Bayerisches Staatsministerium des Innern G S U N S S Z F A T E R H U T V SC CH R I B 00 E 2 2 Herausgeber: Bayerisches Staatsministerium des Innern, Odeonsplatz 3, 80539 München Gedruckt auf Recyclingpapier aus 100% Altpapier Hinweis: Der Verfassungsschutzbericht Bayern 2002 ist auch über das Internet abrufbar: http://www.innenministerium.bayern.de/infothek/sicherleben.htm http://www.verfassungsschutz.bayern.de Vorwort 3 Die Bedrohung der Inneren Sicherheit durch den internationalen islamistischen Terrorismus hält unvermindert an. Der weltweite Kampf gegen den Terrorismus konnte Anschläge in Djerba, auf Bali, in Kenia und in Moskau nicht verhindern. Auch Deutschland kann zum Ziel terroristischer Anschläge werden. Höchste Wachsamkeit der Sicherheitsbehörden und Nutzung aller rechtlichen Möglichkeiten zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus sind deshalb erforderlich. Dazu wurden auch neue Auskunftsrechte des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz gegenüber Kreditinstituten, Fluggesellschaften, Post-, Telekommunikationsund Teledienstleistern im Bayerischen Verfassungsschutzgesetz geschaffen. Das Landesamt für Verfassungsschutz hat ein spezielles Sachgebiet eingerichtet, das sich ausschließlich mit der Aufklärung terroristischer Netzwerkstrukturen befasst. Administrative Maßnahmen im Zuge von Verboten und Betätigungsverboten von Ausländervereinen nach den Änderungen des Vereinsrechts tragen dazu bei, islamischen Fundamentalisten die logistische Basis zu nehmen. Nicht übersehen werden darf aber, dass von den in Deutschland lebenden Muslimen nur ein kleiner Teil als extremistisch und ein noch geringerer Teil als gewaltbereit einzustufen sind. Die NPD bleibt trotz des Verbotsverfahrens ein Sammelbecken für gewaltbereite Rechtsextremisten. Sie hat versucht, die Absetzung der Termine zur mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht dafür zu nutzen, sich als Opfer einer durch die Nachrichtendienste angezettelten Verschwörung darzustellen. Im Erörterungstermin im Oktober 2002 vor dem Bundesverfassungsgericht konnten die Prozessvertreter der NPD jedoch nicht darlegen, welche Taten oder Äußerungen sie nicht als solche der NPD gelten lassen wollen. Eine Steuerung der Politik extremistischer Parteien durch V-Leute ist durch Dienstvorschriften verboten und hat - jedenfalls in Bayern - in der Praxis nicht stattgefunden. Es ist bedauerlich, dass das Bundesverfassungsgericht gegen die Auffassung der Mehrheit im Senat aufgrund der Sperrminorität von drei Richtern die angebotenen Möglichkeiten der Sachaufklärung nicht genutzt und am 18. März 2003 das Verfahren eingestellt hat. Die Innere Sicherheit in Bayern ist weiterhin auch durch eine nicht unerhebliche Zahl von gewaltbereiten Rechtsund Linksextremisten bedroht. Die Zahl ihrer Gewalttaten, meist von Skinheads und Autonomen begangen, ist erfreulicherweise zurückgegangen, aber angesichts ihrer Brutalität noch immer zu hoch. Linksextremisten nutzten bei Großdemonstrationen die friedlichen gesellschaftlichen Protestbewegungen gegen Rechtsextremismus und gegen die Globalisierung für ihre politischen Ziele. Die Scientology-Organisation versucht weiterhin, die Aufklärung der Öffentlichkeit durch staatliche Stellen zu diffamieren. Der Verfassungsschutzbericht geht auch auf die Entwicklungen im Bereich der Spionagetätigkeit und der Organisierten Kriminalität ein. Die Spionagetätigkeit fremder Staaten ist vor allem auf Informationen aus der Wirtschaft konzentriert, die in Zeiten immer perfekterer Kommunikationsnetze und weltweiter Globalisierung künftig noch angreifbarer wird. Erfreulich ist, dass nun auch in Hessen, im Saarland und in Thüringen der Verfassungsschutz gesetzlich beauftragt ist, die OK zu beobachten. In Sachsen und Hamburg sind entsprechende Gesetzentwürfe eingebracht. Die Bundesregierung ist aufgefordert, auch das Bundesamt für Verfassungsschutz mit dieser Aufgabe zu betrauen. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz gilt unser besonderer Dank. Sie haben ihre Arbeit auch unter stets neu auftretenden Herausforderungen gemeistert. Ihr Einsatz ist zur Bewahrung der Grundwerte unseres Zusammenlebens unverzichtbar. München, im März 2003 Dr. Günther Beckstein Hermann Regensburger Staatsminister Staatssekretär 4 Inhaltsverzeichnis 1. Abschnitt Verfassungsschutz in Bayern 1. Gesetzliche Grundlagen ............................................. 12 2. Aufgaben des Verfassungsschutzes ............................ 12 3. Informationsbeschaffung ........................................... 13 4. Kontrolle ................................................................... 14 5. Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes ............. 15 6. Infound Beratungstelefone ...................................... 16 2. Abschnitt Entwicklung des politischen Extremismus im Jahr 2002 1. Rechtsextremismus .................................................... 17 2. Linksextremismus ...................................................... 18 3. Ausländerextremismus ............................................... 19 4. Scientology-Organisation ........................................... 21 5. Grafische Darstellungen ............................................. 22 3. Abschnitt Rechtsextremismus 1. Allgemeines ............................................................... 24 1.1 Merkmale des Rechtsextremismus .............................. 24 1.2 Entwicklung der Organisationen ................................ 25 1.3 Rechtextremistische Gewalt ....................................... 27 2. Parteien, Organisationen und Verlage ......................... 28 2.1 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) ..... 28 2.1.1 Ideologisch-politischer Standort ................................. 28 2.1.2 Organisation .............................................................. 35 2.1.3 Teilnahme an Wahlen ................................................ 36 2.1.4 Verbotsverfahren ....................................................... 37 2.1.5 Sonstige Aktivitäten ................................................... 41 2.1.5.1 Parteitage .................................................................. 41 2.1.5.2 Kundgebungen und sonstige Aktionen ...................... 43 Inhaltsverzeichnis 5 2.1.6 Junge Nationaldemokraten (JN) .................................. 44 2.2 Deutsche Volksunion (DVU) ........................................ 46 2.2.1 Ideologisch-politischer Standort ................................. 46 2.2.2 Organisation .............................................................. 50 2.2.3 Politischer Bedeutungsverlust .................................... 51 2.2.4 Bundesparteitag ......................................................... 51 2.3 Die Republikaner (REP) .............................................. 52 2.3.1 Ideologisch-politischer Standort ................................. 52 2.3.2 Organisation .............................................................. 55 2.3.3 Teilnahme an Wahlen ................................................ 55 2.3.4 Interne Richtungskämpfe ........................................... 56 2.3.5 Aktivitäten in Bayern ................................................. 57 2.3.6 Verwaltungsgerichtsverfahren .................................... 58 2.4 Bürgerinitiative Ausländerstopp (BIA) .......................... 59 2.5 Deutschland-Bewegung/Friedenskomitee/ Deutsche Aufbau-Organisation (DAO) ........................ 61 2.6 Aktivitas der Burschenschaft Danubia (München) ....... 63 2.7 Sonstige Organisationen ............................................ 64 2.8 Druckschriftenund Zeitungsverlag GmbH (DSZ-Verlag) 64 2.9 Nation Europa Verlag GmbH ...................................... 66 3. Organisationsunabhängiger Neonazismus .................. 67 3.1 Allgemeines ............................................................... 67 3.2 Neonazi-Kameradschaften ......................................... 68 3.2.1 Freizeitverein Isar 96 e.V. (FZV) ................................... 68 3.2.2 Kameradschaft Süd - Aktionsbüro Süddeutschland (AS) 69 3.2.3 Neonazi-Kreis um Sven Schlechta (Kameradschaft Schwabach) ...................................... 69 3.2.4 Bund Frankenland - Staatsbürgerliche Runde ............. 70 3.2.5 Kameradschaft Lichtenfels ......................................... 70 3.3 Informationelle Vernetzung ....................................... 71 3.4 Aktivitäten zum 15. Todestag von Rudolf Heß ............ 73 4. Skinheads .................................................................. 74 4.1 Überblick ................................................................... 74 4.2 Politische Ausrichtung ................................................ 74 4.3 Strukturen ................................................................. 76 4.4 Anziehungskraft für Jugendliche ................................ 77 4.5 Skinhead-Musik und Skinhead-Magazine ................... 78 4.6 Verbindungen rechtsextremistischer Skinheads zur NPD 80 4.7 Strafverfahren, Urteile und Exekutivmaßnahmen ........ 80 6 Inhaltsverzeichnis 5. Rechtsextremistisch motivierte Straftaten ................... 81 5.1 Gewalttaten .............................................................. 81 5.2 Sonstige Straftaten .................................................... 84 6. Revisionismus ............................................................ 86 6.1 Ziele .......................................................................... 86 6.2 Entwicklung und Träger der Revisionismus-Kampagne .. 86 7. Verbindungen zum ausländischen Rechtsextremismus ... 88 8. Übersicht über erwähnenswerte rechtsextremistische Organisationen und Verlage sowie deren wesentliche Presseerzeugnisse ...................................................... 90 4. Abschnitt Linksextremismus 1. Allgemeines ............................................................... 92 1.1 Merkmale des Linksextremismus ................................ 92 1.2 Entwicklung der Organisationen ................................ 93 1.3 Linksextremistische Gewalt ........................................ 94 2. Marxisten-Leninisten und andere revolutionäre Marxisten 95 2.1 Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) .............. 96 2.1.1 Ideologische Ausrichtung ........................................... 96 2.1.2 Organisation ............................................................. 102 2.1.3 Plattformen, Arbeitsund Interessengemeinschaften ... 103 2.1.3.1 Kommunistische Plattform (KPF) ................................. 103 2.1.3.2 Arbeitsgemeinschaft Junge GenossInnen in und bei der PDS ..................................................... 104 2.1.3.3 Marxistisches Forum (MF) ........................................... 105 2.1.4 Jugendverband ['solid] ............................................... 105 2.1.5 PDS Landesverband Bayern und seine Organisationseinheiten .............................................. 106 2.1.6 Teilnahme an Wahlen ................................................ 107 2.1.7 Kommunistischer Internationalismus .......................... 108 2.1.8 Zusammenarbeit mit anderen Linksextremisten .......... 109 2.2 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) ...................... 110 2.2.1 Ideologische Ausrichtung ........................................... 110 2.2.2 Organisation .............................................................. 112 2.2.3 Teilnahme an Wahlen ................................................ 113 2.2.4 Internationale Verbindungen ...................................... 113 Inhaltsverzeichnis 7 2.2.5 Umfeld der DKP ......................................................... 114 2.2.5.1 Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) ........ 114 2.2.5.2 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) ............ 115 2.3 Linksruck-Netzwerk (Sozialistische Arbeitergruppe - SAG) ......................... 116 2.4 Münchner Bündnis gegen Rassismus ......................... 116 2.5 Sonstige orthodoxe Kommunisten und andere revolutionäre Marxisten ............................................. 119 3. Gewaltorientierte Linksextremisten ............................. 120 3.1 Autonome Gruppen .................................................. 120 3.1.1 Überblick ................................................................... 120 3.1.2 Ideologische Ausrichtung und Aktionsformen ............ 121 3.1.3 Strukturen ................................................................. 122 3.1.4 Informationelle Vernetzung ........................................ 124 3.1.5 Autonome Publikationen ........................................... 125 3.1.6 Schwerpunktthemen und Aktionen ............................ 125 3.1.6.1 Strategiedebatte - neue Gewaltdiskussion .................. 126 3.1.6.2 Antifaschismus .......................................................... 127 3.1.6.3 Anti-Globalisierungs-Proteste ..................................... 130 3.1.6.4 Antiimperialismus ...................................................... 131 3.1.6.5 Weitere Aktionen ....................................................... 131 3.1.6.6 Einflussnahme auf die Antikernkraftbewegung .......... 132 3.2 Gewalttaten in Bayern ............................................... 133 3.3 Sonstige militante Linksextremisten mit internationalistischer Orientierung .............................. 134 4. Übersicht über erwähnenswerte linksextremistische und linksextremistisch beeinflusste Organisationen sowie deren wesentliche Presseerzeugnisse ................ 135 5. Abschnitt Extremistische und sicherheitsgefährdende Bestrebungen von Ausländern 1. Allgemeines ............................................................... 138 1.1 Merkmale des Ausländerextremismus ......................... 138 1.2 Entwicklung der Organisationen ................................. 138 1.3 Integrationsfeindlichkeit des islamischen Extremismus .. 140 8 Inhaltsverzeichnis 1.4 Gewalttaten .............................................................. 142 2. Islamisch-fundamentalistisch orientierter Terror .......... 143 2.1 Überblick ................................................................... 143 2.2 Islamistisch motivierte Terroranschläge ....................... 145 2.3 Exekutivmaßnahmen und Gerichtsverfahren ............... 147 2.4 Ausblick .................................................................... 150 3. Islamisch-fundamentalistische Gruppierungen ............ 151 3.1 Die Internationale Islamische Front - Al-Qaida ............ 151 3.2 Muslimbruderschaft (MB) ........................................... 153 3.2.1 Ägyptischer Zweig der MB ......................................... 154 3.2.1.1 Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) ..... 154 3.2.1.2 Al-Gamaa al-Islamiya (GI) .......................................... 156 3.2.1.3 Jihad Islami (JI) .......................................................... 156 3.2.2 Palästinensischer Zweig der MB - Repräsentanten der Islamischen Widerstandsbewegung (HAMAS) in Deutschland Islamischer Bund Palästina (IBP) - Al-Aqsa e.V. ............ 157 3.2.3 Algerischer Zweig der MB .......................................... 158 3.2.3.1 Islamische Heilsfront (FIS) ........................................... 158 3.2.3.2 Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA) .......................... 159 3.2.4 Tunesischer Zweig der MB - En Nahda ....................... 159 3.3 Islamische Gemeinschaft Milli Görus e.V. (IGMG) ........ 160 3.4 Hilafet Devleti (Der Kalifatsstaat) ................................ 165 3.5 Hizb-ut-Tahrir ............................................................ 168 3.6 Ansar al-Islam ........................................................... 171 3.7 Tablighi Jamaat ......................................................... 172 3.8 Al-Tauhid .................................................................. 173 3.9 Hizb Allah (Partei Gottes) ........................................... 174 3.10 Islamisch-Irakische Gemeinschaft Deutschland e.V. (IIGD) Hizb Da'Wa al-Islamiya (Da'Wa) ................................. 175 4. Sonstige ausländerextremistische Gruppierungen ....... 176 4.1 Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans (KADEK) ehemals Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ..................... 176 4.1.1 Ideologie ................................................................... 177 4.1.2 Organisation .............................................................. 178 4.1.3 Strategie ................................................................... 180 4.1.4 PKK-interne Opposition ............................................. 181 4.1.5 Aktivitäten ................................................................. 181 4.1.6 Festnahmen und Strafverfahren ................................. 183 Inhaltsverzeichnis 9 4.2 Devrimci Sol (Revolutionäre Linke - Türkei) ................. 184 4.3 Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) .................................................................... 186 4.4 Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP - Türkei) .......................................................... 188 4.5 Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V. (ADÜTDF) .................. 189 4.6 Nationaler Widerstandsrat Iran (NWRI) ....................... 191 5. Übersicht über erwähnenswerte extremistische Organisationen von Ausländern sowie deren wesentliche Presseerzeugnisse .................................... 194 6. Abschnitt Scientology-Organisation (SO) 1. Zur Geschichte der SO ............................................... 199 2. Ideologie und Aktivitäten ........................................... 200 2.1 Schriften der SO ......................................................... 201 2.1.1 Errichtung einer scientologischen Gesellschaft ........... 201 2.1.2 Lenkung der Regierung durch Scientology .................. 202 2.1.3 Einführung eines scientologischen Rechtssystems ....... 203 2.1.4 Bekämpfung von Kritik an Lehre und Praxis - aggressive Expansionstechnik ..................................................... 203 2.2 Aktivitäten der SO ..................................................... 204 2.2.1 Angriffe auf Repräsentanten des Staates .................... 204 2.2.2 Techniken der Verhaltenskontrolle und -steuerung ..... 205 2.2.3 Ausforschung und Bekämpfung von Kritikern ............ 206 2.2.4 Kampagne gegen Schutzerklärung ............................. 206 2.2.5 Aktivitäten im Ausland .............................................. 207 2.3 Bewertung der Schriften und Aktivitäten .................... 209 2.4 Bestätigung der Bewertung der SO durch neues Gutachten ................................................................. 210 3. Organisationsund Kommandostruktur der SO .......... 211 3.1 Weltweite Kommandostruktur der SO ........................ 211 3.2 Organisation der SO in Deutschland ........................... 211 3.2.1 "Church"-Sektor ........................................................ 211 3.2.2 WISE-Sektor ............................................................... 214 3.2.3 ABLE-Sektor ............................................................... 215 10 Inhaltsverzeichnis 3.2.4 Office of Special Affairs (OSA) .................................... 216 4. Mitglieder der SO ....................................................... 218 5. Veranstaltungen der SO ............................................. 218 5.1 Ausstellung "Was ist Scientology?" ............................ 218 5.2 PR-Aktionen im Zusammenhang mit Katastrophen ..... 219 6. Verwaltungsgerichtsverfahren ..................................... 220 7. Vertrauliches Telefon und Informationsangebot im Internet ................................................................ 220 7. Abschnitt Spionageabwehr 1. Ausgangslage ............................................................ 221 2. Wirtschaftsspionage - Ausforschung von Wissenschaft und Technik .......................................... 222 3. Spionage im Bereich der Kommunikationstechnik ...... 223 4. Proliferation .............................................................. 224 5. Schutzmaßnahmen - Beratung durch den Verfassungsschutz ..................................................... 225 6. Ausblick .................................................................... 226 8. Abschnitt Organisierte Kriminalität 1. Ausgangslage ............................................................ 227 2. Beobachtungsschwerpunkte ...................................... 227 Verfassungsschutz in Bayern 11 1. Abschnitt Verfassungsschutz in Bayern Die Bundesrepublik Deutschland ist nach ihrer Verfassung eine wertgebundene, wachsame und wehrhafte Demokratie. Der Staat kann gegen Bestrebungen, die freiheitliche demokratische Grundordnung abzuschaffen, die in der Verfassung vorgesehenen Abwehrmittel einsetzen, z.B. durch ein Parteioder Vereinsverbot. Dies setzt voraus, dass er solche Bestrebungen oder Aktivitäten, die als "extremistisch" oder als "verfassungsfeindlich" bezeichnet werden - diese Begriffe sind gleichbedeutend -, rechtzeitig erkennen kann. Hier setzt die Aufgabe des Verfassungsschutzes ein. Er dient dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sowie dem Schutz des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist unter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung eine Ordnung zu verstehen, die unter Ausschluss jeglicher Gewaltund Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser freiheitlichen demokratischen Grundordnung gehören mindestens: - die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, - die Volkssouveränität, - die Gewaltenteilung, - die Verantwortlichkeit der Regierung, - die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, - die Unabhängigkeit der Gerichte, - das Mehrparteienprinzip, - die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition. 12 Verfassungsschutz in Bayern 1. Gesetzliche Grundlagen Die Aufgaben und Befugnisse des Verfassungsschutzes sind gesetzlich genau festgelegt. Das Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz beschreibt die von Bund und Ländern auf dem Gebiet des Verfassungsschutzes gemeinsam zu erfüllenden Aufgaben. Es ist zugleich Rechtsgrundlage für die Arbeit des Bundesamts für Verfassungsschutz. Neben diesem Bundesgesetz bestehen in allen Ländern eigene Verfassungsschutzgesetze. In Bayern regelt das im Anhang abgedruckte Bayerische Verfassungsschutzgesetz die Aufgaben und Befugnisse des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz, das seinen Sitz in München hat und dem Bayerischen Staatsministerium des Innern unmittelbar nachgeordnet ist. Für das Landesamt wurden im Haushaltsplan 2002 insgesamt 450 Stellen für Beamte, Angestellte und Arbeiter ausgewiesen; das Haushaltsvolumen 2002 betrug 23,26 Millionen Euro. 2. Aufgaben des Verfassungsschutzes Nach dem Bayerischen Verfassungsschutzgesetz hat das Landesamt für Verfassungsschutz im Wesentlichen den Auftrag der Beobachtung von - Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind, - sicherheitsgefährdenden oder geheimdienstlichen Tätigkeiten für eine fremde Macht (Sabotage und Spionage), - Bestrebungen, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, - Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Art. 9 Abs. 2 des Grundgesetzes), insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker (Art. 26 Abs. 1 des Grundgesetzes), gerichtet sind und - Bestrebungen und Tätigkeiten der Organisierten Kriminalität. Darüber hinaus wirkt das Landesamt für Verfassungsschutz unter anderem bei Sicherheitsüberprüfungen mit. Rechtsgrundlage hierfür ist das Bayerische Sicherheitsüberprüfungsgesetz. Es ist fernerhin betei- Verfassungsschutz in Bayern 13 ligt bei der Überprüfung von Mitarbeitern in Flughäfen und Kernkraftwerken nach dem Luftverkehrsgesetz bzw. Atomgesetz sowie bei einbürgerungsund ausländerrechtlichen Entscheidungen. Im Mittelpunkt der Beobachtung stehen Aktivitäten von extremistischen Organisationen. Dazu müssen zwangsläufig auch die Mitglieder und Unterstützer erfasst werden. Aber auch die Beobachtung von Einzelpersonen ist zulässig. Der Verfassungsschutz beobachtet verfassungsfeindliche Bestrebungen im Inland. Er informiert die politisch Verantwortlichen und die Öffentlichkeit über die Ergebnisse der Beobachtung, vor allem über mögliche Gefahren. Er versetzt die zuständigen staatlichen Stellen des Bundes und der Länder in die Lage, verfassungsfeindlichen Kräften rechtzeitig und angemessen zu begegnen. Die Erkenntnisse bilden die Grundlage für Exekutivmaßnahmen wie beispielsweise Verbote von Vereinen, Verbotsanträge gegen Parteien - wie sie von Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag gegen die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) gestellt wurden -, Verbote von Versammlungen, Verhinderung finanzieller oder sonstiger Förderung, Verweigerung erforderlicher Erlaubnisse (z.B. für Sammlungen, Info-Stände). Im Gegensatz zum Verfassungsschutz beschafft der Bundesnachrichtendienst (BND) Informationen über das Ausland, die für die Bundesrepublik Deutschland außenund sicherheitspolitisch von Interesse sind. Der Militärische Abschirmdienst (MAD) nimmt Verfassungsschutzaufgaben im Bereich der Bundeswehr wahr. 3. Informationsbeschaffung Zur Erfüllung seines gesetzlichen Auftrags ist der Verfassungsschutz verpflichtet, Informationen zu beschaffen, auszuwerten und zu speichern. Diese Nachrichten werden zum weit überwiegenden Teil aus offenen Quellen gewonnen (z.B. aus Zeitungen, Zeitschriften, Flugblättern, Programmen, Broschüren und sonstigem Material extremistischer Organisationen sowie bei deren öffentlichen Veranstaltungen). Etwa 20 % der Informationen erhält der Verfassungsschutz durch Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel. Zu diesen Mitteln gehören im Wesentlichen: - der Einsatz von verdeckt arbeitenden V-Leuten ("V" steht für "Vertrauen") in extremistischen Organisationen, 14 Verfassungsschutz in Bayern - das Beobachten verdächtiger Personen (Observation) sowie - verdeckte Bildund Tonaufzeichnungen. Eingriffe in das Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis (Öffnen von Briefen, Abhören von Telefongesprächen) sind besonders strengen rechtsstaatlichen Anforderungen unterworfen. Sie sind in einem eigenen Gesetz geregelt, das nach dem Grundrecht des Brief-, Postund Fernmeldegeheimnisses "Artikel 10-Gesetz" (G 10) genannt wird. Ein Verfahren mit mehreren voneinander unabhängigen Kontrollinstanzen stellt sicher, dass in dieses Grundrecht nur eingegriffen wird, wenn die im Gesetz genannten besonderen Gründe vorliegen. Ähnliches gilt für die neu eingeführten Auskunftsrechte gegenüber Postund Telekommunikationsdienstleistern, Fluggesellschaften und Kreditinstituten sowie für die Verwendung des so genannten IMSI-Catchers zur Feststellung unbekannter Mobiltelefonnummern. Rechtsstaatliche Sicherungen gelten auch für den Einsatz besonderer technischer Mittel im Schutzbereich des Art. 13 des Grundgesetzes, also für den Einsatz von Abhörgeräten oder versteckten Kameras in Wohnungen und Büros. Dem Verfassungsschutz stehen keine polizeilichen Befugnisse zu. Polizeibehörden und Verfassungsschutz sind voneinander getrennt. Deshalb dürfen die Mitarbeiter des Verfassungsschutzes keinerlei Zwangsmaßnahmen, wie z.B. Festnahmen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen usw., durchführen. Verfassungsschutzbehörden dürfen auch keiner polizeilichen Dienststelle angegliedert werden. Dies steht aber einer informationellen Zusammenarbeit und gegenseitigen Unterstützung nicht entgegen. Im Gegenteil sind diese unabdingbare Voraussetzungen für eine effiziente Arbeit der Sicherheitsbehörden. Erscheint aufgrund der dem Verfassungsschutz vorliegenden Informationen ein sicherheitsrechtliches Eingreifen erforderlich, so wird die zuständige Sicherheitsbehörde unterrichtet. Diese entscheidet dann selbständig, ob und welche Maßnahmen zu treffen sind. 4. Kontrolle Die Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden unterliegt einer vielfältigen Kontrolle. Dazu gehört die allgemeine parlamentarische Kontrolle, die durch die Berichtspflicht des verantwortlichen Ministers gegenüber dem Landtag im Rahmen von aktuellen Stunden, Anfra- Verfassungsschutz in Bayern 15 gen von Abgeordneten, Petitionen usw. ausgeübt wird. Eine besondere Kommission des Bayerischen Landtags, das Parlamentarische Kontrollgremium, überwacht die Arbeit des Verfassungsschutzes. Die G 10-Kommission überprüft die Maßnahmen zur Überwachung des Postund Fernmeldeverkehrs, die Zulässigkeit und Notwendigkeit der Einholung von Auskünften bei Postund Telekommunikationsdienstleistern, Fluggesellschaften und Kreditinstituten sowie den Einsatz des so genannten IMSI-Catchers. Die Verwaltungskontrolle obliegt dem Innenminister im Rahmen der Dienstund Fachaufsicht, ferner dem Bayerischen Landesbeauftragten für den Datenschutz und dem Bayerischen Obersten Rechnungshof. Diese Kontrollen werden ergänzt durch eine mögliche gerichtliche Nachprüfung belastender Einzelmaßnahmen sowie durch die Öffentlichkeit in Form von Presse, Funk und Fernsehen. 5. Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes Die freiheitliche demokratische Grundordnung kann auf Dauer nicht ohne die geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Extremismus gesichert werden. Die Tätigkeit des Verfassungsschutzes gewährleistet, dass Regierung und Parlament, aber auch die Bürger über Aktivitäten und Absichten verfassungsfeindlicher Organisationen informiert werden. Im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes werden der Verfassungsschutzbericht sowie weitere Informationsmaterialien zur Verfügung gestellt. Das Informationsmaterial erhalten Sie kostenlos beim Bayerischen Staatsministerium des Innern - Sachgebiet Verfassungsschutz -, Odeonsplatz 3, 80539 München (Telefax: 0 89 / 2 19 21 28 42). Die meisten Materialien, insbesondere der jährliche Verfassungsschutzbericht und auch Informationen zur Scientology-Organisation, sind zusätzlich im Internet unter folgender Adresse abrufbar: http://www.innenministerium.bayern.de/infothek/sicherleben.htm Das Internet-Angebot des Bayerischen Staatsministeriums des Innern wird durch die unter der Adresse http://www.verfassungsschutz.bayern.de erreichbare Homepage des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz ergänzt. 16 Verfassungsschutz in Bayern 6. Infound Beratungstelefone Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz hat unter der Nummer 0 89 / 31 20 14 80 ein Kontakttelefon für Hinweise zur Bekämpfung des internationalen, insbesondere des islamisch-fundamentalistischen, Terrorismus eingerichtet. Dort besteht außerdem seit Februar im Rahmen der von Bund und Ländern erarbeiteten Aussteigerprogramme für Rechtsextremisten ein Beratungsund Hinweistelefon. Das Telefon, das ebenso der Aufklärung rechtsextremistischer Aktivitäten in Bayern dienen soll, ist für Bürger und aussteigewillige Extremisten - nicht nur Rechtsextremisten - unter der Nummer 0 18 02 00 07 86 zu erreichen. Seit Jahren unterhält auch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz ein "vertrauliches Telefon" für Opfer und Aussteiger der Scientology-Organisation (SO) sowie für Angehörige von SO-Mitgliedern. Das Amt nimmt Informationen und Hinweise unter der Nummer 0 89 / 31 20 12 96 entgegen. Entwicklung des politischen Extremismus 17 2. Abschnitt Entwicklung des politischen Extremismus im Jahr 2002 1. Rechtsextremismus Die Bemühungen der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), das gegen sie anhängige Verbotsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht und insbesondere die wegen der V-Mann-Problematik erfolgte Absetzung der für Februar vorgesehenen Verhandlungstermine propagandistisch zu nutzen, blieben erfolglos. Auch konnte die Partei ihren Mitgliederstand nicht halten. Bei der Bundestagswahl im September verfehlte sie trotz eines geringen Zuwachses von 0,3 auf 0,4 % der Zweitstimmen ihr Wahlziel, nämlich die Teilhabe an der staatlichen Parteienfinanzierung. Das Konzept der NPD, im Rahmen ihrer "Drei-Säulen-Strategie" insbesondere auf die Fortsetzung des aktionistischen Kurses ("Kampf um die Straße") zu setzen, erwies sich weiterhin als Anziehungspunkt für militante Rechtsextremisten. Ihre Bereitschaft zur engen Zusammenarbeit mit Neonazis und Skinheads wurde auf dem Bundesparteitag durch die Wiederwahl des Parteivorsitzenden Udo Voigt bestätigt. Die NPD wie auch die anderen rechtsextremistischen Parteien versuchten weiterhin aktuelle politische Fragen zu nutzen, wobei sie vor allem soziale Themen aufgriffen und Kritik an der Globalisierung übten. Letztere dient insbesondere der NPD zur Unterstützung ihres Antiamerikanismus. Die Nahost-Problematik wird von Rechtsextremisten im Sinn ihres rassistisch motivierten Antisemitismus kommentiert. Die Rolle Deutschlands in der Europäischen Union (EU) und deren Erweiterung sowie die Problematik der Zuwanderung von Ausländern dienen den Rechtsextremisten zur Untermauerung ihrer These der Willfährigkeit der Bundesregierung und der "Altparteien" gegenüber der "Ausbeutung" Deutschlands. Die Verknüpfung dieser Themen mit nationalistischen Parolen brachte jedoch weder der NPD noch der Deutschen Volksunion (DVU) den erhofften Erfolg. Die Republikaner (REP) und die DVU haben bayernund bundesweit Mitgliederverluste zu verzeichnen. Die REP erreichten bei der Bundes- 18 Entwicklung des politischen Extremismus tagswahl nur 0,6 % gegenüber 1,8 % im Jahr 1998. Die DVU hatte erst gar nicht an der Bundestagswahl teilgenommen. Die fehlenden Wahlerfolge sowie der Mitgliederrückgang sind Indizien für den politischen Bedeutungsverlust der DVU unter ihrem Vorsitzenden Dr. Gerhard Frey. Gleichwohl ist die DVU die mitgliederund vor allem die finanzstärkste rechtsextremistische Partei Deutschlands. Während die organisierte neonazistische Szene in Bayern wiederum nur relativ geringe politische Aktivitäten entfaltete, nahmen bundesweit die von Neonazis organisierten Demonstrationen abermals zu. Ebenso stiegen die Aktivitäten rechtsextremistischer Skinheads. So wurden in Bayern elf Skinhead-Konzerte bekannt. Dagegen ging die Zahl der von Neonazis und Skinheads verübten Gewalttaten deutlich auf 51 (2001: 72) zurück. Die dabei demonstrierte Brutalität und Menschenverachtung sind nach wie vor erschreckend. Auch die Anzahl sonstiger Straftaten, insbesondere der Propagandadelikte, hat in Bayern deutlich abgenommen. Terroristische Ansätze sind in Bayern nicht erkennbar. Das im Februar 2001 vom Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz eingerichtete Hinweistelefon (0 18 02 00 07 86) wurde von rund 150 Personen genutzt. Meist handelte es sich bei den Anrufern um Bürger, die Hinweise auf rechtsextremistische Bestrebungen gaben. In einigen Fällen bekundeten Rechtsextremisten ihren Willen zum Ausstieg. Erfolg versprechend ist auch das vom Landesamt für Verfassungsschutz gestartete aktive Aussteigerprogramm. Hierbei wurden mehr als 70 Personen angesprochen, von denen 21 inzwischen ausgestiegen sind und 20 als potenzielle Aussteiger bezeichnet werden können. 2. Linksextremismus Auch der gewaltbereite Linksextremismus stellt nach wie vor eine Gefahr für die Innere Sicherheit dar, wenn auch die Zahl der linksextremistisch motivierten Gewalttaten in Bayern von 39 im Vorjahr auf 21 zurückging. Das linksextremistische Gewaltpotenzial wird zu 80 % von Gruppen und Einzeltätern aus dem autonomen und anarchistischen Spektrum gestellt. Im Rahmen des "Antifa-Kampfs" richteten sich diese Gewalttaten in Bayern zum großen Teil gegen tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten. Das eigentliche Angriffsziel der Autonomen sind jedoch der demokratische Staat und seine Entwicklung des politischen Extremismus 19 Repräsentanten. Dass das grundsätzlich auch für Extremisten jeglicher Couleur geltende Versammlungsrecht verfassungsrechtlich gesichert ist und garantiert werden muss, wird nicht akzeptiert. Die Thematik "Anti-Globalisierung" stellt weiterhin ein wichtiges Aktionsfeld der Autonomen dar. Nach dem NATO-Einsatz in Afghanistan und vor dem Hintergrund eines möglichen Irak-Kriegs der USA wird auch der "Antiimperialismus" wieder verstärkt von Angehörigen dieser Szene aufgegriffen. Bei der Bundestagswahl am 22. September erreichte die PDS nur 4,0 % der Zweitstimmen (1998: 5,1 %) und scheiterte damit an der 5 %-Hürde. Über ihre Berliner Wahlkreise wurden zwei Bewerberinnen der PDS direkt in den Deutschen Bundestag gewählt; die PDS besitzt damit im Parlament keinen Fraktionsstatus mehr. In dem anlässlich der 3. Tagung des 7. Parteitags der PDS am 16. und 17. März in Rostock verabschiedeten Programm der PDS zur Bundestagswahl erklärte die Partei, sie wolle bundespolitisch an ihrer Oppositionsrolle festhalten, Komponenten direkter Demokratie stärken und Freiräume in der Wirtschaft einengen. Die Abschaffung von Nachrichtendiensten, Bundeswehr und NATO waren erklärte Ziele des Wahlprogramms. Als Erfolg konnte die PDS dagegen werten, dass sie aufgrund der rot-roten Koalitionsvereinbarung in Berlin drei von acht Senatorenämtern erhielt. 3. Ausländerextremismus Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA hat die Gefährdung der westlichen Welt durch fanatische islamische Fundamentalisten eine neue Dimension erreicht. Die internationalen und nationalen Bemühungen zur Aufklärung und Bekämpfung des internationalen Terrors hatten zwar Erfolge, waren aber insgesamt nicht in der Lage, die Gefahren entscheidend zu reduzieren. Terroranschläge in Djerba, Bali, Moskau und Kenia, um nur die schwersten zu nennen, zeigen uns die ungebrochene Gefährlichkeit des internationalen Terrors auf. Deutschland ist nicht mehr nur Rückzugsund Vorbereitungsraum von Terroranschlägen, sondern kann jederzeit auch Ziel terroristischer Gewalttaten werden. Die Innere Sicherheit ist durch ein islamistisches Netzwerk fanatisierter Gruppierungen und Einzelpersonen bedroht. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz hat ein eigenes Sachgebiet eingerichtet, das sich ausschließlich mit der Aufklärung terroristischer Netzwerkstrukturen befasst. Die konse- 20 Entwicklung des politischen Extremismus quente Durchsetzung der Vereinsund Betätigungsverbote in Bayern hat sich bewährt; die relativ geringe Zahl von acht Gewalttaten in Bayern belegt dies. Zu islamistischen Vereinigungen und Gruppen bekennen sich in Bayern neben Personen aus arabischen Ländern vor allem die 4.800 Mitglieder der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG). Diese ist bemüht, öffentliche extremistische Aussagen zu vermeiden. Ihr Fernziel bleibt aber die Islamisierung Europas und die Bildung einer weltweiten Union islamischer Staaten. Der islamische Fundamentalismus ist überaus integrationsfeindlich, da er die Errichtung einer islamischen Parallelgesellschaft zur Folge hat. Das Bundesministerium des Innern erließ im Dezember 2001 ein Verbot des islamistischen "Kalifatsstaats" (Hilafet Devleti) einschließlich siebzehn ihm zuzuordnender Teilorganisationen. Darunter waren auch alle vier bayerischen Verbände. Das Vermögen der Organisation wurde beschlagnahmt und eingezogen. Dennoch konnten im Jahr 2001 Aktivitäten der Anhänger des "Kalifatsstaats" beobachtet werden. Nach Abschluss der zeitaufwändigen Auswertung der im Rahmen des Verbotsvollzugs und der vereinsrechtlichen Ermittlungen sichergestellten Beweismittel konnten darüber hinaus am 19. September 2002 weitere 16 Teilorganisationen des "Kalifatsstaats" vom Bundesministerium des Innern verboten werden, wobei Bayern von diesen Verbotsverfügungen nicht betroffen war. Ferner hat das Bundesministerium des Innern im August den in Aachen ansässigen Ausländerverein Al-Aqsa e.V. verboten. Dieser hat unter dem Deckmantel humanitärer Spendensammlungen die Terrororganisation Hamas unterstützt. Da es in Bayern keine Niederlassungen des Al-Aqsa e.V. gab, war Bayern von dieser Verbotsverfügung nicht betroffen. Des Weiteren wurde vom Bundesministerium des Innern im Januar 2003 die Betätigung der islamistisch-fundamentalistischen Hizb-ut-Tahrir im räumlichen Geltungsbereich des Vereinsgesetzes verboten. Zur Umsetzung des Betätigungsverbots und zur Beschlagnahme von etwaigen Beweismitteln für ein Organisationsverbot wurden die Wohnungen von maßgeblichen Anhängern der Hizb-ut-Tahrir, unter anderem eines Anhängers in Bayern, durchsucht. Der Schwerpunkt der Aktion lag in Hessen. Die kurdische PKK hat sich auf ihrem Parteikongress im April in Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans (KADEK) umbenannt. Die Organisationsstrukturen und die Ideologie der ehemaligen PKK Entwicklung des politischen Extremismus 21 bestehen weitestgehend fort. Im Gegensatz zur PKK verzichtet der KADEK jedoch auf die Errichtung eines separaten Kurdenstaats. Die Aktivitäten türkischer Linksextremisten konzentrierten sich wie bereits im Vorjahr auf europaweite Solidaritätskundgebungen und -aktionen für die inhaftierten Gesinnungsgenossen in der Türkei. Als weiteres Themenfeld wurde der Imperialismus, in erster Linie bei der Agitation gegen die USA, aufgegriffen. 4. Scientology-Organisation Die Scientology-Organisation (SO) will die Staaten der Welt letztlich nach eigenen Regeln beherrschen und regieren, die insbesondere die Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wie Gewaltenteilung, Rechtsstaatsprinzip und Demokratieprinzip missachten. Ihr höchstes Ziel, die Weltherrschaft, steht im krassen Widerspruch zu ihren ständigen Beteuerungen, der Menschheit die völlige Freiheit zu bringen, weil die Verwirklichung ihres Herrschaftsprinzips tatsächlich zu einer massiven Beeinträchtigung der Menschenrechte führen würde. Bis zur Erreichung ihres Ziels sieht sich die SO im Grunde mit allen anti-scientologischen Menschen, Gesellschaftsgruppen und Staaten im ständigen Konflikt. Vor diesem Hintergrund sind auch die von ihr im Jahr 2002 durchgeführten Propagandamaßnahmen zu beurteilen, mit denen sie die Aufklärungsund Abwehrmaßnahmen des Staates diffamiert. Nach wie vor ist sie bestrebt, die Beobachtung durch den Verfassungsschutz mit der Verfolgung der Juden im Dritten Reich gleichzusetzen. Dazu führte sie zahlreiche Veranstaltungen wie Info-Stände, Ausstellungen und andere propagandistische Aktionen durch, um die Öffentlichkeit über ihre wahren verfassungsfeindlichen Absichten zu täuschen und um neue Mitglieder zu werben. Ihre aggressiven Aktionen stoßen national und international bei den Bürgern zunehmend auf Ablehnung. 22 Entwicklung des politischen Extremismus 5. Grafische Darstellungen Entwicklung Rechtsextremisten der MitgliederLinksextremisten zahlen extremisAusländische Extremisten Mitglieder Scientology-Organisation Deutschland tischer Organi80.000 sationen in Deutschland 60.000 41.500 57.350 45.000* 40.000 39.950 31.100** 33.800 20.000 Deutschland 10.000 5.500*** 0 1993 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 * Die Republikaner 1994 erstmals erfasst. ** Die Kurve beruht auf den Zahlen des Bundesamts für Verfassungsschutz, das von den Mitgliedern der PDS nur die der Kommunistischen Plattform (KPF) erfasst. Die PDS hatte 2002 insgesamt 77.000 Mitglieder, davon 1.500 in der KPF. *** Scientology-Organisation 1998 erstmals konkret erfasst; Angaben für die Vorjahre geschätzt. Entwicklung Rechtsextremisten der MitgliederLinksextremisten zahlen extremisAusländische Extremisten Rechtsextremisten tischer OrganiMitglieder Scientology-Organisation Linksextremisten 12.000 Ausländische Extremisten sationen in Mitglieder Scientology-Organisation 10.370 Bayern 10.000 12.000 7.200 8.000 10.450 6.750* 10.000 6.000 8.000 8.030* 4.840 5.425 4.000 6.000 3.465 3.960 4.870 3.000 2.600** 2.000 3.485 4.000 3.960 Bayern 3.000 2.600** 2.0000 1993 94 Bayern95 96 97 98 99 2000 01 02 0 * Die Republikaner 1994 erstmals erfasst. ** 1992 93 94 95 96 97 98 99 2000 01 Scientology-Organisation 1998 erstmals konkret erfasst; Angaben für die Vorjahre geschätzt. Entwicklung des politischen Extremismus 23 Entwicklung 2000 2001 2002 extremistisch 998 motivierter 1000 Gewalttaten in 900 827 Deutschland 800 750 725 709 700 600 500 400 371 300 200 116 84 55 100 0 linksextremistisch rechtsextremistisch Gewalttaten durch motivierte motivierte ausländische Gewalttaten Gewalttaten Extremisten Entwicklung 2000 2001 2002 extremistisch motivierter 80 Gewalttaten in 72 70 Bayern 60 60 51 50 39 39 40 30 21 20 11 9 10 3 0 linksextremistisch rechtsextremistisch Gewalttaten durch motivierte motivierte ausländische Gewalttaten Gewalttaten Extremisten 24 Rechtsextremismus 3. Abschnitt Rechtsextremismus 1. Allgemeines 1.1 Merkmale des Rechtsextremismus Der Rechtsextremismus weist keine gefestigte einheitliche Ideologie auf. Die Bestrebungen rechtsextremistischer Organisationen in Deutschland sind im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet, dass sie die Grundlagen der Demokratie ablehnen und statt dessen - aus taktischen Gründen meist nicht offen erklärt - eine totalitäre Regierungsform unter Einschluss des Führerprinzips anstreben, die mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung nicht zu vereinbaren ist. Bestimmende Merkmale des organisierten Rechtsextremismus sind vor allem - die pauschale Überbewertung der Interessen der "Volksgemeinschaft" zu Lasten der Interessen und Rechte des Einzelnen, die zu einer Aushöhlung der Grundrechte führt (völkischer Kollektivismus), - ein den Gedanken der Völkerverständigung missachtender Nationalismus, - die offene oder verdeckte Wiederbelebung rassistischer Thesen, unter anderem des Antisemitismus, die mit dem Schutz der Menschenwürde und dem Gleichheitsprinzip nicht vereinbar sind, - immer wiederkehrende Versuche, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft unter Herausstellung angeblich positiver Leistungen des Dritten Reichs zu rechtfertigen, die Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime zu diffamieren und die Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zu verschweigen, zu verharmlosen oder sogar zu leugnen. Hinzu kommt die allen Extremisten gemeinsame planmäßige Verunglimpfung der bestehenden Staatsform und ihrer Repräsentanten. Ziel dieser Angriffe ist es, die eigene Organisation und ihre Repräsentanten als die alleinigen Wahrer der Interessen von Staat und Bürgern Rechtsextremismus 25 darzustellen, was im Ergebnis auf die Ablehnung des Mehrparteienprinzips und des Rechts auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition hinausläuft. Diese Merkmale sind nicht gleichmäßig bei allen Rechtsextremisten zu beobachten. Manchmal sind nur Teilaspekte bestimmend; auch die Intensität und die Strategie des Kampfs gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung sind unterschiedlich. Seit einigen Jahren treten in der Propaganda von Rechtsextremisten sozialund wirtschaftspolitische Themen zunehmend in den Vordergrund. Durch Verknüpfung sozialer Problemfelder mit rechtsextremistischen Theorie-Elementen hoffen Rechtsextremisten, aus den Fragen der Bevölkerung nach der Sicherheit des Arbeitsplatzes, des Wettbewerbs und der Finanzierung der Renten Kapital schlagen zu können. Teile des rechtsextremistischen Spektrums propagieren einen "volksbezogenen Sozialismus" mit dem Ziel, in sozialistisch orientierte Wählerschichten einzudringen. Des Weiteren zeigen sich im Bereich des intellektuellen Rechtsextremismus immer wieder Tendenzen zu Einigungsbemühungen auf europäischer Ebene mit dem Ziel, eine "Europäische Rechte" zu etablieren. Organisierte und unorganisierte Rechtsextremisten sind sich einig in der Ablehnung der "One-World-Ideologie" der Weltmacht USA. Sie fordern die geistige "Befreiung" von der kulturellen und politischen "Überfremdung" durch die USA. Ebenso ablehnend stehen sie dem freien Welthandel und der zunehmenden Globalisierung gegenüber, die sie als Einebnung nationaler Vielfalt verstehen und somit als eine Gefahr für die nationalstaatlichen Strukturen erachten. 1.2 Entwicklung der Organisationen Die Entwicklung der Zahl rechtsextremistischer Organisationen in Bayern und deren jeweilige Mitgliederstärke ist aus den nachfolgenden Übersichten zu ersehen. Bei erkannten Mehrfachmitgliedschaften wurde die Person nur bei einer Organisation mitgezählt. Die NPD konnte den aufgrund ihrer Werbekampagne "Argumente statt Verbote - Nein zum NPD-Verbot" im Vorjahr erreichten anfänglichen Mitgliederzuwachs in Bayern nicht halten. Ihre Verknüpfung mit der Neonaziund Skinhead-Szene hat sich verfestigt. Die REP sind in Bayern weiterhin die personell größte Partei, in der rechtsextremis- 26 Rechtsextremismus Zahl und Mitgliederstärke 2000 2001 2002 rechtsextremistischer OrganiAnzahl der Organisationen 33 38 37 sationen in Bayern Mitgliederstärken Die Republikaner (REP) 4.000 4.000 3.000 NPD mit JN und NHB 1.050 980 920 Deutsche Volksunion (DVU)* 1.800 1.600 1.400 Neonazistische Organisationen 60 70 70 Sonstige Organisationen 330 300 280 7.240 6.950 5.670 Neonazistische Einzelaktivisten 100 180 180 Rechtsextremistische Skinheads 780 900 900 Rechtsextremisten insgesamt 8.120 8.030 6.750 * Die Zahlen umfassen die Mitglieder der Partei und des gleichnamigen Vereins. Mitglieder 70.000 Deutschland * 60.000 50.000 45.000 40.000 41.500 30.000 20.000 Bayern * 10.000 6.750 4.840 0 1993 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 * Republikaner 1994 erstmals erfasst. Rechtsextremismus 27 tische Bestrebungen verfolgt werden; die DVU ist im Bundesgebiet die mitgliederstärkste rechtsextremistische Partei. Trotz aufwändiger, teils aggressiver und provokanter Wahlpropaganda gelang es den rechtsextremistischen Parteien nicht, bei Wahlen nennenswerte Erfolge zu erzielen. Bündnisbestrebungen zwischen rechtsextremistischen Parteien waren nicht mehr feststellbar. Sowohl die Führung der REP als auch der DVU lehnen die NPD nach wie vor als Bündnispartnerin ab. Ebenso blieben Bemühungen einer im Jahr 2000 gegründeten Deutschen Aufbau-Organisation (DAO) um ein Bündnis mit "patriotischen und nationalen Parteien" erfolglos. Die DAO löste sich daraufhin im Februar auf. Der organisierte Neonazismus versuchte bundesweit mit zahlreichen Demonstrationen öffentliche Aufmerksamkeit zu erzielen. Nach wie vor mangelt es ihm aber an einem Konzept zur Überwindung der eigenen politischen Isolation und Ohnmacht. Sozialistische Ideologiemerkmale wurden wiederum stärker betont. Die Skinhead-Szene ist strukturell nicht gefestigt, die Zahl ihrer Anhänger aber nahezu konstant geblieben. 1.3 Rechtextremistische Gewalt Die Zahl rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten in Deutschland ist auf 725 angestiegen gegenüber 709 im Jahr 2001. In Bayern ist Entwicklung 998 Deutschland Bayern 1000 rechtsextremis900 tisch motivierter Gewalttaten 800 725 709 700 600 500 400 300 200 60 72 51 100 0 2000 2001 2002 28 Rechtsextremismus die Zahl rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten deutlich zurückgegangen auf 51 (2001: 72). Den meisten Gewalttaten (30) lag wie in den Vorjahren eine fremdenfeindliche Motivation zugrunde. Weitere 13 Gewalttaten richteten sich gegen politische Gegner. Zwei Gewalttaten waren antisemitisch motiviert. Die Mehrzahl der Gewalttaten geht nach wie vor von Skinheads aus. Auch die Zahl sonstiger rechtsextremistisch motivierter Straftaten ist auf 1.369 zurückgegangen (2001: 1.768). Bei diesen Straftaten handelte es sich wie im Vorjahr um Sachbeschädigungen, Nötigungen, Bedrohungen, Volksverhetzung (440 Delikte) und insbesondere das Verbreiten von Propagandamitteln bzw. Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (843 Delikte). 2. Parteien, Organisationen und Verlage 2.1 Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) Deutschland Bayern Mitglieder: 6.100 850 Vorsitzender: Udo Voigt Ralf Ollert Gründung: 1964 Sitz: Berlin Publikationen: Deutsche Stimme (DS), Deutsche Stimme EXTRA 2.1.1 Ideologisch-politischer Standort Neonazistische und nationalrevolutionäre Thesen sind integraler Bestandteil des ideologischen Spektrums der NPD geworden und haben deren Erscheinungsbild nachhaltig verändert. Die bereits seit mehreren Jahren erkennbare Entwicklung der NPD zu einem Sammelbecken gewaltbereiter Skinheads und Neonazis hat sich fortgesetzt. Die Parteiführung hält an einer Zusammenarbeit mit den "Freien Nationalisten" fest. Das von der Partei vertretene Staatsund Menschenbild steht in krassem Gegensatz zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Für die NPD resultiert die Würde des Einzelnen nicht aus dem freien Willen des Individuums, sondern sie ist von biologisch-genetischer Teilhabe an der "Volksgemeinschaft" abhängig. Mit ihrer Forderung nach Schaffung einer "Volksgemeinschaft" verwendet die NPD einen zentralen Begriff des Nationalsozialismus, der darunter insbesondere eine Schicksalsgemeinschaft verstand, in der Rechtsextremismus 29 die Interessen des Einzelnen bedingungslos der Gemeinschaft der Volksgenossen untergeordnet wurden. Die NPD sieht das Volk als eine "biologische Einheit" und entsprechend die Volksgemeinschaft "als Lebensgemeinschaft körperlich, geistig und seelisch verwandter Menschen, die durch Raum, Zeit und Blut zu einer ... Schutz-, Solidarund Notgemeinschaft verwachsen sind, ... (...) Diese Idee und Realität der Volksgemeinschaft ist das höchste irdische Gesetz, der letzte Wert, ..." (Deutsche Stimme Nummer 9/2001, Seite 22) Allerdings argumentiert die NPD seit Beginn des Verbotsverfahrens zurückhaltender als bisher, kommt aber zum gleichen Ergebnis: "Volksgemeinschaft ist eine Bewußtseinshaltung auf der Ebene der Gesittung und Sozialität und ein daraus folgendes ethisches Gebot, das eigene Streben mit dem Wohle des Volkes in Einklang zu halten." (Deutsche Stimme Nummer 2/2002, Seite 22) Sie bestätigt diese Feststellung mit folgender These: "Die Gemeinschaft bildet erst den Rahmen, der den Mensch zum Menschen macht." (Deutsche Stimme Nummer 10/2002, Seite 20) Eine mit dem Gleichheitsprinzip des Grundgesetzes unvereinbare, rassistisch und nationalistisch geprägte Fremdenfeindlichkeit ist elementarer Bestandteil der Parteiideologie vom "lebensrichtigen Menschenbild", das sich insbesondere gegen "Fremdbestimmung" und "Überfremdung" wendet. "In zahlreichen Vierteln verausländerter Großstädte, in denen mittlerweile die Ausländer die Rest-Deutschen 'integrieren', hat sich eine entwurzelte Menschenfauna herausgebildet, ... (...) Ihrer Volkskultur entfremdete junge Deutsche treffen an diesen Brennpunkten auf entwurzelte Jung-Osmanen, ergänzt durch ethno-kulturelle Kastraten aus zwischen-ethnischen Beziehungen, deren Unglück ihre geburtsbedingte Heimatlosigkeit ist." (Deutsche Stimme Nummer 1/2002, Seite 24) "Und wie es in einem maroden System des nationalen Selbsthasses nicht anders sein kann, macht sich Marieluise Beck keine Sorgen um den Fortbestand des eigenen Volkes, sondern um die medizinische und schulische Versorgung der illegalen Ausländer in der BRD." (Deutsche Stimme Nummer 4/2002, Seite 5) 30 Rechtsextremismus "Nun aber begann der endgültige Vernichtungsfeldzug der Staatsführung gegen das deutsche Volk: ... (...). Gezeigt wurde etwa eine deutsche Frau, ein Neger und zwischen beiden ihr gemeinsamer Bastard. (...) Diese perverse Werbung für die Bastardisierung des deutschen Volkes soll die Abneigung der Deutschen gegen die sogenannte Integration mindern. Das Volk soll sich freiwillig zerstören." (Deutsche Stimme Nummer 6/2002, Seite 9) Der Antisemitismus der NPD wurde meist bei Angriffen gegen Repräsentanten jüdischer Institutionen deutlich: "Diktatur der Friedmänner geht zu Ende Das Duell Möllemann-Friedman verändert die politische Kultur" (Deutsche Stimme Nummer 6/2002, Seite 2) "Friedman: Jüdischer Lobbyist mit moralischem Größenwahn" (Bildunterschrift Deutsche Stimme Nummer 6/2002, Seite 5) "Der jetzige Chef des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, setzt das Gejammer seiner Vorgänger fort ... (...). Nun wird man sich in jüdischen Kreisen daran gewöhnen müssen, daß man nicht zu den Heiligen und Unberührbaren im Lande gehört. (...) Die Opferrolle der Juden wird unglaubwürdig. Man ist hoffentlich auch in Deutschland nicht mehr bereit, sich dem Druck und der Meinungsdiktatur des jüdischen Zentralrates zu beugen. Immerhin war es doch in der Vergangenheit so, daß die bundesdeutsche Gesellschaft Grippe bekam, wenn der jeweilige Chef dieses Zentralrates hustete." (Internet-Seite der NPD) "Die NPD hat mit Interesse die Auseinandersetzung zwischen Repräsentanten des Zentralrates der Juden in Deutschland und der FDP verfolgt und hat die Tabubrüche des Herrn Möllemann begrüßt. Diese Tabubrüche haben immerhin bewirkt, daß die tatsächlichen Machtverhältnisse in diesem Land klar wurden. Wer zur politischen Klasse gehören will, braucht den Segen der Herren Spiegel und Friedmann. (...) Der Vorwurf des Antisemitismus ersetzt jede Debatte und ist der finale Keulenschlag. ... Friedmann und Spiegel sind zweifelhafte moralische Größen in unserem Land. Sie sind reine Lobbyisten der organisierten Juden. Wer sich wie die beiden unentwegt in die politische Diskussion einmischt und den Deutschen Zensuren erteilt, muß mit Widerspruch rechnen. Freies Denken und Handeln in unserem Land sind erst dann möglich, wenn der Einfluß und die Macht des Zentralrates der Rechtsextremismus 31 Juden gebrochen ist. Die NPD wird niemals vor diesen Herren zu Kreuze kriechen. Sie ist damit die einzige und echte Opposition im Lande." (Presseerklärung vom 6. Juni) In besonderer Weise bekämpft die Partei die parlamentarische Demokratie. Dabei tritt an die Stelle konstruktiver Kritik eine bewusst entstellende und die gesamte Staatsform und Gesellschaftsordnung diffamierende Darstellung: "Die BRD erweist sich mehr und mehr als eine käufliche Republik und steht im internationalen 'Korruptions-Index' schon hinter Chile und knapp vor Tansania." (Deutsche Stimme Nummer 4/2002, Seite 2) "Das gesamte BRD-System scheint zur Republik der Strolche verkommen zu sein, und der diesbezügliche staatspolitische Schweinestall wäre nicht nur auszumisten, sondern konsequent abzureißen und durch ein vollständig neues Gebäude zu ersetzen. (...) Der deutsche Michel wechselt mit seinem Stimmzettel die Systemparteien aus ... und kommt bislang nur selten auf die Idee, eine wirkliche Systemalternative zu wählen, die das politische System als den Fehler an sich und nicht bloß als mit Fehlern im Detail behaftet analysiert und diese Grundtatsache auch öffentlich anspricht - trotz Medienhetze und Verbotsgeschrei durch die Systemkräfte. (...) Das System der parlamentarischen Demokratie besticht ja gerade dadurch, daß sich in ihm eben nichts grundlegend ändert. Und würden Wahlen etwas verändern, dann wären sie schon längst verboten." (Deutsche Stimme Nummer 4/2002, Seite 1/6) "Die Bundesrepublik wurde auf den Bajonetten der Alliierten gegründet. Deutschland wird heute von Kollaborateuren regiert, die den systematischen Ausverkauf deutscher Interessen vornehmen." (Deutsche Stimme Nummer 4/2002, Seite 13) Unter der Überschrift "System der BRD hat abgewirtschaftet", bezeichnete die NPD-Führung in einem im Parteiorgan "Deutsche Stimme" Nummer 6/2002, Seite 14, abgedruckten Artikel die "jüngsten Korruptionsund Spendenskandale" als "Teil eines verfassungswidrigen Systems", das sich innerhalb der herrschenden politischen Klasse inzwischen eingenistet habe. Der "üble Gestank von Selbstherrlichkeit, Vetternwirtschaft und Korruption", der die gegenwärtigen Affären begleite, entstamme keinem Auswuchs an einem ansonsten gesunden demokratischen Gebäude. Vielmehr bringe "der Einsturz des Gebäudes lediglich die Fäulnis des Fundamentes ans Licht, auf dem der BRD-Staat errichtet" sei. 32 Rechtsextremismus "Die Wahl zwischen Stoiber und Schröder ist wohl für uns alle nur eine Wahl zwischen Pest und Cholera." (Parteivorsitzender Udo Voigt in Deutsche Stimme Nummer 10/2002, Seite 3) Das Ergebnis der Bundestagswahl 2002 kommentierte die Partei unter der Überschrift "Erfolg für Multikulti-Fanatiker trotz Wählerbetrugs - Lügen-Kanzler Schröder bleibt im Amt - Wahlschlappe für US-Stiefellecker Stoiber". Weiter hieß es: "Der deutsche Michel hat gewählt: Er hat sich für den endgültigen Bankrott des Gesundheitsund Rentensystems, die weitere Masseneinwanderung von Ausländern, Steuererhöhungen, steigende Kriminalität, strukturbedingte Massenarbeitslosigkeit, kulturelle Verflachung, Korruption, Dekadenz, sexuelle Perversion, fehlende Eliten, Drogenlegalisierung, Randgruppen-Verhätschelung, Rechtsstaat-Demontage, Unterwürfigkeit gegenüber dem Ausland und die Unterstützung der US-Kriegspolitik entschieden." (Deutsche Stimme Nummer 10/2002, Seite 1) Diese diffamierende Polemik zeigt deutlich, dass die NPD die Prinzipien des Mehrparteiensystems und der Chancengleichheit der Parteien trotz ihres formalen Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung ablehnt. Darüber hinaus offenbart die Diktion der NPD, insbesondere der häufige Gebrauch des Begriffs "System", den bereits die NSDAP zur Diffamierung der Weimarer Republik eingesetzt hatte, eine Wesensverwandtschaft mit der Ideologie der NSDAP. NPD und JN lehnen die Wertordnung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung in der bestehenden Form als "überholt und handlungsunfähig" ab und wollen sie deshalb beseitigen. Um dem Ziel der politischen Machtergreifung näher zu kommen, hat die Partei zur Verfolgung ihrer verfassungsfeindlichen Bestrebungen ein auf drei "strategische Säulen" gestütztes Konzept entwickelt, nämlich - Programmatik: Schlacht um die Köpfe, - Massenmobilisierung: Schlacht um die Straße, - Wahlteilnahme: Schlacht um die Wähler Ausdruck der an Etappenzielen ausgerichteten aggressiven Strategie der NPD ist auch das Konzept der "Nationalen Außerparlamentarischen Opposition" (NAPO). Der NPD-Vorsitzende Voigt unterstrich Rechtsextremismus 33 auf dem Bundesparteitag die unverminderte Bedeutung einer NAPO; sie sei "Ausdruck des Protests gegen Willkür und Unterdrückung und als verlängerter Arm künftiger nationaler Abgeordneter in den Parlamenten unverzichtbar". Ziel der NPD sei die Wiederherstellung des "Deutschen Reichs" durch "Überwindung des liberalkapitalistischen Systems". Innerhalb ihres "Drei-Säulen-Konzepts" räumt die NPD trotz des anhängigen Verbotsverfahren dem "Kampf um die Straße" Priorität ein. Dabei zielt sie insbesondere auf Jugendliche, die sie als Aktionspotenzial nutzen kann. Die Partei bietet sich dabei als "Ordnungsfaktor" an. Wie umfangreich das strategische Konzept "Kampf um die Straße" in die Praxis umgesetzt werden konnte, zeigt die Tatsache, dass seit Voigts Amtsantritt im November 1996 die Zahl der von der NPD getragenen Versammlungen erheblich zunahm. So fanden inzwischen bundesweit annähernd 600 - zunehmend mit Neonazis und Skinheads durchgeführte - Demonstrationen und öffentliche Aktionen mit teilweise bis zu 4.000 Teilnehmern statt. Nach dem äußeren Erscheinungsbild waren dabei kaum noch Unterschiede zwischen Neonazis und Angehörigen der NPD auszumachen. Insbesondere die Präsenz von Neonazis und Skinheads prägt häufig die Veranstaltungen der NPD. Sie wollen - nach NS-Vorbildern - mit massiver Häufung uniform auftretender, vielfach kahlgeschorener sowie schwarz gekleideter Demonstrationsteilnehmer einen martialischen, aggressiven und Furcht einflößenden Eindruck vermitteln. Mit Parolen wie "Arbeit zuerst nur für uns Deutsche", "Die Systemparteien zerstören unsere Zukunft", "Wer Deutschland nicht liebt, soll Deutschland verlassen", "Volksgemeinschaft statt Multi-Kulti-Wahn", "Widerstand lässt sich nicht verbieten" und "Die Straße frei der NPD" werden Ängste vor Arbeitslosigkeit, Fremdbestimmung oder Überfremdung verstärkt und ausgenutzt. Damit soll eine Krisenstimmung geschürt werden, die den Angriff gegen den sozialen Rechtsstaat und die freiheitliche Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland rechtfertigen soll. In einer Internetmeldung des Parteipräsidiums behauptet die NPD, die westlichen Demokratien seien "in die Hände von Gangsterbanden gefallen, die alles übertreffen, was sich in der Geschichte je an organisierter Kriminalität gezeigt hat". Die Demonstrationen der NPD, verstärkt durch militante Skinheads und Neonazis, sind deshalb äußerer Ausdruck des aggressiven Bestre- 34 Rechtsextremismus bens der NPD, über den außerparlamentarischen Kampf politische Macht in Deutschland zu erringen. Der NPD-Theoretiker Jürgen Schwab propagierte im Parteiorgan "Deutsche Stimme" (Nummer 4/2002) das Modell einer autonomen Gegengesellschaft. Diese werde sich dem staatlichen Zugriff entziehen und langfristig als Brückenkopf für eine gesamtpolitische Umgestaltung dienen. Unter der Überschrift "Warum nationalbefreite Zonen?" trat Schwab für regionale Schutzräume ein, in denen "nationale Bürger" unbehelligt leben könnten. Die totalitäre Gesellschaft habe den Staat erobert und führe ihren Vernichtungskampf nicht nur gegen die Mitglieder der NPD, sondern darüber hinaus gegen einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung. Damit werde das von dem politischen Philosophen Thomas Hobbes geforderte Gewaltmonopol des Staates untergraben; seine nun ungeschützten Bürger schuldeten ihm somit auch keinen Gehorsam mehr. "Nationalbefreite Zonen", wie sie sich in "Mitteldeutschland" bereits bildeten, böten den vom Staat nicht gewährten Schutz. Im Idealzustand seien "nationale Bürger" dort sicher vor der staatlich finanzierten und medial legitimierten "Antifa" und könnten beispielsweise ungestört "nationale Konzerte" veranstalten. Man werde dort im Berufsleben nicht diskriminiert, dürfe seine Meinung sagen sowie politisch mitwirken und müsse nicht fürchten, dass die Kinder "rechter Eltern" benachteiligt würden. Der Artikel lässt offen, mit welchen Mitteln diese Zonen gegen Dritte gesichert werden sollen. Voigt hält weiter an der Strategie fest, die NPD auf eine möglichst breite Basis zu stellen und unterschiedlichste Strömungen des "Nationalen Widerstands" zu bündeln. Hierbei genießt die themenund aktionsbezogene Zusammenarbeit mit Neonazis Priorität. Dem aus 19 Personen bestehenden NPD-Bundesvorstand gehören derzeit zwei ehemalige Aktivisten verbotener neonazistischer Gruppierungen an. In den NPD-Landesverbänden sind mehrere Personen mit neonazistischem Vorlauf bekannt, die zum Teil herausgehobene Funktionen ausüben. Darüber hinaus betrachtet die NPD Skinheads als natürliche Bündnispartner. Ihre Nähe zur gewaltbereiten Skinhead-Szene entspricht ihrem eigenen Verhältnis zur Gewalt. Mit einer Neuorientierung hin zum "Nationalen Sozialismus", einer Verknüpfung von "Nation" und "Sozialismus", wirbt die NPD insbesondere in den neuen Bundesländern um Anhänger. Zugleich sieht Rechtsextremismus 35 sich die Partei als Anführerin einer breiten sozialen Protestbewegung, die in öffentlichen Aufmärschen auf der Straße gemeinsam mit Neonazis und Skinheads ihre auf die Überwindung des Systems gerichteten Ziele verfolgt. Sie bietet mit ihrer Organisation der Neonazi-Szene eine legale Organisationsform an und ist somit mitverantwortlich für ein geistiges Klima, das den Boden für Übergriffe von Rechtsextremisten auf Ausländer und andere Minderheiten bereitet. Zugleich hat sich ihre verbale Ablehnung des parlamentarischen Verfassungsstaats verschärft. Staatliche Maßnahmen, die Verbotsdebatte und ein breiter Widerstand in der Bevölkerung gegen den Rechtsextremismus lassen jedoch das Konzept der Partei und der von ihr im "Nationalen Widerstand" geführten "unabhängigen Kameradschaften" nicht aufgehen. 2.1.2 Organisation Die Verbotsdiskussion löste im rechtsextremistischen Spektrum zunächst eine Solidarisierung aus, die der NPD vorübergehend neuen Zulauf brachte. Von diesem Effekt konnte die Partei allerdings nicht nachhaltig profitieren. Ihre Mitgliederzahl ist bundesweit um 400 auf rund 6.100 Personen gesunken. Die Partei mit Sitz in Berlin gliedert sich in 15 Landesverbände, die wiederum in Bezirksund Kreisverbände unterteilt sind. Bundesvorsitzender ist seit März 1996 Udo Voigt; seine Stellvertreter sind Holger Apfel, Jürgen Schön und der bisherige Generalsekretär Ulrich Eigenfeld, der auf dem Bundesparteitag am 16./17. März in Königslutter/Niedersachsen Dr. Hans-Günther Eisenecker ablöste. Redaktion und Anzeigenabteilung des Parteiorgans "Deutsche Stimme" (DS) befinden sich in Riesa/Sachsen. Die neonazistisch geprägte parteiinterne Oppositionsgruppe "Revolutionäre Plattform - Aufbruch 2000" (RPF) hat sich am 12. Januar wegen anhaltender Querelen zwischen der Parteispitze und RPF-Aktivisten aufgelöst. Der Landesverband Bayern mit derzeitiger Adresse in Rain, Landkreis Straubing-Bogen, zählt rund 850 (2001: 900) Mitglieder, darunter zahlreiche Angehörige der Neonaziund Skinhead-Szene. Er gliedert sich in sieben Bezirksund rund 50 Kreisverbände, von denen aber mehr als die Hälfte nicht aktiv ist. Der Landesverband wird von Ralf Ollert geleitet, seine Stellvertreter sind Franz Salzberger und Sascha 36 Rechtsextremismus Roßmüller. Nach wie vor sind im bayerischen Landesvorstand neben Anhängern der orthodoxen Linie der NPD auch Funktionäre mit einer überwiegend neonazistisch ausgerichteten Ideologie vertreten. Zwei Beisitzer haben Verbindungen zur Skinhead-Szene. Die NPD verfügt mittlerweile über das umfassendste Angebot aller rechtsextremistischen Parteien im Internet. Sie bietet als Provider über eine Domain in Bochum einen eigenen Zugangsservice in das Internet an und verbreitet aktuelle Informationen zu besonders bedeutenden Veranstaltungen. Die Netzseite verfügt über mehrere Diskussionsforen sowie über ein eigenes Textarchiv mit Schlagwortsuchmodus, über den alle bislang von der NPD veröffentlichten Texte verfügbar sind. Viele NPD-Landesverbände verfügen über eigene Internet-Seiten. Über eine Linkliste sind Angebote von Untergliederungen der NPD und ihrer Jugendorganisation zugänglich. Die NPD und ihre Jugendorganisation unterhalten Verbindungen zu gleichgesinnten Personen und Organisationen im westeuropäischen Ausland, insbesondere nach Österreich und Italien. Allerdings ist die NPD ihrem Ziel der Bildung einer nationalistischen nordeuropäischen Allianz nicht näher gekommen. 2.1.3 Teilnahme an Wahlen Die NPD blieb in dem von ihr propagierten "Kampf um die Wähler" weiter erfolglos. Zwar konnte sie bei der Bundestagswahl am 22. September in nahezu allen Bundesländern minimale Gewinne erzielen und 0,4 % der Zweitstimmen (1998: 0,3 %) erreichen. Dennoch verfehlte sie das selbst gesetzte Mindestziel, nämlich den für die Gewährung von Mitteln aus der staatlichen Parteienfinanzierung maßgeblichen Stimmenanteil von 0,5 %. Ebenso gelang es ihr nicht, die REP zu überflügeln und damit ihren Anspruch auf die Führungsposition im rechtsextremistischen Lager zu unterstreichen. Wie schon bei früheren Wahlen hatte die NPD versucht, durch einen aktionsbetonten Wahlkampf öffentlich Präsenz zu zeigen und ihren Bekanntheitsgrad zu steigern. In den letzten vier Wochen vor dem 22. September führte die Partei eine Reihe von Versammlungen in Bayern und anderen Bundesländern durch, an denen zwischen 20 und 130 Personen teilnahmen. Daneben warb sie mit Flugblättern, Aufklebern, Plakaten sowie Rundfunkund Fernsehspots um Stimmen. Die NPD kandidierte in allen Ländern mit insgesamt 131 Listen- Rechtsextremismus 37 bewerbern auf Landeslisten sowie - mit Ausnahme von Bayern - auch bundesweit mit 49 Direktkandidaten. In dem im Juni veröffentlichten "Wahlprogramm 2002" verhieß sie "Zukunft und Arbeit für ein besseres Deutschland", wobei sie kollektivistische Vorstellungen mit fremdenfeindlicher Agitation verknüpfte. So sprach sie von der "ethnisch homogenen Volksgemeinschaft", in der Einzelinteressen "zugunsten des Erhaltes der Gemeinschaft zurückzutreten" hätten, wenn sie mit Gemeinschaftsinteressen kollidierten. Durch "bewusst herbeigeführten, fortgesetzten Ausländerzustrom" werde diese Gemeinschaft zerstört. Darüber hinaus agitierte die NPD mit Parolen wie "Arbeitsplätze statt Globalisierung!", "D-Mark statt TEURO", "Frieden statt US-Kriege!" und "Deutschland kann man nicht verbieten", fand damit aber kaum Resonanz. Bei der gleichzeitig durchgeführten Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern erreichte die NPD 0,8 % (1998: 1,1 %) der Zweitstimmen und scheiterte damit an der bei Landtagswahlen geltenden 1 %-Hürde für die staatliche Parteienfinanzierung. Eine von Mitgliedern und Sympathisanten der NPD initiierte "Bürgerinitiative Ausländerstopp" (BIA) erreichte bei der bayerischen Kommunalwahl am 22. März mit einem Stimmenanteil von 2,3 % einen Sitz für den NPD-Landesvorsitzenden Ralf Ollert im Nürnberger Stadtrat. 2.1.4 Verbotsverfahren Die Bundesregierung beantragte im Januar 2001 beim Bundesverfassungsgericht, die Verfassungswidrigkeit der NPD und ihrer Jugendorganisation "Junge Nationaldemokraten" (JN) festzustellen. Bundestag und Bundesrat reichten entsprechende Verbotsanträge im März desselben Jahres ein. In den Stellungnahmen zu den Verbotsanträgen der drei Verfassungsorgane verfolgte die NPD insgesamt die zuvor öffentlich angekündigte offensive Prozessstrategie. Das Gericht verband die Anträge zur gemeinsamen Entscheidung und eröffnete Anfang Oktober 2001 das Hauptverfahren. Mit Beschluss vom 22. Januar 2002 hob das Bundesverfassungsgerichts die am 5. Dezember 2001 für Februar 2002 angesetzten Termine zu mündlichen Verhandlung des NPD-Verbotsverfahrens wieder auf. Ein Beamter des Bundesinnenministeriums hatte einem Richter des Bundesverfassungsgerichts informell fernmündlich mitgeteilt, dass eine der vom Gericht geladenen 14 Auskunftspersonen aus dem 38 Rechtsextremismus Bereich der NPD ein V-Mann des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen war; er war der Bitte des Gerichts um eine formelle schriftliche Information aber nicht nachgekommen. Zur Klärung der im Verfahren aufgetretenen materiellen und prozessualen Rechtsfragen bat das Gericht die drei Antragsteller (Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag) um eine ausführliche Stellungnahme zur V-Mann-Problematik. Die Reaktionen hierzu in der NPD waren sehr unterschiedlich. Während an der Parteibasis Schadenfreude gegenüber den staatlichen Institutionen vorherrschte, ließ die Parteispitze durch den Prozessbevollmächtigten Horst Mahler offiziell verlautbaren, dass die NPD nichts zu verbergen habe und deshalb die Entscheidung der Karlsruher Richter bedauere. Mahler sah in der Absetzung der Verhandlungstermine ein gewolltes Ergebnis einer Strategie der Antragsteller, die inzwischen die Aussichtslosigkeit der Verbotsanträge erkannt und deshalb die Terminabsetzung provoziert hätten. In einer Pressemitteilung der NPD-Bundespressestelle vom 22. Januar hieß es unter der Überschrift "Hier hat jemand die Notbremse gezogen! Wer und Warum?", es sei "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" von "interessierter Seite" versucht worden, das Verfahren bereits vor der Eröffnung zum Scheitern zu bringen, "um die Erörterung der Rolle der Geheimdienste in einer öffentlichen Verhandlung zu vermeiden". Der Partei sei so die Möglichkeit genommen worden, dem Verbotsgerede "durch Darlegung der Tatsachen vor Gericht den Boden entziehen zu können". Der Beisitzer im NPD-Bundesvorstand Per Lennart Aae wurde Anfang Februar durch das Parteipräsidium mit sofortiger Wirkung seiner Parteiämter enthoben. Gleichzeitig leitete die NPD-Spitze ein Ausschlussverfahren ein mit der Begründung, der als Auskunftsperson im NPD-Verbotsverfahren vom Bundesverfassungsgericht geladene Funktionär habe eine "eigene" Stellungnahme gegenüber dem Gericht angekündigt, ohne dazu aufgefordert zu sein. Ferner habe er in E-Mails, die einem größeren Personenkreis zugänglich waren, den NPD-Prozessvertreter Horst Mahler als "geistesgestört" bezeichnet. Das NPD-Präsidium betrachte vor allem die Ankündigung einer eigenen Stellungnahme als eine Gefährdung der vom Parteivorstand festgelegten Prozessstrategie. Die sofortige Amtsenthebung sei daher erforderlich gewesen, damit die Prozesslinie der Partei nicht durch unautorisierte Stellungnahmen und Veröffentlichungen in Zweifel Rechtsextremismus 39 gezogen werden könne. Die "enttarnten" Informanten für die Verfassungsschutzämter Wolfgang Frenz und Udo Holtmann wurden Ende April aus der NPD ausgeschlossen. In gemeinsamen Stellungnahmen äußerten sich die Antragsteller (Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat) mit Schriftsätzen vom 8. und 13. Februar zur V-Mann-Problematik. Sie betonten, dass der Einsatz von V-Leuten ein rechtlich zulässiges nachrichtendienstliches Mittel sei, das seine gesetzliche Grundlage in den Verfassungsschutzgesetzen habe. Dabei dürften die Aufträge an V-Leute aber nicht weiter gehen als die Aufklärungsbefugnisse der Verfassungsschutzbehörde, d.h. die geheimen Mitarbeiter dürften Zielsetzung bzw. Tätigkeit des Beobachtungsobjekts nicht maßgeblich mitbestimmen. Gegen diese Grundsätze sei nicht verstoßen worden. Da verfassungsfeindliche Ziele kaum offen propagiert würden, sei die verdeckte Beobachtung auch unverzichtbar, um ein vollständiges Bild über extremistische Bestrebungen zu erlangen. Mit Schreiben vom 7. und 11. März, die auch auf der eigens von Mahler zum Verbotsverfahren eingerichteten Internet-Homepage dokumentiert sind, nahmen die beiden Prozessvertreter der NPD Dr. Hans-Günter Eisenecker und Horst Mahler gegenüber dem Bundesverfassungsgericht zu den vorstehend genannten Schriftsätzen Stellung. Ohne auf die Argumentation der Antragsteller näher einzugehen, zitierte Mahler in seiner Erwiderung bereits anderweitig veröffentlichte Schreiben, griff einige in den Medien veröffentlichte Spekulationen über V-Leute von Verfassungsschutz und Polizei auf und präsentierte eine umfassende Verschwörungstheorie. So behauptete er, die "zuständigen Beamten" hätten versucht, das Verbotsverfahren "zum Platzen zu bringen", um zu verhindern, dass die NPD - wie von ihr geplant und angekündigt - Einflüsse von staatlich gelenkten "agents provocateurs" auf die Partei aufdecken könne. Ergänzend warf Dr. Eisenecker den Antragstellern vor, sie hätten versäumt, entlastendes Material über die NPD zusammenzutragen. Statt dessen würden "Skurrilitäten" und "sinnentstellende Fälschungen" vorgetragen, die weder das tatsächliche Wesen der Partei repräsentierten noch ihr zugerechnet werden könnten. In einem Schreiben vom 3. Mai avisierte das Bundesverfassungsgericht für den 8. Oktober einen Erörterungstermin mit den Prozessvertretern von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung und den Vertretern der Antragsgegnerin, um die so genannte "V-Mann-Problematik" zu 40 Rechtsextremismus klären. Das Gericht führte dazu aus, dass es für den Erfolg eines Verbotsantrags bedeutsam sein könne, ob die Partei nach dem charakteristischen Gesamtbild ihrer Ziele und des Verhaltens ihrer Anhänger Ausdruck eines offenen gesellschaftlichen Prozesses sei oder ob ihr Gesamtbild von Umständen geprägt werde, die ihr nicht zurechenbar seien. In einem gemeinsamen Schriftsatz vom 26. Juli nahmen die Prozessvertreter von Bundesrat, Bundestag und Bundesregierung zur Frage des Gerichts nach der Zusammenarbeit staatlicher Stellen mit V-Leuten ausführlich Stellung und boten weitere Informationen an, wenn eine Offenlegung von V-Leuten gegenüber der Öffentlichkeit und der Antragsgegnerin ausgeschlossen werden könne. Insbesondere betonten sie, dass die NPD weder ursprünglich noch heute "Produkt" einer Steuerung, Prägung oder maßgeblicher Einflussnahme staatlicher Stellen sei und dass staatliche Stellen ein verfassungswidriges Verhalten der NPD oder ihrer Organe weder veranlasst noch unterstützt hätten. Dass sämtliche in den Verbotsanträgen angeführten Beweismittel der NPD zuzurechnen seien, zeigten auch die Verhaltensweisen und Parteikarrieren der bisher enttarnten V-Leute. Ausnahmslos handele es sich dabei um überzeugte Rechtsextremisten und um Personen, die bereits vor ihrer Anwerbung dem rechtsextremistischen Spektrum angehörten. Die Annahme, die Behörden des Verfassungsschutzes hätten gezielt V-Leute mit der "Radikalisierung" der NPD beauftragt, sei folglich falsch. Das Gesamtbild der Antragsgegnerin, das sie selbst zu verantworten habe, sei vielmehr das Ergebnis eines offenen gesellschaftlichen Prozesses. Dem Gericht wurden ferner alternative Erkenntnisquellen aufgezeigt mit dem Hinweis, dass weitergehende Informationen die staatliche Schutzpflicht gegenüber den einzelnen V-Leuten verletzen und den präventiven Verfassungsschutz zudem seiner Quellen berauben würden, außer es sei durch besondere Vorsichtsmaßnahmen sichergestellt, dass diese Informationen weder der NPD noch der Öffentlichkeit bekannt werden. In einem Schriftsatz vom 30. August griff der Prozessvertreter der NPD Horst Mahler insbesondere das vom Bundesverfassungsgericht bekundete Interesse an einer umfassenden Information über den staatlichen Einsatz von Vertrauenspersonen in der NPD auf, wobei er die Zulässigkeit des Verbotsverfahrens in Frage stellte. Insofern sei nunmehr Gegenstand des Verfahrens nicht mehr die NPD, sondern vielmehr aufgrund deren Durchsetzung mit "Informanten" die Arbeitsweise und Rolle der Geheimdienste. Die Praxis zeige, dass diese agent provocateur, Ankläger und Urteilsvollstrecker in einer Person Rechtsextremismus 41 seien, ohne dass auch nur im geringsten eine gerichtliche Kontrolle stattfinde. Das Verbotsverfahren sei der vorläufig letzte Versuch eines fremdbestimmten Systems, die freiheitliche demokratische Ordnung zu verteidigen, die es aber tatsächlich gar nicht mehr gebe. Mit Hilfe von Fallbeispielen versuchte Mahler, seine These vom verfassungswidrigen Einfluss der Geheimdienste zu untermauern. Ferner wiederholte er seine antisemitische Verschwörungstheorie und sein verfassungsfeindliches Gedankengut, das sich die NPD auch mit diesem Schriftsatz zu eigen machte. Am 8. Oktober fand vor dem Bundesverfassungsgericht der Erörterungstermin zur V-Mann-Problematik und den daraus entstandenen Verfahrensfragen statt. Während die Antragsteller die Frage des Gerichts, ob die NPD Produkt einer Fremdsteuerung durch V-Leute sei, entschieden verneinten, nutzten die Prozessvertreter der NPD den Erörterungstermin zur Diffamierung des Staates und seiner Behörden und stellten die NPD als Opfer einer Verschwörung dar. Auf die Frage, was denn genau an der NPD nach deren Meinung fremdbestimmt sei, blieben die Prozessvertreter und der Vorsitzende der NPD jedoch die Antwort schuldig. In einem ergänzenden Schriftsatz versicherten die Antragsteller gegenüber dem Bundesverfassungsgericht, dass sich unter den Mitgliedern des NPD-Bundesvorstands keine V-Leute befinden. Das Bundesverfassungsgericht hat gegen die Auffassung der Mehrheit im Senat aufgrund der Sperrminorität von drei Richtern die angebotenen Möglichkeiten der Sachaufklärung nicht genutzt und am 18. März 2003 das Verfahren eingestellt. 2.1.5 Sonstige Aktivitäten 2.1.5.1 Parteitage Unter dem Motto "Deutschland wir kommen" hielt die NPD am 16./17. März in Königslutter/Niedersachsen ihren 29. Bundesparteitag ab. Bei den Vorstandswahlen bestätigten die Delegierten den bisherigen Bundesvorsitzenden Udo Voigt in seiner Funktion. Mit 155 von 207 Stimmen setzte er sich deutlich gegen seinen Gegenkandidaten Günter Deckert durch, für den 42 Delegierte votierten. Voigts Stellvertreter sind Holger Apfel, Jürgen Schön und der bisherige Generalsekretär Ulrich Eigenfeldt. Mit Klaus Beier und Sascha Roßmüller sind unter den 19 Mitgliedern des Bundesvorstands auch zwei Beisitzer aus Bayern vertreten. 42 Rechtsextremismus In seinem Rechenschaftsbericht kündigte Voigt eine offensivere Auseinandersetzung mit der "herrschenden politischen Klasse" in Deutschland an. Die Verwicklung in internationale Kriegseinsätze, der Spendenund Korruptionssumpf, die realen Arbeitslosenzahlen sowie das Zuwanderungsgesetz seien die größten Fehler und Verbrechen der Bundesregierung. Die Aufbruchsstimmung aus dem Jahr 2000 sei durch die Verbotsdebatte jäh gestoppt worden. Obwohl die Verbotsforderungen von Beginn an durch eine Desinformationskampagne der Geheimdienste begleitet und auf allen Ebenen der Partei Auswirkungen zu verzeichnen gewesen seien, profitiere die Partei nunmehr von einer noch nie da gewesenen öffentlichen Aufmerksamkeit. Es bestehe kein Zweifel, dass die Partei gestärkt aus dem Verbotsverfahren hervorgehen werde. Schwerpunkte für die Bundestagswahl im September seien für die NPD die Themen "Globalisierung", "Einwanderung" und "Frieden". Voigts Position in der NPD hat sich mit dem Bundesparteitag gefestigt. Exponierte Kritiker seiner Politik gehören dem neuen Bundesvorstand nicht mehr an. Eine nennenswerte innerparteiliche Opposition konnten weder die Anhänger von Deckert noch die neonazistischen Kräfte um den RPF-Aktivisten Steffen Hupka bilden. Vor dem Parteitag hatten NPD-Oppositionelle auf einem Kongress am 9. März in Friedersdorf/Brandenburg vergeblich versucht, ein Konzept zur Ablösung des bisherigen Parteivorstands zu erarbeiten. Der NPD-Prozessbevollmächtigte im Verbotsverfahren Horst Mahler zeigte sich nicht gewillt, Parteifunktionen zu übernehmen, sondern bevorzugt weiter die Rolle als "graue Eminenz" neben Voigt. Am 3. November fand in Salching, Landkreis Straubing-Bogen, der 36. ordentliche Parteitag des NPD-Landesverbands Bayern statt. Bei der Neuwahl des Landesvorstands bestätigten die Delegierten den Nürnberger Stadtrat und NPD-Landesvorsitzenen Ralf Ollert sowie seine beiden Stellvertreter Sascha Roßmüller und Franz Salzberger in ihren Funktionen. In seinem Rechenschaftsbericht erwähnte Ollert verschiedene Veranstaltungen und sonstige Aktivitäten des Landesverbands. Insbesondere verwies er auf die während des Bundestagswahlkampfs betriebenen Info-Stände in München. Gemessen an dem hohen Propagandaaufwand könne das Wahlergebnis die NPD allerdings nicht zufrieden stellen. Wichtige politische Signale seien dagegen die Protestdemonstration gegen die "Wehrmachtsausstellung" am 12. Oktober in München und der zentrale Rudolf-Heß-Marsch am 17. August in Wunsiedel gewesen. Als nächstes Ziel nannte Ollert die Rechtsextremismus 43 Teilnahme an den Bezirkstagswahlen im Jahre 2003, insbesondere in Mittelfranken und Niederbayern; dagegen werde die NPD auf eine Beteiligung an der bayerischen Landtagswahl im September 2003 verzichten. In einer Aussprache wurde der Mitgliederrückgang im NPD-Landesverband Bayern bestätigt. 2.1.5.2 Kundgebungen und sonstige Aktionen Im strategischen "Drei-Säulen-Konzept" der NPD liegt der Schwerpunkt der politischen Aktivitäten derzeit beim "Kampf um die Straße". Die Partei will mit zahlreichen öffentlichen Kundgebungen Präsenz demonstrieren und der Bevölkerung das Bild einer durchsetzungsfähigen politischen Kraft vermitteln. Um ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen, führte die NPD am 1. Mai in Berlin, Dresden, Göttingen, Ludwigshafen, Mannheim und Fürth öffentliche Versammlungen durch. In einem Flugblatt mit der Überschrift "Heraus zum 1. Mai" rief die Partei mit den Parolen "Arbeit statt Globalisierung", "Die Wirtschaft hat dem Volk zu dienen" und "Leistet Widerstand jetzt! Demonstriert am 1. Mai!" dazu auf, den "Protest auf die Straße zu tragen". Gegen die NPD-Kundgebungen gab es zum Teil gewalttätige Protestaktionen von Linksextremisten. An der 1.-Mai-Kundgebung der NPD in Fürth beteiligten sich rund 350 Personen, darunter zahlreiche rechtsextremistische Skinheads. Die Rede des bayerischen NPD-Landesvorsitzenden Ralf Ollert wurde von Gegendemonstranten massiv gestört. Insgesamt konnte die NPD mit rund 3.000 Teilnehmern bundesweit weniger Anhänger als im Vorjahr mobilisieren. In einer Pressemitteilung der Partei zu den Mai-Kundgebungen hieß es, die NPD und der Nationale Widerstand hätten in vielen Städten Deutschlands Gesicht gezeigt und damit gegen Globalisierung und Sozialabbau protestiert. Beim Pressefest des Deutsche-Stimme-Verlags am 3. August in Niedersachsen wurde erneut die Zusammenarbeit zwischen der NPD und rechtsextremistischen Skinheads deutlich. An der Veranstaltung beteiligten sich rund 1.500 Personen aus der gesamten rechtsextremistischen Szene. Der Parteivorsitzende Voigt demonstrierte seine Verbundenheit mit Vertretern ausländischer nationaler Parteien. In seiner Ansprache prognostizierte er einen zwangsläufigen Untergang der Bundesrepublik Deutschland, da der wirtschaftliche Niedergang - wie 44 Rechtsextremismus vormals in der DDR - nicht mehr aufzuhalten sei. Eine Podiumsdiskussion mit dem NPD-Anwalt Horst Mahler, dem Ex-Rechtsterroristen Peter Naumann und dem Neonazi Friedhelm Busse beschäftigte sich unter dem Titel "Spitzel - Spalter - Provokateure" mit der "Arbeitsweise der Geheimdienste". Zum Programm gehörten Auftritte der NPD-nahen Liedermacher Frank Rennicke, Jörg Hähnel und Lars Hellmich sowie Darbietungen der rechtsextremistischen Skinhead-Bands "Sleipnir" und "Spreegeschwader". Die neonazistische Skinhead-Gruppierung "Fränkische Aktionsfront" (F.A.F.) war mit einem Informationsstand vertreten. Der Parteivorsitzende Udo Voigt und der NPD-Prozessvertreter Horst Mahler besuchten am 27. Oktober in Berlin eine Veranstaltung der islamisch-fundamentalistischen Hizb-ut-Tahrir zum Thema "Der Irak - ein neuer Krieg und die Folgen". In einer Internet-Mitteilung erklärte die NPD hierzu, Voigt sei überrascht gewesen, dass die Positionen des Referenten mit den eigenen Überzeugungen "fast deckungsgleich" gewesen seien. Zutreffend habe der Redner darauf hingewiesen, dass eine Besetzung des Irak und die Gründung von drei neuen Staaten auf dessen Staatsgebiet die bisherige Stabilität in diesem Raum gefährden würde. In einer anschließenden Diskussion habe Voigt zur Kritik des Referenten am deutsch-amerikanischen Bündnis bemerkt, Deutschland sei immer noch ein besetztes Land und werde erst frei sein, wenn der letzte US-Soldat Deutschland verlassen habe. Die imperialistischen USA seien bestrebt, jedes neue wirtschaftspolitische Staatssystem zu liquidieren. So seien Deutschland und Japan zerschlagen worden, als sie einen neuen oder anderen Weg gehen wollten; heute sei der Irak fällig und morgen könne es der von der Hizb-ut-Tahrir propagierte Kalifenstaat sein. Doch wenn es zum Kampf komme, würden die Deutschen nicht auf der Seite der USA stehen. 2.1.6 Junge Nationaldemokraten (JN) Deutschland Bayern Mitglieder: 350 70 Vorsitzender: Stefan Rochow Stefan Göbeke-Teichert Gründung: 1969 Sitz: Riesa/Sachsen Publikation: Der Aktivist Rechtsextremismus 45 Mit den JN verfügt die NPD als einzige rechtsextremistische Partei über eine noch relativ bedeutende Jugendorganisation. Die JN bekennen sich in Ideologie und Zielsetzung zum Programm ihrer Mutterpartei. In ihrer Eigendarstellung als "fundamentaloppositionelle Bewegung" verabschiedeten sie beim Bundeskongress 2002 als "Perspektive für ein besseres Deutschland" das "Manifest der nationalistischen Jugend". Unter dem Oberbegriff "Nationalismus ist gelebte Solidarität" stellen sie beispielsweise das als grundlegendes Prinzip der freiheitlichen demokratischen Grundordnung geltende Mehrparteiensystem insofern in Frage, als sie eine "konstruktive parlamentarische Mitarbeit" erst nach der "eigentlichen Entscheidung" dulden wollen. Die Tätigkeit der JN geht inzwischen weitgehend im Aktionismus der Mutterpartei auf. Besonders deutlich zeigte sich dies bei der Vorbereitung und Durchführung von Demonstrationen und Großveranstaltungen. Auch die frühere Funktion der JN als Nahtstelle zwischen NPD und neonazistischen Organisationen ist auf die NPD übergegangen. Beim 31. ordentlichen Bundeskongress am 16. November in Kirchheim/Hessen wählten die Delegierten den bisherigen hessischen Landesvorsitzenden Stefan Rochow zum neuen JN-Bundesvorsitzenden. Sein Vorgänger Sascha Roßmüller hatte bereits voraus angekündigt, dass er aufgrund seiner Funktionen im Bundesund Landesvorstand sowie wegen familiärer Verpflichtungen auf eine erneute Kandidatur verzichte. Damit ist der JN-Landesverband Bayern nicht mehr im obersten Führungsgremium der JN vertreten. Inwieweit der neue Bundesvorsitzende den von Roßmüller geprägten neonazistischen Kurs der JN fortsetzen wird, bleibt abzuwarten. Zusammenkünfte und Schulungsveranstaltungen der JN in Bayern konzentrierten sich im Wesentlichen auf ein unter Rechtsextremisten und Skinheads bekanntes Lokal in Salching, Landkreis Straubing-Bogen. Die zuletzt als "Nationales Kommunikationszentrum Niederbayern" (NaKomm) bezeichnete Gaststätte wird von der Vorsitzenden des NPD-Bezirksverbands Niederbayern verantwortlich betrieben, versteht sich als "zentrale Anlaufstelle und Wirkungsstätte des nationalen Widerstands im Bereich Niederbayern" und will ein "kraftvolles Band zwischen den Nationalisten der Umgebung" flechten. 46 Rechtsextremismus 2.2 Deutsche Volksunion (DVU) Deutschland Bayern Mitglieder: 13.000 1.400 Vorsitzender: Dr. Gerhard Frey Bruno Wetzel Gründung: 1987 Sitz: München Publizistisches Sprachrohr: National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung (NZ) 2.2.1 Ideologisch-politischer Standort In ihrem Programm bekennt sich die DVU formal zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung, doch will sie einige für alle Menschen gültige Grundrechte, beispielsweise den Schutz der Familie, zu Bürgerrechten reduzieren, die ausschließlich Deutschen zustehen sollen. Die rechtsextremistische Grundeinstellung der Partei wird in Äußerungen führender Funktionäre sowie im Inhalt der im Verlag des Bundesvorsitzenden Dr. Gerhard Frey erscheinenden National-Zeitung deutlich. Die rassistisch und nationalistisch geprägte Propaganda der Partei richtet sich insbesondere gegen die Ausländerpolitik und die Europäische Union (EU), aber auch gegen eine deutsche Beteiligung an Militäraktionen gegen den Irak. "Dass die politisch Maßgeblichen an Einsparungen in Bereichen denken, die den deutschen Interessen nichts nutzen, also z.B. beim weit überhöhten EU-Beitrag der Bundesrepublik oder an den horrenden Aufwendungen für Scheinasylanten, ist leider nicht zu erwarten." (NZ vom 8. Februar, Seite 5) "Die Arbeitslosigkeit in Deutschland nimmt überhand. Für eine Normalisierung der Geburtenrate des deutschen Volkes ist kein Geld da, aber für die Aufnahme von Millionen Ausländern, für Überzahlungen an die EU und UNO, für immer neue Reparationsforderungen aus dem Zweiten Weltkrieg." (NZ vom 5. April, Seite 1) "Die Bundeswehr in ihrer derzeitigen maroden Verfassung wäre heute kaum zur Verteidigung Deutschlands imstande. Warum aber sollen deutsche Soldaten außerhalb Mitteleuropas noch dazu als US-Hilfstruppen Rechtsextremismus 47 gegen unseren alten Freund, den Irak, eingreifen und sich die arabische und mohammedanische und weitgehend die ganze Dritte Welt zum Feind machen? Das deutsche Volk genießt unverändert die Zuneigung und Freundschaft von Menschen aller Völker und Rassen rund um die Welt. (...) Warum sollen wir unsere Anstrengungen und unser Geld auf die Beteiligung an imperialistischen und kolonialistischen Abenteuern konzentrieren, statt auf Beseitigung der Arbeitslosigkeit in Deutschland und den Wohlstand in den neuen Ländern?" (NZ vom 16. August, Seite 3) Wie bisher zählt die Kritik an der "extrem einseitigen Vergangenheitsbewältigung" zu den Schwerpunkten der Programmatik. "Das Dritte Reich hat zwar nur rund zwölf und nicht die viel zitierten tausend Jahre bestanden. Die 'Bewältigung' des Nationalsozialismus inklusive der strafrechtlichen Verfolgung der Menschen, die sich in seinem Namen schuldig gemacht haben oder haben sollen, hat sich aber inzwischen tatsächlich in ein neues Jahrtausend hinein ausgedehnt. Der Zweite Weltkrieg ging vor fast 57 Jahren zu Ende. Doch es geht immer weiter mit der einseitigen Verfolgung angeblicher oder tatsächlicher Untaten nur der besiegten Seite, während selbst die fürchterlichsten Menschheitsverbrechen der Sieger und ihrer Helfershelfer gegen das deutsche Volk allesamt ungesühnt bleiben." (NZ vom 8. März, Seite 5) "Die unentwegte Beschäftigung mit dem damaligen Reichskanzler und seinen Untaten löst leider kein einziges der heute auf unser Vaterland und die Welt zukommenden gigantischen Probleme. Niemand scheint imstande zu sein, die entsetzliche Serie von Angriffskriegen der Supermacht USA zu bremsen oder wenigstens zu mildern. (...) Im Übrigen weiß jeder, der es wissen will, dass die allzeit wiederholten Anklagen gegen Hitler den seit weit mehr als einem halben Jahrhundert toten Reichskanzler nicht mehr erreichen, sondern vielmehr den Sinn haben, kommenden Generationen unseres Volkes durch 'Kollektivverantwortung' und 'Kollektivhaftung' die Zukunft zu verstellen." (NZ vom 5. April, Seite 1) "Während für die Anprangerung deutscher Schuld aus längst vergangener Zeit Unsummen aus der Steuerkasse verwendet und bereits über 5.000 Mahnmale zu diesem Zweck errichtet wurden, sucht man Gedenkstätten, die von den Siegern drangsalierten und ermordeten Deutschen gewidmet sind, in Deutschland vergeblich." (NZ vom 16. August, Seite 5) 48 Rechtsextremismus Dabei werden die Verbrechen der Nationalsozialisten zwar nicht ausdrücklich geleugnet, doch wird versucht, diese durch wiederholte Hinweise auf historische Verbrechen anderer Völker zu relativieren. "Wo sind die Karten ... über die mörderischen Terrorangriffe der Alliierten auf deutsche und andere europäische Städte, über die alliierten Zwangsarbeitsund Todeslager? Wo sind die Karten, die die Schandtaten des englischen, französischen und vor allem amerikanischen Imperialismus schildern? Wo die Darstellung der Auslöschung von Tokio, Hiroshima, Nagasaki und anderen japanischen Städten, der Vergiftung der Wälder Vietnams usw. usw.? Verdienen nicht auch die 100 Millionen Toten des Kommunismus eine große Karte mit Einzelheiten, wo und wie sie ihr Leben verloren?" (NZ vom 4. Januar, Seite 7, Beitrag über den von einem Berliner Verlag herausgegebenen "Putzger - Historischer Weltatlas") "In diesen Tagen jährt sich das zum Himmel schreiende alliierte Terror-Bombardement auf Dresden erneut. Etablierte Politiker und Massenmedien werden die schrecklichen Ergebnisse des 13. Februar 1945 wiederum nur am Rande erwähnen und zusätzlich verharmlosen, während gleichzeitig z. B. mit der Eröffnung der gigantischen Holocaust-Ausstellung in Berlin eine neue Welle antideutscher Bewältigung entfacht wird." (NZ vom 8. Februar, Seite 10) Die DVU vermeidet offenen Antisemitismus, doch wird ihre antisemitische Grundhaltung in ihrem publizistischen Sprachrohr deutlich, dessen Berichterstattung über Israel und die Juden vielfach negativ gefärbt ist: "Es erregt immer wieder im deutschen Volk Erstaunen, mit welcher Leichtfertigkeit Spiegel einerseits den heutigen Deutschen Schandtaten gegen Juden andichtet, gleichzeitig aber das zum Himmel schreiende Unrecht an den Palästinensern, das in hunderten UN-Entschließungen verurteilt wurde, als 'Recht' umfälschen will." (NZ vom 4. Januar, Seite 1) "Spezialisiert auf das Eintreiben deutscher Entschädigungsmilliarden hat sich insbesondere Israel Singer, seit den frühen 1980er-Jahren Generalsekretär des World Jewish Congress (WJC), der nun einerseits die Nachfolge von WJC-Präsident Edgar Bronfman anstrebt und andererseits in Sachen 'Goldgrube Holocaust' zu einer neuen Mission aufgebrochen ist, um gewissermaßen als Schürfer einen weiteren 'Claim' abzustecken." (NZ vom 25. Januar, Seite 4) Rechtsextremismus 49 "Mit der Monotonie einer tibetanischen Gebetsmühle leiert Michel Friedman, Vizepräsident des Zentralrats der Juden, seine These herunter, je mehr Ausländer nach Deutschland einwanderten, umso größer sei die Bereicherung für unser Land. (...) Auffallend ist übrigens, dass sich Friedman für Masseneinwanderung nach Deutschland engagiert, aber gleichzeitig die Rückkehr von Millionen vertriebener Palästinenser in ihre angestammte Heimat ablehnt und auch kein Wort findet gegen die offenkundige Politik der Vertreibung weiterer Millionen Palästinenser durch Scharon." (NZ vom 22. März, Seite 1) "Der Terror ist viel ausgeklügelter, als man sich dies hier zu Lande vorstellen kann. Israel pflegt eine Klassengesellschaft im besetzten Palästina. Das Kriterium für die jeweilige Klasse ist die Volkszugehörigkeit. In Europa nennt man so etwas Rassismus." (NZ vom 16. August, Seite 2) Häufig werden demokratische Institutionen und ihre Repräsentanten diffamiert. Auf diese Weise soll das Vertrauen in diese Institutionen und den von ihnen getragenen demokratischen Rechtsstaat untergraben werden: "Nicht nur die Regierungschefs und Minister in Bund und Ländern, auch die Abgeordneten im Bundestag und den sechzehn Landesparlamenten verdienen sich dumm und dämlich. Sie sind als Volksvertreter mit dem Volk eigentlich nur noch über die Leistungen aus der Steuerkasse verbunden." (NZ vom 29. November, Seite 5) "So wie es Schröder und Fischer um den schieren Machterhalt am 22. September ging, so wenig ging es auch ihren Konkurrenten darum, ein System zu ändern, das sie sich selbst zur Selbstbedienung und Beweihräucherung geschaffen haben. Die etablierten Parteien werden ihre Handlungsmuster beibehalten, denn noch nie in der Geschichte wurde ein System von seinen Profiteuren geändert." (NZ vom 29. November, Seite 10) Nach wie vor ist die Partei bestrebt, rechtsextremistisch motivierte Gewalt zu relativieren. "In Deutschland ist es längst zum Ritual geworden: Stürzen Betrunkene, Schwachsinnige oder Kinder einen Grabstein auf einem jüdischen Friedhof um, treten sogleich führende Politiker mit betroffenem Gesichtsaus- 50 Rechtsextremismus druck vor die Kameras und versprechen, den Kampf gegen den 'wachsenden Rechtsextremismus' aufzunehmen." (NZ vom 29. März, Seite 5) "Aberhunderte Fälle, bei denen mit 'rechten Straftaten' gelinkt worden ist, sind bereits aktenkundig, darunter Dutzende 'Entführungen'. Die Vortäuscher der Delikte sind fast durchwegs glimpflich davongekommen, wenn man sie überhaupt belangt hat. Wie viele reale Gangster davon profitieren konnten, dass die Polizei im Großaufwand hinter fiktiven rechten Kriminellen herhasten musste (wehe ihr von Politik und Medien, täte sie es nicht!), kann man nur vermuten." (NZ vom 12. Juli, Seite 6) "Seit mehr als einem halben Jahrhundert jagt ein Anschauungsunterricht den anderen, wonach strafbare Handlungen, die seitens Rechter oder Pseudorechter gesetzt werden, oder die man der Rechten unterschieben kann, zu immer weitergehenden Forderungen nach Gesetzesverschärfungen, Sondergesetzen und finanziellen Leistungen genutzt werden. Deshalb inszenieren Geheimdienste alle nur denkbaren Schurkentaten, von Bombenanschlägen über 'Heil Hitler'-Rufe bis zur Hakenkreuzschmiererei, was alles dann in der Meinungsindustrie umfassend ausgeschlachtet wird." (Internet-Seite der DVU) 2.2.2 Organisation Die Mitgliederzahl der DVU ist um etwa 2.000 Personen auf 13.000 zurückgegangen. Die Partei hat keine Jugendorganisation und betreibt keine Jugendarbeit. Sie verfügt in allen Bundesländern nominell über Landesverbände, die jedoch nach außen kaum in Erscheinung treten. Auf Kreisund Ortsebene ist die DVU ebenfalls kaum vertreten. Der bedingungslose Machtanspruch des Vorsitzenden Dr. Frey lässt den Unterorganisationen keinen Handlungsspielraum. Im Verlag des Parteivorsitzenden erscheint als Werbeträger und publizistisches Sprachrohr der DVU die "National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ). Nach wie vor ist die DVU bei ihrem Vorsitzenden hoch verschuldet. Die Personalunion von Vorsitzendem und Kreditgeber verleiht Dr. Frey eine ungewöhnliche Machtfülle. Die Kontakte der DVU zu ausländischen Rechtsextremisten haben an Bedeutung verloren. Mitte 2002 erhielt die DVU nach eigenen Angaben von der Bundestagsverwaltung eine Erstattung in Höhe von 322.000 Euro. Zuvor Rechtsextremismus 51 hatte das Oberverwaltungsgericht Münster eine im Jahr 1998 von der damaligen Bundestagspräsidentin verhängte Sanktion wegen eines angeblichen Verstoßes gegen das Transparenzgebot als unberechtigt bewertet. Inzwischen dürfte sich der Schuldenstand der Partei durch den Verzicht auf eine Teilnahme an den Wahlen im Jahr 2002 und die dadurch gesparten Ausgaben auf rund drei Millionen Euro reduziert haben. 2.2.3 Politischer Bedeutungsverlust Zur Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am 21. April trat die Partei wegen mangelnder Erfolgsaussichten nicht an, obwohl sie 1998 noch 12,9 % der Wählerstimmen erhalten hatte. Die im Februar 2000 von der DVU abgespaltene Freiheitliche Deutsche Volkspartei (FDVP) nahm an der Wahl teil, erhielt jedoch nur 0,8 % der Stimmen. Desgleichen verzichtete die DVU wegen fehlender finanzieller Mittel auf eine Beteiligung an der Bundestagswahl am 22. September. Die traditionelle Kundgebung in der Passauer Nibelungenhalle wurde von der DVU ohne nähere Angabe von Gründen abgesagt. Die DVU-Veranstaltung in Passau hatte bereits im Vorjahr mit 1.200 Teilnehmern gegenüber 2.200 Besuchern bei der Kundgebung im Jahr 2000 deutlich an Anziehungskraft verloren. Neben dem Fehlen von Wahlerfolgen und dem Mitgliederrückgang ist dieser Rückzug ein weiteres Indiz für den Bedeutungsverlust der DVU im Bereich des rechtsextremistischen Parteienspektrums. 2.2.4 Bundesparteitag Am Bundesparteitag der DVU am 12. Januar in München beteiligten sich insgesamt etwa 250 Mitglieder und Sympathisanten. Bei der Neuwahl des Bundesvorstands wurde Dr. Gerhard Frey mit 98,5 % der Stimmen als Parteivorsitzender bestätigt; seine Stellvertreter sind Heinrich Gerlach und Bruno Wetzel. Nach dem Finanzbericht war die DVU damals bei Dr. Frey noch mit 4,5 Millionen Euro verschuldet. Dr. Frey erklärte in seiner Rede, eine Zusammenarbeit mit REP und NPD komme für ihn wegen deren Vorsitzenden Dr. Rolf Schlierer und 52 Rechtsextremismus Udo Voigt nicht in Betracht. Auf das schlechte Wahlergebnis bei der Landtagswahl am 23. September 2001 in Hamburg mit 0,7 % der Wählerstimmen (1997: 4,9 %) ging Dr. Frey nicht ein. 2.3 Die Republikaner (REP) Deutschland Bayern Mitglieder: 9.000 3.000 Vorsitzender: Dr. Rolf Schlierer Johann Gärtner Gründung: 1983 Sitz: Berlin Publikation: Der Republikaner 2.3.1 Ideologisch-politischer Standort In den öffentlichen Verlautbarungen der REP wurden wie in den letzten Jahren Aussagen mit eindeutig rechtsextremistischer Zielsetzung weitgehend vermieden. Äußerungen der Partei wie die Forderung "Schluß mit der Ausplünderung Deutschlands" lassen aber immer wieder einen übersteigerten Nationalismus, verbunden mit Ressentiments gegen fremde Staaten und Minderheiten erkennen. "Das Ende der Deutschen Mark ist ein unnötiger Tribut an unsere europäischen 'Partner'. Der Euro kommt, Deutschland zahlt - jetzt schon zwei Drittel des EU-Haushaltes! Und die EU-Osterweiterung wird für uns ein Faß ohne Boden. (...) Die Altparteien machen Deutschland zum Sozialamt der Welt. Unsere Sozialkassen werden geplündert für Leute, die nie einen Pfennig hineinbezahlt haben. (...) Für Solidarität zuerst mit dem eigenen Volk!" (Internet-Seite der REP) In der Wahlkampfausgabe des Parteiorgans "Der Republikaner" wurden pauschal Ausländer als Kriminelle bewertet und für Probleme verantwortlich gemacht. Unter der Überschrift "12+1 gute Gründe, diesmal PROTEST zu wählen" hieß es: " * ...weil die Gauner, Abzocker und Radikalinskis aus aller Herren Länder sich hier so wohl fühlen wie nirgends sonst auf der Welt; * ...weil unserem Sozialsystem deshalb langsam aber sicher die Luft ausgeht; * ...weil die Schüler an vielen Schulen eher türkische Flüche, Gewalt und Drogen mitbekommen, anstatt lesen, schreiben und rechnen zu lernen; (...)" (Der Republikaner, Nummer 7-8/2002). Rechtsextremismus 53 In einer regionalen REP-Zeitung war unter der Überschrift "Schluss mit der Zuwanderungs-Lüge" ausgeführt: "Erteilen Sie 'Multi-Kulti' eine klare Absage, es hat sich nicht bewährt und funktioniert nur in den wirren Köpfen linker Spinner. Lassen Sie sich nicht länger 'Gefühle der Erbschuld' infiltrieren. Wir wollen keine Ghettos und wir sind niemanden auf der Welt etwas schuldig. (...) Verwahren wir uns gegen den Ausverkauf Deutschlands. Lassen Sie es nicht zu, daß unser Volk ausgetauscht wird, ausgetauscht gehören diejenigen Politiker, die ein anderes Volk als das deutsche wollen." (Die Republikaner in Mittelfranken informieren, Ausgabe 3/2002). Latente antisemitische Positionen waren in Stellungnahmen zur Politik Israels und zu Vertretern jüdischer Einrichtungen erkennbar. So traten die REP in einer Presseerklärung vom 11. April für die "Einstellung aller Zahlungen und materieller Hilfen an Israel" ein. Mit seinem "Zerstörungsfeldzug in den Palästinensergebieten" riskiere Israel, sich mit Terroristen auf dieselbe Stufe zu stellen. "Friedmann hat wieder einmal den Bogen überspannt. Mit seinen unablässigen Hetzreden trägt er zum Aufkommen antisemitischer Tendenzen bei. Friedmann ist weder Praeceptor Germaniae noch als Fernsehmoderator tragbar." (Pressemitteilung vom 22. Mai Nummer 29/2002) "Der Schlagabtausch zwischen dem Ölprinz und dem Freifallkünstler ging trotz des programmierten Rückziehers des Araberfreundes dennoch zu dessen Gunsten aus. Keine Frage: 90 % der Deutschen standen hinter Jürgen W. M. und dessen Kritik am selbst ernannten 'praeceptor germaniae' Michel F. Daran änderte auch der Versuch, alle Kritiker des schönen Michels als unanständige Menschen abzuqualifizieren, nichts. Wessen Auftreten unanständig ist, dürfte jedem denkenden Deutschen, dessen Gehirn noch nicht in der political correctness abgesoffen ist, hinlänglich bekannt sein." (Der Republikaner Nummer 5-6/2002, Seite 2) Darüber hinaus verunglimpfte die Partei die bestehende Staatsform und Repräsentanten demokratischer Institutionen: "Schmiergeld eintreiben, Schwarzgelder kassieren und ins Ausland verschieben und seine eigene Macht mit mafia-ähnlichen Geflechten von finanzieller Abhängigkeit sichern - das hat mit rechtsstaatlicher Demokratie nichts zu tun. Union und Sozis haben abgewirtschaftet und versinken im eigenen Korruptionssumpf. Diese Korruptionsparteien haben eine Abfuhr vom Wähler verdient." (Der Republikaner Nummer 5-6/2002, Seite 2) 54 Rechtsextremismus "Wir machen Politik für deutsche Interessen. (...) Die Altparteien haben abgewirtschaftet. Seit Jahrzehnten versprechen sie vor Wahlen eine Änderung der Politik in Deutschland. Nach der Wahl ist alles vergessen. Machen Sie deshalb jede Wahl zum Denkzettel für die Altparteien." (Internet-Seite der REP) "Schily und Schäuble müssen Farbe bekennen: Der Beschaffungsextremismus muß offengelegt werden! (...) Schilys NPD-Pleite ist nur die Spitze eines schmutzigen Eisbergs, ... (...) Seit Jahren pfeifen es die Spatzen von den Dächern, daß staatliche und geheimdienstliche Stellen den Neonazi-Popanz zum großen Teil selbst aufbauen und finanzieren, um ihn anschließend mit großem Getöse zu bekämpfen, ... (Pressemitteilung vom 23. Januar Nummer 06/2002) Die Kontakte von REP-Mitgliedern zu anderen Rechtsextremisten zeigen, dass der Abgrenzungsbeschluss von 1990 nicht konsequent umgesetzt wird. So trat beim Landesparteitag in Sachsen am 27. April neben dem Bundesvorsitzenden Dr. Rolf Schlierer auch der flämische Senator Wim Verreycken vom rechtsextremistischen Vlaams Blok (VB) als Redner auf. Ferner veröffentlichte das Parteiorgan Interviews mit dem VB-Vorsitzenden Frank Vanhecke und dem Vordenker der französischen Neuen Rechten Alain de Benoist. Das auf einem Programmparteitag am 11./12. Mai verabschiedete neue Parteiprogramm soll die REP inhaltlich als "patriotische Alternative" zu den Altparteien positionieren und am Vorrang der nationalen Interessen orientierte Antworten geben, was gleichbedeutend sei mit der Ablehnung einer Übermacht supranationaler Institutionen und einer skeptischen Haltung zur Globalisierung. Im einleitenden Grundlagenkapitel des neuen Programms beruft sich die Partei auf das Erbe der deutschen Freiheitsbewegung des 19. Jahrhunderts. Gestärkt werden soll die direkte Demokratie durch Volksbegehren. Im Nationalstaat sieht die Partei den "Garant für Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit", in der Außenpolitik soll der Fürsorge für die Heimatvertriebenen und die deutschen Volksgruppen im Ausland mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Ein weiterer umfangreicher Programmpunkt "Deutsche Identität statt Multikultur" enthält die Forderung nach Streichung des Grundrechts auf Asyl. Darüber hinaus soll durch eine restriktive Zuwanderungspolitik das Sozialsystem entlastet werden. In der Kulturpolitik fordern die REP einen Schutz der Deutschen vor fremdsprachigen Einflüssen und eine Quote für deutsche Musiktitel in den Rundfunkprogrammen. Rechtsextremismus 55 2.3.2 Organisation Empfindliche Mitgliederverluste als Folge anhaltender Erfolglosigkeit bei Wahlen kennzeichnen die bisherige Entwicklung. Ende 2002 gehörten der Partei im Bundesgebiet 9.000 (2001: 11.500) Mitglieder an. Am stärksten ist die Partei noch in Baden-Württemberg, Bayern und Hessen. Parteivorsitzender ist seit Ende 1994 Dr. Rolf Schlierer. Seine Stellvertreter sind Björn Clemens, Johann Gärtner, Haymo Hoch und Ursula Winkelsett. Der von Johann Gärtner geleitete Landesverband Bayern zählt etwa 3.000 (2001: 4.000) Mitglieder. Der Bundesverband, der Landesverband Bayern und weitere REP-Gliederungen sind mit eigenen Homepages im Internet vertreten. 2.3.3 Teilnahme an Wahlen Die REP verlieren seit 1996 kontinuierlich Stimmen bei Wahlen auf Bundes-, Landesund kommunaler Ebene. Dabei zeigt sich, dass die Partei über keine konstante Stammwählerschaft verfügt und es ihr auch nicht gelingt, sich Protestwählern als Alternative anzubieten. Der Abwärtstrend der REP setzte sich bei den bayerischen Kommunalwahlen am 3. März fort. Landesweit erreichten sie einen Stimmanteil von 1,1 % (1996: 1,8 %). Bereits 1996 hatten sich die Wählerstimmen für die REP im Vergleich zu den bayerischen Kommunalwahlen von 1990 halbiert. Auch in München und Nürnberg spiegelte sich dieser Trend wider. So erhielt der Münchener REP-Spitzenkandidat und stellvertretende Landesvorsitzende der Partei Johann Weinfurtner 1,2 % (1996: 2,1 %); er zog mit diesem Ergebnis in den Münchner Stadtrat ein. Ebenso verloren die REP in Nürnberg mit 1,4 % (1996: 3,0 %) deutlich an Stimmen. Dem Stadtrat in Nürnberg gehört damit nur noch ein REP-Mitglied (statt bisher zwei) an. Auch bei der Bundestagswahl am 22. September hielt der deutliche Abwärtstrend der REP als Wahlpartei an, obwohl die rechtsextremistische Konkurrentin DVU - anders als 1998 - nicht kandidierte. Die Partei erreichte mit einem Stimmenanteil von 0,6 % (1998: 1,8 %) jedoch ihr Mindestziel, da sie mit diesem Ergebnis Mittel aus der staatlichen Parteienfinanzierung erhält. Infolge ihrer innerparteilichen Krise hatten die REP nur einen wenig aufwendigen Wahlkampf geführt. 56 Rechtsextremismus Über den eher spärlichen Einsatz von Flugblättern, Plakaten, Rundfunkund Fernsehspots hinaus fanden nur wenige Saalveranstaltungen und Kundgebungen statt. Die REP präsentierten sich vor allem als Protestpartei, die als wahre "Alternative zum Einerlei aus Altparteien und Altkommunisten im Bundestag" zu sehen sei. Ihre programmatischen Aussagen lauteten: "Das Boot ist voll", "Bildung fördern, Zuwanderung stoppen", "Rückführung statt Zuwanderung - Auf uns können Sie sich verlassen!" und "Korruptionsparteien? Nein Danke!" Eine ähnliche Niederlage bezogen die REP am selben Tag bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern: Sie erzielten lediglich einen Anteil von 0,3 % der Stimmen (1998: 0,5 %) und verfehlten damit das für die Teilhabe an der staatlichen Parteienfinanzierung benötigte Ergebnis. Der Bundesvorsitzende Dr. Rolf Schlierer zeigte sich über das schlechte Abschneiden der Partei enttäuscht und bedauerte, dass es nicht gelungen sei, die eigenen Mitglieder im Wahlkampf im erforderlichen Umfang zu mobilisieren. Zugleich äußerte er, dass die REP als "Anwalt der Bürger" in Deutschland auch in Zukunft gebraucht würden. Deutschland habe mit der Bundestagswahl weder eine stabile Regierung noch eine Opposition mit echten Alternativen bekommen. Für die sich verschärfenden Probleme der kommenden Jahre - Zuwanderung, Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung, Steuerlast und Kriegsgefahr - hätten die im Bundestag vertretenen Parteien keine tragfähigen Lösungen zu bieten 2.3.4 Interne Richtungskämpfe Bei einem am 11./12. Mai in Künzell/Hessen durchgeführten Programmparteitag konnte der Parteivorsitzende Dr. Schlierer seine Position festigen. So scheiterte der Versuch der parteiinternen Opposition um Christian Käs, in einer Resolution die Zurücknahme des später verabschiedeten Programms sowie den Verzicht von Dr. Schlierer und seiner beiden Stellvertreter Ursula Winkelsett und Johann Gärtner auf künftige Parteiämter zu fordern. Inhaltlich bedeutete dies eine Fortsetzung des Abgrenzungskurses gegenüber anderen rechtsextremistischen Parteien und Vereinigungen. Einen Monat nach dem Programmparteitag trat Christian Käs, der einflussreichste parteiinterne Kritiker des REP-Bundesvorsitzenden, Rechtsextremismus 57 aus der Partei aus. Als entschiedener Gegner des offiziellen Abgrenzungskurses der Parteiführung hatte er ein "Ende der Leisetreterei" der REP gefordert. In einer Pressemitteilung der REP-Bundesgeschäftsstelle vom 11. Juni hieß es, mit seinem Austritt habe Käs die Verantwortung für ein finanzielles und organisatorisches Desaster in dem von ihm geführten Landesverband übernommen. Sein Schritt sei aber auch ein Signal an all jene, die mit seiner Person die Option auf eine Öffnung der Republikaner nach "rechts" verbänden. Käs war von 1991 bis Februar 2002 Vorsitzender des REP-Landesverbands Baden-Württemberg. Von 1993 bis 2000 amtierte er als stellvertretender REP-Bundesvorsitzender. Der REP-Bundesvorstand hatte ihn bereits am 11. Februar wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten im Landesverband Baden-Württemberg seiner Parteiämter enthoben. Auf dem Bundesparteitag am 2./3. November in Deggendorf konnte der wieder gewählte Bundesvorsitzende Schlierer seine Position trotz des vorangegangenen Bundestagswahldebakels behaupten, aber den seit Jahren in der Partei schwelenden Richtungsstreit nicht beenden. Die Partei erscheint innerlich zerrissen. Zwar ist die interne Opposition durch Parteiaustritte geschwächt; die Fronten verhärten sich jedoch zunehmend. In Bayern drohen die Mitglieder des Kreisverbands Fürstenfeldbruck geschlossen aus der Partei auszutreten, falls ein gegen einen REP-Kreisrat eingeleitetes Parteiausschlussverfahren nicht aufgehoben werden sollte. 2.3.5 Aktivitäten in Bayern Am "Politischen Aschermittwoch" der REP am 13. Februar in Geisenhausen, Landkreis Landshut, nahmen etwa 500 Personen teil. In den beiden Vorjahren konnte die Partei noch jeweils rund 800 Besucher mobilisieren. Als Hauptreferenten traten der bayerische Landesvorsitzende Johann Gärtner sowie der Bundesvorsitzende Dr. Rolf Schlierer auf. Letzterer konzentrierte sich vor allem auf die Bundespolitik und griff sowohl den Kanzlerkandidaten der Union als auch den Bundeskanzler heftig an. Im Übrigen bezeichnete er es als "Skandal ohnegleichen", dass zunächst "Steuergelder zum Aufbau des Neonazi-Popanz reingepumpt" würden, um anschließend ein "Pogrom gegen rechts" rechtfertigen zu können. Am 2. und 3. November fand in Deggendorf der Bundesparteitag der Republikaner statt. Der Bundesvorsitzende Dr. Rolf Schlierer, der seit 58 Rechtsextremismus 1994 die Partei führt, wurde ohne Gegenkandidaten wieder gewählt. Von den 262 anwesenden Delegierten erhielt er 187 Ja-Stimmen. In seinem Rechenschaftsbericht machte Dr. Schlierer Imageprobleme für das schlechte Abschneiden der REP bei der Bundestagswahl verantwortlich. Um wieder Wahlerfolge zu erringen, müsse die Partei den gegen sie von den etablierten Parteien und der linken Presse erhobenen Vorwurf, sie verfolge rechtsextremistische Ziele, entkräften. Die Republikaner seien demokratisch, aber zugleich rechts von der Union. An der Positionierung als Protestpartei sei festzuhalten. Auch den innerparteilichen Problemen durch den Austritt von Mitgliedern müsse sich die Partei stellen. Wichtigste Termine des Jahres 2003 für die REP als Wahlpartei seien die Landtagswahlen in Bayern und Hessen. Ferner betonte der Parteivorsitzende seine guten Kontakte zu dem FPÖ-Politiker Jörg Haider in Österreich. Ziel dieser Verbindung sei die Vorbereitung einer Kooperation aller europäischen Rechten für die Europawahl 2004. Mit der außenpolitischen Erklärung "Den 'deutschen Weg' konsequent verfolgen" entschied sich der Parteitag für folgende Kernaussagen: "Deutsche Soldaten haben am Persischen Golf nichts verloren", "Massenvernichtungswaffen müssen weltweit geächtet werden" und "Die Republikaner stehen für den deutschen Weg in der Außenpolitik". Jede Politik einer deutschen Regierung, und vor allem jede außenpolitische Entscheidung, habe sich in erster Linie an den Interessen des deutschen Nationalstaats und des deutschen Volkes auszurichten. Die REP seien die einzige Partei in Deutschland, die in jeder politischen Frage konsequent den deutschen Weg verfolge. 2.3.6 Verwaltungsgerichtsverfahren Das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 26. Mai 2000, in dem die Klage des REP-Landesverbands Baden-Württemberg gegen seine Beobachtung mit nachrichtendienstlichen Mitteln (vgl. Verfassungsschutzbericht Bayern 2000, Seite 55) abgewiesen wurde, ist rechtskräftig. Mit Beschluss vom 31. Oktober stellte der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg das Verfahren nach Zurücknahme der Berufung durch die REP ein. Der REP-Landesverband Hessen versuchte, das Land Hessen im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichten zu lassen, ihm vor der Veröffentlichung künftiger Verfassungsschutzberichte rechtliches Gehör zu gewähren, falls die Partei in diesen Berichten erneut erwähnt wer- Rechtsextremismus 59 den sollte. Dies solle dergestalt geschehen, dass dem hessischen REP-Landesverband der entsprechende Abschnitt des Verfassungsschutzberichts einen Monat vor der geplanten Veröffentlichung zur Stellungnahme übersandt werde. Mit Beschluss vom 26. Juni lehnte das Verwaltungsgericht Wiesbaden diesen Antrag als unbegründet ab. Der Hessische Verwaltungsgerichtshof hat inzwischen die dagegen erhobene Beschwerde der REP abgewiesen. 2.4 Bürgerinitiative Ausländerstopp (BIA) Deutschland Bayern Anhänger: Funktionärskreis sowie 25 Stadtratskandidaten Sprecher: Ralf Ollert Gründung: 2001 Sitz: Nürnberg Mitglieder und Sympathisanten der NPD initiierten Ende Juli 2001 in Nürnberg die Bürgerinitiative Ausländerstopp (BIA) als parteiübergreifende Plattform für die Kommunalwahl 2002. Diese örtliche Wählergemeinschaft ermöglichte den NPD-Akteuren ein breites Wahlbündnis mit anderen Rechtsextremisten, das unter dem Etikett der NPD allein nicht zustande gekommen wäre. Dabei sollten Protestwähler mit simplen Parolen gewonnen werden, wobei ein direkter Bezug zur NPD vermieden wurde. Sprecher der BIA ist der bayerische NPD-Landesvorsitzende Ralf Ollert, der bei der bayerischen Kommunalwahl als Spitzenkandidat der BIA mit einem Stimmenanteil von 2,3 % einen Sitz im Nürnberger Stadtrat erreichte. Als Bewerber um das Amt des Nürnberger Oberbürgermeisters hatte die Gruppierung ferner den wegen Leugnung des Holocaust mehrfach vorbestraften ehemaligen NPD-Vorsitzenden Günter Deckert nominiert, jedoch keinen entsprechenden Wahlvorschlag eingereicht. Die BIA verbreitete auf ihrer Internet-Homepage rassistische und antisemitische Propaganda. Deswegen leitete die Staatsanwaltschaft Nürnberg im Juli ein Strafverfahren gegen Ollert wegen Verdachts der Volksverhetzung und anderer Delikte ein. Ollert ist als "geschäftsführender Sprecher" für Organisation und Aktivitäten der BIA verantwortlich. Die Ermittlungen richten sich ferner gegen weitere Verantwortliche, darunter einen mit dem Pseudonym "Wolfswind" zeich- 60 Rechtsextremismus nenden Autor. Die Polizei stellte am 26. Juli bei Durchsuchungen zwei Computer, zahlreiche Disketten und neonazistisches Propagandamaterial sicher. In einem Mitte Juli im Internet veröffentlichten Artikel "MEHMET - MULTIKULTITERROR - MASSENÜBERFREMDUNG! Der Vernichtungskrieg gegen Deutschland und das deutsche Volk geht weiter." hieß es: "Schon unmittelbar nach der Katastrophe vom 8. Mai 1945 - als ein stolzes und edelmütiges Kulturvolk der abgrundtief verkommenen Willkür der übelsten Kreaturen und Banditen, welche mit ihrer Existenz jemals diese Erde beleidigten anheimfiel - sollte der 'multikulturelle' Völkermord durch Masseneinschleußung Fremdrassiger nach Deutschland beginnen. (...) Gleichzeitig aktivierte man die verderbtesten Charaktere, den Schweinejournalismus, zu vor Deutschenhaß triefenden Hetzorgien. (...) Was die BÜRGERINITIATIVE AUSLÄNDERSTOPP auf kommunaler Ebene in Nürnberg so erfolgreich vertritt, für das steht die NPD ... im ganzen deutschen Land. (...) Deshalb Deutsche: Wehrt Euch bei der Wahl! Macht den Wahltag zum Zahltag für die etablierten Volksverräter! Zeigt es ihnen, daß wir Deutsche uns nicht länger auf der Nase herumtanzen lassen - nicht von Asylanten, nicht von Zentralratsjuden und nicht von den Politbanditen der Regimeparteien!" Ein ebenfalls mit "Wolfswind" signierter Artikel "BRENNPUNKT REICHSSTADT NÜRNBERG: Es gärt im deutschen Volke - Infostand der BÜRGERINITIATIVE AUSLÄNDERSTOPP auf dem Stresemannplatz" erklärte: " ... das Judenkäppi, die Narrenkappe für umerziehungslügengläubige Trottel, ist in Deutschland eben keine Zukunftsgarantie. (...) Man hat die Durchrassung satt! Man läßt sich jetzt nicht mehr schafsgeduldig gemäß jüdischen Holocaustrezepturen mulitkulturell ausrotten! Man durchschaut die Völkermordabsicht, welche sich hinter jedem der zu diesem Zwecke nach Deutschland geschleusten massenhaften Neger und sonstigen fremdrassigen Exoten verbirgt!" Das Bayerische Staatsministerium des Innern leitete Anfang September ein vereinsrechtliches Ermittlungsverfahren gegen die BIA mit dem Hinweis ein, dass die Tätigkeit der Gruppierung mit den Strafgesetzen, der verfassungsmäßigen Ordnung und dem Gedanken der Völkerverständigung unvereinbar sei. Mit der Durchführung der erforderlichen Maßnahmen wurden die Regierung von Mittelfranken Rechtsextremismus 61 und das Polizeipräsidium Nürnberg beauftragt. Am 16. September durchsuchte die Polizei zum Zweck der Beschlagnahme von Beweismaterial die Wohnungen von acht Anhängern der BIA in Nürnberg und Umgebung. Dabei wurden mehrere PC-Anlagen, 170 Disketten und CD-Roms sowie umfangreiches Propagandamaterial sichergestellt und dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz zur Auswertung übermittelt. Das sichergestellte Material kann für die Prüfung vereinsrechtlicher Fragen, aber auch für die Verfolgung von Straftaten durch die zuständige Staatsanwaltschaft verwendet werden. Mit Beschluss vom 29. September distanzierte sich die BIA von den Internet-Aktivitäten des für ihre Homepage verantwortlichen Mitglieds. Die Beiträge wurden inzwischen gelöscht. 2.5 Deutschland-Bewegung/Friedenskomitee/ Deutsche Aufbau-Organisation (DAO) Deutschland Bayern Mitglieder: 150 80 Vorsitzender: Dr. Alfred Mechtersheimer Gründung: 1990 Sitz: Starnberg Publikationen: Pressespiegel mit "Frieden 2000 - Nachrichten für die Deutschland-Bewegung" Die 1990 gegründete Deutschland-Bewegung/Friedenskomitee (einschließlich Deutsche Aufbau-Organisation) mit Sitz in Starnberg ist bundesweit organisiert und umfasst in Bayern etwa 80 Personen in lokalen Kleingruppen. Die Aktivitäten beschränken sich auf Treffen einiger weniger Personen im Raum München-Augsburg sowie in Niederbayern. Der Vorsitzende der Deutschland-Bewegung/Friedenskomitee Dr. Alfred Mechtersheimer arbeitet mit bekannten rechtsextremistischen Funktionären bzw. Aktivisten verschiedenster Gruppen zusammen und versucht, seine Gruppierung zu einer Sammlungsbewegung auszubauen. Die politische Position der Gruppierung ergibt sich aus den regelmäßig erscheinenden Publikationen "Pressespiegel" und "Frieden 2000" sowie aus Flugblättern, die unter anderem in Parolen wie "Rückreise statt Einwanderung!" oder "Integration? Das falsche Rezept!" rassistische Tendenzen aufweisen und einen über- 62 Rechtsextremismus steigerten Nationalismus propagieren. Die Deutschland-Bewegung suggerierte mit der Forderung nach einer "Familienzusammenführung aller rechtswidrig in Deutschland lebenden Ausländer in ihren Heimatländern" die Lösung aller gesellschaftlichen Probleme. Dies würde "den importierten sozialen Sprengstoff entschärfen, die Identität des deutschen Volks vor kultureller Beliebigkeit schützen". Mit dem Flugblatt "Deutschland in Gefahr" wurden demokratisch gewählte Repräsentanten des Staates pauschal verunglimpft: "Deutschlands Politik gefährdet unser Land und unsere Freiheit. Die Meinung des Volkes interessiert die Volksvertreter nicht mehr! (...) Die Parteien haben dieses Land zu einem Selbstbedienungsladen gemacht." Weiter forderte die Deutschland-Bewegung ein "Deutschland ohne Zensur, entwürdigende Meinungsverbote und erstickende Parteienwillkür". In der rechtsextremistischen Zeitschrift "Nation & Europa". Deutsche Monatshefte" (Nummer 11-12/2002) erklärte Dr. Mechtersheimer zur Bundestagswahl 2002 unter der Überschrift "Konsequenz des Wahldebakels: Neubeginn nötig": "Grundlage aller Überlegungen muß die Erkenntnis sein, dass es den Altparteien mit Unterstützung weitgehend gleichgeschalteter Medien gelungen ist, ein Klima zu schaffen, in der selbst zum Widerstand bereite Bürger domestiziert wurden. (...) Niemand wird behaupten, daß im Volk der Wille nach einer alternativen politischen Kraft nicht vorhanden sei. Aber noch sind die Menschen narkotisiert. Erst wenn ihnen mit unermüdlicher Aufklärung die Augen geöffnet werden, können sie sich aus der Gefangenschaft der Altparteien befreien." Die Deutsche Aufbau-Organisation (DAO) wurde im Frühjahr 2000 auf Betreiben von Dr. Mechtersheimer als Teilorganisation der Deutschland-Bewegung gegründet, um die Voraussetzungen für eine Parteigründung im "rechten" Lager zu prüfen. Am 26. Januar stellten die Verantwortlichen des Projekts auf einer Arbeitstagung der DAO in Fulda fest, dass eine Parteigründung derzeit ebenso wenig in Betracht komme wie eine Empfehlung für eine der bestehenden Parteien. Aus diesem Grund wurden die parteiähnlichen Strukturen der DAO wie der Sprecherkreis und die regionalen Geschäftsstellen aufgelöst und "kontinuierlich" in die Deutschland-Bewegung zurückgeführt. Rechtsextremismus 63 2.6 Aktivitas der Burschenschaft Danubia (München) Die Aktivitas (Studenten) der Burschenschaft Danubia bot in der Vergangenheit Rechtsextremisten ein Forum für deren Vorträge und stellte auch ihre Internetseite für "links" zu rechtsextremistischen Homepages sowie die "Danubenzeitung" für rechtsextremistische Äußerungen zur Verfügung. Eine Bereitschaft zur Abkehr von den bisherigen rechtsextremistischen Bestrebungen ist nicht erkennbar. Vielmehr legt die Burschenschaft Wert darauf, sich der Öffentlichkeit als verfolgtes Opfer der "Antifa" darzustellen. So präsentierte die Burschenschaft in einer Pressekonferenz am 14. Mai das von ihrem Altherrenverband in Auftrag gegebene "Knütter-Gutachten". Das von einem emeritierten Politologen verfasste Papier versucht den Vorwurf, die Aktivitas der Danubia verfolge extremistische Bestrebungen, dadurch zu widerlegen, dass es dem Verfassungsschutz und dem hinter ihm stehenden Staat generell diffamierende Absichten gegenüber allen Bestrebungen zuweist, die nicht dem Zeitgeist entsprechend antifaschistisch seien. Schon in der im Internet veröffentlichten, dem Gutachten vorgeschalteten Kurzfassung heißt es: "Das politische Klima in Deutschland ist heute mehr denn je von Denunziation und Verhetzung geprägt. Die Etablierten finden ihr politisches Selbstverständnis nicht, wie früher, durch Programme und Konzepte, sondern, indem sie einen Feind (Sekten, Kampfhunde, Extremisten) identifizieren. (...) Es ist wichtig, die Erkenntnis zu verbreiten, dass die 'Verfassungsschutzberichte' keine objektiven und glaubwürdigen Darstellungen sind. Vielmehr handelt es sich um Propagandaäußerungen im Interesse der jeweiligen parteipolitischen Konstellation im Bund oder in den Ländern." Im Gutachten selbst vertritt der Autor die Auffassung, dass nur aggressiv-kämpferisches und gewaltbefürwortendes Verhalten die Einstufung einer Vereinigung als extremistisch rechtfertige. Die Verfassungsschutzbehörden hätten dies aber ausgeweitet, um Organisationen schon im Vorfeld aggressiv-kämpferischen Verhaltens beobachten zu können. Der Autor verkennt dabei die Rechtslage. Ferner behauptet er, Treibkraft der "Angriffe" auf die Danubia seien "politische Interessen und antifaschistische Geschäftemacherei". Daher empfiehlt er, nicht die "Hetze" zu widerlegen, sondern die "Unnachgiebigkeit der Angegriffenen zu stärken" und sich stolz als "unbelehrbar" zu bekennen. Abschließend erklärt er, die Burschen- 64 Rechtsextremismus schaft könne "aufrecht und ohne sich zu rechtfertigen den politischen Kampf ohne Richtungsänderung fortsetzen". 2.7 Sonstige Organisationen Die teils regional, teils bundesweit tätigen sonstigen rechtsextremistischen Organisationen sind vielfach nur publizistisch aktiv. Etwaige Aktivitäten beschränken sich im Allgemeinen auf interne Veranstaltungen, die kaum Außenwirkung entfalten. Zu nennen sind hier insbesondere die Gruppierungen - Deutsche Liga für Volk und Heimat (DLVH) - Gesellschaft für Freie Publizistik (GFP) - Freundeskreis Ulrich von Hutten - Deutsches Kolleg. Weitere rechtsextremistische Organisationen sind unter Nummer 8 dieses Abschnitts aufgeführt. 2.8 Druckschriftenund Zeitungsverlag GmbH (DSZ-Verlag) Der 1958 gegründete, von Dr. Gerhard Frey geleitete DSZ-Verlag in München ist weiterhin das bedeutendste rechtsextremistische Propagandainstrument in Deutschland. Die wöchentliche Auflage der im Verlag erscheinenden "National-Zeitung/Deutsche Wochen-Zeitung" (NZ) beträgt rund 44.000 Exemplare. Als publizistisches Sprachrohr der DVU vertritt die NZ deren nationalistische, rassistische und revisionistische Grundhaltung. Die Beiträge sind geprägt von Vereinfachung, Schematisierung und dem Aufbau von FreundFeind-Bildern. In einer festen Kolumne der NZ schreibt der Publizist und ehemalige REP-Vorsitzende Franz Schönhuber. "Die Türkei erfüllt mit einem minimalen Bruttosozialprodukt in keiner Weise die wirtschaftlichen EU-Kriterien und wäre massiv zu fördern, wobei natürlich auf Dukatenesel Deutschland eine Rolle als Zahlmeister zukommt." (NZ vom 19. April, Seite 3) Rechtsextremismus 65 "Während bald überall in Europa einheitlich gegen Überfremdung gewirkt wird, faseln unsere Polit-Bonzen von 'Green-Cards', EU-Osterweiterung und befassen sich mit Themen wie 'Familiennachzug' und 'besseren Integrationsmöglichkeiten'." (NZ vom 28. Juni, Seite 1) "Unrealistisch ist es indessen, eine Verringerung des jüdischen Zustroms nach Deutschland gemäß St.-Florians-Prinzip zu erwarten, indem man hofft, dass alle verfügbaren jüdischen Emigranten in einem erweiterten Israel versammelt werden. Warum sollten sie auf das für sie in Deutschland eingerichtete Sozialparadies verzichten?" (NZ vom 18. Januar, Seite 10) "Es liegt auf der Hand, dass Scharon und seine Regierung nicht das geringste Interesse an einer gerechten politischen Lösung haben, vielmehr zielen sie auf die dauerhafte Unterdrückung und Entrechtung der Palästinenser, die sie mit brutalsten Militäraktionen durchsetzen wollen. Offenbar schwebt ihnen ein Groß-Israel vor. So erklärt sich auch, dass ohne Rücksicht auf internationale Proteste die völkerrechtswidrige Besetzung palästinensischen Grund und Bodens weiter betrieben wird. Diese Politik zum Himmel schreienden Unrechts ist die eigentliche Ursache der immer wieder aufflammenden Gewalttaten und es ist bezeichnend, dass die US-amerikanische Regierung Scharon und seinen Einpeitschern stets mit Waffenlieferungen und finanziell den Rücken stärkt." (NZ vom 8. Februar, Seite 15) "Allmählich soll offenbar von zeitgeistlichen Fanatikern die ganze Hauptstadt Berlin sowie am besten die gesamte Bundesrepublik zu einer einzigen Gedenkstätte deutscher Schuld und Sühne umgestaltet werden. Merkwürdig ist nur, dass andere Staaten diesem 'guten' Beispiel nicht folgen." (NZ vom 1. November, Seite 13) Typisches Kennzeichen der NZ ist ihr ständig betonter Wahrheitsanspruch, mit dem sie alle anderen Meinungen indirekt der Unwahrheit bezichtigt: "Kaufen auch Sie eine oder mehrere weitere Ausgaben dieser Zeitung und klären Sie damit ahnungslose Mitbürger über die wahren Hintergründe des politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und historischen Geschehens auf. Bitte versäumen Sie keine Zeit und wirken Sie jetzt mit, den Deutschen die Wahrheit zu vermitteln." (NZ vom 14. Juni, Seite 7) 66 Rechtsextremismus 2.9 Nation Europa Verlag GmbH Der Nation Europa Verlag in Coburg wurde 1953 gegründet. Ein Jahr später konstituierte sich der mit den politischen Interessen des Verlags eng verbundene Verein Nation-Europa-Freunde e.V., dem derzeit etwa 200 Mitglieder angehören. Herausgeber der im Verlag erscheinenden Monatsschrift "Nation & Europa - Deutsche Monatshefte" sind die Rechtsextremisten Peter Dehoust und Harald Neubauer. Mit einer Auflage von 14.500 Exemplaren gehört die Zeitschrift zu den wichtigsten rechtsextremistischen Theorieorganen. Sie bietet insbesondere Rechtsextremisten eine publizistische Plattform. "Nation & Europa" verbreitet sowohl revisionistische als auch latent rassistische Thesen. In einem Beitrag mit der Überschrift "Desinformation zur Zuwanderung: Täuschen und tarnen" hieß es: "Dabei wird immer wieder spürbar, daß diese Politik nicht auf sozialer Verantwortung gegenüber den Ausländern beruht, sondern ultralinken Ideologen dazu dient, das deutsche Volk durch Installation einer 'multikulturellen Gesellschaft' zu verdrängen. Die von den Alliierten nach 1945 betriebene Umerziehung hat sich längst verselbständigt und gebiert Formen des nationalen Selbsthasses, die mit gesundem Menschenverstand kaum mehr zu erklären sind." Als Strategieorgan tritt die Schrift seit Jahren ohne Erfolg dafür ein, die Zersplitterung des rechtsextremistischen Lagers durch die Orientierung an ausländischen Sammlungsparteien wie dem Vlaams Blok (VB) in Belgien zu überwinden. Der Herausgeber Harald Neubauer erklärte in einem Kommentar "Wie bei der Mafia": "Auf einen Skandal folgt der nächste. Deutschland rutscht auf der internationalen Korruptionsskala immer tiefer, liegt jetzt schon hinter südamerikanischen Bananenrepubliken. (...) Der Fisch stinkt also vom Kopfe her und das schon sehr lange. Hier liegt auch einer der Gründe, weshalb sich Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik auf das Dritte Reich fokussiert. (...) Ist es da nicht irgendwie kurios, daß der sogenannte Verfassungsschutz sein Augenmerk ausgerechnet auf Parteien und Gruppierungen beschränkt, die an jenem mafiosen System mit Sicherheit nicht beteiligt sind?" Rechtsextremismus 67 3. Organisationsunabhängiger Neonazismus 3.1 Allgemeines Der Neonazismus umfasst alle Aktivitäten und Bestrebungen, die ein offenes Bekenntnis zur Ideologie des Nationalsozialismus darstellen und auf die Errichtung eines vom Führerprinzip bestimmten autoritären bzw. totalitären Staates gerichtet sind. Schwerpunktthemen waren wie im Vorjahr die angebliche staatliche Verfolgung des "nationalen Lagers", die Ausländerund Asylpolitik der Bundesregierung sowie rassistische und antisemitische Agitation. Die Gewinner der seit den Verboten neonazistischer Organisationen zwischen den Jahren 1992 und 1995 einsetzenden Ideologieund Strategiedebatte des "nationalen Lagers" sind die NPD und die JN bzw. deren aus dem neonazistischen Spektrum stammende Führungskader. Insbesondere dem ehemaligen JN-Vorsitzenden Sascha Roßmüller ist es in den letzten Jahren gelungen, die aus jüngeren Neonazis und Skinheads bestehende Klientel an die NPD heranzuführen. Seine neonazistischen und nationalrevolutionären Gedankenelemente sind inzwischen integraler Bestandteil des ideologischen Spektrums der NPD geworden und haben deren Erscheinungsbild nachhaltig verändert. Das Verhältnis zwischen der NPD, Neonazis und Skinheads ist als Zweckbündnis zu charakterisieren. Insbesondere bei Demonstrationen kann sich die NPD die Aktionsstärke der Neonazis und Skinheads zunutze machen. Andererseits verbuchen es neonazistische Initiativen als ihren Erfolg, die NPD und deren Umfeld als Anmelder und Teilnehmer von Demonstrationen zu instrumentalisieren. Da im Auftreten und äußeren Erscheinungsbild kaum noch Unterschiede bestehen, profitieren beide Lager wechselseitig voneinander. Die Verzahnung des rechtsextremistischen Spektrums kommt in verschiedenen Regionen im Schulterschluss zwischen der NPD, neonazistischen Kameradschaften und politisch agierenden rechtsextremistischen Skinhead-Szenen zum Ausdruck. Grund für diese Entwicklung ist nach Ansicht der Initiatoren der ungeheure staatliche Druck auf alle "Nationalen", dem man nur mit Geschlossenheit begegnen könne, um weitere Verbote von Parteien und Organisationen zu verhindern. Trotz vieler Gemeinsamkeiten gibt es aber mitunter auch Spannungen zwischen den einzelnen Lagern. So hielt sich die NPD von der Demonstration der Freien Nationalisten unter dem Motto "Gegendarstellung zur Wehrmachtsausstellung" am 12. Oktober in Mün- 68 Rechtsextremismus chen fern, was auf Differenzen zwischen der NPD und dem in Unfrieden von der Partei geschiedenen ehemaligen NPD-Funktionär Steffen Hupka zurückzuführen ist und sich auch in einer geringeren Teilnehmerzahl widerspiegelte. Hupka warf der NPD in diesem Zusammenhang vor, sie versuche, den Nationalen Widerstand zu spalten. Führende Neonazis, wie etwa Christian Worch und Thomas Wulff aus Norddeutschland, konnten ihr Konzept der Vernetzung autonomer nationaler Gruppen bisher nicht entscheidend voranbringen. Das dem neonazistischen Lager zuzurechnende Potenzial umfasst in Bayern wie bisher rund 250 Personen; davon sind etwa 70 in neonazistischen Organisationen aktiv. Daneben sind wie im Vorjahr rund 900 rechtsextremistisch orientierte Skinheads bekannt. Insgesamt beträgt das gewaltbejahende rechtsextremistische Potenzial in Bayern weiterhin rund 1.150 Personen. Ferner bestehen in verschiedenen Regionen Bayerns strukturlose Gruppen mit rechtsextremistischen Verhaltensweisen, die sich aus Skinheads und Neonazis, aber auch aus sonstigen "rechtsorientierten" Jugendlichen zusammensetzen. Hierbei handelt es sich um jugendliche Mischszenen, die sich von rechtsextremistischen Parolen leicht beeinflussen und mobilisieren lassen. Die Anzahl und Auflagenstärke neonazistischer Publikationen war weiter rückläufig, was in erster Linie auf eine verstärkte Nutzung des Internets zurückzuführen ist. 3.2 Neonazi-Kameradschaften Nach dem Verbot zahlreicher rechtsextremistischer Organisationen seit 1992 entwickelten führende Neonazis das Konzept strukturloser Zusammenschlüsse. Dadurch sollten staatliche Gegenmaßnahmen erschwert werden. Bei diesen Kameradschaften gibt es weder eine formelle Mitgliedschaft, noch Vorstandspositionen. Anführer ist meist ein engagierter Rechtsextremist, der es versteht, seinen Gefolgsleuten die den ideologischen Zusammenhalt stärkenden "Feindbilder" zu vermitteln. In Bayern sind folgende neonazistische Kameradschaften erwähnenswert: 3.2.1 Freizeitverein Isar 96 e.V. (FZV) Der 1996 gegründete FZV zählt wie im Vorjahr rund 15 Mitglieder, die sich unter dem Einfluss des ehemaligen "Bereichsleiters Süd" der Rechtsextremismus 69 "Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front" (GdNF) in der Tradition des verstorbenen Neonazis Michael Kühnen sehen. Der FZV hat sich als einzige in Bayern bekannte Neonazi-Kameradschaft als eingetragener Verein eine formelle Struktur gegeben. Seine Bedeutung geht mehr und mehr zurück, da sich der Verein als Teil der Kameradschaft Süd um den Neonazi Norman Bordin sieht. 3.2.2 Kameradschaft Süd - Aktionsbüro Süddeutschland (AS) Die Anfang des Jahres von dem Neonazi Norman Bordin initiierte "Kameradschaft Süd - Aktionsbüro Süddeutschland" nimmt eine wichtige Position im Nationalen Widerstand ein. Sie setzt sich sowohl aus Neonazis als auch aus Skinheads zusammen und zählt rund 25 Mitglieder. Nachdem Bordin mit seinem Ende Mai 2000 gegründeten Aktionsbüro Nationaler Widerstand/Freilassing gescheitert ist, beansprucht er nunmehr eine Vorreiterrolle für neonazistische Bestrebungen in Oberbayern. Die Kameradschaft Süd dient ihm dabei als Dachorganisation. Bordin war am Skinhead-Überfall vor der Gaststätte Burg Trausnitz am 13. Januar 2001 in München beteiligt. Das Landgericht München I verhängte gegen ihn am 1. März wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten. Er wurde bei der Urteilsverkündung noch im Gerichtssaal festgenommen. Der Rechtsextremist Martin Wiese übernahm stellvertretend eine Führungsrolle bei der Kameradschaft Süd. Die Kameradschaft Süd beteiligte sich an mehreren Aktionen gegen die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht, Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 - 1944", die vom 8. Oktober bis 24. November im Münchner Stadtmuseum gezeigt wurde. So erschien sie sowohl zur Demonstration am 12. Oktober in München, wo etwa 1.000 Rechtsextremisten gegen die Ausstellung protestierten, als auch zu regelmäßigen Kundgebungen an den darauf folgenden Wochenenden und zu einer Demonstration am 30. November, an der lediglich noch etwa 100 Demonstranten aus dem rechtsextremistischen Spektrum teilnahmen. 3.2.3 Neonazi-Kreis um Sven Schlechta (Kameradschaft Schwabach) Bei dem Neonazi-Kreis handelt es sich um eine unorganisierte Gruppe von etwa fünf Personen. Der Führer der Kameradschaft Schwa- 70 Rechtsextremismus bach Sven Schlechta sieht sich in der Tradition des verstorbenen Rechtssextremisten Michael Kühnen und pflegt in diesem Rahmen regionale und überregionale Kontakte zu führenden Neonazis. Die Kameradschaft organisiert Veranstaltungen wie "Aktionstage für Gottfried Küssel" und Feiern anlässlich des Geburtstags von Adolf Hitler. 3.2.4 Bund Frankenland - Staatsbürgerliche Runde Der am 21. Dezember 1991 als Partei gegründete Bund Frankenland (BF) wurde am 29. Januar 1992 als eingetragener Verein registriert. Vorstandsmitglieder waren zu diesem Zeitpunkt die bekannten Rechtsextremisten Jürgen Schwab und Uwe Meenen. Ziel des BF war die Beseitigung des Grundgesetzes und der parlamentarischen Demokratie sowie die Schaffung eines "Vierten Deutschen Reichs" nationalistisch-rassistischer Prägung. Im September 2001 entschlossen sich der nationale Arbeitskreis "Kameradschaft Heinrich II." des Bundes Frankenland und die seit 1999 bestehende überparteiliche "Staatsbürgerliche Runde" um den Rechtsextremisten Jürgen Schwab, ihre Kräfte zu bündeln. Der von ihnen gebildete Gesprächszirkel umfasst rund 15 Personen und führt die Bezeichnung "Bund Frankenland - Staatsbürgerliche Runde". Zur Förderung der politischen Arbeit in der fränkischen Region finden gemeinsame Veranstaltungen wechselweise in Nürnberg und Bamberg statt, an denen sich jeweils zwischen 15 und 20 Personen beteiligen. Mitbestimmend für den Zusammenschluss war wohl das nachlassende Interesse an der "Staatsbürgerlichen Runde", deren Veranstaltungen zuletzt mit etwa zehn Teilnehmern nur schwach besucht waren. 3.2.5 Kameradschaft Lichtenfels Die 1998 von dem NPD-Funktionär Winfried Breu gegründete und geleitete Kameradschaft Lichtenfels zählt rund 15 Mitglieder, überwiegend Skinheads. Breu erklärte, dass die Kameradschaft ihre künftigen Aktionen selbst verantworten werde. So werden die regelmäßigen Sonntagsstammtische ausdrücklich als Kameradschaftstreffen und nicht als NPD-Stammtische bezeichnet. Damit bezweckt die Kameradschaft Lichtenfels als eigenständige Organisation eine deutliche Abgrenzung von der NPD. Rechtsextremismus 71 3.3 Informationelle Vernetzung Seit mehreren Jahren nutzen Rechtsextremisten auch moderne Kommunikationstechniken, insbesondere um die nach den Verboten neonazistischer Organisationen weggefallenen Kontaktmöglichkeiten zu ersetzen. Der Zugriff auf das Internet - einen weltweiten, rechtlich und tatsächlich schwer fassbaren Raum - bietet Rechtsextremisten eine willkommene Plattform zur Verbreitung verfassungsfeindlicher Ziele. Zunehmend setzen Rechtsextremisten im Rahmen ihrer Internet-Aktivitäten technische Sicherheitsprogramme ein, die Schutz vor unerwünschter Einsichtnahme Dritter in ihren Datenbestand und -verkehr gewährleisten sollen. So bieten die Betreiber der Internet-Domain "Skinheadmeeting Notnagel" die Software "Steganos Security Suite" zum Download an. Mit diesem benutzerfreundlichen Programm kann der Anwender beliebige Dateien und Verzeichnisse mittels Steganografie verschlüsseln, aber auch seinen E-Mail-Verkehr schützen und mit Hilfe eines "Internet-Spurenvernichters" sämtliche Fährten, die durch Internet-Aktivitäten entstanden sind, löschen. Insbesondere die Einschaltung ausländischer Provider vermindert das Risiko der Strafverfolgung. Die Zahl der von Deutschen betriebenen Homepages mit rechtsextremistischen Inhalten ist im Frühjahr von ursprünglich 1.300 auf etwa 920 zurückgegangen, seitdem aber wieder auf rund 1.000 angestiegen. Grund dieser Entwicklung dürfte vor allem ein erfolgreiches Ausweichen der Homepage-Betreiber auf solche Speicherplatzanbieter sein, die sich Appellen staatlicher und privater Einrichtungen sowie einer Selbstkontrolle verschließen. Darunter befinden sich auch etliche Provider, die der rechtsextremistischen Szene angehören. Deutsche Rechtsextremisten werben für ihre verfassungsfeindlichen Ziele mit immer anspruchsvollerer Technik. So binden sie aufwendige Grafiken ein und bieten sogar indizierte Skinhead-Musik über Tondateien an, die auf dem heimischen PC gespeichert und vervielfältigt werden können. Die attraktiven Gestaltungsmöglichkeiten des "world wide web" (www) mit Farbgrafiken, Audiound Videosequenzen machen dieses kostengünstige Medium für rechtsextremistische Organisationen zu einem wichtigen Werbeund Propagandaträger, mit dem sich ungefiltert neue Interessentenkreise, vor allem Jugendliche, ansprechen lassen. Dem Internet kommt daher bei der Verbreitung rechtsextremistischen Gedankenguts sowie bei der Koordinierung von Aktivitäten der rechtsextremistischen Szene eine weiterhin steigende Bedeutung zu. 72 Rechtsextremismus Die zunehmende Anonymisierung der Homepage-Benutzer und die Nutzung ausländischer Provider (z.B. in den USA) erschweren die Tätigkeit der Sicherheitsbehörden. Rechtsextremisten, die ihre politischen Inhalte über Dienste in Deutschland anbieten, halten sich im Allgemeinen an die deutschen Gesetze. Bei Nutzung ausländischer Anbieter, beispielsweise in Übersee, geben sie ihre Zurückhaltung auf. So werden rassistische, revisionistische und volksverhetzende Aufrufe verbreitet, etwa aus den USA durch den deutschen Revisionisten Ernst Zündel, dessen Propaganda auch mit Tonund Videosequenzen abrufbar ist. Zum rechtsextremistischen Internet-Spektrum zählen ferner detaillierte Anleitungen zur Herstellung von Sprengund Brandsätzen sowie sonstiger Sabotagemittel, aber auch gezielte Aufforderungen zur Gewaltanwendung gegen politische Gegner bis hin zu Mordaufrufen. Allerdings sind selbst anonyme Homepage-Benutzer identifizierbar, wenn auch mit großem Aufwand. Strafbare Inhalte führten daher wiederholt zu Strafverfahren. Der informationellen Vernetzung von Rechtsextremisten dienen auch die Nationalen Info-Telefone (NIT), die mittels Anrufbeantworter Meldungen verbreiten und die Möglichkeit bieten, Nachrichten zu hinterlassen. Diese Art des Informationsaustauschs verliert aber an Bedeutung. Die Betreiber mobilisieren damit die rechtsextremistische Szene insbesondere zu bestimmten Anlässen und Großveranstaltungen. Daneben fungieren die NIT auch als eine Art Binde-Element und Motivationsinstrument innerhalb der rechtsextremistischen Szene. Bis Oktober existierte in Bayern noch das Info-Telefon "Bündnis Rechts" des Dennis Oliver Entenmann aus Iphofen, Landkreis Kitzingen, dessen Aussagen teilweise mit den Texten des von Dieter Kern in Lübeck betriebenen Info-Telefons "Bündnis Rechts" identisch waren. Nach internen Differenzen kündigte Entenmann im Oktober seinen Rücktritt an. Das Anfang 2002 eingerichtete Nationale Info-Telefon Süddeutschland des Neonazi Norman Bordin wird von dessen Ehefrau betrieben. Die Meldungen enthalten vor allem Hinweise auf regionale und überregionale Veranstaltungen. Mobiltelefone (Handys) werden insbesondere zur Steuerung von Anreisenden zu konspirativen Treffen oder nicht angemeldeten Versammlungen genutzt. Das Short-Message-System (SMS) der Handy-Betreiber dient daneben vielfach der Verbreitung von volksverhetzenden und antisemitischen Texten. Rechtsextremismus 73 3.4 Aktivitäten zum 15. Todestag von Rudolf Heß Am 17. August veranstalteten etwa 2.500 Personen aus dem NPDund Neonazi-Spektrum in Wunsiedel einen Aufzug zum Gedenken an Hitlers ehemaligen Stellvertreter Rudolf Heß. An der Demonstration beteiligten sich auch Rechtsextremisten aus Schweden, Dänemark, Finnland, Frankreich, Holland, Italien, Österreich und der Schweiz. Die rechtsextremistische Szene hatte seit einigen Wochen bundesweit über das Internet sowie mit Heß-Aufklebern, Plakaten und Transparenten für die zentrale Kundgebung mobilisiert. Anmelder und Leiter der Versammlung war der Hamburger Rechtsanwalt und Neonazi Jürgen Rieger. Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand ein etwa eineinhalbstündiger "Trauermarsch" durch Wunsiedel. Bei der Auftaktkundgebung trat der rechtsextremistische Liedermacher Michael Müller auf. Es folgten Grußbeiträge der angereisten ausländischen Gruppen. Als Redner traten neben Jürgen Rieger der Neonazi Thomas Wulff und der stellvertretende NPD-Bundesvorsitzende Holger Apfel auf. Die Polizei nahm am Rande der Veranstaltung 25 Neonazis wegen Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Mitführens gefährlicher Gegenstände vorläufig fest. An Protestaktionen gegen den Aufmarsch in Wunsiedel beteiligten sich auch etwa 250 Linksextremisten. Das Landratsamt Wunsiedel hatte die Versammlung zunächst verboten. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof stellte am 16. August wie schon im Vorjahr die aufschiebende Wirkung des von Rieger erhobenen Widerspruchs wieder her. Bereits wenige Stunden nach der Entscheidung verbreiteten Rechtsextremisten die Zulässigkeit der Veranstaltung im Internet und riefen über Nationale Info-Telefone zur Teilnahme auf. Die rechtsextremistische Szene wertete die Veranstaltung in Wunsiedel als Erfolg. Im Vergleich zum Vorjahr (über 800 Teilnehmer) hat sich die Zahl der Demonstranten nahezu verdreifacht. Das Interesse ausländischer Teilnehmer zeigt, dass Wunsiedel zu einem jährlichen Treffpunkt europäischer Rechtsextremisten werden könnte. In einem Kommentar des Nationalen Info-Telefons Süddeutschland am 18. August hieß es: "Trotz Schikane und Verzögerungen gelang der große Gedenkmarsch für Rudolf Heß. Die Teilnehmerzahl in Wunsiedel hat die Erwartungen über- 74 Rechtsextremismus troffen. Es marschierten 2.600 nationale Menschen ... auch durch die ehemalige Adolf-Hitler-Straße, um dem Friedensflieger Rudolf Heß im 15. Jahr nach seiner Ermordung in der Stadt seiner letzten Ruhe die Ehre zu erweisen. (...), begleitet durch leise klassische Musik von Beethoven, der Lieblingsmusik von Heß." 4. Skinheads 4.1 Überblick Die Skinhead-Bewegung entstand in Großbritannien und trat erstmals Ende der 70er Jahre auch im Bundesgebiet in Erscheinung. Sie war ursprünglich eine jugendliche Subkultur, die durch ihr Auftreten eine extreme Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft signalisierte. Äußerlichkeiten wie Kleidung oder Haarschnitt lassen heute keine eindeutigen Schlüsse auf eine Zuordnung zur Skinhead-Szene mehr zu, da mittlerweile auch viele unpolitische Jugendliche ein entsprechendes Aussehen zeigen. Die Beachtung, die Skinheads in der Öffentlichkeit und in den Medien zuteil wird, ist auf ihre brutalen und menschenverachtenden Gewalttaten gegen Ausländer und Asylbewerber zurückzuführen. 4.2 Politische Ausrichtung Die politischen Ansichten dieser Subkultur reichen von den so genannten Redskins (linksextremistisch beeinflusste Skinheads) über die so genannten SHARPs (Skinheads against racial prejudice - Skinhead gegen rassistische Vorurteile) und die Oi-Skins ("unpolitische Skinheads") bis hin zur Mehrheit der rechtsextremistischen Skinheads einschließlich der so genannten White-Power-Skinheads. Die entsprechende politische Überzeugung bildet sich je nach Einzelfall nicht selten erst nach Beitritt in die Szene stärker aus. Skinheads sind deshalb zunächst zu einer rational bestimmten politischen Meinungsbildung kaum fähig und an einer fundierten politischen Auseinandersetzung nicht interessiert. In ihren Kreisen hat sich eine vom organisierten Rechtsextremismus unabhängige diffuse rechtsextremistische Weltanschauung herausgebildet. Sie ist von rassistisch motivierter Fremdenfeindlichkeit sowie übersteigertem Nationalbewusstsein geprägt und knüpft insofern an wesentliche Elemente des Nationalsozialismus an. Diese Einstellung spiegelt sich in meist Rechtsextremismus 75 Rechtsextremistische Skinhead-Szenen Raum in Bayern 2002 Raum Coburg Coburg Aschafffenburg Raum ca. 30 Bayreuth/Hof ca. 50 Aschaffenburg ca. 30 Raum Bayreuth Würzburg Bamberg ca. 20 Raum Würzburg Raum Erlangen Raum ca. 60 Amberg/Weiden ca. 40 Nürnberg ca. 40 Großraum Nürnberg Raum ca. 65 Cham/Roding ca. 20 Regensburg Raum Angehörige der Ingolstadt Raum Skinhead-Szenen Regensburg ca. 30 ca. 20 Ingolstadt Raum Neu-Ulm/ Passau Dillingen Raum Augsburg/ Friedberg/Aichach Raum Landshut Raum Passau/ ca. 40 ca. 10 Landshut Deggendorf/ Neu-Ulm Straubing Augsburg ca. 10 Raum Krumbach/ ca. 45 Babenhausen Raum Altötting/ Raum Landsberg/ Tüßling Fürstenfeldbruck München ca. 45 ca. 15 ca. 20 Großraum München Großraum ca. 180 Rosenheim Oberallgäu/ Unterallgäu Raum Rosenheim ca. 50 Raum Weilheim/ ca. 20 Garmisch-Partenkirchen ca. 60 spontanen Gewalttaten wider. Opfer sind nach wie vor Ausländer, aber auch Personen aus sozialen Randgruppen sowie "Linke", also alle zu ihren "Feindbildern" zählenden Menschen. Skinheads dienen rechtsextremistischen Organisationen vor allem als Mobilisierungspotenzial für öffentlichkeitswirksame Aktionen. So werden Aktionen der NPD und JN von Skinheads massiv unterstützt; frühere Vorbehalte der Skinheads gegenüber diesen Organisationen 76 Rechtsextremismus haben stark abgenommen. Ein Großteil der Besucher von NPD-Großkundgebungen gehört der Skinhead-Szene an. Enge Kontakte bestehen wie im Vorjahr insbesondere in Nürnberg/Erlangen, in Cham/Roding sowie in Straubing zwischen den dortigen Skinhead-Szenen und den JN bzw. der NPD. Versuche von Neonazis, Skinheads für eine längerfristige ernsthafte politische Tätigkeit zu gewinnen, waren bislang wenig erfolgreich, da Skinheads einer intensiven ideologischen Schulung kaum zugänglich sind. 4.3 Strukturen Die Skinhead-Szene unterliegt einer starken Fluktuation und kennt in der Regel weder feste Organisationsstrukturen noch formelle Mitgliedschaften. Die Bindungen zur Gruppe reichen von losen gelegentlichen Kontakten über regelmäßige Beteiligung an Aktionen bis zur vollen sozialen Integration oder der Wahrnehmung von Führungsfunktionen. Diese informellen Führer wandern später zum Teil in andere rechtsextremistische Gruppierungen ab. In Bayern sind, wie im Vorjahr, rund 900 Skinheads mit rechtsextremistischem Hintergrund bekannt. Neue Szenen, in denen rechtsextremistisches Gedankengut artikuliert wird, wurden in Krumbach und Altötting/Tüßling bekannt. Der Schwerpunkt der Gewalttaten lag erneut in den Großräumen München und Nürnberg. Ehemals gefestigte regionale Szenen lösten sich auf, andere entstanden neu. Dies gilt insbesondere für den schwäbischen Raum mit der neu gegründeten Gruppierung "White Power Schwaben". Die Skinheads sind kommunikativ sehr mobil und in der Lage, in kürzester Zeit gemeinsam Aktionen bzw. Veranstaltungen durchzuführen. Bei äußerst konspirativer Vorbereitung von Großveranstaltungen werden Hunderte von Skinheads in eine vorher bestimmte Region dirigiert. Erst unmittelbar vor Veranstaltungsbeginn wird die konkrete Örtlichkeit, zum Teil über Mobiltelefone, bekannt gegeben. Damit erreichen die Skinheads, dass auch die Sicherheitsbehörden erst relativ spät den tatsächlichen Veranstaltungsort erfahren und geeignete Gegenmaßnahmen treffen können. Schwerpunkte im Skinhead-Spektrum in Bayern sind nach wie vor die Großräume München und Nürnberg. Im Großraum Nürnberg ist die politisch aktivste Skinhead-Gruppierung die "Fränkische Aktionsfront" (F.A.F.). Dahinter verbergen sich führende Skinheads aus der Rechtsextremismus 77 Nürnberger Szene, die enge Kontakte zum Redaktionskollektiv des Fanzines "Landser" und zum dortigen NPD-Kreisverband, insbesondere zum Landesvorsitzenden Ralf Ollert, pflegen. Nach dem "Konzeptpapier der F.A.F." handelt es sich bei der Gruppierung um ein politisches regionales Forum für alle Männer und Frauen, ungeachtet ihrer eigenen oft unterschiedlichen Weltanschauungen, die sich im Nationalen Widerstand in Deutschland organisieren und im Großraum Franken aktiv sind. Einige Aktivisten und Sympathisanten der F.A.F. fielen im Januar in einer Gaststätte in Nürnberg mit Parolen wie "Sieg Heil" auf. Gegenüber den einschreitenden Polizeibeamten verhielten sie sich besonders aggressiv, so dass die Situation nur mit einem größeren Polizeiaufgebot bewältigt werden konnte. Am 22. Mai wurden in Forchheim Aufkleber mit der Aufschrift "Den Zionismus gemeinsam bekämpfen!", "Sag nein zum System" und "Nationaler Widerstand ist machbar" festgestellt. Die Aufkleber waren unterzeichnet mit "Fränkische Aktionsfront, Kontakt: IG 'WIR'". Die F.A.F. beteiligte sich sowohl am 17. August an der Gedenkfeier zum 15. Todestag von Rudolf Heß als auch im Herbst 2002 an den Demonstrationen gegen die "Wehrmachtsausstellung" in München. Dabei wurden enge Kontakte der F.A.F. zur Kameradschaft Süd, einer von führenden Neonazis und Skinheads geprägten Organisation im Großraum München, festgestellt. 4.4 Anziehungskraft für Jugendliche Die Anziehungskraft dieser Szene insbesondere auf männliche Jugendliche hält an. Die Beweggründe, die junge Menschen in diese Subkultur treiben, sind vielfältig: jugendliche Protesthaltung, Provokation und Tabubruch, die gesamtgesellschaftliche Entwicklung mit den häufigen Folgen einer Entwurzelung und zunehmenden Entfremdung vom Elternhaus, Perspektivlosigkeit in Verbindung mit wirtschaftlichen Problemen und tatsächlichem oder befürchtetem sozialem Abstieg. Hinzu kommt das durch die Szene vermittelte Gemeinschaftserlebnis und das daraus folgende Gefühl eigener Stärke und Anerkennung in einer sozialen Gruppe. Den Jugendlichen werden 78 Rechtsextremismus einfache Erklärungen und einfache Lösungen für komplexe Probleme angeboten. Skinheads entstammen zu einem erheblichen Teil, aber nicht ausschließlich, den unteren sozialen Schichten. Die meisten Skinheads finden sich in der Altersgruppe von 16 bis 24 Jahren. Ältere Szeneangehörige sind die Ausnahme. Der Anteil der unter 16 Jahre alten Skinheads wächst ständig; die so genannten "Jungglatzen" sind erst 12 bis 13 Jahre alt. Auch Mädchen, die Reenes, gehören dieser Subkultur an, sind jedoch zahlenmäßig in der Minderheit. Ihr Anteil beträgt je nach Szene bis zu 20%. Die rechtsextremistische Skinhead-Szene erfährt zudem seit Jahren verstärkt Zulauf durch Jugendliche, die sich für Skinhead-Musik als Stilrichtung der Rockmusik interessieren. Dieser Bereich ist somit auch für unpolitische Jugendliche attraktiv. Daneben finden manche Jugendliche Gefallen an dem in dieser Szene üblichen exzessiven Lebensgenuss einschließlich des enormen Alkoholkonsums unter dem Motto "Fun & Froide". Die Grenzen zur eindeutig rechtsextremistisch geprägten Skinhead-Szene sind deshalb vielfach fließend. 4.5 Skinhead-Musik und Skinhead-Magazine Die Skinhead-Musik vermittelt die subkulturellen Botschaften der Skinhead-Szene. In den Liedern werden Eigenverständnis und Abgrenzung der Szene gegenüber der Gesellschaft beschrieben, Kritik am Establishment formuliert und andere politische Themen aufgegriffen. Rechtsextremistische Skinhead-Bands verbreiten in ihren Liedtexten neonazistische Ideologiefragmente und rufen zum Hass gegen Skinhead-Feindbilder wie Ausländer, "Linke" und Juden auf. In Bayern bestehen nach wie vor zehn derartige Musikgruppen, die teilweise Konzertauftritte im Inund Ausland absolvieren. Skinhead-Musik wird daneben auch von sechs (2001: fünf) rechtsextremistischen Tonträgervertrieben angeboten. Von bayerischen Skinhead-Bands wurden drei Tonträger, wie auch im Jahr 2001, neu produziert. Die Zahl der Skinhead-Konzerte in Bayern stieg auf elf gegenüber vier im Vorjahr. Eine Begründung für den Anstieg liegt darin, dass Skinhead-Konzerte als gewöhnliche Geburtstagsfeiern oder Tanzveranstaltungen getarnt und angemeldet werden und somit auch ein behördliches Verbot in einigen Fällen nicht ausgesprochen werden konnte. Rechtsextremismus 79 Das Konzert mit den meisten Teilnehmern fand am 31. März in Wilhermsdorf, Landkreis Fürth, statt. Für das Konzert, das von Mitgliedern der "Bayerischen Hammerskin-Sektion" organisiert wurde und in einer Maschinenhalle stattfand, waren zwei deutsche und drei amerikanische Skinhead-Bands angekündigt worden. Die Bands, die jeweils etwa eine Stunde spielten, vermieden es, strafbare Texte darzubieten. Nach Intervention der Polizei traten die drei amerikanischen Bands nicht auf. Die Veranstaltung, an der etwa 500 Besucher teilnahmen, wurde gegen 23.00 Uhr durch die Einsatzleitung der Polizei beendet. Bei den übrigen Skinhead-Konzerten wurden zwischen 50 und 300 Teilnehmer festgestellt. Mit den Aktivitäten rechtsextremistischer Skinhead-Bands beschäftigen sich auch die Fan-Magazine, auch "Fanzines" oder "Zines" genannt. Durch Interviews und Bandvorstellungen wird diesen ein Forum zur ausführlichen Selbstdarstellung gegeben. Erlebnisberichte aus der Szene über Konzertveranstaltungen, Feste und gemeinsame Aktivitäten festigen zudem das Zusammengehörigkeitsgefühl der Szene. Weiterer Bestandteil vieler Fanzines sind die ausführlichen Rezensionen sowie Bestelladressen für Tonträger, andere Fanzines und diverse Szene-Artikel wie z.B. T-Shirts, Buttons oder Aufkleber. Fanzines erreichen Auflagenhöhen von bis zu 1.000 Stück. Häufig enthalten sie kein Impressum; die Kontakte erfolgen über Postfachadressen. In Bayern werden derzeit drei (2001: fünf) verschiedene rechtsextremistische Fanzines herausgegeben. Die aus Schwabach stammende Publikation "Der Braune BÄR" erschien nach zweijähriger Pause im Mai als Doppelausgabe. Themen sind Interviews und Konzertbeiträge über nationale und internationale Skinhead-Bands, Berichte über Demonstrationen und auch politische Beiträge zu neonazistischen Themen. Das aus Bamberg stammende Magazin "Lokalpatriot" verfügt als einziges bayerisches Fanzine über eine eigene Homepage im Internet. Diese Alternative zur Verbreitung der Fanzines hat für die Herausgeber viele Vorteile. Zum einen liegen die Kosten für die Einrichtung einer neuen Homepage weit unter den herkömmlichen Druckkosten, zum anderen können die ins Internet eingestellten Fanzines weltweit abgerufen werden und sind damit einem breiten, weit über die Szene hinausgehenden potenziellen Interessentenkreis zugänglich. Hinzu kommt, dass durch den freien und relativ problemlosen Zugang zum Internet die Hemmschwelle gerade bei Jugendlichen zum Konsum solcher Schriften sinkt. 80 Rechtsextremismus 4.6 Verbindungen rechtsextremistischer Skinheads zur NPD Nach wie vor halten einzelne Skinhead-Szenen engen Kontakt zur NPD. Dies zeigte sich auch bei der Demonstration der NPD am 1. Mai in Fürth. Unter den rund 350 Teilnehmern waren auch zahlreiche Skinheads. Insbesondere die F.A.F. hatte bayernweit mit Plakataktionen für diese Demonstration mobilisiert. Neben der F.A.F. beteiligten sich auch Skinheads aus Bayreuth, Erlangen/Höchstadt, Fürth, Ingolstadt, Memmingen, München, Regensburg, Schweinfurt und Straubing. Des Weiteren nutzt die NPD gezielt die Anziehungskraft der Skinheads für ihre Wahlkampfveranstaltungen und Rekrutierungsmaßnahmen. Insbesondere in einer Gaststätte in Salching, Landkreis Straubing-Bogen, fanden mehrere einschlägige Veranstaltungen statt. Vor bis zu 100 Teilnehmern traten auch jeweils Skinhead-Bands auf. Die Veranstaltungen verliefen ohne Störungen. 4.7 Strafverfahren, Urteile und Exekutivmaßnahmen Deutsche und slowakische Polizeikräfte durchsuchten am 6. und 7. Februar zahlreiche Wohnund Geschäftsräume bei Herstellern und Vertreibern rechtsextremistischer Skinhead-Musik. Die staatenübergreifende Polizeiaktion richtete sich gegen die Verantwortlichen der "Agentur für Kommunikation" (AfK) in Kronach mit einer Niederlassung in der Slowakei und den Inhaber des Versandund Ladengeschäfts "Sonnentanz" mit zahlreichen Zweigstellen in sechs Städten Sachsens. In Bayern durchsuchte die Polizei in Kronach eine bis 1999 als Geschäftsadresse genutzte Wohnung und beschlagnahmte dort zahlreiche Geschäftsunterlagen. Bei den Durchsuchungsmaßnahmen in Sachsen wurden rund 3.000 Tonträger aus Lieferungen der AfK, ein Computer, verschiedene Datenträger und umfangreiche Geschäftsunterlagen sichergestellt. Das Landgericht Dresden verurteilte den am 6. Februar festgenommenen Geschäftsführer am 19. Dezember unter anderem wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Volksverhetzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren. Durch die Exekutivmaßnahmen und das Urteil verlor die Skinhead-Szene wichtige Ansprechpartner für strafrechtlich relevante Musikproduktionen. Die AfK besaß Geschäftskontakte unter anderem nach Schweden, Ungarn, Italien, Thailand und Taiwan. Mehrere deutsche Vertreiber strafbarer rechtsextremistischer Skinhead-Musik, gegen die in den Rechtsextremismus 81 letzten Jahren Exekutivmaßnahmen durchgeführt wurden, hatten mit der AfK zusammengearbeitet. Aufgrund eines Ersuchens des Landeskriminalamts Hannover wurde am 10. April der 27-jährige Betreiber (ehemals führender Aktivist der seit dem 14. September 2000 verbotenen Skinhead-Organisation "Blood & Honour") des Versandhandels "Showdown Records" in Gundelsheim, Landkreis Bamberg, festgenommen. Dabei wurden 60 CDs der verbotenen Organisation "Blood & Honour" sichergestellt. Am 23. Mai durchsuchten Polizeibeamte erneut die Räume des Versandhandels "Showdown Records"; dabei wurden weitere CDs, LPs und ein PC beschlagnahmt. Am 25. April führte die Polizei im Auftrag der Staatsanwaltschaft Halle/Sachsen-Anhalt Exekutivmaßnahmen gegen 32 Personen der rechtsextremistischen Skinheadund Neonazi-Szene durch. Sie stehen im Verdacht, die im September 2000 verbotene Skinhead-Organisation "Blood & Honour" fortzuführen. Betroffen waren insgesamt 43 Objekte in sieben Bundesländern, darunter auch eine Wohnung und ein Fahrzeug in Bayern. Insgesamt stellte die Polizei in Wohnungen, an Arbeitsplätzen, in Fahrzeugen und Postfächern mehrere Computer, Mobiltelefone, Notizbücher und Kontounterlagen, rund 1.000 Tonträger und Propagandamaterial von "Blood & Honour" sicher. Daneben wurden auch Waffen und Waffenteile sichergestellt. Hierzu wurden gesonderte Ermittlungen eingeleitet. Auslöser für diese Exekutivmaßnahmen waren insbesondere zwei Skinhead-Konzerte in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt, die nach dem Verbot am 14. September 2000 offen als "Blood & Honour"-Veranstaltungen deklariert waren. 5. Rechtsextremistisch motivierte Straftaten 5.1 Gewalttaten Bundesweit stellten Gewalttaten mit erwiesener oder zu vermutender rechtsextremistischer Motivation nach wie vor den Schwerpunkt extremistischer Gewalttaten. Von insgesamt 1.160 (2001: etwa 1.550) extremistischen Gewalttaten waren 725 (2001: 709) rechtsextremistisch motiviert. In Bayern verringerte sich die Gesamtzahl der rechtsextremistischen Gewalttaten deutlich auf 51 (2001: 72); das sind rund 7 % der bundesweit registrierten Delikte. Schwerpunkt der Gewalttaten waren wie in den Vorjahren fremdenfeindlich motivierte 82 Rechtsextremismus Straftaten mit 30 Delikten und 13 Angriffe auf politische Gegner. Zwei Gewalttaten lag eine antisemitische Motivation zugrunde. Die rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten sind überwiegend der äußerst gewaltbereiten Skinhead-Szene zuzurechnen. 64 Tatverdächtige gehörten der Skinhead-Szene an. Von 120 ermittelten Tatverdächtigen waren 90 zur Tatzeit jünger als 21 Jahre. Der Anteil der erstmals in Erscheinung getretenen Gewalttäter liegt bei 78 % (93 Tatverdächtige). Die Gewalttaten wurden ganz überwiegend nicht von Einzeltätern, sondern mit anderen gemeinsam begangen. Dabei entstand der Tatentschluss vielfach spontan aus gruppendynamischen Prozessen, gefördert durch Alkohol und Musik mit rechtsextremistischen Texten. Räumliche Schwerpunkte waren die Großstadtregionen München und Nürnberg. Rechtsextremistisch motivierte Gewalttäter sind überwiegend nicht in politischen Gruppen oder Parteien organisiert. Eine überregionale Steuerung durch rechtsextremistische Organisationen konnte in keinem Fall festgestellt werden. Rechtsterroristische Strukturen sind in Bayern nicht bekannt geworden. Das typische Ablaufmuster für rechtsextremistisch motivierte Gewalt ist gleich geblieben. Nach gezielten anfänglichen Provokationen der Angreifer kommt es bei geringstem Anlass zu Tätlichkeiten und massiver Gewaltanwendung gegen die Opfer. Beispiele für die im Berichtszeitraum verübten Gewalttaten sind folgende Vorfälle: Am 4. Mai randalierten in Nürnberg etwa zehn Personen aus der rechtsextremistischen Szene und griffen drei Beschäftigte eines Schmuckgeschäfts an. Ein Beschäftigter, ein pakistanischer Staatsangehöriger, wurde leicht verletzt. Fünf Täter im Alter zwischen 15 und 22 Jahren konnten ermittelt werden. Am 20. Mai beschimpften in Cham zunächst unbekannte Täter einen Spätaussiedler als "Scheiß Russen". Anschließend stießen vier bis fünf der Angreifer das Opfer zu Boden und traten auf es ein. Die Polizei konnte fünf Tatverdächtige im Alter von 18 bis 21 Jahren ermitteln, die dem Umfeld der rechtsextremistischen Kameradschaft Cham/Roding zuzurechnen sind. Am 7. Juni wurde in Landshut ein 25-jähriger irakischer Staatsangehöriger aus dem Auto heraus vom Beifahrer eines PKW angesprochen Rechtsextremismus 83 und nach einer Straße befragt. Da der Angesprochene keine Auskunft geben konnte, schoss der Beifahrer dem Iraker mit einer Gaspistole ins Gesicht. Am 16. August wurden in Ansbach zwei Nichtsesshafte von einem 28-jährigen Skinhead-Mitläufer und einem 21-jährigen Lageristen in einem Bushäuschen niedergeschlagen und einer um seine Jacke beraubt. Ein Geschädigter erlitt einen Nasenbeinbruch. Die Täter konnten festgenommen werden. Auf dem Oktoberfest in München beleidigten am 4. Oktober zwei angetrunkene 20-jährige Deutsche den Geschäftsführer eines Glückshafenstands, dessen Personal T-Shirts mit der Aufschrift IKG (Israelitische Kultusgemeinde) und einem Davidstern trugen, mit den Worten "Judenschwein", "Scheiß Israel" und "Scheiß Juden". Beim Entfernen vom Glückshafen warf einer der Täter einen Bierkrug in den Stand und verfehlte dabei einen Losverkäufer nur knapp. Anschließend zeigten sie den "Hitler-Gruß". Als der Losverkäufer die beiden verfolgte, traktierten sie ihn mit Fußtritten. Die beiden Tatverdächtigen konnten noch auf dem Oktoberfest festgenommen werden. Während der Inhaftierung auf der Oktoberfestwache zündete einer der beiden eine Rettungsdecke aus dem Zelleninventar an. Am 5. Oktober beleidigten sechs Personen, die der Skinhead-Szene zuzuordnen sind, auf dem Oktoberfest in München einen aus dem Senegal stammenden Beschäftigten mit den Worten "Neger, geh nach Hause, Ausländer geh weg, was machst du Neger hier". Vier Personen aus dieser Gruppe heraus schlugen auf den Senegalesen ein und verletzten ihn. Die Täter konnten festgenommen werden. Am 29. November gerieten zwei Skinheads in Wörth a.d. Isar, Landkreis Landshut, mit einem jugoslawischen Asylbewerber in Streit. Sie beschimpften das Opfer und bestritten sein Aufenthaltsrecht. Unter einem Vorwand verließen die Skinheads die Wohnung, in der sich der Streit zugetragen hatte, mehrmals und zündeten dabei den PKW des Opfers an. Die Tatmittel hatten sie aus der Wohnung mitgenommen. Das Fahrzeug brannte aus; es entstand Sachschaden in Höhe von 5.000 EUR. Am 8. Dezember griffen vor einem Lokal in Waischenfeld, Landkreis Bayreuth, fünf dem äußeren Anschein nach der Skinhead-Szene zuzurechnende unbekannte Täter drei Deutsche tätlich an. Die drei Angegriffenen erlitten Verletzungen im Bauchund Brustbereich. 84 Rechtsextremismus Daneben wurde auch das Fahrzeug eines der Opfer beschädigt. Während der Auseinandersetzung hatten die Skinheads die Opfer mit den Worten "Drecksjuden" und "Judensau" beschimpft. 5.2 Sonstige Straftaten Die Gesamtzahl der in Bayern bekannt gewordenen sonstigen neonazistischen, antisemitischen und rassistischen Straftaten beträgt 1.369 (2001: 1.768), darunter 250 (2001: 339) fremdenfeindlich motivierte Delikte. Dabei handelte es sich wie im Vorjahr vielfach um Sachbeschädigung, Nötigung, Bedrohung, Volksverhetzung (insgesamt 440 Delikte) und insbesondere das Verbreiten von Propagandamitteln bzw. Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (insgesamt 843 Delikte). So wurden Parolen wie "Sieg Heil" und "Ausländer raus" gerufen und antisemitische Pamphlete verbreitet. Anonyme Schmierschriften wie "Heil Hitler", "Deutschland den Deutschen", "Kanakenpack" und " Tod den Juden!" wurden vielfach in Verbindung mit Hakenkreuzen und SS-Runen angebracht. Wie schon im Vorjahr bedienten sich Rechtsextremisten wiederholt des Short-Message-Systems (SMS) der Mobilfunkbetreiber, um neonazistische Propaganda an Besitzer von Mobiltelefonen zu übermitteln. So versandte ein 22-jähriger Deutscher am 18. Februar aus Abensberg, Landkreis Kelheim, eine SMS-Nachricht mit einem Hakenkreuz, dem Portrait von Adolf Hitler sowie den Parolen "Sieg Heil" und "Ein Volk, ein Reich, ein Führer". Am 4. Juli stellte eine Lehrkraft in Bamberg während des Unterrichts auf den Displays der Handys von mehreren Schülern das Bildnis von Hitler, ein Hakenkreuz sowie die Parole "Heil Hitler" fest. Weitere Bildmitteilungen enthielten die Parole "Ein Volk, ein Reich, ein Führer, Sieg Heil" sowie die Worte "Scheiß Zecken, Scheiß Ausländer". Beispiele für die im Berichtszeitraum verübten Straftaten sind auch folgende Vorfälle: Seit 12. Februar wurden in Nürnberg Flugblätter mit der Überschrift "Gesichter des Grauens" verbreitet, die gegen den Vorsitzenden der israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg und einen weiteren Stadtratskandidaten der SPD agitierten und zur Wahl der "Bürgerinitiative Ausländerstopp" bei der Kommunalwahl 2002 aufriefen. Darin hieß es, diese beiden "fremdrassigen Ausländer", die seit Jahren "in unserer schönen Stadt der Reichsparteitage" wohnten, erdreisteten sich Rechtsextremismus 85 mit ihrer Kandidatur, die "verbrecherische Einwanderungspolitik der Bundesregierung auch hier in Nürnberg umzusetzen". Presserechtlich verantwortlich zeichnete ein nicht existentes "Komitee zur Rehabilitierung des Frankenführers Julius Streicher, Adolf-Hitler-Platz 20/4, Nürnberg". Unbekannte Täter sprühten in der Nacht zum 6. April in Marktheidenfeld, Landkreis Main-Spessart, Hakenkreuze und die Worte "Tod den Juden". Eine Häufung ähnlicher Schmierereien im Landkreis Main-Spessart wurde Mitte März bis Anfang April vor allem im Raum Lohr a.Main festgestellt. In der Nacht zum 11. April wurde in Bamberg einen Beutel mit roter Flüssigkeit auf den Gedenkstein der ehemaligen jüdischen Synagoge geworfen. Mitte April beschmierten unbekannte Täter drei Ruhebänke an einem Wanderweg bei Pottenstein, Landkreis Bayreuth, mit Davidsternen und Parolen wie "Wir kaufen nicht bei Juden", "Es lebe die PLO", "Nieder mit dem Judenpack", "Diese Bank ist nicht für Juden" und "Dachau macht die Tore auf, der Jude kommt im Dauerlauf". In der Nacht zum 27. April wurden auf einem jüdischen Friedhof in der Nähe von Landsberg am Lech zwei Grabsteine umgeworfen und eine Marmortafel beschädigt. Auf dem Gelände einer ehemaligen Außenstelle des KZ Dachau (Lager VII Kaufering), das heute als "Europäische Holocaust-Gedenkstätte" fungiert, wurden zwölf Granitsteine ohne Aufschrift (Symbole der zwölf Stämme Israels) und sechs Gedenksteine umgestoßen. In der Zeit vom 25. April bis 29. Mai versandten unbekannte Täter in 16 Fällen insgesamt 19 Briefe an Schulen, karitative Einrichtungen und Kommunalpolitiker mit Bemerkungen wie "Hitler hatte Recht! Das ist richtig. Diese außergewöhnliche Gestalt unserer Zeit hatte wirklich Recht", "Er hatte recht, als er das Banner der arischen Wahrheit aufrichtete gegen die Lügen und Verdorbenheit der Fremden, KZ sofort schließen, Schluss mit Antideutschhetze". Unbekannte Täter sprühten in der Nacht zum 4. Juni in Würzburg einen Davidstern und Parolen wie "Möllemann hat recht" und "Auch Juden sind Mörder - Israel die Geisel der Welt!" Zwischen dem 23. September und 7. Oktober wurden bei einer Bankfiliale in Augsburg 20 Banknoten eingezahlt, auf deren Rückseite ein Hakenkreuz mit Reichsadler gestempelt war. 86 Rechtsextremismus Am 4. November kontrollierte die Polizei in der Autobahnrastanlage Haidt-Süd einen PKW mit österreichischem Kennzeichen. Dabei wurden 138 CDs mit rechtsextremistischem Inhalt, ein Orden mit Hakenkreuz und ein Lichtbild, auf dem Adolf Hitler mit einem Schäferhund abgebildet war, sichergestellt. Unbekannte Täter schmierten in der Nacht zum 8. November in Mühldorf a. Inn Hakenkreuze und Parolen wie "Scheiß Ausländer, Kanacken raus" und "Alles, was nicht deutsch ist, gehört vergast." 6. Revisionismus 6.1 Ziele Der Revisionismus, der die Geschichtsschreibung über die Zeit des Dritten Reichs ändern will, ist zu einem Bindeglied zwischen den unterschiedlichsten rechtsextremistischen Strömungen geworden. Seinen Repräsentanten geht es allerdings nicht um die Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern gezielt um die mittelbare Rechtfertigung bzw. Aufwertung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft durch einseitige, relativierende oder verharmlosende Darstellung des NS-Regimes. Im Mittelpunkt der revisionistischen Agitation stehen die Leugnung des nationalsozialistischen Massenmords an europäischen Juden in Gaskammern deutscher Konzentrationslager während des Zweiten Weltkriegs (Holocaust) sowie die Behauptung, Deutschland trage keine Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Auf diese Weise soll das auf seriöser Forschung beruhende Geschichtsbild propagandistisch unterminiert werden, um die Deutschen von einem vermeintlich aufgezwungenen "Schuldkomplex" zu befreien. Revisionisten machen sich zunutze, dass das Wissen über den Nationalsozialismus gerade bei Jugendlichen oft nur bruchstückhaft vorhanden ist. 6.2 Entwicklung und Träger der Revisionismus-Kampagne Revisionismus war von Anfang an eine internationale Erscheinung, wobei der Anstoß zunächst aus Frankreich und den USA kam. Seit Beginn der 50er Jahre erschien eine große Anzahl von Büchern, die den historischen Nachweis führen wollten, dass es entgegen der Feststellung seriöser Forscher und Zeitzeugen keine Tötung von Juden in Gaskammern gegeben habe. Hervorzuheben ist hierbei das 1989 ver- Rechtsextremismus 87 öffentlichte "Gutachten" des Amerikaners Fred A. Leuchter, wonach es in Auschwitz und einigen anderen Konzentrationslagern aufgrund der technischen Gegebenheiten nicht möglich gewesen sei, Menschen in Gaskammern zu töten. Dieselbe Behauptung stellte der Diplomchemiker Germar Scheerer geb. Rudolf, ein ehemaliges REP-Mitglied, in seinem 1994 verbreiteten "Gutachten über die Bildung und Nachweisbarkeit von Zyanidverbindungen in den 'Gaskammern' von Auschwitz" auf. Im April 2001 erschien in seinem Verlag "Castle Hill Publishers" in Hastings/Großbritannien eine überarbeitete und stark erweiterte Zweitauflage dieses auch als "Rudolf-Gutachten" bezeichneten Pamphlets; es wurde am 12. Februar von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert. Die international aktivsten Revisionisten weichen zunehmend in Länder aus, in denen Strafbestimmungen gegen das Verbreiten und die Veröffentlichung revisionistischen Gedankenguts fehlen. So setzte sich der deutsche Revisionist Germar Scheerer im Frühjahr 1996 nach einer Verurteilung unter anderem wegen Volksverhetzung ins Ausland ab, wo er seine revisionistische Agitation fortsetzte. Der wohl bekannteste Vertreter des Revisionismus ist der international agierende britische Schriftsteller David Irving, der 1993 aus Deutschland ausgewiesen wurde. Gegen ihn besteht seither ein Einreiseverbot. Ein weiterer Protagonist des Revisionismus ist der deutsche Staatsangehörige Ernst C. F. Zündel, der 1958 nach Kanada übersiedelte. In Toronto besitzt Zündel den Verlag Samisdat Publishers Ltd. Er unterhält internationale Kontakte und verfasst und verschickt zahlreiche Publikationen, darunter in erster Linie den "Germania"-Rundbrief, der neonazistische und antisemitische Thesen enthält und auch über das Internet abrufbar ist. Im Internet erscheint ferner seit mehreren Jahren der Beitrag "Good morning from the Zündelsite", der - so Zündel - monatlich von mehr als 10.000 Interessenten eingesehen wird. Dort sind unter anderem Bücher, die in Deutschland der Beschlagnahme unterliegen bzw. von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften indiziert wurden, mit vollem Text eingestellt, darunter "Der Holocaust auf dem Prüfstand" von Jürgen Graf und "Starben wirklich sechs Millionen?" von Richard Harwood. Zündel ist im Vorjahr nach eigenen Angaben in die USA übergesiedelt, da er in Kanada wegen der Einstellung der "Zündelsite" ins Internet strafrechtlich verfolgt wurde. 88 Rechtsextremismus Das 1979 unter rechtsextremistischer Beteiligung gegründete Institute for Historical Review (IHR) mit Sitz in Kalifornien/USA pflegt Verbindungen - auch über das Internet - zu Rechtsextremisten in allen Kontinenten. Mit seiner Zeitschrift "Journal of Historical Review" und vor allem mit seinen jährlichen Kongressen bietet es eine Plattform, um gegen die Ergebnisse der zeitgeschichtlichen Forschung zu polemisieren. Das monatlich im Verlag des britischen Rechtsextremisten Antony Hancock in Uckfield erscheinende "National Journal", das ebenfalls mit einer Homepage im Internet vertreten ist, betreibt massive Hetze gegen Ausländer und Juden und leugnet oder bagatellisiert den Holocaust. Der Herausgeberkreis führt die Bezeichnung "Die Freunde im Ausland" (DFiA). Die Schrift behauptete, in Deutschland könne nur jemand Bundeskanzler werden, der von den jüdischen Machtzentren als "israeltauglich" befunden werde. Die 1985 in Antwerpen gegründete, in Berchem/Belgien ansässige Organisation Vrij Historisch Onderzoek (V.H.O.) hat sich inzwischen zu einer bedeutenden Vertreiberin revisionistischen Propagandamaterials entwickelt. Sie verfügt über weltweite Kontakte zu führenden Revisionisten und bietet nahezu alle wichtigen, in Deutschland teilweise beschlagnahmten oder indizierten revisionistischen Veröffentlichungen an. Seit Anfang 1997 gibt die V.H.O. die revisionistische Zeitschrift "Vierteljahreshefte für freie Geschichtsforschung" (VffG) heraus. Autoren sind unter anderen David Irving, Robert Faurisson und Germar Scheerer; letzterer fungiert seit September 1999 auch als Herausgeber. Die Schrift rechtfertigt die Politik des Dritten Reichs und leugnet den Völkermord an den europäischen Juden. Ferner polemisiert sie gegen die angeblich ungerechtfertigte Verfolgung der Revisionisten. 7. Verbindungen zum ausländischen Rechtsextremismus Der amerikanische Neonazi und Propagandaleiter der NSDAP-Auslandsund Aufbauorganisation (NSDAP-AO) Gary Rex Lauck tritt nach seiner Haftentlassung und Abschiebung in die USA im März 1999 nach wie vor durch den Versand neonazistischer Propagandamittel in Erscheinung. Über die Homepage der NSDAP-AO im Internet können Hakenkreuzaufkleber, Fahnen und Abzeichen des Dritten Reichs, Filme und Bücher aus der NS-Zeit (z.B. "Jud Süß", "Der ewige Jude" "Mein Kampf") sowie CDs mit Marschmusik und Hitler-Reden Rechtsextremismus 89 bestellt werden. Das Angebot enthält ferner Computerspiele wie "KZ-Rattenjagd" und "Der SA-Mann" zum kostenlosen Herunterladen. Seit Anfang April ist auf der Internetseite der NSDAP-AO ein neues Computerspiel "Die Säuberung" aufrufbar. Ziel dieses Spiels ist es, mit einem Ball und einem Schläger sechseckige Symbole zu treffen, die mit einem Davidstern gekennzeichnet sind. Den Symbolen ist ein Hitler-Bild mit der Parole "Adolf Hitler ist der Sieg!" unterlegt. In der deutschen Internet-Ausgabe der "NS-Nachrichten der NSDAP/AO" teilte Lauck mit, im Jahre 2002 habe "unsere Netzseite ungefähr 25 Millionen Treffer gehabt"; Hitlers Buch "Mein Kampf" sei "50.000 mal heruntergeladen" worden. In der ersten Ausgabe des NSDAP-AO-Sprachrohrs "NS Kampfruf" im Jahr 2002 berichtete Lauck, dass die NSDAP-AO-Netzseite im Januar drei Millionen Treffer erzielen konnte. Unter der Bezeichnung "Neo Germania - Das neue Reich" sind "Hasslisten" mit Personen-Daten und E-Mail-Adressen aus mehreren Bundesländern veröffentlicht. Die genannten Personen werden als "Feinde" der "Neo Germania - Das neue Reich" bezeichnet. Als Domain-Inhaber wurde Gary Rex Lauck festgestellt. 90 Rechtsextremismus 8. Übersicht über erwähnenswerte rechtsextremistische Organisationen und Verlage sowie deren wesentliche Presseerzeugnisse Organisation (einschließlich Mitglieder Ende 2002 Publikationen (einschließlich Gründungsdatum und Sitz) Bayern Deutschland Erscheinungsweise u. Auflage) 1. Parteien einschließlich integrierter Vereinigungen Die Republikaner (REP) 3.000 9.000 Der Republikaner 26.11.1983, Berlin monatlich, 20.000 Nationaldemokratische Partei 850 6.100 Deutsche Stimme (DS) Deutschlands (NPD) monatlich, 10.000 28.11.1964, Stuttgart Deutsche Stimme EXTRA anlassbezogen Junge Nationaldemokraten (JN) 70 350 Der Aktivist unregelmäßig Nationaldemokratischer HochschulFunktionärsbund (NHB) gruppe 1967, Nürnberg Deutsche Volksunion (DVU) 1.400 13.000 (Publizistische Sprachrohre: 05.03.1987, München siehe DSZ-Verlag) Deutsche Volksunion e.V. einschließlich (siehe DVU) Aktionsgemeinschaften 16.01.1971, München 2. Neonazistische Organisationen und Zusammenschlüsse Hilfsorganisation für nationale 70 600 Nachrichten der HNG politische Gefangene und deren monatlich, 600 Angehörige e.V. (HNG) 02.07.1979, Frankfurt am Main Freizeitverein Isar 96 e.V. (FZV) 15 1996, München Kameradschaft Lichtenfels 15 Kameradschaft Schwabach 5 Kameradschaft Süd - Aktionsbüro 25 Süddeutschland (AS) 2001, München Bund Frankenland e.V. - 15 Staatsbürgerliche Runde 1992 NSDAP-Auslandsund Aufbauorganisation NS Kampfruf (NSDAP-AO) zweimonatlich, 500 1972, Lincoln/USA Rechtsextremismus 91 Organisation (einschließlich Mitglieder Ende 2002 Publikationen (einschließlich Gründungsdatum und Sitz) Bayern Deutschland Erscheinungsweise u. Auflage) 3. Sonstige Organisationen Deutsche Liga für Volk und Heimat (DLVH) 60 500 (Inoffizielles Organ: siehe 03.10.1991, Berlin Nation Europa Verlag GmbH) Gesellschaft für Freie Publizistik e.V. (GFP) 40 450 Das Freie Forum 1960, München vierteljährlich, 1.500 Freundeskreis Ulrich von Hutten e.V. 30 280 Huttenbriefe - für Volkstum, Februar 1982, Starnberg Kultur, Wahrheit und Recht zweimonatlich, 4.000 Die Artgemeinschaft - Germanische 10 120 Nordische Zeitung (NZ) Glaubensgemeinschaft wesensgemäßer vierteljährlich, 300 Lebensgestaltung (Artgemeinschaft) Schutzbund für das Deutsche Volk e.V. (SDV) 200 September 1981, München Deutsches Kolleg (DK) Funktionärs1994, Berlin/Würzburg gruppe Deutschland-Bewegung/ 80 150 Friedenskomitee/Deutsche Aufbau-Organisation (DAO) 1990, Starnberg Bürgerinitiative Ausländerstopp (BIA) Einzel2001, Nürnberg personen 4. Skinheads und sonstige militante Rechtsextremisten 900 10.400 einschließlich ihrer örtlichen Gruppierungen (z.B. Fränkische Aktionsfront -F.A.F.-) 5. Verlage Druckschriftenund Zeitungsverlag GmbH National-Zeitung/Deutsche (DSZ-Verlag), München Wochen-Zeitung (NZ), wöchentlich, 44.000 Nation Europa Verlag GmbH Nation & Europa - 1953, Coburg Deutsche Monatshefte monatlich, 14.500 Verlag Hohe Warte - Franz von Bebenburg KG Mensch und Maß 1949, Pähl zweimal monatlich, 2.000 Denk mit!-Verlag Denk mit! Nürnberg unregelmäßig, 1.000 VGB Verlagsgesellschaft Berg mbH Deutsche Geschichte Stegen zweimonatlich, 10.000 92 Linksextremismus 4. Abschnitt Linksextremismus 1. Allgemeines 1.1 Merkmale des Linksextremismus Das ideologische Spektrum der Linksextremisten reicht von Anhängern des "wissenschaftlichen Sozialismus/Kommunismus" in seiner klassischen Form über Sozialrevolutionäre mit unterschiedlichen diffusen Konzeptionen bis hin zu Anarchisten. Theoretische Grundlagen bilden im Wesentlichen die Werke von Marx und Lenin, aber auch von Trotzki, Stalin, Mao Tse-tung und anderen. Die Bestrebungen der Linksextremisten sind darauf gerichtet, die bestehende Staatsund Gesellschaftsordnung zu beseitigen, die sie als kapitalistisch, rassistisch und imperialistisch ansehen. An deren Stelle solle eine sozialistisch-kommunistische Diktatur oder die Anarchie, eine Gesellschaft frei von jeglicher Herrschaft, treten. Diese Bestrebungen sind verfassungsfeindlich, weil die Ziele und oft auch die Mittel, mit denen sie erreicht werden sollen, gegen die grundlegenden Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verstoßen. Die Aktionsformen der Linksextremisten sind breit gestreut: Sie umfassen öffentliche Veranstaltungen, offene Agitation mittels Zeitungen, Flugblättern, elektronischen Kommunikationsmitteln, ferner Versuche der Einflussnahme in "bürgerlichen" Institutionen bis hin zur Beteiligung an Wahlen. Darüber hinaus gibt es Linksextremisten, die politische Gewalt als ein legitimes und geeignetes Mittel sehen, ihre extremistischen Vorstellungen durchzusetzen. In ihrer Propaganda stellen sich Linksextremisten als Vertreter einer hohen Moral, als Kämpfer gegen Unterdrückung und Verfechter von Frieden und sozialer Gerechtigkeit dar. Ihre politische Praxis zeigt jedoch etwas anderes. Sie missachten demokratische Mehrheitsentscheidungen und das Gewaltmonopol des Staates. Sie setzen sich über das Recht der Menschen auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit hinweg, wenn dieses Recht ihren Interessen entgegensteht. Einige der linksextremistischen Gruppierungen bekennen offen, dass ihre Ziele nur unter Anwendung von Gewalt zu erreichen sind. Teil- Linksextremismus 93 weise verüben sie Gewalttaten oder arbeiten zur Erreichung ihrer Ziele mit Gewalttätern zusammen. Dies verstößt gegen den Grundsatz des Ausschlusses jeglicher Gewaltund Willkürherrschaft und verletzt, wenn sich die Gewalt gegen Personen richtet, das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die wahren Ziele werden oftmals in Aktionsfeldern und Themen eingebunden, die für sich betrachtet nicht extremistisch sind. Durch gewandte Agitation gelingt es Linksextremisten teilweise, den notwendigen Konsens aller Demokraten in der Ablehnung jeder Art politischen Extremismus zu durchbrechen. Für ihre Agitation und Mobilität bei Demonstrationen oder anderen Aktionen nutzen Linksextremisten auch die Vorteile der modernen Kommunikationsmöglichkeiten wie Handy und Internet. Zentrale Agitationsthemen der Linksextremisten waren Neonazismus/Faschismus, Globalisierung, Imperialismus, Auslandseinsätze der Bundeswehr, Rassismus, Asylund Abschiebeproblematik, Arbeitslosigkeit und Sozialversorgung. 1.2 Entwicklung der Organisationen Die Gesamtzahl der Mitglieder linksextremistischer und linksextremistisch beeinflusster Parteien und Gruppierungen in Bayern veränderte sich nicht. Die Zahl der PDS-Mitglieder und -Sympathisanten erhöhte sich jedoch leicht. Die Mitgliederzahl der DKP blieb konstant. 2000 2001 2002 Zahl und Mitgliederstärke Anzahl der Organisationen 40 39 38 linksextremistiMarxisten-Leninisten und scher Organiandere revolutionäre Marxisten sationen in Bayern PDS 650 650 700 DKP 600 600 600 Marxistische Gruppe (MG) 700 700 700 weitere Kernorganisationen 460 410 360 Nebenorganisationen 70 70 70 beeinflusste Organisationen 1.080 1.080 1.080 Autonome, Anarchisten und Sozialrevolutionäre 500 450 450 Linksextremisten insgesamt 4.060 3.960 3.960 94 Linksextremismus Mitglieder 40.000 33.800 30.000 31.100 Deutschland * 20.000 10.000 Bayern 3.465 3.960 0 1993 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 * Die Kurve für die bundesweite Entwicklung beruht auf Zahlen des Bundesamts für Verfassungsschutz, das von den Mitgliedern der PDS nur die der Kommunistischen Plattform (KPF) erfasst. Die PDS hatte im Jahr 2002 insgesamt 77.000 Mitglieder, davon 1.500 in der KPF. Die Zahl der Anhänger autonomer Gruppen blieb ebenfalls unverändert. Sie werden von anderen linksextremistischen Organisationen wie der PDS als Bündnispartner für Aktionen akzeptiert. Die Entwicklung der Zahl linksextremistischer und linksextremistisch beeinflusster Organisationen in Bayern und ihrer Mitgliederstärken ist aus der Übersicht auf Seite 93 dieses Berichts zu ersehen. Erkannte Mehrfachmitgliedschaften sind jeweils nur bei einer Organisation erfasst. 1.3 Linksextremistische Gewalt Die Zahl linksextremistisch motivierter Gewalttaten ist in Deutschland von 750 auf 371 zurückgegangen. In Bayern reduzierte sich die Zahl der Gewalttaten von 39 auf 21. Die linksextremistischen Gewalttaten wurden wieder zu über 80 % von Gruppen und Einzeltätern aus dem gewaltbereiten autonomen und anarchistischen Spektrum begangen. Schwerpunkt mit 16 Gewalttaten waren wie im Vorjahr tätliche Auseinandersetzungen zwischen Linksund Rechtsextremisten. Die Angriffe richteten sich dabei vor allem gegen rechtsextremistische Veranstaltungen. Einzelne Rechtsextremisten wurden auch gezielt angegriffen. Linksextremisten versuchen die Gewalttaten als "Kampf gegen den Faschismus" zu rechtfertigen. Das Thema "Antifaschismus" wird auch in Zukunft eines der wichtigsten Aktionsfelder autonomer Politik und damit auch autonomer Militanz bleiben. Linksextremismus 95 Entwicklung Deutschland Bayern linksextremistisch motivierter 1000 Gewalttaten 900 827 800 750 700 600 500 371 400 300 200 100 39 39 21 0 2000 2001 2002 Ziel der gewalttätig agierenden linksextremistischen Gruppen ist nach wie vor der Staat, dem unterstellt wird, "Faschisten" zu schützen, und die Destabilisierung unserer Staatsund Gesellschaftsordnung, in der sie ein "Instrument zur Durchsetzung weltweiter kapitalistischer und imperialistischer Ausbeuterinteressen" sehen. Die europaweiten "Anti-Globalisierungs-Proteste" mit Aktionen gegen internationale Konferenzen waren gegenüber dem Vorjahr weniger gewalttätig. 2. Marxisten-Leninisten und andere revolutionäre Marxisten Marxistisch-leninistisch ausgerichtete Organisationen und andere revolutionäre Marxisten bemühen sich weiterhin, durch massive Kritik an den "herrschenden Verhältnissen" und Forderungen nach "Fundamentalopposition" ihren sozialistischen und kommunistischen Zielen näher zu kommen. Dabei gelang es nur begrenzt, die unterschiedlichen Ideologien und Strömungen zu bündeln. Die PDS, die nach dem Zusammenbruch des SED-Unrechtsregimes einen neuen Weg des "demokratischen Sozialismus" zu beschreiten vorgibt, versucht, Linksextremisten aller Richtungen zu integrieren. 96 Linksextremismus 2.1 Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) Deutschland Bayern Mitglieder: 77.000 700 Vorsitzende(r): Gabi Zimmer Eva Bulling-Schröter, Reinhold Rückert Umbenennung der SED: 16./17.12.1989 Gründung: 11.09.1990 Sitz: Berlin München Publikationen: DISPUT, PDS-Pressedienst, UTOPIE-kreativ, Mitteilungen der KPF, TITEL Die ehemals in der DDR herrschende Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) hat sich nach der friedlichen Revolution und dem Zusammenbruch ihres Unrechtsregimes nicht aufgelöst. Sie beschloss auf ihrem Sonderparteitag am 16./17.Dezember 1989 in Berlin-Weißensee, sich in "Sozialistische Einheitspartei Deutschlands - Partei des Demokratischen Sozialismus (SED-PDS)" umzubenennen. Auf einer Tagung des Parteivorstands der SED-PDS am 4. Februar 1990 wurde der Parteiname endgültig in Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) geändert. Der 1. Parteitag der PDS am 24./25. Februar 1990 bestätigte die Namensänderung. 2.1.1 Ideologische Ausrichtung Die PDS versteht sich als linke "Strömungspartei" für sozialistische Gruppen und Personen, die die bestehenden politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland kritisieren und ablehnen. Das auf der 1. Tagung des 3. Parteitags der PDS vom 29. bis 31. Januar 1993 in Berlin beschlossene und bis heute gültige Parteiprogramm - ein neues Programm ist in Vorbereitung - stellt fest, die PDS sei ein Zusammenschluss unterschiedlicher linker Kräfte, die - bei allen Meinungsverschiedenheiten - darin übereinstimmten, dass die Dominanz des privatkapitalistischen Eigentums überwunden werden müsse. Die Beseitigung des Kapitalismus, die Überwindung des mit ihm verbundenen politischen Systems der Freiheit und der Demokratie im Sinn unseres Grundgesetzes sowie die Errichtung einer neuen "sozialistischen Gesellschaft" gehören somit, auch wenn die Revolutionsrhetorik des Marxismus-Leninismus vermieden wird, zu den Zie- Linksextremismus 97 len der Partei, die vor allem außerparlamentarisch erreicht werden müssten. Das Bekenntnis der Partei zum außerparlamentarischen Kampf und zum Widerstand gegen die "Herrschenden" und die "gegebenen Verhältnisse" ist mit der Grundidee der parlamentarischen repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes unvereinbar. Die PDS vertritt einen konsequenten Internationalismus und ist dem Erbe von Marx und Engels, den vielfältigen Strömungen der revolutionären und internationalen Arbeiterbewegung sowie anderen revolutionären und "volks-demokratischen" Bewegungen verbunden und dem Antifaschismus verpflichtet. Die Berufung auf Marx und Engels, die historische Entwicklung der Partei sowie die politische Herkunft ihrer Mitglieder aus kommunistischen Organisationen, insbesondere der SED, müssen auch bei der Auslegung ihrer programmatischen Äußerungen berücksichtigt werden. Die PDS verwendet Begriffe wie Demokratie und Menschenrechte, die sie auch schon als SED gebraucht hat. Die Realität der DDR bewies jedoch, dass diese Begriffe dort anders, nämlich freiheitsund demokratiefeindlich, definiert waren. Ursache für die andere Interpretation politischer Begriffe ist deren bewusste Umwidmung im Lehrgebäude des Marxismus-Leninismus, in dessen Denkschule die Mehrheit der Mitglieder der PDS erzogen wurde. Deshalb besitzen die in ihrer Programmatik verwendeten Begriffe eine Doppeldeutigkeit. Die Parteivorsitzende der PDS Gabi Zimmer präsentierte der Öffentlichkeit am 27. April 2001 in Berlin den Entwurf eines neuen Parteiprogramms. Bereits die Präambel formuliert in Anlehnung an das "Manifest der Kommunistischen Partei", dass sich die PDS das Programm in der Tradition der sozialistischen Bewegungen der letzten zweihundert Jahre gebe. Die Rolle der PDS im "kapitalistischen System" der Bundesrepublik wird im Programmentwurf wie folgt beschrieben: "Der moderne Kapitalismus, die Vorherrschaft des 'Nordens' über den 'Süden', das heutige Patriarchat, die exzessive Naturausbeutung und Degeneration der Lebensbedingungen heutiger und zukünftiger Generationen sind Herrschaftsund Ausbeutungsverhältnisse. Durch sie werden die Potenziale dieser neuen gesellschaftlichen Entwicklungsweise im Interesse weniger und auf Kosten anderer angeeignet. Wir wollen diese Verhältnisse verändern und letztlich überwinden." Innerparteilich stieß das Papier trotzdem, vor allem bei orthodox-kommunistischen Kräften, auf heftige Kritik und wurde als "Kniefall vor der SPD" interpretiert. Anlässlich der 1. Tagung des 98 Linksextremismus 8. Parteitags der PDS am 12. und 13. Oktober in Gera erklärte die Parteivorsitzende Gabi Zimmer, eine Redaktionsgruppe werde bis Ende des Jahres 2002 den Programmentwurf überarbeiten; die Verabschiedung des Programms solle im Jahr 2003 erfolgen. Die PDS veranstaltete am 16. und 17. März in Rostock die 3. Tagung des 7. Parteitags, zu der als Gäste Vertreterinnen und Vertreter von 43 Parteien und zwei Organisationen aus 37 Ländern erschienen waren. Ein zentraler Punkt des Treffens war die Zustimmung der 400 Delegierten zu dem PDS-Wahlprogramm für die Bundestagswahl 2002 mit dem Titel "Es geht auch anders: Nur Gerechtigkeit sichert Zukunft!". Das Wahlprogramm der PDS klammerte alle inhaltlichen Streitpunkte in der Partei aus und skizzierte die politischen Verhältnisse in Deutschland in einem Krisenszenario. Damit schürte das Programm - vor allem bezogen auf die Menschen im Osten Deutschlands - Angst vor der Zukunft: "Dem Osten, schon um viele Chancen von 1989 betrogen, droht ein unumkehrbarer Abstieg - die Jugend geht weg. In immer kürzeren Abständen ist Krieg das Instrument der Regierenden in der NATO, um ihre Vorherrschaft in dieser gefährdeten und konfliktreichen Welt durchzusetzen. Statt die Wurzeln des internationalen Terrorismus - Ausbeutung und Unterdrückung, Perspektivlosigkeit und kulturelle Zerstörung - zu beseitigen, werden mit Angriffskriegen und Völkerrechtsbruch weitere Ursachen für ihn gefördert." Die Parteivorsitzende der PDS Gabi Zimmer betonte in ihrer Parteitagsrede, obwohl die Partei teilweise auch in der Regierungsverantwortung sei, halte die PDS an ihrer grundlegenden Kritik an den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen fest. Die PDS wolle die Verhältnisse verändern und schließlich zu einem demokratischen Sozialismus kommen. Wörtlich führte sie aus: "Der große Vorzug moderner sozialistischer Politik besteht darin, dass sie die Instrumentarien des parlamentarischen Systems nutzen kann und sich keineswegs anzupassen braucht." Zur innerparteilichen Debatte um die Bewertung der DDR führte der seinerzeitige PDS-Bundesgeschäftsführer Dr. Dietmar Bartsch aus, niemand solle sein in der DDR gelebtes Leben etwa durch die PDS entwertet oder gar verteufelt sehen. Er habe - wie viele in der PDS - eine emotionale Beziehung zur DDR, die aus den Erfahrungen des Kampfs gegen den Faschismus entstanden sei. Die DDR sei ein höchst legitimer Versuch gewesen, allen Menschen Arbeit, Bildung, Kultur, Gesundheit und Wohnung zu geben. Die PDS stehe allerdings nicht Linksextremismus 99 nur für diesen legitimen Versuch und die humanistischen Ideale, sondern auch für das Scheitern des Versuchs, für die Preisgabe der Ideale - für ein Gesellschaftsmodell, das die Menschen letztlich klar und eindeutig abgelehnt hätten. Anfang September verfassten der ehemalige SED/PDS-Vorsitzende und zurückgetretene Berliner Wirtschaftssenator Dr. Gregor Gysi und der PDS-Europaabgeordnete Dr. Andre Brie einen im PDS-Pressedienst Nummer 37 vom 13. September veröffentlichten offenen Brief an den früheren Vorsitzenden der SPD Oskar Lafontaine. Unter der Überschrift "Wir möchten uns für einen linken Aufbruch engagieren" erläuterten sie ihre Vorstellung, im Zusammenschluss mit der SPD zu einer Modernisierung der Gesellschaft beizutragen: "Es ist an der Zeit, darüber zu reden, ob SPD und PDS in der Lösung dieser Aufgabe auch gemeinsame Verantwortungen und Möglichkeiten haben." Beide Politiker der PDS setzten sich für eine strategische Zusammenarbeit von PDS und SPD ein. Die PDS werde ihren gesellschaftlichen Zielen nur in Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie und den alten und neuen sozialen Bewegungen näher kommen können. Außenpolitisch forderten sie, der "imperialen Weltpolitik" der USA und der Gefahr eines Kriegs gegen den Irak wirksam entgegenzutreten. Dazu sei die Alternative einer "echten gemeinsamen europäischen Außenund Sicherheitspolitik" erforderlich. Die Tatsache, dass die PDS bei der Bundestagswahl am 22. September nur 4 % der Zweitstimmen erreichte, führte im Vorfeld des Geraer Parteitags (vom 12. bis 13. Oktober) zu tief greifenden Diskussionen in der PDS. So schrieb der Bundessprecherrat der Kommunistischen Plattform der PDS (KPF) in der Erklärung "Kraftproben hat es genug gegeben!" am 26. September, der Nicht-Wiedereinzug der PDS in den Deutschen Bundestag gefährde die Existenz der Partei. Der Rücktritt von Dr. Gregor Gysi von seinen politischen Ämtern am 31. Juli habe sich als ein "verhängnisvoller Schritt" erwiesen. Außerdem zeige die Infragestellung des geltenden Parteiprogramms schlimme Auswirkungen. Die PDS stehe am Scheideweg. Die KPF wolle, dass die PDS 2006 als sozialistische Oppositionspartei wieder in den Deutschen Bundestag einziehe. Der PDS Landesverband Bayern schrieb in einem unter anderem an den Parteivorstand sowie die Parteitagsdelegierten gerichteten offenen Brief unter der Überschrift "Erneuerung in Kontinuität", der Weg 100 Linksextremismus der Anpassung an die SPD und den Zeitgeist werde der Weg in den Untergang der Partei sein. Konsequente Opposition - in und außerhalb der Parlamente - gegen soziale Ungerechtigkeit und für Frieden könne folglich nur der Standpunkt der PDS sein. Mit Gabi Zimmer sei eine Erneuerung der Partei möglich; bei der Wahl des neuen Parteivorstands sei darauf zu achten, dass sie ausreichende Unterstützung für ihre schwierige Arbeit in der Zukunft erhalte. Anlässlich der 1. Tagung des 8. Parteitags der PDS vom 12. bis 13. Oktober in Gera unter dem Motto "Wer kämpft kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren." wurde der Parteivorstand der PDS neu gewählt. Die angemeldeten 417 Delegierten bestätigten Gabi Zimmer - gegen ihren Mitbewerber, den bisherigen Fraktionsvorsitzenden der PDS im Deutschen Bundestag, Roland Claus - mit einem Stimmenanteil von 69,2 % im Amt der Parteivorsitzenden. Stellvertretende Parteivorsitzende wurden erneut Prof. Dr. Peter Porsch und Dr. Diether Dehm; als weitere stellvertretende Parteivorsitzende wurde erstmals die ehemalige Bundestagsabgeordnete Heidemarie Lüth gewählt. Bundesgeschäftsführer Dr. Dietmar Bartsch übergab sein Amt an den damaligen bayerischen Landessprecher der PDS, Uwe Hiksch. Unter den weiteren Mitgliedern des neuen 20-köpfigen Bundesvorstands befindet sich erneut das Mitglied des Bundeskoordinierungsrats der KPF, Sahra Wagenknecht; sie wurde mit 71,8 % der Delegiertenstimmen wieder gewählt. Wenn auch die PDS auf dem Parteitag in ihrer politisch-ideologischen Ausrichtung keine Neuerung erkennen ließ, so gelang es zumindest der Vorsitzenden, die Delegierten - trotz der verlorenen Bundestagswahl - zu ermutigen und für die von ihr in ihrer Grundsatzrede vertretenen Konzeption der "gestaltenden Opposition" zu gewinnen. Diese Kurzformel besage - so die Ausführungen der Parteivorsitzenden - nichts anderes, als dass die PDS "alle Möglichkeiten und Formen demokratischer Politik - vom Protest auf der Straße über alle Formen bis hin zum Mitregieren - nutzen" müsse, um "die Gesellschaft zu verändern". Die Vorsitzende räumte zugleich Fehler der Parteiführung im Bundestagswahlkampf ein und stellte als wichtige Ziele heraus, bei den Europawahlen 2004 und den Bundestagswahlen 2006 die 5 %-Hürde zu überspringen. Die PDS müsse eine Parteireform auf den Weg bringen und ihren Charakter als Bundespartei Linksextremismus 101 bewahren. Der von der Parteivorsitzenden eingereichte Initiativantrag mit dem Titel "Kein 'Weiter so': Zukunft durch Erneuerung" fand die Zustimmung der Delegierten. Darin wird die PDS als demokratisch gestaltende Reformkraft beschrieben; das politische Aktionsfeld der Partei umfasse außerparlamentarische Bündnisse ebenso wie die Rolle von Opposition oder Regierungspartei in Parlamenten. Die PDS sei und bleibe die sozialistische Partei, die bundesweit wirken wolle; sie versuche weder sozialdemokratische noch kommunistische Partei zu werden. In einem weiteren Beschluss sprachen sich die Delegierten gegen einen Krieg gegen den Irak aus und riefen die Bundesbürger zum Widerstand gegen die Sicherheitspolitik der USA auf. Das von jungen Mitgliedern und Mandatsträgern, unter ihnen die bisherige Bundestagsabgeordnete Angela Marquardt, am 4. Oktober veröffentlichte und vom Parteitag debattierte reformpolitische Aufbruch-Papier unter dem Titel "Einbruch. Umbruch. Aufbruch. Für eine zweite Erneuerung" nahmen 70 Unterzeichner noch am 13. Oktober auf dem Geraer Parteitag zum Anlass, das "Forum 2. Erneuerung" zu initiieren. Das Forum möchte eine Plattform für diejenigen sein, die einen Politikwechsel in der PDS auf allen Ebenen der Partei veranlassen wollen. Es versteht sich dabei explizit nicht als neue Strömung in der Partei; es soll vielmehr als Ort für verschiedenste reformpolitisch Interessierte zur Verfügung stehen. Ein erster Strategieworkshop wurde am 17./18. Januar 2003 durchgeführt. Dr. Gregor Gysi kritisierte in der PDS-nahen Tageszeitung "Neues Deutschland" vom 16. Oktober den Geraer Parteitag und dessen Ergebnisse, die die Partei auf den Weg in die Bedeutungslosigkeit führen würden. Der Parteitag habe an verschwommenen Visionen und Prinzipien festgehalten und sich gegen pragmatische Lösungen entschieden. Den Verantwortlichen der PDS in den Landesregierungen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin habe man jegliche Solidarität verweigert, mit der Konsequenz, dass nun entweder Regierungsbeteiligungen der PDS beendet werden oder aber ihre Träger sich weitgehend von der Bundespartei und deren Vorstand abkapseln müssten. Letzteres bedeute faktisch zwei Parteien in formal einer. Auch der ehemalige Bundesgeschäftsführer und Wahlkampfleiter der PDS, Dr. Dietmar Bartsch, beanstandete die Ergebnisse des Parteitags und die Politik der Parteivorsitzenden. In einem Internetbeitrag vom 4. November meinte er, der Parteitag in Gera sei ein Parteitag der Selbstbefassung, ein Lehrstück linker Überheblichkeit, ein "Signal der Einigelung" gewesen. Die Partei habe die real existierende Gesell- 102 Linksextremismus schaft in den alten Bundesländern nie wirklich akzeptiert. Vielmehr sei man dem "alten Klassenfeind-Denken" verhaftet geblieben. Am 9. November trafen sich laut PDS-Pressedienst Nummer 46 vom 15. November in Berlin reform-orientierte Mitglieder und Sympathisanten der PDS zu der Konferenz "Konstituierung der Reformlinken", um über den künftigen politischen Kurs der PDS zu debattieren. Unter den rund 150 Anwesenden befanden sich auch die direkt in den Deutschen Bundestag gewählte PDS-Abgeordnete Petra Pau, Dr. Dietmar Bartsch, Angela Marquardt, der Berliner Landesvorsitzende der PDS Stefan Liebich und die PDS-Europaabgeordnete Dr. Sylvia-Yvonne Kaufmann. Einigkeit herrschte unter den Konferenzteilnehmern in der Auffassung, dass es zu einer politischen Richtungsänderung in der Partei kommen müsse, da ansonsten die Gefahr bestehe, in die "gesellschaftliche Isolation" zu geraten. Erneuerung und Modernisierung seien Leitlinien künftiger sozialistischer Politik. Es wurde beschlossen, eine Gründungsversammlung "Aufbruch - Reformlinke in der PDS" am 15./16. Februar 2003 in Berlin durchzuführen. Dabei soll eine Gründungserklärung verabschiedet werden, in der die Ziele und Aufgaben des "Netzwerks Reformlinke" festgelegt werden sollen. 2.1.2 Organisation Die PDS ist eine auf Bundesebene organisierte Partei mit Sitz in Berlin. Sie gliedert sich in 16 Landesverbände, deren Gebiete mit den Ländern identisch sind, mit Kreisverbänden und Basisorganisationen. Ein "virtueller 17. Landesverband" im Internet ist in Vorbereitung. Die Partei verfügt bundesweit über etwa 77.000 Mitglieder (Ende 2001: 78.000), davon nahezu 4.800 (Ende 2001: 4.200) in den alten Bundesländern. Die Mitgliederentwicklung ist insgesamt rückläufig. Ursache für den Rückgang dürfte insbesondere der Tod älterer Mitglieder sein. Etwa 68 % der Parteimitglieder sind 60 Jahre und älter; nur 3 % sind jünger als 30 Jahre. Seit Jahren nutzt die PDS die Kommunikationsmöglichkeiten im Internet. Verschiedene Gliederungen der Partei, wie die PDS-Delegation in der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) im Europäischen Parlament, der Bundesvorstand und Einzelpersonen sind neben einer so genannten Startseite Linksextremismus 103 der PDS mit eigenen Homepages vertreten. In Bayern nehmen die Kreisverbände Aschaffenburg & Untermain, Augsburg, Bamberg-Forchheim, Ingolstadt, München, Nürnberg, Würzburg/Mainspessart sowie die Basisorganisationen Bayreuth, Eichstätt, Moosburg, Passau und Regensburg das Internet in Anspruch. Der PDS-nahe Jugendverband ['solid] nutzt bundesweit das moderne Kommunikationsmedium. 2.1.3 Plattformen, Arbeitsund Interessengemeinschaften Plattformen, Arbeitsund Interessengemeinschaften sowie ähnliche innerparteiliche Zusammenschlüsse sind wesentlich für die Bündnisund Integrationspolitik der PDS. Sie wirken im Rahmen des Statuts in der Partei, können sich eigene Satzungen geben und können ihre politischen Ziele in der Partei offen vertreten. Sie sind integrale Bestandteile der PDS. Die PDS muss sich deshalb die Tätigkeit der Plattformen, Arbeitsund Interessengemeinschaften wie auch das Wirken der sonstigen innerparteilichen Zusammenschlüsse sowie die Äußerungen ihrer Mitglieder als Gesamtpartei zurechnen lassen. Plattformen sind in der Regel Zusammenschlüsse mit gemeinsamer Ideologie, während Arbeitsund Interessengemeinschaften themenbezogen auf wichtigen Aktionsfeldern tätig werden. Am 23. November gründeten Mitglieder der PDS aus verschiedenen Landesverbänden in Berlin die Bundesarbeitsgemeinschaft "Linke Opposition in und bei der PDS" (BAG-LO). 2.1.3.1 Kommunistische Plattform (KPF) Die am 30. Dezember 1989 gegründete KPF der PDS - ihr sind etwa 1.500 Mitglieder zuzurechnen - ist eine marxistisch-leninistische Organisation. Sie betrachtet die DKP als natürliche Verbündete und arbeitet auch mit der noch in der DDR gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) zusammen. Innerhalb der PDS ist die KPF die Gruppierung, die sich am deutlichsten zum Kommunismus bekennt. Sie strebt die Fortsetzung marxistischer und leninistischer Politik, also die Diktatur des Proletariats, an. In ihren Gründungsthesen betonte sie: "Die revolutionäre Arbeiterbewegung mit dem Wissenschaftlichen Kommunismus, mit dem Marxismus-Leninismus, zu verbinden, aufgrund der marxistisch-leninistischen Analyse der realen Gesellschaftsentwicklung Strategie und Taktik zu bestimmen und Politik zu organisieren - ist vornehmste Aufgabe der Kommunisten und sie bleibt es." 104 Linksextremismus Nach einer programmatischen Erklärung vom Februar 1994, verfasst von drei Sprechern der KPF, bildet der Wissenschaftliche Kommunismus, wie er durch Lenin, Luxemburg, Gramsci, Trotzki, Bucharin oder Mao Tse-tung weiterentwickelt worden ist, die Grundlage für die Politik der KPF. Ziel der KPF sei die revolutionäre Transformation der alten, der Klassengesellschaft, in eine neue, klassenlose Gesellschaft. Die KPF strebt eine enge Zusammenarbeit mit anderen kommunistischen Parteien und Organisationen an und sucht die Beteiligung an außerparlamentarischen Initiativen. So veröffentlichte sie in den Mitteilungen der KPF, Heft 5 vom Mai 2001, die Erklärung "Für eine tolerante Gesellschaft - gegen Rechtsextremismus und Rassismus", in der ausgeführt wird: "Es gibt keinen antikommunistischen Antifaschismus! (...) Antifaschismus bedarf breitester Bündnisse. Jede Ausgrenzung ist abzulehnen. Wir sind bereit, ungeachtet ideologischer Unterschiede mit allen zusammenzuarbeiten, die gewillt sind, sich aktiv gegen Nazis zu engagieren und sich gegen alle Bedingungen zu wehren, die das Erstarken faschistischer und faschistoider Tendenzen begünstigen. (...) Wir werden unsere Bemühungen spürbar intensivieren, über unsere antikapitalistischen und sozialistischen Positionen mit jungen Menschen ins Gespräch zu kommen." Am 7. September veranstaltete die KPF in Berlin ihre 11. Bundeskonferenz. Zentrale Punkte des Treffens waren die Friedenspolitik der PDS, der "Kampf um den Erhalt der Antikriegspartei PDS" und die Verabschiedung einer Erklärung zu den bevorstehenden Bundestagswahlen am 22. September. In der Erklärung wurde der Wiedereinzug der PDS in den Bundestag als gefährdet angesehen. 2.1.3.2 Arbeitsgemeinschaft Junge GenossInnen in und bei der PDS Die AG Junge GenossInnen trat bisher als bundesweiter Zusammenschluss auf, der innerhalb der PDS unter eigenem Namen agierte. Diese Gruppierung diente als Bindeglied der PDS zu jugendlichen undogmatischen Linksextremisten, besonders Autonomen. Weil der AG Junge GenossInnen in der Vergangenheit organisatorische Schwächen vorgehalten wurden, ist 1999 ein neuer bundes- Linksextremismus 105 weiter PDS-naher Jugendverband (vgl. auch Nummer 2.1.4 dieses Abschnitts) gegründet worden. Ein offizieller Auflösungsbeschluss der AG Junge GenossInnen ist bisher jedoch nicht bekannt geworden. Aktive Strukturen sind in Bayern und in den meisten anderen Bundesländern nicht festzustellen. 2.1.3.3 Marxistisches Forum (MF) Am 6. Juni 1995 konstituierte sich in Berlin das orthodox-kommunistisch ausgerichtete MF. Es will die soziale, ökonomische und politische Situation mit den Mitteln des Marxismus analysieren, die marxistische Theorie weiterentwickeln und zur theoretischen Fundierung der Politik der PDS beitragen. Dazu gehöre neben der marxistischen Aufarbeitung der Geschichte der DDR und des Sozialismus auch die Untersuchung der Dialektik von systemimmanenten und systemüberwindenden Reformen. Außerdem solle auf die notwendige Verstärkung des antimilitaristischen Kampfs aufmerksam gemacht werden. Dem Zusammenschluss innerhalb der PDS gehören rund 60 Parteimitglieder und Personen des Staatsapparats, des Kulturund Wirtschaftsbereichs der ehemaligen DDR an. Das Forum übt Einfluss in der Partei unter anderem über die Mitgliedschaft in verschiedenen Parteigremien (wie Programmkommission und Parteirat) aus. 2.1.4 Jugendverband ['solid] Am 19. Juni 1999 wurde in Hannover der Jugendverband ['solid] - die sozialistische Jugend gegründet. Der Name steht für "sozialistisch, links und demokratisch". Ziel des Jugendverbands ist es nach der im PDS-Pressedienst Nummer 25 vom 25. Juni 1999 abgedruckten Gründungserklärung, in organisierter Form der "rechten Hegemonie in der Gesellschaft" entgegenzutreten. Man wolle keine "Kampfreserve" der PDS werden, sondern strebe "eine gleichberechtigte Zusammenarbeit auch mit den regionalen und lokalen Jugendstrukturen in und bei der PDS" an; ['solid] sei nicht die Jugendorganisation der PDS. Anlässlich der 1. Tagung des 8. Parteitags vom 12. bis 13. Oktober in Gera erklärte der Parteivorstand der PDS in seinem Tätigkeitsbericht: "Der Parteivorstand erkannte per Beschluss ['solid] als den PDS-nahen bundesweiten Jugendverband an und unterstützte ihn materiell und ideell." 106 Linksextremismus Organ der Jugendorganisation ist "Die Ware"; das Magazin erscheint vierteljährlich. Dem Jugendverband ['solid] gehören in 14 Landesverbänden zwischenzeitlich etwa 1.200 Mitglieder (davon rund 40 in Bayern) an. Er verfügt in Bayern über einen Landesverband mit Ortsgruppen in München, Nürnberg, Passau und seit Januar in Regensburg sowie seit Februar in Fürth. Als Organ der bayerischen Jugendorganisation erscheint der Landesmitgliederrundbrief "['ROTFRONT!]". Etwa 70 Delegierte von ['solid] aus Bund und Ländern nahmen vom 5. bis 7. April an der 3. Bundesdelegiertenkonferenz in Halle/Saale teil. Die Tagung war neben den Neuwahlen des 5-köpfigen BundessprecherInnenrats und des Schatzmeisters geprägt von der Verabschiedung des Leitantrags "Das Leben ist eine Party - und du bist nicht eingeladen?!", der gleichermaßen Wahlaufruf und politischer Forderungskatalog ist. Darin wurde angemahnt, dass 1998 ein Regierungswechsel stattgefunden habe, ein Politikwechsel jedoch ausgeblieben sei. Viele Jugendliche seien ausgeschlossen von der Party namens Leben. Gefordert wurde deshalb mehr Demokratie bei der Beteiligung von jungen Menschen, mehr soziale Sicherheit angesichts steigender Kinderund Jugendarmut sowie die Wiedereinführung der Vermögensteuer. 2.1.5 PDS Landesverband Bayern und seine Organisationseinheiten Die in Bayern seit dem 11. September 1990 bestehende PDS setzt sich aus dem Landesverband, zwölf Kreisverbänden und 29 Basisorganisationen zusammen. Der Sitz des Landesverbands Bayern befindet sich in München. Die Bundestagsfraktion der PDS unterhielt bis zu den Bundestagswahlen am 22. September in Nürnberg und München je ein Regional-Büro. Für einige örtliche Strukturen bestehen Kontaktund Anlaufadressen. Aktivisten der KPF arbeiten landesweit in der "AG der Kommunistischen Plattform in Bayern" mit Sitz am Landesbüro der PDS in München. Die KPF ist in Nürnberg mit einer Regionalgruppe und in München mit einer Ortsgruppe vertreten; ihnen gehören insgesamt nahezu 30 Personen an. In Bayern ist die Zahl der beitragspflichtigen Mitglieder der PDS auf rund 550 angestiegen. Die Zahl der Sympathisanten, die den Mitgliedern gleichgestellt sind, hat sich auf annähernd 150 verringert. Das Linksextremismus 107 Durchschnittsalter der bayerischen PDS-Mitglieder ist deutlich niedriger als das der Parteimitglieder in Ostdeutschland. Der PDS Landesverband Bayern veranstaltete am 13. Februar drei Politische Aschermittwochstreffen, nämlich in Passau, Eichstätt und München. Als Hauptredner traten in Passau und Eichstätt die damalige bayerische PDS-Bundestagsabgeordnete und Landessprecherin Eva Bulling-Schröter mit dem früheren PDS-Chef und Wirtschaftssenator von Berlin Dr. Gregor Gysi auf. Pressemeldungen zufolge betonte der seinerzeitige Senator in seinen Vorträgen vor allem die "soziale Frage" und deren weltweite Dimension. Nicht Krieg, sondern eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung sei die richtige Antwort auf Terrorismus. In München trat der stellvertretende Parteivorsitzende und Fraktionsvorsitzende der PDS im sächsischen Landtag Prof. Dr. Peter Porsch als Gastreferent auf. Insgesamt drei Landesparteitage berief der PDS Landesverband Bayern ein. Auf der Landesversammlung am 9. März in Nürnberg analysierten die Delegierten das Ergebnis der PDS bei den bayerischen Kommunalwahlen vom 3. März. Die PDS-Landessprecherin und damalige Bundestagsabgeordnete Eva Bulling-Schröter räumte ein, dass sich die Partei "mehr erwartet" hätte (vgl. auch Nummer 2.1.6 dieses Abschnitts). Am 14. April wurde auf dem Landesparteitag in Ingolstadt die Landesliste der PDS für die Wahl zum 15. Deutschen Bundestag festgelegt. Als Spitzenkandidatin nominierten die Delegierten die amtierende Landessprecherin Eva Bulling-Schröter. Auf dem Landesparteitag am 30. November in Ingolstadt wurde turnusgemäß der Landesvorstand der bayerischen PDS neu gewählt. Gleichberechtigte Landessprecher wurden wiederum Eva Bulling-Schröter und erstmals Reinhold Rückert aus Aschaffenburg. 2.1.6 Teilnahme an Wahlen Nach der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 21. Oktober 2001 unterzeichneten Vertreter von SPD und PDS am 16. Januar im Berliner Abgeordnetenhaus eine Koalitionsvereinbarung über die politische Zusammenarbeit in Berlin für die Legislaturperiode 2001 bis 2006. Der rot-roten Landesregierung gehören für die PDS drei von insgesamt acht Senatoren (Minister) an. Bei den bayerischen Kommunalwahlen am 3. März schaffte die PDS nur in München einen relativen Erfolg: Mit einem Stimmenanteil von 108 Linksextremismus 1,4 % konnte ein Sitz im Stadtrat erlangt werden. In Nürnberg, Augsburg und Eichstätt verfehlten indessen die PDS-Kandidaten den Einzug in die kommunalen Gremien. In anderen bayerischen Gebietskörperschaften war die PDS nicht zu den Kommunalwahlen angetreten. Bei der Landtagswahl am 21. April in Sachsen-Anhalt verbesserte die PDS ihr Wahlergebnis von 19,6 % im Jahre 1998 auf 20,4 % der Zweitstimmen. Indessen büßte sie bei der Landtagswahl am 22. September in Mecklenburg-Vorpommern rund ein Drittel der Wählerstimmen ein und fiel von 24,4 % (1998) auf 16,4 % der Zweitstimmen zurück; gleichwohl blieb sie dort in der Regierungsverantwortung. Bei der Bundestagswahl am 22. September konnte die Partei die 5 %-Hürde nicht überwinden. Gegenüber der Wahl im Jahre 1998 verlor sie 1,1 % und erreichte nurmehr 4,0 % der Zweitstimmen. Die Partei, die damit ihren Fraktionsstatus einbüßte, ist jetzt noch mit Petra Pau und Dr. Gesine Lötzsch, die in ihren Berliner Wahlkreisen jeweils das Direktmandat errangen, im Deutschen Bundestag vertreten. 2.1.7 Kommunistischer Internationalismus Im Rahmen der so genannten internationalen Solidarität unterhält die PDS vielfältige Verbindungen und Kontakte zu ausländischen kommunistischen Parteien und anderen ausländischen Linksextremisten. Das Parteiprogramm der PDS nennt dies "Internationalismus" und orientiert sich damit an der Idee des Weltkommunismus. Die Parteivorsitzende Gabi Zimmer leitet den Koordinierungsrat für Internationale Politik beim Parteivorstand. An der 3. Tagung des 7. Parteitags der PDS am 16. und 17. März in Rostock nahmen 57 ausländische Gäste von 43 Parteien und zwei Organisationen aus 37 Ländern teil sowie 14 Diplomaten von zwölf ausländischen Botschaften. Anlässlich der 1. Tagung des 8. Parteitags vom 12. bis 13. Oktober in Gera dokumentierte der Parteivorstand in seinem Tätigkeitsbericht - veröffentlicht in der PDS-Mitgliederzeitschrift "DISPUT" Nummer 10/02, Seiten 47 bis 57 - die internationalen Beziehungen zu kommunistischen Parteien und Organisationen. Danach fanden unter anderem bilaterale Beratungen mit Delegationen der FKP (Frankreich), der KPBM (Tschechien), des Linksbundes Linksextremismus 109 (Finnland), der PdCI (Italien) und der I.U. (Spanien) statt. Vertreter der PDS empfingen Ende Juni eine Studiendelegation der Internationalen Abteilung des ZK der KP Chinas zu Gesprächen über die Entwicklung der Parteiorganisationen und der politischen Bildungsarbeit der Partei. Fortgesetzt wurde der Informationsund Erfahrungsaustausch mit der südafrikanischen KP, mit linken Parteien Indiens, des Nahen Ostens und der Mittelmeerregion. 2.1.8 Zusammenarbeit mit anderen Linksextremisten Die PDS pflegt Kontakte zu fast allen anderen inländischen linksextremistischen und linksextremistisch beeinflussten Gruppierungen sowie zu gewaltbereiten Autonomen und arbeitet mit ihnen zusammen. Am 12. Januar fand aus Anlass des 83. Jahrestags der Ermordung der Gründer der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, zum siebten Mal in Folge die Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin statt. Rund 800 politisch Interessierte, zumeist jüngere, aus dem Inund Ausland nahmen an der Veranstaltung teil. Am 13. Januar legten Funktionäre der PDS traditionell Kränze am Denkmal der ermordeten Kommunisten in Berlin-Friedrichsfelde nieder. Rund zehntausend Menschen, darunter auch Aktivisten ausländischer kommunistischer Parteien, der autonomen Antifaschistischen Aktion (Antifa), linker kurdischer Vereinigungen, von PDS, DKP, SDAJ, KPD und ['solid], beteiligten sich an dem Gedenkmarsch zu der Gedenkstätte der Kommunisten. Am 1. Mai fanden in Augsburg Aufzüge und Demonstrationen statt, an denen sich rund 1.200 Personen beteiligten, darunter Aktivisten der PDS, der Marxistisch-Leninistischen Partei Deutschlands (MLPD), der Augsburger Friedensinitiative (AFI), der Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK) und der Antifa. Anlässlich des Besuchs von US-Präsident George W. Bush am 22./23. Mai in Berlin veranstaltete eine "Achse des Friedens" am 21. Mai in der Bundeshauptstadt eine Großdemonstration, der sich etwa 17.000 Personen anschlossen, darunter Angehörige der PDS, der DKP, der trotzkistischen Organisation "Linksruck", der Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V. (ATIF) und der Türkischen Kommunistischen Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML). Am 20. Juli veranstalteten in Bayreuth Anhänger der Antifa-Gruppe Bayreuth, der DKP und PDS, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der 110 Linksextremismus Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) sowie autonomer Gruppierungen einen antifaschistischen Aktionstag unter dem Motto "Gemeinsam gegen Rechts". Die damalige Bundestagsabgeordnete und Landessprecherin der PDS Eva Bulling-Schröter scheiterte mit ihrem Versuch, eine von der Landeshauptstadt München wegen befürchteter Ausschreitungen anlässlich der vom 2. bis 4. August geplanten Chaos-Tage erlassene Allgemeinverfügung zu unterlaufen. Die Bundestagsabgeordnete beabsichtigte, an einem von der PDS in der Fußgängerzone betriebenen Info-Stand jeweils ein "Survival-Kit" an Punks zu übergeben, die - entgegen der Auflage - den Innenstadtbereich erreichen würden. Das Kreisverwaltungsreferat der Stadt München entzog daraufhin die bereits erteilte Erlaubnis für den Info-Stand der PDS. 2.2 Deutsche Kommunistische Partei (DKP) Deutschland Bayern Mitglieder: 4.700 600 Vorsitzender: Heinz Stehr Gründung: 26.09.1968 Sitz: Essen Nürnberg und München Publikationen: Unsere Zeit (UZ) Marxistische Blätter 2.2.1 Ideologische Ausrichtung Die bis zur Wende von der SED der DDR ideologisch und materiell abhängige DKP bestätigte ihre gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Zielsetzung in den auf dem 12. Parteitag am 16./17. Januar 1993 in Mannheim beschlossenen "Thesen zur programmatischen Orientierung der DKP". In der Einleitung zu den "Thesen" heißt es, die DKP kämpfe für eine Politik, die im Sozialismus die Zukunft, im Klassenkampf die zentrale Triebkraft der Geschichte und in der Arbeiterklasse die entscheidende soziale Kraft für den gesellschaftlichen Fortschritt sehe. Sie stütze sich auf die materialistische Wissenschaft, die von Marx und Engels begründet und von Lenin weiterentwickelt worden sei. In einem in der PDS-nahen Tageszeitung "Neues Deutschland" vom 28. September 1998 mit dem Titel "Nötig ist knallharter Klassenkampf" veröffentlichten Interview zum 30-jährigen Bestehen der DKP bestätigte der Parteivorsitzende Linksextremismus 111 Heinz Stehr, dass die neue Gesellschaftsordnung, für die die DKP nach wie vor eintrete, Sozialismus "und in der Perspektive Kommunismus" heiße. Ihre unveränderte ideologische Ausrichtung belegt die DKP mit der von der Programmkommission der Partei erstellten Vorlage "Erste Grundlagen zur Diskussion und Erarbeitung eines Programmentwurfs", der vom Parteivorstand anlässlich seiner 9. Tagung am 16. und 17. Februar in Essen entgegengenommen wurde. Nach Diskussion "in und außerhalb der DKP" ist eine Beschlussfassung über ein überarbeitetes neues Programm auf dem Parteitag im Jahr 2004 vorgesehen. In dem sowohl im Internet als auch als "Sonderbeilage Frühjahr 2002" des DKP-Zentralorgans "Unsere Zeit" (UZ) veröffentlichten Entwurf heißt es: "Die DKP steht in der Tradition der kommunistischen Bewegung. Sie ist hervorgegangen aus dem mehr als 150-jährigen Kampf der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung gegen kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung, gegen Militarismus und Krieg. (...) Theoretische Grundlage des politischen Wirkens der DKP ist die wissenschaftliche Weltanschauung, deren Fundamente im Wesentlichen von Marx, Engels und Lenin erarbeitet wurden. (...) Der Sozialismus ist die erste Stufe auf dem Weg zum Kommunismus, der klassenlosen Gesellschaft. (...) Zum Sozialismus führt ein grundlegender Bruch mit der kapitalistischen Wirtschaftsweise, die auf die Erzielung maximalen Profits durch die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft und den verschwenderischen Umgang mit den Naturressourcen gerichtet ist. Der Besitz an den wichtigsten Produktionsmitteln muss in gesellschaftliches Eigentum überführt werden - die private Aneignung des gesellschaftlich erzeugten Reichtums aufgehoben werden." Zur Vorstellung der DKP, wie der Sozialismus als angestrebtes politisches Ziel erreicht werden kann, wird in der Vorlage formuliert: "Nur als Ergebnis der Kämpfe breiter Massenbewegungen können die bestehenden Machtund Eigentumsverhältnisse überwunden werden. (...) Unter den heutigen Bedingungen ist offen, welche Formen des Kampfes künftig entstehen werden. (...) Die Erfahrungen des Klassenkampfes lehren, dass die Monopolbourgeoisie, wenn sie ihre Macht und Privilegien bedroht sah, stets versucht hat, den gesellschaftlichen Fortschritt mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln bis hin zur Errichtung faschistischer Diktaturen und zur Entfesselung von Bürgerkriegen zu verhindern. Im harten Kampf muss ihr unvermeidlicher Widerstand überwunden und ein 112 Linksextremismus solches Übergewicht der zum Sozialismus strebenden Kräfte erreicht werden, das es ermöglicht, die Reaktion an der Anwendung blutiger konterrevolutionärer Gewalt zu hindern und den für das arbeitende Volk günstigsten Weg zum Sozialismus durchzusetzen." Am 21. September führte der DKP-Vorsitzende Heinz Stehr in Hannover anlässlich einer Konferenz zur Programmdebatte der DKP in seiner Rede - auszugsweise publiziert in der UZ vom 27. September - aus: "Die DKP entwickelt ihre Politik auf der Grundlage der wissenschaftlichen Weltanschauung. Sie betrachtet das gesellschaftspolitische Ziel einer revolutionären Umgestaltung der Machtund Eigentumsverhältnisse als entscheidende notwendige Voraussetzung, um den Sozialismus mit einer Mehrheit der Bevölkerung durch Klassenkampf im Bündnis mit anderen werktätigen Schichten durchzusetzen." Die Agitation der DKP richtete sich vorrangig auf die Themenbereiche Demokratieund Sozialabbau durch den Staat, Bekämpfung des Rechtsextremismus und Neofaschismus, Antimilitarismus und Anti-Globalisierung. 2.2.2 Organisation Die DKP ist eine bundesweit organisierte Partei mit Sitz in Essen. Sie ist in 14 Bezirksorganisationen - zwölf in den westlichen Bundesländern sowie eine in Berlin und eine weitere in Brandenburg, die beide zugleich die Mitglieder in den übrigen vier neuen Ländern betreuen - gegliedert, die weiter in 87 Kreisund in 280 Grundorganisationen unterteilt sind. Die Zahl der Mitglieder liegt derzeit bei 4.700, davon etwa 240 in Ostdeutschland. Dem 35-köpfigen Parteivorstand gehören neben dem DKP-Vorsitzenden Heinz Stehr und den beiden stellvertretenden Parteivorsitzenden Nina Hager und Rolf Priemer auch weiterhin vier Funktionäre aus Bayern an. Der Vorstand war anlässlich des 16. Parteitags der DKP vom 30. November bis 1. Dezember in Düsseldorf neu berufen worden. In Bayern bestehen zwei Bezirksorganisationen (Nordund Südbayern), elf Kreisverbände sowie eine Betriebsgruppe. Die Mitgliederzahl in Bayern stagniert bei rund 600. Die DKP wird überwiegend von Altkommunisten repräsentiert. Linksextremismus 113 Die Finanzierung der Parteiarbeit bereitet seit Jahren Probleme. Das DKP-Zentralorgan "Unsere Zeit" (UZ) erscheint aber trotz dieser erheblichen Finanzierungsprobleme nach wie vor wöchentlich. 2.2.3 Teilnahme an Wahlen Zur Landtagswahl am 21. April in Sachsen-Anhalt traten die DKP und die noch in der DDR gegründete Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) mit einer gemeinsamen Liste an. Auf die Landesliste der Listenvereinigung "Bündnis DKP/KPD" wurden insgesamt 1.054 Wählerstimmen abgegeben, was einem Stimmenanteil von 0,1 % entspricht. Zur Landtagswahl am 22. September in Mecklenburg-Vorpommern trat die DKP nicht an. In realistischer Einschätzung ihrer organisatorischen und personellen Möglichkeiten verzichtete die DKP bei der Bundestagswahl am 22. September auf die Aufstellung von Landeslisten. Lediglich in 15 Wahlkreisen in sechs Bundesländern stellten sich Direktkandidaten zur Wahl; die Bewerber erreichten insgesamt 3.953 Erststimmen. Im Gegensatz zu früheren Wahlen wies die DKP eine Aufnahme in PDS-Landeslisten zurück, da sie sich nicht mit der Politik der PDS, insbesondere mit deren Abkehr von einem konsequenten Antikriegskurs, identifizieren könne. Die DKP unterstützte jedoch einzelne Kandidaten der PDS wegen ihres "konsequenten Eintretens für Friedensund Sozialpolitik sowie für die Erweiterung demokratischer Rechte". 2.2.4 Internationale Verbindungen Die DKP führte am 29. und 30. Juni eine internationale Konferenz zum Thema "Kapitalistische Globalisierung - Alternativen - Gegenbewegungen - Rolle der Kommunistinnen und Kommunisten" in Berlin durch. 33 Parteien und Organisationen aus 31 Ländern - darunter die kommunistischen Parteien aus Australien, den USA, Russland, Vietnam, Kuba und weiteren lateinamerikanischen, asiatischen, afrikanischen und europäischen Ländern - nahmen am Meinungsaustausch teil. Übereinstimmendes Ergebnis sei gewesen, der "kapitalistischen Globalisierung" die internationale Solidarität und Zusammenarbeit der Parteien der marxistischen Linken entgegenzustellen. Einer Presseerklärung der DKP vom 3. Juli zufolge hätten die Beiträge und Infor- 114 Linksextremismus mationen zu Entwicklungen in der heutigen Welt die Notwendigkeit zu einer verstärkten internationalen Zusammenarbeit unterstrichen. Die DKP bewertete die Konferenz als Erfolg. 2.2.5 Umfeld der DKP 2.2.5.1 Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Deutschland Bayern Mitglieder: 9.000 900 Vorsitzender: geschäftsführender Vorstand mit elf Mitgliedern Gründung: 15.-17.03.1974 Vereinigung mit VVdN-BdA: 03.-05.10.2002 Sitz: Hannover (Bundesgeschäftsstelle seit 1996) Publikationen: antifa-rundschau und antifa Die VVN-BdA aus den alten Bundesländern als bisher schon zahlenmäßig stärkste Organisation im Spektrum des linksextremistischen Antifaschismus und der in den neuen Bundesländern gebildete "Verband ehemaliger Teilnehmer am antifaschistischen Widerstandskampf, Verfolgter des Naziregimes und Hinterbliebener - Bund der Antifaschisten" (VVdN-BdA) haben sich auf einem Vereinigungskongress vom 3. bis 5. Oktober in Berlin zu einer gemeinsamen Organisation zusammengeschlossen, die den Namen des West-Verbands übernommen hat. Rund 200 Delegierte stimmten "einmütig" für die Verschmelzung ihrer Organisationen und wählten einen gemeinsamen geschäftsführenden Vorstand. Dem elfköpfigen Vorstand gehören als Sprecher Fred Dellheim, Vorsitzender der früheren VVdN-BdA und Cornelia Kerth, eine der Bundessprecherinnen der vormaligen VVN-BdA (West), an. Im Rahmen des Vereinigungskongresses verabschiedeten die Delegierten unter anderem Anträge zur Festschreibung des Antifaschismus im Grundgesetz und gegen ein militärisches Vorgehen der USA im Irak. Ferner billigten sie den Vorschlag, den in den USA in einem umstrittenen Verfahren wegen Mordes an einem Polizisten zum Tode verurteilten Mumia Abu-Jamal als Ehrenmitglied in den Verband aufzunehmen. Linksextremismus 115 Die von den fusionierten VVN-BdA und VVdN-BdA bisher herausgegebenen Zeitschriften "antifa-Rundschau" und "antifa" sollen bis zur Jahresmitte 2003 noch getrennt erscheinen, danach ist eine gemeinsame Zeitschrift geplant. Die neu gegründete VVN-BdA bleibt die bundesweit größte Organisation im Spektrum des linksextremistischen Antifaschismus. Im Landesverband Bayern der VVN-BdA ist auf Landeswie auf Kreisebene der Einfluss von Linksextremisten, insbesondere aus der DKP, maßgeblich. Die Landesvereinigung Bayern unterstützte auch weiterhin aus dem linksextremistischen Spektrum initiierte Aktionen. Themenbereiche für die Agitation der VVN-BdA waren der Antikriegstag, der Protest gegen den Heß-Gedenkmarsch in Wunsiedel, der Neofaschismus, die Ostermärsche, der Rechtsextremismus und die Zwangsarbeiterentschädigung. 2.2.5.2 Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) Deutschland Bayern Mitglieder: 350 50 Vorsitzende: Tina Sanders Gründung: 04./05.05.1968 Sitz: Essen Publikation: POSITION Die mit der DKP eng verbundene SDAJ versteht sich als eigenständige Organisation von Schülerinnen und Schülern, Studentinnen und Studenten, Auszubildenden und jungen Arbeitenden, die in der Bundesrepublik Deutschland leben, unabhängig von ihrer Herkunft. Die SDAJ kämpft nach eigener Darstellung für eine Welt ohne Ausbeutung und Rassismus, für eine Welt, in der die Menschen und nicht die Konzerne das Sagen haben. Als ihre Alternative, für die sie sich im Kampf einsetzt, benennt die SDAJ den Sozialismus. Dieser könne nur durch einen Bruch mit dem kapitalistischen System erreicht werden, nicht allein durch Verbesserungen der bestehenden Verhältnisse. Deshalb sei sie eine antikapitalistische und revolutionäre Organisation. Am 20. und 21. April führte die SDAJ ihren 16. Bundeskongress unter dem Motto "Fight, Unite, Attack, Win! Die Zukunft muss sozialistisch sein! Wir fordern unsere Rechte!" mit 100 Delegierten in Essen durch, bei dem ein 29-köpfiger Bundesvorstand neu gewählt und Tina Sanders 116 Linksextremismus aus Hamburg als Bundesvorsitzende einstimmig bestätigt wurde. Gemäß der vom Bundesvorstand als Leitantrag eingebrachten und nach zahlreichen Änderungsanträgen von den Delegierten beschlossenen Handlungsorientierung sollen die Bereiche Arbeiterjugendpolitik, Schülerpolitik und Antimilitarismus die Schwerpunkte der Aktivitäten des Verbands in den kommenden zwei Jahren bilden. Zusammen mit sozialistischen Jugendverbänden aus ganz Europa will die SDAJ eine Kampagne zum Kampf gegen den Aufbau einer europäischen Interventionsarmee organisieren. 2.3 Linksruck-Netzwerk (Sozialistische Arbeitergruppe - SAG) Deutschland Bayern Mitglieder: 500 40 Gründung: 1993 Sitz: Berlin Publikationen: Linksruck, Sozialismus von unten Die bundesweit als Linksruck-Netzwerk auftretende trotzkistische Gruppierung SAG bezeichnet sich in ihren auch im Internet veröffentlichten "politischen Grundsätzen" selbst als "Strömung der revolutionären Sozialisten". Als Voraussetzung einer "endgültigen Beseitigung jeder Unterdrückung" betrachtet das Netzwerk die Abschaffung des Kapitalismus und die Einführung einer Rätedemokratie. Der bayerische Schwerpunkt des Linksruck-Netzwerks befindet sich in München. Die Gruppierung organisierte Veranstaltungen und beteiligte sich an Demonstrationen anderer linksextremistischer Gruppierungen sowie des linksextremistisch beeinflussten Münchner Bündnisses gegen Rassismus. Die Themenbereiche Globalisierung, Militäreinsatz der USA in Afghanistan und die Beteiligung der Bundeswehr an diesem sowie der "Konflikt zwischen den USA und dem Irak" wurden verstärkt behandelt. 2.4 Münchner Bündnis gegen Rassismus An dem linksextremistisch beeinflussten Münchner Bündnis gegen Rassismus mit seinen rund 40 Anhängern beteiligen sich linksextremistische Gruppierungen wie die PDS, DKP, der Arbeiterbund für den Linksextremismus 117 Wiederaufbau der KPD (AB), das Linksruck-Netzwerk, die linksextremistisch beeinflusste Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) und daneben - anlassbezogen - auch demokratische Gruppierungen. Die Leitung bei Treffen und Veranstaltungen oblag meist Aktivisten der linksextremistischen Gruppierungen. Diese zeichneten auch für Flugblätter des Bündnisses presserechtlich verantwortlich. Das Bündnis fungierte als Träger für eine Vielzahl von Aktivitäten wie Demonstrationen, Diskussionsveranstaltungen, Flugblattverteilungen, Info-Stände und Mahnwachen, zu denen kleinere Gruppen alleine nicht in der Lage gewesen wären. Themenbereiche waren dabei Antirassismus, Antifaschismus sowie die Gegenaktionen zu den von Rechtsextremisten initiierten Demonstrationen gegen die "Wehrmachtsausstellung" in München (vgl. auch Nummer 3.1.6.2 dieses Abschnitts). Die Organisierung der gegen die 38. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik vom 1. bis 3. Februar gerichteten Aktionen bildete den Schwerpunkt der Protestaktivitäten. Schon in den vergangenen Jahren hatte das Bündnis auf der Basis seiner politischen Grundhaltung gegen die alljährlich stattfindende Konferenz für Sicherheitspolitik mobilisiert. Für die 38. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik, zu der eine Vielzahl von Regierungsvertretern der NATO-Staaten sowie Repräsentanten aus dem Militärund Rüstungsbereich erwartet worden waren, zeichnete sich bereits frühzeitig ab, dass auf Initiative des Bündnisses ein weitaus größeres Potenzial von Protestteilnehmern aktiviert werden würde. So umfasste bereits ein im September 2001 verteiltes Flugblatt, das zu Aktionen gegen die "Münchner Sicherheitskonferenz" aufrief, als Erstunterzeichner unter anderem das Münchner Bündnis gegen Rassismus, die autonome Gruppierung "antifaschistisch kämpfen münchen" (akm), den Kreisverband München der DKP, die PDS München, den PDS-nahen Jugendverband ['solid], das Linksruck-Netzwerk sowie die linksextremistische Initiative "Libertad!", in die Angehörige des ehemaligen Umfelds der RAF integriert sind. Zur Teilnahme an beabsichtigten Protesten wurde unter Zuhilfenahme des Internets auch international mobilisiert. Mit der Vorbereitung und Planung befasste sich das für diesen Zweck ins Leben gerufene Bünd- 118 Linksextremismus nis gegen die NATO-Sicherheitskonferenz, in das das Anti-NATO-Komitee sowie das Bündnis gegen die NATO integriert waren. Das Bündnis gegen die NATO setzte sich aus verschiedenen Personen und Gruppen zusammen, so dem federführenden Münchner Bündnis gegen Rassismus, einzelnen Autonomen und anderen Linksextremisten. Das Anti-NATO-Komitee bestand ausschließlich aus Autonomen. Eine Vielzahl inund ausländischer linksextremistischer und autonomer Gruppierungen kündigte ihr Kommen nach München an. Die Erkenntnisse des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz verdichteten sich dahingehend, dass mit der Anreise von bis zu 3.000 gewaltbereiten Demonstrationswilligen nach München zu rechnen war, davon allein 1.000 aus dem Ausland. Zudem gab es eine Internet-Veröffentlichung, die den vorgesehenen Weg eines Demonstrationszugs am 2. Februar in der Innenstadt Münchens auf einem Auszug eines Stadtplans zeigte. Auf dem Auszug waren potenzielle Zielobjekte für gewaltbereite Gegendemonstranten, wie Behörden, Firmen und eine US-amerikanische Restaurantkette, farbig gekennzeichnet. Aufgrund der sich abzeichnenden Gefährdungslage untersagte am 31. Januar das Kreisverwaltungsreferat der Landeshauptstadt München alle für den 1. und 2. Februar angemeldeten Versammlungen und geplanten Demonstrationen sowie Ersatzveranstaltungen. Die Verbote wurden vom Verwaltungsgericht München und vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof noch unmittelbar vor Tagungsbeginn bestätigt. Der Verbotsbereich umfasste das gesamte Stadtgebiet Münchens. Das Bündnis gegen die NATO-Sicherheitskonferenz demonstrierte am 31. Januar gegen das Verbot in der Münchner Innenstadt. Daran beteiligten sich etwa 800 Personen, die überwiegend dem linksextremistischen Spektrum angehörten. Der Leiter des Bündnisses, Claus Schreer vom Münchner Bündnis gegen Rassismus, berief für den 1. Februar eine als Pressekonferenz getarnte Versammlung auf dem Marienplatz in München ein, an der etwa 1.500 Personen teilnahmen. Die Versammlungsteilnehmer wurden von der Polizei zum Verlassen der Örtlichkeit aufgefordert. Wegen Nichtbefolgung der Anordnung räumte die Polizei den Marienplatz. Die Polizei nahm mehr als 300 Personen in Gewahrsam und knapp 30 Personen fest. Am 2. Februar fanden sich gegen Mittag etwa 1.000 Personen auf dem Marienplatz ein. Die Menge wuchs bis auf etwa 7.000 Personen an. Auf dem Weg zum Marienplatz wurde Claus Schreer, der dort erneut eine "Pressekonferenz" anberaumt hatte, von der Polizei bis zum nächsten Tag in Unterbindungsgewahrsam genommen. Trotz des Ver- Linksextremismus 119 sammlungsverbots bildete sich ein Demonstrationszug, der jedoch nach wenigen hundert Metern von den polizeilichen Einsatzkräften gestoppt wurde. Der Polizei, die etwa 500 Personen in Gewahrsam nahm, gelang es, eine Eskalation zu verhindern. In der Münchner Innenstadt versuchten rund 200 Gegendemonstranten erfolglos, eine Polizeisperre zu überwinden. Anschließend zogen sie durch die Straßen und begingen mehrere Straftaten. Aus einer bis zu 50 Personen umfassenden Gruppe heraus wurden Polizeifahrzeuge und andere parkende PKWs beschädigt. Die Polizei nahm neun Tatverdächtige fest; ein Strafverfahren wegen Landfriedensbruch wurde eingeleitet. Am 3. Februar nahm die Polizei wegen Verdachts eines gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in München aufgrund von Hinweisen aus der Bevölkerung noch in Tatortnähe acht Personen mit Kontakten zur örtlichen autonomen Szene fest. Nur durch die Zurückweisung von mehreren hundert aus dem Inund Ausland anreisenden Demonstranten konnte die Gefahr militanter Aktionen erheblich reduziert werden. Bei Vorkontrollen wurden auch Gasrevolver, Baseballschläger, Gummiknüppel sowie Sturmhauben sichergestellt. Die massive Präsenz der Polizei sowie ihr konsequentes Einschreiten veranlassten anreisende gewaltbereite Demonstranten, von ihren Plänen, Gewalttaten zu begehen, Abstand zu nehmen. Das in einer "Aktionseinheit" mit dem Anti-NATO-Komitee, dem Münchner Friedensbündnis und dem globalisierungs-kritischen Netzwerk ATTAC nunmehr integrierte Bündnis gegen die NATO-Sicherheitskonferenz erklärte in einem im Mai bekannt gewordenen Text, als gemeinsames Bündnis kontinuierlich die politische Arbeit fortsetzen zu wollen. Der praktische und inhaltliche Schwerpunkt des Bündnisses sei die Mobilisierung gegen die nächste NATO-Sicherheitskonferenz in München im Jahr 2003. Unter der Bezeichnung "Demonstrationsbündnis" mobilisierten das Bündnis gegen die NATO-Sicherheitskonferenz, ATTAC und das Münchner Friedensbündnis bereits im Herbst des Jahres 2002 auch im Internet zur Teilnahme an den beabsichtigten Protesten im Februar 2003. 2.5 Sonstige orthodoxe Kommunisten und andere revolutionäre Marxisten Die teils bundesweit, teils regional tätigen sonstigen linksextremistischen Parteien, Organisationen und Bündnisse entfalteten in Bayern 120 Linksextremismus kaum Außenwirkung. Dies gilt insbesondere für die Marxistische Gruppe (MG), die trotz ihres bislang nicht widerrufenen Auflösungsbeschlusses vom Mai 1991 bundesweit mit rund 10.000 Anhängern fortbesteht. Sie verfügt in Bayern über etwa 4.200 Anhänger, von denen nahezu 700 aktiv sind. Öffentlich trat die MG nur bei regelmäßigen GEGENSTANDPUNKT-Diskussionsveranstaltungen in München und Nürnberg in Erscheinung; die Bezeichnung dieser Veranstaltungen geht auf die seit 1992 von führenden MG-Funktionären herausgegebene Zeitschrift "GEGENSTANDPUNKT" zurück. Die an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen aktive SOZIALISTISCHE GRUPPE ist ebenfalls der MG zuzurechnen. Ferner sind die Gruppierungen Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD) und der Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD (AB) zu nennen. Sie beteiligten sich in Bayern an Demonstrationen, Diskussionsveranstaltungen und anderen Aktionen, wie beispielsweise Flugblattverteilungen. Sie führten Info-Stände durch und hielten Mahnwachen ab. Schwerpunkte ihrer Agitation waren die Themenbereiche Faschismus/Rassismus. Weitere linksextremistische und linksextremistisch beeinflusste Organisationen, die dem Bereich "Marxisten-Leninisten und andere revolutionäre Marxisten" zuzurechnen sind, werden in Nummer 4 dieses Abschnitts aufgeführt. 3. Gewaltorientierte Linksextremisten 3.1 Autonome Gruppen Deutschland Bayern Angehörige: über 5.500 450 Gründung: Ende der 70er Jahre Struktur: meist themenbezogene Zusammenschlüsse, die überwiegend lokalen Charakter aufweisen Publikationen: Szeneblätter, z.B. INTERIM (Berlin); auf lokaler Ebene unter anderem barricada (Nürnberg) 3.1.1 Überblick Die gewaltbereiten Autonomen bedrohen weiterhin die Innere Sicherheit in Deutschland. Wie in den Vorjahren waren Autonome für die Linksextremismus 121 meisten der linksextremistisch motivierten Gewalttaten verantwortlich. Ziel der Autonomen ist die gewaltsame Zerschlagung des Staates und die Errichtung einer "herrschaftsfreien Gesellschaft". Diesem Ziel versuchen sie über eine Reihe von Aktionsthemen näher zu kommen. Dabei nutzen sie aktuelle politische Themen für ihre Zwecke. Durch geschickte Agitation versuchen sie, auch demokratische Protestbewegungen für ihren Kampf gegen den Staat zu mobilisieren. "Antifaschismus" ist für die Autonomen in Bayern nach wie vor das vorrangige Agitationsund Aktionsfeld. Zusätzlich beschäftigen sich Autonome verstärkt mit dem Themenfeld "Anti-Globalisierung". Nach dem NATO-Einsatz in Afghanistan und vor dem Hintergrund eines möglichen militärischen Eingreifens im Irak werden auch der "Antiimperialismus" und die Beteiligung der Bundeswehr an Militäraktionen wieder verstärkt von Angehörigen der autonomen Szene aufgegriffen. Dagegen spielten andere Themenfelder, wie die Asyl-, Ausländerund Flüchtlingspolitik ("Antirassismus") und die Kernenergie ("Anti-Atomkraft") in der politischen Agitation eine eher untergeordnete Rolle. Besorgniserregend ist eine Strategiedebatte um terroristische Gewalt vor allem in Kreisen Berliner Autonomer. Linksextremistische Strukturen mit terroristischer Zielsetzung sind in Bayern derzeit nicht feststellbar. 3.1.2 Ideologische Ausrichtung und Aktionsformen Autonome haben kein einheitliches ideologisches Konzept. Sie folgen unklaren anarchistischen und anarchokommunistischen Vorstellungen. Die einzelnen Gruppen bilden sich meist über Aktionsthemen. Einig sind sich die Autonomen in der Ablehnung von Staat und Gesellschaft. Ihr Ziel ist die gewaltsame Abschaffung des Staates und seiner Institutionen, um an seiner Stelle eine "herrschaftsfreie Gesellschaft" zu errichten. Das provozierende Auftreten der Autonomen in der Öffentlichkeit, ihre staatsfeindliche Haltung, die Ablehnung gesellschaftlicher Normen und Werte, aber auch das Bejahen von Gewalt zur Durchsetzung ihrer Forderungen und Ziele kommen der Protesthaltung mancher junger Menschen entgegen, vor allem, wenn diese mit Problemen im Elternhaus oder in der Schule bzw. Ausbildung konfrontiert werden. Angehörige bzw. Aktivisten der Auto- 122 Linksextremismus nomen unterscheiden sich soziologisch kaum von anderen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen. Sie sind in der Regel Schüler, Studenten und Auszubildende. Autonome machen den Ablauf ihrer Demonstrationen primär von der Einschätzung der Durchsetzbarkeit und des Kräfteverhältnisses gegenüber der Polizei abhängig. Rechtsextremistischen Versammlungen begegnen Autonome nach wie vor mit einer hohen Aggressivität und der Bereitschaft, auch Gewalttaten zu verüben. Die Autonomen führen dabei meist keine eigenen öffentlichen Veranstaltungen durch ("Minimalkonzept"). Sie mischen sich stattdessen unter die Teilnehmer anderer Gegenveranstaltungen. Die Formierung von so genannten Schwarzen Blöcken bei Demonstrationen als Symbol für militanten Antifaschismus ist nur noch vereinzelt festzustellen. Die zeitweilige Differenzierung zwischen Gewalt gegen Personen und Gewalt gegen Sachen wird zunehmend aufgegeben. Die Körperverletzungsdelikte von Linksextremisten gegen "Rechte" oder vermeintlich "Rechte" zeigen, dass die Autonomen Gewaltanwendung gegen politische Gegner als legitimes Mittel ansehen. 3.1.3 Strukturen Insgesamt gehören den autonomen Strukturen in Bayern - wie im Vorjahr - knapp 450 Personen an. Im Jahr 2002 traten in Bayern besonders die autonomen Gruppierungen "Organisierte Autonomie" (Nürnberg), "red action nürnberg", "antifaschistisch kämpfen (münchen)", "Antifaschistische Aktion München", und "a.l.d.e.n.t.e. - autonome gruppe mit biss" (Augsburg) in Erscheinung. Örtliche Schwerpunkte der Autonomen in Bayern sind nach wie vor die Großräume Nürnberg/Erlangen/Fürth und München. Während die Szene in Nürnberg/Erlangen/Fürth einen leichten Anstieg auf etwa 160 Anhänger verzeichnen konnte, blieb die Zahl der Autonomen in der Landeshauptstadt München mit etwa 130 Personen personell konstant. Die autonome Szene in Nürnberg formiert sich um das "Stadtteilzentrum Schwarze Katze" und die Anlaufstelle "DESI". Für die Münchner Autonomen spielt nach wie vor der autonome "Infoladen" in der Breisacherstraße eine wesentliche Rolle. Daneben bestehen autonome Gruppierungen unter anderem in Augsburg, Bayreuth, Neu-Ulm, Sulzbach-Rosenberg, Rosenheim und Würzburg. Linksextremismus 123 Autonome in Bayern 2002 Coburg* (Schwerpunkte) Aschaffenburg* Bamberg* Bayreuth Würzburg ca. 15 Nürnberg/ ca. 20 Erlangen/ Fürth Sulzbach-Rosenberg ca. 20 ca. 160 - Organisierte Autonomie - Autonome Jugend Antifa Angehörige der autonomen Szenen Regensburg* Autonome PersonenIngolstadt* zusammenhänge (nicht abschließend) Passau* Landshut* *) Neu-Ulm* Augsburg Autonome ca. 25 Kleinstgruppen a.l.d.e.n.t.e. München ca. 130 - Antifaschistische Aktion München - antifaschistisch kämpfen münchen Rosenheim* Auch aus anderen Städten wurden Aktivitäten der autonomen Szene bekannt; dort gibt es meist nur Kleinund Kleinstgruppen. Autonome Personenzusammenhänge in Bayern mit Schwerpunkt Antifaschismus zeigen eine hohe Bereitschaft zur Organisierung. Obwohl die Organisierungsfrage besonders im autonomen Spektrum sehr umstritten ist, da sie dem ursprünglichen autonomen Selbstverständnis entgegensteht, geht der Trend von anonymen Kleingruppen hin zu einer stärkeren Organisierung mit unterschiedlichen Ausprä- 124 Linksextremismus gungen. Dadurch sollen Handlungsfähigkeit, Effektivität und Kontinuität autonomer Politik verbessert werden. Die ursprüngliche Ablehnung jeglicher Organisationsformen und verbindlicher Strukturen haben die Autonomen damit größtenteils aufgegeben. Seit 1998 spiegelt das "Antifaschistische Aktionsbündnis Bayern" (AABB) die Vernetzungsbemühungen von verschiedenen autonomen Gruppierungen in Bayern wider. Es dient vor allem dazu, den "antifaschistischen Widerstand" in Bayern zu festigen und auszubauen. Die gemeinsamen Treffen der an diesem Bündnis teilnehmenden autonomen Antifa-Gruppierungen bilden die Grundlage für die Koordinierung der politischen Agitation und der bayernweiten Kampagnen, wie beispielsweise die Aktivitäten gegen den rechtsextremistischen "Rudolf-Heß-Gedenkmarsch" am 17. August in Wunsiedel. 3.1.4 Informationelle Vernetzung Einige der autonomen Zusammenhänge in Bayern sind als Mitgliedsgruppen des bayernweiten autonomen Bündnisses AABB in den Informationsaustausch autonomer Gruppierungen eingebunden. Für den lokalen, überregionalen und internationalen Informationsaustausch verwenden Autonome darüber hinaus Szenepublikationen, Info-Läden, Szenelokale sowie verdeckte informelle Strukturen, wie Telefonketten. Info-Läden dienen dem autonomen Spektrum nicht nur als zentrale Informations-, Kommunikationsund Anlaufstellen, sondern tragen auch zur Verbreitung und Koordinierung autonomer Aktivitäten bei und haben wesentlichen Einfluss auf die Mobilisierungsfähigkeit der Szene. In Bayern bestehen Info-Läden unter anderem in München, Nürnberg, Augsburg und Landshut. Bei bundesweiten Info-Laden-Vernetzungstreffen wird über "Konzepte und Perspektiven", aber auch über "Kämpfe und Widerstandsformen" diskutiert. Um die Vernetzung und den Austausch der Info-Läden untereinander zu fördern, wurden "zentrale Internet-Seiten" eingerichtet. Die autonome Szene nutzt intensiv das Internet als Kommunikationsmittel und sieht in den entsprechenden Verschlüsselungssystemen ein geeignetes Instrument gegen staatliche Kontrolle. Es werden, zum Teil über ausländische Anbieter, aktuelle Termine, Nachrichten, Diskussionsbeiträge und Publikationen mit teilweise strafbarem Inhalt Linksextremismus 125 verbreitet. Die Beiträge umfassen auch Selbstdarstellungen autonomer Zusammenschlüsse, wie z.B. der Gruppierungen "red action nürnberg" und "Antifaschistische Aktion Ulm/Neu-Ulm". 3.1.5 Autonome Publikationen Trotz der steigenden Attraktivität der modernen elektronischen Medien haben die klassischen Publikationen nach wie vor große Bedeutung für die autonome Szene. Im Bundesgebiet gibt es über 50 dieser Szenepublikationen, in denen Diskussionspapiere, Aufrufe zu Veranstaltungen, Selbstbezichtigungsschreiben und andere Beiträge veröffentlicht werden. Die Beiträge spiegeln die aktuellen Diskussionen und Aktionen der Autonomen wider. Bundesweite Bedeutung haben dabei nur wenige Schriften, darunter insbesondere die in Berlin erscheinende "INTERIM". Die Mehrzahl der Publikationen hat dagegen einen vorrangig regionalen Verbreitungskreis, wie die in Bayern erscheinenden Druckwerke. Erwähnenswert sind regelmäßige Schriften wie "barricada - zeitung für autonome politik und kultur" (Nürnberg), "Grossraumzeitung - Nürnberg/Erlangen/Fürth", "Out of Control" (München), "Pro.K - Zeitung des revolutionären Aufbau München" und "Antifaschistische Autonome ArbeiterInnen Info Zeitung" (Landshut). Die Publikationen werden oft konspirativ hergestellt und verbreitet. Neben der Berichterstattung über autonome Aktivitäten schüren die Schriften vor allem den Hass gegen die Staatsund Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Sie enthalten ferner unverhohlene Aufforderungen und Anleitungen zu Gewalttaten, unter anderem gegen Rechtsextremisten und deren Einrichtungen. 3.1.6 Schwerpunktthemen und Aktionen Schwerpunktthemen waren im Jahr 2002 "Antifaschismus", "Anti-Globalisierung" und "Antiimperialismus". "Antirassismus" und "Anti-Atomkraft" hatten dagegen geringere Bedeutung. Auch die Debatte über 126 Linksextremismus eine Neuorientierung der autonomen Szene in Deutschland wurde fortgeführt. 3.1.6.1 Strategiedebatte - neue Gewaltdiskussion In der gewaltbereiten linksextremistischen Szene dauert die "Militanzdebatte" an. Seit Jahren diskutieren unterschiedliche autonome Gruppierungen, mit dem Ziel die bisher im autonomen Spektrum weitgehend vorherrschende Trennung zwischen der akzeptierten "Gewalt gegen Sachen" und der außerhalb der antifaschistisch orientierten Gruppen eher abgelehnten "Gewalt gegen Personen" zu überwinden. "Verantwortliche des Herrschaftssystems" wie Polizisten, Politiker, Militärangehörige und führende Repräsentanten von Wirtschaftsund Finanzunternehmen sollen wieder Ziel von Angriffen werden. Die theoretische Diskussion wird auch von Anschlägen zumeist in Form von Brandanschlägen begleitet. Diese - schwerpunktmäßig im Berliner Raum begangenen - Straftaten richteten sich bisher gegen staatliche Gebäude und Fahrzeuge von Großunternehmen. In der Berliner Szenepublikation "INTERIM" erschienen einige Diskussionspapiere autonomer Gruppen, aus denen eine überwiegend positive Reaktion auf die bis dahin publizierten Papiere und die begangenen Anschläge deutlich wurde. Teile der autonomen Szene haben Interesse an einer konstruktiven Diskussion um die Fortentwicklung "militanter Politik". So enthielt die "INTERIM", Nummer 542 vom 24. Januar, ein Diskussionspapier einer autonomen Gruppe aus Magdeburg. Die Verfasser sprechen sich für eine Überwindung der bisherigen "autonomen Kleingruppenmilitanz" aus sowie dafür, langfristig eine "neue militante Organisierung" in Deutschland zu etablieren. Damit werden nicht nur gemeinsame politisch-inhaltliche Vorstellungen gefordert, sondern vielmehr ein organisatorischer Rahmen für gewaltbereite Gruppen. Nach dem Vorbild der ehemaligen linksterroristischen Strukturen "Revolutionäre Zellen" (RZ) und "Bewegung 2. Juni" solle ein Organisationsgeflecht autonomer Gruppen entstehen, die eigenständig aus der Legalität heraus militante Aktionen durchführen sollen. Entscheidend dabei sei die Vermittelbarkeit derartiger Aktionsformen und die Verankerung in den regionalen Spektren. In der "INTERIM", Nummer 550 vom 9. Mai, führt die in Berlin aktive und maßgeblich an dieser Diskussion beteiligte "militante gruppe Linksextremismus 127 (mg)" unter dem Titel "Für einen revolutionären Aufbauprozess - für eine militante Plattform" aus: "Exekutionen von EntscheidungsträgerInnen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sind sowohl aus logistischer als auch aus repressionstechnischen Gründen erst während einer längeren intensiven Diskussion unter uns zu entscheiden. Nicht zuletzt ist die Methode des bewaffneten Kampfes (d.h. vorrangig die Tötung von Repräsentanten und Funktionsträgern) Ergebnis der strategischen Linie unseres revolutionären Projekts und der Einschätzung der gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Die Erkenntnis der Notwendigkeit einer Bewaffnung unserer Struktur ist der eine Aspekt, die konkrete Aufnahme des bewaffneten Kampfes ein anderer. D.h., daß die Schaffung einer logistischen Basis eines potentiellen bewaffneten Kampfes nicht unmittelbar mit deren Nutzung zusammenfällt. Entscheidend ist allerdings, daß wir diese logistische Basis als einen integralen Bestandteil eines komplexen revolutionären Aufbauprozesses betrachten." Zu einem Brandanschlag am 24. September auf Fahrzeuge eines Autohauses in Berlin veröffentlichten militante Linksextremisten in der "INTERIM", Nummer 558 vom 10. Oktober, ein Selbstbezichtigungsschreiben. Darin wird Bezug genommen auf die "Militanzdebatte". Die Verfasser betonen die Notwendigkeit der internationaIistischen und antiimperialistischen Ausrichtung eines "revolutionären Aufbauprozesses" und propagieren einen Bezug zu linken Terrororganisationen im Ausland, wie den "Roten Brigaden/Für den Aufbau der Kämpfenden Kommunistischen Partei" in Italien. 3.1.6.2 Antifaschismus Im Mittelpunkt der Aktivitäten autonomer Gruppen in Bayern standen wie im Vorjahr Proteste und Aktionen gegen rechtsextremistische Veranstaltungen, aber auch gezielte Angriffe gegen einzelne tatsächliche und vermeintliche Rechtsextremisten. Von den 21 in Bayern verübten Gewalttaten entfallen 16 auf diesen Bereich. Linksextremisten spähen ihre politischen Gegner ebenso wie Rechtsextremisten gezielt aus und veröffentlichen seit Jahren entsprechende "Steckbriefe" in ihren Publikationen. Gerade im Rahmen des Antifaschismus betreiben Autonome in Bayern eine nach wie vor rege Bündnispolitik. Neben kontinuierlich 128 Linksextremismus arbeitenden "Aktionsbündnissen" auf zumeist lokaler bzw. regionaler Ebene überwiegend mit linksextremistischen Gruppierungen und Parteien wie in Augsburg und Nürnberg gibt es auch anlassbezogene Bündnisse, in denen häufig auch demokratische Gruppen und Institutionen mitarbeiten. Diese anlassbezogenen Bündnisse dienen primär der Vorbereitung und Koordinierung von Demonstrationen, Versammlungen, Mahnwachen, Informationsständen und anderen Veranstaltungen gegen rechtsextremistische Aktivitäten. Derzeit gelingt es der autonomen antifaschistischen Szene nur schwer, derartige Bündnisveranstaltungen zu dominieren. Autonome beteiligten sich unter anderem an folgenden antifaschistischen Aktivitäten in Bayern: In München waren mehrere Informationsstände der rechtsextremistischen NPD unter anderem am 12. Januar, 19. Januar und 27. April Ziel heftiger Angriffe. Die teilweise bis zu 150 Gegendemonstranten, darunter auch Autonome, versuchten, die Informationsstände mit Gewalt zu stürmen bzw. den Zugang zu blockieren. Dabei wurden insgesamt sieben Gewalttaten wie Landfriedensbruch, Körperverletzung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte verübt. Polizeibeamte wurden insbesondere am 12. Januar mit Eiern, Schneebällen und Bierdosen beworfen. Auch Kundgebungen von Rechtsextremisten am 1. Mai, die in den letzten Jahren zugenommen haben, waren bundesweit Ziel gewalttätiger Protestaktionen von Linksextremisten. Traditionell besitzt der 1. Mai für Linksextremisten eine erhebliche symbolische Bedeutung; sie empfinden daher Veranstaltungen von Rechtsextremisten an diesem Tag als besondere Provokation. Protestdemonstrationen von Linksextremisten in Berlin, Dresden, Göttingen, Ludwigshafen, Mannheim, Frankfurt am Main und in Fürth belegen dies. So stellten sich etwa 3.000 Gegendemonstranten, darunter auch Angehörige linksextremistischer Gruppierungen und Organisationen sowie gewaltbereite Autonome, den etwa 350 Teilnehmern der NPD-Veranstaltung in Fürth entgegen. Teilnehmer dieser Kundgebung wurden von Gegendemonstranten bereits auf dem Anmarschweg mit Steinen und Eiern beworfen. Gegendemonstranten versuchten Polizeiabsperrungen zu überwinden, wurden aber von Einsatzkräften der Polizei abgedrängt. Einzelne Gewalttäter warfen Flaschen, Dosen und schossen mit Stahlkugeln. Die Rede des bayerischen NPD-Landesvorsitzenden Ralf Ollert wurde lautstark massiv gestört. Linksextremismus 129 Am 17. August demonstrierten rund 2.500 Rechtsextremisten aus dem NPDund Neonazispektrum zum Gedenken an den 15. Todestag des ehemaligen Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß in Wunsiedel/Oberfranken. An Protestaktionen gegen den Aufmarsch der Rechtsextremisten nahmen etwa 500 Personen teil, darunter etwa 250 bis 300 Linksextremisten. Das "Antifaschistische Aktionsbündnis Bayern" (AABB) hatte im Internet seit mehreren Monaten unter dem Motto "Rudolf-Heß-Gedenkmarsch stoppen! Kein Friede mit Deutschland!" zu einer Protestdemonstration am 17. August in Wunsiedel mobilisiert. Am Morgen des 17. August bauten unter anderem PDS, Linksruck und Autonome Informationsstände in Wunsiedel auf. Die gemeinsam von linksextremistischen und demokratischen Gruppierungen veranstaltete Protestdemonstration unter dem Motto "Wunsiedel ist bunt, nicht braun!", an der sich etwa 500 Personen beteiligten, begann am frühen Nachmittag. Angehörige der autonomen Szene versuchten vom vorgeschriebenen Demonstrationsweg abzuweichen und Teilnehmer des rechtsextremistischen "Trauermarsches" anzugreifen. Die Polizei verhinderte gewalttätige Aktionen. Gegen die vom 8. Oktober bis 24. November in München gezeigte Wanderausstellung "Verbrechen der Wehrmacht, Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 - 1944" des Hamburger Instituts für Sozialforschung führten Rechtsextremisten aus dem neonazistischen Spektrum der "Freien Nationalisten" verschiedene Protestveranstaltungen durch. Etwa 3.000 Gegendemonstranten unter großer Beteiligung linksextremistischer, autonomer Kräfte stoppten am 12. Oktober den Aufzug von etwa 1.000 Rechtsextremisten durch Blockadeaktionen nach nur wenigen hundert Metern. Nachdem die Zahl der Gegendemonstranten innerhalb kurzer Zeit von anfänglich etwa 500 Personen stark zugenommen hatte, brach die Polizei die Räumung der Blockade ab, so dass die rechtsextremistische Demonstration nicht mehr fortgesetzt werden konnte. Die Teilnehmer mussten durch starke Polizeikräfte von den Gegendemonstranten getrennt gehalten werden, um Gewalttaten zu verhindern. Während der Dauer der "Wehrmachtsausstellung" hielten Rechtsextremisten wöchentlich weitere kleinere Protestkundgebungen auf dem 130 Linksextremismus Marienplatz und Stachus ab, die jeweils von Gegnern - darunter auch Autonome - mit Sprechchören und Pfiffen lautstark gestört wurden. Den Abschluss der rechtsextremistischen Protestaktionen gegen die "Wehrmachtsausstellung" stellte eine zunächst als "Sternmarsch" geplante Demonstration am 30. November in München dar, zu der sich an diesem Tag aber nur etwa 100 Rechtsextremisten einfanden. Dagegen protestierten rund 1.000 Personen, darunter auch ein großer Teil Linksextremisten. Nach einer halbstündigen zentralen Kundgebung auf dem Odeonsplatz zog ein Großteil der Gegendemonstranten in Richtung des erwarteten rechtsextremistischen Zugweges. Nur durch ein großes Polizeiaufgebot konnten Blockadeaktionen verhindert werden, so dass die Demonstration der Rechtsextremisten wie geplant durchgeführt werden konnte. Begleitet wurde deren Aufzug durch lautstarke Sprechchöre der Gegendemonstranten. 3.1.6.3 Anti-Globalisierungs-Proteste Die gewalttätigen Proteste eines großen Teils der rund 50.000 Demonstranten gegen die Tagung der Welthandelsorganisation im November 1999 im amerikanischen Seattle wirkten als Initialzündung für gewaltbereite Globalisierungs-Gegner, die danach einige internationale Gipfeltreffen mit massiven Krawallen überzogen haben. Auch deutsche Linksextremisten beteiligen sich an entsprechenden Aktionen. Nach Seattle protestierten Globalisierungs-Gegner aus verschiedenen europäischen Ländern im September 2000 gegen die Tagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in Prag, gegen den EU-Gipfel im Juni 2001 in Göteborg und im Juli 2001 gegen den G-8-Gipfel in Genua. In Genua demonstrierten rund 150.000 Globalisierungs-Gegner, darunter mehrere tausend Militante. Dabei kam es zu schweren Krawallen, bei denen auch ein Demonstrant zu Tode kam. Genua stellte nicht nur einen Höhepunkt der Anti-Globalisierungs-Proteste dar, sondern vielmehr auch einen Wendepunkt. Das gemäßigtere Spektrum innerhalb der Anti-Globalisierungs-Bewegung geht überwiegend auf Distanz zum gewaltbereiten Teil. Außerdem ist es durch eine starke Polizeipräsenz, eine bessere Ausrüstung, eine effektivere Einsatzplanung und strenge Grenzkontrollen den europäischen Sicherheitsbehörden weitgehend gelungen, gewaltbereite Störer von Protesten gegen internationale Tagungen und Gipfeltreffen abzuhalten. Dadurch beteiligten sich auch bayerische Linksextremisten dieses Jahr weniger an Anti-Globalisierungs-Protesten im Ausland. Linksextremismus 131 Dennoch gelang es auch danach militanten Globalisierungs-Gegnern, in größerem Umfang Gewalttaten bei internationalen Ereignissen durchzuführen. So kam es anlässlich des EU-Gipfels im März im spanischen Barcelona nach einer zunächst friedlich verlaufenden Großdemonstration von rund 250.000 Personen unter dem Motto "Gegen ein Europa des Kapitals" zu massiven Auseinandersetzungen mit der Polizei und zu hohem Sachschaden. 3.1.6.4 Antiimperialismus Die im Oktober 2001 von den USA unter maßgeblicher Beteiligung der NATO durchgeführten militärischen Maßnahmen in Afghanistan und eine drohende militärische Auseinandersetzung mit dem Irak haben dem linksextremistischen, autonomen Spektrum ein neues Agitationsfeld eröffnet. Linksextremisten spekulieren dabei auf eine große mobilisierungsfähige Friedensbewegung bis zu demokratischen und kirchlichen Organisationen und die Angst der Menschen vor Terror und Krieg. Das Aktionsfeld "Antiimperialismus" bekommt damit wieder eine verstärkte Bedeutung für linksextremistische, autonome Zusammenhänge. Es gelang Linksextremisten, ihrem Spektrum einen argumentativen Zusammenhang zwischen "Anti-Globalisierung" und "Antiimperialismus" aufzuzeigen - nach der Kurzformel: "Die NATO und damit die hinter ihr stehende Führungsmacht USA sichern das Funktionieren des globalisierten Kapitalismus militärisch ab und vergrößern mit militärischen Mitteln dessen Einflussbereich." Diese neue Ausrichtung kam zum ersten Mal in größerem Stil bei den Aktivitäten gegen die 38. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik im Februar zum Vorschein, bei der sich eine Vielzahl von internationalen Regierungsvertretern der NATO-Staaten und Repräsentanten aus dem Militärund Rüstungsbereich trafen (vgl. auch Nummer 2.4 dieses Abschnitts). 3.1.6.5 Weitere Aktionen Wie in den Vorjahren verübten Gewalttäter am "Revolutionären 1. Mai" in Berlin schwere Straftaten. An den Gewalttaten beteiligten sich neben zahlreichen Aktivisten der autonomen und antiimperialis- 132 Linksextremismus tischen Szene Berlins auch Linksextremisten aus anderen Bundesländern sowie "unpolitische" jugendliche Chaoten. Aus Bayern nahmen nur wenige Autonome teil. Die Polizei nahm mehr als 150 Personen fest. 163 Polizeibeamte wurden verletzt. Durch die massiven Ausschreitungen in Berlin entstand ebenso wie in den Vorjahren erheblicher Sachschaden. Es wurden Fahrzeuge in Brand gesetzt, ein Supermarkt geplündert und Scheiben eingeworfen. Polizeibeamte wurden mit Steinen und Flaschen beworfen und angegriffen. Bayerische Autonome konzentrierten sich vorwiegend auf die autonome 1.-Mai-Veranstaltung in Nürnberg bzw. die Protestkundgebung gegen die NPD-Veranstaltung in Fürth. Die "Revolutionäre 1.-Mai-Demo" in Nürnberg verlief weitgehend störungsfrei. Die etwa 250 Teilnehmer beendeten die Kundgebung nach etwa 30 Minuten und versuchten in mehreren Gruppen mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach Fürth zu gelangen, um an der Protestkundgebung gegen die NPD-Veranstaltung teilzunehmen (vgl. auch Nummer 3.1.6.2 dieses Abschnitts). 3.1.6.6 Einflussnahme auf die Antikernkraftbewegung Das Thema Antikernkraft hat bei den Autonomen in Bayern derzeit eine eher geringe Bedeutung. Deshalb verlief der am 15./16. Mai durchgeführte Transport von abgebrannten Brennelementen für Kernkraftwerke in die Wiederaufarbeitungsanlagen La Hague/Frankreich und Sellafield/Großbritannien, bei dem auch Brennelemente aus einem bayerischen Kernkraftwerk transportiert wurden, in Bayern weitgehend störungsfrei. Im Vorfeld des Transports versuchten unbekannte Täter im Raum München am 4. und 5. Mai vergeblich, Oberleitungen an Bahnstrecken durch darauf angebrachte Gegenstände zu zerstören. Der zweite Castor-Transport vom 11. bis 14. November führte vom französischen La Hague zum Zwischenlager Gorleben/Niedersachsen. Im niedersächsischen Wendland wurde der Transport durch Blockaden und weitere Aktionen von Kernkraftgegnern mehrfach verzögert. Im Vorfeld des Transportes fanden seit Ende Oktober vor allem im Wendland verschiedene Protestveranstaltungen statt, bei denen es zu Straßenunterhöhlungen und Angriffen auf Einsatzkräfte der Polizei, unter anderem durch Verspritzen von Buttersäure, gekommen war. Unmittelbar vor Beginn des Transports nahmen die Gewalttätigkeiten seitens der Atomkraftgegner an Intensität zu. In Bayern griffen Linksextremismus 133 Autonome aus Nürnberg den Castor-Transport nach Gorleben lediglich thematisch auf. In der November-Ausgabe der Szenepublikation "barricada" wird unter der Überschrift "Castor Alarm" auf die Vorbereitungen der Castor-Gegner in Niedersachsen hingewiesen. 3.2 Gewalttaten in Bayern Bundesweit wurden 371 Gewalttaten mit linksextremistischer Motivation gegenüber 750 Gewalttaten im Jahr 2001 erfasst. Die Zahl der Gewalttaten von Linksextremisten in Bayern ist im Vergleich zum Vorjahr ebenfalls erheblich zurückgegangen. Insgesamt wurden in Bayern 21 (2001: 39) linksextremistisch motivierte Gewalttaten begangen. Der Anteil Bayerns an diesen Straftaten in Deutschland beträgt 5,6 %. In 16 Fällen war der "Antifaschismus" Motiv für die von Linksextremisten in Bayern verübten Gewalttaten. Sie stehen im Zusammenhang mit Aktivitäten gegen Versammlungen rechtsextremistischer Organisationen, insbesondere der NPD, und Angriffen gegen tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextremisten. So griff ein Linksextremist am 16. Januar vor dem Wahlamt in Nürnberg den Verantwortlichen einer Flugblattverteilaktion der NPD zum Thema "Ausländerstopp" tätlich an. Er versetzte ihm einen Faustschlag ins Gesicht. Hinzugekommene Autonome traktierten das am Boden liegende Opfer anschließend mit Füßen. Der Verletzte musste im Krankenhaus ambulant behandelt werden. Bei tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Linksund Rechtsextremisten anlässlich einer NPD-Mahnwache am 13. April in Erlangen erlitt ein NPD-Anhänger Gesichtsverletzungen. Im Zusammenhang mit der NPD-Kundgebung am 1. Mai in Fürth wurden insgesamt drei linksextremistische Gewaltdelikte bekannt. Ein der anarchistischen Szene zuzurechnender Täter zündete einem mutmaßlichen NPD-Teilnehmer in der U-Bahn den Pullover an. Eine weitere Szeneangehörige trat dem Opfer in den Unterleib. In Nürnberg griffen mehrere der anarchistischen Szene zuzurechnende Personen einen vermeintlichen "Rechten" an. Sie rissen ihrem Opfer die Jacke vom Körper und entwendeten gewaltsam sein T-Shirt. An anderer Stelle griff ein Anarchist einen Skinhead mit Faustschlägen an und zerriss den Pullover des am Boden liegenden Opfers. In der Nacht vom 31. Juli auf den 1. August warfen antifaschistisch motivierte Straftäter in Herzogenaurach, Landkreis Erlangen-Höch- 134 Linksextremismus stadt, mit brauner Farbe gefüllte Beutel gegen das Wohnhaus und das Fahrzeug eines Aktivisten der örtlichen rechtsextremistischen Szene. In der darauf folgenden Nacht wurde das Fahrzeug eines Rechtsextremisten in Nürnberg stark beschädigt. Die Täter besprühten den PKW zudem mit der Parole "Nazis raus!". Zuvor waren die beiden Geschädigten namentlich und mit Abbildung und Adresse in der Juni-Aus-gabe der Nürnberger autonomen Szenepublikation "barricada" als Rechtsextremisten "vorgestellt" worden. 3.3 Sonstige militante Linksextremisten mit internationalistischer Orientierung Neben den Autonomen gibt es nach wie vor gewaltbereite Linksextremisten, die vor allem antiimperialistisch und internationalistisch ausgerichtet sind. Am bedeutendsten ist in diesem Spektrum die bundesweite "Initiative Libertad!". Nicht selten handelt es sich dabei um Personen, die der ehemaligen Terrorgruppe "Rote Armee Fraktion" (RAF) nahe standen und aus deren Unterstützerspektrum stammen. Diese Gruppen und Einzelpersonen sind vor allem in der Solidaritätsarbeit für "politische Gefangene" aktiv. Seit einem Jahr beschäftigen sie sich auch verstärkt mit dem "Nahost-Konflikt" zwischen Israel und den Palästinensern. Zum zweiten Jahrestag der palästinensischen Intifada am 28. September fanden europaweit Kundgebungen unter Beteiligung von Linksextremisten statt. In Nürnberg lautete das Motto für eine entsprechende Veranstaltung "Freiheit für Palästina! Unterstützt den palästinensischen Befreiungskampf!" Die "Initiative Libertad!" beteiligte sich ferner an den Protesten gegen die 38. Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik im Februar. Sie beteiligt sich auch an den Planungen von Protestaktionen gegen die Folgekonferenz im Februar 2003. Linksextremismus 135 4. Übersicht über erwähnenswerte linksextremistische und linksextremistisch beeinflusste Organisationen sowie deren wesentliche Presseerzeugnisse Organisation (einschließlich Mitglieder Ende 2002 Publikationen (einschließlich Gründungsdatum und Sitz) Bayern Deutschland Erscheinungsweise u. Auflage) 1. Marxisten-Leninisten und andere revolutionäre Marxisten 1.1 Kernorganisationen: Deutsche Kommunistische Partei (DKP) 600 4.700 Unsere Zeit (UZ) 14 Bezirksorganisationen, aufgeteilt wöchentlich, 10.000 in Kreisund Grundorganisationen Marxistische Blätter 26.09.1968, Essen zweimonatlich, 3.000 Partei des Demokratischen 77.000 Neues Deutschland (ND) Sozialismus (PDS) - PDS-nahe Zeitung - - neuer Name beschlossen werktäglich, 70.000 auf SED-Parteitag am DISPUT 16./17.12.1989 -, Berlin monatlich, 11.000 PDS-Pressedienst wöchentlich, 2.200 UTOPIE-kreativ-Diskussion sozialistischer Alternativen monatlich, 800 Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der PDS monatlich, 1.000 PDS Landesverband Bayern 700 TITEL (Informationsforum mit 12 Kreisverbänden und (einschließlich der PDS Bayern) 29 Basisorganisationen Sympathisanten) unregelmäßig, 500 11.09.1990, München Arbeiterbund für den Wiederaufbau 100 200 Kommunistische der KPD (AB) Arbeiterzeitung (KAZ) 1973, München vierteljährlich Marxistisch-Leninistische 140 2.000 Rote Fahne Partei Deutschlands (MLPD) wöchentlich, 7.500 10 Parteibezirke, über 100 lernen u. kämpfen (luk) Ortsgruppen und Stützpunkte monatlich, 1.000 17./18.06.1982, Essen 136 Linksextremismus Organisation (einschließlich Mitglieder Ende 2002 Publikationen (einschließlich Gründungsdatum und Sitz) Bayern Deutschland Erscheinungsweise u. Auflage) Linksruck-Netzwerk 40 500 Sozialismus von unten (Sozialistische Arbeitergruppe - SAG) zweimonatlich, 3.500 1993, Berlin Linksruck monatlich, 7.000 Marxistische Gruppe (MG) München 700 (Aktive) 10.000 GEGENSTANDPUNKT 1969/70 AK Rote Zellen, München Herausgeber: ehemalige ("aufgelöst" zum 01.06.1991) Funktionäre der MG vierteljährlich, 7.000 1.2 Nebenorganisationen: Nebenorganisation der DKP: Sozialistische Deutsche 50 350 POSITION Arbeiterjugend (SDAJ) unregelmäßig, 1.500 Landesverbände, Kreisverbände und Ortsgruppen, 04./05.05.1968, Essen Nebenorganisation der MLPD: Jugendverband REBELL 20 Rebell - Beilage zur Roten Fahne - 1.3 Beeinflusste Organisationen: DKP-beeinflusst: Vereinigung der Verfolgten des 900 9.000 antifa-rundschau Naziregimes - Bund der Antifaschisvierteljährlich, 7.500 tinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) antifa Landesvereinigungen mit Kreisund monatlich, 4.000 Ortsvereinigungen, 15.-17.03.1947, vereinigt mit VVdN-BdA am 03.-05.10.2002, Hannover MLPD-beeinflusst: Frauenverband Courage 20 500 Courage vierteljährlich Trotzkistisch beeinflusst: Jugend gegen Rassismus in Europa (JRE) 60 No pasaran Vorfeldorganisation der trotzkistischen "Sozialistischen Alternative VORAN" (SAV) 50 350 1992, Köln Linksextremismus 137 Organisation (einschließlich Mitglieder Ende 2002 Publikationen (einschließlich Gründungsdatum und Sitz) Bayern Deutschland Erscheinungsweise u. Auflage) 2. Autonome und sonstige gewaltbereite Linksextremisten Autonome etwa über zum Teil unregelmäßig 450 5.500 erscheinende Szeneblätter wie: radikal, INTERIM; auf lokaler Ebene u.a: barricada 3. Von mehreren Strömungen des Linksextremismus beeinflusst Münchner Bündnis gegen Rassismus 40 München Antifaschistisches Aktionsbündnis 20 Nürnberg Münchner Kurdistan-Solidaritätskomitee 20 München 138 Ausländerextremismus 5. Abschnitt Extremistische und sicherheitsgefährdende Bestrebungen von Ausländern 1. Allgemeines 1.1 Merkmale des Ausländerextremismus Ausländergruppen werden als extremistisch eingestuft, wenn sie sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung richten. Dazu zählen insbesondere die Organisationen islamischer Extremisten, die sich die Errichtung eines islamischen Staates, wie z.B. im Iran, auch in Deutschland zum Ziel gesetzt haben und damit wesentliche Grundsätze unserer freiheitlichen Verfassung beseitigen wollen. Der gesetzlichen Beobachtung unterliegen ferner Bestrebungen, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet sind bzw. Gruppierungen von Ausländern, die eine gewaltsame Änderung der politischen Verhältnisse im Heimatland anstreben und dadurch auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden. 1.2 Entwicklung der Organisationen Die Gesamtzahl der Mitglieder extremistischer Ausländervereinigungen verringerte sich in Bayern geringfügig von 10.450 im Jahr 2001 auf 10.370. Darin eingerechnet sind rund 1.800 Anhänger des in Deutschland verbotenen Freiheitsund Demokratiekongresses KurdisMitgliederstärke LinksExtreme Islamische Gesamtzahl extremistischer extremisten Nationalisten Extremisten Mitglieder Ausländerorganisationen Kurden 1.950 (1.950) - - - - 1.950 (1.950) in Bayern Türken 390 (390) 2.000 (2.130) 5.080 (5.170) 7.470 (7.690) Sonstige* 460 (360) 70 (70) 420 (380) 950 (810) Gesamtzahl 2.800 (2.700) 2.070 (2.200) 5.500 (5.550) 10.370 (10.450) (in Klammern die Vergleichszahlen des Vorjahrs) * Albaner, Araber, Inder, Iraner, Srilanker u.a. Ausländerextremismus 139 Entwicklung Mitglieder der Mitglie100.000 derzahlen 80.000 extremistischer Ausländer60.000 Deutschland organisationen 57.350 39.950 40.000 20.000 Bayern 7.200 10.370 0 1993 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 Ausländische Extremisten 31.290 in Deutschland 35.000 30.600 30.000 Islamische Extremisten 25.000 19.360 20.000 15.000 Linksextremisten 17.850 10.000 8.450 5.000 Extreme Nationalisten 8.900 0 1998 1999 2000 2001 2002 Ausländische Extremisten in Bayern 7.000 5.540 6.000 5.500 Islamische Extremisten 5.000 4.000 3.220 3.000 Linksextremisten 2.800 2.000 1.820 1.000 Extreme Nationalisten 2.070 0 1998 1999 2000 2001 2002 140 Ausländerextremismus tans (KADEK, vormals Arbeiterpartei Kurdistans PKK). Wie in den Vorjahren stellten die Organisationen extremistischer Türken (einschließlich kurdischer Volkszugehöriger) mehr als 90 % aller ausländischen Extremisten in Bayern. Über die Hälfte aller ausländischen Extremisten ist dem islamischen Fundamentalismus zuzurechnen. Die Zahl der Anhänger des ehemaligen "Kalifatsstaats" lag nach den im Rahmen des Vereinsverbots sichergestellten Unterlagen bei 280 Personen. Mit den Terroranschlägen in den USA am 11. September 2001 hat die aktuelle Gefährdung der westlichen Welt durch fanatische islamische Fundamentalisten eine neue Dimension erreicht. Langfristig bedeutet der islamische Fundamentalismus im Hinblick auf seine weltweiten Expansionsbestrebungen inzwischen eine größere Gefahr für unsere freiheitliche demokratische Grundordnung als die Bestrebungen gewaltbereiter türkischer Linksextremisten und des kurdischen KADEK. Die Äußerungen Usama Bin Ladins belegen, dass Deutschland nicht mehr nur Vorbereitungsund Ruheraum islamistischer Terroristen ist, sondern auch Tatort und Ziel von Terrorakten sein kann. 1.3 Integrationsfeindlichkeit des islamischen Extremismus Der Islam als Religion und seine Ausübung werden nicht vom Verfassungsschutz beobachtet. Der Beobachtung unterliegen jedoch Bestrebungen, die von islamischen Gruppen ausgehen und sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Bestand Bayerns bzw. des Bundes richten (islamischer Fundamentalismus), sowie Bestrebungen, die durch Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen die auswärtigen Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden und damit oder durch entsprechende Propaganda auch das friedliche Zusammenleben der Völker beeinträchtigen. Die im Bundesgebiet aktiven islamisch-extremistischen Gruppierungen wollen die in ihren Heimatländern bestehenden Staatsund Gesellschaftsordnungen durch ein auf dem Koran und der Sharia (islamisches Rechtssystem) basierendes islamisches Gesellschaftssystem ersetzen. Überwiegend streben sie sogar die Errichtung eines anti-laizistischen Gottesstaats auf der ganzen Welt an. Sie gehen davon aus, dass durch die Sharia eine alle Lebensbereiche umfassende islamische Gesellschaftsordnung vorgegeben sei, die es überall zu verwirklichen gelte. Ihrer Überzeugung nach entsprechen die gesellschaftspolitischen Vorstellungen des Islamismus wegen ihres gött- Ausländerextremismus 141 lichen Ursprungs als einziges gesellschaftliches System in allen Aspekten vollständig der menschlichen Natur. Die Trennung von Staat und Religion in westlichen Staaten wird daher nicht nur als "un-islamisch" abgelehnt, sondern auch aktiv bekämpft. Die Gleichheit der Menschen wird verneint. Nur Muslime gelten als völlig rechtsfähig und können gleiche Rechte haben, sofern diese nicht im Widerspruch zur Sharia stehen. Menschenrechte nach westlichem Verständnis werden nur zum Teil anerkannt. Die Sharia liefert zudem die Legitimation für unmenschliche Strafen. Der islamische Fundamentalismus ist geprägt von Intoleranz gegenüber Andersgläubigen, teilweise sogar selbst gegen friedliche, moderate Muslime. Aufgrund seines Absolutheitsanspruchs fordert er einen aktiven Kampf gegen alle "Ungläubigen" und die weltweite Islamisierung, falls nötig durch Unterwerfung aller Nichtmuslime. Westliche Demokratieund Gesellschaftsvorstellungen werden abgelehnt, sofern sie nicht im Einklang mit der von den Fundamentalisten vorgenommenen Auslegung des Korans und der Sharia stehen. Dies bedeutet die Ächtung des demokratischen Prinzips der Volkssouveränität und der Chancengleichheit der Parteien. Ferner gibt es keine Gewaltenteilung, keine demokratische Legislative, keine Kontrolle der obersten Staatsgewalt. Eine Eingliederung von Muslimen in die demokratische Gesellschaft ist damit wesentlich erschwert. Der islamische Fundamentalismus ist daher zwangsläufig integrationsfeindlich. Islamische fundamentalistische Gruppen wenden sich deshalb massiv gegen eine echte Integration. Sie versuchen, vor allem junge Menschen zu beeinflussen und sie zu einer Ablehnung unserer demokratischen Ordnung und unserer freiheitlichen Gesellschaft zu bewegen. Dazu dienen die privaten Koranschulen extremistischer Organisationen wie auch die Pflicht für Frauen und Mädchen, Kopftücher zu tragen. Sie trägt zur bewussten Abgrenzung von westlichen Lebensgewohnheiten bei. Dem Politikverständnis von Islamisten ist auch ein taktisches Verhältnis zur Frage der Gewaltanwendung immanent. Nach Ansicht islamistischer Theoretiker schließt der "Djihad" (wörtlich: Innerer Kampf, Anstrengung oder Heiliger Krieg) als Instrument zur Verwirklichung der islamischen Gesellschaftsordnung alle zum Sieg verhelfenden Mittel ein. So befürwortet die Mehrzahl der islamistischen Gruppierungen aus dem arabischen Raum Gewaltanwendung als Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele. Die im Bundesgebiet mitglieder- 142 Ausländerextremismus stärkste islamistische Gruppierung, die türkische Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG), setzt dagegen vordergründig auf politische Aktivitäten zur Veränderung der gesellschaftlichen Ordnungen in der Türkei und in Deutschland. 1.4 Gewalttaten Die Zahl der ausländischen Extremisten zuzurechnenden Gewalttaten ist in Deutschland von 84 im Jahr 2001 auf 55, in Bayern von elf im Jahr 2001 auf neun zurückgegangen. Darunter sind zwei Fälle der Erpressung bzw. Räuberischen Erpressung durch PKK/KADEK-Aktivisten sowie zwei Körperverletzungen, welche ebenfalls KADEK-Aktivisten zuzurechnen sind. Bei drei Körperverletzungen lagen antistaatliche bzw. antifaschistische Motive zugrunde. Aufgrund der bundeseinheitlichen Erfassungskriterien werden sie aber dem Ausländerextremismus zugerechnet. Bei einer verbotenen Demonstration anlässlich der Konferenz für Sicherheitspolitik in München verletzte am 1. Februar ein Italiener einen eingesetzten Polizeibeamten durch einen Schlag am Kopf. Am 7. Mai verletzte in Nürnberg ein Südafrikaner einen mutmaßlichen Rechtsextremisten durch Fußtritte in den Oberkörper und gegen den Kopf. In Passau griffen am 23. November unbekannte Skinheads, die mit einem österreichischen PKW unterwegs waren, zwei Jugendliche tätlich an. Für zwei weitere versuchte Körperverletzungen konnte die Polizei zwei Türken ermitteln. Die Deutschland Bayern 120 116 100 84 80 60 55 40 20 11 9 3 0 2000 2001 2002 Ausländerextremismus 143 beiden Tatverdächtigen hatten am 23. November in München aus einer Gegendemonstration heraus Eier auf Teilnehmer einer Versammlung zum Thema "Gegendarstellung zur Wehrmachtsausstellung" geworfen. 2. Islamisch-fundamentalistisch orientierter Terror 2.1 Überblick Al-Qaida und andere mit dieser Organisation verknüpfte Netzwerke stellen derzeit für Deutschland die akuteste Bedrohung der Inneren Sicherheit dar. In Deutschland lebende "arabische Mudjahidin" sind seit über einem Jahr einem nachhaltigen Verfolgungsdruck durch die Arbeit von Polizei und Verfassungsschutz ausgesetzt. Gerichtsverfahren gegen militante Islamisten und die Stimmung in der deutschen Gesellschaft führten bei hier lebenden Mudjahidin zur zunehmenden Konspiration. Gleichwohl ist die Phase der Zurückhaltung der Terrornetzwerke, die unmittelbar nach den Anschlägen auf das Pentagon und das World Trade Center in den USA (11. September 2001) festzustellen war, beendet. Seit dem Anschlag von Djerba/Tunesien vom 11. April ist ein Anstieg religiös-fundamentalistischen Terrors arabischer Mudjahidin weltweit feststellbar, wobei es trotz der gegen europäische Staaten ausgesprochenen Drohungen von Al-Qaida bislang nicht zu konkreten Gewalttaten in Deutschland gekommen ist. Die Drohungen, die in diesem Zusammenhang stehenden Terrorakte islamischer Terroristen und die bei Exekutivmaßnahmen in Deutschland sowie in den Nachbarstaaten sichergestellten Waffen, Sprengstoffe bzw. Anleitungen belegen, dass Deutschland jederzeit Tatort und Ziel entsprechender Anschläge werden kann. Über den arabischen Sender Al-Djazira drohten Führungspersönlichkeiten der Al-Qaida mehrfach mit massiven Terrorakten gegen die USA und ihre europäischen Verbündeten. So hieß es in einer am 6. Oktober ausgestrahlten und offensichtlich von Usama Bin Ladin stammenden Tonbandaufzeichnung im Zusammenhang mit Drohungen insbesondere gegen die USA, die Jugend des Islams bereite Dinge vor, die "die Herzen mit Furcht erfüllen werden. Sie werden Schlüsselsektoren ihrer Wirtschaft angreifen bis die Ungerechtigkeiten und Aggressionen aufhören." Zwei Tage später, am 8.Oktober strahlte Al-Djazira eine Tonbandaufzeichnung aus, in der Dr. Ayman al Zawahiri, eine der bedeutendsten Führungspersonen der Al-Qaida, 144 Ausländerextremismus mit Anschlägen gegen Deutschland und Frankreich drohte. Wortgetreu hieß es: "Wir haben einige Botschaften an Amerikas Verbündete geschickt, damit diese ihre Beteiligung an dessen Kreuzzug beenden. Die Mudjahidin-Jugend hat bereits Botschaften nach Deutschland und Frankreich geschickt. Wenn jedoch diese Dosen nicht genug sein sollten, sind wir mit Allahs Hilfe bereit, weitere Dosen zu injizieren." Als sicher gilt auch, dass die ebenfalls vom Sender Al-Djazira am 12. November ausgestrahlte Tonbandaufzeichnung Usama Bin Ladin unmittelbar zuzurechnen ist. Daraus ergibt sich, dass Bin Ladin selbst noch am Leben ist und dass weltweit zu jeder Zeit mit Anschlägen gerechnet werden muss. Bin Ladin bestätigt zudem, dass die seit dem 11. September 2001 begangenen Terroranschläge weltweit entweder unmittelbar Al-Qaida und ihrem Netzwerk zuzurechnen sind oder zumindest deren Billigung finden. Bin Ladin äußerte sich im Einzelnen wie folgt: "Was seit den Eroberungen von New York und Washington bist jetzt passiert ist - die Operation gegen die Deutschen in Tunesien, gegen die Franzosen in Karatschi, die Explosion des französischen Tankers in Jemen, die Operation gegen die US-Marines in Failaka/Kuweit, gegen Australier und Briten bei Explosionen auf Bali, die jüngste Geiselnahme in Moskau sowie andere Operationen hier und dort - ist nur die Antwort von Moslems, die unbedingt ihre Religion verteidigen und dem Befehl von Gott und ihrem Propheten gehorchen. (...) Warum haben eure Regierungen sich mit Amerika verbündet, um uns in Afghanistan anzugreifen? Ich nenne insbesondere Großbritannien, Frankreich, Italien, Kanada, Deutschland und Australien. (...) Wie lange noch sollen Angst, Massaker, Zerstörung, Vertreibung, Verwaisung, Verwitwung unser Los sein, während euch Sicherheit, Stabilität und Glück vorbehalten bleiben? Diese Aufteilung ist überholt. Es ist Zeit, hier Gleichheit zu schaffen. Ihr werdet ermordet werden, so wie ihr mordet. Und ihr werdet ebenso bombardiert, wie ihr bombardiert." Mit dieser jüngsten Selbstbezichtigung und Drohung übernimmt das Terrornetzwerk Al-Qaida eindeutig die Verantwortung für eine Reihe der schweren Terrorakte im Jahr 2002, belegt damit die Verbindungen des Netzwerks zu den tatausführenden Terroristen und verdeutlicht die Bedrohungslage der westliche Staaten. Die genannten Dro- Ausländerextremismus 145 hungen beinhalten eine umfassende Kriegserklärung an die westlich orientierte Welt. Sie bestätigen erneut die Befürchtung, dass weltweit kein Ort und kein Ziel vor den Anschlägen des islamisch-fundamentalistischen Terrors, insbesondere des Netzwerks der Al-Qaida, sicher ist. Auch in Deutschland ist von einem zahlenmäßig nicht konkret bezifferbarem Potenzial islamistischer Kämpfer mit vielfältigen internationalen Verbindungen in allen Teilen der Welt auszugehen. 2.2 Islamistisch motivierte Terroranschläge Der Anschlag von Djerba vom 11. April, bei dem 19 Todesopfer, darunter 14 deutsche Touristen, zu beklagen waren, ist der Al-Qaida zuzurechnen. Ein islamistischer Selbstmordattentäter brachte einen mit Flüssiggas beladenen Tanklaster vor der La-Ghriba-Synagoge zur Explosion. In einem Videofilm vom Juni, mit der Selbstbezichtigung des Al-Qaida-Sprechers Sulaiman Abu Ghaith, wurden ferner neue Anschläge auf die USA angekündigt. Gegen eine in Deutschland lebende Person, die vor dem Anschlag von dem Djerba-Terroristen angerufen wurde, leitete der Generalbundesanwalt ein Ermittlungsverfahren ein. Wohnungen von deutschen Kontaktpersonen wurden durchsucht. Auch in Frankreich wurden mehrere Islamisten, wegen des Verdachts an den Attentatsplanungen beteiligt gewesen zu sein, vorläufig festgenommen. Bei einem Anschlag gegen französische Staatsbürger in Karatschi/Pakistan vom 8. Mai starben 14 Menschen, darunter elf französische Marinetechniker. Ein Selbstmordattentäter hatte sein mit Sprengstoff beladenes Auto gegen einen mit den Marinetechnikern besetzten Bus vor einem Hotel gelenkt und zur Explosion gebracht. Am 14. Juni starben bei einem Sprengstoffattentat auf die US-Botschaft in Karatschi/Pakistan zwölf Menschen, Dutzende wurden verletzt. Die Attentäter hatten eine Autobombe vor dem Gebäude geparkt und zur Explosion gebracht. In einer Selbstbezichtigung erklärte Medienberichten zufolge die bisher unbekannte Gruppierung Al-Qanoon, den Anschlag verübt zu haben. Am 6. Oktober griffen Selbstmordattentäter mit einem mit Sprengstoff beladenen Boot den französischen Öltanker Limburg vor der jemenitischen Küste an. Bei der Explosion an der Außenwand des Tankers starb ein Besatzungsmitglied, mehrere wurden verletzt. Das Schiff wurde beschädigt. 146 Ausländerextremismus In der Nacht vom 12. auf den 13. Oktober explodierten in dem Ferienort Kuta Beach/Bali Autobomben vor einer voll besetzten Diskothek und einem Nachtclub. Der schlimmste Anschlag in der Geschichte Indonesiens, bei dem mindestens 190 Touristen getötet und mehrere hundert Menschen verletzt wurden, trägt die Handschrift von Aktivisten des Al-Qaida-Netzwerks in Südostasien und weist auf die ausschließlich in Indonesien tätige und von Al-Qaida unterstützte islamistische Gruppierung Jemaah Islamiah hin. Geistiger Führer der Jemaah Islamiah ist Abu Bakar Ba'asir. Die Organisation wird geleitet von Riduan Isamuddin alias Hambali. Beinahe zeitgleich kam es in der Hauptstadt von Bali zu einem Anschlag auf das amerikanische Konsularbüro, bei dem keine Personen zu Schaden kamen. Der mutmaßliche Initiator und Planer der Attentate konnte Ende November mit weiteren Tatverdächtigen von der indonesischen Polizei gefasst werden. Wenige Tage nach dem Attentat auf Bali haben am 23. Oktober rund 50 schwer bewaffnete, tschetschenisch-islamistische Terroristen über 800 Besucher eines Moskauer Musical-Theaters als Geiseln genommen. Zunächst verminten sie den Konzertsaal. Dann forderten sie ultimativ bis 26. Oktober ein Ende des russischen Militäreinsatzes im Kaukasus (Tschetschenien) und den Abzug aller russischen Truppen. Sie drohten mit der Ermordung aller Geiseln. Kommandeur der Terrorgruppe war Mowsar Barajew, ein Neffe des im Juni 2001 getöteten tschetschenischen Rebellenführers Arbi Barajew. Unter Einsatz eines Narkosegases drangen am 26. Oktober russische Spezialeinheiten in das Theater ein. Bei dieser Aktion wurden alle Terroristen getötet, mindestens 118 Geiseln kamen ums Leben, viele wurden verletzt. Das Netzwerk der tschetschenischen Mudjahidin erhält logistische und finanzielle Unterstützung von Al-Qaida, die damit den tschetschenischen Separatismus für ihre Zwecke nutzt. Die tschetschenischen Mudjahidin-Lager sind auch für mutmaßlich gewaltgeneigte Islamisten aus Deutschland und Europa interessant und werden bereits vereinzelt besucht. Neben der theoretischen Ausbildung und der simulierten Terrorpraxis dürfte der Reiz des kämpferischen Einsatzes gegen russische Truppen eine Rolle spielen. Es ist davon auszugehen, dass die kaukasische Region neben Südostasien einen Ausweichraum für terroristische Aktivitäten der Internationalen Islamistischen Front (Al-Qaida) darstellt. Spätestens seit dem schweren Terroranschlag aus dem Umfeld Usama Bin Ladins auf die US-Botschaft in Nairobi vom 7. August 1998 gilt Ausländerextremismus 147 auch Kenia als Brennpunkt von Al-Qaida-Aktivisten. Am 28. Oktober verübten Terroristen parallel zwei Anschläge in Mombasa/Kenia. Auf das häufig von israelischen Touristen besuchte Hotel "Paradise" wurde in den frühen Morgenstunden ein Selbstmordattentat von vermutlich drei arabischen Personen verübt. Diese fuhren mit einer Autobombe vor das Hotel und brachten den Sprengstoff vor der Hotelrezeption zur Explosion. Unmittelbar vor dem Attentat checkte eine israelische Reisegruppe an der Rezeption ein. 16 Personen und die Attentäter wurden sofort getötet. Über 80 Menschen wurden teilweise schwer verletzt. Fast zur gleichen Zeit wurde in Mombasa eine startende Maschine der israelischen Charterfluggesellschaft ARKIA mit mindestens zwei Raketen beschossen, die ihr Ziel verfehlten. Zu beiden Anschlägen liegt ein Bekennerschreiben einer bislang unbekannten Vereinigung "Armee Palästinas" vor. Sowohl der Tathergang wie auch die Verübung mehrerer paralleler Anschläge verweisen auf islamisch-fundamentalistischen Hintergrund. 2.3 Exekutivmaßnahmen und Gerichtsverfahren Die Aufklärung der Strukturen der Al-Qaida und des damit verbundenen Netzwerks ist ein wesentlicher Schwerpunkt des internationalen "Anti-Terror-Kampfs". In Afghanistan konnten zahlreiche Taliban und Al-Qaida-Kämpfer von den Truppen der internationalen Anti-Terror-Koalition festgenommen werden. Bereits Ende des Jahres 2001 wurde in Marokko der deutsch-syrische Verdächtige Haydar Zammar verhaftet. Zammar wird vorgeworfen, Kontakte zu den Hamburger Attentätern des 11. September 2001, Said Bahaji und Ramzi Binalshibh, gepflegt zu haben. Ferner soll er den Todespiloten Mohammed Atta angeworben haben und einer der Planer der Anschläge vom 11. September 2001 gewesen sein. Er ist derzeit in Syrien inhaftiert und soll bei Vernehmungen ausgesagt haben, dass die "Atta-Gruppe" bzw. Personen aus dem Umfeld dieser Zelle 1998 einen Bombenanschlag auf das US-Generalkonsulat in Hamburg erwogen hatten. Der Al-Qaida-Militärchef Abu Zubaydah wurde am 28. März in Faisalabad/Pakistan festgenommen. Er befindet sich in amerikanischer Haft und soll dort ausgesagt haben, dass das am 11. September 2001 von Ziad Jarrah gesteuerte Verkehrsflugzeug das Weiße Haus zerstören sollte. Die Boeing war im Verlauf eines Kampfs zwischen mutigen Passagieren und den Entführern über Pennsylvania abgestürzt. Ein weiterer Bin Ladin-Vertrauter, Abu Subair El Haili, 148 Ausländerextremismus wurde Ende Juni in Marokko festgenommen. Im selben Monat wurde Omar al-Faruk auf Java verhaftet und den US-Behörden überstellt. Er soll gestanden haben, dass in Südostasien anlässlich des Jahrestags des Attentats auf das Pentagon und das World Trade Center Bombenanschläge mit Hilfe lokaler Terrorgruppen geplant seien. Am 23. April durchsuchte die Polizei im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens des Generalbundesanwalts bundesweit in zehn deutschen Städten Objekte der islamistischen Al-Tauhid ("Bekenntnis der Einheit Gottes"). Al-Tauhid steht im Verdacht, Teil des internationalen terroristischen Netzwerks zu sein. Insgesamt wurden 21 Objekte unter anderem in München, Nürnberg und Regensburg durchsucht. Die Polizei nahm insgesamt 13 Personen fest. Gegen sieben von ihnen erging Haftbefehl, unter anderem wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (SS 129 a StGB). Von den Festgenommenen wohnen vier in Bayern; gegen drei von ihnen wurden Haftbefehle erlassen. Bei den Durchsuchungen stellte die Polizei eine Schusswaffe, gefälschte Pässe, Fälscherutensilien, Computer sowie umfangreiches Schriftgut sicher. Die Ermittlungen dauern an. Die Gruppierung hatte sich um einen 36-jährigen in Essen wohnhaften Palästinenser gebildet und sich selbst der sunnitisch-palästinensischen Bewegung Al-Tauhid zugeordnet. Sie unterstützt auf der Grundlage eines militanten islamischen Fundamentalismus den weltweiten Djihad aller Glaubensbrüder. Ihr geistiger Führer und Prediger Omar Mahmud Othman, alias Abu Qutada, hat seinen Wohnsitz in Großbritannien. Am 24. Oktober wurde er festgenommen. Die deutsche Zelle arbeitet innerhalb der von den operativen und religiösen Führern vorgegebenen Direktiven weitgehend selbständig. Am 1. Juli nahm die Polizei in Stuttgart aufgrund eines internationalen Haftbefehls einen Algerier fest, den ein Gericht am 14. März in Paris wegen der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung zur Vorbereitung eines Terroranschlags rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt hatte. Der Täter war als hochrangiges Mitglied der algerischen Terrororganisation Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA) an einem geplanten Mordanschlag auf den als gemäßigt geltenden Vorsteher einer großen Moschee in Paris beteiligt. In Hamburg durchsuchte die Polizei am 3. Juli im Rahmen eines weiteren Ermittlungsverfahrens des Generalbundesanwalts nach SS 129 a StGB (Bildung terroristischer Vereinigungen; Beteiligung als Mitglied) sechs Wohnungen von mutmaßlich militanten Islamisten sowie eine Ausländerextremismus 149 Buchhandlung. Gleichzeitig wurde im Rahmen der internationalen Rechtshilfe die Wohnung eines Beschuldigten in Italien durchsucht. Die Auswertung der Computer und Schriftstücke dauert an. Von besonderer Bedeutung ist die Festnahme des Bin Ladin-Vertrauten und hochrangigen Al-Qaida-Funktionärs Ramzi Binalshibh am 11. September 2002 in Karatschi/Pakistan. Binalshibh, der sich in Karatschi "Abdullah" nannte, hatte sich am 5. September 2001 in Hamburg abgesetzt und war untergetaucht. Er gilt bei deutschen Sicherheitsbehörden als einer der Planer und Unterstützer der Attentate auf das "World Trade Center". In einem authentischen Interview gegenüber Al-Djazira, das vor seiner Verhaftung aufgezeichnet wurde, berichtete er Details über die Anschlagsvorbereitungen bezüglich des 11. September 2001. Er offenbarte, dass Usama Bin Ladin unmittelbar an den Planungen dieser Anschläge beteiligt gewesen sein soll. Zwischenzeitlich konnten die Vernehmungsbehörden auch wichtige Hinweise über noch nicht bekannte Arbeitsmethoden und Aktivitäten von Al-Qaida gewinnen. Am 9. Oktober hat der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs auf Antrag der Bundesanwaltschaft Haftbefehl gegen den 29-jährigen Marokkaner Abdelghani Mzoudi wegen des dringenden Verdachts der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung erlassen. Mzoudi wurde am 10. Oktober in Hamburg festgenommen. Dem Beschuldigten wird zur Last gelegt, die Mitglieder der "Hamburger Zelle" um Mohammed Atta, die an den Terroranschlägen in den Vereinigten Staaten von Amerika am 11. September 2001 maßgeblich beteiligt war, in ihren terroristischen Zielen unterstützt zu haben. Der Beschuldigte Mzoudi unterhielt nach den Ermittlungserkenntnissen zu sämtlichen Mitgliedern der "Hamburger Zelle" langjährige enge Beziehungen. Besonders engen Kontakt pflegte er mit den Gruppenmitgliedern Essabar und Motassadeq. Im Jahr 2000 hielt er sich - teilweise zeitgleich mit den beiden Vorgenannten - in Ausbildungslagern in Afghanistan auf. Der Aufenthalt diente unter anderem dazu, mit den Verantwortlichen von Al-Qaida und des internationalen Netzwerks die Einzelheiten der Anschläge und deren logistische Unterstützung abzustimmen. Mzoudi wusste, dass Terroranschläge geplant waren und unterstützte die "Hamburger Zelle" durch logistische Maßnahmen. So stellte er Essabar Ende 2000/Anfang 2001 zur Finanzierung seiner in den USA geplanten Flugausbildung Geldmittel zur Verfügung. Maßgebliche Hilfe leistete der Beschuldigte bei der Verschleierung des Aufenthaltsortes des Alshehhi. Für die letzten 150 Ausländerextremismus Wochen in Deutschland verschaffte er ihm ein Zimmer in einem Studentenwohnheim, in dem sich dieser unbemerkt bis zu seinem Abflug Ende Mai 2000 in die USA aufhalten konnte. Am 22. Oktober begann der Strafprozesses gegen Mounir El Motassadeq vor dem Oberlandesgericht Hamburg. Er bestritt, von den Attentatsplanungen des 11. September 2001 gewusst zu haben, räumte allerdings ein, in das konspirative Finanzgebaren der Terrorzelle um den Todespiloten Mohamed Atta eingeweiht gewesen zu sein. Laut Anklage war der Beschuldigte bis zum Schluss in die Attentatsvorbereitungen eingebunden und kannte die auf Begehung von Terroranschlägen ausgerichteten Ziele der terroristischen Zelle in Hamburg. Er war am 28. Oktober 2001 festgenommen worden. Wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 3.000 Fällen und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilte ihn das Gericht am 19. Februar 2003 zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren. Am 24. Oktober konnte der in Großbritannien als Asylberechtigter anerkannte islamistische Prediger Omar Mahmud Othman, alias Abu Qutada, nach mehrmonatiger Fahndung in London festgenommen werden. Nach Verabschiedung neuer Anti-Terror-Gesetze war er im Dezember 2001 untergetaucht. Die Londoner Moschee von Abu Qutada war in der Vergangenheit Anlaufstelle für mutmaßliche Gotteskrieger aus ganz Europa. Abu Qutada gilt als "Al-Qaida-Botschafter" in Europa. Mitte November wurde ein mutmaßlicher Drahtzieher des am 12. Oktober 2000 im Hafen von Aden/Jemen beschädigten amerikanischen Kriegsschiffs USS Cole, Abd el Rahim al-Nashiri, festgenommen. Bei dem seinerzeitigen Selbstmordattentat wurden 17 amerikanische Soldaten getötet. Es entstand ein Sachschaden von 240 Millionen US-Dollar. Im Sommer sind im Jemen bereits mehrere Gefolgsleute von Bin Ladin verhaftet worden. 2.4 Ausblick Trotz dieser geschilderten Fahndungserfolge und Gerichtsverfahren sowie weiterer internationaler Erfolge in der Bekämpfung des islamischen Terrorismus konnten die Strukturen von Al-Qaida und ihrem Netzwerk noch nicht entscheidend geschwächt werden. Die terroristischen Netzwerke sind nach wie vor aktionsfähig und stellen damit eine anhaltende Bedrohung dar. Zu ihrer Aufklärung und Bekämpfung sind weiterhin intensive Anstrengungen aller nationalen und Ausländerextremismus 151 internationalen Sicherheitsbehörden erforderlich. Neue Basen dürften beispielsweise in der schwer zu überwachenden Inselwelt Südostasiens sowie im Kaukasus aufgebaut worden sein. 3. Islamisch-fundamentalistische Gruppierungen * 3.1 Die Internationale Islamische Front - Al-Qaida Zusammengeschweißt durch das gemeinsame Kriegserlebnis in Afghanistan und im islamistischen Sendungsbewusstsein bildete sich ein weltweiter Verbund arabischer Extremisten heraus. Das so entstandene Netzwerk arabischer Mudjahidin besteht aus unabhängig voneinander operierenden Organisationen und Zellen, in denen bei gemeinsamer Zielrichtung unterschiedliche Organisationsformen und Vorgehensweisen festzustellen sind. Unabhängige Organisationen sind ebenso möglich wie sich überschneidende Abhängigkeitsund Weisungsstränge. Die nachfolgende Grafik versucht, dieses Netzwerk darzustellen. Netzwerkstruktur internationaler Terrorgruppen Al-Qaida (Die Basis) mit KommandoInternationale Islamische Front strukturen Non-alignedunmittelbar an national bzw. Mudjahidin die Al-Qaidaregional ausgerichFührung tete verbündete, freie Gruppierungen angebundene aber selbständige ohne feste OrganisationsMudjahidin Gruppen struktur z. B. z. B. Jihad Islami (JI) Anschlag: Anschläge: Al-Gamaa al-Islamiya Varese-Gruppe Nairobi und USS Cole / Jemen Ansar al Islam Meliani-Gruppe 12.10.2000 Daressalam Al-Tauhid 07.08.1998 GIA Abu Sayaff Jemaah Islamia ... ... tschetschenische Anschläge: Mudjahidin USA 11.09.2001 * Die nachfolgende Darstellung der islamistischen Organisationen bemüht sich um Vollständigkeit, in der Absicht, die Öffentlichkeit über die wesentlichen Ideologien und Zielsetzungen, der auch in den Medien häufig genannten Organisationen zu informieren. Im Hinblick auf die unterschiedlichen Strukturen und den zum Teil nur geringen Bezug der einzelnen Organisationen zu Deutschland mussten dabei Abstriche in der Vollständigkeit der Informationen (z.B. Mitgliederzahlen) und bei der Einheitlichkeit der Darstellung gemacht werden. 152 Ausländerextremismus Zentrales Element innerhalb dieser Netzwerkstruktur sind Al-Qaida (Die Basis) sowie die unmittelbar an die Al-Qaida-Führung angebundenen Mudjahidin-Gruppen vom Typ der Attentäter des 11. September 2001. Die Führungsstruktur der Al-Qaida besteht aus verschiedenen Komitees bzw. Ausschüssen. Es gibt eine Shura (Rat), ein Religionskomitee, ein Militärkomitee und ein Komitee, das die wirtschaftlichen Aktivitäten überwacht. Die Zahl der Anhänger der Organisation wird auf 1.500 bis 3.000 Personen geschätzt. Al-Qaida hat Zweigstellen und Verbindungen in 60 Ländern der Welt. Sie agiert wie die Holding eines multinationalen Konzerns. Das Hauptkennzeichen dieser Vereinigung ist die Verknüpfung moderner Management-Methoden mit einer islamistischen Djihad-Ideologie. Das Netzwerk delegiert sowohl in seinem wirtschaftlichen als auch in seinem terroristischen Zweig Verantwortung und trifft Zielvereinbarungen. Jeder weiß über kriminelle Aktivitäten nur das, was er zur Aufgabenerfüllung wissen muss. Der engere Kreis ist durch einen Treueschwur (Bayat) zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet. Die unmittelbar an die Al-Qaida-Führung angebundenen Mudjahidin bereiten ihre Taten unter großer Konspiration sorgfältig über einen längeren Zeitraum vor. Die Finanzierung ihrer Aktivitäten erfolgt weitgehend aus dem Vermögen der Al-Qaida-Basisorganisation. Mit Al-Qaida verbündete islamistische Gruppen und Zellen sind nur über einzelne Vertrauenspersonen verknüpft. So gibt es national bzw. regional ausgerichtete terroristische Gruppierungen (dargestellt im rechten Bereich des Schaubilds auf Seite 151 dieses Berichts), die in ihren jeweiligen Heimatländern durch bewaffneten Kampf die Beseitigung der dortigen, aus Sicht der Täter westlich-dekadenten Gesellschaftsordnung und die Errichtung eines islamistischen Gottesstaats anstreben. Hier sind insbesondere die ägyptischen Gruppen Jihad Islami und Al Gamaa al-Islamiya, Harakat Ul-Ansar (Kaschmir) sowie Jihad Islami (Bangladesch) zu nennen. Diese haben am 23. Februar 1998 gemeinsam mit Usama Bin Ladin unter der Bezeichnung Internationale Islamische Front ein Rechtsgutachten veröffentlicht, in dem zum Djihad gegen die USA, Israel und gegen die "Kreuzfahrer" aufgerufen wurde. Ein weiteres Element dieses Netzwerks sind die in Kleingruppen organisierten "Non-aligned-Mudjahidin" (dargestellt im linken Bereich des Schaubilds auf Seite 151 dieses Berichts). Die Ermittlungen im Zusammenhang mit der so genannten "Meliani-Gruppe", deren Mitglieder im Dezember 2000 in Frankfurt am Main festgenommen wur- Ausländerextremismus 153 den, zeigten, dass in Deutschland terroristische Gruppen operieren, die sich durch kriminelle Aktivitäten finanzieren. In Deutschland waren und sind logistische Basen vorhanden, aus denen heraus Tatmittel, Falschdokumente und Fahrzeuge in das Einsatzgebiet verbracht werden. Neben der "Meliani-Gruppe" ist die hauptsächlich aus Palästinensern bestehende Gruppierung "Al-Tauhid" zu nennen, die im April Gegenstand exekutiver Maßnahmen mit Schwerpunkt in Nordrhein-Westfalen war. Die Tatsache, dass der mutmaßliche libysche Terrorist Ben Heni, in München im Jahr 2001 festgenommen, sowohl mit der "Meliani-" also auch mit der italienischen "Varese-Gruppe" in Verbindung stand, belegt die Vernetzung dieser Kleingruppen. Die der Al-Qaida zuzurechnenden Terrorakte und die internationalen Fahndungsmaßnahmen zur Bekämpfung der Al-Qaida sind unter Nummer 2 dieses Abschnitts dargestellt. 3.2 Muslimbruderschaft (MB) Deutschland Bayern Mitglieder: 1.250 200 Gründung: 1928 in Ägypten Publikation: Risalat ul-Ikhwan (MB) Die von Hassan Al-Banna in Ismailija/Ägypten gegründete sunnitisch-extremistische MB ist eine multinationale Organisation, bei der eine Unterteilung in nationale Sektionen erkennbar ist. Ziel der MB ist unter anderem die Errichtung islamistischer "Gottesstaaten". Die Ideologie der MB ist in der gesamten muslimischen Welt verbreitet und hat zur Herausbildung zahlreicher militanter islamistischer Organisationen geführt (vgl. auch die Grafik auf Seite 154 dieses Berichts). In ihrem Ursprungsland Ägypten ist die MB verboten; sie wird jedoch inzwischen geduldet. Insbesondere in Wohlfahrtsorganisationen verfügt sie über großen Emblem Einfluss. der MB Offiziell haben sich die meisten Zweige von der Gewalt abgewandt. Die Selbstmordattentate ihrer palästinensischen Sektion Islamische Widerstandsbewegung (HAMAS) zeigen aber, dass in der MB Gewalt weiterhin als legitimes politisches Mittel betrachtet wird. 154 Ausländerextremismus Regionale Strömungen der Muslimbruderschaft Algerien Syrien Ägypten Palästina Tunesien Islamische Islamische Al-Gamaa Hamas En Nahda Heilsfront (FIS) Avantgarden / al-Islamiya (GI) Islamisches Bewaffnete Zentrum (IZ) Jihad Islami (JI) Islamische in Aachen Islamischer Bund Gruppe (GIA) Palästina (IBP) Föderation der Al-Aqsa e.V. Salafiyya-Gruppe Islamischen (GSPC) Organisation in Europa (FIOE) Islamische Gemeinschaft Deutschland (IGD) Ausländische Organisationen mit Einzelmitgliedern in Deutschland Organisationen mit Sitz in Deutschland / Europa Die MB tritt in Deutschland nicht offen in Erscheinung. Personell ist sie mit der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) verflochten, die als deutsche Zentrale des ägyptischen Zweigs der MB gilt. Anhänger des syrischen Zweigs der MB gründeten Anfang der 80er Jahre die "Islamischen Avantgarden" mit organisatorischen Schwerpunkt im "Islamischen Zentrum" in Aachen. 3.2.1 Ägyptischer Zweig der MB 3.2.1.1 Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) Deutschland Bayern Mitglieder: 600 Gründung: 1960 in Deutschland Sitz: München München, Nürnberg Präsident: Ibrahim Farouk El Zayat Publikation: Al Islam Der IGD, die als deutsche Zentrale des ägyptischen Zweigs der MB gilt, sind mehrere Islamische Zentren in Deutschland nachgeordnet. Sie hat ihren Sitz im Islamischen Zentrum München. Die IGD ist zudem Mitglied in der 1989 gegründeten "Föderation der Islamischen Orga- Ausländerextremismus 155 nisation in Europa" (FIOE). FIOE wurde im Rahmen einer Resolution begründet, die anlässlich einer Generalversammlung von Repräsentanten der wichtigsten Islamischen Zentren, Gesellschaften und Vereinigungen in Europa verabschiedet wurde. Die Anhänger der IGD sind bemüht, sich in der Öffentlichkeit als eine gegenüber der deutschen Rechtsordnung loyale muslimische Interessenvertretung darzustellen. Vorbehalte gegenüber den westlichen Demokratien, auch gegenüber der Staatsund Gesellschaftsordnung in Deutschland, kommen in öffentlichen Verlautbarungen nur selten zum Ausdruck. Früherer Präsident der IGD war Dr. Ghaleb Himmat. Er war Vorstandsmitglied der Firma Al Taqwa in Lugano/Schweiz, die von den US-Sicherheitsbehörden verdächtigt wird, Millionenbeträge für Al-Qaida verschoben zu haben. Seit 14. Februar ist Ibrahim Farouk El Zayat Präsident der IGD. Der deutsche Staatsangehörige El Zayat, dessen Vater aus Ägypten stammt, ist mit der Schwester des ehemaligen IGMG-Vorsitzenden Mehmet Sabri Erbakan verheiratet. Neben seinem Amt als IGD-Vorsitzender übt El Zayat zahlreiche Funktionen in weiteren islamischen Organisationen aus, die zum Teil dem Einflussbereich der IGMG zugeordnet werden. Über El Zayat kann die IGMG daher Einfluss auf das Spektrum organisierter arabischer Muslime ausüben. Generalsekretär der IGD ist der in der Nähe von München wohnhafte Ägypter Ahmed El Khalifa. Er tritt als gemäßigter Muslim auf, der das Gespräch mit allen gesellschaftlichen Kreisen sucht. Seinen Vorstellungen zufolge soll Deutschland jedoch ein vom Islam geprägter Staat werden. Viele Mitglieder und Funktionäre der IGD und der Islamischen Zentren stehen der MB und deren Zielsetzung nahe. Deshalb waren aus den Islamischen Zentren wie in den Vorjahren Verlautbarungen und Aufrufe zu vernehmen, die mit der offiziellen gemäßigten Linie der IGD nicht übereinstimmten, sondern die Nähe zur MB verdeutlichten. So wurde im September bei einer Demonstration gegen den Staat Israel ein Flugblatt verteilt, in dem der Herrschaftsanspruch der MB postuliert wird: "In der Weltgeschichte waren die Muslime Jahrhunderte lang Herren und Führer der Erde. Sie waren Herren dank ihres Glaubens und ihres heiligen Buches, und führten die Völker. (...) Ihre Armeen marschierten überall hin, mit dem Schwert in einer Hand und dem Koran in der anderen. (...) Nur im wahren Islam ist die Rettung und Rechtleitung der Menschheit. (...) Wenn wir zu diesem Islam zurückkehren, werden wir wieder ganz vorne gehen in dem menschlichen Zug." 156 Ausländerextremismus Für das Flugblatt zeichnete Dr. El Mahgary, ein langjähriger Funktionär des Islamischen Zentrums Nürnberg (IZN), verantwortlich. 3.2.1.2 Al-Gamaa al-Islamiya (GI) Deutschland Bayern Gründung: 1971 in Ägypten Leitung: Shura (Konsultativrat), bestehend aus 8 bis 10 Personen, die meisten davon außerhalb Ägyptens Organisation und Mitglieder: keine organisatorischen Strukturen; in Deutschland nur einzelne Mitglieder Die 1971 als muslimische Studentenorganisation gegründete Al-Gamaa al-Islamiya (GI) entwickelte sich aus Protest gegen die Friedenspolitik des ägyptischen Präsidenten Anwar al Sadat gegenüber dem Staat Israel zu einer terroristischen Gruppierung. Spiritueller Führer der Organisation ist der als Drahtzieher des Anschlags auf das Welthandelszentrum 1993 in New York zu lebenslanger Haft verurteilte blinde Scheich Abd ar Rahman. In den 90er Jahren trat die GI durch eine Reihe von Anschlägen auf Touristen in Erscheinung. Ein Anschlag in Luxor/Ägypten im November 1997 forderte 92 Todesopfer. Im Jahr 1999 riefen inhaftierte GI-Funktionäre einen einseitigen "Waffenstillstand" aus, den Abd ar Rahman im Juni 2000 kündigte. Anschläge der GI blieben bislang aus. In Deutschland ist die Organisation nur durch Einzelmitglieder vertreten. 3.2.1.3 Jihad Islami (JI) Deutschland Bayern Gründung: Ende der 70er Jahre in Ägypten Leitung: Shura (Konsultativrat), bestehend aus 8 bis 10 Personen, die meisten davon außerhalb Ägyptens Organisation und Mitglieder: in Deutschland nur einzelne Mitglieder Der Jihad Islami (JI) wurde Ende der 70er Jahre von ehemaligen MB-Mitgliedern gegründet, die den bewaffneten Kampf gegen das Ausländerextremismus 157 "ungläubige ägyptische Regime" einleiten wollten. Die Organisation agierte viele Jahre unter dem Dach der Al-Gamaa al-Islamiya (GI). Der JI wird wie der GI eine Beteiligung an der Ermordung des ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat zur Last gelegt. Infolge der Anti-Terror-Maßnahmen Ägyptens wurde der JI in den 80er Jahren weitgehend zerschlagen. Der Wiederaufbau wurde von dem ägyptischen Arzt Aiman al-Zawahiri organisiert. Er unterhielt in Peschawar/Pakistan ein Rekrutierungsbüro für arabische Afghanistan-Kämpfer und förderte gleichzeitig die Wiederbelebung des JI in Ägypten. Im Jahr 1998 schloss sich der JI gemeinsam mit anderen Organisationen der Internationalen Islamischen Front des Usama Bin Ladin an. Zawahiri ist ein enger Vertrauter Bin Ladins. 3.2.2 Palästinensischer Zweig der MB - Repräsentanten der Islamischen Widerstandsbewegung (HAMAS) in Deutschland Islamischer Bund Palästina (IBP) - Al-Aqsa e.V. Deutschland Bayern Mitglieder IBP: ca. 300 Einzelpersonen Al-Aqsa e.V. in Deutschland seit 5. August 2002 verboten Der 1981 von in Deutschland lebenden Mitgliedern der Muslimbruderschaft (MB) gegründete Islamische Bund Palästina (IBP) vertritt seit Beginn der ersten Intifada 1987 die Positionen der Islamischen Widerstandsbewegung (HAMAS) in Deutschland. Ziel der HAMAS ist die Zerstörung Israels und die Errichtung eines islamistisch geprägten Staates auf dem gesamten Gebiet Palästinas auch durch bewaffneten Kampf. Die HAMAS lehnt den israelisch-palästinensischen Friedensprozess ab und ist verantwortlich für zahlreiche terroristische Aktionen, auch Selbstmordattentate. Auf der Grundlage des durch das Terrorismusbekämpfungsgesetz geänderten Vereinsgesetzes hat das Bundesministerium des Innern am 5. August ein Verbot gegen den in Aachen ansässigen Ausländerverein Al-Aqsa e.V. erlassen. Dieser hat unter dem Deckmantel der Humanität die Terrororganisation HAMAS unterstützt. 158 Ausländerextremismus Die Verbotsverfügung führt unter anderem aus, die Tätigkeit von Al-Aqsa e.V. unterstütze, befürworte und rufe Gewaltanwendung als Mittel zur Durchsetzung politischer, religiöser oder sonstiger Belange hervor. Sie unterstütze eine Vereinigung außerhalb des Bundesgebiets, die Anschläge gegen Personen oder Sachen veranlasse und richte sich zudem gegen den Gedanken der Völkerverständigung. Der 1992 gegründete Verein Al-Aqsa sammelte satzungsgemäß bundesweit Spenden für soziale und humanitäre Zwecke zugunsten bedürftiger Palästinenser. Die gesammelten Spendengelder wurden zwar an unverdächtig erscheinende Hilfseinrichtungen der Terrororganisation HAMAS, aber auch an die so genannten "Märtyrerfamilien" in Palästina weitergeleitet, wodurch der Verein Gewalt und Terror, nicht nur im Nahen Osten, unterstützt hat. In Bayern wurde bislang keine Niederlassung des Al-Aqsa-Vereins festgestellt. 3.2.3 Algerischer Zweig der MB 3.2.3.1 Islamische Heilsfront (FIS) Deutschland Bayern Mitglieder: 300 45 Gründung: 1989 in Algerien Publikation: Al-Ribat (Das Band) Die FIS ist der algerische Zweig der international tätigen Muslimbruderschaft (MB). Aufgrund des wirtschaftlichen und sozialen Niedergangs und des Ansehensverlustes der algerischen Regierung gewann die FIS im Dezember 1991 die Parlamentswahlen in Algerien. Als sie anschließend 1992 verboten wurde, gingen zahlreiche FIS-Funktionäre ins Ausland. Bis zum Sommer 2002 führte der in Deutschland lebende Rabah Kebir die "Exekutivinstanz der FIS im Ausland". Am 4. August veranstaltete die Organisation erstmals seit zehn Jahren einen Kongress. Bei dieser Veranstaltung wurde Kebir, der dem Treffen ferngeblieben war, von dem in Genf ansässigen Physiker Dr. Mourad Dhina entmachtet. Dem abgewählten Vorsitzenden wurde seine eigenmächtige Dialogbereitschaft gegenüber der algerischen Regierung zur Last gelegt. Die FIS fordert nach wie vor die Anerkennung der Parlamentswahlen von 1991. Ihr Ziel bleibt die Errichtung eines islamischen Staates in Algerien. Ausländerextremismus 159 3.2.3.2 Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA) Deutschland Bayern Mitglieder: 50 einzelne Anhänger Gründung: 1992 Abspaltergruppe: "Salafiyya-Gruppe für die Mission und den Kampf" (GSPC), gegründet 1997 in Algerien Publikationen: Al-Jamaa (Die Gruppe) Al Quital (Die Schlacht) Im April 1992 spalteten sich aus dem Bereich der FIS militante Gruppen ab, um den bewaffneten Kampf gegen die algerische Regierung aufzunehmen. Als historischer Führer gilt Abdelhak Layada, der 1993 in Marokko verhaftet wurde. Die GIA spezialisierte sich auf terroristische Aktionen, die sich auch gegen Ausländer richteten und begann 1993 mit Angriffen auf die Zivilbevölkerung. Ab 1996 übernahm der in Afghanistan militärisch ausgebildete Antar Zouabri die GIA-Führung. Unter seiner Leitung nahmen die Terroraktionen Bürgerkriegsdimensionen an. Bis 1997 starben über 100.000 Menschen. Viele GIA-Kämpfer sind völlig entwurzelte frühere Afghanistan-Kämpfer. Im Februar wurde Zouabri in der Nähe von Algier von Sicherheitskräften getötet. Die GIA lehnt wie bisher jeden Kompromiss mit der Regierung ab. Im Juli konnte ein hochrangiger Funktionär der GIA in Stuttgart festgenommen werden, der an einer Mordanschlagsplanung in Paris beteiligt war. Aus der GIA spaltete sich im Jahre 1997 in Algerien die "Salafiyya-Gruppe für die Mission und den Kampf" (GSPC) ab. 3.2.4 Tunesischer Zweig der MB - En Nahda Deutschland Bayern Wirkungsbereich: Oppositionsbewegung in Tunesien (seit 1991 in Tunesien verboten) Führung: Rachid Ghannouchi / Großbritannien Deutschlandbezug: Einzelmitglieder (keine festen Strukturen) Die En Nahda (Wiedergeburt) bildet den tunesischen Zweig der Muslimbruderschaft (MB). Sie ist die wichtigste Oppositionsbewegung Tunesiens. Seit 1991 wird die in Tunesien verbotene Organisa- 160 Ausländerextremismus tion von dem in seinem Heimatland in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilten Rachid Ghannouchi geleitet. Ghannouchi lebt in Großbritannien und gibt sich nach außen hin als gemäßigter, demokratischer Politiker. Gegenüber seinen eigenen Anhängern äußert er sich jedoch militant und spricht davon, die amerikanischen Eroberer und deren Alliierte (arabische Regierungen) verjagen zu wollen. Wegen des massiven Drucks der tunesischen Sicherheitskräfte befindet sich ein großer Teil der En Nahda-Mitglieder im Ausland. Auch in Deutschland halten sich Mitglieder auf. Feste Strukturen sind jedoch nicht erkennbar. 3.3 Islamische Gemeinschaft Milli Görus e.V. (IGMG) Deutschland Bayern Mitglieder: 26.000 4.800 Vorsitzender: Yavuz Celik Karahan kommissarisch Gründung: 1985 Sitz: Köln Publizistisches Sprachrohr: Milli Gazete (Nationale Zeitung) Die IGMG ist ein Sammelbecken von Anhängern der früheren Tugendpartei (FP) und der jetzigen islamistischen Glückseligkeitspartei (SP) in der Türkei. Sie verfügt über bundesweit rund 500 Ortsgruppen. In Bayern ist der Verband mit 70 Ortsgruppen vertreten. Die Schwerpunkte liegen wie bisher in Nürnberg und München. Die Milli Görüs-Bewegung strebt die Abschaffung der laizistischen Staatsordnung in der Türkei und die Einführung einer islamischen Staatsund Gesellschaftsordnung mit dem Koran als Grundlage des Staatsaufbaus und als Verhaltenskodex des gesellschaftlichen Zusammenlebens an. Ihr Fernziel ist die weltweite Islamisierung. Sie orientiert sich damit an der früheren Politik der am 22. Juni 2001 vom türkischen Verfassungsgericht wegen "anti-laizistischer Aktivitäten" verbotenen Tugend-partei (FP). Diese war zu diesem Zeitpunkt mit 102 von 550 Abgeordneten die größte Oppositionsfraktion im türkischen Parlament. Ausländerextremismus 161 Aus der FP gingen zwei Nachfolgeorganisationen hervor. Im Juli 2001 gründeten die "Traditionalisten", denen die IGMG nahe steht, die Glückseligkeitspartei (SP) unter dem Vorsitz von Recai Kutan. Als Führer betrachten die Traditionalisten nach wie vor den mit einem politischen Betätigungsverbot belegten früheren türkischen Ministerpräsidenten Prof. Necmettin Erbakan. Im August 2001 wurde von Recep Tayyip Erdogan die Gerechtigkeitsund Aufschwungpartei (AKP) in der Türkei gegründet. Der frühere Bürgermeister von Istanbul macht für sich eine Abkehr vom Islamismus geltend. Seinen Verlautbarungen zufolge soll die AKP keine islamische Partei im traditionellen Sinn sein, sondern eine konservative Gruppierung. Die IGMG unterstützte den Wahlkampf der SP durch Spendensammlungen und die Organisierung von FlugEmblem reisen. Mehrere tausend Personen reisten in die Türder IGMG kei, um der SP ihre Stimme zu geben. Auch die Milli Gazete warb intensiv für einen Wahlsieg der Milli Görüs-Bewegung. Dennoch scheiterte die SP mit nur 2,47 % der Stimmen an der 10 %-Sperrklausel. Die AKP erhielt 34,99% der Stimmen und die Mehrheit der Abgeordnetenmandate. Die Anhänger der IGMG reagierten auf die Regierungsübernahme der AKP zwiespältig. Viele Mitglieder begrüßten den Sieg der AKP, während sich manche Funktionäre von der Wahlniederlage der SP schockiert zeigten. In einer Selbstdarstellung beschreibt sich die IGMG als Verein, der die Muslime organisiert, ihre Interessen vertritt und die Verkündigung des islamischen Glaubensbekenntnisses pflegt. Im Gegensatz zu anderen islamistischen Organisationen ist die IGMG schon seit Jahren um ein rechtlich unangreifbares Erscheinungsbild bemüht. Sie gibt vor, nur verfassungskonforme Ziele zu verfolgen und nutzt den interreligiösen Dialog. Am 3. Oktober beteiligten sich zahlreiche Ortsvereine am "Tag der offenen Moschee". Zu diesem Anlass präsentierte man sich weltoffen und tolerant. Bei internen Veranstaltungen stellt sich der Verband jedoch verschiedentlich ganz anders dar. Bei einer Predigt in einer bayerischen IGMG-Moschee im April hielt ein Hodscha eine Hassrede gegen Europa, Amerika und die Juden. Er erklärte: "Amerika ist ein großer Teufel, Großbritannien ein kleiner, Israel ein blutsaugender Vampir. Einst waren die Europäer unsere Sklaven, heute sind es 162 Ausländerextremismus die Muslime. Dies muss sich ändern. Heute sind wir abhängig von den Ungläubigen. Sie wollen unsere Religion verbieten. (...) Wir müssen die Ungläubigen bis in die tiefste Hölle treiben. Wir müssen zusammenhalten und uns ruhig verhalten bis es soweit ist. Ihr könnt jetzt noch nichts sehen, aber es ist alles in Vorbereitung. Es läuft im Verborgenen. Ihr müsst euch bereithalten für den richtigen Zeitpunkt. Wir müssen die Demokratie für unsere Sache nutzen. Wir müssen ganz Europa mit Moscheen und Schulen überziehen." Die Rede wurde immer wieder von Beifallsbekundungen der Zuhörer unterbrochen. Das Fernziel der Weltherrschaft des Islam unter Führung der Milli Görüs-Bewegung wird bei Predigten mitunter offen ausgesprochen. So sagte ein Prediger im November: "Erst müssen wir eine Gemeinde bilden, zweitens müssen wir dem Führer dieser Gemeinde (Anm.: Necmettin Erbakan) gehorsam sein und alle seine Befehle ausführen. (...) Wir müssen unsere Zeit geben, unser Hab und Gut und wenn es verlangt wird, müssen wir unser Leben opfern. (...) Jeder Moslem muss in jeder Sekunde vorbereitet sein zum Djihad." In diesem Zusammenhang wird in IGMG-Veranstaltungen immer wieder der "heroische Freiheitskampf" der Tschetschenen gelobt. Die getöteten Widerstandskämpfer gelten als Märtyrer. Anfang Oktober starb der türkischstämmige deutsche Staatsangehörige Mevlüt Polat bei einem Kampfeinsatz im Kaukasus. Er wohnte vor seinem Tod im Regierungsbezirk Schwaben und hatte Kontakte zur IGMG. Die IGMG bemühte sich in der Öffentlichkeit, antisemitische Äußerungen zu vermeiden. Diese Zurückhaltung wird jedoch gelegentlich durchbrochen. Im publizistischen Sprachrohr der IGMG "Milli Gazete" (Nationale Zeitung) wurden wiederholt antizionistische und antisemitische Aussagen verbreitet. So hieß es in der Ausgabe der Milli Gazete vom 9. April, Israel sei die Fernpolizei des Zionismus und Amerika lasse die Menschen an vielen Orten auf der Welt Blut spucken. Israel sei wie ein Krebsgeschwür im Nahen Osten immer mächtiger geworden. Am 3. Juni schrieb die Milli Gazete, die zionistische Philosophie halte mit Hilfe ihrer finanziellen Macht über die Medien die Weltpolitik in ihren Händen. Unter der Überschrift "Das verborgene Geheimnis der 20-Dollarnote" wurde in der Milli Gazete vom 10. August eine Falttechnik beschrieben, durch die eine besondere Bildfolge entsteht. Diese Bildfolge zeigt aus dem Welthandelszentrum in New York aufsteigende Rauchwolken und das Pentagon. Anschließend wird darauf Ausländerextremismus 163 hingewiesen, dass sich auf der 1-Dollarnote wichtige Symbole von Zionismus und Freimaurertum befinden. Der Autor schreibt weiter: "Jetzt lüftet sich das Geheimnis und im Zusammenhang mit der Kriegserklärung an die gesamte islamische Welt begreift man, wie eine Weltmacht über die gesamte Welt herrschen möchte." Die IGMG empfiehlt ihren Anhängern den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit. Sie will das starke Anwachsen der türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland zur Vergrößerung der Einflussmöglichkeiten der IGMG auf Staat und Gesellschaft nutzen. Auf einer Veranstaltung des IGMG-Gebiets Schwaben in Neu-Ulm am 4. Juni 2001 hatte der damalige stellvertretende Bundesvorsitzende Yavuz Celik Karahan bei einer Erläuterung des Fünfjahresplans der IGMG erklärt: "Was wir wirklich wollen, werden wir in fünf bis zehn Jahren bekommen." Es gäbe annähernd sieben Millionen Muslime, die sich legal oder illegal in Deutschland aufhielten, davon seien etwa vier Millionen Türken. In rund fünf Jahren werde diese Zahl auf ungefähr elf Millionen Muslime angewachsen sein. Und in weiteren fünf Jahren seien es 16 Millionen. Dann wäre man bereits so stark wie die frühere DDR. Mit diesem Potenzial sei man in der Lage eine islamische Partei zu gründen, die es ohne weiteres schaffen könnte, ins Parlament nach Berlin zu kommen. Grundvoraussetzung dafür sei jedoch die deutsche Staatsangehörigkeit. Das öffentliche Bekanntwerden dieser und ähnlicher Aussagen und die Diskussion über ein Verbot führten zu einem Imageschaden für die IGMG. Die IGMG in Bayern wie in verschiedenen anderen Bundesländern unternahm deshalb rechtliche Schritte gegen die Veröffentlichung von Äußerungen in Verfassungsschutzberichten oder anderen Publikationen. In Bayern beantragte die IGMG am 2. April im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach SS 123 Verwaltungsgerichtsordnung, mit der dem Freistaat Bayern untersagt werden sollte, im Zusammenhang mit Berichten über die IGMG Abbildungen des Usama Bin Ladin zu veröffentlichen und zu behaupten oder zu verbreiten, die Antragstellerin wolle mit Hilfe eingebürgerter Muslime in Deutschland eine eigene Partei gründen. Das Bayerische Staatsministerium des Innern hatte in dem Faltblatt Nummer 7 "Islamischer Extremismus" der Faltblattreihe "SCHÜTZT UNSERE DEMOKRATIE" neben Ausführungen zur IGMG und zu anderen 164 Ausländerextremismus extremistischen Organisationen bis hin zur Al-Qaida auch ein Foto des Bin Ladin abgebildet. Das Verwaltungsgericht München wies diesen Antrag mit Beschluss vom 11. Juni zurück. Die IGMG legte daraufhin Beschwerde beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof ein, welche am 10. Oktober aus formalrechtlichen Gründen zurückgewiesen wurde. Daraufhin erhob die IGMG am 4. Dezember Klage beim Verwaltungsgericht München, welche derzeit noch anhängig ist. Außerdem forderte die IGMG das Bayerische Staatsministerium des Innern auf, eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abzugeben und sich darin zu verpflichten, mehrere im Verfassungsschutzbericht Bayern 2001 enthaltene Aussagen zur IGMG nicht mehr zu verbreiten. Dieser Aufforderung wurde vom Bayerischen Staatsministerium des Innern nicht entsprochen, da die angegriffenen Aussagen zutreffend sind und auf sorgfältig erhobenen Erkenntnissen des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz beruhen. Daraufhin reichte die IGMG am 9. Dezember Klage beim Verwaltungsgericht München ein. Auch dieses Verfahren ist derzeit noch anhängig. Im Mai gab Lütfü Esengül, der stellvertretende Generalvorsitzende der Glückseligkeitspartei (SP), in Ankara bekannt, dass die Partei eine eigene Jugendorganisation gegründet habe. Ziel der Jugendorganisation sei es, Kader in die politische Arena der Türkei zu bringen, die das Land regieren können. Parallel zu den Bemühungen der SP in der Türkei verstärkte die IGMG ihre Jugendund Kinderarbeit. So bietet sie in zahlreichen Ortsvereinen Sommerkoranschulen an und wirbt intensiv für die Teilnahme. Die Lehrinhalte und das Unterrichtsmaterial sollen ab diesem Jahr vereinheitlicht werden. Bei Koranrezitationswettbewerben werden erfolgreiche Schüler geehrt. Um die Begeisterung der Kinder zu erhalten, werden neben dem Unterricht Ausflüge, Sport und Theaterspiele angeboten. Die Mitgliederzahl des IGMG-Kinderclubs soll von 3.000 Personen auf 6.000 Personen gesteigert werden. Die intensive Beschäftigung mit der Jugend soll diese von der westlichen Gesellschaft fernhalten. Auch die Erziehungsmittel dürften nicht europäischen Maßstäben entsprechen. So empfiehlt der in der "Milli Gazete" publizierende Rechtsgelehrte Mehmet Talu bei lernunwilligen Schülern die Prügelstrafe. Die IGMG hielt am 15. Juni in Arnheim/Niederlande ihre Generalversammlung ab. An der Veranstaltung nahmen mehr als 20.000 Personen teil, darunter auch einige hundert IGMG-Mitglieder aus Bayern, die überwiegend mit Bussen angereist waren. Neben dem Führer der Ausländerextremismus 165 türkischen Fundamentalisten, Prof. Necmettin Erbakan, waren auch Funktionäre der SP und die durch ihren Verstoß gegen das Kopftuchverbot im türkischen Parlament bekannt gewordene frühere Parlamentsabgeordnete Merve Kavakci geladen. Erbakan sprach über die Anpassung an die europäische Gesellschaft durch die entsprechende Kindererziehung. Insbesondere sei es notwendig die jeweilige Landessprache zu beherrschen. Man solle sich intensiv um Kontakte mit Behörden, Parteien und sonstigen öffentlichen und gesellschaftlichen Stellen bemühen. Die Anhängerschaft wurde erneut auf die Führerschaft des "Hodschas" Erbakan eingeschworen. Anfang Oktober trat der IGMG-Bundesvorsitzende Mehmet Sabri Erbakan, der Neffe von Prof. Necmettin Erbakan, nach eigenen Angaben aus gesundheitlichen Gründen zurück. Der Verband wird seither von Yavuz Celik Karahan, dem bisherigen stellvertretenden Generalvorsitzenden der IGMG, kommissarisch geleitet. 3.4 Hilafet Devleti (Der Kalifatsstaat) Deutschland Bayern Mitglieder: 800 280 Vorsitzender: Metin Kaplan Gründung: 1984 Verbot: 12.12.2001 Sitz: Köln Publizistische Sprachrohre: Asr-I Saadet; D.I.A. (Die islamische Alternative) Der 1984 gegründete "Kalifatsstaat" (Hilafet Devleti) war eine am "Führerprinzip" orientierte, streng hierarchisch gegliederte Organisation. Das Endziel dieses "Staates ohne Staatsgebiet" war die Weltherrschaft des Islam unter dem Kalifat seines Anführers Metin Kaplan. Als erste Stufe auf dem Weg zu diesem Ziel wurde der gewaltsame Sturz des laizistischen Regierungssystems in der Türkei angestrebt. Der "Kalifatsstaat" lehnte Demokratie und jede Trennung von Politik und Religion strikt ab. Er richtete sich damit gegen die verfassungsmäßige Ordnung, den Gedanken der Völkerverständigung und gefährdete die Innere Sicherheit in Deutschland. Das Bundesministerium des Innern verbot deshalb am 166 Ausländerextremismus 12. Dezember 2001 die Vereinigung "Kalifatsstaat" einschließlich der ihr zugeordneten 17 Teilorganisationen, darunter alle vier bayerischen Verbände und erklärte diese für aufgelöst. Die Beschlagnahme und Einziehung des Vermögens des "Kalifatsstaats" wurde angeordnet. Nachdem das Bundesverwaltungsgericht zunächst mit Beschluss vom 21. März 2002 den Antrag des ehemaligen "Kalifatsstaats" abgelehnt hat, die sofortige Vollziehung der Verbotsverfügung auszusetzen, bestätigte es schließlich am 27. November letztinstanzlich das Verbot des Bundesministeriums des Innern. Metin Kaplan verbüßt zurzeit wegen öffentlicher Aufforderung zu Straftaten in Düsseldorf eine vierjährige Gefängnisstrafe; der Bundesgerichtshof verwarf am 23. Mai einen Antrag auf vorzeitige Haftentlassung. In Bayern existierten bis zum Verbot des "Kalifatsstaats" vier Moscheevereine als Teilorganisationen der Ulu-Camii / Zentralmoschee Köln: in den Städten Augsburg, Ingolstadt, Nürnberg und Garching bei München. Der "Statthalter des Kalifen von Köln", Hasan Pala, trug die Bezeichnung "Gebietsemir von Bayern". Er stand außerdem dem Mevlana-Moscheeverein in Augsburg vor. Ingolstadt war der Sitz des "Gebietsjugendemirs von Bayern". Aufgabe der Moscheevereine in Bayern war es, die Spenden und Steuern der Mitglieder einzutreiben und der Zentrale in Köln abzuliefern. Ihnen oblag es ferner, die Weisungen des Kalifen bei den wöchentlichen Freitagsgebeten und Sonderveranstaltungen bekannt zu geben und umzusetzen. Darüber hinaus waren die Vereine in Bayern verpflichtet, Kinder der Verbandsmitglieder im Koran zu schulen und ihnen die Doktrin des "Kaplan-Verbands" näher zu bringen. Die Moscheevereine waren nur Verbandsmitgliedern zugänglich und durch Vereinsfahnen oder Türschilder als solche gekennzeichnet. Die Gebetsräume dienten auch dem gesellschaftlichen Beisammensein der Mitglieder. Bei Veranstaltungen wurden den Anwesenden Videos und Kassetten mit Reden und Beiträgen von Cemaleddin und Metin Kaplan präsentiert. Der verbandseigene Fernsehsender Hakk-TV, dessen Sitz in den Niederlanden liegen dürfte, versorgte via Satellit die Mitglieder mit aktuellen Beiträgen zum Weltgeschehen aus der Sicht des "Kalifatsstaats". Die Anhänger des "Kalifatsstaats" lebten und agierten im Rahmen ihres fiktiven Staatsgebildes. Sie bezahlten Steuern an den Kalifen. Ferner wurden Mitgliedsbeiträge in Höhe von 2,5 % der Nettolöhne er- Ausländerextremismus 167 hoben, die sich sogar zeitweise bis auf den gesamten Monatslohn erhöhten. Von Mitgliedern wurden regelmäßige Spenden für Hakk-TV und den Bezug der verbandseigenen Zeitschrift "Ümmet-I Muhammed" gefordert. Anlassbezogene Spenden (z.B. für Tschetschenien und Palästina) rundeten die Finanzbeschaffung innerhalb des "Kalifatsstaats" ab. Weitere Einnahmen verschafften die verbandseigene Lebensmittelkette "KAR-BIR" und ein Buchvertrieb. An die Moscheevereine waren Läden angegliedert, die Lebensmittel der Firma veräußerten. Die Mitglieder wurden dazu aufgefordert, nur Lebensmittel von "KAR-BIR" zu kaufen. In Bayern sichergestellte Unterlagen belegen, dass zwischen den afghanischen Taliban und dem "Kalifatsstaat" enge Kontakte bestanden. Der Europavertreter der Taliban, Mullah Nekmal, sprach auf einer Großveranstaltung der Organisation am 15. Mai 1999 in Köln. Der "Kalifatsstaat" hatte darüber hinaus Verbindungen zum im Jahr 2002 verbotenen Spendensammelverein Al-Aqsa e.V. sowie zur Hizb-I Islami (Partei des Islam) in Afghanistan. In beschlagnahmten Videos der verbotenen Vereinigung wurde der Djihad verherrlicht. Titel wie "Die Schule des Djihad" und "Der kleine Gotteskrieger", ein Zeichentrickfilm, der besonders Kinder ansprechen sollte, repräsentieren nur zwei der etwa 500 in Bayern sichergestellten Videofilme. Inzwischen erscheinen zwei neue Publikationen, die nach Inhalt und Diktion dem verbotenen "Kalifatsstaat" zuzuordnen sind. Die "Asr-I Saadet (Das Zeitalter der Glückseligkeit)" ist eine wöchentlich in türkischer Sprache erscheinende Zeitung, während das Magazin "D.I.A. (Die islamische Alternative)" in deutscher Sprache verfasst ist. Die Illustrierte D.I.A. wird zu Werbezwecken wahllos an Fachhochschulen im bayerischen Raum versandt. Beide Publikationen verbreiten die Ideologie des "Kalifatsstaats" weiter: "Lasst uns innerhalb der islamischen Armee unseren Platz einnehmen, um zuerst Istanbul und dann die Welt zu islamisieren - lasst uns das Recht erlangen neue Eroberer zu sein! (...) Lasst uns diejenigen Menschen machen, die ihren Platz in der Armee der Eroberung einnehmen und blutverschmiert zur Audienz gelangen, weil sie bis zum letzten Atemzug gekämpft haben, um Märtyrer zu werden!" (Asr-I Saadet Nummer 12 vom 20. März) Am 8. April leitete der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof ein Ermittlungsverfahren gegen bislang unbekannte Angehörige des 168 Ausländerextremismus "Kalifatsstaats" beziehungsweise "Kaplan-Verbands" wegen des Verdachts der Zuwiderhandlungen gegen das Verbot des Vereins ein. Das Bundeskriminalamt wurde mit der Durchführung der Ermittlungen beauftragt. Es besteht der Verdacht, dass namentlich bisher nicht bekannte Beschuldigte den organisatorischen Zusammenhalt des "Kalifatsstaats" entgegen dem vollziehbaren Verbot, das durch das Bundesministerium des Innern am 12. Dezember 2001 verhängt wurde, aufrechterhalten. Der Grund für das Ermittlungsverfahren liegt sowohl in einer weiteren Veröffentlichung der Zeitung "Ümmet-i Muhammed", Nummer 409/2001, als auch an Beiträgen des Fernsehsenders Hakk-TV nach dem Vereinsverbot. Sowohl bei den Zeitungsberichten als auch bei den Sendungen handelte es sich um die vormaligen Verlautbarungen des "Kalifatsstaats". Das Bundesministerium des Innern verbot am 19. September weitere 16 Teilorganisationen der verbotenen islamistischen Organisation "Kalifatsstaat". Gegen zwei weitere Gruppierungen wurden vereinsrechtliche Ermittlungsverfahren eingeleitet, da sie im Verdacht stehen, ebenfalls dem verbotenen "Kalifatsstaat" anzugehören. Im Rahmen des Vollzugs wurden in den fünf Bundesländern Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz 108 Vereinslokale, Moscheen und Wohnungen von Vorstandsmitgliedern der Organisationen durchsucht. Die Polizei stellte dabei Vereinsunterlagen und Propagandamaterial, PCs, CDs, Videos und weiteres Vereinsvermögen sicher. 3.5 Hizb-ut-Tahrir Deutschland Bayern Anhänger: ca. 150 Einzelpersonen Gründung: 1953 in Palästina Europazentrale: Großbritannien Publizistische Sprachrohre: explizit; Al Khilafah Politisches Betätigungsverbot in Deutschland seit 15.01.2003 Die "Partei der islamischen Befreiung" - Hizb-ut-Tahrir - (andere Schreibweise: Hizb al-Tahrir) wurde 1953 in Palästina von dem Religionsgelehrten Taqi Din an-Nabhani, einem Mitglied der Muslimbruderschaft (MB), gegründet. Sie hat sich seitdem weltweit verbreitet, Ausländerextremismus 169 ab 1995 gewann sie in Zentralasien, insbesondere in den ehemaligen Sowjetrepubliken, zahlreiche Mitglieder. Anhänger der Hizb-ut-Tahrir versuchten von Beginn an, militärische Institutionen und Einrichtungen in arabischen Ländern zu unterwandern und Mitglieder aus den Reihen des Militärs zu rekrutieren. In den Jahren 1968 in Amman (Jordanien) und 1969 in Bagdad (Irak) scheiterten Putschversuche. Ebenso schlugen Bestrebungen zur Machtübernahme 1974 in Kairo (Ägypten) und 1976 in Damaskus (Syrien) fehl. Inzwischen ist die Hizb-ut-Tahrir in der gesamten arabischen Welt und Zentralasien verboten. Nach dem Tod Nabhani's 1974 zerfiel die Partei laut Aussagen in Ägypten ansässiger Mitglieder in drei Fraktionen. Die erste soll ein Abdul Qadir Zalum in Großbritannien führen. Dort dürfte auch der Sitz der europäischen Zentrale sein. Aus der zweiten Fraktion um Umar Bakri entstand die Abspaltung "Jamaat al-Muhajirin". Die dritte Fraktion ist vor allem in Usbekistan und anderen Staaten Zentralasiens aktiv. Das Ziel der Hizb-ut-Tahrir ist die Errichtung eines "rechtgeleiteten" weltumspannenden Kalifats, das die Länder und Völker der Muslime in einem einzigen Staat eint und die Botschaft des Islam in die gesamte Welt trägt. Weitere erklärte Ziele sind die Wiedereinführung der Sharia als Strukturprinzip der islamischen Ordnung, die Auslöschung des Staates Israel und die Befreiung der muslimischen Welt von westlichen Einflüssen. Unausweichlich sei dabei ein "Kampf der Kulturen", insbesondere zwischen Islam und Christentum. Ein Dialog zwischen den Kulturen, geprägt vom Prinzip der Gleichheit und Toleranz, sei unmöglich, da mit dem Islam unvereinbar. Der Kampf sei sowohl auf ideologischer, wirtschaftlicher, politischer als auch auf militärischer Ebene zu führen. Der militärische Kampf gegen die Ungläubigen sei im Sinn eines "aktiven Djihad" für jeden Muslim verpflichtend. Die Organisation verfügt über weltweite Strukturen. Europa ist in Regionen aufgeteilt, die sich an den nationalstaatlichen Grenzen orientieren. Innerhalb der Regionen operiert die Hizb-ut-Tahrir in voneinander unabhängigen Gruppen, überwiegend in Universitätsstädten. Organisationsstrukturen in Deutschland waren bisher aber nicht erkennbar. Die Hizb-ut-Tahrir verbreitete in Deutschland Flugblätter und Broschüren in Deutsch, Arabisch, Türkisch sowie in Urdu. Die Organisation verteilte die Publikationen insbesondere an Universitäten sowie im Umfeld von Moscheen und islamischen Zentren. Sie 170 Ausländerextremismus betrieb eine deutschsprachige Internet-Homepage und gab seit 1993 die - zumeist vierteljährlich erscheinende - deutschsprachige Zeitschrift "explizit" heraus. Wegen des Verdachts der Bildung einer kriminelle Vereinigung gemäß SS 129 StGB durchsuchte die Polizei bundesweit am 12. November 33 Wohnungen, darunter eine eines Hizb-ut-Tahrir-Anhängers in Bayern. Das Bundesministerium des Innern hat am 15. Januar 2003 die Betätigung der Hizb-ut-Tahrir im räumlichen Geltungsbereich des Vereinsgesetzes verboten, da sie sich gegen den Gedanken der Völkerverständigung richtet, sie Gewaltanwendung als Mittel zur Durchsetzung politischer Belange befürwortet und eine derartige Gewaltanwendung hervorrufen soll. Zugleich wurde ein vereinsrechtliches Ermittlungsverfahren mit dem Ziel eines Organisationsverbots eingeleitet, da konkrete Organisationsstrukturen dieser Vereinigung in der Bundesrepublik bisher nicht bekannt sind, die Zahl der aktiven Anhänger von Hizb-ut-Tahrir in Deutschland jedoch den Verdacht der Existenz einer solchen Vereinsstruktur nahe legt. Zur Umsetzung des Betätigungsverbots und zur Beschlagnahme von etwaigen Beweismitteln für ein Organisationsverbot wurden am 15. Januar 2003 die Wohnungen von maßgeblichen Anhängern der Hizb-ut-Tahrir in Hessen, Nordrhein-Westfalen, Hamburg, Berlin und Bayern durchsucht. Der Schwerpunkt der Aktion lag in Hessen. In Bayern waren in der Vergangenheit nur wenige Anhänger von Hizb-ut-Tahrir ansässig. Bekannt wurden Gruppen in Erlangen und München. Am 29. September fand in München im "Eine Welt-Haus" eine Veranstaltung der Gruppierung statt. Dabei trat der Führungsfunktionär der Hizb-ut-Tahrir und Herausgeber der Zeitschrift "explizit", Shaker Assem, auf. Eine weitere Veranstaltung am 5. November in der Technischen Universität in Berlin erregte Aufsehen, weil der dort anwesende NPD-Vorsitzende Udo Voigt sowie Rechtsanwalt Mahler sich mit der Hizb-ut-Tahrir solidarisierten. Als Referent der Veranstaltung kritisierte Shaker Assem die gegenwärtige "Anti-Irak-Politik" der USA. Er behauptete, die USA planten diesen Krieg ausschließlich aus einer feindlichen Haltung gegenüber dem Islam heraus. Auch würde sich Deutschland zu sehr mit den USA verbünden. Sollte die "BRD" diese Linie weiterverfolgen, werde sie den Zorn und die Wut der Muslime erfahren. Ausländerextremismus 171 3.6 Ansar al-Islam Deutschland Bayern Anhänger: ca. 100 ca. 20 Anführer: Mullah Krekar (Najumuddin Faraj Ahmad) Gründung: September 2001 im Nordirak Die Ansar al-Islam (Unterstützer des Islam) vereinigt radikale islamistische Kurden aus dem Nordirak. Die etwa 1.000 Anhänger stammten aus verschiedenen Splittergruppen, die sich die Verwirklichung des islamischen Glaubens und einer dem Koran entsprechenden Lebensweise zum Ziel setzten. Die Ansar al-Islam wurde im September 2001 gegründet und nannte sich noch bis zum Frühjahr Jund al-Islam (Soldaten des Islam). Der Iraker Mullah Krekar, Anführer der Ansar al-Islam, kontrolliert mit über 600 bewaffneten Kämpfern ein kleines Gebiet im Süd-Osten des nordirakischen Kurdengebietes. Die Ansar al-Islam gewährte Kämpfern von Bin Ladin Unterschlupf. Im Gegenzug sollen Kurden der Jund Al-Islam Trainingslager der Al-Qaida-Basen durchlaufen haben. Mullah Krekar vertritt offensiv eine militant-islamistische Politik und soll Bin Ladin persönlich kennen. Seiner Aussage nach ist "Bin Ladin eine Krone auf den Köpfen der Muslime". Die Ansar al-Islam will Christen und Juden bekämpfen, sowie den in ihrem Machtbereich lebenden Menschen den Kontakt zu säkularen Parteien wie der "Patriotischen Union Kurdistans" (PUK) verbieten. Nach eigenen Angaben will sich die Ansar al-Islam durch religiöses und militärisches Training sowie mit der weiteren Beschaffung von Waffen und Munition auf den Djihad vorbereiten. Mullah Krekar forderte seine Anhänger dazu auf, sich für Selbstmordattentate bereit zu machen: "Die Zeit komme und man plane, wo, wie und wann die Selbstmordattentäter hingeschickt werden." Die Ansar al-Islam wurde am 31. Oktober von der britischen Regierung wegen möglicher Verbindungen zum Terrornetzwerk Al-Qaida verboten. Der Ansar al-Islam werden einige Bombenanschläge und Mordversuche im Nordirak vorgeworfen. Anhänger von Mullah Krekar leben auch in München, Augsburg und Nürnberg. Da Krekar für den Kampf der Organisation Geld, tech- 172 Ausländerextremismus nische Ausrüstung und Waffen benötigt, dienten seine Besuche und Predigten in Deutschland vermutlich der Spendensammlung und stellten gleichzeitig eine Werbekampagne für die Ansar al-Islam dar. Am 11. September wurde Mullah Krekar während eines Aufenthalts im Iran ausgewiesen. Er flog daraufhin nach Amsterdam und wurde dort bei der Einreise festgenommen. Seit 12. November befand sich Krekar in Schiphol/Niederlande in Untersuchungshaft. Am 13. Januar 2003 wurde er von dort in sein ursprüngliches Asylland Norwegen abgeschoben. Dort befindet er sich derzeit auf "freiem Fuß". Allerdings wird geprüft, ob er wieder in den Irak abgeschoben werden kann, da er durch seine mehrfachen Reisen in den Irak gegen seinen Asylantenstatus verstoßen hat. 3.7 Tablighi Jamaat Deutschland Bayern Anhänger: keine Angaben möglich Gründung: 1927 in Delhi (Indien) Begegnungsstätte: Bilal Moschee in Frankfurt am Main Publikation: keine Die Tablighi Jamaat wurde 1927 in Delhi/Indien von dem Religionsgelehrten Mawlana Muhammad Ilyas als eine pietistische Erweckungsbewegung gegründet. In ihren Ursprüngen ist sie eng mit der Islamischen Hochschule von Deoband/Indien verbunden. Die Gemeinschaft vertritt eine radikalisierte Form des strenggläubigen Islam indischer Prägung. Ziel der Tablighi Jamaat ist die Islamisierung der Gesellschaft über Angehörige dieser Vereinigung. Dabei stellt sie in der pakistanisch-indischen Region eine islamische Massenbewegung dar. Über die Islamisierung des Alltagslebens und die Schaffung eines islamischen Gesellschaftsbewusstseins wird an der Etablierung eines islamischen Staatswesens gearbeitet. Dabei verlangt die Tablighi Jamaat von den Muslimen ein konsequentes Leben gemäß Koran und Sunna, postuliert die Unveränderlichkeit und Unabdingbarkeit muslimischer Familienrechte, sowie in Konsequenz daraus eine Abgrenzungspolitik zu Nicht-Muslimen. Diese Bestrebungen wirken in nicht-muslimischen Gesellschaften zwangsläufig desintegrierend, so dass eine dauerhafte und ernsthafte Hinwendung zu westlichen Gesellschaftsordnungen, Wertvorstellungen und Integrationsmodellen nicht möglich ist. Ausländerextremismus 173 Obwohl die Organisation Gewalt ablehnt, besteht durch die gemeinsame ideologische Basis mit militanten Gruppierungen die Gefahr, dass die weltweiten Strukturen der Bewegung für Hilfsdienste terroristischer Netzwerke missbraucht werden. Die Tablighi Jamaat betreibt inzwischen auch drei Moscheen im bayerischen Raum. 3.8 Al-Tauhid Deutschland Bayern Anhänger: keine gesicherten Zahlen Einzelpersonen Ideologie: aggressiv-militante Forderung des Djihad Aufbau: keine Organisationsstruktur/Zellenaufbau Publikation: keine Der Name Al-Tauhid ("Bekenntnis der Einheit Gottes") steht nicht für eine spezifische Gruppierung, sondern ist ein Synonym für eine Bewegung von Aktivisten mit gleichartigem Gedankengut und bedeutet, "jeder der an den einzigen, wahren Gott glaubt". Al-Tauhid ist somit eine ideologisch-religiös ausgerichtete Bewegung Gleichgesinnter, die auf der Grundlage eines aggressiv-militanten islamischen Fundamentalismus den weltweiten Djihad aller Glaubensbrüder fördert und unterstützt. Sitz der Bewegung Al-Tauhid in Europa soll Großbritannien sein. Ihr geistiger Führer Abu Qutada mit Wohnsitz in London/Großbritannien ist zwischenzeitlich verhaftet worden. Die Londoner Moschee von Abu Qutada war in der Vergangenheit Anlaufstelle für mutmaßliche "Gotteskrieger" aus ganz Europa. Al-Tauhid tritt auch im Gefolge mutmaßlich terroristischer Bewegungen in Erscheinung, als Beispiel hierfür kann der ägyptisch-terroristische Jihad Islami - JI - (vgl. auch Nummer 3.2.1.3 dieses Abschnitts) genannt werden. Auch in Bayern wurden Einzelpersonen, die dieser sunnitisch-palästinensischen Ideologie anhängen, im Zuge laufender Ermittlungen gegen das Al-Qaida-Netzwerk bekannt. Die deutsche Zelle arbeitet innerhalb der von den operativen und religiösen Führern vorgegebenen Direktiven weitgehend selbstständig und hatte sich um einen in Essen wohnenden Palästinenser gebildet. Sie war bisher überwiegend mit der Fälschung von Pässen und Reisedokumenten, der Durchführung von Spendensammlungen und 174 Ausländerextremismus Schleusung von "Kämpfern" befasst; die logistische Unterstützung von Afghanistan-Kämpfern stand zunächst im Vordergrund. Darüber hinaus gab es auch Anhaltspunkte, dass diese Zelle begonnen hatte, Anschläge in der Bundesrepublik Deutschland zu planen. Am 23. April durchsuchte die Polizei deshalb im Rahmen eines bundesweiten Ermittlungsverfahrens des Generalbundesanwalts in zehn Städten Objekte der Al-Tauhid. Insgesamt wurden im Bundesgebiet 21 Objekte, darunter sechs in den bayerischen Städten München, Nürnberg und Regensburg durchsucht. Die Polizei nahm insgesamt 13 Personen fest. Gegen sieben Beschuldigte erging Haftbefehl, unter anderem wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (SS 129 a StGB). Drei der Inhaftierten wohnen in Bayern; sie wurden zwischenzeitlich aus der Untersuchungshaft entlassen. 3.9 Hizb Allah (Partei Gottes) Deutschland Bayern Mitglieder: 800 Einzelpersonen Gründung: 1982 im Libanon Begegnungsstätte: Münster Publikation: Al-Ahd (Die Verpflichtung) Die Hizb Allah (auch: Hisbollah/Hizbollah) ist eine auf Initiative des Iran gegründete schiitische Partei, die seit 1992 im libanesischen Parlament vertreten ist. Sie wird vom Iran finanziell, materiell und ideologisch unterstützt. Zu ihr gehören verschiedene Wohlfahrtsorganisationen sowie der "Islamische Widerstand" (Muqawame Islamiya), der als militärischer Arm der Organisation insbesondere den bewaffneten Kampf gegen israelische Militäreinheiten im libanesisch-israelischen Grenzgebiet führte. Bis Mai 2000 war die von Israel seit 1978 besetzte "Sicherheitszone" im Südlibanon Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen. Anlässlich des israelischen Rückzugs aus der "Sicherheitszone" des Südlibanon fanden wieder in verschiedenen Städten Deutschlands "Siegesfeiern" statt. Bei einer Veranstaltung am 23. Mai in der schiitischen Moschee in der Münchener Goethestraße erinnerte ein Redner die etwa 150 Zuhörer an die großen Verdienste des "Islamischen Widerstands". Er hob Ausländerextremismus 175 dabei besonders die in diesem Kampf gefallenen Märtyrer hervor. Zwei als Ehrengäste aus dem Libanon angereiste Hizb Allah-Angehörige priesen den opfervollen Kampf und den Sieg, der dem Festhalten am wahren Islam zu verdanken sei. Der Kampf müsse sich auch weiterhin gegen den Zionismus und gegen die USA (als Unterstützer des Zionismus) richten, da diese immer wieder versuche, die Hizb Allah und alle Muslime als Terroristen zu bezeichnen. Die Intifada solle gemeinsam mit den Palästinensern bis zur Eroberung Jerusalems fortgesetzt werden. Die von der Hizb Allah früher geforderte Errichtung einer "Islamischen Republik" im Libanon nach dem Beispiel des Iran genießt heute formal keine Priorität mehr. Vielmehr bekundete die Organisation ihre Bereitschaft, sich in das politische System des Libanon zu integrieren, um durch politische Aktivitäten gesellschaftliche Veränderungen im Libanon herbeizuführen. In Deutschland ist die Führung der Hizb Allah weiterhin bestrebt, die Anhängerschaft neu zu organisieren. Diesem Zweck dienen auch häufige Besuche hochrangiger Funktionäre und islamischer "Geistlicher". Im Sommer waren die Pläne der Hizb Allah bekannt geworden, in Berlin ein bundesweites Schulungszentrum mit Koranschule und Kinderbetreuung zu eröffnen. Anhaltspunkte dafür, dass dieses Projekt weiter verfolgt wird, liegen derzeit nicht vor. 3.10 Islamisch-Irakische Gemeinschaft Deutschland e.V. (IIGD) Hizb Da'Wa al-Islamiya (Da'Wa) Deutschland Bayern Mitglieder/Anhänger: - IIGD ca. 70 - Da'Wa ca. 150 ca. 30 Gründung: - IIGD 1997 in Köln - Da'Wa 1969 im Irak Publikation der Da'Wa/Deutschland: Al Jihad (Heiliger Krieg) Die 1969 im Irak gegründete schiitische "Da'Wa-Partei" ("Partei des islamischen Rufs / der islamischen Mission") ist die älteste und bedeu- 176 Ausländerextremismus tendste Oppositionsbewegung im Irak. Sie fordert den Sturz des irakischen Regimes und strebt die Errichtung eines islamistischen Staatsund Gesellschaftssystems an. In Deutschland wurde die "Da'Wa" in der Vergangenheit durch die "Islamische Union Irakischer Studenten in der Bundesrepublik Deutschland e.V." (I.U.I.S.) repräsentiert, die nur propagandistisch, beispielsweise durch die Ausrichtung von Fachkongressen, in Erscheinung trat. Im Rahmen von Reorganisationsmaßnahmen entstand 1997 in Köln die "Islamisch-Irakische Gemeinschaft Deutschland e.V." (IIGD) und löste damit die I.U.I.S. ab. Die IIGD, die nach außen lediglich religiöse Ziele verfolgt, wird maßgeblich durch die "Da'Wa" beeinflusst. Hauptaufgabe der IIGD in Deutschland ist es, möglichst viele, auch unpolitische, Mitglieder aus den Reihen der irakischen Schiiten zu gewinnen. Der alle Mitglieder vereinende Gedanke ist die Opposition zu Saddam Hussein. Als Oppositionsorganisation gegen Saddam Hussein dürfte die IIGD eine große Zahl von Sympathisanten unter den irakischen Asylbewerbern in Deutschland haben. 4. Sonstige ausländerextremistische Gruppierungen 4.1 Freiheitsund Demokratiekongress Kurdistans (KADEK) ehemals Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Deutschland Bayern Anhänger: 11.500 1.800 Vorsitzender: Abdullah Öcalan Leitung: Führungsfunktionäre der "Kurdischen Demokratischen Volksunion" (YDK) (in Abhängigkeit vom Vorsitzenden des KADEK, Abdullah Öcalan, und dem Rat des Generalvorsitzenden, auch Präsidialrat genannt) Gründung: 1978 in der Türkei (in Deutschland seit 26. November 1993 verboten) Publikation: Serxwebun (Unabhängigkeit) Die in der Türkei und Deutschland verbotene PKK hat sich auf ihrem 8. Kongress, der vom 4. bis 10 April an einem geheim gehaltenen Ort Ausländerextremismus 177 im iranisch-irakischen Grenzgebiet stattfand, in KADEK umbenannt und die Einstellung aller Aktivitäten der PKK zum 4. April beschlossen. Wesentliche Veränderungen in Organisation, Strukturen und Ideologie erfolgten nicht. Es handelt sich somit lediglich um eine Änderung des Namens. Das gegen die PKK erlassene vereinsrechtliche Betätigungsverbot aus dem Jahr 1993 erstreckt sich deshalb auch auf den KADEK. 4.1.1 Ideologie Der KADEK (ehemals PKK) ist eine gut organisierte, straff geführte, ursprünglich marxistisch-leninistisch geprägte Kaderorganisation. Sein Programm ist eine Mischung aus sozialistischem und nationalistischem Gedankengut. Gemäß seiner Satzung wird der KADEK nach dem Prinzip des "demokratischen Zentralismus" geführt. Im Mittelpunkt stand über zwei Jahrzehnte der aktive "revolutionäre Kampf" für ein freies und unabhängiges Kurdistan. Seit August 1999 plädierte die PKK (jetzt KADEK) für eine regionale Lösung aller Probleme des Mittleren Ostens auf der Grundlage der "demokratischen Einheit". Die USA, die EU und Russland werden aufgefordert, durch Entwicklung einer neuen Kurdenund Mittlerer-Osten-Politik zu dieser Lösung beizutragen. Der KADEK tritt formal für die Beendigung jeglicher Art von militärischer Auseinandersetzung ein; jede Form des Terrorismus wird verurteilt. Der propagierte Friedenskurs zielt auf einen gewaltfreien politischen Ausgleich mit der Türkei ab. Verlauf und Endgültigkeit des angekündigten Veränderungsprozesses sind jedoch nicht absehbar. Trotz instrumentalisierter Friedensoffensive droht der KADEK weiterhin ganz offen der türkischen Regierung mit der Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfs. Ebenso wird eine existenzielle Bedrohung der "Volksverteidigungskräfte" (HPG) nach wie vor als "Kriegsgrund" angesehen. Zum Gedenken der Jahrestage des bewaffneten Kampfs (15. August 1984) und der "Märtyrer des 14. Juli" (14. Juli 1982) wurden in mehreren europäischen Ländern, so auch in Deutschland, dezentrale Veranstaltungen durchgeführt. In Westeuropa erfolgt die Öffentlichkeitsarbeit unter der Bezeichnung Kurdische Demokratische Volksunion (YDK), ehemals Nationale Befreiungsfront Kurdistans (ERNK). Die YDK soll ihre Arbeit auf das "Friedensprojekt" des KADEK ausrichten und die "kurdischen Mas- 178 Ausländerextremismus sen" nach "demokratischen Prinzipien" organisieren. Erklärtes Ziel ist die Aufhebung des seit 1993 in Deutschland bestehenden und auch für die YDK geltenden Betätigungsverbots. Der KADEK setzt die seit der Gründung der PKK beanspruchte Führungsrolle im Kampf der Kurden uneingeschränkt fort. In der Vergangenheit kam es deshalb wiederholt zu Auseinandersetzungen auch militärischer Art mit konkurrierenden Kurdenorganisationen. Die Organisation versteht sich wie bisher als die alleinige Vertretung der in Deutschland lebenden rund 500.000 türkischen Staatsangehörigen kurdischer Volkszugehörigkeit, obwohl sich nur etwa 10 % dieser Volksgruppe zum KADEK bekennen. 4.1.2 Organisation Einhergehend mit den Beschlüssen des 8. Parteikongresses der PKK erfolgten Veränderungen innerhalb der Organisation. Als oberstes Entscheidungsgremium des KADEK dient nunmehr die Generalversammlung, bisher PKK-Kongress. KADEK-Generalvorsitzender ist nach wie vor der in der Türkei inhaftierte frühere PKK-Generalvorsitzende Abdullah Öcalan. Er ist weiterhin richtungsbestimmend. Am 3. Oktober hat ein türkisches Staatssicherheitsgericht das gegen ihn im Jahre 1999 wegen Hochverrats verhängte Todesurteil in eine lebenslange Freiheitsstrafe umgewandelt. Die Strukturebene der Regionen wurde abgeschafft. Die bislang den Regionen nachgeordneten Gebiete wurden in Deutschland verringert und neu gegliedert. Der Gebietsverantwortliche erhält seine Anweisungen von einem aus Führungsfunktionären bestehendem "Koordinationskomitee" (früher "Europäische Frontzentrale - ACM"), das vorwiegend in den Niederlanden tätig ist. Die hauptamtlichen Kader des KADEK leben mit häufig wechselnden Aufenthaltsorten und unter Verwendung eines Decknamens in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich äußerst konspirativ. Die KADEK-Anhängerschaft ist in zahlreichen, der Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V. (YEK-KOM) angegliederten örtlichen Vereinen organisiert. Diese Vereine, die sich nach außen als reine Kulturvereine darstellen, haben die Aufgabe, Ziele und Politik des KADEK unter den Anhängern zu verbreiten und zu fördern. Ausländerextremismus 179 Darüber hinaus bedient sich der KADEK zahlreicher vom Betätigungsverbot nicht erfasster Nebenorganisationen ("Y-Gruppen"). Diese haben die Aufgabe, verschiedene Zielgruppen innerhalb der kurdischen Bevölkerung für die Interessen des KADEK zu gewinnen. Aus den Reihen der Union der Jugendlichen aus Kurdistan (YCK) rekrutierten sich bisher Teile der Guerilla der PKK. Nicht selten wurden dabei in der Vergangenheit Jugendliche gegen den Willen ihrer Eltern zwangsverpflichtet und in Ausbildungslagern im benachbarten Ausland geschult, bevor sie zum Kampfeinsatz in die Türkei geschleust wurden. Der KADEK finanziert sich aus Spendenkampagnen, Mitgliedsbeiträgen, dem Verkauf von Publikationen und den Einnahmen aus Veranstaltungen. Des Weiteren gibt es Hinweise, dass der KADEK auch vom Rauschgifthandel profitiert, indem er beispielsweise kurdische Drogenhändler abschöpft. Auf ihrem 7. außerordentlichen Parteikongress hatte die ehemalige PKK Anfang 2000 beschlossen, ihre Wirtschaftsaktivitäten neu zu ordnen. Erste Schritte dazu gelangen mit der Gründung des "Internationalen Kurdischen Arbeitgeberverbands" (KARSAZ) im Januar 2001 in Rotterdam/Niederlande. Ziel des Unternehmerverbands ist die Schaffung eines "kurdischen Markts" und dessen Integration in den Weltmarkt. KARSAZ soll die Interessen kurdischer Unternehmer wahren, deren Zusammenarbeit verstärken und sie auf nationaler und internationaler Ebene organisieren. Aus diesem Grunde führte KARSAZ in mehreren deutschen Städten Informationsveranstaltungen durch, die bei den kurdischen Unternehmern große Resonanz fand. Dem wachsenden Interesse von Unternehmerseite kam KARSAZ mit der Einrichtung einer eigenen Internet-Seite und der Herausgabe einer eigenen Publikation (Denge KARSAZ) nach. Ein wichtiges Propagandamedium ist der KADEK-nahe Fernsehsender MEDYA-TV mit Sitz in Frankreich, der am 30. Juni 1999 seinen Betrieb aufnahm. Die Beiträge gleichen in wesentlichen Punkten der Berichterstattung seines Vorgängers MED-TV. Der Sender wird vom KADEK als Plattform zur Darstellung seiner politischen Ziele genutzt. Als weiteres Agitationsinstrument dient dem KADEK die türkischsprachige Tageszeitung Özgür Politika (Freie Politik), in der regelmäßig Stellungnahmen führender KADEK-Funktionäre publiziert werden. Die Zeitschrift versucht, Einfluss auf die Politik im mittleren Osten und den kurdischen Siedlungsgebieten im Sinn des KADEK zu nehmen. 180 Ausländerextremismus 4.1.3 Strategie Die Strategie des KADEK ist seit der Festnahme des Generalvorsitzenden Abdullah Öcalan geprägt von der Anpassung an die veränderte politische und militärische Lage. Nach Verlautbarungen des damaligen PKK-Präsidialrats ist der "nationale kurdische Befreiungskampf" in eine neue Phase eingetreten. Nach den bewaffneten Auseinandersetzungen der Organisation mit den türkischen Sicherheitskräften sei durch Verkündung des einseitigen Waffenstillstands durch den KADEK-Generalvorsitzenden Abdullah Öcalan im August 1999 eine erste Friedensphase eingeleitet worden, die im weiteren Verlauf zu einem "detaillierten Friedensprojekt" ausgearbeitet wurde. Zwiespältig ist nach wie vor das Verhältnis zur Gewalt. Einerseits verurteilt der KADEK jegliche Anwendung von Gewalt, andererseits hält er an der Aufrechterhaltung militärischer Kampfeinheiten im kurdischen Siedlungsgebiet als Druckmittel fest. Vor dem Hintergrund einer möglichen Intervention der USA unter Beteiligung der Türkei im Irak und aufgrund der Tatsache, dass der KADEK und seine in den kurdischen Lagern im Grenzgebiet Irak/Iran stationierten Einheiten der Volksverteidigungskräfte in Gegnerschaft zu den im Nordirak etablierten Kurdenorganisationen stehen, hat der KADEK verschiedene Gebiete im Nordirak zu so genannten "Medya-Verteidigungszonen" erklärt. Alle Angriffe auf die in diesen Gebieten stehenden Guerillakräfte werden als Kriegsgrund angesehen. Der Vorstand des KADEK erklärte, dass im Fall eines Einmarsches der Türkei der Krieg nicht nur auf den Nordirak beschränkt, sondern auch in die Türkei hineingetragen werde. Neu in der Politik des KADEK ist, dass er die territoriale Einheit der Nationalstaaten des Kurdengebiets anerkennt und in diesem Rahmen versucht, die Rechte der Kurden durchzusetzen. Mit der Kampagne für muttersprachlichen Unterricht in der Türkei als Bestandteil der seit Mai 2001 andauernden Identitätskampagne setzte die Organisation ihre diesbezüglichen Aktivitäten unvermindert fort. Mit der Durchführung von Aktionen in Deutschland dokumentierte man die Unterstützung der von Schülern und Studenten in der Türkei durchgeführten Kampagne zur Zulassung der kurdischen Sprache als Unterrichtsfach. Das negative Abschneiden der DEHAP bei den Parlamentswahlen am 3. Oktober in der Türkei enttäuschte den KADEK und seine Anhänger sehr, da man sich mit einem möglichen Einzug der DEHAP-Listenverbindung in das türkische Parlament ein Einwirken auf die türkische Ausländerextremismus 181 Regierung im Sinn der Kurden nicht zuletzt im Fall eines Kriegs im Nordirak erhofft hatte. Der KADEK hatte für die Parlamentswahl die pro-kurdische Partei HADEP (Demokratie-Partei des Volkes) unterstützt. HADEP war mit der Arbeiterpartei (EMEP) und der Sozialistischen Revolutionären Partei (SDP) ein Wahlbündnis eingegangen, das unter der Bezeichnung DEHAP (Demokratische Volkspartei) kandidierte. DEHAP erreichte bei der Wahl rund 6 % der Stimmen und verfehlte damit die in der Türkei geltende 10 %-Hürde. 4.1.4 PKK-interne Opposition Seit der Verhaftung des KADEK-Vorsitzenden am 15. Februar 1999 haben sich verschiedene Gruppierungen formiert, die die Entwicklung des KADEK kritisch hinterfragen. Dabei wird insbesondere der anhaltende und bestimmende Einfluss Abdullah Öcalans auf die Organisation in Frage gestellt und beklagt, die - aus Sicht der Kritiker - bedingungslose Aufgabe der militärischen Option des KADEK sei eine Kapitulation vor dem türkischen Staat. Diese Oppositionsbestrebungen werden vom KADEK bekämpft und unterdrückt. Es mehren sich Hinweise, dass die Organisation ihre Suche nach Dissidenten und Abweichler forciert. 4.1.5 Aktivitäten Trotz des seit 1993 verfügten Verbots führten KADEK-Anhänger erneut deutschlandweit eine Reihe von Veranstaltungen durch, die in der Regel friedlich verliefen, das nach wie vor vorhandene Mobilisierungspotenzial der Organisation jedoch eindrucksvoll dokumentierten. In Bayern wurden vereinzelte Verdachtsfälle von Erpressung bekannt, bei denen ein KADEK-Hintergrund anzunehmen ist. Die Polizei musste insbesondere bei Veranstaltungen mehrfach wegen Straftaten nach dem Vereinsgesetz einschreiten. Aus Anlass des 3. Jahrestags der Ergreifung Abdullah Öcalans und seiner Verbringung in die Türkei (15. Februar 1999) führte der KADEK vom 14. bis 17. Februar bundesweit Aktionen mit Informationsständen, Mahnwachen, Sitzstreiks oder Demonstrationsmärsche mit anschließenden Kundgebungen, so auch in Nürnberg, durch. Gegen den Beschluss des Rats der Europäischen Union vom 2. Mai, die PKK/den KADEK in die EU-Terrorliste aufzunehmen, startete der 182 Ausländerextremismus KADEK eine europaweite Protestkampagne. Diese stand unter dem Motto "Ich will Gerechtigkeit". In zahlreichen deutschen Städten protestierten am 1. und 2. Mai Aktivisten und Sympathisanten des KADEK in Aufzügen, Kundgebungen und Mahnwachen. In Bonn beteiligten sich nach Angaben der KADEK-nahen Tageszeitung "Özgür Politika" rund 300 Personen an einer Demonstration. Die Teilnehmer zeigten unter anderem Spruchbänder mit der neuen Organisationsbezeichnung KADEK. Bei der offiziellen 1.-Mai-Veranstaltung des DGB in München skandierten mehrere Anhänger des KADEK "Biji KADEK". Das Präsidialratsmitglied des KADEK, Osman Öcalan, hatte bereits am 29. April im KADEK-nahen Fernsehsender MEDYA-TV vor der Aufnahme der "Kurdischen Freiheitsbewegung" in die Terrorliste massiv gewarnt. In einem Internet-Aufruf der Informationsstelle Kurdistan (ISKU) in Hamburg zu den Protestaktionen am 2. Mai hieß es, dass mit der Aufnahme der PKK in die Terrorliste den Friedensbemühungen von kurdischer Seite eine deutliche Absage erteilt werde. Die EU-Staaten entschieden sich damit für die Seite der herrschenden Kräfte in der Türkei, die weiterhin an der Verleugnungsund Vernichtungspolitik gegen die kurdische Bewegung festhalte. Nicht die PKK sei terroristisch, sondern der türkische Staat. Am 19. Juni demonstrierten in Brüssel nach Eigenangaben über 10.000 Kurden aus ganz Europa ebenfalls friedlich gegen die Aufnahme des KADEK in die EU-Liste terroristischer Organisationen. Am 7. September fand in der Gelsenkirchener "Arena auf Schalke" unter dem Motto "Frieden braucht Gerechtigkeit" das "10. Internationale Kurdistan-Kulturfestival" statt, zu dem etwa 45.000 überwiegend kurdische Teilnehmer aus dem gesamten Bundesgebiet und dem benachbarten europäischen Ausland angereist waren. Aus Bayern beteiligten sich rund 1.000 Personen. In einer verlesenen Grußbotschaft rief der Führer des KADEK, Abdullah Öcalan, dazu auf, den eingeschlagenen friedlichen und demokratischen Weg fortzusetzen. Am 14. November wurden die Vereinsräume des in München ansässigen Vereins "MED-Kulturhaus e.V." und die Wohnungen von 25 Mitgliedern des Vereinsvorstands von der Polizei wegen des Verdachts der Betätigung für den verbotenen KADEK durchsucht. Neben Propagandamaterial des KADEK wurden EDV-Anlagen und schriftliche Unterlagen sichergestellt. Ausländerextremismus 183 Am 25. November griffen in Würzburg in der Erstaufnahmeeinrichtung für Asylbewerber sieben Kurden einen Türken nach einer erfolglosen Geldforderung für einen "kurdischen Verein" an und verletzten ihn an Armen und Beinen. Der Türke war bereits im Vorfeld der "Bestrafungsaktion" Anfeindungen ausgesetzt gewesen. Im Zuge der polizeilichen Ermittlungen wurde in der Erstaufnahmeeinrichtung ein Versammlungsraum des KADEK festgestellt. Dieser war mit einschlägigem Propagandamaterial ausgestattet und diente den Ermittlungen zufolge unter anderem für wöchentliche Versammlungen der KADEK-Anhänger. 4.1.6 Festnahmen und Strafverfahren Das Oberlandesgericht Hamburg verurteilte am 2. Januar einen 38-jährigen Kurden wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass er am 25. Februar 1986 in Hamburg einen Repräsentanten der damals mit der PKK rivalisierenden linksextremistischen Gruppierung "Devrimci Isci" (Revolutionäre Arbeiter) durch Kopfschüsse getötet hatte. Der Täter hatte nach Auffassung des Gerichts im Auftrag der ehemaligen PKK gehandelt. Das Bayerische Oberste Landesgericht verhängte am 23. April gegen einen 25-jährigen ehemaligen Regionsverantwortlichen des KADEK wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten sowie eine Geldstrafe in Höhe von 500 EUR. Die Freiheitsstrafe wurde für drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass der Verurteilte von Oktober 1999 bis Februar 2000 für die ehemalige PKK-Region Bayern verantwortlich war. Der Verurteilte war am 26. Juni 2001 in Hessen festgenommen worden und saß seither in Untersuchungshaft. Das Oberlandesgericht Düsseldorf verurteilte am 27. Juni eine KADEK-Aktivistin wegen Beihilfe zum versuchten Mord und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten. Die Verurteilte hatte nach Ansicht des Gerichts einen Auftragsmörder des KADEK bei der versuchten Tötung eines aus der Organisation ausgeschiedenen hohen Funktionärs logistisch unterstützt sowie den Kontakt zwischen dem späteren Opfer und dem Täter hergestellt. Am 10. Juli verurteilte das Oberlandesgericht Düsseldorf einen 45-jährigen Kurden wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Ver- 184 Ausländerextremismus einigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten. Der Verurteilte hatte dem Urteil zufolge von Februar 2000 bis März 2001 die PKK-Region Mitte geleitet. Für das Strafmaß mitentscheidend waren auch die Vortaten. Bereits im Dezember 1998 hatte das Oberlandesgericht Frankfurt am Main gegen den Kurden wegen seiner damaligen Tätigkeit als Regionsverantwortlicher für die PKK-Region Süd eine Freiheitsstrafe von drei Jahren verhängt. Am 5. November verurteilte das Bayerische Oberste Landesgericht in München den ehemaligen PKK-Regionsverantwortlichen Bayern wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sieben Monaten. Haftfortdauer wurde angeordnet. Der Verurteilte war von 1995 bis März 1996 für das PKK-Gebiet Stuttgart verantwortlich. Von Mai 1998 bis Februar 1999 leitete er die PKK-Region Hannover. Im Februar 2000 übernahm er die Verantwortung für die PKK-Region Bayern und gab diese Funktion im August 2000 wieder ab. Von August 2000 bis Mai 2001 hielt er sich in Großbritannien als Gebietsverantwortlicher auf. 4.2 Devrimci Sol (Revolutionäre Linke - Türkei) Deutschland Bayern Mitglieder: 800 120 Gründung: 1978 in der Türkei (in Deutschland seit 1983 verboten) Die Organisation ist gespalten in: Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) Türkische Volksbefreiungspartei-Front (THKP-C Devrimci Sol) (beide Gruppierungen in Deutschland seit 1998 verboten) Die 1978 gegründete und 1983 in Deutschland verbotene revolutionär-marxistische Devrimci Sol versteht sich als eine an den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus ausgerichtete Volksbewegung. Sie zählt zu den militantesten türkischen Extremistengruppen, die mit Hilfe einer bewaffneten Revolution auf die Zerschlagung des türkischen Staates zielen und in der Türkei terroristisch aktiv sind. Seit 1993 ist die Devrimci Sol in den "Karatas-Flügel", aus dem die 1994 in Syrien gegründete Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) hervorging, und den "Yagan-Flügel", aus dem sich die Tür- Ausländerextremismus 185 kische Volksbefreiungspartei-Front (THKP-C Devrimci Sol) entwickelte, gespalten. Das Bundesministerium des Innern hat am 13. August 1998 gegen die DHKP-C als Ersatzorganisation der Devrimci Sol ein Vereinsverbot und gegen die THKP-C Devrimci Sol ein Betätigungsverbot ausgesprochen. Die Verbote sind bestandskräftig. Örtliche Schwerpunkte der DHKP-C mit insgesamt rund 110 Anhängern in Bayern bestehen in Aschaffenburg, München und Nürnberg; für die THKP-C Devrimci Sol sind in Bayern nur Einzelmitglieder aktiv. Der Aktivitätsschwerpunkt der Devrimci Sol liegt nach wie vor bei Protestaktionen gegen die Gefängnisreform in der Türkei. Der Protest richtet sich vornehmlich gegen die Einführung des Zellentyps "F" (Kleinzellen) in den türkischen Haftanstalten, der die bisherigen Großzellen ersetzen soll. Damit begleitet die Devrimci Sol, wenn auch mit geringerer Intensität, die Proteste in der Türkei. Zentrale Aktion ist ein dort von Gesinnungsgenossen seit Oktober 2000 durchgeführter Hungerstreik (von den Betreibern als Todesfasten bezeichnet), an dessen Folgen bereits mehr als 60 Beteiligte verstorben sind. Mit Beschluss vom 2. Mai nahm die Europäische Union die DHKP-C ebenso wie die kurdische PKK (jetzt KADEK) in die EU-Terrorliste auf. Hiergegen protestierte der militärische Arm der DHKP-C, die in der Türkei terroristisch operierende Revolutionäre Volksbefreiungsfront (DHKC). Nach Auffassung der DHKC ist die Aufnahme ausschließlich darin begründet, dass die Organisation in der Vergangenheit die Öffentlichkeit auf die "Morde" des türkischen Staates und der USA aufmerksam gemacht habe. Als Antwort auf diese Diffamierung seitens der EU werde die DHKC künftig auch die europäischen Staaten als "Folterer" und "Mordgehilfen" anklagen. Am Ende der Erklärung hieß es, von nun an sei die EU für alle Morde und Folterungen in der Türkei mitverantwortlich. Die Reaktionen der USA auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 werden von der DHKP-C weiterhin als Anlass für ihre antiamerikanische Agitation herangezogen. Zum Jahrestag der Terroranschläge fordert die Revolutionäre Volksbefreiungspartei (DHKP), politischer Arm der DHKP-C, in einer im Internet verbreiteten Erklärung mit der Überschrift "Der amerikanische Imperialismus bedeutet Ausbeutung und Massaker" die Bildung einer weltweiten Widerstandsfront unter Zurückstellung ideologischer Unterschiede gegen die USA. Den USA wird in der Erklärung unter anderem vorgeworfen, unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung auf eine Versklavung der 186 Ausländerextremismus Weltbevölkerung abzuzielen. Die DHKP stehe im Kampf gegen die USA auf der Seite aller antiimperialistischer Kräfte, unter anderem auf der Seite der Islamisten, Revolutionäre, Demokraten, Globalisierungs-Gegner und Umweltschützer. Seit 1997 wurden bei Exekutivmaßnahmen in Deutschland und im benachbarten Ausland zahlreiche Führungsfunktionäre und Aktivisten der DHKP-C festgenommen und in einer Reihe von Gerichtsverfahren im Bundesgebiet zu teilweise langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Am 21. November verurteilte das Bayerische Oberste Landesgericht einen 37-jährigen türkischen DHKP-C-Funktionär wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, ausgesetzt zur Bewährung. Der Verurteilte war seit Gründung der DHKP-C im März 1994 als Aktivist tätig. Im Juli 1998 hatte er die Leitung für den Raum München übernommen und zählte damit zur Führungsgruppe. Darüber hat er nach Überzeugung des Gerichts 1998 unter dem Decknamen "Zajif" einen Waffentransport in die Türkei mitverantwortet. Am 17. Dezember verurteilte das Oberlandesgericht Stuttgart eine frühere Funktionärin der DHKP-C wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten, ausgesetzt zur Bewährung. Die Verurteilte war fünf Monate lang für die DHKP-C als Gebietsverantwortliche in Mannheim tätig. 4.3 Türkische Kommunistische Partei/Marxisten-Leninisten (TKP/ML) Deutschland Bayern Mitglieder: 1.800 140 Gründung: 1972 in der Türkei Die Organisation ist gespalten in: Ostanatolisches Gebietskomitee (DABK) Partizan-Flügel Die TKP/ML vertritt die Ideologie des Marxismus-Leninismus, ergänzt um die Ideen Mao Tse-tungs. Sie bekräftigte zum 30. Jahrestag der Gründung (24. April) den bewaffneten Kampf als Grundform ihres Handelns und propagiert den bewaffneten Bürgerkrieg als strategisches Ausländerextremismus 187 Mittel mit anschließender Bildung einer Volksregierung. Ihr militärischer Zweig ist die Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee (TIKKO). "Seit 30 Jahren zielt die TKP/ML in der Türkei auf den Sturz des Imperialismus, Feudalismus und Kapitalismus, um unter der Führung des Proletariats statt dessen einen demokratischen Volksstaat einzuführen." (Broschüre zum 30. Jahrestag) Die Entwicklung der TKP/ML ist seit Ende der 70er Jahre durch eine Vielzahl von Fraktionsbildungen und Abspaltungen geprägt. In Deutschland organisierten sich die Anhänger der TKP/ML in der 1976 gegründeten Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V. (ATIF) und der Ende 1986 gebildeten Konföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK), die sich als demokratische Massenorganisationen präsentieren und ihre Verbindungen zur TKP/ML weitgehend tarnen. Die Abspaltung des Ostanatolischen Gebietskomitees (DABK) im Jahr 1994 (nach einer zuvor aufgehobenen erstmaligen Trennung im Jahr 1987) setzte sich in den Basisorganisationen der TKP/ML fort. Um sich vom Partizan-Flügel abzugrenzen, haben sich beide Basisorganisationen des DABK im Sommer 1997 in Föderation der demokratischen Rechte in Deutschland (ADHF) bzw. Konföderation der demokratischen Rechte in Europa (ADHK) umbenannt. Auch die TKP/ML bzw. ihre Anhänger beteiligten sich an den Protesten gegen die Gefängnisreform in der Türkei. Antiimperialismus, Globalisierung und die Wahlen bildeten die weiteren Themenfelder. "Unter dem Begriff Globalisierung, Ursache für die imperialistischen Kriege, werden Länder durch andere in den wirtschaftlichen Ruin getrieben. (...) Ausgehend von Afghanistan übertragen die Imperialisten ihren Terror auf die ganze Weltbevölkerung." (Fazit zur 25. ATIF-Periode) Zur Bundestagswahl forderten die ATIK und die ATIF das Wahlrecht auch für Ausländer. Als Kernforderungen wurden unter anderem die Aufhebung aller rechtlichen und verwaltungsrechtlichen Hindernisse beim Asylrecht, die Abschaffung der Ausländergesetze, Aufhebung aller Erschwernisse bei der Einbürgerung und Revidierung der nach dem 11. September 2001 verabschiedeten Anti-Terror-Gesetze thematisiert. Beide Flügel der TKP/ML führten anlässlich des 30. Jahrestags der Parteigründung und zu Ehren ihres Parteigründers Ibrahim Kaypakkaya Gedenkveranstaltungen durch. Zu der am 18. Mai in Frankfurt am 188 Ausländerextremismus Main vom DABK ausgerichteten Veranstaltung kamen etwa 4.000 Personen. Die vom Partizan-Flügel am 25. Mai in Wuppertal durchgeführte Großveranstaltung wurde von mehr als 6.000 Personen besucht. Anlassbezogene Kontakte zwischen deutschen und ausländischen Linksextremisten waren bisher schon zu verzeichnen. Erstmals bildete sich auf lokaler Ebene eine gemeinsame Plattform, die über die Kommunalwahlen in Bayern vom 3. März hinaus Bestand haben soll. Die PDS (Partei des Demokratischen Sozialismus) ermöglichte in Augsburg Mitgliedern des lokalen Mitgliedsvereins der ATIF eine Kandidatur auf ihrer offenen Liste. Mehrere Deutsche türkischer Abstammung nahmen dieses Angebot wahr. In diesem Zusammenhang ist auch die Gründung des "Forums solidarisches und friedliches Augsburg" am 17. März in Augsburg zu sehen. Neben der ATIF sind unter anderem auch die PDS sowie die VVN-BdA (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten) die weiteren Arbeitskreismitglieder. "Ziel des Bündnisses ist eine koordinierte Zusammenarbeit von Einzelpersonen und Organisationen, um eine wirkungsvolle linke Politik auf kommunaler Ebene zu ermöglichen." (Absichtserklärung des Forums) Vom 22. bis 27. Oktober war die ATIF Mitveranstalter einer "ausländischen Woche" in Augsburg. Die einzelnen kleineren Veranstaltungen befassten sich mit Immigration und Integration. Abgeschlossen wurde die Woche mit einer Theatervorstellung im Rahmen einer europaweiten ATIK-Veranstaltungsreihe vor etwa 200 Personen. 4.4 Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP - Türkei) Deutschland Bayern Mitglieder: 600 40 Gründung: 1964 in der Türkei Publikation: Yeniden Atilim (Neuer Vorstoß) Die in der Türkei verbotene und terroristisch operierende MLKP entstand 1994 aus dem Zusammenschluss zweier türkischer linksextremistischer Organisationen. Wie die TKP/ML und die Devrimci Sol erstrebt sie die gewaltsame Zerschlagung des türkischen Staats- Ausländerextremismus 189 gefüges und die Errichtung einer kommunistischen Diktatur. Ihre Basisorganisation ist die Föderation der Arbeiterimmigranten aus der Türkei in Deutschland e. V. (AGIF) mit Sitz in Köln. Wie bei der DHKP-C und TKP/ML bildeten Versammlungen und die Beteiligung an Protestveranstaltungen gegen die Gefängnisreform in der Türkei den Schwerpunkt der MLKP-Aktivitäten. Als Aktionskomitee hierfür wurde mit weiteren türkischen linksextremistischen Gruppierungen in der ersten Jahreshälfte 2000 das "Solidaritätskomitee mit den politischen Gefangenen in der Türkei" (DETUDAK) gegründet, das nach wie vor von der MLKP dominiert wird. Die MLKP führte im April ihren 3. Kongress durch. In einer im Internet unter der Parteitagsüberschrift "Für den Sieg der Revolution" verbreiteten Erklärung heißt es unter anderem, die Delegierten hätten die theoretischen, programmatischen, strategischen und taktischen Fragen der Revolution in der Türkei und "Nordkurdistan", die nationale und internationale politische Lage sowie die Praxis der Partei behandelt. "Der 3. Kongress der MLKP ist in erster Linie ein Schlag gegen den amerikanischen Imperialismus, den Hauptfeind der Völker der Welt, und gegen die imperialistische Welt, gegen die kapitalistische Ausbeutungsordnung, gegen den Faschismus und gegen die Barbarei der imperialistischen Globalisierung von der Front der Freiheit und des Sozialismus aus." 4.5 Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V. (ADÜTDF) Deutschland Bayern Mitglieder: 8.000 2.000 Vorsitzender: Cemal Cetin Gründung: 1978 Sitz: Frankfurt am Main Publikation: Türk Federasyon Bülteni Die ADÜTDF vertritt nach wie vor einen übersteigerten türkischen Nationalismus mit rassistischen Zügen, verbunden mit der Herabsetzung ethnischer Minderheiten. Das Ziel der ADÜTDF ist, die einzige und größte türkische Einrichtung in West-Europa zu werden. Die 190 Ausländerextremismus ADÜTDF ist deshalb auch ein Sammelbecken von Anhängern der extrem nationalistischen türkischen Partei der Nationalen Bewegung (MHP), die eine Großtürkei nach osmanischem Vorbild propagiert. Seit den Wahlen in der Türkei im November ist die MHP im Parlament nicht mehr vertreten. Die Parteiführung der MHP unter Devlet Bahceli scheint bemüht zu sein, der Partei ein moderates Erscheinungsbild zu geben, um so auch für konservative Wähler der Mitte attraktiv zu werden. So erklärte der Parteivorsitzende Devlet Bahceli: "Wir sind keine rechtsradikale, sondern eine rechts von der Mitte angesiedelte Gruppe. (...) Wir halten von bankrotten faschistischen und rassistischen Ideologien nichts." Die MHP will zwar die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union, aber nicht um jeden Preis. Sie griff deshalb den Reformkurs der türkischen Regierung an, da damit ihrer Meinung nach die Interessen der Türkei zu sehr vernachlässigt würden. Nach Angaben der ADÜTDF müssten alle persönlichen Belange den Interessen des Volkes untergeordnet und die türkische Fahne, die die Farbe des Bluts der Märtyrer der ADÜTDF trage, hochgehalten werden. Den "Feinden" der Türkei wird Gewalt angedroht. Das Streben der ADÜTDF nach Dominanz steht einer echten Integration der Türken wie auch der Muslime in die deutsche Gesellschaft entgegen. Zwar rät der Verband den Mitgliedern, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen, Motiv hierfür sind aber nur die damit verbundenen größeren Einflussmöglichkeiten. Konsequent erklärte ein ADÜTDF-Führungsmitglied: "Die Europa-Türken werden Minderheitenrechte bekommen, z.B. automatischen Sitz im Parlament. Somit wird sichergestellt, dass die Rechte der Türken in den Parlamenten immer vertreten werden. Türken bleiben immer Türken." Die Führung der Organisation bekennt sich offen zu ihrer Leitfigur Alparslan Türkes, dem 1997 verstorbenen langjährigen MHP-Vorsitzenden. Die Anhänger der ADÜTDF werden häufig auch als "Graue Wölfe" bezeichnet. Ihr Erkennungszeichen ist ein mit fünf Fingern stilisierter Wolfskopf. In Bayern sind dem Verband etwa 30 Vereine zuzurechnen. Zur ADÜTDF gehört das Verbandsorgan "Türk Federasyon Bülteni" (Bulletin der Türkischen Föderation). Entgegen der Wortwahl früherer Ausländerextremismus 191 Ausgaben des "Bulletins" weisen einige Artikel aggressive, rassistische und nationalistische Tendenzen auf: "Von Anbeginn der türkischen Geschichte haben wir andere Völker unter unsere Herrschaft gebracht. (...) Als Herrenrasse haben wir Menschen, die nicht zu unserer Rasse gehören, viel von unserer Lebensart gelehrt." "In jeder Zeit gab es defekte Rassen, die nichts Besseres zu tun hatten, als den Türken zu schaden. Diese Rassen sind behindert und erhalten Befehle von anderswo. Sie essen unser Brot und versuchen gleichzeitig, ihren missgestalteten Rassen dienlich zu sein. Auf diese müssen wir achten und ihnen keine Gelegenheit geben." "Die Türkei ist kein Land der kulturellen und ethnischen Mosaiken." Zur Mitgliederwerbung ist die ADÜTDF auch in zahlreichen Sportund Elternvereinen tätig, die vorgeben, keine politischen Ziele zu haben. Jugendliche werden für Ordnerdienste herangezogen und frühzeitig als Vereinsfunktionäre in die politische Arbeit integriert. Der von der ADÜTDF propagierte Nationalismus gibt vielen türkischen Jugendlichen ein "Wir"-Gefühl gegenüber der deutschen Gesellschaft. Ihnen wird die Überlegenheit der Türken suggeriert. In den Ortsvereinen wurde die Funktion des "Jugendvorsitzenden" geschaffen. Es werden wöchentlich politische Seminare gehalten, an denen die Jugendlichen teilnehmen sollen. Die Erteilung islamischen Religionsunterrichts in deutscher Sprache lehnt die ADÜTDF ab. Sie verfügt über eigene Vereine, in denen türkischsprachiger Koranunterricht abgehalten wird. 4.6 Nationaler Widerstandsrat Iran (NWRI) Deutschland Bayern Mitglieder: 900 100 Aktivisten 300 Sympathisanten Gründung: 1981 in Paris Sitz: Köln Publikation: Mudjahid (Kämpfer) Die Volksmudjahidin Iran-Organisation (MEK) gilt als stärkste und militanteste iranische Oppositionsgruppe. Die weltweit operierende Organisation verfolgt seit Jahren eine Doppelstrategie. So führen be- 192 Ausländerextremismus waffnete Kräfte der auf irakischem Territorium stationierten National Liberation Army (NLA) - dem militärischen Arm der Bewegung - im Iran einen Guerillakampf gegen das iranische Regime, den die Organisation seit 1997 intensivierte. In Europa, Nordamerika und Australien tritt die MEK durch ihren politischen Arm, den Nationalen Widerstandsrat Iran (NWRI), und seine Teilorganisationen in Erscheinung. Die Aufgaben der im westlichen Ausland tätigen MEK - Organisationen umfassen umfangreiche Propagandaaktivitäten und Geldbeschaffungsaktionen sowie die Rekrutierung von Kämpfern für die NLA. Am 2. Mai wurde die MEK - mit Ausnahme des NWRI - in die Liste der als terroristisch eingestuften Organisationen der Europäischen Union aufgenommen. In den zurzeit in Deutschland bekannten Strukturen der Organisation ist nahezu keine Abgrenzung zwischen MEK und NWRI zu erkennen. Trotz umfangreicher propagandistischer Aktivitäten verlieren MEK/NWRI - entgegen eigener Darstellung - an Bedeutung. Ursache hierfür ist insbesondere die bei der iranischen Bevölkerung populäre Politik der Regierung Khatami, die den ohnehin geringen Zuspruch der Volksmudjahidin in der iranischen Bevölkerung sowie unter den im Ausland lebenden Iranern weiter mindert. Die Volksmudjahidin sind innerhalb der iranischen Exilopposition seit Jahren isoliert, da sie für sich in Anspruch nehmen, "einzige demokratische Alternative" zum iranischen Regime zu sein. Tatsächlich weist die Organisation jedoch selbst ein erhebliches Demokratiedefizit auf, das mit einer erhöhten Gewaltbereitschaft gepaart ist. Belege hierfür sind die streng hierarchisch ausgerichtete Kaderstruktur verbunden mit einem sektenartigen Führerkult um das Ehepaar Massoud und Maryam Radjavi, die Propagierung von Gewalt als legitimes Mittel zum Sturz der iranischen Regierung sowie die Durchführung von terroristischen Anschlägen im Iran gegen Repräsentanten des Staates. In Deutschland führen MEK/NWRI zur Finanzierung ihrer Aktivitäten umfangreiche, meist illegale Sammlungen durch. Die angeblich für humanitäre Zwecke bestimmten Gelder dienen in Wirklichkeit dem Unterhalt der weltweiten Strukturen der Volksmudjahidin sowie der Unterstützung der NLA. Die hauptsächlich in Asylbewerberheimen angeworbenen Aktivisten der Volksmudjahidin sammeln seit Jahren oft unter Verstoß gegen ihre Aufenthaltsbeschränkung und ohne Sammlungserlaubnis. Aufgrund des konsequenten Einschreitens der Ausländerextremismus 193 Behörden stellte die Organisation in Bayern das Sammeln von Spenden auf der Straße nahezu gänzlich ein. Um die Verwendung der Spenden für den auch mit terroristischen Mitteln geführten Kampf der Volksmudjahidin weitgehend zu verschleiern, bedienen sich MEK/NWRI insbesondere folgender auch in Bayern aktiver Tarnvereine: - Flüchtlingshilfe Iran e.V. (FHI) - Frauen für Demokratie im Iran e.V. - Verein Iranischer Demokratischer Akademiker e.V. (VIDA) - Hilfswerk für Kinder e.V. Die Sammler treten meist in kleinen Gruppen von bis zu vier Personen auf. Spender werden unter dem Vorwand der Zusendung einer Spendenbescheinigung veranlasst, persönliche Daten bekannt zu geben. In der Folgezeit werden diese Personen bei Hausbesuchen zur Übernahme von Kinderpatenschaften gedrängt, wobei die jährlichen Kosten rund 2.400 EUR pro Kind betragen. Oft bleibt es aber nicht dabei, weil sich manche Spender durch die Behauptung der Existenz weiterer Geschwister zur Zahlung weitaus höherer Beträge überreden lassen. Die geschulten Sammler halten regelmäßigen Kontakt zum Spender. Dieser erhält auch Fotografien und übersetzte Dankschreiben mit Informationen über das vermeintlich unterstützte Kind. Bei weiteren Besuchen wird beim Spender durch Hinweise auf seine Verantwortung für das Kind ein erheblicher psychologischer Druck erzeugt. Polizeilich sichergestellten Unterlagen ist zu entnehmen, dass eine systematische planmäßige Erfassung von Persönlichkeitsprofilen der Spender stattfindet. Diese Praxis, nicht zuletzt aber auch die bei Spendensammlungen festgestellten Manipulationen wie unverplombte Sammelbüchsen oder verfälschte Überweisungsträger, lassen den Schluss zu, dass der NWRI nicht vorwiegend am Wohl iranischer Kinder, sondern mehr an der Finanzierung seines politischen Kampfs interessiert ist. Von MEK/NWRI-Anhängern wurden mehrfach Demonstrationen durchgeführt. So waren am 15. Februar in Köln 3.500, vom 11. bis 13. März in Wien 400, am 13. Mai in Brüssel 8.000, am 21. Juni in Kopenhagen 4.000, am 9. Oktober in Brüssel 300 und am 21. Oktober in Luxemburg 3.000 Demonstranten anwesend, um gegen die Menschenrechtsverletzungen im Iran sowie bei den Kundgebungen nach dem 2. Mai auch gegen die als zu Unrecht empfundene Aufnahme der MEK in die "Terrorliste" der EU zu protestieren. 194 Ausländerextremismus 5. Übersicht über erwähnenswerte extremistische Organisationen von Ausländern sowie deren wesentliche Presseerzeugnisse Organisation, Publikationen ideologische Ausrichtung (einschließlich Erscheinungsweise) 1. Arabische und maghrebinische Gruppen Al-Qaida und Internationale Islamische Front sunnitisch-extremistisch Muslimbruderschaft (MB) Risalat ul-Ikhwan sunnitisch-extremistisch - wöchentlich - Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) Al Islam - unregelmäßig - Al-Gamaa Al-Islamiya (GI) sunnitisch-extremistisch Jihad Islami (JI) sunnitisch-extremistisch Islamische Widerstandsbewegung (HAMAS) und Islamischer Bund Palästina (IBP) Al Aqsa e.V. - in Deutschland seit 05.08.2002 verboten sunnitisch-extremistisch Islamische Heilsfront (FIS) Al Ribat (Das Band) sunnitisch-extremistisch - wöchentlich - Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA) Al-Jamaa (Die Gruppe) sunnitisch-extremistisch - monatlich - Al Quital (Die Schlacht) - wöchentlich - En Nahda sunnitisch-extremistisch Hizb-ut-Tahrir (Partei Gottes) Al Khilafah (Das Kalifat) [andere Schreibweise: Hizb al-Tahrir] - unregelmäßig - in Deutschland seit 15.01.2003 verboten explizit schiitisch-extremistisch - vierteljährlich - Ansar al-Islam sunnitisch-extremistisch Tablighi Jamaat sunnitisch-extremistisch Ausländerextremismus 195 Organisation, Publikationen ideologische Ausrichtung (einschließlich Erscheinungsweise) Al Tauhid sunnitisch-extremistisch Hizb Allah (Partei Gottes) Al-Ahd (Die Verpflichtung) schiitisch-extremistisch - wöchentlich - Demokratische Front für die Befreiung Palästinas (DFLP) Al Hourriah (Die Freiheit) marxistisch-leninistisch - wöchentlich - Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) Al Hadaf (Das Ziel) marxistisch-leninistisch - wöchentlich - Democratic Palestine - zweimonatlich - Volksfront für die Befreiung Palästinas Ila-Al-Amam (Vorwärts) - Generalkommando - (PFLP-GC) - wöchentlich - marxistisch-leninistisch Hizb Da'Wa al Islamiya (Da'Wa) Al Jihad (Heiliger Krieg) (Partei des islamischen Rufs / der islamischen Mission) schiitisch-extremistisch Islamisch Irakische Gemeinschaft Deutschland e.V. (IIGD) schiitisch-extremistisch 2. Iranische Gruppen Union islamischer Studentenvereine in Europa (U.I.S.A) Qods (Jerusalem) islamisch-extremistisch - unregelmäßig - Arbeiterkommunistische Partei Iran (API) Hambastegi (Solidarität) marxistisch - unregelmäßig - Volksmudjahidin Iran - Organisation (MEK) islamisch-extremistisch Nationaler Widerstandsrat Iran (NWRI) Mudjahid (Kämpfer) Sitz: Berlin - wöchentlich - islamisch-extremistisch 3. Kurdische Gruppen Freiheitsund Demokratiekongress Serxwebun (Unabhängigkeit) Kurdistans (KADEK) - monatlich - bisher: Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) Kurdistan Report marxistisch-leninistisch - zweimonatlich - (in Deutschland seit 26.11.1993 verboten) 196 Ausländerextremismus Organisation, Publikationen ideologische Ausrichtung (einschließlich Erscheinungsweise) Teilorganisationen des KADEK: Volksverteidigungskräfte (HPG) bisher: Volksbefreiungsarmee Kurdistans (ARGK) Kurdische Demokratische Volksunion (YDK) bisher: Nationale Befreiungsfront Kurdistans (ERNK) (in Deutschland seit 26.11.1993 verboten) Nebenorganisationen des KADEK: Kurdistan-Komitee e.V., Köln (seit 26.11.1993 verboten) Kurdistan Informationsbüro in Deutschland (KIB) (seit 02.03.1995 verboten) Föderation der patriotischen Arbeiterund Kulturvereinigungen aus Kurdistan in der Bundesrepublik Deutschland e.V. (FEYKA-Kurdistan) (seit 26.11.1993 verboten) Kurdistan Informations-Zentrum (KIZ) Föderation kurdischer Vereine in Deutschland e.V. (YEK-KOM) Haus der kurdischen Künstler e.V. (bisher: HUNERKOM) Partei der freien Frauen (PJA) Jina Serbilind (Die stolze Frau) bisher: Union der freien Frauen aus Kurdistan (YAJK) - vierteljährlich - Union der Journalisten Kurdistans (YRK) Union der patriotischen Arbeiter Kurdistans (YKWK) Union zur Pflege der kurdischen Kultur und Kunst (YRWK) Welate Me (Unsere Heimat) Union der Jugendlichen aus Kurdistan (YCK) Sterka Ciwan (Stern der Jugend) - zweimonatlich - Verband der StudentInnen aus Kurdistan (YXK) Ronahi (Licht) - dreimonatlich - Föderation der Demokratischen Aleviten (DAV) Semah bisher: Union der Aleviten aus Kurdistan (KAB) bisher: Zülfikar - monatlich - Islamische Bewegung Kurdistans (KIH) Baweri (Glaube) Kurdischer Roter Halbmond (HSK) Roja Kurdistane (Sonne Kurdistans) Ausländerextremismus 197 Organisation, Publikationen ideologische Ausrichtung (einschließlich Erscheinungsweise) 4. Türkische Gruppen 4.1 Linksextremisten Türkische Kommunistische Partei/ Isci-Köylü Kurtulusu Marxisten-Leninisten (TKP/ML) (Arbeiter-Bauern-Befreiung) - zweimonatlich - Partizan-Flügel Devrim Yolunda isci köylü (Arbeiter und Bauern auf dem Weg der Revolution) - vierzehntägig - Maoistische Kommunistische Partei (MKP) Devrimci Demokrasi bisher: DABK (Ostanatolisches Gebietskomitee) (Revolutionäre Demokratie) Türkische Arbeiterund Bauernbefreiungsarmee (TIKKO) Frontorganisation der TKP/ML (Partizan Flügel) Volksbefreiungsarmee (HKÖ), militärischer Arm der MKP Basisorganisationen der TKP/ML: Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland e.V. (ATIF) Sitz: Duisburg -Partizan-FlügelFöderation der demokratischen Rechte in Deutschland (ADHF) -DABK-FlügelKonföderation der Arbeiter aus der Türkei in Europa (ATIK) Mücadele (Kampf) -Partizan-Flügel- - unregelmäig - Konföderation der demokratischen Rechte in Europa (ADHK) -DABK-FlügelBolschewistische Partei Nordkurdistan/Türkei Bolsevik Partizan (BP-KK/T) (Bolschewistischer Partisan) (Abspaltung von der TKP/ML) - monatlich - Devrimci Sol (Revolutionäre Linke) in Deutschland seit 09.02.1983 verboten; nach dem Verbot in zwei Fraktionen (Karatasbzw. Yagan-Flügel) zerfallen Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) Ekmek ve Adalet aus dem Karatas-Flügel der Devrimci Sol hervorgegangen; Brot und Gerechtigkeit) in Deutschland seit 13.08.1998 verboten - wöchentlich - Türkische Volksbefreiungspartei-Front (THKP-C Devrimci Sol) aus dem Yagan-Flügel der Devrimci Sol hervorgegangen; in Deutschland seit 13.08.1998 verboten 198 Ausländerextremismus Organisation, Publikationen ideologische Ausrichtung (einschließlich Erscheinungsweise) Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei Yeniden Atilim (Neuer Vorstoß) (MLKP) - wöchentlich - Basisorganisation der MLKP: Föderation der Arbeiterimmigranten aus der Türkei AGIF Bülteni in Deutschland e.V. (AGIF) - zweimonatlich - 4.2 Extreme Nationalisten Föderation der Türkisch-Demokratischen Türk Federasyon Bülteni Idealistenvereine in Europa e.V. (ADÜTDF) - monatlich - Sitz: Frankfurt am Main 4.3 Islamische Extremisten Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V. (IGMG) Publizistisches Sprachrohr: Sitz: Köln Milli Gazete (Nationale Zeitung) - täglich - Hilafet Devleti (Kalifatsstaat) Asr-I Saadet bisher: Verband der islamischen Vereine und - wöchentlich - Gemeinden e.V. (ICCB) D.I.A. (Die islamische Alternative) Sitz: Köln (seit 12.12.2001 verboten) Scientology-Organisation 199 6. Abschnitt Scientology-Organisation (SO) International Deutschland Bayern Mitglieder: ca. 125 bis 150.000* 5.000 bis 6.000 etwa 2.600 Vorsitzender: David Miscavige Helmuth Blöbaum Gerhard Böhm Gründung: Los Angeles 1952 München 1972 Nürnberg 1982 Church of Scientology Scientology Kirche Scientology Kirche International (CSI) Deutschland e.V. Bayern e.V. Sitz: Los Angeles, USA München München/Nürnberg (in Deutschland unselbständige Teilorganisationen) Publikationen: Freiheit, Impact, Ursprung, Source u.a. * geschätzte bzw. hochgerechnete Zahlenangaben, die auf Mitgliederbzw. Aussteigerinformationen basieren 1. Zur Geschichte der SO Im Jahre 1950 veröffentlichte der amerikanische Science-Fiction-Autor L. Ron Hubbard (1911 bis 1986) in den USA das Buch "Dianetik - Die moderne Wissenschaft der geistigen Gesundheit". Darin stellte er seine "Technologie" zur "Heilung psychosomatischer Krankheiten und geistiger Störungen" vor. In den folgenden Jahren kam es zur Gründung so genannter "Dianetik-Zentren" und schließlich zum Aufbau der SO. Hubbard erklärte sein von ihm entwickeltes Verfahren der Psychomanipulation, das er zusammen mit einer totalitären Organisationslehre und -technik in Form eines Kommandosystems ("Admintech") entwickelt hat, zwei Jahre später zur Religion und gründete die erste "Kirche". Er hoffte, damit seine Organisation gegen staatliche Eingriffe abzusichern. Anfang der 80er Jahre verschwand Hubbard aus der Öffentlichkeit, weil er krank war und sich vor den Behörden verstecken musste, die ihm vorwarfen, unter anderem an einer Verschwörung gegen die Regierung beteiligt zu sein. In der Folge kam es innerhalb der Organisation zu intriganten Machtkämpfen. Am 24. Januar 1986 wurde L. Ron Hubbard von der neuen Führungsspitze der Scientology für tot erklärt. Die näheren Umstände von Hubbards Ableben sind ungeklärt. Auch nach dem Tode Hubbards dauerte der Machtkampf um die 200 Scientology-Organisation künftige Führung der SO an. An dessen Ende setzte sich David Miscavige durch. Er führt noch heute die SO. Seit Jahrzehnten liegt Scientology im Konflikt mit den Rechtsordnungen demokratischer Staaten. Die Vorwürfe lauten z.B. auf Betrug und Wucher gegenüber Kunden, Bedrohung und Nötigung von Kritikern, auf Verschwörung gegen die Regierung, Steuerhinterziehung und Bildung einer kriminellen Vereinigung. In diesem Zusammenhang kam es in den USA zu zahlreichen Verfahren und Verurteilungen von Funktionären der SO. Trotzdem erreichte Scientology 1993 mit einem Vergleich, von der obersten amerikanischen Steuerbehörde Internal Revenue Service (IRS) als gemeinnützig anerkannt zu werden. Nach einem Bericht der Zeitung "The New York Times" setzte die SO dabei schmutzige Methoden der Einschüchterung und Erpressung ein. Mitarbeiter der IRS wurden bis in die Privatsphäre hinein ausspioniert und zum Teil wegen erfundener Behauptungen mit rund 200 Prozessen überzogen. Die Anleitung für dieses Vorgehen ist in einem Richtlinienbrief Hubbards vom 15. August 1960 über die Einrichtung eines "Department of Government Affairs" enthalten, der Methoden beschreibt, mit denen Regierungen gefügig gemacht werden sollen. 2. Ideologie und Aktivitäten Nach Feststellung der Konferenz der Innenminister von Bund und Ländern (IMK) vom 5./6. Juni 1997 liegen tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen der SO vor. Sie ergeben sich vor allem aus den Handlungsanleitungen für das so genannte Management, d.h. den Leitungskader, den Äußerungen führender Funktionäre und den weltweiten Aktivitäten der Organisation. Deshalb besteht der gesetzliche Auftrag zur Beobachtung. Ein Bericht über erste Beobachtungsergebnisse wurde der Innenministerkonferenz für ihre Herbstsitzung 1998 vorgelegt. Dieser Bericht ist im Internet unter folgender Adresse abrufbar: http://www.im.nrw.de/inn/doks/vs/agsc.pdf Die Ideologie der SO stützt sich ausschließlich auf die Schriften von L. Ron Hubbard, die nach eigenen Aussagen unveränderliche Gültigkeit besitzen. Insbesondere werden seine programmatischen Äußerungen in den so genannten "policy letters" (Richtlinienbriefen) den Mitgliedern und Mitarbeitern als verbindliche Orientierung vorgegeben. Scientology-Organisation 201 2.1 Schriften der SO Die Analyse einer Vielzahl von Primärmaterialien der SO zeigt, dass bei der Organisation politisch bestimmte, zielund zweckgerichtete Verhaltensweisen vorliegen. Dies folgt aus dem generellen Absolutheitsanspruch der scientologischen Ideologie. Dieser bezieht sich nicht nur darauf, im Besitz der einzigen Wahrheit zu sein, sondern erfasst den Menschen in all seinen persönlichen sowie zwischenmenschlichen und gesellschaftlich-politischen Lebensbereichen, sobald er in das Kontrollsystem der Organisation eingebunden ist. Bereits aus der Grundidee von Scientology ergeben sich politische Dimensionen, da mit scientologischer "Technologie" nicht nur der Einzelne, sondern die gesamten gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse im Sinn einer grundsätzlichen Neuordnung der Gesellschaft verändert werden sollen. In diesem Zusammenhang wird eine verfassungsfeindliche Wertordnung nicht nur propagiert, sondern eine solche soll als verbindlicher Ordnungsfaktor für Staat und Gesellschaft etabliert werden. Ziel der SO ist es, zur angeblichen Befreiung des Einzelnen und aller sozialen Bereiche Gesellschaft und Staat in ein nach psychound sozialtechnischen Prinzipien (social engineering) zentral gesteuertes Kommandosystem zu verwandeln. Die SO in Deutschland bekennt sich auch in ihren aktuellen Veröffentlichungen ausdrücklich zur Person und der unveränderbaren politischen Programmatik ihres Gründers. Verschiedene programmatische Äußerungen der SO deuten sogar darauf hin, dass sie ihre Ziele kämpferisch-aggressiv verwirklichen will. Von Mitgliedern wurde entsprechend einer Werbebroschüre der International Association of Scientologists (IAS) erwartet, dass sie "die Zerschlagung von Gruppen unterstützen, die den Zweck verfolgen, die Anwendung der Scientology-Technologie zu verhindern". Eine Änderung der ideologischen Ausrichtung ist nicht erkennbar; vielmehr werden weiter Schriften im genannten Sinn veröffentlicht. Auch wird strikt an den internen Richtlinien und den so genannten "policy letters" festgehalten. 2.1.1 Errichtung einer scientologischen Gesellschaft Schon in seinem grundlegenden Buch "Dianetik" hatte Hubbard auf die politische Relevanz und die Reichweite seiner Lehre und Technik 202 Scientology-Organisation hingewiesen. Mit der Entwicklung seiner totalitären "Admintech", die in elf Bänden niedergelegt ist, hat sich Hubbard ein sozialtechnisches Instrumentarium geschaffen, um sich Gruppen gefügig zu machen. Es soll eine ausschließlich nach scientologischen Richtlinien funktionierende Welt geschaffen werden. Diese neue "wahre Demokratie" soll an die Stelle der bisherigen Demokratien treten, die von Scientologen als Produkt einer aberrierten, von der Vernunft abweichenden, geisteskranken Gesellschaft angesehen werden. Alle gesellschaftlichen Probleme sollen dadurch gelöst werden, dass zunächst 10 bis 15 % der politischen Meinungsführer, dann 80 bis 98 % der Bevölkerung "geklärt" werden und die Gesellschaft schließlich nur noch aus den so genannten Nichtaberrierten, den Clears, besteht. Gleichzeitig soll die "Admintech" zur Organisation aller gesellschaftlichen Gruppen und der Regierungen weltweit Verwendung finden. 2.1.2 Lenkung der Regierung durch Scientology Bereits am 20. März 1964 stellte Hubbard in einem Vortrag das Projekt "International City" vor. Hubbard hatte darin unter anderem erklärt, Scientology sei "nur am Planeten interessiert". Hubbard forderte in seinem Vortrag letztlich, alle derzeit existierenden Hauptstädte der verschiedenen Staaten zugunsten Scientology zu entmachten, die Welt quasi von seiner Hauptstadt - International City - aus zu regieren: "Wir hatten in letzter Zeit einige Probleme mit Regierungen. Meiner Meinung nach waren sie unverschämt. Sie waren respektlos und ich habe mir das gründlich angesehen und bin zu dem Entschluss gekommen, dass wir das nicht hinnehmen sollten." Im November 1997 wurde die Hubbard-Anweisung vom 13. März 1961 bekannt. Danach soll ein "Department für Behördenangelegenheiten" unter anderem "ständigen Druck auf Regierungen ausüben, um Gesetzgebung von Gruppen zu verhindern, die der Scientology entgegenstehen". Behörden und unabhängige Gerichte werden von der SO als "Gefahr" gesehen, der man begegnet, indem "immer ausreichend Drohungen gegen sie gesucht oder erfunden werden". Die genannte "Abteilung" hat über den Bereich "Sicherheit" hinaus zudem die wesentliche Aufgabe, die "Clear Deutschland-Kampagne" fortzusetzen. Scientology-Organisation 203 2.1.3 Einführung eines scientologischen Rechtssystems Die bestehenden Rechtsordnungen werden von der SO abgelehnt, sogar lächerlich gemacht. So formuliert Hubbard im Kapitel "Recht" seines Buches "Einführung in die Ethik der Scientology": "Ich habe festgestellt, dass dem Menschen Recht nicht anvertraut werden kann. (...) Ich lade Sie dazu ein, das zu untersuchen, was in unserer heutigen Gesellschaft lachhafterweise als 'Recht' gilt. Viele Regierungen sind hinsichtlich ihrer göttlichen Korrektheit in Rechtsfragen so empfindlich, dass man kaum den Mund aufmachen kann, ohne dass sie in unkontrollierte Gewalt ausbrechen." Eine Ausgabe der SO-Zeitschrift "Freiheit" aus dem Jahr 1997 enthält unkommentiert einen Artikel Hubbards mit der Überschrift "Ehrliche Menschen haben auch Rechte". Dieser befasst sich mit der Bedeutung der Rechte des Beschuldigten oder Angeklagten im Strafverfahren und der Rechtsfähigkeit des Einzelnen aus der Perspektive der SO. Der Beschuldigte oder Angeklagte soll sich im Strafverfahren zu seiner Verteidigung nicht auf Rechte berufen dürfen. Vielmehr wird der Kreis der Rechtsträger auf die "Ehrlichen" beschränkt, also nur auf diejenigen, die sich der SO verschrieben haben. Die nur eingeschränkte Geltung aller Rechte, also auch der Grundund Menschenrechte, gehören zu den von Hubbard aufgestellten Standardforderungen für die von ihm und der SO angestrebte "Neue Zivilisation". Im bereits 1959 erschienenen "Handbuch des Rechts" äußert sich L. Ron Hubbard zur Funktion des scientologischen Rechtssystems. Es enthält verschiedene Passagen mit tatsächlichen Anhaltspunkten für das Ziel der SO, eine Gewaltund Willkürherrschaft zu errichten. Danach wird es im scientologischen Gesellschaftssystem keine Menschenund Grundrechte mehr geben, wie sie im Grundgesetz definiert sind. Im scientologischen Rechtssystem sind auch keine unabhängigen Gerichte vorgesehen. Vielmehr erforscht ein nicht an Recht und Gesetz gebundener Nachrichtendienst (vgl. auch Nummer 3.2.4 dieses Abschnitts) Sachverhalte und ergreift Maßnahmen. 2.1.4 Bekämpfung von Kritik an Lehre und Praxis - aggressive Expansionstechnik In einem Grundlagenwerk von Hubbard fordert dieser "totale Disziplin". Um die Macht zu behalten, so offenbar der Gedanke von 204 Scientology-Organisation Hubbard in seinem Werk "Einführung in die Ethik der Scientology", müsse man kaltblütig, skrupellos, hemmungslos, gegebenenfalls auch heimtückisch, hinterlistig und mit Gewalt gegen die eigenen Feinde vorgehen, ansonsten würde man die Macht verlieren. Die im "Handbuch des Rechts" empfohlenen Operationen zur "Abwehr" von "Unterdrückern" lassen erkennen, dass die SO gewillt ist, die im Grundgesetz konkretisierten Grundrechte abzuschaffen oder hinsichtlich ihres Schutzbereichs verfassungswidrig einzuschränken und dadurch eine totale Kontrolle des Einzelnen durch die SO zu erreichen. Der nach wie vor gültige HCO-Richtlinienbrief vom 11. Mai 1971 enthält unter anderem Anweisungen für Scientologen, wie im Fall eines größeren Widerstands bei der Durchsetzung von Zielen der SO zu verfahren ist: "Wenn Geld und Gewalt regieren und Meinungsführer nicht beachtet werden, wenn sich im Management oder in der Regierung spezielle Privilegien einschleichen, sind Protest-PR, Streiks und Demonstrationen das Werkzeug, das man verwendet. Wenn das nicht funktioniert oder wenn sie unterdrückt wird (Anm.: werden), ereignen sich subversive Aktionen, allgemeine nachrichtendienstliche Aktionen, Schwarze Propaganda und andere Übel." 2.2 Aktivitäten der SO 2.2.1 Angriffe auf Repräsentanten des Staates Alle Aktivitäten der SO sind auf die Expansion der Organisation ausgelegt. In diesem Zusammenhang sind auch Maßnahmen der Kritikerbekämpfung zu sehen. Kritiker sind alle Personen und Institutionen, die den Zielen der SO nicht zustimmen und ihrer Ausbreitung entgegenstehen. Für deren "Handhabung" gibt es detaillierte Anweisungen, wie zu verfahren ist. Aus diesem Grund verunglimpft, beschimpft und verleumdet die SO seit mehreren Jahren Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland. Darüber hinaus richten sich Verunglimpfungen auch gegen die Verfassungsordnung in Deutschland selbst. Sie wird mit derjenigen des nationalsozialistischen Deutschlands gleichgesetzt. So verbreitet Leisa Goodman, eine führende Repräsentantin der "Church of Scientology International (CSI)" im Internet die Absicht Scientology-Organisation 205 der SO, "die Verbreitung des anti-religiösen Hasses der Deutschen Regierung in Europa zu stoppen", und erklärt: "Die Deutsche Regierung ist die treibende Kraft der wachsenden religiösen Intoleranz in Europa." Darüber hinaus behauptet David Miscavige, Leiter des "Religious Technology Center" und oberster Repräsentant der SO in seiner Neujahrsrede in Los Angeles, die sowohl im Internet als auch in Videoaufnahmen international verbreitet wird, dass Deutschland seit jeher ein Platz der Unterdrückung von Religionen gewesen sei und sich daran nichts geändert habe. Das zeige sich darin, dass der deutsche Verfassungsschutz die SO mit kriminellen Methoden überwache. Hätte der Verfassungsschutz seinen Job gemacht und den Terrorismus statt der SO beobachtet, wäre es nicht zu der Tragödie des 11. September 2001 gekommen. Auch führende deutsche Scientologen diffamieren deutsche Verfassungsorgane in polemischer und verleumderischer Form, wenn im Internet von der Vizepräsidentin der Scientology Kirche Deutschland die Aussage verbreitet wird "Hierzulande darf nach wie vor bis auf wenige Ausnahmen nach Herzenslust aufgrund von Geschlecht, Hautfarbe, Herkunft und Religion ausgegrenzt, boykottiert und diskriminiert werden, ohne dass der Gesetzgeber auch nur die Stirn darüber runzelt." 2.2.2 Techniken der Verhaltenskontrolle und -steuerung Durch effiziente Techniken der Verhaltenskontrolle und -steuerung, der "Technologie", werden die Mitarbeiter, aber auch die einfachen, aktiven Mitglieder, in manipulativer Weise unter ständigen Verhaltenszwang gesetzt, um nach dem internen Sprachgebrauch des Managements wie "Maschinen" zu "produzieren", d.h. neue Kunden zu werben und zu Anhängern des Systems zu machen. Ziel ist es dabei, aus den als "rohes Fleisch" bezeichneten Kunden "Produktionsmaschinen" für die Werbung und Bearbeitung neuer Kunden zu "produzieren". Die Mitarbeiter unterwerfen sich diesem Reglement, weil sie aus dem engmaschigen, repressiven Kontrollsystem nur schwer ausbrechen können. Hinzu kommt, dass sich die meisten Mitarbeiter ihrer tatsächlichen Rolle innerhalb der Organisation nicht bewusst werden. Der Leistungsdruck des Systems auf die Mitarbeiter und Mitglieder ist dabei so stark, dass sie sich dem technokratischen 206 Scientology-Organisation Regelwerk der "Admintech" und den Befehlen der Funktionsträger ohne Widerspruch fügen, unter Umständen sogar unter Inkaufnahme der Verletzung staatlicher und strafbewehrter Normen oder von Dienstpflichten, wenn Angehörige des öffentlichen Dienstes als Scientologen betroffen sind. 2.2.3 Ausforschung und Bekämpfung von Kritikern Personen, die berechtigte Kritik üben, sollen mit schikanösen bis diffamierenden Attacken als "Feinde" bekämpft werden. Ziel ist es dabei, die Gegner der SO, die als "unterdrückerische Personen" bezeichnet werden, mundtot zu machen, um die Expansion des Systems nicht von ihnen gefährden zu lassen. Gegen Kritiker wird wegen ihrer Gegnerschaft zur SO deshalb zunächst "lautstark" oder verdeckt mit geheimdienstlichen Methoden diktatorischer Staaten ermittelt. Sie werden dann angezeigt, diffamiert, öffentlich bloßgestellt und verklagt, bisweilen bedroht, belästigt und zur Zermürbung auch psychisch gequält. In den USA scheuen sich daher manche Medien bereits, offen gegen Scientology Stellung zu nehmen. 2.2.4 Kampagne gegen Schutzerklärung Über das "Deutsche Büro für Menschenrechte der Scientology Kirche Deutschland e.V.", das organisatorisch dem Office of Special Affairs (vgl. auch Nummer 3.2.4 dieses Abschnitts) angegliedert ist, setzte die SO ihre 1997 bekannt gewordene Kampagne gegen die Verwendung von Schutzerklärungen durch deutsche Unternehmen und öffentliche Stellen fort. Mit den Schutzerklärungen gegenüber Mitarbeitern und Drittfirmen wollen sich Unternehmen und öffentliche Stellen gegen mögliche Einflussnahmeund Ausforschungsversuche von Scientologen schützen. Die SO räumt dem Ziel, die Verwendung von Schutzerklärungen in der Wirtschaft zu unterbinden, hohe Priorität ein. Zudem versucht die SO, wie schon 2001 im Zusammenhang mit Ausschreibungen für öffentliche Aufträge, Druck auf Landesund Bundesbehörden gegen die Verwendung der Schutzerklärung auszuüben. Es bleibt zu erwarten, dass auch in Zukunft die Agitation gegen die Schutzerklärung ein Schwerpunkt der SO-Öffentlichkeitsarbeit sein wird. Scientology-Organisation 207 2.2.5 Aktivitäten im Ausland Wenn auch die Bundesrepublik Deutschland seitens der SO immer wieder als wichtigstes Expansionsgebiet in Europa genannt wird, so sind ihre Verbreitungsbemühungen in vielen anderen europäischen Staaten nicht unerheblich und werden dort nicht ohne Besorgnis der Bürger und Behörden registriert. Eine Reihe von Verfahren gegen Verantwortliche der SO in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union zeigt, dass Verstöße gegen die Rechtsordnungen dieser Länder in Kauf genommen werden, um zu expandieren. Zudem werden in den genannten Staaten, insbesondere in Frankreich, ähnliche Kampagnen gegen die angebliche religiöse Diffamierung durchgeführt wie in Deutschland. Am Aufbau neuer Organisationsstrukturen im Ausland waren auch deutsche Scientologen beteiligt. In Frankreich sind nach Presseberichten vom Oktober 1998 in einem Gerichtsverfahren gegen die SO Hunderte von Gerichtsdokumenten aus dem Justizpalast in Paris verschwunden. In diesem Zusammenhang sieht sich die SO Vorwürfen der Unterwanderung des Rechtssystems ausgesetzt. Im Zusammenhang mit der Vernichtung von Gerichtsakten vor einem Strafprozess gegen SO-Verantwortliche in Marseille im September 1999 wurden die Vorwürfe gegen die SO wegen Unterwanderung des Rechtssystems öffentlich von der in Frankreich zur Bekämpfung von Sekten eingesetzten Mission Interministerielle De Lutte Contre Les Sectes (MILS) wiederholt. Der Prozess endete in Marseille mit einer Verurteilung von fünf Verantwortlichen der SO zu Haftstrafen wegen Betrugs. Zwei Angeklagte wurden freigesprochen. Ebenfalls in Frankreich wurde die SO im Mai 2002 durch ein Pariser Gericht zu einer Geldstrafe von 8.000 EUR verurteilt. Der Vorsitzende der Organisation erhielt eine Strafe von 2.000 EUR. Die Verurteilung erfolgte wegen eines Verstoßes gegen das Datenschutzgesetz und unlauterer Werbung zum Zwecke betrügerischer Machenschaften. In Belgien laufen gegen die SO seit Oktober 1999 Strafermittlungen wegen Betrugs und anderer Straftaten. Im Rahmen von etwa 25 Razzien wurden Tausende persönlicher Dossiers von SO-Anhängern, Beamten, Politikern und Journalisten beschlagnahmt. Die Dossiers enthielten ausführliche medizinische Informationen über die Betroffenen, Berichte über ihr Privatleben und ihr sexuelles Verhalten, Angaben über ihre Familien und "Geständnisse" beim Einsatz des von Scientologen verwendeten "E-Meters". Die Ermittlungen dauern derzeit noch an. 208 Scientology-Organisation In Österreich wurde der für die SO zuständige Familienminister nach Presseberichten von einem SO-Verantwortlichen mit der Aufdeckung angeblich belastender Details aus dem Betrieb seiner Privatfirma bedroht. Im Jahre 1999 wurde bekannt, dass bei der Telecom Austria in Wien ein "hochtrainierter" Scientologe an führender Stelle sitzt. Er hatte Zugang zum Behördennetz Österreichs und war über die staatlichen Telefonüberwachungsmaßnahmen in Österreich informiert. In Großbritannien wurde der SO im Dezember 1999 die Anerkennung als Wohltätigkeitsorganisation verweigert. Die Entscheidung stellt ausdrücklich fest, dass die SO keine Religionsgemeinschaft im Sinn der einschlägigen Vorschriften ist und nicht zum Wohl der Allgemeinheit gegründet wurde. Besonders bei der Expansion der SO in Osteuropa spielt die Org München (vgl. auch Nummer 3.2.1 dieses Abschnitts) seit Jahren eine bedeutende Rolle. In der Org München wird eine Vielzahl Osteuropäer, insbesondere Ungarn, durch Kurse ausgebildet. Das Ziel der SO, die eigenen Verfahren auch auf politischer Ebene in Ungarn durchzusetzen, dokumentiert ein Beitrag aus einer SO-Publikation aus dem Jahre 2002. Demnach soll die öffentliche Verwaltung einer ungarischen Kommune vollständig nach scientologischen Richtlinien organisiert worden sein. Der Bürgermeister dieser Gemeinde habe diese Umstrukturierung nach einem Training im "Hubbard College of Administration" in Budapest persönlich in die Wege geleitet. Von deutschen Unternehmen mit Niederlassungen in Osteuropa wurde bekannt, dass scientologische Unternehmensberater Verwaltungstechnologie nach Hubbard in die Unternehmen transportieren und so über die Vertriebsniederlassungen Zugang in die deutschen Hauptunternehmen erhalten. Nach Presseberichten sollen in Russland weit über fünfzig Firmen, Banken und Kombinate Mitglied der scientologischen Wirtschaftsorganisation WISE geworden sein, darunter auch Rüstungsbetriebe. Dazu kommen noch Direktoren und Manager von 28 staatlichen oder halbstaatlichen Firmen mit Zehntausenden von Mitarbeitern. Auch soll die SO Kontakte in die politische Führungsebene haben. So berichtete die Presse, im Jahre 1999 sei ein Mitglied der SO-Vereinigung Citizens Commission on Human Rights (CCHR) als neue Justitiarin der Stadt Moskau bestellt worden. In der Slowakei sind nach Presseberichten vom Oktober 2001 zunehmende Aktivitäten der SO in den "Church"und "WISE"-Bereichen Scientology-Organisation 209 zu verzeichnen. Danach sollen hohe slowakische Politiker, Manager und Künstler Kurse bei einem Unternehmen besucht haben, das ein führender Scientologe in der Slowakei gegründet habe. In einer Presseerklärung einer slowakischen Sicherheitsbehörde vom September wird die SO als ein gesellschaftliches Problem und als Sicherheitsrisiko dargestellt. Zudem wirbt die SO in der Slowakei ganz massiv mit Flugblättern für den Kauf von Scientology-Büchern und -Kursen. 2.3 Bewertung der Schriften und Aktivitäten Die bisherige Beobachtung der SO durch die Verfassungsschutzbehörden hat ergeben, dass die auf den Schriften ihres Gründers L. Ron Hubbard beruhende Ideologie nach eigenen Angaben unveränderliche Gültigkeit besitzt. Die SO bestreitet dagegen, die freiheitliche demokratische Grundordnung abschaffen zu wollen. Sie behauptet vielmehr, sie zu respektieren, und negiert jegliche politische Motivation für ihr Expansionsstreben. Sie betont, ihr gehe es vielmehr um die "Erlösung" des einzelnen Menschen. Die Schriften und die Aktivitäten der SO enthalten aber tatsächliche Anhaltspunkte, dass die SO die bestehende demokratische und rechtsstaatliche Ordnung durch die Etablierung einer Gesellschaft mit scientologisch bestimmten Normen ersetzen und lenkenden Einfluss auf Regierungen ausüben will. Als Ziel erscheinen nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Staaten, ihre Rechtssysteme und Regierungen. Die scientologische Gesellschaft ist auf die Beseitigung des in Art. 3 Grundgesetz konkretisierten Gleichheitsgrundsatzes, die Abschaffung der universalen Geltung der Menschenrechte, der Unabhängigkeit der Gerichte und der Meinungsfreiheit gerichtet. Die SO will ihr Ziel, die Schaffung einer neuen Zivilisation, nicht wie die herkömmlichen politischen Parteien oder politischen Gruppierungen durch die demokratische Auseinandersetzung wie der Teilnahme an Wahlen erreichen. Die Umgestaltung der Gesellschaft soll vielmehr durch eine detaillierte Programmierung des Einzelmenschen - als "Befreiung" propagiert - erreicht werden: Wenn viele nach scientologischer Technologie verfahren und sich dem System widerspruchslos unterwerfen, kann die scientologische Gesellschaft, die im Widerspruch zur verfassungsmäßigen Ordnung steht, entstehen. In der Regel treten die einfachen Mitglieder der SO nicht aus politischer Motivation bei und beurteilen die Gesellschaft verändernden Ziele der SO 210 Scientology-Organisation anfänglich auch nicht als politisch relevant. Sie werden allerdings auf völligen Gehorsam gegenüber dem System gedrillt und darauf eingeschworen, durch die Verbreitung von Scientology die "Welt zu retten". Somit werden die zunächst noch unpolitischen Mitglieder in den Dienst der verfassungsfeindlichen scientologischen Ideologie gedrängt. 2.4 Bestätigung der Bewertung der SO durch neues Gutachten Ein interdisziplinäres Gutachten über die Auswirkungen und Risiken unkonventioneller Psychound Sozialtechniken, das das Institut für Therapieforschung (IFT) in Zusammenarbeit mit zwei Professoren der Ludwig-Maximilians-Universität München im Auftrag des Freistaats Bayern erstellt hat, bestätigt die Bayerische Staatsregierung in ihrer Beurteilung von SO. Die Untersuchung der Lehre und Methoden sowie deren Auswirkungen auf die Betroffenen durch namhafte Wissenschaftler im Rahmen dieses Gutachtens hat ergeben, dass die SO entgegen ihrer eigenen Darstellung weder eine Religionsnoch eine Weltanschauungsgemeinschaft im Sinn des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland sei. Die SO komme in vielfacher Hinsicht mit der objektiven Wertordnung der Verfassung in Konflikt, weil sie nicht nur ein internes Normensystem habe, das die Wahrung der Organisationsinteressen ausnahmslos über die Belange des Einzelnen stelle, sondern daneben auch für ihre Anhänger Feindbilder in Form von willkürlich erklärten "Unterdrückern" errichtet habe. Die interne Organisation sowie die Methoden der Überwachung und Instrumentalisierung, die gegen Mitglieder und Mitarbeitern angewendet werden, verstoßen dem Gutachten zufolge gegen die Menschenwürde, das allgemeine Persönlichkeitsrecht und gegen die Meinungsfreiheit. Darüber hinaus wird von Scientology das herrschende Gesellschaftssystem, insbesondere das Sozialstaatsprinzip, massiv kritisiert und negiert. Die SO richte ihre Dienstleistungen nicht nur an Einzelpersonen, sondern ziele über die Persönlichkeitsveränderung des Menschen auf die Errichtung einer scientologischen Gesellschaftsund Staatsordnung hin, die im Widerspruch zu zentralen Prinzipien unserer Rechtordnung stehe. Das Gutachten ist unter ISBN 3-936142-40-8 beim Pabst Science Publisher-Verlag unter dem Titel "Gesundheitliche und rechtliche Risiken bei Scientology" erschienen. Scientology-Organisation 211 3. Organisationsund Kommandostruktur der SO 3.1 Weltweite Kommandostruktur der SO Die Einrichtungen der SO in Deutschland erscheinen zwar nach außen als rechtlich selbständig, sind jedoch der strikten Befehlsund Disziplinargewalt des Internationalen Managements in den USA unterworfen und sind daher unselbständige Teile. Das Religious Technology Center (RTC) unter der Leitung von David Miscavige hat die oberste Befehlsgewalt in der SO. Unterhalb des RTC ist das Internationale Management der SO angesiedelt. Dieses stellt nach dem RTC die höchste Führungsebene der SO dar und ist dafür verantwortlich, für jeden Sektor der SO Strategien und taktische Pläne zu entwickeln. Hier wird auch die Führung der verschiedenen Sektoren koordiniert. Derartige Sektoren sind unter anderem die Bereiche "Church", WISE, ABLE und OSA. Das Internationale Management besteht demzufolge aus mehreren Gruppen, von denen jede eine ganz bestimmte Verantwortung trägt. Die oberste Stufe dieser Führungsebene ist das Watch Dog Committee (WDC). Hierbei handelt es sich um eine "Inspektionsund Überwachungsorganisation", welche die eigentlichen Management-Gruppen inspiziert und für deren Funktionieren sorgen soll. 3.2 Organisation der SO in Deutschland 3.2.1 "Church"-Sektor Derzeit existieren im Bundesgebiet zehn "Kirchen" (Orgs) und "Celebrity Centres" (CC), und zwar zwei Einrichtungen in München (eine Org, ein CC), je zwei Einrichtungen in Düsseldorf (eine Org, ein CC) und Hamburg (eine Org, ein CC) sowie jeweils eine Org in Berlin, Stuttgart, Frankfurt am Main und Hannover. Außerdem gibt es in Deutschland insgesamt elf "Missionen", sechs in Baden-Württemberg, jeweils eine in Bremen und Hessen sowie drei in Bayern, nämlich in München, Nürnberg und Augsburg. Die Organisation der SO in Bayern ist in der Grafik auf Seite 213 dieses Berichts dargestellt. Die genannten Einrichtungen der SO sind in Deutschland überwiegend als eingetragene Vereine organisiert. Als Dachverband fungiert die "Scientology Kirche Deutschland e.V." (SKD). Diese Vereine sind jedoch nur scheinbar selbständig; sie haben im weltweiten, aus den USA gesteuerten System kaum eigenständige Funktionen. Faktisch 212 Scientology-Organisation Religious The Command Chart of SCIENTOLOGY T Technology - Die Kommandostruktur der Scientology-Organisation - Center (RTC)) WATCHDOG ATCHDOG COMMITTEE (WDC) [ Überwachungsausschuss] A C Z E E Reserven OSA Programme Flag Ship Flag Sea Org Scientology Celebrity Scientology WISE ABLE Golden Era Verlags- N N Rücklagen Büro f r DienstDienstDienstOrganisares Missionen Weltinstitut für t Productions organisation T T leistungsleistungsleistungstionen V . Zentren V.I.P International für besseres Audiovisuelle R R Angeleorganisation organisation organisation Unternehmen Leben und Medien und A A genheiten Bildung T Tontr äger L L C C O O CMO INT Int Leitender - Direktor - International M M Commodore' Finance e Office - Ebene der leitenden Mitarbeiter - Golden e Era P P Organization International (IFO) FO - Vorstand des Internationalen Managements - Productions uc U U T T CMO GOLD E E R R / K O O R D I N I E R U N G D U R C H D E N Ü B E R W A C H U N G S A U S S C H U S S / V O R S TA N D D E S I N T E R N AT I O N A L E N M A N A G E M E N T S / D A B T CMO IXU - Flag-Netzwerk Koordinierungsausschuss, geleitet durch das Flag-Befehlsbüro - A E N N FLAG COMMAND BUREAUX (FCB) K B NETWORKS FLAG BUREAUX SCIENTOLOGY MISSIONS WORLD INSTITUTE OF ASSOCIATION ATION FOR BETTER A BRIDGE PUBLICATIONS A ATIONS A (FB) INTERNATIONAL A ATIONAL - T TION INCORPORAT A ED (BPI) AT N K (SMI INT) SES INTERNATIONAL A ATIONAL INTERNATIONAL A ATIONAL (V (WISE INT) (ABLE INT) NEW ERA PUBLICATIONS A ATIONS CMO FSSO FSO CC INT C O N T I N E N TA L N E T W O R K C O O R D I N AT I O N C O M M I T T E E H E A D E D B Y C O - C O N T I N E N TA L L I A I S O N O F F I C E CONT C O N T I N E N TA L L I A I S O N O F F I C E ( C L O ) Flag Ship Flag Celebrity Service Service Centre NETWORKS FLAG WORLD INSTITUTE OF ASSOCIATION FOR CONTINENTAL Org Org InterOPERATIONS ATIONS LIAISON A INTERNA A L - PUBLICA A national OFFICE CONTINENTAL PRISES CONTINENTAL EDUCATION ATION CONTINEN TAL A OFFICE (CPLO) (Kontinentales Ve üro für (FOLO) (SMI CONT) (WISE CONT) (ABLE CONT) Publikationen) Executiv Council Executiv Council Executiv Council Aufsichtsrat Aufsichtsrat Aufsichtsrat FIELD GROUPS MISSIONS WISE SOCIAL CELEBRITY SEA ORG - Feldauditoren CHARTER REFORM CENTRE SERVICE CLASS IV - Dianetikgruppen COMMITTEES ACTIVITIES ORGANIZATIONS A ATIONS ORGANIZATIONS A ATIONS ORGANIZATIONS A ATIONS - OT-Komitees T T-Komitees - GUNG HO & MEMBERS Hinweise zum besseren Verständnis des Organigramms: Das RTC ist als selbständige Kontrollstelle konzipiert und nicht in das so genannte Internationale Management eingegliedert. Dennoch handelt es sich beim RTC um die Befehlszentrale der SO. Das WDC leitet über die "Führungskanäle" das Management. Ein Führungskanal stellt die Verbindung dar, über die die internationalen Scientology-Organisationen Autorität ausüben. Es ist ein Befehlsweg, durch den Programme, Empfehlungen und Managementbefehle zu den Stellen fließen, die mit der Durchführung beauftragt sind. Auf den "Beobachtungsund Durchsetzungslinien" überwacht als verlängerter Arm des WDC die CMO mit ihren den verschiedenen Managementebenen zugeordneten Einheiten CMO INT, CMO GOLD, CMO IXU und CMO CONT die Erfüllung der vom WDC dem Management gegebenen Befehle. Eine Beobachtungsund Durchsetzungslinie stellt die Verbindung dar, die von den CMO-Einheiten benutzt wird, um die Befolgung von Befehlen des Überwachungsausschusses (WDC) durchzusetzen und zu kontrollieren. Netzwerk der LRH-Kommunikatoren: * Oberstes HCO Netzwerk (HCO=Hubbard Kommunikationsbüro) (LRH=L. Ron Hubbard) * Bewahrer der Technologie und Richtlinienkenntnis Netzwerk * Oberstes Netzwerk der Qualifikationsabteilungen und der Internationalen Ausbildungsorganisation Finanznetzwerk: * Finanz Durchsetzungsbeauftragter Netzwerk * Flag Finanzbeauftragter Netzwerk (FBO=Flag Banking Officer) Unter-Netzwerke: Stellvertreter FBO-Netzwerk für M.O.R.E. * Netzwerk der Hauseigentümer Büro für Spezielle Angelegenheiten Netzwerk (OSA) Es handelt sich um selbständige Scientology-Gruppen, die nicht in den Konzern eingegliedert sind. Verbindungen zum Konzern bestehen über Kommissionsund Franchising-Verträge. Anmerkung: Das Organigramm wurde erstellt nach Renate Hartwig "Scientology. Das Komplott und die Kumpane", 1995, sowie nach Originalvorlagen der SO. Scientology-Organisation 213 Organisationen der SO Hof in Bayern Aschaffenburg Würzburg KVPM - Schlüsselfeld Nürnberg Scientology Mission Nürnberg Regensburg Scientology Mission Ingolstadt Augsburg Passau Augsburg Scientology Mission München München Celebrity Center München Lindau WISE Scientology Scientology KVPM - Starnberg Kirche Kirche Bundesleitung Deutschland e.V. Bayern e.V. Department of Department of KVPM Special Affairs Special Affairs München GER MUC erfolgt die Leitung der SO-Einrichtungen nicht durch die jeweiligen Vereinsvorstände, sondern durch die Executive Directors und die sonstigen Funktionsinhaber nach detaillierten schriftlichen Anweisungen und Vorgaben des internationalen Managements in den USA über die jeweiligen Verbindungsstellen. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass Mitglieder der Eliteorganisation Sea-Org aus den USA und dem Kontinentalen Verbindungsbüro in Kopenhagen in deutsche Einrichtungen der SO abgeordnet wurden, um dort Befehle zu ertei- 214 Scientology-Organisation len und für die richtige "Handhabung" der scientologischen Technologie zu sorgen. Am 2. Dezember 2001 fand in München, dem Sitz des Office of Special Affairs (OSA), die Mitgliederversammlung der "Scientology Kirche Deutschland e.V." (SKD) statt. Wichtigste Tagesordnungspunkte waren die Neuwahl des Vorstands sowie die Neufassung ihrer Satzung, in der sie sich aus taktischen Gründen formell zum Grundgesetz und zu den Verfassungen der Länder bekennt. Die überarbeitete Satzung wurde am 21. März beim Amtsgericht München (VR 6322) eingetragen. In Schreiben an mehrere Innenministerien verwies die SKD auf die neue Vereinssatzung, um ihr klares Bekenntnis zur rechtsstaatlichen und demokratischen Grundordnung zu unterstreichen und dass demzufolge für eine weitere nachrichtendienstliche Überwachung nun kein Anlass mehr bestehe. 3.2.2 WISE-Sektor Das World Institute of Scientology Enterprises (WISE) wurde 1979 von der SO gegründet. Es besteht aus Geschäftsleuten oder Firmen aus allen Bereichen der Wirtschaft. Schwerpunkte in Deutschland und Bayern sind die Immobilienbranche und die Unternehmens-, Führungsund Personalberatung; daneben lässt sich jetzt die IT-Branche als weiterer Ansatzpunkt scientologischen Interesses in Bayern erkennen. Die IT-Branche stellt aufgrund der globalen Vernetzung und ihrer technischen Möglichkeiten ein besonderes Risiko für die Sicherheit deutscher Unternehmen dar, da der Zugang in sensibelste Unternehmensbereiche eröffnet wird. Zweck von WISE ist es, Geld für die SO zu beschaffen und durch die Verbreitung der Hubbardschen Technologie, Einfluss auf die Gesellschaft zu nehmen. Damit kommt WISE auch eine führende politische Bedeutung zu. Der Schwerpunkt der Expansionsbestrebung der SO liegt seit einiger Zeit in Osteuropa (Russland, Ungarn). Kontinentale WISE-Büros finden sich für Europa in Kopenhagen, Mailand, Budapest und Moskau. Über so genannte Hubbard Colleges of Administration wird aktiv versucht, Hubbards Verwaltungstechnologie als vorgeblich erfolgreiches Scientology-Organisation 215 westliches Know-how in russische Unternehmen und in der Verwaltung zu etablieren. Unter den in Russland von der SO "betreuten Objekten" sollen sich Staatsbetriebe, mehrere Rüstungsbetriebe mit der Klassifikation bis "streng geheim", wissenschaftliche Forschungszentren des Verteidigungsministeriums und Fernsehsender befinden. Die Mitgliederzahl von WISE in Deutschland verringerte sich laut einer Veröffentlichung sämtlicher Mitgliedschaften durch WISE-International unter Berücksichtigung von Mehrfachnennungen im Vergleich zum Jahr 1999. In Bayern sind die WISE-Aktivitäten nicht sehr ausgeprägt. Unternehmen, die scientologisch geführt werden oder bei denen an zentralen Stellen Scientologen beschäftigt sind, müssen jedoch nicht WISE-Mitglied sein. Die Gefährdungslage besteht ebenso, wenn Hubbards totalitäre Verwaltungstechnologie Einzug hält, weil mit deren Einführung im Rahmen der Unternehmenssteuerung rigide Führungsmechanismen in das Unternehmen eingebracht werden, die zu umfassender Kontrolle der Mitarbeiter sowie zur Kontrolle des Gesamtunternehmens durch die SO führen können. Ein bayerischer Unternehmer musste dies 1999 in seiner ungarischen Niederlassung erfahren, deren Leiter scientologisch geschult worden war. Über alle Mitarbeiter wurden so genannte "Ethik-Akten" geführt. Nach Presseberichten hat der ungarische Geschäftsführer täglich einer der scientologischen Beratungsfirmen, die ihn geschult hatten, Unternehmensinterna weitergegeben. Anfang des Jahres 2001 wurde ein weiterer Fall bekannt, bei dem ebenfalls eine ungarische WISE-Unternehmensberatung den Einstieg in die ungarische Niederlassung eines bayerischen Unternehmens fand. Nach der Instrumentalisierung des Niederlassungsleiters sollte dann im zweiten Schritt die gesamte Führungsetage in die scientologische Verwaltungstechnologie eingeführt werden. Die Dienstleistungen der scientologischen Beraterfirma hätten letztlich auch hier nach einer erfolgreichen Umorganisation in der Kontrolle der Niederlassung durch WISE International (USA) enden sollen. 3.2.3 ABLE-Sektor Die Association for better Living and Education (ABLE) versucht, für die SO den sozialen Bereich der Gesellschaft zu durchdringen und scientologische Lösungsansätze zu realisieren. 216 Scientology-Organisation Zu den dem ABLE-Bereich zuzuordnenden Organisationen gehören unter anderem - das "Zentrum für individuelles und effektives Lernen" (ZIEL), - "Applied Scholastics" (Ausbildungsprogramm; unter anderem Englisch-Fernkurse), - "NARCONON", eine angebliche Drogenrehabilitationsstätte, - "CRIMINON", ein Programm zur angeblichen Strafgefangenenrehabilitation. Mit diesen Organisationen versucht die SO, sich als humanitäre, karitative und sozial verantwortliche Organisation darzustellen. Die Auswahl von Ausbildung, Gefangenenund Drogenrehabilitation als weiteren Schwerpunkten lässt den Schluss zu, dass die gerade bei diesen Personengruppen gegebene Möglichkeit der leichteren Einflussnahme benutzt wird, um diese für die SO zu werben. Ein im Jahr 2001 erstmalig bekannt gewordener CRIMINON-Verein in Gründung aus München ist seitdem nicht mehr in Erscheinung getreten. 3.2.4 Office of Special Affairs (OSA) OSA ist die Nachfolgeorganisation einer bereits in den 60er Jahren unter dem Namen Guardian Office (GO) aufgebauten Abteilung, die nach eigenem Selbstverständnis auch Nachrichtendienstund Spionagefunktionen hatte. Zahlreiche Grundlagenpapiere für den GO, z.B. für nachrichtendienstliche Schulung, wurden für den neuen Dienst als OSA-Network Orders übernommen. Im Gegensatz zur rigiden und direkten Vorgehensweise des GO, die in der Vergangenheit zu einem internationalen Ansehensverlust der SO geführt hat, operiert das OSA heute erkennbar vorsichtiger, ohne seine Ziele im Wesentlichen geändert zu haben. Die für Deutschland zuständige OSA-Einheit ist das Department of Special Affairs (DSA), das nach der Verlagerung von Hamburg seit 13. November 1971 seinen Sitz in München unterhält. Nach außen tritt DSA unter der Bezeichnung "Scientology-Kirche Deutschland, Beichstraße 12, 80802 München" auf; der inoffizielle Sitz ist Nordendstraße 3, 80799 München. Dem DSA-Deutschland als Zentralstelle nachgeordnet sind die lokalen DSA-Büros in Berlin, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hamburg, München und Ulm, angesiedelt bei den dortigen "Scientology Kirchen" oder den "Celebrity Center". Scientology-Organisation 217 Die SO selbst stellt ihre OSA-Einrichtung für Deutschland mit Sitz in München als Büro für öffentliche Angelegenheiten oder als Presseund Rechtsamt dar. Teile des OSA sind das Deutsche Büro für Menschenrechte und die Citizens Commission on Human Rights (CCHR). Da die CCHR weisungsgebend für die Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e.V. (KVPM ) ist, kann diese Organisation zur Bekämpfung der Psychiatrie ebenfalls dem Bereich OSA zugerechnet werden. Auch die im August 2001 gegründete "Aktion Transparente Verwaltung München" (ATV)", betrieben von einem DSA-Unterabteilungsleiter, ist dem DSA zuzurechnen. Die ATV unterhält im Internet eine Homepage; ein Hinweis auf Scientology ist dort nicht erkennbar. Das Engagement im Bereich angeblicher Menschenrechtsverletzungen gegen Scientologen durch feindliche Staaten und ihre Behörden ist wesentlicher Bestandteil der Expansionsbemühungen, ebenso der von Hubbard betriebene Kampf gegen die Psychiater als "Quelle allen Übels in der Welt". Das DSA-Deutschland ist in fünf Abteilungen gegliedert: Abt. I Kommunikation, Personal, Berichtswesen Abt. II Ermittlungen (Investigations) Abt. III Öffentlichkeitsarbeit Abt. IV Rechtsfragen/Menschenrechtsbüro Abt. V Social Reforms. Gemäß der Hubbard-Anweisung (HCO-PL) vom 13. März 1961 soll in den OSA-Akten die jeweilige Ausgangslage für Maßnahmen von OSA bzw. DSA gegen "Feinde" (der SO kritisch begegnende Personen) gesammelt werden. Der HCO-PL beschreibt als Ziel der Abteilung: "Behörden und ihnen entgegen gesetzte Denkmodelle oder Gesellschaften in einen Zustand völliger Übereinstimmung mit den Zielen der SO zu bringen. (...) Dies geschieht durch die hochrangige Fähigkeit zur Steuerung und - falls sie nicht gegeben ist - durch die weiter unten angesiedelte Fähigkeit zur Überwältigung." Das DSA-Deutschland setzt diese Anweisung vollinhaltlich um, sammelt zu Kritikern, Politikern, Behördenangehörigen und anderen Gegnern Informationen, wertet sie aus und verwendet sie für eigene operative Maßnahmen. Durch Recherchen unter Falschnamen und andere Wege verschafft sich das DSA-Deutschland interne Unterlagen deutscher Einrichtungen, seine Außendienstmitarbeiter observieren als 218 Scientology-Organisation "Feinde" bezeichnete Gegner der SO und beziehen, um Rückschlüsse auf ihre Organisation zu verhindern, Privatdetektive in ihre Arbeit ein. SO-intern arbeitet das DSA abgeschottet gegenüber anderen SO-Strukturen. Die fernschriftliche Informationsübermittlung an übergeordnete Einrichtungen erfolgt verschlüsselt oder durch konspirativen Botenverkehr. 4. Mitglieder der SO Die SO hat bundesweit zwischen 5.000 und 6.000 Mitglieder, wobei die Organisation selbst eine deutlich höhere Zahl angibt. Der Mitgliederstand in Bayern ist mit etwa 2.600 konstant geblieben. Als Mitglieder werden solche Personen verstanden, die ihre Mitgliedschaft in einem SO-Verein oder einer sonstigen SO-Gliederung, z.B. im WISEoder ABLE-Bereich, schriftlich erklärt haben oder durch die Belegung von Kursen in einem Verein ihre Mitgliedschaft verdeutlichen. 5. Veranstaltungen der SO Die Schwerpunkte der scientologischen Aktivitäten in Deutschland und Bayern waren im Wesentlichen dazu bestimmt, das vom Verwaltungsgericht Berlin verfügte Verbot der Anwerbung und des Einsatzes von so genannten V-Leuten publizistisch zu verbreiten und als "grandiosen Sieg" gegen deutsche Behörden darzustellen, um sich der Öffentlichkeit als verfolgte und diskriminierte Minderheitsreligion zu präsentieren. Darüber hinaus organisierte die "Scientology Kirche Deutschland e.V." (SKD) mit ihrer Tarnorganisation Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte e.V. (KVPM) in Bayern mehr als 30 öffentliche Veranstaltungen in Form von Info-Ständen und sonstigen propagandistischen Aktionen. Trotz aller Anstrengungen war der Erfolg bescheiden. 5.1 Ausstellung "Was ist Scientology?" Vom 18. bis 31. Januar veranstaltete die SO in München ihre Wanderausstellung "Was ist Scientology?" (WIS), um ihre "Kirche" der Öffentlichkeit vorzustellen. Als Veranstalter fungierte die "Church of Scientology International", Los Angeles, USA. Auf einer Fläche von über 1.000 Quadratmetern bildete die scientologische Lösung des Scientology-Organisation 219 Drogenproblems den Ausstellungsschwerpunkt. Ein ehemaliger englischer Polizeibeamter, der auch Beiratsmitglied der Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte in Großbritannien ist, eröffnete als angeblich führender britischer Anti-Drogen-Spezialist die Ausstellung. Während der Ausstellung kam es in den anliegenden Straßenbereichen mehrmals zu Beschwerden von Anwohnern, die sich durch die permanenten Werbemaßnahmen durch Mitglieder der SO belästigt fühlten. Vorbeigehende Passanten wurden immer wieder auf die Ausstellung angesprochen, zum Teil wurde versucht, ihnen Werbematerial der SO aufzudrängen. 35 Anwohner unterzeichneten eine Beschwerdeliste gegen das ständige "Angesprochenwerden". Die WIS-Ausstellung fand nur ein geringes Interesse in der Öffentlichkeit. 5.2 PR-Aktionen im Zusammenhang mit Katastrophen Die SO nimmt auch nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center weiterhin Katastrophen, politische Umbrüche oder auch Aufsehen erregende Schwerverbrechen zum Anlass, um über von ihr geleistete Hilfestellungen Werbung für ihre Ziele und für neue Mitglieder zu betreiben. In Deutschland wurde der Amoklauf von Erfurt vom 26. April von den "Ehrenamtlichen Geistlichen" zum Anlass genommen, um vor der betroffenen Schule "Beistände" anzubieten. Das Verbrechen wurde als Vorwand genommen, um in ihren SO-Publikationen einerseits vor psychiatrischen Medikamenten zu warnen und andererseits die Psychiatrie im Allgemeinen anzugreifen. Auch nach dem Flugzeugunglück am 1. Juli bei Überlingen am Bodensee traten so genannte "Volunteer Ministers" auf, um unter dem Deckmantel angeblicher psychologischer Betreuung (Assists) Werbung für ihre Tarnorganisation KVPM zu betreiben. Während der Flutkatastrophe in Pirna und Perleberg in Sachsen im August sahen die "Beistände" der "Ehrenamtlichen Geistlichen" gegenüber den Flutopfern unter anderem so aus, dass seitens der SO versucht wurde, den hilfsbedürftigen Menschen Scientology-Bücher zu verkaufen. Flutopfer äußerten sich empört über das tatsächlich wenig hilfreiche Auftreten der Scientologen. Diese Art von "Hilfe" wird von der SO-Abteilung 6 c (Feldkontrolle), Unterabteilung 18 a (Public Relations), organisiert. Die Aufgabe die- 220 Scientology-Organisation ser Organisationseinheit wird im Organisationshandbuch der SO wie folgt beschrieben: " ... zahlreiche Aktivitäten zu erzeugen, die zur vorteilhaften Anerkennung der Organisation und der ganzen Scientology führen. Mit dieser Akzeptiertheit wird die Organisation Kontrolle erhalten und es wird einfach sein, Tausende von Leute in die Organisation zu leiten." 6. Verwaltungsgerichtsverfahren Das Verwaltungsgericht des Saarlandes hat am 29. März 2001 eine Klage der "Scientology Kirche Deutschland e.V." (SKD) abgewiesen, die sich gegen die Beobachtung der Klägerin mit nachrichtendienstlichen Mitteln durch das Landesamt für Verfassungsschutz Saarland richtete. Nach Feststellung des Gerichts sind die entsprechenden Voraussetzungen für diese Maßnahmen erfüllt, da Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen der Klägerin vorliegen. Die SKD hat gegen das Urteil Berufung eingelegt, über die bisher noch nicht entschieden wurde. Am 13. Dezember 2001 entschied das Verwaltungsgericht Berlin über eine Klage der "Scientology Kirche Berlin e.V." entsprechend dem Klageantrag, dass die Berliner Landesbehörde für Verfassungsschutz die Anwerbung und den Einsatz so genannter Vertrauensleute (V-Leute) zu unterlassen habe. Der Einsatz anderer nachrichtendienstlicher Mittel durch die Verfassungsschutzbehörde bleibt davon unberührt. Im Rahmen seiner Urteilsbegründung ging das Gericht aber davon aus, dass die SO verfassungsfeindliche Ziele verfolge. Das Urteil ist mittlerweile rechtskräftig. 7. Vertrauliches Telefon und Informationsangebot im Internet Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz unterhält ein "vertrauliches Telefon" unter der Nummer 0 89 / 31 20 12 96. Opfer, Aussteiger und Angehörige von Scientology-Mitgliedern können dort Hinweise über die SO geben. Für Beratungen stehen die anerkannten Beratungsstellen zur Verfügung. Das Bayerische Staatsministerium des Innern informiert im Internet über die Maßnahmen der Bayerischen Staatsregierung, über Pressemitteilungen und Gerichtsentscheidungen unter folgender Adresse: http://www.innenministerium.bayern.de/infothek/scientology Spionageabwehr 221 7. Abschnitt Spionageabwehr 1. Ausgangslage Die Schwerpunkte der Spionageabwehr haben sich nicht verändert. Die Spannungen im Irak-Konflikt und die Terroranschläge des 11. September 2001 unterstreichen, wie wichtig es für die Staatengemeinschaft ist, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen (Proliferation) bei Krisenländern und terroristischen Organisationen zu verhindern. Dies und die Beobachtung der Wirtschaftsspionage stehen weiter im Mittelpunkt der Aufklärungsbemühungen des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz. Die fortschreitende Globalisierung hat das Interesse am Schutz vor Wirtschaftsspionage verstärkt, da die Sicherung von Know-howund Entwicklungsvorsprüngen von existenzieller Bedeutung für die Konkurrenzfähigkeit einzelner Firmen und nationaler Volkswirtschaften ist. Das Interesse an deutscher Entwicklungsarbeit ist im Ausland weiterhin groß, was der Einsatz von Nachrichtendiensten belegt. Verkäufe von hoch technisierten deutschen Wirtschaftsunternehmen an ausländische Interessenten stellen unter dem Gesichtspunkt des Schutzes von Know-how ein Problem völlig neuer Dimension dar. In allen Bereichen der Spionage treten verstärkt die Nachrichtendienste von Krisenländern in Erscheinung. Dazu zählen die Geheimdienste des Iraks, Irans, Libyens und Syriens. Neben proliferationsrelevanten Bemühungen und Spionageaktivitäten in den Bereichen Politik und Militär steht die Beobachtung der jeweiligen hier tätigen oppositionellen Gruppierungen im Vordergrund der Aufklärung. Vor allem Syrien und der Irak betreiben einen großen Aufwand, um über regimekritische Bestrebungen im Ausland informiert zu sein bzw. auf die Gruppierungen Einfluss nehmen zu können. Auch die in China verbotene buddhistisch-taoistische Falun-Gong-Bewegung und die in Deutschland lebenden organisierten Angehörigen der uigurischen Minderheit in China werden hier von den chinesischen Nachrichtendiensten beobachtet und unterwandert. 222 Spionageabwehr Präsent sind nach wie vor der russische Auslandsaufklärungsdienst SWR und der russische militärische Nachrichtendienst GRU. Während sich der SWR in erster Linie um Informationen zu politischen und wirtschaftlichen Bereichen und Zielobjekten bemüht, ist der GRU primär an klassischen Militärobjekten und -technologien interessiert. Die Erweiterung von NATO und EU, die Handelsbeziehungen zu Russland sowie der angestrebte schnellere Zugang zu westlichem Know-how für die Modernisierung Russlands sind Gegenstand der Aufträge der Staatsführung an die Nachrichtendienste. Zwei Beispiele für den Versuch, Emigrantenorganisationen auszuforschen, zeigen die folgenden Fälle: Ein eingebürgerter deutscher Staatsangehöriger berichtet dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz, bei einem Heimatbesuch vom dortigen Nachrichtendienst verhört worden zu sein. Bei diesen Befragungen wurde er über in Bayern lebende Personen und Vereine aus seinem Bekanntenkreis ausgefragt und zur nachrichtendienstlichen Mitarbeit aufgefordert. Für seine nachrichtendienstliche Tätigkeit wurde ihm eine finanzielle Vergütung in Aussicht gestellt. Auf diese geheimdienstliche Anbahnung ging er jedoch nicht ein. Zu weiteren Treffen in seiner alten Heimat kam es nicht mehr. Nach seiner Rückkehr begegnete er jedoch den beiden Befragern in seiner neuen Heimat. Er sprach sie an und verlangte Aufklärung. Den für die Aussprache vorgesehenen Termin hielten die beiden mutmaßlichen Agenten nicht ein. Ein anderer in Bayern lebender, ausländischer Staatsangehöriger wurde bei einem Heimatbesuch vom dortigen Nachrichtendienst zur Mitarbeit aufgefordert. Der Geheimdienst verlangte Informationen über in Bayern lebende Landsleute. Der nachrichtendienstliche Auftrag wurde mit der Drohung verbunden, bei einer Weigerung nicht mehr ausreisen zu dürfen. Aus diesen Gründen ging er zum Schein auf die Forderung ein. Als er wieder nach Deutschland zurückkehrte, nahm der Heimat-Nachrichtendienst Kontakt zu ihm auf und drängte auf die verabredete Mitarbeit. Der Betroffene lehnte dieses Ansinnen jedoch kategorisch ab. 2. Wirtschaftsspionage - Ausforschung von Wissenschaft und Technik Die in den letzten Jahren zunehmenden und auf großes Medieninteresse stoßenden Fusionen deutscher und ausländischer Unter- Spionageabwehr 223 nehmen machten auch einer breiten Öffentlichkeit das Problem des Know-how-Schutzes bewusst. Die Zersplitterung von deutschen Firmen mit anschließendem Verkauf von technisch hochinteressanten Segmenten an ausländische Aufkäufer wurde unter Gesichtspunkten der Wirtschaftsspionage besonders kritisch gesehen. Auch in Bayern ansässige Traditionsunternehmen des Elektronikoder Luftfahrtbereichs gingen zum Teil in ausländische Hände über. Zwangsläufig muss das zur Preisgabe vorhandenen technischen Entwicklungsvorsprungs an andere Firmen oder andere Volkswirtschaften führen. Die Bedeutung des Know-hows für den Wirtschaftsstandort Deutschland und insbesondere das Hightechland Bayern begründet den hohen Stellenwert der Abwehr der Wirtschaftsspionage im Spektrum der Spionageabwehr. Bevorzugt forschen Nachrichtendienste fremder Staaten den technischen Entwicklungsvorsprung bayerischer Unternehmen und Universitäten, betriebswirtschaftliche Aspekte und auch die allgemeine Entwicklung der bayerischen Wirtschaft aus. Nicht nur die eingangs erwähnten russischen Nachrichtendienste suchen so schnelleren Zugang zu westlichem Know-how, sondern auch chinesische Dienste und die der Krisenund Schwellenländer sind daran interessiert, wirtschaftliche Defizite auszugleichen. Folgender Beispielsfall möge dies verdeutlichen: Ein fernöstlicher Nachrichtendienst versuchte, einen aus Asien stammenden Mitarbeiter eines bayerischen Hightechunternehmens zur Zusammenarbeit zu gewinnen. Er sollte Informationen über Landsleute, die in seinem Betrieb tätig sind, an den Nachrichtendienst weitergeben. Die auszuforschenden Personen wurden dann zu Tagungen eingeladen. Nach Erkenntnissen des Verfassungsschutzes dienten diese Veranstaltungen der Abschöpfungen der Wissenschaftler. Den betroffenen Personen waren der wahre Hintergrund und der eigentliche Auftraggeber nicht bekannt. 3. Spionage im Bereich der Kommunikationstechnik Die Technik zur Ausforschung von Kommunikationswegen hat sich rasch weiterentwickelt. Besonders betroffen davon ist die so genannte Wireless-Technik, die zwar für den Anwender den Komfort erhöht, aber das unerwünschte Abhören und Erfassen von Mitteilungen jedweder Art erleichtert. Tests, die auch in den Medien veröffentlicht wurden, haben gezeigt, dass sich technisch Versierte problemlos in 224 Spionageabwehr Verbindungen einloggen können, ohne dass die Betroffenen hiervon Kenntnis erlangen. Vor dem "Abhören" der Kommunikationsverbindungen sind weder Telefon, SMS, E-Mail noch Fax sicher. Das muss vor der Weitergabe sensibler Daten stets bedacht werden; nicht zu vergessen, dass Handys und Laptops durch Manipulationen zu "Wanzen" umfunktioniert werden können, um damit alle Gespräche in einem Raum zu belauschen. Auch die bekannten international agierenden Abhörsysteme wie das von westlichen Staaten betriebene "Echelon" oder das von Russland installierte "Dozor" dienen der Überwachung von Teilen der weltweiten Kommunikation. Aus diesen Gründen kommt es bei aller Notwendigkeit, die moderne Kommunikationstechnik zu nutzen, entscheidend darauf an, die wesentlichen Kernbereiche der geheim zu haltenden Informationen durch weitgehend sichere Speichermöglichkeiten und Übertragungswege zu schützen. 4. Proliferation Die internationalen Ermittlungen ergaben, dass sich das terroristische Al Qaida-Netzwerk über den bisher bekannten Umfang hinaus in den Besitz von Massenvernichtungswaffen bringen wollte. Es wurden Versuche bekannt, sich Nuklearmaterial zur Fertigung einer so genannten schmutzigen Bombe, mit der hoch radioaktives Material mittels einer konventionellen Bombe ausgebracht wird, zu verschaffen. Des Weiteren wurden in Afghanistan im Aufbau befindliche Werkstätten und Labors zur Entwicklung von biologischen und chemischen Kampfstoffen entdeckt. Es muss davon ausgegangen werden, dass sich Teile des Netzwerks weiterhin um Materialien zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen bemühen werden. Deshalb können auch bayerische Firmen ins Blickfeld der Beschaffer von Materialien gelangen, die so genannten Dual-use-Charakter haben, das heißt sowohl zivil als auch militärisch Verwendung finden können. Dass auch Staaten wie Irak, Iran, Syrien, Sudan, Libyen und Nordkorea Know-how und Materialien zur Herstellung von Massenvernichtungswaffen zu beschaffen versuchen, belegen verschiedene proliferationsrelevante Anfragen an bayerische Unternehmen. Hierzu setzen diese Länder ihre Geheimdienste ein, gründen Scheinfirmen, verschleiern bei der Einfuhr von Material für die Herstellung der Spionageabwehr 225 ABC-Waffen den Endabnehmer und täuschen einen anderen Verwendungszweck vor. Sie versuchen dadurch, die internationalen Abkommen und die nationalen gesetzlichen Bestimmungen zur Verhinderung der Ausfuhr derartiger Waffenteile zu umgehen. Verstöße gegen rechtliche Bestimmungen zur Umgehung des Ausfuhrverbots wurden dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz nicht bekannt. Firmen, die als Lieferanten für sensible Güter infrage kommen, haben eine besondere Verantwortung, dies zu verhindern. Sie können sich im Verdachtsfall vertrauensvoll an das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz wenden. Der Verfassungsschutz ist keine Strafverfolgungsbehörde und unterliegt somit nicht dem Strafverfolgungszwang. Er kann auch die Interessenlage der Personen berücksichtigen, die ihm Informationen zur Verfügung stellen. 5. Schutzmaßnahmen - Beratung durch den Verfassungsschutz Die Wirtschaft ist aber noch nicht bereit, sich des Themas Sicherheit, vor allem im Kommunikationsbereich, mit der notwendigen Konsequenz anzunehmen. Dies liegt vor allem daran, dass Schutzmaßnahmen zum Teil nur mit erheblichem finanziellem Aufwand installiert werden können und zusätzlich zur Einschränkung der innerbetrieblichen und nach außen gerichteten Kommunikation mit Geschäftspartnern führen. Die durch Spionage möglicherweise entstehenden Schäden werden zu wenig in Rechnung gestellt. Die Verbände und Organisationen, die es sich, wie der Bayerische Verband für Sicherheit in der Wirtschaft (BVSW) oder die Industrieund Handelskammern, zur Aufgabe gemacht haben, Unternehmen und vor allem auch mittelständische Betriebe gegenüber diesen Gefahren der Spionage zu sensibilisieren, arbeiten jedoch zunehmend enger mit dem Verfassungsschutz zusammen. Dabei geht es neben der gemeinsamen Erstellung von Informationsbroschüren um gemeinsame Informationsveranstaltungen und vor allem um den Erkenntnisaustausch. So informiert das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz Firmen, Universitäten und sonstige wissenschaftliche Einrichtungen über Zielobjekte und Methodik der Nachrichtendienste. Auf der anderen Seite braucht das Landesamt für eine erfolgreiche Arbeit die Bereitschaft der von Spionage Betroffenen, den Verfassungsschutz über Spionageverdachtsfälle zu informieren. 226 Spionageabwehr 6. Ausblick Etwa ein Jahrzehnt nach Beendigung des "Kalten Kriegs" hat sich die Hoffnung auf eine stabilere und sicherere Weltlage nicht erfüllt. Die Bedrohungsszenarien haben sich geändert und mit ihnen auch die Bereiche, die des Schutzes bedürfen. Um die wirtschaftliche Stabilität, die auch Garant für die politische Stabilität und somit für das Wohlergehen aller ist, zu erhalten, bleibt es für unsere Gesellschaft unabdingbar, den Know-how-Vorsprung zu sichern und Aktivitäten fremder Nachrichtendienste zu unterbinden. Staat, Wirtschaft und Forschung sind aufgrund der fortschreitenden Globalisierung und des steten Fortschritts der Kommunikationstechnik verstärkt der Gefahr der Ausspähung ausgesetzt. Sie sind schutzbedürftiger geworden. Der Verfassungsschutz hat die Aufgabe, dies bewusst zu machen und vor diesen Gefahren zu schützen. Organisierte Kriminalität 227 8. Abschnitt Organisierte Kriminalität 1. Ausgangslage Die langfristig angelegte Beobachtung krimineller Strukturen und Personen im Vorfeld konkreter Straftaten durch das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz, ermöglicht durch die Änderung des Bayerischen Verfassungsschutzgesetzes im Jahr 1994, stellt eine wichtige Ergänzung der polizeilichen Arbeit beim Vorgehen gegen die Organisierte Kriminalität (OK) dar. Die Beobachtung der OK durch den Verfassungsschutz muss auf eine möglichst breite Basis in Zusammenarbeit mit anderen Bundesländern gestellt werden. Nach Bayern haben inzwischen auch Hessen, das Saarland und Thüringen die gesetzliche Grundlage für diese Aufgabe des Verfassungsschutzes geschaffen. Sachsen und Hamburg haben entsprechende Gesetzentwürfe eingebracht. Die bundesweite Beobachtung der Organisierten Kriminalität durch den Verfassungsschutz muss weiter das Ziel sein. Dabei kommen dem Verfassungsschutz seine Erfahrungen in der Aufklärung konspirativ operierender Gruppierungen unter Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel, die es in den Aufgabenbereichen der Spionageabwehr und der Extremismusbekämpfung gewonnen hat, zugute. 2. Beobachtungsschwerpunkte Die Erkenntnisse im Bereich der OK werden vorwiegend durch den Einsatz geheimer Mitarbeiter, aus der Anwendung anderer nachrichtendienstlicher Mittel sowie aus der Zusammenarbeit mit ausländischen Nachrichtendiensten, die in Europa fast ausnahmslos mit der OK-Bekämpfung beauftragt sind, gewonnen. Weitere Informationen erschließen sich aus der Analyse von offen zugänglichem Material sowie aus dem Berichtsaufkommen anderer Aufgabenbereiche, insbesondere aus der Spionageabwehr und der Beobachtung ausländischer extremistischer Organisationen. Die Ergebnisse der Strukturermittlungen münden oft in polizeilichen Ermittlungen. 228 Organisierte Kriminalität Die Schwerpunkte der Bearbeitung lagen nach wie vor auf der Beobachtung der OK aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), aus Asien und aus Südosteuropa. Die Beobachtung von Rockergruppierungen wurde fortgesetzt. Die erfolgreiche Aufklärungsarbeit aus dem Vorjahr im Deliktsbereich Korruption führte zur Bearbeitung neuer Fälle. Deutsche, Staatsangehörige aus der GUS und Asien sowie aus südosteuropäischen Ländern stellen den größten Teil des zu beobachtenden Personenkreises dar. Auffällig werden sie vor allem in den Deliktsbereichen der Prostitution und Zuhälterei, bei Waffendelikten, beim Menschenhandel und bei Schleusungen, bei Fälschungsdelikten sowie beim illegalen Glücksspiel und der im Zusammenhang mit diesen Straftaten stehenden Geldwäsche. * GUS-Mafia Strukturklärungsmaßnahmen, in deren Mittelpunkt russischstämmige Geschäftsleute aus dem nordbayerischen Raum standen, wurden umfangreich weiter betrieben. Die agierenden Personen hatten sich in Russland im Rahmen der Privatisierung der Wirtschaft kriminellen Geschäften gewidmet; die "erwirtschafteten" Gelder investierte man in verschiedene erfolgsträchtige Immobilien, Restaurants und Hotels. Zu beobachten waren sowohl Kontakte zu hochrangigen Vertretern aus Politik und Wirtschaft in Russland als auch zu Persönlichkeiten der deutschen Wirtschaft. Diese Beziehungen wurden intensiviert. Auch die Übernahme insolventer Industrieunternehmen wurde angestrebt. Nationale wie auch internationale Partnerdienste bestätigten, dass ein Teil der Investoren im Verdacht stehen, sowohl nachrichtendienstlich als auch im Bereich der russischen OK tätig zu sein. Bekannt wurde der Zuzug eines hochrangigen Führers einer kaukasischen OK-Gruppierung nach Franken. Nach derzeitiger Erkenntnislage nutzt die Zielperson Bayern bisher nur als Rückzugsund Ruheraum, da gegen andere Führer der Organisation in Russland Verfahren initiiert wurden. Die Bearbeitung des Falls erfolgt in enger Absprache mit der Polizei. Ferner wurde bekannt, dass eine OK-Gruppierung aus dem Baltikum in Bayern aktiv im Deliktsbereich Fahrzeugunterschlagung tätig ist und diese Aufträge von einem russischen kriminellen Führer ausgehen. Ermittlungen und operative Maßnahmen führten zur Identifi- Organisierte Kriminalität 229 zierung des Hintermanns und des dazugehörenden Personenkreises. Weiter konnte festgestellt werden, dass die Gruppierung national und international in Straftaten wie die Begehung von Raubüberfällen, Waffenund Schleusungsdelikten bis hin zu Rauschgifthandel im großen Stil verwickelt ist. Die Informationen führten zur Einleitung eines polizeilichen Ermittlungsverfahrens. * Südosteuropa-Mafia Aus der Beobachtung der Aktivitäten dieser Gruppierungen ergaben sich konkrete Hinweise auf die Begehung von Wirtschaftsstraftaten in erheblichem Umfang. Betroffen waren insbesondere die Bauund Gebäudereinigungsbranche. Durch illegale Beschäftigung und Abrechungsmanipulationen wurden Steuern und Sozialabgaben nicht bezahlt. Hintermänner statteten die Arbeitskräfte mit gefälschten EU-Personalpapieren aus. Quellenaussagen belegen, dass sich die illegal in Bayern eingesetzten Arbeitskräfte auch bei ausbeuterischem Verhalten der Arbeitgeber nicht an Behörden wenden. Einzelne zentrale Personen konnten jedoch als Drahtzieher anderer Straftaten wie Rauschgift-, Eigentumsund Prostitutionsdelikten identifiziert werden. Die Zusammenarbeit mit der Polizei führte in Südbayern zur Festnahme von Straftätern. Im Zusammenhang mit illegalem Glücksspiel und Wettgeschäften wurden detaillierte Erkenntnisse über kriminelle Handlungsabläufe aus den einzelnen "Betrieben" gewonnen und die aus dem ehemaligen Jugoslawien stammenden Organisatoren identifiziert. Diese Informationen und deren Abgabe an die Exekutivbehörden bewirkten Durchsuchungen und weitere Maßnahmen der Polizei. Eine erprobte Quelle wies auf einen in Ungarn lebenden Mann hin, der dort zusammen mit seinem Bruder einen Rastplatz für LKW-Fahrer betreibt. Beide gelten als Verbindungsmänner für internationale Herointransporte aus der Türkei nach Deutschland. Wöchentlich gelangen im Rahmen von Verteilungsfahrten bis zu 20 kg Heroin in deutsche Großstädte. Darüber hinaus meldeten Quellen Kontakte zu einem Rauschgifthändler in Rumänien und zu einer extremistischen Partei. In Ungarn waren die Brüder zudem wegen Fälschungsdelikten aufgefallen. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz fasste in enger Kooperation mit dem ungarischen Partnerdienst die Erkenntnisse zusammen und gab sie an eine bayerische Exekutivbehörde zu weiteren Ermittlungen ab. 230 Organisierte Kriminalität Aus dem lukrativen Deliktsbereich Zigarettenschmuggel führten Hinweise aus dem operativen Meldeaufkommen zur Verurteilung mehrerer Transportunternehmer in Bayern. Ein internationales Personengeflecht, aus dem bereits mehrere Drahtzieher im Zusammenhang mit anderen Schmuggeldelikten auffällig geworden waren, hatte diese Logistik optimiert und gewinnbringend weiteren Kriminellen zur Verfügung gestellt. Korrumpierte Behördenvertreter im europäischen Ausland sorgten dafür, dass die getarnten Ladungen, die sowohl aus Bargeld, Zigaretten, Waffen oder Rauschgift bestanden, unbehelligt über die Landesgrenzen gelangen konnten. Festgestellt wurde ein gut funktionierendes Warnund Leitungssystem in Europa; bei Auffälligkeiten oder veränderten Bedingungen kam es sofort zum Einsatz neuer Transportrouten. Durch eine enge Zusammenarbeit mit internationalen Zollbehörden und ausländischen Diensten, verbunden mit begleitenden technischen Maßnahmen, gelang die Festnahme der Täter. * Wirtschaftskriminalität - Korruption in der öffentlichen Verwaltung Für moderne Demokratien besteht die Hauptgefahr der Korruption darin, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Glaubwürdigkeit und Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen schwindet. Korruption wird definiert als Missbrauch eines öffentlichen Amtes, eines politischen Mandats oder einer Funktion in der Wirtschaft zugunsten eines anderen, begangen auf dessen Veranlassung oder aus Eigeninitiative, zur Erlangung eines Vorteils für sich oder einen Dritten, mit der Folge eines Schadens oder Nachteils für die Allgemeinheit. Korruptionssachverhalte können eng mit der OK verknüpft sein, da Führungspersonen aus diesem Bereich bestrebt sind, auch in der Gesellschaft Anerkennung zu finden. Hochrangige Beziehungen, gepaart mit Bestechungshandlungen, bieten die beste Gewähr dafür, lukrative Geschäfte ungestört abwickeln zu können. Im Verfassungsschutzbericht Bayern 2001 wurde über den Korruptionsfall "Küchenkartell" in München berichtet. Die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht München I hat diesen Fall als einen der größten Korruptionsfälle in der Geschichte Münchens und als ersten Fall in Bayern eingeschätzt, bei dem organisierte Wirtschaftskriminalität in einem Amt aufgedeckt werden konnte. In mehr als einem Jahrzehnt bauten städtische Angestellte ein korruptives Geflecht auf, Organisierte Kriminalität 231 das den gesamten Vergabebereich für die Ausstattung der Küchen in Schulen, Kindergärten oder Krankenhäusern kontrollierte. Das System wurde ständig ausgebaut und perfektioniert. Gegen Schmiergeldzahlungen insgesamt in Millionenhöhe konnten die involvierten Firmen ihre Leistungen zu weit überhöhten Preisen abrechnen. Der Stadt München entstand ein Schaden im zweistelligen Millionenbereich. Im September 2001 befand das Landgericht München I zwei städtische Angestellte der Untreue in 9.013 beziehungsweise 9.878 Fällen der Bestechlichkeit und der Steuerhinterziehung für schuldig. Der Haupttäter hatte 1,35 Millionen DM in bar oder in Form von Sachzuwendungen als Bestechungshonorar erhalten. Der Vorgesetzte, der die Taten deckte, kassierte 200.000 DM. Acht Jahre und drei Monate für den Hauptdrahtzieher des Kartells und sechs Jahre und acht Monate Gefängnisstrafe für seinen ehemaligen Chef lauten die Strafmaße. Ein Mitangeklagter erhängte sich vor Prozessbeginn in der Justizvollzugsanstalt. Erstmalig erhielten nicht nur die korrupten Behördenmitarbeiter, sondern auch die Geldgeber Haftstrafen: Das Landgericht München I verurteilte im Oktober mehrere Firmenchefs zu Haftstrafen zwischen zwei und drei Jahren. Die bei den Durchsuchungen gefundenen Beweismittel führten zu einer erheblichen Ausweitung des Ermittlungsverfahrens und einer Serie von Nachfolgeprozessen, unter anderem auch gegen ein überregionales Kartell wegen des Straftatbestands der schweren Korruption. Einen weiteren Hinweis auf Korruption in der öffentlichen Verwaltung erhielt das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz durch die vertrauliche Aussage, dass Aufenthaltserlaubnisse käuflich erworben werden können. Gegen Zahlung von 2.500 EUR an einen türkischen Mittelsmann sei dieser in der Lage, bei den staatlichen Stellen die erforderlichen aufenthaltsrechtlichen Stempel in den Pässen anbringen zu lassen. Operative Maßnahmen bestätigten den Verdacht, dass Ausländer von dieser Möglichkeit im großen Stil Gebrauch machten. Die eingeleiteten exekutiven Maßnahmen führten zur Festnahme von drei Ausländern, die allerdings keine Angaben zu ihren Hintermännern machten. Der Initiator der türkischen Gruppe wurde zwischenzeitlich zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Aktion erfolgte in enger Abstimmung aller beteiligten Sicherheitsbehörden und dem Korruptionsbeauftragen der Stadt München. 232 Organisierte Kriminalität Derzeit betreibt das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz in enger Abstimmung mit der Polizei Aufklärungsmaßnahmen in zwei neuen Korruptionsfällen. * Schleusungskriminalität Die illegale Migration hat in den letzten Jahren weltweit deutlich an Bedeutung gewonnen. Schleusungen sind als wesentliches Deliktsfeld der internationalen OK zu sehen und ziehen oft weitere kriminelle Aktivitäten wie Drogenhandel und Prostitution nach sich. Gerade im Schleusungsbereich wird als klassisches Merkmal der OK der Aspekt der Arbeitsteilung in vollem Umfang angewandt: Anwerbung der Schleusungswilligen, Erstellen von gefälschten Dokumenten, Transport und die Schleusung selbst werden von verschiedenen Spezialisten durchgeführt. Die Schleusungskosten müssen nicht selten durch Tätigkeiten im Prostitutionsbereich oder im Rahmen der illegalen Beschäftigung zurückgezahlt werden. Damit eng verbunden, häufig sogar notwendige Voraussetzung, ist die Korrumpierung von Mitarbeitern diverser Sicherheitsbehörden an Grenzen und Flughäfen oder die Nutzung von legalen Wirtschaftsunternehmen als Deckmantel für Menschenschmuggel, Drogentransporte oder Geldwäschedelikte. Die effektive Bekämpfung der Schleusungskriminalität erfordert eine behördenübergreifende Zusammenarbeit. Die Beteiligung des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz an dem vom Bundeskriminalamt initiierten Projekt "Schleusungskriminalität über die Tschechische Republik" hat bewiesen, dass durch diese Kooperation von Polizei und Nachrichtendiensten Spuren verdichtet und Strukturerkenntnisse gebündelt werden können. Auch in anderen Fällen haben sich Sachverhalte nur durch die gemeinsame Ermittlungstätigkeit sowohl nationaler als auch internationaler Behörden erfolgreich bearbeiten lassen. Im Rahmen des operativen Meldeaufkommens wurde dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz bekannt, dass in Bayern ansässige asiatische Staatsangehörige Kontakte zu einer vietnamesisch-chinesischen Organisation mit Sitz im europäischen Ausland unterhalten. Die kriminellen Aktivitäten dieser Organisation erfolgten in den Deliktsbereichen Schleusung, Passfälschung, Kreditkartenbetrug und illegaler Handel mit Betäubungsmitteln. Mitglieder dieser Organisierte Kriminalität 233 international agierenden Gruppierung schleusten Asiaten chinesischer und vietnamesischer Herkunft über Ungarn und Tschechien nach Großbritannien und in die Vereinigten Staaten von Amerika ein. Deutschland war als Durchgangsland für diese Schleusungen anzusehen. Es erfolgte eine Abgabe der vorliegenden Erkenntnisse an die tangierten ausländischen Sicherheitsbehörden, um eigene Ermittlungen einleiten oder bestehende Strukturermittlungen ergänzen zu können. Bereits bestehende Kontakte wurden ausgebaut und die Zusammenarbeit intensiviert. Die operativen Maßnahmen zu den im Zuständigkeitsbereich des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz ansässigen Personen dauern an. * Vietnamesische OK Die Beobachtung der OK aus dem Bereich der Vietnamesen erbrachte Hinweise darauf, dass Personen aus diesem Bereich zunehmend mit illegalen Betäubungsmitteln, vorzugsweise Heroin, Handel treiben. Kunden sind hier vor allem Landsleute. In diesem Zusammenhang wurden bereits mehrere Hinweise aufgearbeitet und an die Polizei abgegeben. Eingeleitete Verfahren führten zur Festnahme der Täter. Durch Vorfeldklärungsmaßnahmen wurde dem Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz bekannt, dass sich in einem anderen Bundesland ein Unterschlupf für geschleuste Asiaten befinden soll, welcher von einem Vietnamesen gegen Bezahlung zur Verfügung gestellt wird. Von diesem waren nur der Vorname und eine Handynummer bekannt. Eine enge Zusammenarbeit mit mehreren inund ausländischen Ermittlungsbehörden führte zur Identifizierung des Schleusers und zur Einleitung eines Strafverfahrens in dieser Sache. Nebeneffekt der Ermittlungen war auch die Aufhellung weitreichender Strukturen der Organisierten Schleusungskriminalität mit Bezugspunkten in der Tschechischen Republik. Der Täter konnte im Rahmen eines größeren Betäubungsmittelgeschäftes auf frischer Tat festgenommen werden; das Lager wurde aufgelöst. * Chinesische Mafia Durch die Fortsetzung der Aufklärungsarbeit im Bereich der chinesischen Mafia wurden die Kenntnisse über Aufbau und Strukturen der 234 Organisierte Kriminalität chinesischen Triaden verbessert. Operativ gewonnene Informationen belegen, dass speziell Chinesen aus den Provinzen Fujian und Zhejiang verstärkt versuchen, kriminelle Organisationen nach dem Vorbild der Hongkong-Triaden aufzubauen. Die Platzierung der Mitglieder erfolgt im Bereich der gesamten Europäischen Union und auch in Bayern. Diese Organisationen unterstützen gegen Zahlung hoher Beträge logistisch bevorzugt Landsleute aus Regionen, deren Infrastruktur und Lebensverhältnisse im Vergleich mit anderen chinesischen Regionen als eher rückständig einzustufen sind. Die Migranten kommen aus rein wirtschaftlichen Erwägungen nach Europa. Die Strukturermittlungen des Bayerischen Landesamts für Verfassungsschutz richten sich darauf festzustellen, wo sich in Bayern Angehörige der kriminellen Organisationen niederlassen und ob sich dadurch kriminelles Potenzial entwickelt.