche 145 7.1 Autonome 145 7.2 Anarchisten 149 7.3 Antideutsche 150 Scientology-Organisation (SO) 152 1. Personenpotenzial 155 2. Aktionen und Aktivitäten 155 2.1 Rundschreiben der "Scientology Kirche Deutschland e.V." an bayerische Schulen 155 2.2 Verstöße der SO gegen die Kennzeichnungspflicht von DVDs nach dem Jugendschutzgesetz 156 2.3 Mögliche Gesundheitsschäden durch Reinigungs-Rundown 156 3. Organisationsstruktur 157 Spionageabwehr und Wirtschaftsschutz 162 1. Spionageaktivitäten ausländischer Nachrichtendienste 164 1.1 Russische Föderation 165 1.2 Volksrepublik China 166 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Inhalt 13 2. Proliferation 168 3. Elektronische Angriffe, Cyber-Angriffe 169 4. Wirtschaftsschutz 170 Organisierte Kriminalität (OK) 172 1. Rockerkriminalität 174 2. OK aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten 176 3. OK-Gruppierungen aus dem Balkan und der Türkei 177 4. Italienische Mafia 178 Informationen zum Verfassungsschutz in Bayern 180 1. Der Verfassungsschutz als Frühwarnsystem 181 2. Im Auftrag des Gesetzes 181 3. Informationsbeschaffung 183 4. Kontrolle des Verfassungsschutzes 185 5. Zusammenarbeit von Polizei und Verfassungsschutz 185 Anhang 187 Grafiken: Personenpotenzial und Gewalttaten 187 14 Islamismus > Die Bedrohung Deutschlands durch den islamistischen Terrorismus bleibt unverändert hoch. > Salafisten aus Bayern beteiligten sich an gewalttätigen Ausschreitungen in Solingen und Bonn. > Vereinsgesetzliche Exekutivmaßnahmen gegen Salafisten richteten sich auch gegen einen Verein und eine weitere Person aus Bayern. > Islamisten in Deutschland sehen sich durch die Rolle der Muslimbruderschaft im "Arabischen Frühling" gestärkt. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 15 Der Islam als Religion und seine Ausübung werden nicht vom Verfassungsschutz beobachtet. Dem gesetzlichen Beobachtungsauftrag unterliegen jedoch islamisch-extremistische (Kurzform: islamistische), d.h. religiös politisch motivierte Organisationen und Einzelpersonen mit verfassungsfeindlichen Bestrebungen. Islamismus ist ein Überbegriff für eine Vielzahl von unterschiedlichen (Teil-)Strömungen, wie beispielsweise Salafismus. Als eine Gemeinsamkeit dieser Strömungen lassen sich folgende Kernelemente des Islamismus herausstellen: - "Der Islam" ist nicht allein Glaube und Ethik, sondern begründet eine alles umfassende Lebensform, die auf Koran und Sunna (Überlieferung der Reden und Taten des Propheten) basiert. - Die Muslime bilden eine religiöse und politische Einheit (Pan-islamische Zielsetzung). - Die Scharia (islamisches Gesetz) stellt ein politisches und gesellschaftliches Ordnungsprinzip dar. - Koran und Sunna haben "Verfassungsrang" und verbindliche Vorbildfunktion für politisches Handeln und einen zukünftigen "islamischen Staat". Diese extremistischen Zielsetzungen widersprechen den in unserem Grundgesetz garantierten Freiheitsund Menschenrechten. Die Bestrebungen von Islamisten sind verfassungsund integrationsfeindlich. Gewaltbereite islamistische Terroristen sind unverändert eine große Gefahr für die Innere Sicherheit Deutschlands. Sie verfolgen ihr Ziel, weltweit eine totalitäre islamistische Gesellschaftsordnung zu errichten. Sie berufen sich auf die vermeintliche Pflicht aller Muslime, sich gegen westliche, d.h. "ungläubige" Einflüsse zu "verteidigen", und rufen zur Teilnahme am gewalttätigen Jihad auf. 16 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 1. Personenpotenzial in Bayern Islamistischen Vereinigungen waren in Bayern im Jahr 2012 6.350 Personen zuzurechnen. Zu den mitgliederstärksten Gruppierungen bzw. Strömungen zählen nach wie vor neben der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG) mit 4.700 Anhängern, die Anhänger des Salafismus (500) sowie der Ideologie der Muslimbruderschaft anhängende Personen (230). Die Zahl der Personen in Bayern, die in internationale jihadistische Netzwerke eingebunden sind, liegt im einstelligen Bereich. Den Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder liegen im Berichtsjahr Informationen zu insgesamt ca. 235 Personen mit Deutschland-Bezug (deutsche Staatsangehörige mit Migrationshintergrund bzw. Konvertiten sowie Personen anderer Staatsangehörigkeit, die sich in Deutschland aufgehalten haben) und islamistisch-terroristischem Hintergrund vor, die seit Beginn der 1990er Jahre eine paramilitärische Ausbildung erhalten haben sollen bzw. eine solche beabsichtigten. Zu ca. 100 Personen existieren konkrete Hinweise, die für eine absolvierte paramilitärische Ausbildung bzw. die Beteiligung an Kampfhandlungen in Krisenregionen sprechen. Es ist davon auszugehen, dass sich mehr als die Hälfte dieser Personen wieder in Deutschland aufhält. Hiervon sind etwa zehn Personen inhaftiert. Öffentlich bekannt ist, dass sich Personen mit DeutschlandBezügen auch weiterhin in Regionen wie dem afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet aufhalten, in denen sich Ausbildungslager islamistisch-terroristischer Organisationen befinden. 2. Islamismus in Deutschland Bei islamistischen Bestrebungen in Deutschland gilt es grundsätzlich, zwischen den verschiedenen Strömungen und deren Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 17 Einstellung zur Gewalt zu unterscheiden. Während islamistische Terroristen eindeutig den Einsatz von Gewalt legitimieren, vertreten politische Salafisten sowie legalistische Organisationen eine weitgehend gewaltfreie Herangehensweise zur Erreichung ihrer Ziele. Vom internationalen islamistischen Terrorismus geht weiterhin Islamistischer eine große Bedrohung für die internationale Staatengemeinschaft Terrorismus aus, er stellt auch für die Innere Sicherheit Deutschlands - trotz zahlreicher Fahndungserfolge - eine der größten Gefahren dar. Wie im Islamismus auch, gibt es innerhalb des islamistischen Terrorismus unterschiedlichste Strömungen verschiedener ideologischer Ausprägungen. Die Aktivitäten islamistischer Terrorstrukturen in Deutschland reichen von der Nutzung Deutschlands als Rückzugsund Ruheraum über die Rekrutierung, Radikalisierung und Indoktrinierung neuer Anhänger bis hin zur Planung und Durchführung terroristischer Anschläge. Ebenso verschiedenartig gestalten sich daher auch Strukturen in Deutschland. Netzwerke gewaltbereiter Islamisten mit einer engen Beziehung zu terroristischen Organisationen im Ausland existieren in Deutschland ebenso wie autark operierende Kleinstgruppen bis hin zu Einzeltätern, so genannten "Einsamen Wölfen". Ein Beispiel für so einen "Einsamen Wolf" "Einsame Wölfe" ist der Anfang des Jahres vom Oberlandesgericht Frankfurt wegen Mordes in zwei Fällen und versuchten Mordes in drei Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte Arid U. Er hatte im März 2011 am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten erschossen und weitere schwer verletzt. Dies war der erste "erfolgreich" durchgeführte islamistisch motivierte Terroranschlag in Deutschland. Personen, die ein terroristisches Ausbildungslager absolviert Terroristische bzw. aktiv an paramilitärischen Kampfhandlungen teilgenomAusbildungslager men haben, stellen nach einer Wiedereinreise nach Deutschland ein besonderes Sicherheitsrisiko dar. Rückkehrer aus den JihadGebieten haben in der islamistischen Szene ein hohes Ansehen und können einer weiteren Radikalisierung bislang nicht gewaltorientierter Islamisten Vorschub leisten. Sie üben insbesondere auf junge Menschen eine große Anziehungskraft aus. 18 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen Jihadistischer Für Deutschland stellen innerhalb des islamistischen Terrorismus Salafismus Anhänger der jihad-salafistischen Ideologie die größte Gefahr dar. Jihad-Salafisten befürworten eine unmittelbare und sofortige Gewaltanwendung. Sie propagieren den bewaffneten Kampf auch gegen Machthaber in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit und werfen diesen vor, vom Islam abgefallen und Handlanger des verhassten "Westens" zu sein. "home grown"Innerhalb des jihadistischen Personenspektrums besonders geTerrorismus fährlich sind auch "home grown"-Terroristen. Sie sind in Europa geboren und/oder hier aufgewachsen, lehnen aber aufgrund religiöser, kultureller und sozialpsychologischer Einflüsse das hiesige Wertesystem ab. Unter ihnen befinden sich auch zahlreiche Konvertiten. Sie haben Kenntnisse über die Gegebenheiten in Deutschland und unterliegen aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit teilweise weniger Reisebeschränkungen. Festnahmen, Im Jahr 2012 konnten in Deutschland mehrere Straftäter mit Verurteilungen, jihad-salafistischem Hintergrund festgenommen, verurteilt und Ausweisungen im Einzelfall ausgewiesen werden. - Im Juni wurde der aus Wuppertal stammende Islamist Emrah E. am Flughafen Frankfurt am Main festgenommen. Nach einem längeren Aufenthalt im Ausland konnte er in Tan- Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 19 sania verhaftet und aufgrund eines deutschen Haftbefehls nach Deutschland abgeschoben werden. Ihm wird u.a. Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung vorgeworfen. - Schweizer Behörden haben im Dezember den in Hessen leben den Islamisten Keramat G. festgenommen und anschließend an Deutschland ausgeliefert. Grundlage war ein internationaler Haftbefehl wegen fahrlässiger Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion. Keramat G. hatte sich am 13. Februar 2011 in einer Frankfurter Wohnung beim Versuch verletzt, Sprengstoff mit einem Mixer herzustellen. Anschließend setzte er sich ins Ausland ab. - Die Bundesanwaltschaft hat im Juli Anklage gegen den 26-jährigen Berliner Thomas U. wegen Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung in Tateinheit mit der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat erhoben. Thomas U. soll im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet eine Ausbildung im Umgang mit Schusswaffen und Sprengstoff erhalten haben sowie Ende Dezember 2009 mit weiteren Jihadisten eine von amerikanischen und afghanischen Streitkräften genutzte Militärbasis angegriffen haben. - Im November wurde ein in Baden-Württemberg lebender Islamist in die Türkei abgeschoben. Er hatte wiederholt Videos über seinen YouTube-Account verbreitet, die den Terrorismus und den gewaltsamen Jihad unterstützten. Derzeit ist nur ein kleiner Prozentsatz der Salafisten dem jihadisPolitischer tischen Salafismus zuzurechnen, die überwiegende Zahl der AnSalafismus hänger spricht sich gegen Gewalt aus und gehört der Strömung des so genannten politischen Salafismus an. Gleichwohl bietet auch dieser die Grundlage für radikalisierende Einflüsse und für die Hinwendung zu gewaltsamen bis hin zu terroristischen Aktionen. So kam es Anfang Mai in Solingen und Bonn anlässlich von Gewalttätige Demonstrationen gegen die öffentliche Präsentation von Demonstrationen Muhammad-Karikaturen zu gewalttätigen Ausschreitungen. Daran waren auch Salafisten aus München, Ingolstadt und Nürn- 20 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen berg beteiligt. In Bonn eskalierte die Lage, als ein militanter Salafist zwei Polizeibeamte durch gezielte Messerstiche schwer verletzte. Der Täter wurde im Oktober vom Bonner Landgericht zu sechs Jahren Haft verurteilt. Diese Straßengewalt salafistischer Demonstranten ist ein neues Phänomen in Deutschland. Bislang dominierten im politischen Salafismus gewaltfreie Aktionsformen, die auf eine mittelbis langfristige Wirkung ausgerichtet sind und vorrangig auf Propaganda setzen. Es besteht die Gefahr, dass die Ereignisse von Bonn und Solingen zur Verfestigung einer gewaltorientierten Strategie von Salafisten und deren Netzwerken führen. Die Vielzahl von im Internet kursierenden Videos als Reaktion auf die Ausschreitungen weist auf die hohe propagandistische Wirkung der Proteste hin. Derartige Aktionen können gewaltbereiten Einzelpersonen auch noch Monate später als Rechtfertigungsgrund für den terroristischen Jihad dienen. Anhänger des Salafismus haben im Jahr 2012 mit ihrem bundesweiten Koranverteilprojekt "Lies! Im Namen Deines Herrn, der Dich erschaffen hat" breites Aufsehen in der Öffentlichkeit erregt. Im Herbst 2011 begannen Salafisten unter diesem Motto Koranexemplare an Infotischen in deutschen Fußgängerzonen Koranverteilprojekt zu verteilen. Verantwortlich dafür ist das salafistische Netzwerk "Lies!" "Die Wahre Religion" (DWR) des Predigers Ibrahim Abou Nagie. Finanziert wird das Koranverteilungsprojekt überwiegend aus Spenden aus der salafistischen Szene. Grundsätzlich ist die Verteilung des Korans durch Artikel 4 des Grundgesetzes (Glaubensund Gewissensfreiheit) geschützt. Salafisten nutzen die Verteilung kostenloser Korane jedoch als Türöffner, um Kontakte zur Rekrutierung neuer Anhänger zu knüpfen. Legalistischer Auch Strömungen des legalistischen Islamismus wollen die ReliIslamismus gion so auslegen und von allen verstanden wissen, dass ein konfliktfreies Zusammenleben mit Andersdenkenden unmöglich erscheint. Sie bestehen auf einer strengen Lesart des Korans, der unabhängig von Zeit und Ort für alle Menschen gültig ist und dessen Inhalte und Weisungen, die im islamischen Recht ihren Niederschlag gefunden haben, nicht relativiert werden können. Unter Nutzung der von der deutschen Rechtsordnung garantierten Freiräume verfolgen sie eine Strategie der Einflussnahme auf Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 21 Politik und Gesellschaft. Sie stehen allerdings in offenem Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung, deren Werte Islamisten in zentralen Punkten nicht teilen und die sie teils verbal, selten auch militant, bekämpfen. Islamisten verwahren sich strikt gegen die Abdrängung des Religiösen ins Private. Nach dem Bekenntnis "Der Islam ist Glaube und Staat" müssen die Normen der Scharia in allen Lebensbereichen und auf allen Ebenen durchgesetzt werden. Der Islamismus bedient und wiederbelebt ein in den Ursprüngen des Islams begründetes Überlegenheitsgefühl der Muslime als Inhaber und Wahrer der letzten und erhabensten Religion. Dieses Gefühl wird gerade in Zeiten der Bedrängnis besonders beschworen. Beispielsweise führten die revolutionären Ereignisse des "ArabiAuswirkungen des schen Frühlings" in den betroffenen Staaten zu einer Stärkung "Arabischen der islamistischen Organisationen und Parteien. Die islamistiFrühlings" schen Organisationen im Bundesgebiet sehen sich hierdurch in ihren Aktivitäten und Grundhaltungen bestätigt und treten zusehends selbstbewusster auf. Die von ihnen in Teilbereichen vertretenen Bindungen staatlicher Funktionen an religiöse Vorgaben sind eine ständige latente Bedrohung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. 3. Internet, Musik und Islamseminare 3.1 Islamisten im Internet Islamisten nutzen das Internet als Propaganda-, KommunikaVirtuelle Netzwerke tionsund Steuerungsmedium. Zahlreiche Seiten sorgen für eine weltweite Verbreitung der islamistischen Ideologie. Auch die Zahl deutschsprachiger Webseiten ist in den vergangenen Jahren stark angewachsen. Immer mehr salafistische Vereine, Netzwerke und Einzelpersonen richten beispielsweise so genannte Da'wa-Seiten (deutsch: Missionierungsseiten) ein, die sie wiederum stark untereinander vernetzen. Diese Internetauftritte 22 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen sind oftmals mehrsprachig, multimedial und grafisch aufwändig gestaltet. Die im Internet verbreitete Propaganda und "virtuelle" Netzwerke tragen dazu bei, dass sich Aktivisten und Sympathisanten des globalen Jihad als Teil einer einzigen Bewegung begreifen, selbst wenn sich ihre Ziele und Handlungsmotive zuweilen stark unterscheiden. Mit Hilfe des Internets hat sich so al-Qaida immer mehr von einer in jihadistischen Krisengebieten operierenden Organisation zu einer weltweiten Bewegung entwickelt. Die Grenze zwischen al-Qaida-Sympathisanten, die mit Propaganda und ideologischer Schulung im Netz auftreten, und den Aktivisten des Terrors verschwimmt zunehmend. "Open Source In jedem Land der Welt können sich Sympathisanten mit LehrJihad" material aus dem Internet ausbilden, um am weltweiten Kampf teilzunehmen (so genannter Open Source Jihad). "Home grown"- 1 Terroristen können sich somit in ihren Heimatländern jihadistisch Al Qaeda in the Arabian Peninsula | Issue 9 WINTER 1433 | 2012 | ISSUE 9 betätigen, ohne unmittelbar in eine terroristische Gruppierung eingebunden zu sein. Seit dem Frühjahr erscheint in einem arabisch-sprachigen Forum ein neues Online-Magazin mit dem Titel "Al-Qaida-Airline". Wie auch bei den Inspire-Magazinen werden hier Anleitungen zum Bau von Sprengvorrichtungen verbreitet. WINING ON THE GROUND Damit ermöglicht das Internet das Überleben und die WeiterentDoes the assassination of senior jihadi figures have any significance in validating Obama's claims? After a decade of ferocious war, who is more entitled to security? wicklung islamistisch-terroristischer Gruppierungen unabhängig The AQ Chef : It is of your freedom to ignite a firebomb | Spilling out the beans: Al Awlaki revealing his side of the story von regionalen Strukturen. Jugendliche und Hauptzielgruppe islamistischer Internetseiten sind muslimiKonvertiten sche Jugendliche mit Migrationshintergrund oder Konvertiten. Viele von ihnen verbringen einen Großteil ihres Alltags in sozialen Netzwerken oder Online-Diskussionsforen. Islamistische Internetseiten haben gerade bei emotional und sozial noch nicht gefestigten Jugendlichen ein nicht zu unterschätzendes Radikalisierungspotenzial. 3.2 Musik: Radikalisierung und Propaganda Islamistische Organisationen und Netzwerke haben die Sogund Identifikationswirkung von Musik - insbesondere Rap-Musik und Naschids (meist kurze und melodisch einprägsame religiöse Lie- Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 23 der in der Regel ohne jede Instrumentalbegleitung) - auf muslimische Jugendliche entdeckt. Inhalt und Form islamistischer Rap-Musik sind ebenso wie die Islamistische Darstellung gewollt politisch und gesellschaftlich provokant geRap-Musik halten. Themen sind beispielsweise die "ungerechtfertigt negative" Darstellung des Islam in den deutschen Medien, die "Kopftuchdebatte" oder der "Krieg gegen den Terror". Die Texte rufen zu einem Bekenntnis für eine "islamische Identität" auf. Die "Gesellschaftskritik", die wesentlicher Bestandteil der Rap-Musik ist, wird dabei religiös-politisch untermauert. Zum Teil bieten islamistische Jugendorganisationen gezielt deutschsprachigen Bands eine Plattform für Auftritte, um die eigene Attraktivität zu steigern und Jugendliche an ihre Organisation zu binden. Salafisten lehnen grundsätzlich jegliche Musik mit der Begründung ab, diese sei Ausdruck der Verdorbenheit der von ihnen als gottlos und materialistisch betrachteten Welt. Andererseits haben auch sie eine eigene Musikkultur für sich entdeckt bzw. für ihre Zwecke umgedeutet, um die emotionalisierende Wirkung von Musik zu nutzen: den Naschid. Auf Grund ihres religiösen Inhalts werden Naschids von den meisten strenggläubigen MusNaschid limen als erlaubt (arabisch: halal) angesehen. Zu einem der bekanntesten Naschid-Interpreten in Deutschland hat sich in den letzten Jahren Denis Cuspert entwickelt. Cuspert Denis Cuspert ist für Salafisten eine Art Türöffner, den diese ganz bewusst zur Rekrutierung Jugendlicher einsetzen, um ihre Ideologie publikumswirksam zu vermitteln. In seinen Naschids hetzt er gegen Nichtmuslime als vermeintlich "Ungläubige" (arabisch: Kuffar), wirbt für die Einführung der Scharia, propagiert den militanten Jihad als untrennbaren Bestandteil des Islam, verherrlicht den Märtyrertod und ruft zur Teilnahme am bewaffneten Kampf in Afghanistan und Usbekistan auf. Damit trägt er zur Radikalisierung muslimischer Jugendlicher bei. 3.3 Bundesweite Islamseminare Für salafistische Propaganda sind neben Internet und Musik insbesondere auch "Islamseminare" wichtig. Die meist mehrtätiKontaktpflege gen Veranstaltungen sollen neben salafistischen Inhalten auch und Indoktrination 24 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen ein gewisses Gemeinschaftsgefühl vermitteln. Es treten meist mehrere bundesweit bekannte salafistische Prediger auf, die sich an ein Publikum aus überwiegend Gleichgesinnten richten. Unter den Teilnehmern, die häufig aus dem gesamten Bundesgebiet anreisen, befinden sich teilweise auch Salafisten aus Bayern, die derartige Veranstaltungen zur Kontaktpflege nutzen und sich von den dort vorgetragenen salafistischen Inhalten ein tieferes religiöses Verständnis versprechen. Insbesondere auf junge Muslime, darunter auch Konvertiten, üben Islamseminare eine hohe Anziehungskraft aus. Für eine ganze Reihe von Personen aus dem islamistisch-terroristischen Bereich sind sie sogar ein Baustein in ihrer Radikalisierungsbiographie. 4. Strukturen 4.1 Legalistischer Islamismus 4.1.1 Milli-Görüs-Bewegung Mitglieder Deutschland: 31.000 Bayern: 4.700 Gründer Prof. Dr. Necmettin Erbakan Vorsitzender des Kemal Ergün europäischen Zweigs (IGMG) Entstanden ca. 1970 in der Türkei Mitglieder Deutschland: 31.000 Bayern: 4.700 Sitz der IGMG Köln Sprachrohr der Milli Gazete (Nationale Zeitung) Milli-Görüs-Bewegung Publikation der IGMG Perspektif Cami'a Die islamistische Milli-Görüs-Bewegung ist ein Sammelbecken von Anhängern des am 27. Februar 2011 verstorbenen türkischen Politikers Prof. Dr. Necmettin Erbakan. Ziel Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 25 der Bewegung ist es, zunächst die laizistische Staatsordnung (Trennung von Kirche und Staat) in der Türkei durch eine islamische Staatsund Gesellschaftsordnung mit dem Koran und der uneingeschränkten Gültigkeit der Scharia als Grundlagen des Staates und des gesellschaftlichen Zusammenlebens abzulösen. Ihr erklärtes Fernziel ist darüber hinaus die weltweite Einführung einer islamischen Staatsund Gesellschaftsordnung nach dem Vorbild des alten osmanischen Reichs unter Führung der Türkei. Die Bestrebungen der Milli-Görüs-Bewegung richten sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Die Milli-Görüs-Bewegung wurde Ende der 1960er Jahre von dem türkischen Politiker Necmettin Erbakan gegründet. Zentrale Bedeutung in Erbakans politischem Denken haben die von ihm geprägten Schlüsselbegriffe Milli Görüs (nationale Sicht) und Adil Düzen (gerechte Ordnung). Nach der von Erbakan entwickelten Ideologie ist die Welt zweigeteilt: einerseits in die auf dem Wort Gottes fußende religiös-islamische Ordnung (Adil Düzen), andererseits in die westliche Ordnung der Gewalt und Unterdrückung (Batil Düzen = nichtige Ordnung). Es gelte, die westliche Ordnung durch eine "gerechte Ordnung" zu ersetzen, wofür die Ausrichtung an islamischen Grundsätzen statt an von Menschen geschaffenen und damit "willkürlichen Regeln" erforderlich sei. Zu den klassischen Feindbildern gehören neben der westlichen Welt auch der Staat Israel - meist als "Zionisten" umschrieben - sowie Kommunismus, Imperialismus, Kapitalismus und Christentum. Insgesamt ist das Adil-Düzen-Konzept mit den Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar: Die Einführung einer islamischen Gesellschaftsordnung würde den Grundsatz der Gewaltenteilung, das Rechtstaatsprinzip, die Unabhängigkeit der Justiz und das Demokratieprinzip beseitigen. Die Ausrichtung der Milli-Görüs-Bewegung auf eine sultansähnliche türkische Führerfigur zeigt nationalistisch-diktatorische Züge und widerspricht der republikanischen Struktur Deutschlands sowie dem Demokratieprinzip. Zudem vertritt die MilliGörüs-Bewegung einen Antisemitismus, der zu einer ausgrenzenden Benachteiligung des jüdischen Volkes und der jüdischen 26 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen Religion führt und die Menschenrechte sowie den Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt. "Milli Gazete" Die Ziele der Milli Görüs-Bewegung sollen durch arbeitsteiliges und "TV 5" Zusammenwirken unterschiedlicher Teilbereiche erreicht werden, insbesondere der Saadet Partisi (SP - Glückseligkeitspartei) als politischer Vertreterin der Bewegung in der Türkei sowie der türkischen Tageszeitung Milli Gazete und des türkischen Fernsehsenders TV 5. Außerhalb der Türkei ist die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) der Milli-Görüs-Bewegung zuzurechnen. Das Zusammenwirken der IGMG, der SP und ihrer Sprachrohre Milli Gazete und TV 5 zeigt, dass es sich um Institutionen handelt, die zwar formal eigenständig sind, die aber nur als Glieder einer einheitlichen politischen Bewegung verstanden werden können. Saadet-Partisi (SP) in der Türkei In der Türkei sind die Anhänger der islamistischen Milli-GörüsBewegung seit 2001 in der Saadet-Partisi (SP - Glückseligkeitspartei) organisiert, nachdem die Vorgänger-Parteien Refah Partisi (RP - Wohlfahrtspartei) und Fazilet Partisi (FP - Tugendpartei) wegen "antilaizistischer Aktivitäten", also wegen Aktivitäten, die die Trennung von Staat und Religion rückgängig machen würden, verboten wurden. Den Einzug ins Parlament verfehlte die SP bei den Wahlen im Juni 2011 erneut. Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG) Organisation in Die Zentrale der IGMG hat ihren Sitz in Köln, ihr sind mehr als Deutschland 30 "Gebiete" nachgeordnet, davon etwa die Hälfte in Deutschland. Weitere "Gebiete" befinden sich in europäischen Ländern, aber auch in Übersee (wie beispielsweise in Kanada und Australien). Unterhalb der "Gebietsebene" sind 500 "Ortsvereine" angesiedelt, davon etwa 325 in Deutschland. In Bayern unterhalten etwa 50 Vereine Verbindungen zur IGMG mit regionalen Schwerpunkten in Nürnberg und München. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 27 Die IGMG-Führung versucht sich durch Aktivitäten in der Kinder-, Bildungsarbeit als Jugendund Erwachsenenbildung und weltweite HilfskampagDeckmantel nen als verfassungstreue Organisation und bloße Religionsgemeinschaft darzustellen. Die Verbindung zur islamistischen MilliGörüs-Bewegung wird jedoch durch die Beibehaltung des Begriffs Milli Görüs im Namen der IGMG und enge und dauerhafte Kontakte zwischen der IGMG und der SP deutlich. Beispielsweise fanden 2012 in Deutschland mehrere IGMG-Veranstaltungen - unter Beteiligung von Funktionären der SP - zum Gedenken IGMG-Veranstalan den verstorbenen Milli-Görüs-Führer Erbakan statt. An einer tung in Erding Gedenkveranstaltung in Erding nahm am 19. Februar neben dem südbayerischen IGMG-Regionalvorsitzenden der frühere türkische Justizminister und SP-Funktionär Sevket Kazan teil. Innerhalb der IGMG mag es Ansätze für Bemühungen geben, die in einen demokratischen Reformprozess münden könnten; sie sind bislang jedoch nicht konkret greifbar. Auch sind reformerische Kräfte nicht stark genug, um den verfassungsfeindlichen Kurs der IGMG insgesamt in Frage zu stellen. Ob sich dies nach dem Tod Erbakans und unter dem neuen IGMG-Generalvorsitzenden Kemal Ergün ändern wird, bleibt abzuwarten. 4.1.2 Hilafet Devleti (Der Kalifatsstaat) Anhänger Deutschland: 800 Bayern: Einzelmitglieder früherer Vorsitzender Metin Kaplan Gründung 1984 Sitz Köln Publizistisches Muhacirun (Auswanderer) Sprachrohr In Deutschland seit 12. Dezember 2001 verboten Der Kalifatsstaat (Hilafet Devleti) war eine am Führerprinzip orientierte, streng hierarchisch gegliederte Organisation, deren Endziel die Weltherrschaft des Islam unter dem Kalifat seines Anführers Metin Kaplan war. Der Kalifatsstaat richtete sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung sowie den Gedanken der Völkerverständigung und gefährdete die 28 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen Innere Sicherheit in Deutschland. Die Vereinigung ist seit 2001 in Deutschland nach dem Vereinsgesetz verboten. Das Verbotsverfahren und die staatlichen Exekutivmaßnahmen haben die Organisationsstruktur geschwächt. Gleichwohl gibt es in Deutschland noch immer Anhänger, die das Gedankengut des Kalifatsstaats weiterhin verbreiten. Zudem ist die offizielle Internetseite des Kalifatsstaats, die über einen Server in den Niederlanden betrieben wird, abrufbar. Die 1984 in Köln gegründete Organisation Kalifatsstaat (ehemals Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e.V., Köln - ICCB) verstand sich als Wiederbelebung des durch Kemal Atatürk 1924 in der Türkei abgeschafften Kalifats. Wegen seiner aggressiv-kämpferischen, gegen die verfassungsmäßige Ordnung verstoßenden und gegen den Gedanken der Völkerverständigung gerichteten Haltung wurde der Kalifatsstaat am 8. Dezember 2001 vom Bundesministerium des Innern verboten. Der frühere Vorsitzende des Kalifatsstaats Metin Kaplan, der wegen Mordaufrufs eine vierjährige Gefängnisstrafe in Deutschland verbüßt hatte, wurde 2004 in die Türkei abgeschoben. 4.1.3 Tablighi Jamaat (TJ) Anhänger Deutschland: 700 Bayern: 140 Gründung 1927 bei Delhi (Indien) Ziel der TJ (Gemeinschaft der Verkündigung und Mission) ist die Islamisierung der Gesellschaft, um dadurch die Etablierung eines islamischen Staates zu erreichen. Die Bestrebungen der TJ richten sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland. Die TJ wurde vom Religionsgelehrten Mawlana Muhammad Ilyas als pietistische Missionierungsbewegung gegründet. Seit ihren Ursprüngen ist sie eng mit der Islamischen Hochschule Internationale von Deoband/Indien verbunden. Die Gemeinschaft vertritt eine islamistische archaische Form des Islams indischer Prägung. Sie hat den ChaMassenbewegung rakter einer internationalen islamistischen Massenbewegung, Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 29 deren Anhänger sich nicht einer festen Gruppierung zugehörig fühlen, sondern sich als konsequente Muslime mit missionarischem Auftrag verstehen. Die TJ-Anhänger vertreten eine wörtliche Auslegung des Korans und der Sunna, die politische und gesellschaftliche Ausgrenzung der Frau und eine Abgrenzungspolitik gegenüber Nicht-Muslimen. Traditionelle Gebetskleidung und bis in Details verbindliche Verhaltensregeln im Alltag sollen die absolute Hinwendung zum Propheten Muhammad ausdrücken. Diese Bestrebungen wirken in nicht-muslimischen Gesellschaften zwangsläufig desintegrierend, so dass eine dauerhafte und ernsthafte Hinwendung zu westlichen Gesellschaftsordnungen, Wertvorstellungen und Integrationsmodellen nicht möglich ist. Charakteristisch für die Anhänger der TJ ist eine missionariMissionarische sche Reisetätigkeit, bei der sie Moscheen weltweit aufsuchen. Reisetätigkeit Die Missionierung dient der Rekrutierung neuer TJ-Mitglieder. Zur Ausbildung der Anhänger gehört eine vier Monate dauernde Schulung, vornehmlich in Koranschulen in Pakistan. Die wenigsten Missionare verfügen über eine theologische Ausbildung. Zur Missionierung nutzen TJ-Anhänger auch Moscheen, die keinen unmittelbaren Bezug zur TJ haben. Dort organisieren sie Veranstaltungen, bei denen die Anhänger über Tage oder Wochen hinweg beten, den Koran studieren und indoktriniert werden. Für Kinder und Jugendliche werden auch Koranschulungen durchgeführt. Durch die gemeinsame ideologische Basis mit militanten Gruppierungen besteht die Gefahr, dass die weltweiten Strukturen der Bewegung von terroristischen Netzwerken genutzt werden. Von Einzelpersonen, die die Schulung der TJ durchlaufen haben, ist bekannt, dass sie sich terroristischen Gruppierungen angeschlossen haben. In Bayern sind mindestens zwei Moscheen (München und Moscheen in Pappenheim) den TJ-Strukturen zuzurechnen. Zahlreiche weitere Bayern bayerische Moscheen sind Ziel von TJ-Aktivitäten. 30 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 4.1.4 Islamische Vereinigung in Bayern e.V. (IVB) Anhänger/Besucher bis zu 150 Gründung 1994 in München 2009 Neugründung Die IVB dient als Multiplikator schiitisch-islamistischen Gedankenguts innerhalb schiitischer Gemeinschaften in Bayern. Im Auftrag der iranischen Führung soll die IVB auf schiitische Muslime einwirken, um deren politische und religiöse Einstellung zu beeinflussen. Da der Iran keine Trennung von Staat und Religion kennt, hat die religiöse Arbeit des Vereins auch eine politische Komponente und richtet sich daher gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland. Iranischer Die Bewahrung der einst vom iranischen Revolutionsführer Aya"Revolutionsexport" tollah Khomeini propagierten Idee der "Islamischen Revolution" im Iran und deren internationale Verbreitung ist bis heute wesentlicher Bestandteil der iranischen Politik. Der "Export der Revolution" ist in der iranischen Verfassung vorgeschrieben. Das beinhaltet auch "Todesfatwas", wie das Beispiel eines in Deutschland lebenden iranischen Musikers zeigt, dessen Texte 2012 als Gotteslästerung interpretiert wurden und der daraufhin Morddrohungen erhielt. Der Iran unterstützt eine Vielzahl islamischer und islamistischer Bewegungen und Organisationen, vor allem im Nahen und Mittleren Osten. Auch islamische Zentren und Moscheen in Deutschland dienen im Sinn dieses "Revolutionsexports" als Foren für Versuche der Einflussnahme durch den Iran. Das größte und einflussreichste Zentrum ist das 1962 gegründete Islamische Zentrum Hamburg (IZH). Neben der iranischen Botschaft ist das IZH die wichtigste offizielle Vertretung des Iran in Deutschland und gleichzeitig eines seiner bedeutendsten Propagandazentren in Europa. Die enge Anbindung des IZH an die Führung des Iran zeigt sich u.a. darin, dass der Leiter des IZH ein ausgewiesener islamischer Rechtsgelehrter sein muss, der vom iranischen Außenministerium bestimmt wird und als Vertreter Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 31 des iranischen "Revolutionsführers" in Mitteleuropa gilt. Der Iran versucht mit dessen Hilfe, Schiiten aller Nationalitäten an sich zu binden sowie die gesellschaftlichen, politischen und religiösen Grundwerte der islamischen Revolution in Europa zu verbreiten. Eine weitere Einflussnahme des IZH auf schiitische Vereine IGS in ganz Deutschland zeichnete sich durch die Gründung zweier irakischer Dachverbände ab. So wurde auf Initiative des IZH im März 2009 die "Islamische Gemeinschaft der schiitischen Gemeinden Deutschlands e.V."(IGS) mit Sitz in Berlin gegründet. Dem Dachverband trat eine Vielzahl von schiitischen Vereinen aus ganz Deutschland bei. Im Mai 2011 wurde unter Leitung des IZH ein zweiter "Dachverband für die irakisch/schiitischen Vereine in Deutschland" in Hamburg gegründet. Die Islamische Vereinigung in Bayern e.V. (IVB) ist ebenfalls ein Islamische Zentrum des iranischen "Revolutionsexports". Seit der WiedererVereinigung öffnung des iranischen Generalkonsulats in München im Februar in Bayern e.V. (IVB) 2009 sind in Bayern verstärkte Aktivitäten zur Verbreitung der iranischen Staatsdoktrin festzustellen. So hat die dem IVB angehörende iranisch-schiitische Moschee in München im Jahr 2009 wieder ihren Betrieb aufgenommen. Die Bedeutung dieser Moschee zeigt sich u.a. darin, dass sowohl der iranische Generalkonsul als auch der Leiter des IZH bereits mehrmals Veranstaltungen der Moschee besuchten. Zwischen IZH und IVB bestehen enge Verflechtungen. In der SatEnge zung der IVB ist beispielsweise festgelegt, dass das VereinsverVerflechtungen mögen im Falle einer Auflösung des Vereins an das IZH fallen von IZH und IVB soll. Ebenso gehört dem Vereinsbeirat immer der jeweilige Imam von Hamburg an, der den IVB-Vorstand in allen Vereinsangelegenheiten berät. Seit dem Jahr 2012 ist auch der Vorsitz des Vereins mit einem Mitarbeiter des IZH besetzt. Insgesamt ist festzustellen, dass die Moschee der IVB über einen regen Zulauf von schiitischen Gläubigen - aller Nationalitäten - verfügt, die so einer schiitisch-islamistischen Indoktrination ausgesetzt sind. 32 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 4.1.5 Die Muslimbruderschaft (MB) und ihr Einfluss in Deutschland Anhänger Deutschland: 1.700 Bayern: 230 Gründung 1928 in Ägypten Publikation Risalat-ul-Ikhwan Die 1928 von Hassan al-Banna in Ägypten gegründete MB ist die einflussreichste und älteste islamistische Bewegung des zeitgenössischen politischen Islam. Das von der MB angestrebte politische System weist deutliche Züge eines totalitären Herrschaftssystems auf, das die Souveränität des Volkes sowie die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit der Menschen nicht garantiert. Die Ideologie der MB ist auf die Errichtung islamischer Herrschaftsordnungen auf der Grundlage von Koran und Sunna ausgerichtet. Ein Großteil der ideologischen Grundsätze der MB ist somit unvereinbar mit den im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerten Prinzipien der Demokratie, des Rechtsstaats und einer auf der Menschenwürde basierenden politischen Ordnung. Kernelemente der Das Wesentliche der verfassungsfeindlichen Ideologie der MB-Ideologie MB ist in der - für die Organisation bis heute maßgeblichen - Schrift "Allgemeine Ordnung der Muslimbruderschaft", die auf die Gründergeneration um Hassan al-Banna zurückgeht, festgehalten: - Islamisierung der Gesellschaft durch Da'wa-Aktivitäten (Deutsch: Missionierung) und soziale Maßnahmen - Beendigung der "kulturellen Verwestlichung" (arabisch: taghrib) - Umwandlung des Bildungswesens und der Bildungsinstitutionen nach islamischen Kriterien - Errichtung eines islamischen Staates auf der Grundlage islamischer Prinzipien und Werte - Anwendung des islamischen Rechts (arabisch: Scharia). Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 33 Die MB ist eine internationale Organisation, bei der eine Unterteilung in nationale Sektionen erkennbar ist. Sie verdankt ihren Einfluss u.a. ihrem sozialen Engagement. Von 2004 bis 2010 stand Mahdi Akef an der Spitze des ägyptischen Zweigs der MB. Er hatte Mitte der 1980er Jahre das der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) zugehörige Islamische Zentrum München (IZM) geleitet. In seiner Jugend war er mit dem MB-Gründer Hassan al-Banna befreundet. Später wurde er wegen eines geplanten Anschlags auf den ägyptischen Präsidenten zum Tode verurteilt und schließlich nach 20 Jahren Gefängnis begnadigt. Im Januar 2010 wurde als sein Nachfolger Muhammad Badi gewählt. Offiziell haben sich die meisten Zweige der MB von Gewalt abHAMAS gewandt. Die "Islamische Widerstandsbewegung" (HAMAS) als palästinensische Sektion der MB nutzt jedoch weiterhin militärische Mittel im Kampf gegen Israel. Die Umbrüche in der arabischen Welt machen deutlich, dass die MB in Ägypten MB weiterhin versucht, mit einer pragmatischen Anpassung an die aktuellen politischen Rahmenbedingungen ihre Machtposition auszubauen und zu festigen. In Ägypten wurde die MB bei den Parlamentswahlen im Dezember 2011 stärkste politische Kraft. Bei der Stichwahl am 16. und 17. Juni 2012 wurde der Muslimbruder Muhammad Mursi zum Präsidenten gewählt. In der Folge setzte Mursi gegen den entschiedenen Widerstand der Oppositionsbewegung eine Verfassungsänderung durch, die die Kontrollmöglichkeiten der Justiz gegenüber dem Staatspräsidenten stark einschränkt und islamistisches Gedankengut verfassungsrechtlich etabliert. Auch in Tunesien ist mit der islamistischen al-Nahda eine Partei MB in Tunesien mit MB-Hintergrund an der Regierung beteiligt. Der Gründer der al-Nahda, Rachid Ghannouchi, gab sich nach der Rückkehr aus seinem Londoner Exil betont westlich. Im Wahlprogramm seiner Partei blieb die Scharia unerwähnt, weshalb viele Tunesier glaubten, die al-Nahda stehe für einen demokratischen und aufgeklärten Islam. Nach der Wahl, bei der die Partei 41,5 % der Stimmen erhielt, gab es jedoch eine Hinwendung zu islamistischen Grundsätzen. Der al-Nahda wird von liberalen Tunesiern deshalb vor- 34 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen geworfen, das Land nach religiösen Vorstellungen umformen zu wollen und sich gegenüber Übergriffen radikaler Salafisten nicht eindeutig genug zu positionieren. So wurde im Entwurf für eine neue Verfassung das Grundrecht auf Gleichberechtigung von Mann und Frau gestrichen. Stattdessen heißt es nun, Männer und Frauen würden sich "ergänzen". Organisation Als Dachverband MB-naher Organisationen in Europa fungiert in Europa die 1989 gegründete Föderation der Islamischen Organisationen in Europa (FIOE) mit Sitz in Brüssel. Eine weitere einflussreiche und eng mit der MB verflochtene Organisation ist der Europäische Fatwa-Rat (ECFR) mit Sitz in Dublin/Irland. Dessen Vorsitzender Yusuf al-Qaradawi ist als geistiger Führer der MB bekannt. MB in Deutschland Die MB tritt zwar in Deutschland nicht offen in Erscheinung, wird jedoch durch die Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) und die FIOE als Teil einer weltweiten "Islamischen Bewegung" vertreten und ist somit auch in Deutschland aktiv. Dies ergibt sich u.a. aus Dokumenten, die im Dezember 2009 im Rahmen eines polizeilichen Ermittlungsverfahrens sichergestellt werden konnten. Eines der sichergestellten Dokumente ist ein Vierjahres-Plan in arabischer Sprache abgefasster Vierjahres-Plan (2008-2011) der MB. Die darin vorgesehenen Maßnahmen basieren auf einer Doppelstrategie: Nach außen gibt sich die MB offen, tolerant und dialogbereit und strebt eine Zusammenarbeit mit politischen Institutionen und Entscheidungsträgern an, um so Einfluss im öffentlichen Leben zu gewinnen. Ihr Ziel bleibt aber die Errichtung einer auf der Scharia basierenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung, wobei die MB für sich die Führungsrolle für alle Muslime beansprucht. Der Plan zeigt eine deutliche Abgrenzung gegenüber den USA, Israel, dem jüdischen Volk und Andersgläubigen. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 35 4.1.5.1 Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) Mitglieder Deutschland: 1.300 Bayern: 145 Gründung 1960 in Deutschland Präsident Samir Falah Sitz Köln Publikation al-Islam (nur noch als Internetausgabe) Die IGD versucht durch politisches Engagement in Deutschland ihre von der Ideologie der Muslimbruderschaft (MB) geprägten Ziele zu erreichen. Die Anhänger der IGD sind bemüht, ihre Verbindung zur MB in öffentlichen Verlautbarungen nicht zum Ausdruck zu bringen. Die Bestrebungen der IGD richten sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland. Die IGD ist Gründungsmitglied der Föderation der Islamischen OrGründungsmitglied ganisationen in Europa (FIOE), dem europäischen Dachverband der FIOE MB-naher Verbände, sowie Gründungsmitglied des Zentralrates der Muslime in Deutschland (ZMD) und war über diesen auch an der Gründung des Koordinierungsrates der Muslime (KRM) beteiligt. Von 2002 bis Anfang 2010 war Ibrahim El-Zayat Präsident der IGD. Am 11. Januar 2010 wurde Samir Falah als sein Nachfolger gewählt. Der IGD sind mehrere zum Teil formell eigenständige Islamische Organisation in Zentren (IZ) in Deutschland nachgeordnet. In Bayern sind dies Deutschland das Islamische Zentrum München und die Islamische Gemeinde Nürnberg, ehemals Islamisches Zentrum Nürnberg. Darüber hinaus verfügt die IGD über ein weit verzweigtes Netz an Kooperationspartnern in verschiedenen Städten Deutschlands. Die IGD ist um eine Verselbständigung der ihr nachgeordneten Islamischen Zentren bemüht. Damit entstehen Vereinsstrukturen, die nur schwer kontrollierbar sind und die die tatsächliche Anbindung an die IGD verschleiern. Dieses Vorgehen ermöglicht den neu gegründeten selbstständigen Vereinen, für sich die Gemeinnützigkeit (steuerrechtliche Vorteile) zu beantragen. Die IGD selbst verlor 1999 die Gemeinnützigkeit, eine zunächst gegen 36 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen diese Entscheidung eingereichte Klage hatte sie später wieder zurückgenommen. Mit der Einladung prominenter und populärer MB-Referenten zur 32. Jahreskonferenz der IGD demonstrierte die IGD ihre Nähe zur 32. Jahreskonfeglobalen Bewegung der MB. Zur Jahreskonferenz trafen sich am renz in München 16. Juni im Islamischen Zentrum München 170 Teilnehmer; am und Bonn 17. Juni wurde die Konferenz in Bonn fortgesetzt. Einflüsse des Durch die revolutionären Ereignisse des "Arabischen Frühlings" "Arabischen sieht sich die IGD gestärkt, wie das Motto ihrer Jahreskonferenz Frühlings" "Frühling weckt Hoffnung und Willen zur Veränderung" verdeutlicht. Die Verantwortlichen der IGD beschreiben die Umbrüche in den nordafrikanischen Staaten als positive von der MB gesteuerte Entwicklungen. 4.1.5.2 Muslimische Jugend in Deutschland e.V. (MJD) Vorsitzender Hischam Abul Ola (bis November 2012) Gründung 1994 Sitz Berlin Struktur 23 Lokalkreise Die MJD ist ein rechtlich unabhängiger Jugendverband, der in der Vergangenheit wiederholt Kontakte zur IGD hatte. Der Verein bietet jungen Muslimen Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung. Für Außenstehende ist dabei meist nicht ersichtlich, dass im Schulungsund Freizeitangebot der MJD auch Gedankengut der Muslimbruderschaft (MB) propagiert wird. Es liegen tatsächliche Anhaltspunkte dafür vor, dass sich die Aktivitäten der MJD gegen einzelne Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland richten. Münchner Der Münchner Lokalkreis der MJD nutzt die Räumlichkeiten des MJD-Gruppe Islamischen Zentrums München (IZM). Er bezeichnet sich als "Islamische Jugendgruppe", die aus der "Muwahidun" (Brüdergruppe) und der "Muwahidat" (Schwesterngruppe) besteht. Die Gruppe gibt vor, eine islamische Bildung zu vermitteln, die alle Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 37 Dimensionen des Menschen - Körper, Geist und Seele - beachtet. Die Münchner Jugendgruppe behauptet, durch ihre Arbeit die Entwicklung einer ausgewogenen islamischen Persönlichkeit zu fördern. Dazu organisiert sie gemeinsam mit dem Bundesverband der MJD Camps, Meetings, Tagesausflüge und Seminare. Persönliche Aufzeichnungen und elektronische Dokumente des früheren Leiters des Münchner Lokalkreises legen nahe, dass dieser die Ideologie der MB vertritt, in der der Islam nicht als Religion, sondern als allumfassendes Lebensund Gesellschaftskonzept unter Einschluss der Politik verstanden wird. Vor diesem Hintergrund hat das Verwaltungsgericht München am 11. Januar 2012 die Klage des früheren Leiters der Münchner Jugendgruppe auf Einstellung in das Beamtenverhältnis auf Probe abgewiesen. Das Verwaltungsgericht hat - in seiner noch nicht rechtskräftigen Entscheidung - festgestellt, dass der Kläger der Ideologie der Muslimbruderschaft und der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland (IGD) nahesteht. Eine nach außen erkennbare Distanzierung von der verfassungsfeindlichen Ideologie dieser Gruppierungen hat das Gericht beim Kläger nicht erkennen können. Dem Kläger wurden im Verwaltungsstreitverfahren auch Erkenntnisse entgegengehalten, die aus einer Wohnungsdurchsuchung beim Münchner MJD-Lokalkreisvorsitzenden im Jahr 2008 stammen. In einem dabei gefundenen Grundlagenpapier wird dargestellt, dass Muslime einen Vertrag mit Allah geschlossen haben, in dem sie sich als Mensch verpflichten, Allah allein zu dienen und ihm allein gehorsam zu sein sowie die ihm auferlegten Pflichten in persönlicher, gesellschaftlicher und islamischer Hinsicht zu erfüllen. Um dies zu gewähr"Erziehungskurse" leisten, werden die Aspiranten in so genannten Tarbiyya-Kursen (deutsch: Erziehung) geschult, die mehrere Stufen umfassen und in einem geschlossen Intensivkreis enden. Bei Kursen und Veranstaltungen wird Gedankengut transportiert, das sich auf Vordenker der MB stützt. 38 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 4.1.6 Türkische Hizbullah (TH) Mitglieder Deutschland: 300 Bayern: 20 Gründung 1979 in Batman Leitung Edip Gümüs Publikation Yeni Müjde (Neue Frohe Botschaft) Inzar (Warnung) Dogru Haber (Wahre Nachricht) Kelhaamet (Prächtiges Diyarbakir) Kendi Dilinden Hizbullah (Die Hizbullah in eigener Sprache) Die "Türkische Hizbullah" (TH) strebt die Beseitigung des laizistischen Staatssystems in der Türkei und die Errichtung eines weltumfassenden Staates auf Grundlage der Scharia an. Zur Umsetzung ihrer Vorstellungen rechtfertigt die TH die Anwendung von Gewalt. Die Bestrebungen der TH gefährden damit auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland und richten sich gegen das friedliche Zusammenleben der Völker. 1979 schlossen sich unter der Führung von Hüseyin Velioglu in der kurdischen Stadt Batman muslimische Kurden zu einer Organisation mit dem Namen Hizbullah zusammen. Obgleich die Mehrzahl ihrer Anhänger Sunniten sind, strebt die Organisation die Errichtung eines islamischen Staates nach iranischem Vorbild - auch unter Anwendung von Gewalt - an. In den Jahren 1999 und 2000 ist die Organisation in der Türkei durch staatliche Maßnahmen empfindlich geschwächt worden. Aufgrund des hohen Verfolgungsdrucks in der Türkei folgte eine Absetzbewegung von TH-Aktivisten nach Westeuropa, so auch nach Deutschland. Seitdem baut die TH in verschiedenen europäischen Staaten (Deutschland, Österreich, Schweiz, Italien, Belgien, Niederlande und Frankreich) Personennetzwerke sowie Schattenstrukturen erneut auf. Deutschland als In ihrer derzeitigen Regenerationsphase nutzt die TH DeutschRuheraum land als Rückzugsraum zur personellen und logistischen Reorganisation. Beispielsweise sammelt die Organisation in Deutschland Spenden, vertreibt Publikationen und lädt - oftmals Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 39 aus religiösem Anlass - zu Veranstaltungen ein. Auch in Bayern werden derartige Veranstaltungen durchgeführt. Anhänger der TH aus Bayern nahmen auch an Veranstaltungen der Organisation im Ausland teil. 4.2 Salafismus Ende des 18. Jh. trat auf der arabischen Halbinsel ein Prediger namens Muhammad Ibn Abd al-Wahhab auf. Er predigte eine Reinigung des Islam von, aus seiner Sicht, unerlaubten Neuerungen sowie von Irrglauben. Vorbildfunktion in Bezug auf den "wahren Islam" böten einzig die frommen Altvorderen (arabisch: al-salaf al-salih), also die Repräsentanten der Frühzeit des Islam. Heutige Salafisten orientieren sich an der Lehre des Wahhabismus. Sie richten ihren Glauben, ihre religiöse Praxis und Lebensführung ausschließlich an den Prinzipien des Korans und dem vom Propheten Muhammad und den frommen Altvorderen gesetzten Vorbild aus. Jegliches Abweichen von dieser Norm, die als ursprünglicher und reiner Islam gilt, lehnen Salafisten als unerlaubte Verfälschung des Islam bzw. "Neuerung" (arabisch: bid'a) ab. Zentraler salafistischer Glaubensinhalt ist die Ein(s)heit und EinPrinzip des zigartigkeit Gottes (arabisch: tauhid). Für Salafisten beinhaltet "Tauhid" dies auch, dass Gott der einzig legitime Souverän und Gesetzgeber ist. Die Scharia ist für sie als Gesetz Gottes letztgültiger Maßstab. Salafisten lehnen das Demokratieprinzip (Volkssouveränität) kategorisch ab. Sie verneinen strikt die Geltungsberechtigung "weltlicher" Gesetzgebung (Parlamentsgesetze). Als Höherwertigkeitsideologie richtet sich der Salafismus zwar auch gegen nicht-islamische, z.B. jüdische und christliche, Glaubensvorstellungen; besonders in der Kritik stehen jedoch andere islamische Glaubensauffassungen - insbesondere das schiitische und mystische Islamverständnis. Salafisten diffamieren die Anhänger dieser Glaubensformen als Ungläubige oder werMissionierungsfen ihnen Götzendienste (arabisch: shirk) vor. Am Dialog mit Antätigkeit 40 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen dersgläubigen sind die Salafisten nur insoweit interessiert, wie er ihrer Missionierungsarbeit (arabisch: da'wa) dienlich ist. Für junge Muslime der dritten Generation und deutsche Konvertiten auf Identitätssuche bietet der Salafismus eine neue Projektionsfläche fernab der Religiosität der Elterngeneration bzw. der Regeln der eigenen Gesellschaft. Muslime ohne tiefgründige Kenntnis der islamischen Religion sollen sich als fester Bestandteil einer salafistischen Solidargemeinschaft fühlen, die einfache, aber strenge Regeln und ein schlichtes dualistisches Weltbild bietet. Zwei Strömungen Die Ideologie des Salafismus lässt sich in eine politische und eine in Deutschland: jihadistische Strömung unterteilen, die Übergänge sind dabei Politischer und fließend. Sie unterscheiden sich vor allem in der Wahl der Mittel, jihadistischer mit denen ihre Ziele realisiert werden sollen. Jihadistische wie Salafismus auch politische Salafisten stützen sich jedoch auf dieselben ideologischen Autoritäten und Vordenker und verfolgen die gleichen Ziele. Jihadistische Salafisten befürworten eine unmittelbare und sofortige Gewaltanwendung. Sie propagieren den bewaffneten Kampf auch gegen Machthaber in Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit, denen sie vorwerfen, vom Islam abgefallen und Handlanger des verhassten "Westens" zu sein. Derzeit ist nur ein kleiner Prozentsatz der Salafisten dem jihadistischen Salafismus zuzurechnen, die überwiegende Zahl der Anhänger spricht sich gegen Gewalt aus. Gleichwohl bietet gerade der politische Salafismus durch seine radikalisierende Wirkung immer wieder den Nährboden für terroristische Aktionen. So waren fast alle bisher in Deutschland identifizierten terroristischen Netzwerkstrukturen und Einzelpersonen salafistisch geprägt bzw. haben sich in salafistischen Milieus entwickelt. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 41 4.2.1 Politischer Salafismus Anhänger/Besucher Deutschland: ca. 4.500 Bayern: ca. 500 Entstehung Erste Strukturen in Bayern Mitte der 1990er Jahre Salafisten lehnen weltliche Gesetze und die Werte westlicher Gesellschaftsund Herrschaftssysteme als unislamisch und unterlegen kategorisch ab. Sie orientieren sich kompromisslos an der islamischen Frühzeit vor 1.400 Jahren und befürworten frühislamische Herrschaftsund Gesellschaftsformen. Dies führt zur Ablehnung der als wesensfremd empfundenen Mehrheitsgesellschaft und ihrer demokratischen Werte. Vor allem die von salafistischen Akteuren in Deutschland propagierte Einheit von Religion und Staat und der ebenfalls erhobene absolute Geltungsanspruch der islamischen Rechtsordnung (Scharia) machen deutlich, dass salafistische Auffassungen Geltung für sämtliche Lebensbereiche beanspruchen. Die ideologischen Grundsätze des Salafismus sind somit unvereinbar mit den im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verankerten Prinzipien, insbesondere der Demokratie, des Rechtsstaats und einer auf der Menschenwürde basierenden politischen Ordnung. Bundesweit ist eine wachsende "Infrastruktur" des Salafismus Wachsende festzustellen. Die salafistische Szene ist allerdings meist nur lose "Infrastruktur" organisiert und weist eine hohe Dynamik auf. Feste, formale Organisationsstrukturen sind in der Regel nicht vorhanden. Eine Ausnahme hiervon bilden örtliche salafistische Vereine, die häufig gleichzeitig als Träger salafistisch geprägter Moscheen fungieren. Daneben gibt es zunehmend lose Personennetzwerke oder autonom agierende Einzelpersonen, die salafistische Aktivitäten entfalten. Für deutschsprachige Muslime hat sich mittlerweile ein breites Online-Bildungssalafistisches Bildungsangebot etabliert, das u.a. zahlreiche angebote" Publikationen, Internetangebote und Vortragsveranstaltungen charismatischer Prediger umfasst. Prominente Angehörige der salafistischen Gelehrtennetzwerke treten zudem als "OnlineImame" auf. Salafistische Schulungsmaßnahmen vor Ort werden 42 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen hierbei vermehrt durch virtuelle Fortbildung über das Internet ergänzt oder ersetzt. Gerade charismatische Führungspersönlichkeiten wirken als Multiplikatoren der salafistischen Ideologie und ziehen verstärkt vor allem junge Anhänger an. Infotische Auch in Bayern sind zunehmende Aktivitäten einer sich in NetzProjekt "Lies!" werken organisierenden Anhängerschaft der salafistischen Ideologie zu beobachten. So fanden in Nürnberg, München, Regensburg, Weiden, Schwandorf und Erlangen regelmäßige Infostände statt, bei denen überwiegend salafistische Publikationen verteilt wurden. Mit dem Projekt "Lies!" kamen auch die kostenlosen Koranexemplare hinzu. Obwohl der salafistische Prediger und Verantwortliche des Projekts Abou Nagie durch persönliches Erscheinen an Infotischen in Regensburg, Erlangen, Ingolstadt und Nürnberg größere Aufmerksamkeit zu erzeugen versuchte, blieb die Resonanz bei Passanten in Bayern eher gering. Daneben hat sich auch die missionarische Vortragstätigkeit in Bayern intensiviert. Moscheen wie die El-Salamund Darul-QuranMoschee in München, die Salahuddin-Moschee in Augsburg, die As-Siddiq-Moschee in Regensburg und die Taqwa-Moschee in Bayreuth sind Plattformen für salafistische Vortragsveranstaltungen und salafistischen Islamunterricht. Hier treten - teilweise in regelmäßigen Abständen - Prediger auf, die ihr salafistisches Gedankengut verbreiten. Eine Anlaufstelle für Salafisten in der Region Neu-Ulm bietet der dort ansässige Moscheeverein Islamisch-Albanisches Zentrum e.V. Bundesweite Exekutivmaßnahmen nach dem Vereinsgesetz Vereinsverbot Nach gewalttätigen Ausschreitungen Anfang Mai in NordrheinWestfalen anlässlich von Demonstrationen gegen die öffentliche Präsentation von Muhammad-Karikaturen reagierte das Bundesministerium des Innern mit bundesweiten vereinsrechtlichen Exekutivmaßnahmen auf die zunehmend offensiven Propagandaaktivitäten und die wachsende Gewaltbereitschaft von Anhängern der salafistischen Ideologie. Am 14. Juni wurde der salafistische Verein Millatu Ibrahim verboten. Zeitgleich leitete das Ministerium vereinsgesetzliche Maßnahmen gegen die bundesweiten Strukturen der salafistischen Netzwerke DawaFFM und Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 43 Die wahre Religion (DWR) ein. Es besteht der konkrete Verdacht, dass sich deren Zwecke und Tätigkeiten gegen die verfassungsmäßige Ordnung und den Gedanken der Völkerverständigung richten. Das mittlerweile rechtskräftige Verbot von Millatu Ibrahim und die entsprechenden Durchsuchungsbeschlüsse gegen DawaFFM und DWR wurden in sieben Bundesländern zeitgleich vollzogen. In Bayern waren hiervon der Verein Nur für dich e.V. mit Sitz in München und der in Augsburg lebende zweite Vorstand des Islamischen Vereins Augsburg e.V. (Salahuddin-Moschee) betroffen. Der Verein Nur für dich e.V. trat in der Öffentlichkeit in Zusammenhang mit der Spendensammlung für das Koranverteilungsprojekt "Lies!" des salafistischen Netzwerks DWR in Erscheinung, die betroffene Person aus Augsburg war u.a. als Prediger für das DWR-Netzwerk tätig. Vermehrte Ausreisebewegungen Bundesweit waren 2012 verstärkt Ausreiseabsichten und tatsächliche Reisebewegungen junger Salafisten aus Deutschland zu beobachten. Auffällig ist vor allem der deutliche Anstieg von Ausreisebewegungen nach Kairo/Ägypten. Während bislang vorwiegend der Wunsch nach einer Sprachausbildung bzw. einem Koranstudium im Vordergrund stand, ist aktuell bei Einzelpersonen eine stärkere Hinwendung zur jihadistisch motivierten Ausreise zu beobachten. Es ist zu befürchten, dass von Ägypten aus eine Weiterreise in Ausbildungslager oder Kampfbzw. Konfliktgebiete erfolgen könnte. Während in der Vergangenheit insbesondere das Krisengebiet Afghanistan/Pakistan als Reiseziel von Jihadisten galt, ist mittlerweile eine Verlagerung in andere arabische Staaten festzustellen. Nicht in jedem Fall kann zum jetzigen Zeitpunkt beurteilt werden, ob die Ausreisebewegungen tatsächlich mit der Absicht der Teilnahme am bewaffneten Jihad erfolgten oder lediglich zum Sprachund/oder Islamstudium in einem arabisch-sprachigen Land. Es muss jedoch zumindest mit einer Radikalisierung im Ausland und möglicherweise mit einer anschließenden Rückkehr nach Deutschland gerechnet werden. 44 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen Auch in Bayern stehen Ausreisebewegungen gewaltorientierter Salafisten verstärkt im Fokus der Sicherheitsbehörden, da erstmals Reiseabsichten bzw. tatsächliche Reisebewegungen festzustellen sind. Es handelt sich hierbei jedoch lediglich um Einzelfälle, Ausreisebestrebungen von ganzen Personengruppen sind in Bayern bislang nicht bekannt geworden. 4.2.2 Jihadistischer Salafismus 4.2.2.1 Das al-Qaida-Netzwerk Mitglieder und Anhänger Deutschland: keine gesicherten Zahlen Bayern: Einzelpersonen Im Unterschied zu vielen anderen islamistischen Terrornetzwerken oder Organisationen verfolgt al-Qaida länderübergreifend das Ziel, ein weltweites Kalifat zu errichten. Al-Qaida ist für eine Vielzahl von Terroranschlägen weltweit - z.B. die Anschläge am 11. September 2001 in den USA - mit Hunderten Toten und Verletzten verantwortlich. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 45 Entstehung und Entwicklung Die Ursprünge des al-Qaida-Netzwerks lassen sich zurückführen auf den Konflikt um das sowjetisch besetzte Afghanistan der Jahre 1979 bis 1989. Für die wachsende Zahl der sich dem Jihad in Afghanistan anschließenden arabischen Mujahidin wurden Rekrutierungsund Unterstützungsbüros gegründet. Eine herausragende Stellung nahm das seit 1984 von dem palästinensischen Jihad-Ideologen Abdullah Azzam und dem Saudi Usama Bin Ladin geführte "Dienstleistungsbüro" ein. Nach dem Tod Abdullah Azzams und dem Abzug der sowjetischen Truppen entwickelte Bin Ladin das "Dienstleistungsbüro" und deren internationale Infrastruktur aus Rekrutierungsbüros, Banken, Tarnfirmen und Nichtregierungsorganisationen unter der Zielsetzung weiter, den Jihad auch in anderen Konfliktgebieten wie Kaschmir, Indonesien, Tschetschenien, Bosnien und Somalia zu unterstützen. Mit der Machtübernahme der Taliban 1996 kehrte Bin Ladin mit seinem Gefolge nach Afghanistan zurück und agierte von dort aus bis zu seiner Flucht im Jahre 2001 unter dem Schutz des Taliban-Führers Mullah Omar. Seit Mitte der 1990er Jahre ist ein Netzwerk aus Afghanistanveteranen entstanden, die in ihren Heimatländern ihrerseits Organisationen gründeten bzw. unterstützten, wie z.B. Abu Sayyaf auf den Philippinen, al-Qaida im Irak, die somalischen al-Shabab-Milizen Taliban oder al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAH). Anschläge al-Shabab werden häufig von autonomen Zellen oder "freien Mitarbeitern" AQAH geplant und durchgeführt. Attentäter bekommen oftmals nachträglich den "Segen" für ihre Anschläge (etwa über Audiooder Video-Botschaften, die über das Internet verbreitet werden). Während in Ländern wie Irak, Saudi Arabien und Jemen die Entwicklung des al-Qaida-Netzes dynamisch ist, hat sich - neben dem afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet - in Nordafrika eine relativ stabile Struktur herausgebildet. Die Organisation al-Qaida im islamischen Maghreb (AQIM) AQIM konnte ihren Einflussbereich von Algerien aus auf die ganze Sahelregion ausdehnen. Die Region Nord-Mali, aus der die AQIM die Regierungstruppen vertrieben hat, kristallisiert sich langsam als neuer Jihad-Schauplatz mit einem Taliban-ähnlichen Herrschaftssystem heraus. Mit der Boko Haram ist in Nigeria eine der 46 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen AQIM ideologisch nahestehende Organisation aktiv, die jihadsalafistisches Gedankengut vertritt und vermehrt durch Anschläge auf sich aufmerksam macht. IBU Eine weitere al-Qaida nahe stehende Organisation ist die Islamische Bewegung Usbekistans (IBU). Die IBU ist eine islamistische Gruppe, die 1998 von Juma Namangani und Tahir Yuldashev mit dem Ziel gegründet wurde, das Regime des usbekischen Präsidenten Islam Karimov zu stürzen und stattdessen einen islamischen Staat zu errichten. Nachdem die IBU zunächst von Afghanistan und Tadschikistan aus agierte, erweiterte sie zwischenzeitlich ihr Zielspektrum auf europäische Länder und bemüht sich um verstärkte internationale Präsenz. Mitglieder der IBU, insbesondere die aus Bonn stammenden Chouka-Brüder, erregen immer wieder durch Drohungen gegen Deutschland Aufmerksamkeit. Die letzte Drohung gegen Deutschland hatte buddhistische Ausschreitungen gegen Muslime in Burma während des Besuchs des deutschen Außenministers zum Inhalt. Deutschland wird der Unterstützung der Buddhisten bezichtigt. Die Ideologie des al-Qaida-Netzwerks Die hauptsächlich von Bin Ladin und Abdullah Azzam etablierte salafistische Ideologie des al-Qaida-Netzwerks ist stark geprägt von den Schriften Sayyed Qutbs und dessen Weltsicht, dem Jihad-Gedanken und dem Takfir (= "für ungläubig erklären"). Nach dieser Weltsicht gibt es nur den Islam in seiner durch die Chefideologen Bin Ladin, al-Zawahiri und Azzam geprägten Orientierung an den frommen Vorfahren (al-salaf al-salih), einer konstruierten idyllischen islamischen Frühzeit, und Jahiliyya, den Unglauben und die Unwissenheit um den durch den Propheten Muhammad vermittelten "rechten Weg". Folgerichtig war es ein zentrales Anliegen Bin Ladins, den Islam von allen unislamischen "Angriffen" wie Sozialismus und Demokratie freizuhalten. Die Stationierung amerikanischer Truppen in Saudi-Arabien, Afghanistan oder in anderen islamischen Staaten war aus seiner Sicht nicht hinzunehmen. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 47 Entwicklungstendenzen Die Tötung Usama Bin Ladins im Mai 2011 und die Verhaftung Tötung oder Tötung zahlreicher Mitglieder aus der alten Führungsriege Osama Bin Ladins haben zwar den Kern al-Qaidas geschwächt, das flexible Netzwerk jedoch keinesfalls handlungsunfähig gemacht. Zunehmend versucht al-Qaida, unter der Führung von Ayman al-Zawahiri den Charakter einer Bewegung anzunehmen. Internetverlautbarungen und jihadistische Online-Magazine wenden sich gezielt an Personen außerhalb der bestehenden al-Qaida-Strukturen und Netzwerke mit dem Ziel, diesen Personenkreis für Anschläge zu gewinnen. Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAH) kommt nach wie vor eine führende Rolle zu. Von ihr gehen zahlreiche Anschlagspläne aus. 4.2.2.2 Islamistisch-kurdische Netzwerke Mitglieder Deutschland: keine gesicherten Zahlen Bayern: etwa 35 Gründung im Irak Einige islamistisch-kurdische Netzwerke sind durch ihr Zusammenwirken mit der al-Qaida im Irak Bestandteil des internationalen Terrornetzwerks. Besonders die Vereinigung Ansar al-Islam (AAI) ist für eine Vielzahl von Terroranschlägen im Irak mit Hunderten von Toten und Verletzten verantwortlich. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen stufte die AAI deshalb im Februar 2003 als terroristische Vereinigung ein. 48 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen Situation im Irak Unter den Mujahidin, die in den 1990er Jahren in afghanischen Trainingslagern militärisch ausgebildet wurden, befanden sich auch kurdische Islamisten. Diese knüpften Kontakte zu al-Qaida, die auch nach der Rückkehr der kurdischen Kämpfer in den Irak bestehen blieben. In einem kleinen Teil des irakischen Kurdengebiets gelang es der AAI im Jahr 2001, ein Taliban-ähnliches Regime zu errichten. Zu Beginn des Irak-Kriegs 2003 wurde dieses Gebiet von den USA aus der Luft angegriffen und von nichtislamistischen kurdischen Kräften wieder eingenommen. In der Folgezeit reorganisierte sich die AAI wieder. Im Mai 2010 gelang irakischen Sicherheitskräften ein Schlag gegen die AAI, als in Bagdad deren mutmaßlicher Anführer mit sieben weiteren Terrorverdächtigen festgenommen wurde. Nach dem Abzug der US-amerikanischen Streitkräfte Ende 2011 aus dem Irak fällt es islamistisch-kurdischen Netzwerken wie der AAI leichter, sich im Nordirak neu zu positionieren, um dort dem Ziel der Schaffung eines autonomen Gebietes nach dem Primat der Scharia wieder etwas näher zu kommen. Auch in Europa sind mehrere islamistisch-kurdische Netzwerke Geistiger Führer aktiv. Ihre spirituelle Leitfigur, der in Norwegen lebende Mullah Mullah Krekar Krekar, wurde u.a. wegen Todesdrohungen gegen eine frühere Ministerin Norwegens zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. In der Schweiz erhob die Bundesanwaltschaft Anklage gegen ein Brüderpaar aus dem islamistischkurdischen Spektrum mit Bezügen zu Mullah Krekar und dem al-Qaida-Netzwerk. In Bayern sind derzeit etwa 35 Anhänger der AAI bekannt, die die Organisation durch Beschaffung von Geld unterstützen; die Schwerpunkte liegen in München und Augsburg. Insgesamt sind die Aktivitäten der AAI-Anhänger in Bayern stark zurückgegangen, da die Vereinigung durch staatliche Maßnahmen erheblich geschwächt wurde. Neben Verurteilungen zu langjährigen Haftstrafen und der Abschiebung von Unterstützern der AAI kam es auch zu freiwilligen Ausreisen durch den konsequenten Verfolgungsdruck staatlicher Sicherheitsbehörden. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 49 4.3 Sonstiger islamistischer Terrorismus 4.3.1 HAMAS (Islamische Widerstandsbewegung) Mitglieder Deutschland: 300 Bayern: Einzelpersonen Gründung 1988 Die HAMAS verneint ein Existenzrecht Israels und will auf dem gesamten Gebiet Palästinas einen "islamischen" Staat errichten. Sie lehnt deshalb auch den israelisch-palästinensischen Friedensprozess ab. Sie ist für eine Vielzahl terroristischer Aktionen verantwortlich, darunter zahlreiche Selbstmordattentate. Im Juni 2002 wurde deshalb der militärische Arm der HAMAS in die EU-Liste terroristischer Organisationen aufgenommen. 2003 haben die EU-Außenminister auch die Gesamtorganisation als terroristisch eingestuft. Von den in Deutschland lebenden HAMAS-Anhängern gehen Bestrebungen aus, die auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden und gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind. Deutschland wird von der HAMAS zur Sammlung von Spenden und zur Verbreitung ihrer Propaganda genutzt. Nach Beginn der ersten "Intifada" ("Aufstand der Palästinenser") im Dezember 1987 schlossen sich Anfang 1988 die palästinensischen Anhänger der "Muslimbruderschaft" (MB) unter Führung von Ahmad Yasin zur HAMAS zusammen und nahmen den bewaffneten Kampf gegen Israel auf. Die HAMAS übt seit der gewaltsamen Machtübernahme 2007 die alleinige Kontrolle über den Gaza-Streifen aus. Anhänger der HAMAS führten im November eine Reihe von Raketenangriffe gegen Israel durch. Im Zuge der militärischen Auseinandersetzung starben mehr als 100 Menschen. 50 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 4.3.2 Hizb Allah (Partei Gottes) Mitglieder Deutschland: 950 Bayern: 30 Gründung 1982 im Libanon Publikation al-Intiqad (Die Kritik) Fernsehsender al-Manar (Der Leuchtturm) Betätigungsverbot in Deutschland seit 11. November 2008 Das langfristige Ziel der Hizb Allah (Partei Gottes) ist die Zerstörung des Staates Israel und die "Herrschaft des Islam" über Jerusalem. Seit Jahren ist sie für Terroranschläge in Israel verantwortlich. In Deutschland hat sie bislang keine gewaltsamen Aktionen durchgeführt, nutzt aber das Bundesgebiet als Ruheund Rückzugsraum. Die Bestrebungen der Hizb Allah gefährden damit auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland und richten sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Die Hizb Allah (auch: Hisbollah/Hizbollah) ist eine auf Initiative des Irans gegründete schiitische Partei, die seit 1992 im libanesischen Parlament vertreten ist. Sie wird vom Iran finanziell, materiell und ideologisch unterstützt. Sie ist einerseits eine politische Partei, die vor allem aufgrund ihres sozialen Engagements auf die Unterstützung ärmerer Bevölkerungsschichten zählen kann. Andererseits verfügt sie aber nach wie vor über militärische Einheiten, die insbesondere im Süden des Landes unabhängig von der libanesischen Staatsgewalt agieren. Eine Entwaffnung dieser Miliz gemäß der UN-Resolution 1559 aus dem Jahr 2004 gelang bisher nicht und wird vom politischen Flügel der Hizb Allah vehement abgelehnt. Im Mai 2008 hat das libanesische Kabinett der Hizb Allah offiziell "das Recht zum Widerstand gegen Israel" zugestanden. Die schiitische Miliz kann daher ungehindert den Ausbau der Verteidigungsanlagen nördlich der UN-Pufferzone zur Grenze Israels betreiben. Seit Beendigung des Libanonkriegs im Sommer 2006 wird sowohl von der israelischen Seite als auch von der Hizb Allah selbst über eine enorme Aufrüstung der Hizb Allah berichtet. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Islamistische Bestrebungen 51 Die Hizb Allah verbreitet ihre antiisraelische und antijüdische Propaganda u.a. über den libanesischen TV-Sender al-Manar, der auch in Deutschland zu empfangen ist. Da die Tätigkeit des Senders gegen deutsche Strafgesetze verstößt und sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet, wurde der Sender im Oktober 2008 vom Bundesministerium des Innern verboten. Mehrere Indizien deuten darauf hin, dass die Hizb Allah im Verlauf des Jahres an Anschlägen auf israelische Einrichtungen beteiligt war. 52 Ausländerextremismus > PKK-Aktivisten machen auch in Deutschland durch Besetzungsaktionen auf ihre Ziele aufmerksam. > Verurteilung von zwei DHKP-C-Aktivisten aus Augsburg wegen Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung. > Die türkisch-nationalistische Ülkücü-Bewegung mobilisiert Jugendliche über soziale Netzwerke im Internet. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Ausländerextremismus 53 Anhänger extremistischer Gruppierungen aus dem Ausland sind auch in Deutschland aktiv, um die politischen Verhältnisse in ihren Heimatländern antidemokratisch zu verändern. Sie wollen z. B. eigene Staaten gründen, kommunistische Systeme errichten oder vertreten beispielsweise eine extreme Variante des Nationalismus. Neben linksund rechtsextremistischen Gruppierungen gehen Gefahren auch von separatistischen Organisationen aus. Ihre ideologischen Ziele und Motive importieren sie nach Deutschland, zum Teil tragen sie auch hier ihre blutigen Konflikte aus. Die Anhängerschaft dieser Gruppierungen setzt sich neben Ausländern auch aus deutschen Staatsangehörigen mit Migrationshintergrund oder auch aus deutschen Extremisten zusammen. Die Bestrebungen ausländerextremistischer Organisationen richten sich somit gegen den Gedanken der Völkerverständigung und gefährden die Innere Sicherheit, die öffentliche Ordnung sowie die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland. 54 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Ausländerextremismus 1. Personenpotenzial in Bayern Im Jahr 2012 waren dem Spektrum der ausländischen Extremisten (ohne Islamisten) 3.345 Personen (2011: 3.410 Personen) zuzurechnen: 2010 2011 2012 PKK* 1.800 1.800 1.800 Linksextremistische Organisationen 220 220 220 Rechtsextremistische Organisationen 1.250 1.200 1.200 Separatisten 30 30 30 Sonstige 215 160 95 GESAMT 3.515 3.410 3.345 Die Zahlenangaben sind geschätzt und gerundet. * inkl. Nachfolge-, Teilund Nebenorganisationen 2. Gewaltpotenzial Die Aktivitäten der extremistischen Ausländerorganisationen in Deutschland werden im Wesentlichen von politischen Ereignissen und Entwicklungen in den jeweiligen Herkunftsländern beeinflusst. So können aktuelle Konflikte im Ausland auch unmittelbar zu gewaltsamen Aktivitäten in Deutschland führen. Zum Teil tragen die extremistischen Ausländerorganisationen ihre Konflikte hier auch gewalttätig untereinander aus. Vorwiegend betrachten sie Deutschland jedoch als Rückzugsraum, um hier ihre Ziele durch Agitation, Rekrutierung neuer Anhänger und ideologische Indoktrination zu verfolgen. Auch die materielle Unterstützung der Mutterorganisationen in den Heimatländern durch die in Deutschland gesammelten Spendenund Mitgliedsbeiträge spielt für sie eine nicht unerhebliche Rolle. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Ausländerextremismus 55 3. Strukturen 3.1 Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) bzw. Volkskongress Kurdistans (KONGRA GEL), ehemals Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans (KADEK) Anhänger Deutschland: 11.500 Bayern: 1.800 Leitung: Remzi Kartal (Vorsitzender) Abdullah Öcalan (kurdischer Volksführer) Gründung 1978 in der Türkei Publikation Serxwebun (Unabhängigkeit) Die PKK ist in Deutschland seit 26. November 1993 verboten. Der marxistisch-leninistisch orientierte KONGRA GEL ist eine Nachfolgeorganisation und somit identisch mit der in Deutschland seit 1993 verbotenen PKK. In Deutschland hatte sich die PKK bereits 2002 in Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans (KADEK) und 2003 in Volkskongress Kurdistans (KONGRA GEL) umbenannt. Bei keiner dieser Umbenennungen gab es wesentliche Veränderungen in Organisation, Struktur und Ideologie. Der KONGRA GEL richtet sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung und gefährdet die Innere Sicherheit, die öffentliche Ordnung sowie sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland. Die PKK war 1978 von Abdullah Öcalan in Ostanatolien als marxistisch-leninistisch orientierte Organisation gegründet worden. Sie sollte durch einen Guerillakrieg eine Revolution mit dem Ziel eines unabhängigen kurdischen Staates herbeiführen. Über zwei Jahrzehnte lang führte die PKK innerhalb und außerhalb der Türkei terroristische Anschläge durch. Nach der Festnahme des damaligen PKK-Führers Abdullah Öcalan im Jahr 1999 kam es zu einer taktisch bedingten Mäßigung. Zumindest im Ausland wurde auf die Anwendung von Gewalt verzichtet. Die Organisation sah auch von ihrem ursprünglichen Ziel ab, durch bewaffneten Kampf einen eigenen kurdischen Staat durchzusetzen. Ziel ist es 56 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Ausländerextremismus jetzt, einen föderalen Verbund aller Kurden im Nahen Osten herzustellen. Dabei sollen die bestehenden Staatsgrenzen unangetastet bleiben. Strukturen in Bei der PKK handelt es sich um eine Kaderorganisation mit einem Deutschland weit verzweigten Funktionärswesen und strikten Befehlsstrukturen auch in Deutschland. Auf oberster Gliederungsebene ist die Bundesrepublik in die "Serits" Nord, Mitte und Süd unterteilt, denen weitere 28 "Gebiete" untergeordnet sind. An der Spitze dieser hierarchischen Struktur stehen Funktionäre, die in der Regel durch die europäische Leitungsebene der Organisation eingesetzt werden. Die Zuweisung auf die einzelnen Funktionen erfolgt zumeist nur für einen begrenzten Zeitraum. Die hauptamtlichen Kader der PKK sind ideologisch geschult und leben äußerst konspirativ an häufig wechselnden Orten. In den meisten größeren deutschen Städten gibt es Zusammenschlüsse von PKK-Anhängern. Ihnen dienen die örtlichen Vereine des Dachverbandes Föderation kurdischer Vereine in DeutschYEK-KOM land e.V. (YEK-KOM) als Anlaufstelle. Die an die YEK-KOM angegliederten Vereine, die sich nach außen als reine Kulturvereine darstellen, haben die Aufgabe, Ziele und Politik der PKK unter den Anhängern zu verbreiten und zu fördern. Trotz des vereinsrechtlichen Betätigungsverbots gibt es somit weiterhin Aktivitäten der PKK-Anhänger in Deutschland. Ein Nachweis, dass ihre Betätigung der Organisation zuzurechnen ist, lässt sich jedoch oft nur im Einzelfall führen. MedienunterMit den beiden Sendern STERK TV und NUCE TV verfügt die nehmen PKK seit 2012 über zwei eigene Fernsehsender, die auch ihre Anhängerschaft in Deutschland erreicht. Als weiteres Propagandainstrument dient die türkischsprachige Tageszeitung Yeni Özgür Politika (Neue Freie Politik), in der führende PKK-Funktionäre regelmäßig Stellungnahmen publizieren. Aktivitäten im Jahr 2012 Doppelstrategie Bei ihren Aktivitäten verfolgt die PKK weiterhin eine Doppelstrategie. Während sie auf dem Gebiet der Türkei nach wie vor terroristische Aktivitäten verfolgt, nutzt sie das übrige Europa als Rückzugs-, Finanzierungsund Rekrutierungsraum. Allerdings Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Ausländerextremismus 57 hält sie ihre Darstellung als friedliche Organisation nicht immer durch. Offen wahrnehmbar sind Aktivitäten von PKK-Anhängern in Deutschland insbesondere bei Veranstaltungen der Kulturund Brauchtumspflege, wie dem alljährlichen kurdischen Neujahrsfest Newroz. Dass es dabei aber nicht nur um Kulturund Brauchtumspflege, sondern auch um Aktionen zur Unterstützung der PKK geht, zeigen gewaltsame Aktivitäten. Beispielsweise verletzten gewalttätige kurdische Jugendliche Gewalttätige beim Kurdistan-Festival am 8. September in Mannheim 80 PoliAuseinanderzeibeamte. An den Ausschreitungen beteiligten sich in der Spitsetzungen ze bis zu 1.500 gewaltbereite - zumeist jugendliche - Festivalbesucher. Insgesamt nahmen bis zu 40.000 Besucher aus dem gesamten Bundesgebiet und dem benachbarten europäischen Ausland an der von der YEK-KOM organisierten Veranstaltung teil. Der Vorfall in Mannheim zeigt, dass bei einem Teil der jugendlichen PKK-Anhängerschaft ein erhöhtes Gewaltpotenzial vorhanden ist, das von der PKK-Führung nur schwer zu kontrollieren ist. Daneben reagierten kurdische Aktivisten 2012 erneut mit mehreBesetzungsaktionen ren Besetzungsaktionen auf die Isolationshaft von Abdullah Öcalan, der seit Juli 2011 ohne Kontakt zu seinen Anwälten inhaftiert ist. In Deutschland besetzten sie u.a. die Geschäftsstelle der SPD in Darmstadt und einen Fernsehsender in Mannheim. Eine von der "Initiative Freiheit für Öcalan" organisierte europaweite Bustour machte im Oktober in Nürnberg und München Station und mobilisierte für die beiden Veranstaltungen insgesamt rund 320 Personen. Im Jahr 2012 verübte die PKK erneut mehrere terroristische Anschläge, die sich jedoch - ihrer Doppelstrategie folgend - ausschließlich gegen Ziele in der Türkei richteten. Vor dem Hintergrund des Bürgerkrieges in Syrien, der auch Interessen in Syrien lebender Kurden betrifft, sprach sich die YEKKOM gegen eine Einmischung der NATO in den dortigen Konflikt aus. 58 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Ausländerextremismus 3.2 DHKP-C (Revolutionäre VolksbefreiungsparteiFront)/Devrimci Sol (Revolutionäre Linke) Mitglieder Deutschland: 650 Bayern: 100 Gründung 1994 in Syrien Publikationen "Yürüyüs" und "Halk Gercegi" Die DHKP-C ist in Deutschland seit 1998 verboten. Die revolutionär-marxistische DHKP-C zählt zu den militantesten türkischen Extremistengruppen, die mit Hilfe einer bewaffneten Revolution auf die Zerschlagung des türkischen Staates zielen. Ziele ihrer Agitation sind die NATO, die USA sowie die Türkei und ihre Gesellschaftsordnung. Die DHKP-C richtet sich damit gegen den Gedanken der Völkerverständigung und gefährdet die Innere Sicherheit und die öffentliche Ordnung sowie sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland. Die DHKP-C wurde 1994 in Syrien gegründet und ging aus dem "Karatas-Flügel" der Devrimci Sol (Revolutionäre Linke) hervor. Sie versteht sich, wie die Ursprungsorganisation auch, als eine an den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus ausgerichtete Volksbewegung. Die DHKP-C erklärte 1999 für Deutschland einen Gewaltverzicht, wobei jedoch am bewaffneten Kampf in der Türkei festgehalten wurde. Das BMI verfügte 1998 ein Vereinsverbot. Seit 2002 ist die DHKP-C zudem auf der EU-Terrorliste aufgeführt. Verurteilung zweier Trotz dieser Maßnahmen sind Anhänger der DHKP-C auch weiAktivisten aus terhin in Deutschland und Bayern aktiv. Am 23. Mai verurteilte Augsburg das Oberlandesgericht München zwei Aktivisten der DHKP-C aus Augsburg wegen Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung zu einer mehrmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung bzw. zu einer Geldstrafe. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Ausländerextremismus 59 3.3 Türkische Kommunistische Partei/MarxistenLeninisten - Partizan Flügel (TKP/ML - Partizan Flügel) Mitglieder Deutschland: 800 Bayern: 80 Gründung 1994 in der Türkei Publikation MÜCADELE Die TKP/ML - Partizan Flügel vertritt die Ideologie des Marxismus-Leninismus ergänzt um die Ideen Mao Tse-tungs. Sie befürwortet den bewaffneten Kampf und propagiert den bewaffneten Bürgerkrieg. Ziel ist die Errichtung eines kommunistischen Regimes. Die TKP/ML - Partizan Flügel verstößt somit gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Die TKP/ML - Partizan Flügel spaltete sich 1994 aus der bereits seit den 1970er Jahren bestehenden Mutterorganisation TKP/ML ab. Die Anhänger der TKP/ML - Partizan Flügel sind seit Sommer 1997 in den beiden Basisorganisationen Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V. (ATIF) und der Ende 1986 gebilATIF deten Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK) ATIK organisiert. Beide Vereinigungen präsentieren sich als Massenorganisationen und tarnen ihre Verbindungen zur TKP/ML - Partizan Flügel. Die Organisationen beschränken sich in Deutschland auf Propagandaaktivitäten und auf die Beschaffung finanzieller Mittel. Die TKP/ML - Partizan Flügel und ihre deutsche Basisorganisation ATIF veranstalteten am 19. Mai in Ludwigshafen/RheinlandPfalz ihre alljährliche traditionelle Mai-Kundgebung zum Gedenken an ihren im Mai 1973 in türkischer Haft verstorbenen Aktivisten Kaypakkaya. An der Gedenkveranstaltung nahmen auch bayerische Aktivisten der TKP/ML - Partizan Flügel aus dem Raum Augsburg teil. 60 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Ausländerextremismus 3.4 Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) Mitglieder Deutschland: 600 Bayern: 40 Gründung 1994 in der Türkei Publikation Atilim (Angriff) Die MLKP ist marxistisch-leninistisch geprägt und strebt die gewaltsame Zerschlagung der staatlichen Ordnung der Türkei und die Errichtung einer kommunistischen Diktatur an. Die Ziele der MLKP richten sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Die in der Türkei verbotene, terroristische MLKP entstand 1994 aus dem Zusammenschluss zweier türkischer linksextremistischer Organisationen. Ihre Basisorganisation ist die Föderation der Arbeiterimmigranten aus der Türkei in DeutschAGIF land e.V. (AGIF) mit Sitz in Köln. Die örtlichen AGIF-Vereine in Deutschland sind zuständig für die politische Basisarbeit. Ihr europäischer Dachverband trägt den Namen Konföderation der AvEG-KON unterdrückten Migranten in Europa (AvEG-KON). In jüngster Zeit gelang es der MLKP, ihre Mobilisierungsfähigkeit in Bayern weiter zu steigern. Am 27. April startete die Jugendorganisation der MLKP "Young Struggle" in mehreren Bundesländern eine mehrwöchige Kampagne zugunsten eines inhaftierten Aktivisten. Die Kampagne wurde gemeinsam mit deutschen Linksextremisten, insbesondere der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD), durchgeführt. Der 19-jährige Young Struggle-Aktivist hatte bei Ausschreitungen anlässlich einer Demonstration am 31. März in Nürnberg unter dem Motto "Nazistrukturen bekämpfen! Verfassungsschutz abschaffen! Antifa in die Offensive!" Polizeibeamte mit einer angespitzten Fahnenstange attackiert und dabei vor allem auf den Brust-, Halsund Kopfbereich gezielt. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Ausländerextremismus 61 3.5 Türkisch-Nationalistische Ülkücü-Bewegung/ ADÜTDF Mitglieder Deutschland: 10.000 Bayern: 1.200 Vorsitzender Sentürk Dogruyol Gründung 1978 Sitz Frankfurt am Main Publikation Türk Federasyon Bülteni Die nationalistische Ülkücü-Bewegung vertritt eine extreme Variante des türkischen Nationalismus, und ist damit Teil der weltweit organisierten türkischen Idealisten-Bewegung. Durch ihr teilweise extrem nationalistisches Gedankengut verfolgt die Bewegung - deren Träger in Deutschland die TÜRK FÖDERATION (ADÜTDF) ist - Bestrebungen, die sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung oder das friedliche Zusammenleben der Völker richten. Vereinzelt finden sich auch islamistische Ansätze. Die Ülkücü-Bewegung umfasst ein breites Spektrum ultranatioGraue Wölfe nalistischen und rassistischen Gedankenguts. Symbol der Bewegung ist ein mit fünf Fingern stilisierter Wolfskopf, weshalb die Anhänger der Bewegung auch als Graue Wölfe bezeichnet werden. Die Anhängerschaft der Ülkücü-Bewegung in Deutschland ist in so genannten Kulturund Idealisten-Vereinen der ADÜTDF organisiert. Die ADÜTDF wurde 1978 in Frankfurt am Main durch den Zusammenschluss von zahlreichen türkischen Vereinen gegründet. Sie gilt seit ihrer Gründung als Auslandsorganisation der türkischen Partei der Nationalen Bewegung (MHP), dem politischen Arm der Ülkücü-Bewegung in der Türkei. Die ADÜTDF hat es sich zum Ziel gesetzt, die größte türkische Organisation in Westeuropa zu werden. Seit geraumer Zeit bemüht sich die Parteiführung, der MHP ein konservatives und europafreundliches Erscheinungsbild zu geben. Dies findet jedoch nicht die ungeteilte Zustimmung der Mitglieder, weshalb sich insbesondere jugendliche Aktivisten aus der Partei zurückziehen. 62 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Ausländerextremismus Jugendbewegung Die rechtsextremistische Ülkücü-Jugendbewegung ist mittlerweile überwiegend über das Internet organisiert, sie kommuniziert und mobilisiert vorwiegend über soziale Netzwerke. Hierbei lässt sich eine erhöhte Gewaltbereitschaft, insbesondere gegen die kurdische Volksgruppe, erkennen. Einschlägige Symbole der Ideologie werden mit Musik und aggressiven Texten unterlegt. Dabei werden zumeist Kurden als Feinde verbal verunglimpft und das Türkentum besonders hervorgehoben. Obwohl sich die Ülkücü-Jugendbewegung eher organisationsunabhängig gibt, bedienen sich Anhänger dennoch der eindeutigen Symbolik und verwenden beispielsweise ein Wolfskopf-Handzeichen als Gruß, der unverkennbar die Szenezugehörigkeit zeigt. Regionale In Bayern ist die ADÜTDF vor allem mit kulturellen, religiösen Schwerpunkte und sportlichen Veranstaltungen aktiv. Schwerpunkte sind die in München, Ballungsräume München, Nürnberg und Augsburg. Sowohl in Nürnberg Nürnberg als auch in München kam es jedoch während Demonsund Augsburg trationen zu einem gewaltsamen Aufeinandertreffen von PKKJugendlichen und jungen Ülkücü-Anhängern. Nur auf Grund eines massiven Polizeiaufgebots konnten Ausschreitungen verhindert werden. 3.6 Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) Mitglieder Deutschland: 800-1.000 Bayern: 30 Gründung 1972 in Sri Lanka Wirkungsbereich Terrororganisation auf Sri Lanka mit dem Ziel eines unabhängigen tamilischen Staates (Tamil Eelam) Bei der LTTE handelt es sich um eine paramilitärische Separatistenorganisation auf Sri Lanka. Der Rat der Europäischen Union stufte die LTTE 2006 offiziell als Terrororganisation ein. Die in Deutschland lebenden aktiven LTTE-Anhänger verfolgen Bestrebungen, die durch Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden und gegen das friedliche Zusammenleben der Völker gerichtet sind. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Ausländerextremismus 63 Die LTTE befindet sich derzeit in einem Restrukturierungsprozess. Bis zu ihrer militärischen Zerschlagung 2009 kämpfte die LTTE gewaltsam für einen autonomen Staat im Norden und Osten der Inselrepublik Sri Lanka, wo der größte Teil der tamilischen Minderheit lebt. Im Rahmen der organisatorischen Erneuerung haben sich in "Hardliner" und Deutschland verschiedene Flügel gebildet: Während die so ge"Moderate nannten "Hardliner" auf die Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes in Sri Lanka setzen, wollen die "Moderaten" die Umwandlung der LTTE in eine demokratische und gewaltfreie Bewegung. Der Konflikt zwischen diesen beiden Flügeln wird auch gewaltsam ausgetragen, wie bereits der Brandanschlag auf das Wohnanwesen einer Führungsperson des moderaten Flügels im November 2011 in Mönchengladbach gezeigt hat. Rund ein Jahr später wurde in Paris der Chef der "Hardliner-Sektion" ermordet. Die LTTE-Sektion Deutschland setzt sich aus konspirativen Zellen Struktur in zusammen, die sich nach außen hin völlig abschotten. Unter Deutschland ihrem eigentlichen Namen tritt die LTTE in Deutschland öffentlich nicht auf. Ihre Ziele und Interessen werden hier durch das "Tamil Coordination Committee" (TCC) mit Sitz in Oberhausen/Nordrhein-Westfalen vertreten. Das TCC trägt durch regelmäßige Helden-Gedenktage, Mahnwachen und sonstige Kulturveranstaltungen zur Verbreitung der Ideologie der LTTE bei und möchte die Öffentlichkeit auf die aus ihrer Sicht desolate Situation in Sri Lanka aufmerksam machen. Räumliche Schwerpunkte der TCCAnhängerschaft in Bayern sind die Ballungsräume München und Nürnberg. 64 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus Rechtsextremismus > Der Bundesrat hat beschlossen, ein Verbotsverfahren gegen die NPD zu beantragen. > Der Generalbundesanwalt hat Anklage gegen Beate Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer des NSU erhoben. > Die Neonazi-Szene in Bayern versucht, durch die Gründung von Tarnorganisationen und Bürgerinitiativen an Akzeptanz zu gewinnen. > Das Freie Netz Süd weitet seinen Einfluss aus. > Die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten ist von 57 im Jahr 2011 auf 65 im Jahr 2012 gestiegen. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 65 Rechtsextremismus hat viele verschiedene Ausprägungen: Parteien kämpfen um Einfluss in Parlamenten. Ideologen versuchen, rassistisches und nationalistisches Gedankengut intellektuell zu verpacken. Antisemiten schreiben der Existenz von Juden die Ursache aller Probleme zu. Neonazis bekennen sich offen zum Nationalsozialismus und treten aggressiv und kämpferisch auf. Daneben versuchen sie durch die Gründung von Tarnorganisationen, ihre wahren Absichten zu verschleiern. Kennzeichnend für alle rechtsextremistischen Strömungen sind jedoch die übersteigerte Betonung der Nation sowie ein autoritäres Denken, das die "Volksgemeinschaft" über das Individuum stellt. Gemeinsames Ziel ist die Abschaffung zentraler Werte unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung, beispielsweise das Recht auf Wahlen. Darüber hinaus richten sich rechtsextremistische Bestrebungen gegen die universelle Geltung der Menschenrechte und die im Grundgesetz verankerte Gleichheit der Menschen. Das rechtsextremistische Weltbild geht davon aus, dass die Zugehörigkeit zu einer "Rasse" den Wert eines Menschen bestimmt. Die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) hat die besondere Gefährlichkeit der Szene und die Notwendigkeit eines entschiedenen Vorgehens gegen rechtsextremistische Bestrebungen bestätigt. 66 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 1. Personenpotenzial in Bayern 2010 2011 2012 Parteien NPD 900 900 850 DVU 400 300 -1 Subkulturell geprägte 300 300 300 Rechtsextremisten Neonazis 2 700 700 700 Sonstige rechtsextremistische 300 400 500 Organisationen/Personen SUMME 2.600 2.600 2.350 Mehrfachmitgliedschaften 3 100 150 150 GESAMT 2.500 2.450 2.200 davon gewaltorientiert 4 1.000 1.000 1.000 Die Zahlenangaben sind geschätzt und gerundet. 1 Die DVU hat sich Ende 2010 mit der NPD zur Partei "NPD - Die Volksunion" vereinigt. Die Fusion ist seit 2012 rechtskräftig. 2 Nach Abzug von Mehrfachmitgliedschaften innerhalb der Neonazi-Szene. 3 Die Mehrfachmitgliedschaften im Bereich der Parteien und sonstiger rechtsextremistischer Organisationen und Gruppierungen werden vom Gesamtpotenzial abgezogen. 4 Dazu zählen gewalttätig, gewaltbereit, gewaltunterstützend und gewaltbefürwortend. 2. Gewaltpotenzial Innerhalb der rechtsextremistischen Szene sind insbesondere Neonazis und Neonazis und Skinheads gewaltbereit. Die Gewalttaten reichen Skinheads von Übergriffen auf Minderheiten bis zu terroristischen Gewalttaten. Ursache ist das rassistische Menschenbild der Rechtsextremisten, das den Einzelnen allein nach seiner ethnischen Herkunft beurteilt. Beispiele hierfür waren bereits in den 1990er Jahren die rassistischen Übergriffe in Mölln, Solingen und RostockLichtenhagen. Zu dieser Zeit wurde die rechtsextremistische Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 67 Szene jünger, aktionistischer und militanter. Innerhalb der Szene kursierten Texte, die zum bewaffneten Kampf aufriefen, wie beispielsweise "The Turner Diaries" des US-amerikanischen Rechtsextremisten und Verlegers William Pierce, in denen er den Rassenkrieg propagierte. Die Mehrzahl der rechtsextremistischen Gewalttaten wird spontan verübt. Beispielsweise wurde am 8. Januar in einer Münchner Straßenbahn ein Fahrgast niedergeschlagen, nachdem dieser zwei junge Männer aufgefordert hatte, das Grölen fremdenfeindlicher Parolen zu unterlassen. Rechtsextremistisch motivierte Gewalt richtet sich darüber hinaus auch gegen den politischen Gegner, insbesondere gegen Personen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren sowie gegen linksextremistische Antifaschisten. Eine weitere Gefahr birgt die Neigung von Rechtsextremisten zu Waffen und Sprengstoff. Ansätze bzw. tatsächliche Gründungen rechtsterroristischer Rechtsterrorismus Organisationen in Deutschland finden sich seit den 1970er Jahren, z.B. die Wehrsportgruppe Hoffmann (1974), die Deutschen Aktionsgruppen (1979/1980) und die Hepp-Kexel-Gruppe (1982). Im Jahr 2005 wurden Aktivisten der Kameradschaft Süd sowie deren Anführer Martin Wiese u.a. wegen Bildung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Sie hatten einen Anschlag gegen das jüdische Kulturzentrum in München geplant. Rechtsterroristische Taten können - insbesondere wenn sie von Einzelpersonen oder Kleinstgruppen begangen werden - zu keiner Zeit ausgeschlossen werden. Dies haben in jüngerer Zeit insbesondere die Taten des Nationalsozialistischen Untergrunds sowie auch die Breivik-Attentate in Norwegen im Jahr 2011 verdeutlicht. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beobachtet die aktuellen Entwicklungen und gibt seine Erkenntnisse an die zuständigen Sicherheitsbehörden weiter, sobald Hinweise auf eine Radikalisierung oder Bewaffnung der rechtsextremistischen Szene bekannt werden. Dazu hat das Bayerische LandesBeobachtung amt für Verfassungsschutz die Beobachtung von gewaltorientiergewaltorientierter ten Personen und Gruppen in einem eigenen Referat gebündelt. Personen 68 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus Außerdem wurde die präventive Arbeit nochmals - auch personell - verstärkt. 2.1 Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) Die rechtsterroristische Vereinigung Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) um die drei Rechtsextremisten Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe hat zwischen September 2000 und April 2007 bundesweit insgesamt zehn Personen ermordet. Drei dieser Taten wurden 2000, 2001 und 2005 in Nürnberg und zwei 2001 und 2005 in München begangen. Der Gruppierung werden weitere rechtsextremistisch motivierte Sprengstoffanschläge und eine Vielzahl von Banküberfällen zugerechnet. Trotz umfangreicher Ermittlungen war es über Jahre hinweg nicht gelungen, die Täter zu ermitteln. Erst als durch Fahndungsmaßnahmen infolge eines Banküberfalls am 4. November 2011 in Eisenach (Thüringen) Mundlos und Böhnhardt erschossen in einem von der Polizei umstellten Wohnmobil aufgefunden wurden und ein Wohnhaus in Zwickau (Sachsen) in die Luft gesprengt wurde, konnte die Verbindung zur so genannten "Zwickauer Zelle" hergestellt werden. Neben Mundlos und Böhnhardt konnte Beate Zschäpe als dritte Beteiligte identifiziert werden. Sie stellte sich nach mehrtägiger Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 69 Flucht am 8. November 2011 der Polizei und befindet sich seitdem in Untersuchungshaft. Im Rahmen der Ermittlungen konnten auch Verbindungen des NSU zu weiteren Personen aus der rechtsextremistischen Szene festgestellt werden. Sie stehen im Verdacht, Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe während der Zeit des Untertauchens unterstützt zu haben. Der Generalbundesanwalt hat am 8. November vor dem StaatsAnklageerhebung schutzsenat des Oberlandesgerichts München Anklage gegen durch GeneralBeate Zschäpe und vier mutmaßliche Unterstützer und Gehilfen bundesanwalt des NSU erhoben. Zschäpe wird vorgeworfen, sich als Gründungsmitglied des NSU in Mittäterschaft an der Ermordung von acht Mitbürgern türkischer und einem Mitbürger griechischer Herkunft, dem Mordanschlag auf zwei Polizeibeamte in Heilbronn sowie an den versuchten Morden durch zwei Sprengstoffanschläge 2001 und 2004 in Köln beteiligt zu haben. Darüber hinaus ist sie hinreichend verdächtig, als Mittäterin für 15 bewaffnete Raubüberfälle verantwortlich zu sein. Des Weiteren wird ihr zur Last gelegt, die Wohnung des NSU in Zwickau in Brand gesetzt und dadurch einen weiteren Mordversuch an einer Nachbarin und zwei im Haus befindlichen Handwerkern begangen zu haben. Zwei weitere Personen wurden wegen des Verdachts der Beihilfe Verdacht der zum Mord angeklagt. Ihnen wird vorgeworfen, die Waffe besorgt Beihilfe zum Mord zu haben, mit der die neun Mitbürger ausländischer Herkunft ermordet wurden. Darüber hinaus wurde gegen eine Person wegen Beihilfe zu einem Sprengstoffanschlag, Beihilfe zum Raub und der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung sowie eine weitere Person wegen der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung Anklage erhoben. Der 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München hat die Anklage mit Beschluss vom 31. Januar 2013 zur Hauptverhandlung zugelassen sowie die Haftfortdauer hinsichtlich Zschäpe und einer weiteren Person angeordnet. Die Ermittlungen der Bundesanwaltschaft und des Bundeskriminalamtes haben ergeben, dass der NSU aus den drei Rechtsextremisten Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe bestanden hat. Diese 70 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus haben die Gruppierung nach ihrem Untertauchen im Jahr 1998 gegründet. Tatsächliche konkrete Anhaltspunkte für eine Beteiligung ortskundiger Dritter an den Anschlägen oder eine organisierte Verflechtung mit anderen Gruppierungen haben sich bis jetzt nicht ergeben. Gegen weitere acht Personen, die als Unterstützer des NSU verErmittlungsverfahdächtigt werden, dauern die Ermittlungen an. Derzeit kann noch ren gegen weitere nicht abschließend beurteilt werden, ob sie die Gruppierung in Verdächtige Kenntnis der terroristischen Zielrichtung des NSU unterstützt haben. Reaktionen der rechtsextremistischen Szene in Bayern Auf die Anklageerhebung reagierte die rechtsextremistische Szene in Bayern bislang verhalten. Solidaritätsbekundungen bayerischer Rechtsextremisten mit Zschäpe sowie den weiteren mutmaßlichen Unterstützern bzw. Gehilfen blieben weitgehend aus. Die Gewaltverbrechen des NSU stießen nach ihrem Bekanntwerden im November 2011 innerhalb der rechtsextremistischen Szene weitgehend auf Ablehnung. Diese Distanzierungen waren jedoch unterschiedlich motiviert und mitunter von taktischen Überlegungen geprägt. So bemängelten Neonazis beispielsweise vorrangig die unzureichende Vermittelbarkeit der Taten, ohne jedoch die Taten selbst zu verurteilen. Maßnahmen der Sicherheitsbehörden Gemeinsames Nach Bekanntwerden der Mordserie der "Zwickauer Zelle" Abwehrzentrum haben Bund und Länder ein umfangreiches Maßnahmenpaket gegen Rechtsextrebeschlossen. So wurde zur Verbesserung der Zusammenarbeit mismus (GAR) von Polizei und Nachrichtendiensten bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus das Gemeinsame Abwehrzentrum gegen Rechtsextremismus (GAR) geschaffen, das im Dezember 2011 seine Arbeit aufgenommen hat. Das GAR wurde nach dem Vorbild des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums (GTAZ) errichtet, das bereits seit dem Jahr 2004 als erfolgreiches Modell für die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden zur Bekämpfung des islamistischen Terrorismus besteht. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz hat einen ständigen Vertreter in das GAR entsandt. Aus dem GAR hat sich inzwischen das Ge- Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 71 meinsame Extremismusund Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) entwickelt; es wurde am 15. November in Betrieb genommen und um die Bereiche Ausländerextremismus/-terrorismus, Linksextremismus/-terrorismus und Spionage/Proliferation erweitert. Geschaffen wurde zudem eine Rechtsextremismusdatei als neue Verbunddatei von Polizei und Verfassungsschutz, die die Datenbestände von Polizei und Verfassungsschutz über gewaltbezogene Rechtsextremisten zusammenführt. Untersuchungsausschüsse Zur politischen Aufarbeitung der Mordserie hat der Deutsche Politische Bundestag am 26. Januar die Einsetzung eines UntersuchungsAufarbeitung in ausschusses beschlossen. Neben den Landtagen in Thüringen Untersuchungsund Sachsen hat auch der Bayerische Landtag einen Unterausschüssen suchungsausschuss eingesetzt; dieser hat am 5. Juli seine Arbeit aufgenommen. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, die durch den NSU in Bayern begangenen Morde aufzuarbeiten sowie darüber hinaus ein mögliches Fehlverhalten bayerischer Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit der Beobachtung rechtsextremistischer Strukturen und Aktivitäten in Bayern zu untersuchen. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz beteiligt sich umfassend an der Aufarbeitung durch die Untersuchungsausschüsse des Bayerischen Landtags und des Deutschen Bundestages. Die Untersuchungsausschüsse in Thüringen und Sachsen werden ebenfalls unterstützt. Außerdem unterstützt es im Rahmen des von der Generalbundesanwaltschaft eingeleiteten Verfahrens die Ermittlungsbehörden intensiv bei der Aufklärung der Morde. Bislang konnten keine tatsächlichen konkreten Erkenntnisse gewonnen werden, dass das Trio zur Vorbereitung seiner Taten Helfer oder Mitwisser aus der rechtsextremistischen Szene in Bayern hatte. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe waren Mitglieder der rechtsextremistischen Gruppierung Thüringer Heimatschutz (THS). Vor dem Untertauchen des Trios haben einzelne bayerische Rechtsextremisten an Veranstaltungen des THS teilgenommen. Zudem haben einzelne Mitglieder des Trios damals bundesweite Veranstaltungen der Szene, auch in Bayern, be- 72 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus Frühere sucht. Zwischenzeitlich wurden einige frühere Verbindungen von Verbindungen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe - vor ihrem Untertauchen im nach Bayern Jahr 1998 - zu bayerischen Rechtsextremisten bekannt. 2.2 Rechtsextremistisch motivierte Strafund Gewalttaten Straftaten mit extremistischem 2010 2011 2012 Hintergrund aus dem Bereich "Politisch motivierte Kriminalität - rechts" Tötungsdelikte (auch Versuch) 1 0 0 Körperverletzungen 51 50 62 Brandund Sprengstoffdelikte 0 2 0 Landfriedensbruch 0 1 0 Erpressung 1 0 1 sonstige Gewalttaten 5 4 2 gesamt 58 57 65 Terrorismus Kriminelle/Terroristische Vereinigung 0 0 1 gesamt 0 0 1 sonstige Straftaten Sachbeschädigungen 85 93 115 Propagandadelikte 1.116 1.125 1.214 sonstige Straftaten 63 80 127 Nötigung/Bedrohung 17 15 20 Volksverhetzung 174 196 217 gesamt 1.455 1.509 1.693 Straftaten insgesamt 1.513 1.566 1.759 Gewalttaten Zunahme der In Bayern wurden im Jahr 2012 65 rechtsextremistisch motivierte Gewaltdelikte Gewaltdelikte registriert (2011: 57). Dabei handelt es sich überwiegend um Körperverletzungsdelikte. Bayern gehört beim Vergleich der Häufigkeitszahlen der vergangenen Jahre - bezogen auf jeweils 100.000 Einwohner - stets zu den drei am wenigsten belasteten Bundesländern. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 73 Von den 65 Gewalttaten waren 31 (2011: 24) allgemein neonazistisch motiviert; 15 dieser Delikte waren gegen den politischen Gegner gerichtet (2011: 16). 33 (2011: 31) Gewalttaten waren fremdenfeindlich motiviert. Einem Gewaltdelikt lag eine antisemitische Motivation zugrunde (2011: 2). Insgesamt konnten 52 Gewalttaten aufgeklärt werden, dabei wurden insgesamt 67 Tatverdächtige ermittelt, darunter fünf Frauen. 41 der Tatverdächtigen sind erstmals straffällig geworden. Wie im Jahr 2011 gehört mit 41 Personen die überwiegende Zahl der Tatverdächtigen der Altersgruppe über 21 an, 22 der Tatverdächtigen gehören zur Altersgruppe 17 bis 21 Jahre, vier Tatverdächtige waren noch jünger. Sonstige Straftaten In Bayern wurden 2012 insgesamt 1.693 (2011: 1.509) sonstige rechtsextremistische Straftaten (ohne Gewalttaten) gezählt. Davon waren 1.354 neonazistisch (2011: 1.249), 182 fremdenfeindlich (2011: 158) und 157 antisemitisch motiviert (2011: 102). In den meisten Fällen handelte es sich um Propagandadelikte (1.214; 2011: 1.125), aber u.a. auch um Volksverhetzung (217; 2011: 196) und Sachbeschädigungen (115; 2011: 93). Beispielsweise wurden Hakenkreuze auf Wände und Fahrzeuge gesprüht bzw. geritzt, Parolen wie "Heil Hitler" und "Sieg Heil" gerufen und antisemitische Schriften verbreitet. Neonazis verwenden z.B. auf dem Display ihres Mobiltelefons NS-Symbole als Standard-Einstellung und nutzen das Short-Message-System (SMS) sowie den Multimedia Messaging Service (MMS), um neonazistische Grafiken, Filme und Lieder zu Propagandazwecken an andere Handy-Besitzer zu übermitteln. Durch rechtsextremistisch motivierte Ausschreitungen und Rückgang des Schmierereien entstand im Jahr 2012 ein Sachschaden von rund Sachschadens 316.000 Euro (2011: etwa 419.000 Euro). 74 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 3. Rechtsextremistische Themenfelder Rechtsextremisten versuchen, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft unter Herausstellung angeblich positiver Leistungen zu rechtfertigen, Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime zu diffamieren und die Verbrechen des Dritten Reichs zu verschweigen, zu verharmlosen oder sogar zu leugnen. Zusätzlich verunglimpfen sie den demokratischen Verfassungsstaat und seine Repräsentanten, indem sie beispielsweise Deutschland als Marionettenstaat ausländischer, insbesondere US-amerikanischer Interessen darstellen. Deutsche Politiker diffamieren sie dabei regelmäßig als korrupte Handlanger ausländischer Interessen. Hinter dieser Darstellung verbergen sich meist Antiamerikanismus und Antisemitismus als weitere Merkmale rechtsextremistischer Propaganda. Die eigene Organisation und ihre Vertreter sollen als die alleinigen Wahrer der Interessen des deutschen Volkes dargestellt und der politische Gegner als Verräter, der mit krimineller Energie systematisch den Interessen der Bürger schadet, diskreditiert werden. Rechtsextremisten lehnen die Kernbereiche der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ab. Nutzung Neben typischen rechtsextremistischen Themen treten seit einisozialer Themen gen Jahren in der Propaganda von Rechtsextremisten sozialund wirtschaftspolitische Themen in den Vordergrund. Durch Verknüpfung sozialer Problemfelder mit rechtsextremistischen Theorie-Elementen wollen sie aus den Sorgen der Bevölkerung um ihre soziale Sicherheit Kapital schlagen. Teile des rechtsextremistischen Spektrums propagieren einen "volksbezogenen Sozialismus" mit dem Ziel, in sozialistisch orientierte Wählerschichten einzudringen. Islamfeindlichkeit Zudem gewinnt in der rechtsextremistischen Szene die Islamfeindlichkeit an Bedeutung. Rechtsextremisten lehnen den Islam bzw. Muslime als "undeutsch" ab und sprechen ihnen das Recht als gleichwertige Menschen ab. Sie unterstellen ihnen eine pauschale Minderwertigkeit und fordern beispielsweise, Muslimen bestimmte Grundrechte gar nicht oder nur eingeschränkt zuzu- Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 75 gestehen. Auf diese Weise wollen sie - z.B. bei Diskussionen um den Bau von Moscheen - Ängste vor einer Überfremdung wecken oder Vorurteile gegenüber Muslimen und dem Islam schaffen bzw. verstärken. Muslime werden pauschal als Bedrohung der Inneren Sicherheit dargestellt. Auch Diskussionen um den Bau von Moscheen werden gezielt für rechtsextremistische Agitation genutzt. Islamfeindliche Agitation beschränkt sich nicht nur auf den Rechtsextremismus. Insbesondere gibt es Personenkreise, die islamgläubigen Menschen nicht die im Grundgesetz verankerte Religionsfreiheit zugestehen. Sie setzen den Islam als Weltreligion pauschal gleich mit Islamismus und islamistischem Terrorismus. Zwar sind Muslime für solche Gruppierungen - anders als typischerweise für Rechtsextremisten - keine minderwertigen Menschen, die Religion des Islam sehen sie aber als faschistische Ideologie an, von der eine erhebliche Gefahr für unsere Gesellschaft ausgehe. Im Internet gibt es eine zunehmende Anzahl von Weblogs, auf denen islamfeindliche Meinungen verbreitet werden. Dabei sind die von den Betreibern verfolgten Ziele oft nicht eindeutig erkennbar, insbesondere weil anonyme Beiträge in Weblogs und Foren nicht automatisch den Betreibern zurechenbar sind. Ausschlaggebend ist jedoch, ob und inwieweit die Betreiber selbst extremistische Ziele verfolgen. 4. Rechtsextremistische Aktionsformen 4.1 Autonome Nationalisten Um Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner oder der Polizei zu vermeiden, nähern sich Teile der rechtsextremistischen Jugend-Szene in ihrem Auftreten der linksextremistischen Szene an. Zum Outfit dieser Autonomen Nationalisten (AN) gehören beispielweise schwarze Kapuzen-Pullis, Sonnenbrillen, Basecaps und Hiphop-Hosen. Im Vergleich zu rechtsextremistischen 76 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus Parteien sind die Aktionsformen der zur Neonazi-Szene gehöProvokantes renden AN wesentlich provokanter. Ihr militantes bzw. martialiAuftreten sches Auftreten bei Demonstrationen ähnelt stark dem Schwarzen Block der linksextremistischen Autonomen. Damit kommen sie gerade bei Jugendlichen gut an, die so ihre - gesellschaftlich geächtete - rechtsextremistische Einstellung gut verstecken können. Auch wenn die Übernahme des äußeren Erscheinungsbildes der AN zunimmt, gibt es in Bayern nur wenige Gruppen, die sich selbst den AN zurechnen. 4.2 Die Unsterblichen Die Neonazi-Szene hat sich mit Fackelmärschen der so genannten Unsterblichen eine Möglichkeit geschaffen, spontan und in der Regel unerkannt auf sich aufmerksam zu machen. Dabei treffen sich mit weißen Masken vermummte Rechtsextremisten mit Fackeln und Pyrotechnik an einem konspirativen Ort, um für kurze Zeit in kleinen Gruppen durch Wohngebiete zu marschieren und rechtsextremistische Parolen zu skandieren. Professionell aufbereitete Videos dieser Aktionen erwecken im Nachhinein den Anschein, dass die Rechtsextremisten unbehelligt und in großer Anzahl durch die Städte marschieren konnten. Diese Videos werden im Internet verbreitet und sollen insbesondere Jugendliche ansprechen. In Bayern wurden bisher zwar keine entsprechenden Aktionen bekannt. Allerdings gibt es einzelne rechtsextremistische Gruppierungen, die bereits versuchten, die Aktionsformen der "Unsterblichen" zu kopieren. 4.3 Rechtsextremistische Bürgerinitiativen Ziel: Politische In Bayern zeichnet sich der Trend ab, dass Rechtsextremisten Alternative Bürgerinitiativen gründen, um auch außerhalb der NPD politisch zur NPD Einfluss nehmen zu können. Insbesondere die Behandlung bürgernaher Themen und lokaler Probleme soll "Volksnähe" zeigen. Die politischen Lösungsvorschläge orientieren sich jedoch deutlich an der rechtsextremistischen Ideologie. Durch die Bezeichnung als "Bürgerinitiative" wollen Rechtsextremisten ihre eigentliche Gesinnung verschleiern und sich als wähl- Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 77 bare politische Alternative präsentieren. Um mehr Rechtssicherheit zu erlangen, streben sie die Eintragung der Bürgerinitiativen im Vereinsregister an, um durch die Anerkennung der Gemeinnützigkeit steuerliche Vorteile zu erlangen. 5. Internet und Musik 5.1 Rechtsextremisten im Internet Rechtsextremisten nutzen intensiv das Internet als Propaganda-, Rekrutierungsund Koordinierungsmedium. Alle wesentlichen rechtsextremistischen Parteien, Organisationen und Kameradschaften betreiben eine eigene Homepage. Insgesamt bewegt sich die Zahl der von deutschen Rechtsextremisten betriebenen Homepages mit etwa 1.000 Seiten seit Jahren auf konstant hohem Niveau; dabei werden aber regelmäßig Seiten vom Netz genommen und andere eingestellt. Daneben verbreiten Rechtsextremisten ihr Gedankengut über Nutzung grundsätzlich unpolitische Plattformen wie Facebook, Google+ unpolitischer oder YouTube. Nach und nach gewinnen aber auch szeneinterne Plattformen Foren, Chat-Rooms und Netzwerke an Bedeutung. Rechtsextremisten nutzen auch den Kurznachrichtendienst Twitter, um z.B. die Szene über aktuelle Demonstrationen und Veranstaltungen zu informieren. In Chat-Foren und auf Webseiten greifen Rechtsextremisten oft ihren "politischen Gegner" an. "Linke" Aktivisten werden namentlich erwähnt oder Personen geoutet und bedroht, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Von diesen Outing-Aktionen sind sowohl Mitglieder bürgerlicher Bündnisse als auch Journalisten, Gewerkschaftler oder Lokalpolitiker betroffen. Aufgrund der intensiven Nutzung des Internets durch Rechtsextremisten hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz Verstärke die Internetaufklärung weiter intensiviert und hierfür einen eigeInternetaufklärung nen Arbeitsbereich eingerichtet. 78 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 5.2 Rechtsextremistische Musik Rechtsextremistische Musik ist - zusammen mit sozialen Erfahrungen und gemeinsamen Erlebnissen - ein wesentliches Eintrittstor in die rechtsextremistische Szene. Rechtsextremisten nutzen Musik, um Jugendliche mit rechtsextremistischem Gedankengut in Kontakt zu bringen und sie für die Szene zu gewinnen (Wir-Gefühl). Vor allem die NPD bzw. ihre Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten sowie die Neonazi-Szene versuchen immer wieder, durch Verteilaktionen von so genannten SchulhofCDs gezielt Nachwuchs zu gewinnen. Das Angebot an rechtsexVerschiedene tremistischer Musik ist hinsichtlich Qualität, Stil und Zielrichtung Stilrichtungen größer geworden und reicht von Skinhead-Musik und Balladensängern über Black Metal, Hatecore und Neofolk bis hin zu HipHop und Techno. Rechtsextremistische Musik wird live auf Veranstaltungen rechtsextremistischer Organisationen und Parteien sowie auf Skinhead-Konzerten im Inund Ausland gespielt. Sie dienen den Teilnehmern als Plattform für soziale Kontakte und ermöglichen es, ein Netzwerk persönlicher Beziehungen aufzubauen und zu pflegen. Das Hauptmotiv rechtsextremistischer Musiker für ihre Bandprojekte ist die Verbreitung rechtsextremistischer Propaganda, da sie trotz der zum Teil professionellen Vermarktung von Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 79 ihrer Musik kaum leben können. Die Gage für einen Konzertauftritt deckt in der Regel nicht die entstandenen Kosten. Für rechtsextremistische Bands bieten Konzerte die Möglichkeit, ihren Bekanntheitsgrad zu erhöhen und für Tonträger und MerchandisingArtikel zu werben. Wesentlich einträglicher sind der Verkauf und Vertrieb von Tonträgern, die über Versandhandel, Verkaufsstände auf rechtsextremistischen Veranstaltungen oder das Internet verbreitet und vermarktet werden. Das Internet bietet darüber hinaus zahlreiche Möglichkeiten, rechtsextremistische Musik einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Musikclips werden zum Download oder auf Video-Portalen zur Verfügung gestellt. In Bayern waren im Jahr 2012 folgende elf Skinhead-Bands Skinhead-Bands aktiv: in Bayern - Burning Hate (Raum Oberfranken) - Codex Frei (Kempten) - Faustrecht (Mindelheim) - Feldherren (München) - National Born Haters (Neu-Ulm) - Noise of Hate (Amberg) - MPU (Raum Hof) - Southern White Punks (Raum Augsburg) - Sturmtrupp (Neuburg a. d. Donau) - Untergrundwehr (Würzburg) - White Rebel Boys (Raum Hof) Rechtsextremistische Konzerte werden von den Veranstaltern in der Regel konspirativ vorbereitet, um ein Einschreiten der SicherKonspirative heitsbehörden zu verhindern. Die Mobilisierung findet szeneinVorbereitung tern über SMS oder Mund-zu-Mund-Propaganda statt. Mit Vorder Konzerte trefforten, SMS-Mobilisierung und der Deklarierung eines Konzerts als private Geburtstagsfeier soll die störungsfreie Durchführung ermöglicht werden. Diese geheime Vorbereitung übt auf Jugendliche einen zusätzlichen Reiz aus. Veranstalter - es handelt sich dabei meistens um langjährige Aktivisten - erlangen bei der erfolgreichen Durchführung eines Konzerts innerhalb der Szene viel Anerkennung. Kommerzielle Interessen spielen dabei eine untergeordnete Rolle, da die Konzertveranstalter mit den erhobenen Eintrittsgeldern in der Regel gerade die Kosten für Saalmiete und Bandgagen decken können. 80 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus Aufgrund des intensiven Überwachungsdrucks der Sicherheitsbehörden und des damit verbundenen finanziellen Risikos gelingt es den Veranstaltern in Bayern nur noch eingeschränkt, rechtsextremistische Konzerte durchzuführen. Im Jahr 2012 fanden in Bayern sechs Konzerte (2011:10) mit durchschnittlich etwa 80 Teilnehmern statt. Im Jahr 2005 lag der Schnitt bei 17 Konzerten und noch rund 200 Teilnehmern je Konzert. 5.3 Rechtsextremistische Internet-Radios Rechtsextremisten nutzen auch Internet-Radios zur Verbreitung "ihrer" Musik. Gelegentlich werden auch indizierte oder strafbare Titel gespielt. Die Musiktitel werden oft anmoderiert, teilweise können die Hörer das Programm mitgestalten. Als Wortbeiträge werden Interviews mit Rechtsextremisten (z.B. Bandmitgliedern), Kommentare oder Kritiken zu CDs sowie gelegentlich Werbung für Konzerte und Demonstrationen gesendet. Die Sendezeiten variieren von wenigen Stunden wöchentlich bis hin zu einem 24-Stunden-Programm. Die Homepages dieser Internet-Radios bieten häufig auch anmeldepflichtige Chats und Diskussionsforen an. Internet-Radios unterliegen einer hohen Fluktuation, manche sind nur vorübergehend in Betrieb. Das in Weiden i.d.OPf. ansässige Radio FSN Radio FSN wurde im September 2007 gegründet und ist - nachdem es mehrere Monate offline war - seit 20. August mit einem neuen Live-Stream auf Sendung. In moderierten Beiträgen, die auch heruntergeladen werden können, werden Aktionshinweise, Demonstrationstermine und Informationen über aktuelle Ereignisse innerhalb der rechtsextremistischen Szene gesendet. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 81 6. Immobiliensuche und -erwerb Rechtsextremisten nutzen Immobilien, um regionale Strukturen und Anlaufstellen zu schaffen. Sowohl die NPD als auch Neonazi-Kameradschaften sind ständig auf der Suche nach Räumlichkeiten für Feiern, Konzerte, Schulungen, Parteiveranstaltungen oder interne Treffen. Im Vorfeld der Landtagsund Bundestagswahl 2013 sowie der Kommunalwahlen 2014 ist damit zu rechnen, dass rechtsextremistische Parteien und andere GruppierunErrichtung von gen verstärkt versuchen, "Wahlkampfzentralen" zu schaffen und Wahlkampfdiese entsprechend öffentlichkeitswirksam zu nutzen. Beispielszentralen weise gelang es in Nürnberg Rechtsextremisten aus dem neonazistischen Netzwerk Freies Netz Süd, Räumlichkeiten für ihre Veranstaltungen anzumieten. Am 21. Juli feierten sie in einem Kellerraum im Stadtviertel Langwasser die Eröffnung eines "Nationalen Zentrums". Es war geplant, dort auch das Stadtteilbüro des rechtsextremistischen Stadtrats der BIA-Nürnberg, Sebastian Schmaus, einzurichten. Die Stadt Nürnberg hat inzwischen die Nutzung als Veranstaltungsraum untersagt. Angehörige der Kameradschaft München haben seit Dezember ein Anwesen in München-Obermenzing angemietet und darin bereits verschiedene Veranstaltungen der rechtsextremistischen Szene des Großraums München durchgeführt. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Anmietung hat die Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus die Eigentümerin kontaktiert und über den rechtsextremistischen Hintergrund der neuen Mieter informiert. Die Vermieterin hat inzwischen rechtliche Schritte zur Beendigung des Mietverhältnisses eingeleitet. Die rechtsextremistische Szene hat regelmäßig erhebliche Schwierigkeiten, geeignete Lokalitäten zu finden, da sie in der breiten Öffentlichkeit keine Akzeptanz hat und mögliche Vermieter eine Vermietung an rechtsextremistische Gruppierungen zumeist ablehnen. Wenn Rechtsextremisten eine ernsthafte Kaufabsicht haben, setzen sie daher meist harmlos erscheinende "Strohmänner" ein, um den rechtsextremistischen Hintergrund Erwerb über des Erwerbs zu verschleiern. So konnte im Jahr 2010 die Mut"Strohmänner ter eines Rechtsextremisten ein ehemaliges Gasthaus in der Ge- 82 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus meinde Regnitzlosau, Landkreis Hof, erwerben, das für Veranstaltungen genutzt wird. Rechtsextremisten haben aber auch erkannt, dass sie durch angekündigte Immobilienkäufe einen enormen öffentlichen und politischen Druck auf die betroffene Kommune erzeugen können. In Einzelfällen versuchen sie deshalb, in Zusammenarbeit mit dem Eigentümer die betroffene Kommune zum Kauf von schwer veräußerbaren Objekten zu drängen. Über eine Vermittlungsprovision werden die Rechtsextremisten am Verkaufserlös beteiligt. Beratung: Die Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus berät beBayerische troffene Kommunen und Eigentümer. Informationsstelle gegen Extremismus 7. Rechtsextremistische Parteien, Vereinigungen und Verlage 7.1 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Deutschland Bayern Mitglieder 6.000 850 Vorsitzender Holger Apfel Karl Richter Gründung 1964 1965 Sitz Berlin Bamberg Publikationen Deutsche Stimme Bayern Stimme Die NPD will die bestehende Ordnung durch eine "Volksgemeinschaft" ersetzen. Aus Sicht der NPD stellt einzig eine ethnisch homogene "Volksgemeinschaft" eine natürliche, dem wahren Wesen des Menschen entsprechende und damit annehmbare staatliche Ordnung dar. Sie soll der Gegenentwurf zur parlamentarischen Demokratie in Deutschland sein. Die von der NPD vertretenen völkischen Grundideen bringen im Zusammenhang mit den verschiedensten politischen Themen oft ausländerfeindliche, anti- Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 83 semitische, rassistische - und in Bezug auf den historischen Nationalsozialismus verharmlosende und zustimmende - Positionen zum Ausdruck. Ihr angestrebtes Ziel der "Systemüberwindung" und ihre Grundaussagen stehen damit inhaltlich im Widerspruch zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes. Ideologie Das im Juni 2010 verabschiedete Parteiprogramm der NPD ist von einem ausgeprägten Nationalismus getragen und schreibt den Gedanken der "Volksgemeinschaft" in einer völkisch-kollekVölkischer tivistischen Auslegung fest. So heißt es im Parteiprogramm: Kollektivismus "Volksherrschaft setzt die Volksgemeinschaft voraus. Der Staat nimmt dabei die Gesamtverantwortung für das Volksganze wahr und steht daher über Gruppeninteressen." und "Ein grundlegender politischer Wandel muß die sowohl kostspielige als auch menschenfeindliche Integrationspolitik beenden und auf die Erhaltung der deutschen Volkssubstanz abzielen. Integration ist gleichbedeutend mit Völkermord." Für die NPD resultiert die Würde des Einzelnen nicht aus dem freien Willen des Individuums, sondern ist von biologisch-genetischer Teilhabe an der "Volksgemeinschaft" abhängig. Da nur Deutsche völkischer Abstammung Teil der "Volksgemeinschaft" sein können, ist eine rassistisch und nationalistisch geprägte Fremdenfeindlichkeit elementarer Bestandteil der Partei-IdeoloFremdengie vom "lebensrichtigen Menschenbild", das sich insbesondere feindlichkeit gegen "Fremdbestimmung" und "Überfremdung" wendet. Strategie und Zusammenarbeit mit anderen Rechtsextremisten Die NPD verfolgt nicht nur erkennbare rechtsextremistische Ziele. Sie versucht auch vorgeblich, über bürgerliche Themen ihre rechtsextremistischen Anschauungen zu verbreiten. So befasst sie sich unter dem Motto "Sozial geht nur national" verstärkt mit Verbrämung sozialpolitischen Themen. Damit will sich die NPD als soziale Proals soziale testpartei darstellen und die Ängste der Bevölkerung vor soziaProtestpartei 84 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus len Reformen, Arbeitslosigkeit und einer "multikulturellen Gesellschaft" schüren. Um dem Ziel der politischen Machtergreifung näher zu kommen, Vier-Säulenverfolgt die Partei ein auf vier "strategische Säulen" gestütztes Strategie Konzept. Diese Säulen bezeichnet sie schlagwortartig mit den Begriffen: - "Kampf um die Köpfe" - "Kampf um die Straße" - "Kampf um die Parlamente" - "Kampf um den organisierten Willen" Der "Kampf um die Köpfe" bezeichnet die politisch-theoretische Arbeit. Die "völkisch-nationale Programmatik" soll weiterentwickelt und dem Bürger vermittelt werden. Im "Kampf um die Straße" soll einerseits durch zahlreiche öffentliche Veranstaltungen wie Aufmärsche und Demonstrationen Präsenz gezeigt und andererseits die Bevölkerung mobilisiert werden. Bei der dritten Säule, dem "Kampf um die Parlamente", geht es der NPD um Erfolge als politische Wahlpartei. Ziel ist die Gewinnung von Macht und Einfluss sowie die Gewährung finanzieller Zuwendungen. Mit dem "Kampf um den organisierten Willen" strebt die NPD eine Bündelung aller rechtsextremistischen Kräfte unter ihrer Führung an, ohne dabei programmatische Inhalte zu definieren. Im Grunde will die NPD im Rahmen einer Aktionseinheit als die zentrale und entscheidende Kraft des Rechtsextremismus wahrgenommen werden. Die NPD und ihre Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten unterhalten Verbindungen zu verschiedenen RechtsextreKontakte ins misten im europäischen Ausland. Beispielsweise trat der LanAusland desvorsitzende Karl Richter am 1. Mai bei einer Kundgebung der tschechischen rechtsextremistischen "Arbeiterpartei für soziale Gerechtigkeit" in Prag als Redner auf. Organisationsstruktur Die NPD gliedert sich in 16 Landesverbände, die wiederum in Bezirksund Kreisverbände unterteilt sind. In Bayern gibt es sieben Bezirksund 33 Kreisverbände. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 85 Ende 2010 fusionierte die NPD mit der Deutschen Volksunion (DVU) zur neuen Partei "NPD - Die Volksunion". Innerparteiliche Gegner der DVU, die gerichtlich gegen die Vereinigung vorgegangen waren, haben ihre Klage am 26. Mai zurückgezogen. Insbesondere die Ergebnisse der letzten Landtagswahlen zeigen, dass die Fusion bislang nicht zur erhofften Stärkung der Partei beigetragen hat. NPD auf Bundesebene Der im November 2011 gewählte Bundesvorsitzende Holger Apfel ist gleichzeitig Vorsitzender der NPD-Fraktion im sächsischen Landtag. Seine Stellvertreter sind Udo Pastörs (Vorsitzender der NPD-Fraktion im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern), Frank Schwerdt (Vorsitzender des NPD-Landesverbandes Thüringen) sowie Karl Richter (Vorsitzender des Landesverbands Bayern). Mehrere der 19 Personen des Bundesvorstands haben einen neoNeonazis im nazistischen Hintergrund. Dessen ungeachtet versucht Apfel, Bundesvorstand sich mit seinem Konzept der "seriösen Radikalität" in der Öffentlichkeit von der Neonazi-Szene zu distanzieren und die Außendarstellung der Partei zu modernisieren. Eine ideologische Kurskorrektur nimmt er dabei nicht vor. In Bayern wurde diese Strategie vom inzwischen abgewählten NPD-Landesvorsitzenden Ralf Ollert unterstützt. Eine Folge hiervon waren Austritte bayerischer Neonazis, die Führungsfunktionen in der NPD besetzten. Bereits im Jahr 2008 hatte die gescheiterte Abwahl von Ollert zu Parteiaustritten von Neonazis und zur Entstehung des neonazistischen Netzwerks Freies Netz Süd geführt. Die NPD nahm im Jahr 2012 an allen Landtagswahlen teil. Es ist ihr jedoch nicht gelungen, in ein weiteres Parlament einzuziehen; die NPD ist weiterhin nur in Sachsen und MecklenburgVorpommern im Parlament vertreten. In Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen erhielt sie jeweils unter 1 % der Stimmen. Keine Erfolge bei Lediglich im Saarland übertraf die Partei mit 1,2 % der Stimmen Landtagswahlen die für die staatliche Wahlkampfkostenerstattung maßgebende 1%-Hürde. Es ist zu erwarten, dass die NPD wegen ihrer schwierigen Finanzlage in den kommenden Jahren keine teuren Wahlkämpfe führen 86 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus kann. Die schwierige Finanzlage besteht trotz des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Dezember fort, mit dem entschieden wurde, dass die NPD wegen Unrichtigkeiten im Rechenschaftsbericht für das Jahr 2007 1,27 Millionen Euro an den Deutschen Bundestag zu zahlen hat. Ursprünglich hatte der Präsident des Deutschen Bundestages mit Bescheid festgelegt, dass die NPD zur Zahlung von 2,5 Millionen Euro verpflichtet ist; nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts war dieser Bescheid teilweise aufzuheben. Wegen der noch nicht erfolgten Rückzahlung dieses Betrags hat der Deutsche Bundestag inzwischen die Auszahlung der der NPD im Rahmen der staatlichen Wahlkampfkostenerstattung zustehenden Gelder gestoppt. NPD in Bayern Der Landesverband hat auf dem Landesparteitag am 24. NovemKarl Richter neuer ber in Schwenningen, Landkreis Dillingen a.d.Donau, Karl RichLandesvorsitzender ter, Münchner Stadtrat der Bürgerinitiative Ausländerstopp (BIA) und stellvertretender Bundesvorsitzender der NPD, zum neuen Vorsitzenden gewählt. Der seit dem Jahr 2000 amtierende Ralf Ollert hatte bereits im Vorfeld auf eine erneute Kandidatur verzichtet, er bleibt als Beisitzer im Vorstand. Zur neuen stellvertretenden Landesvorsitzenden wurde Sigrid Schüßler, Bundesvorsitzende der NPD-Frauenorganisation Ring Nationaler Frauen, gewählt. Sie ist die Spitzenkandidatin der NPD bei der Landtagswahl 2013. Sascha Roßmüller, ein ehemaliger Aktivist des 1993 verbotenen neonazistischen Nationalen Blocks, wurde als weiterer Stellvertreter im Amt bestätigt. Karl Richter ist seit vielen Jahren in der rechtsextremistischen Szene und seit 2004 in der NPD aktiv. Er ist Chefredakteur der NPD-Parteizeitung "Deutsche Stimme" und Autor verschiedener rechtsextremistischer Veröffentlichungen. Bei der Kommunalwahl 2008 zog er als Spitzenkandidat der NPD-Tarnliste BIA in den Münchner Stadtrat ein. Während der Vereidigung der Stadträte zeigte Richter den Hitlergruß und wurde deswegen im Jahr 2009 zu einer Geldstrafe verurteilt. Seit 2011 setzt Richter verstärkt auf die Zusammenarbeit mit neonazistischen Kameradschaften im Großraum München. Diese unterstützen ihn beispielsweise bei Kundgebungen oder der Verteilung von Flugblättern. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 87 Es bleibt abzuwarten, ob sich wegen dieser guten Kontakte Richters die NPD und Neonazis wieder annähern. Die Neonazi-Szene zeigte sich zunächst skeptisch gegenüber einem möglichen Richtungswechsel innerhalb der bayerischen NPD. Im Hinblick auf die im Jahr 2013 anstehende Landtagswahl in Vorbereitung auf Bayern hat die NPD die aktuelle Debatte über den Euro sowie die die Landtagswahl angebliche "Islamisierung" zu ihren Schwerpunktthemen erklärt. 2013 Es ist mit entsprechenden Kundgebungen und Veranstaltungen zu rechnen. Der Parteivorsitzende Holger Apfel hat hierzu die Parole ausgegeben: "Auch in Bayern geht es seit 2013 darum, klares Profil gegen die voranschreitende Islamisierung und Überfremdung zu zeigen." Reaktion der NPD auf das geplante NPD-Verbotsverfahren Als Reaktion auf die anhaltende Diskussion über ein mögliches Verbotsverfahren reichte die NPD im November beim BundesAntrag auf verfassungsgericht einen Antrag auf Feststellung ihrer VerfasFeststellung der sungsmäßigkeit ein; dieser wurde mit Beschluss vom 20. Februar Verfassungs2013 verworfen. Im Hinblick auf die aggressiv-kämpferische mäßigkeit Grundhaltung der NPD, mit der sie die freiheitliche demokratische Grundordnung bekämpft, hat der Bundesrat am 14. Dezember beschlossen, gegen sie ein Parteiverbotsverfahren nach Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes zu beantragen. Bayern beteiligt sich mit zwei Vertretern an der länderoffenen Arbeitsgruppe, die die Erarbeitung des Verbotsantrages und das anschließende Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht begleitet. Junge Nationaldemokraten (JN) Deutschland Bayern Mitglieder 350 30 Vorsitzender Andy Knape derzeit keine Führungsstruktur auf Landesebene Gründung 1969 Sitz Halberstadt/ Sachsen-Anhalt 88 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus Die Jugendorganisation der NPD war in der Vergangenheit bestrebt, ein gegenüber der Mutterpartei eigenständiges Profil zu entwickeln. Dazu hat sie sich als "sozialrevolutionäre[r] Flügel innerhalb der NPD" dargestellt. Während sich die NPD als parlamentarischer Arm der "nationalen Opposition" versteht, sehen die JN ihren Schwerpunkt im "vorpolitischen Raum" und in der Bindegliedfunktion zur Neonazi-Szene. Die JN haben mit den Stützpunkten Franken/Oberpfalz sowie Neue Strukturen Oberfranken wieder Strukturen in Bayern geschaffen. Nachdem in Bayern der Neonazi Matthias Fischer im November 2008 sein Amt als Landesvorsitzender der JN aufgegeben und sich aus der Parteiarbeit zurückgezogen hatte, waren die JN in Bayern vorübergehend nicht mehr aktiv. 7.2 Partei Die Rechte Deutschland Bayern Mitglieder 150 - Vorsitzender Christian Worch derzeit keine Führungsstruktur Gründung 2012 Sitz Parchim (MecklenburgVorpommern) Die Gründung der Partei im Mai 2012 geht auf die Initiative des langjährigen Neonazis Christian Worch sowie ehemaliger Funktionäre der DVU zurück. Das Parteiprogramm lehnt sich an das der DVU an und enthält u.a. die Forderung nach einer Korrektur der "Abtrennung der deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße". Die Partei ist zunehmend neonazistisch ausgerichtet, ein Großteil der Mitglieder - auch in Führungspositionen - stammt aus der Neonazi-Szene. Als Reaktion auf Verbote neonazistischer Kameradschaften in Nordrhein-Westfalen hatte sich die Partei im Sommer für die Aktivisten dieses Spektrums geöffnet. Als "erstes strategisches Ziel" nennt Worch die Teilnahme an der Europawahl im Jahr 2014. Landesverbände gibt es in Hessen, Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 89 Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und Niedersachsen. In Keine Strukturen Bayern sind bislang keine Strukturen und Aktivitäten der Partei in Bayern bekannt geworden. 7.3 Bürgerinitiativen Bürgerinitiative Ausländerstopp Nürnberg (BIA-Nürnberg) Größe etwa 5 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität Juli 2001 Aktionsraum Nünberg Maßgebliche Funktionäre Ralf Ollert, Sebastian Schmaus Die BIA-Nürnberg ist eine rechtsextremistische Tarnorganisation Tarnorganisation der NPD. In den Jahren 2002 und 2008 ermöglichte sie Mitglieder NPD dern und Sympathisanten der NPD, unter einem unverfänglichen Namen bei den Kommunalwahlen anzutreten. Neben Ralf Ollert, ehemaliger Vorsitzender des NPD-Landesverbands Bayern, ist die BIA auch durch Sebastian Schmaus im Stadtrat vertreten. Dieser war Anhänger der seit 2004 verbotenen Fränkischen Aktionsfront und ist aktuell im neonazistischen Netzwerk Freies Netz Süd aktiv. Die BIA ist ausländerund islamfeindlich ausgerichtet, dies bringt Ausländerund sie insbesondere in Publikationen und entsprechenden Anträgen Islamfeindlichkeit und Anfragen im Stadtrat zum Ausdruck. So beantragte Ollert im April eine Gedenktafel für eine Nürnberger Bürgerin, die mutmaßlich von einem Asylbewerber ermordet wurde. Der Antrag war eine Reaktion auf den Vorschlag des Nürnberger Oberbürgermeisters, an den Tatorten der drei Nürnberger Opfer des NSU Gedenktafeln anzubringen. 90 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus Bürgerinitiative Ausländerstopp München (BIA-München) Größe etwa 40 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität September 2007 Aktionsraum München Maßgebliche Funktionäre Karl Richter, Roland Wuttke Die NPD-Tarnliste BIA-München ist derzeit durch Karl Richter im Stadtrat vertreten. Richter ist Vorsitzender der BIA sowie seit November auch Landesvorsitzender der NPD. Stellvertretender Vorsitzender der BIA-München ist Roland Wuttke. Dieser war bis Anfang 2012 Vorsitzender des NPD-Bezirksverbandes Oberbayern. Zusammenarbeit Die BIA-München arbeitet eng mit der Neonazi-Szene in Münmit der Neonazichen zusammen. Ziel dieser Kooperation ist es laut einem auf Szene der Internetseite des neonazistischen Netzwerks Freies Netz Süd (FNS) publizierten Artikel, "langfristig nicht nur den Stadtratsplatz von Karl Richter weiter zu behaupten, sondern möglichst im Münchner Rathaus bei den nächsten Kommunalwahlen noch weitere Sitze zu erkämpfen." Gemeinsam wurden in der Vergangenheit bereits verschiedene Veranstaltungen und Kundgebungen organisiert und durchgeführt. Beispielsweise traten bei Kundgebungen der BIA-München im September und Dezember als Redner u.a. Karl Richter, der informelle Anführer der Kameradschaft München Karl-Heinz Statzberger sowie weitere BIAund Kameradschaftsaktivisten auf. Bürgerinitiative Soziales Fürth (BSF) Größe etwa 20 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität 2009 Aktionsraum Fürth Maßgebliche Funktionäre Sebastian Schmaus, Matthias Fischer Die Bürgerinitiative Soziales Fürth (BSF) ist dem neonazistischen Netzwerk Freies Netz Süd zuzurechnen. Durch die Bezeichnung als "Bürgerinitiative" wollen sich die Neonazis als bürgernahe Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 91 und wählbare politische Alternative präsentieren. Die BSF verfolgt langfristig das Ziel, im Jahr 2014 an der Kommunalwahl teilzunehmen. Hierzu betreibt sie eine offensive Öffentlichkeitsarbeit mit einer optisch unverfänglich gestalteten Internetseite sowie Flugblättern und Aufklebern, die sie im Raum Fürth verbreitet. Bürgerinitiative Soziale Alternative Oberpfalz e.V. (BiSAO) Größe etwa 25 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität 2012 Aktionsraum Oberpfalz Maßgebliche Funktionäre Daniel Weigl, Robin Siener, Simon Preisinger Angehörige der Oberpfälzer Neonazi-Szene gründeten am 20. Mai in Schwandorf die Bürgerinitiative mit dem Ziel, auf kommunaler Ebene mehr Einfluss zu gewinnen. Die Gründungsmitglieder sind ehemalige Funktionäre des NPD-Bezirksverbandes Oberpfalz, die wegen des Kurses des neuen NPD-Bundesvorstands um Holger Apfel ihre Parteiämter niederlegten und aus der NPD austraten. Die Bürgerinitiative verfolgt die Strategie, mit kommunalpolitischen Themen auf sich aufmerksam zu machen und sich als wählbare Alternative zu präsentieren. Dabei greift sie vor allem Themen wie Zeitarbeit, Wohnungsnot oder Grenzkriminalität auf. Im Hinblick auf die im Jahr 2014 anstehenden Kommunalwahlen ist damit zu rechnen, dass die Bürgerinitiative verstärkt in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten wird. 7.4 Rechtsextremistische Verlage Druckschriftenund Zeitungsverlag GmbH (DSZ) Der 1958 gegründete DSZ-Verlag mit Sitz in München ist das bedeutendste rechtsextremistische Propagandainstrument in Deutschland. Inhaber des DSZ-Verlags und Herausgeber der in diesem Verlag wöchentlich erscheinenden National-Zeitung/ Deutsche Wochen-Zeitung (NZ) war der am 19. Februar 2013 92 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus verstorbene Dr. Gerhard Frey. Nach dessen Rückzug aus der DVU und der Fusion der DVU mit der NPD ist die NZ zwar nicht mehr Sprachrohr der DVU, verbreitet jedoch weiterhin fremdenfeindliche, nationalistische und revisionistische Argumentationsmuster. VGB-Verlagsgesellschaft Berg GmbH Die Verlagsgesellschaft mit Sitz in Gilching, Landkreis Starnberg, besteht seit 1991. In ihr sind die ehemaligen eigenständigen Verlage Druffel, Türmer und Vowinckel aufgegangen. Sie ist einer der größten organisationsunabhängigen rechtsextremistischen Verlage in Deutschland. Das Verlagsprogramm umfasst Schriften mit revisionistischen sowie militärhistorischen Inhalten, beispielsweise die Zeitschrift "Deutsche Geschichte" oder das Jahrbuch "Deutsche Annalen". 7.5 Sonstige rechtsextremistische Organisationen Gesellschaft für Freie Publizistik e.V. (GfP) Die GfP wurde 1960 von ehemaligen SS-Offizieren und NSDAPFunktionären gegründet. Sie ist die mitgliederstärkste rechtsextremistische Kulturvereinigung, ihr gehören vor allem Verleger, Redakteure, Schriftsteller und Buchhändler an. Die GfP stellt drei Themen in den Mittelpunkt ihrer Aktivitäten: die Relativierung der Kriegsschuld, die "Ausländerfrage" und die Meinungsfreiheit für die "nationale Publizistik". Sie unterhält Verbindungen zu rechtsextremistischen Organisationen sowie zu organisationsunVerbindungen abhängigen rechtsextremistischen Verlagen und Vertriebsdienszu rechtsten. Von der GfP veranstaltete Kongresse dienen dazu, Personen extremistischen aus dem rechtsextremistischen Spektrum zusammenzuführen Organisationen und den organisationsübergreifenden Zusammenhalt zu stärken. Aktivitas der Burschenschaft Danubia München In der etwa zehn Personen umfassenden Aktivitas (= studierende Mitglieder) der Burschenschaft Danubia München engagieren sich einzelne Personen, die Beziehungen zur rechtsextremistischen Szene unterhalten oder in der Vergangenheit unterhalten Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 93 haben. Insbesondere der bis zu seinem Ausschluss im Juni in der Kontakte zur Danubia aktive Pierre Pauly hat enge Kontakte in die rechtsextreMünchner mistische Szene, vor allem zur neonazistischen Kameradschaft Neonazi-Szene München. Aktivisten der Münchner Neonazi-Szene wiederum hatten an verschiedenen Veranstaltungen der Aktivitas teilgenommen. Bei Veranstaltungen der Aktivitas der Burschenschaft Danubia treten seit Jahren immer wieder rechtsextremistische Referenten auf. Beispielsweise referierte am 6. Mai 2011 der rechtsextremistische Publizist Jürgen Schwab bei einer Podiumsdiskussion zum Thema "Verschwörungstheorien versus Kapitalismuskritik?". Das ehemalige NPD-Mitglied Schwab gehört zu den ideologischen Vordenkern und Strategen der rechtsextremistischen Szene. Bereits 1998 hatte er sich in einem Vortrag im Haus der Burschenschaft Danubia im Rahmen der "Bogenhausener Gespräche" gegen die angeblich herrschende "Meinungsdiktatur" gewandt. Die Aktivitas der Burschenschaft Danubia bestreitet eine rechtsextremistische Ausrichtung und Zielsetzung. Das von ihr eingeleitete Gerichtsverfahren gegen die Berichterstattung in früheren Verfassungsschutzberichten hat das Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 21. August eingestellt, da die Burschenschaft kein Interesse mehr an der Weiterverfolgung des Verfahrens zeigte. Midgard e.V. Der rechtsextremistische Verein Midgard e.V. wurde im Jahr 2006 gegründet und hat seinen Sitz in Landshut. Unter dem Deckmantel des Umweltund Naturschutzes verbreitet er rechtsextremistisches Gedankengut. Dem Vorstand des Vereins gehören überwiegend Rechtsextremisten an, die zum Teil in der NPD aktiv waren oder sind. Die von Midgard e.V. herausgegebene Publikation "Umwelt & Aktiv" verbindet ökologische Themen mit typischen rechtsextremistischen Argumentationsmustern wie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Diffamierung des politischen Systems oder der Forderung nach einer Volksgemeinschaft. 94 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 8. Neonazismus und Kameradschaften Der Neonazismus ist eine besonders menschenverachtende Erscheinungsform des Rechtsextremismus: Er umfasst alle AktiviOffenes Bekenntnis täten und Bestrebungen, die sich offen zur Ideologie des Natiozum Nationalnalsozialismus bekennen. Ziel der Neonazis ist die Abschaffung sozialismus der freiheitlichen demokratischen Grundordnung und die Errichtung eines vom Führerprinzip bestimmten autoritären bzw. totalitären Staates. Neonazis betreiben revisionistische Vergangenheitsverfälschung, indem sie die Geschichtsschreibung über die Zeit des Dritten Reichs ändern wollen und die Gewaltherrschaft des nationalsozialistischen Regimes rechtfertigen oder verharmlosen. In Bayern sind wie im Vorjahr rund 700 Personen der Neonazi-Szene zuzuordnen. "Moderne" Neonazis thematisieren aktuelle sozialoder gesellschaftspolitische Fragen und liefern vermeintlich einfache Antworten. Bei Demonstrationen greifen sie tagespolitische Themen auf und fordern beispielsweise die "Todesstrafe für Kindermörder" oder "Arbeitsplätze zuerst für Deutsche". Ihre Thesen stützen Neonazis auf rassistische und antisemitische Argumentationsmuster. Um die Behörden im Hinblick auf Veranstaltungsanmeldungen oder eventuelle Verbotsüberlegungen zu täuschen, schließen sich Neonazis zunehmend in informellen Gruppen zusammen, die weitgehend ohne feste Strukturen auskommen. Zu beobachten ist eine zunehmend erfolgreiche Zusammenarbeit dieser informellen Gruppen in überregional tätigen Netzwerken. Die Vernetzung erfolgt heute weitgehend über moderne Kommunikationsmittel wie das Internet. Im Jahr 2012 wurden bundesweit - mit Schwerpunkt in NordBundesweite rhein-Westfalen - sechs neonazistische Kameradschaften verVerbote boten. Die bayerische Neonazi-Szene veranstaltete verschiedene Protestkundgebungen und rief insbesondere jüngere Aktivisten dazu auf, sich nicht beirren zu lassen und den "politischen Kampf" weiter zu führen. Die Vereinsverbote wurden zur "politischen und medialen Hetzjagd" erklärt. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 95 Neonazis in Bayern 2012 (rund 700 Personen) Freie Nationalisten Hof Fränkischer Heimatschutz Coburg Aktionsgruppe Aktionsbündnis Bayreuth Nordoberpfalz Aschaff enburg Bamberg Bayreuth Würzburg 1 - Neonazikreis um Matthias Fischer Widerstand Kameradschaft - Bürgerinitiative Schwandorf Main-Spessart Soziales Fürth Bund Frankenland e.V. Widerstand Nürnberg Regensburg-Cham Division Franken 2 Kameradschaft Weißenburg Regensburg Kameradschaft Freie Nationalisten Altmühltal Bayerischer Wald Ingolstadt Freie Kräfte Straubing Aktionsbund Passau Freising Landshut Kameradschaft Augsburg Kameradschaft Geisenhausen München Kameradschaft 3 Nord München Aktionsbündnis Jagdstaffel D.S.T. Oberbayern Traunstein Kempten Neonazis in den Regionen: Oberbayern: 150 Teil des Freien Netzes Süd Niederbayern: 80 Neonazistische Netzwerke innerhalb des Freien Netzes Süd Oberpfalz: 130 1) Nationales Bündnis Oberpfalz Oberfranken: 70 2) Nationales Bündnis Niederbayern Mittelfranken: 140 3) Aktionsbündnis Oberbayern Unterfranken: 70 Schwaben: 60 Sonstige Neonazistische Gruppierungen 96 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 8.1 Freies Netz Süd (FNS) angeschlossene Gruppen rund 20 Größe 100-150 Personen Mobilisierungspotenzial etwa 300 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität 2008 Aktionsraum Bayern Maßgebliche Aktivisten Matthias Fischer, Norman Kempken Das FNS entstand im Jahr 2008, nachdem zahlreiche Neonazis aus der NPD ausgetreten waren. Es ist das größte kameradRegionale schaftsübergreifende Netzwerk von Neonazis in Bayern. Ihm Netzwerke sind auch drei regionale Netzwerke zuzuordnen: - Nationales Bündnis Niederbayern - Nationales Bündnis Oberpfalz - Aktionsbündnis Oberbayern Vernetzung Ziel des FNS ist die Vernetzung der gesamten bayerischen Neonazibayerischer Szene, Aktionsschwerpunkte sind Franken und die Oberpfalz. Neonazis Das FNS ermöglicht und befördert insbesondere gemeinsame Aktionen der ihm zurechenbaren Personen und Kameradschaften; diese vermeiden jedoch teils bewusst, nach außen als FNS aufzutreten. Beispielsweise agieren bei Demonstrationen regelmäßig wechselnde Personen oder Gruppierungen als Veranstalter. Das FNS betreibt eine eigene Homepage, die als Mobilisierungsplattform und Informationsportal - auch für Veranstaltungen außerhalb Bayerns - genutzt wird. Beispielsweise konnten über die Homepage, ergänzt durch eine so genannte Sternfahrt nach Hof mit Kundgebungen an verschiedenen Orten, rund 420 Rechtsextremisten für eine Demonstration am 1. Mai in Hof mobilisiert werden. Auf der Demonstration unter dem Motto "Zeitarbeit abschaffen - soziale Ausbeutung stoppen!" sprach neben Matthias Fischer mit Uwe Meenen auch ein NPD-Funktionär. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 97 Bruch mit der NPD Im Frühjahr haben zahlreiche neonazistisch orientierte NPDFunktionäre ihren Parteiaustritt bekannt gegeben, darunter bekannte FNS-Aktivisten wie Daniel Weigl, Robin Siener und Simon Preisinger. Diese waren erst 2011 in führende Positionen auf NPD-Kreisund Bezirksebene gewählt worden. Auslöser für den Parteiaustritt der Neonazis war die vom neuen NPD-Vorsitzenden Holger Apfel propagierte "seriöse Radikalität". Die daraus resultierende Distanzierung der Partei zur Neonazi-Szene vertiefte die Distanzierung Spannungen zwischen der NPD und den neonazistischen Kräften zur NPD in Bayern. Dem ehemaligen bayerischen NPD-Landesvorsitzenden Ralf Ollert warfen bayerische Neonazi-Kader "ständige Diffamierungsversuche in der Systempresse" und eine Darstellung des FNS als "quasi kriminelle Vereinigung" vor. Die sich noch 2011 abzeichnende Annäherung zwischen Teilen der bayerischen Neonazi-Szene und der NPD endete damit schlagartig. Mit Karl Richter wurde jedoch eine der Integrationsfiguren der gesamten rechtsextremistischen Szene in Bayern zum neuen Landesvorsitzenden der NPD gewählt, der anders als Ollert einen pragmatischen Ausgleich zwischen NPD und Neonazis sucht. Im Hinblick auf die anstehenden Wahlen ist davon auszugehen, dass Richter auf Grund seiner guten Kontakte in die Neonazi-Szene von dieser im Wahlkampf unterstützt werden wird. Hetze gegen neue Asylbewerberunterkünfte Im Zusammenhang mit der Einrichtung neuer Asylbewerberunterkünfte versuchen insbesondere Aktivisten des FNS, in der Bevölkerung Ängste vor einer angeblichen Überfremdung oder Bedrohung durch kriminelle Flüchtlinge zu schüren. Mit vermeintlich einfachen Antworten auf die "Asylproblematik" versuchen sie, sich mit Flugblattaktionen, Infoständen, Internetbeiträgen sowie durch Wortmeldungen in öffentlichen Veranstaltungen als Anwalt der Anwohner zu positionieren und ihre Propaganda zu verbreiten. Beispielsweise verteilten am 25. März Aktivisten des FNS in Waldau/Vohenstrauß, Landkreis Neustadt a.d.Waldnaab, Flugblätter unter dem Motto "Das Boot ist voll - Keine Asylbewerber in Waldau". Die Aktion gegen das geplante Asylbewerberheim wurde auch vom NPD-Bezirksverband Oberpfalz unterstützt. 98 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus Zum FNS zählen insbesondere die folgenden Gruppierungen: Neonazi-Kreis um Matthias Fischer Weitere Bezeichnungen Kameradschaft Nürnberg, Kameradschaft Fürth, Freundeskreis Fürth Größe 50-60 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität 2008 Aktionsraum Nürnberg/Fürth Maßgebliche Aktivisten Matthias Fischer, Norman Kempken Die Gruppe um den seit vielen Jahren in der rechtsextremistischen Szene aktiven Neonazi Matthias Fischer bildet den aktioKern des nistischen Kern des FNS. Fischer war bis Ende September 2011 Freien Netzes Süd in Haft (Verurteilung wegen Volksverhetzung). Bereits kurz nach seiner Haftentlassung hat er ankündigt, sich wieder "ungebrochen und mit vollem Einsatz im Nationalen Widerstand" engagieren zu wollen. Seitdem haben Veranstaltungen und Aktionen der Gruppierung spürbar zugenommen. Freie Nationalisten Hof Weitere Bezeichnungen Nationale Sozialisten Hof, Kameradschaft Hof Größe 15-20 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität Ende 2008; bereits ab Januar 2006 unter dem Namen "Kameradschaftsbund Hochfranken" aktiv Aktionsraum Raum Hof Maßgeblicher Aktivist Tony Gentsch Kontakte Die Freien Nationalisten Hof haben enge Kontakte zu Rechtsexnach Sachsen tremisten im sächsischen und thüringischen Vogtland. Mit verund Thüringen schiedenen Flugblattverteilungen im Raum Hof beteiligten sie sich an den Kampagnen des FNS. Die Aktivitäten haben seit der Inhaftierung des Kameradschaftsführers Tony Gentsch deutlich abgenommen. Gentsch verbüßt seit April 2011 eine 21-monatige Haftstrafe wegen Beleidigung und Körperverletzung. Auf Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 99 Grund einer widerrufenen Bewährungsstrafe verlängerte sich die Haftzeit bis Juni 2013. Das Oberlandesgericht Bamberg hat im November den Antrag auf vorzeitige Haftentlassung abgelehnt. Seit März 2010 verfügt Gentsch in Regnitzlosau, Landkreis Hof, über eine Immobilie, die für Kameradschaftstreffen, Schulungen und Liederabende genutzt wird. Trotz der Inhaftierung des Gentsch versuchen die Freien Nationalisten Hof, das Objekt weiterhin für überregionale Veranstaltungen zu nutzen. Aktionsgruppe Bayreuth Weitere Bezeichnungen AG Bayreuth Größe 10 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität Ende 2009 Aktionsraum Raum Bayreuth Die Aktionsgruppe Bayreuth unterhält gute Kontakte zu den "Freien Nationalisten Hof" und beteiligt sich an verschiedenen Aktionen des FNS. Kameradschaft Main-Spessart Größe etwa 10 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität Oktober 2006 Aktionsraum Großraum Würzburg Maßgeblicher Aktivist Matthias Bauerfeind Die Kameradschaft hat aufgrund der räumlichen Nähe gute KonKontakte takte zu rechtsextremistischen Gruppierungen und Einzelpernach Hessen sonen in Hessen. Sie beteiligt sich an verschiedenen Propagandaveranstaltungen des FNS und führt eigene Aktionen durch. Aktivisten der Kameradschaft verteilten beispielsweise als Weihnachtsmänner verkleidet Flugblätter und Gebäck an Passanten auf Adventsmärkten und in Fußgängerzonen. 100 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus Bund Frankenland e.V. Größe 10 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität 1991 Aktionsraum Franken Maßgeblicher Funktionär Uwe Meenen Der Bund Frankenland e.V. ist eine reine Funktionärsgruppe ohne festen Mitgliederstamm, die seit einiger Zeit als Anmelder von Veranstaltungen des FNS auftritt. Veranstalter Am 8. September veranstaltete der Bund Frankenland e.V. bereits des Nationalen zum fünften Mal den Nationalen Frankentag; dieses Mal in Frankentags Mainleus, Landkreis Kulmbach. An der Veranstaltung nahmen etwa 150 Rechtsex tremisten teil. Unter den Rednern waren u.a. Matthias Fischer, der Nürnberger BIA-Stadtrat Sebastian Schmaus und der Berliner NPD-Funktionär Uwe Meenen. Der Nationale Frankentag ist die Gegenveranstaltung der Neonazi-Szene zu den "Bayerntagen" der NPD. An einer Demonstration anlässlich des Volkstrauertags am 17. November in Wunsiedel nahmen rund 250 Rechtsextremisten aus den im FNS zusammengeschlossenen Kameradschaften sowie benachbarten Bundesländern und Tschechien teil. Nationales Bündnis Oberpfalz (NBO) Größe etwa 50 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität Mai 2012 Aktionsraum Oberpfalz, vorwiegend Raum Regensburg/Schwandorf Maßgeblicher Aktivist Robin Siener Regionales Nach ihrem Austritt aus der NPD gründeten im Frühjahr Kameradschaftsmehrere Neonazis aus dem Raum Regensburg und Schwanbündnis dorf das regionale Kameradschaftsbündnis NBO, um wieder eine Organisationsstruktur nutzen zu können. Dem Bündnis gehören insbesondere die Gruppierungen Aktionsbündnis Nord- Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 101 oberpfalz, Widerstand Regensburg-Cham und Widerstand Schwandorf an. Aktionsbündnis Nordoberpfalz Weitere Bezeichnungen Widerstand Tirschenreuth (bis Ende 2010) Größe 20-30 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität 2008 Aktionsraum Raum Tirschenreuth Maßgeblicher Aktivist Simon Preisinger Anhänger des Aktionsbündnisses nehmen bundesweit an verschiedenen Veranstaltungen teil. Von Mitte 2010 bis September 2012 war der Kameradschaftsführer Simon Preisinger bei Publikationen und im Impressum der Internetseite des FNS Verantwortlicher im Sinne des Pressegesetzes. Die Aktivitäten der Rückgang der Gruppierung sind seit Jahresbeginn stark zurückgegangen. Aktivitäten Widerstand Regensburg-Cham Weitere Bezeichnungen Urd & Skult, Aktionsbündnis Cham, Freie Nationalisten Cham, AG Cham Größe 15-20 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität Jahreswechsel 2007/2008 Aktionsraum Raum Regensburg/Cham Maßgeblicher Aktivist Robin Siener 102 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus Kontakte nach Die Kameradschaft hat aufgrund der räumlichen Nähe gute KonTschechien takte zu Rechtsextremisten in Tschechien. Einzelne Angehörige der Kameradschaft beteiligten sich Ende Juli an einem "gemeinsamen Heldengedenken" in der Nähe von Karlsbad. Der informelle Kameradschaftsführer Robin Siener zeichnet wiederholt als Verantwortlicher im Sinne des Pressegesetzes auf FNS-Publikationen. Widerstand Schwandorf Größe etwa 10 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität 2009 Aktionsraum Raum Schwandorf Maßgeblicher Aktivist Daniel Weigl Informeller Anführer der Kameradschaft ist Daniel Weigl. Dieser ist Inhaber des rechtsextremistischen Online-Versandhandels "final resistance store" und bietet seine Waren auch bei szene-internen Großveranstaltungen an. Die Gruppierung organisierte im Vorfeld der 1. Mai-Veranstaltung des FNS in Hof am 31. März in Schwandorf eine Versammlung, auf der verschiedene Flugblätter verteilt wurden. Am 8. Mai, dem Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, veranstaltete die Kameradschaft ein "stilles Heldengedenken", bei dem sie versuchte, das Kriegsende zum "alliierten Völkermord" umzudeuten. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 103 Aktionsbündnis Oberbayern Größe etwa 30 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität April 2012 Aktionsraum Oberbayern Dem Kameradschaftsbündnis gehören verschiedene neonazistiOberbayerisches sche Gruppierungen aus der Region Altötting, Berchtesgadener KameradschaftsLand und Mühldorf/Waldkraiburg an. Es ist neben dem Natiobündnis nalen Bündnis Niederbayern und dem Nationalen Bündnis Oberpfalz das dritte regionale Kameradschaftsbündnis innerhalb des Freien Netzes Süd und hat enge Verbindungen zur Kameradschaft München. Aktivisten des Aktionsbündnisses treten mit verschiedenen Kundgebungen oder der Verteilung von Flugblättern öffentlich in Erscheinung. Kameradschaft München Größe etwa 30 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität Herbst 2008 Aktionsraum München Maßgeblicher Aktivist Karl-Heinz Statzberger Die Kameradschaft hat ihren Einfluss innerhalb der Szene seit Anfang 2011 gestärkt und ist derzeit die aktivste neonazistische Gruppierung in München. Der Anführer Karl-Heinz Statzberger war Mitglied der Gruppe um Martin Wiese, die im Jahr 2003 einen Sprengstoffanschlag auf das Jüdische Zentrum in München geplant hatte. Er war deswegen im Mai 2005 u.a. wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden. 104 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus Nationales Bündnis Niederbayern (NBN) Größe 50-80 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität Mitte 2009 Aktionsraum Raum Niederbayern Internetseite als Die Internetseite des NBN wird von neonazistischen KameradKommunikationsschaften und Kleingruppen aus Niederbayern als Kommunikaplattform tionsplattform genutzt. Bei Bündnistreffen werden gemeinsame Aktionen wie Demonstrationen, Mahnwachen und Flugblattverteilungen abgesprochen. Im August veranstaltete das NBN mehrere Kundgebungen, die sich gegen eine angebliche Überfremdung Deutschlands richteten. Kameradschaft Geisenhausen Größe etwa 10 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität Juli 2011 Aktionsraum Raum Geisenhausen/Landshut Maßgeblicher Aktivist Martin Wiese Kameradschaft Die Gruppierung um Martin Wiese hat die geplante Einrichdes Martin Wiese tung einer Asylbewerberunterkunft in Geisenhausen sowie den "Runden Tisch gegen Rechts" in Landshut zum Anlass genommen, verschiedene rechtsextremistische Veranstaltungen zu organisieren. Am 9. Mai bekundeten rund 30 Rechtsextremisten in Geisenhausen und Landshut ihre Solidarität zu Martin Wiese, als bekannt wurde, dass ihn das Amtsgericht Gemünden a. Main wegen Volksverhetzung, Bedrohung und Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen zu einer Haftstrafe von einem Jahr und neun Monaten ohne Bewährung verurteilt hat. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Wiese auf dem Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 105 Nationalen Frankentag im August 2011 in einer Rede damit gedroht hatte, anwesende Pressevertreter würden eines Nachts abgeholt, vor den Volksgerichtshof gestellt und wegen "Deutschlands Hochverrat" zum Tode verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Martin Wiese war im Jahr 2005 wegen der Planung eines Sprengstoffanschlags auf das Jüdische Zentrum in München zu einer Haftstrafe von sieben Jahren verurteilt worden. Nach seiner Haftentlassung im Jahr 2010 ist er umgehend wieder in der rechtsextremistischen Szene aktiv geworden und hat es geschafft, die zum Teil zerstrittenen Kameradschaften insbesondere in Oberund Niederbayern zu einen. Er ist derzeit einer der führenden Akteure in der bayerischen Neonazi-Szene. Eine erneute Haftstrafe würde die Szene schwächen. Freie Nationalisten Bayerischer Wald Größe etwa 30 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität Anfang 2009 Aktionsraum Raum Viechtach Maßgeblicher Aktivist Walter Strohmeier Der informelle Führer Walter Strohmeier verbüßt seit Ende 2010 eine dreijährige Haftstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung. Bis dahin waren die Freien Nationalisten Bayerischer Wald mit zahlreichen Versammlungen, Mahnwachen und Flugblattverteilungen die aktivste neonazistische Gruppierung in der Region. Aktuell zeigt die Gruppierung kaum öffentlichkeitswirksame Aktivitäten. 106 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus Freie Kräfte Straubing Weitere Bezeichnungen Nationaler Widerstand Niederbayern, Freie Nationalisten Niederbayern, Freie Kameradschaft Straubing Größe etwa 10 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität Ende 2008 Aktionsraum Raum Straubing Maßgeblicher Aktivist Heiko Schiederer Beteiligung Die Aktivisten treffen sich zu Kameradschaftsabenden und beteian rechtsligen sich an rechtsextremistischen Demonstrationen. Sie nahextremistischen men beispielsweise an Protestveranstaltungen in Landshut und Veranstaltungen Geisenhausen teil, die anlässlich der Verurteilung von Martin Wiese am 9. Mai organisiert wurden. 8.2 Sonstige neonazistische Gruppierungen Kameradschaft Altmühltal Weitere Bezeichnungen KS Altmühltal Größe 20-30 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität 2004 Aktionsraum Neumarkt i.d.OPf., Dietfurt a.d.Altmühl Die Gruppierung war in ihrer Anfangszeit der rechtsextremistischen Skinheadszene zuzurechnen, Partys und SkinheadMusik standen für sie im Vordergrund. In den letzten Jahren haben sich die Kameradschaftsmitglieder zunehmend politisiert. Am 27. März verteilten Angehörige der Kameradschaft in Dietfurt a.d. Altmühl Flugblätter, in denen gegen eine regionale Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 107 Politikerin gehetzt wurde, die sich seit Jahren gegen Rechtsextremismus engagiert. Kameradschaft Nord Größe etwa 20 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität April 2011 Aktionsraum Raum München Maßgeblicher Aktivist Franz Sedlbauer Die Münchner Kameradschaft Nord wurde von früheren Angehörigen der aufgelösten Kameradschaften Freie Nationalisten München und Nationale Solidarität Bayern gegründet. Die Mitglieder sind insbesondere mit verschiedenen Kundgebungen und Flugblattverteilungen in München aktiv. Am 23. Mai beteiligten sie sich an einer Veranstaltung der BIA-München vor dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, die sich gegen den aus ihrer Sicht ungerechtfertigten SS 130 des Strafgesetzbuches (Volksverhetzung) richtete. Die Kameradschaft hat enge Kontakte zu anderen neonazistischen Gruppierungen im Großraum München sowie zur NPD und BIA-München. Nachdem sich im Herbst zahlreiche Mitglieder der Kameradschaft München um Karl-Heinz Statzberger angeschlosRückgang sen haben, tritt die Gruppierung nicht mehr in Aktion. der Mitglieder Division Franken Größe etwa 20 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität Ende 2010 Aktionsraum Mittelund Oberfranken Maßgeblicher Aktivist Sven Diem 108 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus Kontakte Die Angehörigen der Division Franken organisieren gemeinsame zur NPD Kameradschaftsabende und haben - im Gegensatz zum Freien Netz Süd - gute Verbindungen zur NPD. Aktivisten der Gruppierung haben Anfang des Jahres den Stützpunkt Franken/Oberpfalz der NPD-Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten (JN) gegründet. Ziel ist es, die JN in Bayern wiederzubeleben und politischen Einfluss zu gewinnen. Aktionen des JN-Stützpunktes werden auf der Homepage der Division Franken beworben. Jagdstaffel D.S.T. Größe etwa 10 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität Ende 2009 bis Mitte 2012 Aktionsraum Raum München/Geretsried Maßgebliche Aktivisten Dominik Baumann, Stefan Reiche Polizeiliche Am 3. Mai wurden im Zuge der Ermittlungen wegen des VerErmittlungen dachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung mehrere Wohnungen von Mitgliedern der Jagdstaffel D.S.T. durchsucht. Die Polizei stellte u.a. scharfe Munition, Schusswaffen, Schlagringe und Wurfsterne sowie über 30 Dekorationswaffen sicher. Um einem möglichen Verbot zuvorzukommen, haben die Mitglieder der Jagdstaffel D.S.T. im Juli die Auflösung der Gruppierung beschlossen. Ob sich die Gruppierung tatsächlich aufgelöst hat oder nur der Anschein erweckt werden soll, bleibt abzuwarten. Mitglieder der Jagdstaffel haben bis zu ihrer "Auflösung" gute Kontakte zu Führungspersonen der rechtsextremistischen Szene wie Martin Wiese, Karl-Heinz Statzberger, Karl Richter, Norman Bordin, Matthias Fischer, deren Kameradschaften und in die Rockerszene unterhalten. Gegen mehrere der als gewaltbereit geltenden Mitglieder wurden in der Vergangenheit Waffenbesitzverbote ausgesprochen. Einzelne Personen reisten ins Ausland, um dort Schießstände und Waffen zu benützen. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 109 Fränkischer Heimatschutz (FHS) Größe etwa 5 Personen, rund 30 Unterstützer Gründung bzw. erstmalige Aktivität September 2010 Aktionsraum Großraum Coburg Eine Gruppe von Rechtsextremisten betreibt seit September Rechtsextre2010 unter dem Namen Fränkischer Heimatschutz ein Internetmistisches portal, auf dem Presseartikel rassistische und geschichtsrevisioInternetportal nistisch kommentiert und szeneinterne Veranstaltungen beworben werden. Der Fränkische Heimatschutz unterstützt Aktionen des Freien Netzes Süd, der Division Franken sowie von Thüringer Rechtsextremisten. Bereits in den 1990er Jahren war im Raum Coburg vorübergehend eine personell anders zusammengesetzte rechtsextremistische Gruppierung aktiv, die sich ebenfalls als Fränkischer Heimatschutz bezeichnet hatte. Freie Nationalisten Weißenburg/Gunzenhausen (FN WUG) Weitere Bezeichnungen Kameradschaft Weißenburg Größe etwa 10 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität 2009 Aktionsraum Raum Weißenburg Die Kameradschaft war insbesondere in der zweiten Jahreshälfte verstärkt aktiv. Aktivisten verteilten am 11. Juli in Schwanstetten, Landkreis Roth, im Vorfeld einer Informationsveranstaltung gegen Rechtsextremismus Flugblätter des Freien Netzes Süd (FNS). Ein Aktivist gelangte unerkannt in den Veranstaltungsraum und 110 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus verstreute gegen Ende der Diskussionsrunde Flyer des FNS auf dem Boden. Die Kameradschaft hat sich Mitte des Jahres von der NPD-nahen Division Franken distanziert und orientiert sich nun zum FNS, das der NPD kritisch gegenübersteht. Aktionsberichte veröffentlicht die Kameradschaft auf der Webseite des FNS. Aktionsbund Freising Größe etwa 10 Personen Gründung bzw. erstmalige Aktivität 2010 Aktionsraum Raum Freising Maßgeblicher Aktivist Dirk Reifenstein, Dominik Hering Das als Aktionsbund Erfurt-Freising gegründete Bündnis verfolgte ursprünglich das Ziel, die Zusammenarbeit zwischen Neonazis aus Bayern und Thüringen zu fördern. Eine tatsächliche Kooperation fand jedoch aufgrund der räumlichen Entfernung nie statt. Als Konsequenz trennten sich die Freisinger Aktivisten 2011 von ihrem Bündnispartner aus Erfurt. Kontakte Die Gruppierung unterhält intensive Kontakte nach München, zur Münchner insbesondere zur Kameradschaft Nord und Kameradschaft Neonazi-Szene München. Öffentlichkeitswirksame Aktionen werden regelmäßig gemeinsam vorbereitet und durchgeführt, so z.B. eine Kundgebung am 21. April vor dem Bahnhof in Freising. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 111 9. Rechtsextremistische Jugend-Szenen und Subkulturen In rechtsextremistischen Jugend-Szenen verbindet sich eine diffuse Weltanschauung mit Elementen, die an zentrale Merkmale des Nationalsozialismus angelehnt sind. Um junge Aktivisten zu gewinnen, hat sich die rechtsextremistische Szene modisch und ideologisch geöffnet. Die früher typischen Glatzen und SpringerModische und stiefel der Skinheads sind weitestgehend verschwunden. Lange ideologische Haare, Piercings oder Basecaps und sogar Merkmale aus dem Öffnung "linken" und linksextremistischen Spektrum wurden übernommen. Eine rechtsextremistische Gesinnung ist somit äußerlich nur noch schwer zu erkennen. Dadurch sollen Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner, Polizeikontrollen oder Probleme mit Eltern, Freunden, in der Schule oder im Beruf vermieden werden. In rechtsextremistischen Jugend-Szenen gibt es in der Regel weder feste Organisationsstrukturen noch formelle Mitgliedschaften. Rechtsextremisten versuchen darüber hinaus immer wieder, andere - ursprünglich unpolitische - Subkulturen zu unterwandern, um das Potenzial der rechtsextremistischen subkulturellen Szene zu erhalten. Denn mit dem Schwund rechtsextremistischer Skinheads ist das Potenzial der rechtsextremistischen subkulturellen Szene in Bayern in den letzten Jahren auf 300 Personen zurückRückgang gegangen. Dieser Abwärtstrend der letzten Jahre wird aber der Skinheads durch die Unterwanderung anderer Subkulturen durch Rechtsextremisten relativiert. Insbesondere neue rechtsextremistische subkulturelle Strukturen wie die NS-Hatecore-Szene oder die NS-Black-Metal-Szene erhalten verstärkt Zulauf. 20% bis 30% der subkulturell orientierten Rechtsextremisten sind diesen jüngeren Strömungen wie auch dem Neofolk, NS-Hiphop und NS-Techno zuzurechnen. Einzelpersonen sind auch in der rechtsorientierten Hooligan-Szene aktiv. Bei der Unterwanderung anderer (Musik-)Subkulturen nutzen Rechtsextremisten verbindende Elemente zu diesen Genres. Durch die mittlerweile größere stilistische Bandbreite typischer rechtsextremistischer Musik ergeben sich zwangsläufig auch Schnittpunkte mit anderen MusikSzenen. Mit der Unterwanderung versuchen Rechtsextremisten, 112 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus ihre Feindbilder und Ideologie einfließen zu lassen, um Anhänger für die NS-Ideologie zu gewinnen bzw. um rechtsextremistische Tendenzen in diese Subkulturen zu tragen. Dabei werden Black Metal, Hatecore und Neofolk sowie Hiphop und Techno mit rechtsextremistischen Texten unterlegt. Hammerskins Die 1988 in den USA gegründeten Hammerskins (HS) propagieren ein rassistisches und zum Teil nationalsozialistisches Weltbild und sehen sich als Elite der rechtsextremistischen Skinheads. Weltweit in die Schlagzeilen gerieten die HS, als der 40-jährige Wade Michael Page am 5. August in Oak Creek (Wisconsin) in einem Sikh-Tempel sechs Menschen niederschoss und anschließend selbst von einem Polizisten getötet wurde. Page war Anhänger der US-amerikanischen "Hammerskin-Bewegung". Ähnlichkeiten Struktur und Aufnahmeverfahren der Hammerskins ähneln dem mit Rockerclubs Rockerclub Hells Angels MC. So sind die HS in vielen Ländern mit "Divisionen" vertreten. Europaweit bestehen als regionale Untergliederungen rund 25 so genannte Chapter, deren Aktivitäten sich größtenteils auf die Organisation von rechtsextremistischen Konzerten und Veranstaltungen sowie die Selbstorganisation der Hammerskin-Bewegung beschränken. Am 3. November fand im ostfranzösischen Toul ein länderübergreifendes Konzert der HS statt, zu dem ca. 1.500 Rechtsextremisten aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Belgien und Frankreich anreisten, darunter auch 50 aus Bayern. Es traten u.a. die deutschen Skinhead-Bands Blutzeugen, Division Germania, Moshpit und Sturmwehr auf. Der Hammerskin-Division Deutschland gehören rund zehn deutZwei bayerische sche "Chapter" mit insgesamt bis zu 100 Skinheads an, darunter Chapter das Chapter Bayern und das Chapter Franken. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Rechtsextremismus 113 Voice of Anger Die 2002 gegründete Skinhead-Gruppierung Voice of Anger im Großraum Memmingen/Kempten ist die einzig verbliebene überregional aktive Skinhead-Gruppierung in Bayern. Die etwa 60 Mitglieder gehören mehreren Sektionen an. Eine sich selbst als Voice of Anger Nomads bezeichnende Sektion betrieb bis Mai ein eigenes Vereinsheim im Oberallgäu. Im Mittelpunkt ihrer Aktivitäten stehen die gemeinsame Freizeitgestaltung, interne Veranstaltungen und Feiern sowie die Veranstaltung bzw. der Besuch von Skinhead-Konzerten. Mitglieder von Voice of Anger Nomads gründeten 2010 die Skinhead-Band Codex Frei. 114 Linksextremismus > Die Zahl linksextremistisch motivierter Gewalttaten ist im Jahr 2012 erheblich angestiegen (99 Delikte; 2011: 57 Delikte). Der Anstieg ist auf mehrere Großveranstaltungen der linksextremistischen Szene zurückzuführen. > Eine Serie von Sachbeschädigungen im Mai und Juni in München hat das hohe Aggressionspotenzial der autonomen Szene bestätigt. Der Gesamtschaden beläuft sich auf rund 100.000 Euro. > DIE LINKE. ist nach wie vor eine linksextremistische Partei und arbeitet auch mit gewaltorientierten Linksextremisten zusammen. Das Parteiprogramm lässt mit seiner Forderung nach einem Systemwechsel die verfassungsfeindliche Ausrichtung der Gesamtpartei klar erkennen. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 115 Linksextremisten wollen die durch das Grundgesetz vorgegebene Staatsund Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland beseitigen. Je nach ideologisch-politischer Orientierung zielen Linksextremisten auf eine sozialistische bzw. kommunistische oder eine "herrschaftsfreie" Gesellschaft ab. Die linksextremistischen Vorstellungen richten sich insbesondere gegen durch das Grundgesetz garantierte Grundrechte, die parlamentarische Demokratie, die Gewaltenteilung, das Rechtsstaatsprinzip und den Pluralismus. Linksextremisten wollen die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland abschaffen, um das "kapitalistische System" zu beseitigen, in dem sie die Wurzel des Faschismus sehen. In der linksextremistischen Szene bilden Autonome den weitaus größten Teil des gewaltbereiten Personenpotenzials. Autonome haben zwar keine gemeinsame Ideologie. Ziel aller Autonomen ist es aber, den Staat und seine Einrichtungen zu zerschlagen. Neben Sachbeschädigungen wenden Autonome auch Gewalt gegen Personen - vor allem Rechtsextremisten und Polizisten - an, um ihre Vorstellungen durchzusetzen. Dies steht im Widerspruch zu unserer politischen Ordnung. Linksextremisten besetzen auch Themen, die an sich nicht extremistisch sind. Ihr Ziel ist es dabei aber in erster Linie, ihre linksextremistischen politischen Vorstellungen zu verbreiten. Dazu arbeiten sie auch mit bürgerlich-demokratischen Organisationen zusammen. 116 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 1. Personenpotenzial in Bayern 2010 2011 2012 DIE LINKE. 2.400 2.400 2.500 DKP 340 340 340 SDAJ 110 110 110 VVN-BdA 700 700 700 MLPD (mit REBELL) 120 120 120 GSP (MG) 500 500 500 Sonstige Gruppierungen, 200 220 220 linksextremistisch beeinflusste Organisationen Autonome 650 650 650 SUMME 5.020 5.040 5.140 Mehrfachmitgliedschaften 1 90 80 80 GESAMT 4.930 4.960 5.060 davon gewaltorientiert 2 650 650 690 Die Zahlen sind geschätzt und gerundet. 1 Die Mehrfachmitgliedschaften im Bereich der Parteien und sonstigen Zusammenschlüsse werden vom Gesamtpotenzial abgezogen. 2 Dazu zählen gewalttätige, gewaltbereite, gewaltunterstützende und gewaltbefürwortende Personen. Erstmals wird für das Jahr 2012 auch das gewaltunterstützende und gewaltbefürwortende Personenpotenzial mitberücksichtigt. Die Jahre 2010 und 2011 erfassen nur die gewalttätigen und gewaltbereiten Linksextremisten. 2. Gewaltpotenzial in Bayern Autonome In der linksextremistischen Szene bilden Autonome den weitaus größten Teil des gewaltbereiten Personenpotenzials. Sie sind für die meisten der linksextremistisch motivierten Gewalttaten verantwortlich. Ziel dieser überwiegend jungen Linksextremisten ist es, den Staat und seine Einrichtungen - auch mit Gewalt - zu zerschlagen und eine "herrschaftsfreie" Gesellschaft zu errichten. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 117 Das Aggressionspotenzial der autonomen Szene ist seit Jahren Konfrontative sehr hoch. Autonome suchen vor allem bei Demonstrationen geGewalt waltsame Auseinandersetzungen (konfrontative Gewalt). Gegner sind hauptsächlich Rechtsextremisten und Polizeibeamte. LinksGewalt gegen extremisten sehen die Polizeikräfte als Repräsentanten eines verRechtsextremisten meintlichen staatlichen "Repressionsorgans". Sie akzeptieren und Polizisten nicht, dass die Polizeibeamten z.B. auch bei Demonstrationen von Rechtsextremisten zur Gewährleistung des grundgesetzlich geschützten Versammlungsrechts eingesetzt werden müssen ("Deutsche Polizisten schützen Nazis und Faschisten"). Den Ablauf ihrer Aktionen machen Linksextremisten vor allem von ihrem Kräfteverhältnis gegenüber der Polizei abhängig. Dabei schließen sich vermummte Aktivisten in einheitlich schwarzer "Kampfausrüstung" häufig zu Schwarzen Blöcken zusammen, um aus diesen heraus unerkannt Gewalt ausüben zu können. Autonome nutzen aber auch Demonstrationen anderer - auch nicht-extremistischer - Veranstalter, um der Veranstaltung einen militanten und aggressiven Charakter aufzuzwingen und hinter der Deckung friedlicher Demonstranten Gewalttaten zu begehen Initialisierende sowie andere dazu aufzustacheln (initialisierende Gewalt). Gewalt Neben dieser situationsabhängigen Massenmilitanz verüben Autonome auch konspirativ geplante Straftaten wie Brandanschläge, zu denen häufig auf einschlägigen Internetportalen anonyme Selbstbezichtigungsschreiben veröffentlicht werden. Bauanleitungen für Sprengund Brandsätze stellt die autonome Szene im Internet und in Szene-Zeitschriften wie "radikal" und "INTERIM" zur Verfügung. Im Jahr 2010 hatte die Zahl linksextremistisch motivierter Gewalttaten nach einem kontinuierlichen Anstieg in den Vorjahren mit 172 Delikten einen Höchststand seit mindestens zwei Jahrzehnten erreicht. Im Jahr 2011 war sie mit 57 registrierten Gewaltdelikten deutlich zurückgegangen. Für das Jahr 2012 ist dagegen mit 99 linksextremistisch motivierten Gewalttaten fast 99 Gewalttaten eine Verdoppelung gegenüber dem Vorjahr zu verzeichnen. Der im Jahr 2012 Anstieg ist vor allem auf mehrere Großveranstaltungen der linksextremistischen Szene zurückzuführen. 118 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus Anzahl der linksextremistischen Gewalttaten 2012 (99) 60 50 40 Körperverletzung (51) Widerstandsdelikte (31) 30 Landfriedensbruch (7) Brandund Sprengstoffdelikte (3) 20 Versuchte Tötungsdelikte (3) 10 Raub (3) Gef. Eingriff in Bahn-, Schiffs- 0 und Luftverkehr (1) Neben 31 antifaschistisch motivierten und 14 anarchistisch motivierten Gewalttaten richteten sich im Jahr 2012 wie in den Vorjahren mit 52 Delikten die meisten linksextremistisch motivierten Gewalttaten gegen Polizeibeamte. 31. März Nürnberg Beispielsweise kam es bei einer von Linkextremisten organisierten Demonstration am 31. März in Nürnberg, die unter dem Motto "Nazistrukturen bekämpfen! Verfassungsschutz abschaffen! Antifa in die Offensive!" stand, mehrfach zu Angriffen von Demonstranten auf die eingesetzten Polizeibeamten. Die Demonstration wurde u.a. von der Organisierten Autonomie (OA), der Jugendantifa Fürth (JAF), der Antifaschistischen Linken Fürth (ALF), der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) und der Linksjugend ['solid] Weißenburg (= Jugendverband der Partei DIE LINKE.) unterstützt. An der Demonstration nahmen rund 500 Personen teil, darunter etwa 200 Autonome. Ein 19-Jähriger attackierte die Einsatzkräfte mit einer angespitzten Fahnenstange und zielte dabei vor allem auf den Brust-, Halsund Kopfbereich. Am 14. November verurteilte das Landgericht Nürnberg-Fürth den 19-Jährigen, der wegen mehrfachem versuchten Totschlags angeklagt war, wegen gefährlicher Körperverletzung in zwei Fällen, Wider stands gegen Vollstreckungsbeamte und Landfriedensbruch zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Auf einer Faschingsveranstaltung in Meeder, Landkreis Coburg, gerieten am 18. Februar zwei junge Männer aneinander. Ein 22-Jähriger provozierte zunächst mit rechtsextremistischen Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 119 Grußformeln, daraufhin schlug ihn ein 21-Jähriger mehrmals gegen den Kopf. Der 22-Jährige erlitt schwere Verletzungen. Im Trubel des Festzelts konnte der Täter zunächst flüchten, wurde jedoch am nächsten Tag festgenommen. Das Landgericht Coburg verurteilte ihn am 26. November wegen versuchten Totschlags zu einer Haftstrafe von drei Jahren ohne Bewährung; das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Bei einer Serie von Sachbeschädigungen im Mai und Juni in Serie von SachMünchen entstand ein Gesamtschaden von rund 100.000 Euro. beschädigungen Ziele waren u.a. eine Filiale der Stadtsparkasse, zwei Gymnasien, in München die Technische Universität, ein Center der Deutschen Bahn sowie das Kreiswehrersatzamt. Zudem verübten bislang unbekannte Täter Brandanschläge auf zwei Fahrzeuge der Telekom. Die kurze Abfolge der Straftaten, die breite Auswahl der Tatobjekte und die ungewöhnliche Bandbreite der damit verbundenen Aktionsfelder wie Antimilitarismus, Antikapitalismus und Antirepression belegen die linksextremistische Einstellung und die Gewaltbereitschaft der Täter. Es ist davon auszugehen, dass die autonome Szene weiterhin Sachbeschädigungen verüben wird. Insgesamt wird die Zahl der linksextremistisch motivierten Strafund Gewalttaten auch künftig stark von der Veranstaltungsund Demonstrationslage abhängen. Die im Zusammenhang mit dem in München anberaumten NSU-Prozess gegen u.a. Beate Zschäpe geplanten Proteste der linksextremistischen Szene, zu denen in mehreren Bundesländern mobilisiert wird, könnten ein Ansteigen des Aggressionspotenzials - nicht zuletzt auch bei Aktionen zum Thema Antirepression - zur Folge haben. 3. Ideologische Wurzeln des Linksextremismus Marxismus Die Lehren von Karl Marx (1818-1883) und Friedrich Engels (1820-1895) sind die ideologische Grundlage für das Denken und 120 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus Handeln der meisten Linksextremisten. Das gesamte politische, geistige und kulturelle Leben einer Gesellschaft wird demnach durch die ökonomischen Strukturen und Verhältnisse bestimmt. Die marxistische Lehre ist sowohl wissenschaftliche Theorie als auch praktisch-politische Handlungsanleitung für die Revolution. Die Menschheitsgeschichte vollzieht sich demnach in gesetzmäßigen Entwicklungsstufen. Dem Endziel der geschichtlichen Entwicklung, der kommunistischen klassenlosen Gesellschaft, geht die revolutionäre Überwindung des kapitalistischen Systems voraus. Im Kapitalismus stehen sich die ausbeutende Klasse der bürgerlichen Kapitalisten - der Eigentümer an den Produktionsmitteln - und die ausgebeutete Klasse der Arbeiterschaft - die so genannten Proletarier - gegenüber. Der durch die Arbeiterschaft geschaffene Mehrwert eines erstellten Produktes geht nach der marxistischen Lehre in den Besitz der Kapitalisten über und führt so zu Lohndruck, einer Verarmung und schließlich Verelendung des Proletariats. Die Folgen sind Klassenkämpfe, die in eine Revolution und schließlich in die Diktatur des Proletariats münden mit dem Endziel einer kommunistischen Gesellschaft. Das Menschenbild des Marxismus ist ein grundsätzlich anderes als das freiheitlicher Demokratien. Im Mittelpunkt steht nicht das Individuum mit seinen garantierten Rechten, sondern die Arbeiterklasse. Nach dieser Sichtweise ist es zulässig, Grundund Menschenrechte zugunsten des sozialistischen Kollektivs und einer kommunistischen Zielsetzung zu relativieren oder gar außer Kraft zu setzen. Marxismus-Leninismus Der Marxismus-Leninismus war die offizielle Weltanschauung der früheren Sowjetunion. Er basiert auf den Lehren von Marx und Engels (Marxismus), die von Wladimir I. Lenin (1870-1924) zur Staatsdoktrin der Sowjetunion und für den von ihm propagierten internationalen Klassenkampf weiterentwickelt wurden. Auch nach marxistisch-leninistischer Auffassung muss der Kapitalismus bekämpft werden. Das höchste Stadium des Kapitalismus sah Lenin im so genannten Imperialismus. Demnach trachte der Kapitalismus in ausbeuterischer Weise danach, seinen Machtund Einflussbereich auf andere Staaten auszudehnen, was zwangsläufig Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 121 zu Kriegen führt. Dem Kapitalismus müsse also eine neue Gesellschaft folgen: der Sozialismus. Den Sozialismus sah Lenin wiederum als Vorstufe des Kommunismus. Der Marxismus-Leninismus führt zwangsläufig zu einer revolutionären Umwälzung. Allerdings verfügt die Arbeiterklasse nach Lenin nicht über das notwendige politisch-revolutionäre Bewusstsein. Dieses müsse durch eine Kaderpartei aus Berufsrevolutionären (Avantgardeanspruch der kommunistischen Partei) vermittelt werden. In dieser Partei sind gemäß dem Grundsatz des "demokratischen Zentralismus" keine abweichenden Meinungen zu Parteibeschlüssen durch Fraktionen oder innerparteiliche Strömungen erlaubt. Für marxistisch-leninistische Kaderparteien wie die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) spielt der Marxismus-Leninismus eine große, für die Partei DIE LINKE. zumindest eine prägende Rolle. Stalinismus Stalinismus ist Josef W. Stalins (1878-1953) theoretische Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus zum diktatorisch-bürokratischen Herrschaftssystem der Sowjetunion. Entgegen der marxistischen Annahme, dass zum Sieg des Proletariats über das Bürgertum (Bourgeoisie) eine gemeinsame Revolution der Proletarier aller Länder notwendig sei, ging Stalin davon aus, dass der Sozialismus unter der Führung der Sowjetunion vorbildhaft zuerst dort realisiert werden müsse. Mit dem von Stalin betriebenen Aufund Umbau der Sowjetunion zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung wurden u.a. die "stalinistische Säuberungen" legitimiert, denen Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. In Deutschland berufen sich die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) und der Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD (AB) auch auf die Ideen Stalins. Trotzkismus Das auf Leo Trotzki (1879-1940) zurückgehende Modell des Sozialismus ist keine in sich geschlossene eigenständige Lehre, sondern eine Abwandlung des Marxismus-Leninismus. Sie entstand vor allem aus der Opposition von Trotzki zu Stalin. Wesentliche 122 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus Elemente sind die Theorie der "permanenten Revolution", der Glaube an die Weltrevolution (im Unterschied zu Stalins "Sozialismus in einem Land"), das Ziel der Errichtung einer "Diktatur des Proletariats" in Form einer Rätedemokratie und das Festhalten am "proletarischen Internationalismus". Die charakteristische Strategie trotzkistischer Vereinigungen ist der Entrismus, d.h. sie versuchen, gezielt in andere Organisationen einzudringen und Einfluss auf politische Entscheidungen zu nehmen. So findet ihre eigene Ideologie Verbreitung über die unter wanderte Organisation. In Deutschland ist neben der Sozialistischen Alternative (SAV) das Netzwerk marx21 trotzkistisch ausgerichtet. In der Partei DIE LINKE. ist seit einigen Jahren in Westdeutschland festzustellen, dass Anhänger von marx21 wichtige Positionen besetzen. Maoismus Unter der Führung von Mao Tse-tung (1893-1976) wurde in China nach dem kommunistischen Sieg 1949 der Marxismus-Leninismus in einer von Sowjetrussland abweichenden Weise interpretiert und als kommunistische Ideologie weiterentwickelt. Der Maoismus sieht in China die ländliche Bevölkerung und nicht die städtische Arbeiterschaft als Träger des politischen Umsturzes. Die Weltrevolution sollte in einem Land der Dritten Welt durch einen Guerillakrieg bäuerlicher Partisanen ausgelöst werden. In einer Serie politischer Kampagnen ("Kulturrevolution") versuchte Mao Tse-tung, die chinesische Gesellschaft zu den revolutionären Zielen der Partei zu erziehen. Der ideologische Terror und die damit verbundenen "Säuberungsaktionen" forderten Millionen Tote. Die Ideen Maos waren Vorbild für große Teile der 1968er-Bewegung, vor allem der in Westeuropa entstandenen "Neuen Linken" (so genannte K-Gruppen). Heute bekennt sich lediglich die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) öffentlich zu Mao Tse-tung. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 123 4. Linksextremistische Themenfelder Um ihre politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen durchzusetzen, engagieren sich Linksextremisten in verschiedenen poli tischen und gesellschaftlichen Themenfeldern. Typische Aktionsfelder für Linksextremisten sind Antifaschismus, Antimilitarismus, Antirepression, Antiimperialismus, Antiglobalisierung, Antiatomkraft, Asylund Abschiebeproblematik und der Kampf gegen "Sozialabbau". Die wichtigsten waren im Jahr 2012 Antifaschismus, Antimilitarismus und Antirepression. Dabei stehen für jeden Linksextremisten antifaschistische Aktivitäten im Vordergrund. Wie die Bekämpfung des Rechtsextremismus nutzen sie auch andere gesellschaftliche Reizthemen, um innerhalb bürgerlich-demokratischer Protestbewegungen neue Anhänger zu finden. Antifaschismus Linksextremisten nutzen den breiten gesellschaftlichen Konsens gegen den Rechtsextremismus für ihre politischen Ziele, die allerdings weit über die Bekämpfung des Rechtsextremismus hinausreichen. Antifaschismus im linksextremistischen Sinn beinhaltet auch die Ablehnung der parlamentarischen Demokratie. Ursprünglich bezog sich der Begriff Antifaschismus auf 124 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus die inneritalienische Opposition gegen die Herrschaft Mussolinis. Die Wurzeln des deutschen Antifaschismus liegen im Widerstand gegen die Diktatur des "Dritten Reichs". Neben dem bürgerlich-liberal geprägten Antifaschismus, der für die Erhaltung bzw. Wiederherstellung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eintrat, entwickelte sich ein kommunistisch orientierter, als linksextremistisch einzustufender. Der linksextremistische Antifaschismus wertet alle nicht-marxistischen Systeme als potenziell faschistisch oder als eine Vorstufe zum Faschismus. Linksextremisten sehen also die eigentliche Ursache von Faschismus und Rechtsextremismus in einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung, die auf Kapitalismus, Parlamentarismus und Rechtsstaatsprinzipien aufbaut. Gewaltorientierte linksextremistische Autonome nutzen den Antifaschismus seit Jahren zur Mobilisierung ihrer Anhänger und zur Legitimierung ihrer militanten Aktionen gegen Staat und Polizei mit dem Argument, diese schützten Rechtsextremisten. Dabei suchen Autonome auch den Schulterschluss mit demokratischen Bündnissen und Initiativen. Linksextremistische Parteien und Organisationen streben über eine gezielte Einflussnahme die Übernahme von Leitungsund Steuerungsfunktionen in antifaschistischen Initiativen an. Der Kampf gegen Hitler und die Verfolgung von Kommunisten zur Zeit des deutschen Nationalsozialismus dienen aus der kommunistischen Bewegung entstandenen Organisationen als Legitimation für ihren Führungsanspruch im antifaschistischen Spektrum. Antifaschismus ist nicht generell linksextremistisch. Es kommt vielmehr darauf an, was die jeweiligen Antifaschisten konkret unter "Faschismus" verstehen und welche Forderungen sich aus ihrem Selbstverständnis als "Antifaschisten" ergeben. Die zentrale Frage dabei lautet: Richtet sich die Ablehnung nur gegen Rechtsextremismus oder richtet sich die Ablehnung gegen die Normen und Regeln eines demokratischen Verfassungsstaats? Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 125 Antimilitarismus Antimilitarismus hat in der linksextremistischen Szene insbesondere durch vermehrte Auslandseinsätze der Bundeswehr in den letzten Jahren wieder an Bedeutung gewonnen. Nach der Militarismustheorie von Karl Liebknecht dient das Militär dazu, kapitalistische Expansionsbestrebungen gegenüber anderen Staaten durchzusetzen und im eigenen Land den Kapitalismus und dessen "Ausbeutungsstrukturen" zu stabilisieren. Dieses Gedankengut lebt in der linksextremistischen Szene weiter. Linksextremisten sind daher immer wieder auch in pazifistischen Initiativen und Bündnissen aktiv, um dort ihre Ideologie zu verbreiten. Im Gegensatz zum Pazifismus geht es Linksextremisten nicht nur um die Abschaffung des Militärs, sondern darüber hinaus um die Beseitigung der parlamentarischen Demokratie. Die linksextremistische Szene führte 2012 vermehrt Aktionen mit antimilitaristischer Thematik durch. So störten Linksextremisten am 22. Mai ein Benefizkonzert der Bundeswehr-Big-Band auf dem Münchner Odeonsplatz und demonstrierten am 29. Juni gegen einen Beförderungsappell der Bundeswehr im Münchner Hofgarten. Höhepunkt der linksextremistischen Aktivitäten zum Thema Antimilitarismus waren auch im Jahr 2012 die Proteste gegen die Münchner Sicherheitskonferenz am 3. und 4. Februar. Antirepression Unter "Repression" verstehen Autonome die staatliche Überwachung und Strafverfolgung linksextremistischer Aktionen. Autonome lehnen insbesondere polizeiliche Maßnahmen gegen linksextremistische Gewalttäter ab. Mit Solidaritätskampagnen versuchen sie, eine breite Öffentlichkeit in ihrem Sinne zu beeinflussen und rechtsstaatliche Maßnahmen zu diskreditieren. Gleichzeitig mobilisieren sie damit die linksextremistische Szene und rechtfertigen ihr militantes Vorgehen. Antirepression hat sich im Jahr 2012 insbesondere in der autoRaum Nürnberg/ nomen Szene im Raum Nürnberg/Fürth/Erlangen zu einem Fürth/Erlangen Aktionsschwerpunkt entwickelt. Beispielsweise wurden in der Nacht zum 20. Juli Fensterscheiben der Polizeiwache Nürnberg- 126 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus Rathaus eingeworfen und die Fassade großflächig mit roter Farbe beschmiert. Der Sachschaden beläuft sich auf über 10.000 Euro. Auf dem Infoportal linksunten.indymedia, das auch von Linksextremisten genutzt wird, wurde zu der Aktion ein Artikel veröffentlicht: "...mit dieser aktion erklaeren wir uns solidarisch mit allen betroffenen menschen von polizeigewalt. ... gegen diese systematische/rassistische gewalt und repression wollten wir ein zeichen setzen." Bereits im April hatte die autonome Szene Nürnberg eine Antirepressionskampagne mit Kundgebungen und Veröffentlichungen im Internet gestartet. Anlass war die Festnahme eines 19-Jährigen, der am 31. März bei einer Demonstration in Nürnberg AntirepressionsPolizeibeamte mit einer angespitzten Fahnenstange angegriffen kampagne hatte. 5. Internet und Musik 5.1 Linksextremisten im Internet Linksextremisten betreiben viele interaktiv gestaltete Webseiten, die auch soziale Netzwerke einbinden, um Informationen in der Szene zu steuern und zu Veranstaltungen zu mobilisieren. Mit aktionsbezogenen Internetseiten bewerben sie szeneinterne Großereignisse, wie z.B. die Proteste gegen die Feierlichkeiten zum "Mobivideos" Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober in München. In "Mobivideos" (Mobilisierungsvideos) zeigen sie erfolgreiche Aktionen und fordern mit szenetypischer Musik zum Mitmachen auf. Um sich während Großveranstaltungen flexibel und schnell auszutauschen, nutzen Linksextremisten u.a. Kurzmitteilungsdienste. Eigens eingesetzte "Moderatoren" steuern dabei die Demonstranten z.B. in Richtung von Rechtsextremisten oder Polizeibeamten. Über animierte Landkartendienste halten sie die eigene Demonstrationsroute sowie gegebenenfalls auch die des politischen Gegners abrufbar. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 127 In ihren Internetauftritten sorgen linksextremistische GruppieOutingaktionen rungen auch für so genannte Outings tatsächlicher oder vermeintlicher Rechtsextremisten. Sie machen dazu teilweise umfangreiche Recherchen mit Bildmaterial und persönlichen Daten zugänglich. Vereinzelt ergänzen sie die Outings mit Aktionen im Arbeitsoder Wohnumfeld des Betroffenen. Außerdem ist von einer Zunahme von Hacker-Angriffen auf Internetseiten des politischen Gegners auszugehen. 5.2 Linksextremistische Musik Linksextremisten setzen Musik mit linksextremistischen Texten ein, um neue, vor allem junge Unterstützer zu gewinnen und ihre Anhänger weiter zu radikalisieren. Die Musik wird vor allem über das Internet verbreitet, auf Videoplattformen werden Konzertmitschnitte und Liedtexte eingestellt. Ein Beispiel für eine bayerische linksextremistische Band, die auch außerhalb Bayerns auftritt, ist "Kurzer Prozess" aus NürnKurzer Prozess berg. Sie hält Gewalt für ein legitimes Mittel im Kampf gegen Rechtsextremisten. Beispielsweise betont sie in einem ihrer Lieder: "...und es ist voll ok ein paar Nazis zusammenzuschlagen..." Auch der bayerische Rapper Crument ruft in seinem Lied "Lieber wütend als traurig" zu Militanz auf: Crument "...ich schmeiß Mollis und Steine, setz Autos in Brand, schlag die Faust an die Wand, und schrei: Fick den Staat, fick das System, denn wir wollen lieber aufrecht sterben als gebückt geh'n...". Nach eigenen Aussagen will der Musiker über eine Revolution eine klassenlose Gesellschaft erreichen. In seinem Lied "Ulrike" verharmlost Crument die von der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof begangenen Gewalttaten und rechtfertigt den RAF-Terrorismus. Am 25. Februar trat Crument in Augsburg im Rahmen eines von der der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) organisierten und vom AK Anarchistische Umtriebe Auxburg (AK AUA) unterstützten Konzerts auf. 128 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus Radical Hype Auch auf dem "Unspoken Words Festival" am 21. Juli in Nürnberg, das wie im Vorjahr u.a. von der Gruppierung Organisierte Autonomie (OA) veranstaltet wurde, trat mit "Radical Hype" aus Bremen eine Band auf, die auch in einem ihrer Lieder zu Gewalt aufruft: "Also gebt den Nazis die Straßen zurück: Stein für Stein, Stück für Stück!". 6. Linksextremistische Parteien und Vereinigungen 6.1 Partei DIE LINKE. Deutschland Bayern Mitglieder rund 69.400 2.500 Vorsitzende(r) Katja Kipping; Eva Bulling-Schröter; Bernd Riexinger Xaver Merk Umbenennung 16./17.12.1989 der SED Umbenennung der 16.06.2007 Linkspartei.PDS Gründung 11.09.1990 Sitz Berlin München Publikationen DISPUT; UTOPIE-kreativ; Mitteilungen der KPF Die Wurzeln der Partei DIE LINKE. gehen auf die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) zurück, die sich nach der friedlichen Revolution von 1989 und dem Zusammenbruch der Diktatur in der DDR nicht aufgelöst hat. Die Parteiführung ist zwar bemüht, die Gesamtpartei als linksdemokratische Alternative im Parteienspektrum darzustellen. DIE LINKE. ist jedoch mit ihrer Vielzahl von Strömungen und Zusammenschlüssen keine homogene Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 129 Organisation. Eine Gesamtschau vorliegender Aussagen und ideologischer Positionen verdeutlicht nach wie vor ihre extremistische Ausrichtung. Führende Parteimitglieder propagieren immer wieder den Sozialismus bzw. den Kommunismus. Die Unvereinbarkeit der Ziele der Partei DIE LINKE. mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ergibt sich vor allem aus - Forderungen im Parteiprogramm, die auf eine Überwindung der freiheitlichen Staatsund Gesellschaftsordnung abzielen, - der teilweisen Infragestellung der parlamentarischen Demokratie, - dem Versuch, der rechtsstaatlichen Herrschaftsordnung die Legitimation abzusprechen, - der Duldung und Unterstützung von Zusammenschlüssen und Gruppierungen innerhalb der Partei, die ganz offen extremistische Forderungen stellen, - den Kontakten zu gewaltorientierten Autonomen. Bundesparteitag Die Partei DIE LINKE. hat auf ihrem Bundesparteitag vom 2. bis 3. Juni in Göttingen einen neuen Parteivorstand gewählt. Bei der Wahl der Parteivorsitzenden setzten sich Katja Kipping und Bernd Riexinger als Nachfolger von Gesine Lötzsch und Klaus Ernst durch. Als stellvertretende Parteivorsitzende wurde mit Sahra Wagenknecht eine langjährige Funktionärin der offen extremistischen Kommunistischen Plattform (KPF) wiedergewählt. Sie zählt auch zu den Gründungsmitgliedern des Netzwerks Antikapitalistische Linke (AKL). Unter den weiteren Vorstandsmitgliedern sind erneut mehrere Vertreter offen extremistischer Zusammenschlüsse wie die Sozialistische Linke (SL) oder das trotzkistische Netzwerk marx21. Mit ihrer Wahl ließen die Delegierten erkennen, dass nach wie vor Angehörige offen extremistischer Strömungen in der Parteiführung nicht nur geduldet, sondern erwünscht sind. In dem vom Parteitag verabschiedeten Leitantrag bekräftigten die Delegierten das Erfurter Parteiprogramm aus dem Jahr 2011, das extremistische Positionen wie die Forderung nach einer 130 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus Systemüberwindung, das Bekenntnis zur revolutionär-kommunistischen Tradition und die Zusammenarbeit mit Linksextremisten im Inund Ausland enthält. Mit einer Grußbotschaft richteten sich die Parteitagsdelegierten an die Teilnehmer einer parallel stattfindenden Protestveranstaltung in Hamburg und wünschten "viel Erfolg bei der Großdemonstration und den Blockaden". Bei dieser Demonstration, an der rund 1.800 Autonome teilnahmen, kam es zu schweren Ausschreitungen mit 38 verletzten Polizeibeamten. Bayerischer Landesverband Auch der bayerische Landesverband wählte auf seinem Parteitag am 21. und 22. April in Weilheim eine neue Führungsspitze. Bei der Wahl der Landessprecher setzte sich Eva Bulling-Schröter, MdB, durch, die in ihrem Kandidatenschreiben mit ihrer aktiven Mitgliedschaft in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und ab 1990 in der PDS, der Vorgängerpartei der Partei DIE LINKE., für sich geworben hatte. Xaver Merk wurde als zweiter Landessprecher im Amt bestätigt. Zu den Mitgliedern des Vorstands und erweiterten Vorstands gehören Vertreter mehrerer offen extremistischer Zusammenschlüsse wie der KPF, der AKL und marx21. So ist die Landessprecherin Bulling-Schröter Gründungsmitglied der AKL. Die beiden Bundestagsabgeordneten Nicole Gohlke und Harald Weinberg sind Mitglied der SL. Gohlke gehört darüber hinaus auch marx21 sowie dem linksextremistischen Verein Rote Hilfe e.V. an, der linksextremistische Strafund Gewalttäter politisch und finanziell unterstützt. Landesvorstandsmitglied Nicole Fritsche ist Mitglied in AKL und KPF. Zusammenarbeit In Bayern arbeitet die Partei mit gewaltorientierten Linksextremit gewaltmisten zusammen. Dies zeigt sich beispielhaft in Coburg. Dort orientierten unterstützen lokale Parteigliederungen offen die gewaltorienLinksextremisten tierte, linksextremistische Gruppierung Coburger Bündnis gegen Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 131 rechtsradikale Aktivitäten (CArA) logistisch und finanziell. Beispielsweise haben die Partei DIE LINKE. Coburg, die örtliche Linksjugend ['solid] und CArA zu Protesten gegen eine Veranstaltung von Studentenverbindungen am 28. Mai aufgerufen. Im Rahmen dieser Demonstration kam es auch zu Gewalttaten. Jugendverband und Hochschulverband Der Jugendverband der Partei ist die Linksjugend ['solid], die Linksjugend ['solid] in Bayern rund 1.000 Mitglieder hat. Der Hochschulverband DIE LINKE. Sozialistisch-demokratischer Studierendenverband (DIE LINKE.SDS) ist in Bayern in Augsburg, Bamberg, Eichstätt, Erlangen, Ingolstadt, München, Nürnberg, Passau, Regensburg, Würzburg und Coburg aktiv. Innerparteiliche offen extremistische Gruppierungen Innerhalb der Partei DIE LINKE. gibt es zahlreiche Plattformen, Arbeitsund Interessengemeinschaften sowie ähnliche innerparteiliche Zusammenschlüsse. Die Partei will möglichst viele unterschiedliche Strömungen mit dem gemeinsamen Ziel einer Richtungsänderung der Gesellschaft versammeln. Einige dieser Zusammenschlüsse stellen offen linksextremistische Forderungen auf. Diese Strömungen sind wesentliche Bestandteile der Partei. DIE LINKE. muss sich daher deren Tätigkeiten sowie die Äußerungen ihrer Mitglieder zurechnen lassen. Plattformen sind in der Regel Zusammenschlüsse mit gemeinsamer Ideologie, während Arbeitsund Interessengemeinschaften themenbezogen tätig werden. Beispielsweise sind folgende innerparteiliche Strömungen offen linksextremistisch: - Kommunistische Plattform (KPF) KPF - Sozialistische Linke (SL) SL - Antikapitalistische Linke (AKL) AKL - AG Cuba Si Cuba Si - marx21 marx21 Diese offen extremistischen Strömungen werden von der Partei sowohl finanziell als auch logistisch unterstützt und gefördert. Vertreter der offen extremistischen Zusammenschlüsse haben maßgeblichen Einfluss in der Partei, vor allem im Parteivor- 132 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus stand, aber auch in der Kommission, die das Bundesparteiprogramm erstellt hat. Der mitgliederstärkste linksextremistische Zusammenschluss in der Partei DIE LINKE. ist die KPF, die regelmäßig eng mit der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) zusammenarbeitet. Das bislang überparteiliche Netzwerk AKL ist im Dezember vom Parteivorstand als innerparteilicher Zusammenschluss anerkannt worden. Mit der Aufnahme der AKL wird zum einen der Einfluss von Extremisten in der Partei gestärkt, zum anderen stellt er auch einen Brückenschlag zu nicht parteilich gebundenen Linksextremisten dar. Parteiprogramm Das am 23. Oktober 2011 auf dem Bundesparteitag in Erfurt verabschiedete Parteiprogramm enthält tatsächliche Anhaltpunkte für linksextremistische Zielsetzungen. Die Partei DIE LINKE. hält, wie bereits ihre Vorgängerpartei PDS, am Ziel einer grundlegenden Umgestaltung der Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung fest. Danach muss das "kapitalistische System" "in einem transformatorischen Prozess" überwunden werden: "Dieser Prozess wird von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet sein". Mit der geforderten Überwindung des Kapitalismus ist nicht allein die Abschaffung der sozialen Marktwirtschaft gemeint, sondern in Anlehnung an das von Marx begründete "Basis-Überbau-Modell" die Überwindung des Gesellschaftssystems und der staatlichen Ordnung. Nach diesem Modell bestimmt die Wirtschaftsordnung auch die gesellschaftliche und staatliche Ordnung. DIE LINKE. strebt statt der bestehenden Demokratie "Demokratischer den "demokratischen Sozialismus" an. Diese Gesellschaftsform Sozialismus" beschreibt das Programm mit zahlreichen Formulierungen, die aus der traditionellen Terminologie marxistisch-leninistischer Parteien entlehnt sind. Auf die von Karl Marx skizzierte "von Klassenschranken befreite Gesellschaft" nimmt es mit einem Zitat aus dem Kommunistischen Manifest ausdrücklich Bezug: "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 133 Diesem Zitat geht im Kommunistischen Manifest eine Beschreibung des - notwendig gewaltsamen - revolutionären Weges zur klassenlosen Gesellschaft voraus. Das Parteiprogramm bezieht sich explizit auf das Kommunistische Manifest, ohne sich hiervon zu distanzieren. Das weist darauf hin, dass zumindest Teile der Partei den revolutionär-gewaltsamen Weg zur klassenlosen Gesellschaft nicht ausschließen und unter dem "demokratischen Sozialismus" eine Vorstufe zum Kommunismus verstehen. Entsprechend dem Marx'schen Basis-Überbau-Modell bleibt laut Parteiprogramm die entscheidende Frage für gesellschaftliche Veränderungen die Eigentumsfrage. Die Partei kämpft für eine Eigentumsfrage "grundlegende Umformung der herrschenden Eigentums-, Verfügungsund Machtverhältnisse". "Strukturbestimmende Großbetriebe der Wirtschaft" sollen in "gesellschaftliche Eigentumsformen" überführt werden. Sie fordert weitgehende Eingriffe in das bestehende Eigentumsrecht. Die von der Partei angestrebten umfänglichen Steuerungs-, Eingriffsund Regulierungsmöglichkeiten des Staates sind so schrankenlos formuliert, dass sie zumindest in der Summe die Verfügungsgewalt über das private Eigentum an Produktionsmitteln aufheben. In der Gesamtschau wird eine weitgehend wirtschaftlich reglementierte Gesellschaft beschrieben mit umfassender staatlicher Kontrolle, Regulierung und Steuerung der Wirtschaftsordnung. Dies kann zu einer Aushöhlung des Grundrechts auf Eigentum (Artikel 14 des Grundgesetzes) und zu einem Eingriff in dessen Wesensgehalt führen. Auch andere ökonomisch relevante Grundrechte, die eine grundsätzlich marktorientierte und wettbewerblich organisierte Wirtschaftsordnung vorgeben, sind durch diese Programmatik in ihrem Bestand bedroht, wie zum Beispiel die Berufsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit und die allgemeine Handlungsfreiheit als Vertragsfreiheit. Nach dem Parteiprogramm sollen neben das Parlament nicht demokratisch legitimierte Räte treten, was zu einem Bedeutungsverlust bzw. einer Schwächung des Parlaments und damit zu einer Aushöhlung der repräsentativen Demokratie führen würde. Zudem fordert DIE LINKE. die Einführung des politischen Streiks bzw. des Generalstreiks. Damit soll politischer Druck auf die gewählten Parlamente ausgeübt werden. Diese Forderungen deuten vor dem Hintergrund der marxistischen Färbung von Tei- 134 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus len des Programms auf ein lediglich funktionell-instrumentelles Verhältnis zum parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland hin. DIE LINKE. bezieht sich in ihrem Programm auf revolutionäre und antiparlamentarische Traditionen, insbesondere die kommunistische Arbeiterbewegung, die sozialistischen Theoretiker Karl Marx und Friedrich Engels, das Kommunistische Manifest, die 1956 verbotene Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) sowie deren Gründer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Eine klare Distanzierung von der DDR als Unrechtsstaat fehlt. Die vermeintlichen sozialen Erfolge der DDR werden positiv hervorgehoben. So wird im Parteiprogramm ausgeführt: "Die Geschichte der DDR, auch die der SED, auf den Stalinismus zu verkürzen, ist jedoch unhistorisch und unwahr. Auch in der DDR gab es in unterschiedlichen Etappen eine lebendige Sozialismus-Diskussion, eine reiche kulturelle und geistige Landschaft, großartige Filme, Romane, bildende Künste, Musik und eine engagierte Vermittlung von Kunst, Kultur, Bildung in die Bevölkerung." Das Programm bekräftigt ferner, dass DIE LINKE. weiterhin mit Linksextremisten in und außerhalb der Partei, auch im internationalem Rahmen, zusammenarbeiten will. 6.2 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) und Umfeld 6.2.1 DKP Deutschland Bayern Mitglieder 3.900 340 Vorsitzende Bettina Jürgensen Gründung 26.09.1968 Sitz Essen Nürnberg und München Publikationen Unsere Zeit (UZ); Rundbrief; Marxistische Blätter Auf Draht; DKP info; Rotes Echo Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 135 Die DKP ist eine kommunistische Partei, die sich in einer Linie mit der 1956 vom Bundesverfassungsgericht verbotenen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) sieht. Sie bekennt sich zum Marxismus-Leninismus und hat laut Parteiprogramm die Einführung von "Sozialismus/Kommunismus" zum Ziel. Die bundesweit organisierte Partei war bis 1989/90 von der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) abhängig. Dem Bundesverband sind Bezirksorganisationen nachgeordnet, die weiter in Kreisund Grundorganisationen oder auch Betriebsgruppen untergliedert sind. In Bayern gibt es zwei Bezirksorganisationen (Nordund Südbayern) mit 15 Kreisverbänden. Leo Mayer, stellvertretender Sprecher der DKP München, ist seit Jahren stellvertretender Bundesvorsitzender der DKP. Zu den weiteren Mitgliedern des Parteivorstands gehören auch Personen aus Bayern. Seit 2009 gibt es in der DKP einen Richtungsstreit darüber, wie die Partei mehr politischen Einfluss gewinnen kann. Die Mehrheit spricht sich für eine Öffnung der Partei hin zu anderen gesellschaftlichen Gruppierungen aus. Dagegen votiert die innerparteiliche Opposition für die Rückkehr zur unverfälschten Lehre des Marxismus-Leninismus mit der DKP als alleiniger Avantgarde der Arbeiterklasse. In Bayern ist keine geschlossene Positionierung erkennbar. Der bayerische DKP-Funktionär Leo Mayer gilt als einer der führenden Vertreter des innerparteilichen Mehrheitsflügels. Die DKP versucht immer wieder, in Bayern ihre kommunistischen Vorstellungen in die bürgerliche Gesellschaft einzubringen. Dazu arbeitet sie aktionsund themenorientiert in Bündnissen mit, insbesondere zu den Themen Antifaschismus und Antimilitarismus. Beispielsweise beteiligte sich die Münchner DKP am 26. Juni an einer Protestveranstaltung gegen die Bundeswehr sowie am 10. November an einer Demonstration unter dem Motto "Schluss mit der rechtspopulistischen Hetze". Durch aktive Mitarbeit übt die DKP auch auf Organisationen wie die VVN-BdA und das Münchner Bündnis gegen Krieg und Rassismus Einfluss aus. 136 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 6.2.2 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) Deutschland Bayern Mitglieder 500 110 Vorsitzende(r) Kollektiver Bundesvorstand mit 33 Personen Gründung 04./05.05.1968 Sitz Essen Publikationen POSITION KONTRA! Die SDAJ ist nach ihrer Selbstdarstellung eine "bundesweite Organisation von Jugendlichen, die sich mit den Zuständen in Schulen, Betrieben, in dieser Republik und der 'Neuen Weltordnung' nicht abfinden" will. Sie ist marxistisch-leninistisch ausgerichtet: "Alle unsere Forderungen richten sich gegen die Herrschenden in dieser Gesellschaft, gegen die Kapitalisten. Verwirklichen können wir sie nur in einer Gesellschaft ohne Kapitalisten - im Sozialismus." Verbindung Die SDAJ ist eine eigenständige Organisation. Sie ist aber eng zur DKP mit der DKP verbunden. Dies zeigt sich u.a. darin, dass der Sprecher der SDAJ-Ortsgruppe München, Kerem Schamberger, zugleich Kreisvorsitzender der Münchner DKP ist. Haltung zur Gewalt Die SDAJ schließt Gewalt in der politischen Auseinandersetzung nicht aus. Das wird in ihrer "Grundlagenschule" deutlich, die die SDAJ im Internet verbreitet und zu der sie mehrfach Veranstaltungen in München angeboten hat: "Als Faustregel kann gelten, dass die legalen Kampfformen voll ausgenutzt werden sollten, gleichzeitig aber auch die Vorbereitung auf die Anwendung illegaler Kampfformen stattfinden sollte." Sie arbeitet auch mit der gewaltbereiten Gruppierung Anarchistische Umtriebe Auxburg (AK AUA) zusammen. Beispielsweise organisierte die SDAJ-Ortsgruppe Augsburg für den 25. Februar eine Demonstration unter dem Motto "think red - smash fascism". Diese Demonstration wurde sowohl von AK AUA als auch von anderen linksextremistischen Gruppierungen wie der Autonomen Jugendantifa Augsburg und der Linksjugend ['solid] Augsburg unterstützt. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 137 Am 22. und 23. September fand, nach dem Auftakt im Oktober 2011 in Hannover, die zweite Tagung des 20. Bundeskongresses der SDAJ in Nürnberg statt. Der Bundeskongress diskutierte die Weiterentwicklung des SDAJ-Zukunftspapiers, das die politischen Leitlinien und die Arbeit der Landesverbände und Gruppen vor Ort konkretisieren soll. Darin heißt es: "Die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft ist nicht im Einverständnis oder im Kompromiss mit den Gegnern unserer Grundrechte, den Kapitalisten und ihren Staatsdienern möglich". Angehörige der SDAJ engagieren sich im Münchner Aktionsbündnis gegen die NATO-Sicherheitskonferenz. Am Vortag der Großdemonstration führten sie auf dem Münchner Marienplatz eine Mobilisierungsveranstaltung durch. 6.2.3 Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Deutschland Bayern Mitglieder 6.000 700 Vorsitzende Prof. Dr. Heinrich Fink; Cornelia Kerth Gründung 15.-17.03.1947 Sitz Berlin (Bundesgeschäftsstelle) Publikationen antifa Die VVN-BdA ist die bundesweit größte linksextremistisch Linksextremistische beeinflusste Organisation im Bereich des Antifaschismus. Beeinflussung Sie arbeitet mit offen linksextremistischen Kräften zusammen. In der VVN-BdA wird nach wie vor ein kommunistisch orientierter Antifaschismus verfolgt. Diese Form des Antifaschismus dient nicht nur dem Kampf gegen den Rechtsextremismus. Vielmehr werden alle nicht-marxistischen Systeme - also auch die parlamentarische Demokratie - als potenziell faschistisch, zumindest aber als eine Vorstufe zum Faschismus betrachtet, die es zu bekämpfen gilt. 138 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus Anhaltspunkte für die linksextremistische Ausrichtung der VVN-BdA zeigen sich immer wieder in Äußerungen des Bundesvorsitzenden der VVN-BdA, Prof. Dr. Heinrich Fink. Dieser war zu DDR-Zeiten "informeller Mitarbeiter" des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), ist ehemaliger PDS-Bundestagsabgeordneter und heute Mitglied der Partei DIE LINKE. In einem Interview im März 2011 mit dem Titel "Es geht um die Verfasstheit dieser Gesellschaft" befürwortete Fink nicht zum Zusammenarbeit ersten Mal die Zusammenarbeit der VVN-BdA mit gewaltorienmit Autonomen tierten autonomen Gruppen. Auf die Vorhaltung "Mir scheint jedoch, daß es auch in manchen Gliederungen der VVN-BdA zu Abgrenzungen - beispielsweise in Richtung autonomer Antifaschisten - kommt..." antwortete er: "Ich kann das im Einzelfall nicht ausschließen, habe aber diesbezüglich innerverbandlich stets eine klare Position dazu vertreten und mich an die Seite der oftmals jungen autonomen Antifaschisten gestellt. Natürlich sind - das habe ich ja bereits erwähnt - die Kampfformen manchmal unterschiedlich. Dennoch ist der breiten Mehrheit der Mitglieder der VVN-BdA natürlich bewusst, dass es vor allem autonome Antifaschisten waren, die sich den Nazis in den Weg stellten, als andere politische Gruppen und Parteien das Problem noch nicht richtig erfasst hatten." Im Januar befürwortete Fink in einem Interview mit dem Titel "Wir lassen uns nicht einschüchtern" wiederholt die Zusammenarbeit der VVN-BdA mit gewaltorientierten autonomen Gruppen. Auf die Frage: "Die massive staatliche Kriminalisierung der linken Demonstranten und die vielen Polizeiübergriffe im letzten Februar haben Sie nicht abgeschreckt?", antwortete Fink: Die VVN-BdA-Mitglieder "...sind mit allen solidarisch, die von der staatlichen Repressionswelle betroffen sind. ... Wir lassen uns daher auch nicht von martialisch ausgerüsteten Polizeibeamten, Wasserwerfern und Pfefferspray abhalten. Wobei ich betonen muss, dass viele unserer alten Kameraden diese Auseinandersetzungen aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr wagen. Unsere jüngeren Freunde und Genossen werden sie vertreten". Der Landesverband Bayern wird von Linksextremisten, insbesondere aus der DKP und der Partei DIE LINKE. beeinflusst, er hat Kontakt zu auch Kontakte zu autonomen Gruppen. Beispielsweise trat die Autonomen VVN-BdA Nürnberg als Unterstützer einer Vortragsveranstaltung Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 139 am 17. Januar auf, die von der Organisierten Autonomie (OA) organisiert wurde. Die bayerische Landesvereinigung der VVN-BdA hat gegen ihre Nennung im Verfassungsschutzbericht 2010 den Rechtsweg beschritten, der Bundesvorsitzende Fink gegen seine Nennung in den Verfassungsschutzberichten 2010 und 2011. Die gerichtlichen Entscheidungen stehen noch aus. 6.3 Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) Deutschland Bayern Mitglieder 2.300 (mit REBELL) 120 Vorsitzende(r) Stefan Engel Gründung 1982 Sitz Gelsenkirchen München, Nürnberg Publikationen Rote Fahne (Zentralorgan); REVOLUTIONÄRER WEG (Theorieorgan); REBELL (Jugendmagazin); Galileo - streitbare Wissenschaft (Zeitung der MLPD-Hochschulgruppen) Die zentralistisch geführte MLPD ist eine kommunistische Kaderpartei, die Sozialismus im Sinn des Stalinismus und des Maoismus anstrebt. Ihr grundlegendes Ziel ist "der revolutionäre Sturz der Diktatur des Monopolkapitals und die Errichtung der Diktatur des Proletariats für den Aufbau des Sozialismus als Übergangsstadium zur klassenlosen kommunistischen Gesellschaft". Im linksextremistischen Spektrum ist die MLPD aufgrund ihres dogmatischen Kommunismusverständnisses isoliert. Mit dem Frauenverband Courage e.V. sowie mit FreizeitangeboFrauenverband ten ihrer Jugendorganisation REBELL und ihrer KinderorganisaCourage e.V. tion ROTFÜCHSE versucht die MLPD, Frauen, Jugendliche und REBELL Kinder an sich zu binden. Die Jugendorganisation REBELL veranstaltete vom 28. Juli bis 11. August in Thüringen wie in den letzten Jahren ein so genanntes Sommercamp, für das sie auch mit einer Flyerverteilung vor einer bayerischen Schule geworben hat. 140 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus Im Sommercamp sollen junge Menschen an ein antidemokratisches, revolutionäres Politikverständnis herangeführt werden. Dabei wird Freizeiterlebnis mit politisch-ideologischer Unterweisung verknüpft. Dies steht in direktem Gegensatz zum demokratischen Erziehungsideal, der Erziehung zu freier Willensbildung und selbstbestimmtem Leben. 6.4 Münchner Bündnis gegen Krieg und Rassismus Linksextremistische Das linksextremistisch beeinflusste Münchner Bündnis gegen Beeinflussung Krieg und Rassismus ist ein loser Zusammenschluss von Personen und Organisationen ohne feste Mitgliederstruktur. In ihm sind vor allem linksextremistische Parteien und Gruppierungen wie die DKP, die Partei DIE LINKE., die SDAJ, die MLPD sowie die Antikapitalistische Linke München (AL-M) aktiv. Das Bündnis ist Organisator oder Unterstützer zahlreicher Demonstrationen, Mahnwachen und Informationsveranstaltungen. Außerdem dominiert es andere Protestbewegungen wie das Aktionsbündnis gegen die NATO-Sicherheitskonferenz, das die Proteste gegen die Münchner Sicherheitskonferenz koordiniert. Über das Thema Antimilitarismus Antimilitarismus versuchen die beteiligten Linksextremisten, demokratische Organisationen und Personen einzubinden. Maßgebliche Aktivisten des Münchner Bündnisses gegen Krieg und Rassismus sind Claus Schreer und Walter Listl, die auch in der Münchner DKP aktiv sind. Der DKP gelingt es dadurch, ihre Bündnisstrategie zu verwirklichen. Münchner SicherDie Proteste gegen die Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik heitskonferenz sind in Bayern seit Jahren für die linksextremistische und linksextremistisch beeinflusste Szene die größte Aktion mit dem höchsten Mobilisierungsund Teilnehmerpotenzial. Wie in den Vorjahren prägten auch 2012 linksextremistische Parteien und Vereinigungen die Kundgebungen in der Münchner Innenstadt, z.B. die DKP, die SDAJ, DIE LINKE., die Linksjugend ['solid] und die MLPD. An der Großdemonstration am 4. Februar nahmen bis zu 2.100 Personen (2011: etwa 3.200) teil, darunter rund 150 Autonome (2011: etwa 400), die als Schwarzer Block mitmarschierten. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 141 6.5 Sonstige linksextremistische Organisationen GegenStandpunkt (GSP) Deutschland Bayern Mitglieder 7.000 500 Sitz München Publikation GEGENSTANDPUNKT (Sozialistische HochschulZeitung) Der revolutionär-marxistische GSP ist nach der Partei DIE LINKE., gemessen am Mitgliederpotenzial, die zweitstärkste linksextremistische Organisation in Deutschland. Sie setzt die Aktivitäten der Marxistische Gruppe (MG) fort, die im Mai 1991 ihre Selbstauflösung erklärt hat. Der GSP ist eine straff geführte elitäre Gruppierung mit revolutionär-kommunistischen Zielvorstellungen, die sich selbst anderen linksextremistischen Gruppierungen überlegen sieht. Bundesweit gibt es lokale Gruppen, die in eine organisatorische Gesamtstruktur um die in München ansässige GegenStandpunkt Verlagsgesellschaft mbH eingebunden sind. Neben internen Mitgliederschulungen war der GSP in Bayern, wie zuvor die MG, öffentlich nur mit marxismustheoretischen Veranstaltungen an den Hochschulen München, Nürnberg und Aktivitäten an Regensburg aktiv. Die an der Friedrich-Alexander-Universität in Hochschulen Erlangen aktive "Sozialistische Gruppe (SG) Hochschulgruppe Erlangen/Nürnberg" ist ebenfalls dem GSP zuzurechnen. Sie ist Herausgeber der monatlich erscheinenden "Sozialistischen HochschulZeitung". Sozialistische Alternative (SAV) Deutschland Bayern Mitglieder 400 20 Gründung 1994 Sitz Berlin Publikation Solidarität (mit Jugendbeilage megafon) 142 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus Die orthodox-kommunistische SAV bekennt sich zu den Lehren Leo Trotzkis. Sie versteht sich gemäß Statut als "revolutionäre, sozialistische Organisation, ... in den Traditionen der Ideen von Marx, Engels, Lenin, Trotzki, Luxemburg und Liebknecht". Ihr politisches Ziel ist der Aufbau einer sozialistischen Staatsordnung auf der Grundlage der Überführung der Produktionsmittel in Gemeineigentum. Die SAV gliedert sich in Bundesleitung, Regionalund Stadtverbände sowie Ortsgruppen. In München gibt es einen Stadtverband. Die SAV ist international im trotzkistischen Dachverband Committee for a Workers' International (CWI) organisiert. Der trotzkistischen Entrismusstrategie folgend engagieren sich Funktionäre und Aktivisten der SAV in anderen politischen und gesellschaftlichen Organisationen wie in der Partei DIE LINKE., um dort ihre ideologischen Vorstellungen zu verbreiten. Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD (AB) Deutschland Bayern Mitglieder 130 100 Gründung 1973 Sitz München Der aus "Arbeiter-Basisgruppen" in München hervorgegangene AB ist eine linksextremistische Kaderorganisation, die die Gründung einer "revolutionären Partei in der Tradition der verbotenen KPD" anstrebt. Sie beruft sich auf den Marxismus-Leninismus und die Ideen von Stalin und Mao Tse-tung. Ziel des AB ist die Beseitigung der "herrschenden Ausbeuterklasse" und die Errichtung einer Diktatur des Proletariats, um den Kommunismus in einer klassenlosen Gesellschaft zu verwirklichen. Über Informationsveranstaltungen und Kundgebungen in unmittelbarer Nähe zu Industriebetrieben versucht die Organisation eine Verbindung zur Arbeiterschaft herzustellen. Neben Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 143 Bayern gibt es AB-Gruppen in Bremen, Hamburg, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Im Jahr 2012 trat der AB verstärkt in der Öffentlichkeit auf. Dabei nahm er in Bayern vor allem an Veranstaltungen anderer Organisationen teil, um dort Einfluss zu nehmen. Beispielsweise beteiligte sich der AB an der Aktionsreihe "Klassenkampf statt Weltkrieg" und nutzte den jährlich stattfindenden "Antikriegstag" als Plattform, um gegen die Bundesrepublik Deutschland und die Bundeswehr zu hetzen. Veranstalter waren am 29. September neben dem AB u.a. auch sympathisierende Gruppen aus dem nahen Ausland, z.B. der Kommunistische Jugendverband der Tschechischen Republik und die Kommunistische Partei Polens. Am 3. Oktober nahm der AB an der "Antinationalen Demo" gegen die Einheitsfeier in München teil, die im Wesentlichen unter dem Einfluss von Autonomen stand. Rote Hilfe e.V. (RH) Deutschland Bayern Mitglieder 5.600 Gründung 1975 Sitz Göttingen verschiedene (Bundesgeschäftsstelle) Ortsgruppen, u.a. Nürnberg und München Publikationen "DIE ROTE HILFE", info-Blatt der OG vierteljährlich München, unregelmäßig Der Arbeitsschwerpunkt des Vereins Rote Hilfe e.V. (RH) ist die finanzielle und politische Unterstützung von linksextremistischen Strafund Gewalttätern, mit deren ideologischer Zielsetzung sich die RH identifiziert. Dabei geht es ihr nicht um eine Resozialisierung von Straftätern, sondern um die Unterstützung Unterstützung gewaltbereiter Linksextremisten in ihrem Kampf gegen das poligewaltbereiter tische System. Die Unterstützung schließt auch ehemalige AnLinksextremisten gehörige terroristischer Vereinigungen ein. Die RH gewährt Beihilfen zu Anwaltsund Prozesskosten sowie zu Geldstrafen und Geldbußen. Mitglieder des Vereins diskreditieren das deutsche Rechtssystem regelmäßig als "Instrument der politischen Unterdrückung" und der "Gesinnungsjustiz". Der Bundesvorstand der RH sprach im Zusammenhang mit der Strafverfolgung einer 144 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus linksextremistisch motivierten Gewalttat vom "Versuch systematischer Abschreckung junger, politisch engagierter Menschen". Musik: Der Verein versucht, über Musik neue Anhänger und Unterstützer Rote Hilfe Soli zu finden. Im Internet bietet die RH eine CD mit dem Titel "Rote Sampler Hilfe Soli Sampler" an. Die Doppel-CD enthält 40 Lieder verschiedener Interpreten wie der linksextremistischen Nürnberger Band "Kurzer Prozess". In deren Lied "Ruhe im Gericht" heißt es: "Scheiß auf Gesetze und will Klassenkampf... Wir sind Massen wie ein Fels in der Brandung. Komm wir scheißen auf den Richter und sprengen die Verhandlung!" Im CD-Booklet werden die Leser aufgefordert, nicht mit den Behörden zusammenzuarbeiten, und Möglichkeiten zur Aussageverweigerung erläutert. Antikapitalistische Linke München (AL-M) Gründung 2011 Sitz München Die Antikapitalistische Linke München (AL-M) ist revolutionär-kommunistisch ausgerichtet und folgt dabei marxistisch-leninistischen und trotzkistischen Ideologieelementen. Nach ihrer Selbstdarstellung ist ihr Ziel die Beseitigung des demokratischen Verfassungsstaates und die Errichtung eines kommunistischen Systems: "...Notwendig ist: die Revolution. ... Die revolutionäre Theorie, um die Welt zu begreifen und sie zu verändern, ist der Marxismus. Die einzige Alternative zum heutigen Kapitalismus ist eine andere Gesellschaft: Der Kommunismus - dafür kämpfen wir." Bindeglied zur Die AL-M ist ein Bindeglied zwischen dem traditionell kommuautonomen Szene nistisch ausgerichteten Spektrum des Linksextremismus und der Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 145 autonomen Szene. Die Internetseite der AL-M entwickelte sich zu einer Mobilisierungsplattform für das gesamte linksextremistische Spektrum in München. Dort wird nicht nur zu autonomen Gruppen wie Antifa-NT verlinkt, sondern auch zu linksextremistischen Parteien und Organisationen wie der DKP und der SDAJ München. Die Gruppierung ist bei mehreren Themen, die von Linksextremisten besetzt werden, aktiv, z.B. bei Aktionen zum Antimilitarismus. Sie war maßgeblicher Mitorganisator der Proteste gegen die Sicherheitskonferenz im Februar in München. 7. Autonome, Anarchisten und Antideutsche 7.1 Autonome Autonome sind - überwiegend junge - gewaltbereite Linksextremisten. Sie bilden den weitaus größten Teil des gewaltbereiten linksextremistischen Personenpotenzials. Zur autonomen Szene zählen bundesweit rund 6.200 Personen, in Bayern etwa 650. 650 Autonome Autonome haben kein einheitliches ideologisches Konzept, sie in Bayern folgen vielmehr anarchistischen und anarcho-kommunistischen Vorstellungen. Einig sind sich alle Autonomen in dem Ziel, den 146 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus Staat und seine Einrichtungen - auch mit Gewalt - zu zerschlagen und eine "herrschaftsfreie Gesellschaft" zu errichten. Sie rechtfertigen Gewalt als erforderliches Mittel gegen die "strukturelle Gewalt" eines "Systems von Zwang, Ausbeutung und Unterdrückung". Gewalttätige Handlungen verstehen sie als Akt individueller Selbstbefreiung von den Herrschaftsstrukturen. Dazu gehören Brandstiftungen, Sabotage, Hausbesetzungen und militante Aktionen bei Demonstrationen. Autonome versuchen, auch demokratische Protestbewegungen für ihren Kampf gegen den Staat zu mobilisieren. Organisierte Autonomie (OA) Gründung ca. 1993 Sitz Nürnberg Publikationen barricada - zeitung für autonome politik und kultur Die OA ist ein Zusammenschluss eigenständiger autonomer Gruppen, der sich als offenes Projekt versteht. Dabei spiegelt der Name den Widerspruch zwischen jeglicher Ablehnung von Strukturen einerseits und dem erforderlichen Mindestmaß an Organisation zur Zielerreichung andererseits wider. In ihrer Selbstdarstellung tritt die OA für eine kommunistische, klassenlose und herrschaftsfreie Gesellschaft ein. Das von der OA verfolgte linksextremistische Antifaschismusverständnis wird in einer von ihr herausgegeben Broschüre deutlich: "Faschismus ist kein geschichtlicher Betriebsunfall, sondern ein gern genutztes Mittel der herrschenden, kapitalistischen Klasse zur Aufrechterhaltung ihres menschenverachtenden Systems". Die OA nutzt Treffund Veranstaltungsörtlichkeiten im Nürnberger Stadtteil Gostenhof. Zu diesen gehört das SelbstverwalKOMM e.V. tete Kommunikationszentrum Nürnberg e.V. (KOMM e.V.), das Anlaufstelle für viele linksextremistische Gruppierungen ist. In revolutionäre Gostenhof veranstaltet die OA auch ihre jährliche "revolutionä1. Mai-Demonre 1. Mai-Demonstration" und das im Anschluss daran stattfinstration dende "Internationalistische Straßenfest". An der Demonstration im Jahr 2012 nahmen bis zu 2.000 Personen teil, darunter etwa Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 147 500 der linksextremistischen bzw. autonomen Szene. Neben der OA beteiligten sich u.a. auch Unterstützer der SDAJ, der Linksjugend ['solid] und der JAF. Antifaschistische Linke Fürth (ALF) und Jugendantifa Fürth (JAF) Gründung 2005 ALF; 2009 JAF Sitz Fürth Das Antifaschismusverständnis der ALF zielt auf die Überwindung des bestehenden Systems als angebliche Ursache faschistischer Erscheinungsformen ab. Anlassbezogen wirkt die ALF auch in regionalen nicht-extremistischen Bündnissen mit. Auf eine Initiative der ALF geht die Gründung der Jugendantifa Fürth (JAF) zurück. Durch die JAF werden junge Menschen an die autonome Szene in Fürth herangeführt. Auch die JAF versteht unter Antifaschismus weit mehr als nur einen Kampf gegen Rechtsextremismus. Nach ihrem Verständnis muss Antifaschismus immer auch das Ziel haben, die kapitalistischen Verhältnisse und die bestehende staatliche Ordnung zu überwinden. Beide Gruppierungen gehörten zu den Unterstützern der Demonstration "Nazistrukturen bekämpfen! Verfassungsschutz abschaffen! Antifa in die Offensive" am 31. März in Nürnberg, bei der es zu schweren Ausschreitungen gegen Polizeibeamte kam. Die ALF organisierte für den 30. April in Fürth eine "antikapitalistische Vorabenddemonstration zum revolutionären 1. Mai" unter dem Motto "Nazis stoppen! Hoch die internationale Solidarität", an der rund 300 Angehörige autonomer Gruppierungen teilnahmen. Dabei gab es auch Redebeiträge der JAF und der Organisierten Autonomie (OA). 148 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus Antifa-NT Gründung bekannt seit 2006 Sitz München Die Gruppe Antifa-NT vertritt einen autonomen Antifaschismus, der darauf abzielt, die bestehende Gesellschaftsordnung durch eine klassenlose Gesellschaft zu ersetzen. Sie ist in der Lage, einen breiten Unterstützerkreis für Demonstrationen zu mobilisieren, wie zum Beispiel gegen die offiziellen Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober in München. An diesem antinationalen Aufzug beteiligten sich bis zu 500 Personen, darunter etwa 150 Autonome in einem Schwarzen Block. Kafe Marat Antifa-NT nutzt die Räumlichkeiten des Kafe Marat, das Teil eines selbstverwalteten Kulturzentrums ist. Das Kafe Marat dient Linksextremisten, insbesondere Autonomen, als Treffpunkt, logistisches Zentrum und Informationsbörse. Daneben nutzen auch andere nicht extremistische kulturelle und gesellschaftliche Gruppen das Kafe Marat für Treffen und Veranstaltungen. Coburger Aktionsbündnis gegen rechtsradikale Aktivitäten (CArA) Gründung 2006, ab 2009 als autonome Gruppierung aktiv Sitz Coburg Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 149 CArA ist ein Beispiel dafür, wie es Linksextremisten gelingen kann, bürgerliche Initiativen zu vereinnahmen. CArA war als pluralistisch-bürgerliches Jugendbündnis gegen Rechtsextremismus gegründet worden. In der Folgezeit entwickelte es sich zu einer linksextremistischen und gewaltorientierten Gruppierung. CArA wendet sich nicht nur gegen Rechtsextremismus, sondern auch gegen den Staat. Seine politischen Ziele sind die "Umwälzung der bestehenden Verhältnisse", d.h. "Nationalismus bekämpfen. Deutschland und Kapitalismus abschaffen". Auch die Gestaltung der Homepage weist auf die Zugehörigkeit zur autonomen Szene hin. Neben dem Symbol der Antifaschistischen Aktion wird eine vermummte Person gezeigt; das zweite "A" im Namenszug von CArA ist an das so genannte Anarcho-A angelehnt. CArA beteiligte sich 2012 z.B. gemeinsam mit anderen autonomen Gruppierungen an einem Bündnis, das zur Vorbereitung der Protestaktionen gegen die offiziellen Feierlichkeiten zum Tag der Deutschen Einheit in München gegründet worden war. 7.2 Anarchisten Anarchismus ist eine Sammelbezeichnung für politische Auffassungen und Bestrebungen, die auf die Abschaffung jeglicher Herrschaft von Menschen über Menschen abzielen. Allen anarchistischen Strömungen ist die Forderung gemein, den Staat als Herrschaftsinstitution abschaffen zu wollen - und zwar unabhängig von einer demokratischen oder diktatorischen Ausrichtung. Häufig schließt eine solche Auffassung einen grundsätzlichen Antiinstitutionalismus ein. Anarchisten sehen Bürokratien, Kirchen, Parteien, Parlamente und Vereine als Einrichtungen, die einem freiwilligen Zusammenschluss von emanzipierten und mündigen Menschen entgegenstehen. 150 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus Diese Ablehnung von Hierarchie und Unterordnung hat zur Folge, dass Anarchisten sich selbst in der Regel nur schlecht organisieren können, lediglich lose strukturierte Gruppierungen bilden und die Gründung einer anarchistischen Partei ablehnen. Anarchistische Umtriebe Auxburg (AK AUA) Sitz Augsburg Der AK AUA ist antistaatlich und antidemokratisch orientiert. Er versteht sich als anarchistische Gruppierung, deren Ziel es ist, in einem "Kampf gegen den Staat und die Politik" eine herrschaftslose Gesellschaft zu erreichen. Gewalt sei dabei ein "notwendiges Mittel, um die aktuellen Zustände endgültig zu überwinden" und "die einzige Sprache, die der Staat und seine Organe verstehen". Die Gruppierung nutzt den seit 2001 bestehenden "KulturGanze Bäckerei laden in Selbstverwaltung Die Ganze Bäckerei" in Augsburg, auf dessen Homepage regelmäßig auf Veranstaltungen der linksextremistischen Szene hingewiesen wird. Der AK AUA unterstützte ein von der SDAJ organisiertes Konzert am 25. Februar in Augsburg, an dem u.a. der linksextremistische Musiker Crument beteiligt war. 7.3 Antideutsche Bei den so genannten Antideutschen handelt es sich um eine Strömung innerhalb des linksextremistischen Spektrums, die einem deutschen Staat jede Existenzberechtigung abspricht, Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Linksextremismus 151 da sie von einem spezifisch deutschen Faschismus ausgeht. Antideutsche erachten den "deutschen Faschismus" als besonders aggressiv. Den Grund dafür sehen sie in der deutschen Vergangenheit, insbesondere in dem damals auf Vernichtung ausgerichteten Antisemitismus. Der Holocaust des Dritten Reiches hat nach Ansicht der Antideutschen zur Folge, dass bis zur weltweiten Überwindung des Antisemitismus Israel als einziger Staat eine "Existenzberechtigung" habe. Damit vertreten Antideutsche im Gegensatz zu traditionellen Linksextremisten eine klare pro-israelische und pro-amerikanische Haltung. Das antideutsche Politikverständnis zieht zum einen Linksextremisten aus dem revolutionär-marxistischen Spektrum an, die sich an der Lehre von Karl Marx orientieren und Wert auf ideologische Ausbildung, z. B. in Form von Seminaren und Vortragsveranstaltungen, legen; zum anderen fühlen sich auch Teile der autonomen Szene vom extremen Antifaschismusverständnis der antideutschen Strömung und der Israel-solidarischen Haltung angesprochen. 152 ScientologyOrganisation (SO) > Der Rückgang der Mitgliederzahl in Bayern hält an. > Die SO hat vergeblich versucht, mit einer Briefkampagne an bayerischen Schulen Fuß zu fassen. > Behörden verfolgen Verstöße der SO gegen das Jugendschutzgesetz. > Die SO nimmt Gesundheitsschäden ihrer Mitglieder in Kauf. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Scientology-Organisation 153 Die Scientology-Organisation (SO) ist eine internationale Organisation, die zum einen auf finanzielles Gewinnstreben ausgerichtet ist und zum anderen ein weltweites, unumschränktes Herrschaftssystem nach eigenen Vorstellungen errichten möchte. An die Stelle des Demokratieprinzips und der Grundrechte soll ein auf PsychoTechnologien und der bedingungslosen Unterordnung des Einzelnen beruhendes totalitäres Herrschaftssystem unter scientologischer Führung treten. Die SO ist somit nicht nur eine Gefahr für Einzelne, die in die Fänge und den Einflussbereich der Organisation zu geraten drohen, sondern stellt auch das demokratische System der Bundesrepublik Deutschland und die staatliche Garantie der Grundrechte in Frage. Schon in seinem Grundlagenwerk "Dianetik" aus dem Jahr 1950 wies der Gründer der SO, Lafayette Ron Hubbard, auf die politische Relevanz seiner Lehre hin. Nach seinen bis heute unveränderten und für alle Scientologen verbindlichen Vorstellungen soll eine ausschließlich nach scientologischen Richtlinien funktionierende Welt geschaffen werden. Mit harten psychound sozialtechnischen Instrumenten will die Organisation nicht nur den einzelnen Menschen steuern, sondern durch Einflussnahme auf Staat, Politik und Wirtschaft in die Gesellschaft eindringen, um sie den scientologischen Zielen zu unterwerfen. Programmatik und Aktivitäten der SO sind mit den Grundprinzipien unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung unvereinbar. Die SO - will ein scientologisches Rechtssystem etablieren, in dem es keine Menschenund Grundrechte gibt, - missachtet die Menschenwürde (Artikel 1 des Grundgesetzes) und den Gleichheitsgrundsatz (Artikel 3 des Grundgesetzes), da sie nur Scientologen Rechte zugesteht, 154 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Scientology-Organisation - missachtet das Grundrecht der freien Meinungsäußerung (Artikel 5 des Grundgesetzes), da sie Kritik mit allen - auch illegalen - Mitteln unterdrücken will, - baut auf ein totalitäres Herrschaftssystem, das Gewalt und Willkürherrschaft einschließt. Das Oberverwaltungsgericht Münster hat mit Urteil vom 12. Februar 2008 festgestellt, dass - tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die SO Bestrebungen verfolgt, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind, - zahlreiche Hinweise ergeben, dass die SO eine Gesellschaftsordnung anstrebt, in der zentrale Verfassungswerte außer Kraft gesetzt oder eingeschränkt werden, - der Verfassungsschutz die Organisation daher - auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln - beobachten darf. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Scientology-Organisation 155 1. Personenpotenzial Deutschland Bayern Mitglieder 4.000 etwa 1.200 Vorsitzender Helmut Blöbaum Nina Malessa Gründung München 1972 ("Scientology Nürnberg 1982 ("Scientology Kirche Deutschland e.V.") Kirche Bayern e.V.") Sitz München München (in Deutschland unselbständige Teilorganisationen) Publikationen Freiheit; Impact; Ursprung; Source u. a. Die SO verzeichnet in Bayern weiterhin eine sinkende Mitgliederzahl (2011: etwa 1.400 Mitglieder). Staatliche Aufklärungsarbeit und kritische Darstellung in den Medien haben die Organisation und deren Ziele für die Öffentlichkeit transparent gemacht und erschweren es der SO, neue Mitglieder zu gewinnen. 2. Aktionen und Aktivitäten 2.1 Rundschreiben der "Scientology Kirche Deutschland e.V." an bayerische Schulen Der Dachverband der SO in Deutschland, die "Scientology Kirche Deutschland e.V." (SKD), hat im Jahr 2012 versucht, an bayerischen Schulen für die SO zu werben. Dazu versandte die SKD mit einem Anschreiben ihre "Grundsatzerklärung über Menschenrechte und Demokratie" sowie eine DVD. In dem Anschreiben kritisierte sie die aus ihrer Sicht einseitigen Darstellungen zum Thema Minderheitsreligionen und Scientology und bot an, einen Vertreter ihrer Organisation für Vorträge oder Diskussionen an Schulen zu schicken. Da die Schulen regelmäßig über die Vorgehensweisen der SO informiert werden, lief die Werbeaktion der SKD ins Leere. 156 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Scientology-Organisation 2.2 Verstöße der SO gegen die Kennzeichnungspflicht von DVDs nach dem Jugendschutzgesetz Die SO bietet die Werke Hubbards insbesondere im Rahmen ihrer Mitgliederanwerbung nicht nur als Bücher, sondern auch als DVDs an. Mit den Medien sollen vor allem Jugendliche angesprochen werden. Bei einer vom Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz initiierten Überprüfung mehrerer DVDs der SO wurde festgestellt, dass die DVDs drastische Sequenzen oder Gewaltdarstellungen enthalten. Die Wirkung der Einspielungen relativiert sich zwar im Gesamtzusammenhang des Films; sie können sich allerdings verstörend oder gar verängstigend auf jüngere Kinder auswirken, denen sich die inhaltlichen Zusammenhänge noch nicht erschließen. Die DVDs dürfen daher nach dem Jugendschutzgesetz nicht ohne Altersbeschränkung (FSKKennzeichnung) freigegeben werden. Beim Filmmaterial der SO fehlte bislang die erforderliche Kennzeichnung. Die Landeshauptstadt München hat die Geschäftsführung der "Scientology Kirche Bayern e.V." (SKB) daher aufgefordert, bei öffentlichen Veranstaltungen in geeigneter Form darauf hinzuweisen, dass die ausgelegten Medienträger wegen fehlender Kennzeichnung Minderjährigen nicht angeboten oder überlassen werden dürfen. Bei gezielten Kontrollen von Infoständen/Versammlungen der SO in München wurde mehrfach das Fehlen dieses Hinweises festgestellt. Die DVDs mussten daraufhin weggeräumt werden. 2.3 Mögliche Gesundheitsschäden durch Reinigungs-Rundown Auf Initiative des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz wurden in Zusammenarbeit mit den Gesundheitsbe - hörden die Risiken und Gefahren des Reinigungs-Rundowns und die damit verbundene hochdosierte Einnahme des Vitaminpräparats Niacin untersucht. Das Ergebnis wurde in einer Warnmeldung des Bundesinstitutes für Risikobewertung veröffentlicht (www.bfr.bund.de). Der Reinigungs-Rundown soll als scientologische Methode zur Verbesserung des allgemeinen Lebensgefühls und des Bewusstseins dienen. In einem Zeitraum Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Scientology-Organisation 157 von zwei bis sechs Wochen müssen die Teilnehmer neben täglichen Dauerläufen und mehrstündigen Saunasitzungen auch hochdosierte Vitaminpräparate wie Niacin - bis zu 5.000 mg täglich - einnehmen. Bereits die Einnahme von mehr als 10 mg pro Tag wird als gesundheitsschädlich angesehen. Die überdosierte Verabreichung von Niacin über einen längeren Zeitraum kann schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben. Der Reinigungs-Rundown wird deutschlandweit in allen "Kirchen" (Orgs) und Celebrity Centres der SO durchgeführt, in Bayern in der Org München und im Celebrity Centre München. 3. Organisationsstruktur Die SO ist wie ein internationaler Wirtschaftskonzern organisiert und strukturiert. Alle Einrichtungen unterliegen trotz scheinbarer Selbstständigkeit der strikten Befehlsund Disziplinargewalt des Religious Technology Center (RTC) in Los Angeles/USA unter der Leitung von Hubbard-Nachfolger David Miscavige. David Miscavige 158 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Scientology-Organisation Kern ist der Church-Bereich, der in "Kirchen" (Org), Missionen und Celebrity Centres gegliedert ist. Dachverband in Deutschland ist die "Scientology Kirche Deutschland e.V." (SKD), in Bayern exis"Scientology Kirche tiert parallel dazu die "Scientology Kirche Bayern e.V." (SKB). BeiBayern e.V." de haben ihren Sitz in München. In München gibt es zudem eine Mission und ein Celebrity Centre (vorgesehen für Prominente). In Deutschland gibt es insgesamt neun Missionen, sechs in BadenWürttemberg sowie je eine in Bremen, Hessen und in MünchenWest, die im Herbst 2012 neue Räumlichkeiten bezogen hat. In der SO-Hierarchie stehen die Missionen unterhalb der Org und können nur grundlegende Dienstleistungen anbieten. Alle weltweiten Missionen stehen unter der Führung der Scientology Missions International (SMI) mit Sitz in Los Angeles/USA. Die Veröffentlichung interner Missionsranglisten sorgt für gegenseitige Konkurrenz zwischen den Missionen. Den besten Listenplatz erhält die Mission mit dem größten Umsatz, den meisten Neuanwerbungen oder dem höchsten Spendenaufkommen. WISE Das World Institute of Scientology Enterprises (WISE) ist ein franchiseähnlicher Zusammenschluss von Unternehmen, die durch Lizenzverträge an die SO gebunden sind und nach deren Methoden arbeiten. WISE hat zum Ziel, die Wirtschaft zu unterwandern und Gewinne durch den Verkauf von SO-ManagementTechniken an Unternehmen zu erwirtschaften. WISE-Unternehmen sind vor allem in der Immobilienbranche sowie in der Unternehmensund Personalberatung aktiv. Darüber hinaus versucht Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Scientology-Organisation 159 die SO verstärkt, Einfluss auf die IT-Branche zu gewinnen, die Zugang zu den sensibelsten Daten und Unternehmensbereichen eröffnen kann. Durch die Associaton for Better Living and Education (ABLE) verABLE sucht die SO, sich auch als soziale Organisation darzustellen. Zu ABLE gehören u.a. die vermeintliche Hilfsorganisation für Drogenabhängige NARCONON und das Ausbildungsprogramm Applied Scholastics. Aus Sicht der SO sind Betroffene hier leichter zu beeinflussen und für die Lehre der SO zu gewinnen. Mit der Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte (KVPM) richtet sich die SO mit aggressiver Kritik sowohl gegen die Psychiatrie im Allgemeinen als auch gegen einzelne psychiatrische Kliniken und deren ärztliche Leiter. Ihre Initiative Jugend für Menschenrechte soll Jugendliche für die Themen der SO beJugend für geistern und mit aktiver Nachwuchsgewinnung sinkenden MitMenschenrechte gliederzahlen entgegenwirken. Innerhalb des streng hierarchischen Aufbaus der SO gibt es zahlGeheimdienst reiche Überwachungseinrichtungen und einen eigenen Geheimder SO dienst, das Office of Special Affairs (OSA). Diese sollen Informationen über Kritiker, Behördenangehörige und andere Gegner sammeln, auswerten und als Druckmittel verwenden. Die OSAEinheit für Deutschland (Department of Special Affairs - DSA) ist zwar strukturell bei der "Scientology Kirche Deutschland e.V." angesiedelt, aber im Herbst 2012 an den Sitz der "Scientology Kirche Bayern e.V." umgezogen. Hubbard sah in der OSA hauptsächlich das Ziel "... Behörden und ... Denkmodelle oder Gesellschaften in einen Zustand völliger Übereinstimmung mit den Zielen der SO zu bringen. ... Dies geschieht durch die hochrangige Fähigkeit zur Steuerung und - falls sie nicht gegeben ist - durch die weiter unten angesiedelte Fähigkeit zur Überwältigung." (Hubbard-Anweisung vom 15. August 1960) Im Allgemeinen treten SO-Einrichtungen überwiegend offen auf bzw. versuchen nicht, ihre Verbindung zur SO zu verschleiern. Daneben bedient sich die SO allerdings auch Nebenund TarnNebenund organisationen, die auf den ersten Blick keinen Zusammenhang Tarnorganisationen mit der SO erkennen lassen, mit denen aber Botschaften zu un- 160 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Scientology-Organisation terschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Themen transportiert werden sollen. Kontaktaufnahme SO-Einrichtungen versuchen oft, auf folgenden Wegen einen ersten Kontakt herzustellen: - Veranstaltungen und Info-Stände in Fußgängerzonen - Ansprechen auf der Straße mit dem Angebot, einen Persönlichkeitstest zu machen - Zusenden von Werbematerial - Angebote an Unternehmen zu Betriebsführungstechniken und Kursen zur Persönlichkeitsveränderung - Angebote auf dem Nachhilfemarkt - Kontaktaufnahmen in sozialen Netzwerken wie facebook und Youtube Ideale Org-Kampagne Im Rahmen ihrer Ideale Org-Kampagne will die SO weltweit in Städten, die sie für sich als politisch und wirtschaftlich bedeutsam einschätzt, große und repräsentative Niederlassungen (Ideale Orgs) aufbauen bzw. bereits bestehende vergrößern. Diese Idealen Orgs sollen politischen Einfluss nehmen (u.a. durch Standorte in Regierungs-/Parlamentsnähe). Im Januar 2012 wurde in Hamburg eine neue Ideale Org eröffnet, die nach Berlin (Eröffnung 2007) die zweite in Deutschland ist. Damit wurden die Vorgaben des internationalen Managements der SO erfüllt, das dieses weltweite Projekt nach wie vor als wichtigen Bestandteil seines weltweiten Expansionsanspruchs betrachtet. In München finden fortlaufend Ideale-Org-Veranstaltungen statt, die gemeinsam von der Org München und dem Celebrity Centre organisiert werden. Dabei gibt es regelmäßig Spendenaufrufe für die Finanzierung eines Gebäudekaufes. Allerdings ist es nicht zuletzt wegen der rückläufigen Mitgliederzahl unwahrscheinlich, dass der für den Kauf benötigte Geldbetrag allein durch Spenden aufgebracht werden kann. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Scientology-Organisation 161 Vertrauliches Telefon Für Opfer und Aussteiger der SO sowie für Angehörige von SO-Mitgliedern unterhält das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz ein vertrauliches Telefon; dort können Hinweise zur SO gegeben werden: Telefon: 089 /31 20 12 96 162 Spionageabwehr und Wirtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Spionageabwehr 163 Die Nachrichtendienste vieler Staaten - insbesondere Russlands und Chinas - haben die Aufgabe, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Militärtechnologie anderer Länder auszuforschen. Ihr Ziel ist es, entweder die Erkenntnisse selbst zu nutzen oder die Möglichkeit zu haben, andere Staaten zu sabotieren. Dabei werden deutsche Interessen sowohl in Deutschland als auch weltweit ausspioniert. Politische Spionage ist auf die Außen-, Europaund Bündnispolitik sowie die Wirtschaftsund Energiepolitik Deutschlands ausgerichtet. Wie intensiv ein Staat Wirtschaftsspionage betreibt, ist abhängig von seiner eigenen wirtschaftlichen Lage. Wirtschaftlich weniger entwickelte Staaten spionieren in erster Linie Produkte und Fertigungsprozesse aus. Zum "Nulltarif" wollen sie an das Know-how gelangen. Wirtschaftlich hochentwickelte Staaten wollen darüber hinaus auch an strategische Informationen gelangen, um die eigene Wirtschaft im globalen Wettbewerb besser stellen zu können. Um an die Informationen zu kommen, setzen die "Täter-Länder" immer mehr auf elektronische Angriffe gegen Computersysteme von Behörden, Hochschulen und Wirtschaftsunternehmen. Spionage - vor allem Wirtschaftsspionage - verursacht in Deutschland jährlich Schäden in Milliardenhöhe und gefährdet Arbeitsplätze. Gerade auch bayerische Firmen und Hochschuleinrichtungen stehen wegen ihrer Innovationskraft in nahezu allen Branchen und Forschungsbereichen im Blickfeld ausländischer Nachrichtendienste. Besonders gefährdet sind kleine und mittelständische Firmen, die Spitzentechnologie entwickeln oder produzieren, da sich diese oft noch nicht ausreichend vor Spionageangriffen schützen. Der bayerische Verfassungsschutz, der für die Spionageabwehr zuständig ist, sieht daher eine seiner wichtigsten Aufgaben im Wirtschaftsschutz. 164 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Spionageabwehr Es gibt keine Erkenntnisse darüber, dass westliche Nachrichtendienste systematisch Wirtschaftsspionage gegen Deutschland betreiben. Neben Spionageaktivitäten bemühen sich einige Länder darum, in den Besitz von Technologien für atomare, biologische oder chemische Massenvernichtungswaffen mit den erforderlichen Trägersystemen zu gelangen (Proliferation). Staaten mit totalitären Regimen - insbesondere des Nahen und Mittleren Ostens sowie einige Länder Nordafrikas - setzen ihre Nachrichtendienste in Deutschland auch ein, um hier lebende politische Gegner zu beobachten (Oppositionellenbeobachtung). 1. Spionageaktivitäten ausländischer Nachrichtendienste Viele ausländische Nachrichtendienste arbeiten getarnt in Deutschland. Unter dem Deckmantel einer offiziellen (z.B. Botschaft oder Generalkonsulat) oder halboffiziellen (z.B. PresseTarnung als agentur) Vertretung unterhalten sie so genannte LegalresidentuDiplomaten oder ren. Dort tarnen die Nachrichtendienste ihre Mitarbeiter z.B. als Journalisten Diplomaten oder Journalisten, die entweder Informationen selbst beschaffen oder nachrichtendienstliche Operationen, die direkt aus den Heimatländern geführt werden, unterstützen. Zu den Aufgaben der Nachrichtendienstmitarbeiter gehört es auch, z.B. Messen oder Vortragsveranstaltungen zu besuchen. Dabei knüpfen sie viele Kontakte zu Gesprächspartnern mit dem Ziel, Informationen möglichst längerfristig abzuschöpfen. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Spionageabwehr 165 Beschaffungsmethoden fremder Nachrichtendienste Offene Beschaffung Konspirative Beschaffung - Auswertung offener Quellen - Einsatz menschlicher Quellen - Gesprächsabschöpfung - Einsatz technischer Mittel - Teilnahme am Wirtschafts- - Umgehung von Ausfuhrbeleben schränkungen 1.1 Russische Föderation Aufgabe russischer Nachrichtendienste ist es, neben den poliGesetzlicher tischen auch die wirtschaftlichen Interessen Russlands weltAuftrag zur weit voranzutreiben. Die russische Wirtschaft profitiert in erhebWirtschaftslichem Maß davon, dass alle russischen Nachrichtendienste spionage gesetzlich dazu verpflichtet sind, Wirtschaftsspionage zu betreiben. Russland setzt vor allem drei Nachrichtendienste ein: Ziviler Auslandsnachrichtendienst (SWR) Der SWR ist zuständig für Spionage in den Bereichen Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie. Darüber hinaus forscht er Ziele und Arbeitsmethoden westlicher Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden aus; dazu führt er auch elektronische Fernmeldeaufklärung durch. Zur Informationsbeschaffung setzt der SWR so genannte Illegale ein, d.h. Nachrichtendienstoffiziere, die unter Verwendung falscher Identitäten langfristig in die Zielländer eingeschleust werden und dort möglichst unauffällig am sozialen Leben teilnehmen. Solche Illegale waren z.B. ein russisches Ehepaar, gegen das die Generalbundesanwaltschaft beim Bundesgerichtshof im September Anklage wegen geheimdienstlicher Agententätigkeit und mittelbarer Falschbeurkundung erhoben hat. Das Ehepaar, das 2011 in Baden-Württemberg und Hessen festgenommen worden ist, war vor über 20 Jahren über Südamerika nach Deutschland eingeschleust worden. Es war vom SWR dafür eingesetzt worden, einen ehemaligen Diplomaten, der zuletzt im niederländischen Außenministerium beschäftigt war und Zugang zu amtlichen Dokumenten von EU und NATO hatte, als Agenten zu führen. Der enttarnte Niederländer wurde im März verhaftet. 166 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Spionageabwehr Inlandsnachrichtendienst (FSB) Hauptaufgaben des FSB sind die zivile und militärische Spionageabwehr, er hat dazu umfangreiche Befugnisse. Auch ausländische Staatsangehörige können in das Blickfeld des FSB geraten und gezielt überwacht werden, wenn sie in Russland Internet oder Telefon nutzen. Er hat ständigen Zugriff auf den Datenverkehr, der über russische Provider abgewickelt wird, und Zugang zu Datenbanken russischer Telefongesellschaften. Militärischer Auslandsnachrichtendienst (GRU) Der GRU hat die Aufgabe, das gesamte sicherheitspolitische und militärische Spektrum aufzuklären. Dazu spioniert er Bundeswehr, NATO und andere westliche Verteidigungsstrukturen genauso wie militärisch nutzbare Technologien aus. 1.2 Volksrepublik China China hat es sich zum Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2020 das wirtschaftliche Niveau der USA und Europas zu erreichen. Dieses Ziel will China insbesondere durch die Beschaffung von Spitzentechnologie aus dem Westen erreichen und setzt dazu auch auf großangelegte Spionage in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie. Chinesische Nachrichtendienste verBayern als Hochsuchen, am Hochtechnologiestandort Bayern entsprechendes technologiestandort Know-how insbesondere aus den Bereichen erneuerbare Enerim Visier gien, Elektromobilität, Umwelttechnik sowie Informationsund Militärtechnologie zu beschaffen. Hierfür nutzen sie in erster Linie Kontakte zu Vertretern von Behörden und Unternehmen oder Wissenschaftlern, um an sensible Informationen zu gelangen. Bei Personen mit interessanten Zugangsmöglichkeiten versuchen sie auch, eine persönliche Bindung aufzubauen, um diese als Quellen noch besser abschöpfen zu können. Neben Nachrichtendienstmitarbeitern an Legalresidenturen setzt China zur Informationsbeschaffung auch in Deutschland lebende Chinesen ein, die sich hier als Ingenieure, Gastwissenschaftler, Praktikanten oder Studenten aufhalten. Für die Anwerbung und Abschöpfung nutzt China die Kontakte von Visumsan- Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Spionageabwehr 167 tragstellern zu Botschaften und Konsulaten oder ihren Aufenthalt im Heimatland, beispielsweise zu Verwandtschaftsbesuchen. Außerdem werden deutsche Geschäftsreisende in China intensiv Überwachung von überwacht, insbesondere bei der Nutzung von Telefon und InterGeschäftsreisenden net. Dabei werden mitgeführte elektronische Datenträger offen oder verdeckt ausgespäht. Neben Spionage ist es auch Aufgabe der chinesischen Nachrichtendienste, Informationen über Personen zu erlangen, von denen die Regierung eine Gefährdung der staatlichen Ordnung befürchtet. Beispielsweise werden in Bayern lebende Angehörige der Uiguren sowie der von ihnen gegründeten Organisationen beobBeobachtung achtet. Diese Volksgruppe strebt in China die Unabhängigkeit an der Uiguren und wird deshalb als staatsfeindlich betrachtet. In München ist mit dem WUC (World Uyghur Congress) die bedeutendste Organisation der Uiguren im Ausland ansässig. Bei der Beobachtung der Uiguren setzt China auch chinesische Journalisten als Informanten ein, da diese in der Öffentlichkeit unauffälliger agieren können. In Deutschland sind im Wesentlichen zwei chinesische Nachrichtendienste aktiv: Ministerium für Staatssicherheit (MSS) Das MSS ist der weltweit größte zivile Inund Auslandsdienst. Hauptaufgabe des MSS ist die Auslandsspionage, in Deutschland bemüht es sich um die Informationsbeschaffung aus Wirtschaft und Politik und späht oppositionelle Gruppierungen aus. Militärischer Nachrichtendienst (MID) Die chinesischen Nachrichtendienste unterstützen das langfristig angelegte Programm Chinas zur Steigerung der militärischen Leistungsfähigkeit der Volksbefreiungsarmee. Aufgabe des MID ist es, weltweit Informationen, die die äußere Sicherheit der Volksrepublik betreffen, sowie technologisches Know-how für militärische Zwecke zu beschaffen. Zusammen mit anderen chinesischen Nachrichtendiensten bekämpft er Oppositionelle und separatistische Bewegungen im Inund Ausland. 168 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Spionageabwehr 2. Proliferation Proliferation ist die unerlaubte Weiterverbreitung von atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen bzw. der zu ihrer Herstellung verwendeten Produkte sowie von entsprechenden Waffenträgersystemen einschließlich des dafür erforderlichen Know-hows. Länder, die Proliferation betreiben - insbesondere der Iran, Syrien, Pakistan und Nordkorea - versuchen auch in Deutschland, proliferationsrelevante Güter zu beTarnfirmen schaffen. Dazu gründen sie in Deutschland oft Tarnfirmen, versenden die Produkte über unkritische Drittländer oder machen falsche Angaben gegenüber dem Hersteller oder Händler. So minimieren sie das Risiko, dass die illegale Ausfuhr aufgedeckt wird, und umgehen die Verhängung eines Ausfuhrverbotes. Zusammenarbeit des Verfassungsschutzes mit der Wirtschaft Bayern ist als Hochtechnologiestandort weltweit führend. Die Beschaffungsbemühungen der Proliferationsstaaten richten sich insbesondere auf mittelständische Unternehmen und Universitäten. Um Proliferation zu verhindern, arbeitet das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz daher eng mit Wirtschaft und Wissenschaft zusammen. Es informiert und sensibilisiert proliferationsgefährdete Unternehmen über die Gefahren einer möglichen Weitergabe von kritischen Technologien und unterstützt mit individuellen Maßnahmen bei Verdachtsfällen. Dadurch konnten bereits verschiedene Beschaffungsbemühungen unterbunden werden. Beispielsweise konnte das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz durch seine Recherchen den iranischen Staat als eigentlichen Auftraggeber einer Anfrage zu sensibler Nukleartechnologie ausmachen und dabei ein Netz von 50 bislang Verhinderung unbekannten ausländischen Tarnfirmen identifizieren. Ein in von Proliferation Bayern ansässiges Unternehmen hatte das Bayerische Landesdurch den Iran amt für Verfassungsschutz über die verdächtige Anfrage einer Firma aus einem Nachbarland des Iran informiert. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Spionageabwehr 169 Um den Abfluss proliferationsrelevanter Technologien im Hochschulbereich zu verhindern, überprüft eine vom Auswärtigen Amt und deutschen Sicherheitsbehörden initiierte "Arbeitsgemeinschaft Gastwissenschaftler" routinemäßig Deutschlandaufenthalte von Gastwissenschaftlern aus bestimmten Staaten auf eine mögliche Proliferationsgefahr. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz sensibilisiert daraufhin die gastgebenden bayerischen Universitäten. 3. Elektronische Angriffe, Cyber-Angriffe Elektronische Angriffe sind gezielte Maßnahmen mit und gegen IT-Infrastrukturen zur Informationsbeschaffung oder Sabotage. Die Angriffe erfolgen sowohl über das Internet als auch beispielsweise über manipulierte USB-Sticks. Die Nachhaltigkeit und Anzahl der Angriffe weist auf eine strategische Aufklärung hin. Auf Grund der Ziele und Methoden der zunehmenden elektronischen Angriffe ist in vielen Fällen von einem nachrichtendienstlichen NachrichtendienstHintergrund auszugehen; dabei wird die überwiegende Zahl der licher Hintergrund in Deutschland festgestellten Angriffe der Volksrepublik China zugerechnet. Mit einer weiteren Zunahme der Angriffe ist zu rechnen, zumal die vermehrte Nutzung mobiler internetfähiger Geräte und der Zugriff auf soziale Netzwerke auch am Arbeitsplatz neue Angriffsmöglichkeiten bieten. Die elektronischen Angriffe richten sich in der Regel gegen ausgewählte Personen aus Politik und Wirtschaft. Den Angriffen geht häufig ein "social engineering" voraus. Dabei werden die Opfer gezielt ausgesucht, ausgeforscht und schließlich angegriffen. E-Mails, die genau auf den jeweiligen Empfänger zugeschnitten sind, erhöhen die Erfolgsaussichten. Die E-Mails sind Manipulierte meist den Aufgabengebieten der Opfer angepasst; durch geE-Mails fälschte Absenderadressen wird dem Empfänger Vertrauenswürdigkeit vorgegaukelt. Die eingesetzte Schadsoftware wird von vielen Virenschutzprogrammen nicht erkannt. Wird ein mit einem Schadprogramm versehener Anhang einer gefälschten 170 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Spionageabwehr E-Mail geöffnet, installiert sich das Programm, um Daten auszuspionieren, zu kopieren oder zu manipulieren. Beispielsweise bemerkte die IT-Abteilung eines bayerischen Hightech-Unternehmens Anfang des Jahres, dass es Hackern gelungen war, über einen Webserver in das Firmennetz einzudringen. Ermittlungen des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz haben ergeben, dass sich die Hacker bei Anrufen als Mitarbeiter des Unternehmens ausgaben und durch dieses "social engineering" an E-Mail-Adressen der Mitarbeiter gelangten. Diesen wurden anschließend gefälschte E-Mails mit Schadprogrammen im Anhang zugestellt. Ein nachrichtendienstlicher Hintergrund dieses professionellen elektronischen Angriffs kann nicht ausgeschlossen werden. 4. Wirtschaftsschutz Spionage verursacht in Deutschland jährlich einen Schaden in Milliardenhöhe. Nach wie vor sind sich nicht alle Unternehmen dieser Gefahr bewusst. Im Rahmen seiner Spionageabwehr ist es dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz daher beBeratung von sonders wichtig, bayerische Unternehmen sowie Hochschulen Unternehmen und zu informieren, zu sensibilisieren und zu beraten. Es bietet rund Hochschulen um die Themen Proliferation, Wirtschaftsund Wissenschaftsspionage kostenfreie Serviceleistungen an, z.B. allgemeine Vorträge zur Sensibilisierung bis zu vertraulichen Gesprächen in betroffenen Firmen und Hochschulen. Darüber hinaus informieren Flyer und Broschüren zu speziellen Themen mit praxisorientierten Verhaltenstipps über Know-how-Schutz. Beispielsweise klärt eine in Zusammenarbeit mit der Hochschule Augsburg entwickelte Broschüre über "Soziale Netzwerke und ihre Auswirkungen auf die Unternehmenssicherheit" auf. Zusammen mit dem Staatsministerium für Wirtschaft, Infrastruktur, Verkehr und Technologie betreibt das Bayerische Landesamt seit einigen Jahren das Online-Portal "Wirtschaftsschutz Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Spionageabwehr 171 Bayern" Der Besucher betritt dort ein virtuelles Unternehmen, in dem er das gesamte Beratungsangebot sowie weitere Links rund um das Thema Know-how-Schutz findet. Das Portal eignet sich auch zur firmeninternen Sensibilisierung. www.wirtschaftsschutz.bayern.de Um gemeinsam mit der Wirtschaft die erfolgreiche Spionageabwehr weiterführen zu können, ist das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz auf Hinweise und Informationen durch betroffene Firmen und Forschungseinrichtungen angewiesen. Nur so können Situationen richtig bewertet und neue Angriffsmuster Vertrauliche erkannt werden. Die Hinweise werden selbstverständlich absolut Behandlung vertraulich behandelt. von Hinweisen Wirtschaftsschutz im Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz Telefon: 089 /312 01-500 E-Mail: wirtschaftsschutz@lfv.bayern.de www.wirtschaftsschutz.bayern.de 172 Organisierte Kriminalität (OK) > Strukturveränderungen innerhalb der Rockergruppierungen führen zu erhöhtem Konfliktpotenzial. > Mitglieder der russischen OK agieren in Bayern. > Die italienische Mafia betreibt Rauschgifthandel in Bayern. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Organisierte Kriminalität 173 Organisierte Kriminalität (OK) liegt vor, wenn mehrere Personen planmäßig erhebliche Straftaten begehen, um Gewinne zu erzielen oder Macht zu erlangen. Dazu wenden sie Gewalt an, nutzen geschäftsähnliche Strukturen oder versuchen, Politik, Verwaltung, Justiz, Medien oder Wirtschaft zu manipulieren (vgl. Art. 1 Abs. 3 Bayerisches Verfassungsschutzgesetz). Durch die OK wird allein in Deutschland seit Jahren ein Schaden in Milliarden-Höhe verursacht. Drahtzieher der OK bedrohen die Grundlagen unserer Gesellschaft, indem sie die Macht einer kriminellen Organisation durch Gewalt, Geld und massive Einflussnahme durchsetzen wollen. In Bayern ist daher seit 1994 der Verfassungsschutz für die Beobachtung der OK zuständig, um deren Aktivitäten bereits in einem früheren Stadium zu beobachten als dies durch Polizei und Staatsanwaltschaft möglich ist. Dadurch wurde eine wichtige Lücke im Kampf gegen die OK geschlossen. Personen, die der OK angehören oder sich in deren Umfeld bewegen, verhalten sich unauffällig und konspirativ. Die Aufklärung dieser Strukturen setzt daher eine systematische und langfristig angelegte Beobachtung voraus. Um möglichst schon im Vorfeld von Straftaten an das entscheidende "Insiderwissen" zu gelangen, können erforderlichenfalls nachrichtendienstliche Mittel eingesetzt werden. Strukturermittlungen schaffen Grundlagen für polizeiliche Verfahren und können laufende Ermittlungen unterstützen. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz arbeitet eng mit den OK-Dienststellen der Polizei zusammen und kooperiert aufgrund der international vernetzten OK-Strukturen mit Sicherheitsbehörden über Landesbzw. Staatsgrenzen hinweg. Innerhalb einer Arbeitsgruppe der europäischen Inlandsnachrichtendienste hat Bayern die Koordinierungsfunktion für Deutschland und ist zentraler Ansprechpartner für ausländische Nachrichtendienste. 174 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Organisierte Kriminalität 1. Rockerkriminalität Rockerkriminalität umfasst alle Straftaten von einzelnen oder mehreren Mitgliedern einer Rockergruppe, deren Tatmotivation im direkten Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe und der Solidarität zu ihr zu sehen ist. Mit der von den amerikanischen Strafverfolgungsbehörden eingeführten Bezeichnung "Outlaw Motorcycle Gang" (OMCG) werden weltweit die polizeilich bedeutsamen Rockergruppierungen von der breiten Masse der Motorradclubs (MCs) abgegrenzt, die zwar im Einzelfall auch kriminelle Aktivitäten verfolgen können, diese aber nicht als Hauptmotivation ihrer Existenz verstehen. Auch in Bayern begehen Mitglieder dieser OMCGs typische OK-Delikte wie Rauschgifthandel, Bedrohung oder Körperverletzung. Aktuell werden deutschlandweit der Hells Angels MC, Bandidos MC, Outlaws MC, Gremium MC und seit Anfang 2011 Mongols MC den OMCGs zugeordnet. Die Beziehungen der konkurrierenden Rockergruppen untereinander reichen von Neutralität bis hin zu offener Feindschaft, was zu Spannungen und gewalttätigen Konflikten führen kann. Insbesondere zwischen Hells Angels MC und Bandidos MC kam es 2012 vor allem in Norddeutschland immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen bis hin zu Schießereien. Die Innenministerien von Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Berlin reagierten deswegen mit Vereinsverboten gegen einzelne Ortsgruppen ("Charter" und "Chapter"). Bei Durchsuchungen von Wohnungen und Clubhäusern konnten diverse Waffen (Pistolen, Gewehre, Macheten, Schlagstöcke usw.) sichergestellt werden. Einzelne Ortsgruppen versuchten mit ihrer Selbstauflösung einem möglichen Verbotsverfahren zu entgehen (z.B. Hells Angels MC Hannover). Personenpotenzial Innerhalb der 1.500 Personen (2011: 1.200 Personen) umfassenden bayerischen Rockerszene (einschließlich Unterstützergruppen - "Supporter") verzeichnen sowohl der Hells Angels MC als auch der Bandidos MC sowie deren Supportergruppen steigende Mitgliederzahlen. Insbesondere der Hells Angels MC expan- Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Organisierte Kriminalität 175 dierte 2012 auch in Bayern mit der Gründung von SupporterOrtsgruppen. Der Hells Angels MC Hof-City gründete mehrere Ortsgruppen der Supporter Blood Red Section in Bayreuth, Coburg, Hof und in Sachsen. In München und Traunstein wurden neben Niederlassungen der Hells Angels ebenfalls Ableger einer Supportergruppierung gegründet. Beim Trust MC, einer weiteren nur in Bayern ansässigen OMCG, gab es gegenüber 2011 keine Expansionsbestrebungen. Neben diesen Rockergruppen drängen rockerähnlich organisierRockerähnliche te Gruppierungen wie die Black Jackets und Pars Augsburg in die Gruppierungen bayerische Szene, die den OMCGs in ihrem martialischen Auftreten, ihrer strengen Hierarchie und ihrem abgeschotteten Gruppenverhalten gleichen; Motorräder spielen für sie allerdings keine Rolle. Insgesamt führen diese Neugründungen zu einer regionalen Veränderung innerhalb der Rockerszene und unterwandern die selbst erhobenen Gebietsansprüche der etablierten Clubs. In Bayern wurden im Jahr 2012 mehrere Mitglieder von RockerHohe Haftstrafen clubs wegen schwerer Gewalttaten zu mehrjährigen Haftstrafen für Rocker verurteilt. Zu sieben Jahren und drei Monaten Haft verurteilte das Landgericht Bamberg einen Rocker, der ein Mitglied des Bandidos MC niedergestochen und dabei schwer verletzt hat. Das Landgericht München verurteilte im Oktober zwei Mitglieder des Bandidos MC nach einer brutalen Prügelattacke gegen ein Mitglied ihrer Untergruppierung Gringos. Beide Täter erhielten langjährige Haftstrafen wegen versuchten Mordes bzw. Totschlags und schwerer Körperverletzung. Im Dezember kam es in Tötungsdelikt Neu-Ulm im Rotlichtund Türstehermilieu zu einer Schießerei, in Neu-Ulm an der Mitglieder der Rockergruppierung Rock Machine MC beteiligt waren. Eine Person wurde dabei erschossen, eine weitere schwer verletzt. Drei Tatverdächtige wurden festgenommen und kamen in Untersuchungshaft. Die Strukturveränderungen innerhalb der Rockerszene könnten Wachsendes künftig dazu führen, dass das Konfliktpotenzial wächst und es Konfliktpotenzial auch in Bayern vermehrt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen wegen konkurrierender Gebietsansprüche kommt. Teilweise sind die Gewalttaten, an denen Rocker beteiligt waren, auch dadurch zu erklären, dass Streitigkeiten aller Art in der Rockerszene regelmäßig mit Gewalt ausgetragen werden. 176 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Organisierte Kriminalität Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz verfolgt aufmerksam mögliche Verbindungen zwischen Rockern und Mögliche VerbinRechtsextremisten. Eine strukturierte Zusammenarbeit beziedungen Rocker / hungsweise ideologische Annäherung beider Szenen konnte in Rechtsextremisten Bayern nicht festgestellt werden. Allerdings sind Einzelpersonen bekannt, die sowohl in der Rockerszene als auch in der rechtsextremistischen Szene verkehren. Dabei stehen häufig geschäftliche Interessen und persönliche Beziehungen im Vordergrund. Belegbar ist auch, dass innerhalb der Rockergruppierungen rechtsextremistische Aktivitäten gegenüber rockertypischem Verhalten in den Hintergrund treten. Politische Betätigung, Personalrekrutierung oder politische Agitation werden in Rockerclubs nicht geduldet. Waffenerlaubnisse Im Mai 2012 hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die Bezüge von Rockern und Rechtsextremisten zu Sicherheitsunternehmen und damit verbundene waffenrechtliche Erlaubnisse analysiert. So wurden mehrere Personen aus der Rockerszene und rechtsextremistischen Szene festgestellt, die Sicherheitsunternehmen betreiben oder in diesem Bereich arbeiten und teilweise auch über entsprechende Waffenerlaubnisse verfügen. Ziel dieser Arbeitsgruppe ist es, in Zusammenarbeit mit Polizei und Sicherheitsbehörden dem legalen Waffenbesitz solcher Unternehmen bzw. ihrer Mitarbeiter entgegenzuwirken. 2. OK aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten In der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) haben sich bislang etwa 6.500 kriminelle Gruppierungen etabliert, von denen mehr als 50 europaweit, einige auch weltweit, aktiv sind. Sie begehen vor allem Straftaten in den Bereichen Eigentumskriminalität, Rauschgiftund Waffenhandel, Schmuggel, Schutzgelderpressung und Geldwäsche. "Diebe im Gesetz" Über 1.000 "Diebe im Gesetz" haben sich als Führungspersonen der OK-Szene der GUS durchgesetzt. Der Begriff "Dieb im Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Organisierte Kriminalität 177 Gesetz" stammt aus den 1920er Jahren, als sich in sowjetischen Gefängnissen und Lagern, den Gulags, die Anführer der kriminellen Strafgefangenen gegen die Anführer der politischen Häftlinge durchsetzten und so die Oberhand gewannen. Diese kriminellen Anführer nannten sich nun "Diebe im Gesetz" und stellten mit den "Diebesgesetzen" einen eigenen Verhaltenskodex innerhalb der kriminellen Welt auf. Dieser sieht vor, dass Konflikte durch eigene Autoritätspersonen - notfalls auch mit Gewalt - geregelt werden und keine Zusammenarbeit mit Polizei und Justiz stattfindet. Mit Gemeinschaftskassen ("Abschtschjak") werden vor allem strafrechtlich verfolgte oder inhaftierte Gruppenmitglieder sowie ihre Angehörigen unterstützt. Auch konkurrierende Gruppen erkennen die "Diebe im Gesetz" als Führungspersönlichkeiten an. Diese haben daher einen großen Einfluss auf die Aufteilung von Gebieten und Tätigkeitsfeldern. "Diebe im Gesetz" sind auch immer wieder in Bayern festzustelInvestitionen len. Sie wollen die stabile wirtschaftliche Lage für Investitionen in Bayern nutzen. Der Verfassungsschutz konnte in Bayern Reisebewegungen von georgischen "Dieben im Gesetz" und deren Vertrauten beobachten, die im Zusammenhang mit einem seit längerem schwelenden Konflikt zweier krimineller georgischer Gruppierungen um die Vormachtstellung in Europa stehen. Dieser Konflikt wird in mehreren europäischen Staaten auch mit Gewalt - bis hin zu Morden - ausgetragen. In Bayern waren im Zusammenhang mit diesem Konflikt bislang noch keine gewalttätigen Auseinandersetzungen festzustellen. Der Einfluss der "Diebe im Gesetz" ist auch in den Bayerischen Justizvollzugsanstalten feststellbar, da Inhaftierte aus der GUS versuchen, den Verhaltenskodex der "Diebe im Gesetz" durchzusetzen. 3. OK-Gruppierungen aus dem Balkan und der Türkei In Bayern sind mehrere kriminelle Netzwerke aus Südosteuropa und der Türkei aktiv. Diese sind in ihren Strukturen meist ethnisch homogen; d.h. Personen anderer Nationalitäten werden in der Regel nicht aufgenommen. Die Angehörigen der Netzwerke 178 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Organisierte Kriminalität haben häufig dieselbe Religion, den gleichen Geburtsort oder eine gemeinsame militärische Ausbildung. "Balkanroute" Türkische OK-Gruppierungen sind vor allem im Rauschgifthandel und -schmuggel mit Kokain und Cannabis aktiv. Über die so genannte Balkanroute wird hauptsächlich Rauschgiftund Menschenhandel betrieben. Darüber hinaus konnten folgende Delikte festgestellt werden: Eigentumsund Fälschungskriminalität, Steuerund Zolldelikte, Glückspieldelikte und Wettmanipulationen sowie Kriminalität im Zusammenhang mit Inkasso-Eintreibungen. Besonders wichtig für die kriminelle Szene sind die Verbindungen in die jeweiligen Heimatländer. Strukturermittlungen des Bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz ergaben, dass die Drahtzieher überwiegend im Ausland sitzen und von dort aus ihre kriminelle Aktivitäten in Deutschland steuern. Die erzielten Gewinne investieren sie oft in Immobilien und Unternehmen außerhalb von Deutschland. Den Kauf wickeln sie über Strohmänner - meist Verwandte - ab. 4. Italienische Mafia Die Mitglieder der führenden italienischen Mafia-Organisationen 'Ndrangheta, Cosa Nostra, Camorra und Sacra Corona Unita haben sich weltweit ausgebreitet. Syndikate in Strukturermittlungen des Bayerischen Landesamtes für VerfasBayern aktiv sungsschutz deuten darauf hin, dass diese vier Syndikate auch im bayerischen Raum aktiv sind. Meistens handelt es sich dabei um Mitglieder von Großfamilien, die hier gastronomische Betriebe zur Verschleierung ihrer Aktivitäten übernehmen und hauptsächlich in den Bereichen Rauschgifthandel, illegale Beschäftigung sowie Geldwäsche tätig sind. Daneben wird Bayern auch als Ruheund Investitionsraum genutzt. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Organisierte Kriminalität 179 I t a Sacra Corona Unita l i e n Camorra 'Ndrangheta Cosa Nostra In den letzten fünf Jahren gab es in Bayern 25 Strafverfahren mit Bezügen zur OK, bei denen gegen italienische Tätergruppen ermittelt wurde. In 15 Verfahren konnten Bezüge zu den italienischen Mafiasyndikaten nachgewiesen werden - namentlich zu 'Ndrangheta, Cosa Nostra und Camorra. Als Reaktion auf die Bedrohungslage wurden bei den bayerischen Staatsanwaltschaften besondere OK-Ansprechpartner bestellt. Darüber hinaus bestehen bei den Staatsanwaltschaften München und Kempten Abteilungen, die sich schwerpunktmäßig mit der Verfolgung von Straftaten aus dem Bereich der OK, insbesondere auch aus dem Bereich der italienischen Mafia, befassen. Aufgrund der global vernetzten Mafiastrukturen spielt die internationale Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden bei der Bekämpfung der Mafiakriminalität eine zentrale Rolle. 180 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Verfassungsschutz in Bayern Informationen zum Verfassungsschutz in Bayern Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Verfassungsschutz in Bayern 181 1. Der Verfassungsschutz als Frühwarnsystem Die Bundesrepublik Deutschland ist nach ihrer Verfassung eine wertgebundene, wachsame und wehrhafte Demokratie. Der Staat kann gegen Bestrebungen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beseitigen, die in der Verfassung vorgesehenen Abwehrmittel einsetzen, z.B. ein Parteioder Vereinsverbot. Das setzt aber voraus, dass er solche Bestrebungen oder Aktivitäten, die als extremistisch oder als verfassungsfeindlich bezeichnet werden, rechtzeitig erkennen kann. Hier setzt die Aufgabe des Verfassungsschutzes als Frühwarnsystem zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sowie zum Schutz des Bestandes und der Sicherheit von Bund und Ländern ein. 2. Im Auftrag des Gesetzes Die Aufgaben und Befugnisse des Verfassungsschutzes sind gesetzlich genau festgelegt. Das Bundesverfassungsschutzgesetz (BVerfSchG) regelt die von Bund und Ländern im Rahmen des Verfassungsschutzes gemeinsam zu erfüllenden Aufgaben und ist zugleich Rechtsgrundlage für die Arbeit des Bundesamts für Verfassungsschutz. Daneben gibt es in allen Ländern eigene Verfassungsschutzgesetze. In Bayern regelt das Bayerische Verfassungsschutzgesetz (BayVSG) die Aufgaben und Befugnisse des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz, das seinen Sitz in München hat und dem Bayerischen Staatsministerium des Innern unmittelbar nachgeordnet ist. Der Verfassungsschutz sammelt Informationen über sicherheitsBeobachtungsgefährdende und verfassungsfeindliche Bestrebungen im Inland auftrag und wertet diese aus. Diesem originären Beobachtungsauftrag unterliegen im Wesentlichen 182 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Verfassungsschutz in Bayern - Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind, - sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten für eine fremde Macht (Sabotage und Spionage), - Bestrebungen, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, - Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung, insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker, gerichtet sind, - Bestrebungen und Tätigkeiten der Organisierten Kriminalität. Arbeitsschwerpunkt des Verfassungsschutzes ist dabei die Beobachtung von extremistischen Organisationen, d.h. in erster Linie die Analyse ihrer Ziele, Aktivitäten, Stärke, Aufbau und finanziellen Verhältnisse. Dazu müssen zwangsläufig auch die Mitglieder und Unterstützer erfasst werden. Aber auch die Beobachtung von extremistischen Einzelpersonen ist zulässig. Als extremistische Bestrebungen werden in Bayern beobachtet: - Islamismus - Ausländerextremismus - Rechtsextremismus - Linksextremismus - Scientology-Organisation MitwirkungsaufDaneben hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz gaben eine Reihe von Mitwirkungsaufgaben, bei denen es als Fachberater bei Sachentscheidungen einer anderen Behörde hinzugezogen wird. Dabei fließen die bereits vorhandenen oder aus Anlass des Mitwirkungsersuchens gewonnenen Erkenntnisse in den Entscheidungsprozess einer anderen Behörde mit ein. Zu den Mitwirkungsaufgaben gehören der Geheimund Sabotageschutz. Geheimschutz Der Geheimschutz umfasst die Maßnahmen, die verhindern sollen, dass Unbefugte von im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Informationen und Unterlagen - so genannten Verschlusssachen - Kenntnis erhalten. Verschlusssachen gibt es in Behörden, aber auch in privatwirtschaftlichen Unter- Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Verfassungsschutz in Bayern 183 nehmen, die im Auftrag des Staates tätig werden. Der materielle Geheimschutz befasst sich mit den organisatorischen und technischen Voraussetzungen, die geschaffen werden müssen, um Verschlusssachen vor unbefugtem Zugriff zu schützen. Der personelle Geheimschutz beinhaltet die Sicherheitsüberprüfung von Personen, die mit einer sicherheitsempfindlichen Tätigkeit betraut werden sollen. Die Sicherheitsüberprüfung nach dem Bayerischen Sicherheitsüberprüfungsgesetz (BaySÜG) soll gewährleisten, dass nur zuverlässige Personen eingesetzt werden, bei denen keine Umstände vorliegen, die ein Sicherheitsrisiko darstellen. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz bringt außerdem seine Erkenntnisse im Rahmen weiterer BeteiligungsaufgaBeteiligungsaufben ein, insbesondere bei einbürgerungsund aufenthaltsrechtgaben lichen Entscheidungen. Es ist an der behördenübergreifenden Arbeitsgruppe BIRGiT (Beschleunigte Identifizierung und Rückführung von Gefährdern aus dem Bereich des islamistischen Terrorismus/Extremismus) beteiligt. Zudem hat das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz die Aufgabe, im Einzelfall amtliche Auskünfte im Rahmen der Verfassungstreueüberprüfung von Bewerbern für den öffentlichen Dienst zu erteilen. Außerdem übermittelt es relevante Erkenntnisse im Rahmen von Zuverlässigkeitsüberprüfungen nach dem Luftsicherheitsgesetz und dem Atomgesetz. 3. Informationsbeschaffung Zur Erfüllung seines gesetzlichen Auftrags ist der Verfassungsschutz verpflichtet, Informationen zu beschaffen, auszuwerten und zu speichern. Diese Informationen werden zum weit überwiegenden Teil aus offenen Quellen gewonnen (z.B. aus dem InOffene Quellen ternet, Zeitungen, Zeitschriften, Flugblättern, Programmen, Broschüren sowie bei öffentlichen Veranstaltungen extremistischer Organisationen). Einen Teil der Informationen erhält der Verfas- 184 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Verfassungsschutz in Bayern Nachrichtensungsschutz durch Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel. dienstliche Mittel Dazu gehören im Wesentlichen: - der Einsatz von V-Leuten (Personen, die der Verfassungsschutzbehörde selbst nicht angehören, aber aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dem jeweiligen Beobachtungsobjekt "SzeneErkenntnisse" gegen Bezahlung liefern), - das Beobachten verdächtiger Personen (Observation) sowie - verdeckte Bildund Tonaufzeichnungen. Eingriffe in das Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis (Überwachung des Postund Telekommunikationsverkehrs) sind besonders strengen rechtsstaatlichen Anforderungen unterworfen. Sie sind in einem eigenen Gesetz geregelt, das nach dem Grundrecht des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses "Artikel 10-Gesetz" (G 10) genannt wird. Ein Verfahren mit mehreren voneinander unabhängigen Kontrollinstanzen stellt sicher, dass in dieses Grundrecht nur eingegriffen wird, wenn die im Gesetz genannten besonderen Gründe vorliegen. Ähnliches gilt für die seit Beginn des Jahres 2003 eingeführten Auskunftsverpflichtungen von Postund Telekommunikationsdienstleistern sowie für die Verwendung technischer Mittel zur Identifizierung von bisher unbekannten Mobilfunkanschlüssen. Die Zahl der Maßnahmen zur Überwachung des Postund Telekommunikationsverkehrs lag im Jahr 2012 wie schon in der Vergangenheit im unteren zweistelligen Bereich. Besonders strenge rechtsstaatliche Sicherungen gelten auch für den Einsatz von Abhörgeräten oder versteckten Kameras in Wohnund Geschäftsräumen sowie für den verdeckten Zugriff auf informationstechnische Systeme. Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Verfassungsschutz in Bayern 185 4. Kontrolle des Verfassungsschutzes Die Tätigkeit des bayerischen Verfassungsschutzes unterliegt einer vielfältigen Kontrolle. Dazu gehört die allgemeine parlamenParlamentarische tarische Kontrolle, die durch die Berichtspflicht des verantwortKontrolle lichen Ministers gegenüber dem Landtag im Rahmen von Anfragen von Abgeordneten, Petitionen usw. ausgeübt wird. Eine besondere Kommission des Bayerischen Landtags, das Parlamentarische Kontrollgremium, überwacht die Arbeit des Verfassungsschutzes. Die G 10-Kommission überprüft die Maßnahmen G 10-Kommission zur Überwachung des Postund Telekommunikationsverkehrs sowie die Zulässigkeit und Notwendigkeit der Auskunftsverpflichtungen von Postund Telekommunikationsdienstleistern. Die Verwaltungskontrolle obliegt dem Innenminister im Rahmen der Dienstund Fachaufsicht, ferner dem Bayerischen Landesbeauftragten für den Datenschutz und dem Bayerischen Obersten Rechnungshof. Diese Kontrollen werden ergänzt durch die Möglichkeit, gegen belastende Maßnahmen die Verwaltungsgerichte anzurufen. Schließlich findet über die Medienberichterstattung auch eine Kontrolle durch die Öffentlichkeit statt. 5. Zusammenarbeit von Polizei und Verfassungsschutz Beim Schutz von Staat und Verfassung arbeiten Polizei und Trennungsgebot Verfassungsschutz eng zusammen. Dabei sind die Polizeiund Verfassungsschutzbehörden jedoch voneinander getrennt, Verfassungsschutzbehörden dürfen keiner polizeilichen Dienststelle angegliedert werden (organisationsrechtliches Trennungsgebot). Aufgabe der Polizei ist die Abwehr von Gefahren sowie die Aufklärung von Straftaten. Sie verfügt über Eingriffsrechte und Zwangsbefugnisse (z.B. Festnahmen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen usw.) und muss eingreifen, sobald sie Hinweise auf Straftaten erhält. Der Verfassungsschutz ist dagegen für die Vorfeldaufklärung zuständig und hat keine Zwangsbefugnisse 186 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 | Verfassungsschutz in Bayern und kein Weisungsrecht gegenüber der Polizei (befugnisrechtliches Trennungsgebot). Hat der Verfassungsschutz ausreichend Erkenntnisse, die ein sicherheitsrechtliches Eingreifen erforderlich machen, unterrichtet er die zuständige Sicherheitsbehörde. Diese entscheidet dann selbständig, ob und welche Maßnahmen zu treffen sind. Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz Postfach 45 01 45, 80901 München Telefon: 089 /312 01-0 (rund um die Uhr) Telefax: 089 /312 01-380 E-Mail: poststelle@lfv.bayern.de www.verfassungsschutz.bayern.de Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus im Landesamt für Verfassungsschutz (BIGE) Knorrstraße 139, 80937 München Telefon: 089 /21 92-21 92 Telefax: 089 /312 01-380 E-Mail: gegen-extremismus@stmi.bayern.de www.bayern-gegen-rechtsextremismus.bayern.de www.bayern-gegen-linksextremismus.bayern.de Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 187 Grafiken: Personenpotenzial und Gewalttaten Anzahl der Extremisten in Bayern 9.000 8.000 7.000 6.350 6.000 5.060 5.000 4.000 3.345 3.000 2.200 2.000 1.000 1.200 0 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 Islamisten sonstige ausländische Extremisten Rechtsextremisten Linksextremisten Scientology-Organisation Extremistisch motivierte Gewalttaten in Bayern 210 172 180 150 127 120 109 99 90 68 65 53 58 57 57 60 30 5 12 5 1 1 0 2008 2009 2010 2011 2012 Rechtsextremismus Linksextremismus Ausländerextremismus 188 Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 Wollen Sie mehr über die Arbeit der Bayerischen Staatsregierung erfahren? BAYERN | DIREKT ist Ihr direkter Draht zur Bayerischen Staatsregierung. Unter Telefon 089/ 12 22 20 oder per E-Mail an direkt@bayern.de erhalten Sie Informationsmaterial und Broschüren, Auskunft zu aktuellen Themen und Internetquellen sowie Hinweise zu Behörden, zuständigen Stellen und Ansprechpartnern bei der Bayerischen Staatsregierung. Impressum Herausgeber: Bayerisches Staatsministerium des Innern, Odeonsplatz 3, 80539 München Der Verfassungsschutzbericht Bayern 2012 ist auch über das Internet abrufbar. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz Bayerisches Staatsministerium des Innern Odeonsplatz 3, 80539 München www.innenministerium.bayern.de www.verfassungsschutz.bayern.de